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63280 oktober–dezember 2005___4 3. jahrgang

Musik leben und erleben in Deutschland.

Wie das Neue in die Welt kommt – und wie wir damit umgehen DAS MAGAZIN DES DEUTSCHEN MUSIKRATS 7,40 m „ Dauerbrenner“ der „ Zwitter“ und Kuriosum Nachwuchsfö rderung: der Musikgeschichte: Der Deutsche Musikwettbewerb Der skurrile Arpeggione und wird 30 – und gar nicht leise sein engagiertester Nutzer

Probedruck EDITORIAL

DER Schlüssel Christian Höppner ZUM NEUEN Redaktionsleitung

„WANN SIND SIE KREATIV?“ Das Thema unserer kleinen – so gar nicht repräsentativen – Umfrage in diesem Heft brachte überraschende Ergebnisse. Vor allem kann sich jener phil- harmonische Cellist glücklich schätzen, der sein bisheriges Leben als einen kreativen Dauer- zustand erfahren hat. Ein „Betriebsunfall“ im Jammerland Deutschland oder ein Wegweiser aus dem Tal des Frustes und der millionenfach verpassten Chancen?

Bisher hat es keine noch so dümmliche Werbekampagne geschafft, die positive Besetzung dieses Begriffs zu zerstören. Im Gegenteil: „Kreativität“, ein alter Begriff in immer wieder neuen Kleidern, hat Konjunktur. Eine Konjunktur im Spannungsfeld wirtschaftlicher Partikularinteres- sen und gesellschaftlichen Gestaltungswillens. Diese Schöpferkraft artikuliert sich vor allem in dem bürgerschaftlichen Engagement von Millionen Bürgerinnen und Bürgern, die das „Prinzip Selbstverantwortung“ (Reinhard K. Sprenger) als beispielhaften Weg in einer Zeit zunehmender Verantwortungsdelegation vorleben.

Kreativität ist eine der wertvollsten Ressourcen, die jedes Neugeborene mitbringt. Unsere Gesellschaft braucht stärkere Einsicht in den Wert der Kreativität, um endlich die Schätze zu heben, die wir durch Überregulierung und Verschlechterung der Rahmenbedingungen in der musisch-ästhetischen Erziehung verrotten lassen.

Dabei bedarf es einer kontinuierlich angelegten Erziehung im Sinne einer Orientierungshilfe und nicht etwa weiterer Blitzlichter einer Eventkultur, wie sie mehr und mehr in der Förder- und Ausbildungspraxis von Kindern und Jugendlichen propagiert werden. Diese Feigenblätter können nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir am Gerüst einer langfristig angelegten kulturel- len Bildung eine Querstrebe nach der anderen abbauen – mit einem vorhersehbaren Ergebnis.

Die Erfahrung der kreativen Selbstverständlichkeit im Alltag eines jeden Menschen bleibt das Ziel einer Bildungs- und Kulturpolitik, die sich dem Ganzen – und damit dem Individuum – verpflichtet fühlt. Denn: Kreativität ist der Schlüssel zum immer wieder Neuen in unserer Welt.

Ihr

Christian Höppner

 MUSIK ORUM 3 INHALT

IM FOKUS: KREATIVITÄT WIE DAS NEUE IN DIE WELT KOMMT

Mehr Kreativität wagen 10 Zwischen Domäne, Einzelpersönlichkeit und Feld: Die Theorie des Schöpferischen, dargestellt von Gerhard Huhn und Susanne Herrmann

Gegen die Ökonomisierung der Lebenswelt Hanns-Werner Heister über Kreativität als künstlerische Produktivität 15 Kreative Funken schlagen Wie der Deutsche Musikrat „Kreativität“ versteht und schöpferisches Handeln fördert, beschreibt sein Präsident Martin Maria Krüger 19 Klangforschen ohne Zweck, ohne Erwartung Freies Interpretieren als die tonale Gestaltungskraft. Von Gisela Nauck 20 titelthemen neuetöne bildung.forschung

30 Jahre Nachwuchsförderung Künstlerische Sprengkraft Musikpreis für Innovationen Der Deutsche Musikwettbewerb feiert Stuttgarter World New Music Festival in der musikalischen Bildung Jubiläum – Rückschau und Ausblick / reflektiert die Pluralität der Kulturen. 47 Der INVENTIO wird im Oktober zum Gespräch mit dem Projektbeirats- zweiten Mal vergeben. 51 vorsitzenden Wolfgang Gönnenwein. 39 Mehr Förderung, mehr Resonanz „Lernen im Team heißt: Kuriosum der Musikhistorie: voneinander lernen!“ der Arpeggione Das Schülerbandfestival „SchoolJam“, Pop-Projekt des Deutschen Musikrats, Yamaha setzt auf den Gruppenunter- Gerhart Darmstadt und sein skurriler geht in die nächste Runde. 49 richt. Bericht von einer Fortbildung. 52 Zwitter aus Violoncello und Gitarre – ein Instrument, das mehr als museales Zurück am „Tatort“ Interesse verdient. 43 Teilnehmer des ersten Orchesterkurses treffen sich nach 40 Jahren wieder. 57

 4 MUSIK ORUM fokus

Schlüsselerlebnisse sind nicht alles 23 Fragen an den Jazz-Improvisator Alexander von Schlippenbach

Innovationsanreiz oder Bremse? Peter Ortmann über Kreativität am Beispiel von „Jugend jazzt“ 26 Multimedia und Kreativität Die Symbiose von Software und Schöpfergeist. Von Christoph Hempel 29 Das Schöpferische in der Verwertungsgesellschaft Dieter Gorny über den Wert von Kultur – und wie er erhalten bleibt 33 Label Launch: Für „Rudel Records“ ist Kreativität gleich Freiheit 37 porträt dokumentation Befreiung von alten Fesseln Mensch und Instrument: Mit dem „Bassetto“ erschüttert Silvio Dalla Torre die Prinzipien des Kontrabass-Spiels. 54 präsentiert Projekte im deutschen Musikleben: ATZE Theater- und Konzerthaus für Kinder in Berlin 59 „musik gewinnt“ – Musikalisches Leben in Schulen Der Verband Deutscher Schulmusiker schreibt bundesweiten Wettbewerb zum zweiten Mal aus – und prämiert damit Bildungseinrichtungen, in denen Musik in besonderer rubriken Weise gepflegt wird. 50

Editorial 3 S Nachrichten 6 Nachrufe auf Albert Mangelsdorff und Uwe Röhl 58 Rezensionen: CDs, DVD und Bücher 60 MUSIKORUM Echo: Leserbrief und Dialog 63 oktober–dezember 2005___4 Finale, Impressum 66

DAS MAGAZIN DES DEUTSCHEN MUSIKRAT

 MUSIK ORUM 5 NACHRICHTEN

Deutsche Orchester- Stiftung fördert Musiker und Projekte Zum Schutz und zur Fortentwicklung der deutschen Orchesterlandschaft hat in Berlin die Deutsche Orchester-Stiftung (DOS) ihre Arbeit aufgenommen. Sie ist die erste Stiftung in Deutschland, die die deutsche Orchesterlandschaft in ihrer Gesamtheit fördert. Unterstützt werden von der neuen Einrich- tung u. a. junge Musiker im Rahmen ihrer pro- fessionellen Ausbildung für Orchester und Rundfunkchöre – z. B. durch Zuschüsse für Ar- beitsphasen des Bundesjugendorchesters – sowie der Dirigentennachwuchs und Projekte der Kinder-, Jugend- und Publikumsarbeit in Orchestern, Musiktheatern und Rundfunkchö- Peter Maffay unterrichtet jungen Pop-Nachwuchs ren. Nicht zuletzt sollen auch in Not geratene Deutschlands Rock-Ikone Peter Maffay (in der Bildmitte), erster Pate der Folkwang Musik- Orchestermusiker finanzielle Hilfe erhalten. ➦ schule Essen, veranstaltete einen internen Workshop, bei dem er acht Bands der „Rock- U www.orchesterstiftung.de Pop-Schule“ am Fachbereich Popularmusik unterrichtete. Maffay gab den Nachwuchsmusikern Einblicke in das Thema „Musikbusiness“ personalia und beantwortete Fragen zu Aspekten wie Vermarktung, Lizenzrecht und Vertragsge- staltung. Maffay denkt daran, die Bands Dagmar Schlingmann tiative, die durch den Sänger und Lieder- auch in anderer Weise zu unterstützen: (Bild) wird neue Inten- macher Rolf Zuckowski ins Leben gerufen dantin des Saarländi- wurde. „Kinder brauchen Musik“ widmet „Wenn sich die Bands musikalisch weiter schen Staatstheaters in sich der Förderung des aktiven Musizierens entwickeln, können wir auch einmal in unse- Saarbrücken. Darauf ei- von Kindern und setzt sich mit vielfältigen ren Studios eine Produktion unter profes- nigte sich eine Findungs- Projekten dafür ein, dass auch Kinder in sionellen Bedingungen realisieren.“ kommission, nachdem benachteiligten sozialen Lebensverhältnissen Die Rock-Pop-Schule ist ein Jahreskurs der noch amtierende aktiv Musik machen und erleben können. und für alle offen, die ihr Instrument in ei- Generalintendant Kurt +++ Gerd Gebhardt, Vorsitzender der ner Band erlernen und spielen wollen. Das Josef Schildknecht deutschen Fonoverbände, wird nach vier Programm besteht aus Bandarbeit, Instru- aus Protest gegen die massiven Einsparun- Jahren nicht wieder für das Amt des Vor- mental- oder Gesangsunterricht in Klein- gen im Theateretat seinen Vertrag vorzeitig sitzenden kandidieren. Er steht damit auf gruppen mit 2-3 Personen und Popanalyse aufgelöst hatte. Schlingmann, derzeit noch eigenen Wunsch für eine dritte Amtszeit im wöchentlichen Wechsel. Intendantin des Stadttheaters Konstanz, nicht zur Verfügung, wird aber der Branche U www.fms.essen.de wird ihr neues Amt in der kommenden auch in Zukunft verbunden bleiben und Spielzeit 2006/2007 antreten. +++ als Executive Producer den ECHO-Preis Walter Blovsky hat das Management des verantworten. +++ Ansgar Haag (Bild) Filmmusik im Fokus Symphonieorchesters des Bayerischen ist neuer Intendant des Theaters Meinin- Rundfunks übernommen. Er tritt damit die gen. Damit tritt er die Premiere für eine neue Musikzeitschrift: Nachfolge von Thomas Schmidt-Ott an, Nachfolge des Schwei- Die Publikation „Cinema Musica“ informiert der den Bayerischen Rundfunk auf eigenen zers Res Bosshart an, für den deutsprachigen Raum vierteljährlich Wunsch verlassen hat. +++ Carl Grouwet dessen Vertrag nach über alles, was die Musik im Film ausmacht. ist neuer Geschäftsführer des C. F. Peters nur drei Jahren von der Ein Schwerpunkt der Zeitschrift wird auf Musikverlags in Frankfurt. Er folgt Karl Kulturstiftung Meiningen die bisher nur wenig beachtete deutsche Rarichs und wird den Verlag gemeinsam aufgelöst wurde. Das Filmmusik gelegt. Deren Komponisten soll mit Ina Bilges leiten. +++ Die Hambur- Theater hat unter Boss- mit dem Magazin ein neues Forum zum ger Kultursenatorin Karin von Welck hart ein Drittel seiner Austausch gegeben werden – ein Netzwerk, übernimmt für ein Jahr die Patenschaft der Abonnenten verloren. in dem Filmschaffende, Komponisten und im vergangenen Jahr neu gegründeten Stif- Haag, derzeit Leiter am Ulmer Theater, Zuschauer/Zuhörer sich kennen lernen kön- tung „Kinder brauchen Musik“. Die Sena- wird beide Ämter bis zum Sommer 2006 nen. torin würdigte damit die beispielhafte Ini- parallel ausüben. U www.cinemamusica.de

 6 MUSIK ORUM „Europamusicale“ eröffnet Hamburger Staatsoper Erste DualDisc Konzertsaison 2005/06 „Haus des Jahres 2005“ In der Reihe Mit dem Bach Collegium München und Die deutschen Musikkritiker haben die „Edition Zeitge- dem französisch-zypriotischen Pianisten Cyp- Hamburger Staatsoper zum „Opernhaus des nössische Musik“ rien Katsaris eröffnet die Europäische Kultur- Jahres 2005“ gekürt. Im alljährlichen Ran- haben der Deut- stiftung „Europamusicale“ ihre Konzertsai- king der Zeitschrift „Opernwelt“ honorier- sche Musikrat und son 2005/06. Unter der Leitung von Florian ten die Experten die Leistungen der Inten- Wergo eine der ersten DualDiscs auf dem Sonnleitner erklingen im Herkulessaal der danten Louwrens Langevoort und Albin europäischen Markt veröffentlicht. Das Me- Münchner Residenz u. a. Werke von Haydn, Hänseroth und ihres Dirigenten Ingo Metz- dium, dessen Audio-Seite auf herkömmlichen Bach und seinen Söhnen. Das Konzert am macher. Maestro Metzmacher wird im CD-Playern abspielbar ist, enthält zusätzlich 25. Oktober findet anlässlich der diesjähri- Herbst 2007 das in Berlin ansässige Deut- auf der Rückseite Daten, Filme oder Bilder, gen Kuratoriumssitzung der Europäischen sche Symphonie-Orchester übernehmen. auf die in jedem DVD-Player oder im DVD- Kulturstiftung „Europamusicale“ statt. Die „Dirigent des Jahres“ wurde Pierre Boulez, Laufwerk des Heim-PC zugegriffen werden Konzerterlöse fließen der Stiftung zu, die während Daniel Barenboims Staatskapelle kann. Das neue Medium, das Werke des sich seit dem Jahr 2002 der Förderung von sich als bestes Opernorchester durchsetzte. Berliner Komponisten Stephan Winkler prä- Kunst und Kultur und des kulturellen Aus- Bei den Opernchören belegten die Sänger sentiert, enthält auf der Rückseite einen tauschs in Europa verschrieben hat. der Stuttgarter Staatsoper Platz 1. Musikfilm von Jesko Marx. WER 6556 2

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Beifallsstürme für Bundesjugendorchester in Japan

Erstmals in seiner Geschichte konzertierte das Bundesjugend- ben einer Auftragskomposition des Leipziger Komponisten orchester des Deutschen Musikrats in Japan. Mehr als 6000 Werke von Karl Amadeus Hartmann und Gustav Besucher zog Deutschlands jüngstes Spitzenensemble bei seinen Mahler im Gepäck hatte, mit stürmischem Beifall. Die musika- vier Konzerten im Rahmen des Deutschlandjahres in seinen lische Leitung hatte Dirigent Gerd Albrecht, der während des Bann. Das japanische Publikum dankte dem Orchester, das ne- Gastspiels seinen 70. Geburtstag feierte.

 MUSIK ORUM 7 NACHRICHTEN

˜ „German Jazz Meeting“ gegründet Beim Treffen der Bundeskonferenz Jazz, eines losen Zusammen- schlusses führender Vertreter von Organisationen des deutschen Jazz- lebens, wurde der Verein „German Jazz Meeting“ gegründet. Er plant, mit Partnern alle zwei Jahre rund 100 Vertreter großer nationaler und internationaler Jazzfestivals und wichtiger Medien nach Bremen einzuladen, um ihnen – im Rahmen eines Festivals – eine repräsen- tative Auswahl aktueller deutscher Jazzprojekte zu präsentieren. Mit der Messe Bremen konnte ein Kooperationspartner für die Durch- führung des Festivals gewonnen werden. Im Bremer Kongresszent- rum findet vom 23. bis 26. März 2006 die Messe „jazzahead“ statt,

bei der auch das erste German Jazz Meeting über die Bühne geht. Foto: MDR/Andreas Lander ˜ Popakademie bietet „Package-Seminare“ ˜ Brandauer liest Mozart Die Mannheimer Popakademie startet mit einem neuen Weiter- Anlässlich des Mozartjahrs 2006 werden die Kulturradios der bildungspaket ins neue Studienjahr. Neu im Programm sind die „Pa- ARD gemeinsam mit dem Schweizer Kulturradio DRS 2 ein einzig- ckage-Seminare“ als Weiterbildungstool, die den Teilnehmern Know- artiges Rundfunkprojekt starten: Täglich werden Briefe von Mozart, how zu speziellen Themen vermitteln und zum Package-Tarif an und solche, die an ihn gerichtet waren, zu hören sein. Gelesen wer- aufeinander folgenden Tagen angeboten werden. Aktuell können den die historischen Dokumente von Weltstar Klaus Maria Bran- das Label-Package und das Veranstalter-Package gebucht werden. dauer und der Wiener Burgschauspielerin Birgit Minichmayr. ausgezeichnet Würth-Preis 2005 an die Philharmonie der Nationen für klassische Musik nahmen insgesamt 194 junge Instrumentalistinnen und Instru- Den Würth-Preis der Jeunesses Musicales mentalisten aus 32 Ländern teil. Die ersten Deutschland (JMD) erhielt die Philharmonie Preise gingen an den ungarischen Hornis- der Nationen. Im Rahmen eines Konzerts in ten Szabolcs Zempléni, den japanischen Berlin nahm der künstlerische Leiter des Or- Geiger Keisuke Oka- chesters, Justus Frantz, die mit 10 000 Euro zaki und die chinesi- dotierte Auszeichnung entgegen. Der JMD- sche Violoncellistin Jing Vorsitzende Hans-Herwig Geyer gratulierte Zhao (Bild). +++ dem Orchester, das in diesem Jahr sein 10-jäh- In Köln ist zum fünften riges Bestehen feiert, und verwies darauf, dass Der Pianist und Komponist Ulrich Mal der Medienpreis die Idee, junge Musiker aus verschiedenen Na- Gumpert (Bild) erhält am 5. November „Leopold“ verliehen tionen in einem Klangkörper zu vereinen, einen im Rahmen des JazzFest Berlin den mit worden (Bild unten), Kerngedanken der Jeunesses Musicales reali- 13 000 Euro dotierten Albert Mangels- die wichtigste deutsche siere. Mit seiner Philharmonie der Nationen dorff-Preis (Deutscher Jazzpreis) 2005. Auszeichnung für Musik- habe Justus Frantz eine besondere Ausprä- Gumpert habe einen eigenwilligen und tonträger für Kinder. 150 aktuelle Musik- gung dieser Vision geschaffen. Zudem sei es besonderen Personalstil entwickelt, in dem CDs für Kinder wurden von der Platten- ihm gelungen, ein breites Publikum als Sympa- er die Erfahrungen aus Jazz- und europäi- branche ins Rennen um die begehrte Aus- thisanten der Klassischen Musik zu gewinnen. scher Musikgeschichte auf originäre Weise zeichnung geschickt, nutze. Er habe sowohl als Improvisator als die alle zwei Jahre vom auch durch seine kompositorischen Arbei- Verband deutscher ten wichtige musikalische Impulse gegeben, Musikschulen (VdM) in urteilte die Jury. +++ Beim diesjährigen Verbindung mit dem Internationalen Musikwettbewerb der ARD Bundesjugendministe- vergab die Jury drei erste, sechs zweite und rium vergeben wird. vier dritte Preise in den Fächern Violine, 15 Titel wurden von Violoncello, Horn und Klavierduo. Insge- der Jury nominiert, samt wurden Preisgelder in Höhe von davon haben sieben 103 000 Euro ausgeschüttet. Christoph den „Leopold“ erhalten, Poppen, der in diesem Jahr zum fünften weitere acht Produktio- und letzten Mal die künstlerische Leitung nen sind mit dem des Musikwettbewerbs innehatte, resü- Prädikat „Empfohlen mierte: „Das war einer der spannendsten vom Verband deut- Wettbewerbe seit Jahren!“ An dem welt- scher Musikschulen“ weit größten internationalen Wettbewerb ausgezeichnet worden.

 8 MUSIK ORUM Fachtagung des Deutschen Musikrats am 4. und 5. November in Berlin: »Musikland Deutschland – WIE VIEL KULTURELLEN DIALOG WOLLEN WIR?«

Die Diskussionen zum Themenkreis kultureller Identi- turellen Dialogs im „Musikland Deutschland“ nahe. täten und dem damit verbundenen Verhältnis zu den Das Reizwort der Parallelgesellschaften hat Ängste Mitbürgerinnen und Mitbürgern nichtdeutscher Her- aufgedeckt und geschürt, die zu oft den Blick auf kunft legen die Fragestellung nach dem Umfang kul- Ursache und Wirkung verstellen.

Die Faktenlage – auch im Hinblick auf demie Mannheim, Udo Dahmen, sowie Abgeschlossen wird die Fachtagung die zwingende Notwendigkeit einer qua- Komponist Fabien Lévy und Autor Mu- mit einer Abschluss-Diskussion unter dem lifizierten Zuwanderung – ist hinreichend rat Güngör die „Musikalische Traditionen Titel „Deutschland – Standort kultureller beschrieben. Die Frage, welche Chancen in Deutschland“. Sie legen offen, welche Vielfalt“, in der der Vorsitzende des Deut- sich aus diesem Reichtum kultureller Viel- Verschmelzungen sich gegenwärtig voll- schen Kulturrats, Max Fuchs, der Vizeprä- falt ergeben, bleibt hingegen weitgehend ziehen. Diese Bestandsaufnahme soll sich sident des Deutschen Musikrats, Hans unbeantwortet – für unser Kulturleben und sowohl auf populäre als auch auf die so Bäßler, die Bundestagsabgeordnete Gitta damit auch für den Standort Deutsch- genannte ernste zeitgenössische Musik Connemann, ZDF-Programmdirektor Tho- land. beziehen. Gefragt werden wird auch, in- mas Bellut und Karl Karst, Wellenchef von wieweit sich „deutsche“ Musik durch Ein- WDR3, Perspektiven aufzeigen und Hand- flüsse aus anderen Ländern und Konti- lungsempfehlungen an Politik und Multi- ˇ Mit einer Fachtagung* zum nenten verändert hat oder sich künftig plikatoren abgeben werden. Thema „Musikland Deutschland – noch verändern kann. Der Deutsche Musikrat sieht sich in Wie viel kulturellen Dialog wollen der Verantwortung, einen Beitrag zu die- wir?“ geht der Deutsche Musikrat Perspektiven und sen zentralen Themen gesellschaftspoliti- am 4. und 5. November in Berlin scher Entwicklung zu leisten und damit gemeinsam mit Gästen und Fach- Empfehlungen für auch Brücken zu schlagen, wo Gräben leuten aus Kultur und Politik der Politik und Multiplikatoren sichtbar sind. gestellten Frage nach. So ist die Fachtagung – sie wird geför- ˇ Zentrales Anliegen: In Vorträ- Ein weiteres Panel beschäftigt sich mit dert von der Beauftragten der Bundesre- gen und insgesamt neun Panels soll dem „Interkulturellen Dialog als Standort- gierung für Kultur und Medien und un- ein Bewusstsein für die Zusammen- faktor“. Zusammen mit dem Präsidenten terstützt von der Dresdner Bank, der hänge dieser komplexen Themen- der Unesco-Kommission Deutschland, Werkstatt der Kulturen Berlin, vom Hotel bereiche für die Zukunft unserer Walter Hirche, Patrice Hourbette vom Adlon Berlin, von WDR3, Radio Multi- Gesellschaft – in einem stärkeren Französischen Musikexportbüro in Berlin kulti und der nmz – ein Impuls für die Maße als bisher spürbar – geweckt und dem Kulturdezernenten der Stadt Es- Fortsetzung einer breit angelegten Debat- werden. sen, Oliver Scheytt, hinterfragt der Jour- te und die Weiterentwicklung von Lö- nalist Theo Geissler die Diskrepanz zwi- sungsansätzen. schen dem Wunsch des Verstehens an- Im einleitenden Podiumsgespräch am derer Kulturen einerseits und der Angst Christian Höppner 4. November diskutieren zunächst der Eu- vor Überfremdung in den Städten ande- ropa-Abgeordnete Cem Özdemir, Michel rerseits. Das Panel will herauszufinden, Redaktionsleiter MUSIKFORUM Friedmann, der Präsident des Deutschen wie man den interkulturellen Dialog ge- Generalsekretär des Deutschen Musikrats Musikrats, Martin Maria Krüger, u. a.; stalten kann und muss, um das Mitei- moderiert wird das Gespräch vom Leiter nander von Bewohnern unterschiedlicher des Hauptstadtstudios des Bayerischen nationaler Herkunft vielfältig und positiv Fernsehens, Stefan Mayer. zu gestalten, und wie dieser möglicher- * Die Tagungsleitung haben Christian Höppner Unter dem Motto „Wer das Eigene weise zu einem interessanten Standort- und der künstlerische Geschäftsführer des Deutschen nicht kennt, kann das Andere nicht er- faktor werden könnte. Musikrats, Torsten Mosgraber. kennen, geschweige denn schätzen ler- nen“ beleuchten dann neben dem Execu- ˇ Informationen zu Anmeldung, Programm und Veranstaltungsorten unter: tive Vice President von MTV, Dieter Gorny, der Geschäftsführer der Popaka- U www.deutscher-musikrat.de/index.php?id=1170

 MUSIK ORUM 9 FOKUS

MEHR Kreativität WAGEN

Wie das Neue in die Welt kommt, beschreiben Gerhard Huhn und Susanne Herrmann

reativität und Innovation ˇ mit dem „Feld“, mit der Rolle von Ex- Es gilt, anders wahrzunehmen, Angst zu K werden überall gefordert. perten und Mentoren, die blockieren oder überwinden und Begeisterung zu entwi- Wenn sie gelebt werden, dann fördern, die darüber entscheiden, ob eine ckeln. Kreativität hat zu tun mit der Bereit- neue Idee oder ein neues Produkt sich ge- schaft, sich Ziele zu setzen und sie mit Com- erleben die Ideenspender freilich sellschaftlich durchsetzen wird oder der mitment (dem inneren Verpflichtungsgefühl, ihre Überraschungen: Neues Vergessenheit anheim fällt. eine Aufgabe zu bewältigen) und Ausdauer vorzuschlagen löst Ängste aus, An den Mechanismen der Selektion, zu verfolgen. Aber genauso wichtig ist die wird als bedrohlich abgewehrt unter Umständen aber auch an der Unter- Fähigkeit zu spielen. Und letztlich ist das und schnell sieht sich der Kreative drückung individueller Kreativität lässt sich Schöpferische im Menschen sehr oft (oder als Spinner oder Querkopf in eine erkennen, wie das Schöpferische im Men- immer?) auch eine Frage des Herzens, der schen seine Umsetzung in die Realität schaf- Liebe, der Hingabe. Wenn Kreativität gefor- Schublade gesteckt oder in die fen kann oder ihrer Chancen beraubt wird. dert wird, ist es notwendig, den Raum zu Ecke gedrängt. Soziale Sanktionen Im Nachfolgenden werden die Gedanken schaffen, in dem sich „das Schöpfungswerk sollen die Lust am Neuen nehmen. von Csikszentmihalyi in komprimierter Form der Seele“ (Schiller) entfalten kann. zusammengefasst und mit den Ansätzen der Doch will man Kreativität verstehen, reicht Kreativität ist sehr lange als ein individu- Autoren konzeptionell verbunden. es nicht, Einzelpersönlichkeiten zu untersu- elles Phänomen untersucht worden. Das war chen, die den Hauptanteil an einer neuen unzureichend. Wie Mihaly Csikszentmihalyi Ungenutzte Ideen Idee oder Erfindung zu haben scheinen. Der in seinem Buch Kreativität (1997) betont, schaffen Probleme Beitrag des Einzelnen ist nur ein Glied in ei- verflechten sich drei Aspekte miteinander. ner Kette, eine einzelne Phase eines Prozes- Die systemische Wahrnehmung befasst sich Kreativität gilt als die Schlüsselfähigkeit ses. ˇ mit der individuellen, persönlichen zur Bewältigung der Zukunft. Nicht ausrei- So betont Csikszentmihalyi, dass beispiels- Schöpfungskraft, chend genutzte Ideenkraft ist deswegen die weise die Behauptung, Thomas Edison habe ˇ mit der kulturellen „Domäne“, ihren Ursache der meisten schwer wiegenden die Elektrizität oder Albert Einstein die Rela- symbolischen Regeln und Verfahrensweisen Probleme, sei es in Unternehmen, Organi- tivität entdeckt, eine angenehme Vereinfa- sowie dem archivierten und überlieferten sationen und der Gesellschaft, sei es im pri- chung sei, die unser uraltes Bedürfnis nach Wissen, wobei in der Domäne das Neue an- vaten Umfeld. Geschichten mit übermenschlichen Helden erkannt werden muss, um angenommen Einfache Kreativitätstechniken helfen nicht befriedige. Schließlich wären die Entdeckun- und aufgenommen zu werden, viel weiter. Kreativität ist kein einzelner me- gen undenkbar ohne das zuvor gesammelte thodischer Akt, was häufig von denen ver- Wissen, ohne das intellektuelle und soziale kannt wird, die auf der öffentlichen Bühne Netzwerk, das ihr Denken stimulierte, und – aus einer gewissen Knopfdruckmentalität ohne die gesellschaftlichen Mechanismen, heraus – mehr Innovation fordern, selbst die ihre Innovationen bewerteten und ver- aber nur einen eingeschränkten Bezug ha- breiteten. ben zu den sensiblen, komplexen und per- sönlichen Grenzsituationen beim schöpferi- „Kreativität entsteht Zwischen Domäne, Einzel- schen Denken. Gedanklich Neues zu schaf- aus Interaktion“: persönlichkeit und Feld Der amerikanische fen, ist – auf der individuellen Ebene – eine Psychologe Mihaly Frage des Bewusstseins, der inneren Einstel- Kreativität entsteht aus der Interaktion Csikszentmihalyi. lung und des persönlichen Umgangs mit dreier Ebenen, die gemeinsam ein System Fantasie, mit Irrationalem und Unlogischem. bilden:

 10 MUSIK ORUM Es gilt: anders wahrzunehmen als gewohnt, Angst zu überwinden, Begeisterung und Ausdauer zu entwickeln

weise von Galilei die experimentelle Physik, ˇ Phase 2: ˇ eine Kultur, die symbolische Regeln von Freud die Psychoanalyse. Kreativität fin- Inkubation – das heißt: „schwanger ge- umfasst (Domäne), det also nicht isoliert im Kopf des Indivi- hen“ mit dem gesammelten Material, „he- ˇ eine Einzelperson, die etwas Neues duums statt, sondern in der Interaktion zwi- ranreifen lassen“ der Lösung, „ausbrüten“ in diese symbolische Domäne einbringt schen dem individuellen Denken und einem der Lösung, „in sich arbeiten lassen“. (Einzelpersönlichkeit) und soziokulturellen Kontext – sie ist ein syste- ˇ ein Feld von Experten, die diese In- misches, nicht nur ein individuelles Phäno- ˇ Phase 3: novation anerkennen und bestätigen. men! Ideenfindung, Geistesblitz, Einsicht, Lösung. Alle drei Elemente sind notwendig, da- Nachfolgend sollen die drei Ebenen nä- Plötzlich klärt sich die Stimmung auf. Be- mit es zu einer innovativen Idee, Arbeit oder her betrachtet werden, um die Möglichkei- gleitet von einem freudigen, klaren, strö- Entdeckung kommen kann. ten aufzuzeigen, vorhandene kreative Po- menden Gefühl, wird die Lösung bewusst, Kreativität offenbart sich, wenn ein tenziale zu mobilisieren. kommt die Idee, funkt ein Geistesblitz Mensch, der mit den Symbolen einer beste- durchs Gehirn. henden Domäne wie Musik, Technik, Wirt- Durch die inzwischen gesammelten Er- schaft oder Mathematik arbeitet, eine neue 1. Der individuelle kenntnisse, die Ergebnisse entsprechender Idee oder ein neues Muster entwickelt und kreative Prozess Forschungen und die Entwicklung brauch- wenn diese Neuentwicklung von dem ent- barer Kreativitätsmethoden kann bei eini- sprechenden Feld ausgewählt und in die re- 1926 veröffentlichte Graham Wallas sein gem Training und mit etwas Geschick die levante Domäne aufgenommen wird. Diese grundlegendes Buch The Art of Thought, in Einsicht auch ganz unmittelbar als Ergebnis Neuigkeit wird dann zum festen Bestandteil, dem er seine Vorstellung vom individuellen gezielter Bemühungen kommen. bis sie die nächste kreative Generation ver- kreativen Prozess entwickelte. Demnach ändert und weiterentwickelt. Oft wird auch durchläuft eine neue Idee vier Phasen, be- ˇ Phase 4: eine neue Domäne gegründet, beispiels- vor sie sich in der Realität niederschlägt: Realisierung, Umsetzung, Ausarbeitung. Jetzt geht es darum, die Idee in die Wirk- ˇ Phase 1: lichkeit hineinzubringen – durch Beschreiben, Gründeten Domänen der Kultur: der italienische Aufgabendefinition, IST-/SOLL- Konstruieren, künstlerisches Gestalten, das An- Mathematiker und Astronom Galileo Galilei mit seiner Analyse, erste Lösungsversuche, beim melden von Patenten, das Organisieren und experimentellen Physik und der österreichische Künstler die vage Idee oder Grund- Einsetzen benötigter Finanzmittel, durch die Neurologe Sigmund Freund mit der Psychoanalyse. vorstellung des zu Schaffenden. Motivation notwendiger Unterstützungsper- Die Literatur ist sich einig: 50 sonen, Promotoren und Mäzene. Prozent eines Problems sind gelöst, wenn die angestrebte Lösung Zusammenspiel der sprachlich exakt definiert ist. Großhirnhälften Künstler beginnen ihre Arbeit

© Bettmann © höchst selten mit einer derart Wir erleben während der vier Phasen „exakt definierten“ Aufgabenstel- demnach Prozesse des divergenten wie des lung. Bei ihnen ist das Herantasten konvergenten Denkens. Dementsprechend an den Entwurf, das Ausprobieren, wird von einigen Forschern angenommen, Skizzieren, das Ringen mit der dass ein ausgewogenes Zusammenspiel bei- künstlerischen Idee die charakteris- der Großhirnhemisphären – über ein intakt tische Vorgehensweise. funktionierendes Corpus Callosum (deutsch:

 MUSIK ORUM 11 FOKUS Corpus Callosum

„Balken“), dem Nervenverbindungsstrang schen sich nicht ausschließlich auf die zwischen beiden Gehirnhälften – Grundvo- Sicherstellung ihres Überlebens kon- raussetzung des Schöpferischen ist. Die zentrieren muss. Es gehört offensicht- Großhirnhemisphären sind unterschiedlich lich ein gewisser gesellschaftlicher, ge- spezialisiert: einerseits auf sequenzielles Den- schäftlicher wie individueller Ressour- ken (u. a. verbale, rechnerische, logische, cen-Reichtum dazu, die nötigen Spiel- lineare Prozeduren), wodurch die Konzent- räume für das spielerische, divergen- ration auf die Lösungsfindung ermöglicht te, schöpferische Denken zu schaffen. wird; andererseits auf simultanes Denken In einem Land, das nach wie vor (u. a. bildhafte, räumliche, paradoxe Proze- zu den erfolgreichsten Exportländern duren), das auseinander strebend eine Viel- der Welt gehört und das eine enorme zahl von Einfällen durch das ihr eigene para- Produktivität aufweist, fehlt es nicht doxe, unlogische und sich in Sprüngen an den Mitteln, Kreativität zu fördern. bewegende Denken erlaubt. Vielmehr fehlt es an Werte-Entschei- Durch massive Einwirkungen seitens dungen für die Verwendung der Mit- Schule, Eltern und Gesellschaft – mit der tel. Bei der Förderung der Kreativität Folge einer höchst einseitigen Förderung der geht es um die Fragen: sequenziellen Funktionen – kann es in der Voraussetzung des Schöpferischen: ˇ In welchen Domänen soll eine plastischen Phase der Gehirnentwicklung Wissenschaftler gehen davon aus, dass ein Zusam- Weiterentwicklung stattfinden? beim Kind und Heranwachsenden zu Stö- menwirken der beiden Gehirnhemisphären – koordi- ˇ Wo soll investiert werden? rungen oder gar Blockaden der Kreativität niert über den Verbindungsstrang Corpus Callosum – entscheidend für Kreativität verantwortlich ist. ˇ Wo soll der Überschuss an Auf- kommen. Grund hierfür ist, dass die Balan- merksamkeit generiert werden? ce zwischen beiden Hirnhälften zugunsten der Dominanz einer der beiden Hemisphä- (z. B. die Baukunst, in der wir Romanik, Go- Hier bedarf es der Weisheit und Weit- ren geopfert wird. tik, Renaissance, Klassizismus, Jugendstil, sicht, aber auch des Muts und der Durchset- Die besondere Fähigkeit kreativer Men- Bauhaus usw. voneinander unterscheiden). zungsfähigkeit der Entscheidungsträger, Zu- schen besteht in der Möglichkeit, beide He- Domänen können Kreativität in mehrfacher kunft gestalten und nicht Vergangenes misphären, beide Denkstile unbewusst oder Hinsicht behindern oder fördern, wobei drei möglichst lange erhalten zu wollen. gezielt, nacheinander oder in Kooperation Elemente besonders bedeutsam sind: die miteinander einzusetzen. Das Zusammen- Klarheit der Struktur, die zentrale Stellung spiel beider Hemisphären muss deswegen innerhalb der Kultur und die Zugänglichkeit. 3. Das Feld im Schulunterricht, im Studium und im Be- Gegenwärtig haben Domänen mit mess- ruf gefördert werden. Spiritualität, aktive baren Ergebnissen meist Vorrang vor nicht „Kreativität ist jede Handlung, Idee oder wie passive Beschäftigung mit Kunst und messbaren. Es kommt so zu der paradoxen Sache, die eine bestehende Domäne verän- Kultur (und hier spielt die Musik eine he- Situation, dass es in Domänen, die relativ dert oder eine bestehende Domäne in eine rausragende Rolle) sowie Empathie mit dem banal, aber leicht zu messen sind, eher zu neue verwandelt. Ein kreativer Mensch ist Kosmos (wie Hoppe das absichtslose Wahr- auffälligen Neuentwicklungen kommt als in eine Person, deren Denken oder Handeln nehmen des Werdens und Vergehens in der anderen, sehr wichtigen, in denen aber das eine Domäne verändert oder eine neue Natur genannt hat) sind die Schlüssel, Domi- Neue komplexer ist. Domäne begründet – was aber nur mit der nanzen der verbalen Hälfte unseres Groß- Um innerhalb einer Domäne Neues zu expliziten oder impliziten Zustimmung des hirns abzubauen und das die Kreativität er- erschaffen, muss man zunächst alles Beste- dafür verantwortlichen Feldes geschehen möglichende freie Zusammenspiel beider hende kennen. Man kann nicht in einer Do- kann.“ (Csikszentmihalyi) Hemisphären wieder zuzulassen. Ein besse- mäne kreativ sein, zu der man keine Verbin- Ein kreativer Mensch muss sich nicht res Verständnis dieses prozesshaften Ablau- dung hat. Man muss die Regeln kennen, zwangsläufig von anderen unterscheiden. fes könnte auch dazu führen, den psychi- einen Überblick über das vorhandene Wis- Was zählt, ist: Wird sein kreatives Werk an- schen Stress in der zweiten Phase, der bis zu sen haben und Zugang zu den inneren erkannt und in die Domäne aufgenommen? depressiven Störungen oder apathischen Strukturen und Prozessen. Es gilt, einer Damit eine Idee Wirkung zeigen kann, muss Momenten führen kann, besser auszuhal- immer dynamischer wachsenden riesigen sie in Begriffe gekleidet werden, die für an- ten. Die Inspiration braucht Zeit und Unge- Menge von Informationen Aufmerksamkeit dere verständlich sind; sie muss von den duld ist kontra-kreativ. zu schenken. Je weiter eine Kultur voran- Experten im Feld anerkannt und schließlich Soweit zu den individuellen Aspekten schreitet, desto schwieriger ist es, mehr als in ihre jeweilige kulturelle Domäne aufge- der Kreativität. Doch welche Rolle spielt der einen einzelnen Wissensbereich zu beherr- nommen werden. zweite Aspekt – die Domäne? schen. Früher von einer Person beherrsch- Das Feld beschreibt alle Personen, die bare Domänen sind längst in Unterdomä- den Zugang zur Domäne überwachen. Sie nen aufgespalten worden; es entsteht spe- treffen die Entscheidung, ob eine neue Idee 2. Die Domäne zialisiertes Wissen. oder ein neues Produkt in die Domäne auf- Die Konsequenzen liegen auf der Hand: genommen wird. In der Domäne der Musik Jede Domäne besteht aus ihren ganz ei- Kreative Entwicklungen in einer bestimm- gibt es Wettbewerbe, Dirigenten, Musikver- genen symbolischen Elementen, eigenen ten Domäne sind nur dann möglich, wenn lage und Veranstalter von Konzerten, die Regeln, hat ein eigenes Bezeichnungssys- ein Überschuss an Aufmerksamkeit vorhan- entscheiden, wer gehört wird und wer nicht. tem: Sie ist eine „kleine abgetrennte Welt“ den ist, wenn die Aufmerksamkeit der Men- In den Unternehmen wird diese Rolle von

