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63280 oktober–dezember 2006___4 4. jahrgang

Musik leben und erleben in Deutschland.

Singen, statt Frust schieben Vom Stadtfürsten zum Sängerfürst: Chorpräsident Henning Scherf

Rappen, statt Steine werfen Das Meisterstück der SchoolTour an der Berliner Rütli- Oberschule DAS MAGAZIN DES DEUTSCHEN MUSIKRATS 7,40 m

Probedruck EDITORIAL

WERDEN WIR EIN

Christian Höppner stummes Volk? Chefredakteur

STIMME – WO FANGE ICH AN, WO HÖRE ICH AUF? Die Lust und Last, gerade dieses Thema im Musikforum verdichten zu dürfen und zu müssen, haben die Redaktion schwer beschäftigt. Vom ersten Schrei eines Neugeborenen bis zum Versiegen der Stimme im Tod begleitet sie jeden Menschen als eine seiner wichtigsten Ausdrucksmöglichkeiten. Der „lauschende Blick“, gleichsam aus der Beobachterposition des hinteren Rachenraums, auf die Flut der Laute, die täglich zwischen Erwachen und Einschlafen unseren Mund verlassen, offenbart eine Bandbreite, die uns meist nicht bewusst ist. Diese Vielfalt des „tonalen Mienenspiels“ zu entdecken und auszubauen, sich seiner Umwelt mit wandelbarer Modulation mitteilen und sie differenzierter wahrnehmen zu können – das macht zu einem guten Teil das Ideal einer humanen Gesellschaft aus. Die Fähigkeit, sich selbst zu(zu)hören, ist Voraussetzung, um den Anderen zu hören, ihm zuzuhören. Der Dreiklang Atem–Stimme–Sprache ist der Schlüssel zu uns selbst, zu unserer Umwelt. Damit öffnen sich uns Chancen für den Alltag, denn: Jedem ist eine Stimme gegeben, um sie immer wieder zu erheben und neu erklingen zu lassen – alleine und in Gemeinschaft. Die aus unserer Geschichte abzuleitende Furcht vor der Instrumentalisierung des Singens verstellt immer noch und allzu oft den Blick auf die Perspektiven. Schließlich ist uns nicht nur die Stimme, sondern auch der Gesang gegeben! Wer von sich das Gegenteil behauptet, hat entweder traumatische Kindheitsprägungen oder nie die Schönheit des eigenen Klangs erfahren können. Was wäre für den Einzelnen und unsere Gesellschaft gewonnen, wenn das lustvolle Erleben der eigenen Stimme genauso wichtig (oder gar wichtiger) wäre wie das Blinken des Sterns auf der Kühlerhaube!? Bedenkt man die fundamentale Bedeutung des Singens – wie wir beispielsweise die Wirkung unserer Worte durch Tonmodulation multiplizieren oder Instrumentalspiel vom Gesang her aufbauen –, erscheint es umso fataler, dass unsere Bildungsstätten so wenig für die musisch-ästhetische Erziehung tun. Gerade da, wo Kinder und Jugendliche für „das Leben“ lernen können, fehlt es an Zusammen- hängen, an vernetzten Angeboten in Kindergarten, Schule, Musikschule und – in der Ausbildung – an den Hochschulen. Gesang, Sprecherziehung oder Chor als Einzelfächer, wenn sie denn überhaupt angeboten werden, reichen da nicht aus. Das „Land der Dichter und Denker (und Sänger)“ droht – gemessen an seinen Potenzialen – zur Heimat eines stummen Volks zu degenerieren. In einer mehr und mehr digitalisierten Ödnis ist man deshalb für jedes Hoffnungszeichen dankbar: Etwa, wenn der Deutsche Chorverband mit seinem „Felix“ Kitas auszeichnet, die Kleinkinder musikalisch fördern und zum Singen anregen – ein Vorbild für viele Bildungs- und Kultureinrichtungen. Kulturelle Vielfalt, so müssen wir lernen, definiert sich auch aus der Vielfalt der eigenen Ausdrucks- möglichkeiten. Diese Vielfalt gilt es, ganz im Sinne des 2. Berliner Appells, zu erhalten und auszubauen. Um der Kunst und der Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft willen.

Ihr

Christian Höppner

 MUSIK ORUM 3 INHALT

IM FOKUS: DIE STIMME Wozu das Singen da ist… 8 Birgit Jank macht sich Gedanken zum Gesang – nicht nur im Musikunterricht

Jedem Kind seine Stimme Zum Handlungsbedarf „in Sachen“ Gesang schreibt Ulrich Rademacher 12 Die Stimme der deutschen Stimmen Chorpräsident Henning Scherf im Interview 14 Trendwende? Kongress fordert neue Anstrengungen für ein Sing-Revival 17 Phänomene der Akustik: Forschungsergebnisse für die Gesangspraxis 19 „Wellness für die Seele“: Musikschulen machen das Singen zum Thema 21 akzente bildung.forschung wirtschaft

Rappen, statt Steine „Herzhaft profan und Systemwechsel für das werfen: Rütli rockt doch wie ein Wunder“ Urheberrecht? Die Neuköllner Oberschule stand für Die „Jungen Symphoniker“ beeindrucken Günter Krings über Sprengstoff in der Randale und Gewalt und machte Schlag- in München alle Kritiker 54 Novelle des „Zweiten Korbs“: Disput um zeilen wegen resignierender Lehrer und Vergütungshöhen und die Regelungen zu verzweifelter Eltern. Die SchoolTour, ein Proklamierte Ziele verfehlt unbekannten Nutzungsarten 52 Projekt der Deutschen Phono-Akademie Bildungsoffensive Musikunterricht: das mit Förderung durch den Deutschen KAS-Grundsatzpapier in der Diskussion 56 Generalangriff des Finanz- Musikrat, lieferte hier mit ihrem Team ihr ministeriums auf Ehrenamt? musikalisch-soziales Meisterstück ab 42 INVENTIO 2006 Reform des Gemeinnützigkeitsrechts Musikpädagogische Projekte prämiert 57 könnte die Laienmusikszene gefährden 53 Musikbildung und Gesundheit Heide Görtz im Gespräch 58

 4 MUSIK ORUM Titel: Bildmontage: Bohl/MEV. Im Hintergrund: ein mit Neumen notierter gregorianischer Choral fokus

„Singen wir heute?“ 24 Julia Wieneke stellt das neue niedersächsische Chorklassenmodell vor

Neue Musik im Biotop Knabenchor Gewitter im Klangdom: Über „reine“ Stimmen und den Mut zu Experimenten. Von Ulrike Liedtke 26 Das Festival „Stimme+“ im ZKM 34 Fluchtlinien der populären Stimme Impulse für eine bunte Wie der Gesang die Popmusik bestimmt, skizziert Christian Bielefeldt 28 europäische Chorszene: Sonja Greiner über „Europa Cantat“ 36 Es gilt der gesungene Ton Spiegelbild der Realität: Peter Ortmann über Jazz und Gesang am Beispiel des Bundesjazzorchesters 30 Die Sängerszene nach dem Deutschen Authentischer Klang: „Jazz-Pädagoge“ Matthias Becker im Gespräch 33 Chorwettbewerb in Kiel 39 porträt dokumentation „Singen öffnet die Seele“ Sopranistin Bettina Pahn über den Weg zum Singen und die Stimmausbildung 45 neuetöne Sch(r)eiben der Gegenwart Zum 20-jährigen Bestehen der „Edition Zeitgenössische Musik“ 48 Tagesware von der DJ-Stange Über 200 Persönlichkeiten Mehr Musikvermittlung in Cover-Versionen und Hit-Recycling beherr- unterzeichnen Berliner Appell Deutschland gefordert schen die Single-Charts – die Folgen 50 Die Forderung des Deutschen Musikrats Kongress in Wildbad Kreuth ruft die nach Stärkung der kulturellen Identität und politischen Entscheidungsträger auf, präsentiert des interkulturellen Dialogs findet breite differenzierte Zugänge zur Musik zu S Unterstützung 59 ermöglichen 61 Projekte im deutschen Musikleben: Creole – Preis für Weltmusik aus Deutschland 63 rubriken MUSIKORUM Editorial 3 oktober–dezember 2006___4 Nachrichten 6 Rezensionen: CDs und Bücher 64

Finale / Impressum 66 DAS MAGAZIN DES DEUTSCHEN MUSIKRAT

 MUSIK ORUM 5 NACHRICHTEN

© SWR/Zoch Preis für elektronische Musik Ab 11. Dezember wird der neue „Giga-Hertz- Preis“ für elektronische Musik ausgelobt, der sowohl das künstlerische Schaffen renom- mierter Komponisten, wie auch neue Projekte unterstützen soll. Initiatoren sind das Experimentalstudio für akustische Kunst und das ZKM-Institut für Musik und Akustik. Der Hauptpreis ist mit 15 000 Euro dotiert. Barenboim: Engagement für musikalische Bildung Daniel Barenboim, Dirigent und Generalmu- sikdirektor der Berliner Staatsoper, hat in seiner Dankesrede zum Kulturgroschen 2006 des Deutschen Kulturrats auf die Notwendigkeit hingewiesen, möglichst vielen Kindern die Welt der klassischen Musik zu eröffnen. Damit würde sich zugleich das Missverständnis er- ˜ Donaueschinger Musiktage ein Publikumsmagnet ledigen, klassische Musik sei elitär. In seiner Laudatio nannte Christian Höppner, Vorsit- „Wir holen die Neue Musik heraus aus dem Elfenbeinturm und bringen sie in den Alltag der zender der Jury zur Verleihung des Kultur- Menschen“, erklärte Festivalleiter und SWR2-Musikredakteur Armin Köhler zum Abschluss groschens und Generalsekretär des Deutschen der Donaueschinger Musiktage 2006. Grund für die Einschätzung war der erneut enorme Musikrats, Daniel Barenboim ein großes Vor- Publikumszuspruch beim weltweit ältesten Festival für zeitgenössische Musik. Alle Veranstal- bild für alle Menschen in verantwortlichen Posi- tungen waren ausverkauft. 24 Uraufführungen und eine deutsche Erstaufführung standen tionen. „Daniel Barenboim versteht sein Enga- auf dem Programm, darunter so unterschiedliche Werke wie Alvin Currans Oh Brass On The gement für die musikalische Bildung auch Grass Alas mit 350 Laienmusikern, eine Divertimento? betitelte Farce für Ensemble von Mauricio als einen Beitrag zur Verständigung zwischen Kagel oder die Konzertinstallation Hyperion – Konzert für Licht und Orchester von Georg den Kulturen. Ich hoffe sehr, dass noch mehr Friedrich Haas mit einer spektakulären Licht-Raum-Installation von rosalie (im Bild oben). Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens aus Alle Kompositionen waren Auftragswerke des Südwestrundfunks. allen gesellschaftlichen Bereichen seinem Bei- spiel folgen und sich im Sinne des 2. Berliner Appells mit Worten und Taten für die musi- personalia kalische Bildung als eine der Voraussetzun- gen für den Dialog der Kulturen engagieren.“ Till Brönner (im Bild rechts), der Deutschen Orchesterverei- (Siehe dazu Artikel auf S. 59 !). einem der erfolgreichsten deut- nigung, Hartmut Karmeier, Dank an Barenboim: Christian Höppner und schen Jazz-Trompeter, wurde der das Bundesverdienstkreuz am der Vorsitzende des Deutschen Kulturrats,

Titel „Deutscher Jazzbotschafter“ Foto: Mümpfer Bande verliehen. Gewürdigt Max Fuchs, mit dem Dirigenten (von links). verliehen. Die Deutsche Jazz wurde Karmeiers herausragen- Föderation ehrte den Musiker des ehrenamtliches Engage- für sein ehrenamtliches Engage- ment für den Berufsverband ment zur Erhaltung und Förde- der Orchestermusiker sowie im rung der Jazzkultur in Deutsch- Musikrat, im Beirat der GVL, land. +++ Der Bundesvorsit- im Kuratorium der Deutschen zende der Jeunesses Musicales Orchester-Stiftung sowie in der Deutschland, Hans-Herwig Geyer, ist Kommunalpolitik. +++ In München wurde bei der 61. Generalversammlung der Jeu- zum 13. Mal der ECHO Klassik verliehen. nesses Musicales International in Peking Die Preise gingen u. a. an: Cecilia Bartoli erneut ins Präsidium gewählt worden. (Sängerin des Jahres), Bryn Terfel (Sänger +++ Der erstmals ausgelobte Deutsche des Jahres), Daniel Hope (Instrumentalist Dirigentenpreis ging an den Esten Mihkel des Jahres), Renée Fleming (Opernein- Kütson. Im Finale in der Berliner Philhar- spielung des Jahres), Artemis Quartett monie setzte sich der 35-jährige Nachwuchs- (Kammermusikeinspielung des Jahres), Bai- dirigent durch und erhielt die mit 15 000 ba Skride (Konzerteinspielung des Jahres), Euro dotierte Auszeichnung. +++ Bun- Evgeny Kissin (Solistische Einspielung des despräsident Horst Köhler hat dem Jahres), Susan Graham (Liedeinspielung Präsidiumsmitglied des Deutschen Musik- des Jahres) und Klazz Brothers & Cuba

rats und Vorsitzenden des Gesamtvorstands Percussion (Klassik-ohne-Grenzen-Preis). Foto: Kristin Bäßler

 6 MUSIK ORUM Lust auf klassische Musik? „Little Amadeus“ lädt Musikrat-Resolution zum Kinder zum Mitmachen ein Laienmusizieren übergeben Nachdem im vergangenen Januar Die Mitgliederversammlung des Deutschen

© SWR/Gateway4M anlässlich des 250. Geburtstags Musikrats (DMR) hat am 20. Oktober einstim- von Wolfgang Amadeus Mozart mig die Resolution „Zukunft Musik: Laienmusi- an vielen Grundschulen der erste „Little zieren in Deutschland“ verabschiedet und den Amadeus & Friends-Aktionstag“ mit mehr als kulturpolitischen Sprechern der im Bundestag 100000 beteiligten Kindern stattgefunden hat, lädt vertretenen Parteien übergeben. Die Resolu- die „Little Amadeus-Stiftung“ jetzt erneut Musik- und Grund- tion macht u. a. Vorschläge zur Verbesserung schulpädagogen ein, bei dieser bundesweiten Aktion mitzumachen. der Rahmenbedingungen zum Laienmusizieren Vorrangiges Ziel ist es, neue und unkonventionelle Wege zu beschreiten, um Kinder für klassi- und fordert ein Umdenken im Umgang mit den sche Musik und aktives Musizieren zu begeistern. Little Amadeus, Star der gleichnamigen Kreativpotenzialen unserer Gesellschaft. TV-Zeichentrickserie „Little Amadeus – Die Abenteuer des jungen Mozart“, steht dabei als „Deutschland zeichnet sich, trotz mancher Serienheld und Botschafter im Mittelpunkt der Aktion. Aufgrund seiner Popularität ist er ideal Einschnitte, weiterhin durch ein noch immer viel- dafür geeignet, Kinder anzusprechen und zum Musizieren zu motivieren. fältiges und hochqualifiziertes Musikleben aus“, Andreas Eckhardt, Direktor des Beethoven-Hauses Bonn: „Durch eine früh- erklärte Martin Maria Krüger, Präsident des Deut- zeitige Heranführung von Kindern an Musik und praktisches Musizieren schen Musikrats. „Das Laienmusizieren ist sein wird ein Grundstein für weitergehendes kulturelles Interesse gelegt. In Grundstein und Teil eines Netzwerks, das in alle den Schulen kann ein solcher Musikunterricht häufig nicht oder nur Bereiche gesellschaftlichen Lebens hineinwirkt.“ ungenügend angeboten werden.“ Unterstützt wird das Projekt vom Deut- Die rund sieben Millionen Menschen, die sich für schen Musikrat, dem Verband deutscher Musikschulen, dem Verband das Musikland Deutschland ehrenamtlich enga- Deutscher Schulmusiker, der Deutschen Phono-Akademie und der Deut- gierten, zeigten ein hohes Maß an Motivation, schen Orchestervereinigung. Medienpartner sind die neue musikzeitung Identifikation und Mitverantwortung für die Zu- und KI.KA, der Kinderkanal von ARD/ZDF. U www.little-amadeus.de kunft unserer Gesellschaft, die in hohem Maße ihren spezifischen Lebensweg aus eben diesem Engagement beziehe. Krüger: „Mit ihrem bür- ˜ gerschaftlichen Engagement sind sie für die pro- Thüringer Theater- und Musikkultur erhalten! fessionellen Orchester und Musiktheater genau- Mit Bestürzung hat die in Berlin tagende Mitgliederversammlung des Deutschen Musikrats so von grundlegender Bedeutung wie für die die Absicht der Thüringer Landesregierung aufgenommen, die Landesförderung für die Kreativwirtschaft und die Einrichtungen der schu- Theater und Orchester bis zum Jahr 2009 um mehr als zehn Millionen Euro zu kürzen. lischen und außerschulischen Bildung.“ Die Umsetzung dieser Pläne würde u. a. das Aus für die Theater- und Orchesterstandorte Bei der Übergabe der Resolution (von links): Gotha/Suhl, Eisenach, Nordhausen/Sondershausen und Rudolstadt/Saalfeld bedeuten und DMR-Vizepräsident Hans Bäßler, Monika Grie- Hunderte von Musikern, Künstlern und weiteren Mitarbeitern arbeitslos machen. Nach- fahn (SPD), DMR-Generalsekretär Christian dem seit 1990 bereits mehr als 40 Prozent aller Musikerstellen eingespart und etliche Höppner, Lukrezia Jochimsen (Die Linke.PDS), Theater und Orchester fusioniert oder geschlossen wurden, fordert der Musikrat die Thü- Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90/Die Grünen), ringer Landesregierung eindringlich auf, die Kürzungspläne zurückzunehmen und die le- Christoph Waitz (FDP), Hans-Willi Hefekäuser, bendige Thüringer Theater- und Musikkultur als gesamtdeutsches Erbe zu erhalten. Erik Hörenberg, Wolfgang Börnsen (CDU) und DMR-Präsident Martin Maria Krüger. ˜ Integration durch Kultur Bei der ersten Tagung der Arbeitsgruppe „Kulturelle Integration“ im Bundeskanzleramt betonte Kulturstaatsminister Bernd Neumann die Notwendigkeit, Kultur als Mittel der Ver- ständigung zu nutzen: „Ohne Kultur ist kei- ne Integration möglich. Kultur stiftet die Grund- lagen unseres Zusammenlebens.“ Aufgabe der Expertenrunde sei es, Ansätze und Projekte aus Kunst und Kultur zu entwickeln, die die Integration von Menschen mit Migrationshin- tergrund förderten und damit ihre Entwick- lungschancen in unserer Gesellschaft steiger- ten. Zu den Teilnehmern der Arbeitsgruppe gehören Vertreter von Bund und Ländern, Gesellschaft, Bildungseinrichtungen und Mi- granten, die Erfahrungen aus unterschied-

lichen Kulturbereichen mitbringen. Foto: Erik Müller

 MUSIK ORUM 7 FOKUS

Überlegungen zum Gesang – nicht nur im Musikunterricht

WOZU DAS Singen DA IST…

Von Birgit Jank

erfen wir einen komplexen Der Musicalboom, Crossover-Projekte zwi- Von den verschiedenen WBlick auf das „Phänomen schen klassischer und populärer Musik, die Möglichkeiten, das Singen Singen“. Ursprünglich war das Medienerfolge wirksam vermarkteter Klas- sik-Events (z. B. die „Drei Tenöre“) und raffi- zu verstehen Singen eine sehr natürliche Art nierte Werbespots mit klassischer Musik haben Wenn man sich mit der neueren Diskus- der Menschen, sich zu äußern, das Singen und die Akzeptanz von klassisch sion um das Singen auseinander setzt oder miteinander zu kommunizieren geschulten Stimmen nicht nur unter Jugend- die zahlreich vorhandenen Publikationen zur und Erfahrungen verschiedener lichen wieder größer werden lassen. Die Rock- Geschichte des Liedgesangs genauer analy- sozialer Schichten über die Jahr- und Popmusik hat in den vergangenen Jahr- siert, so sind es immer wieder zwei grund- hunderte hin zu bewahren. Die zehnten differenzierte Gesangskulturen und sätzlich verschiedene Funktionsbeschreibungen vokale Interpretationsweisen hervorgebracht, und Verstehensweisen des Singens, die dar- modernen Gesellschaften haben die wiederum viele Kinder und Jugendliche gelegt und gehandhabt werden: dies verändert, was auch in Schulen zur Nachahmung, zum Mitsingen und zum ˇ Zum einen das Singen als eine der ur- und Hochschulen spürbar ist. Nachgestalten animiert haben. Trotz man- sprünglichsten und natürlichsten Ausdrucks- cher medialer Entgleisungen hat diese Ent- formen des Menschen, Singen als Möglich- Nachfolgende Überlegungen zum Singen wicklung nachweislich zu einer deutlich ge- keit des Sich-Selbst-Findens und Sich-Kennen- sollen helfen, neue Perspektiven zu eröffnen wachsenen Nachfrage nach Gesangsunterricht lernens, des gemeinsamen Musizierens mit und vielleicht verloren gegangene wieder zu an Musikschulen geführt. Die Entwicklung anderen (eingeschlossen die Vielfalt sich hierbei entdecken. des Klassenmusizierens und die Erprobung vollziehender gruppendynamischer Prozes- entsprechender Konzeptionen hat Chorklassen se), letztlich also das „Singen“ als ein grund- Von aktuellen Veränderungen und vokale Ensembles verschiedenster Art sätzliches menschliches Ausdrucks- und Kom- der Bedingungen für das an den Schulen und im Freizeitbereich ent- munikationsmittel. stehen lassen. ˇ Andere Überlegungen gehen vom Sin- Singen Man möchte wieder mehr miteinander gen als Teil der Gesamtmusiklehre und ei- Spätestens seit den neunziger Jahren kann Musik machen, will zu Präsentationen kom- nem Bildungsanspruch aus. Hierbei geht es in der Schule und in den Bereichen der Kin- men oder einfach Entspannung und Spaß um „Gesang“, also primär um die Entwick- der- und Jugendkulturen wohl von einer Re- haben. Die sozialen Codierungen dieser In- lung gesanglicher und gestaltender Fähigkei- naissance des Singens in Deutschland gespro- teressenlagen sind unverkennbar in einer zum ten und Fertigkeiten und um vielseitige äs- chen werden. Die Ursachen hierfür sind recht Teil an Überindividualisierung leidenden Ge- thetische Auseinandersetzungen aus einem vielfältig: So dürften sich z. B. die vorherr- sellschaft. Das Erscheinen neuer erfolgreicher fachspezifischen Blickwinkel heraus. schenden kognitiven musikpädagogischen Liederbücher hat eine gute Quellenlage für Diese verschiedenen Sichtweisen des „Sin- Betrachtungs- und Analysemethoden, wie sie die Liedauswahl bewirkt. gens“ und des „Gesangs“ sorgen von jeher seit den siebziger Jahren in der alten Bundes- Schließlich eröffnet auch die Nutzung des für Brisanz und Missverständnisse in den Dis- republik den Musikunterricht prägten, etwas Internets einen umfassenden Zugang zu ver- kussionen um das Singen, erzeugen jedoch erschöpft haben. Wobei diese Entwicklung schiedensten musikalischen Liedquellen, die zugleich auch jene produktiven und anregen- dann den Weg frei machte für die Suche nach man sich früher mühsam zusammensuchen den Spannungsfelder, die ein Nachdenken wieder mehr sinnlich orientierten Strategien musste. Musikbearbeitungsprogramme ermög- über Chancen und Grenzen des Singens so in der Auseinandersetzung mit Musik. lichen mit nur wenig Training das Notieren, sinnvoll und anregend erscheinen lassen. Diese Verändern, Speichern und Experimentieren beiden Selbstverständnisse sind mit ihren viel- mit dem Lied und mit Liedbegleitungen in seitigen Nuancen z. B. in neueren Kinder- ungeahnten Facetten. und Jugendmusikkulturen (Rockgesänge, Sin-

 8 MUSIK ORUM gen in meditativen Zusammenhängen) auf der einen Seite und im zielgerichteten, vor- rangig reproduzierenden Musiklernen wie z. B. dem Nachsingen von Liedern an vielen Schulen und Musikschulen auf der anderen Seite zu beobachten. Im erstgenannten Zu- sammenhang geht es um Identitätsfindung, um ein ästhetisches Erkunden, aber auch um kommerzielle Beeinflussung, während beim Animiert: Musicalboom, Crossover- zweiten Aspekt vorrangig das Lernen und Projekte und die Rock- und Popmusik Erlernen musikalischer Zusammenhänge am haben neue Gesangskulturen entstehen Beispiel des Liedes, der Stimmarbeit und die lassen, die zunehmend von jungen Realisierung vorgegebener Interpretations- Menschen solistisch oder in Ensembles weisen im Vordergrund stehen. nachgeahmt und nachgestaltet werden. Singen in der Schule sollte sich meines Erachtens bemühen, zwischen diesen beiden Polen eine sinnvolle Balance und verknüp- fende methodische Perspektiven herzustel- len. In mittelfristigen und längeren Zeiträu- men gedacht, könnte sich dies in der all- täglichen Schulpraxis durch die Suche nach sinnvollen Symbiosen beider Aspekte auf einer Metastufe verwirklichen lassen, auf der bei- de Blickrichtungen stärker ineinander aufge- hen, sich ergänzen und neue Impulse geben und so letztlich zu einer neuen, veränderten Singarbeit führen könnten. Zugangsweisen und Methoden müssten demnach so vielfäl- tig gestaltet werden, dass sie bei allen Betei- ligten sowohl Spaß am gemeinsamen oder solistischen Singen und zugleich auch ein Lernen am Lied, ein Nachdenken und be- wusstes Reflektieren über die Lieder und das Singen ermöglichen. Optionen eines fächer- übergreifenden ästhetischen Arbeitens könnten dann ebenso realisiert werden wie die diffe- renzierte Einbeziehung neuer medialer Mög- lichkeiten. Solch ein veränderter Umgang mit Liedern könnte durch alltägliches Singen in der Schule zu einem emotional wichtigen Ritual

werden, das aber gleichsam eingebunden ist Fotos: Jürgen Terhag

 MUSIK ORUM 9 FOKUS

in eine konkrete Singlernsituation und in ei- In der Ausbildung von Erzieherinnen, dividuelle Zufluchts- und Verständigungsstätte“ nen pädagogisch oder sozial orientierten Unterstufenlehrern und Musikpädagogen waren, dass in Liedtexten, aber auch in Ges- Funktionszusammenhang. hatten vokalpraktische und methodische ten und im Habitus der Künstler nach Pers- Ausbildungsinhalte einen hohen Stellenwert. pektiven und Konfliktlösungsvarianten eige- Dies hatte zur Folge, dass in allen Klassenstu- ner Lebenssituationen gesucht wurde. Heute Von den unterschiedlichen fen auf hohem musikalischen Niveau gesun- hingegen orientierten sich viel Berufskolle- „Singvergangenheiten“ in gen wurde. Um so wichtiger ist es, hier auf gen nach Marktchancen, die Liedtexte wer- Ost- und Westdeutschland die besonderen Singkulturen von Kindern den unverbindlicher und damit belangloser. und Jugendlichen im Freizeitbereich hinzu- Barbara Thalheim: „Man kann singen von dem, Eine gute Singarbeit geschieht nicht im weisen. In der DDR gab es vielerorts freiwil- was einem gerade einfällt und auf der Seele luftleeren Raum, sondern sollte anknüpfen lige Singsituationen (Kinderferienlager, Fe- brennt, aber keiner hört mehr so richtig zu.“ an Sing- und Liedtraditionen der Schule, der rienspiele, Chor- und Singgruppenwerkstät- So war die Situation vor mehr als einem Region und des Landes. Von außen betrach- ten, Fest der Jungen Talente), Kinder führten guten Jahrzehnt. Einiges ist noch da von die- tet scheint sich in Ländern wie der Schweiz mit großer Begeisterung handgeschriebene sen Sichtweisen und wird vielleicht noch et- oder Österreich durch ein starkes regional- Liederbücher (Kopierer gab es nicht), ent- was bestehen bleiben. Die tiefgreifenden Ver- kulturelles Traditionsbewusstsein ein ande- warfen eigene kleine Kompositionen und änderungen in allen Lebensbereichen der res und intensiveres Singen in den Schulen kamen hierüber mit Freunden ins Gespräch. Menschen im Osten Deutschlands werden erhalten zu haben als in Deutschland mit jedoch auch ihre Spuren in der hier bewusst seinem Traditionsbruch des Volksliedsingens von mir überzeichneten „heilen Welt des Sin- nach den Missbrauchssituationen der faschis- gens“ hinterlassen. Kinder orientieren sich tischen Diktatur (z. B. das Zwangssingen in »…keiner hört mehr stärker an konsumorientiertem Denken, ent- deutschen Konzentrationslagern oder das wickeln neue Freizeitinteressen und sind weit- Singen in den Schützengräben des Kriegs) so richtig zu« reichenden Wandlungen in den Familien aus- und nach manchen politischen Verkrümmun- gesetzt. Diese Tendenzen beeinflussen bereits gen in den Zeiten der DDR, wo etwa in tra- Liedermacherin Barbara Thalheim jetzt das Singverhalten und die Einstellungen ditionellen Weihnachtsliedern das Wort „heilig“ zum Singen deutlich. durch das Wort „schön“ in Musikschulbüchern ausgetauscht wurde, um religiöse Zusammen- Von den neuen hänge im Unterricht nicht thematisieren zu Singeproblemen müssen. In Westdeutschland hat spätestens seit der Über das Singen gibt es nicht nur Positi- Veröffentlichung des Buchs Musik als Schul- ves und Aufstrebendes zu vermelden. Einige fach von Helmut Segler und Lars Ulrich Ab- wenige Probleme seien hier angedeutet: raham im Jahr 1966 und durch die musik- ˇ Singen entsteht in Singsituationen. Gibt ästhetischen Diskussionen, die durch Theodor es diese nicht mehr oder immer weniger, wie W. Adorno ausgelöst wurden, das Singen im z. B. Singen in den Familien, Feste, Feiern mit Musikunterricht eine andere Entwicklung religiösen Anlässen, aktiv gestaltete Kinder- genommen als im Osten Deutschlands. Auch geburtstage, Singwochenenden oder Ferien- über die politische Wende von 1989 hinaus camps, in denen man miteinander singt, wird blieb das Singen in den Schulen der neuen auch das natürliche Singen zurückgedrängt Bundesländer vielerorts die wichtigste mu- werden. ˇ sikpraktische Tätigkeit im Musikunterricht. Im Foto: Ute Mahler/barbara-thalheim.de Unsere Mediengesellschaft lädt weni- Westen Deutschlands hingegen ist es stiller ger zum Singen, eher zum Rezipieren, „Run- geworden um die Verfechter der „Singen tut So wurden durch die mündliche Verbreitung terladen“ und Abspeichern ein. Sich selbst nicht Not“-Positionen (Adorno). Mit neuen neue Volkslieder geboren, zu denen z. B. die mit seiner Stimme zu erleben, ist eher unüb- Generationen an Schulen und Hochschulen Lieder Mit dem Gesicht zum Volke (Schöne), lich geworden. hat hier wie dort ein neues Liedrepertoire Wer möchte nicht im Leben bleiben (Küchen- ˇ Immer weniger Eltern haben durch und haben veränderte Umgangsweisen mit meister/Schwaen) und Wer die Rose ehrt (Renft) berufliche Belastungen die Zeit, mit ihren dem Singen und der Stimme Eingang in die gehörten. Singen war vielerorts ein wirkliches Kindern kontinuierlich zu singen, sich mit ihnen Schulen gefunden. Bedürfnis, es kompensierte Einschränkungen gemeinsam ein Liedrepertoire aufzubauen. Während das Singen in Schulen der alten und Befindlichkeiten des Alltags und beglei- Dies ist aber die wichtigste Voraussetzung für Bundesrepublik durch die lieddidaktischen tete vielseitige Formen eines stärker auf Ge- gemeinsames Singen. Zu schnell kommt dann Diskussionen der sechziger und siebziger Jahre meinschaft und weniger auf Konkurrenzver- der Griff nach den so bequemen Liedkon- positive Impulse (kritisches Nachdenken über hältnisse ausgerichteten Zusammenlebens. serven. Liedtexte, Bewusstwerden der Gefahr ideo- Die Ostberliner Liedermacherin Barbara ˇ Der Musikunterricht in Deutschland logischer Manipulationen) erhielt, aber auch Thalheim hat den Umbruch in der Funktion insgesamt führt an vielen Schulen eher ein unter Legitimationszwängen durch zeitweise und im Gebrauch von Songs in der DDR hin Schattendasein, wird von fachfremd unter- Überakzentuierung rationaler Zugangsweisen zur BRD in einem Interview sehr treffend richtenden Lehrern abgehalten, die aktives beeinflusst wurde, war das schulische Singen beschrieben, als sie darauf verwies, dass zu Musikmachen selbst nicht gelernt haben und in der DDR eher durch (verordnete) Konti- DDR-Zeiten die Songs der Liedermacher für somit auch nicht weitergeben können oder nuität geprägt. viele jugendliche Fans so etwas wie eine „in- wollen.