 12 MUSIK ORUM Vorrangig geht es nicht um ein Mehr den Führungskräften wahrgenommen – der zahllosen Neuerungen wird schließlich einerseits entsprechend ihrer hierarchischen in die Kultur aufgenommen. Die Kultur Autorität und ihrem persönlichen Akzep- muss die meisten Ideen aussortieren, um zu an Kreativität – es tanzgrad für Neues, andererseits entspre- überleben. Ansonsten würde sie sich auflö- chend ihrem am Unternehmen orientierten sen. geht um mehr Mut Verständnis für die Balance zwischen kon- Felder können das Ausmaß der Kreativi- servativen, sichernden und Zukunft gestal- tät in mindestens dreifacher Hinsicht beein- tenden und innovativen Kräften. flussen: erstens durch eine entweder reakti- und weniger Angst Dieses Systemmodell erklärt auch rätsel- ve oder proaktive Haltung; zweitens durch hafte Schwankungen in der Zuschreibung die Anwendung eines engen oder weiten vor dem Neuen von Kreativität. Beispiele: Der Maler Raffael Filters bei der Auswahl von Neuigkeiten; galt seit seinem Aufstieg am Hof von Papst drittens können Felder neue Entwicklungen Julius abwechselnd als bedeutender, aber fördern, wenn sie eine gute Verbindung auch als marginaler Künstler, Gregor Mendel zum übrigen Gesellschaftssystem haben und nahmen anbieten, die Einfluss auf das Feld kam erst ein halbes Jahrhundert nach seinem fähig sind, Unterstützung in ihre eigene Do- nehmen, wenn an innovationsfördernde Tod als Erfinder der experimentellen Gen- mäne zu leiten. Maßnahmen für einzelne Individuen ge- technik zu Ruhm und Ehren, die Musik von In einer Vielzahl von Fällen wird sich er- dacht werden sollte. Bach wurde lange als altmodisch abgetan. geben, dass der praktizierte Umgang mit Abgesehen von solchen Fällen wird aber deut- diesen Faktoren viel eher zu einer Hem- Domäne bedarf der lich: Kreativität und soziale Anerkennung mung oder gar Unterdrückung von Kreativi- Erneuerung sind untrennbar miteinander verbunden. tät als zu ihrer Förderung beiträgt – was im Widerspruch steht zu den oft in feierlicher Die einzelnen Menschen innerhalb eines Kultur muss die meisten Form oder sogar schriftlich festgelegten Feldes, die entscheiden, wie die Zukunft Ideen aussortieren Grundsätzen, Leitlinien und politischen aussehen wird, sind keine abstrakten oder Thesen. Je nach Position der möglichen Ein- anonymen Größen. Wer Neues durchset- Das Feld ist notwendig, damit man be- flussnahme werden sich bei einer ge- zen will, muss sich die Türwächter in seiner stimmen kann, ob die Innovation die Aufre- wünschten stärkeren Ausprägung von Krea- Domäne genau anschauen. Ein Großteil gung lohnt – nur ein geringer Prozentsatz tivität zumindest gleichzeitig vor allem Maß- wird seine Verantwortung darin sehen, die Stabilität seiner Domäne zu bewahren und sie vor neuem Gedankengut schützen. Aber es gibt immer auch Personen, die etwas wei- Das Individuum bezieht ser und mutiger sind und einsehen, dass Wissen, Anregungen und eine Domäne auch der Erneuerung, des fri- Inspiration aus der Domäne. DOMÄNE schen Geistes der lebendigen Wandlung be- Diese schützt ihre etablierte darf, um überleben zu können. Struktur aber gegen das Um einen kreativen Beitrag zu leisten, Neue. Selten wird es einem INDIVIDUUM muss man nicht nur in einem kreativen Sys- Individuum gelingen, das tem tätig sein, sondern dieses System auch Neue direkt in der Domäne „Idee“ in sich selbst reproduzieren. Das heißt: Die zu platzieren. Es muss ein Umweg beschritten werden Person muss sich mit den Regeln und dem (siehe unten). Inhalt der Domäne ebenso wie mit den Aus- wahlkriterien und Präferenzen des Feldes, Hüter und Türwächter der den Sichtweisen der Experten vertraut ma- Domäne sind Experten, die das chen. in der Domäne zusammen- Als Merkmale der kreativen Persönlich- getragene Wissen, seine keit sind demnach anzunehmen: Verwendung und seine ˇ das persönliche Talent und die indivi- Ordnung vor Chaos und DOMÄNE duelle Durchsetzungskraft, Überflutung schützen, aber ˇ der Zugang zur Domäne und auch Neues hineinlassen, ˇ um die Domäne lebendig der Zugang zum Feld. zu erhalten. INDIVIDUUM Ängste vor Instabilität, vor Chaos und „Idee“ Regellosigkeit ziehen sich wie ein roter Fa- den durch jede Beschäftigung mit dem The- ma Kreativität. Hier gilt es anzusetzen. Denn in erster Linie geht es nicht so sehr um ein Mehr an Kreativität, es geht um mehr Mut und weniger Angst vor dem Neuen. Und die einzige Methode Ängste zu überwinden besteht darin, mehr Liebe zu entwickeln. FELD Liebe zum Wissen, zur Bildung – und zum „Experten“ Fremden, das uns bedrohlich erscheint, weil

 MUSIK ORUM 13 FOKUS

es so unbekannt und weit entfernt ist. Und es gilt, Liebe zum individuellen Menschen zu entwickeln, zum kreativen Menschen, der mehr ist als ein Produktivitätsfaktor und eine Kennzahlengröße. — Wir befragten Menschen, in welchen Momenten sie die „berühmte Muse“ küsst, wann es sie zu schöpferischen Literatur: Taten drängt, was ihren Ideenfluss zum Strömen bringt. • Csikszentmihalyi, Mihaly: Kreativität, Stuttgart 1997. • Huhn, Gerhard: Kreativität und Schule – Risiken derzei- tiger Lehrpläne für die freie Entfaltung der Kinder, Verfas- Die Antworten finden Sie gestreut in diesem Heft… sungswidrigkeit staatlicher Regelungen von Bildungszie- len und Unterrichtsinhalten vor dem Hintergrund neuerer Erkenntnisse der Gehirnforschung, Dissertation, 1990. • Huhn, Gerhard: „Erziehung zur Kreativität“, in: Erziehung Ich bin immer dann Music Now“ ins Leben gerufen, einer huma- und Bildung – Verspielen wir unsere Zukunftschancen?, kreativ, wenn meine Ge- nitären Initiative des legendären Geigers Königsteiner Forum, 1998, S. 101 ff. danken frei ihre Bahnen folgend. Wir organisieren inzwischen jähr- • Koestler, Arthur: The Act of Creation, 1964; deutsch: ziehen und in diesem lich 50 bis 60 eintrittsfreie Konzerte, bei Der göttliche Funke (vergriffen). größeren Raum Neues denen Musikstudenten in sozialen Einrich- entstehen kann – so wird tungen oder auch in Gefängnissen spielen. der Weg frei für neue Die Autoren: Lösungen, dies oft auch Katharina Curtius Dr. Gerhard Huhn studierte Jura in in unerwarteter Form. In meinem Beruf als Dipl.-Psychologin Berlin, Auslandsaufenthalte u. a. in den Die Begleitung von Richterin habe ich mich USA, in Schweden und in der Schweiz; Menschen in schwierigen Lebenssituationen an die Gesetze zu halten mit 28 Jahren Verkaufsdirektor einer kann dadurch an Tiefe gewinnen und der und mich vor Neuschöp- amerikanischen Konsumgüterfirma; nötige Abstand zum Geschehen lässt plötz- fungen zu hüten. Den- Beendigung des Studiums in Berlin und lich Raum für neue Einsichten. Dies sind noch gibt es Gebiete, in Promotion zum Thema „Kreativität und schöne Momente, die ich nicht missen denen unkonventionelle Schule“. Weitere berufliche Stationen: Lösungen notwendig möchte. Karin Saeger u. a. als Rechtsanwalt, Verleger und sind, um Probleme, z. B. Richterin Lehrbeauftragter an der Universität der von Kindern und Jugend- Künste und der Freien Universität in Ich bin kreativ beim lichen, zu entwirren. Hierfür kann ich das Berlin sowie an der Bauhaus Universität Schreiben, in Gesprächen, Potenzial nutzen, das mir als Familienfrau in Weimar. Seit mehr als 30 Jahren bei Problemlösungen, zugewachsen ist, um zielorientiert eigenstän- Beschäftigung mit den praktischen beim Fotografieren und dige Wege zu beschreiten, die Ausnahmen Aspekten der Gehirnforschung und Kochen. Kreativität hat von allen Regeln zulassen, aber Konflikte den Konsequenzen für Motivation, ihren Ursprung in einem über Fachgrenzen hinaus abbauen. So greife Lernprozesse, Kommunikation und Zusammenwirken von ich auch zum Telefon, um Kooperations- Kreativität. Er veranstaltet Seminare Begabung, Interesse, partner zu finden, die in den konkreten Fall Sigrid Duden und Coachings für Menschen in Organi- Lernen, Erfahrung und nicht involviert sind, aber eine funktionieren- Juristin sationen und Unternehmen und pub- auch Freude. Sie befähigt de Hilfe leisten können. Der Erfolg für das liziert in Büchern und Fachzeitschriften. mich, Fragen zu stellen, Aufgaben und mir anvertraute Menschenkind gibt mir oft Probleme zu erfassen, gedanklich weiterzu- Susanne H. Herrmann machte eine Recht. Die Kritik einer Gegenseite muss ich entwickeln und zu einem Ergebnis zu Ausbildung zur Europa Management aushalten. Assistentin; anschließend Studium der bringen. In diesem Sinne ist Kreativität für Soziologie, Psychologie und Betriebs- mich die Idee mit ihrer Verwirklichung. Die befragten Frauen sind Mitglieder des ZONTA- wirtschaftslehre an der Freien Univer- Clubs, einem überparteilichen, überkonfessionellen und sität Berlin; während der Studienzeit Kreativ fühle ich mich, weltanschaulich neutralen Zusammenschluss berufstäti- mehrere Auslandsaufenthalte in Mittel- wenn ich in der Erdbeer- ger Frauen in Führungspositionen. Gegründet 1919 in amerika und Asien, 2003 Abschluss als den Vereinigten Staaten von Amerika, ist ZONTA heute zeit zur Begeisterung mei- weltweit in 71 Ländern vertreten, mit rund 34 000 Mit- Diplom-Soziologin; Ausbildung zur ner Kinder einen kardinal- gliedern in mehr als 1200 Clubs. ZONTA ist ein Begriff Verhaltens- und Kommunikationstrai- roten Prinzesspudding aus der Sprache der Sioux-Indianer und bedeutet eh- nerin. Durch langjährige Mitarbeit bei nach altem Familien- renhaft und vertrauenswürdig. Die Zontians stehen für Dr. Huhn intensive Auseinandersetzung die Achtung der Menschenrechte, Gerechtigkeit, das rezept aufschichte. Krea- Grundrecht auf Freiheit und Frieden für alle Menschen, mit den Themen Motivation, Kommuni- tive Fantasie ist aber auch Vera von Moltke Toleranz und internationale Verständigung. kation, Selbstmanagement und Kreati- gefragt, wenn es um die Die Union deutscher ZONTA-Clubs vergibt jährlich u. a. vität. Sie bietet Workshops, Coaching Hausfrau schöne Aufgabe geht, für den ZONTA Musikpreis für Solisten und Kammermusik und Beratung an, insbesondere zu den (in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Musikrat) und junge begabte Musiker Konzertmöglichkeiten Themen Selbstmanagement und Kar- den ZONTA Musikpreis beim Bundeswettbewerb „Ju- zu schaffen und damit zugleich Menschen gend musiziert“ für zeitgenössische Musik. riereentwicklung. in bedrückten Lebenslagen eine Freude zu ! Antworten weiterer Zontians auf Seite 46. U www.emergence.de machen. Mit diesem doppelten Ziel haben wir den Verein „Yehudi Menuhin – Live

 14 MUSIK ORUM GEGEN DIE Ökonomisierung DER LEBENSWELT

Hanns-Werner Heister über Kreativität als künstlerische Produktivität, individuelle und soziale Selbstverwirklichung

s gibt Wörter, die so ver- Abgesehen von der „Frustrationstole- „Kreativ“ ließe sich schlicht mit „schöpfe- 1 schlissen sind, dass man vor ranz“ als einem Teilmoment von „Kreativi- risch“ übersetzen. Oder vielleicht besser: mit E tät“ – dem frag- und klaglosen Ertragen „produktiv“, weil ohne sakrale Nebentöne. ihrem Gebrauch fast instinktiv sämtlicher Zumutungen zwischen „ALG II“ Das Gegenteil ist Einfallslosigkeit, Routine, zurückschreckt. „Kreativität“ und „Klassik-Radio“ –, scheint freilich für Sterilität, Unproduktivität. Der Begriff „Krea- gehört zu ihnen – wohlgemerkt Wirtschaft und Staat sowieso kaum der „krea- tivität“4 entstammt mit traditionalen Resten5 das Wort, nicht die Sache. Dabei tive Mensch“2 das Leitbild zu sein, sondern neuzeitlichen Vorstellungen von Künstlern sind eben diese Sache oder das, der damit etymologisch zusammenhängen- und Kunst, der Kunst- und später Kogni- was mit ihr zusammenhängt, für de Gegentyp der Kreatur, abgeleitet vom tionspsychologie. Lexikalisch definiert wird speziell religiösen Sinn der „Creatura“ (= das „Kreativität“ z. B. als „Fähigkeit, produktiv zu die humane Weiterentwicklung „blind gehorsame Geschöpf [eines Machtha- denken oder die Ergebnisse dieses Denkens, einer Gesellschaft unabdingbar. bers], Günstling, willenloses Werkzeug eines v. a. die originell neue Verarbeitung existie- Besonders dann, wenn sie anders anderen“).3 render Informationen, zu konkretisieren (etwa und sinnvoll angewandt würde.

1. Creativity: Nützliche Neuerungen Den Begriff „Kreativität“ verbindet man gerne mit Mode, Design und Werbung – Bereichen, die sich oft ebenso halbseiden wie halbkünstlerisch gerieren. Jedes neue Designer-Mätzchen, ob „I-Pod-Mac“ oder ökologischer „Big Mac“, wird als noch nie dagewesene Innovation angepriesen. Von da aus dehnt sich „Kreativität“ aus in die – oft verwandten – Sphären des politischen und wirtschaftlichen „Diskurses“. So soll al- les – von kulturbeschränkenden Spar-Refor- men (die wahrlich Retro-Formen, Rück- wärts-Formierungen sind) bis hin zur Ab- schaffung der Lehrmittelfreiheit an Schulen und der „Selbstbeteiligung“ der Eltern – krea- tivitätsstimulierend sein: etwa die Lösung des Problems überhöhter Klassenfrequen- zen, überfüllter Räume, anwachsender Lärm- pegel oder sinkender Bildungsausgaben – Aufgaben zwischen vierfachem Kontra- punkt und Quadratur des Kreises, deren Bewältigung selbst die hohe soziale Produk- tivität und Kapazität von Lehrenden wie Lernenden überfordern dürfte.

 MUSIK ORUM 15 FOKUS

in Form einer Erfindung oder eines Kunst- werks)“.6 Gemeint ist also so etwas wie „die Her- stellung von Neuem, bisher so noch nicht Vorhandenem“, kurzum eines der wichtigen Merkmale von Kunst, die, wenn sie schon nicht eine neue Welt schafft (Mahler glaub- te das von der Sinfonie), so doch wenigstens Neues in die Welt setzt. Gerade im Hinblick auf Tonsetzerei wurde die permanente Neu- erung, um nicht zu sagen: permanente Re- volution – wenigstens der Kunstmittel, des Kreativität und Innovation: Für Gustav Mahler (links) erschuf schon eine Sinfonie musikalischen Materials und der Musikspra- eine ganz neue Welt. Auch Kurt Tucholsky entdeckte wirkliche Neuerungen nur in che – zum Merkmal der europäischen Mu- der Musik, wenn er spottete, dass die deutsche Revolution – „wegen schlechten sikgeschichte. (Für die Allgemeingeschichte Wetters“ – nur in der Tonkunst stattgefunden habe. trifft dies nicht unbedingt zu: Wegen schlechten Wetters, so spottete bekanntlich Kurt Tucholsky, habe die deutsche Revolu- tion in der Musik stattgefunden). sprechender Problem- und Fragestellungen, eines riesigen postmodernen Gartenzwergs Kreativität an kein Formulieren von Hypothesen und Suche von Jeff Koon). Die Anweisung des Filmre- Privileg geknüpft nach Lösungen [...], schließlich Mitteilen der gisseurs – „Action!“ –, die partiell ein akusti- gewonnenen Erkenntnisse“.9 Das wären al- sches Gegenstück hat im traditionellen Rha- Prinzipiell ist „Kreativität“ die Sache al- les Aktivitäten, die zunächst die Rahmenbe- barber-Gemurmel als Stimme des Volks auf ler, ist die Produktion von Fortschritt an kein dingungen des Musikprozesses vom Erfin- der Bühne, wird fast universal befolgt. Vor Privileg, auch an kein Bildungsprivileg ge- den über das Machen und Hören bis zu allem dann, wenn auch noch privater Ge- knüpft. Neues mit Vorhandenem,7 Bekann- Wirkung und Nachdenken betrifft. Sie be- winn winkt. Das ist freilich nicht gemeint tes mit Unbekanntem zu kombinieren, täti- trifft damit aber auch Musik bzw. den Mu- mit der zur „Kreativität“ gehörenden Umset- ge Fantasie und Spiel sind als solche allge- sikprozess selber, in den Soziales unabding- zung in Produkt oder Tätigkeit, wie uns meine menschliche Fähigkeiten und Fertig- bar integriert ist. schon das enzyklopädische Lexikon lehrte. keiten, wenngleich sie unter repressiven Eher schon die folgende Art künstleri- Verhältnissen aller Art oft genug verschüttet 2. Action: scher Aktivität: „Zweckfreie Kreativität und werden (beispielsweise von vorindustriell bis Sinnvolles Tätigsein körperliche Aktion (Singen, Tanz) verstehen zu „marktwirtschaftlich“ generierter Armut). sich als Akt sozialen Widerstands gegen Ver- Der Musikwissenschaftler Günther Batel „Kreativität“ wurde nach dem Sputnik- dinglichung und Leistungsprinzipien der unterstrich: „Der schöpferische Umgang mit Schock 1957 (als es der Sowjetunion ge- technokratischen Gesellschaft. Die Entwick- Melodie- und Sprachformeln in Spielgruppen lang, erstmals einen Satelliten ins All zu lung der Popmusik ist daher eng mit der kann [...] als anthropologischer Tatbestand schießen) verstärkt diskutiert, erneut dann antiautoritären Bewegung, den Studenten- gelten. Die Kinder sind sowohl die Schöpfer nach dem Schock, den Georg Pichts Bil- und sexuellen Befreiungsbewegungen ver- als auch die Geschöpfe ihrer autonomen dungskatastrophe zu Beginn der soziallibe- bunden gewesen. Der Protest von Popmusik Musikkultur. Der Sinn der Bewegungsspiele ralen Regierungsphase auslöste und der ist jedoch ambivalent: Der Rebellion gegen liegt stets in den Spielen selbst. Sie sind Akti- nicht zuletzt zum Ausbau des Bildungswe- Entfremdung, Kapitalismus usw. steht eine onen der Befreiung in einer wenig schöpfe- sens einschließlich der Musikschulen beige- systematische Integration in die massenme- risch anregenden und wenig Freiräume an- tragen hat. Der „PISA-Schock“ hatte keine dialen Produktionsverhältnisse und eine fe- bietenden Umwelt.“8 Eine Bemerkung, die so nachhaltigen Effekte mehr. Sieht man tischhafte Benutzung neuester musikalischer einen sogleich darüber nachdenken lässt, ob davon ab, dass eine zusätzliche Sportstunde Technologien gegenüber.“10 nicht jene „wenig schöpferisch anregende“ eingeführt wurde, weil viele Kinder schlecht Die chronologisch jeweils jüngste appa- Umwelt auch zu verbessern wäre, etwa durch lesen, schreiben und denken können – dies rative Musik-Technik ist häufig die am Lärmdämmung für Häuser und Wohnun- wohl in vager Erinnerung an die ihrerseits höchsten entwickelte. Für die jeweils jüngs- gen oder großzügig angelegte und ausgestat- schon fragwürdige antike Formel „mens ten musikalischen Werke gilt das nicht tete Spielplätze mit Wasser (aber ohne Klang- sana in corpore sano“, oft übersetzt als „ge- gleichermaßen. Das Prinzip der Bandschlei- installationen usw.). sunder Menschenverstand“, was in der Re- fenkomposition, der unaufhörlichen Wie- Dergleichen nützliche und zugleich schö- gel un-gefähr das Gegenteil von Produktivi- derholung des Gleichen oder Ähnlichen, hat ne Neuerungen im Allgemeininteresse ge- tät ist, die Neues schafft. Einmal mehr folgte sich längst aus dem Bereich der „minimal hören zu den wesentlichen Zielen sinnvoll, damit dem antiken staatsmännischen Motto music“ im engeren Sinn ausgedehnt (die sozial verstandener und angewandter „Krea- „ut aliquid fieri videatur“ ein Handeln, damit Rede ist hier von „E“-Musik, nicht von Tech- tivität“. Denn die Stadien des kreativen Pro- etwas zu geschehen scheine. no-Derivaten). Vielen – hier geht es zunächst zesses umfassen das „Aufspüren von Proble- Jeder noch so nichtige öffentliche Vor- um die Komponierenden – fällt aber oft men oder von Mängeln, Lücken und Un- gang wird zum „Event“ aufgeblasen, wenn nicht mehr viel ein, schon weil ihnen nicht stimmigkeiten (z. B. in theoretischen oder nur irgendwie Ästhetisches und „Kunst“ mit genug auffällt am Zustand der Welt, der, praktischen Systemen) und Definieren ent- im Spiel sind (und sei es nur die Aufstellung schon bei etwas genauerem Hinsehen und

 16 MUSIK ORUM -hören, als durchaus verbesserungswürdig Kunst. Denn gerade sie steht für jenes Allge- Humus (wenn diese organizistische Meta- erscheint. Beim Weghören und -sehen meine und Allgemeininteresse, das durch phorik ausnahmsweise erlaubt ist), aus dem scheint eine Traditionslinie vom Geniekult die Herrschaft der Partikularinteressen be- die Blüten herauswachsen können, die sich zur Narrenfreiheit zu führen oder vom Seis- droht oder schon zerstört ist. Produktivität sowieso – einen produktiven Nährboden mografen, als der Schönberg dem Lauf der ist daher schon notgedrungen nicht nur auf vorausgesetzt – im Wesentlichen von selber Welt vorausahnend nachspüren wollte, hin Kunstdinge beschränkt, sondern eine Hal- entwickeln. (Den zusätzlich nötigen Dünger zur Wetterfahne, zu demjenigen, der sein tung gegenüber der Welt, gegenüber den in erhalten sie dann, als professionell mit Mu- Mäntelchen nach jedem Wind hängt, selbst ihr herrschenden sozialen Verhältnissen. Sie sik Befasste, auf der nächsten Stufe mit qua- wenn keiner weht.11 artikuliert sich in Kunstobjekten, aber auch lifizierten Lehrangeboten an Musikhoch- in gesellschaftlichen Verhaltensweisen. schulen). Ebendiese Breitenbildung darf Gemeint ist damit freilich nicht der im nicht auf Rentabilität oder Umwegrentabili- 3. Shareholder Values: Zeichen der Postmoderne generalisierte äs- tät schielen. Denn sie ist zum andern auch Welthaltige künstlerische thetische Blick, dem tendenziell alles zu an sich selber schon ein Zweck, nicht nur als und soziale Produktivität „Kunst“ wird, gleichgültig, ob nächtliches Vorschule von Ausbildung: musikalische Feuerwerk nach einem Fest über Berlin oder Fähigkeiten und Fertigkeiten als Teil mög- Allen substanziellen Neuerungen ins Ge- nächtliches „shock and awe“ vor dem An- lichst massenhafter individueller Selbstver- sicht bläst der eisige Wind des neoliberalen griff auf Bagdad. Gemeint sind damit im Ge- wirklichung. Diese erhält, richtig praktiziert Kultur- und Sozialabbaus. Der fetischisierte genteil welthaltige Werke sowie auch, trotz und sinnvoll angewandt im Schaffen, Nach- „Markt“ forciert, dessen ungeachtet, Innova- einer gewissen Skepsis, etwas von dem viel schaffen oder im rezeptiven Nachvollzug, tionen durch den Konkurrenzmechanismus beschworenen „Transfer“ von Musik auf zugleich eine soziale Dimensionierung. bis zu einem gewissen Grade, beschränkt sie andere Lebensbereiche, von Mozart zu Ma- Somit geht es bei wirklich welthaltiger jedoch zugleich auf das Marktgängige und the, von Wagner zur Tier- und von Mahler Musikalität in, mit und über Musik hin zu Gewinnbringende, be- oder verhindert da- zur Menschenliebe: Da lernen die Zuhören- einer sozialen Reflexivität und Produktivität. mit eine diesen Rahmen überschreitende den und Mitdenkenden in und an Musik In solcher Perspektive bleibt die Eigenstän- Produktivität = Kreativität.12 Dabei kommt zugleich über die Welt nachzudenken und digkeit der Musik als Kunst, ihre relative kaum eine bildungspolitische „Reform“ (alias auf die Signale des Besseren wie des Autonomie, gewahrt. Sie wird nicht partiku- Verschlechterung der Arbeits- und Lebens- Schlechteren zu hören. laren Zwecken unterworfen, ob als direkte bedingungen, ob Erhöhung der Musikschul- Dabei geht es beim Begriff der durch Reklame für eine Einzelfirma, indirekte gebühren oder Verminderung der pro Mu- „Kreativität“ erzeugten Innovation nicht pri- durch Sponsoring oder „Umwegrentabilität“ sikhochschule erlaubten Studentenzahlen) mär um isolierte, punktuelle, einzelne Trou- oder Propaganda für die „Deutschland- ohne den Hinweis aus, alles diene ja dazu, vaillen oder exotische Reize, sondern viel- GmbH“. Musikalische Produktivität gilt viel- Eliten und deren Kreativität zu fördern und mehr darum, inwieweit bzw. dass die mehr dem Interesse aller. Und als Teil- damit – und vor allem – dem „Standort musikgeschichtliche Entwicklung wie die moment individueller wie zugleich sozialer Deutschland“ zu nützen. Der Verweis auf Musikkultur sowohl tief- und durchgreifend Selbstverwirklichung gehört zu den elemen- taren Allgemeininteressen die möglichst uni- verselle und optimale musikalische Bildung aller. Produktivität ist eine Haltung Das beginnt bei den Kleinsten, ohne Rücksicht auf Einkommen und soziales Mi- lieu (schon das scheint in einem der reichs- gegenüber der Welt ten Länder der Welt unter den Bedingun- gen der „Marktwirtschaft“ und der Herr- schaft der Partikularinteressen zunehmend Letzteren dient dabei als Totschlag-Argu- als auch in zumindest relativer Breite ge- als eine Utopie), und endet nicht bei den ment – als ob die Interessen innerhalb einer prägt und verändert wird. Das ist zunächst großen Komponierenden. Gesellschaft homogene Interessen wären, fürs Komponieren gedacht als einem der und vor allem, als ob die Gewinninteressen Zentren musikalischer (und auch musikkul- von Arbeitgebern und anderen Kapitaleig- tureller) Neuerung, Entwicklung und Entfal- 1 Meyers Enzyklopädisches Lexikon in 25 Bänden, 9., nern, für die in einer „Risikogesellschaft“ tung humaner Möglichkeiten. völlig neu bearbeitete Aufl., Mannheim 1975, Bd. 14 (Ko- notfalls auch mal ein kleiner „Auslandsein- Es gilt aber auch darüber hinaus. Produk- Les), S. 311. 2 satz“ riskiert wird, identisch mit den Lebens- tivität gilt es auch zu entwickeln in Musik- Dieser „zeichnet sich durch weitgehende Selbständig- keit und Weltoffenheit aus, desgleichen durch geistige interessen und den Bedürfnissen der übri- ausübung, Musikpädagogik, überhaupt im Flexibilität, unkonventionellen Denkstil und hohe Frustra- gen Bevölkerung wären! Umgang mit Musik – und in sozialen Erfah- tionstoleranz“, Meyers Enzyklopädisches Lexikon, a. a. O., Künstlerische, musikalische Produktivität rungen im Zusammenhang mit Musik. Ent- S. 311. 3 richtet sich gegen die totale Ökonomisie- sprechende Aktivität kann von der produk- ebd. 4 In der ersten Auflage der MGG (1949-1986) findet sich rung der Lebenswelt. Hieß eine Parole der tiven wie von der rezeptiven Realisierung – unter der nach zahlreichen Stichproben in der Digital- Studentenbewegung um 1968 noch „Kunst von Musik ausgehen, vom Machen wie vom version wohl zutreffenden Voraussetzung, dass das Such- ist keine Ware“, so muss es heute (etwa als Hören. Die geläufige Rede von „Breiten“- programm funktioniert – das Stichwort kein einziges Mal; ATTAC-Parole) bereits heißen: „Die Welt ist und „Spitzen“-Förderung verdeckt dabei im Brockhaus Riemann Musiklexikon in vier Bänden und einem Ergänzungsband von 1995 (Berlin 2000) dann keine Ware.“ Nicht zufällig äußerte sich der eine Asymmetrie. Die erste ist wesentlich dreimal. Das dritte und letzte Erscheinen gilt einer Litera- Protest besonders früh und nachhaltig in der wichtiger. Denn sie bildet zum einen den turangabe zu Hugo Wolfs Musikdramatik. !

 MUSIK ORUM 17 FOKUS

5 „Creatio“, das Schaffen, wurde sogar aufgewertet als Schöpfung: „Deus creator omnium“, Gott sei Schöpfer aller Dinge, behauptet eine der frühen und berühmten Hymnen (wohl von Ambrosius von Mailand, um 340–397). Im Englischen „creation“ ist dieses Ineinander noch so er- halten, während „creation“ auf französisch sich inzwischen doch wieder eher auf die jeweils neueste Hervorbringung Es gibt zwei Momente, von Haute Couture oder Haute Cuisine konzentriert. 6 Meyers Enzyklopädisches Lexikon, a. a. O., S. 311. in denen ich sehr kreativ 7 Die „creatio ex nihilo“, das Schaffen bzw. die Schöp- bin: der eine ist, wenn ich fung aus dem Nichts, ist eine sakrale Illusion. Sie spukt in einer Pressekonferenz noch im beliebten kosmologischen „Standardmodell“ vom Bundeskanzler oder Ich habe immer neue vom „Big Bang“ ebenso herum wie in neoromantischen und postmodernen Künstlerideologien. eines Ministers sitze und Ideen. Schon als Vierjähri- 8 vgl. Günther Batel: „Tänze und Lieder der Kinder in Eu- wieder Platitüden höre, ger wollte ich mein Kinder- ropa. Aspekte städtischer Kinderkultur, Teil 1“, in: Gün- die sie von sich geben. bett verkaufen, später als Stefan Mayer ther Noll/Wilhelm Schepping (Hg.): Musikalische Volks- Dann kann ich innerlich 14-Jähriger war ich dann kultur in der Stadt der Gegenwart, Hannover 1992 (= BR Fernsehen, so abschalten, dass ich in Schwarzhändler. Dann Musikalische Volkskunde – Materialien und Analysen, Bd. Leiter des Haupt- X), S. 12-19. der Zeit Ideen für meine kam die Wahnsinnsidee, 9 stadtstudios Meyers Enzyklopädisches Lexikon, a. a. O., S. 311. Das eigene Arbeit entwickele. sich bei der Berliner Phil- Rudolf Weins- „Mitteilen“ ist etwa die Veröffentlichung und Aufführung Der zweite Moment, in dem ich kreativ bin, harmonikern zu bewerben; von Kompositionen. Das Stichwort „Mitteilen“ erinnert an heimer, 40 Jahre ist, wenn ich zu Hause sitze und Mozart dann die Gründung der zweierlei. Es ist einmal Teilen der Erfahrungen und Er- Cellist bei den kenntnisse, die im Medium des Allgemeinen gewonnen höre. 12 Cellisten, die der 300 Berliner Philhar- wurden, mit Anderen. (Dieses Medium des Allgemeinen Cellisten in Potsdam und monikern ist Kunst ebenso wie Wissenschaft. Die hier gemeinten Hans-Joachim Riese, ehem. Steuerprüfer: schließlich die der 1000 Anderen sind letztlich alle, die Allgemeinheit, auf die Auf die Frage, wann ich am kreativsten bin, Kunst zielt). Das Stichwort erinnert zum andern an das Cellisten in Japan. Gegenteil, nämlich Nicht-Teilen der produktiv gewonne- kann ich nur sagen: Dann, wenn mich Ich bin einfach kreativ, egal, ob ich mit nen und veröffentlichten Ergebnisse, bei deren Vermark- jemand ganz fürchterlich geärgert hat. meinen Enkeln spiele, jeden Tag übe wie seit tung das Gewinnstreben auf privaten Ausschluss zielt und Denn dann bin ich damit befasst, mir zu 40 Jahren oder täglich um den Schlachten- nicht auf Teilnahme und Teilhabe anderer. überlegen, wie ich mich durchsetzen kann. 10 Norbert J. Schneider, Artikel „Popmusik“, in: Brock- see in Berlin jogge. haus Riemann Musiklexikon (Digitale Bibliothek Band 38), Berlin 2000 (vgl. BRM Bd. 3, S. 315). – Beim anderen Er- Otto Bammel, Ministerialrat a. D.: Da scheinen erhält „Kreativität“ eine merkwürdige Schlag- gibt es verschiedene Augenblicke. Am meis- Die oben Befragten sind Mitglieder des Rotary Clubs. seite eben in Richtung Verdinglichung: Ziel der Musikin- ten kommen kreative Gedanken, wenn ich „Service above self – selbstloses Dienen“ ist der Wahl- formatik „ist es, durch die Beschäftigung mit Aufgaben spruch der mehr als 1,2 Millionen Rotarier in aller Welt, aus dem Bereich Musik auf der einen Seite etwas über spontan reagiere, das heißt, wenn ich im die sich in mehr als 31 900 Clubs in 166 Ländern zusam- das Wesen von Musik und über menschliche Intelligenz Gespräch etwas höre und denke: Donner- mengeschlossen haben. Sie bilden eine weltanschaulich und Kreativität zu erfahren und auf der anderen Seite die wetter, da könnte man doch etwas daraus nicht gebundene, überparteiliche Vereinigung, die sich Möglichkeiten des Computereinsatzes zu erforschen“. machen. In der Regel bespreche ich das mit über alle Grenzen hinweg für humanitäre Hilfe und Völ- (C.M.) Brockhaus Riemann Musiklexikon, a. a. O. (vgl. kerverständigung einsetzt. Zu den Tätigkeitsschwer- BRM Bd. 5, S. 187). meiner Frau. Bei mir sind das dann oft punkten gehören die Polio Plus-Kampagne zur Ausrot- 11 Stets geht es statt dessen auch um „Fleiß und Energie, kleine Gesangsvorträge oder Sketche, die ich tung der Kinderlähmung sowie das weltweit größte sie [die Neuerung] gegenüber bereits etablierten Vorstel- vorführe oder gemeinsam mit der Familie private Programm für den internationalen Jugendaus- lungen durchzusetzen“ (Meyers Enzyklopädisches Lexi- mache. Um kreativ zu sein, brauche ich tausch. Rotary wurde 1905 gegründet und ist heute der weltweit älteste existierende Service-Club. kon, a. a. O., S. 311). Bemerkenswert ist dieses abschlie- immer einen Partner – und da geben mir ßend aufgelistete personale Merkmal von „Kreativität“, das, als musikalischer Einspruch verstanden, sogar eine spontane Gespräche und Gedanken die Sekundärtugend zur Primärtugend macht. besten Anregungen. 12 Die „Künstler“ als „Schöpfer“ und die „Händler“ als „Schröpfer“ stellte Richard Strauss in den 12 Gesängen seines Krämerspiegels auf Texte von Alfred Kerr (1918) In meinem Leben sind Theo Geisler, Herausgeber der Neuen einander gegenüber. die kreativsten Momente Musikzeitung: Ich bin immer kreativ, wenn immer die Stunden der ich mich über den Deutschen Musikrat Zusammenarbeit mit ärgere, aber auch, wenn ich mich über den Der Autor: lebenden Komponisten. Deutschen Musikrat freue. Außerdem unter Hanns-Werner Heister ist Professor Da gibt es Inspirationen, der Dusche: Dort fallen mir die schönsten für Musikwissenschaft an der Hoch- die durch nichts zu erset- Bilder für meine Artikel ein. Und letztlich zen sind! Gott sei Dank natürlich abends in der Kneipe. schule für Musik und Theater Ham- Christian Fröhlich wurde ich im Studium burg. Neben zahlreichen Veröffent- Dirigent lichungen ist er Herausgeber der davon überzeugt, selbst Wolfgang Roggatz, Vizepräsident der Reihe „Zwischen/Töne. Musik und auch zu komponieren. Wenn Sie einmal vor Bundesvereinigung der Deutscher Musikver- andere Künste“. einem leeren Papier gesessen haben, haben bände: Meine kreativsten Zeiten habe ich, Sie viel größere Hochachtung vor dem, was wenn ich ganz entspannt in der Sauna liege man scheinbar zu kennen glaubt. Ein wei- und vor mich hin döse. Dann komme ich terer Impuls für Kreativität entsteht sofort, auf die besten Gedanken, die mich dann wenn es mir als Dirigent gelingt, nach einer weiterbringen. Uraufführung mindestens drei weitere Auf- führungen durchzusetzen.

 18 MUSIK ORUM Wie der Deutsche Musikrat „Kreativität“ versteht – und schöpferisches Handeln fördert

Von Martin Maria Kreative Funken Krüger Präsident des Deutschen SCHLAGEN Musikrats

„IM ANFANG WAR DAS WORT.“ Landschaft an Chören und Orchestern des Laien- wie des pro- Der erste Satz des Johannes-Evangeliums geht von einem fessionellen Bereichs, der musizierende Nachwuchs vom Kin- Begriff aus, den man als „wirksam werdenden Gedanken“ um- desalter bis zur solistischen Reife, von der klassischen Musik über reißen könnte. Schöner und knapper kann man Kreativität als den Jazz bis zu Rock und Pop. Dieser Organismus bedingt sich Ursprung alles Bestehenden – oder besser: immer neu Entstehen- gegenseitig und würde entscheidend geschwächt durch jeden den – nicht charakterisieren. Kreativität ist nicht „der Stoff, aus entfallenden oder abbröckelnden Baustein. dem die Träume sind“, sondern durch schöpferische Fantasie In jedem der dieser Vielgestaltigkeit dienenden Projekte ist inspirierte Gestaltungskraft. Damit versteht sich ihre umfassende zentrales Ziel: Förderung der Kreativität! Denn nichts anderes Bedeutung für jeden Menschen, jede Organisation und jede Ge- äußert sich – mit unterschiedlicher Gewichtung – im Kompo- sellschaft von selbst. Im Sinne des Eingangszitats, in dem das nieren, Improvisieren und interpretierenden Musizieren als „Wort“ Selbstbestimmung und daraus hervorgehende Wirksam- immer neue Verlebendigung von Musik. keit einschließt, ist der Verlust der Kreativität demnach gleichbe- Der Deutsche Musikrat benötigt Kreativität auch als Grund- deutend mit „Unmündigkeit“ im wörtlichen Sinn. lage seines politischen Handelns, sei es zur Formulierung und „Der Deutsche Musikrat will auf der Grundlage gesamtgesell- nachfolgenden Gestaltung von Rahmenbedingungen – Beispiel: schaftlicher Verantwortung als Dachverband für alle Bereiche die Sieben Thesen zur Musik in der Schule –, sei es zum Aufbau der Musik Beiträge zur Verbesserung der Musikkultur leisten.“ internationaler Beziehungen, wie sie in besonders vielgestaltiger Die Verwirklichung dieses hohen, in der Satzung erhobenen An- und fantasievoller Weise mit polnischen Partnern bestehen. Hier spruchs erfordert ein Handeln, dessen ethische Grundlage Pablo erwächst das gestalterische Element aus dem Zusammenwirken Casals so formuliert hat: „Erst kommt der Mensch, dann die von Präsidium und Generalsekretär mit wiederum ehrenamtlich Musik und dann das Cello.“ engagierten Persönlichkeiten des Musiklebens einschließlich der Der Deutsche Musikrat setzt dies um, indem er Kreativität Musikwirtschaft, die in den Bundesfachausschüssen Ideen und fördert. Dies geschieht in den großen, in über 50 Jahren entwi- Strategien zu gesellschaftlichen und politischen Herausforderun- ckelten Förderprojekten, deren Vielfalt in diesem Jahr um ein gen entwickeln. weiteres, „PopCamp“, erweitert wurde. Die Projekte werden – Ebenfalls von großer Bedeutung sind die Landesmusikräte als im Dialog mit Geschäftsführung und Projektleitungen der ge- vielfältige Impulsgeber des Deutschen Musikrats und kraftvolle meinnützigen Projektgesellschaft des Deutschen Musikrats – Partner der Länder im Rahmen ihrer Kulturhoheit. geprägt durch Beiräte und Jurys, deren Mitglieder weitestgehend Der Deutsche Musikrat ist also Netzwerk, das die auch in ehrenamtlich ihre künstlerische und pädagogische Berufs- und sich höchst kreativen Bereiche des Musiklebens zusammenfüh- Verbandserfahrung einbringen. Ihre Beiträge dienen einerseits ren will, um hieraus gewissermaßen kreative Funken zu schla- der laufenden Weiterentwicklung der Projekte, andererseits der gen, die allen zugute kommen. Er tut dies mit weitgehender individuellen Betreuung und Förderung von alljährlich Zehn- Finanzierung durch den Bund, ergänzender Hilfe der Länder tausenden von Projektteilnehmern. und Partnern aus dem Bereich der Wirtschaft. Dabei darf es keine Hierarchie geben, die sich etwa an der An der Seite seines Schirmherrn, von Bundespräsident Horst Zahl der Beteiligten festmachen könnte. Vielmehr bilden alle ge- Köhler, wird der Deutsche Musikrat gemäß seinem Motto meinsam einen „Organismus“: die Komponisten und Dirigen- „Musik bewegt“ weiterhin seinen Beitrag zu einer gestaltungs- ten, die Ensembles im Bereich der Neuen Musik, die vielfältige freudigen Gesellschaft leisten.

 MUSIK ORUM 19 FOKUS

Kreativität in der Musik – für viele artikuliert sich tonale Gestaltungskraft am deutlichsten in der Improvisation. Gisela Nauck, die für die CD-Edition „Musik in Deutschland 1950-2000“ eine Kompilation von „Spielformen der Improvisation“ konzipierte, lädt ein zur Entdeckungsreise durch Klang- dimensionen freien Interpretierens und experimenteller Erweiterungen Klangforschen OHNE ZWECK, OHNE ERWARTUNG

on einem bestimmten Gesichtspunkt aus“, so schrieb der englische selbstverantwortliches Handeln, das an die Komponist, Musiker und Sozialutopist Cornelius Cardew 1970, Stelle von Fremdbestimmung tritt. Die Dresd- V ner Improvisationsgruppe Ru-In betitelte ihr „ist Improvisation die höchste Art musikalischer Aktivität, denn sie beruht 1991 in einer sächsischen Tageszeitung ver- auf dem Akzeptieren jener tödlichen Schwäche der Musik, jenem wesent- öffentlichtes Manifest: „Sinneschärfung – 1 lichen und schönsten ihrer Merkmale: der Vergänglichkeit.“ Leben gegen die zivile Abstumpfung“.4 Zugegebenermaßen vollzog und voll- Improvisation in ihren kreativsten Aus- Improvisation, ihre Daseinsberechtigung zieht sich Improvisation in Geschichte und prägungen ist musikalische Verantwortung sind. Gegenwart vielfach musikalisch autonomer vor diesem Jetzt und seinem Vergehen, ist In seinem Traktat Towards an Ethic of Im- und ethisch weniger anspruchsvoll. Und sie die Eroberung und Erfüllung des Augen- provisation, den Cardew im Zusammenhang funktioniert auch ebenso sinnvoll in weni- blicks, ist Wagnis im Angesicht des Schei- mit seiner Arbeit an Treatise (1963-1967), ger freien Zusammenhängen wie etwa beim terns. Musizieren verlässt die gesicherte Exis- jener utopischen Kompositionsgrafik für indischen Râga, der an mündlich überliefer- tenz reproduzierender Kreativität auf dem improvisierende Menschen, schrieb, destil- te Modi, Tonskalen, Rhythmen und Form- Gerüst fixierter Partituren und wird zur lierte er unter anderem als zu entwickelnde abläufe gebunden ist, in der Kadenz des „Gratwanderung, bei der man auch abstür- Tugenden eines Musikers heraus: „Einfach- europäischen Solo-Konzerts, das komposi- zen kann“.2 Sie wird zu einer neuen Mög- heit“, „Integrität“, „Selbstlosigkeit“, „Geduld torische Ideen unter Ausschöpfung virtuo- lichkeit musikalischer Entdeckungen, die und Nachsicht“, „Toleranz“, „Bereit-Sein“, ser Verfeinerung variiert, oder beim Blues, Komposition verwehrt bleiben muss, weil „Akzeptieren des Todes“.3 Improvisation als bei dem die Musiker, verpflichtet einem Har- die besondere Lebendigkeit spontaner Lebenshaltung, die Freiheit durch Disziplin monieschema, Call-Response-Strukturen Ideen und Entscheidungen das Wesen von und Fantasie ermöglicht, Improvisation als folgen. Im Laufe ihrer Jahrtau- sende langen Entwicklung hat Improvisation inner- halb unterschiedlichster Kul- turen sehr verschiedene Musizierpraktiken hervor- gebracht, die jedoch eines eint: der Verzicht auf Schriftlichkeit und die Ein- heit von Erfindung und gleichzeitiger musikalischer Ausführung. Jene anfangs zitierten ethischen Haltun- Erfinder der Improvisation: Die musikalische Moderne hatte mit Komponisten wie Vinko gen sind darin ein spätes Resultat, verbun- Globokar, Mauricio Kagel, Dieter Schnebel und Karlheinz Stockhausen (von links) ihre den mit freien Musizierformen, die sich in- Vorreiter für freie Spielformen. nerhalb der westlichen Avantgarde des 20. Jahrhunderts herausgebildet haben.

 20 MUSIK ORUM Avantgarde und Improvisation Die Anfänge jener noch kurzen Ge- Freie Töne auf CD schichte von Improvisation innerhalb der Ensembles der Moderne und das Entste- musikalischen Moderne fallen in West- hen der Avantgarde dokumentiert die deutschland in die Jahre um 1960. Ähnlich gerade veröffentlichte CD-Box Nr. 12 aus wie diese Moderne selbst ist sie ein interna- der Edition „Musik in Deutschland 1950- tionales Projekt, an dem Komponisten und kommentiert und geordnet nach Entste- 2000“. hungszeit oder Kompositionsbezug. Musiker aus Italien, Frankreich, Israel, Groß- Neben den wichtigsten Spielformen der Im Unterschied zur früheren Schallplat- britannien und Deutschland ebenso beteiligt Improvisation (CD-Cover oben) , wie sie in sind wie Komponisten aus den USA. Freie tenreihe Zeitgenössische Musik in der Bun- nebenstehendem Artikel dargestellt wer- desrepublik Deutschland, die überwiegend Spielformen finden sich zum einen – ange- den, reflektieren die acht CDs der Box die der Neuen Musik im engeren Sinn verpflich- regt durch Einflüsse von „außen“ – innerhalb Entwicklung neuer Konzertmusik und in- der kompositorischen Avantgarde selbst, so tet war, liegt der Dokumentation ein breite- strumentaler Kammermusik, bringen Hör- rer Musikbegriff zugrunde, der Konzertmu- im Schaffen von Karlheinz Stockhausen, beispiele freier Ensembles aus den Zeiträu- sik und Elektronische Musik ebenso umfasst Mauricio Kagel, Vinko Globokar, Dieter men von 1950 bis 1970, 1970 bis 1990 und Schnebel, Michael Gielen, Hermann Heiß, wie Musiktheater, Angewandte Musik, Jazz 1990 bis 2000 und porträtieren bekannte und Populäre Musik. Für die Editionsleitung Franco Evangelisti, Roman Haubenstock- Ensembles wie musikFabrik, Ensemble Mo- des Projekts konnte der Musikrat die Musik- Ramati; zu den allerersten Arbeiten zählen dern, Gruppe Neue Musik „Hanns Eisler“ Dieter Schnebels glossolalie. Präpariertes wissenschaftler Frank Schneider (Intendant und ensemble recherche. des Konzerthauses am Gendarmenmarkt Material für Sprecher und Instrumentalisten Die vom Deutschen Musikrat herausge- Berlin) und Hermann Danuser (Inhaber des (1959-60; siehe CD „Vokale Kammermu- gebene Edition wird nach ihrem Abschluss sik. Vokale Virtuosität“), und Mauricio Ka- Lehrstuhls für Historische Musikwissenschaft auf insgesamt 133 Compact Discs alle an der Humboldt-Universität Berlin) gewin- gels Improvisation ajoutée für Orgel (1961). wichtigen musikgeschichtlichen Phasen nen. Das Projekt wird gefördert aus Mitteln Zum anderen bildete sich seit Mitte der Deutschlands in Ost und West festhalten. 60er Jahre unter der Firmierung „Freie Im- der Beauftragten der Bundesregierung für Die Werkausschnitte sind wissenschaftlich Kultur und Medien. provisation“ ein eigenständiger Musikzweig heraus, dessen Entwicklung international in der heute dritten Generation zu einer kaum noch zu überschauenden Vielfalt geführt 1965 einer der seinerzeit kreativsten engli- einer bewussten Konfrontation von diver- hat – mit unterschiedlichsten Einzugsberei- schen Komponisten, Cornelius Cardew, an. gierenden Stilen, [...] dem allgemeinen Klün- chen und Tendenzen von Noise über indi- Anfang der 70er Jahre entwickelten die gel der Insider-Musik ein offenes Konzept sche, afrikanische oder ostasiatische Musi- britischen Jazzmusiker Evan Parker (Saxo- gegenüberzustellen, also Konzerte experi- zierpraktiken bis zur neuen elektronischen fon), Derek Bailey (Gitarre), Paul Rutherford menteller Musik mit außereuropäischer Musik. In einer groben Skizzierung lassen (Posaune) und Tony Oxley (Schlagzeug) mit Volksmusik, die wiederum mit freier Musik, sich zwei Quellen ausmachen, die in den der „Improvised Music“ eine europäische die wiederum mit alter Musik, die wiede- 60er Jahren zu einer Öffnung der westeuro- Spielart des Jazz, die sich – ebenfalls im Ge- rum mit elektronischer Musik zu konfron- päischen Avantgarde gegenüber den Ein- gensatz zum amerikanischen Free Jazz und tieren usw."7 flüssen der Improvisation führten und in in Auseinandersetzung mit der Musik An- Jene Öffnung des „Kunstwerks Komposi- dieser Auseinandersetzung das komposito- ton Weberns – außerhalb aller Traditionszu- tion“ seit den 60er Jahren in Richtung for- rische Selbstverständnis auch in Deutsch- sammenhänge des Jazz stellte. AMM und maler und struktureller Variabilität, interpre- land revolutionierten: ähnliche Ensembles wie die Gruppo di Im- tatorischer Eigenverantwortung und musika- 1. Die Befreiung von Komposition aus provisazione Nuovo Consonanza5 (gegrün- lischer Kommunikation sowie in Richtung der Fixiertheit seriellen Komponierens, quasi det 1964) und Musica Elettronica Viva6 nichtinstrumentaler, klanglicher Erweite- als Gegenentwurf dazu, wofür der italieni- (1966) in Rom, New Phonic Art (1969) in rung war ein Resultat der Auseinanderset- sche Medienwissenschaftler und Semiotiker Paris oder das eher noch dem Jazz verpflich- zung der westeuropäischen mit der ameri- Umberto Eco bereits 1959 hellsichtig den tete Berliner Globe Unity Orchestra (gegrün- kanischen Avantgarde, vor allem mit den Begriff des „Offenen Kunstwerks“ prägte; det 1966 von Alexander von Schlippenbach; Arbeiten der so genannten New York 2. Die Lösung des Jazz aus formalen siehe Interview ab S. 23) sorgten für eine in- School, also von John Cage, Morton Feld- Zwängen des amerikanischen Free Jazz, die ternationale Durchmischung der frei impro- man, Christian Wolff oder Earl Brown. Die in zwei Stufen erfolgte: 1964 gründeten drei visierten Musik und damit auch für einen Gastspiele von John Cage und David Tudor Londoner Jazzmusiker (Gitarrist Keith vitalen Austausch zwischen neuer Musik und 1954 in Donaueschingen und 1958 in Rowe, Schlagzeuger Eddie Prévost und Sa- Jazz, der sich vor allem in den 80er Jahren Darmstadt hatten die heile Welt des Serialis- xofonist Lou Gare) das Improvisations- auf außereuropäische Kulturen erweiterte. mus aufgebrochen. Zufallsoperationen, Un- ensemble AMM, um aus der Synthese von Walter Zimmermann etwa, der 1977 bestimmtheit und die Erweiterung des Free Jazz, John Cage, Marcel Duchamp, Pab- sein Beginner Studio für experimentelle Klangmaterials auf alle Klang erzeugenden lo Picasso und Royal-College-of-Art-Philoso- Musik in Köln eröffnete – auch ein Ort für Materialien, ebenso grafische Notation, mo- phie eine originäre neue Musik zu erfinden, spontan abgehaltene Sessions und Improvi- bile oder offene Form wurden für Kompo- die so ursprünglich sein sollte wie der afro- sation – betont: „Meine Idee war, grenz- nisten und Interpreten zu einer neuen krea- amerikanische Jazz; dem Trio schloss sich überschreitende Konzerte zu organisieren in tiven Herausforderung. Erklärtes Ziel war

 MUSIK ORUM 21 Durch Erziehung zu selbstständigem Denken zur Kreativität in der Musik SCHLÜSSELERLEBNISSE SIND nicht alles!

Fragen an den Berliner Jazzpianisten, Komponisten und Improvisator Alexander von Schlippenbach

reativität kann man nicht erlernen.“ nommen werden und somit den Anteil an schöpferischer Arbeit K Sagt Alexander von Schlippenbach, einer der ausmachen. gefragtesten deutschen Jazzprotagonisten. Allerdings Würden Sie daraus folgernd Musik benennen können, die seien auch Talente nicht von Geburt an mit Schöpfer- Ihrer Meinung nach nicht oder nur wenig kreativ ist? kraft gesegnet. Selbst große Genies hätten ihr Hand- Schlippenbach: Verlagsproduktionen von Hintergrundmusik werk lernen müssen. für Flughäfen, Kaufhäuser und Ähnliches. Industriell angefertigte

Mit dem freejazzenden Bür- gerschreck von einst und musi- ANZEIGE kalischen Quergeist unterhielt sich für das MUSIKFORUM Peter Ortmann.

Wie würden Sie Kreati- vität in der Musik definieren? Alexander von Schlip- penbach: Als schöpferische Kraft, die Neues schafft und sich durchzusetzen vermag.

Wann ist für Sie Musik – spielend, komponierend oder auch bearbeitend – wirklich kreativ? Welche Teilanforderun- gen müssen Ihrer Meinung nach „Improvisator ist per se kreativ“: in diesem Fall erfüllt sein? Alexander von Schlippenbach. Schlippenbach: Beim Spielen sollte man zwischen dem Improvisator und dem Interpreten unterscheiden. Der Impro- visator ist – auf welchem Niveau auch immer – per se „kreativ“, weil er Eigenes hervorbringt. Der Interpret kann durch eine eigene Note dem Stück einen Anteil an Originalität geben, der ihm ange- rechnet wird. Bei der Komposition zählt das Vorher-noch-nicht-da- gewesene; in der Vollendung die eigene unverwechselbare Hand- schrift. Eine entscheidende Voraussetzung für das Schaffen eines Komponisten ist das Maß seiner Vorstellungskraft. Boulez hat die Imagination die „Königin der Fähigkeiten“ genannt. Der Komponist ist, ähnlich dem Improvisator, unmittelbar kreativ, wenn auch in anderer Vorgehensweise. Bei Bearbeitungen kommt es auf die Art und das Maß der Veränderungen an, die an einem Stück vorge-

 MUSIK ORUM 23 FOKUS

Unterhaltungsmusik nach konventionellen »Vermutlich besteht Mustern; nach „Rezepten“ hergestellter Jazz und Rock etc. in jeder mensch- Mit Blick auf die weitgehend institu- lichen Existenz tionalisierte Musikausbildung in Deutschland – auch die des Komponierens: Ist Kreativität lernbar? Oder fällt sie dem Talent wie „Manna“ ein kreativer Kern vom Himmel in den Schoß? Schlippenbach: Kreativität ist nicht oder Impuls, der sich lernbar. Allerdings fällt sie auch dem Talent nicht in den Schoß. Auch unsere großen Genies mussten ihr Handwerk lernen und in unterschiedlichem Alexander von Schlippenbach mit ihrer Arbeit fertig werden. Möglicherweise besteht in jeder mensch- Maß in Begabungen …hat gemeinsam mit anderen Quergeis- lichen Existenz ein kreativer Kern oder Im- tern wie Peter Brötzmann und Peter Ko- puls, der sich in unterschiedlichem Maß in äußert« wald in der Bundesrepublik der 60er Jahre verschiedenen Begabungen äußert. Erziehung mächtig Staub aufgewirbelt. Er ist stolz zu selbstständigem Denken könnte zur darauf, an der Entwicklung einer jahrzehn- Entfaltung solcher Kräfte von Nutzen sein. telang bestimmenden Stilform des Jazz wohl immer solche Schlüsselerlebnisse. wesentlich beteiligt gewesen zu sein. Ulki- Wie war Ihr Weg zum freien Spiel Insofern reichen sie von Louis Armstrong gerweise hat ausgerechnet Schlippenbach bzw. dahin, wie Sie heute spielen? Gab es ein und Oscar Peterson bis zu John Coltrane – im Gegensatz zu den meisten anderen „Aha-Erlebnis“? und Cecil Taylor. Teilnehmern der Revolte – seine Anzüge Schlippenbach: Ich habe das Improvi- und die gebügelten Hemden nie abgelegt. sieren ausschließlich vom Jazz gelernt und Sie haben die Geschichte des Free Geboren 1938 in Berlin, hatte Schlip- hatte außerdem das Glück, in einer Zeit Jazz mitgeschrieben. Welche Entwicklung hat penbach Klavierunterricht seit dem siebten musikalisch aufzuwachsen, in der die gro- dieser bis heute genommen? Lebensjahr. Nach dem Abitur nahm er ein ßen Veränderungen in der Jazzgeschichte Schlippenbach: Seinerzeit aus musik- Kompositionsstudium an der Staatlichen stattfanden, an denen ich von Anfang an geschichtlicher Folgerichtigkeit und Notwen- Hochschule für Musik in Köln bei Rudolf mitbeteiligt war. digkeit entstanden, hat er sich entsprechend Petzold und Bernd Alois Zimmermann auf. Damals waren auch die meisten „Dino- durchgesetzt, ja unentbehrlich gemacht. Schon während des Studiums spielte er als saurier“ des Jazz noch da, und weil ich viele Heute gibt es weltweit mehr Free Jazz und Pianist in den Jazzensembles von Gunter von ihnen live erleben konnte, waren das improvisierte Musik als jemals zuvor. Hampel und Manfred Schoof. 1966 war er Mitbegründer des „Globe Unity Orchest- ra“. Seit 1970 arbeitet er im Trio mit Evan Parker und Paul Lovens. Er engagierte sich in Theaterarbeit mit Sven Ake Johansson, ging auf Tourneen für das Goethe-Institut in Europa, Asien, Australien und den USA und gestaltete Rundfunkproduktionen für WDR, SDR, SWF, RAI und RIAS Berlin. Schlippenbach lebt als freischaffender Pianist, Komponist und Arrangeur in Berlin.

Zahlreiche Langspielplatten- und CD-Veröffentlichun- gen bei MPS, CBS, FMP, ECM, ENJA und Disk Union. 1988 Gründung des „Berlin Contemporary Jazz Or- chestra“ mit der künstlerischen Zielsetzung, neue Werke zeitgenössischer Jazzkomponisten aufzufüh- ren und auf Tonträger zu produzieren. Piano-Duo mit Aki Takase; Duo-Arbeit mit Tony Oxley und Sam Ri- vers; in Zusammenarbeit mit Rudi Mahall und Axel Dörner Aufführung und Aufnahme des Gesamtwerks von Thelonius Monk beim NDR 1999. Preise: Kunst- preis der Stadt Berlin (1976), Schallplattenpreise der Improvisationen mit festem Boden: Alexander von Schlippenbach in seinem Trio mit Saxo- UDJ (1980/1981), Albert Mangelsdorff Preis (1994). fonist Evan Parker und Schlagzeuger Paul Lovens.

 24 MUSIK ORUM FOKUS

die Überwindung der als rückschrittlich an- Besonders solche Spielformen der Im- weise haben selbst in innovativsten Kompo- gesehenen Arbeitsteilung zwischen Kompo- provisation waren es, die neue Musik vor nistenkreisen der DDR diese Impulse kei- nist und Interpret, besonders bei jenen, die Erstarrungen bewahrt haben. Heiner Goeb- nerlei Spuren hinterlassen, weder diejeni- sich als Avantgarde zum politisch linken, bels, der Improvisation als Bestandteil kom- gen aus England von AMM und der „Im- kapitalismuskritischen, fortschrittlichen La- positorischer Arbeit schätzt, weil sie eine an provised Music“ aus den 60er Jahren noch ger rechneten. Die Ideen der Musiker als körperliche Aktionen gebundene Material- die Öffnungen von Komposition seitens der Solisten, im Ensemble oder Orchester wa- findung ermöglicht, die rein kompositorisch New York School oder die auf künstlerische ren gefragt, um eine Komposition zu vollen- nicht zu erfinden ist, konstatierte 1989, dass Gleichberechtigung, also Demokratisierung den und damit in einer durch den Urheber „entscheidende Innovationsschübe“ für die von Komponisten und Musikern zielenden nicht festgelegten Ausführung neue Ideen neue Musik von der „experimentellen [...] Konzepte der westeuropäischen Avantgar- freizusetzen. Subkultur“ ausgegegangen sind, darunter de. Es gab zwar eine von staatlicher Seite Mit einem ähnlich ethischen Anspruch von den „Improvisatoren der sogenannten zuerst diskriminierte, dann zunehmend ge- wie Cornelius Cardew argumentierte 1972 ‚noise-art‘-Szene vor allem aus New York“.11 littene Free-Jazz-Szene mit Tendenzen zur Vinko Globokar, von dem so wichtige Im- Freie Improvisation auf traditionellen, neuen Musik, auf das Komponieren selbst provisationskompositionen wie Laborato- umgebauten oder auch neu erfundenen Inst- hatten freie, improvisatorische Formen je- rium (1973-85) oder Individuum <—> Collec- rumenten oder in jüngster Zeit auch in der doch kaum Einfluss – abgesehen von weni- tivum (1979 ff.) stammen: „Aus der Sicht Kopplung von Instrumenten und „Electro- gen Ausnahmen bei Jakob Ullmann, Johan- des Improvisierenden gibt es an der Berech- nics“ hat den Klangforschungsprozess in un- nes Wallmann und vor allem im Schaffen tigung der freien Improvisation überhaupt geahnte Bereiche vorangetrieben. Sie hat von Hermann Keller.

1 Cornelius Cardew: Treatise Handbook, London/Frank- furt/New York 1971, zit. n. Peter Niklas Wilson: Hear and Freie Improvisation hat die Frage nach Now, Hofheim 1999, S. 21. 2 Burkhard Beins: „Alte Fragen neu: Form und Inhalt“, in: Positionen „echtzeitmusik“, Nr. 62/2005, S. 10. dem Sinn von Musik neu gestellt… 3 Cornelius Cardew: „Towards an Ethik of Improvisation“, in: Treatise Handbook, a. a. O., S. XVII-XX. 4 Klaus Nicolai: „Radikale Selbst- und Weltwahrneh- mung. Das Dresdner Klang-Projekt Ru-In und sein Um- feld“, in: Positionen „echtzeitmusik“, a. a. O., S. 29. keinen Zweifel. Für ihn ist sie eine Quelle Kommunikation und Interaktion zwischen 5 gegründet von Franco Evangelisti, Aldo Clementi, Larry allen menschlichen Reichtums. In dieser Art Material und Interpreten, aber auch zwi- Austin, John Eaton, John Heinemann, Roland Kayn, Car- des Musizierens muß der Mensch äußerst schen den Interpreten untereinander als mine Pepe, William O. Smith, Ivan Vandor. 6 intensiv alle seine Fähigkeiten in Bewegung neuen musikalischen Parameter in Kraft ge- gegründet von Frederic Rzewski, Allan Bryant, Alvin Curran, Jon Phetteplace, Carol Plantammusra, Richard bringen, sowohl seine musikalischen als auch setzt und damit ein kreatives Potenzial er- Teitelbaum, Ivan Vandor. seine psychologischen. In dieser Musik fin- schlossen, in dessen Mittelpunkt mensch- 7 Walter Zimmermann: „Das Studio Beginner“, in: Regen- det er die Möglichkeit, sich selbst zu entwi- ckeln.“8 Er und auch Evangelisti schätzten besonders die Kollek- …dieser Sinn erfüllt sich für den Improvisierenden tiv-Improvisation als neue Quelle für Kom- munikation und damit nicht mehr in kompositorischer Gestalt, sondern in für musikalische Ideen, da sie – wie Evangelis- der absichtslosen Erfüllung des Augenblicks ti hervorhob – „das Forschen nach neuen Möglichkeiten, gemein- sames Diskutieren und Ausführen“ ermög- liches als musikalisches Verhalten steht. Und bogen Konzerte 1977-1981, hg. vom Beginner Studio für licht, „die Konzentration auf Reflexe, Reak- sie hat nicht zuletzt die Frage nach dem Sinn experimentelle Musik e.V., Köln 1981, o. S. 8 tionen und Provokationen“.9 von Musik und Musizieren neu gestellt, der Vinko Globokar: „Man improvisiert ... bitte improvisieren Sie! ... komm, lasst uns improvisieren ...“, in: Laborato- Der seit Ende der 50er Jahre in Öster- sich aus Sicht der Improvisatoren nicht rium. Texte zur Musik 1967-1997, Saarbrücken 1998, S. 62. reich lebende Israeli Roman Haubenstock- mehr in der absichtsvollen, kompositori- 9 zit. nach: Sabine Feißt: Der Begriff der „Improvisation“ Ramati, für kurze Zeit auch die Amerikaner schen Gestalt und deren Reproduktion er- in der neuen Musik, (= Berliner Musik Studien Band 14), Earl Brown und Morton Feldman oder der füllt, sondern in jener absichts- und ziellosen Schewe 1997, S. 89. 10 Roman Haubenstock-Ramati: „Notation – Material und Grieche Anestis Logothetis bevorzugten da- Erfüllung des Augenblicks: Musik, so der Form“, in: Notation Neuer Musik (= Darmstädter Beiträ- gegen die musikalische Grafik als „eine Art Schlagzeuger von AMM, Eddie Prévost, hat ge zur Neuen Musik, Bd. IX), Mainz 1965, S. 52. Provokation zur Improvisation“, weil da- für den Improvisator keinen „anderen 11 Heiner Goebbels: „Prince and the Revolution“, in: Alb- durch „wieder etwas musikalisch Wahres Zweck als den des Tuns und ist ohne Erwar- recht Riethmüller (Hg.): Revolution in der Musik. Avant- garde von 1200 bis 2000, Kassel 1989, S. 109. und Einmaliges zum Leben in unserer Zeit tung. Ein solcher Musiker zählt nicht auf die 12 Eddie Prévost, zit. n. Peter Niklas Wilsson: Hear and erweckt“10 wird. Ernte, während er pflügt.“12 Interessanter- Now, a. a. O., S. 52-53.

 22 MUSIK ORUM Aus welchen wesentlichen Komponen- Schlippenbach: „Mut zur Improvisa- ten besteht die konkrete musikalische Zusam- tion“ und „Neues wagen“ sind Schlagworte menarbeit z. B. im Globe Unity Orchestra für Politiker, hinter denen sich Verlegen- oder in anderen ähnlichen Formationen, in heit und Ratlosigkeit verbergen. Reine denen Sie mitgewirkt haben? Augenwischerei! Ich brauch nichts zu wa- Schlippenbach: Von großer Bedeutung genn sondern nur gut zu spielen. Insofern ist die lange Zusammenarbeit vom Globe kann ich angesichts dieser Diskussion nicht Unity Orchestra oder auch meines Trios den geringsten Zusammenhang mit meiner mit Evan Parker und Paul Lovens. Die Musik feststellen. Improvisationen bekommen einen festen Boden und tragen sich von selbst weiter. Was müsste insbesondere im Bereich des Musikunterrichts für alle – also in Kinder- Nun ging es dem „Free Jazz“ im gärten und Schulen – anders werden, damit weitesten Sinne ökonomisch nie besonders ganz konkret Ihre Musik den angemessenen gut. Was müsste passieren, damit es ihm im Zugang finden könnte? Hinblick auf die öffentliche Anerkennung und Schlippenbach: Guter Musikunterricht den Musizierenden besser gehen könnte? unter Einbeziehung der zeitgenössischen Schlippenbach: Mit der öffentlichen Musik von Anfang an. Kein Jazz. Er gehört Anerkennung können wir leben. Ökono- nicht an die Schule, weil er in seiner echten

»Mut zu Neuem? Form anarchistisch, rebellisch, unangepasst Ein Schlagwort für ist und sich in kein Reglement fügt. Das kann man nicht schulmäßig lehren, es muss Politiker, hinter dem wild wuchernd abseits der Institutionen sich Ratlosigkeit gedeihen. Was sind – um diese Frage nicht zu vergessen – Ihre aktuellen und künftigen verbirgt« Projekte? Schlippenbach: Die Fertigstellung meiner Solo-Doppel-CD mit dem Titel misch könnte es freilich besser gehen. Da „Twelve Tone Tales“, diverse Solokonzerte, würde es helfen, wenn die Medien etwas eine Tournee im Dezember mit dem kooperationsbereiter wären. Denn das Saxofonisten Evan Parker und dem Publikum, das auch gerne mal diese Musik Schlagzeuger Paul Lovens, dann Vorfüh- im Rundfunk hören würde, ist gar nicht so rungen des Films Berlin. Die Symphonie der klein. Aber da passiert nicht viel – und im Großstadt von Walter Ruttmann mit Live- Fernsehen gar nichts. Musik von „LOK03“ (Aki Takase, Schlip- penbach, DJ Illvibe) und Aufführungen des Von unserer Gesellschaft wird mehr Gesamtwerks des wegweisenden Jazzpia- Mut zur Innovation und damit zur Kreativität nisten und Komponisten Thelonious Monk gefordert – etwa nach dem Motto „Neues mit meinem Quintett bei verschiedenen wagen“. Empfinden Sie angesichts dieser Festivals. Und im nächsten Jahr feiert das Diskussion irgendeinen Zusammenhang zu Globe Unity Orchestra sein 40-jähriges Ihrer Musik? Bestehen.

 MUSIK ORUM 25 FOKUS

s ist ein Kennzeichen der unterschiedliche Auffassungen darüber, meisten Musikwettbewer- wohin die erwähnten Pendel stärker aus- E schlagen sollen. be, dass sie sich in einem ständi- Dem Jazz wird nachgesagt, eine Musi- gen Reflektionsprozess befin- zierform zu sein, in der weitestgehend et- den. Keine Ausschreibung bleibt was erfunden wird, frei erfunden sogar auf Dauer unverändert, denn und gelegentlich etwas Neues. Dies macht über dieses Steuerungsinstru- den Reiz des Jazz aus und bildet einen der ment werden die Ausschläge Anreize für junge Leute. Johannes Stolle, Bas- Die Bundesbegegnung „Jugend jazzt“ der verschiedenen „Wettbe- sist der Popgruppe versuchte von Anfang an, dieses Charak- „Silbermond“: Das werbspendel“ beeinflusst. teristikum in der Auszeichnung besonde- ist ganz unterschied- rer Ensembles deutlich werden zu lassen. lich, aber wir haben Sie wurde 1997 gegründet mit dem Ziel, festgestellt, dass alles, Einerseit sollen Fähigkeiten und Leis- auch der jazzmusizierenden Jugend eine was „extrem“ ist, den tungen, künstlerische Qualität und musi- bundesweite Plattform ihrer Musikalität meisten Eindruck hin- kalisches Handwerk bewertbar und mess- anzubieten – hervorgerufen durch seit den terlässt und dich dadurch auch kreativ bar gemacht werden. Andererseits sollen 70er Jahren eingerichtete Fördermaßnah- macht. Leider gehören zu diesen Extre- Elemente wie Kommunikation und Begeg- men wie Landesjugendjazzorchester, Lan- men, neben den totalen Glücksgefühlen, nung, Spontaneität und musikalische Fle- deswettbewerbe und ihre Basis, Schüler- auch die Momente, in denen es dir total xibilität ihren Ausdruck finden können. So und Amateurbigbands und Aktivitäten schlecht geht. Wir haben schon in vielen kennzeichnen auch Jazz-Wettbewerbe, von Jazz-Ensembles und Jazz-AGs an Schu- Band-Biografien gelesen, dass es ihnen wie das Musikrat-Projekt „Jugend jazzt“, len und Musikschulen. genauso geht. Aber es gibt auch Tage, an denen du einen Tropfen an der Schei- be herunterlaufen siehst, der dich zu ei- nem Song inspiriert – alles ist möglich. Kerstin Siede, Webdesignerin: Kreati- vität ist nicht einfach da. Für mich ist eine animierende Umgebung wichtig. Das kann die Badewanne sein oder auch die Go-Kart-Bahn. Wenn die Idee da ist, muss sofort Bleistift und Papier oder ein PC in der Nähe sein, um sie festzuhalten. Kreativität braucht auch Quellen. Die Gemeinschaft von Men- schen, Gespräche, Synergie-Effekte sind für mich sehr befruchtend.

Matthias Hanselmann, Radiomoderator, Texter und Kompo- nist: Es mag unro- mantisch klingen, aber mir hilft oft ein wenig Zeitdruck, den ich mir auch selbst auferlegen kann! Wenn ich weiß, dass ein Text oder eine Komposition eine Deadline haben, kann ich mich besser auf diese Aufgabe konzentrieren, andere Dinge ausklammern und meinen Kopf freiräumen. Allerdings: Ist der Zeitdruck zu groß und nicht freiwillig auferlegt bzw. akzeptiert, läuft gar nix. Weitere Kreativitätshelfer: Ich begebe mich an einen Ort, an dem niemand etwas von mir will (habe vier Kinder!), am Besten auf dem Land, und jogge, fahre Rad oder schwimme. Stoffwechsel aktivieren!

 26 MUSIK ORUM Dr. Peter Ortmann

Kreativität am Beispiel des Wettbewerbs „Jugend jazzt“ Innovationsanreiz ODER BREMSE?

Von Peter Ortmann

Die Initiative war vom Deutschen Musik- Wie aber sind nun diejenigen jungen rat ausgegangen, der darin eine logische Leute zu erreichen, von denen man neben Weiterentwicklung seiner jazzfördernden einem weit entwickelten musikalischen lebte Entwicklungsfähigkeiten meint, so ge- Maßnahmen nach der Gründung des Bun- Handwerk schon die ersten Bemühungen ben die Materialien der Landeswettbewer- desjazzorchesters im Jahr 1988 sah. Bundes- zur Entfaltung eigener musikalischer Kreati- be und der Bundesbegegnung nur zurück- jugendministerium, Deutschlandfunk und vität erwarten kann? Wenn Kreativität mu- haltende Auskunft. ! die erwähnten Landeswettbewerbe standen sikalische Innovationen, individuellen und bei der Gründung Pate. kollektiven Erfindungsreichtum und ausge-

Ungewöhnliche Stilmischung: „Tee mit Sahne“ aus Niedersachsen gewannen bei der 5. Bundes- begegnung „Jugend jazzt“ im Mai in Koblenz den ersten Preis.

 MUSIK ORUM 27 FOKUS

ˇ In den Ausschreibungen von Bayern, Kombinierten Klassik Hessen, Niedersachsen und Hamburg wird und Moderne: das eine stilistische Eingrenzung nicht vorgege- Duo „Cold Fusion“ aus ben. Erlaubt sind Stücke vom traditionellen Nordrhein-Westfalen, 2. Preisträger bei bis zum Free Jazz. Eigenkompositionen sind „Jugend jazzt 2005“. ganz besonders erwünscht. Alle Arrange- ments müssen Improvisationen enthalten – als spezifisches Kennzeichen des Jazz. ˇ In Nordrhein-Westfalen wiederum „freut sich die Jury auf kommunikative und originelle Beiträge“ und sieht keinerlei stilis- tische Beschränkung vor. mehr zeitlichen Raum einnehmende per- heute das erwünschte große Publikum, das ˇ Anders geht der Jugend-jazzt-Wett- sönlich-kollektive Interpretation und Impro- noch Verständnis für etwas Neues in der bewerb in Sachsen vor. Er verfolgt das Ziel, visation. Spätestens dann muss eigene Krea- Musik aufbringt? Solange hier nicht ein „die einer Altersgruppe angemessene künst- tivität entwickelt werden, denn davon ist die künftiges, fachkundiges, aber auch selbst lerische Leistung zu bewerten. Für die Beur- Gesamtbeurteilung abhängig. betroffenes Publikum herangebildet (!) wird, teilung ist die musikalische und spieltechni- Da dies aber im Jazz der Normalfall ist, wird die Weiterentwicklung wirklich neuer sche Darstellung der vorgetragenen Werke wird nach darüber hinausweisenden For- Musik nicht in dem erwarteten Maße vo- maßgeblich. Hierbei spielen insbesondere men von Kreativität gesucht. Das wissen rangehen. Und die Selbstbetroffenheit beim Kriterien wie Gestaltung, Tonqualität, Spiel- auch die jungen Teilnehmer und versuchen Publikum ist nur durch eine Maßnahme zu technik, stilistisches Verständnis und Niveau sich in ausgefallenen Besetzungen wie z. B. erreichen: Selber-Musizieren. Von Kindes- des gemeinsamen Musizierens eine Rolle“. Duo-Formationen, Ensembles ohne die für beinen an. Wer an der Schule Sport treiben ˇ In Bremen bleibt die Stilistik frei wähl- den Jazz typischen Rhythmusgruppen oder muss, sollte auch ein Instrument spielen bar, eigene Kompositionen sind erwünscht, Verzicht auf Akkordinstrumente wie Klavier müssen. Erst über diesen Weg wird die An- Improvisationen sind aber Pflicht. und Gitarre, Perkussionsensembles und die erkennung musikalischer und kreativer Leis- ˇ Sachsen-Anhalt wiederum geht einen Einbeziehung jazzuntypischer und exoti- tungen der anderen erreicht – von allen an- eigenen Weg und legt die Stilrichtungen der scher Instrumente. deren positiven Effekten des eigenen Wertungsspiele sogar fest, die sich nämlich Gleich darauf folgt in der Häufigkeit das Musizierens ganz zu schweigen. zwischen Swing bis Fusion/Rock bewegen Experimentieren mit eigenen Kompositio- Damit sind wir zwar vom Thema abge- müssen. nen, wobei Grenzüberschreitungen zur zeit- kommen, aber niemand sollte glauben, dass ˇ In Schleswig-Holstein ist alles erlaubt, genössischen Neuen Musik oder zu aktuel- alles so weiter geht, wenn alles so weiter geht. bis hin zu freien Improvisationen. len Formen der Rock- und Popmusik be- Zum Schluss soll die soziale Komponen- Die Bundesbegegnung selbst ist von jeg- sonders beliebt sind. Erst an letzter statisti- te des Jazz nicht unerwähnt bleiben. Anders licher stilistischen Festlegung frei, sind doch scher Stelle – also sehr selten – werden Be- als in der Klassik, die häufig vom Elternhaus ausschließlich die von den Landeswettbe- mühungen erkennbar, die Geschichte der ins Spiel gebracht wird, sind die an Jazz inte- werben ausgewählten – zumeist ersten – Spielformen des Jazz durch neue Klangvor- ressierten jungen Leute vergleichsweise häu- Preisträger zugelassen. Allerdings heißt es in stellungen und Musizierweisen fortzuschrei- fig auf sich gestellt. Jazz ist Gruppenmusik, dem die Fördermaßnahmen beschreiben- ben. Und damit sind die jungen Leute – bei die eigenes Engagement erfordert, um mit den Abschnitt der Ausschreibung: „Darüber der Bundesbegegnung zwischen 11 und 21 anderen zusammen spielen zu können. Jazz hinaus ist der Deutsche Musikrat besonders Jahren alt – zumeist schlicht überfordert. sucht beizeiten sein Publikum, das gefunden daran interessiert, neue Entwicklungen des Denn altersbedingt sind sie mit der Entwick- werden muss. Jeder dieser Schritte fragt nach Jazz als Teil der zeitgenössischen Musik zu lung ihrer Spielfähigkeiten beschäftigt, die in Kreativität, die über die musikalische hinaus- fördern.“ Das klingt lapidar, obwohl im Pro- dieser Phase noch zu wenig wissenden, in- geht, ja ihr vorangeht. Denn das eigene mu- jektbeirat der Bundesbegegnung, einem der tellektuellen und fehlenden zeitlichen Raum sikalische und kreative Konzept entwickelt Projektleitung zur Seite gestellten Gremium bereit hält, um das Spektrum des Jazz zu re- sich am besten im möglichst häufigen Kon- zur Beratung und Weiterentwicklung, die flektieren und daraus Schlussfolgerungen takt mit dem Publikum. Diskussion um Motivation und Anreiz zum für eigene Neuerungen zu ziehen. Das Kreative in der sozialen Komponen- Entwickeln von neuen musikalischen Aus- Da in die Bundesbegegnung jedoch ein te ist aber gerade heutzutage nicht wichtig drucksweisen ständig geführt wird. zweitägiger Workshop integriert ist, werden genug einzuschätzen. Dagegen verblasst die Das hat wiederum mit der Realität zu regelmäßig Dozenten angeboten, die für das gelegentlich krampfhaft wirkende Suche tun. Wie sieht diese angesichts vielerorts ge- „Neue im Jazz“ stehen. Sie berichten über nach Kreativität, nach dem Neuen in der führter Überlegungen aus? ihren musikalischen Entwicklungsweg, füh- Musik junger Leute. Jazz hat zunächst einmal einen Vorteil ren in ihr musikalisches Konzept ein und U www.musikrat.de/index.php?id=648 gegenüber anderen Musikformen: Hier bil- motivieren die Teilnehmer dazu, ebenfalls det das Solo, die Improvisation des Einzel- eigene Wege einzuschlagen. nen im Zusammenspiel mit den anderen, „Neue Töne“ können aber auch hinder- insbesondere mit der Rhythmusgruppe das lich sein. Dies zeigt sich spätestens bei der Der Autor: Maß aller Dinge. Insofern steht weniger die Verteilung der Auftrittsförderungen an die Dr. Peter Ortmann ist Projektleiter der Bewertung des rahmengebenden Themas, Bands: Je moderner, neuer oder gar avant- Bundesbegegnung „Jugend jazzt“ der Komposition im Vordergrund als viel- gardistischer sie klingen, um so schwieriger beim Deutschen Musikrat. mehr die sich anschließende, zumeist viel gestaltet sich ihre Vermittlung. Denn wo ist