 10 MUSIK ORUM A N Z E I G E

ˇ In der Ausbildung von Musiklehrern ist wollten eigenen vokalen Ausdruckswillen? nicht an jedem Ausbildungsstandort auch „Revivals sind in!“ Sich zu erinnern, Lie- gesichert, dass die professionelle Vermittlung der und Popsongs früherer Zeiten zu hören von Lieddidaktik und praktischer Singleitung (und zu singen) wird immer beliebter. Vielleicht auch wirklich stattfindet. Auswahlfreiheit in ließe sich hier, bei allem notwendigen kriti- der Lehre und Forschung ermöglicht es nach schen Hinterfragen von Liedtexten, durch die- wie vor, dass Hochschullehrer in den Lehr- se indirekten Liedvermittlungen so etwas wie veranstaltungen eher ihren Forschungs- eine Brücke zwischen Kinder- und Erwach- schwerpunkten und Interessenlagen nachge- senengenerationen schlagen? Kinder- und hen, als einen systematischen Lehraufbau – Wiegenlieder werden (trotz Berufstätigkeit auch für das Singen – zu realisieren. vieler Mütter und Väter) ja auch weitergege- ben. Von einigen Ideen für neue Durch die politischen Veränderungen ist Singeperspektiven eine „Öffnung“ für neue Kulturen möglich geworden, die sich in den vergangenen Jah- Schulalltag ist mehr denn je durch Dis- ren in Bemühungen um eine interkulturelle tanz und Unnahbarkeit gekennzeichnet. Musikpädagogik niedergeschlagen hat. „Neue Gleichzeitig bemerken Musiklehrer bei ihren Klänge“ finden so Eingang in unsere mittel- Schülern ein enorm gestiegenes Bedürfnis europäischen Singweisen und erweitern die nach emotionaler Zuwendung als Folge u. a. Möglichkeiten analytischer und musizierprak- veränderter Familienstrukturen. Gemeinsames tischer Singarbeit. Kinder können durch die Singen kann hierbei als emotionsgeladenes Beschäftigung mit den Liedern anderer Völ- Stimulans helfen, sowohl einen Gemeinschafts- ker und den dahinterstehenden Singtraditio- sinn unter den Kindern (z. B. gegenüber aus- nen auch fremde Kulturen besser verstehen ländischen Mitschülern) zu befördern als auch lernen. ein eigenes Selbstwertgefühl entwickeln zu Singen hat sich letztendlich aus elemen- helfen. Dies ist nicht zu verwechseln mit dem taren Lautäußerungen von Säuglingen, über „gemeinschaftszwingenden“ Ansatz der Mu- das Hören und Mitsingen von Wiegenliedern, sischen Erziehung, zumal dieser in anderen das Nachahmen von Alltagsgeräuschen und historischen und sozialen Zusammenhängen Stimmgebungen als Verständigungsmittel mit entwickelt worden ist. anderen Menschen zum eigentlichen Musi- Angehende Musikpädagogen müssen es zieren entwickelt. In der Schule wird das Sin- (wieder) lernen, bei einer Liedeinstudierung, gen plötzlich oft zu etwas „Besonderem“. Sich einer Liedgestaltung oder auch einer Lied- diese ursprünglichen Funktionsweisen des erörterung alle zur Verfügung stehenden Singens wieder bewusst zu machen und zu methodischen Mittel zu nutzen, um das Lied nutzen, darin sehe ich (wieder) neue mögli- und das Singen insgesamt als festen Bestand- che Chancen für das Singen nicht nur in der teil in der Schule zu etablieren. Singen ist eine Schule. elementare Tätigkeit; und nur über eine ele- mentare eigene Erfahrung kann man auf Weiterführende Überlegungen zu dieser Thematik sind andere ästhetische Bereiche zugehen. Auch im Erstabdruck dieses Beitrags in der Praxiszeitschrift das Singen muss genauso wie die Beherrschung „mip-journal“ 12/2005 unter dem Titel Singen – ein der Stimme geübt werden. Und insofern ist altes/neues Thema für den Musikunterricht zu finden. das kontinuierliche Training von der Vorschule Der Abdruck dieser verkürzten und überarbeiteten Fassung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der bis hin zur 13. Klasse notwendig. Helbling Verlagsgesellschaft mbH. Je mehr Technisierung in Form z. B. von Musikcomputern, Videospielen und musika- lischen Fertigprodukten in den Alltag der Die Autorin: Prof. Dr. Birgit Jank, Sprecherin der Konferenz Musik- Kinder und Jugendlichen eindringt, desto pädagogik an Wissenschaftlichen Hochschulen (KMPWH), schneller könnten diese Angebote zur nor- stellvertretende Bundesvorsitzende des Arbeitskreises malen (somit auf die Dauer auch langweili- für Schulmusik (AfS) und Mitglied des Bundesfachaus- gen) Realität werden. Die Suche nach Neu- schusses Musikalische Bildung, lehrt an der Universität Potsdam Musikpädagogik und Musikdidaktik und hat em liegt dann vielleicht (wieder) beim eigenen sich in der Forschung mit Liedermachern und Fragen hand- und stimmgemachten Auseinanderset- der Lieddidaktik auseinander gesetzt. zen mit Musik. Ist das Karaoke-Singen (nicht zu verwechseln mit der vermarkteten Version der „Mini-Playback-Show“) vielleicht der Be- ginn einer neuen Synthese zwischen techni- schen Medien (Gesangsanlagen in Mini-For- mat, viele Möglichkeiten der digitalen Bear- beitung der eigenen Stimme) und einem ge- FOKUS

Jedem Kind SEINE

ch singe, also bin ich“, sagen Ulrich Rademacher über „singende Grundschulen“ in „ISänger selbstbewusst. Singen: Münster und den Handlungsbedarf „in Sachen“ Gesang das ist neben Trommeln und Tanzen das urtümlichste, das persönlichste (im wahrsten Sinne Riss in der Tradition gesichts der fürchterlichen Erinnerungen, die des Wortes „personare“) Mittel, sich plötzlich selbst mit Liedern und Liedtex- sich musikalisch ohne Prothese zu Wir haben das Singen gründlich verlernt! ten einstellten, die nicht notwendigerweise äußern. Schon Johann Gottlieb Seume hätte wissen mit nationalsozialistischem Gedankengut in müssen, dass sein Spruch „Wo man singt, da Zusammenhang gebracht werden mussten. Und es ist das vom ersten Babyblubbern lass dich ruhig nieder, böse Menschen ha- Singen überhaupt im Assoziationsfeld von an selbstverliebteste, das alles auszudrücken ben keine Lieder“ der Wirklichkeit nicht stand- Mutter, Gefühl, Heimat, Herkunft, Zusam- vermögende, das für Autisten unter der Du- halten würde. Spätestens aber während der mengehörigkeit: Dies alles war für aufgeklärte, sche und Gemeinschaftstiere im Bad der Nazizeit verlor das Singen seine Unschuld, „adornisierte“ Nachkriegskinder eine Katastro- Menge ebenso adäquate, das ungeschliffe- erlebte der Missbrauch seinen traurigen Hö- phenmischung. Musik in der Schule sollte nes Dampf-Ablassen und höchste Kunst ein- hepunkt. allenfalls Gegenstand von Analysen und Er- schließende, Menschen aller Kulturen gemein- Das allumfassende „Nie wieder“ der Deut- kenntnisanstrengungen sein, wo immer mög- same, Menschen aller Generationen verbin- schen bedeutete für das Singen ein grund- lich ungetrübt von Rührung, Gänsehaut und dende … einzige Mittel, sich musikalisch sätzliches Misstrauen gegenüber allen unref- sonstigen Gefährlichkeiten. auszudrücken. lektierten Emotionen. Die Uhr auf die Zeit Die Musikwelt begann, sich noch radika- Nach diesem Loblied auf den Gesang: vor 1933 zurückzudrehen, das musikalische ler als vor 1933 auseinander zu entwickeln Warum ist das Singen so etwas wie ein Erbe der Reformpädagogik mit den Ideen eines – zwischen extremer Intellektualisierung und „Patient“ geworden? Warum besteht Hand- Leo Kestenberg oder Fritz Jöde wieder aufle- Isolierung der E-Musik im Dunstkreis enger lungsbedarf? ben zu lassen, scheiterte nach dem Krieg an- Zirkel etwa in Donaueschingen, Witten und

 12 MUSIK ORUM Beispiel in den Kirchen, besonders eindrucks- reiche Texte unbegleitet a cappella singen, voll hier etwa die Lieder aus Taizé. Eine ganz an vielen Schulen existieren Schülergruppen, andere Überlebenschance hatten Lieder, die die ihnen mit großer Begeisterung nachei- STIMME durch ihre Herkunft aus einem anderen fern. Kulturraum, durch eine fremde Sprache, durch Im Singen steckt also Power. Und je mehr Benutzung einer absichtlich „kaputten“ Stimm- alle daran teilhaben, desto geringer ist die färbung wie in Blues und Rock oder durch Gefahr eines Missbrauchs etwa durch Lieder bissige, ironische, aggressive Texte Möglich- mit rechtsradikalem Gedankengut. Singen keiten zur Distanzierung boten. sollte und könnte wieder Selbstverständlich- keit werden in Familie, Kindergarten, Schu- Lichtblicke le, Verein, Kirche und natürlich in Chören: Eine Selbstverständlichkeit, die einzuüben Immerhin gibt es aber auch Chancen und keineswegs nur spezialisierten Profis überlassen Lichtblicke, die Mut machen. Kinder und El- werden kann. Oder haben wir etwa das Spre- tern wollen massiv singen lernen, zum Bei- chen vom Logopäden, den aufrechten Gang spiel als ambitionierte Chorsänger für mehr vom Orthopäden, das Händewaschen und Spaß, Ermüdungsfreiheit und Intonations- Zähneputzen von Fachärzten gelernt? sicherheit, im Rahmen der Selbsterfahrungs-, Gesundheits-, Psycho- oder Wellness-Welle Jetzt handeln! oder auf dem (erträumten) Weg zum Musi- calstar. Aus obigen Betrachtungen zur Geschich- An der Westfälischen Schule für Musik in te, aus der Bestandsaufnahme und dem Aus- Münster könnte bei entsprechender finanzi- blick lassen sich folgende Forderungen und eller Ausstattung und angeleitet durch einen Handlungsempfehlungen ableiten: gut ausgebildeten charismatischen Chorlei- ˇ Fortbilden: Als Soforthilfe, damit nicht ter jeden Monat ein neuer Kinderchor ge- noch weiteren fünf oder zehn Jahrgängen das gründet werden. Im so genannten Projekt- „Grundnahrungsmittel Singen“ vorenthalten bereich, der neben der klassischen, langfristigen wird, brauchen wir eine Multiplikatorenaus- Musikschularbeit zeitlich begrenzte Kurse und bildung für das Thema „Singen mit Kindern“ Workshops anbietet, begannen wir vor zehn in Form einer Fortbildung für Lehrer und Jahren mit Gesangs- und Stimmbildungskur- Erzieherinnen. Es gibt eine Vielzahl fachfremd sen, die so vehement nachgefragt wurden, unterrichtender und musikbegeisterter Erzie- dass inzwischen zwei damalige freie Kursdo- herinnen, für die sich eine „Nachrüstung“ loh- zenten mit vollen Klassen eine Festanstellung nen würde. Hier könnten die Musikschulen bekommen haben. vor Ort – wegen der räumlichen Nähe zu Wenn wir – wie bei der Fußball-WM – Schulen und Kindergärten – in Zusammen- wieder fröhlich Flagge zeigen dürfen, wenn arbeit mit Schulmusikern wahrscheinlich am Grundnahrungsmittel Singen: Der Kinder- Liebe zu Vaterland oder Muttersprache, Iden- besten und schnellsten aktiv werden. chor „Die Kolibries“ der Westfälischen Schule tifikation oder gar Stolz im Zusammenhang ˇ Sammeln: Die Fachverbände der Ge- für Musik der Stadt Münster unter der Leitung mit Heimat mit Achtung und Faszination ge- sangspädagogen, der Verband deutscher Mu- von Mareile Reuther. Foto: Angelika Schröer genüber Fremden harmoniert, wenn Zeitungen sikschulen (VdM) und der Verband Deut- „Wir sind Papst“ schreiben dürfen, wird auch scher Schulmusiker (vds), sollten gemeinsam den dritten Rundfunkprogrammen einerseits der Widerstand gegen das Singen von Lie- lokale Aktivitäten bündeln, die anspruchsvolle und extremer Banalisierung zwischen Musi- dern abnehmen, die Herkunft und Heimat und gut zu vermittelnde Kinderlieder – loka- kantenstadl, Ralf Siegel und Musicalschein- thematisieren. Der Markt entdeckt die Kin- le, regionale und internationale – sammeln, welt andererseits. Einen Bartók etwa, der seine derlieder neu. Autoren wie Rolf Zuckowski, um sie allen Interessierten zur Verfügung zu Neue Musik auf den Fundamenten von Volks- Felix Janosa, Detlef Jöcker und Jörg Hilbert stellen. musik aufbaute, gab es in Deutschland nicht. komponieren und produzieren erfolgreich. ˇ Musiker in den Ganztag: Für das Pro- So saßen und sitzen Generationen, die ihr Die Fachverbände der Gesangspädagogen, jekt der offenen Ganztagsschulen sollten BAT- Deutschsein wann immer möglich versteck- Schulmusiker und Musikschulen haben das Stellen im Übermittag- und Nachmittagsbe- ten, bei Schüleraustausch, Städtepartnerschafts- Thema entdeckt und widmen ihm mehr und reich nicht nur für Sozialpädagogen, die die treffen, Geschäftsevents mit ausländischen mehr Fortbildungen, Kongresse, Veröffentli- Betreuung sicherstellen, geschaffen werden, Partnern meistens beschämt und stumm da, chungen. sondern auch für Musiker, die so auf einzig- wenn die anderen voller Inbrunst oft mehr- Beim „Jugend musiziert“-Wettbewerb, der artige Weise alle Kinder erreichen könnten: stimmig und mehrstrophig ihre Lieder san- mehr als 30 Jahre lang glaubte, ohne das Sin- für eine breite Musikalisierung mit Liedern. gen und die unausweichliche Frage folgt: „Jetzt gen auszukommen, gibt es seit einigen Jah- ˇ „Wertewandel“ in den Hochschu- singt ihr einmal etwas Deutsches!“ Da ist wirk- ren die Kategorie Gesang, übrigens mit der len: An den Musikhochschulen dürfen die lich eine Tradition fast unumkehrbar unter- schönen Herausforderung, ein Volkslied Fächer Kinderchorleitung, Kinderstimmbil- brochen! unbegleitet zu singen. dung, Repertoirekenntnis von Kinderliedern, Überlebt haben Lieder in geschlossenen Es gibt ausverkaufte Konzerte von Grup- Begleiten von Kinderliedern etc. nicht weiterhin Kreisen mit hohem Identifikationsgrad – zum pen wie den „Wise Guys“, die freche, geist- als Abfallprodukte eines klassischen Gesangs-,

 MUSIK ORUM 13 FOKUS

Dirigier-, Instrumentalstudiums etc. angese- richt pro Woche an, an dem Kinder unter- hen werden. schiedlicher Klassen und Jahrgangsstufen teil- Die Wertigkeit dieser Fächer muss sich auch nehmen. Diese Kinder sollen in ihren Klas- darin niederschlagen, dass hauptamtliche Pro- sen als „Multiplikatoren“ dienen, um ge- fessoren mit der Vermittlung beauftragt wer- meinsam im regulären Klassenunterricht mit nde Februar 2005 entstand den, die auch das Fach langfristig wissenschaft- dem Klassenlehrer diese Stücke als „musika- lich betreuen und in der Öffentlichkeit mit lische Inseln“ im Schulalltag singen zu kön- E in Deutschland mit dem Vehemenz vertreten. Dies ist durch schlecht nen. Die Kinder müssen vorsingen, um in „Deutschen Chorverband“ eine bezahlte und daher öfter wechselnde Lehr- den Chor aufgenommen zu werden. Die neue geschlossene Bewegung beauftragte alleine nicht zu erreichen. In den Teilnahme am Chor ist für die Kinder kos- für das Singen in Chören. Ihr neuen Bachelor- und Masterstudienordnun- tenlos. erster „Chef“: Henning Scherf, gen müssen Module wie Stimmbildung, Re- Flankierend dazu wird 14-tägig mit dem der ehemalige Bremer Bürger- pertoirekenntnis, Lied, Lieddidaktik etc. ei- Lehrerkollegium an denselben Liedern und meister. nen hohen und prüfungsrelevanten Stellenwert gleichzeitig an Möglichkeiten von Liederar- bekommen. beitung, Liedbegleitung und Nutzung von Damals hatten sich – auf getrennten Schließlich ist nach Umsetzung des Bolog- Medien gearbeitet. So auch im Umgang mit Sängertagen – der Deutsche Sängerbund na-Prozesses auch darauf zu achten, dass die der eigenen Stimme geübt und mit Selbstbe- und der Deutsche Allgemeine Sängerbund Hochschulen nicht nur in herausragende und wusstsein ausgestattet, werden die Lehrer er- in einstimmig gefassten Beschlüssen dafür charismatische Spitzenmusiker, sondern auch muntert und unterstützt, das Singen als tägli- entschieden, gemeinsam in die Chorzu- in ebensolche Pädagogen investieren – und che musikalische „Grundnahrung“ mit in den kunft zu gehen. Scherf übernahm die erste nicht wie bisher massenhaft in ein Mittelmaß, Schulalltag einfließen zu lassen. Im Rahmen Präsidentschaft der Sänger-Allianz, wur- das weder zum liebevollen, leidenschaftlichen der Fortbildung wird ein Liedrepertoire von de die „Stimme“ für deutsche Stimmen. und professionellen Pädagogen noch zum etwa 20 Liedern aus Bereichen wie Begrü- Über den Wert und die Potenziale des überzeugenden und brillanten Künstler taugt. ßung, Bewegung, aus aller Welt, Jahreszeiten Singens sprach mit ihm für das MUSIK- etc. erarbeitet. Die Fortbildung ist für die Dauer FORUM Christian Höppner. Ein guter Weg eines Schuljahres konzipiert. Vom Regierungschef des Landes Das Singen kommt in der Menschheits- Überraschung Bremen zum Präsidenten des Deutschen entwicklung und bei jedem Kind vor dem Chorverbands, wie geht das? Sprechen. Kinder, die sich trauen, die sich Schönstes und überraschendes Ergebnis Henning Scherf: Das ist eine unge- mit ihrer Stimme gerne selbst wahrnehmen, in der ersten Modellschule: Als sich die Schul- wöhnliche Karriere. Ich habe mir schon die Freude an Ausdruck und Emotion haben, gemeinde zum Jahresende in der Pausenhal- lange während meiner aktiven sich über ihre Stimme, über Rhythmus und le versammelte, war zunächst der erste klei- Zeit überlegt, was ich mache, Bewegung zu äußern lernen – solche Kinder ne Auftritt des neuen Kinderchors eingeplant. wenn ich aufhöre. Ich wollte haben das Zeug, eine „Person“ zu werden, sich Womit keiner gerechnet hatte: Alle 450 Schü- immer etwas Gemeinnützi- selbstbewusst Gehör zu verschaffen, Gefühl ler, die innerhalb des Konzepts die Lieder in ges, etwas Kreatives und und Verstand auszubalancieren, kommu- ihren Schulalltag eingebaut hatten, sangen möglichst auch Kommuni- nikationsfreudig zu sein, ohne sich zu verlie- plötzlich mit und schafften so ein bisher nicht katives tun. ren. dagewesenes intensives Gefühl von Freude Wenn wir eine breite Musikalisierung wol- und Zusammengehörigkeit. Davon kann eine len, müssen wir beim Singen ansetzen. Auch Schule nur träumen. weil es der niederschwelligste Einstieg in die Welt der Musik ist, ohne Kosten für Instru- Finanzen mente und teuren Einzelunterricht. Alles andere lässt sich darauf aufbauen. Jede even- Für die Ausdehnung auf alle ca. 50 Grund- „Aktiv bleiben tuelle instrumentale Aktivität wird anders schulen Münsters wären vier bis fünf Stellen und singen“: „geerdet“ sein, wenn sie auf Singen, Bewe- neu zu besetzen – zurzeit nur vorstellbar als Henning Scherf, heute gung und Rhythmus gründet. gemeinsame Anstrengung von Kommune, Präsident des Deutschen Chorverbands, war von In Münster haben wir mit dem Projekt Land und Sponsoren. Aber, der Grundstein 1995 bis zu seinem „Singende Grundschule“ einen Weg gefun- ist gelegt… und: Gibt es eine schönere und Rücktritt 2005 Bürger- den, der im Norden der Stadt das Ziel, jedes lohnendere Herausforderung? meister und Präsident Grundschulkind mit Gesang zu erreichen, des Senats der Freien schon beinahe zu 100 Prozent erreicht. Und Der Autor: Hansestadt Bremen und das in einem sozialen Brennpunkt mit Kin- Prof. Ulrich Rademacher, seit 1989 Direktor der West- von 1978 bis 2005 dern aus über 20 Nationen! Das macht fälischen Schule für Musik in Münster, ist Leiter einer Mitglied der dortigen Liedklasse an der Musikhochschule Köln/Wuppertal. Als Landesregierung. Münster Mut, dieses ehrgeizige Ziel für das Pianist und Dirigent war er international tätig in Konzer- Foto: Peter Adamik ganze Stadtgebiet zu setzen: Jedem Kind sei- ten und bei CD- und Funkproduktionen u. a. bei Virgin/ ne Stimme. EMI, Musicom, DLV, SWR und WDR. Bildungs- und In den beteiligten Schulen bietet eine kulturpolitisch engagiert er sich im Bundesvorstand des Verbands deutscher Musikschulen (VdM), im Arbeitskreis Chorleiterin der Westfälischen Schule für „Musik und Gesellschaft“ sowie im Projektbeirat „Jugend Musik zwei Stunden kostenlosen Chorunter- musiziert“ des Deutschen Musikrats auf Bundesebene.

 14 MUSIK ORUM Chorpräsident Henning Scherf im Gespräch Die Stimme DER DEUTSCHEN STIMMEN

Da bin ich auf viele Sachen gekommen, z. B. auf ein großes Kulturprojekt mit meiner Frau in Panjatu in Nicaragua, zusammen seligkeiten zusammengeschlossen haben mit Dietmar Schönherr. Dort und ich der Richtige sei, der diesen gibt es ein Projekt in zwei Musik- Zusammenschluss nun repräsentieren schulen, wo mit 800, manchmal könne, habe ich zugestimmt. sogar 1000 Kindern aus Elends- Seitdem ich aus dem Amt des Bürger- quartieren gesungen wird. Das meisters ausgeschieden bin, habe ich ein hat großen Eindruck bei mir hin- neues Leben begonnen. Da passt die terlassen. Als dann Heinz Albrecht neue Rolle als Chorpräsident gut hinein, nach einem Nachfolger suchte weil sie lebendig ist. So hat sich mein und mich fragte, da wehrte ich lieber alter Freund Thomas Quasthoff erst mal ab. Nachdem er mir gewinnen lassen und präsentiert jetzt aber sagte, dass sich die bürger- unser großes Erfolgsprojekt, den „Felix“, liche Sängerbewegung und die das Gütesiegel des Deutschen Chorver- Arbeiter-Sängerbewegung bands, mit dem Kindertagesstätten aus- nach generationen- gezeichnet werden, die in besonderem langen Feind- Maß die musikalische Entwicklung von Drei- bis Sechsjährigen befördern. Inzwi- schen haben wir 2000 Medaillen verlie- hen, beispielsweise an einen wunderbaren evangelischen Kindergarten in Olden- burg. Dort habe ich gemerkt, dass es die Kinder anspricht, dass wir die Musik- sprache für Kinder und die Hilfsmittel gefunden haben, mit denen Kinder Zugänge zur Musik finden. Die Kinder- gärtnerinnen nehmen das sehr dankbar auf, freuen sich, dass sie eine Anleitung bekommen und hoffen, dass wir sie weiter unterstützen. Das ist etwas Span- nendes, wenn wir endlich wieder chor- fähige, singende Kinder in den Schulen bekommen, die dann von sich aus die Lehrer fragen: „Wo ist denn hier der Schulchor?“

Ich habe selten einen Verbands- präsidenten so begeistert von seiner Arbeit erzählen gehört. Es klingt fast nach Schla- raffenland. Bestimmt gibt es auch Felder, wo Sie noch Baustellen sehen im Prozess des Zusammenwachsens der großen Sängerbünde… !

 MUSIK ORUM 15 FOKUS

Scherf: Ja sicher, wir haben große die uns nach außen hin verkörpern. Dialog“ beschäftigt. Sehen Sie Bedarf beim Diskrepanzen in den Verbänden und Wir wollen mit den Profis etwas zusam- stark in der Bevölkerung verwurzelten Deut- Landesgruppen. Schauen Sie nur nach men machen, wollen nicht Laienmusik schen Chorverband, stärker in Begegnungen Schwaben und Baden: Dort finden Sie von professioneller Musik prinzipiell unter den Kulturen zu investieren? große 150 bis 175 Jahre alte Verbände abgrenzen. Scherf: Ich will mal Frust loswerden: mit großen Chören, mit großer Geschäfts- Ich glaube, die Deutsche Chorbewegung stelle, mit eigener Zeitung. Die verfügen Sie beschreiben Ansätze und Pro- hat im letzten Jahrhundert zwei Katastro- über mehr Mittel als der Bundesverband. jekte, die stark in die Gesellschaft hineinwir- phen erlebt. Die dramatischste war die Im Vergleich dazu müssen die Sänger in ken. Ist da der Sprung nach Berlin gleich- Nazizeit, die das Singen instrumentalisiert den neuen Bundesländern ganz schön bedeutend mit einem gestiegenen Anspruch hat. Die Nazis haben das Singen zum herumkrebsen. Dort gibt es noch richtige nach gesellschaftlicher Wirksamkeit? Haben Formieren der Gesellschaft, der Apparate, Pioniere, die sich zum Teil aus der DDR- Sie konkrete politische Forderungen, etwa der Kampf- und Kriegslust gebraucht Zeit herübergerettet haben und die sich im Zusammenhang mit der Ausbildung und haben es richtig niedergemacht. jetzt endlich wieder entfalten können. von Kindergärtnerinnen? Die zweite Katastrophe: 1968 hat die Und dann gibt es eben auch den Pro- Scherf: Das ergibt sich fast automa- APO – als Antwort auf die Nazizeit – zess der sehr unterschiedlichen Chorkul- tisch. Aber: Wir sind kein politischer Ver- den Anspruch gehabt, das aufzudecken, turen in der alten bürgerlichen Sängerbe- band. Ich will eigentlich nicht immer nur was andere verdrängt hatten. Das Singen wegung und in der allgemeinen Sänger- als Politiker wahrgenommen werden. wurde dämlicherweise zu einer reaktio- bewegung, der Arbeiter-Sängerbewegung. Wir sind in erster Linie der Dachverband nären Veranstaltung erklärt. Darunter Diese müssen wir mit Geduld und mit einer großen deutschen Chorbewegung. leiden wir noch heute. Eine ganze Gene- personalpolitischem Geschick, mit Respekt Wir müssen überlegen, was wir unseren ration von singenden Eltern, Lehrern und für die unterschiedlichen Identitäten, Kul- Chören an Dienstleistungen bieten, denn Erziehern ist uns durch die APO von der turen und Landsmannschaften behandeln. die bezahlen mit ihren Beiträgen unsere Fahne gelaufen. Das müssen wir jetzt In diesem Zusammenhang haben wir Kosten. Sie sind eigentlich unsere Arbeit- kompensieren. Wir müssen wieder rich- uns auf einige Schwerpunkte verständigt: geber und haben das Sagen. Wichtig ist tig von unten anfangen und dieses Loch, Zunächst wollen wir als regelmäßiges An- darum in erster Linie: Wie kann man die diese ausgefallene Generation von Sän- gebot eine Chorleiterschulung für die Chorbewegung in Deutschland wieder gern, wieder schließen. Das ist eine riesige ganze Republik durchführen – da waren nach vorne bringen? Wie kann man sie Arbeit und da haben wir erst begonnen. wir uns alle einig, denn die letzte in Erfurt stärken, wie kann man ihr Rückenwind Musisch zu sein, heißt eben nicht nur, war ein Riesenerfolg. Zudem wollen wir geben, wie kann man Erfolgserlebnisse im hoch qualifizierten und technischen nationale Chorfeste veranstalten – mit und Auftrittsmöglichkeiten vermitteln? Sinn, ein Mozart-Violinkonzert zu meistern, beweglichen Zielen und Inhalten. Feste, Haben wir darauf Antworten und der sondern auch, Begeisterung zu wecken. bei denen wir uns auch verbandlich zu- Funke springt über, dann sind die Sänger Das hat etwas Lebenserhaltendes, das ist sammentun können. Und zwar alle, nicht in der Tat alle Botschafter, aktive Leute, Basis für kulturelle Vermittlung. nur die Stars, die auf den Chorwettbe- die überall ihren Mund aufmachen kön- werben nach den ersten Preisen gucken, nen, in den Kindergärten, in den Schulen, Der demografische Wandel ist in also auch die Breitenmusik. Da soll sich in den Gemeinden. Leute, die überall der Chorszene in aller Munde. Wie sieht es ein richtiges Programm entfalten, das eine sagen können: Wir sind ein wichtiger Kul- aus: Mischen sich beim Singen die Genera- ganze Stadt verzaubert. Ich stelle mir vor, turteil und wollen kein politisches Mauer- tionen oder geht man sich aus dem Wege? dass wir hier einen Vorläufer für den Kir- blümchen-Dasein mehr führen. Scherf: Ich kenne sehr viele Ältere, chentag bilden. Der Kirchentag kommt Übrigens brauchen wir auch die ver- die sich freuen, wenn sie mit Kindern 2009 nach Bremen und ich möchte gerne, lässliche Unterstützung in der Schule. Wir singen dürfen. Sie sind auch bereit, in die dass wir mit den Chören ein Jahr vorher sind ja die klassische Lobby für Musik- Kindergärten zu gehen, blühen dabei diese Stadt in Chorstimmung versetzen. unterricht in den Schulen und die klassi- richtig auf. Und daraus schließe ich, dass Dass wir rausgehen aus den Kirchen und sche Unterstützung für den Ausbau von die Generationenfrage kein prinzipielles Konzertsälen, dass wir auf den Plätzen pädagogischen Ausbildungs-Einrichtungen. Problem ist. Vielmehr geht es nur darum: singen, dass wir auch im Alltag singen, Und natürlich werden wir auch mithalten, Wie richte ich das gemeinsame Singen dass wir ein offenes großes Publikum mit wenn es darum geht, das Erziehungsdefizit ein, wie organisiere ich es? Wie schaffe anspruchsvoller Chormusik erreichen. in unserer Gesellschaft zu benennen. Und ich es, die älteren Semester mit jungen Demnächst möchten wir mit dem Chor- zu fragen, ob es die formale Wissensver- Leuten zusammenzubringen? Hier rate verband von Köln nach Berlin umziehen, mittlung oder aber die Vermittlung von ich immer: Geht in die Schulen, geht in wobei wie diesen Umzug möglichst nicht Schlüsselkompetenzen ist, die einen Heran- die Kindergärten! Da sind die Kinder, alleine machen wollen. Wir träumen da- wachsenden in die Lage versetzt, sich auf dort gibt es Frust und Langeweile, die von, in Berlin ein nationales Zentrum für unterschiedliche Lebenslagen einzustel- vielleicht durch etwas Gesang abgebaut die große deutsche Laienmusikbewegung len und ein Leben lang zu lernen. werden können. zu gründen, freilich mit dem Ehrgeiz, auch die Profis dabei zu haben. Wir leben von Sie sind Erstunterzeichner des 2. den Profis, die Profis sind oft unsere bes- Berliner Appells, der sich mit dem Paar Hören Sie das gesamte Interview mit Henning Scherf ten Chorleiter, unsere Vorbilder und die, „kulturelle Identität“ und „interkultureller auf: U www.musik-forum-online.de

 16 MUSIK ORUM Neue Protagonisten des Singens in Deutschland: Mit frischem Repertoire lassen Jazz- und Gospelchöre – hier der Hamburger GrooveChor – immer mehr von sich hören. Foto: Jan Karow

ie Talsohle scheint durch- „Dschritten“, freut sich Norma Enns, Gesangspädagogin an der Hochschule für Musik und Theater in Hannover, und sieht – nach langer „Durststrecke“ – einen leichten Aufwärtstrend für das Singen in Deutschland und den Gebrauch der Stimme.

Norma Enns misst die Situation des Sin- gens in der Gesellschaft an der Elle des halb leeren bzw. halb vollen Glases und schränkt mit gedämpftem Optimismus ein: „Das Glas Trendwende ist mit Sicherheit nicht voll. Andererseits lässt sich das viel zitierte Umfrageergebnis, wo- IN DER »STIMM-LAGE«? nach nur 22 Prozent der Deutschen viel und gerne, dagegen 78 Prozent nur hin und wieder, selten oder nie singen, unterschiedlich ausle- Kongress bei der Bundesschulmusikwoche fordert neue gen.“1 Immerhin sei die Mitgliederzahl der Sänger „relativ groß“, was einfach Mut ma- Anstrengungen für ein Revival des Singens. che. Gesangspädagogin Norma Enns sieht gute Chancen… In der Tat ist in den vergangenen Jahren viel gegen den Schwund des Singens getan worden, etwa mit dem Engagement der Be- rufsverbände der Gesangslehrer. Und das Bemühen kulminierte jetzt noch bei einem Welche konkreten Anzeichen gibt es Sie arbeiten als Gesangspädagogin an Kongress anlässlich der 26. Bundesschulmu- dafür, dass wieder mehr gesungen wird? der Hochschule für Musik und Theater in sikwoche in Würzburg, die unter dem Mot- Norma Enns: Konkret kann man das Hannover und sind bei Aufnahmeprüfungen to „Stimme(n)“ stattfand.2 Vielstimmig wur- an den Gospelchören erkennen. Die gibt jeweils mit etwa 100 Interessenten konfron- den dort Anstrengungen gefordert, um mit es wirklich aller Orten und an allen Ecken. tiert. Hat die Qualität der Stimm-Interessierten Maßnahmen auf der Ebene der Schul- und Das sind Laienchöre, im Sinne der früheren abgenommen? Sozialpolitik und der Musikpädagogik sowie Orts- oder Dorfchöre und Gesangsvereine, Enns: Wer da zur Aufnahmeprüfung in der Praxis der Kindertagesstätten allen Men- die sich sehr viel mit modernem Repertoire kommt, das hängt auch von der Attraktivi- schen einen Zugang zur Musik und zum befassen. Ich denke, dass ist eine Mut tät eines Kollegiums und eines Studienorts Gesang zu verschaffen. machende Bewegung. ab. Es lässt sich ja nicht verheimlichen, dass Hannover eine sehr gute Gesangsabteilung Musik mit der Stimme – Ursprünglich, gerade im 19. Jahr- hat. Und wir stellen fest, dass unser verjüng- nicht selbstverständlich hundert, war das Singen in unserem Land ein tes Kollegium durchaus ein neues Klientel großer Identifikationsfaktor. Wo steht, inter- anzieht. Die vorausgegangene Bestandsaufnahme national gesehen, das deutsche Singen heute? war noch nüchtern ausgefallen: „Kaum ein Enns: Es ist sicherlich sehr schwierig, Allgemein werden fehlende Männer- anderes Land in Europa hat ein so gespalte- Vergleiche anzustellen. In vielen Ländern Stimmen beklagt? Zurecht? nes Verhältnis zum Singen wie Deutschland“, kann man feststellen, dass die Beziehung Enns: Grundsätzlich ist das Berufsbild heißt es in einem Statement des Verbands zum Singen ungebrochen ist. Dort gibt es des Sängers weniger landläufig als das Deutscher Schulmusiker (vds). „Weder für eine andere Singfähigkeit und Singdyna- Berufsbild der Sängerin. Das hat mit den Eltern noch für LehrerInnen oder Erziehe- mik, zum Beispiel in den skandinavischen Unsicherheiten des Sängerberufs zu tun. rInnen scheint es selbstverständlich zu sein, Ländern. Das viel zitierte finnische Schul- Natürlich ist es schwieriger, auf diese Weise Musik mit der Stimme zu machen.“ system hat das tägliche Singen für alle eine Familie zu ernähren. Letzten Endes Ist die nationale „Stimm-Lage“ wirklich so Kinder. Dort gibt es natürlich ganz andere gehen die Männer aber mit offenen Augen angespannt? Hans Bäßler sprach mit Nor- Voraussetzungen im Vergleich zu dem, und sehr leidenschaftlich in den Beruf ma Enns. was wir in Deutschland haben. hinein. !

 MUSIK ORUM 17 FOKUS

Wie sieht es mit der Vorbildung der Enns: Im Grunde ist es ja auch gut und Interessierten aus, die sich zur Aufnahmeprü- richtig, in der Ausbildung erst einmal eine fung melden. Sind die Bewerber aus den Ost- »Die Singarbeit Basis zu schaffen. Irgendwann muss man blockländern besser vorbereitet als deutsche dann aber sehen, ob eine Stimme diese Studierende? oder jene Begabung hat. Bestimmte Men- Enns: Das ist nicht nur eine Frage der an den Schulen schen eignen sich auch hervorragend für Ostblockländer, sondern überhaupt der Pädagogik, weil sie alles hinterfragen oder Internationalität in der Bewerberlage. Hier weil sie ein ganz besonderes Interesse an haben wir die Schwierigkeit, dafür sorgen ist eine bestimmten Stellen entwickeln. zu müssen, dass für deutsche Studierende überhaupt eine Basisausbildung möglich Um die Ausgangssorge noch einmal wird. Das wird an verschiedenen Hoch- Schlüsselstelle… anzusprechen: Gibt es im Jahr 2030 nicht schulen unterschiedlich gehandhabt. In mehr genügend Sänger auf den Bühnen der Hannover haben wir es uns auf die Fahne Konzertsäle und Opernhäuser? Oder wird geschrieben. sich alles richten? Enns: Pierre Boulez hat ja schon vor Die größten Begabungen scheinen im vielen Jahren gesagt, dass man die Opern- Moment ja aus China zu kommen… häuser alle sprengen müsste, weil sich die Enns: Ja, es gibt viele Bewerber aus Oper überlebt hat. In diesem Punkt hat er China, Korea und Japan, die wunderschöne sich selbst schon längst revidiert. Immerhin Stimmen haben. Die aber auch wahnsinni- hat er viel zu stark mit guten Aufführungen ge Hürden überwinden müssen, wenn sie dagegen gearbeitet. Ich denke einfach, dass in Deutschland Karriere machen wollen: sich die Kunstform gut erneuert hat, bei- die völlig fremde Sprache und der fremde spielsweise in der Regie oder in den päda- Klang der europäischen Sprachen – Dinge, gogischen Programmen, die die Opern die sie eifrig lernen müssen. Andererseits heute bieten. haben viele asiatische Bewerber bereits Natürlich ist das längst nicht genug. Hier eine Grundausbildung, quasi schon einen geht es auch um die Verantwortung, der Bachelor-Abschluss. sich die Pädagogen an den Schulen stellen müssen. Ich glaube, die Schulen haben es Reicht es heute eigentlich aus, traditio- heute wirklich schwierig. nellen Gesang studiert zu haben, oder werden Um so wichtiger war ein Kongress wie neue Anforderungen gestellt, etwa im Hinblick der des vds in Würzburg, wo auch mal auf Neue Musik oder den Umgang mit der zum Ausdruck kam, welche Schwierigkeiten Stimme in der Alten Musik? die heutigen Musiklehrer haben, gerade im Enns: Das Problem ist, dass die Gesangs- Hinblick auf den Gesang. Vielfach sind die pädagogik ganz woanders anfängt als die Kinder in der Popmusik sozialisiert und die Ausbildung für Instrumentalisten. Dennoch Lehrer haben da Schwierigkeiten, den klas- müssen wir am Ende die gleiche Qualität Glückliche EVTA-Präsidentin: Norma Enns sischen Klang zu vermitteln. Die Singarbeit anbieten, was bedeutet, dass wir sehr schnell beim Abschluss des Kongresses der Euro- an den Schulen ist eine Schlüsselstelle. und konzentriert arbeiten müssen, um qua- pean Voice Teachers Association in Wien im Hier können unsere Musiklehrer auch lifizierte Sänger auszubilden. August. lernen, die populäre Musik physiologisch Die Frage nach den Nischen rückt die korrekt zu singen. Frage der sängerischen Identität der Nach- Ich freue mich über viele Kollegen aus wuchssänger in den Vordergrund. Wo ist dem Populärmusikbereich, die sich um die jetzt die wirkliche Stärke? Wo sind Fähig- physiologische Seite der Stimme und um keiten für welche Bereiche? Diese Fragen …Hier können neue wissenschaftliche Erkenntnisse des gab es schon in meiner Generation. Im Singens kümmern. Studium müssen wir versuchen, zumindest ansatzweise alle Bereiche unterzubringen. unsere Lehrer Häufig sind wir aber so intensiv damit be- fasst, das klassische Repertoire zu schaffen, lernen, auch 1 Zahlenmaterial nach einer repräsentativen Umfrage dass kaum Zeit bleibt, sich wirklich aktiv der Zeitschrift CHRISMON. mit der Neuen oder der Alten Musik zu 2 Den Kongress (27.–30. September) veranstaltete der befassen. Verband Deutscher Schulmusiker in Zusammenarbeit Pop richtig mit der Europäischen Arbeitsgemeinschaft Schulmusik (EAS), dem Arbeitskreis für Schulmusik (AfS), dem Bedeutet das, es wird in der ganzen Bundesverband Deutscher Gesangspädagogen (BDG), Breite ausgebildet, ohne vorher zu berücksich- der European Voice Teachers Association (EVTA) und tigen, ob der Sänger später in den experimen- zu singen« der Hochschule für Musik Würzburg. tellen Bereich hineingeht oder nur Barockmu- sik machen wird?

 18 MUSIK ORUM ie viele Obertöne hat Weigentlich die Gesangs- stimme? Warum kann ein ausge- bildeter Sänger lauter singen als ein unausgebildeter? Wo ist die optimale Position eines Sängers im Konzertsaal oder innerhalb des Chors? Diese und zahlreiche weitere Fragen sind das tägliche Brot des Sängers, Gesangslehrers und Chorleiters.

Jazzchor Freiburg / Foto: DMR-Archiv, photoguerilla.com/hoerseljau DIE PÄNOMENE DER Akustik In den meisten Fällen wird eine Antwort aufgrund von persönlichen Erfahrungen oder Dirigent, Sänger und Akustiker Harald Jers beschäftigt sich intuitiv gefunden. Dies führt jedoch nicht mit der Umsetzung von akustischen Forschungsergebnissen immer zu einem zufrieden stellenden Ergeb- nis bzw. stellt sich nicht in allen Situationen für die Gesangspraxis als richtig heraus. Leider umfasst die Musi- ker- und Gesangsausbildung in Deutschland kaum akustischen Fachunterricht. Zudem fehlt schaftlichen Begriffsrepertoire und verleihen den eine Möglichkeit, objektive Kriterien zu es – neben finanziell bedingten Kürzungen einer ansonsten eher intuitiv geprägten Ge- entwickeln, die eine optimale und notwen- – an qualifiziertem Lehrpersonal, das neben sangspraxis einen fundierten Charakter. Führt dige Ergänzung zu langjähriger Gesangserfah- einer breit gefächerten musikalischen und na- man sich aber beispielsweise die Diskussio- rung und pädagogischen Fähigkeiten darstellen. turwissenschaftlichen Ausbildung auch die Fä- nen über die Bewertung von Gesangsstim- In den vergangenen Jahren haben sich ein- higkeit mitbringt, akustisches Wissen sprach- men und ihre ästhetische Beurteilung vor zelne akustische Forscher, die auch als pro- gerecht für Musiker aufzuarbeiten. Augen, kommt es häufig zu unterschiedlichen fessionelle Musiker tätig sind, zunehmend mit Ansichten und Streitigkeiten. Allzu häufig liegt akustischen Fragestellungen beschäftigt und Objektive Physik und es am unterschiedlichen Gebrauch der akus- tiefer gehende Ergebnisse erzielt, die Antworten ! subjektive Beurteilung tischen Begriffe sowie an fehlenden objekti- auf zahlreiche Musikerfragen liefern. ven Beurteilungskriterien. Zahlreiche Begriffe wie „Frequenz“, „Ober- In der Akustik als Teilbereich der Physik Bild oben: töne“ und „Resonanz“ sind für Sänger und sind die Termini klar definiert und können Mehr Klangvolumen und Lautstärke? Für viele Gesangslehrer eine Selbstverständlichkeit. Sie somit für den Musiker eine Hilfe darstellen. Chorkompositionen empfiehlt sich akustisch stammen ursprünglich aus dem naturwissen- Außerdem bieten akustische Analysemetho- ein größerer Abstand zwischen den Sängern.

 MUSIK ORUM 19 FOKUS

Gesang – akustisch gesehen Akustisch gesehen lässt sich Gesang mit Computer gestützten Programmen analysie- ren. Eine besonders anschauliche Hilfe stellt die so genannte Spektralanalyse auf einem Computerbildschirm dar. Ein in ein Mikro- fon gesungener Ton wird dabei in Grundton und entsprechend zugehörige Obertöne zerlegt und in einem Diagramm dargestellt. Ein be- sonderer Lerneffekt entsteht nun durch Ver- änderung des Gesangstons in Lautstärke, Ton- höhe und Klangfarbe und gleichzeitiger Vi- sualisierung auf dem Bildschirm. Dadurch bekommt der Sänger ein Gefühl für die di- rekten akustischen Konsequenzen jeder ana- tomischen Veränderung von Zungenstellung, Gaumensegel, Kehlkopfposition, Mundöff- nung und Kieferbewegungen. Unter Abgleichung des Gehöreindrucks mit den sichtbaren Veränderungen auf dem Monitor kann er einige für die Stimmbildung relevanten Aspekte wie Stimmsitz, Tragfähig- keit, Volumen, Vokalausgleich, Klangverstär- kung und Obertönigkeit der Stimme viel ein- facher und anschaulicher verbessern. Bei- spielsweise entdeckt der Gesangslehrer auf diese Art und Weise, dass der „Sängerformant“ gleichbedeutend mit einer deutlichen Laut- Je lauter die Obertöne, desto hörbarer der Opernsänger über dem Orchester: Spektren stärkeanhebung der Obertöne im Bereich von eines gesungenen Tons (kleines as, 220 Hz Grundtonfrequenz) auf dem Vokal „a“. etwa 2000 bis 3600 Hertz ist. Und gerade dieser „Sängerformant“ ermöglicht es dem sich ein unterschiedliches Abstrahlverhalten. größere Lautstärke und mehr Klangvolumen Sänger, über ein Orchester hinweg hörbar Die Hauptabstrahlung erfolgt nicht nur nach zu erzeugen ist für viele Chorkompositionen zu werden, weil deren Instrumente gerade vorne, sondern je nach Frequenz auch nach ein größerer Abstand zwischen den Sängern in diesem Frequenzbereich nicht mehr so hohe vorne/unten oder vorne/oben und sogar empfehlenswert, sowohl zu den Nachbarsän- Lautstärken ihrer Obertöne erzeugen. seitlich nach rechts und links. Während für gern als auch zwischen den einzelnen Chor- tiefe Frequenzen die Abstrahlung nahezu ku- reihen. Dies liegt in der bereits erwähnten Schallabstrahlung von gelförmig um den Sänger herum gleich stark seitlichen und nach unten gerichteten Haupt- Sängern stattfindet, gibt es im Bereich des Sängerforman- schallabstrahlung begründet. ten zwischen 2000 und 3000 Hertz beson- In naher Zukunft sind in diesem Forschungs- Neben der Qualität und dem Klang der ders starke seitliche und nach vorne/oben bereich weitere Ergebnisse zu erwarten, die Gesangsstimme ist aber auch die Schallüber- orientierte Abstrahlung. Um genaue Aussagen eine Hilfe für Musiker darstellen können. tragung zum Zuhörer im Proberaum oder zur Positionierung von Sängern zu treffen, Hervorzuheben ist jedoch, dass es sich dabei im Konzertsaal wichtig. Hauptverantwortlich muss man sich genauer mit den Ergebnissen um keine verschlüsselten Zaubereien han- ist dafür die Art und Weise, wie der Schall auseinander setzen. Aber generell kann schon delt, sondern um von der Natur vorgegebe- den Sänger verlässt und in welche Richtun- aus den Resultaten die Wichtigkeit von Re- ne, unumstößliche Eigenschaften unserer gen die Abstrahlung mit welcher Intensität flektionswänden um den Sänger herum gefol- Umwelt. Eine diesen akustischen Phänome- erfolgt. Diese so genannte Richtcharakteris- gert werden. Eine nahe Position zu diesen Re- nen gegenüber offene Haltung und Neugier tik bezeichnet eine Eigenschaft des Sängers, flektoren mit Richtung zum Publikum bewirkt stellt eine positive Ergänzung zur traditionel- die nur von der Körpergeometrie und den eine Verstärkung des besonders wichtigen len Musikpraxis dar, um im Detail ein höhe- akustischen Absorptions- und Reflektionsei- Klangs im Bereich des Sängerformanten an- res musikalisches Niveau zu erzielen. genschaften der Körperteile abhängt. Durch stelle einer Absorption und eines Verschwin- Lippen, Nase, Ohren, Kopf, Schultern und dens der Schallenergie in Vorhängen oder Der Autor: den ganzen Oberkörper wird der Schall für Kulissenhintergründen von Operbühnen. Harald Jers ist Dozent für Chorleitung, Gesang, Stimmbil- jede Frequenz unterschiedlich reflektiert, dung und Akustik an der Hochschule für Musik Köln, an der absorbiert oder gebeugt. Dieses Verhalten Katholischen Hochschule für Kirchenmusik Aachen und im Für die Chorpraxis Erzbistum Köln. Er leitet Kurse in Chordirigieren und Akustik wurde nach einer Pilotstudie 1998 in Aa- in Schweden, Österreich und an zahlreichen Musikakademien chen und in Messungen 2004 in Stockholm Weitere Konsequenzen ergeben sich aus in Deutschland. Jers arbeitet zurzeit an seiner Promotion zum Thema „Chorakustik“. Er leitet den Kammerchor CONSONO ermittelt. diesen Ergebnissen in Kombination mit de- (Erster Preisträger beim Deutschen Chorwettbewerb 2006). Für jede Frequenz, d. h. für einen Grund- taillierten Untersuchungen bei Chorsängern ton und für die jeweiligen Obertöne, ergibt auch unmittelbar für die Chorpraxis: Um eine

 20 MUSIK ORUM Thomas Holland-Moritz »Wellness für die Seele«... EINE NEUE SINGBEWEGUNG?

Angst vor „vokalem PISA“: Musikschulen machen das Singen wieder zum zentralen Thema

Quam quisque norit artem, Ist dies nun eine Besinnung auf ältere, ja mit Musikerziehung jenseits von einseitiger » älteste Erkenntnisse, die der Bedeutung der Begabtenförderung deren breitesten Wirkungs- in ea se exerceat « menschlichen Stimme Priorität bei allem radius zur Aufgabe machen. (aus einem Musiktraktat des Mittelalters) musikalischen Tun einräumten, oder begin- Ist es Zufall, dass in der letzten Zeit Filme nen wir, umgeben von wissenschaftlichen wie Die Kinder des Monsieur Mathieu oder Erkenntnissen aus vielen Fachgebieten, dem Wie im Himmel quasi Kultcharakter bekom- ürde man es meteorolo- Singen einen neuen musikpädagogischen men, zumindest aber generationsübergreifend Wgisch ausdrücken, müsste Impuls abzugewinnen? Gesprächsstoff sind? Von dem seit fast zwei man von einer singfreundlichen „Denn niemand kennt die Kunst, solange Jahrzehnten anhaltenden Musical-Boom, der Großwetterlage sprechen, die er sich nicht selbst in ihr geübt hat“, heißt es a cappella-Ensembles im Stile der Comedian in dem oben zitierten Textausschnitt eines Harmonists oder dem zu beobachtenden schon seit geraumer Zeit die mittelalterlichen Musiktraktats. Nach langen Zuwachs an jungen Sologesangsteilnehmern deutschen Lande und die musik- Jahren der Enthaltsamkeit dem praktischen beim Wettbewerb „Jugend musiziert“ ganz pädagogische Landschaft im Musizieren gegenüber, bricht dieser lateini- zu schweigen. Besonderen bestimmt. sche Wahlspruch derzeit wie ein Gewitter in Drückt sich hierin eine kollektive Sehn- alle didaktischen Überlegungen ein, die sich sucht nach den einfachen Dingen des Le-

 MUSIK ORUM 21 FOKUS

bens fernab von entfremdendem Materialis- mus und der Freude am eigenen klangge- wordenen „Ich“ aus, also einer Hinwendung zu bewusster Leiblichkeit, die Psyche und Soma vereint, statt sie zu trennen und zu wider- streitenden Polen zu machen? Wenn ja, wie ist es zu dieser Sehnsucht gekommen?

Playback und weg… In der Arbeitswelt kaum noch etwas tun zu können, das als Produkt eines Einzelnen erkennbar wird, liegt wie ein Fluch über al- len Aktivitäten des Menschen in einer sich mit rasantem Tempo globalisierenden Welt. Was mit der Entwicklung der Arbeitsteilung in der frühen Neuzeit begann, hat sich im Ihr müsst wissen, dass alle Musikinstrumente im Hinblick Informationszeitalter weiter atomisiert: Der » Mensch produziert Stückwerk, keine konkre- auf die menschliche Stimme und im Vergleich zu ihr ten sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände mehr, er ist überwiegend zu einem Lieferan- geringeren Wert haben als diese. Eben darum bemühen ten von Ideensplittern geworden, die im Ozean wir uns, von ihr zu lernen und sie nachzuahmen der täglichen neuen Softwarefülle in der « Anonymität versinken. Massenkultur ist zwar (Sylvestro Ganassi, Opera Intitolata Fontegara, Venedig 1535) möglich geworden, weil vieles auf medialem Wege (zum Teil billig) erreichbar geworden ist, aber die Bündelung und die Fähigkeit, dies Dieser Fast-food-Mentalität des „Playback praktisch wissenschaftliches Allgemeingut ge- alles nach ästhetischen Kriterien zu sichten, und weg...“ 1 in unserer alltäglichen ästheti- worden ist, denn wir wissen: Die vorgeburt- ist praktisch nicht vorhanden. Gut ist, was schen Wahrnehmung gilt es – nicht erst heut- liche Wahrnehmung des Embryos im Mut- sich auf dem Markt der Medien behauptet – zutage – etwas entgegenzusetzen, was unlängst terleib schafft bereits Gehördispositionen, die sei es auch nur für einen kurzen Zeitraum. Konstantin Wecker als den „Klang der unge- Stimmklänge unterscheidbar machen und Der Global-Player ist eben kein Glasperlen- spielten Töne“ metaphorisch umschrieben und damit eine wesentliche Voraussetzung für den Spieler! zum Titel eines musikalischen „Aussteiger- Umgang mit der eigenen Stimme in späte- Romans“2 gemacht hat. Viel ist in diesem ren Jahren schaffen. Nun kommt es aber darauf Roman vom Singen die Rede. Die gesamte an, was außerhalb des Mutterleibs im Um- musikalische Sozialisation des Protagonisten, feld der Familie geschieht, ob es gelingt, dem der natürlich nicht unwesentliche biografi- heranwachsenden kleinen Menschen eine sche Züge des Verfassers trägt, verläuft über emotionale Beziehung zu sichern, in der auch die Erfahrung eines (professionell) singenden das Singen vorkommt. Vaters und die eigene stimmliche Entwick- Das primäre Bezugsfeld ist gerade wegen lung vom Knabensopran mit ausschließlich der standardmäßigen multimedialen Ausstat- klassischer Gesangsliteratur und -kultur bis tung eines normalen familiären Haushalts für zum Jugendlichen und jungen Erwachsenen, den Aufbau eines gesunden Verhältnisses zur der gerade auch stimmlich neue Welten für eigenen Stimme auch als „Singorgan“ unver- sich entdeckt (Blues, Rock), aber immer doch zichtbar. Dass es gerade daran hapert, wird durch seine Stimme eine kontinuierliche musi- von allen pädagogischen Institutionen heute kalische Identität behält. Um diese kontinu- aber heftig beklagt. ierliche musikalische Identität sollte es in al- Der Kindergarten als Kompensationsfeld len musikpädagogischen Bemühungen gehen, für Singdefizite im Umfeld der Familie ist eine die sich wieder intensiver dem Singen als kör- faszinierende Idee, die aber an zahlreiche perlicher und geistiger Grundlage des Musik- Voraussetzungen geknüpft ist, die im struk- machens zuwenden – so früh wie möglich turellen Bereich und in der Qualifikation des zuwenden! Hier könnte fruchtbar an die spür- Personals liegen3 und sich in der Frage bün- bare „Großwetterlage“ angeknüpft werden deln lassen, wie oft und wie regelmäßig und unter Besinnung auf die Worte von Zoltán mit welchem ästhetischen Anspruch in Form Kodály: „Die musikalische Erziehung der Kin- und Inhalt gesungen wird. Auch hier ist aber der beginnt neun Monate vor der Geburt der eine spürbare Dynamik zum Besseren hin Mutter!“ entstanden, die es zu unterstützen gilt. So haben So hatte es Kodály einmal humorvoll in viele musikerzieherische Institutionen diesen einem Interview ausgedrückt, nicht wissend, Anknüpfungspunkt zur Singbegeisterung er- dass diese eher intuitiv geäußerte Ansicht heute kannt und versuchen, durch gezielte Koope-

 22 MUSIK ORUM rationsprojekte ihren Einfluss zugunsten von Menschen können noch singen und durchaus 1 Hier wird auf die Karaoke-Praxis und die Playback- Qualität und Verbreiterung des musikpäda- künstlerisch gefordert werden. Ein Vergleich Shows angespielt. Eine eingehende Analyse und Kritik dieser in der Werbung als „befreiende“ Singarten gogischen Angebots zu nutzen. In manchen mit dem Seniorensport sollte hier Anreiz sein, deklarierten Praxis kann im Rahmen dieses Artikels Städten sind Volkshochschulen in Verbindung Angebote in diese Richtung auszuweiten. nicht erfolgen. Nur soviel an dieser Stelle: Sollte es mit den Musikschulen an Fortbildungspro- ˇ Generationen im musikalischen Tun Ziel des Singens sein, 128 Stunden hintereinander (nur jekten beteiligt, die Erzieherinnen in ihrer ge- zusammenzuführen, geht über gemeinsames mit Pausen von 30 Sekunden zwischen Songs) quasi eine Marathonstrecke für den musculus vocalis zurück- samten musikalischen Kompetenz entwickeln Singen besonders gut. Hervorragende Beispiele zulegen? So geschehen in einem Irish Pub in Darm- und verbessern. Kompetenter „besungene“ sind dabei Familienmusikwochen- und wo- stadt vom 10. bis 15. Oktober 2004. Kindergartenkinder werden so quasi auto- chenenden, wie sie z. B. der Arbeitskreis Musik 2 vgl. Konstantin Wecker: Der Klang der ungespielten matisch zu kleinen „Klienten“ des Unterrichts- in der Jugend in breiter und regional dezent- Töne, Berlin 2006. 3 angebots der öffentlichen Musikschulen, aber ralisierter Form anbietet. So etwas kann vgl. Peter Brünger: Singen im Kindergarten. Eine Untersuchung unter bayerischen und niedersächsischen auch der örtlichen Kinderchöre. sicherlich auch unmittelbar in Stadt und Land- Kindergartenfachkräften, Forum Musikpädagogik, kreis durch Sängerbund oder Musikschule Band 56, Augsburg 2003. Singende aller Institutionen organisiert werden. ˇ – vereinigt Euch! An Spitzenensembles im Vokalbereich herrscht mutatis mutandis nicht unbedingt Der Autor: So möchte man ausrufen, in dem Wissen, ein Mangel, aber an einem niveauvollen Sin- Thomas Holland-Moritz studierte Philologie, Musikpäda- dass Musikschulen – wie auch Sängerbünde, gen auf der untersten Entwicklungssprosse gogik und Komposition in Berlin und Münster. Seit 1979 leitet er die Musik- und Kunstschule Remscheid. Seine Kirchengemeinden, wie Schulen aller Art und unserer Bildungsstruktur. Spezialgebiete sind Elementare Musikpädagogik, Anima- bezogen auf alle Altersstufen – das Singen ˇ Ob es eine neue Singbewegung gibt, tives Singen (offenes Singen), Kinderchor und Kinder- wieder zu einem zentralen Thema gemacht ob wir sie überhaupt brauchen, wage ich nicht musiktheater. Er ist Lehrbeauftragter an der Folkwang- haben. Dies auch aus Angst vor einem voka- abschließend zu beantworten. Wichtig ist, dass Hochschule Essen für Musikpädagogik und Herausgeber der Reihe „Musik macht Spaß“ und Mitarbeiter des len PISA, also nicht nur einer fortschreiten- das Singen bei allen musikerzieherischen Lehrplans „Singen im Chor“ des Verbands deutscher den „Verdummung“, sondern auch „Verstum- Prozessen in Bewegung bleibt. Musikschulen. mung“. Um dies zu verhindern, sollten dabei alle an einem Strang ziehen und mit Augen- maß und Fingerspitzengefühl an zukünftige Planungen und Projekte herangehen. Unnö- A N Z E I G E tige Konkurrenzkämpfe zwischen den Mu- sikverbänden und -organisationen aus Angst, z. B. ihre Klientel zu verlieren, schwächen nur die pädagogische Grundposition und das gemeinsame bildungspolitische Ziel. Es könnte die Aufgabe beinhalten, die Menschen auch wieder zu singenden Menschen zu machen und ein Bewusstsein für das Singen in Chö- ren zu entwickeln – als eine der sicherlich preiswertesten, aber vielleicht auch schöns- ten Möglichkeiten, sich musikalisch zu betä- tigen. Abschließend einige handlungsleitende Thesen: ˇ Ein möglichst früher Beginn des Sin- gens (Eltern-Kind-Gruppen) macht nicht nur die Kinder sensibel für die Schönheit, die eigene Stimme zum Klingen zu bringen, sondern lehrt auch deren Mütter und (hoffentlich) Väter wieder das Singen. ˇ Kindergärtnerinnen und Singen: Hier muss „zusammenwachsen, was zusammen- gehört“. Berufsbegleitende Fortbildungen für die Erzieherinnen müssen vor allem vor Ort noch viel stärker initiiert werden. Dabei kön- nen vor allem die öffentlichen Musikschulen effektive Kooperationspartner sein. ˇ Singen als ein zentrales Angebot inner- halb der Offenen Ganztagsschule: Welche Chance bietet sich hier, Singen zur täglichen musikalischen Praxis zu machen! ˇ Unsere Gesellschaft wird immer mehr zu einer Seniorengesellschaft: Auch ältere FOKUS

Julia Wieneke stellt das neue niedersächsische Chorklassenmodell vor »Singen WIR HEUTE?«

enn ich in meine Klasse Das Chorklassen-Modell sah ursprünglich lang eher im Hintergrund stand. Wesentlicher „Wkomme, so werde ich oft folgendermaßen aus: Die Kinder bzw. ihre Bestandteil der Chorklassen ist eine möglichst bestürmt, ob wir nicht etwas Eltern wählen die Chorklasse, die idealerweise schnelle Integration in Schulveranstaltungen, in Klasse 1 beginnt, freiwillig aus. Dabei soll- öffentliche Auftritte und Konzerte in der singen können.“ te der/die Klassenlehrer(in) gleichzeitig auch Umgebung. So zählte die Sophienschule im Margrit Ovesiek, Chorklassenlehrerin am Musiklehrer(in) sein. Eltern und Kinder ver- vergangenenen Schuljahr ganze 13 Veran- Gymnasium Sophienschule Hannover, spürt, pflichten sich für eine Teilnahme an der (kos- staltungen im Rahmen der Chorklassen, die wie die Akzeptanz des (Chor-)Singens quer tenlosen) Chorklasse während der gesamten Grundschule Wasbüttel führte mehrfach ein durch die Schülerschaft stetig zunimmt. „Die Grundschulzeit. Diese langfristige Bindung ist Musical vor Hunderten von Zuschauern auf. Kinder sind immer mehr bereit, selbst Leis- der Grundstock für eine kontinuierliche Der gemeinsame Auftritt mit dem Mädchen- tung zu bringen und zu lernen. Sie freuen Aufbauarbeit und leistungsfähige Klassenchöre. chor im Rahmen des Neujahrskonzerts der sich über unsere professionelle Herangehens- Alle erhalten den zweistündigen regulären Staatsoper Hannover bildete für die Kinder weise, etwa bei der Stimmbildung. Interes- Musikunterricht, in dem neben dem Singen einen spannenden Höhepunkt – der kein ein- santerweise hat sich herausgestellt, dass ge- auch die anderen Bereiche des Lehrplans, Mu- maliger bleiben wird: Mögliche Fortsetzun- rade Jungen die Chorklasse auch deshalb sik und Bewegung, Form und Struktur von gen sind bereits in Planung. anwählen, weil sie nach eigener Aussage noch Musik, Musik mit Instrumenten, Notation und Sicherlich ließe sich argumentieren, das nicht singen können.“ Ausdruck von Musik abgedeckt werden. Konzept sei nicht neu. So arbeiten nicht nur Was hier beschrieben wird, nahm seinen Zusätzlich dazu kommt jedoch eine obliga- Bläser- und Streicherklassen nach einem ähn- Anfang im Jahr 2002 mit der ursprünglichen torische Stunde Chor. In diesen Chorstun- lichen Prinzip, sondern auch die Richard- Idee eines Chorzentrums, die Gudrun Schrö- den sollte ein besonderes Augenmerk auf Wagner-Grundschule in Berlin-Lichtenberg, fel entwickelt hatte. Als Leiterin des Mäd- chorische Stimmbildung gelegt werden, ein eine der Modellschulen in Hans Günther chenchors und als Professorin für Elementa- Bereich, der in Ausbildung wie Praxis jahre- Bastians Studie „Musik(erziehung) und ihre re Musikpädagogik an der Hochschule für Musik und Theater Hannover liegt ihr nicht nur die Förderung von sängerischen Spitzen wie dem Mädchen- und Knabenchor der Stadt Hannover am Her- zen, sondern vor allem auch die musikalische Breitenbil- dung in Sekundarstufe I und Primarbereich. Verantwortliche und Interessierte aus Kultur und Schule diskutierten die Idee – und bereits im Schul- jahr 2003/04 starteten drei Grundschulen und ein Gym- nasium das Pilotprojekt „Chor- klasse“, wissenschaftlich beglei- tet von Professor Franz Riemer von der Musikhochschule Hannover.

 24 MUSIK ORUM Wirkung“. Und doch ist diese Konzentration schule Ruhe eingekehrt. Und das ist wichtig eingerichtet. Bleibt zu hoffen, dass die Kolle- auf chorisches Singen bisher eher eine Aus- so, denn im vierten Jahr des Chorklassenan- gen aus Gymnasien, Real- und Hauptschu- nahmeerscheinung gewesen. Ein Vorteil des gebots wurden letztendlich 64 Kinder auf zwei len sich von dem im Mai anstehenden Chor- neuen niedersächsischen Chorklassenmodells 5. Klassen aufgeteilt. Der Chor der 5. Klas- klassenkonzert von den Chorklassen der aber ist die besondere Flexibilität. So herrschte sen hat – genau wie der Chor der 6. Klassen Region motivieren lassen, sich dem sängeri- von Anfang an das Bewusstsein, dass das – inzwischen also fast 70 Kinder, dazu kom- schen Nachwuchs entsprechend zu widmen. zunächst entwickelte Konzept auf gar kei- men dann noch einmal 90 im Chor der 7. Dem dringenden Aufruf von Christiane nen Fall zum Selbstzweck werden dürfe. Als bis 13. Klassen sowie ein Kammerchor für Iven, Professorin an der Hochschule und Folge lassen sich im vierten Jahr bereits über die „besten“ Sänger. Bei so vielen Beteiligten Solistin an der Staatsoper Hannover, nach 20 Schulen quer durchs Land finden, an denen wird die Organisation eines gemeinsamen einer qualifizierten Ausbildung im Bereich der eine oder gar mehrere Chorklassen einge- Weihnachtskonzerts dann schon schwierig, Kinderchorleitung und Kinderchorstimmbil- richtet wurden. Dabei lässt sich das Grund- denn natürlich wollen alle singen und sich dung könnte die Musikhochschule bald mit modell je nach Lage vor Ort entsprechend präsentieren. einem neuen Master-Studiengang „Kinder- anpassen. Einige Schulen arbeiten mit einem chorleitung“ Rechnung tragen. Die Erfahrung AG-Bereich, andere haben feste Klassen ein- Annäherung an Mozart nach vier Jahren Chorklassenunterricht hat gerichtet, in denen aber der Klassenlehrer nicht Silke Zieske jedenfalls in einer Handreichung zugleich der Musiklehrer ist. In manchen Schu- Bleibt zu fragen, ob der Unterschied zwi- zum Thema „Chorklasse“ und einer Stimm- len hat sich auch eine Kooperation mit orts- schen einer Chorklasse und einer normalen bildungskartei mit geeigneten Übungen und ansässigen Musikschulen für Stimmbildung Grundschulklasse wirklich so groß ist, dass Liedern zusammengefasst. Auf die Veröffent- in Kleingruppen gebildet. sich der Arbeitsaufwand lohnt. Laut Silke lichung im nächsten Jahr dürfen wir gespannt Zieske, Chorklassenlehrerin in der Grund- sein. Mehr Verbindlichkeit schule Wasbüttel in der Region Gifhorn, ist die Leistung ihrer jetzigen 4. Klasse im Ver- Für die Schulen, die im Schuljahr 2003/ gleich zu ihrer letzten „normalen“ Klasse Die Autorin: 04 Chorklassen in Hannover einrichteten, enorm: „Das sind zwei völlig verschiedene Julia Wieneke promoviert nach ihrem Magister in Musikwissenschaft und Musikpädagogik an der Hoch- standen zusätzlich Studierende der Musik- Welten. Während meine damaligen Schüler schule für Musik und Theater Hannover über Komposi- hochschule Hannover zur Betreuung von noch in der 4. Klasse ungewollt mehrstim- tionsprojekte mit Kindern. Sie hat Schulmusik studiert Kleingruppen zur Verfügung. Nach zwei Jahren mig gesungen haben, kann ich mit meiner und ist diplomierte Geigenlehrerin. ist zumindest die Sophienschule zu einer Chorklasse mit Spaß und Freude leichtere 2- Kooperation mit der Musikschule Hannover und 3-stimmige Stücke singen. Das Entschei- übergegangen. Jetzt entstehen zwar pro Kind dende daran ist der rote Faden: das Singen. und Monat elf Euro Kosten für den 30-mi- Ich habe festgestellt, wie viele Bereiche des nütigen Stimmbildungsunterricht in der Wo- Lehrplans man wirklich über das Singen ver- che, doch sicherlich ist somit eine stärkere mitteln kann. Sogar Mozart haben wir uns Verbindlichkeit und Zuverlässigkeit gegeben. im Jubiläumsjahr sängerisch angenähert.“ Kontinuierliche Aufbauarbeit: Die Chorklas- Ein ständiger Wechsel von Bezugspersonen Für die Chorklassenschüler der Grundschu- sen der Hannoveraner Sophienschule haben Spaß am Singen – ob Erstklässler bei Stimm- für Kinder und Jugendliche ist zwar eine in- le Wasbüttel wird das Singen nach diesem bildungsübungen (Bild links) oder Schüler im teressante und gute Erfahrung, mit den Ge- Schuljahr bestimmt nicht mehr ganz so selbst- dritten Schuljahr beim Auftritt in der Schule sangslehrern der Musikschule aber ist auch verständlich, denn gute Schulchöre sind an (Bildmitte) und beim Konzert in der Oper im organisatorischen Bereich der Sophien- den weiterführenden Schulen bisher nicht Hannover. Fotos: Zieske (2), Till

 MUSIK ORUM 25 © Dresdner Musikfestspiele

Neue Musik IM BIOTOP KNABENCHOR

Ulrike Liedtke über „reine“ Stimmen und den Mut zu Experimenten

elcher Komponist wünscht kündigung, Lob und Gebet im Rahmen der Schätze, die kompositionsästhetische Betrach- sich nicht eine Uraufführung, Liturgie. Am Freitag Motette, am Samstag tung und Kenntnisnahme über die Funktion W Motette und Bach-Kantate, am Sonntag die ihrer Aufführung hinaus verdienen. die intonationssicher und stimm- Kirchenmusik zum Gottesdienst – ein nor- Eine beeindruckende Liste an Urauffüh- kultiviert an ein ganz besonderes males Thomaner-Wochenende. Hinzu kom- rungen können der Dresdner Kreuzchor und Klangideal anknüpft – an das der men internationale Konzertreisen, CD-Pro- der Leipzig vorweisen. Allein Knabenchöre? duktionen, Rundfunk- und Fernsehauftritte, die Kompositionen ihrer Kantoren Rudolf chorsinfonische Mitwirkungen, Verpflichtun- Mauersberger (1889-1971) und Erhard Mau- 43 Chöre, städtische, vereinsgebundene gen in der Gemeinde und Opernauftritte wie ersberger (1903-1982) sowie deren Kontakte und kirchliche nebeneinander, verzeichnet die der drei Knaben in Mozarts Zauberflöte, zu zeitgenössischen Komponisten prägten das allein die Website „www.knabenchoere.de“, die Kuchenkinder in Humperdincks Hänsel Repertoire nach 1945. Die selbst auferlegte darunter so traditionsreiche wie den Thoma- und Gretel, kleine Füchse in Janácˇ eks Schlau- Verantwortung der Chöre gegenüber den nerchor Leipzig, den Dresdner Kreuzchor, em Füchslein oder Straßenjungen in Bizets Komponisten aus ihrer sächsischen Region die Augsburger Domsingknaben, Regensburger Carmen. Das alles setzt eine gute musikali- wird über Generationen hinweg deutlich. In Domspatzen, den Windsbacher Knabenchor sche Bildung voraus, über Jahrhunderte hin- Leipzig gilt diese Hinwendung Johannes und Tölzer Knabenchor. Ihr Klangcharakter weg auch in Stilempfindung und Geschmack. Weyrauch (1897-1977), Georg Trexler (1903- bleibt dem von Mädchen- oder Frauenchören Kindheit und Jugend im Chor gelten noch 1979), Wilhelm Weismann (1900-1980) und unvergleichbar, den „reinen“ Stimmen gebührt immer als eine der besten Empfehlungen für Johann Nepomuk David (1895-1977) ebenso die ungebrochene Beliebtheit des Publikums, die Musikerkarriere. wie der mittleren Generation um Siegfried ebenso hell und zart wie kräftig und durch- Bleibt Raum für Neues bei so viel Tradi- Thiele (geb. 1934), Günter Neubert (geb. dingend, einmalige Stimmen, die sich verän- tion, Konvention, Ritual? Messen sich Kanto- 1936), Karl Ottomar Treibmann (geb. 1936) dern, unaufhaltbar vergehen. ren noch am großen Leipziger Vorbild hin- und Volker Bräutigam (geb. 1939), der selbst Meist im Alter von zehn Jahren werden sichtlich des Komponierens für den eigenen Kruzianer war. Auch Steffen Schleiermachers die Jungen in den Chor aufgenommen, müs- Chor? Findet der heutige Kompositionsstand (geb. 1960) Psalm 88 wurde vom Thoma- sen Probenarbeit, Chorleben, Schule, auch überhaupt eine Entsprechung in der Auffüh- nerchor uraufgeführt. Thomaskantor Kurt Internat und die Trennung von ihren Famili- rungspraxis durch Knabenchöre a cappella? Thomas (1904-1973) komponierte selbst und en in Übereinstimmung bringen – das Leben Die Dokumentation des Deutschen Mu- auch der jetzige Thomaskantor und ehema- im „professionellen“ Kirchen-Knabenchor. Der sikrats Musik in Deutschland 1950-2000 lige Thomaner (geb. Dienst gilt zuallererst der Musica sacra, Ver- wendet sich dieser Thematik zu und hebt 1955) ist schöpferisch für seinen Chor tätig.