 28 MUSIK ORUM Christoph Hempel führt ins Reich der binären Zahlenfolgen, beschreibt die Symbiose von Software und Schöpfergeist und macht Vorschläge für einen experimentellen Unterricht Multimedia UND KREATIVITÄT

in Titel wie dieser provoziert unausgesprochen Gegensätze, die sich Der Paradigmenwechsel, der die Ideen E aus Klischees speisen: hier nervtötender, körperferner Pieps-Sound, der polyästhetischen Erziehung künstlerisch Ballerspiel und infantil animierte Homunculi, unverständliche Software- wie musikdidaktisch in ein neues Zeitalter überführt hat, scheint nicht so sehr durch Handbücher, abstürzende Programme und verquaster, pseudo-englischer neue ästhetische Theorien als vielmehr Insider-Slang, dort Körperlichkeit und Resonanz, Unmittelbarkeit, voraus- durch veränderte technische Bedingungen setzungsloses, spontanes Musizieren, Percussion, Fingerfarben, Orff und ausgelöst worden zu sein. Benjamin und Räucherstäbchen… Adorno ahnten nur Umrisse der heutigen Wirklichkeit. Der entscheidende Anstoß lag Klischees, so wenig sie im Einzelfall einer Vergleiche anstellt, die das Neue in besse- in der Digitalisierung, die die Codierung von kritischen Überprüfung standhalten, entste- rem Lichte erscheinen lassen: So werden medialem Material jeglicher Art mit dem hen meist in der Folge von Paradigmen- z. B. einem vor Jahresfrist noch als perfekt gleichen Chiffrierungsmuster ermöglicht: wechseln; in der Musikpädagogik sind dies beworbenen Automodell unausgesprochen dem Binärcode. Spielt man zu einer Dia- die etwa im Fünfjahreszyklus erfolgenden Mängel unterlegt, indem man die Vorteile Reihe ein Band mit Musik ab, beeinflussen Richtungswechsel der „offiziellen“ musik- des neuen Modells hervorhebt. bzw. steigern sich die Medien in ihrer Wir- didaktischen Inhalte, verbunden mit Metho- Dagegen sollen die folgenden Anregun- kung gegenseitig; dieser Effekt ist seit der denwandel und einer – bisweilen radikalen gen demonstrieren, dass klischeehafte Filmmusik-Forschung bekannt. Alle beteilig- – Abgrenzung der jeweiligen Richtung von Gegensätze zwischen den umfassenden und ten Medien erfordern aber separate Techni- ihren Vorgängern und meist begleitet von zugleich unscharfen Begriffen „Multimedia“ ken der Erzeugung, Speicherung, Bearbei- einer Neudefinition der Rolle der Musikpä- und „Kreativität“ für die musikpädagogische tung und Präsentation: Ein Film muss dagogik und des Schülerbildes. Bei der Ab- Praxis besonders ungeeignet sind und geschnitten werden, die Tonspur liegt fest kehr von bewährten Methoden, die über Konnotationen wie „veraltet“, „zeitgemäß“ an Bildsequenzen an; Dias werden in Käs- Nacht als altmodisch gelten und aktuellen oder „Modeerscheinung“ höchstens von der ten aufbewahrt und benötigen einen Projek- musikdidaktischen Prinzipien weichen müs- Inkompetenz derer zeugen, die sie verbrei- tor und einen dunklen Projektionsraum; sen, bauen Neu und Alt gelegentlich kli- ten. Musikaufnahmen schließlich wurden im scheehafte Feindbilder auf. Die musikdidak- analogen „Zeitalter“ auf Tonbändern und tischen Paradigmenwechseln folgten zu Der Begriff „Multimedia“ Schallplatten gespeichert, deren Bearbeitung dicht aufeinander, um als Konsequenz von viele handwerkliche Tricks und Bearbei- Generationskonflikten interpretiert zu wer- Kaum ein Schlagwort wird so häufig stra- tungsschritte erforderten und bei der Quali- den. Mancher im Dienst ergraute Musikleh- paziert, signalisiert in dem Maß Modernität tätseinbußen oder Zerstörungsrisiken unver- rer hat in eigener Person alles durchlebt: und ist gleichermaßen viel versprechend und meidlich waren. Orientierung am Kunstwerk, Parameter- unscharf wie der Begriff „Multimedia“. Sucht Dies hat sich mit der Digitalisierung ge- Reduktion und Neue Musik in den 70ern, man seine Bedeutung im Wortsinn, also in ändert. Sie erlaubt es, mediales Material jeg- Kritik am Liedersingen, Entdeckung und der Gleichzeitigkeit optischer, akustischer licher Herkunft in eine einheitliche binäre musikpädagogischer Ritterschlag der Pop- und anderer Mittel innerhalb einer künstle- Form umzuwandeln, die eine computerge- musik in den 80ern, Ablösung der Schul- rischen Gestaltung, so betritt man keines- stützte Speicherung, unbegrenzte Kopier- kantate durch das Schulmusical, szenische wegs künstlerisches oder musikpädagogi- barkeit und damit verlustfreie Bearbeitung Interpretation, handlungsorientierter Unter- sches Neuland: Die Idee der polyästheti- erlaubt. Für die Erzeugung, Bearbeitung richt, Bläserklassen, Synthesizer und Musik- schen Erziehung ist Teil der Geschichte der oder Aufbewahrung einer Datei, also einer computer im Klassen-Netzwerk… Musikpädagogik, und die künstlerische Syn- binären Zahlenfolge, macht es keinen Un- Es gehört zum Wesen von Innovation, ästhesie ist ohnehin ein epochenübergreife- terschied, ob sie einen Text, eine Klangfol- dass sie Bewährtes zum alten Eisen legt und nes Phänomen. ge, einen Film, eine Grafik oder das Schleu-

 MUSIK ORUM 29 FOKUS

derprogramm im Steuerchip einer Wasch- einer MIDI-Sequenzeraufnahme oder der Für den kreativen Umgang mit Multime- maschine repräsentiert. In der Folge der Digi- kreativen Klangbearbeitung umgehen will, diaprogrammen ist es also empfehlenswert, talisierung entwickelten sich dann der Com- muss sich mit den technischen Grundlagen sie geradezu gegen den Strich zu bürsten. Es puter und seine Peripheriegeräte zur preis- ein wenig auskennen und etwas mehr als gehört zwar auch zu den oben genannten werten Massenware. Hard- und Software zur die Grundfunktionen des jeweiligen Pro- Klischees, dass das Lesen von Handbüchern digitalen Codierung, Bearbeitung und Deco- gramms beherrschen. Dabei liegt das Prob- und das Eindringen in die technischen Hin- dierung von Medien sind jeweils in profes- lem – kurios genug – gerade in den Bedie- tergründe, etwa der MIDI-Spezifikation sionellen und preiswerten Versionen verfüg- nungshilfen, die sich wohlmeinende Pro- oder der Audio-Bearbeitung, für die Kreati- bar, wobei Kompressionsverfahren zum grammierer, Verkäufer und „Education Ma- vität kontraproduktiv sei, aber es erfordert Einsatz kommen, die die anfallenden Daten- nager“ ausdenken. Die kommerzielle Pop- schon einiges Durchhaltevermögen, um hin- mengen bei fast gleicher Qualität beträcht- musik ist nämlich die Sparte, die am meis- ter dem technischen Aufwand das eigent- lich reduzieren; das bekannte „mp3“ ist ein ten von der beschriebenen Entwicklung pro- liche Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. solches Komprimierungsformat für Schall- fitiert hat, und dementsprechend ist die Dies gilt besonders für die professionellen informationen. Gleichzeitig mit der Digitali- Struktur der meisten Programme auf die Pop- Bearbeitungs- oder Kompositionsprogram- sierung von Klangereignissen wurde mit dem musikproduktion ausgerichtet. Sie ermög- me, die nicht an den Bedürfnissen der Pop- MIDI-Standard ein Format für die tastatur- licht es, die Dreieinhalb-Minuten-Schablonen, musikproduktion orientiert sind, wie z. B. bezogene Codierung von Musik geschaffen. die rund um die Uhr von den „Format-Sen- die am Pariser IRCAM entwickelten Pro- dern“ ausgestrahlt werden, sehr schnell aus gramme Audiosculpt oder MAX/MSP. Der Begriff Kreativität musikalischen Halbfertigprodukten zusam- menzubasteln – das genaue Gegenteil krea- Vorschläge für die Praxis In der Musikpädagogik sind die inhalt- tiver musikalischer Gestaltung. lichen Gegensätze zwischen neuen Tenden- Es ist eindrucksvoll, wie in diesem Genre Die folgenden Vorschläge mögen als zen undDAMIT den von ihnen abgelösten oft nicht DASdie Eigenschaften derALTER Werkzeuge die musi- Anregung EINE für eine praktische Beschäftigung so bedeutend, wie mancher ambitionierte kalischen Strukturen prägen. Ein klassisches mit dem Themenbereich und als Beispiele Aktualisierer glauben machen möchte. Beispiel für musikalische Arbeitserleichte- für die Symbiose von Multimedia und Krea- Wenn der Begriff der Kreativität von den rung unter Verzicht auf klangliche Fantasie tivität dienen. eingangs etwas überspitzt beschriebenen ist der so genannte HAT „General MIDI“-Stan- Konnotationen gelöstZukunft und in seiner allge- dard (GM/GX), der die unendliche Vielfalt Vorschlag 1: Experimente mit meinen Bedeutung als Fähigkeit verstanden von Synthesizerklängen in 16 Familien (Pia- elementarer Klanggestaltung wird, vorhandene Mittel künstlerischer Ge- no, Percussion, Brass etc.) mit je acht Vertre- staltung zu neuen Kombinationen zusam- tern einteilt und damit alle in der Popmusik Im Zuge der Klangdigitalisierung wurden menzusetzen, gewohntem Material durch gängigen Sounds abdeckt. Bezeichnender- in den 80er Jahren zahlreiche Spezialgeräte Praxisbeispiel 4: neuartige Verwendung andere Bedeutun- weise sind die meisten dieser Sound-Stereo- mit jeweils eigener Funktion entwickelt: gen zu geben oder sogarWie produktiv ein Verein gegen fütypenr Imitationen akustischer Instrumente. Synthesizer (Klangmodule) mit unterschied- Regeln zu denken und zu handeln, er- Von der unendlichen klanglichen Vielfalt lichsten Klangformungsverfahren, Hallgerä- einen neuen Umgang schließt sich mit den technischen Möglich- mit ihren kreativen Möglichkeiten, die mo- te, digitale Aufnahmegeräte – alles im Grun- keiten multimedialer Materialverwendung,mit dem Alter wirbtderne Synthesizer bieten, wird im GM-Stan- de nichts anderes als spezialisierte Compu- -bearbeitung und -kombination ein großes dard kaum Gebrauch gemacht. ter, die über so genannte Schnittstellen (In- Feld bisher unbekannter Möglichkeiten. Die Bedingungen sind denen einer inst- rumentalen Improvisation ähnlich: Be- herrscht der Musiker sein Instrument nicht, Abb. 1 stößt seine gestalterische Fantasie immer an Kreative Klangforschung: Mit dem Software-Synthesizer „Reaktor Sound School“ die Grenzen seines instrumentalen Könnens; lassen sich die Grundfunktionen der Tonbildung am Bildschirm simulieren. die Folge wird eine Improvisation mit be- grenzten Ausdrucksmitteln oder unter vor- wiegender Verwendung gelernter Muster sein. Kreativität bedeutet nicht, etwas aus dem Nichts zu erschaffen. Zur Erfindung von Neuem gehört wie die Nacht zum Tag auch die Verwendung vorgefertigter Bau- steine bzw. konventionellen Materials. Auch in den Kompositionen der Wiener Klassiker wechseln sich individuell gestaltete Ab- schnitte mit floskelhaften, austauschbaren Passagen ab; und fast jede Jazzimprovisation arbeitet mit stilgebundenen Mustern. Auch zur kreativen Kombination und Gestaltung multimedialen Materials gehört die technische Beherrschung des Hand- werks. Wer kreativ mit den Möglichkeiten

 30 MUSIK ORUM Bei digitalen Klangexperimenten terfaces) mit dem Computer verbunden geben können. Die ersten Versionen be- wurden. Die technische Entwicklung hat schränkten sich auf Keyboard-Aktionen den Einsatz solcher separater Geräte über- vergeht die Musik- (MIDI-Daten), später kamen Audio- und flüssig gemacht. Sie werden statt dessen als Videodaten hinzu. Nicht nur auf dem Ge- Software geladen, ihre Bedienelemente wer- stunde wie im Fluge biet des Klangs bieten sich kreative Möglich- den in einer Bildschirmdarstellung simuliert keiten. Die Komponisten der Neuen Musik und ihre Aufgaben werden dem Prozessor haben uns den „Reiz der Unmöglichkeit“ des Computers übertragen; Speicherme- vorgeführt, indem sie musikalische Struktu- dium ist die Festplatte, zur Archivierung Letzterer sogar in zwei verschiedenen For- ren für Musiker und Hörer gleichermaßen dient (noch) die beschreibbare CD. men, als Audio-Datei und als Folge von Tas- in Extrembereiche führten. Mit Hilfe einer Für Musikpädagogen ist diese Entwick- tenanschlägen auf einem MIDI-Keyboard Synthesizer-Realisierung können z. B. die lung erfreulich, eröffnet sie doch die Mög- (MIDI-Datei). absichtlichen „Unmöglichkeiten“ der be- lichkeit, auf elementarer Basis kreative Klang- Zahlreiche legendäre Synthesizer der rühmten Messiaen-Etude Mode de valeurs et forschung zu betreiben, die mehr als eine vergangenen Jahrzehnte werden heute – als d’´intensités, wie etwa die unabhängige Ab- bloße Demonstration von Sinuswelle, Hüll- „Vintage Keys“ nostalgisch verbrämt – in stufung mehrerer Dynamikstufen und Arti- kurve und Schwebung ist. So sind z. B. die Software-Form angeboten. Bedienelemente kulationsarten auf dem Klavier, hörbar reali- Grundfunktionen der Klangbildung in der und Tastatur werden detailgenau auf dem siert werden; die mühseligen technischen Gratis-Software „Reaktor Sound School“ Bildschirm simuliert, während statt der Elekt- Montageverfahren der Musique Concrète (Abb. 1) in einer zum Experimentieren ge- ronik des realen Vorbilds nun der Compu- lassen sich elegant simulieren oder durch radezu einladenden Bildschirmdarstellung terprozessor die Klangbildung übernimmt. zusätzliche mediale Ebenen erweitern; ver- simuliert; die Regler eines solchen „Software- Überflüssig zu sagen, dass die Klangbearbei- borgene Strukturen der Minimal Music las- Synthesizers“ sind mit der Maus bedienbar; tung auf die gleiche Wei- die Klänge, die man durch Ausprobieren se vorgenommen wer- herausfindet, lassen sich sofort auf der Com- den kann wie beim putertastatur oder über ein angeschlossenes „echten“ Synthesizer. Die MIDI-Keyboard spielen; mitgelieferte Klän- Klänge sind über ein ge können geladen und in ihren Einstellun- MIDI-Keyboard spielbar, gen untersucht werden; umgekehrt kann außerdem sind Software- man selbstgefundene Einstellungen auch Synthesizer wie z. B. der speichern. Mit einer Mischung aus akusti- „FM7“ (eine Nachbildung scher Grundlageninformation und assoziati- des legendären DX-7 der ven Klangexperimenten vergeht eine Mu- 80er Jahre, Abb. 2) als so sikstunde wie im Fluge… genanntes „Plugin“, d. h. als „Instrument“ in einer Vorschlag 2: Klangexperiment – Spur eines Sequenzerpro- Klangimprovisation – Klangcollage gramms einsetzbar. Expe- rimentell gefundene Die kreative Arbeit mit Klangfarben, in Klänge können gespei- der Musiktheorie vergangener Jahrhunderte chert, sofort als „Instru- neben der Harmonie- und Formenlehre als ment“ eingesetzt und in Abb. 2 „Instrumentationslehre“ eher von margina- mehreren Spuren gleich- Als „Instrument“ einsetzbar: Der Software-Synthesizer „FM7“ ler Bedeutung, ist mit der Entwicklung der zeitig eingespielt und auf- und seine Bedien-Oberfläche. elektronischen Klangerzeugung und vol- genommen werden. Folgt lends mit der Digitalisierung der Klangbear- man den ausgetretenen Pfaden der Popmu- sen sich durch zusätzliche Gestaltungsmittel beitung zum wichtigsten Gestaltungsele- sik, sind Tausende von Soundeinstellungen wie Klangfarbenverläufe hörbar machen, ja ment geworden. Konnte ein Komponist des im Handel oder im Internet zu haben. Tut durch zusätzliche Strukturen noch komple- 19. Jahrhunderts nach Fertigstellung einer man dies nicht, sondern wagt man sich selbst xer gestalten. Es macht Spaß, den Wider- Komposition die „Instrumentation“ als ab- an die Schalter und Regler, eröffnet sich ein stand zu überwinden, den die herkömm- schließenden Arbeitsgang separat vorneh- wahrer Kosmos an Möglichkeiten der Klang- lichen Mittel und die Unvollkommenheit men, so steht ein Komponist von Synthe- gestaltung; eine durch Experimentieren ge- menschlicher Interpreten dem Wollen des sizermusik umgekehrt vor dem Problem, fundene „Sound“-Einstellung kann unter ei- Komponisten entgegensetzte; es ist interes- sich zunächst sein Orchester selbst „erschaf- nem aussagekräftigen Namen gespeichert und sant, die unerfüllbaren Forderungen der fen” zu müssen, bevor er die erste Note sofort in einer kleinen mehrspurigen Klang- Komponisten wie die rhythmischen Struk- schreibt – wenn er überhaupt welche schreibt, collage improvisatorisch erprobt werden. turen in Klavierstücken von Stockhausen denn auch die reproduzierbare Fixierung oder in der Kammermusik von Ferneyhough von Musik ist heute auf verschiedene Weise Vorschlag 3: Der Reiz des Unmöglichen mit multimedialer Hilfe nun doch zu erfül- möglich: Sowohl die klanglichen Einstellun- und der Reiz des Möglichen len und zu erleben, ob der Reiz schwindet, gen eines Software-Synthesizers („Klangpre- der in der Unmöglichkeit der Erfüllung steck- sets“) als auch der zeitliche Ablauf musika- Sequencer sind Programme, die digitali- te. lischer Ereignisse („Sequencing“) können sierte Verläufe über eine Schnittstelle zeit- Sollen derartige Erkundungen nicht krea- gespeichert und wieder geladen werden, genau aufnehmen, speichern und wieder- tiv genannt werden, nur weil ein Computer

 MUSIK ORUM 31 FOKUS

Abb. 3 Die melodische Wirkung ausprobieren: Kompositionsbaukasten mit Intervallen. beteiligt ist und Schüler das bewerkstelligen nahmen von Klassenkameraden, live aufge- Maus nach oben in beliebige Takte des No- können, wozu man vor 50 Jahren ein teures nommene Interviews und selbst produzier- tensystems gezogen werden. Wenn sich Studio und ein Spezialistenteam benötigte? te Geräuschcollagen. dort schon ein Motiv befindet, wird es er- setzt. Die „komponierte“ Melodie kann Vorschlag 4: Sequencerprogramme – Vorschlag 5: Kreative Gestaltung jederzeit, auch in unvollständigem Zustand, Interessante Menus aus Halbfertig- von Unterrichtsmaterial abgespielt werden. produkten? Die in der Abbildung dargestellte halbfer- Auch die pädagogische Kreativität, die tige Melodie benutzt z. B. Tonwiederholun- Die oben beschriebene Entwicklung hat Innovationsfreude bezüglich Vermittlungs- gen in Takt 1/2 und Sekunden in Takt 3/4. zu einem umfangreichen Angebot an „Halb- ideen und -methoden, kann durch die mul- Ein gemeinsamer Versuch, die Melodie fertigprodukten“ geführt: zweitaktige Schlag- timedialen Möglichkeiten neue Impulse er- „weiterzukomponieren“, entzündet vielleicht zeug-Loops, MIDI-Dateien von Pop-Titeln halten, etwa bei Arbeitsaufgaben, die zum eine Diskussion in der Klasse, ob der Melo- und klassischen Kompositionen, vorbearbei- Ausprobieren von Möglichkeiten einladen diestil so bleiben oder ob durch die Verwen- tete Samples aller denkbaren Instrumente, und bei denen Ergebnisse klanglich demonst- dung von Motiven mit größeren Intervallen Geräusch-„Bibliotheken“ und vieles andere. riert, verglichen und korrigiert werden kön- ein Kontrast hergestellt werden sollte; Schü- Das meiste ist dazu vorgesehen, konfektio- nen, oder bei gemeinsamen „Kompositio- lergruppen können sich gegenseitig ihre Lö- nierte Popmusik in möglichst kurzer Zeit en nen“ aus Wort, Bild und Ton, die aus Schü- sung vorspielen. Besonders reizvoll ist es, masse zu produzieren. Doch auch hier bie- lerbeiträgen zusammengesetzt werden. mit der Funktion „Zufallsmelodie“ eine zu- ten sich die verfügbaren Mittel für kreative Neben den „klassischen“ Sequencer- und fallsgewählte Folge von Motiven zu erzeu- Gestaltungen an: Das Programm „Music Recordingprogrammen gibt es Animations- gen, mit den Schülern zu diskutieren, wo Maker“ z. B. erlaubt den Import und die be- programme (Flash, Mediator, Director), die der Computer „unmusikalisch komponiert“ liebige Anordnung von Audio-, MIDI- und dem Lehrer ermöglichen, auf bestimmte hat, und durch Ersetzen einzelner Motive Videosequenzen, Grafiken, Texttafeln und Übungsziele ausgerichtete Lernumgebun- gemeinsam eine musikalisch überzeugende- anderem auf mehreren synchronen Spuren gen selbst zu gestalten. Das Erlernen dieser re Version zu erarbeiten. und ist dabei übersichtlich und leicht zu be- Programme erfordert zwar einige Einarbei- dienen. Man muss nicht „Komponist“ im tungszeit und ein wenig Einfühlung in die professionellen Sinne sein und schon gar „Denkweise“ eines Computerprogramms, nicht – um es im passenden Jargon zu sagen aber keine tiefer gehenden technischen Kennt- Der Autor: – dem trendigen DJ-Outfit des Programms nisse. Abb. 3 zeigt einen kleinen, von mir Christoph Hempel ist Professor für folgen, um mit multimedialem Material ge- mit der Software „Flash“ programmierten Kom- Musiktheorie an der Hochschule für staltend umzugehen. Die Stärke liegt darin, positionsbaukasten, mit dem Schüler die Musik und Theater Hannover. Seine dass nicht nur mitgelieferte Hiphop-Patterns melodische Wirkung von Intervallen aus- Spezialgebiete sind Multimedia und und Lightshow-Videosequenzen benutzt probieren können. Die Motive sind nach Musiktheorie. werden können, sondern auch Videoauf- Intervallen geordnet und können mit der  32 MUSIK ORUM DAS SCHÖPFERISCHE IN DER Verwertungs- gesellschaft

Was Kultur wert ist – und wie ihr Wert erhalten bleibt. Von Dieter Gorny

Der nie versiegende Datenstrom und der ungehemmte Informationsfluss net, CD-Brennern, MP3- und DVD-Playern sorgen für das Grundrauschen unserer Tage. Aus allen Richtungen strö- nach wie vor einen recht agilen Eindruck. Wir glotzen, hören, surfen, simsen, down- men Nachrichten, Bilder und Töne auf uns ein. An seinem Computer wird loaden und brennen munter weiter. Und der Mensch zum Weltempfänger: Innerhalb weniger Sekunden erhält er doch wächst gleichzeitig das Unwohlsein: Botschaften aus den entferntesten Winkeln dieser Erde. Es dauert oft nur Könnte es sein, dass sogar auf einem unwesentlich länger, bis diese Botschaften schon wieder veraltet sind. Flatscreen die 273. Doku-Soap nicht attrak- tiver wird? Dass auch ein Design-Wunder Das Tempo des technologischen Fort- Übels im Visier. Im Nachhinein erscheint wie der iPod aus dem 325. „Wir sind Hel- schritts bestimmt unser Kommunikations- diese Prognose nahezu rührend. Offensicht- den“-Klon keine originelle Band macht? und Informationsverhalten. Mobilität, Flexi- lich hat unsere Spezies sogar „Big Brother“ Dass also die Hardware immer raffinierter bilität und Schnelligkeit sind gefragt – im Be- und die Dschungelshow überlebt und wird, während die Qualität der Inhalte ruf, aber auch in der Freizeit. Wir brauchen macht trotz Kabel-TV, Smart Phones, Inter- bestenfalls stagniert? Daten, gebrauchen sie, ver- Hat man erst einmal diese brauchen sie. Nachrichten wer- Fragen gestellt, folgen auto- den weitergeleitet, verarbeitet, matisch weitere. Geradezu gelöscht. Die kreative Leistung ketzerisch könnte man sich eines anderen kann ohne beispielsweise Gedanken da- Qualitätsverlust kopiert, für ei- rüber machen, ob die neuen gene Zwecke genutzt oder ins Technologien das unentwegte virtuelle Nirwana gejagt wer- Wiederverwerten von Daten, den. In diesem beständigen Inhalten und Ideen nicht Prozess der Versendens, Ver- geradezu provozieren. Das wertens und Verwerfens wird wäre fraglos ein Dilemma, aus die Halbwertszeit von Daten dem man erst einmal heraus- und ihren Inhalten immer ge- finden müsste – bloß wie? ringer. Gleichzeitig wächst der Eine Auseinandersetzung mit Datenhunger: Nachschub muss diesem Thema scheint her, mehr Informationen, jedenfalls überfällig, nicht nur mehr Lieder, mehr Filme, aus ästhetischen, sondern mehr Bilder – häufig aus zwin- auch aus ökonomischen genden, nachvollziehbaren Gründen. Gründen, noch öfter aller- dings, weil die Technologie WarholsWarhols Suppendosen Suppendosen nun mal gerade da ist und machenmachen Musik Musik auch genutzt werden will. Als der Medienkritiker In der Mitte des 19. Jahr- Neal Postman in den 80ern hunderts ermöglichten es die düstere Diagnose stellte, neue Techniken, qualitativ die Menschheit amüsiere sich hochwertige Farblithografien zu Tode, hatte er allein das herzustellen. Auf einmal hin- Fernsehen als Quelle des gen die alte Meister – bezie-

 MUSIK ORUM 33 FOKUS Mit dem Handy hungsweise ihre Reproduktionen – auch in volution, die sowohl die Produktion als auch Mails empfangen, den Wohnstuben von Menschen, die sich die Distribution von Musik betraf. bis dahin bestenfalls regelmäßige Museums- Nach der kurzen, aber einflussreichen durchs Internet sur- besuche hatten leisten können. Ein Massen- Ära der analogen Synthesizer begannen de- markt für Bilder war entstanden. Es gibt His- ren digitale Nachkommen, die Popkultur fen, MP3-Musik toriker, die interpretieren diese Entwicklung auch in der Breite umzukrempeln. Kraft- als die Geburt der Unterhaltungsindustrie. werk, Tangerine Dream und andere Pionie- Was danach kam, ist bekannt. Aus den re der elektronischen Musik hatten die Vor- hören… braucht gemalten wurden bewegte, reproduzierbare arbeit geleistet, nun wurde der Gebrauch Bilder, und Andy Warhol klonte keine Zeug- von Synthesizern und Sequenzern zum man das alles? nisse der Hochkultur, sondern so etwas Ge- Massenphänomen. Auf Knopfdruck konnte wöhnliches wie das Bildnis einer Suppen- man einzelne Sounds und Rhythmen sup- dose. Das Banale als serielle Kunst wurde pendosenartig unendlich reproduzieren. Handy Emails empfangen, durchs Internet zum Markenzeichen der Pop Art, Warhols Entsprechende Software für den Computer surfen, MP3-Aufnahmen hören und Tat zum kunsthistorischen Ereignis, die Sup- und preiswerte Aufnahmegeräte demokra- demnächst auch noch fernsehen – ob man pendose zum Kulturgut. Und dazu spielten tisierten die Popkultur auf unerhörte Weise: all das braucht, ist fraglich. Technisch ist es Velvet Underground. Plötzlich konnte man im eigenen Wohnzim- längst kein Problem mehr. mer Musik produzieren. Ambi- Die Neuen Medien haben darüber hi- tionierte Künstler begannen, naus auf einen Schlag die Distributionswege mit Loops und Samples zu für Unternehmen vervielfacht, die mit Inhal- experimentieren, Techno wur- ten handeln. Buch- und Zeitungsverlage stei- de zum neuen Punk. Der gen ins Radio- und Fernsehgeschäft ein, ver- Mainstream jedoch bewies, schicken ihre Nachrichten per SMS, zeigen dass Reproduzierbarkeit auch im Internet mit kostenfreien Angeboten Langeweile und Fantasielosig- oder mit „Paid Content“ Präsenz. Ähnliche keit zur Folge haben kann, Wege gehen auch die Fernsehsender, die getreu dem Motto: Never sich je nach Marktmacht auch noch ihre change a winning rhythm. eigenen Pop-Sternchen basteln. Musik wie- Auf der Distributionsebe- derum ist zur virtuellen Ware geworden, die ne setzte die Digitalisierung in man aus dem Internet herunterlädt, auf dem Form der CD ihren Sieges- PC oder MP3-Player hört oder eben auf dem zug fort. Für die Plattenindust- Smart Phone. Seit 2004 bieten T-Mobile,

rie begann eine goldene Ära. Vodafone und O2 Dienste an, mit denen Die weniger willkommenen sich ihre Kunden Songs direkt aufs Handy Folgen der digitalen Revolu- laden können. Noch erfüllen nur wenige tion wurden zunächst ver- Geräte die technischen Voraussetzungen, drängt oder nicht wahrge- doch wird der Branche ein enormes Wachs- nommen. Entsprechend groß tumspotenzial prophezeit. Die altmodischen war der Schock, als immer Mobiltelefone machen derweil noch auf mehr Musikfans anfingen, ihre ganz spezielle Art Musik: Das Geschäft CDs zu brennen statt sie zu mit den Klingeltönen brachte im vergange- kaufen. Die Erkenntnis, dass nen Jahr zwölf Millionen Euro ein. Musik in seiner digitalen Die Musikindustrie hat spät, zu spät auf Form obendrein im Internet die Loskopplung der Musik von ihren physi- Popkultur umgekrempelt: Mit Kraftwerk zogen Synthesizer getauscht werden kann, ohne schen Tonträgern reagiert. Bereits 1994 hat- und Sequenzer ins Tonstudio ein. dass die verantwortlichen te Nicholas Negroponte, Leiter des Media Künstler und Plattenfirmen Laboratory des Massachusetts Institute Of Was sich in der bildenden Kunst abspiel- davon unmittelbar ökonomisch profitieren, Technology (MIT) vorhergesagt, dass in te, fand seine Entsprechung in der Musik. versetzte der Musikindustrie einen weiteren zehn Jahren 50 Prozent aller Musiktitel über Solange Kompositionen nur über Noten Schlag. das Netz kommen würden. Statt die damit Verbreitung fanden, war jede Aufführung verbundenen Chancen zu nutzen, began- ein singuläres Ereignis, dessen künstlerische Crossmedia und das Kreuz nen die großen Plattenfirmen einen Klein- Ausgestaltung unter anderem von der Lau- mit den Downloads krieg mit der Internet-Tauschbörse Napster. ne des Dirigenten und der Tagesform des Mittlerweile haben die Labels zwar erkannt, Ensembles abhing. Erst die Erfindung des Der Computer als Jukebox – diese Ent- dass sich Kooperationen mit legalen Plattfor- Grammofons und später des Plattenspielers wicklung weist auf ein weiteres Phänomen men wie iTunes oder dem von T-Online machte die eigentlich einmalige künstleri- hin, dass durch die digitale Revolution ver- betriebenen Marktführer Musicload lohnen. sche Leistung beliebig oft wiederholbar und ursacht wurde: das der Konvergenz. Auf Ihr jahrelanges Zaudern trug jedoch mit abstrahierte sie von der physischen Präsenz technischer Ebene vollzieht sie sich nach dazu bei, dass derzeit rund eine Milliarde der ausführenden Musiker. Potenziert wur- wie vor dadurch, dass immer mehr Geräte Tracks gratis im Netz stehen. Die Lizenzge- de diese Entwicklung durch die digitale Re- zu wahren Alleskönnern werden. Mit dem bühren? Wohl auf ewig verloren.

 34 MUSIK ORUM Wie sich durch die Verschmelzung von – der „Stern“ fordert: Glotze aus! Tatsäch- aller ausgestrahlten TV-Formate aus dem angelieferten Inhalten, einem intelligenten lich gewinnen mittlerweile auch die Unter- Vereinigten Königreich, darunter – als eines Vertriebssystem und cool designter Hard- nehmen, die für viel Geld Werbezeit bei den der erfolgreichsten – die Quizshow „Wer ware gutes Geld verdienen lässt, hat Apple Sendern kaufen, den Eindruck, dass die Pro- wird Millionär?“, die bislang in 106 Länder mit iTunes, iPod und neuerdings mit Pod- gramme proportional zu den Bildschirmen verkauft wurde. Großbritannien ist damit casts eindrucksvoll demonstriert. Die Plat- immer flacher werden. Das liegt natürlich der international größte Exporteur von TV- tenindustrie jedoch scheint die Entding- am mangelnden Mut der Sender, die – von Formaten. Eine Spitzenstellung hat auch lichung von Musik lange Zeit nicht als Inspi- der Krise der vergangenen Jahre verun- Deutschland inne – allerdings beim Import ration, sondern als Luftblase verstanden zu sichert – möglichst stromlinienförmige For- von Showideen. haben. Vielleicht hatten die Firmen, die mate anfordern. Furcht und Schrecken ver- Der deutschen Unterhaltungsindustrie nach wie vor knapp 90 Prozent ihrer Um- breitet dabei vor allem das Phänomen, das geht also viel Geld durch die Lappen. Da sätze mit Kauf-CDs machen, auch einfach den schönen Namen „Me too“ trägt. Auch drängt sich die Frage auf, wie der Bundesge- ein bisschen Angst vor den Klängen aus hierbei gilt das Klonkonzept: Hat Sender X richtshof sein folgenschweres Urteil begrün- dem Cyberspace. Die deutsche Wirtschaft eine Show mit Muttertausch, will Sender Y det hat. Ein Unterhaltungsformat, so befan- steht jedoch noch vor einem anderen Prob- auch eine haben. Sorgen im amerikanischen den die Richter, sei nichts anderes als die lem: Die meisten Geräte, die die schöne Fernsehen Super-Nannys für Furore, kriegen Anleitung zur Formung gleichartiger Stoffe neue Medienwelt erst erfahrbar machen, ihre deutschen Kolleginnen alsbald auch ih- und könne deshalb nicht als besonders ori- kommen aus dem Ausland. Was also tun, ren Fernsehauftritt. ginelle Leistung geschützt werden. wenn man trotzdem von der digitalen Re- volution und ihren Folgen profitieren will? Ganz einfach: Inhalte liefern.

Die serielle Produktion des „Me too“: Ist ein TV-Format Immer-Gleichen erfolgreich, will es der andere Sender auch. Gerne auch als Wenn früher von „den Medien“ die Rede Import aus dem Ausland. Und war, meinten die meisten: Zeitungen, Zeit- demnächst auf dem TV-Handy. schriften, Radio, Fernsehen. Das hat sich in Eigene Kreativität? Bleibt auf den vergangenen Jahren geringfügig geän- der Strecke. dert. Neue Medien sind dazu gekommen, das Streben nach Synergie-Effekten und technische Innovationen haben obendrein zu Konvergenzen geführt. Erstaunlicher- weise halten dennoch einige Zeitgenossen an dem alten Medienbegriff fest. Gerade bei den Politikern muss dringend ein Umden- ken her, denn erst der Blick auf die Medien- landschaft in ihrer ganzen Pracht und Breite zeigt, woran es derzeit hapert. Dank der ungehemmten technischen In- novationswut unserer Tage ist die Anzahl der Zapfhähne für Information und Unter- haltung nach und nach immer größer ge- worden. Auch ihre Benutzerfreundlichkeit So weit, so langweilig. Das Erstaunliche Formung gleichartiger Stoffe? Schon ist deutlich gestiegen. Doch dreht man die aber ist: Die deutschen Produktionsfirmen wieder die Suppendose? Oder leben wir edel funkelnden Hähne auf, ist die Enttäu- zahlen nur gelegentlich Geld für die Lizenz- schlichtweg in einem Land, in der die Erfin- schung nicht selten groß. Fast hat es den rechte, viel öfter klauen sie die Formate ein- dung von Showideen per se nicht als origi- Anschein, als habe die Möglichkeit, alle fach. Das ist in Deutschland ausdrücklich nelle, kreative Leistung gilt? Und was ist das möglichen Arten von Daten und Informa- erlaubt, denn Showformate sind laut einem eigentlich, Kreativität? tionen endlos zu reproduzieren, auch Ein- Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs vom fluss auf Fantasie und Risikobereitschaft der Urheberrecht nicht geschützt. Was nicht ge- Kreativität ist Macht Produzenten gehabt. So gilt etwa in der Mu- schützt ist, kann logischerweise jeder haben sikbrache ungebrochen: Kaum ist ein Trend und ist damit auch nicht viel wert. Für die Das „Glossar der Gegenwart“ der Edition als potenziell erfolgreich ausgemacht, wird deutschen Produktionsfirmen bedeutet das Suhrkamp bemerkt gleich am Anfang des sein beliebtester Vertreter nach dem Vorbild letztlich, dass sich die teure Entwicklung Kapitels „Kreativität“ spitzfindig: „Die crea- der warholschen Suppendose so lange ge- neuer Ideen nicht lohnt, denn sie bringen tio ex nihilo gibt es nur als göttlichen Akt.“ klont, bis kein Mensch mehr auch nur einen einfach nicht genügend Geld ein. Was damit gemeint ist, leuchtet unmittelbar Mucks aus diesem Genre hören mag. Ganz anders sieht die Lage etwa in Groß- ein: Man kann nichts aus dem Nichts heraus Sehr deutlich wird dieses Phänomen britannien aus, wo die Rechtsprechung zu erschaffen – in jedem Neuen steckt auch auch im Fernsehen. Neue Flatscreens hin, anderen Ergebnissen gekommen ist als etwas Altes. Wer sich in der Geschichte der über 350 Sender im digitalen Kabelnetz her hierzulande. Weltweit stammen 29 Prozent Popmusik auskennt, kann das bestätigen,

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und in den anderen Kunstformen – übrigens technisch machbare Automationspotenzial schätzt und ihrem Schicksal überlassen wer- auch in der Fernsehunterhaltung – sieht es voll aus. Antwort: 38 Prozent. Nicht minder den. Kreativität entsteht durch Vielfalt und nicht anders aus. bemerkenswert ist, dass kaum noch ein Drit- Selbstbehauptung, durch Inspiration und Kreativität bedeutet, sich von etwas Vor- tel der Beschäftigten in Deutschland etwas Distinktion, durch Integration und Abgren- handenem inspirieren zu lassen, etwas Be- Gegenständliches herstellt. Die Digitalisie- zung, durch den Mut, Grenzen zu über- kanntes in einen neuen Kontext zu stellen, rung der Musik scheint also nur eine Facette schreiten, und durch die Besinnung auf die es umzuformen, es vielleicht auch nur als der voranschreitenden Entdinglichung zu Werke, auf denen unsere Kultur basiert. Sample zu zitieren, daraus etwas Neues ent- sein. Eine kreative Gesellschaft braucht avantgar- stehen zu lassen. In unserer digitalen Ver- Es sind die immateriellen Güter, die eine distische Eliten und selbstbewusste Außen- wertungsgesellschaft scheint das vor allem in Mediengesellschaft braucht. Inhalte, Ideen. seiter, die die etablierte Kultur mit neuen der Popmusik – rein handwerklich betrach- Und die können nur in einer Atmosphäre Ideen befeuern. Gerade die Geschichte der tet – ein Kinderspiel zu sein. Statt etwas sup- entstehen, in der Kunst, Kultur und Kreati- Popkultur zeigt, dass es nicht selten die klei- pendosenartig zu klonen, verfremdet man vität eine zentrale Rolle spielen. nen, von der Musikindustrie zunächst ver- es halt ein wenig. Das technische Equip- nachlässigten Bewegungen waren, die das ment steht zur Verfügung. Ohne Kultur wäre hier vorherrschende Lebensgefühl als erste er- Doch ganz so einfach ist die Sache natür- nichts los kannten und ohne Vorgaben irgendwelcher lich nicht. Wer sich auf die Musikgeschichte Plattenfirmen erfolgreich auf den Punkt berufen will, muss sie erst einmal kennen. Auf der einen Seite Kreative, die Inhalte brachten. Um ein letztes Mal das „Glossar Wer nicht nur samplen möchte, muss ein herstellen. Auf der anderen Seiten die Kon- der Gegenwart“ zu zitieren: „Kreativität ist Instrument beherrschen. Wer seine Song- sumenten, die Geld für diese Inhalte ausge- ohne einen Moment von Freiheit nicht ideen ganz altmodisch zu Papier bringen ben. Unabdingbar für das Funktionieren die- denkbar.“ will, muss Noten lesen und schreiben kön- ses Modells sind kulturelles Wissen, kultu- Kreativität ist im Übrigen auch nicht nen. Kreativität kommt zudem ohne Inspi- relle Kompetenz und kulturelles Interesse. denkbar, wenn die wirtschaftliche Urbarma- ration nicht aus. Doch wie soll etwas Origi- Wie aber kann Kultur vor dem fortschrei- chung von Kultur eine Homogenisierung nelles entstehen, wenn man sich immer nur tenden Bedeutungsverlust gerettet werden? der international unterschiedlichen Aus- auf die Kunst der Gegenwart berufen kann, Ganz einfach – indem ihrer ökonomischen drucksweisen mit sich bringt. Kunst muss weil Kultur als kollektives Gedächtnis verlo- Relevanz im öffentlichen Diskurs und in der immer auch im Hier verwurzelt sein, will sie ren gegangen ist? Bleibt noch ein Gedanke Wirtschaft Rechnung getragen wird. Wäh- als originell gelten und Identität stiften. Fragt aus dem „Glossar der Gegenwart“ hinzuzu- rend andere Länder längst gute Erfahrungen man Künstler aus anderen Ländern nach fügen: Kreativität ist demnach etwas, „dass und gute Geschäfte mit den so genannten den bedeutendsten deutschen Bands, hört man durch methodische Anleitung und „Creative Industries“ machen, tragen wir in man mit Sicherheit als erstes Kraftwerk, Übung steigern kann – eine erlernbare Deutschland nach wie vor den hehren Ge- Can, Amon Düül und Faust – Krautrock als Kompetenz“. danken in unserem Herzen: Kultur ist, was Marke, die aber keiner bewussten Strategie Spätestens beim Wort „erlernbar“ zeich- der Staat bezahlt, und keineswegs das, wo- oder Verkaufsförderung, sondern einer krea- net sich ein trübes Bild ab. In der Schule fin- mit man Geld verdienen kann. tiven Szene entsprang. det nur noch selten Musikunterricht statt, James Purnell, britischer Minister für Letztlich brauchen wir einen wirtschaft- und wenn die Stunden nicht ausfallen, sind „Creative Industries“ und Tourismus, sieht lichen und politischen Rahmen, in dem Kul- es häufig fachfremde Lehrer, die ihr rudi- das erwartungsgemäß anders und spricht tur und Kreativität ernst genommen, ge- mentäres Wissen den Schülern mehr schlecht von einer wahren Erfolgsgeschichte. Die schützt und gefördert werden, die Ver- als recht weitergeben. Auch der Kunstunter- Kulturbranche mache mittlerweile acht Pro- mittlung von Bildung sich nicht nur in den richt gilt als zu vernachlässigendes Exoten- zent der britischen Wirtschaft aus, rechnet Kategorien des Homo Faber erschöpft und angebot. Und um das literarische Wissen er vor. Fragt man nach, was denn alles zu der Medien- und Kulturbegriff in seinem und das Sprachgefühl unserer Kinder ist es den „Creative Industries“ zähle, bekommt ganzen Facettenreichtum erkannt wird. ebenfalls nicht gut bestellt. Von einer kultu- man eine Auflistung dargeboten, die bei Dann bekämen wir auch die Inhalte, ohne rellen Blütezeit ist das einstige Land der Kunst und Architektur anfängt, sich über die all die neuen schnittigen Wundermaschi- Dichter und Denker weit entfernt – kein Werbung, Design, Medien und Musik er- nen nichts wert sind. Und dann würde sie Wunder, wenn es die Wurzeln verdorren streckt und bei Software und Computer- funktionieren, unsere Datenverwertungs-, lässt. spielen noch lange nicht aufhört. Keine Fra- Medien- und Zukunftsgesellschaft. Wobei Geht es in den Medien um die Bildungs- ge, da wird der crossmedialen Wirklichkeit hinzuzufügen ist, dass keine Gesellschaft misere, wird der Fokus zumeist nur sehr be- einer zukunftsträchtigen Mediengesellschaft ohne Kultur lebenswert ist. dingt auf künstlerische und geisteswissen- adäquat Rechnung getragen. „Creative In- schaftliche Fächer gerichtet. Die technischen dustries“, heißt es im Ministerium, sei „alles, Innovationen seien es schließlich, so heißt was der individuellen Kreativität entspringt, Der Autor: es, die neue Arbeitsplätze schafften. Ist das die intellektuellen Ressourcen des Landes Dieter Gorny studierte Kontrabass, wirklich so? Nicht selten hat der Forscher- nutzt und das Zeug hat, Arbeitsplätze zu Klavier und Komposition, war Mitglied geist Maschinen hervorgebracht, die Arbeits- schaffen“. der Bochumer Symphoniker und des plätze ganz im Gegenteil erst überflüssig Keinesfalls aber darf dieses Verständnis Wuppertaler Symphonieorchesters. machten. Bereits 1993 berechneten Lothar vom Wirtschaftsfaktor Kultur dazu führen, Später schuf der heutige Vizepräsident Späth und der frühere McKinsey-Manager dass die kulturellen Spielarten und Aus- des Deutschen Musikrats die Popkomm Herbert A. Henzler, wie hoch die Arbeits- drucksformen, die nicht unmittelbar als wirt- und gründete den Musikkanal VIVA. losenquote wäre, schöpfte man das damals schaftlich verwertbar erscheinen, gering ge-

 36 MUSIK ORUM LABEL Launch „Kreativität ist Freiheit“! Ein junges Hamburger HipHop-Label geht selbstbewusst an den Start

ipHop Redefined!“ ver- shops und Konzerte, macht Musik, schreibt Wolf Martens: Ja, und dann kam die Hspricht das neue Hamburger darüber und unterstützt diverse Projekte. In Idee: Lass uns wegfahren, Computer, Label „Rudel Records“. Dabei will diesen Wochen gehen die ersten Rudel-Ver- Mikro und so einpacken und irgendwo ’n öffentlichungen an den Start, Clubmusik der Haus mieten und Musik machen. es nicht nur die Club-Musik neu kreativen Art. Maya: Eine Woche später saßen wir im und anders definieren, sondern Das MUSIKFORUM sprach mit den Flieger nach Malaga. Ohne Plan, wo wir auch die Produktionsverhältnisse Protagonisten des neuen Labels. genau hinwollten. Im Flugzeug beschlossen generell. wir dann, Richtung Orgiva zu fahren. Wolf: Und mit dem Bus weiter in die „Kreativität = Unabhängigkeit = Freiheit" Maya Consuelo Sternel: Die Ursprünge Berge. Die Straßen wurde immer schmaler, – mit dieser Losung gehen die Label-Ma- von Rudel Records? Die liegen eigentlich die Orte kleiner – und wir saßen da und cher um Maya C. Sternel und Wolf Martens in den Bergen Andalusiens. Nicht musika- fragten uns, ob die Idee wirklich so rea- ans Werk und ran an die „HipHop-Beats mit lisch, aber von dort aus hat alles seinen listisch war, dort ein Haus zum Musik- Drum’n’Bass Fills, phatten Basslines und Anfang genommen: Unsere Musik, der machen zu finden. Electrosounds“. Wunsch, zusammen etwas zu machen. Maya: Endlich kamen wir in Orgiva an, Rudel Records sorgt nicht nur für Veröf- Daraus entstand auch die Idee mit unserem am Ende der Welt, kein Mensch auf der fentlichungen, sondern baut seine Acts lang- Label. Das war im Juni 2003. Ich suchte Straße, weil zu heiß, 45 Grad. Bevor wir fristig auf. Das Label („Von Musikern für gerade einen Rapper. Als ich Wolf das wieder zurück in den Bus konnten, war Musiker!"), stilistisch zwischen HipHop und erste Mal traf, passte es irgendwie sofort. der schon um die Ecke gefahren. neuen Tendenzen der DJ-Musik verortet, Mir gefiel sein Style und er konnte mit Wolf: Abends sind wir in so ’n Pub. Das produziert und tourt, veranstaltet Work- meinen Beats was anfangen. war wie in einer üblen englischen Säufer-

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kneipe. Nur mit Palmen im Innenhof. Da der Visitenkarte steht. Ich meine, wer weiß gab’s alles: Hippies, Kinder, Holländer, völ- schon, dass Wolf Kunst studiert und wirk- lig betrunken. Der Wirt hat uns aber ein lich gut zeichnen kann? Zimmer vermittelt – und sein Kompagnon Wolf: Oder dass Maya Filmsoundtracks hatte zufälligerweise ein Studio. Mit Swim- Wir arbeiten als schreibt oder für ein Orchester kompo- mingpool, zwischen Granatapfelbäumen, niert? Das erfährst du nur, wenn du die Orangen- und Olivenhainen, mit Blick in Team, in das jeder Leute näher kennen lernst. Da kann der die Berge. Da sind wir zwei Wochen ge- Karostar als Kreativitätsfabrik fungieren – blieben. Maya saß zwischen zwei verfloh- sein Potenzial mit entsprechender Außenwirkung. ten Hunden und baute Beats. Maya: Da ist ein enormes Potenzial Maya: Und Wolf schrieb die Lyrics einbringt, in dem konzentriert. Mit dem ganzen Background, dazu. Und dann sind wir rüber ins Studio den du mitbringst. Als DJ oder von meiner und haben das aufgenommen. Arbeit mit den Patinnen [ein Turntable- Wolf: Fünf neue Songs haben wir ge- man sich ergänzt Projekt, die Red.]. macht. Das war der Anfang unseres Pro- Wolf: Ihr habt ja viele Projekte ge- jekts „Cut’n’Lupuz“. Zurück in Hamburg und Neues schafft macht, die total verschieden sind von dem, arbeiteten wir weiter. Wir haben bei ein was wir jetzt zusammen machen. paar Labels angefragt wegen Veröffent- Maya: Ja, wir haben viel im Kunstkon- lichungen. Ohne Reaktionen. Bei den klei- klaren Beats und mehrstimmigem Gesang. text gearbeitet, Filme gedreht, Turntable- neren Labels muss man alles selbst zahlen, Cut’n’Lupuz mixt HipHop mit Drum’n’Bass Performances dazu entwickelt, Platten ver- es kommt nichts zurück. Und die Majors und ist sehr soundlastig, sehr nach vorne öffentlicht. Musikalische Geschichten er- fördern keine Innovation. Sie gucken nur gerichtet. Und baze.djunkiii legt Grime auf. zählt, eher experimentell gearbeitet. Die auf Verkaufszahlen und die momentane Wir bauen jetzt gemeinsam musikalische letzte Arbeit wurde zur Eröffnung der Pina- Verwertbarkeit. Brücken, damit das Konzert eine Einheit kothek der Moderne in München gezeigt. Maya: Die Leute suchen nach einer wird. Beispielsweise produzieren wir spe- Aber gleichzeitig habe ich Musik geschrie- ihrem Lifestyle entsprechend individuali- zielle Intros, machen extra Remixe, über- ben fürs Theater, für Kinofilme, fürs Radio, sierten Musik. Sie wollen selbst bestimmen, legen uns das genaue Line-up. Der DJ ist zuletzt für ein Hörbuch zu einer Ausstel- welche Songs auf ihrem iPod landen. Per genauso ein Act wie die beiden Bands. lung zum Kriegsende für das Museum für Mausklick das Image gestalten. Sie sind da Das ist schon spannend und führt uns Hamburgische Geschichte. Und ich gebe schon in gewissem Sinne kreativ, was ge- auch musikalisch auf neue Wege. Workshops und bin Dozentin für DJ-ing rade die Majors lange Zeit ignoriert haben. Wolf: Dieser Aspekt der Zusammenar- und Musikproduktion. Und da liegt die Chance der Independents beit war für uns ausschlaggebend, mit in Wolf: Du hast auch Musik studiert. als kleine, selbst organisierte Labels. Das den Karostar zu ziehen, dem neuen Musik- Maya: Nicht wirklich. Nach drei Semes- sind Musikspezialisten, die genau dieses zentrum in Hamburg. Aus allen Bereichen tern am Konservatorium bin ich dort raus- Bedürfnis der Leute bedienen. des Musikbusiness ziehen Firmen ein, die geflogen mit der Begründung, dass meine Wolf: Die dadurch geforderte Flexibili- gerade im Aufbau sind, die es noch keine außerhalb des Studiums stattfindenden tät ist die Chance der Indies, da an ihnen zwei Jahre gibt. Ich kann mir da ganz viele musikalischen Aktivitäten meiner künstleri- kein großer Apparat von Entscheidungsträ- Möglichkeiten der Kooperation vorstellen. schen Entwicklung schaden würden. Da gern hängt. Maya: Solche Netzwerke funktionieren habe ich erst mal eine Tonengineer- Maya: Für unser Label steht Kreativität ja aufgrund sozialer Beziehungen. Man Ausbildung gemacht und in New York und Innovation an erster Stelle. Das heißt: sieht, was die Leute machen, was nicht auf gearbeitet, bevor ich hier meinen Magister die Bands nicht in ein Konzept zu pressen. der Systematischen Musikwissenschaft Wir haben z. B. eine ganz junge Band auf machte. Aber du wirst ja auch bald fertig Rudel Records: „C-Flow“ [die Frauenband mit dem Studium, oder? gewann das Schülerbandfestival „SchoolJam“ Wolf: Ja, ich studiere Kunst und Germa- 2004, die Red.]. Das sind sechs Mädels aus nistik auf Lehramt, habe aber daneben Thüringen, alle zwischen 15 und 18 Jahre immer Musik gemacht. Als Rapper und alt. Ihre Musik ist echt beeindruckend. Sänger in diversen Hardcore-Bands. Nächstes Jahr gehen wir zusammen mit Maya: Das, was wir mit Cut’n’Lupuz ihnen auf Tour. Mit dabei ist noch „baze. machen, entsteht durch die Art, wie wir djunkiii“, der das, wofür wir musikalisch zusammenarbeiten, eben als Team, in das mit Rudel Records stehen, als DJ verkör- jeder sein Potenzial einbringt, in dem man pert. sich ergänzt und zusammen etwas Neues Wir sind ein Label von Musikern für schafft. Diese kooperative Arbeitsweise Musiker. Es ist der Idealfall, wenn sich die übertragen wir auf Rudel Records. Für uns Künstler gegenseitig featuren. Beispielsweise ist es wichtig, dass wir das machen können, haben wir uns alle zusammengesetzt und was wir am meisten mögen. Und mit überlegt, wie wir für die anstehende Tour Rudel Records bauen wir uns dafür den ein musikalisches Gesamtkonzept inszenie- Kooperation im Freiraum: In diesen Wochen Freiraum auf. ren. Denn wir sind schon musikalisch ver- erscheint das erste Cut’n’Lupuz-Album bei schieden. C-Flow mit deutschem HipHop, Rudel Records. U www.rudelrecords.de

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r ist der nationale Wettbe- Deutscher Musikwettbewerb: E werb für junge professionelle Instrumentalisten und Sänger. Veranstaltet vom Deutschen 30 JAHRE Musikrat unter Schirmherrschaft des Bundespräsidenten, wird er durch die Beauftragte der Bundes- regierung für Angelegenheiten Nachwuchsförderung der Kultur und der Medien sowie von den Ländern, der Stadt Bonn und verschiedenen Stiftungen rat auf Anregung der Kultusministerkonfe- Ausschuss für Kunst und Erwachsenenbil- gefördert: der Deutsche Musik- renz an dem Konzept eines nationalen dung der KMK ausgearbeiteter Organisa- wettbewerb (DMW), der im März Wettbewerbs in der Funktion eines speziel- tionsvorschlag wurde im März 1971 von dieses Jahres zum 30. Mal statt- len Förderungsprogramms für den professio- der Kultusministerkonferenz gebilligt, ver- fand. nellen solistischen und kammermusika- bunden mit der Empfehlung, ab dem Haus- lischen Nachwuchs. Ein gemeinsam mit dem haltsjahr 1972 einen entsprechenden Zu- Als der Wettbewerb im Jahr 1975 schuss bereitzustellen. seine Premiere erlebte, hatte er bereits Da weitere Voraussetzungen seitens des eine siebenjährige Vorgeschichte: Schon Bundesministerium des Innern, der gastge- seit 1968 arbeitete der Deutsche Musik- benden Bundeshauptstadt Bonn – sie stellte vor allem das Orchester und die Räumlich- keiten der Beethovenhalle zur Verfügung –, sowie der Deutschen Stiftung Musikleben und der Oscar und Vera Ritter-Stiftung vorlagen, setzte das Präsidium des Musik- rats im Februar 1972 einen Fachaus- schuss für den DMW ein und beauftragte ihn, das bestehende Konzept zu präzisieren, gegebenenfalls zu modifizieren und Einzel- heiten zur Wettbewerbsausschreibung fest- zulegen. Erst auf der Grundlage dieser Neu- fassung des Plans zum Projekt Deutscher Musikwettbewerb konnte im Januar 1974 die Einmütigkeit in der gemeinsamen Kon- ferenz der Finanz- und der Kultusminister der Länder erzielt werden, die erforderlich war, um den notwendigen Finanzrahmen für die Durchführung des DMW zu schaf- fen: Das Förderprogramm Deutscher Mu- sikwettbewerb war geboren! Das Konzept enthielt einige Grundsätze, die bis heute fast unverändert erhalten ge- blieben sind; andere wurden mit der Zeit den veränderten Bedingungen in der Politik und bei den Finanzen, aber auch hinsicht- lich der sich verändernden Ausbildungs- und Karrieresituation der vom Projekt zu Fördernden angepasst. Der DMW wird finanziell getragen von den Kultusministern der Länder (später Kul- turStiftung der Länder), vom Bundesminis- ter des Innern (später dem/der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Me-

Zukunftschancen: Der Münchner Tubist Andreas Hofmeir überzeugte beim Deutschen Musikwett- bewerb 2005 die 40-köpfige Jury und profitiert nun von intensiven Förderprogrammen.

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dien) und von der Stadt Bonn. Neben der Deutschen Stiftung Musikleben treten im Laufe der Jahre andere private Stiftungen in die zusätzliche Förderung des DMW ein, in- dem sie Preise und Stipendien ausloben. Die Anforderungen des Deutschen Mu- sikwettbewerbs entsprechen denen bedeu- tender internationaler Wettbewerbe. Der Wettbewerb ist öffentlich und wendet sich an deutsche Instrumentalisten und Sänger mit abgeschlossener musikalischer Berufs- ausbildung, die das 27. (Instrumentalisten) bzw. 30. Lebensjahr (Sänger) noch nicht vollendet haben. Er findet jährlich mit wech- selnden Kategorien statt, abwechselnd in Berlin (für Solisten; in ungeraden Jahren) und in Bonn (für Kammermusikensembles; Preisträger aus drei Jahrzehnten: Das Klaviertrio Jean Paul wurde 1995 ausgezeichnet, in geraden Jahren). die Berliner Violonistin Sophia Jaffé erhielt am 20. März dieses Jahres den mit 5000 Euro Zwei Grundsätze standen von Beginn an dotierten Preis und 1978 spielte sich das Brahms-Quartett in das Förderprogramm (von links). im Vordergrund, die bis heute zwar viel dis- kutiert, aber nie ernsthaft in Zweifel gezogen wurden: zwischen Ausbildung und Karriere fördernd dem konnten alle sinnvollen Fördermaß- 1. Während des 1. und 2. Durchgangs begleiten. Diese Fördermaßnahmen unter- nahmen zumindest im Kern erhalten oder spielen und singen die Kandidaten vor einer lagen in den vergangenen 30 Jahren zahlrei- sogar entwickelt und ausgeweitet werden. Fachjury, im 3. und 4. Durchgang (mit Or- chen Veränderungen, bedingt durch wech- Über den gesamten Umfang der Förder- chester, nur für Solisten) stellen sich die selnde Partner, mehr oder weniger signifi- maßnahmen informiert die im November Kandidaten einer erweiterten bzw. der Ge- kante Schwankungen in den Budgets zum erscheinende Festschrift „30 Jahre Deut- samtjury, die sich aus Mitgliedern aller Fach- Negativen oder Positiven, aber auch durch scher Musikwettbewerb“ sowie die Website jurys zusammensetzt. Dadurch wird einer- die sich ändernde Lebenssituation der zu des DMW. Wegen seiner langen Erfolgs- seits der Bildung von „Fehlurteilen“ vor- fördernden jungen Musiker, die durch ihre geschichte und der zentralen Bedeutung für gebeugt, da sich der Einfluss eines einzelnen fortgeschrittene berufliche Situation nicht die erfolgreichen Absolventen des DMW Juroren auf die Gesamtpunktierung dras- mehr in demselben Umfang für Fördermaß- soll aber ein Projekt hervorgehoben wer- tisch verringert; andererseits richtet sich das nahmen zur Verfügung stehen können wie den: die Bundesauswahl Konzerte Junger Augenmerk der „fachfremden“ Juroren noch vor zehn oder gar 20 Jahren. Trotz- Künstler (BAKJK). wenn nicht mehr, so doch zumindest auch auf Kriterien, die die musikalische Gesamt- persönlichkeit des Kandidaten ausmachen. 2. Mit den (jährlich wechselnden) Wett- bewerbskategorien wird ein breites Spekt- rum an kammermusikalischen und solisti- schen Fächern angeboten, das ausdrücklich Instrumente und Kammermusikbesetzun- gen einschließt, für die sowohl in Deutsch- land als auch international kaum entspre- Markierungspunkte aus der Historie des DMW chende Angebote bestehen. Damit wird einerseits eine umfassende fachübergreifen- 1993 erhält das Projekt eine institu- Solisten und Klavierpartner veranstaltet; de Vergleichbarkeit des Leistungsstandards tionelle Heimat, die Geschäftsstelle seit 2000 finden beide Wettbewerbe junger professioneller Musikerinnen und DMW/BAKJK (heute Projektbüro) unter jährlich wechselnd in Bonn und Berlin Musiker ermöglicht, andererseits aber auch dem Dach des Deutschen Musikrats (seit statt. vielen jungen Musikerinnen und Musikern 2003 der DMR gemeinnützige Projektge- 2006 wird wiederum einen Wende- überhaupt erst die Gelegenheit gegeben, an sellschaft mbH). punkt markieren: Die Trennung von Kam- Fördermaßnahmen des Deutschen Musik- 1997 findet der DMW für Solisten mermusikensembles und Solisten wird rats teilzunehmen. erstmalig in Berlin statt. Dies ist der Be- wieder aufgehoben, beide Kategorien Die besondere Bedeutung des DMW ge- ginn der Zusammenarbeit mit der Univer- werden zukünftig sowohl in Bonn als genüber anderen – auch internationalen – sität der Künste, dem Konzerthaus und auch in Berlin angeboten. Damit wird so- Musikwettbewerben liegt darin, dass er für dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin wohl die Attraktivität beider Wettbe- einen erfolgreichen Teilnehmer (Preisträger sowie mit DeutschlandRadio Kultur. werbsorte als auch die Vielseitigkeit des oder Stipendiaten) keinen vorläufigen End- 1998 und 1999 wird jeweils im Früh- Programmangebots an die Konzertver- punkt, sondern vielmehr den Ausgangspunkt jahr in Bonn der DMW für Kammermusik- anstalter im Rahmen der Förderungs- für zahlreiche Fördermaßnahmen markiert, ensembles und im Herbst der DMW für maßnahmen erhöht. die den jungen Musiker am Schnittpunkt

 40 MUSIK ORUM »ES GIBT NUR gute undUND schlechte Bereits 1949 als Privatinitiative in Han- nover gegründet, später in Verbindung mit MUSIK« dem Norddeutschen Rundfunk Hannover, dem niedersächsischen Kultusministerium und der Landeshauptstadt Hannover fortge- Wolfgang Gönnenwein zur Zukunft des Deutschen Musik- führt und schließlich im Jahr 1957 in den Deutschen Musikrat integriert, wurde die wettbewerbs und zu seiner stilistischen Vielfalt Bundesauswahl Konzerte Junger Künstler 1987 mit dem DMW zusammengeführt. Sie bildet seitdem das Herzstück der Förder- m Jubiläumsjahr des Deutschen Musikwettbewerbs sieht es nach maßnahmen für die Stipendiaten des DMW. Einschätzung des Vorsitzenden des Projektbeirats, Wolfgang Alljährlich werden den Teilnehmern der I Gönnenwein, mit dem Nachwuchs in Deutschland zwiespältig aus: BAKJK um die 200 Konzerte vermittelt, die ihnen Erfahrung auf dem Konzertpodium, Könne man sich in der instrumentalen Kammermusik über ein hohes Kontakte zu Konzertveranstaltern und die Niveau freuen, bliebe der Gesangsnachwuchs aufgrund von Defiziten Möglichkeit bieten, sich einem breiten Pub- in den Bildungseinrichtungen „auf der Strecke“. likum zu präsentieren. Die künstlerische Vorbereitung auf die Konzertsaison erfolgt Seit 30 Jahren präsentiert der Musik- der Kammermusik, der hervorragenden in Arbeitsphasen, Workshops und Kursen wettbewerb die „Klassikstars von morgen“, Jugendorchester, dem Einzelunterricht – und wird unterstützt von der KulturStiftung und das in den vielseitigsten Kategorien in Musikschulen und privat – auf hohem der Länder und der Gesellschaft zur Ver- von Gesang bis Tuba, vom Streichquar- Niveau befindet. wertung von Leistungsschutzrechten (GVL). tett bis zum Ensemble in freier Besetzung. Im Bereich Gesang sieht das leider 2500 Wettbewerbsteilnehmer, 170 Preis- Über die Zukunft des Projekts sprach anders aus. Hier muss sowohl bei den träger, 300 Stipendiaten, über 70 Debüt- Hans Bäßler für das MUSIKFORUM Kindern im Vorschulalter als auch in CDs mit Preisträgern des DMW, an die mit Wolfgang Gönnenwein. den ersten Schuljahren die Basis gelegt 10 000 Konzerte im Rahmen der Bundes- werden, die Kinder brauchen, wenn sie auswahl Konzerte Junger Künstler – Zahlen, Der Deutsche Musikwettbewerb ihre Stimme entdecken und später aus- die für sich sprechen und ahnen lassen, wel- ist für den Nachwuchs sicherlich der wich- bilden lassen wollen. Die Folge bestehen- che Förderleistung das Projekt DMW in den tigste Preis in Deutschland überhaupt. Was der Defizite ist, dass der Gesangsnach- vergangenen 30 Jahren erbracht hat. Alle, zeichnet ihn besonders aus, gerade auch in wuchs auf der Strecke bleibt. die daran mitgewirkt haben, verdienen Dank, Abgrenzung zum ARD-Wettbewerb oder verbunden mit der Bitte, nicht nachzulassen zum Hochschulwettbewerb? Sie haben Ihren Appell für mehr in den Bemühungen um die adäquate För- Wolfgang Gönnenwein: Der Musik- Ausbildung zuletzt im Konzerthaus am derung des professionellen und hoch quali- wettbewerb ist ein deutscher Wettbewerb. Berliner Gendarmenmarkt an die Öffent- fizierten musikalischen Nachwuchses. Sie ist Er ist ein Spiegelbild der Qualität und der lichkeit gerichtet. Fällt Ihnen im Rahmen notwendiger denn je. Situation des deutschen Nachwuchses. des Wettbewerbs beispielsweise auf, dass Thomas Rabbow Wenn wir die vergangenen Jahre Revue die Breite fehlt oder dass das Niveau sich passieren lassen, so können wir in der verändert hat? Projektleiter Deutscher Musikwettbewerb Bundesrepublik feststellen, dass sich unser Gönnenwein: Ich finde es wichtig, U www.musikrat.de/index.php?id=611 instrumentaler Nachwuchs im Bereich dass die stilistische Breite und auch die

 MUSIK ORUM 41 dem Aspekt der Qualitätssteigerung. Und Qualitätssteigerung heißt natürlich auch immer Wachsen der Persönlichkeit und Ausstrahlung auf dem Podium.

Ist dieser Gesichtspunkt der Grund für die Besonderheit des Wettbewerbs, dass nämlich am Ende eine Gesamtjury entschei- det, deren Juroren überwiegend gar nicht die Instrumente spielen, über die sie letztlich „Kulturelle Polarität zwischen Bonn entscheiden? und Berlin kann nur fruchtbar sein“: Gönnenwein: Ich glaube ja. Das Prin- Wolfgang Gönnenwein. zip der Gesamtjury möchte ich nicht an- getastet wissen. Die Summe der Fach-Jury- ästhetische Vielfalt des Wettbewerbs far- mitglieder wächst in den letzten Durch- biger geworden sind – sei es nun beim gängen zu einer verantwortungsvollen Saxofon oder bei Instrumenten aus dem Gesamtjury zusammen. Bereich der Unterhaltungsmusik. Ohnehin bin ich dagegen, zwischen U- und E-Musik Der Wettbewerb hat in seinem zu unterscheiden. Es gibt nur gute und letzten Durchgang den aussagekräftigen Be- schlechte Musik. Das haben wir in den leg geliefert. Da ist die Gesamtjury sehr viel letzten Jahren im Wettbewerb so prakti- schneller auf das Persönlichkeitspotenzial eines ziert – nicht immer zur Freude der Spezia- Teilnehmers angesprungen, obwohl andere listen – und das sollten wir auch beibehal- Kandidaten – technisch und musikalisch ten. Nur so kann der Wettbewerb seine gesehen – genauso profiliert waren. Demnach Ausstrahlung in die Bevölkerung bewahren. vermittelt sich der Gesamtjury doch immer: Was die Bedeutung unseres musikali- Steht hier eine Persönlichkeit oder nicht? schen Nachwuchses und des Wettbewerbs Gönnenwein: Es ist klar, dass jede Ent- anlangt, bin ich der Meinung, dass der scheidung einer Jury diskussionswürdig ist. Deutsche Musikrat und die Beiräte in der Der eine setzt den Akzent stärker an dieser Öffentlichkeitsarbeit mehr tun müssen, um Stelle, der nächste an jener. Die Summe sowohl den Wettbewerb als auch die dessen, was dann von der Gesamtjury als Situation unseres Nachwuchses allgemein Ergebnis mit auf den Tisch gelegt wird, bekannt zu machen. gewährleistet aber eine würdige Gesamtbe- urteilung. Die Ergebnisse der vergangenen Zu den spannenden Aspekten des Jahre geben uns Recht. Wettbewerbs gehört seine besondere Art der Förderung. Warum ist man auf die Idee ge- Der Wechsel zwischen Berlin und kommen, den jungen Musikern nicht nur Bonn als Austragungsort – ist er sinnvoll oder einen Geldpreis, sondern darüber hinaus auch ist er nur dem kulturpolitischen Anspruch Konzerte zu vermitteln? Bonns geschuldet? Gönnenwein: Will man es salopp for- Gönnenwein: Er ist sicherlich eine Ver- mulieren, ist der Musikwettbewerb der ein- beugung gegenüber dem kulturpolitischen zige Wettbewerb, bei dem erkannt wurde, Verdienst Bonns mit den langjährigen För- dass die Kandidaten ab einem gewissen derungen des DMW und den sehr guten preiswürdigen Stadium anschließend ins Arbeitsmöglichkeiten dort. In Berlin hat es Trainingslager gehören. Dies wird vom den Anschein, dass sich am Gendarmen- Deutschen Musikrat ermöglicht, indem die markt eine gewisse Wettbewerbsgemeinde Preisträger die Chance bekommen, pro versammelt, wenn ich an dieses Jahr denke. Saison 20 bis 30 Konzerte zu geben. Das Aber ich bin eigentlich über die Entschei- ist im Grunde genommen „Finish-Arbeit“ für dung – mal Berlin, mal Bonn – nicht un- die künstlerische Zukunft unserer Solisten. glücklich. Es ist auch eine Referenz an die Die „Konzerte junger Künstler“ rechtfertigen föderale Verfassung unserer Bundesrepub- schon alleine den gesamten Wettbewerb. lik. Eine gewachsene kulturpolitische Ver- zahnung zwischen Bonn und dem Musik- Welche Perspektive sehen Sie für den rat in den letzten Jahrzehnten ist unverkenn- Wettbewerb? Wird er in der bestehenden bar. Umso mehr gilt der Appell an uns alle, Form fortgeführt, wird er sich verändern, sich alles dafür zu tun, um im gleichen Maße verändern müssen? eine Identifikation mit Berlin zu schaffen. Gönnenwein: Er wird sich verändern Eine kulturelle Polarität zwischen Bonn und und entwickeln müssen. Aber immer unter Berlin kann nur fruchtbar sein.

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Gerhart Darmstadt und sein Arpeggione: Kuriosum der Musik- geschichte

Claudia Valder-Knechtges über den Zwitter aus Gitarre und Violoncello und seinen engagiertesten Nutzer

„Heute spielt kein Mensch mehr das ganz aus der Mode gekommene Instru- ment. Schuberts Arpeggione-Sonate wird meist von Cellisten oder auch von Bratschisten aufgeführt.“ Dies bemerkte Joachim Kaiser im Jahr 2000 in einem Artikel der Illustrierten „Bunte“, der unter dem Titel „Wunder auf sechs Saiten – Träume voller Melancholie“ eben dieser Sonate gewidmet war. Und doch gibt es eine Hand voll seriöser Musiker, die sich dem Arpeggione widmen. Einer von ihnen ist Gerhart Darmstadt, Barockvioloncellist, Dirigent und Musikfor- scher, der auch seit vielen Jahren als Profes- sor für historische Aufführungspraxis und Kammermusik an der Hamburger Musik- hochschule wirkt. Er spielt auf einem von dem Berliner Instrumentenbauer Thomas Schiegnitz 2003 angefertigten Neubau. Gründlich hat er in den vergangenen Jahren alle Aspekte rund um den Arpeggione er- forscht. Dokumentiert sind die Ergebnisse in seinem umfassenden Artikel Auf der Suche nach einer neuen Klangwelt – Der Arpeggione und Franz Schubert *. Eine CD, die er mit Egino Klepper (Hammerflügel) und Björn Colell (Gitarre) aufgenommen hat, wird demnächst erscheinen. !

Gerhart Darmstadt mit seinem Arpeggione * in: Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz 2001, hg. von Günther Wagner, Fotos: Moritz Darnstadt Stuttgart Weimar 2001, S. 287–384.

 MUSIK ORUM 43 TITELTHEMA

Die Äußerung des deutschen Kritiker- erwehren können. Die Lieblichkeit und In- gehalten, wurde das Werk nun in Fassungen Papstes Joachim Kaiser empfindet Darm- nigkeit desselben ist ganz vorzüglich, und für die verschiedensten mehr oder minder stadt als herablassend und kommentiert sie der Hörende zweifelt, ob er den vollen sin- geeigneten Instrumente gespielt. Erst in den lakonisch mit den Worten: „Ich erlaube mir, genden Ton eines Bogens – oder eines Blas- letzten Jahrzehnten haben sich vereinzelt meine wenigen Kollegen und mich trotz- Instruments hört.“ Musiker ernsthaft daran begeben, den Ar- dem als Menschen zu betrachten.“ Sein Fa- Nur fünf Aufführungen sind in dem kur- peggione aus dem Dornröschenschlaf zu er- zit ist vielmehr: „Ich glaube sogar, dass eine zen Zeitraum von 1823 bis 1826 belegt: wecken und die ursprüngliche Klangwelt Interpretation dieser Sonate mit einem Ar- Vincenz Schuster trat im März 1823 der Arpeggione-Sonate kennen zu lernen. Für peggione viel moderner sein kann als die bis- erstmals in Wien damit auf. Vermutlich im Gerhart Darmstadt als den gegenwärtig en- her tradierten Interpretationen, weil sie der Dezember 1824 spielte er – zusammen mit gagiertesten unter ihnen reicht die Frage Zerbrechlichkeit, der innewohnenden Trauer, Schubert (?) – die Uraufführung der Arpeg- nach der Intention Schuberts und einer ent- der schönen Schlichtheit und gehaltvollen Tie- gione-Sonate, 1825 publizierte er sogar die sprechenden Interpretation seiner Arpeg- fe und Transzendenz dieser Sonate viel eher Schule: „Anleitung zur Erlernung des von gione-Sonate unbedingt aus, dem Instru- gerecht werden kann. Jedenfalls wird man Hrn. Georg Staufer neu erfundenen Guita- ment weit mehr als eine bloß museale Be- sie nach Kenntnis dieses Instruments anders re-Violoncells“, ohne Schubert auch nur zu deutung zuzuschreiben. hören, spielen und verstehen. Das allein würde genügen, sich damit zu befassen. Auf der anderen Seite ist zu fragen, ob der Ar- Zwitter aus Gitarre und Violoncello: der peggione nicht ein reizvolles Instrument für Arpeggione hat sechs Saiten in Gitarren- neue Musik sein bzw. werden könnte?“ stimmung und zumeist 24 Messingbünde.

Bizarrer Urheberstreit Zur Geschichte dieses kurzlebigen Instru- ments: Es wurde um 1823 in Wien von Jo- hann Georg Staufer, gleichzeitig in Pest von Peter Teufelsdorfer entwickelt. Beide Instru- mentenbauer führten in der Presse einen bizarren Streit um die Urheberschaft. Der Arpeggione, ein Zwitter aus Gitarre und Vio- Neubau des Berliner Instrumentenbauers loncello, hat sechs Saiten in Gitarrenstim- Thomas Schiegnitz mung und zumeist 24 im Griffbrett fest ein- (2003) nach Vorlage von Anton Mitteis gelassene Messingbünde. Auch der Umriss des Korpus, ohne Randüberstand und mit flachem Boden, stammt zumeist von der Gi- erwähnen. Ein gewisser Ed. Schmid spielte Ihm haben sich durch die ungewohnte, tarre, vom Violoncello dagegen die (etwas am 29. Mai 1823 in Pest und Heinrich Au- sehr differenzierte, seelisch-ätherische Ton- kürzere) Saitenlänge, die gewölbte Decke gust Birnbach am 18. März 1824 in Wien bildung des Originalinstruments neue Pers- mit der entsprechenden Steghöhe sowie die sowie am 10. Mai 1826 in Berlin. pektiven und Dimensionen erschlossen. Er Spiel- und Bogenhaltung. Bereits gegen Ende der zwanziger Jahre führt aus: „Schuberts Sonate wird in ihrer Franz Schubert adelte den Arpeggione des 19. Jahrhunderts verschwand der Ar- neuen und zugleich ursprünglichen Klang- mit der im November 1824 komponierten peggione schon wieder aus dem musika- welt aller Äußerlichkeit bloßer Virtuosität Sonate – dem einzigen noch vorhandenen lischen Leben. Seine eher intime ätherische entrückt und lässt so zweifellos an das Trans- originalen Werk für das Instrument. Nur er Klangwelt, vergleichbar mit Instrumenten zendente rühren. Schubert, der in der Regel verwendete übrigens den Namen „Arpeg- wie Baryton und Glasharmonika, konnte nur morgens bis zum Mittag komponierte, gione”; seine Zeitgenossen hingegen be- mit dem Ende der Empfindsamkeit noch schrieb aus der Nacht heraus und versuchte zeichneten es als „Bogen-Guitarre” bzw. einmal kurz aufleuchten, jedoch mit den um das niederzuschreiben, was er aus der geisti- „Chitarra con (col) arco”, „Knie-Guitarre”, 1830 eintretenden tief greifenden musika- gen Welt erhascht hatte. Der frühe Schu- „Guitarre-Violoncell” bzw. „Violoncell-Gui- lischen Veränderungen keinesfalls mehr bertsänger Johann Michael Vogl spricht in tarre”, „Sentimental-“ oder „Liebes-Guitarre” mithalten. Einzelne später gebaute Instru- seinen Tagebüchern von Schuberts ‚wahrhaft bzw. „Guitarre d’amour”. Der Herausgeber mente dienten wohl mehr und mehr dem göttlichen Eingebungen, diesen Hervorbrin- und „Redacteur“ der Wiener Allgemeinen bloßen Sammlerinteresse. gungen einer musikalischen Clairvoyance‘ musikalischen Zeitung, Friedrich August (Hellsichtigkeit). So ist gerade der Anfang Kanne, beschreibt 1823 als erster die Klang- Mehr als museale Bedeutung des ersten Satzes der Arpeggione-Sonate ein charakteristik dieses neuen Instruments: solch inspiriertes Aufwacherlebnis, während „Die Schönheit des Tons, der in der Höhe Nicht einmal der Erstdruck von Schu- der zweite Satz eher in eine tiefe Traumwelt mit der Oboe die grösste Ähnlichkeit hat, berts Komposition, der erst 1871 (in einer hineinführt, die wiederum in eine lebensvol- und gegen die Tiefe dem Bassethorn sehr Bearbeitung für Violine/Violoncello oder le Bewegung im letzten Satz übergeht, in ein gleich kommt, hat bereits mehrere Kenner, Pianoforte zu vier Händen) erfolgte, weckte Wiener Divertissement voller – zum Teil welche es hörten, in Verwunderung gesetzt, ein sonderliches Interesse an dem inzwi- auch ungarisch inspirierter – tänzerischer und jeder Unpartheiische wird sich des an- schen völlig unbekannten Arpeggione. Hat- und liedhafter Einfälle.“ genehmen Eindrucks bey Anhörung nicht te man ihn zunächst für eine spezielle Harfe

 44 MUSIK ORUM »Gerhart, du musst das machen!«

Der Musiker Gerhart Darmstadt im Gespräch über seinen Weg zum Arpeggione

Wie kamen Sie dazu, sich mit dem Arpeg- sein müssten. Ich begab mich deshalb mit insbesondere Ihr Schubert-Verständnis be- gione zu beschäftigen? Thomas Schiegnitz 2002 auf eine Studien- reichert? Darmstadt: Ich bin gar nicht von selbst reise zu den Musikinstrumentensammlun- Das Erlernen dieses Instruments war ein dazu gekommen, die Initiative kam eher gen nach Leipzig und Prag. In Prag fanden wirkliches Abenteuer für mich, da ich mich von außen auf mich zu. Das Berliner Musik- wir ein komplett im Originalzustand erhal- neu mit dem sechssaitigen Gitarrensystem instrumentenmuseum und das damit ver- tenes Geschwisterinstrument von Anton zu befassen hatte. Auch mit dem Pizzikato bundene Staatliche Institut für Musikfor- Mitteis zu dem Berliner Arpeggione. Seit machte ich ganz neue Erfahrungen durch schung suchten vor vielen Jahren einen 2003 bin ich nun im Besitz einer wunderba- den regelmäßigen Austausch mit Olaf Van Musiker, der den lange nicht mehr gespiel- ren Kopie dieses Instruments von Thomas Gonnissen. Durch die Frage, wie man mit ten Museumsarpeggione von Anton Mitteis Schiegnitz, mit dem ich mich in einem stän- einem Griffbrett mit Bünden umgeht, lernte wieder einmal spielen könnte. Nachdem die digen Austausch befinde. ich eine völlig neue Klangwelt kennen. We- Cellisten der Berliner Philharmonie alle ab- Wie viele Instrumente aus der Schubert- gen der Bünde entscheidet die Qualität des gewunken hatten, rief mich mein dortiger zeit sind heute noch erhalten? Fingeraufsatzes nicht über den Bogen-Klang Freund Götz Teutsch an und sagte: „Ger- Aus der Zeit Schuberts kenne ich an gu- wie bei einem Violoncello. Dadurch funk- hart, du musst das machen!“ Ich lehnte ten Instrumenten, die für seine Sonate taug- tioniert das violoncellistische „Betriebssys- zuerst ab, kam jedoch auf sein Zureden hin lich sind, nur fünf Instrumente – in mehr tem“ einer beseelten Klangentwicklung nicht 1996 nach Berlin und probierte das Instru- oder weniger gutem Zustand – von Johann mehr und es muss ein völlig neuer Ansatz ment aus. Ich war sofort von der Schönheit Georg Staufer (heute in Leipzig, dort auch zum Klingen gefunden werden. Man kann und Intimität dieses Klangs begeistert. So eines als Kriegsverlust, New York, Prag, Pa- in den Fingerspitzen der linken Hand füh- ergab sich ein unbezahlter Forschungsauf- ris) und zwei von Anton Mitteis (Berlin, Prag). len, was man will, der Bogenklang kann dies trag und eine sehr intensive und fruchtbare Weitere acht Instrumente aus dem 19. Jahr- nicht übertragen, weil man nur den Bund, Zusammenarbeit mit dem Musikinstrumen- hundert (Frankfurt, Köln, Lissabon, Nürn- die Messingschiene, hört. Da der Bogen tenmuseum Berlin und mit Günther Wag- berg, Salzburg, Weyregg, zwei in Wien) sind nicht mehr auf die zur Schubertzeit gefor- ner, Conny Restle, Thomas Ertelt und beson- von minderem Interesse. In den osteuropäi- derte Beseeltheit der linken Hand reagieren ders mit Thomas Schiegnitz, der im Auftrag schen Ländern wird vielleicht noch das eine kann, der Übertragungsweg des Ausdrucks des Museums einen Arpeggione nach dem oder andere Instrument zu finden sein. nun eben nicht wie gewohnt von innen nach Berliner Instrument baute, das mir zur Ver- Gibt es für Sie überhaupt genügend Lite- außen erfolgt, ist ein neuer empfindungsmä- fügung gestellt wurde. Meine Aufgabe war, ratur für Arpeggione? ßiger Zugang zur rechten Hand von außen das Instrument ohne eigene Vorbilder zu er- Aus dem Zeitraum zwischen 1780 und nach innen zu suchen. Das anfängliche Ge- lernen, den historischen Hintergrund zu er- 1830 habe ich in der Violin-, Flöten-, Vio- fühl, dadurch zur Distanz gezwungen zu forschen und beides durch eine wissen- loncello-, Gitarren- und Klavierliteratur inzwi- sein, kann durchaus in eine sublime Nähe schaftliche Arbeit, durch ein Konzert und schen einige schöne, bearbeitungswürdige verwandelt werden. Das bedingt eine sehr eine CD zu dokumentieren. Werke für Arpeggione gefunden, und neue differenzierte, seelisch-ätherische Tonbil- Unser erstes von mehreren Konzerten in Kompositionen sind Berlin fand im November 1999 zusammen in Arbeit und im Ge- mit Egino Klepper statt, später hatte ich spräch. Ein Pianofor- auch das Vergnügen, mit Cordelia Höfer zu te der Schubertzeit »»Das Kennenlernen der ›Gegenseite‹ spielen. In Berlin bin ich nach einem Kon- eignet sich beson- zert zum ersten Mal einem anderen Arpeg- ders als Begleitinstru- des Klangs hat mein Spiel auch auf gionekollegen, Alfred Lessing aus Düsseldorf, ment, obwohl ich dem Violoncello sehr verändert« begegnet, der sich schon Jahrzehnte mit die- auch mit modernen sem Instrument befasst hatte. Wir empfan- Flügeln, besonders den es beide als sehr spannend, welchen Zu- mit großen, gute Erfahrungen gemacht dung, die der Arpeggione-Sonate sehr entge- gang jeder von uns zum Arpeggione gefun- habe. Besonders gerne spiele ich Duos mit gen kommt. Diese Erfahrung, das Kennen- den hat. Als ich die geliehene Kopie des dem Gitarristen Olaf Van Gonnissen, mei- lernen der „Gegenseite“ des Klangs, hat Museums-Arpeggione 2002 zurückgeben nem lieben Kollegen an der Hamburger mein Spiel auch auf dem Violoncello sehr musste, stellte sich mir die Frage, ob damit Musikhochschule. Diese Mischung aus einer verändert. Ich empfinde die Klangmöglich- meine Aufgabe erledigt sei oder ob ich mich gezupften und einer gestrichenen Gitarre, keiten mit dem Arpeggione, der Schuberts weiter mit diesem Instrument beschäftigen oder wenn beide Instrumente gezupft wer- Wunsch nach dem Undeklamatorischen, wolle. Nachdem ich mich für Letzteres ent- den, ist bezaubernd schön. Auch die Arpeg- Undramatischen, primär rein Musikalischen schieden hatte, galt es, die geeignete Vorla- gione-Sonate spielen wir zusammen in dieser einer Melodie wesentlich mehr entgegen ge für eine Kopie zu finden. Das sehr schö- Besetzung. Die Verbindung von Arpeggio- kommt, viel moderner für diese Sonate als ne Berliner Instrument, das ich für die ne und kleinem Orchester ist für eine inti- den herkömmlichen romantischen Zugang. CD-Einspielung benutzte, kam für mich me Musik ebenfalls sehr reizvoll. Seither erlebe ich auch Schuberts Werke nicht in Frage, weil mir sehr deutlich war, War es schwer, Arpeggione spielen zu mit ganz anderen Augen und Ohren. dass der nicht mehr originale Hals, der Steg lernen? Und wie hat die Beschäftigung mit Was erlebt Ihr Publikum bei einem Kon- und der Saitenhalter ganz anders gestaltet dem Arpeggione Ihr eigenes Musizieren und zert mit dem Arpeggione?