 26 MUSIK ORUM FOKUS

Eine breite Öffentlichkeit fand der Thoma- in diesem Jahr sein 60-jähriges Bestehen feiert. auf Texte von Theodor Storm mit dem Kna- nerchor durch seine Zusammenarbeit mit der Neben den großen Namen aus der ersten Jahr- benchor der Suhler Philharmonie. Vokal-Popgruppe „Die Prinzen“, auch ehe- hunderthälfte (Reger, Kodály, Strawinsky) und Auf der Suche nach Neuer Musik für malige Thomaner. Arvo Pärt finden sich regional bekannte Kom- Knabenchöre a cappella dominieren jedoch Der Dresdner Kreuzchor gehörte kürzlich ponisten. Der Windsbacher Kantor Emanuel die Motetten und Psalmen, allerdings voll- erst unter Leitung seines Kantors Roderich Vogt (geb. 1925) komponierte neben Psal- kommen frei in der musikalischen Gestaltung. Kreile zu den Mitwirkenden der „Dresdner men für den von Karl-Friedrich Beringer ge- Spätromantisches findet sich ebenso wie Tage der zeitgenössischen Musik“ im Fest- leiteten Knabenchor die vierstimmige Mo- ungehörter neuer Klang. Erstaunlich wenig spielhaus Hellerau durch die Uraufführung tette Nunc dimittis, ein ergreifendes, frohes wird eine elektroakustische Ebene einbezo- der Pilgerfahrten von Chaya Czernowin, ein Abschiedslied des sterbenden Hohenpries- gen, obwohl doch Stockhausens Gesang der Auftragswerk des Europäischen Zentrums der ters Simeon. Vogt hatte an der Kirchenmu- Jünglinge vor einem halben Jahrhundert Künste Hellerau. Uraufführungen der vergan- sikschule Berlin-Spandau beim Motetten- einen Weg wies und die Chöre über gute genen 40 Jahre galten (1894- Meister Ernst Pepping studiert. Auch Siegfried Rundfunkkontakte verfügen. Gerade die fest- 1979), Günter Bialas (geb. 1907), Kurt Schwaen Strohbach (geb. 1929) komponierte 1957 gelegte Funktion der Musik ermöglicht un- (geb. 1909), Herbert Collum (1914-1982), sechs Evangelien-Motetten im Auftrag des konventionelle klanglich-strukturelle Ergeb- Siegfried Köhler (1927-1984), Manfred Weiss NDR für wochentägliche Morgenandachten. nisse, natürlich nur so lange die Knabenstim- (geb. 1935), Rainer Kunad (1936-1995), Seine gut dreiminütige Komposition Jesus, der men bei deren Ausführung keinen Schaden Dieter Acker (geb. 1940), Jörg Herchet (geb. Retter im Seesturm erfuhr weite Verbreitung, nehmen. Die Biotop-Situation von Lehrer- 1943), Lothar Voigtländer (geb. 1943), Mi- weil Thomaskantor Kurt Thomas sie als Schüler-Verhältnissen, die offensichtliche Treue chael Christfried Winkler (geb. 1946), Lud- Übungsmaterial in seine viel besuchten Chor- ehemaliger Choristen gegenüber ihrer ersten ger Vollmer (geb. 1961), Jörg Duda (geb. leiterlehrgänge aufgenommen hatte. musikalischen Ausbildungsstätte und die hohe 1968), Markus Höring (geb. 1969), Hans Der Knabenchor Hannover fühlt sich Al- künstlerische Leistungsfähigkeit der Knaben- Huyssen (geb. 1964) und Thomas Jennefelt fred Koerppen (geb. 1926) verbunden durch chöre machten eine kontinuierliche, in der (geb. 1954) mit der Motette nach Worten zahlreiche Motetten und die immer wieder Öffentlichkeit nicht beargwöhnte Entwick- des Jakobus-Briefs für Bariton-Solo und ge- aufgenommene Komposition für Männerstim- lung neuer Musik möglich. Das Aufbrechen mischten Chor a cappella Warnung an die men, Orpheus mit der Töne Reine. zu neuen Ufern erfolgt mehrfach gesichert, Reichen (1977). Christian Münch (geb. 1951) Einen eigenen Weg durch das Knaben- selbst das Publikum wird sich nicht abwenden. rüttelte die Kirchgänger 1999 auf mit ein chor-Repertoire ging der Tölzer Knabenchor, Mut ist gefragt, das Experiment mit jungen vliessende lieht miner gotheit für Knabenchor, als er Tilo Medeks (1940-2006) Kindermesse Komponisten auf heutigem Kompositions- Instrumente und einen Schreienden. zum Gedenken an die im „Dritten Reich“ er- stand. Neue Musik kann und wird nicht der Die Freiburger Domsingknaben feiern die mordeten Kinder einstudierte. Die Urauffüh- Schwerpunkt im Repertoire von Knabenchö- Hochfeste im Kirchenjahr ebenso mit alter rung hatte der Rundfunkkinderchor Berlin ren sein, zumal, wenn die Chöre in den Lauf wie neuer Musik, einer 800-jährigen Tradition 1975 im Apollo-Saal der Deutschen Staats- des Kirchenjahrs eingebunden sind, dennoch: verpflichtet, die Domkapellmeister Raimund oper gesungen, das Werk wurde mit dem „Singet dem Herrn ein neues Lied!“ Hug 1970 mit der Neugründung des Knaben- „22. Tribune internationale des Compositeurs chors wieder belebte. Zu den interessanten der UNESCO“ in Paris ausgezeichnet. 1981 Die Autorin: neuen Kompositionen gehört der Psalm 23 für leitete Ernst Leopold Schmid den Tölzer Ulrike Liedtke, Leiterin der Bundesmusikakademie vier- bis achtstimmigen Chor a cappella (Der Knabenchor bei der Rundfunkaufzeichnung Rheinsberg, ist Rundfunkratsvorsitzende beim Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) und Präsidiumsmitglied des Herr ist mein Hirt) zum Dreifaltigkeitssonntag. des WDR, Gerhard Schmidt-Gaden legte 1986 Deutschen Musikrats. Rolf Schweizer (geb. 1936), ehemaliger Lan- eine Schallplatte mit der Kantate So ein Struw- deskantor in Pforzheim, nutzt zur musikali- welpeter (1975) von Tilo Medek vor. Zart, aber kräftig: Vokalensembles wie der schen Psalm-Bebilderung verschiedene Tanz- Angeregt von den großen traditionsreichen Knabenchor Hannover (Bild oben links) und charaktere wie Pastorale, Sarabande und Gigue. Knabenchören in Leipzig und Dresden ent- der Tölzer Knabenchor (unten) erfreuen sich Zum Repertoire der Augsburger Domsing- standen zu DDR-Zeiten städtische Knaben- der ungebrochenen Beliebtheit des Publikums. knaben gehört das reiche Werk von Hermann chöre, die sich weltlichem Repertoire zuwand- Schroeder (1904-1984), einem Nestor der ten. 1971 gründete der ehemalige Kruzianer katholischen Kirchenmusik im 20. Jahrhun- und Mauersberger-Schüler Manfred Winter dert, der allein 40 Messen und vier deutsch- den Knabenchor Dresden, heute am Hein- sprachige Passionen schrieb. Seine Missa brevis, rich-Schütz-Konservatorium verankert. 1972 Max Baumanns (1917-1999) achtstimmige gründete sich der Knabenchor der Suhler Motette Pater noster und Kompositionen von Philharmonie. Auf eine 800-jährige Geschichte Peter Kiesewetter (geb. 1945) stehen im blickt der Stadtsingechor Halle zurück, der Repertoire. sowohl in der Marktkirche Halle als Auch die Regensburger Domspatzen grei- auch im Dom zu Merseburg singt. fen auf Baumann zurück und machten erst Zu den vom Rundfunk dokumen- im Juni dieses Jahres durch die Uraufführung tierten neuen Kompositionen gehö- einer Missa l'anno santo des Komponisten und ren u. a. die Sechs Tierlieder von Horst ehemaligen Domkapellmeisters Georg Rat- Irrgang (geb. 1929) mit dem Stadtsingechor zinger (geb. 1924) auf sich aufmerksam. Halle, das Friedenlied von Volker Hahn (geb. „Chormusik im 20. Jahrhundert“ heißt eine 1940) mit dem Knabenchor Dresden und der CDs des Windsbacher Knabenchors, der Villaneske Lieder von Jürgen Golle (geb. 1942) © www.omm.de

 MUSIK ORUM 27 FOKUS

Von Blues bis „Gangsta Rap“: Wie Stimmen die Popmusik bestimmen. Fluchtlinien DER POPULÄREN

ie Geschichte populärer Stimmgeschichte als metechnisch bewirkte Abweichung von der DMusik lässt sich aus mancher Mediengeschichte natürlichen Stimmsignatur. In den Sun-Re- Perspektive schreiben, als Ge- cord-Jahren leben Songs wie You’re A Heart- Einer der interessantesten Aspekte der breaker (1954) maßgeblich vom so genann- schichte von Stars beispielsweise, Stimmgeschichte erschließt sich ohne Zwei- ten Slap-Echo, einem damals völlig neuartigen, als Song-, Stil- oder als Kulturge- fel im Blick auf die Historie audiotechnischer durch Delays im Mikrosekundenbereich er- schichte. Oder aber als Geschichte Speicherung, Übertragung und Reproduktion. zeugten Stimmklang, der auf mechanischem populärer Stimme und Stimmen. Seit Edisons in den offenen Trichter gerufe- Weg durch den Einsatz von Echo-Kammern nem Kinderreim Mary had a little lamb (1877) erzeugt wurde. Aufnahmen von Roy Orbi- Und diese Stimmen reichen vom Blues- schreibt sich die Geschichte der populären son (Ooby Dooby, 1956) und Chuck Berry Shouting und -Moaning, von Country-Kehl- Stimme nicht zuletzt als eine der Fonografie. (Rock And Roll Music, 1957) belegen neben gesang und Rockabilly-Schluckauf bis zur Eine klangtechnisch aufgezeichnete Stimme vielen anderen, dass Presley und sein Produ- Rock’n’Roll-Stimme und weiter über den Beat reflektiert neben Sänger, Umgebung und Si- zent Sam Phillips damit das dominierende schließlich zum Schrei im Punk und Hardcore tuation immer auch das Hardware-Set aus Auf- Stimm-Ideal populärer Musik in den mittle- oder zu den verhallten Stimmsounds von New nahmeverfahren, Speichermedium und Wie- ren 1950er Jahren kreieren. Was Sinatra und Wave, in einer parallelen Verzweigung über dergabetechnik. Das gilt für die nachträgliche Elvis dabei im Kern verbindet, ist die Abkehr das Soul-Falsett und die rhythmische Energie Bearbeitung im Studio wie für die Klangmo- von der natürlichen Stimme-Raum-Einheit als der Stimmen im Funk und Old School Rap dulierung während der Aufnahmeprozedur. dem leitenden Paradigma der Live-Akustik. bis hin zum postmodernen Stimmdesign im Um zu sehen, dass die fonografische Ma- In sehr viel radikalerer Form praktizieren Rhythm & Blues (R&B) der 2000er Jahre. schinerie dabei nicht nur technische Stan- dies auch Kraftwerks viel beachtete Alben der Für diese prominenteren Fäden und Stränge dards und Limits setzt, sondern gleichzeitig 1970er, in denen die natürliche, auf Körper- im eng verflochtenen Netzwerk populärer als produktive Instanz und Innovationsmotor und Raumresonanzen zurückführbare Klang- Gesangsstile und Stimmpraktiken gilt allerdings, fungieren kann, reicht ein Blick auf so unter- gestalt der menschlichen Stimme nahezu dass sie sich einer hierarchischen Gliederung schiedliche Beispiele wie Frank Sinatra, Elvis vollständig suspendiert ist. Die Verwendung in Kapitel, Abschnitte und Fußnoten letzten Presley und Kraftwerk. Unabhängig von ih- des Vocoders in Songs wie Wir sind die Robo- Endes widersetzen. Als flüchtige, in perma- ren jeweiligen historischen, ästhetischen und ter (1978) assimiliert den Stimmklang bis auf nentem Umbau befindliche Phänomene fü- kulturellen Kontexten verdanken die drei ihre einen allerdings entscheidenden Rest an syn- gen sich populäre Musiken und Stimmen viel Popularität in nicht geringem Maß dem neu- thetisch erzeugten Sounds, in denen Klang- eher Logiken des Raums oder des Feldes, in artigen Einsatz aufnahme- und studiotechni- farbe und Klangspektrum zu frei modulier- dem unterschiedlichste stilistische, soziale, kul- scher Mittel. Sinatras singuläre Stellung in- baren technischen Größen geworden sind. turelle und mediale Kontexte sowie perfor- nerhalb der amerikanischen Populärkultur des Kraftwerk legt damit die Spur, auf der die mative Praktiken nebeneinander existieren 20. Jahrhunderts etwa erklärt sich nicht zuletzt Verzerrung und Verfremdung des Stimmklangs und interagieren. Vorbehaltlich einer Eingren- durch seinen virtuosen Umgang mit dem in späteren Stilen wie Industrial, Thrash Metal, zung auf die westeuropäisch sowie US-ame- Mikrofon, das er als einer der ersten Crooner Dark Wave & Co weitergetrieben werden rikanisch dominierte populäre Musik ab etwa zum entscheidenden Komplement der na- kann. 1900 sollen deshalb im Folgenden zwei un- türlichen Stimme aufwertet. Die technische Über die Geschichte der nachträglichen ter vielen denkbaren Fluchtlinien der popu- Apparatur erscheint bei ihm nicht mehr als studiotechnischen Bearbeitung des aufgezeich- lären Stimme skizziert werden. kommunikatives Hindernis, das sich zwischen neten Stimm-Sounds gäbe es ähnlich viel, wenn Stimme und Ohr schiebt, sondern im Ge- nicht mehr zu sagen. An dieser Stelle sei stell- genteil als Garant einer gesteigerten Intimi- vertretend auf die zunehmende Artifizialisie- tät zwischen Sänger und Hörerschaft. rung des Stimmklangs im Verlauf der 1980er Gegenüber dieser technisch ermöglichten und 1990er Jahre verwiesen, wie sie etwa Super-Naturalität steht Elvis für eine aufnah- anhand der Gesangs-Tracks bei Prince nach-

 28 MUSIK ORUM Von Christian Bielefeldt

STIMME

zuvollziehen ist. In der Tradition von Les Paul (der schon 1950 ein vokales Overdubbing praktiziert) und Shuggie Otis spielt Prince in der Regel nicht nur die meisten instrumenta- len, sondern auch die vokalen Spuren seiner Songs selbst ein. Während seine Stimme auf Lovesexy (1987) so „trocken“ produziert ist, dass ihr nahezu jede Raumwirkung abgeht, verlängert die auffällige Rasterung melismati- scher Figuren auf den Stimm-Tracks von 3121 (2006) gewissermaßen den Kraftwerk-Ansatz in die digitale Gegenwart. Was Prince hier reflektiert, ist nicht zuletzt die Omnipräsenz digitaler Tools (Kompression, Filter, Pitch- Shifting) bei der Produktion aktueller Main- stream-Songs. In Rihannas diesjährigem Früh- sommerhit S.O.S. (Rescue Me) etwa fließen Background- und Leadstimme an vielen Stellen derart ineinander und verschmelzen mit den umgebenden Synthesizerklängen, dass daraus eine stetig changierende und kaum noch durch- hörbare Komplexität von Stimme und Stim- men, Sounds und Räumlichkeiten resultiert.

Black Voices Nicht nur aus stimm-stilistischer Perspek- tive spricht vieles dafür, die musikalischen Praktiken der Nachkommen afrikanischer Meister der Aufnahmetechnik: Für Frank Sinatra war das Mikrofon Garant einer gesteigerten Sklaven in der US-amerikanischen Diaspora Intimität zwischen Sänger und Hörerschaft. als eine weitere zentrale Schneise durch die Pophistorie zu werten. Die Geschichte der Black Voices verläuft dabei seit den Work- Shouts, Fills und Crys durchsetzten Gesang Grundlage für den Doo-Wop, aus dem in songs, Hollers und Ring Shouts des 19. Jahr- des Delta-Blues auf. Auch die kommerzielle- den 1940ern und 1950ern wegweisende hunderts im Horizont immer wieder aufbre- ren Aufnahmen männlicher Blues-Sänger aus afrikanisch-amerikanische Stars wie Sam chender Konflikte zwischen der Assimilation den 1920er Jahren (Blind Lemon Jefferson Cooke hervorgehen. Noch Curtis Mayfields an anglo-europäische Stilistik und der Rück- 1926, Lonnie Johnson 1927) lassen kaum Impressions zehren in den 1960ern von die- besinnung auf als authentisch „schwarz“ emp- Zugeständnisse an den dominierenden, Tin- ser Tradition. ! fundene Elemente. So weist beispielsweise Pan-Alley und Broadway verpflichteten Stil der Gesang der Negro Quartets auf den frü- der sonstigen amerikanischen Popular Mu- hen Black Recordings (z. B. Unique Quartette sic erkennen. Andererseits bildet ausgerech- 1893) nur sehr geringfügige Gemeinsamkei- net die durch und durch europäische Gat- ten mit dem wesentlich „schwärzeren“, von tung des mehrstimmigen Männergesangs die

 MUSIK ORUM 29 FOKUS

Ganz ähnlich verhält es sich mit den Stim- terschiedlichen Stimmartisten wie Bobby ! men von Cab Calloway, Billy Eckstine und McFerrin und Rahzel. Und noch eine dritte Attraktive zusätzliche Klangfarbe: der wohl prominentesten Blaupause afrika- Traditionslinie populären Gesangs lässt sich Mit seinem Gesangsensemble gewann das nisch-amerikanischer Stimmen in den ersten mit dem Namen James Brown verknüpfen: BuJazzO neue musikalische Konturen. Dekaden des 20. Jahrhunderts, dem Jazzge- die Entgrenzung der Stimme zum Schrei. sang Louis Armstrongs. Bezeichnenderweise Innerhalb der Black Music verbindet diese erlangt der Crooner Eckstine als „Black Crosby“ den Funk der 1970er mit N.W.A., Public Ruhm und finanziellen Erfolg, sprich als Race- Enemy und dem Gangsta-Rap der 1990er Music-Double des überragenden weißen bis hin zu neueren Stilen wie dem Südstaa- Superstars der 1930er. Gegenüber seinem ten-HipHop Crunk. st die Gesangsgruppe auch schmeichelnden Timbre prägt Armstrongs Abschließend soll noch auf eine weitere rauher und zugleich strahlender, bis heute schwarze Fluchtlinie verwiesen werden, die „Idabei?“, fragen Veranstalter unerreichbar emotionaler Gesang in Stardust sich in den 1940ern popularisiert und seit- häufig, wenn sie das Bundes- (1931) eine neue Variante schwarzer, von dem zum Kernbestand der Black Music ge- jazzorchester engagieren. Kein Hot-Intonation und Jazzphrasierung beeinfluss- hört: Spiritual und vor allem Gospel, der im Wunder, denn seit seiner Instal- ter Stimmpraxis. Wie nebenbei macht Arm- Kielwasser von Rosetta Tharpe und der alle lation vor gut zehn Jahren hat strong mit der Scat-Improvisation im Übri- anderen an Wirkung überstrahlenden Ma- sich das Gesangsensemble des gen auch den stimmlichen Grenzfall quasi halia Jackson die Grenzen liturgisch einge- instrumentalen Gesangs populär. Gewisser- bundenen Kirchengesangs sprengt. In seinem BuJazzO zu einem attraktiven maßen eine Umkehrung des im frühen Jazz Sog entwickeln Soulgrößen der 1960er wie Element entwickelt, auf das das praktizierten Prinzips gesangsähnlicher Phra- Aretha Franklin in der Verquickung melis- Publikum nicht verzichten will. sierung der Instrumentalparts, schließen un- matischer Verzierungstechnik mit der inbrüns- ter anderem Cab Calloways improvisatori- tigen Tongebung sakralen Gesangs eine bis sche Jive-Scat-Technik sowie der Proto-Rap heute wirksame Gussform der R&B-Stimme. So geht das Orchester nur noch in ganz eines Pigmeat Markham daran an. Weitere wichtige Fäden mit jeweils beson- seltenen Fällen ohne Gesangsgruppe auf Vergleichen lässt sich Armstrongs Bedeu- derer Geschichte ließen sich im Blick auf das Konzertreise. Premiere feierte das BuJazzO tung für die Black Voices bestenfalls mit den helle Register der Motown-Frauen in den mit seiner ersten Vokalgruppe in der 11. skandalträchtigen Stimmperformancen von 1960ern aufnehmen, nicht zu vergessen die Arbeitsphase im Jahr 1993 in der Musik- Little Richard und vor allem von James Brown. Kinderstimmen von Steve Wonder oder der akademie Kürnbach. Wie die Anekdote Das aufreizende Umschlagen der Stimme Little Jackson Five, die damals neben dem Falsett- erzählt, hatte Peter Herbolzheimer kurz Richards ins Falsett setzt gemeinsam mit den Sänger und Womanizer Marvin Gaye den vorher bei einem Besuch in Regensburg eingestreuten Kopfstimmentönen und exal- Ton beim Label Berry Gordys angeben. aus einem Probenkeller viel versprechen- tierten Melismen die für viele folgende Ge- de klassische, aber auch jazzige Töne einer nerationen maßgebliche, hedonistisch-eksta- Der Autor: fünfköpfigen jungen Männergruppe ver- tische Variante des Rockgesangs durch. Browns Christian Bielefeldt studierte Musikwissenschaft, nommen, die sich später – ans Tageslicht riff-orientierter, perkussiver Gesangstil führt Schulmusik und Germanistik in Hamburg. Seit 2004 ist geholt – als ehemalige Regensburger Dom- über Namen wie Gil Scott Heron und die er wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fach Musik an der spatzen entpuppten und sich bereits „Sin- Universität Lüneburg; Arbeitsschwerpunkte: Populäre Last Poets schließlich zu den virtuosen Voice- Musik, Neue Musik und Ensembleleitung. ger Pur“ nannten. Skills der Rapper und Beat-Boxer der 1970er Die BuJazzO-Bigband staunte nicht und 1980er Jahre und über diese zu so un- schlecht, als diese kurz darauf in der Pro- benphase auftauchten und mitmusizieren wollten. „Singt doch mal was!“, forderte Black Voices zwischen Jazz-Hits und Gospel: Herbolzheimer die Fünf auf, als er gewisse Louis Armstrong und Mahalia Jackson. Vorbehalte aus dem Instrumentalistenrund zu spüren glaubte. Diese ließen sich nicht lange bitten und intonierten aus dem Stand perfekt sowohl einen Bach-Choral wie auch Round ’bout Midnight des wegweisenden Jazzpianisten Thelonious Monk. Damit brach das erste Eis und mehr Legimitation brauch- ten „Singer Pur“ fortan nicht. Wie heißt das Motto für alle Auswahlvorspiele? „Es gilt der gespielte – hier: der gesungene – Ton.“ Es war die Geburtsstunde der BuJazzO- Vokalgruppen und „Singer Pur“ gelten als die Vorläufer aller weiteren. Sie sangen im BuJazzO – z. B. auf der ausgedehnten Balti- kum-Russland-Tournee im Jahr 1993 aus Anlass der „Deutschen Kulturwochen in der baltischen Region“ – die Saxofonsätze von Thad Jones-Mel Lewis-Arrangements

 30 MUSIK ORUM Foto: Holger Jung

ES GILT DER gesungene Ton

Peter Ortmann über Jazz und Gesang am Beispiel des Bundesjazzorchesters

ebenso ausgereift und nach Gehör wie a aufwand und von zusätzlicher Beschallungs- Durchstart: cappella-Bearbeitungen diverser Jazzgrößen technik. Treten Sänger zur Bigband auf die Roger Cicero, und der Beatles. Das Bundesjazzorchester er- Bühne, stehen sie unzweifelhaft im Rampen- der im BuJazzO hielt durch sie eine wahrnehmbare zusätz- licht und im Zentrum des Publikumsinteres- sein „Vokalwerk“ erlernte, etabliert liche Klangfarbe. ses – ob als Solisten oder im Ensemble. sich gerade Trotz oder gerade wegen der hohen Er- als neuer Erst nur geduldet, später wartungen im BuJazzO gehören die Vokal- deutscher auf dem Karrieresprung: interpreten heute zu den besten neuen jun- Swingstar. gen Jazzsängern hierzulande und haben sich die ersten BuJazzO-Sänger vordere Plätze im internationalen Musikleben Schon an den ersten zehn Arbeitsphasen durch beispielhafte CD-Produktionen, weg- nahm jeweils ein Gesangssolist teil. Der hat- weisende Projekte und erfolgreiche Konzerte te es nicht leicht, musste ohne eigenen Do- aber auch mit pädagogischen Tätigkeiten er- zenten auskommen, sich seinen eigenen Re- obert. Dazu zählen mit Sicherheit Ariane Baum- pertoire- und Programmanteil „ersingen“ und gärtner, Daniela Gierock, Anja Krabbe, Eva ein phasenweise isoliertes Dasein führen. Denn Mayerhofer, Annette von Eichel ebenso wie das Vokal-Revival von heute – allen voran Teo Bleckman, Jeff Cascaro, Roger Cicero der Swing-Gesang eines Robbie Williams – und Tom Gäbel. lag noch in weiter Ferne. Hinzukam: Die Vokalisten wurden von Neue Musik-Türen öffnen ihren Instrumentalkollegen keineswegs immer mit offenen Armen aufgenommen. Letztere Im Jahr 1995, konkret zur 16. Arbeits- taten sich schwer mit der Akzeptanz, hieß es phase in der Musikakademie Marktoberdorf doch für das Orchester, eine mehr dienende machte der Deutsche Musikrat aus dem ers- Rolle einzunehmen und einen Teil des Pro- ten Erfolg eine Tugend und öffnete eine gro- gramms an den Gesang abzugeben; eigent- ße Tür zum Ensemblegesang im BuJazzO. Es lich verständlich, lassen Gesangstitel doch war die erste Arbeitsphase in doppelter Be- gemeinhin weniger Platz für Improvisatoren, setzung überhaupt, um der großen Nachfra- ganz zu schweigen vom zusätzlichen Proben- ge von viel versprechenden Bewerbern im Foto: Eidel/Semmel Concerts

 MUSIK ORUM 31 FOKUS

Sinne notwendiger musikalischer Nachwuchs- und was sie singen, steht in deutlicher Bezie- rühmten Girl From Ipanema, Você Abusso von förderung nachzukommen; zusätzlich trafen hung zu allen Gesangsgruppen des Jazz, be- A. Carlos, Fato Consumado von Djavan, von fünfzehn ausgesuchte Sänger ein, die neue ginnend mit den „Hi-Los“, den „Four Fresh- Peter Herbolzheimer wie immer brilliant für musikalische wie auch organisatorische An- man“ und „Mills Brothers“, aber besonders Bigband und Vokalgruppe eingerichtet. forderungen an die Orchesterleitung stellten. zu den wegweisenden „Singers Unlimited“, Neuerdings spielt und singt das BuJazzO Die Teilnehmerzahl stieg von 35 auf über den populären „Manhattan Transfer“ und zu Titel im Stile des Bigband-Swing von Count 80. Judy Niemack erhielt die fortan ständige den „New York Voices“, mit denen sich die Basie, aber mit deutschen Texten gesungen, Gesangsdozentur. Neben den zwei Jazzor- BuJazzO-Vokalisten beim Vocal-Jazz-Summit so das auf Sweet Georgia Brown basierende chestern bildete sie zwei Gesangsensembles. im September 2005 in Mainz maßen. Hallo, kleines Fräulein (von R. Budde, F. Ol- Orchesterchef Peter Herbolzheimer war ge- Die Gesangsensembles des BuJazzO er- dörp) und das von Manfred Krug kompo- fordert, für das nötige attraktive Notenmate- höhen den Anteil weiblicher Mitwirkender nierte Wenn ich Dich seh’. Das BuJazzO ließ rial zu sorgen. Er schrieb Bigbandarrangements rein statistisch deutlich. Das freut insbesondere aber auch den Stil von Ray-Conniff wieder zu den auf dem Markt käuflichen Gesangs- das Bundesjugendministerium. Auch sind die aufleben durch ein Medley mit den Titeln arrangements z. B. der „New York Voices“ und Sängerinnen und Sänger ganz besonders ge- Smoke Gets In Your Eyes (von Jerome Kern) der „Singers Unlimited“, begann, im BuJazzO- fordert, stehen sie doch nahe am Bühnen- und S’Wonderful (von George Gershwin). Das Archiv bereits vorhandene interessante Big- rand, ohne Instrument als „Schutzschild“ und alles wäre ohne Vokalgruppe nicht realisier- bandarrangements mit und ohne Sologesang sollen nicht nur gut singen, sondern sich auch bar gewesen. für die Vokalgruppen einzurichten, und be- angemessen zur Musik bewegen – ohne Über- arbeitete später neue eigene Stücke für Big- treibung, in rhythmischer Lockerheit, trotz- Ausblick band und Gesangsgruppe. dem mit präziser Abstimmung. Insbesondere die Gesellschaft zur Verwer- Auch unter den Instrumentalisten haben Singen erfreut sich wieder zunehmender tung von Leistungsschutzrechten (GVL) und sich inzwischen die Vorteile des eigenen Sin- Beliebtheit. Sangeslustige Menschen fragen gens herumgesprochen. Während es andern- nach Möglichkeiten der Mitwirkung in Chö- orts oft an der praktischen Umsetzung fehlt, ren. Chöre wiederum fragen nach attrakti- beginnt der Probentag in den BuJazzO-Ar- ven, interessanten, swingenden Bearbeitun- beitsphasen jeweils mit einem gesungenen gen beliebter Jazz-, Pop- und Gospeltitel. Ebenso „Warming Up“ – ausnahmslos für alle Teil- gefragt sind professionell und erfolgreich ar- nehmer verpflichtend. So befruchten sich beide beitende Gesangspädagogen. Bereiche gegenseitig und die gegenseitige Davon profitiert auch das BuJazzO. Das Akzeptanz und Anerkennung wächst. Die beweist die alle anderen Instrumente über- Sänger sind da deutlich im Vorteil, denn sie steigende Zahl von Bewerbungen für Gesang. spielen oder studieren alle zusätzlich ein Inst- Was beizeiten ein eigenes Auswahlvorsingen rument. Welcher von sich überzeugte Trom- nötig machte, um aus der großen Zahl die peter studiert schon nebenbei Gesang? besonderen Talente herauszufiltern. Sie ge- langen auf eine Warteliste zur Mitwirkung in Bigband-Repertoire: mit den Arbeitsphasen. Dabei sind die Frauen in Gesang ein Sprung nach vorn der Überzahl, während man bei den männli- chen Stimmen gelegentlich auf gezielte Emp- Ohne Gesangsensemble ließen sich eini- fehlungen angewiesen ist. Aber aufgrund der ge herausragende Programmschwerpunkte guten Kontakte zur Gruppe der Jazzgesangs- des BuJazzO nicht vorstellen: Es begann mit dozenten in Deutschland konnte bisher noch Sologesangtiteln aus dem reichen Archiv von jede Lücke im Tenor oder im Bass/Bariton Peter Herbolzheimer, von ihm selbst für geschlossen werden. Künstlerischer Maßstab für das BuJazzO: Vokalgruppe umgeschrieben; es folgten Big- Im Übrigen zählen zu den erfolgreichen das berühmte US-Vokalquartett „New York bandbearbeitungen von Titeln aus dem „New und effektiven Jazzgesangspädagogen hierzu- Voices“. York Voices“-Repertoire (z. B. Duke Elling- lande nicht nur namhafte Persönlichkeiten tons Caravan oder Orange Colored Sky aus wie Silvia Droste, Cameron Brown, Judy Yamaha ermöglichten finanziell diese Aus- der Feder von M. Delugg und W. Stein). Auch Niemack und Norbert Gottschalk, sondern weitung des BuJazzO-Projekts und wurden Instrumentaltitel wurden gelegentlich für Big- auch die ehemaligen BuJazzO-Sänger Annette – neben dem Bundesjugendministerium, dem band mit Vokalgruppe eingerichtet (z. B. My von Eichel, Jeff Cascaro, Michael Schiefel und WDR und der Daimler-Chrysler-AG – in den Funny Valentine des berühmten Musicalkom- Marc Secara. Kreis der ständigen Förderer aufgenommen. ponistenduos Rodgers/Hart und All Blues von Womit sich der Kreis schließt, in dem die Miles Davis). Arbeit des BuJazzO auf dem Gebiet des Ge- Normalität: ohne Gesangs- In den vergangenen beiden Jahren wür- sangs in das gesamte Musikleben zurückwirkt, ensemble kein BuJazzO digte das Orchester „40 Jahre Bossa Nova“ dem Breitengesang hilfreich zur Verfügung mit auf Portugiesisch (!) gesungenen und von steht und nicht zuletzt neuen Nachwuchs für Spricht man vom Gesangsensemble des Gastdozentin Maria de Fatima einstudierten das BuJazzO heranbildet. BuJazzO, so meint man die drei Sängerinnen Titeln weltbekannter brasilianischer Kompo- im 1. und 2. Sopran sowie Alt und die zwei nisten und Interpreten – darunter A Felicida- Der Autor: Sänger (Tenor und Bass/Bariton), die mit der de und Chega De Saudade von Antonio Car- Peter Ortmann ist Projektleiter der Bundesbegegnung Konzertbesetzung auf der Bühne stehen. Wie los Jobim, dem Komponisten des weltbe- „Jugend jazzt“ beim Deutschen Musikrat.

 32 MUSIK ORUM ˜ Im Interview: „Jazz-Pädagoge“ Matthias Becker über Ausbildung und Praxis des Jazzgesangs und Wege dorthin große Schar der Laiensänger und Liebhaber; da steht die Freude am eigen Singen im Vor- dergrund. Dem authentischen Klang auf der Spur ˜ Welche Wege zum Jazzgesang sind Sie gegangen? „Oh ja, wir haben große Talente für den Jazz- lande geprägt von Ensembles wie den Sechs- Ich habe – man glaubt es kaum – über das gesang in Deutschland!“ zylindern oder den Wise Guys. Da ist wenig bis Singen im Schulchor Anfang der 70er Jahre zum Der das sagt, muss es wissen: Matthias Becker gar kein Jazz dabei, eher kunstvolle Popstilis- Jazzgesang gefunden, über jazzige Arrange- ist einer der erfolgreichsten Pädagogen für Jazz- tik, was nicht abwertend gemeint ist. ments von Anita Kerr, der großen Protagonis- chorgesang und seit einigen Jahren als zweiter ˜ Wie fällt ein Vergleich zwischen der Jazz- tin in den 60er Jahren. Der Initiator war mein Gesangsdozent in den BuJazzO-Arbeitsphasen gesangsausbildung in Deutschland und in den Musiklehrer Hans-Werner Marquardt, der mich tätig. 2005 war er künstlerischer Leiter des Vocal- USA aus? auch mit Musik der Hi-Lo’s und Singers Unlimi- Jazz-Summit in Mainz, einem in der Welt ein- Die Amerikaner werden mit Pop, Jazz oder ted konfrontierte. Zudem wurde bei uns zu Hause maligen Festival für den vokalen Jazz. jazzverwandter Musik sozialisiert und haben den immer musiziert. Ich habe damals mein kom- „Die Talente sind in den Musikhochschulen großen Sprachvorteil des „native speakers“, die plettes Taschengeld in Tonträger investiert, zu finden oder haben bereits eine entsprechende Sprache des Jazz ist nun einmal englisch. Das gekauft wurde alles, was für mich gute Musik Ausbildung genossen“, erklärt Becker im Ge- Verständnis für die Artikulation, die Sprache und war, jede Stilistik. Der Zugang zur Musik lief spräch mit dem MUSIKFORUM. „Sie arbeiten Phrasierung rückt in Deutschland jetzt stärker somit größtenteils über das Hören und natür- zum Teil bereits selbst als Professoren oder Lehr- in den Vordergrund, soweit es den traditionel- lich über den Klarinetten- bzw. Klavierunterricht. beauftragte oder sie studieren noch und sind len Jazz, etwa den Swing betrifft. Was die Chor- Ich habe eigentlich unentwegt Musik bewusst zum Beispiel unter den Mitgliedern des Bun- leitung angeht, so ist im Moment sehr viel in rezipiert und kann das auch heute den jungen desjazzorchesters oder in den Landesjugend- Bewegung. Es gibt zahllose Fortbildungsmög- Menschen nur empfehlen. orchestern auszumachen.“ lichkeiten, gerade beim Deutschen Musikrat und ˜ Wo liegen eigentlich die Anfänge des den angeschlossenen Sängerbünden. Jazzgesangs in Deutschland? ˜ Was kann man Chören auf den Weg ge- Becker: Da fällt mir Greetje Kauffeld ein, die ben, die ihre Liebe zum Jazz entdecken? meines Wissens schon in den sechziger Jahren Bei den Chorleiterfortbildungen lege ich den recht „jazzig“ gesungen hat, auch Caterina Teilnehmern immer ans Herz, sich erst mal gute Valente oder Inge Brandenburg. Paul Kuhn war Vorbilder anzuhören, um eine Klangvorstellung eigentlich Pianist und Bigbandleiter, hat also von Jazz oder jazzverwandter Musik zu entwi- einen jazzigen Background, ohne sich selbst als ckeln. Das gilt für vokalen Jazz wie instrumen- „Jazzsänger“ zu verstehen. Meist waren es talen gleichermaßen. Ohne authentischen Klang Instrumentalisten, die nebenbei auch gesungen im Ohr und nur mit dem Notenbild ist diese haben. Heute ist das in Deutschland anders, Musik bekanntlich überhaupt nicht zu fassen. nicht zuletzt aufgrund der veränderten Ausbil- Chorleiter sollten sich in jedem Fall eine gerau- dungssituation. Es gibt „richtige“, also haupt- me Zeit privat mit der entsprechenden Musik berufliche, studierte Jazzvokalisten. beschäftigen, bevor sie damit vor ihre Chöre ˜ Worin begründet sich die aktuelle gro- treten. Bleibt diese verantwortungsvolle Aus- ße Nachfrage nach Anleitung zum Jazzgesang einandersetzung aus, wird der Chor am Ende in Chören und Ensembles? auch keine Freude beim Musizieren haben. Die Nachfrage betrifft Profi- und Amateur- ˜ Welche Tipps gibt es für junge Leute, ensembles gleichermaßen. Hier geht es oft um die sich dem Jazzgesang widmen wollen? die Klanglichkeit, um Sound, Intonation, Arti- Sicherlich sind die Musikhochschulen der Ort, kulation, Sprache, Stilistik, Groove, Gefühl... es an dem Jazzgesangausbildung professionell be- „Die Stimme ist das schönste Instrument, geht um die MUSIK. Manchmal ist auch Basis- trieben wird. Für Amateure und Liebhaber sind das wir kennen“: Schulmusiker, Dirigent und arbeit angesagt, wie z. B. methodische und di- es eher die Seminare, Workshops oder Jazz- Musikwissenschaftler Matthias Becker war 1. daktische Aspekte der Einstudierung von Jazz- kurse in Akademien oder freien Trägerschaf- Preisträger beim Bundeswettbewerb Gesang in der Sparte Jazz. und Popchorliteratur. ten. Studierwilligen wäre zu raten, den entspre- ˜ Jazz in Chören – ist das eine wirklich chenden Musikhochschulen einmal einen authentische oder nur originelle Sache? Vorbesuch abzustatten und mit den Dozenten In Frankfurt habe ich später Schulmusik stu- Die Chormusik in Deutschland ist stark von persönlich Verbindung aufzunehmen. Denn es diert, anschließend Dirigieren bei Helmuth Ril- der Tradition geprägt, weshalb auch der a cap- wird zwar inzwischen vielerorts ein Studium für ling. Ein Jazzstudium war in den 70er Jahren in pella-Aspekt über die Maßen im Vordergrund Jazzgesang angeboten, dahinter verbergen sich Deutschland nicht möglich. Da waren die Hol- steht, was ja keineswegs jazztypisch ist. Alles, aber – abhängig vom jeweiligen Dozenten – länder und die Österreicher schon weiter. was außerhalb des „klassischen“ Repertoires stilistisch sehr unterschiedliche Schwerpunkte, Deutschland war in den 70ern noch fast eine erklingt, ist im landläufigen Sprachgebrauch der die sich im Spektrum zwischen Experimentel- Diaspora des Jazzgesangs. So habe ich mir das Chorszene schon Jazz, obwohl eigentlich eher ler Musik, Swing, Musical, Scatgesang und rei- Singen autodidaktisch angeeignet, anfangs noch vom Pop oder auch von der Gospelmusik be- ner Stimmbildung bewegen. Man muss als Stu- bei den Jazzkursen in Burghausen mit Joe Vie- einflusst. Es gibt durchaus Chöre, wenn auch dierender vorab wissen, was man lernen will ra und Axel Prasuhn. nur wenige, die sich auf Jazzmusik spezialisie- und welches Angebot an welcher Hochschule ren. In der Breite ist es eher Popmusik, hierzu- existiert. Jazzkurse wenden sich mehr an die Das Gespräch führte Peter Ortmann

 MUSIK ORUM 33 FOKUS

Michael Rebhahn besuchte das Festival „Stimme+“ im ZKM Gewitter IM KLANGDOM

as Institut für Musik und Akustik des Zentrums für Kunst und Medien- Ausgangsmaterial für ihre gelungene Perfor- Dtechnologie (ZKM) veranstaltete im Mai das Festival „Stimme+“, mance. das neben aktuellen Werken, die die Rolle der menschlichen Stimme im Dieter Schnebel, versierter Spezialist auf dem Gebiet der Musikalisierung stimmlicher elektronischen Kontext thematisieren, auch Arbeiten der Pioniere des Artikulation, hatte gemeinsam mit dem En- Genres präsentierte – darunter Karlheinz Stockhausens Gesang der Jüng- semble „Maulwerker“ eine neue Version sei- linge. ner offenen Komposition Maulwerke erarbeitet. Die Maulwerke gehören derjenigen Gruppe Rückblende auf die Uraufführung des Stock- „Die Stimme“, stellte Luciano Berio 1966 seiner Stücke an, die bewusst nicht als aus- hausen-Werks am 30. Mai 1956 im Großen in einem Essay fest, „vom unverschämtesten komponiertes Resultat, sondern als detailliertes Sendesaal des Westdeutschen Rundfunks in Geräusch bis zum vornehmsten Gesang, Konzept für den Interpreten vorliegen – mit Köln: Als die leibhaftigen Musiker ausblie- bedeutet immer etwas, verweist immer auf den Worten Schnebels: „…als präpariertes ben und Bühne und Zuschauerraum statt- etwas anderes außerhalb ihrer selbst und schafft Material zur Hervorbringung von Musik“. Für dessen von riesigen Lautsprecherboxen be- eine große Bandbreite an Assoziationen kul- ein Ensemble solistisch agierender Sprecher herrscht wurden, zeigte sich das Publikum tureller, musikalischer, alltäglicher, emotionaler, konzipiert, organisieren die Maulwerke fone- sichtlich irritiert. Und als schließlich die Mu- psychologischer Art.“ Wie vielfältig die Kon- tische Materialien unter den Gesichtspunk- sik begann, schlug die Verunsicherung viel- texte sein können, in denen das Phänomen ten musikalischer und semantischer Parameter; fach in Belustigung um. Nicht wenige Zuhö- „Stimme“ Raum greift, war in Karlsruhe aus- es finden Verbindungen und Überschichtungen rer quittierten die Aufführung mit lautem giebig zu erfahren. von geräuschhaften, lautlichen und sprach- Gelächter. lichen Prozessen statt. In der für das ZKM Fast genau 50 Jahre nach jenem „Skan- Unwirsches Gemurmel erstellten Ensembleversion besorgte der „Klang- dal“ war das epochale Werk, das als erste dom“, ein Hightech-Instrument zur Klangver- elektroakustische Komposition den Raum als Im Eröffnungskonzert bewies der Englän- räumlichung, die Projektion der Klänge in musikalischen Parameter organisierte, nun im der Trevor Wishart mit seiner 1994 entstan- den Konzertsaal. Atemzüge und Zungenschlä- ZKM in Karlsruhe zu hören. Gelacht wurde denen Komposition Tongues of Fire für 2-Kanal- ge, gutturale Laute und sprachähnliche Pho- nicht mehr. Tonband die Wandlungsfähigkeit eines Stimm- neme schienen von überall herzukommen, Anlässlich des Festivals „Stimme+“ waren klangs. Ausgehend von einem unwirschen waren nicht mehr allein im Bühnenraum in vier Konzerten zwölf Kompositionen zu Gemurmel, das die Quelle sämtlicher Mate- verortbar, womit Schnebels Ideal eines uni- hören, darunter drei Auftragswerke des ZKM. rialien des Stücks bildet, entwickelt Wishart versalen Dialogs kongenial entsprochen wurde: Insgesamt war das „plus“ zweifach charakte- die unterschiedlichsten Klanglichkeiten. Mittels „Ich hatte das Gefühl, dass das Publikum ristisch: Additiv im thematischen Konzept und digitaler Signalbearbeitungstechniken erzeugt mitmacht“, sagte der Komponist nach der als „Gütesiegel“ mit Blick auf die ansprechende er Klänge, die an das Ticken einer Uhr, an Aufführung begeistert. Programmgestaltung und die gelungenen In- fließendes Wasser, Schläge auf Metall oder terpretationen. die Geräuschkulisse eines Feuerwerks erin- Methodische Tristesse nern. Im erweiterten Sinn in der Tradition der „musique concrète“ bewegten sich Jen- Mit der ironischen Brechung didaktischer nifer Walshe und Bernhard Gál. Ihr Stück Semantik beschäftigte sich im selben Kon- dub/ber/vie erkundet die möglichen Verbin- zert die Komponistin und Hörspielautorin dungen zwischen Stimmklängen und den sie Antje Vowinckel. Ihr zur Live-Performance umgebenden Klangräumen. Feldaufnahmen umgearbeitetes Hörspiel Call me yesterday, aus einer Tierhandlung, von einem türkischen das 2005 mit dem Karl-Sczuka-Förderpreis Markt in Berlin-Kreuzberg, einem Streichel- zoo und einem Supermarkt bildeten das

 34 MUSIK ORUM Geräuschkulisse eines Feuerwerks: Der Engländer Trevor Wishart (links) demonst- rierte beim Festival die Wandlungsfähigkeit eines Stimmklangs. „Präpariertes Material zur Hervorbringung von Musik“ legte Dieter Schnebel (rechts) mit seinen Maulwerken vor.

© Schott Promotion/Peter Andersen

© Wishart

ausgezeichnet wurde, spielt mit den bisweilen individuellen Zugang ans Gelesene, dass dessen und Noa Frenkel) enigmatisch einzelne Wort- absurden Diktionen von Sprachkursschallplat- Kundgabe qua Musik dem Hörer weitestge- fragmente einflechten. ten aus den 50er bis 70er Jahren. Die me- hend verschlossen blieb. Der zweite Nono setzte den grandiosen thodische Tristesse, in der die perfekte Arti- Ähnlich unzugänglich wirkte die von Phillip Schlusspunkt des Festivals: Zu hören war die kulation einzelner Laute und Silben jeder Noll und Jens Paulus konzipierte Komposi- Komposition Quando stanno morendo, das sprachlichen Lebendigkeit übergeordnet wird, tion ICHNICHTICH für Stimme, Schlagzeug zweite der „Polnischen Tagebücher“. Ursprüng- abstrahiert Vowinckel in Form rhythmischer und Akkordeon, die in Zusammenarbeit mit lich sollte das Werk im Rahmen des War- und melodischer Variationen des Materials der Sopranistin Dunja Vejzovic entstand. Die schauer Herbstes 1982 uraufgeführt werden; und stellt so den eigenwilligen musikalischen musikalische Beleuchtung menschlicher In- die Verhängung des Kriegszustands durch Ge- Reiz der schulmeisterlichen Monotonie durch- dividuation im Kontext des Spracherwerbs neral Jaruzelski im Dezember 1981 verhin- aus humorvoll heraus. war die Intention der Komponisten: vielleicht derte dieses Vorhaben. „Umso mehr wollte Ludger Brümmer, Leiter des Instituts für eine etwas zu globale Themenstellung. ich das ‚Diario‘ schreiben“, erinnerte sich Nono, Musik und Akustik, war bei „Stimme+“ mit „hoffend das nicht zu Hoffende, glaubend das einer beeindruckenden Neuinterpretation Verzweifelte Unruhe nicht zu Glaubende.“ Es entstand eine Kom- seines 1993 entstandenen Stücks The Gates position von höchster Eindringlichkeit, von of H. vertreten. Die Komposition basiert auf Fragloser Höhepunkt von „Stimme+“ war nachgerade verstörendem Fluidum, das die dem zweiminütigen Sample eines Volkslieds, das Abschlusskonzert im Lichthof des ZKM. Interpreten der Karlsruher Aufführung aufs gesungen von einem bulgarischen Frauen- Der Luigi Nono gewidmete Abend begann Beste herzustellen vermochten. Der „vokale chor. Durch die Anwendung eines Algorith- mit der Komposition Guai ai gelidi mostri Zug zur Höhe“ (Josef Häusler), Nonos Be- mus auf das Basismaterial wird eine Span- („Wehe den kalten Ungeheuern“) für zwei vorzugung hoher und höchster Stimmla- nung zwischen „Original“ und synthetischem Altstimmen, Ensemble und Live-Elektronik, gen, von den Sängerinnen Petra Hoffmann, Muster erzeugt und eine Verunklarung bei- das weitgehend in der Besetzung der Urauf- Elisabeth Rave, Monika Bair-Ivenz und Su- der Ebenen erreicht: Die Stimmung der Aus- führung (Köln,1983) interpretiert wurde. Einen sanne Otto mit Leichtigkeit in Szene gesetzt, gangsmusik findet sich ins Gegenteil verkehrt; Kommentar zur „Kälte der kapitalistischen schien die Musik zu entmaterialisieren. Die aus dem beschwingten Volkslied wird in der Gesellschaft“ wollte Nono mit seinem Stück verhaltenen Instrumentalklänge (Roberto elektronischen Adaption eine düstere Klang- formulieren, eine Komposition „mit einem Fabbriciani, Bassflöte, und Christine Theus, landschaft, in der unvermittelte Attacken wie Maximum an Unsicherheit, mit dem Maxi- Violoncello) sowie die behutsam eingesetzte Blitze aufscheinen. Brümmer vergleicht die- mum der verzweifelten Unruhe“. Doch bei Elektronik verstärkten den Eindruck des Un- se „Verfremdungsarbeit“ mit Techniken aus aller evozierten Nervosität bleibt es letztlich greifbaren. Das Resultat war ein 40-minüti- der visuellen Kunst: „Ein bereits fertiggestell- die Stille, die Verhaltenheit, die in Guai ai ges Klangkontinuum, das zu verstehen gab, tes Bild wird mit Hilfe von Masken oder Fil- gelidi mostri zur zentralen ästhetischen Kate- dass etwas in den ephemeren Klängen auf- tern zu etwas völlig Neuem verformt. Ort gorie gerät. Neben den Instrumentalklängen gehoben ist, was sich einer semantischen und Farbe im Bild entsprechen beim Klang folgt auch die Elektronik dieser Maxime: Nicht Dechiffrierung entschlägt und eine andere Zeit und Tonhöhe.“ als „Verstärker“ wird sie hier begriffen, son- Wahrnehmung einfordert: ein Staunen, ein Die Taiwanesin Pei-Yu Shi, seit 2004 Gast- dern als ein Mikroskop, als Sonde, die in den ungläubiges Nachlauschen, das ahnen lässt, künstlerin am ZKM, präsentierte eine in Musik Klang eintaucht und das darin Verborgene wie wirkmächtig jene Botschaften sind. übersetzte Erfahrung eines lyrischen Textes: zum Vorschein bringt. Dabei entsteht ein fi- Der Autor: Ihr Stück Zwei singende Klarinetten für Klari- ligranes Gewebe aus changierenden, bald schil- Michael Rebhahn studierte Musikwissenschaft, Kunst- nette und Tonband versucht, die Emotionen lernden, bald düster vibrierenden Klängen, geschichte und Philosophie. Er arbeitete als Redaktions- und Wahrnehmungen einzufangen, die Shi in das die beiden Altstimmen (Susanne Otto assistent für die Neue Zeitschrift für Musik, als Autor für beim Lesen von Ingeborg Bachmanns Ge- 3sat-Kulturzeit und als Lehrbeauftragter für Musikwis- senschaft an der Universität Frankfurt. Seit 2001 ist er dicht Fall ab, Herz empfand. Womöglich lag ständiger freier Mitarbeiter der Redaktion Neue Musik es an der Hermetik jener Erfahrung, am allzu beim Hessischen Rundfunk.

 MUSIK ORUM 35 FOKUS

Vom 28. Juli bis 6. August war ganz Mainz eine Bühne: 3000 Sänger trafen

Impulse FÜR EINE BUNTE

Generalsekretätin Sonja Greiner im Gespräch über die Ausstrahlungs- kraft des Chortreffens und über Wert und Arbeit der Sängerföderation

ls europäisches Netzwerk Wie sind Sie zu Europa Cantat ge- Aspekt gefehlt hat, wie etwa beim französi- Avon Chororganisationen und kommen? schen Chortreffen „Choralies“, das es seit Chören repräsentiert „Europa Sonja Greiner: Angefangen hat es da- den 50er Jahren gibt, bei dem aber nur mit, dass ich in meiner Schulzeit beim dama- französischsprachige Sänger zusammenge- Cantat“ mehr als eine Million ligen Generalsekretär von Europa Cantat führt werden. In der Folge hat es sehr viele Sänger und Chorleiter in 42 Län- im Schulchor gesungen habe. Er hat mich kleinere Veranstaltungen gegeben, die wir dern. Hauptziel: die qualitative in Europa Cantat eingeführt. Nach dem zum Teil auch in Kooperation mit durch- Verbesserung der Vokalmusik in Studium wurde ich als Geschäftsführerin führen, die aber zum Teil unabhängig von ganz Europa. eines Chorwettbewerbs engagiert. Von dort uns laufen. In Israel gibt es ein Modell, das aus bin ich dann angesprochen worden, ob auf Europa Cantat aufbaut, die Zimriya, Daneben hat es sich Europa Cantat aber ich stellvertretende Generalsekretärin und und es gibt inzwischen auch ein America auch zur Aufgabe gemacht, durch gemeinsa- dann Generalsekretärin von Europa Cantat Cantat und ein Asia-Pacific Cantat. mes Singen, durch die Förderung von Aus- werden möchte. Ehrenamtlich war ich dort tausch und der Entwicklung des kulturellen schon als Studentin seit 1982 tätig, haupt- Erbes sowie durch Weiterbildungsmaßnah- beruflich bin ich seit 1995 dabei. men zur besseren Verständigung und Zusam- menarbeit in Europa beizutragen: „Es sind Wenn Sie schon so lange dabei sind: unsere Unterschiede, die uns vereinen, nicht Was macht für Sie heute die Faszination trennen.“ dieses „Gesamtkunstwerks“ aus? Blick zurück: 1960 gab es auf musikali- Greiner: Für mich ist es die Faszination scher Ebene erste Bestrebungen, die nach dem der Begegnung zwischen den Ländern und Zweiten Weltkrieg noch tödlich verfeinde- das Musizieren zwischen den Kulturen. ten Völker Europas wieder zu vereinen: „A Das, was Europa Cantat sicherlich von Coeur Joie" (ACJ) aus Frankreich und der vielen anderen Festivals unterscheidet, ist, „Arbeitskreis Musik in der Jugend“ (AMJ) dass man nicht nur füreinander, sondern machten sich gemeinsam Gedanken über ein wirklich miteinander musiziert. Zehn Tage europäisches Chorfestival, das sie dann 1961 lang lebt, isst, spielt und unterhält man sich mit der Premiere von „Europa Cantat 1“ in miteinander. Dadurch bekommt man tiefe- Passau feierten. 1963 wurde der Verein „Eu- re Einblicke in die Unterschiede zwischen ropa Cantat“ von ACJ und AMJ sowie füh- den Kulturen und entdeckt gleichzeitig renden Chorleitern aus sechs europäischen natürlich auch die Musik dieser anderen Ländern offiziell aus der Taufe gehoben. Kulturen. Diese Mischung macht für mich Heute ist Europa Cantat die größte euro- die große Faszination aus. päische Chorföderation, vereint unter der Füh- rung von Präsident Jeroen Schrijner 40 natio- Ist Europa Cantat tatsächlich ein ein- nale Chorverbände, mehrere hundert Chöre zigartiges Projekt oder gibt es Vergleichbares? sowie Einzelmitglieder aus 50 Ländern. Greiner: Es gibt vergleichbare Treffen, Über den Wert des Singens und die Zu- aber nicht mit einer entsprechenden euro- kunft von Europa Cantat sprach Christian päischen Dimension. Wir sprechen inzwi- Höppner mit Generalsekretärin Sonja Grei- schen auch von Schwestertreffen. Einige ner. sind schon davor entstanden, manche waren sozusagen Modelle für Europa Can- tat, bei denen aber dann der internationale

 36 MUSIK ORUM sich zu „Europa Cantat XVI“, dem größten europäischen Chorfestival

EUROPÄISCHE CHORSZENE

Eine sehr umfangreiche Wirkungs- Wege suchen, um zu singen. Sie arbeiten Geht der Trend hin zu kleineren breite nach außen. Wie sieht es denn mit der mehr projektorientiert als in Chören und Ensembles und darüber hinaus zu weiterer Wirkung nach innen aus, Singen in Deutsch- wollen nicht mehr unbedingt Mitglied in Individualisierung, etwa zu dem Bedürfnis, land ist ja ein schwieriges Feld… einem Verein werden. Eine Shell-Studie sich selbst über die Stimme zu entdecken? Greiner: Es war für uns sehr spannend, zur Jugend hat ergeben, dass die Neigung Greiner: Wie weit der Trend geht, ist dieses Jahr mit dem Festival „Europa Can- zu kurzfristigen Projekten statt einer lang- sicherlich eine Frage von Zahlen, von Sta- tat XVI“ in Mainz nach 45 Jahren wieder jährigen Bindung auch für die restlichen tistiken. Ich glaube, der Hauptpunkt ist, nach Deutschland zurückzukehren, weil Bereiche der Freizeit zutrifft und das wirkt dass die eigene Stimme mehr wert geschätzt wir uns dadurch auch wieder intensiver sich natürlich auf die Chorwelt aus. Viele wird und man in einem kleineren Ensemble mit dem Chorgesang in Deutschland be- singen inzwischen lieber in Vokalensembles, eine höhere Verantwortung trägt. Das fasst haben. Ich glaube, dass es unterschied- in kleineren Gruppen mit verschiedenen heißt, die Frage, ob man gut ist oder nicht, liche Bewegungen gibt. Zum einen ist es Musikstilen. Das hat für uns zur Folge, dass wirkt sich wesentlich stärker aus. Gleichzei- sicherlich schwieriger geworden, Jugend- wir bei unseren Festivals inzwischen auch tig kann man aber auch mehr beeinflussen, liche heute in die traditionellen Chorstruk- Ateliers für Vokalensembles anbieten, dass steuern und eine bessere Qualität in einem turen einzubinden, von denen es gerade in wir mehr Vocal-Jazz, Vocal-Pop oder Musi- kleinen Ensemble erreichen, als wenn man Deutschland zahlreiche gibt. Diese Struktu- cals ins Programm nehmen, um die Jugend- in einem großen Chor mitsingt. ! ren neigen inzwischen zur Überalterung, lichen mit dabei zu haben. Der Effekt war, was aber nicht unbedingt heißt, dass Jugend- dass wir dieses Jahr sehr viele Jugendliche Musikalische Brücken: Asiatische und euro- liche heute nicht mehr singen wollen. Es mit sehr hoher Qualität bei unserem Festi- päische Chöre sangen gemeinsam beim bedeutet zunächst nur, dass sie sich andere val in Mainz hatten. Kinderchorkonzert anlässlich von „Europa Cantat XVI“. © Europa Cantat/Semmelweiß FOKUS

Könnte man also zusammenfassend musik zu vertreten. Dort haben wir an der sagen, dass es zu einer Professionalisierung des Abfassung von Stellungnahmen, z. B. zu den Laienmusizierens, des Laiensingens kommt? Kulturprogrammen der Europäischen Union, Greiner: Das kann man sicherlich fest- mitgewirkt. Wir waren der Meinung, dass stellen. Mittlerweile gibt es ja schon den Aspekte dieser Programme an der Realität Bedarf, diese neue Zwischenszene, die vorbeigehen und viele unserer Verbände zwischen der reinen Amateurwelt und der Interkultureller Dialog: Sonja Greiner keine Chance zur Mitarbeit haben, wenn Profiwelt entstanden ist, irgendwie zu be- bemüht sich um die Verbreitung von die Programme nicht verbessert werden. nennen. Heute spricht man gerne von den Liedrepertoire verschiedener Kulturen. semiprofessionellen Chören, die ihr Geld Dies sind ja auch Schwerpunktthemen eben nicht mit dem Chorgesang verdienen, Verbreitung von Repertoire verschiedener des Deutschen Musikrats in der strategischen aber von der Qualität her mit professionel- Kulturen. So haben wir dieses Jahr ein Volks- Ausrichtung. Gibt es da Verbindungen und len Chören vergleichbar sind. liederheft herausgebracht: Zwei Sammlun- Abstimmungen im Hinblick auf eine Zusam- gen, eine für gemischten Chor und eine menarbeit gerade im musikpolitischen Bereich? Wie sieht es – angesichts des verstärk- für gleichstimmigen Chor, weil wir auch Greiner: Ich habe immer Kontakt mit ten Engagements junger Menschen – mit ganz bewusst das Volksliedersingen in den dem Deutschen Musikrat gehabt. Mal mehr, dem demografischen Wandel aus? Ist der bei Ländern wieder anregen möchten, in denen mal weniger. Zum einen, weil ich 2002 Europa Cantat schon angekommen, gibt es es inzwischen fast ausgestorben ist. Zusam- selber in den Vorstand des Europäischen ein vermehrtes Zusammenmusizieren zwischen men mit dem Carus Verlag haben wir diese Musikrats gewählt worden bin. Zum ande- den Generationen? Sammlung mit guten Volksliedvertonungen ren, weil wir mit den Chorprojekten des Greiner: In der Tat. Unsere Gründerge- von renommierten Komponisten herausge- Deutschen Musikrats regelmäßig in Ver- neration, die vor 45 Jahren selbst noch jung geben, in der fast alle europäischen Länder bindung stehen. Ich denke aber, man kann war, ist der Bewegung natürlich zum gro- vertreten sind. Zu der Sammlung kommt in Zukunft noch vieles besser machen und ßen Teil treu geblieben. Vor einigen Jahren eine Aussprache-CD sowie eine CD, auf intensivieren. Ich beschäftige mich derzeit hatten wir das Problem, dass das Verhältnis der ein Chor aus dem jeweiligen Land singt, z. B. mit der UNESCO-Konvention zur zwischen den Junggebliebenen und den sodass man die Lieder auch in vielen frem- Förderung der kulturellen Vielfalt und mit Jugendlichen nicht mehr stimmte. Dann den Sprachen lernen kann. Wir versuchen, der Frage, wie wir unsere Mitgliedsverbände haben wir sehr aktiv daran gearbeitet, etwa das gezielt zu fördern und das Bewusstsein dazu anregen können, in dieser Sache aktiv durch die Änderung des Repertoires und dafür zu wecken, dass es in anderen Län- zu werden. Ich habe die Verbände darauf durch reduzierte Gebühren für unter 27- dern viel Interessantes zu entdecken gibt. hingewiesen, dass sie erst einmal in ihrem jährige. Wir wollen die Begegnung, wollen Land Kontakt zum nationalen Musikrat auf- auch den Dialog zwischen den Generatio- Europa Cantat definiert sein Selbst- nehmen sollen, sofern ein solcher existiert, nen. Das ist ein explizites Ziel unseres Fes- verständnis vor allem durch das praktische damit sie nicht auf zwei Ebenen arbeiten, tivals, auch wenn es ein Jugendchorfestival Tun und die Begegnung. Gibt es auch das sondern kooperieren. Da gibt es sicher noch ist. Ich denke, die Überalterung ist in vielen Bestreben, eine musikpolitische Kraft zu sein? weitere Möglichkeiten in der Zukunft. Chören ein Problem. Oft kommt es dann Greiner: Auf jeden Fall. Neben den vie- zur Tendenz, dass eher neue Jugendchöre len Chorbegegnungen und Fortbildungs- Wenn die Generalsekretärin eines gegründet werden, als dass der Dialog veranstaltungen organisieren wir seit einigen europaweit vernetzten Projekts sich permanent zwischen den Generationen stattfindet. Jahren auch Konferenzen zu musikpoliti- um Rahmenbedingungen kümmert, bleibt da schen Themen. Wir haben uns bereits sehr noch Zeit zum Entdecken der eigenen Stimme? Der Dialog der Kulturen ist ja schon intensiv mit der Musikerziehung beschäftigt, Greiner: Das ist wahrhaftig schwierig, in dem Projekt selbst angelegt. Welche Impulse haben versucht, ein Bild zu erstellen, wie weil ich europaweit tätig und sehr viel und Auswirkungen kann das denn für den es damit in den verschiedenen Ländern unterwegs bin. Aber inzwischen, nach zehn interkulturellen Dialog in Deutschland haben? aussieht und welche Rolle der Chorgesang Jahren Pause, habe ich mir wieder einen Greiner: Ich hoffe, dass es Auswirkun- innerhalb der Musikerziehung spielt. Wir Chor gesucht, in dem ich regelmäßig singe. gen haben kann. Wir hatten relativ viele haben zunächst versucht, die Situation zu Einen, der vielleicht eher unter meinen deutsche Teilnehmer bei unserem Festival erkennen, haben dann aber auch Wünsche Möglichkeiten liegt, was die Qualität betrifft. in Mainz. Sie konnten dort Sänger aus 48 und Forderungen formuliert, die wir über Doch so kann ich es mir leisten, Proben zu Ländern begegnen. Generell haben wir unsere nationalen Chorverbände an die verpassen und trotzdem bei den Konzerten viele deutsche Mitglieder und Teilnehmer, Kultus- und Jugendministerien weitergeleitet mitzusingen. Ich habe mal mit jemandem was natürlich auch damit zutun hat, dass haben. Im vergangenen Jahr haben wir eine darüber gesprochen, Chöre in Eisenbahn- Deutschland als Chorland bekannt ist. Wir Konferenz zum Thema „Kulturelle Identität zügen ins Leben zu rufen – für alle, die glauben, dass bei unseren interkulturellen und Mobilität“ abgehalten. Für die nächsten ständig unterwegs sind und keine Zeit mehr Veranstaltungen der Multiplikatorfaktor ins Jahre plant unser Vorstand, einen Schwer- fürs Singen haben. So könnte man z. B. im Spiel kommt und dass viele Chorleiter und punkt auf die Frage der sozialen Funktionen ICE zwischen Berlin und Bonn einen Chor Sänger Stücke mit nach Hause nehmen des Chorgesangs zu legen – mit der Frage- einrichten und das tun, wozu man sonst und dann sagen: „Das müssen wir bei uns stellung: Wie kann Integration von kultu- keine Gelegenheit findet. auch mal singen.“ Damit schließt sich sozu- rellen Minderheiten und von Behinderten sagen ein Kreis und plötzlich taucht dieses durch Chorgesang stattfinden? Wunderbar, wir sollten gemeinsam Lied in den Folgejahren überall wieder auf. Wir sind Mitglied im Europäischen Bahnchef Mehdorn anrufen! Zunächst aber Aber wir bemühen uns auch aktiv um die Musikrat, um dort die Stimme der Chor- herzlichen Dank für das Gespräch!

 38 MUSIK ORUM Nach dem Deutschen Chorwettbewerb: Andreas Bomba beleuchtet die Sängerszene Spiegel GESELLSCHAFTLICHER REALITÄT

ie Spitze wird sichtbar. Deutsche Musikrat bietet darüber hinaus Sti- Bild oben: Der Junge Männerchor Magde- DEndlich!“ So resümierten pendien und Seminare für Dirigenten, Anre- burg beim Deutschen Chorwettbewerb in „ Kiel. © Jan Karow/Deutscher Chorwettbewerb Deutschlands Chormusikfreunde gungen zur Literaturauswahl, Kompositions- aufträge und (bisweilen auch) -wettbewerbe, die Ergebnisse des 1. Deutschen deren Ergebnisse in Sonderkonzerten des Chorwettbewerbs. Das ist 25 folgenden Chorwettbewerbs aufgeführt wer- heiten der Chöre und ihrer Dirigenten mussten Jahre her. den. zurückgestellt, Herausforderungen gesucht und Das Ereignis Deutscher Chorwettbewerb angenommen werden. Erste Hürde war dann In diesem Jahr, nach der siebten Auflage an sich wirkt bei den Teilnehmern lange nach. die Qualifikation beim jeweiligen Landeswett- des im Vierjahresturnus durchgeführten Wett- Natürlich ist es ein schönes Gemeinschafts- bewerb wie „Jugend musiziert“ und der Deut- bewerbs, lautet das Urteil: „Die Spitze wird erlebnis, eine Chorreise, die die Sänger aus sche Orchesterwettbewerb hat auch der DCW breiter!“ Eigentlich logisch, bei so viel Förde- dem Alltag heraushebt. Besonders spannend: eine föderale Struktur. In vielen Jahren Klein- rung, die der Deutsche Chorwettbewerb Der Chor muss auf den Punkt optimal vor- arbeit ist es den Verantwortlichen – früher: (DCW) als Ganzes für die Chorszene bereit- bereitet und fit sein. Dafür haben sie heftig Hauptausschuss, heute: Projektbeirat – zudem stellt. Es ist ja nicht nur der Wettbewerb, der und lange geprobt, Stücke unterschiedlicher gelungen, die Ausschreibungen, das heißt: das als einwöchiges Chorfest an wechselnden Or- Epochen und Stilistik, wie vom Reglement Reglement der Landeswettbewerbe dem des ten, diesmal in Kiel, durchgeführt wird. Der gefordert. Manche Vorlieben und Gewohn- Bundeswettbewerbs anzupassen. !