 MUSIK ORUM 45 TITELTHEMA

Ich erlebe beim Publikum in der Regel Dasjenige, was ich oben als Innen- und eine tiefe Betroffenheit über die beseelte Außenerlebnis angedeutet habe, kann zu Melancholie, die von diesem Instrument einer ganz wesentlichen Erfahrung für das ausgeht. Man ist davon berührt und glaubt, eigene Spiel werden. Es fördert eine eher diesen fremden Klang von irgendwoher zu geistige, schwebend freie Tonbildung, die kennen, ohne zu wissen woher. Da der Ar- heute sehr selten zu hören ist. Die ätheri- peggione, als „Persönlichkeit“ angesprochen, sche Selbstlosigkeit des Klangs und die er- die große Schwelle nach Schuberts und greifende Melancholie der Sonate führen zu Goethes Tod von der ausgehenden Emp- einer bestürzenden Innenschau der musika- Angelika C. Stern, findsamkeit hin zu dem, was wir heute „ro- lischen Wahrnehmung. Clinical Research mantisch“ nennen, nicht überschritten hat, Der Arpeggione mit seinen Bünden ist ja Consultant: Das konnte er als Instrument eine seelische Rein- eigentlich eine Zumutung durch die an- Lexikon beschreibt heit und Unschuld bewahren, die heute Not scheinende Behinderung einer seelischen Kreativität als Pro- tut und stark ergreift. Ich war in dem Zu- Beweglichkeit, medizinisch gesprochen ein duktion von origi- sammenhang zutiefst bewegt von den Ge- Bild der Sklerotisierung eines Instruments. nellen Einfällen, die danken von Reinhard Schulz: Um diese aufzuheben, ist eine ganz neue zum Erkennen und „Für Schubert hatten die Töne eine andere Wahrnehmung und Beweglichkeit des rück- zur Lösung von Problemen führt. In Nähe und Wärme als für den klassischen Kom- wärtigen Bereichs über die Wirbelsäule er- diesem Sinne war und bin ich wohl ponisten. Die Ratio, mit der dieser ihnen begeg- forderlich, die als eine elastische „Klaviatur“ kreativ beim Bau und der Einrichtung nete, war ihm fremd, ja er fürchtete wohl, dem des Musizierens erlebbar werden kann. Hier unseres Hauses, vielleicht auch noch Reich der Töne durch allzu zwingende Hand- eröffnen sich ganz neue, sehr spannende bei der Rosenpflege, sicher aber nicht habung Leid anzutun. So konnte er nicht mit therapeutische Möglichkeiten und Perspek- beim Spielen eines Bach-Präludiums den Tönen etwas ausdrücken, schon gar nicht tiven. oder eines Schubert-Impromptus. Dann an ihnen etwas demonstrieren (was zum Bei- nämlich bin ich ganz in und bei der spiel auf Haydn zuträfe), er konnte allenfalls Artikel in verkürzter Fassung erschienen als: „Nur eine Musik. Im besten Sinne des Wortes durch sie Laut geben. Diese Behutsamkeit und Fußnote der Musikgeschichte? Gerhart Darmstadt und kreativ bin ich, wenn mir beim Laufen der Arpeggione“ – „Ein anderes Betriebssystem. Drei Ehrfurcht aber wurden dem Komponisten ent- Fragen an Gerhart Darmstadt“, in: Concerto, Nr. 203, oder während langer Wanderungen im geltend zurückgegeben, verborgene Innensei- August/September 2005, S. 18f. Wald fast ganz von selbst Lösungen zu ten des Klingens brachen ‚wie von selbst‘ hervor Problemen und Ideen zu Projekten und offenbarten ungeahnte Erlebniswelten, be- einfallen, die ich in meiner beruflichen stürzende Schönheiten. Gerade die aber traten Gerhart Darmstadt (53) studierte Vio- Tätigkeit oder als derzeitige Präsidentin nach außen durch den Bruch, der immer wieder loncello bei Mirko Dorner an der Folk- des Zonta-Clubs Oberrhein brauche. Schuberts Musik bestimmt. Innen- und Außen- wang Hochschule Essen und histori- seite der Musik decken sich nicht, und aus die- sche Aufführungspraxis bei Nikolaus Andrea Hermesmeier, ser Spannung wachsen neue Erlebniswerte. Harnoncourt am Mozarteum Salzburg; Rechtsamts-Leiterin Mehr als andere lebt Schuberts Musik aus die- zusätzlich hatte er Unterricht für Barock- in Pforzheim: Als sem Widerspruch heraus, zusehends begriff er violoncello bei Anner Bylsma. Heute erstes fallen mir da auch, daß hierin größere Intensität, tiefere zählt Gerhart Darmstadt zu den führen- die „klassischen“ Wahrheit geborgen war. Er wohl hat als erster den deutschen Barockvioloncellisten Bereiche ein: Das Komponist daran gedacht, daß er gegenüber den und hat sich ebenfalls als Dirigent und Singen in meinem von ihm gehandhabten Tönen in der Schuld profunder Kenner des 17. bis 19. Jahr- Chor oder – zum stünde, die nur durch besondere Fürsorge zu ent- hunderts einen Namen gemacht. Er ist Entsetzen meiner Kinder – bei bester gelten sei – ein ungeheuerlicher Gedanke, den in Mitglied des Joseph Martin Kraus- Laune auch im Supermarkt, die Gestal- vergleichbarer Tiefenschärfe vielleicht erst wie- Streichquartetts. Mit Werner Ehrhardt tung meines neuen Gartens, Berge von der Anton Webern zu formulieren vermochte. verbindet ihn eine intensive künstleri- Brombeeren, die zu Marmelade werden, Wer den Klängen aber so begegnet, der hört sie sche Zusammenarbeit. In jüngster Zeit mein Ringen um Metrik und Reim neu, sieht neue Beziehungsgeflechte. Er muß hier- ist er auch als Arpeggione-Spieler her- beim Dichten allfälliger Gebrauchslyrik. bei gar nicht in andere Regionen aufbrechen vorgetreten. Als Professor an der Hoch- Aber im Beruf? Kreative Juristin? oder zu kühnen Wendungen greifen, er konnte schule für Musik und Theater in Hamburg Vielleicht ein Widerspruch in sich? Bei sie einfach hinstellen und losgelassen aus sich unterrichtet Gerhart Darmstadt histori- näherem Hinsehen wohl doch nicht! heraus wirken lassen. Schönheit und ihre Ge- sche Aufführungspraxis und Kammer- Gestaltungskraft, Ideen und Fantasie fährdung wie Schutzbedürftigkeit offenbarten musik. Zahlreiche Aufnahmen, Kurse, sind gefragt, um bei knappsten Kassen sich hierin gleichsam ‚von selbst‘. (aus: Rein- Arbeitsphasen und Seminare für histori- alte Behördenstrukturen in einen hard Schulz: „Rückhaltlos neues Hören in die sche Aufführungspraxis, Violoncello, modernen Dienstleister zu verwandeln Stille – Mit Seitenbetrachtungen zum Lied Orchester- und Kammermusik sowie und „meine“ Stadt zu einem lebens- Abschied“, in: Thema Musik Live. Franz Schu- Vorträge, musikwissenschaftliche Ver- und liebenswerten Ort weiterzuent- bert – heute?, hg. von Wolf Loeckle und Alb- öffentlichungen und Editionen weisen ihn wickeln. Und wegen solcher Gestal- recht Roeseler, Regensburg 1994, S. 15f.). als kompetenten Interpreten, Wissen- tungsmöglichkeiten habe ich – noch Was können Musiker, die dieses Instru- schaftler und Pädagogen aus. immer – meinen Traumberuf. ment nicht selbst spielen, von Ihrer Arbeit profitieren?

 46 MUSIK ORUM NEUE TÖNE

Thematisch „grenzenlos“ reflektiert das ISCM World New Music Festival die Pluralität der Kulturen

KÜNSTLERISCHE

Von Christine Fischer

as ISCM World New Music Festival, 2006 in Stuttgart zu Gast, ist digungsebenen zwischen Gesellschaften Ddas offizielle Festival der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik. und Kulturen herzustellen? Es wird jährlich in einem der 50 Mitgliedsländer ausgetragen (in Deutsch- „Grenzenlos“ wird dabei in verschiede- ner Hinsicht gedacht. Zunächst geht es da- land zuletzt 1995) und soll die neuesten Entwicklungen der gegenwärtigen rum, die Grenzen zwischen Kulturen zu er- Musik widerspiegeln. Ein Kompositionswettbewerb, an dem sich die kennen. Über die Länder der ISCM hinaus Mitgliedssektionen wie auch private Einsender aus aller Welt beteiligen, beziehen wir dabei Musikkulturen ein, für bildet die obligatorische Grundlage des Festivalprogramms. deren umfassendes Verständnis in Europa die Kriterien (noch) fehlen. Gleichzeitig un- Neue Musik ist ein Begriff, der aus euro- sien „Globalisierung und die Freiheit der tersuchen wir, wie sehr durch die heutigen päischem Kunstverständnis heraus geprägt Künste“ (vgl. MUSIKFORUM 4/2004) auf- – grenzenlosen – Möglichkeiten von Kom- wurde. Auch die am ISCM-Wettbewerb teil- stellte, zur wichtigsten Prämisse für die Festi- munikation ästhetische Positionen beein- nehmenden Komponisten von Ländern au- valkonzeption. Sie geht von einer parallel flusst und aufgebrochen werden. Im Fokus ßerhalb Europas beziehen sich zumeist auf stattfindenden, gleichberechtigten Entwick- des Interesses steht vor allem die junge Ge- unsere westliche Kompositionsästhetik. Der lung der Kulturen der Welt aus. neration von Künstlern, die mit Internet und Musik anderer Kulturen wurde aus europäi- Mit dem Thema „grenzenlos“ will das E-Mails weltweit in größter Selbstverständ- scher Sicht in der Vergangenheit vor allem World New Music Festival dieser Pluralität lichkeit umgeht und deren Neugierde auf ethnologische oder folkloristische Bedeu- und der Unterschiedlichkeit der Kulturen Fremdes und Unbekanntes in anderen Kul- tung beigemessen. gerecht werden. Im Mittelpunkt steht die turen vorausgesetzt oder auch herausgefor- Die „World New Music“ jedoch kann Frage nach der kulturellen Identität: Wie dert wird. Schließlich sind auch intermedia- man heute nicht mehr in diese hermetische wirken sich die massiven Veränderungen le und interdisziplinäre Aspekte Bestandteil Begrifflichkeit unterteilen. So wurde die durch die Globalisierung auf den einzelnen des Themas „grenzenlos“. Insbesondere aber Theorie der „Pluralität der Modernen“, die Menschen aus? Welche Aufgabe kann die bezieht sich der Titel auf ein Denken, das, der Philosoph Rolf Elberfeld im ersten der Kunst im Sinne der Identitätsfindung über- provoziert durch ästhetische, technische vier auf das Festival hinführenden Sympo- nehmen? Kann sie dazu beitragen, Verstän- oder kulturelle Festlegungen, künstlerische Sprengkraft entwickeln kann. Ohne die „Codes“ einer Kultur zu ken- nen ist es nicht möglich, Bewertungskrite- rien für ihre Werke zu finden bzw. sie zu verstehen. Wir haben daher ein Team von „Botschaftern“ beauftragt, Sachverständige für unterschiedliche Kulturen in der Welt, unser Anliegen in anderen Ländern zu ver- mitteln, uns über aktuelle Entwicklungen zu informieren und Kontakte zu Künstlern her- zustellen, deren ästhetische und/oder politi- sche Position für das Festival interessant ist. Einige dieser Künstler, die wir über die Bot- schafter kennen gelernt haben, spielen nun eine größere Rolle in Projekten, die wir für das Festival entwickelt haben.

„Global Interplay“ verbindet Künstler aus fünf Kulturen

Das vermutlich wichtigste Projekt ist Stätte intensiver Klänge: Das Theaterhaus Stuttgart bietet dem Publikum mit vier Konzert- dabei der internationale Kompositions- und Theatersälen, Bars und Bistros beste Möglichkeiten für ein kommunikatives Musikerlebnis. Workshop „Global Interplay“, der Künstler

 MUSIK ORUM 47 NEUE TÖNE

aus fünf unterschiedlichen Kulturen mitei- sik, die die Konzerte des Festivals tragen, seither Kompositionsworkshops, Compu- nander verbindet. In Peking und Shanghai, darunter das Ensemble Modern, die musik- ter-AGs, Schüleraufführungen und die Kairo, Accra (Ghana), New York und Berlin Fabrik, das ensemble recherche, das En- mittlerweile schon berühmten „Beginner“- arbeiten seit Mai 2005 jeweils sechs bis acht semble Mosaik, ascolta und viele andere. Konzerte statt, in denen Schüler nach einem angehende Komponisten in Workshops, de- Eine wichtige Rolle spielen die „Ensembles Workshop mit Komponisten und Interpre- ren Lehrer und Mentoren ihrerseits interkul- in Residence“, das Radiosinfonieorchester ten ein Konzert im Rahmen unserer Kon- turelle Erfahrungen haben. Sie reflektieren Stuttgart, das SWR Vokalensemble und das zertreihen moderieren. über ihre eigene Kompositionsästhetik und „Hausensemble“, die Neuen Vocalsolisten. Diese Reihe wird in der kommenden Sai- die der anderen vier Kulturen, sie treten son 2005/06 auf Erwachsene ausgeweitet. miteinander per Internet-Plattform und Kommunikationsreiches „Beginnerprofessional“ richtet sich insbe- Newsgroup in Kontakt und diskutieren, an- Festivalerlebnis sondere an Berufsgruppen. Damit wollen geregt durch die Dramaturgen von Global wir Menschen erreichen, die über die Iden- Interplay, nicht nur über Techniken, son- Das World New Music Festival wird vom tifikation mit der eigenen Berufswelt ei- dern auch über politische Standpunkte und 14. bis 30. Juli 2006 im Theaterhaus Stutt- nen intellektuellen Zugang zu anderen, künstlerische Positionen. In fünf Kongressen gart stattfinden. Der Sitz und Spielort von vielleicht analog gebauten Welten der Kunst lernen sich jeweils Delegierte der Teams Musik der Jahrhunderte bietet dem Publi- gewinnen. So werden in den kommenden persönlich kennen (der Berliner Kongress kum mit vier Konzert- und Theatersälen, Monaten Architekten, Lektoren, Politiker, findet im Rahmen der „MärzMusik“ am 18. Bars und Bistros und dem nahen Hotel- und Ärzte und andere ihre Arbeitskollegen und März 2006 im Haus der Kulturen der Welt Kongresszentrum beste Möglichkeiten für das Publikum in unsere Konzertprogramme statt). Aus dieser interkulturellen Erfahrung ein intensives, kommunikationsreiches Fes- einführen. entstehen künstlerische Projekte, die zum tivalerlebnis. Hochsommerlich open air wird Großteil im World New Music Festival ur- auf dem Killesberg ein Klangpark entstehen. Kunst als Stein des Anstoßes aufgeführt werden sollen. Ab Oktober ist „Stadtklänge“ bringen die Klangkunst in der Fortschritt von Global Interplay im In- Fußgängerzonen und öffentliche Gebäude. Somit verbinden sich mit der Festivalkon- ternet zu verfolgen: Die Oper, das Forum Neues Musiktheater, zeption drei große Anliegen: das inhaltliche, U www.wnmf2006.de die Akademie Schloss Solitude und die Mu- der „Pluralität der Modernen“ gerecht zu sikhochschule stellen als Partner ihre Veran- werden, das strukturelle, Szenen zu einem Wichtige Partnerschaften staltungsorte zur Verfügung. Netzwerk zu binden, und das kulturpoliti- Die beiden Festivalwochen haben unter- sche: die neue Musik wieder selbstverständ- Ein Schwerpunkt des Festivals ist das schiedliche Schwerpunkte. Zwischen dem lich in das kulturelle Leben unserer Gesell- Musiktheater und dabei wiederum interkul- 14. und 23. Juli findet das offizielle ISCM- schaft einzubinden. Was die Bildende Kunst turelle Projekte, die für diesen Anlass in Programm mit dem dazu gehörigen Kon- und die Literatur längst geschafft haben, Auftrag gegeben wurden. Neben den drei gress der ISCM-Delegierten statt. Hier wer- wenn man die Besuchermassen in Museen Eigenproduktionen von „Musik der Jahrhun- den die meisten der Werke vorgestellt, die moderner Kunst und Literaturhäusern be- derte“ bringen die Staatsoper Stuttgart und die Internationale Jury unter der Leitung trachtet, das muss uns auch gelingen: dass das Forum Neues Musiktheater, die neben von Wolfgang Rihm mit George Benjamin, unsere Kunst die Menschen betrifft, dass sie dem SWR die wichtigsten Partner des Festi- Unsuk Chin, Pascal Dusapin, Julio Estrada, ein Stein des Anstoßes ist und das Bedürfnis vals sind, vier Produktionen ein. Hans-Peter Jahn und Vladimir Tarnopolski weckt, sich mit ihr auseinander zu setzen Auch überregionale Partner wie das aus den Einsendungen des ISCM-Wettbe- und neue Räume in sich selbst zu öffnen. ZKM Karlsruhe oder die DEGEM (Deutsche werbs ausgewählt hat. Die jungen Komponisten sehen das Gesellschaft für Elektronische Musik) bezie- Die Woche vom 22. bis 30. Juli widmet längst so. Ihnen und ihren unterschiedlichs- hen sich mit ihren Projekten, die sie für das sich schwerpunktmäßig der jungen Genera- ten Konzepten, mit denen sie die alten Festival ausschreiben, auf die „grenzenlos“- tion und stellt unter anderem die Ergebnisse Grenzen sprengen, ist das World New Mu- Thematik. von Global Interplay vor. Zusammen mit sic Festival 2006 in Stuttgart gewidmet. Die Partnerschaften mit Institutionen dem Institut für Neue Musik und Musiker- und Ensembles sind ein wichtiger Bestand- ziehung Darmstadt wird ein Jugendkongress teil in der Festivalkonzeption. Grundsätzlich ausgerichtet, der sich in Workshops, Arbeits- sollen Veranstalter, Musikologen, Kompo- gruppen, Diskussionsforen, Vorträgen und Die Autorin: nisten und Interpreten aus der Szene für Konzerten auf die „grenzenlos“-Thematik Christine Fischer ist künstlerische Lei- Neue Musik in die Vorbereitungen des Fes- bezieht. Zahlreiche Stuttgarter Schulen be- terin des World New Music Festivals tivals und in die Diskussionen über die Festi- teiligen sich im Rahmen ihrer Projektwo- 2006. Sie ist seit 1985 Geschäftsführerin valthematik einbezogen werden. Dieses Netz- chen und gestalten zum Teil eigene Konzer- von Musik der Jahrhunderte und werk soll über das Festival hinaus die konst- te. Hier werden unter anderem die Preis- Managerin der Neuen Vocalsolisten ruktive Zusammenarbeit der Vermittler träger des Kompositionswettbewerbs für Stuttgart. Neuer Musik in Deutschland und interna- Schülerorchester aufgeführt. tional festigen. Das wird auch von der Deut- Diese Jugendprojekte im Festival sind der schen Gesellschaft für Neue Musik, in deren vorläufige Höhepunkt eines aufwändigen Auftrag das Festival durchgeführt wird, er- Vermittlungsprojekts neuer Musik, das Mu- wartet und unterstützt. sik der Jahrhunderte im Jahr 2004 in Vorbe- Es sind daher vor allem die hochqualifi- reitung des Festivals initiiert hat. Mit zahlrei- zierten deutschen Ensembles für Neue Mu- chen Schulklassen aller Schularten finden

 48 MUSIK ORUM Gestärkt geht das Pop-Projekt SchoolJam in die nächste Runde

MEHR Förderung, MEHR Resonanz

choolJam, das bundesweite rung von SchoolJam. Dies gilt sowohl für Attraktive Preise Schülerbandfestival, geht mit den Versand des Plakats an etwa 17000 all- S Die acht Finalisten spielen um attraktive noch größerer Unterstützung in gemein bildende Schulen in Deutschland als auch für die Organisation und Durchfüh- Preise: Die Siegerband, die sich „Beste Schü- die neue Runde 2005/2006. Es rung von SchoolJam-RegioFinals. Ausdrück- lerband Deutschlands“ nennen darf, ge- wird jetzt auch von der „Aktion lich zu nennen sind in diesem Zusammen- winnt Auftritte bei den großen Open Air- Mensch“ gefördert und präsen- hang die Landesmusikräte Berlin, Hamburg, Festivals „Rock am Ring“ und „Rock for Peo- tiert Anfang 2006 über 100 Bands Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rhein- ple“ in Prag. Eine weitere Band mit deut- schen Texten erhält den „DFJW-SchoolJam- in nunmehr 14 Städten „live on land-Pfalz, Saarland sowie Thüringen. So Sonderpreis“: In Kooperation mit dem stage“. Weitere starke Partner sind wundert es nicht, dass die Macher von SchoolJam hoch motiviert und mit neuen Deutsch-Französischen Jugendwerk besteht die GEMA-Stiftung, die Musik- Ideen in die nächste Runde gehen. dieser Sonderpreis in einer Tour durch Süd- messe Frankfurt, SAE und VIVA. ˇ Die Schülerbands haben Gelegen- frankreich, die im Sommer 2006 stattfinden heit, sich bis zum 1. Dezember 2005 bei soll. Und auch mit der öffentlichen Wahrneh- SchoolJam zu bewerben. Im letzten Jahr Aber auch die Schulen der Finalisten ge- mung des Schülerbandfestivals können die nahmen über 700 Schülerbands aus winnen. Diese werden mit Instrumenten Beteiligten hoch zufrieden sein: Das diesjäh- ganz Deutschland diese Möglichkeit und wertvollem Musikequipment ausgestat- rige SchoolJam-Finale mit dem Top-Act Sil- wahr. tet. So soll der Stellenwert und die Attrakti- bermond und den Preisträgern Trivial, Efeu In der neuen Staffel wird das Auswahl- vität des Musikunterrichts erhöht werden, und Peach Box zog starke Medienresonanz verfahren noch einmal modifiziert: Aus al- und die nachrückenden Schülergeneratio- nach sich. Neben der bereits in den Vorjah- len Einsendungen werden bis zu 112 Bands nen erhalten die Möglichkeit, frühzeitig und ren entwickelten Internetpräsenz und den ausgewählt, die in den nunmehr 14 Regio- intensiv Spaß am Musikmachen zu entwi- Hörfunkberichten gab es eine Vielzahl an Finals die Chance bekommen, sich live auf ckeln. TV-Reportagen über das Event (ARD, ZDF der Bühne zu präsentieren. Von Mitte Janu- Zweifellos besitzt das Projekt noch Po- und weitere Sender). Gleich mehrere Bands ar bis Mitte Februar 2006 werden je acht tenziale zur Weiterentwicklung: Ein intensi- wurden von der ARD eingeladen, ihre Mu- Bands in Berlin, Bremen, Dresden, Erfurt, ves Coaching der talentiertesten Bands und sik im „Tigerenten-Club“ zu präsentieren. Freiburg, Hamburg, Hannover, Köln, Lü- anschließende Auftritte könnten nächste Als neuer Partner wurde soeben die „Ak- beck, Magdeburg, Mainz, Mannheim, Nürn- Schritte sein, um die Attraktivität und Quali- tion Mensch“ gewonnen, die mit der Jugend- berg und München auftreten. Neu ist auch, tät von SchoolJam kontinuierlich zu erhö- Community „re:spect“ der reinen Kommer- dass SchoolJam dem Grundsatz des Aus- hen. Der Landesmusikrat Niedersachsen zialisierung der Jugendkultur eine Fülle von schlusses von extremen Inhalten und Dar- startet ein entsprechendes Pilotprojekt, das kreativen Aktionen und Projekten entgegen- stellungen und dem „Gender Mainstrea- hoffentlich bald bundesweit umgesetzt wer- setzt. Darüber hinaus beteiligen sich immer ming“-Leitprinzip verpflichtet ist. den wird. mehr Landesmusikräte an der Durchfüh- Eine fachkundige Jury wird jeweils die Das Schülerbandfestival SchoolJam wird beiden Bands auswählen, die in das Online- von vielen bekannten deutschen Musikern unterstützt wie Silbermond, Juli, Gentleman, Beste Schülerband 2005: „Trivial“ räumten Voting über VIVA einziehen. Die Songs Anett Louisan, die happy, Mousse T., Paul beim diesjährigen SchoolJam ab. werden von einem Team von SAE (School of Audio Engineering) mitgeschnitten und van Dyk, Reamonn und vielen anderen. so den Internet-Usern zur Abstimmung ge- SchoolJam ist ein Projekt in gemeinsamer stellt. Trägerschaft der Deutscher Musikrat ge- Von den nunmehr 28 Bands werden meinnützigen Projektgesellschaft mbH und zwei über die VIVA-Webseite und eine des MM-Musik-Media Verlags. Weitere Band über die re:spect-Webseite den Weg Partner sind der Verband deutscher Musik- ins große Finale auf der Musikmesse Frank- schulen (VdM), der Arbeitskreis für Schul- furt finden. Fünf der acht Finalisten werden musik (AfS) und der Verband Deutscher von einer Expertenjury ausgewählt. Dieser Schulmusiker (VDS). neue Expertenentscheid auf der Halbfinal- Michael Teilkemeier ebene soll die musikalische Qualität des Fi- U www.schooljam.de, www.musikrat.de nales noch einmal steigern.

Foto: Messe Frankfurt Exhibiton GmbH /  J. Günther MUSIK ORUM 49 DOKUMENTATION

2. Bundesdeutscher Wettbewerb des Verbands Deutscher Schulmusiker: »musik gewinnt« MUSIKALISCHES LEBEN IN SCHULEN

Im Rahmen des bundesweiten Wettbewerbs „musik arbeit mit der Strecker-Stiftung Mainz und dem West- gewinnt“ zeichnete der Verband Deutscher Schulmusi- deutschen Rundfunk Köln (WDR) durchgeführt. ker (VDS) im vergangenen Jahr erstmals Schulen aus, in Hier nun die Ausschreibung für die „2. Auflage“ des denen das musikalische Leben in besonderer Weise Wettbewerbs, für den Bundespräsident Horst Köhler ausgeprägt ist. Der Wettbewerb wurde in Zusammen- die Schirmherrschaft übernommen hat.

AUSSCHREIBUNG

ˇ Warum der Wettbewerb? Es können Bewerbungen eingereicht ˇ Und die Preise? Ungezählte Schulen in allen Bundes- werden, die durch musikalische und ideen- Es werden bis zu fünf erste Preise in ländern bieten ihren Jungen und Mäd- reiche Initiativen bestimmt sind. Das kön- Höhe von jeweils 2000 Euro ausgeschrie- chen mehr als nur den staatlich vorgege- nen musikalische Aktionen aller Art sein, ben, aufgeteilt nach den fünf zugelassenen benen Musikunterricht in der Klasse. vielleicht unter einem bestimmten Thema, Schularten bzw. -stufen. Zehn weitere Be- Da singt und klingt es überall. Oft je- wobei alle Formen des aktiven Musizie- werber erhalten jeweils einen Einkaufsgut- doch weiß kaum jemand außerhalb der rens, Komponierens bzw. anderer musika- schein im Wert von 300 Euro. Schule, von den Eltern einmal abgesehen, lischer Gestaltung unterschiedlichster Aus- Die Preisverleihung findet am 27. April welche Leistung erbracht und wie viel prägung und auch fächerübergreifend will- 2006 in der Kölner Philharmonie im Rah- Freude dadurch vermittelt wird. kommen sind. Die Breite der musikalischen men eines Jugendkonzerts mit dem WDR- Der Verband Deutscher Schulmusiker Aktionen wird höher bewertet als die Sinfonieorchester Köln statt. Die ersten möchte das musikalische Leben dieser Dokumentation einzelner Projekte, d. h. so Preisträger werden mit je zwei Vertre- Schulen und Stufen der Öffentlichkeit viele Schüler(innen) wie nur möglich soll- tern/Vertreterinnen durch den WDR zur vorstellen, und zwar als Modelle, die an- ten daran beteiligt sein, wenn sie auf diese Preisverleihung nach Köln eingeladen. dere Schulen vielleicht musikalisch moti- Weise ihre Schule oder Stufe zu einem Ort Alle teilnehmenden Schulen bzw. Stufen vieren und zu ähnlichen Aktionen anre- musikalischen Lebens machen. erhalten eine repräsentative Teilnehmer- gen können. Da es für besondere Einzelleistungen Urkunde. von Ensembles (Chor, Orchester, Band ˇ Wer hilft mit? etc.) bereits andere Wettbewerbe gibt, ˇ Wer entscheidet über die Preis- Der Verband Deutscher Schulmusiker werden diese hier nicht angesprochen. vergabe? initiiert diesen Wettbewerb zusammen Die Jury besteht aus Repräsentanten mit der Strecker-Stiftung, dem Westdeut- ˇ Was ist zu tun? des Verbands Deutscher Schulmusiker, schen Rundfunk, der „Initiative Hören“ Zusammen mit der Schulbescheinigung der Musikhochschulen, der Strecker-Stif- und dem Deutschen Musikrat. Sie alle tra- (Formularanforderung über: info@musik- tung, des Westdeutschen Rundfunks und gen dazu bei, dass die Preisträger eine an- gewinnt.de oder zum Download unter des Deutschen Musikrats. gemessene Öffentlichkeit finden. www.musik-gewinnt.de) sind in sechsfa- Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. cher Ausfertigung je eine Dokumentation ˇ Unter welchen Bedingungen von höchstens zwei DIN A 4-Seiten und kann man sich bewerben? eine DVD einzureichen. Der Wettbewerb findet im Abstand Die Einsendung ist zu richten an: Für Fragen und weitere Informationen von zwei Jahren statt und wird in diesem Verband Deutscher Schulmusiker e.V., steht der Wettbewerbsbeauftragte des VDS, Jahr ausgeschrieben für die Förderschule Bundesgeschäftsstelle, Weihergarten 5, Dieter Zimmerschied, zur Verfügung: und die Sekundarstufe I (Hauptschule, 55116 Mainz; Tel. 06131/234049. Tel. 06131/834105; Fax 06131/891951; Realschule, Gymnasium, Gesamtschule). Einsendeschluss ist der 31.12.2005. E-mail: [email protected]

 50 MUSIK ORUM BILDUNG.FORSCHUNG

Musikpreis für innovative Projekte wird zum zweiten Mal vergeben: »inventio 2006« BEWEGUNG IN DIE MUSIKALISCHE BILDUNG

In Kürze wird – im Rahmen der Mitgliederversammlung des Deutschen Musikrats – zum zweiten Mal der Musikpreis INVENTIO für Innovationen in der musikalischen Bildung vergeben. Mit ihm werden Projekte ausge- zeichnet, die für die musikalische Bildung von Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen zukunftsweisend sind und damit aktiv Anreize geben für immer neue Projekte.

Mit dem Jury-Vorsitzenden des Preises, Auf welchem geistigen Nährboden ist Bild des Nährbodens zu bleiben – eine Hans Bäßler, sprach Christian Höppner. diese Idee denn entstanden? besondere Pflanze ist, die immer der Musik Bäßler: Das ist eine ganz spannende und dem Menschen dient. 2004 wurde auf der Frankfurter Geschichte. Die Stiftung „100 Jahre Yamaha“ Musikmesse zum ersten Mal der INVENTIO wandte sich an den Musikrat, um gemein- Kann denn aus dem Erkennen dieser vergeben und zwar durch den damaligen sam zu überlegen, mit welchem Beitrag förderungswürdigen Pflanzen auch eine Bundespräsidenten Johannes Rau persönlich. der Stiftung das vorhandene Potenzial, das Nachhaltigkeit für die Rahmenbedingungen Einer, der neben mir im Publikum saß, sagte Besondere, das aus dem Rahmen Fallende in der musikalischen Jugendarbeit entstehen? zu mir: „Wozu brauchen wir denn noch einen betont werden könne. Durch die Koopera- Bäßler: Ich behaupte, dass dies nicht Wettbewerb? Es gibt doch schon so viele.“ tion von Stiftung und Musikrat ist es gelun- nur entstehen kann, sondern dass es bereits Ist er nun der 110. Wettbewerb oder was gen, in Schulen, in Orchestern, bei freien entstanden ist. Ein kleines Beispiel, das mir macht die Besonderheit des INVENTIO aus? Trägern und in der Forschung eine Wett- spontan einfällt: Im vergangenen Jahr ist Hans Bäßler: Erstens ist es falsch, wenn bewerbsstruktur zu entwickeln, die fragt, die Gruppe „Coole Streicher“, eine Privat- man glaubt, es gäbe schon viele Wettbewer- wo es die Impulse gibt, die normalerweise initiative, ausgezeichnet und sehr nachhal- be, die die musikalische Bildung von Kindern im Verborgenen blühen. tig in der Weise gefördert worden, dass und Jugendlichen fördern. Im Bereich der Sowohl der Deutsche Musikrat als auch eine aufwändige, 14-tägige Begegnung von Schulen gibt es neben dem INVENTIO bis- die Stiftung hatten einen Wunsch: Musika- chilenischen und deutschen Kindern in lang nur „musik gewinnt“, das alle zwei Jah- lische Bildung muss im öffentlichen Ge- Deutschland realisiert werden konnte. Da- re vom Verband Deutscher Schulmusiker schäft so wahrgenommen werden, dass sie raus ist dann ein Projekt entstanden, das (VdS) durchgeführt wird und eine andere nicht ein Additivum zum normalen alltäg- auch in diesem Jahr fortgesetzt wird. Für Zielrichtung hat. Er will sich bewusst und lichen Leben ist, sondern dass sie – um im uns als Deutscher Musikrat war aber gar ganz gezielt um diejenigen kümmern, die nicht so sehr die Einzelinitiative entschei- es schaffen, den Organismus Schule über dend, sondern dass es gelungen ist, die schulorganisatorische und gleichzeitig über Philosophie dieser Initiative nach außen zu musikalisch-inhaltliche Impulse zu verändern. tragen: Dass nämlich musikalische Bildung Der INVENTIO dagegen ist ein Wettbe- immer auch Sozialarbeit ist, bei der der werb, wie er idealerweise durch den Deut- Aspekt des sozialen Lernens eine große schen Musikrat, der als Dachverband ganz Rolle spielt. Hier konnten auch deutsche unterschiedliche Formen des Musikvermitt- von chilenischen Kindern lernen. lung anspricht, realisiert werden kann. So Deswegen denken wir als Deutscher richtet sich der INVENTIO auch, aber eben Musikrat und auch als Stiftung „100 Jahre nicht ausschließlich, an Schulen und stellt Yamaha“ immer darüber nach, wie man dabei die zusätzliche Frage: Wie kann For- bildungspolitisch lernen kann. schung einen Beitrag zur musikalischen Bil- Hans Bäßler: dung leisten? Das Entscheidende am Wettbe- Die Wirkung des INVENTIO poten- werb ist letztlich die Suche: Wo haben wir »Musikalische Bildung ziert sich je länger der Preis besteht. Welche in der musikalischen Bildungsszene Initiati- Perspektiven hat er? ven, Projekte, Einrichtungen und Konzepte, ist eine besondere Pflanze, Bäßler: Der INVENTIO hat eine Per- die etwas realisieren, was es bislang nicht spektive zumindest bis 2008. Wir hoffen gab? Etwas, dass gegen den Strich bürstet, die dem Menschen dient« aber sehr, dass die Kooperation zwischen um die Musikbildungsszene zu verändern. der Stiftung und dem Musikrat auch über