 MUSIK ORUM 39 FOKUS

Viele Chöre nutzen die Gelegenheit, nach Besser und ter. Viele stimmlich ausgebildete Sänger schaf- dem eigenen Wettbewerbsbeitrag der Kon- fen es auch, weitere Talente zu entfalten, neben kurrenz zuzuhören, sie kennen zu lernen. In schöner singen dem Singen anderen Tätigkeiten nachzuge- Kiel, wie auch in den vergangenen Jahren in hen: Ihr Einkommen ist ein Mix aus vielem Osnabrück, Regensburg und Fulda, arrangierte – die Erfinder der Ich-AG fänden hier breite die Wettbewerbsleitung zu diesem Zweck so macht einfach Bestätigung. Man sollte diese Entwicklung nicht genannte Begegnungskonzerte. Solche Kon- heroisieren – aber man muss sie wenigstens takte gipfeln immer wieder in gegenseitigen zur Kenntnis nehmen. Hat man es nun mit Einladungen oder auch gemeinsamen kon- mehr Spaß! Profis zu tun oder nicht? zertanten Unternehmungen. Wer will, kann Der Deutsche Chorwettbewerb versteht während des Wettbewerbs auch zur Gestal- sich als Förderung der Laienchöre; man könnte tung von Gottesdiensten beitragen, in Kran- auch, in Vernachlässigung der wenigen Be- kenhäusern, Sozialeinrichtungen und sogar rufschöre, mit Recht sagen: des Chorwesens in Justizvollzugsanstalten singen. Und wem an sich. Es gibt sie noch, die „ursprünglichen“ es immer noch nicht reicht, der singt spon- Ensembles in Bereichen agieren, die von den Laien (viel schöner wäre der im Sport übli- tan auf der Straße, im Bus, auf Plätzen, in Profis gemieden werden, also Blaskapellen, che Begriff „Amateure“): die Kirchenkanto- Höfen – Chorsingen ist so einfach, macht Akkordeonisten und Zupforchestern aller Art. rei, den Gesangverein und Männerchor auf Spaß, und das meiste Repertoire können die Den bei den Chorverbänden registrierten dem Land und natürlich die Schulchöre und Sänger auch auswendig. 48441 „Laien“-Chören mit über 1,35 Millio- Kinderchöre. Wenn die Erwachsenenchöre nen Mitgliedern stehen lediglich sieben Rund- ihre Leistung verbessern, indem sie aus dem Spitze wird breiter funkchöre gegenüber, nimmt man die Thea- beschriebenen Reservoir freier Sänger schöp- terchöre mit ihren spezifischen, von Ama- fen, tun sie dies nicht, wie die Kritiker unter- Die Spannung auf das Ergebnis entlud sich teuren nicht zu erbringenden Aufgaben aus. stellen, um der Konkurrenz zu schaden. Nur auch in Kiel öffentlich. Viele Kieler wussten Das meiste, was diese professionellen Chöre Kurzsichtige könnten versuchen, mit eigens durch die überall singenden Chöre, aber auch singen (ausgenommen: die extreme vokale zusammengestellten, getarnten Projektchö- durch die exzellente Berichterstattung ihrer Avantgarde), können die Laien auch. Man- ren den Wettbewerb zu unterlaufen – aber Zeitung, dass der Chorwettbewerb in ihrer che Experten behaupten, sie können es sogar mit welchem Ziel? Man kann gerne einen Stadt gastierte. Viele nahmen auch die Gele- fast oder genauso gut. pädagogischen Effekt darin sehen: Besser und genheit wahr, herausragende Chöre in den Der Unterschied in der Statusfrage – also, schöner Singen macht allen einfach mehr Spaß. Sonderkonzerten zu hören. Wer dennoch nichts ob ausgebildete Chorsänger von ihrem Tun Die Kunst, beim a cappella-Gesang die Into- mitbekommen hatte, rieb sich am Abschluss- auf einer mit Gebühren oder Steuergeldern nation zu halten, weil ein paar dabei sind, die tag die Augen: Einige tausend Menschen, junge bezahlten Planstelle leben oder ob sie in ih- das können und die anderen mitziehen, ist und alte, versammelten sich auf dem Rat- rer Freizeit oder auf eigenes Risiko singen – nicht zu kritisieren. hausplatz. Jürgen Budday, der Wettbewerbs- hat nicht mehr notwendigerweise einen Quali- Vor allem aber dient die Entwicklung der leiter rief die Chöre einzeln auf, sortiert nach tätsunterschied zur Folge. Viele stimmlich aus- Chöre der Musik an sich. Chöre sind ja kein den Kategorien, in denen sie gestartet wa- gebildete, vor allem junge Sänger treten in Selbstzweck, sondern dazu da, Musik zu ren. Selbst die mit den wenigsten Punkten leistungswillige, gut geführte Chöre ein oder machen. Und das tun sie flächendeckend in bekamen viel Applaus. Der große und laut- gründen selbst welche und sind bereit, mit Deutschland und, wie der DCW in Kiel er- starke Jubel blieb den Preisträgern vorbehal- überschaubaren Konzerteinnahmen zu ihrem neut bewies, auf hohem Niveau. Der Respekt ten, den 21 dritten, 13 zweiten und 10 ersten, Lebensunterhalt beizutragen. Im Orchester- vor dem Kunstwerk gebietet einfach, es best- die die Jury erkoren hatte. Bei 101 teilnehmen- bereich ist das nicht anders, vornehmlich bei möglich aufzuführen. Guter Wille allein langt den Chören ein Anteil von immerhin 40 der Alten und der Neuen Musik, die über dabei nicht. Das viel beschworene Sterben der Prozent – die Spitze wird tatsächlich breiter. keine stellenfixierte Struktur verfügen. Das Chöre auf dem Land hat auch mit diesem Die Chorlandschaft aber ändert sich in Vorhandensein einer stattlichen Anzahl sol- zögerlichen Bekenntnis zur Leistung zu tun. Deutschland. Man kann diese Entwicklung cher jungen Leute ist ein Ergebnis der Exis- Und damit, dass die Jungen die Musik der an verschiedenen Details ablesen: z. B. an tenz von 25 Musikhochschulen in Deutsch- Alten nicht mehr mögen und dass die Gren- der Struktur der Chöre, an dem, was sie sin- land; sie entlassen ihre Absolventen in ein zen zwischen „städtischer“ und „ländlicher“ gen und wie sie singen, sowie an ihrer Stel- Berufsleben, das die festen Stellen in öffent- Kultur immer undeutlicher werden, was aber lung und Wirkung im Musikleben an sich. lichen Musikeinrichtungen ständig reduziert. die Soziologen beschäftigen mag. Das beliebte Verfahren, die Musiktreibenden Wer den Deutschen Chorwettbewerb re- in Profis und Amateure einzuteilen und da- Singende Ich-AGs gelmäßig verfolgt und ihn als Barometer der mit die Arbeit auch mit einem unterschied- Chormusik in Deutschland versteht, wird frei- lichen Ethos zu bemessen, trägt nicht mehr. Damit sie von ihrer Ausbildung leben kön- lich noch andere Entwicklungen bemerken. Die Ansicht, der tariflich abgesicherte Berufs- nen, singen diese Menschen in mehreren Chö- Beispiel: Die Erwachsenenchöre werden wie- musiker tue eben seinen Dienst, während der ren, die gut genug sind, um wenigstens be- der größer; die Jahre, als es schick war, in mög- Amateur mit viel Herzblut und gutem Wil- scheidene Einnahmen zu erzielen und die lichst kleinen Kammerchören oder Vokal- len bei der Sache und seine musikalische Sänger bezahlen zu können. Übrigens singen ensembles zu singen, scheinen vorbei. Zwar Leistung deshalb vielleicht nicht künstlerisch, sie auch zur Aushilfe in Rundfunkchören, die führen manche Chöre noch diesen bisweilen aber doch moralisch mehr wert sei, ist über- von dieser Entwicklung wirtschaftlich profi- elitären Namen, aber sie finden nichts dabei, holt. Die Chöre betrifft dies mehr als die tieren – selbst ein gut bezahlter Projektsän- mit bis zu sechzig Sängern aufzutreten. Bei Orchester, wo die meisten nichtprofessionellen ger ist nämlich billiger als ein fest angestell- den Jazzchören, einer seit etwa zehn Jahren

 40 MUSIK ORUM boomenden „Branche“, scheint es mehr in die Breite zu gehen als auf die Suche nach Neu- em. Die Kategorie „mit Combo“ (G 2), die man diesen Chören – abweichend vom sons- tigen, strikt a cappella-orientierten Repertoire – zugestand, um ihrer Konzertpraxis gerecht zu werden, wies jedenfalls keine herausra- genden Ergebnisse auf. Kinder- und Jugend- chöre waren zwar in schöner Anzahl vertre- ten, die Warnung der Experten, es werde noch immer zu wenig gesungen in Kindergärten und Schulen, war aber auch diesmal deut- lich zu vernehmen. Die demografische Ent- wicklung wird diesen Bereich demnächst weiter tangieren. Gleichwohl wird hier die Zukunft der Chormusik geboren, weshalb das Engagement noch verstärkt werden muss. Der Deutsche Chorwettbewerb spiegelt auch in diesem Sinne die gesellschaftliche Rea- lität. Man hört von ersten Seminaren und Kur- sen, die sich mit der älter werdenden Stim- me beschäftigen. Die Praxis mancher Leis- tungschöre in Deutschland, die über 65-jäh- rigen Mitglieder gleichsam zu „pensionieren“, wird mehr und mehr fraglich. Wer aber die singende Jugend und ihre auch die Älteren ansteckende Fröhlichkeit erleben, wer sei- nen mediengestählten Pessimismus über den Niedergang der Kulturnation Deutschland um eher optimistische Aspekte ergänzen will, der sollte den Deutschen Chorwett- bewerb besuchen!

Der Autor: Dr. Andreas Bomba studierte Romanistik und Geschichte in Frankfurt am Main, promovierte 1981 an der TU Braunschweig im Fach Romanische Sprachwissenschaft. Schon während des Studiums arbeitete er als Musikkritiker und Autor für verschiedene Tageszeitungen und Zeitschriften, später auch bei Rundfunkanstalten als Dramaturg, Programmgestalter, Kritiker, Autor und Mode- rator. Von 1992 bis 1996 war Bomba Geschäfts- führer des Konzertveranstalters „Frankfurter Kunstgemeinde“, danach Projektleiter der „Edition Bachakademie“ mit einer CD-Gesamt- einspielung der Werke Johann Sebastian Bachs im Auftrag der Internationalen Bachakademie Stuttgart. Er ist Mitglied verschiedener Beiräte und Jurys (Hessischer Chorwettbewerb, Diri- gentenwettbewerb Bad Homburg, Jugend musiziert, Bach-Wettbewerb Wiesbaden).

Die 1. Preisträger des Deutschen Chorwettbewerbs (von oben nach unten): Mädchenchor Hannover (Kategorie D.2 Mädchen- chöre), Frauenchor an der Erlöserkirche Lüden- scheid (Kategorie B.2 Frauenchöre ab 37 Mitwir- kende), „ex-semble“ (Kategorie B.1 Frauen- kammerchöre), Stuttgarter Kantorei (Kategorie A.2 Gemischte Chöre ab 37 Mitwirkende), Rund- funk-Jugendchor Wernigerode (Kategorie D.1 Gemischte Jugendchöre), Carmina Mundi e.V., Aachen (Kategorie A.2 Gemischte Chöre ab 37 Mitwirkende). Gewinner in Kiel Alle Fotos: Jan Karow AKZENTE

© Deutsche Phono-Akademie

RÜTLIRÜTLI rocktrockt

Wie Musik Wunder bewirkt: Die SchoolTour an der „Problemschule“. Von Jeremias Sonntag

Die „Terroristenschule“ (Berliner Kurier) eutschlands bekannteste Schule im Frühjahr 2006: Rütli stand für in Berlin-Neukölln bekam Ende Juni ganz be- DRandale und Gewalt, resignierende Lehrer und verzweifelte Eltern. sonderen Besuch: Neun Menschen mit künst- Das Ergebnis einer verfehlten Integrations- und Bildungspolitik wurde in lerischer und kreativer Erfahrung, mit Kennt- Medienbildern mit Steine werfenden Kids live vom Pausenhof gesendet. nissen aus so unterschiedlichen Bereichen wie Musikpädagogik, Band-Coaching, Jugendmu- Für die SchoolTour, die musikalischen Projektwochen der Deutschen sicals, Musikproduktion, DJ-Culture und Street- Phono-Akademie, war es nur ein Einsatzort von vielen, aber dennoch dance-Meisterschaften gingen in die vermeint- wohl das bisherige Meisterstück. liche Höhle des Löwen. Das Team der School Tour wusste, was auch die inzwischen verstärkte Kooperation ten dieses einseitige Bild von ihnen in den kommen würde. Für Projektleiter Jürgen Stark von SchoolJam (dem Schülerband-Wettbwerb) Medien, beschönigten allerdings nichts. Das war von Anbeginn der Rütli-Diskussion in und der SchoolTour. Der Berliner Landes- Problem ist ein brisantes Gemisch im Um- den Medien die eigene Erfahrung mit derar- musikrat hatte für die Rütli-Aktion die Schirm- feld der Schule, wo islamistische Fanatiker, Dro- tigen Problemen maßgeblich: „Wir mussten herrschaft übernommen. Alle Beteiligten woll- genhändler und aggressive Clans und Cliquen schnell handeln, denn wenn Jugendliche mit ten gerade an dieser Schule mit dem Vorsatz eine Rolle spielen. Diese Kinder benötigen den Verbrechern des internationalen Terro- der Nachhaltigkeit und weiteren möglichen Hilfe und Schutz und echte Angebote, die rismus gleichgesetzt werden, dann steht in Förderungen und Unterstützungen antreten. ihr Selbstbewusstsein heben und ihre Kreati- einem Stadtteil mit hohem Ausländeranteil Der Einsatz wurde belohnt. Was mit gro- vität wecken.“ viel auf dem Spiel!“ ßer Distanz der Jugendlichen begann, ende- Die Kids der Rütli-Schule: Kopftücher und Schule und Verwaltung gaben grünes Licht te mit dem „SchoolFest“ der Rütli-Kids. Man Jeans, dunkle und helle Hautfarben, junge für das Experiment, weitere Unterstützer mel- konnte den Eindruck gewinnen, die Schüler Menschen, deren Eltern vom Balkan, aus dem deten sich, die „Reise“ konnte beginnen. Nun wollten mit den in der Woche getexteten und Orient oder aus Afrika hierher kamen, von hieß es: Rütli rockt! Die Unterstützung des komponierten Songs, mit Raps und Balladen all den Orten auf der Weltkarte, wo Kriege Deutschen Musikrats für die in den vergan- gegen den Strom schwimmen, deutlich ihre und Zerstörung an der Tagesordnung sind. genen Jahren intensivierten Förderaktivitäten bessere Seite zeigen. Was der Projektleiter Mit Migrantenkindern wie diesen arbeitet das der Deutschen Phonoverbände konnte hier bestätigt: „Gleich zu Beginn hatten wir viele SchoolTour-Team bundesweit. Es führt die- ein deutliches Zeichen setzen, dazu passend Gespräche mit den Jugendlichen. Sie beklag- se oft traumatisierten jungen Menschen an

 42 MUSIK ORUM die Regler der DJ-Pulte, drückt ihnen Gitar- in Deutschland erkennen, dürften solche Re- ren und Schlagzeugstöcke in die Hand, gibt zepte noch ernster genommen werden als Takt und Tanzschritte bei modernen Dance- in der Vergangenheit. Varianten vor oder hilft beim Verfassen von Highlights der Projektwoche waren Künst- Foto: Nieland Textzeilen bei der Musikproduktion. lerbesuche des deutsch-türkischen Sängers In der Rütli-Schule übten auf die Kids der Muhabbet sowie der dänischen Popgruppe Film-AG moderne Kameras einen besonde- Outlandish, die aus jungen Muslimen besteht ren Reiz aus. Unter Anleitung der Filmema- und die mit Unterstützung von Sony BMG cherin Doro Carl waren die Schüler pausen- nach Neukölln kamen. Die Schüler interview- los am Aufzeichnen; sie filmten ihre Umwelt ten sie und tauschten sich mit ihnen aus. Dabei und auch die häufig anwesenden Medien- gab es für die Profis eine Überraschung, als kollegen, die nun ihrerseits ausschließlich po- sie das Talent der Rütli-Schülerin Khadiye ent- sitive Storys an die Redaktionen lieferten. Viele dieser Kollegen von ARD, RTL oder der Ta- gespresse wurden mit ihrem eigenen Bild einer Tonny Kondo, „Musikminister“ „chaotischen“ Schule konfrontiert. Stark: „Es SchoolJam und SchoolTour »ergänzen sich perfekt, um den und DJ an der Rütli-Schule: war toll zu sehen, wie die Kollegen über die Leistungen in den Arbeitsgruppen Musikunterricht an deutschen Schulen staunten und sich nun auf einer atmos- voranzubringen. SchoolJam geht hierbei „Wir haben gezeigt, phärisch völlig anderen Ebene – umge- medienwirksam in die Breite und SchoolTour ben von Musik und Kreativität – mit den vertieft dies mit ihren Projektwochen nachhaltig dass wir auch was Schülern über deren Probleme und Sicht- an den Schulen selbst. anderes können!“ weisen unterhielten.“ Gerald Dellmann« Jeder Tag begann mit dem „musikali- SchoolJam- Die SchoolTour hat’s gebracht! Als die schen Morgenappell“ der SchoolTour, dem Veranstalter Lehrer davon erzählten, hatte ich keine eigenen Rap des Projekts, zu dem die Perfor- Lust. Wenigstens fällt eine Woche der mance-Künstlerin Anke Schaubrenner die Unterricht aus, dachte ich. Aber die Dozen- Rütli-Schüler in die Manege bat: Rhythmus ten waren voll nett und gut. Und als wir in und Groove müssen selbst gemacht werden, den Gruppen gearbeitet haben, hat es mir der Holzboden wird im Takt getreten, es wird deckten. Outlandish-Sänger Isam Bachiri be- schon besser gefallen. Super war, dass wir in die Hände geklatscht, die Stimmen wer- geisterte sich für deren schöne und kräftige uns die Gruppe aussuchen durften. Ich den erprobt, es wird mitgesungen. Die School- Stimme: „Ich habe sofort Schmerz und Lei- wollte DJ machen. Bei der SchoolTour habe Tour propagiert schon länger die Idee, dass denschaft gespürt!“ Der gemeinsame Auftritt ich Auflegen gelernt, vorher war ich nur MC. jede Schule in Deutschland ihre eigene Hymne, von Outlandish und den tanzenden und sin- Andere fanden die SchoolTour lächer- einen Song oder einen Rap texten und kom- genden Rütlis war ein großer Erfolg des Pro- lich, wollten schwänzen. Aber als wir Musik ponieren und zum Schulbeginn mit allen jekts, den auch die Band nicht vergessen wird. gemacht haben, lief es. Und man konnte Schülern singen sollte. Motto: Was beim Fuß- Die Gruppe will zukünftig bei Berlinkonzer- auch damit angeben, dass Muhabbet in ball selbstverständlich ist, könnte auch hier ten die Rütlis stets zu ihren Konzerten einla- der Schule war. Da haben dann meine funktionieren, übertragen auf die Bedürfnis- den. Die Songs der Woche wurden aufge- Freunde gesagt: „Da wollen wir auch hin!“ se der Schule. Während Bildungsexperten noch zeichnet und auf den „Rütli-Sampler“ gebrannt, Ich finde, wir kommen nach der School- warnen und Rütli-Verhältnisse längst überall der in der Neuköllner Szene als Musik-High- Tour auch besser mit den Lehrern klar. Mit einigen auf jeden Fall. Viele Schüler haben die Gelegenheit nicht genutzt, die Sachen, die wir bei der » Die von der SchoolTour-Crew SchoolTour gelernt haben, weiterzuma- geleiteten Schüleraktivitäten haben gezeigt, chen. Ich schon. Wir haben jetzt eine dass auch in Jugendlichen, die Hauptschulen besuchen, Band, die Rütli-Band. Früher mussten wir Talente und positive Eigenschaften stecken, die es mit die Sachen vom Band einspielen. Bei der kreativen Methoden zu entdecken und zu fördern gilt. Damit SchoolTour und jetzt mit Unterstützung wurde dazu beigetragen, dass bei vielen Teilnehmern neues Selbst- der Musikschule können wir alles selber bewusstsein geschaffen und Teamfähigkeit, Selbstvertrauen und Aus- machen… Schlagzeug, Piano, das ist cool. dauer gesteigert wurden. Das Gemeinschaftsgefühl an unserer Schule Zuerst hieß es, dass sich die Rütli- hat einen weiteren positiven Schub erhalten. Die Reaktionen in der Schüler blamieren würden, aber unsere Presse haben dazu beigetragen, die negative Stigmatisierung der Konzerte sind gut gelaufen und ich rappe Schule und der Schülerschaft zu korrigieren. Das Projekt hat uns viele jetzt auf Suaheli. Während der SchoolTour neue Anknüpfungspunkte für die weitere pädagogische Arbeit waren wieder die stressigen Medien da. geboten. Nicht zuletzt die finanzielle und die materielle Unter- Die haben sich kaum für die SchoolTour stützung mit Musikinstrumenten ermöglichen es uns, interessiert, nur einen kleinen Artikel die Schüler noch besser zu fördern. gebracht. Anstatt über Problemschule und Helmut Hochschild Gewalt zu schreiben, sollten die sich für « unsere Musik interessieren. Leiter der Rütli -Schule  MUSIK ORUM 43 AKZENTE » Die Initiative SchoolTour der Deutschen Phono-Akademie ist vor allem im Hinblick auf ihr Betätigungsfeld an sozialen, schulischen Brennpunkten besonders hilfreich, da im Modell weitgehend alle Schüler in die Aktivitäten rund um die „Populäre Musik“ einbezogen werden. Unter anderem werden aktives Musikmachen, aber auch die Planung und „SchoolTour macht Spaß und diszipliniert Durchführung von Veranstaltungen sowie Medienarbeit und -gestaltung geschult. mit der Härte des Die Nachhaltigkeit spielt dabei eine entscheidende Rolle, vor allem im Hinblick auf Entertainments“: die Ernennung eines so genannten „Musikministers“. Vor diesem Hintergrund Projektleiter Jürgen Stark. beteiligt sich der Deutsche Musikrat mit SchoolJam an der SchoolTour, z. B. durch die Spende von Instrumenten für die Rütli-Schule zur weiteren kontinuierlichen light von Ohr zu Ohr geht. Den Titel erfan- Arbeit. Mit Blick auf die schwierige Situation des Musikunterrichts an Schulen ist den die Schüler selbst: „Rütli Action – bei die SchoolTour neben School of Rock und den Weiterbildungsangeboten der uns ist immer was los.“ Popakademie Baden-Württemberg in Verbindung mit ihren Partnern Impressionen der SchoolTour: Klassenzim- ein wichtiger Baustein bei Initiativen mer, die wie kleine Tonstudios ausgerüstet für mehr Musik an Schulen. « sind, Schüler, die in den Proben hart mit ih- Udo Dahmen ren eigenen Textzeilen kämpfen, die auf ei- Leiter Popakademie ner Bühne moderieren und tanzen, die ernst- Baden-Württemberg haft auf vielen kreativen Feldern arbeiten. Bei den Proben dann die Botschaft für alle: Ich Die SchoolTour ist ein arbeite und habe Verantwortung, ich kann » Referenzprojekt für die interkulturelle etwas, ich bin wichtig, ich gehöre dazu! Es Verständigung und ein anschauliches Beispiel, gibt Applaus! Das Team kämpft eine Woche wie die kreativen Potenziale gerade bei Kindern und lang um den Erfolg eines jeden Einzelnen, es Jugendlichen geweckt werden können, die bislang als gibt hier nur die Noten „gut“ und „sehr gut“, schwer zu erreichen galten. Das Ziel des Deutschen Musik- die SchoolTour macht Spaß und diszipliniert rats, den Wert der Kreativität möglichst vielen Menschen mit der Härte des Entertainments. bewusst und erfahrbar zu machen, lässt sich bei diesem Projekt beson- ders anschaulich verwirklichen. Die Idee der SchoolTour » Christian Höppner finde ich großartig. Als ich bei einer « SchoolTour in Rostock mit den Kids gerappt Generalsekretär habe und die Arbeit des Teams kennen lernte, Deutscher Musikrat dachte ich, mit diesem Konzept sollten wir auch zu den Kids in die USA gehen, an Orte wie die Bronx. Wo wir entweder die Jugendlichen mit Musik für unsere Gesell- Die SchoolTour ist ein in schaft gewinnen oder sie für Jahre » Deutschland einzigartiges Modell, um oder für immer verlieren. Ich Schülern den Schaffensprozess von Musik und komme gerne wieder zur School- deren kreativen Wert anschaulich zu vermitteln – Tour nach Deutschland! unabhängig vom sozialen oder gesellschaftlichen Umfeld oder von der Herkunft der Schüler. Dies wurde Kurtis Blow, US-Rapper« durch die SchoolTour an der Rütli-Schule deutlich gemacht. Wir danken den Künstlern für ihr Engagement und der Schule für Gut, dass das Modellprojekt der Deutschen die gute Kooperation. Phono-Akademie inzwischen immer mehr Michael Häntjes Unterstützer findet. Der Partner SchoolJam « Vorsitzender Deutsche übergab einen Scheck in Höhe von 3000 Phonoverbände Euro für Instrumente und Zubehör, was zu- künftig für alle Standorte denkbar ist. Gemein- Von sieben Dozenten angeleitet, sam mit der aktiven Schulleitung der Rütli- » wurden verschiedene Workshops angeboten: Schule und einem neuen Berliner Bündnis Musikproduktion, Vorbereitung der Abschluss-Show der Hauptschulen will man bei einem Netz- durch Eventmanager und Moderatoren, Filmdokumentation, werk für Nachhaltigkeit mit Rat und Tat mit- DJ-Arbeit und Breakdance. Alle beteiligten 63 Schüler waren mit helfen. Und das Bündnis von School Jam und großem Engagement bei der Sache. Es war sehr beeindruckend für der SchoolTour plant weitere Schritte: Kids uns zu sehen, welche Talente und Fähigkeiten in ihnen schlummern. der SchoolTour, die „Musikminister“, sollen Die Schüler waren so begeistert, dass sie die Rütli-Band gründeten zukünftig in den Gremien von SchoolJam mit- und nun unter der Leitung eines Musikschullehrers regelmäßig üben. wirken (z. B. in den Jurys), besondere Talen- Auch erste öffentliche Auftritte haben schon stattgefunden. te bei SchoolJam auftreten. Wir danken SchoolTour sehr herzlich für die Unterstützung und Was sich auch lohnen dürfte, denn diese denken gerne an die Musikwoche. Ergebnisse hört und sieht man besonders gerne Die Arbeit trägt Früchte! an den Orten, wo Verrohung und Perspek- « tivlosigkeit die Regie in Deutschland über- Steffie Krämer-Evertz nommen haben. Petra Eggebrecht Lehrerinnen  44 MUSIK ORUM PORTRÄT

Sopranistin Bettina Pahn erzählt, wie sie zum Singen kam, ihre Stimme kennen lernte und was sie über Stimmausbildung denkt

SINGEN ÖFFNET DIE Seele

Bettina Pahn ist mehr als „nur“ eine inte- Vielen Musikliebhabern ist sie vor allem als „Spezialistin“ für die Musik ressante, neue Stimme. Dass sie sich über die des Barock bekannt. Hier hat sich Sopranistin Bettina Pahn einen Namen künstlerische Rolle hinaus auch für die psy- gemacht, hier meldet sich die Kritik mit vollmundigen Beurteilungen: chischen, physischen und vor allem die päda- Die junge Sängerin sei „ein Versprechen für die Zukunft“, meistere gogischen Aspekte des Singens Gedanken macht, offenbart die viel beschäftigte Nach- „anspruchsvollste Partien makellos“ und sei den „vertracktesten Kolora- wuchssängerin im Gespräch mit Hans Bäß- turen gewachsen“. Kein Wunder, dass sie für hochrangige Festivals und ler. Aufführungen verpflichtet wird und bei diversen CD-Produktionen mitwirkt.

Wir reißen Sie ja quasi aus Ihrer Wie Sie Volkslieder singen, ist faszi- Arbeit heraus, was machen Sie im Moment nierend. Sie setzen eine so extrem natürliche musikalisch? Stilistik ein, dass sich der Zuhörer die Frage Bettina Pahn: Gerade ist eine CD mit stellt: Woher kommt das? Hat es mit dem meinem „Trio Gabriel“ – mit dem Flötisten Elternhaus zu tun, mit der Erziehung in der Moshe Aaron Epstein und dem Organisten Schule, wo dieses Singen vielleicht gepflegt Wolfgang Zerer – erschienen. Darauf sind wurde? Arien zu hören von Georg Friedrich Händel, Pahn: Da ich von frühester Kindheit an aus diversen Kantaten von Johann Sebastian Volkslieder im familiären Bereich gesungen Bach sowie eine Ersteinspielung der Motette habe, ist es für mich die natürlichste Sache Laetatus sum für Sopran und B. c. von Rein- der Welt. Das Singen dieser Lieder hatte in hard Keiser. Zudem stehen im Buxtehude- der DDR sowohl im schulischen als auch Jahr 2007 weitere Konzerte und CD-Pro- im privaten Rahmen eine große Tradition. duktionen mit Ton Koopman mit Kantaten Bei uns zu Hause wurde zu Weihnachten von Dietrich Buxtehude und Bach an, für drei- oder vierstimmig gesungen. Im Auto mich eine ganz besonders spannende gab es für längere Reisen immer zwei Arbeitsperspektive. Volksliederbücher, aus denen wir stunden- Im Dezember werde ich in Berlin mit lang Lieder wählten und sangen. In der dem Kreuzchor im Konzerthaus auftreten. Schule wurde zu Beginn fast jeder Stun- Das ist schön, denn als Kind wollte ich in de ein Volkslied gemeinsam gesungen. der DDR eigentlich Junge sein und in die- Das bringt Energie und macht munter. sem Chor mitsingen. Und Anfang des Das viele Wiederholen der Volks- nächsten Jahres steht eine CD-Einspielung lieder im Laufe meiner Kindheit und mit dem Lautenisten Joachim Held und Jugend, das Lernen der Strophen deutschen Volksliedern auf dem Plan. führte zum Entstehen ganz eigener Die Aufnahme von Volksliedern in mein Bilder und zu der Form, in der ich die Konzert-Repertoire ist für mich etwas ganz Volkslieder heute singe. Ich halte es für Besonderes in meinem Sängerdasein. wichtig, dass die Volkslieder wieder Im Übrigen hat im Oktober in Rostock Einzug in die Hausmusik finden, für die mein zweites Semester als Gesangspädago- Kinder, Jugendlichen und die Erwachse- gin im Bereich Schulmusik an der Hoch- nen. Bei den Erwachsenen lösen die schule für Musik und Theater begonnen. Lieder schöne Jugenderinnerungen aus. Kinder und Jugendliche verstehen diese Musik und die Texte, die Fantasie wird angeregt, beim gemeinsamen Singen „Ich wollte ein Junge sein und im Kreuz- ergibt sich ein gutes Gemeinschaftsge- chor singen“: Bettina Pahn. Foto: Rosa Frank fühl und sie lernen darüber ein ganz

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freies Singen. Deswegen machen wir jetzt diese CD auch vollkommen anders, als wir heute Volksmusik – etwa im Musikanten- stadl – erleben. Ich singe nur mir einem Begleitinstrument, damit das, was die Volkslieder sagen, direkt wieder in die Herzen der Zuhörer getragen werden kann.

Nun sind Sie ja an der Hauptkirche St. Michaelis in Hamburg auch noch als Stimmbildnerin tätig. Wie kriegt man das zeitlich alles unter einen Hut? Pahn: Indem man entscheidet, welche Dinge wichtig sind. Für mich ist das Unter- richten genauso wichtig wie das Singen im Konzert. Somit stellt sich diese Frage eigent- lich nicht. Ich sehe das Unterrichten als Lernprozess für mich und es bereichert Bettina Pahn studierte Gesang in Berlin, Frankfurt am Main und Basel mit frühzeitiger Speziali- mich. sierung auf Barockmusik. Sie ist Gast bei wichtigen Festivals und Aufführungen von Alter Musik, darunter den „Internationalen Tagen für Alte Musik“ in Stuttgart, den „Händel-Festspielen“ in Halle, beim „Rishon Lezion Festival“ in Israel und „Festa da Musica-Bach“ in Lissabon. Gibt es in Ihrer Familie gesangspäda- gogische Vorläufer? Pahn: Mein Vater ist Phoniater, meine Mutter Logopädin und Sprecherzieherin. Mein Vater kümmerte sich besonders um »Begabung kann man nicht anerziehen, die Heilung von kranken Stimmen, wäh- rend meine Mutter an den Theatern in aber Kreativität und Mut zur eigenen Schwerin und Stralsund arbeitete. Sie ist seit langem Professorin für Sprecherzie- hung an der Hochschule für Musik und Stimme lassen sich oft freischaufeln« Theater in Rostock. Sehr früh habe ich zu Hause Bekannt- Ungefähr Anfang des Jahres 1989 plan- Sängerkollegen und Lehrer Alexander Plust, schaft mit dem Metier Stimme gemacht. ten der Vater meines Kindes und ich, die den ich in Wien 2003 anlässlich einer mo- Im Hinblick auf das Theater war ich als DDR durch eine Flucht über Ungarn zu ver- dernen Opernproduktion im Rahmen der Mädchen zwar mehr interessiert an den lassen, da die Situation immer bedrücken- Wiener Festwochen kennen lernte, eine schönen Kleidern, die ich sah, aber wir der und bedrohlicher wurde. Kurz vor der entscheidende Hilfe. Ich bewunderte damals sprachen oft nach den Vorstellungen über Grenzöffnung sind wir dann mit dem zwei schon den sicheren und beweglichen Um- unsere Eindrücke von den gehörten Stim- Monate alten Sohn nach Budapest geflo- gang Saschas mit seinem Körper, seinem men in Schauspiel und Oper. Sehr geprägt gen und nicht zurückgekehrt. In Frankfurt Vibrato und dem schönen Stimmklang. hat mich natürlich auch, dass wir zu Hause am Main habe ich erneut die Gesangsauf- Also bat ich ihn, mit mir zu arbeiten. Nach sehr früh gesungen haben. Hausmusik und nahmeprüfung gemacht. Ich hatte das Glück, unendlich vielen Stunden und täglichen Volkslieder singen waren die schönsten bei Prof. Elsa Cavelti und Prof. Rainer Hoff- Proben sang ich von Tag zu Tag freier und Standbeine meiner Jugend . mann zu studieren. Von großer Bedeutung besser. Ich musste den Körper enorm viel war für mich auch der Unterricht „Lied bewegen und viele Übungen im Sprech- Wurden Sie noch in der DDR gesang- und Oratorium“ bei Prof. Reinhardt , der stimmbereich absolvieren. Mein Körper er- lich ausgebildet? mich frühzeitig auf meine gute Eignung für holte sich von der Überspannung und mein Pahn: Ja, obwohl ich zunächst am Kon- den Barockgesang aufmerksam machte. Singen wurde viel bewusster, der Atem servatorium in Rostock Violoncello spielen Am Ende meines Studiums prägten zwei floss entspannter. Ich begann zu lernen, vor lernte und auch mein Musikstudium in Dirigenten meinen weiteren Weg: Frieder die Klangvorstellung eine bewusste Bewe- Berlin, an der Hochschule für Musik „Hanns Bernius mit dem Kammerchor Stuttgart, gung des Atem- und Stimmapparats zu Eisler“, mit dem Cellostudium begann. Nach der mich sehr gefördert hat, und der Würz- setzen. Ich konnte mich plötzlich selber einem Jahr Gesangsunterricht bestand ich burger Kirchenmusikdirektor Christian sehen. die Aufnahmeprüfung für Gesang und be- Kabitz, bei dem ich alle wichtigen Oratorien Ich glaube, dass es ganz wichtig ist, dass kam einen Platz in der Klasse von Renate zum ersten Mal sang. Sänger und Studenten neben den klang- Kramer. Aber dann wurde ich schwanger Erlebnisse und Erfahrungen lassen sich lichen Vorstellungen auch ein Bild von sich und wusste, dass ich mich nun entscheiden natürlich in einer Stimme wiederfinden. selbst haben. Das bedeutet keinesfalls, dass müsste, da ich zwei Studienfächer und Dadurch kann es leicht zu fehlerhaftem das der Weg ist, um singen zu lernen, aber Mutterdasein auf einmal nicht schaffen Umgang mit der Stimme kommen. Für für mich „kopfigen“ Typ war es die Mög- konnte. So habe ich das Cellospiel, das ich mich bedeutete die Begegnung mit dem lichkeit, meine Stimme kennen zu lernen. sehr geliebt habe, aufgegeben. funktionalen Stimmtraining durch meinen Talent, Ausdauer, Arbeit an Klang und

 46 MUSIK ORUM Diktion und Leistungsfähigkeit sind absolut Es gibt Beobachtungen, dass Stimmen Pahn: Eine Grundvoraussetzung, um notwendig, um Sänger zu werden. nicht mehr so gesund oder so natürlich in der „pädagogisch zu locken“, ist, diesen Beruf Entwicklung erzogen werden, wie es vielleicht mit Lust und Neugier zu machen. Begabung Muss also ein guter Sänger zu sich in noch vor 20 oder 30 Jahren der Fall war. kann man nicht anerziehen, aber Kreativität Distanz treten, um sich selber singen zu sehen? Ohnehin kann man einen Abbruch in der und Mut zur eigenen Stimme lassen sich Muss er erst bestimmte Erfahrungen gemacht Singtradition beobachten, in weniger als 20 oft freischaufeln. haben, um das, was er singt, auch entsprechend Prozent der Haushalte wird überhaupt noch Ich glaube, der Lehrer muss auf die auszudrücken? Oder kann man auch ganz gesungen. Macht es sich bei den Schulmusik- individuellen Bedürfnisse der grundver- naiv Leid und Freude singen, ohne sie jemals studenten bemerkbar, dass sie oftmals nicht schiedenen Studenten eingehen. Aber das selbst erfahren zu haben? mehr über eine gesunde Stimme verfügen? geht nur, wenn er sehr viel über die Funk- Pahn: Ich glaube nicht, dass man großes Pahn: Ich habe seit einigen Jahren – tionen, die im Körper stattfinden, weiß Leid selber erfahren muss, um es singen zu über die Einzel-Stimmbildung – Erfahrung und wenn er bereit ist, sich damit und mit können, aber sicher hört man einer Stimme im Unterrichten von Lehrern. Junge Musik- den seelischen Zuständen seiner Schüler seelisches Erleben an. Es gibt einige große, lehrer unterrichte ich allerdings erst seit auseinander zu setzen. steile Karrieren, wie die von Anna Netrebko, einem Semester. Insofern sind meine die so wunderbar frei singt und die für mich Erfahrungen begrenzt. Eines kann ich aber Kann man sagen, dass die Stimme einfach ein großartiges Urvertrauen im sagen: Es gehören eine sehr gute Stimm- etwas mit Stimmung zu tun hat? Singen verkörpert. Aber ich weiß, dass es ausbildung und ein Bewusstsein für diese Pahn: Ja, denken wir nur an Redewen- Sänger gibt, denen seelisch Erlebtes auch Notwendigkeit auf beiden Seiten dazu, dungen wie „Ich habe die Nase voll“, „Es mal auf die Stimme schlägt, die damit um- zudem innere Stärke. Und: Man muss Kin- sitzt mir im Nacken“, „Jetzt wird mir gleich gehen lernen müssen, um professionell der lieben, um diesen anstrengenden Beruf der Hals dick“, „Ich habe einen Kloß im arbeiten zu können. Leid und psychische gut durchzustehen. Ganz sicher stärkt frü- Hals“. Diese alten Sätze haben ja etwas zu Belastung – wie auch Glück und Freude, hes Singen die Stimme. Sie wächst dann bedeuten. Sie bedeuten, dass das negativ die ja positiv auf Seele und Stimme wirken mit dem wachsenden Bewusstsein. Ich Erlebte auf die Nase, den Resonanzbereich, – beeinflussen uns, sodass der Gesangs- bemerke häufig, dass besonders Mädchen und den Hals als Sitz der Stimme gehen lehrer Möglichkeiten bieten sollte, solche und Frauen nicht mit ihrer natürlichen kann. Spannungen von der Stimme zu lösen. Stimme sprechen, sondern einen Klang Die Arbeit an stimmtechnischen Funktionen, benutzen, der „lieb“ und „nett“ sein soll. Verändert die Gefühlslage den Men- gerade im unteren Vokaltrakt – Halsbe- Das ist fatal, da die Stimme Ausdruck der schen? reich und Zungenarbeit –, bringt über die Persönlichkeit sein sollte. Die Stimme wird Pahn: Aber ja, im besten Fall öffnet starke Konzentration auf die eigene Beweg- nicht ihre natürliche Kraft entfalten. Singen einfach die Seele. lichkeit und das Fühlen der Stimmbewegung und des Atems Ruhe und innere Sicherheit in schwierigen Situationen. Das „Außer- sichsein“ kann abgebaut werden und durch bewusste Stimm- und Körperarbeit schritt- weise ersetzt werden. Besonders im Schul- bereich gibt es viele „kaputte“ Lehrerstimmen, die allein keinen Weg aus dem Dilemma finden. Es ist schwierig sich vorzustellen, dass diese Menschen 30 Kinder bändigen sollen. Sie stehen häufig unter seelischem bzw. psychischem Druck, der innerhalb des Stimmunterrichts mitbehandelt werden muss, sodass die Lehrer mit ihrer Stimme wieder sicher arbeiten können. Im heutigen Gesangsunterricht gibt es eine eigenartige Dynamik. Viele Gesangs- lehrer sagen, dass das Psychische draußen bleiben soll. Oft gibt der Lehrer dem Schü- ler lediglich seine Klangvorstellung weiter. Für mich stellt sich hier die Frage: Sollte nicht jeder Gesangslehrer auch etwas von dem Wissen der Logopäden, Atem- und Stimmtherapeuten und Stimmphysiologen Bühnenpräsenz: Bettina Pahn im Duett mit in den Gesangsunterricht einbringen? Matthias Koch in Galuppis La Diavolessa im Dieses Wissen gehört nämlich zur Grund- Wie kann man – pädagogisch betrach- Potsdamer Hans-Otto-Theater. ausbildung einer Stimme und ist nicht nur tet – Stimmen locken, die bis zu einem gewis- Mittel zur Reparatur von Stimmschäden. sen Zeitpunkt noch nicht entdeckt oder geweckt Ich versuche, meinen Unterricht in diesem worden sind, beispielsweise bei Menschen, die Sinne zu gestalten. jetzt 20 oder 21 Jahre alt sind?

 MUSIK ORUM 47 NEUE TÖNE

Stefan Fricke zum 20-jährigen Bestehen der „Edition Zeitgenössische Musik“ des Deutschen Musikrats Sch(r)eiben DER GEGENWART

ine ebenso bemerkens- wie hörenswerte CD-Reihe feiert Jubiläum: E 1986 beschloss das Präsidium des Deutschen Musikrats, unter dem Namen „Edition Zeitgenössische Musik“ (EZM) Komponisten der Neuen Musik akustisch zu porträtieren. Inzwischen sind 61 Tonträger erschienen – und quasi als „Geburtstagsveröffentlichung“ mit Werbecharakter wurde gerade die CD-Compilation „CrossCut Edition“ herausgebracht.

Die Idee zur Edition verknüpft sich eng Angesiedelt ist die Anthologie dort bei den mit der nur wenige Jahre vorher erfundenen „Förderungsprojekten Zeitgenössische Musik“, CompactDisc. Die CD tat der Musikwelt von die bis zum Sommer 2006 von Hannelore Anfang an gut, insbesondere ihren entlege- Thiemer geleitet wurden. Hier wurden die nen und seltenen Biotopen. Schließlich er- Kriterien für die Edition entwickelt und ste- möglichen die digitalen Silberlinge (klang-) tig verfeinert, Produktionspartner gesucht und technisch hochwertige, schnelle und mittler- nahezu immer gefunden. Aufgaben, die nun weile recht kostengünstige Produktionen, sie Kerstin Jaunich als Nachfolgerin von Han- erlauben die Wiedergabe von zeitlich ausge- nelore Thiemer wahrnimmt. Auch ihr steht Auch das Cover geht mit der Zeit: Seit 20 Jahren präsentiert die CD-Reihe dehnten Spielstücken, sie gestatten sehr schlich- ein Projektbeirat als unabhängige Fachjury „Edition Zeitgenössische Musik“ des Deut- te bis überaus aufwändige und dennoch gut zur Seite. Er entscheidet, welcher Kompo- schen Musikrats die aktuelle Komponisten- handhabbare Emballagen inklusive umfang- nist künftig mit einer Porträt-CD bedacht Szene. Jüngste Ausgaben: Die CDs „Cross- reicher wie praktikabler Booklets, sie sind leicht werden soll. Cut Edition“ und das Jens Joneleit-Porträt. zu verschicken, aufzubewahren, zu präsen- Mitglieder des vom Präsidium des Musik- tieren. rats einberufenen Auswahlausschusses, dem Kurzum: ein ideales Medium, das gerade seit 1986 Wolfgang Rihm vorsteht, sind derzeit ven Booklet-Informationen. Abgesehen von dem Musikrat entgegenkam, der mit seiner die Komponistinnen Carola Bauckholt und den zahlreichen herausragenden Solisten, die Edition und den personenbezogenen Port- Isabel Mundry (beide sind selbst mit einer famose Einspielungen der entsprechenden Stü- rät-CDs klangästhetische Ideen bekannt(er) CD in der Edition vertreten), die Rundfunk- cke beigesteuert haben, seien hier stellver- machen wollte. Und es kam auch den Kom- redakteure Rainer Pöllmann (Deutschland- tretend nur einige Ensembles und Orchester ponisten entgegen, die entscheidenden Ein- Radio Kultur), Meret Forster (MDR), Frank genannt: musikFabrik, Ensemble SurPlus, En- fluss nehmen konnten auf Konzeption und Kämpfer (Deutschlandfunk) und Friedrich semble Resonanz, Ensemble Modern, Ardit- Gestaltung des Tonträgers, auf die Auswahl Spangemacher (SR), der Musikwissenschaft- ti Quartet, ensemble Intégrales, ensemble re- der Werke und Interpretationen sowie den ler Ulrich Mosch (Paul Sacher Stiftung Ba- cherche, Neue Vocalsolisten, Klangforum Autor des Booklets. Wenn dann die CD noch sel), der Dirigent Peter Rundel sowie die Mu- Wien, ensemble mosaik, Kammerensemble von einem größeren Label – wie in diesem sikverlegerin Dagmar Sikorski (zugleich Mit- Neue Musik Berlin, Ensemble Avantgarde, Fall: Wergo – publiziert wird, das auch für glied im Präsidium des Deutschen Musikrats). Gewandhausorchester Leipzig, Schlagquar- eine flächendeckende Distribution sorgt, dann tett Köln, Thürmchen Ensemble, ensemble dürften keine Wünsche offen bleiben. Eine Gewichtige Enzyklopädie l‘art pour l‘art, Bayerisches Staatsorchester und Referenz-CD in eigener Sache und in Eigen- vor allem die Klangkörper der ARD. regie des künstlerischen Urhebers war mit Addiert man zu den vielen teils jetzt schon Lässt sich zu einem Stück, das der Kom- der „Edition Zeitgenössische Musik“geboren. sehr bekannten Komponistennamen, die auf ponist unbedingt auf seiner CD haben will, Und das, ohne den Komponisten finanziell den bisher erschienenen CDs vertreten sind keine Einspielung in den Klangarchiven fin- zu belasten oder ihn am Negativrisiko zu be- (siehe Kasten rechts), noch diejenigen der In- den, so ist die „Edition Zeitgenössische Mu- teiligen. Die Herstellungskosten trägt der Deut- terpreten hinzu, so präsentiert sich die „Edi- sik“ durchaus bereit, eine angemessene Pro- sche Musikrat. tion Zeitgenössische Musik“ als gewichtige duktion zu ermöglichen. Das geschieht meist Enzyklopädie lebendiger Musikgeschichte in in Kooperation mit einer der hiesigen Rund- der Bundesrepublik, auch dank der instrukti- funkanstalten. Auch technisch geht die Edi-

 48 MUSIK ORUM Von Anfang an bei WERGO Die „Edition Zeitgenössische Musik“, die in enger Kooperation mit den neuen Mu- sik-Institutionen der ARD realisiert wird, erscheint seit 20 Jahren beim Mainzer La- bel „Wergo“. Der seit den 1960er Jahren auf die Musik unserer Zeit spezialisierte und renommierte Schallplattenverlag betreut die technische Abwicklung – 3000 Exemp- lare werden pro Porträt-CD gepresst – und übernimmt den Vertrieb. Die „CrossCut Edition“ (WER 6599 2), ein Querschnitt zum 20-jährigen Bestehen der CD-Reihe, sowie alle übrigen CDs der Edition sind im Fachhandel oder über das Internet erhältlich: U www.wergo.de Ein „Who is who“… Seit 1986 sind insgesamt 61 Editions-CDs erschienen, die erste 1986 mit Werken von Detlev Müller-Siemens (*1957), die jüngs- te mit dem 65-minütigen Ensemblestück le tout, le rien von Jens Joneleit (*1968). Die Liste der Komponistennamen liest sich wie ein „Who is Who“ der deutschen Klang- ästhetik, vornehmlich seit der deutsch-deut- schen Vereinigung: Fredrik Zeller (* 1965), Jörg Widmann (* 1973), Klaus K. Hübler (* 1956), Reinhard Febel (* 1952), Karin Haußmann (* 1962), Babette Koblenz (* 1956), Dietrich Eichmann (* 1966), Enno Poppe (* 1969), Foto: Koch Hans-Jürgen von Bose (* 1953), Annette Schlünz Jens Joneleit (* 1964), Caspar Johannes Walter (* 1964), Jörg Mainka (* 1962), Jan Müller-Wieland (* 1966), Burkhard Friedrich (* 1962), Moritz Eggert (* 1965), Detlev Glanert (* 1960), Jakob Ullmann (* 1958), tion neue Wege, wenn es das Werk eines Ideen von Klangkünstlern Raum gibt. Bisher Juliane Klein (* 1966), Steffen Schleiermacher Komponisten unbedingt verlangt. Für die 2005 jedenfalls fehlen diese zwischen den Gattun- (* 1960), Detlef Heusinger (* 1956), Andreas F. publizierte Porträt-CD des in Berlin leben- gen und Genres arbeitenden Akteure völlig, Raseghi (* 1964), Jörg Birkenkötter (* 1963), Helmut Oehring (* 1961), Tobias PM Schneid (* 1963), den Stephan Winkler (* 1967) wurde ein spe- wie übrigens auch die puren Elektroniker und André Werner (* 1960), Ernst August Klötzke (* 1964), zielles Zusammenspiel von Klang und Be- die Ars Acustica-Kollegen. Zweifellos gehö- Volker Staub (* 1961), Bernfried E. G. Pröve (* 1963), wegtbild notwendig. Aus editorischen Gründen ren ihre ästhetischen Manifestationen ebenfalls Claus-Steffen Mahnkopf (*1962), Christoph Staude konnte man sich aber nicht entschließen, eine ins Spektrum der zeitgenössischen Musik. (* 1965), Matthias Pintscher (* 1971), Orm Finnen- dahl (* 1963), Charlotte Seither (* 1965). audiovisuelle DVD zu produzieren. Nach Sich ihnen zu öffnen, würde den Wert der In Planung sind zurzeit Porträt-CDs von Sebastian reiflicher Überlegung und im regen Austausch ansonsten überaus beispielhaften Edition noch Claren (* 1965), Andreas Dohmen (* 1962), Markus mit Wergo entschied man sich für eine Dual steigern. Will die Edition nämlich weiterhin Hechtle (* 1967), Carsten Hennig (* 1967), Sven- Disc, auf deren A-Seite die bildlosen Kom- die aktuelle Musikgeschichte in Deutschland Ingo Koch (* 1974), Erik Oña (* 1961), Jay Schwartz (* 1965), Thomas Stiegler (* 1966), Sebastian Stier positionen zu hören und auf deren B-Seite dokumentieren und sie durch ihre Publika- (* 1970) und Hans Thomalla (* 1975). der Film von Jesko Marx zu sehen wie zu tionen weiter mitschreiben, so muss sie sich hören ist. Ein Novum, das vielleicht Schule den erweiterten Musikkonzeptionen stellen. Bewerbungen machen wird, das vielleicht Vorreiter für künf- Das wäre wohl die wichtigste Aufgabe für die tige kleinere DVD-Produktionen ist. Schließlich kommende Zeit bis zum Silberjubiläum in Für die „Edition Zeitgenössische Musik“ ist es nur eine Frage der Zeit, wann dieses fünf Jahren. können sich in Deutschland geborene Kom- Medium, das zusätzliche technische Möglich- ponisten selbst bewerben. Älter als 40 Jahre keiten gewährt, die CD ablösen wird – und dürfen sie zum Zeitpunkt der Bewerbung das wohl komplett. allerdings nicht sein. Näheres dazu siehe: Doch sollte man im Deutschen Musikrat U www.musikrat.de (unter „Projekte > nicht so lange warten, bis die „Edition Zeit- Zeitgenössische Musik“). genössische Musik“ auch den Werken und

 MUSIK ORUM 49 NEUE TÖNE

over-Versionen hat es schon Seit 1996 beherrschen Cover-Versionen und Hit-Recycling Cimmer gegeben. Sie gelten die deutschen Single-Charts – mit heftigen Folgen für Musik, zu Recht als eine der reizvollsten Musiker und Musikindustrie. Eine Bilanz von Marc Pendzich Spielarten der Rock- und Popmu- sik. Ökonomisch betrachtet, ist das Hit-Recycling auf dem deutschen Markt heute eher eine Seifenblase.

Insbesondere in den 50er und 60er Jah- Tagesware ren war die tonträgerbasierte industrielle Va- riante des musikalischen Archetypus „Bear- beitung“ fester Bestandteil des Popmusik- VON DER DJ-STANGE geschäfts. Es folgten zwischen 1965 und 1987 zwei Jahrzehnte relativer Bedeutungslosigkeit von Chart-Cover-Versionen. Ihren unbestreit- baren Vorteilen zum Trotz gehörten sie viele Jahre lang lediglich „dazu“. Die meisten Pop- musikkarrieren basierten jedoch auf eigenen bzw. erstmals erfolgreich aufgenommenen Songs. Ganz anders stellt sich die Situation seit Seit Mitte der 60er Jahre nimmt die Sing- Investment und ohne langwierigen riskanten Mitte der 90er Jahre dar. Gegenwärtig befin- le eine „Trailer-Funktion“ für das eigentliche Künstleraufbau. Zur Hit-Optimierung wur- den wir uns im Jahre 10 einer Veröffent- wertschöpfendende Produkt, das Album, ein. de in den 90er Jahren vorrangig auf die Pro- lichungsflut von Cover-Versionen, die einer Getragen wird das Medium „Album“ von den duktion von Cover-Versionen gesetzt, da die systematischen Auswertung des gesamten Hit- Marken der Musikindustrie, den internatio- unbekannten Projekte zur Vermarktung einen Backkatalogs der Rock- und Pop-Musikge- nalen und nationalen Stars. Als Erfahrung gilt: Hook („Aufhänger“) benötigen: „It’s The Cover schichte gleichkommt. Alles in allem ist in Stars verkaufen Alben, Sternchen vorwiegend – Not The DJ.“ Deutschland seit 1996 durchschnittlich je- Singles. Mit dem Niedergang des deutschen Album-Produktionen waren für derartige der fünfte aktuelle Single-Hit eine Cover- Schlagers Ende der 70er Jahre verlor die deut- One-Hit-Wonder-Projekte gar nicht mehr Version. Der Cover-Versionen-Anteil hat sich sche Tonträgerindustrie ihr ureigenes „Do- vorgesehen. Ihre Produkte wurden wenige damit seit 1985 mehr als verdreifacht. Ne- mestic Product“. Wochen nach Veröffentlichung per Hit-Com- ben der quantitativen ist auch eine qualitati- Nachfolgend verdeckte der CD-Verkaufs- pilaton wie „Bravo-Hits“ erstverwertet. Die- ve Verschiebung festzustellen – von Cover- Boom ab Mitte der 80er Jahre das ungelöste se Praxis ist eine endemische Erscheinung des Versionen als „Erst-Hits“ hin zu Secondhand- Problem der deutschen Tonträgerfirmen: Das deutschen Musikmarkts. Auf den Punkt ge- Hits. Der Variantenreichtum der Cover-Ver- Fehlen eines systematischen Künstleraufbaus bracht, markiert diese Prioritätensetzung den sion ist stark ausgeweitet, z. B. durch die aus- zur Etablierung von albumverkaufenden Acts. Versuch, den Faktor Mensch/Künstler aus dem schließliche Verwendung von Refrains, durch Die Gründung von VIVA markierte 1993 Musikbusiness als störendes, weil mit Risiken Großsamples à la Madonnas Hung Up sowie einen Schritt in die richtige Richtung, bot dieser verbundenes Element zu eliminieren. durch die Kreuzung von Werken („Bastards“). doch eine Medien-Plattform zur Überwindung Maßgebliches Kriterium für die Bezeichnung der „inhaltlichen Lücke“. Das VIVA-Manage- Beliebte Brennobjekte eines Stücks als Cover-Version ist heute, dass ment drehte jedoch den Spieß um und setz- das Originalwerk in seinen wesentlichen Zügen te mit Techno/Dance auf neue, vom Rund- Das ging so lange gut, bis die jugendliche in der neuen Produktion erhalten bleibt (und funk ignorierte Musikstile – und nahm letztlich Zielgruppe mit Downloads und bespielba- die Urheberschaft offengelegt wird). die Tonträgerfirmen ins Schlepptau. ren CDs gleich mehrere Alternativen hatte, Die Gründe für das heutige allumfassen- um die Tagesware von der DJ-Stange ohne de Hit-Recycling in den internationalen Charts Radio als Abspielstation Griff ins Portemonnaie zu erhalten: Hit-Com- sind vielschichtig und eng miteinander ver- für die Charts pilations gerieten zu besonders beliebten Brenn- woben: Zeitgeist, Studiotechnik, die eine Ei- Objekten. Denn der Vorteil einer Hit-Com- gendynamik erzeugenden ersten Erfolge so- Die Industrie war und ist dennoch auf pilation ist zugleich ihr Nachteil: Die hoch- wie ein neuartiger kreativer Zugang zu Musik Musik-TV angewiesen: Der öffentlich-recht- aktuelle, teuer erworbene Tagesware von heute tragen dazu bei. liche Rundfunk geriet im Zuge der starken ist der Ladenhüter bzw. Staubfänger von mor- Der Trend zu mehr Cover-Versionen ist Formatisierung zur zielgruppen-gefilterten gen. Hit-Compilations schaffen keine emo- internationaler Art. Allerdings kommt in kei- passiven Abspielstation von Charts, die an- tionale Fan-Bindung und keine Intensivkäu- nem anderen bedeutenden westlichen Mu- dere bestimmen. Das bedeutet: Würde die fer. sikmarkt dem Hit-Recycling eine derart gro- Industrie mehr Künstleraufbau betreiben, Das ist ein wichtiger Grund, weshalb der ße Bedeutung zu. Bei der Analyse des deut- stünde ihr für diese Acts derzeit keine ange- deutsche Musikmarkt so krisenanfällig ist und schen Musikmarkts stechen hiesige Konzent- messene Rundfunk-Plattform zur Verfügung. Umsatzeinbrüche in Rekordhöhe verzeich- ration „auf den schnellen Hit“ und die audio- Techno/Dance bedeutet(e) Single-Produkte net. (Zum Vergleich: Der britische Musikmarkt visuelle mediale Vermittlung von Musik hervor. ohne hohes Studiokosten- und Marketing- befindet sich in einem Sieben-Jahres-Hoch –

 50 MUSIK ORUM © Virgin

Aus altem Hitmaterial bedient: Auch Madonna greift schon mal auf erfolgreiche Melodien zurück, hat bei Hung Up ein Sample aus dem Abba-Hit Gimme Gimme Gimme inklusive Bassline verwendet.

trotz ähnlicher technischer Voraussetzungen peer-Connection = Rechner-Rechner-Verbin- Der Autor: der Konsumenten). dung) geben wird, Dr. Marc Pendzich ist selbstständig als Medien-Consul- Das Hit-Recycling ist – gekoppelt mit der gibt es laut Leslie Mandoki „nur emotionale tant, Musikgutachter, Lehrbeauftragter und Komponist tätig. Seine Forschungsschwerpunkte sind Musikwirt- wirtschaftlichen Krise – letztlich eine giganti- Gründe, einen Tonträger käuflich zu erwer- schaft, Bearbeitungspraxis, Medienhistorie und Musik- sche Seifenblase: Einerseits gab und gibt es ben“.* Diese sind vorrangig über Fan-Bindung recht. in den Charts mehr Cover-Versionen denn und Identifikation und damit über das Star- je, andererseits verkauft sich jede einzelne Prinzip gegeben. Das gilt umso mehr, weil Lesetipp: aufgrund der Marktübersättigung weniger. Seit • die demografisch rückläufige Zielgruppe der Marc Pendzich: Von der Coverversion zum Hit- Recycling. Historische, ökonomische und rechtliche dem Single-Markteinbruch stehen hinter den Jugendlichen als Intensivkäufer missverstan- Aspekte eines zentralen Phänomens der Pop- und vermeintlichen Chart-Erfolgen letztlich kei- den wird, Rockmusik, 464 S. mit CD-ROM inkl. Register und ne entsprechenden Verkaufszahlen mehr. • die reiferen Käufer sich nicht mit Tages- Cover-Datenbank, LIT Verlag, ISBN 3-8258-8118-0 ware abspeisen lassen, Pop-Gegenbewegung • die Single inzwischen reines Promotion- Instrument ist und daher letztlich nur selten Im Zuge der Krise der Werbe- und Mu- Anlass besteht, Singles außerhalb der Bewer- sikbranche geriet auch das vormalige Vor- bung von Alben zu veröffentlichen. Gegenbewegung: Bands wie Silbermond, zeigeprojekt VIVA um 2002 ins Straucheln. Das Musikgeschäft ist, weil es auf der Arbeit die erfolgreiche Alben auf den Markt Mit dem faktischen Ende des Systems VIVA mit Menschen, d. h. mit Musikern, Künstlern bringen, sind die Antwort auf den kurz- schwand auch die Dominanz von Dance. In und Stars aufgebaut ist, ein prinzipiell mittel- atmigen Techno/Dance-Markt und sprechen der Folge ist der Anteil von Cover-Versionen fristiges. Heutige Umsatzträger wie R.E.M. oder für systematischen Künstleraufbau. – auf hohem Niveau – leicht gesunken. Grönemeyer – deren Umsätze Die Mode „deutschsprachiger Pop-Rock“ sämtliche Tagesware und Flops bringt mit Bands wie z. B. Silbermond oder mitfinanzieren – haben viele Juli albumtragende Bands hervor. Das ist gut Jahre und mehrere Alben zu so, jedoch handelt es sich bisher lediglich um ihrer künstlerischen Entfaltung eine Gegenbewegung zum Dance – und nicht gebraucht. Ihnen würde heute um Folge relevant veränderter Firmenpoliti- unter Umständen keine Chan- ken. ce mehr eingeräumt werden. Tatsächlich sprechen heute mehr denn je Derzeit lebt die Tonträgerbran- Argumente für systematischen Künstlerauf- che vorrangig von den vor 1985 bau: Davon ausgehend, dass aufgebauten Stars. Doch irgend- • Musik von One-Hit-Wonders und Stern- wann wird Tina Turner nicht chen tendenziell eher gebrannt und getauscht wieder aus dem Ruhestand zu- wird, rückkehren. Und dann? • der Kunde ein genaues Gespür besitzt, von welchen Acts sich der Kauf eines Albums © Sony BMG lohnt und von welchen nicht, * aus: Lothar Scholz: „Herausforderun- • kein CD-Kopierschutz je perfekt sein wird, gen des 21. Jahrhunderts“, in: Der • es immer neue Formen von P2P (Peer-to- Musikmarkt, 19/2002, S. 12.

 MUSIK ORUM 51 WIRTSCHAFT

Sprengstoff in der Novelle des „Zweiten Korbs“. Von Günter Krings Systemwechsel FÜR DAS URHEBERRECHT?

as Urheberrecht dient dem Schutz der Kreativität in unserer Gesell- Verwerter vertraglich vereinbaren, dass das Dschaft. Daher sind Musiker und Musikwirtschaft in besonderem Werk auch auf zukünftigen und bisher un- Maße von Neuregelungen im Urheberrecht betroffen. Das gilt vor allem bekannten Nutzungsarten verwertet werden kann. Dem Urheber steht diesbezüglich ein für die anstehende Novellierung des Urheberrechtsgesetzes, dem so Widerrufsrecht zu. Dieses Widerrufsrecht be- genannten „Zweiten Korb“. steht, so lange der Verwerter mit der Nut- zung noch nicht begonnen hat. Bei der Pauschalvergütung, die maßgeb- herstellern keine unverhältnismäßige Verteue- Der Bundesrat hat in seiner Gegenäuße- lich für das finanzielle Aufkommen der Ver- rung ihre Produkte aufzuerlegen. rung dieses Modell kritisiert und statt dessen wertungsgesellschaften ist, sieht der Gesetz- Wie schwer es der Politik hier gemacht angeregt, eine Unterrichtungspflicht des Rech- entwurf einen Systemwechsel vor. Zukünftig wird, zeigen die von beiden Seiten vorgeleg- teverwerters einzuführen. Für die Urheber soll die Vergütungspflicht von Geräten und ten Zahlen. Die Verwertungsgesellschaften mag dies zunächst verlockend klingen, da der Speichermedien anhand ihrer tatsächlichen rechnen mit Einnahmeverlusten von bis zu Rechteverwerter den ersten Schritt machen Nutzung für Vervielfältigungsvorgänge ermit- 40 Prozent. BITKOM, der Bundesverband muss. Gleichzeitig besteht aber die Gefahr, telt werden. Dadurch wird ein gerechterer Informationswirtschaft, Telekommunikation dass eine Verwertung in einer neuen Nut- Maßstab erreicht als bei der jetzigen Rege- und neue Medien, macht die Gegenrechnung zungsart unterbleibt, weil die Urheber oder lung, die auf die Erkennbarkeit zur Vornah- auf und rechnet vor, dass allein das Vergü- die Erben nicht ausfindig gemacht werden me von Kopien abstellt. In der Vergangen- tungsaufkommen von ZPÜ (Zentralstelle für können. Dies dann auch zum finanziellen heit hat diese Bestimmung immer wieder zum private Überspielungsrechte) und GEMA um Schaden für die anderen Urheber, die eigentlich Streit zwischen Geräte- und Speichermedien- das Vierfache steigen würde. auf die Zusatzeinnahmen nicht verzichten herstellen und Urhebern geführt, da die Ver- wollen. Die vertragliche Übertragung der gütungspflicht für neue Geräte oder Speicher- Zurück in staatliche Hand Verwertung in unbekannten Nutzungsarten medien häufig abgelehnt wurde. Allein bis zwingt den Urheber auf jeden Fall nicht dazu, zum heutigen Tag ist es nicht höchstrichter- Wenn der Staat ein Vergütungssystem ver- auf eine Vergütung zu verzichten. Auch im lich geklärt, ob Drucker und Computer er- ordnet, dann gibt es gute Gründe dafür, dass Falle einer Widerrufsregelung hat der Urhe- kennbar zum Einsatz für Vervielfältigungen er auch die Einzelheiten einschließlich der ber einen Anspruch auf eine angemessene eingesetzt werden. Das schadet einmal den Vergütungssätze regelt. Auch ein Steuerge- Vergütung. Geräteherstellern, weil sie Rücklagen bilden setz begnügt sich schließlich nicht damit, die Zwar kann man Verständnis für das An- müssen. Andererseits sind aber auch die Ur- Steuerpflicht dem Grunde nach festzulegen liegen der ausübenden Künstler haben, die heber betroffen, denn ihnen wird eventuell und im Übrigen auf eine Verhandlungslösung Regelung über die unbekannten Nutzungs- eine zustehende Vergütung vorenthalten. zu vertrauen. Daher ist es zum jetzigen Zeit- arten auch auf die Leistungsschutzberechtig- punkt auch nicht auszuschließen, dass die ten auszudehnen. Aber Urheber und aus- Disput um Vergütungshöhe Regelungen über die Vergütungshöhe wieder übende Künstler sind nicht in jedem Fall gleich in staatliche Hand gegeben werden. Der Spreng- zu behandeln. Das geht auch schon aus dem Der Gesetzentwurf der Bundesregierung stoff in der Fünf-Prozent-Deckelung würde bisherigen Urheberrechtsgesetz hervor. Bei verbindet diesen Systemwechsel mit weite- so jedenfalls erst einmal entschärft. der Regelung über die unbekannten Nutzungs- ren Änderungen im Vergütungsgeflecht, die Neben diesem Punkt wird intensiv, auch arten handelt es sich gerade um eine Schutz- bei den Verwertungsgesellschaften auf star- im Musikbereich, die Novellierung der Re- vorschrift für den Urheber, deren zu Grunde ken Widerspruch gestoßen sind. Oft kritisiert gelungen zu den unbekannten Nutzungsar- liegende Wertung nicht so ohne Weiteres auf wird in diesem Zusammenhang die Begren- ten diskutiert. Triebfeder dieser Regelung ist den Leistungsschutzberechtigten zu übertra- zung der Vergütungshöhe auf maximal fünf das Interesse der Verwerter und der Verbrau- gen ist. Prozent des Gerätepreises. Diese Regelung cher, alte Inhalte mit neuen Technologien wird man im weiteren parlamentarischen Ver- nutzen zu können. Die Verwertung wird aber fahren einer kritischen Würdigung unterzie- zurzeit erschwert, da der Urheber über die- Der Autor: hen müssen. Maßstab wird dabei sein, dem ses Recht zum Zeitpunkt des Vertragsschlus- Dr. Günter Krings ist Urheberrechtsexperte und Berichterstatter der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Urheber keinen Einbruch beim Vergütungs- ses mit dem Verwerter nicht verfügen kann. für das geistige Eigentum im Rechtsausschuss des aufkommen zuzumuten und auf der ande- Zukünftig soll dies anders sein. Nach dem Deutschen Bundestags. ren Seite den Geräte- und Speichermedien- Gesetzentwurf kann der Urheber mit dem

 52 MUSIK ORUM Reform des Gemeinnützigkeitsrechts gefährdet die Laienmusik. Von Hans-Willi Hefekäuser Generalangriff AUF DAS EHRENAMT?

nde August 2006 hat der Wissenschaftliche Beirat beim Bundes- und Orchestermusikern sind die zahllosen E ministerium der Finanzen ein Gutachten mit dem Titel „Die abgaben- anspruchsvollen Chor- und Orchester-Kon- rechtliche Privilegierung gemeinnütziger Zwecke“ herausgegeben. Das zerte, die landauf, landab zum selbstverständ- lichen und unverzichtbaren Bestand der Gutachten empfiehlt nicht weniger als eine Total-Revision des Gemein- Musikkultur gehören, nicht zu finanzieren. nützigkeitsrechts und weit reichende Veränderungen der steuerrecht- Laienmusiker verdienen nicht nur nichts, lichen Behandlung bisher als förderungswürdig anerkannter Zwecke. sondern bezahlen für ihr Engagement. Der Beirat verkennt daher – zumindest für den Die Spitzenverbände des Musik- und fertigt worden ist und deren Intentionen Bereich der musikalischen Breitenkultur – die Kulturlebens in Deutschland, an ihrer Spitze zumindest mit trägt. Bekanntlich beschäfti- Lebenswirklichkeit von mehr als sieben Mil- der Deutsche Musikrat und der Deutsche gen sich die Finanzpolitiker aus nahe liegen- lionen ehrenamtlich tätiger Menschen. Auf Kulturrat, haben die Vorschläge in zum Teil den Erwägungen ständig intensiv mit der Frage, diese Weise gefährdet er die für Deutsch- deutlichen Stellungnahmen zurückgewiesen. wie die steuerliche Bemessungsbasis verbrei- land so einzigartige nicht-professionelle Chor- Dies legt drei Fragen nahe: Was schlagen die tert und somit die Steuereinnahmen erhöht und Orchesterlandschaft. Gutachter vor? Werden die Vorschläge rea- werden können. Dementsprechend war auch lisiert? Und wie sind sie zu bewerten? Barbara Hendricks zu vernehmen, die darüber Wird Ehrenamt belastet? Das Gutachten schlägt generell eine erheb- hinaus feststellte, am Ende müsse eben zwi- liche Reduzierung und – speziell im Kulturbe- schen den fiskalischen Erfordernissen und dem Im Koalitionsvertrag haben sich die Re- reich – eine deutliche Verengung der förde- Steuerausfall bei unveränderter Fortsetzung gierungsparteien deutlich für Maßnahmen aus- rungswürdigen gemeinnützigen Zwecke auf der steuerlichen Privilegierung gemeinnützi- gesprochen, die eine aktive Bürgergesellschaft die Pflege des so genannten kulturellen Erbes ger Zwecke abgewogen werden. Auf welcher durch die Förderung des ehrenamtlichen En- vor. Es verlangt die Abschaffung der Steuerbe- Seite der Waage sich die Staatssekretärin im gagements unterstützen. Das Gutachten des günstigung von Zweckbetrieben und die Redu- Zweifelsfall platzieren wird, dürfte nicht schwer Wissenschaftlichen Beirats trägt dieser Ziel- zierung der Abzugsmöglichkeiten für Kultur- zu erraten sein. formulierung der Bundesregierung in keiner sponsoring. Vor allem sollen die steuerliche Weise Rechnung, sondern weist in die ent- Abzugsfähigkeit von Mitgliedsbeiträgen ebenso Nach Art der Steuerpraxis gegengesetzte Richtung – eine Richtung, die wie die so genannte Übungsleiterpauschale zu einer deutlichen Verschlechterung der Rah- abgeschafft und die Abzugsfähigkeit von Spen- Man scheint daher gut beraten, das Gut- menbedingungen für ehrenamtlich Tätige den eingeschränkt werden. Ferner wird die achten nicht ohne Weiteres abzutun, sondern führen würde. Trennung des Status der Gemeinnützigkeit von durchaus ernst zu nehmen, zumal es sich Das Vorhaben der Bundesregierung, das der Steuerbegünstigung vorgeschlagen. zwanglos in die verstärkt restriktive Steuer- Gemeinnützigkeitsrecht umfassend zu refor- praxis von Bund und Ländern im Kulturbe- mieren und das Spendenrecht deutlich zu BMF pro Gutachten? reich einreiht. Jüngstes Beispiel ist hier die vereinfachen, verdient volle Unterstützung. vom Bundesfinanzministerium verfügte mas- Der große und bedeutende Bereich der ganz Erfahrungsgemäß werden zwar Ideen und sive Reduzierung der steuerlichen Anerken- und gar ehrenamtlich getragenen Kultur- und Vorschläge aus der Wissenschaft von der Politik nung von Mitgliedsbeiträgen zu Förderverei- Musikpflege im Laienbereich, der in den ver- kaum je 1:1 in die Tat umgesetzt; das gilt selbst nen. Den Verbänden und Spitzenverbänden gangenen Jahren ohnehin bereits empfindliche dann, wenn das gutachtende Gremium als des Musik- und Kulturlebens ist daher drin- finanzielle Einschnitte hinnehmen musste, darf Beirat eines wichtigen Bundesministeriums gen anzuraten, sich mit den Vorschlägen und jedoch durch nachteilige Veränderungen der fungiert. Auffällig war aber hier, dass die poli- ihren Konsequenzen ernsthaft zu beschäfti- rechtlichen Rahmenbedingungen nicht wei- tische Spitze des Finanzministeriums sich in gen und auseinander zu setzen. ter geschwächt werden, sondern verdient auch Gestalt der Parlamentarischen Staatssekretä- Eine Realisierung der Gutachter-Vorschläge weiterhin uneingeschränkte Förderung. rin Barbara Hendricks noch am Tage der Ver- würde insbesondere im Bereich der Laien- öffentlichung des Gutachtens weitgehend mit musik zu verheerenden Konsequenzen füh- Der Autor: dessen Ergebnissen identifizierte. Dies legt die ren. Insbesondere Mitgliedsbeiträge und Spen- Hans-Willi Hefekäuser ist Präsident der Arbeitsgemein- Vermutung nahe, dass das Gutachten durchaus den haben gerade für Chöre und Orchester schaft Deutscher Chorverbände und Mitglied des Präsi- mit Wissen und Wollen der Spitze des Bun- im Laienbereich eine herausragende Bedeu- diums des Deutschen Musikrats. desministeriums der Finanzen (BMF) ange- tung. Ohne die Mitgliedsbeiträge von Sängern