 MUSIK ORUM 51 BILDUNG.FORSCHUNG

2008 hinausgeht. Aber selbst wenn dieser Wettbewerb nicht weitergehen sollte, muss man konstatieren, dass sich das Bewusst- LERNEN IM TEAM sein durch einen solchen Wettbewerb ver- ändert hat. Der Inventio hat gezeigt: Hier sind nicht Aktionen prämiert worden, die große Forderungen stellten, sondern die die musikpädagogische Forderung hatten, mit den vorhandenen Mitteln etwas Neues zu »Ein Wettbewerb wie der INVENTIO verändert Bewusstsein – aber er ist nur ein Baustein«

schaffen. Da geht es z. B. um Projekte, Jugendlichen über das Medium Radio Musik nahe zu bringen. Und da geht es um Kinder, die auf einmal – obwohl sie in ihrem Stadtteil sonst kaum musikalische Angebote haben – einen Bezug zur Oper bekommen. Es geht um Menschen, die überlegen, wie sie ihre Verantwortung in den Musikschulen so wahrnehmen kön- nen, dass sie über die Musikschule und onzepte und Methoden schulen ebenso Rechnung tragen wie der ihre Grenzen hinaus in eine Kooperation Kfür einen motivierenden Idee, in diesen kulturgefährdeten Zeiten mit anderen Schulen treten. und lehrreichen instrumentalen eine möglichst breite Musikalisierung schon bei Kindern und Jugendlichen zu er- Gruppenunterricht standen im Vor kurzem fand die Jurysitzung des reichen. Inventio statt, bei der über mehr als 80 Ein- Mittelpunkt einer Fortbildung, Die Yamaha-Musikschulen, so wie sie sendungen entschieden werden musste. Wie zu der die Stiftung Yamaha in sich vor 50 Jahren in Japan etablierten, be- ist das für Sie persönlich: Streitet dort der Hoch- Kooperation mit dem Deutschen trachteten Gruppenunterricht von Anbe- schullehrer Hans Bäßler mit dem Musiker Musikrat anlässlich der Frank- ginn als pädagogisch wertvolle Unterrichts- Hans Bäßler? Oder vielleicht der „Funktionär“ furter Musikmesse einlud. form, die sich 1968 auch auf deutschem mit dem Vizepräsidenten des DMR über das, Boden problemlos einführen und fortan was als innovationswürdig zu befinden ist? auf der Höhe der Zeit praktizieren ließ. Bäßler: Es ist eine sehr angenehme Im Rahmen einer Podiumsdiskussion, (Nicht zuletzt aufgrund der jahrzehntelan- Atmosphäre, wenn man als Juryvorsitzen- moderiert von Hans Bäßler, Professor für gen wirkungsvollen Denk-Arbeit von As- der mit gleich orientierten und gleich ver- Musikpädagogik an der Hochschule für mus Hintz, dem Leiter der „Yamaha Aca- antwortlichen Menschen zu tun hat, so Musik und Theater in Hannover, nahmen demy of Music“ in Hamburg). dass sich die Frage gar nicht stellt, ob der vier Experten das Thema „Instrumentaler Seit 1994 schon diskutiert man auch im Hochschullehrer am Institut für musikpäda- Gruppenunterricht in Musikschule und all- freundlich-konkurrierenden Verband deut- gogische Forschung der Hannoveraner gemein bildender Schule – Ende oder scher Musikschulen (VdM) neue Unter- Musikhochschule als Eisbrecher fungieren Wende des Musikunterrichts?“ zum Anlass, richtskonzepte unter dem Gesichtspunkt muss, um beispielsweise den Aspekt der neueste und überraschende Forschungser- des sozialen Lernens. In der aktuellen Ar- Forschung durchzusetzen. Hier ist die Zu- gebnisse zu präsentieren. beitshilfe des VdM zur Kooperation von sammenarbeit mit den anderen Juroren Nur kurz wurde das alte Vorurteil ge- Ganztags- und Musikschule ist der Grup- ausgesprochen einfach, denn sie sehen, gen den Gruppenunterricht angesprochen. penunterricht selbstverständliches und taug- dass Forschung und Lehre eng mit den Denn inzwischen ist die abwertende Hal- liches Mittel zum Zweck der Musikalisie- unterschiedlichen musikpädagogischen tung an der Musikschulbasis, nur ökonomi- rung. Initiativen zusammengehören, die vor Ort sche Gründe rechtfertigten Gruppenunter- Bevor jedoch hochwertiger Gruppenun- stattfinden. richt, dem üppigen Angebot neuer Unter- terricht erteilt werden kann, muss die mu- Wir alle sind uns einig, dass noch sehr richtskonzepte gewichen. Und was macht sikalische Basis stimmen. Lehrkräfte müs- viel mehr geschehen muss, um endlich es schon, wenn vor allem ökonomische sen im Rahmen ihrer Ausbildung in die Bewegung in die musikalischen Bildungs- Fragestellungen das Umdenken ausgelöst Lage versetzt werden, musiktheoretische landschaften zu bringen. Der Inventio ist hätten? Die Zeit ist mehr als reif für Maß- und -praktische Grundlagen zu vermitteln. ein Baustein. nahmen, die der Einführung der Ganztags- Dazu gehören Fertigkeiten wie das Trans-

 52 MUSIK ORUM HEISST: voneinander lernen!

Bei Yamaha plädiert man aus guten Gründen für den Gruppenunterricht. Von einer Fortbildung mit bemerkenswerten Ergebnissen berichtet Susanne Fließ

ponieren oder vom Blatt zu spielen. Mit an- soll. Die deutlich höhere Lerneffizienz, den für Schritt eine gehaltvolle Diskussion um deren Worten ist zunächst die Professionali- der Gruppenunterricht biete, so Andruss, pädagogische Absichten und Ziele. Und sierung des späteren Lehreralltags das Ziel. bliebe ungenutzt. schließlich wird das, was derzeit noch kritisch Und zu diesem Zweck kann der musikali- In der Tat herrscht in der Bundesrepublik beäugt wird, eines Tages selbstverständliche sche Gruppenunterricht auch für Erwachse- in Fachkreisen bislang die Meinung, dass Ausstattung eines jeden Musikpädagogen ne ein geeignetes Mittel sein. sich die Unterrichtsform am Ausbildungsziel sein. Dann übrigens werden sich alle zu den Andreas Lehmann, Professor für syste- orientieren soll. Das ist auch das Ergebnis geistigen Vätern zählen wollen! matische Musikwissenschaft an der Hoch- einer Fragebogenaktion des Insti- schule für Musik in Würzburg, kooperiert tuts für praxisbezogene Forschung seit einigen Jahren mit der Universität Würz- an der Evangelischen Fachhoch- burg auf dem Gebiet des musikalischen schule in Hannover unter der Fe- Übens und Lernens. Seine gleichnamige derführung von Thomas Grosse. Langzeitstudie, durchgeführt unter Lehr- Tenor der rund 1000 Fragebögen amtsanwärtern, spricht sich nachdrücklich zum Thema „Instrumentaler Grup- für den Gruppenunterricht aus: Laut Umfra- penunterricht an Musikschulen“: ge ziehen es Anfänger an einem Instrument Einzelunterricht ist qualifizierter vor, zusammen zu üben. Der latente Grup- Unterricht für Musikbegabungen pendruck erzeugt in der Folge den Ehrgeiz, und notwendiger Ausbildungsweg den Spielpartnern Fortschritte zu präsentie- für die Vorbereitung auf eine spä- ren. So werde automatisch mehr geübt, die tere Bewerbung an der Musik- Lernergebnisse, so die Studie, seien messbar hochschule, der Gruppenunter- besser. richt hingegen wendet sich an den durchschnittlich begabten Freizeit- Lerneffizienz in der Gruppe musiker. bleibt ungenutzt Welche Unterrichtsform zu wel- chem Ergebnis führt, ist sicherlich Während man in der Bundesrepublik vor allem eine Frage der Qualifi- hoffnungsvolle Plädoyers für eine neu ge- kation der Lehrenden. Denn nur, staltete Ausbildung der Lehrer von morgen wer das musikpädagogische Hand- hält, ist der musikalische Gruppenunterricht werkszeug souverän beherrscht in den Vereinigten Staaten seit Jahrzehnten und damit auch die Selbstwahr- ein selbstverständliches Mittel an Universitä- nehmung seiner Schüler für den ei- ten und Musikhochschulen. Der Amerika- genen Lernerfolg in Gang setzen ner David Andruss, der sich seine Konzert- kann, wird Fortschritte erzielen, sei reife als Pianist an der Hochschule auch es nun im Gruppen- oder Einzel- mittels Gruppenunterricht erwarb, Autor unterricht. zahlreicher Klavierschulen ist und erfolg- Insofern sind Veranstaltungen reich als Yamaha-Musikschulreferent lehrt, wie die von Yamaha auf der übt heftige Kritik am deutschen Musikschul- Frankfurter Musikmesse in hohem system: Mit der Wahl der Unterrichtsform Maße wirkungsvoll. Sie sorgen in zwinge man Eltern sehr früh zur Entschei- der Auseinandersetzung für Wan- dung, ob ein Kind zum Konzertpianisten del und Aufbruch. Aus ideologi- oder Freizeitmusiker ausgebildet werden schen Grabenkämpfen wird Schritt

 MUSIK ORUM 53 PORTRÄT

Wie Silvio Dalla Torre mit seinem „Bassetto“ die Prinzipien des Kontrabass- Spiels in ihren Grundfesten erschüttert. Von Christoph Knüppel Befreiung VON ALTEN FESSELN

ie Fachwelt diskutiert heftig. zeigen hatte und wechselte an die Münch- zierten bis in den Morgen hinein und spür- DGrund ist die Wiederentde- ner Hochschule, weil seine Vorstellung vom ten wohl beide, dass etwas Neues aus unse- ckung des historischen „Bassettos“ Kontrabass-Spiel eine andere war. Doch ren gemeinsamen Erfahrungen entstehen auch mit den Antworten des neuen Lehrers könnte.“ Ein fortan intensiver Kontakt der und die erste CD mit Klängen des konnte sich Dalla Torre nach wenigen Jah- beiden Musiker, gemeinsame Nachfor- außergewöhnlichen Instruments. ren nicht mehr zufrieden geben. Wieder schungen und Analysen ließen die „Neue Hinter der „Affäre“ steht Silvio wechselte er den Professor, studierte an der Niederländische Schule“ entstehen, eine Dalla Torre, Professor für Kontra- ruhmreichen Wiener Musikhochschule und Methode, die einige der seit 150 Jahren gül- bass an der Rostocker Hochschule absolvierte seine Examina und Meisterklas- tigen Prinzipien des Kontrabass-Spiels in ih- für Musik und Theater. Ihm wird sen mit Bestnoten. ren Grundfesten erschüttert. „Ich habe diese Dalla Torre wurde Orchestermusiker und Erschütterung freilich als Befreiung von al- jetzt eine fast revolutionäre Heran- wirkte 20 Jahre lang als Solokontrabassist ten Fesseln erlebt“, sagt Dalla Torre. gehensweise an das größte aller verschiedener Orchester in der Schweiz, in Der Grundgedanke der „Neuen Nieder- Streichinstrumente nachgesagt. Belgien und Deutschland. Seine grundsätz- ländischen Schule“ ist, dass der Kontrabass lichen Fragen und eine latente Unzufrieden- als Mitglied der Streicherfamilie auch wie Nicht bloßer Forscherdrang, sondern das heit mit seinem Instrument wurde er jedoch die anderen Streichinstrumente gespielt wer- Bestreben, aus seinem Instrument das Beste nicht los. „Warum kann der Kontrabass nicht den kann und soll. Und genau das ist bei der herauszuholen, führten zu den umfangrei- singen wie eine Geige? Warum klingt er na- so genannten „Simandl-Schule“, der weltweit chen Recherchen und Experimenten Dalla sal und dünn, obwohl aus dem Riesen-Instru- verbreiteten Kontrabass-Spieltechnik, nicht Torres. Hilfreich waren ihm dabei seine Un- ment doch eine Menge herauskommen müss- der Fall. Denn von den Fingern der linken befangenheit, Neugierde und Begeisterungs- te?“ Physikalische Erklärungsversuche ließ er Hand wird einer ausgelassen. „Das mag vor fähigkeit, die er sich stets bewahrt hat. Schon ebensowenig gelten wie Patrick Süskinds 200 Jahren sinnvoll gewesen sein, als die als 12-jähriges Mitglied einer Schülerband dramatisches Bewältigungsangebot für den Instrumente noch schwerfällig und die Sai- untersuchte er, wie man aus alten Radios, Kontrabassisten-Frust. Dalla Torre suchte ten eher Seile gewesen sind. In zeitgenössi- die mangels Geld als Verstärker dienen weiter. schen Berichten wird das Kontrabass-Spiel mussten, den optimalen Sound herausholen dementsprechend als mühevolle ‚Pferde- konnte. Nachdem ihm mit 15 Jahren klar „Neue Niederländische arbeit’ bezeichnet. Heute aber haben wir war, dass ihn sein Weg in die Welt der klas- Schule“ begründet erstklassig eingestellte Instrumente und her- sischen Musik führen würde, er aber keine vorragende Hightech-Saiten, also gibt es Noten lesen konnte, spielte er eben alles nach Immerhin hatten ihm seine profunden auch keinen Grund mehr, den Ringfinger Gehör. Dabei ging er stets von seiner eige- Kenntnisse und sein pädagogisches Ge- nicht zu benutzen“, erklärt Dalla Torre. nen Vorstellung aus, nicht von irgendwel- schick inzwischen eine Professur an der Nahe liegend, dass mit vier Fingern weit- chen Vorgaben, und das warf immer wieder Rostocker Musikhochschule eingebracht, aus bessere Möglichkeiten gegeben sind als neue Fragen auf. doch seine musikalische Seele war noch mit nur dreien. Was den Bogen betrifft, tanzt Eine klassische Prägung hatte es in seiner immer nicht glücklich. Erst ein Konzert des der Kontrabass ebenfalls aus der Reihe: „Der Familie nicht gegeben, niemand spielte ein niederländischen Kontrabass-Pioniers Hans Bassbogen ist viel zu leicht im Verhältnis zur Instrument. „Als ich die Aufnahmeprüfung Roelofsen brachte ihn auf den Weg zu sei- Länge und Dicke der Saiten. Darauf wurde am Augsburger Leopold-Mozart-Konserva- nen heutigen Erkenntnissen. „Hans hatte schon im Jahr 1848 von August Müller, ei- torium bestanden hatte, musste ich erst Antworten auf einen Teil meiner Fragen, nem von Hector Berlioz bewunderten Kon- einmal Noten büffeln wie verrückt“, gesteht und sofort machte ich mich auf nach Ams- trabassisten mit ‚blühendem Ton’, hingewie- er heute. Rasch hatte er sich abgeschaut, terdam zu einem mehrtägigen Erfahrungs- sen. Ich habe einfach den von Müller genau was ihm sein dortiger Kontrabass-Lehrer zu austausch“, erzählt Dalla Torre. „Wir musi- beschriebenen Bogen nachbauen lassen und

 54 MUSIK ORUM »Dieser Klang macht süchtig«

Ein Kontrabass tanzt aus der Reihe: Silvio Dalla Torres revolutionärer Bassetto.

 MUSIK ORUM 55 PORTRÄT

Doch auf CD war der Bassetto noch nicht zu hören. Zusammen mit seinem Kla- vierpartner Matthias Petersen produzierte Dalla Torre für Hänssler-Classic Songs, Chansons, Elegies und erfüllte sich damit ei- nen lang gehegten Traum: „Ich wollte auf dem Bass singen.“ Das ist ihm wahrhaftig gelungen. Mit Be- arbeitungen von Liedern ohne Worte und liedhaften Piècen von Mendelssohn, Bruch, Bridge, Elgar, Rachmaninoff, Glasunow, Massenet, Fauré und Schumann lässt Dalla Torre ein Instrument erklingen, das mit sei- nem sonoren Bass und strahlenden Höhen eine ganz neue Klangwelt erobert. Eine Klangwelt, für die es lohnt, neue Werke zu schreiben. Das jedenfalls meint der Rends- burger Komponist Bodo Reinke: „Die Mög- lichkeiten des Bassetto sind enorm. Deswe- gen habe ich dafür das Konzert mit dem Kunstgriff Nr. 1: Das Bassetto wird – wie Kunstgriff Nr. 2: Die hohe Quintstimmung Titel Aventures geschrieben. Weitere wer- die anderen in Quinten gestimmten Streich- G-D-A-E des Bassettos ermöglicht wegen den folgen, da bin ich ganz sicher!“ instrumente – mit Vier-Finger-Technik ge- der mitschwingenden Obertöne ein weitaus spielt, was weniger Lagenwechsel erfordert. besseres Resonanzverhalten. nicht schlecht gestaunt, welcher Klang unse- C-G-D-A und G-D-A-E. Auf diese Weise rem Instrument damit zu entlocken ist: kein habe sich für ihn ein neuer Klangkosmos „Singen auf dünnes, näselndes Rauschen, sondern ein eröffnet. „Dieser Klang, der genau dem ent- dem Bass“: kraftvoller, klarer und tragfähiger Ton!“, be- sprach, wonach ich seit fast dreißig Jahren Dalla Torre geistert sich Dalla Torre. gesucht hatte, macht süchtig!“ brachte die erste CD mit Die neuen Möglichkeiten erlaubten es Er entschied sich für die höhere Stimmung der Klangwelt dem Rostocker Professor, eine dritte Kont- G-D-A-E und nannte sein neues Instrument des Bassettos rabass-Eigenheit in Frage zu stellen: die Stim- „Bassetto“, nachdem er von historischen Vor- heraus. mung. Bekanntlich sind Violine, Viola und läufern gelesen hatte. Er widmete sich zuerst Violoncello in Quinten gestimmt, der Kont- der praktischen Beherrschung des Instru- Glänzende Perspektiven also für den rabass aber in Quarten. Dalla Torre wusste, ments; schließlich musste jeder Ton neu ge- neuen Bass. Dennoch bleibt Dalla Torre rea- dass die Quintstimmung wegen der mit- lernt werden. Als dies bewältigt war, stellte listisch: „Natürlich macht es viel Freude, sich schwingenden Obertöne ein weitaus besse- Dalla Torre weitergehende Recherchen an mit dem Bassetto zu beschäftigen. Doch in res Resonanzverhalten ermöglichen würde. und machte dabei verblüffende Entdeckun- meinem Unterricht ist davon keine Rede. Doch mit der Simandl-Technik ist es kaum gen: „Alles, was ich für neu hielt, ist schon ein- Schließlich ist es meine Aufgabe, die Stu- möglich, die Quinten zu beherrschen, weil mal dagewesen. Meine Bassetto-Stimmung denten auf den Beruf des Orchestermusi- zu viele Lagenwechsel erforderlich wären. wurde bereits 1650 beschrieben, die Vier- kers bzw. Instrumentallehrers vorzuberei- Mit der Vier-Finger-Technik aber wurde für Finger-Technik wurde schon von Domeni- ten.“ Zu seinen Konzerten aber reist Dalla ihn der Weg frei und so ließ er sich von co Dragonetti im 18. Jahrhundert gespielt Torre heute mit zwei Instrumenten und ge- namhaften Herstellern Saiten anfertigen und der schwere Bogen war ja bereits von währt neben abwechslungsreicher Musik und experimentierte mit den Stimmungen August Müller propagiert worden.“ auch informative Einblicke in die 500-jähri- ge Kontrabass-Geschichte. U www.silviodallatorre.de

Der Autor: Christoph Knüppel, Gymnasiallehrer in Herford, veröffentlicht zur deutsch- jüdischen Geschichte und zur Lebens- reformbewegung und organisiert Ausstellungen zur völkischen Siedlung Heimland bei Rheinsberg (Branden- burg) sowie zu Leben und Werk der deutsch-britischen Kinder- und Kunstgriff Nr. 3: Zum Bassetto gehört ein deutlich stärker und schwerer gebauter Bassbogen Jugendbuchautorin Katherine Allfrey. – mit dem Effekt eines kraftvolleren und tragfähigeren Tons.

 56 MUSIK ORUM Teilnehmer des ersten deutschen Orchestermusikkurses trafen sich im Jagdschloss Glienicke wieder NACH 40 JAHREN ZURÜCK AM »Tatort«

Merkwürdig war diese Veranstaltung schon, Austausch von Erinnerungen, so folgte am lung bewirkte für den weiteren Verlauf ih- außergewöhnlich ganz bestimmt und sehr nächste Tag schon ein Symposium, bei dem rer musikalischen (Aus-)Bildung – für oder gelungen nach Meinung aller, die dabei waren. erörtert wurde, welche Intentionen mit dem auch gegen Musik als Beruf. Da wurden An einem Wochenende im August tra- damaligen Kurs verfolgt worden waren und neue Maßstäbe gesetzt durch das Reper- fen sich 20 Damen und Herren gesetzten welche Erfahrungen, Erkenntnisse und Wir- toire, durch Dozenten, Dirigenten, aber auch Alters – das heißt: nicht weit unter 60 – im kungen er den Teilnehmern vermittelte. – vor allem für die Bläser – in der Konkur- Jagdschloss Glienicke am Rande Berlins, Der Kurs war ausgeschrieben für Jugend- renz mit den ausländischen, insbesondere dort, wo auf der Glienicker Brücke zu Zei- liche im Alter von ca. 14 bis 19 Jahren und amerikanischen Teilnehmern, von denen ten des Kalten Krieges gelegentlich Spione damit angesiedelt im Bereich der so genann- manche die 1961 gegründete Internatsschu- der USA und der UdSSR ausgetauscht wur- ten Laienmusik, allerdings mit dem Anspruch, le Interlochen Arts Academy mit intensivem den. Schon einmal waren sie dort aufeinan- die damals noch gepflegte Unterscheidung instrumentalen Training durchlaufen hatten. der getroffen und hatten vier Wochen mit- zwischen einem laienhaften und einem pro- Von den 40 Jahre später wieder aufge- einander verbracht – vor exakt 40 Jahren: fessionell-künstlerischen Umgang mit Musik spürten deutschen „Altglienickern“ haben Damals war das 1945 ausgebrannte und zu überwinden. So waren Dozenten verpflich- zwei Drittel Musik studiert und Musik zum 1964 als Internationale Jugendbegegnungs- tet worden, die zumeist durch ihre Position Beruf gemacht; sie spielen in Orchestern, stätte wieder aufgebaute Jagdschloss – bis und Erfahrung in Orchestern qualifiziert wa- u. a. bei den Berliner Philharmonikern, in Es- zur Wende lag es unmittelbar an der Grenz- ren, von denen aber kaum einer Unterrichts- sen, Frankfurt/Main, Lugano, München, mauer – „Tatort“ für den ersten Orchester- erfahrung mit Schülern hatte. Und es wurde Nürnberg, Stuttgart und Bad Wiessee – oder und Kammermusikkurs, der in Deutschland ein Orchester- und Kammermusik-Reper- unterrichten privat, an Hochschulen sowie von der Jeunesses Musicales für Jugendliche toire erarbeitet, das zu jener Zeit, in der es an Musikschulen. Aber auch fast alle ande- unterhalb der Hochschulreife veranstaltet in Deutschland so gut wie keine größer be- ren sind – neben ihrem Hauptberuf als Leh- wurde. Das Internationale Jugendorchester setzten Jugendorchester gab, als für das mu- rer, Arzt, Pfarrer, Leiter eines mittelständi- Berlin 1965, das als vermeintlich elitäres sikalische Entwicklungsstadium der Teilneh- schen Handwerksbetriebes, als Biochemi- Projekt einer Jugendförderung, die „Kultu- mer zu hoch gegriffen galt – zum Beispiel ker, Elektro-Ingenieur und Informatik-Do- relle Jugendbildung“ noch gar nicht kannte, Strawinskys Zirkuspolka, Beethovens Pro- zent – musikalisch aktiv geblieben, manche erheblichen Gegenwind erfahren hatte, metheus-Ouvertüre und Dvorˇáks Achte. semiprofessionell und als Orchester-Aushil- blieb in dieser Form ein Unikat. Denn trotz fen gefragt. Unabhängig von ihrem späteren eindeutigen Erfolgs scheiterten in den fol- Lebensweg jedoch war das Internationale genden Jahren die Bemühungen um eine Jugendorchester Berlin 1965 für die aller- Fortsetzung und feste Verankerung in der meisten eine ebenso wichtige wie positive (West-)Berliner Jugend- und Kulturpolitik. Erfahrung, vier Jahrzehnte später noch in 40 Jahre sind eine lange Zeitspanne. Die der Erinnerung so präsent, dass sie die kurio- Idee, Teilnehmer eines so lange zurücklie- se Idee einer Wiederbegegnung als „hervor- genden Sommerkurses aus Anlass des Jubi- ragend“, „spannend“, „toll“ und „großartig“ läums zu einem Wiedersehen einzuladen, bewerteten, einige sogar den Wunsch äu- erschien zunächst doch einigermaßen skur- ßerten, einen Mozart- oder Dvorˇ ák-Satz ril. Als aber einige, die leicht ausfindig zu wieder in der „alten Besetzung“ zu spielen. machen waren und untereinander noch Treffpunkt: Jagdschloss Glienicke Musiziert wurde im Jagdschloss Glienicke Kontakt hatten, spontan positiv reagierten, dann tatsächlich wieder, wobei freilich an- wurde die Suche nach den Übrigen syste- Aber genau das war es, wie die meisten dere Werke in neu gemischter Zusammen- matisch fortgesetzt. Von den 53 deutschen Diskussionsbeiträge in der Rückschau bestä- setzung erklangen. Jörgen Day – 1965 jugend- unter insgesamt 76 Teilnehmern konnten tigten, was die Qualität und den Erfolg des licher Posaunist, 2005 Pfarrer – äußerte an- immerhin 38 aufgespürt werden. Letztlich vierwöchigen Kurses ausmachte: der quasi schließend seine besondere Freude darüber, fanden 20 „Altglienicker“ den Weg zum Jagd- professionelle Anspruch an die Jugendlichen dass sich „die Berufsmusiker und diejenigen, schloss, viele brachten auch ihre Instrumen- durch intensive, von Profis angeleitete Ar- die einen anderen Beruf wählten, nicht als te wieder mit. Es war eindeutig, dass die ju- beit in Ensembles unterschiedlicher Größe Gruppen gegenüberstanden, sondern sich in gendlichen Instrumentalisten – die meisten und Zusammensetzung. Alle wurden einbe- den offenen und sehr angenehmen Gesprä- von ihnen Preisträger der ersten beiden Jahr- zogen in künstlerische Arbeitsprozesse bis chen wirklich begegnen konnten“. Day war gänge von „Jugend musiziert“ – in den vier hin zu öffentlichen Aufführungen, die meis- sich sicher: „Das ist die nachhaltige Wirkung Sommerwochen des Jahres 1965 etwas er- ten wurden individuell und zugleich in der der Arbeit, die vor 40 Jahren geleistet wur- lebt und erfahren hatten, was nun vier Jahr- Kooperation mit anderen musikalisch gefor- de und offenbar emotionale Beziehungen her- zehnte später noch spürbar nachwirkte. dert und gefördert wie nie zuvor. So wurde stellte, die erst bei diesem Treffen so deut- Galt der Begrüßungsabend noch dem dies für viele ein Schlüsselerlebnis zum rich- lich in Erscheinung getreten sind.“ Wiedererkennen – Who is who? – und dem tigen Zeitpunkt, indem es die Weichenstel- Michael Jenne

 MUSIK ORUM 57 NACHRUFE

wir trauern

Peter Ortmann zum Tode von Albert Mangelsdorff BEGEGNUNGEN

stürmischer Spannungs-Entspannungs- eine noch wenig zur Wirkung gelangte Brandung. Plattform zur eigenen und kollektiven Mitte der 80er Jahre. Auch die Schwei- Persönlichkeitsentwicklung. Er überzeugt zer Jazzer, Improvisatoren und musizieren- allein durch sein kontinuierliches musika- den Zeitgenossen schließen sich zusam- lisches Wirken, das für all das steht, was men – zur Musikerkooperative Schweiz. die musikalische Bildung auf ihre Fahnen Versammlung und Festival prägen die geschrieben, aber noch lange nicht umge- kleine Stadt Biehl am gleichnamigen See. setzt hat. Ausländische Kollegen sind geladen, Gerade hinsichtlich dieser einmalig darunter Albert Mangelsdorff als einer, personifizierten Überzeugung, die sich in der auch bei den Eidgenossen als der Spi- aller Bescheidenheit, dafür aber um so ritus Rector des neuen europäischen Jazz stärker musikalisch-universell wirkend gilt; nun zudem in der Rolle des frisch vermittelte, wird uns Albert Mangelsdorff nde der 60er Jahre des vergangenen gekürten Vorsitzenden der Union Deut- für immer in Erinnerung bleiben. Der Po- EJahrhunderts. Kultur und Soziales ge- scher Jazzmusiker (UDJ). Allein Mangels- saunist starb am 25. Juli im Alter von 76 hen ihre ersten politischen Verbindungen dorffs Spiel weist der europäischen (Mu- Jahren in seiner Heimatstadt Frankfurt. ein. Kunst geht plötzlich zu den Menschen. siker-)Gemeinschaft den Weg. Im Ruhrpark an der damaligen B1 zwi- Anfang der 90er: Die Fördermaßnah- schen Bochum und Dortmund, einem der men des jungen Jazz haben mit dem Bu- ersten Einkaufsparks auf der „grünen Wie- JazzO eine Spitze erhalten. Die ersten er- Uwe Röhl † se“, wird moderne Kunst in der Fußgän- folgreichen Absolventen sind zu melden. gerzone präsentiert. Es spielt das Albert Die Profis sehen sich in der neuen und Am 12. August verstarb das Ehrenmit- Mangelsdorff-Quartett in der Besetzung dankbaren Rolle als Trainer, Lehrer, Für- glied des Deutschen Musikrats, Uwe Peter Giger (Gründungsvater der „Family sprecher und Mentoren und profitieren Röhl, im Alter von 80 Jahren in Husum. of Percussion“) am Schlagzeug, dem un- von der Förderungswelle. Ihnen widmet „Was er für das schleswig-holsteinische, vergessenen Buschi Niebergall am Kont- die UDJ einen bedeutenden Preis, den die aber auch für das bundesdeutsche Musik- rabass und dem heute noch hochaktiven GEMA großzügig ausstattet. Die Jury ist leben getan hat, wird unvergessen blei- Heinz Sauer am Saxofon. Die Musik pen- sich schnell einig: Er soll Albert-Mangels- ben.“ Musikrats-Vizepräsident Hans Bäß- delt zwischen kompromisslos freier Im- dorff-Preis heißen, vom Namensgeber ler würdigte den Verstorbenen als außer- provisation bis zu ebenso frei interpretier- nun fortan persönlich zu übergeben. So ordentliche Persönlichkeit in seinem Wir- ten Kompositionen. Es herrscht Aufbruch- begegnet Albert Mangelsdorff in den Fol- kungskreis zwischen Kirchenmusik, stimmung. Moderne Kunst soll raus aus gejahren vielen seiner Kollegen: Heinz Hochschularbeit und Musikmanagement. den Musentempeln, die zeitgenössische Sauer, Ernst-Ludwig Petrowsky, Peter Uwe Röhl war unter anderem Grün- Musik partizipiert dank der Bemühungen Kowald und Alexander von Schlippen- dungsrektor der Lübecker Musikhoch- auch des Deutschen Musikrats an der öf- bach sind u. a. Träger dieses größten deut- schule und später Leiter der Hauptabtei- fentlichen Förderung. Da darf Albert schen Jazzpreises. lung Musik des Norddeutschen Rund- Mangelsdorff, damals schon Musiker- 1997. Der Deutsche Musikrat gründet funks. Neben diesen Ämtern konzertierte legende und Vertreter der lebendigen die Bundesbegegnung „Jugend jazzt“ als Röhl regelmäßig als Organist und Chor- aktuellen Musikentwicklung, nicht fehlen. weitere unterstützende Anerkennung für dirigent, war an Rundfunk- und Schall- Anfang der 70er Jahre: Die Union die vielen Preisträger der vorausgehenden plattenaufnahmen beteiligt und schrieb Deutscher Jazzmusiker ist gegründet. Das Landeswettbewerbe. Albert Mangelsdorff Kompositionen für Gottesdienste und Marburger Jazz-Forum wird zur „Leistungs- kommt zur Eröffnungspressekonferenz Bühnenmusiken für das Schleswiger und schau“ des neuen deutschen Jazz. Nach und schildert als weitgereiste, welterfah- das Lübecker Theater. einigen studentischen Vorgruppen spielt rene und hochangesehene Künstlerper- Für seine herausragenden Leistungen eine Formation mit Albert Mangelsdorff, sönlichkeit den anwesenden Vertretern wurde Röhl mehrfach ausgezeichnet. 1974 Peter Brötzmann, Fred van Hove und von Institutionen und Presse seine Sicht- erhielt er den Kunstpreis des Landes Han Bennink. Sie sind die neuen musika- weise der Bedeutung von musikalischer Schleswig-Holstein, 1985 das Bundesver- lischen Leitbilder. Trotz oder gerade we- Jugendförderung. Er fordert einen sensib- dienstkreuz 1. Klasse, 1986 den Hanse- gen des absolut freien Spiels springt der len Umgang mit künstlerischen und musi- Kulturpreis und 1998 die Goldene Eh- Funke unmittelbar über. Der gefährlich kalischen Bedürfnissen, aber auch die ver- rengedenkmünze „Bene Merenti“ der mit viel zu viel jungen Leuten (!) überfüll- stärkte Suche nach Talenten und unent- Hansestadt Lübeck. 1993 wurde Profes- te Saal erlebt die Free-Jazz-Meister wie in deckten Fähigkeiten, bringt den Jazz und sor Röhl zum Ehrensenator der Musik- einem hochdramatischen Theaterstück in seine freien Spielarten zur Sprache als hochschule ernannt.

 58 MUSIK ORUM PRÄSENTIERT

In der Rubrik „Präsentiert“ stellt das MUSIKFORUM kurz und bündig Initiativen aller Sparten im deutschen Musikleben vor: ˜ Das ATZE Musiktheater in Berlin entwickelte eine in Deutschland einzig- artige Konzeption als Theater- und Konzerthaus nur für Kinder. Stellen Sie Ihr Musikprojekt in dieser Rubrik vor! Mail an: [email protected]

ATZE Theater-

und Konzerthaus me der ATZE Band. Neben musikalisch in Höhepunkt der Saison 2005/06 wird das Szene gesetzten Kinderbuchklassikern wie Musiktheaterstück „Bach. Das Leben eines für Kinder „Ben liebt Anna“ und „Ronja Räubertochter“ Musikers in 33 Bildern“, das vom Haupt- produziert ATZE immer wieder eigene Stü- stadtkulturfonds gefördert wird. Damit kün- cke aus der Feder von Theaterleiter Thomas digt sich eine kleine Theatersensation an. Das ATZE Musiktheater für Kinder exis- Sutter wie „SMS von Wolke 7“ oder „Lolle Denn ATZE bringt in einer biografischen Er- tiert seit 1985. Ursprünglich als reines Mu- rennt“. In diesen Musicals greift ATZE aktu- zählung mit Kammerorchester und Chor sikprogramm mit Aufführungen auf Kreuz- elle Themen auf, bleibt nahe an der Lebens- zum ersten Mal das Leben des großen Kom- berger Hinterhausbühnen gegründet, ent- wirklichkeit und reflektiert diese aus der Per- ponisten auf die Bühne. Auf Grundlage der wickelte sich ATZE über die Jahre zu einem spektive von Kindern. Zentrales Element der wichtigsten Biografien und weiteren Quel- der größten und beliebtesten Kindertheater Aufführungen ist die Live-Musik, die mit len richtet Produzent und Autor Thomas Berlins. Die Konzeption als Theater- und poetischen bis rockigen Songs auf einfühl- Sutter seinen Blick nicht nur auf dessen kom- Konzerthaus nur für Kinder (mit eigener same und kreative Art und Weise begeistert. positorische und musikhistorische Leistun- Spielstätte im ehemaligen Max-Beckmann- ATZE beweist, dass sich inhaltliche Qua- gen, sondern lässt Bach im Spiegel seiner Saal) ist zudem einzigartig in Deutschland. lität und mitreißende Unterhaltung hervor- Zeit als Mensch lebendig werden. Das Stück In der Spielzeit 2004/05 zog das Theater ragend ergänzen. Ein großer Verdienst des entführt die Zuschauer in die Zeit des Spät- über 65000 Zuschauer an. Seit Mai 2003 Theaters liegt darin, das kulturelle Bildungs- barocks und zeigt den Musiker als faszinie- zeigt sich ATZE verantwortlich für den ge- angebot für Kinder zu erweitern, deren per- rende Persönlichkeit, der seinen Lebens- samten Spielbetrieb und die Vermietung sönliche Entwicklung zu fördern und kultu- traum gegen alle Widrigkeiten mit großer des Hauses, vorwiegend für Veranstaltun- relle Neugier anzuregen. In der Spielzeit Konsequenz und Leidenschaft verfolgt. gen im Kinder- und Jugendbereich, aber 2004/2005 erfuhr das Repertoire eine be- auch für Abendveranstaltungen. Deutsch- sondere Auszeichnung. Alle drei Premieren- Atze Theater- und Konzerthaus für Kinder landweite Tourneen machten ATZE auch produktionen wurden für den IKARUS 2005 Luxemburger Straße 20, 13353 Berlin weit über Berlin hinaus bekannt. als „herausragende Berliner Theaterinsze- Fon 030 / 817 991 88 Das Repertoire von ATZE umfasst derzeit nierung für Kinder und Jugendliche“ nomi- E-mail: [email protected] acht Bühnenstücke und drei Liederprogram- niert. U www.atzeberlin.de

 MUSIK ORUM 59 REZENSIONEN sinfonisches orgelmusik

Beethoven/Schubert/Schumann Johann Sebastian Bach Sonate g-Moll op. 5/2 / Sonate a-Moll „Arpeggione“ op. post. D 821 / Fantasiestücke Orgelwerke 1 (Toccata d-Moll, Pièce d’Orgue, Passacaglia, „Sei gegrüßet, Jesu gütig“, op. 73 „O Gott, du frommer Gott“). Michael Rieber (Kontrabass), Götz Schumacher (Klavier) – Bayer Records BR 100 353 Jürgen Wolf an der Ladegastorgel der Nicolai-Kirche Leipzig – ram 50504.

„Der Kontrabass, das ist doch nur nisten selbst von seiner Interpreta- Dass die soeben restaurierte Or- ma hinein eingebrachten französi- ein Begleitinstrument, oder kann tion zu begeistern verstand. Rieber, gel der Nicolaikirche zu Leipzig auch schen Verzierungen. Doch der Ge- man etwa auch solistisch darauf spie- Solokontrabassist des NDR-Sinfo- als CD dokumentiert werden muss, danke „per aspera ad astra“, den len?“ – Nun, dass dies nicht nur un- nieorchesters, spielt mit großem, liegt durchaus nahe. Überraschend Wolf hier konsequent anlegt, ent- ter Zugeständnissen an das angeb- rundem Ton. Er lässt sein Instrument allerdings, wenn auf der ersten vom spricht sicher nicht der bachschen lich nicht nur große, sondern auch mit dichtem Bogenstrich singen und Nicolai-Kantor Jürgen Wolf einge- Ästhetik. schwerfällige Instrument möglich ist, greift zupackend in die Saiten. Mit spielten CD nicht etwa Werke aus Man kann sicher streiten, ob man davon kann sich der Hörer, der dem klaren Tiefen, fein ausgearbeiteten, dem Umfeld des Orgelbauers Lade- im fünfstimmigen Mittelteil der G- Bassisten in der U-Bahn diese Frage dynamischen Klangaufbauten vom gast erklingen – allen voran von Dur-Fantasie so sehr ins Piano gehen stellt, recht einfach überzeugen. Im weich-transparentem Schimmern bis Franz Liszt –, sondern Werke von Jo- sollte. Aber ganz sicher kann man inzwischen durchaus reichhaltigen hin zu intensivem satten Leuchten hann Sebastian Bach. Doch weicht sagen, dass die von Wolf gefundene Katalog an Einspielungen mit Kont- und aufblühenden Schwellern be- diese Überraschung einem Erstau- Lösung es ihm ermöglicht, wiede- rabass und Klavier zählt die vorlie- eindruckt vor allem Schuberts Ar- nen, wie gut sich die großen Orgel- rum Details nachzuspüren, die sonst gende CD ganz sicher zu den viel- peggione. Gelegentlich wünschte werke des Thomaskantors auf ei- eher „unter den Tisch fallen“. versprechendsten. man sich jedoch noch etwas mehr nem gut 100 Jahre nach seinem Tod Sehr überzeugend aus meiner Die Originalliteratur für den Mut zu Schärfe oder gar kontrastvol- entstandenen Instrument realisieren Sicht: die d-Moll-Toccata, mit der Kontrabass als Soloinstrument ist ler Härte. Dies vor allem in der Inter- lassen. Durchgängig fällt auf, dass die Wolf diese CD eröffnet. Hier gelingt nicht nur alles andere als von be- pretation der Beethoven-Sonate, die Stilistik dieses fünfmanualigen Inst- es ihm, den „stylus phantasticus“, der kannten Komponistennamen pri- ein wenig zu glatt, zu ungebrochen, ruments durchaus auf barocke dem Werk unzweifelhaft zugrunde mär geprägt, sondern auch in zahl- unhinterfragend wirkt. Strukturen Rücksicht nimmt; die liegt, aufblühen zu lassen. Die Fuge reichen Varianten der verschiede- Götz Schumacher ist bekanntlich Transparenz gerade auch in den Mit- perlt mit durchgängigem Puls, dass nen Musiker auf CD verewigt. Die ein hervorragender pianistischer Kom- tellagen ist besonders gelungen. es eine Freude ist, die Rubati glie- hier vorliegenden Bearbeitungen pagnon. Sein kammermusikalisches Überragend geradezu klingen die dern, die Registrierung hält zusam- von Sonaten und Fantasiestücken Können zeigt sich nicht nur in den Flötenregister – nicht nur im Raum, men, was zusammen gehört. verbindet eines: Bearbeitungen an Einspielungen mit seinem Klavier- sondern auch auf der CD. Insgesamt also eine Aufnahme, sich sind für sie nicht neu. Während partner Andreas Grau, sondern auch Jürgen Wolf, in Würzburg, Hei- die mehr ist als eine unbedingt zu die Schumann’schen Fantasiestücke in einer der schwierigsten Aufgaben delberg und Wien ausgebildet, spielt beachtende Rekonstruktion der La- schon zur Zeit ihrer Entstehung in eines Pianisten: derjenigen, mit ei- ausgesprochen expressiv und findet degastorgel, sondern gleichzeitig ei- Ausgaben für verschiedene Instru- nem Kontrabassisten zu duettieren Lösungen, die die Tradition der nen eigenwilligen und eigenständi- mente (wenn auch noch nicht für und die heikle Klangbalance musi- Orgelinterpretation oft gegen den gen Interpreten zeigt, der noch auf Kontrabass) vorlagen, wird die Ar- kalisch zu gestalten. Hier stimmt die Strich bürsten, sei es in der Tempo- Entdeckungsreisen geht, manchmal peggione-Sonate fast nie im Original Binnendifferenzierung der beiden wahl, sei es in den Registrierungen. fernab vom Mainstream – aber das gespielt. Ausnahmen bestätigen seit Instrumente. Schumacher deckt den Besonders in den beiden Partiten ist gut so. einigen Jahren die Regel. So widmet Bass nie zu. Sein Spiel ist sensibel O Gott, du frommer Gott und Sei ge- Hans Bäßler sich sehr überzeugend etwa der Ba- und zupackend zugleich und schafft grüßet, Jesu gütig geht Wolf eigenwil- rock-Cellist Gerhart Darmstadt die- in der Arbeit mit minimalen Deh- lige, aber in sich durchaus schlüssige sem Gitarren-Cello-Zwitter. Dass nungen und Temporelationsver- Wege mit teilweise sehr gedehnten diese Sonate auch auf einem Kont- schiebungen eine hohe Spannungs- Tempi, die allerdings eine hoch aus- rabass gespielt überzeugen kann, dichte in der Interaktion mit dem differenzierte Detailarbeit erlauben. demonstrieren Michael Rieber und Kontrabass. Die c-Moll-Passacaglia allerdings sein Duopartner am Klavier Götz Zum Schluss noch eine kleine wirkt dann doch etwas zu versonnen Schumacher. Und selbst bei Beetho- Anmerkung zur Aufnahme: Ein romantisch. Man könnte – gerade ven greift das immer wieder gehörte Kontrabass ist ein großes und breites auch auf Grund eines die einzelnen Argument, ein Cello klinge dann Instrument, wie es der Fragende in Variationen betonenden Registrier- doch lebendiger und klangfarblich der U-Bahn immer wieder feststellt. konzepts – den Eindruck gewinnen, differenzierter, in diesem Fall erfreu- Aber so breit, dass man Tiefen und dass dieses Werk, nicht zuletzt we- licherweise nicht. Rieber steht hier in Höhen im Panorama auseinander gen der teilweise extremen Rubati, der Tradition des Bassvirtuosen und ziehen muss, ist er nun doch nicht. eher einen Blick zurück in das 19. Beethoven-Zeitgenossen Domenico Nina Polaschegg Jahrhundert wirft. Wären da nicht Dragonetti, der schon den Kompo- die zusätzlichen, bis in das Fugenthe-

 60 MUSIK ORUM TONTRÄGER DVD stilmix kammermusik

Homburger/Guy/Favre Thomas Beimel Johannes Brahms Dakryon Mneme / tu aliento / cólera / melos / pe- Piano Concerto No. 1 / Piano Quartett No. 1 Maya Recordings MCD0501. tite chanson d‘amour / sumak / veni crea- Berliner Philharmoniker, Ltg.: Sir Simon Rattle tor spiritus Europa-Konzert 2004, Bonus-Film: The European Concert in Olympic Athens Werner Dickel, Dagmar Hufeld, Caroline EuroArts 2053659 DVD Sie trafen sich auf einer Tournee Pook, Violine; Lila Brown, Viola; Michael „Siehgst, dös is a Symphoniethe- mit Christopher Hogwoods Acade- Hablitzel, Violoncello; Irinel Anghel, Kla- Auch das Adagio lebt von der my of Ancient Music. Er spielte Kont- vier; u. a. ma“, quittierte Anton Bruckner das kollektiv herbeimusizierten Innigkeit rabass, sie Barockvioline. Er war da- VALVE #3085. markant-wuchtige Eingangsthema voller berückend schöner Töne. mals schon als Freejazzer bekannt von Johann Brahms’ d-Moll-Klavier- Ausgelassen tollt das Rondo vorü- und auch als Komponist zeitgenössi- Als „peripherer Komponist“ cha- konzert op. 15, als er das zwittrige ber, sehr differenziert im Anschlag scher Musik machte er sich gerade rakterisiert sich der 1967 geborene Werk in Wien hörte. Mit seiner wüh- des Pianisten, dessen Gesicht und einen Namen. Seit dieser Begegnung Thomas Beimel in einer autobiogra- lenden Inbrunst, dem gleichberech- tastentanzende Finger dabei immer versuchen die Schweizerin Maya fischen Skizze. Aus der regionalen tigten Dialog von Solist und Orches- wieder ins Bild kommen. Der phil- Homburger und der Engländer Bar- und sozialen Peripherie, in der er ter präsentiert es sich geradezu als harmonische Edelglanz mit seinen ry Guy die musikalischen Potenziale aufwuchs, strebt seine Kunst um so ein Symphoniekonzert von Charak- berückenden Bläserdetails ist trotz auszuloten, die im Dreieck zwischen intensiver hinaus ins Weltläufige, ter und höchster Schwierigkeit, pen- freiluftig-akustischer Trockenheit aus- avancierten Kompositionsverfahren, wie die auf der vorliegenden CD delnd zwischen Leidenschaft und gezeichnet eingefangen. Und man freier Improvisation und der Klang- eingespielten Kammermusik- und Lyrik. So haben es Sir Simon Rattle sieht, wie Rattle den Klang aus den welt der alten Musik liegen. Vokalwerke zeigen. Auf die katho- und „seine“ Berliner Philharmoniker Musikern gleichsam heraussaugt. Zwei Strategien kommen dabei lische Tradition, in der Beimel auf- auch einstudiert, um damit vor der Die Körperlichkeit des Klangs, hier zum Tragen. Zum einen die schroffe wuchs, verweist einzig die Paraphra- prächtigen Kulisse des Amphithea- wird sie zur erfahrbaren Qualitäts- Konfrontation, indem die beiden se über Veni creator für Mezzo- ters des Herodes Atticus am Fuße größe. Dann strahlt der Maestro wie eine Passacaglia und Teile der Ro- sopran und Countertenor, während der Athener Akropolis erstmals ge- die athenische Sonne. senkranz-Sonate von Heinrich Ignaz sonst vielfältige fremde Sprachen meinsam ein Europa-Konzert zu ge- Was sich in der schönberg’schen Franz Biber sowie eine Sonate von „als Maske“ der musikalischen Äu- ben. Als Dritter im Bunde sorgt Pia- Orchesteradaption von Brahmsens Dario Castello aus dem 17. Jahrhun- ßerung dienen. Ein geistiger Kristalli- nist Daniel Barenboim, der den Klavierquartett Nr. 1 g-Moll op. 25 dert den neutönerischen Komposi- sationspunkt ist der Orient: Als Su- Philharmonikern seit Jahrzehnten abspielt, wird von den Berliner Phil- tionen von Barry Guy gegenüber- mak, als Webteppich, bezeichnet ist künstlerisch verbunden ist und hier harmonikern mit der Meisterschaft stellen. Harter Schnitt, ohne Überlei- eine Komposition für zwei Violen, in Athen auch zum ersten Mal unter eines Graveurs nachgezeichnet. Trotz tung, keine Vorwarnung! deren Stimmgeflecht zunehmend Sir Simon auftritt, für eine überaus sinfonischen Großaufgebots ist die Das andere Verfahren ist das der verfranst, und ebenfalls von iraki- bemerkenswerte Aufführung unter Durchhörbarkeit enorm, sodass man Fusion. Mit Unterstützung des Per- scher Dichtung inspiriert erweisen dem „Partyzelt“ im Freien. in dieser Orchesterbearbeitung „end- kussionisten Pierre Favre wird eine sich das zwischen ruhiger Lyrik und Während der langen Orchester- lich einmal alles hört, was in der mittelalterliche Hymne mit erupti- ekstatischem Sprechen schwanken- einleitung fährt die Kamera übers (Brahms-)Partitur steht“ (Schönberg). ven Klangausbrüchen verwoben. de Mezzosopransolo tu aliento wie weite Rund, um die nötige (Ein-) Obwohl vom Klavier weit und breit Offensichtlich hat sich Barry Guy das vor Wüstenhitze gleißende Stimmung zu vermitteln. Nah ver- nichts zu hören ist, scheint es den- intensiv in den Klang der Barockvio- Streichquartett cólera. Anders drückt weilt sie immer wieder bei Sir Simon noch fast allgegenwärtig. Immer line hineingehört und seine Kompo- sich Beimel im Medium des Streich- und dessen hochkonzentriertem Mie- bleibt der breit strömende oder lei- sitionen den speziellen Erfordernis- quartetts bei mneme aus, einem nenspiel. Berstend vor Leidenschaft denschaftsbewegte Melodienfluss in sen des Instruments angepasst. Um Trauergesang mit mikrotonal gefärb- stachelt er die Musiker an, um da- Brahms’scher Fasson, hört sich das die klangliche Brillanz des Barock- ter Melodik, und als raffinierte nach dem Solisten den lyrischen Ein- Zigeunerische (des Rondo) als zün- instruments zum Vorschein zu brin- Klangfarbenkomposition erweist sich stieg sozusagen wie auf dem Tablett dender Mix aus Sentiment und gen, hält er sich als Begleiter mit sei- das Pauken-Stück melos. Ein humo- zu servieren. Rhythmusfeuer an. Ein mit Ovatio- nen erweiterten Bassspieltechniken ristisch angetöntes petite chanson Von ihm kommen allerdings kei- nen gefeiertes livehaftiges Erlebnis. zurück und anstelle der hypernervö- d’amour rundet das facettenreiche ne pianistischen Offenbarungen, Peter Buske sen, filigranen Pizzicatoarbeit, für die Porträt des Komponisten ab. eher solide Tastenarbeiten – jedoch er als Freejazzer bekannt ist, gibt er Gerhard Dietel ein totales Einvernehmen über das ruhigeren und getrageneren Passa- gemeinsam Gewollte. Statt romanti- gen den Vorzug. schen Überschwangs findet sich bei Christoph Wagner beiden Künstlern ein Gespür fürs Dramatische, für ein monumental- heroisches Ineinanderwühlen. Poeti- sche Passagen erzählt Daniel Baren- boim dabei voller Empfinden.

 MUSIK ORUM 61 REZENSIONEN BÜCHER

Kulturelle Bildung in der Bildungsreformdiskussion Karl Ottomar Treibmann – Klangwanderungen Konzeption Kulturelle Bildung III; erschienen beim Deutschen Kulturrat, 2005 Ulrike Liedtke Hg.: Max Fuchs, Gabriele Schulz und Olaf Zimmermann; Verlag Klaus-Jürgen Kamprad, Altenburg 2004; 470 Seiten, 22,80 Euro, ISBN 3-934868-11-8. zahlreiche Abb., 216 Seiten, 39 Euro, ISBN 3-930550-32-6.

„Kultur als Staatsziel“ tönte es der Pädagogik, der kulturtheoreti- „Zwischen Konflikt und Hoffnung klärt und zunächst totgeschwiegen während des Wahlkampfs durch die schen und gesellschaftstheoretischer pendelnd“ charakterisiert Ulrike Liedt- wurde“ (S. 120). Seine Oper Der Idiot Parteien. Ob sich in den nächsten Jah- Hinsicht zu vergewissern. ke den Leipziger Komponisten und (nach Dostojewski, 1987) hingegen ren noch jemand an die Wahlparo- Teil C lässt Stimmen aus Politik Hochschullehrer Karl Ottomar Treib- entfaltet „ein Spiel aus Lüge und len erinnert? Wenn ja, welchen Ein- und Kultur zu Wort kommen. Ne- mann in ihrer Monografie mit dem Selbstbetrug“ (S. 123), das in der fluss hätte dies auf die kulturelle Bil- ben Doris Ahnen, die in ihrem Bei- verschmitzten Titel Klangwanderun- Leipziger Inszenierung von 1988 dung in der Bildungsreformdiskus- trag das Länderengagement für die gen. Tatsächlich ist der dargestellte zum folgerichtigen Zusammenbruch sion? Für Max Fuchs, den Vorsitzen- kulturelle Bildung bespricht, fragt Lebensweg des vitalen Tonschöpfers, des Bühnenbilds führte und damit der des Deutschen Kulturrats, ist „Kul- Edelgard Bulmahn: „Was leistet der der im Januar 2006 seinen 70. Ge- auf die Ereignisse vom Herbst 1989 turelle Bildung Voraussetzung zur Bund für die kulturelle Bildung?“ Ihr burtstag begeht, über weite Strecken vorauswies. Außerdem schuf der Partizipation an Kunst und Kultur“. Fazit: Die vom Bund geförderten Ganz- alles andere als ein gemütlicher Spa- Komponist mit seiner 4. und 5. Sinfo- Nach 1988 und 1994 legt der tagsschulen können ein angemesse- ziergang mit Musik. Vielmehr erwies nie (1987/88) unverkennbare musi- Kulturrat nun den dritten Band ei- ner Raum für kulturelle Bildung und sich sein Voranschreiten zum beacht- kalische Umbruchsituationen, die ner Konzeption der kulturellen Bil- künstlerische Interessen sein. lichen Œuvre von fünf Sinfonien, bei Aufführungen durch das Leipzi- dung vor. Ziel dieses Bandes ist es, Teil D fasst schließlich archiva- drei großen Opern sowie zahlrei- ger Rundfunksinfonieorchester un- die Vielschichtigkeit der kulturellen risch die Stellungnahmen des Deut- chen Kammermusikwerken oft als ter und das Gewand- Bildung in den einzelnen Wirkungs- schen Kulturrats, seiner einzelnen Spagat und Zerreißprobe, denn er hausorchester unter im bereichen darzustellen, gemeinsame Sektionen (darunter auch das Posi- bewegte sich im Spannungsfeld zwi- Sommer und Herbst 1989 begeister- Positionen, die gegenüber Politik, tionspapier „Musik in der Ganztags- schen dem engagierten Einsatz nam- te Aufnahme fanden und bis heute Verwaltung und Öffentlichkeit ver- schule“ des Deutschen Musikrats) hafter Ensembles, den anfangs oft ge- nichts von ihrer Faszination verloren treten werden, zu erläutern und da- und die seiner Mitgliedsverbände spaltenen Hörerreaktionen und den haben. rüber hinaus zu unterstreichen, dass zusammen. mitunter „absurden, unverständlichen Sowohl durch ihre analytischen kulturelle Bildungsarbeit nicht „Mo- Insgesamt ein hervorragendes oder einfach nur kleingeistigen kul- Befunde zu Treibmanns Werken als den unterworfen werden darf, son- Handbuch für alle, die sich mit Kul- turpolitischen Entscheidungen“ (S. 5) auch durch Verweise auf geistig ver- dern der Kontinuität bedarf“. turpolitik theoretisch und praktisch von Sittenwächtern im real existie- wandte Komponisten, Interpreten Teil A des Bandes beschäftigt sich beschäftigen: Jeder kulturelle Be- renden Sozialismus der DDR. wie die Gruppe Neue Musik „Hanns vor allem mit den Rahmenbedingun- reich, egal auf welcher politischen Wie die Publikation anhand von Eisler“ und auf spezifische Rezeptions- gen kultureller Bildung. Olaf Zimmer- Ebene, wird im Hinblick auf die Fra- informativen Aussagen der Autorin, bedingungen trifft die Autorin die mann und Gabriele Schulze zeigen ge nach der kulturellen Bildung ge- des Komponisten und seines Libret- Aura der Musik und die Atmosphä- zum einen die Verankerung der Rah- scannt und zusammengefasst. Dabei tisten sowie von Interpreten, Musik- re ihrer Entstehung und Wirkung er- menbedingungen der kulturellen Bil- verbindet sich ein sehr breiter Über- wissenschaftlern und -kritikern be- staunlich genau. Sie legt Spuren für dung auf den Ebenen der internatio- blick mit einer intensiven Detail- legt, setzte Treibmann nicht auf die die künftige Beschäftigung mit die- nalen Politik, der europäischen, der recherche, die immer wieder auch Repräsentations-, sondern auf die ser Zeit und ihren künstlerischen Bundes- und Landespolitik und letzt- in die Vergangenheit zeigt und Ent- Oppositionsfunktion von Kunst in- Ergebnissen und schafft damit Raum lich auf der des bürgerschaftlichen En- wicklungen offen legt. In diesem Zu- nerhalb eines autoritär geführten für noch ausstehende übergreifende gagements auf; zum anderen wird der sammenhang ist das Kapitel „Zur Machtapparats und suchte mit sei- Wertungen, die nur auf der Basis kulturelle Ist-Zustand innerhalb der Notwendigkeit von Bildung und Er- ner Musik zugleich Botschaften, die weiterer vergleichbarer Dokumenta- Städte und Gemeinden, der Kirchen ziehung – eine Anthropologische weit über das Tagesgeschehen hi- tionen erfolgen können. Werkver- und des Öffentlich-rechtlichen Rund- Skizze" zu nennen, das die kulturelle nausweisen und an Grundfragen zeichnis sowie Diskografie und Bib- funks skizziert. Abgeschlossen wird Entwicklung des Menschen mit Gra- menschlicher Existenz rühren: Sein liografie sind solide ausgeführt, Kom- der erste Teil mit der Arbeitsmarkt- fiken und Zitaten anschaulich zu- Opernerstling Der Preis (nach einem positionen im Text hervorgehoben situation im Bereich der Kulturwirt- sammenfasst. Text von Harald Gerlach, 1975/78) und am Schluss gesondert ausgewie- schaft, der mit einer Reihe von Zah- Der Deutsche Kulturrat fordert provozierte mit einer harten, plasti- sen. Darüber hinaus sorgen auf- len und Statistiken die finanzielle Seite in seinem dritten Band, die Rahmen- schen Klangsprache und dem auf schlussreiche Notenbeispiele, Fotos der kulturellen Bildung beleuchtet. bedingungen von Kunst, Kultur und Umweltschutz-Probleme verweisen- von den Operninszenierungen und Im Teil B erläutert Max Fuchs die kultureller Bildung zu erhalten – und den Sujet derart, dass das Werk in von Arbeiten der mit Treibmann be- Kulturpädagogik im gesellschaftlichen liefert gleichzeitig die Argumente Erfurt ursprünglich gar nicht auf die freundeten bildenden Künstler sowie Wandel, betont dabei die Notwendig- dafür, Kultur als Staatsziel im Grund- Bühne kommen sollte und in Halle eigene Zeichnungen des Komponis- keit, sich ihrer theoretischen Grund- gesetz zu verankern. wegen seiner „unzweideutigen Aus- ten für ein attraktives Gesamtbild. lagen im Bereich der Anthropologie, Kristin Bäßler sage von der Partei als subversiv er- Christoph Sramek

 62 MUSIK ORUM ECHO

˜ Leserbriefe Freude wecken „Was ist guter Musikunterricht?“ In seinen „Sieben Thesen zur Musik in Im letzten MUSIKFORUM wurden noch der Schule“ hat der Deutsche Musikrat Position bezogen und damit – einmal die Sieben Thesen des Deutschen neben viel Zustimmung – auch Kritik hervorgerufen. Musikrats zur „Musik in der Schule“ veröf- fentlicht. Erneut konnte man, voller Respekt Senden Sie Ihren Leserbrief an: für eine engagierte Arbeit und ein bemühtes Redaktion MUSIKFORUM, Papier, als erste These zur Kenntnis neh- Oranienburger Straße 67/68, 10117 Berlin. men: „Musikunterricht muss Freude an Mu- Oder per E-Mail an: [email protected] sik wecken.“ Dem wird sicherlich niemand Die Redaktion behält sich das Recht auf Kürzungen vor. widersprechen. Aber wieso eigentlich „wecken“? – Da tut sich die Frage auf, welche Art gedank- lichen Ansatzes zu solcher Kernaussage füh- wecken? Von der falschen Freude zur ech- ren kann. Soll es bedeuten, dass Erwägun- ten zu führen – ein missionarischer Ansatz, gen zu Zielgruppen, die Freude an Musik der vor dem Hintergrund des Thesenpapiers (schon/noch) haben, absichtlich außen vor wohl kaum gemeint sein dürfte. gelassen werden? Und wenn ja, mit welchen Oder ist es schlicht eine unscharfe For- Gründen ist dann die Idee des Musikunter- mulierung, der wir den wohlgemeinten richts so verengt auf den Sachverhalt der Konsens schon in etwa abzulesen hätten; Erweckungsbedürftigkeit? aber diesen Mangel an Sorgfalt dürfen wir spruch. Überall der gleiche Ansatz. Und trifft Statistische Erfahrungen dürften eher einem Bundesfachausschuss nicht unterstel- dann auf die eigentliche Frage: Wieso ist es vom Gegenteil überzeugen – und dass das len, gleich gar nicht in diesem existenziellen dahin gekommen, dass solche Sätze aufge- Wecken allenfalls bei einem Teil der Lehrer, gesellschaftspolitischen Spannungsfeld. schrieben und propagiert werden müssen? statt bei den Schülern, zuzutreffen hätte. Solchermaßen verunsichert, auch die Wilfried Krätzschmar Oder soll es bedeuten, dass es darum Thesen zwei bis sieben noch einmal lang- Professor für Komposition an der Hochschule geht, Freude an der „richtigen“ Musik zu sam lesend, stellt man fest: Nirgends Wider- für Musik Carl Maria von Weber in Dresden

Christian Höppner: Im Zusammenhang mit den „Sieben Thesen zur musikalischen ˜ Dialog Bildung“ des Deutschen Musikrats kommen Der oben abgedruckte Leserbrief von Wilfried Krätzschmar und die dort Sie offenbar zu dem Schluss, dass diese im Grunde überflüssig seien. Stimmt diese formulierten Positionen waren Anlass für eine Diskussion im Berliner Folgerung? Generalsekretariat des Deutschen Musikrats, die DMR-Vizepräsident Hans Wilfried Krätzschmar: Leider sind die Bäßler mit Krätzschmar, Präsident des Sächsischen Landesmusikrats, führte. Thesen nicht überflüssig, aber sie müssten Moderiert wurde der Dialog vom Redaktionsleiter des MUSIKFORUM, überflüssig sein. Die eigentliche Frage ist ja, Christian Höppner. wieso es dahin gekommen ist, dass man solche Thesen aufschreiben und propagie- ren muss; Aussagen, über die wir uns – Bäßler contra Kretzschmar: das heißt: der Deutsche Musikrat intern – ja nicht gegenseitig aufklären müssen, was den Inhalt betrifft. Bleibt also die Frage nach AUF der Zielrichtung. Wobei zwei Möglichkeiten Ein und derselbe Kurs denkbar sind: entweder, dass man sich Positionen noch einmal selbst aufschreibt, UNTERSCHIEDLICHEN SCHIFFEN? um sich zu sagen, dass man auf dem richti- gen Weg ist, auch um bestimmte Dinge sind. Das war für mich ein Grund zu rea- Deutschen Musikrats hörte immer wieder neu zu sortieren; oder aber – und das ist gieren. Weil die Thesen offenbar versuchen, Stimmen von Politikern, die sagen: „Ihr meine Überzeugung – die Stoßrichtung soll allen möglichen Adressaten zu entsprechen, fordert als Musikrat mehr Musikunterricht. nach draußen gehen. Was aber wiederum büßen sie das an Schärfe ein, was für eine Aber gleichzeitig ist festzustellen, dass zwei unterschiedliche Adressaten bedeutet, bestimmte Aktionsrichtung wichtig wäre. Musik sehr häufig abgewählt wird, ja es auf die man sich im Formulieren von Tex- Es kommen Redundanzen zustande, bei gibt sogar die Meinung, dass der Musikun- ten sehr sorgfältig einzustellen hat: nämlich denen ich befürchte, dass das, was an terricht, der nicht stattfindet, manchmal die allgemeine Öffentlichkeit oder die Poli- Schubkraft im Anliegen der Thesen vorhan- besser ist als der, der schlecht erteilt wird. tik. Es geht ja immerhin um eine Situation, den ist, durch die Formulierung relativiert Als Politiker komme ich unter Druck, weil die für alle äußerst brisant ist. Statt vorsor- wird. es nach der PISA-Diskussion eigentlich gen zu können, laufen wir Zuständen hin- Hans Bäßler: Der Ausgangspunkt war sinnvoll erscheint, die harten Fächer zu terher, die schon längst reparaturbedürftig ja ein ganz einfacher: Der Präsident des verstärken, und dies natürlich auf Kosten

 MUSIK ORUM 63 DIALOG

der weichen Fächer. Jetzt sagen Sie mir als Krätzschmar: Das ist kein Dissens. In Magdeburg habe ich beim Festakt Präsident des Deutschen Musikrats, wie Meine kritische Frage lautet: Was erreichen „15 Jahre Landesmusikrat Sachsen-Anhalt“ die Kriterien für einen guten Musikunter- wir, der DMR, mit den Thesen? Sie sollen gesehen, wie wichtig und wie gelungen dort richt lauten.“ Und genau das ist dann die für die Politik griffig sein, und damit gibt die Zusammenarbeit zwischen Landes- Aufgabe des Bundesfachausschusses des man einen bestimmten Teil inhaltlicher musikrat und der Politik funktioniert, wenn Deutschen Musikrats, nämlich dem Präsi- Genauigkeit schon preis. Darin steckt für der Landesmusikrat pädagogische Initiativen dium zuzuarbeiten – mit der Fragestellung: mich die Gefahr, dass sich die Brisanz mit fördert und die Politik in ihrer Zustän- Warum gibt es Schulen, die besonders wieder relativiert. Man müsste den Ansatz digkeit mit hineinnimmt. Auf diesem Fest guten, effizienten Musikunterricht haben, umkehren. Deswegen bin ich zu der ist eine weitere Projektförderung ausdrück- andere aber nicht? Schlussbemerkung gelangt, wieso es soweit lich zugesagt worden. Das zeigt, dass ein Krätzschmar: Ein Beispiel, um deutlich gekommen sei, dass man Kriterien, die grundsätzliches Bewusstsein für musikali- zu machen, worum es mir geht: Die Kreuz- selbstverständlich sind, propagieren müsse. sche Arbeit mit Kindern und Jugendlichen schule in Dresden ist deswegen so gut, absolut vorhanden ist, denn die vier Projek- weil dort nicht nur der Musikunterricht in Höppner: Bedeutet dieser ganzheitliche te, um die es hier geht, sind ausschließlich Ordnung ist, sondern das gesamte schulische Ansatz, dass wir uns andere Bindungspart- Jugendprojekte: Landesjazzorchester, Lan- Klima. Wir müssen zwar für die Musik re- ner suchen müssen, um diese Ziele zu er- desjugendorchester, Landesjugendchor und den – das ist unser Feld –, aber eigentlich reichen? Jugendmusikfest, bei dem die unterschied- ist das Feld, welches bestellt werden muss, Krätzschmar: Ja, das denke ich. Der lichen Gruppen der Musik über das ganze wesentlich größer: Persönlichkeitsbildung, Deutsche Kulturrat zeigt Beispiele für ent- Land verteilt Konzerte geben. Raum für Kinder in der Gesellschaft, Frei- sprechende Ansätze. Auch als Podium, um Wenn man diese Idee verlinkt mit dem raum und Freizeit, der Aspekt, dass die Ge- eine breitere Phalanx zu bilden – und gleichzeitigen Impuls eines pädagogischen sellschaft sich primär auf die Heranwachsen- vielleicht auch, ich sage dies jetzt bewusst Auftrags, dann hätte man diesen Schulter- den einrichtet und nicht umgekehrt nach zugespitzt, dass wir darauf achten müssen, schluss – den Schulterschluss von Schul- beschwichtigenden Verwahr-Lösungen dass wir nicht etwa mit dem Sport gegen- musik auf der einen Seite und dem Laien- sucht, die den reibungslosen effizienten seitig ausgespielt werden. Dort gibt es An- musizieren und dem professionellen Geschäftslauf der Erwachsenenwelt nicht gebote für die Heranwachsenden, und an Musizieren auf der anderen Seite. Das stören. Die gesellschaftliche Situation ins- diesem Selbstverständnis sollten wir anset- schaffen wir als Schulmusiker nicht ganz gesamt ist veränderungsbedürftig, Schule ist zen. von allein. nur ein Teil und Musik nur ein kleiner Teil davon. Man wird nicht vom Feld der Musik aus alles lösen können, sondern nur im Zusammenwirken mit Partnern. »Man muss in der kultur- und schulpolitischen Mein Leserbrief wollte diese Spanne von der Sorge um das Ganze bis hin zur Situation noch radikaler formulieren« Polemik gegenüber danebentreffenden Formulierungen ansprechen. Die erste These sagt, dass der Musikunterricht Freu- Höppner: Haben wir mit den Thesen nur Dahinter steckt eine andere Sicht der de an der Musik wecken müsse. Meint sie eine Chance auf Wirksamkeit und Verände- Schule, und, Herr Krätzschmar, da treffen das wirklich? Ich denke, dass Kinder Fanta- rung, wenn wir diesen ganzheitlichen Ansatz wir uns wieder: Wie soll eigentlich Schule sie haben und die Schule nicht darüber sowohl in der Strategie als auch bei den aussehen? Es muss doch eine Schule sein, nachdenken muss, wie sie Kindern Fantasie Bündnispartnern mit einbeziehen? die vom Kind und Jugendlichen her gedacht beibringt, sondern dass sie darauf achten Bäßler: Die Frage einer Einbeziehung wird. Dort, wo wir dieses Schulklima vom muss, mit ihrer Apparatur die Fantasie der anderen Partner ist sicherlich ein ganz Kind und seinen Begabungen aus sehen, nicht zu beschädigen. Die Kinder bringen wichtiger Aspekt, der allerdings unglaublich werden wir auch Öffnungsmodelle bekom- ja einen Reichtum mit, und ich kann mir schwer ist. Der Sport bekommt eine hervor- men, wie sie beispielsweise auf dem Ganz- nichts anderes vorstellen, als dass Kinder ragende Förderung durch die deutsche tagsschulkongress des Musikrats in König- im Schuleintrittsalter auch Freude an der Sporthilfe, und die Balance zwischen Spit- stein gefordert wurden. Schule muss sich Musik mitbringen. Die muss man dann zensportförderung und Breitensportförde- zukünftig öffnen – gerade auch für und sicherlich weiter pflegen. Dafür halte ich rung scheint ausgeglichen zu sein. Aber die mit der Musik. den missionarischen Ansatz vom Freude- Rahmenbedingungen ändern sich für das wecken allerdings unangebracht. Denn Fach Musik auch langsam. Wir kämpfen Höppner: Die Thesen sind nach meiner wichtig ist auch, dass Lehrer zuhören im Moment in einer Reihe von Bundeslän- Kenntnis aus der Sorge um die Zukunft können. Und ich unterstreiche die etwas dern um die zweite Stunde Musik für alle unserer Gesellschaft entstanden; also aus spitze Einlassung, dass es manchmal umge- Klassenstufen, oder besser gesagt: um die einer gesamtgesellschaftlichen Verantwor- kehrt sein müsste und die Kinder auch größere Präsenz des Faches Musik in den tung heraus und nicht aus der Motivation beim Lehrer noch etwas wecken können. Curricula. Strategisch kann es nur darum berufständischer Interessensvertretungen. gehen, dass der Deutsche Musikrat insge- Bäßler: Das ist völlig richtig. Die Be- Höppner: Die Ausgangssituation wird samt, und gerade auch über seine Landes- schäftigungssituation ist für Berufsanfänger von Ihnen beiden offenbar sehr ähnlich musikräte, nachdrücklich bildungspolitische ausreichend, was die Lehrerstellen bundes- eingeschätzt. Bleibt der Dissens, ob diese Forderungen aufstellt und sich an ihrer Um- weit angeht. Es gibt, immer bundesweit Thesen das geeignete Instrument sind? setzung beteiligt. gesehen, genügend offene Stellen, weil sich

 64 MUSIK ORUM Musikrat und Landes- musikräte müssen gemeinsam dagegen arbeiten, dass die musikalische Bildung von Kindern und Jugend- lichen vergessen wird: Hans Bäßler, Christian Höppner und Wilfried Krätzschmar im Gespräch (von links).

der demografische Faktor negativ auf die guten Musikunterricht mussten zu diesem haben dabei auch festgestellt, dass die Ebe- Versorgung auswirkt. Und: Man kann um- Zeitpunkt aufgeschrieben werden, damit nen der Landesmusikräte und des Deut- gekehrt auch nicht sagen, dass wir zu viele diejenigen, die jetzt politische Arbeit leisten schen Musikrats den gleichen Herausforde- Lehrer hätten, die untergebracht werden müssen, etwas in der Hand haben, um rungen gegenüberstehen und mit unter- müssten. Im Gegenteil: Wir müssen feststel- positive Perspektiven zu entwickeln. Wir schiedlich verteilten Aufgaben gemeinsame len, dass wir zu wenig ausgebildete Musik- meinen eine andere Form von Musikunter- Ziele erstreben. lehrer und gleichzeitig zu wenige Studien- richt, nämlich die aktive Partizipation oder Bäßler: Für mich hat dieses Gespräch anfänger in allen Schularten haben, die zu Teilhabe am musikalischen Geschehen; wir zweierlei gebracht. Erstens: Ihre kritischen einer vernünftigen Unterrichtsversorgung brauchen eben die Chöre in den Schulen, Anmerkungen gegenüber der ersten These beitragen. Die Forderung von Ihnen, Herr die Bigbands, die Rockgruppen und die aus dem Positionspapier, Musikunterricht Krätzschmar, dass wir als Musikrat eine ge- klassischen Schulorchester als Möglichkei- möge Freude bereiten, zeigt, dass Ihr An- samtgesellschaftliche Verantwortung wahr- ten, sich zu erfahren. Deswegen: Der Musik- satz noch viel radikaler ist als der, den der nehmen müssen, ist ein Aspekt, der von den- unterricht in den Schulen muss viel stärker Bundesfachausschuss gewagt hat. Sie ver- jenigen schwer zu akzeptieren ist, die noch das aktive Tun einbeziehen und darf nicht langen ja eigentlich ein Neudenken von aus dem Denken der Lobbyarbeit kommen. das Reden über die Musik als Basis des Schule insgesamt im Sinne einer Schule, Wir müssen uns insgesamt massiv darum Musikunterrichts verstehen. Das ist diese die wirklich von den Bedürfnissen der Kin- bemühen, endlich den Anforderungen der erste Form eines Eisbrechers. Wir können der und Jugendlichen und von ihren Lern- musikalischen Bildung gerecht zu werden, nicht mit leeren Händen fordern: „Wir fähigkeiten ausgeht, die davor warnt, dass nicht nur in den Schulen. Das nenne ich brauchen mehr Musikunterricht!“, sondern wir in der Schule verschütten, was eigent- gesellschaftliche Gesamtverantwortung. wir müssen auch definieren, worin das be- lich an Potenzialen in den Kindern vorhan- steht. Musik in der Schule ist mehr als nur den ist. Das freut mich, weil ich selbst darin Höppner: Wie könnten denn die Thesen der Klassenunterricht, so wichtig er auch die Unterstützung eines Gedankens erkenne, in dem Zusammenhang, der gerade genannt ist. Die Rahmenbedingungen beschreibt den ich bislang viel zu vage gedacht habe. wurde, eine Eisbrecherfunktion bekommen, das Thesenpapier. Man muss in der kultur- und schulpoliti- also eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung? schen Situation noch radikaler formulieren. Krätzschmar: Also, dass diese Frage Höppner: Die beiden Steuermänner Der zweite Aspekt, und das freut mich, kommt, habe ich geahnt! (Lachen) Wer Bäßler und Krätzschmar steuern auf unter- besteht darin, dass das Zusammenspiel Kritik äußert, muss sich gefallen lassen, dass schiedlichen Schiffen offensichtlich doch zwischen Deutschem Musikrat und den er gefragt wird: „Wie hätten Sie es denn ein und denselben Kurs. Hat dieses Gespräch durch Sie vertretenen Landesmusikräten gemacht?“ Ich glaube, es ist ganz wichtig, ganz konkrete Auswirkungen auf die eigene das gemeinsame Anliegen vertritt, dass die dass die Thesen veröffentlicht worden sind. musikpolitische Arbeit? musikalische Bildung von Kindern und Darüber hinaus denke ich, dass die Forde- Krätzschmar: Für mich ist das Ge- Jugendlichen nicht vergessen werden darf. rungen, die der Deutsche Musikrat stellt, spräch bestärkend. Ermutigend ist festzu- Von daher ist die Zustimmung sicherlich sofort umgesetzt werden müssen. Für mich stellen, dass wir nicht in unterschiedliche eine sehr erfreuliche und selbstverständ- wäre eigentlich der wichtigste Satz, dass Richtungen streben – das hätte mich auch liche in der Zielsetzung. Das Papier soll wir sonst keine Chance auf Zukunft haben. sehr verwundert –, aber dass wir sehr deut- nicht mehr, aber auch nicht weniger sein, Das Zweite wären dann die Formulierun- lich auch neuralgische Punkte angesprochen als eine Argumentationshilfe dort zu gen im Einzelnen; dass man z. B. für den haben. Man könnte ja die Dinge auch sehr bieten, wo sie gebraucht wird, das heißt: Begriff des „Weckens“ etwas anderes fin- diplomatisch immer ein wenig freundlicher im politischen Raum. Dann wäre das, was den muss, etwa im Sinne von Pflegen oder darstellen, als sie es eigentlich sind. Wir der Bundesfachausschuss hier entwickeln Gedeihenlassen. haben ausgesprochen, wo es weh tut, wo wollte, tatsächlich auch erfüllt. Bäßler: Zurück zur „Eisbrecherfunktion“: man Hebel ansetzen muss, was man machen Ich glaube, die Thesen des Musikrats zum kann bzw. muss und wo es schwierig wird;

 MUSIK ORUM 65 Hoffnung… blitzte für einen Moment auf, als Wolfgang Bluetooth-Handys stülpt sich über das MUSIKORUM Clement frohlockte, die Tonträgerindustrie verstaubte analoge, künstlerbezogene DAS MAGAZIN DES DEUTSCHEN MUSIKRATS käme so allmählich wieder auf die Beine. Hörerlebnis und formatiert den Musikge- Doch dürften die vom Bundeswirtschafts- nuss und -konsum ganz neu. Bald, so Die Herausgeber minister auf der Berliner Popkomm (Bild) prognostizieren Zukunftsforscher, werden Deutsche Musikrat Projektgesellschaft mbH, wahrgenommenen Silberstreifen am Hori- nicht nur Radio, TV und Plattenläden Weberstr. 59, 53113 Bonn ([email protected]) zont nur einfache oder berufsoptimistische Vergangenheit sein, sondern auch unsere in Zusammenarbeit mit lieb gewonnenen, renommierten Musik- Schott Musik International, Postfach 3640, 55026 Mainz stars. Alle sind viel zu behäbig und schwer- ([email protected]) fällig, verglichen mit dem „Durchsatz“ an Koordination: Rolf W. Stoll Inhalten im Internet. Verantwortlich i. S. d. Pressegesetzes: Geschäftsführendes Präsidium des Deutschen Musikrat e. V. Schöpfung… Die Redaktion so sehen es manche Strategen in Musik- Leitung: Christian Höppner, produktionsfirmen, muss sich gänzlich an- Oranienburger Str. 67/68, 10117 Berlin ([email protected]) ders vollziehen. Wenn denn die 99 Cent, Fon 030–308810-10, Fax 030–308810-11 die beim Download eines Musiktitels zu Dr. Alenka Barber-Kersovan ([email protected]) erwirtschaften sind, auch nicht mehr ge- Prof. Dr. Hans Bäßler ([email protected]) nügen, um nachhaltige Investitionen in Michael Bölter ([email protected]) Werner Bohl ([email protected]) „echte“ Künstler und Musiker zu rechtferti- Susanne Fließ ([email protected])

Foto: Bohl gen, dann muss eben endgültig die Techno- Prof. Dr. Birgit Jank ([email protected]) logie ran, wenn’s „kreativ“ werden soll. Dr. Ulrike Liedtke ([email protected]) Torsten Mosgraber ([email protected]) Gemüter geblendet haben. Aus der (mit- Kein Scherz: Mit „Hit Song Science“ ist Dr. Peter Ortmann ([email protected]) verschuldeten) Krise heraus sind die großen mittlerweile ein Analyseverfahren auf dem Margot Wallscheid ([email protected]) Labels und der Musikhandel noch lange Markt und im konkreten Einsatz, das Musik- Redaktionsassistenz: Kristin Bäßler nicht. Werden sie überhaupt jemals wieder titel und Hörgewohnheiten mathematisch Licht am Ende des „Musik-Download- und und algorithmisch zerlegt. Am Ende stehen Die Produktion und Schlussredaktion Brenn-Tunnels“ erblicken? die Erkenntnis, was einen Hit auszeichnet, BWM: Bohl e-Publishing ([email protected]) Immerhin: Ein Wirtschaftszweig, der sich und mithin die Anleitung, wie man ihn mit ISDN-DFÜ 03322– 237088 über Jahrzehnte hinweg darin perfektionierte, schnellen, billigen Mitteln produziert. Die Kreativität (die der Künstler) zu verwerten Erfinder sind sich einer 80-prozentigen Die Anzeigen und teilweise seelenlos zu verwursten, der Trefferquote sicher… Leitung: Dieter Schwarz Service: Almuth Willing dann aber zusah und hilflos in den Seilen Klar, mit solchen Quoten können leben- Schott Musik International, hing, als junge Musikpiraten begannen, die dige, menschenförmige Talente und Krea- Postfach 3640, 55026 Mainz mit hohem Investitionsaufwand produzier- tive nicht dienen! Fon 06131–246852, Fax 06131– 246844 ([email protected]) ten Hits „für lau“ aus den unergründlichen Weiten des Webs zu fischen – eben diese Der Vertrieb Tonträgerindustrie entwickelt nun doch so Aufklärung… Leserservice: Nicolas Toporski, Verena Runde etwas wie Kreativität als Lebenserhaltungs- Schott Musik International, über Ziele und Leitbilder der europäischen Postfach 3640, 55026 Mainz maßnahme. Musik und Kulturpolitik bringt die nächste Fon 06131–246857, Fax 06131– 246483 Ausgabe des MUSIKFORUM. Wir berich- ([email protected]) Linderung… ten unter dem Titel „Musik in Europa“ über Die Erscheinungsweise Netzwerke, Partnerschaften und übernatio- vierteljährlich: Oktober, Januar, April, Juli der schmerzvollen Umsatzeinbrüche ver- nal agierende Kulturinstitute, informieren Einzelheftpreis: m 7,40 spricht nicht allein juristische und gesetz- über Förderungen und grenzüberschreiten- geberische Schöpferkraft, die mit dem de Musikprojekte und erläutern Strategien neuen Urheberrecht, mit ausgeklügelten und Thesen zum Thema „Auslandsarbeit“. Die in den namentlich gezeichneten Beiträgen ver- Kopierschutzsystemen oder dem Digital Im Fokus natürlich auch die Diskussion um tretenen Meinungen decken sich nicht notwendiger- Rights Management schon Erfolg verspre- kulturelle Identitäten und die Frage, wie weise mit der Auffassung des Herausgebers und der Redaktionsleitung. chend demonstriert wurde. Nein, den Deal viel Austausch und Dialog erwünscht und mit der Zukunft annehmen, heißt für die Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Unter- zu fordern ist. lagen wird keine Haftung übernommen. Branche, wieder verstärkt Kreativität ein- Dieses und vieles mehr… Nachdruck oder fotomechanische Wiedergabe, auch zusetzen. Freilich weniger die der Künstler. Werner Bohl auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Zustimmung des Mehr die der Technologie. Wer’s noch Herausgebers. nicht bemerkt hat: Hard- und Software ISSN 0935–2562 bestimmen zusehends Ideen und Inhalte. Das nächste MUSIKFORUM © 2005 Schott Musik International, Mainz Die digitale Sphäre der Internetportale, erscheint am 15. Januar 2006 Printed in Germany MP3-Kompressoren, Klingeltöne und

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