 MUSIK ORUM 53 BILDUNG.FORSCHUNG

Die „Jungen Symphoniker“ machen in München mit anspruchsvoller musikalischer Linie von sich reden »Herzhaft profan…

ine frappierende Synthese Die „Jungen Symphoniker“ gehören zur Meist spielt das Nachwuchs-Ensemble in „E aus Jugend und Reife“ – „Musikwerkstatt Jugend“. Dieser Verein, erst größerer Besetzung. Fast alle Orchestermit- der Kritiker war beeindruckt vom vor Jahresfrist in Icking südlich von München glieder sind noch Schüler, darunter viele „Ju- von einigen engagierten Musikpädagogen ge- gend-musiziert“-Preisträger und etliche Jung- Kammerorchester der „Jungen gründet, hat es sich zur Aufgabe gemacht, be- studenten der Münchener Hochschule. Aber Symphoniker“. Kinder und Jugend- gabten jungen Musikern schon während ih- auch reguläre Studenten im Alter bis zu 25 liche im Alter zwischen zehn und rer Schulzeit eine vorberufliche Ausbildung Jahren haben den Weg in dieses außerge- 17 Jahren hatten unter der Leitung zu geben – nicht als Konkurrenz, sondern als wöhnliche Orchester gefunden. Fünf große, von Philipp Amelung und mit Hed- Ergänzung des Individualunterrichts an den viel beachtete Konzerte haben die „Jungen wig Bilgram am Cembalo Bachs örtlichen Musikschulen. Damit soll die spä- Symphoniker“ seit der Gründung des Orches- tere Entscheidung für (oder gegen) den Musi- ters im Frühjahr 2005 allein in der Münche- 5. Brandenburgisches Konzert kerberuf erleichtert, ein realistischer Blick auf ner Allerheiligen-Hofkirche gegeben. Beetho- aufgeführt. die eigenen Möglichkeiten und auf die Erfor- vens Eroica und die 7. Sinfonie, Dvoráks Achte, dernisse vermittelt werden; wobei das Spezi- die Symphonie classique von Prokofjew – keine fische des Orchesterspiels im Gegensatz zur leichten Aufgaben, die Dirigent Folko Jung- vielfach auf das Solospiel konzentrierten Hoch- nitsch seinen Schützlingen stellte, aber auch schulausbildung betont wird. keine Überforderung, wie Publikum und Presse

 54 MUSIK ORUM …UND DOCH WIE EIN WUNDER!«

bemerken konnten. „Zu voller Reife heran- rischen Rundfunks – und die Zusammenar- hen, die Musik weder der kalten technischen wachsender Klangkörper“ oder „Herzhaft pro- beit mit renommierten Solisten. Das Konzept Perfektion noch einem Tribut an das Nicht- fan und doch wie ein Wunder“ lauteten Schlag- „Meister und Schüler im Dialog“ wird so können der ‚Fun-Gesellschaft‘ ausliefert.“ zeilen in der Süddeutschen Zeitung. Wobei mit überzeugend umgesetzt, dass die Musikwerk- Musik als Chance zur Neuorientierung „im „Wunder“ die professionelle Qualität der Auf- statt nicht nur nach einem Jahr des Beste- Abraum zerbrochener Weltbilder und über- führung gemeint war, die das Niveau etab- hens bereits mit dem „Tassilo“-Kulturpreis der holter Rezepte, angesichts einer unterbroche- lierter Orchester erreicht habe. Süddeutschen Zeitung geehrt wurde, sondern nen Rezeption und Tradierung des kulturel- „Werkstatt“ sei ein guter Begriff für den auch international bekannte Künstler auf sich len Erbes“ – die gesellschaftliche Dimension Trägerverein des Ensembles, erläutert Folko aufmerksam gemacht hat. So ging Pianist ist das eigentlich Spannende an der Zielset- Jungnitsch (35) den Ansatz. Den ausgebilde- Alfredo Perl nach einem der letzten Konzer- zung der Musikwerkstatt. Dieser Ansatz über- ten Geiger und Orchesterleiter, der sich haupt- te spontan auf die „Jungen Symphoniker“ zu zeugte auch den international gefragten Aus- beruflich bereits als Dirigent – unter ande- und regte an, im nächsten Jahr Brahms’ 1. nahme-Geiger Gilles Apap, der im nächsten rem als Assistent von Marcello Viotti – einen Klavierkonzert zu spielen. Gitti Pirner, die im Konzert der „Jungen Symphoniker“ Bartóks Namen gemacht hat, fasziniert die Idee, dass vorigen Sommer Beethovens 1. Klavierkon- 2. Violinkonzert spielen wird. Meister und Lehrling wie in einer Werkstatt zert aufführte, schrieb den jungen Leuten Claudia Valder-Knechtges Hand in Hand arbeiten, dass die jungen Leu- anerkennende Worte ins Stammbuch: „Das te von Anfang an selbst etwas Vollgültiges tun, Orchester hat eine große Arbeitsdisziplin, die wobei ihnen erfahrene Musiker zur Seite stehen unter der psychologisch sehr klugen Anlei- Konzerttermine der und sie ernst nehmen. tung des Dirigenten auch über lange Zeiten „Jungen Symphoniker“ hinweg anhält… Besonders beglückt die Freu- 2. Dezember: Ulm, Kornhaus Transparenz und Disziplin de der jungen Menschen an der Musik, wo- 3. Dezember: München, Große Aula der durch sie sich selber zu hohen Leistungen LMU (Festkonzert zur 50-Jahr-Feier des Er selbst hat als Student vergleichbare gute befähigen und das Publikum mitreißen.“ Ungarnaufstandes) Erfahrungen im Bundesjugendorchester ge- Diese Freude entsteht auf Basis eines ganz- 3. März 2007: Ulm, Kornhaus macht und fand in dem Konzept der Musik- heitlichen Konzepts, wie es Gerd Michael Her- 5. März 2007: München, Herkulessaal werkstatt eigene Ideen wieder, als man ihn big, der Vorsitzende des Vereins, vertritt: „Musik im Frühjahr 2005 als musikalischen Leiter fördert in besonderem Maße die Entwicklung Kontakt: für die „Jungen Symphoniker“ gewann und des Menschen. Ziel ist, das individuelle tech- Musikwerkstatt Jugend e.V., Franz Deutsch das erste Konzert mit Mozart und Haydn nische und musikalische Vermögen um die Spatzenloh 10 · 82057 Icking (Abschiedssinfonie) sogleich hohe Anerkennung intellektuelle, emotionale und auch spirituelle Tel. und Fax 08178–90018 einbrachte: „Der Start hätte besser nicht sein Dimension zu bereichern, die in jeder großen Mail: [email protected] können“, befand ein Zeitungskritiker. Seit- Musik gegenwärtig ist. Erst in dieser Verbin- www.musikwerkstattjugend.de dem steht Jungnitsch für eine anspruchsvol- dung kann die Freude an der Musik entste- le musikalische Linie, wobei er – um der Transparenz und Disziplin willen – Schwer- punkte auf das Repertoire der Klassik und der klassischen Moderne, weniger auf große romantische Orchesterwerke legt. Drei Proben- und Konzertphasen jährlich „Zu voller Reife schließen auch Auslandsreisen ein: Kürzlich heranwachsender gaben die „Jungen Symphoniker“ ein Kon- Klangkörper“: zert in Verona. Das Orchester ist dabei aber In der Münchener Allerheiligen- nur die Spitze einer Gesamtkonzeption in- Hofkirche gaben die tensiver Förderung. Vorgeschaltet sind die „Jungen Symphoniker“ „Sinfonietta Isartal“ und das „Kinderorches- viel beachtete ter Isartal“; vorgesehen sind zudem Meister- Konzerte. kurse, Kammermusik und Gastdirigate von Fotos: Kolb Spezialisten, z. B. für Barockmusik. Die Fä- den laufen zusammen bei Franz Deutsch, dem Motor und Chef-Organisator der Initiative. Konzerte, bei denen die besten der jun- gen Spieler solistisch auftreten, sind ebenso Programm wie regelmäßiges „Coaching“ durch erfahrene Orchestermusiker – zuletzt aus den Reihen des Symphonieorchesters des Baye-

 MUSIK ORUM 55 BILDUNG.FORSCHUNG

Musikwissenschaftler Christoph Metzger fasst die Kritik am KAS-Papier zusammen PROKLAMIERTE ZIELE verfehlt

Musik fällt aus. Musikunterricht in Not! Reformen sind notwendig. ankommt‘ in und außerhalb der Schule. Die zuvor formulierte Forderung Wie kann geholfen werden? In Berlin wurde Ende August in Koopera- nach einem ausgeprägten Qualitätsbewusstsein hinsichtlich der Kompo- tion des Arbeitskreises Schulmusik (AfS) und des Conbrio-Verlags mit nisten (vgl. S. 20) wird so nicht eingelöst.“ (S. 52) Hans Jünger und Doro- dem Landesmusikrat Berlin unter der Moderation der stellvertretenden thee Barth forschen in ihrer Auseinandersetzung im Buch nach Motiven, Vorsitzenden des Bundesverbands, Birgit Jank, die Publikation Bildungs- die zu einem an abendländischen Kunstwerken orientierten Musikunter- offensive Musikunterricht – das Grundsatzpapier der Konrad-Adenauer- richt führen können. Christian Rolle fragt nach, was eine derartige Verbind- Stiftung in der Diskussion (KAS) – vorgestellt und kontrovers diskutiert. lichkeit überhaupt leisten kann. Jürgen Vogt stellt vorbereitende Über- Gegenstand des Papiers ist die vermeintliche Neuorientierung des legungen zu einem Kerncurriculum Musik an. Christopher Wallbaum in- Musikunterrichts aus Sicht der KAS. Repräsentanten der Musikpädagogik terpretiert den im KAS-Papier vorliegenden Musikbegriff. Hermann J. und der Kultur- und Bildungspolitik unterzogen im Rahmen der Buch- Kaiser schließlich ordnet bildungspolitische Positionen des KAS-Papiers vorstellung – wie bereits sämtliche Autoren des Buchs zuvor – das CDU- in komplexere Zusammenhänge ein, fordert eine klarere inhaltliche Aus- nahe Papier einer durchweg scharfen Kritik. Die Studie der Konrad-Ade- einandersetzung und verweist hierbei auf aktuelle Grundverständnisse nauer-Stiftung wirft mehr Fragen auf, als dass es über Motive und Ziele zur musikalischen Bildung. informiert. So wird behauptet, dass die Aufgabe der Nachträglich mussten also von ausgewiesenen Mu- Schule zuallererst in der Formung der Persönlich- sikpädagogen und Wissenschaftlern jene Leitlinien keit liege. Mit Hilfe jener kulturellen Werte, die sich in Erinnerung gerufen werden, die vom Arbeitskreis in der Geschichte der Musik finden lassen, soll dies für Schulmusik über Jahre etabliert wurden. So lie- geschehen. Ein geschlossener Kanon großer und gen die Verdienste des AfS u. a. in der Durchset- meist populärer klassischer Werke wurde dafür auf- zung populärer Musik als Unterrichtsgegenstand, der gestellt (S. 26/30). Er soll die Basis für den Musikun- Beförderung des Musizierens im Klassenverband sowie terricht in verschiedenen Schulformen sein. Gefor- der Förderung interkulturellen Lernens. dert werden inhaltlich verbindliche Lehrpläne: „Gerade In der Diskussion im Konzerthaus Berlin machte eine aufgrund ungeheurer Medienvielfalt omniprä- Hermann J. Kaiser nochmals deutlich, dass mit dem sente Musik erschwert freilich Schülern und Lehrern KAS -Papier der Geist eines Musikunterrichts vor 1968 eine Orientierung ungemein.“ (S. 25) „Den Unter- (dem Erscheinen des Buches von Michael Alt „Di- schied zwischen akustischer Umweltverschmutzung daktik der Musik“) verbreitet würde, der von einem (Handy, Telefonwarteschleifen, Dauerberieselung) nicht mehr nachvollziehbaren Konservatismus geprägt und der ‚Originalität’ großer Werke der Musikge- sei. Schul-, Bildungs- und gesellschaftspolitische schichte erkennen und bewerten zu können, ist Bil- Perspektiven würden durch den vorgeschlagenen dungsziel.“ (S. 26.) Hier spätestens zeigte sich, dass Kanon zum gefährlichen Instrument, das die prokla- es der KAS-Studie paradoxerweise selbst an Orien- mierten Ziele verfehlt. Max Fuchs verwies darauf, dass tierung in Praxis und Theorie fehlt. Hermann J. Kaiser, Dorothee Barth, Frauke Heß, gerade die Moderne immer wieder unter Beweis Grundsätzliche Kritik an diesem Papier entzün- Hans Jünger, Christian Rolle, Jürgen Vogt, Chris- gestellt habe, dass Modelle der Sinnstiftung „von det sich zudem an den proklamierten Inhalten, die topher Wallbaum: Bildungsoffensive Musikunter- oben“ ihre kulturpädagogischen Ziele regelmäßig als Richtschnur bildungspolitischer Meinungsbildung richt? Das Grundsatzpapier der Konrad-Ade- verfehlen. Theo Geißler machte deutlich, dass musi- nauer-Stiftung in der Diskussion. ConBrio 2006; entwickelt wurden. So wurde das Papier der KAS 154 Seiten, 14 Euro, ISBN-103-932581-80-6. kalische Kompetenz sich in verschiedenen Perspek- schon hochrangigen Politikern übergeben, der AfS tiven der Rezeption von Musik offenbare. Würden musste schnell handeln. Es galt und gilt, weiteren Schaden zu vermei- z. B. zeitgenössische Entwicklungen vorsätzlich durch bestehende Richtlinien den. Die Konrad-Adenauer-Stiftung hat sich mit der Auswahl des Auto- ausgeschlossen, so fände das Gegenteil einer musikalischen Bildung statt. renteams, „in erster Linie aus politischen Zusammenhängen oder Ver- Eingeübte Ignoranz sei die Folge. So praktiziert, baue Musikunterricht bänden stammend (aus Ministerien, dem Lehrerverband, dem deutschen Barrieren auf. Elternverein [so Frauke Heß] S. 45)“, als wenig kompetent erwiesen. Wenn Der Wert musikalischer Bildung geht jedoch weit über das Erlernen die Zementierung eines einseitig national geprägten Begriffs von Musik musikalischer Werke und deren Geschichte hinaus. Die Bedeutung des propagiert wird und die Chance vertan wird, die Bandbreite des gegen- Musikunterrichts für sämtliche Schulformen ist unbestritten und wird derzeit wärtigen Musiklebens im Unterricht zu spiegeln, wird man nur wenige vor dem Hintergrund internationaler Bildungsrankings diskutiert. Quali- Schüler erreichen. Werteberieselung statt Motivation zur musischen Bil- tät musikwissenschaftlicher Diskurse und die Fortbildung der Musikleh- dung ist das Motto. Aktuell sollte ein Begriff von Musik, wie dieser im rer sind weitere wichtige Themen. Musikleben des 19. Jahrhunderts verbreitet war, nicht auf die Gegen- Musik in der Schule darf nicht zum fragwürdigen Schauplatz partei- wart übertragen werden. Der Vorwurf eines krassen Historismus wurde politischer Interessen instrumentalisiert werden. Es ist den Autoren die- auch in der Diskussion laut, weil so zentrale Fragen der Rezeption völlig ses Buchs für ihre offene Kritik am Papier der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgespart werden. zu danken. Der Stiftung selbst kann nur empfohlen werden, auf die zahl- Frauke Heß, die Bundesvorsitzende der Gesellschaft für Musikpäda- reichen schwerwiegenden Punkte der Kritik zu reagieren und schnellstens gogik, kommt zu dem Schluss: „Die Werkliste entstammt nicht einem eine gründlich überarbeitete Fassung vorzulegen. Dass sich die Stiftung musikästhetischen oder theoretischen Normenkatalog, wie es der Text dieser Diskussion Ende August im Konzerthaus gestellt hat, kann als zunächst vorgaukelt, sondern hier wird auf das zurückgegriffen, was ‚gut gutes Zeichen in die richtige Richtung gesehen werden.

 56 MUSIK ORUM Förderpreis für Musikpädagogik vergeben

INVENTIO PRÄMIERT Einsatz für musikalische Breitenbildung: INNOVATIVE PROJEKTE Ministerin Doris Ahnen erhielt von Asmus J. Hintz und Hans Bäßler (rechts) den Politikpreis.

In einer feierlichen Verleihung am 27. Sep- Hintz, Vorstandsmitglied der Stiftung „100 pädagogische Projekte von Orchestern, pri- tember wurde im Rahmen der 26. Bundes- Jahre YAMAHA“. Der Politikpreis ging an vaten oder öffentlichen Institutionen und schulmusikwoche in Würzburg der INVENTIO die Ministerin für Bildung, Frauen und Ju- Vereinen“ ein INVENTIO verliehen. Bremens 2006 überreicht. Mit dem Preis wurden zum gend in Rheinland-Pfalz, Doris Ahnen, die Bürgermeister a. D. Henning Scherf war in dritten Mal herausragende, innovative musik- den Preis persönlich in Empfang nahm. seiner Funktion als Präsident des Chorver- pädagogische Projekte ausgezeichnet, die für Freude auch bei den übrigen Preisträgern bands persönlich gekommen, um den Preis die musikalische Bildung von Menschen aller im Theatersaal der Hochschule für Musik in entgegenzunehmen. Der FELIX wird als Güte- Altersstufen zukunftsweisend sind. Würzburg: siegel an Kindergärten überreicht, die sich Auch in diesem Jahr hatte die Jury keine ˜ Der INVENTIO 2006 in der Katego- besonders für die musikalische Entwicklung leichte Aufgabe: Aus 60 Bewerbungen muss- rie „Förderung der Kooperation von Musik- von Drei- bis Sechsjährigen einsetzen. ten die Preisträger ermittelt werden. „Jedes schule und allgemein bildender Schule so- ˜ In der gleichen Kategorie wurde auch Projekt ist auf seine Art und Weise einzigar- wie anderer Institutionen und Einrichtungen“ das Musikzentrum Hannover für das Projekt tig und die Vielfalt der eingereichten Bewer- ging an die Grund- und Musik-Hauptschule „Musik in Hainholz“ ausgezeichnet. Das Pro- bungen ist ungeahnt kreativ und tiefgehend. Ruhstorf a. d. Rott. In Kooperation mit Part- jekt musikalisiert einen ganzen Stadtteil. Dabei Darüber freuen wir uns und hoffen, dass die nerschulen aus Passau, Oberösterreich und stehen die Bedürfnisse der Bewohner im prämierten Projekte Vorbildfunktion für vie- Südtirol und mit Ernennung zur 1. Bayeri- Vordergrund. (Das MUSIKFORUM berich- le weitere Initiativen haben werden“, so der schen Musik-Hauptschule durch das Bayeri- tete darüber in seiner Ausgabe 1/2006). Juryvorsitzende und Vizepräsident des Deut- sche Kultusministerium ist dort das große Ziel Ziel des seit 2004 jährlich gemeinsam von schen Musikrats, Hans Bäßler. näher gerückt, Schülern langfristig die täg- der Stiftung „100 Jahre YAMAHA“ und dem Der INVENTIO wurde in diesem Jahr in liche Musikstunde zu ermöglichen. Deutschen Musikrat (DMR) ausgeschriebe- fünf Kategorien ausgeschrieben, wobei die ˜ Die Fachhochschule Münster erhielt für nen Förderpreises ist es, auf die Bedeutung Jury vier Projekte in drei Kategorien auszeich- ihr Projekt „Musik mit alten Menschen: Be- musikalischer Breitenbildung für die Entwick- nete und Urkunden und Preisgelder in Höhe rufsbegleitende Qualifizierung zum Musik- lung sozialer und kognitiver Kompetenzen von insgesamt 9000 Euro vergab. Zum ers- geragogen“ einen Preis in der Kategorie „In- aufmerksam zu machen und musikpädago- ten Mal wurde in diesem Jahr auch ein Preis novative musikpädagogische Ausbildung“. Die gische Innovationen zu unterstützen. für den besonderen Einsatz von Politikern für Weiterbildung umfasst alle musikpädagogi- Neben Bäßler und Hintz gehörten DMR- das Thema der musikalischen Breitenbildung schen Bemühungen und Interventionen im Generalsekretär Christian Höppner, der Vor- vergeben. „Die Zukunft der musikalischen Bereich der Altenarbeit. sitzende der Konferenz der Landesmusikrä- Bildung liegt nicht nur in innovativen Projek- ˜ Dem Projekt „FELIX – Kleine Kinder te, Ernst Folz, und Andreas Lehmann, Vor- ten, das Thema benötigt verstärkt auch poli- singen gern“ des Deutschen Chorverbands standsmitglied des Arbeitskreises musikpäda- tische Unterstützung“, sagte hierzu Asmus J. wurde in der Kategorie „Innovative musik- gogische Forschung, zur Jury.

Christian Höppner gratuliert Prof. Hans Hermann Wickel (rechts) von der Fachhoch- schule Münster zur Auszeichnung.

Fotos: Bayer Bild links: Die Gewinner des INVENTIO 2006.

 MUSIK ORUM 57 BILDUNG.FORSCHUNG

Heide Görtz über musikalische Bildung und Musikergesundheit

MUSIKSCHULEN MÜSSEN Eingang IN DIE SCHULEN FINDEN

„Wenn man die Schule ändern möchte, dann erst seit heute. Dass sie schulmüde sind, kommt Heide Görtz studierte an der Musikhochschule Hamburg, sollte man sich nicht zu früh darauf festlegen, daher, dass sie das Gefühl haben, nicht per- arbeitete dort und an der Musikhochschule Köln als Do- wie diese eigentlich aussehen soll.“ Diesen sönlich betroffen zu sein. Ihre altersgemäßen zentin; seit 1990 ist sie Professorin für Klavier und Klavier- Methodik an der Universität der Künste Berlin. Seit Stu- Rat gibt Heide Görtz, unterhält man sich mit Bedürfnisse und Fähigkeiten werden zu we- dienzeiten beschäftigt sie sich mit der Entwicklung einer ihr über musikalische Bildung in Deutschland nig berücksichtigt. Das Lernen in der Schule eigenen Methode zur Behandlung von Spielstörungen. und die Notwendigkeit der Entfaltung der ist so einseitig auf Wissensansammlung aus- Von 1999 bis 2005 war sie im Vorstand der Deutschen Kreativität. gerichtet, dass es für viele Kinder schwierig Gesellschaft für Musikphysiologie und Musikermedizin. Seit 2003 ist Heide Görtz stellvertretende ist, sich zu interessieren. Kinder brauchen das Leiterin des neu gegründeten Kurt-Singer- Miteinander-Handeln, Situationen, in denen Instituts für Musikergesundheit an der Uni- sie sich verändert erleben können. Sie brau- dem Dach der Schule verbunden haben. Mu- versität der Künste Berlin. Mit ihr sprach Chris- chen gemeinsame emotionale Erlebnisse, nicht sikschulen müssen Eingang in die Schulen tian Höppner. nur Konkurrenz. Das kann die Schule bisher finden und mit dazu beitragen, dass es ein ˇ Wir leben in einer widersprüchlichen Zeit. nicht ausreichend leisten. tätiges Musikleben gibt – nicht nur eine Wis- Musik ist einerseits die beliebteste Freizeit- ˇ Kann uns denn die Hirnforschung neue sensvermittlung im Fach Musik. beschäftigung von Kindern und Jugendlichen, Aspekte vermitteln, die wir bisher nicht ah- ˇ Ist die Ganztagsschule in diesem Sinne andererseits in der Schule das unbeliebteste nen? Oder würde es nicht einfach reichen, eine Chance oder eher ein Hindernis, weil sie Fach. Haben Sie dafür eine Erklärung? den gesunden Menschenverstand zu nutzen die Kinder zeitlich ganz anders bindet als bisher Görtz: Ich glaube, dass die musische Er- und zu sagen: Mit einem so einseitigen Aus- und dadurch weniger Zeit für außerschulische ziehung in der Schule sehr wichtig ist. Aber bildungssystem kommen wir nicht zu einem Aktivitäten zur Verfügung steht? sie darf sich nicht darauf beschränken, musi- ganzheitlichen Menschenbild in der Erziehung? Für diese Entwicklung wäre es eher ein kalische Fakten zu lehren, es muss auch ak- Ich denke, dass Hirnforscher manchmal Vorteil. Das hängt natürlich immer von der tiv Musik gemacht werden. Musik sollte dazu Dinge sagen, die jeder vernünftige Pädagoge Umgebung, vom Schulleiter und den Gege- dienen, dass Kinder sich selbst und ihre Po- bereits zu wissen meint. Zum Beispiel sagen benheiten in der Schule ab. Da müssen ein- tenziale kennen lernen und dadurch in die sie: Nur wenn Lernen mir wirklich Freude fach mehr Möglichkeiten bereitgestellt wer- Lage versetzt werden, sich als Person zu ent- bereitet, lerne ich auch gut. Viele Leute wis- den. Die Kinder haben ja dort die Chance, wickeln. Eigentlich eine große Chance, die sen das, aber sie unterrichten nicht danach. gemeinsam Musik zu machen, wie etwa in wir zu häufig verspielen. Wenn Lernen Freude bereiten soll, dann muss einem Chor oder Orchester. ˇ Bedeutet das, dass die derzeitigen Lehr- auch der Lernprozess ein anderer sein. Na- ˇ Wie verbindet sich Ihre Professur mit pläne die Entfaltung und Kreativität der Kin- türlich hat es schon immer Ansätze von fort- dem Thema der Musikermedizin bzw. Musi- der eher behindern als befördern? schrittlichen Pädagogen gegeben. Aber die kergesundheit? Es geht wohl nicht so sehr um Lehrpläne, Masse der Lehrer bestimmt dann doch immer Das hat sich eigentlich aus der Praxis er- mehr um die Rolle, die Musik in der Gesell- wieder den alten Trott. Gehirnforscher sind geben. Wir haben ja in der Methodik eine schaft und in unserer individuellen Entwick- in der Lage, uns zu zeigen, an welcher Stelle Supervisions-Situation, in der ein Student ei- lung spielt. Ich denke, dass wir in dieser Hin- im Gehirn die Freude am Lernen sitzt und nen Schüler mit in den Unterricht bringt, ich sicht heute entscheidende Hinweise von den wo die Angst vor dem Versagen. Sie können dem Unterricht beiwohne und wir hinterher Hirnforschern bekommen, die genauer sagen sichtbar machen, unter welchen Bedingun- darüber sprechen. Da wird es im Laufe der können, wie etwas auf uns wirkt, und die in gen Lerninhalte im Gehirn und damit im Jahre immer deutlicher, dass vielen Kindern der Lage sind, emotionale Veränderungen im Gedächtnis am besten gefestigt werden. Fähigkeiten fehlen, die eigentlich Vorausset- Gehirn sichtbar zu machen. Da kann man mit ˇ Es gibt ja eine unglaubliche Diskrepanz zung sein müssten, um ein Instrument zu Forschern wie Manfred Spitzer, Gerald Hüther zwischen dem, was die Politik landauf, land- lernen. Dies ist ein Problem, auf das wir uns oder Gerhard Roth interessante Gespräche ab propagiert, nämlich die Förderung der kre- einstellen müssen, weil daraus später richti- führen. Gerade Spitzer und Hüther haben sich ativen Kompetenzen, und dem, was tatsäch- ge Spielstörungen entstehen können. Damit in die Debatte um die Erneuerung der Schu- lich realisiert wird. Haben Sie da ein Patent- meine Studenten lernen, mit solchen Proble- le eingemischt. Ich erhoffe mir von dieser rezept, wie wir dies umdrehen können? men umzugehen, versuche ich, ihren Blick Seite wirklich große Veränderungen. Ein Patentrezept habe ich natürlich auch dafür zu schärfen, und wir entwickeln spezi- ˇ Das würde doch bedeuten, dass es in nicht. Ich glaube aber, dass die Musikerzie- elle Übungen für diese Kinder. der Ausbildung von Kindern und Jugendlichen hung, die bisher ganz privat stattfindet – und Das ist genau das, was ich an unserem Ins- nicht nur eine Trendwende, sondern eine Re- Musikschulen sind in diesem Sinne auch eher titut tue: auf der einen Seite, eine Form von volution geben muss, weil der emotionale privat –, mehr mit der Musikerziehung in den Beratung und Behandlung von Spielstörun- Zugang vernachlässigt wird… Schulen verbunden werden sollte. Die Staa- gen zu geben; andererseits aber auch, Prä- Das empfinde ich auch so. Die Schul- ten jenseits des Eisernen Vorhangs waren da vention während des Studiums zu lehren, ihnen müdigkeit der Kinder kennen wir doch nicht fortschrittlicher als wir, weil sie beides unter die Augen dafür zu öffnen, wo Probleme lie-

 58 MUSIK ORUM DOKUMENTATION

gen, in welcher Weise sie auf sich achten müs- sen, damit ihnen Schmerzen oder gar Ope- rationen erspart bleiben. Mehr üben, wenn man etwas nicht gut ge- nug spielen kann, ist unter Umständen sehr

Foto: Anne de Wolff schädlich. Es ist sehr wichtig, seine Grenzen zu spüren und sich dann zu fragen, warum man diese Grenzen eigentlich hat. Ich bin der Meinung, dass Kinder wie Erwachsene nor- malerweise das erreichen können, was sie wollen. Gelingt dies nicht, muss man die Grün- de sorgfältig erforschen. ˇ Behindert das derzeitige System von För- dermöglichkeiten die Entfaltung von Kindern und Jugendlichen? Grundsätzlich glaube ich, dass das Förde- Zeichen für gesellschaftliche Wahrnehmung: Bundespräsident Horst Köhler nahm von Musik- rungssystem nicht das Problem ist. Eher ist ratspräsident Martin Maria Krüger (rechts) und Generalsekretär Christian Höppner (2. v. l.) den es die Wahrnehmung dieser ganzen musika- Appell entgegen. Mit dabei der Lautenist Joachim Held und Popmusiker Tobias Künzel (2. v. r.). lischen Situation seitens unserer Gesellschaft, der Lehrer, der Eltern und der Kulturverant- 2. Berliner Appell des Deutschen Musikrats wortlichen. Wir fördern die überragenden Leis- tungen Einzelner, aber nicht die Musikaus- übung aller Kinder. Musik wird meist nur kon- KULTURELLE IDENTITÄT sumiert, aber nicht erlebt. Dass ehrgeizige Eltern und Lehrer kleine Stars produzieren, hilft UND DIALOG unserer Musikkultur nicht. ˇ stärken Welche Änderungen würden Sie als Kul- tusministerin durchsetzen? Was wären die wichtigsten Umsetzungsmaßnahmen? Im Juli nahm Bundespräsident Horst Köhler der musikalischen Bildung, der Laienmusik Ich würde auf jeden Fall die Verbindung den 2. Berliner Appell des Deutschen Musik- und der Auswärtigen Kulturpolitik. Ausgangs- zwischen Schule und Musikschule fördern – rats entgegen und setzte damit ein Zeichen punkt ist die Diagnose eines „gravierenden“ und das auf beiden Seiten. Die Musikschu- für eine breite gesellschaftliche Wahrnehmung Defizits im Bereich der kulturellen Bildung len müssen mehr Gruppenangebote machen, der in dem Papier gemachten Vorschläge für und infolgedessen auch im Dialog der Kul- mit Chor, Band, Musical etc., die Schulen eine bessere Verständigung der Kulturen. turen. Zu den Erstunterzeichnern des Appells müssen bestimmte Dinge bereitstellen wie Der Appell, der sich sowohl an die Politik gehören 200 Persönlichkeiten aus Politik, Kul- geeignete Instrumente, Räume etc. Zudem wie an die Zivilgesellschaft richtet, fordert die tur und Wirtschaft (siehe Liste auf den nächsten würde ich Schulen unterstützen, die versu- Stärkung der kulturellen Identität und des in- Seiten !). chen, mit bestimmten Projekten einen eige- terkulturellen Dialogs u. a. in den Bereichen Hier Stellungnahmen von Unterzeichnern: nen individuellen Weg zu gehen, wie ich es kürzlich in einem Film über eine Kreuzber- „Der interkulturelle Dialog nisse nach einer solchen Pädagogik formulieren. ger Schule gesehen habe. Dort versucht man, hat im Bereich der Musik Ich unterstütze diese 12 Thesen ausdrücklich.“ Kindern Unterricht durch Fachleute aus dem seit jeher einen Heimplatz. Prof. Dr. Joachim Sartorius, Intendant der Kunsthandwerk und Design zu geben, wo- Er darf dort als erfolgreich Berliner Festspiele durch sie ganz andere Fähigkeiten ausbilden vollzogen gelten. Wenn können. Ein guter Ansatz. bei den Salzburger Fest- „In unseren Kindern pflan- Im Moment versucht die Politik, in den spielen Angehörige von zen wir nicht uns selber Bereich der Vorschulerziehung hineinzukom- 60 Nationen an den Auf- fort, sondern unseren men. Ich glaube, es ist wichtig, die Vorschul- führungen mitwirken, so wird diese Interkultu- Willen zum Weiterleben. kinder aus dem „Verwahrungskindergarten“ ralität als etwas Selbstverständliches vorgelebt, Für ein Weiterleben in herauszuholen, ihre musischen Fähigkeiten früh- das der Politik zum Vorbild gereichen mag.“ Würde ist es unabdingbar, zeitig und kindgemäß zu fördern. Heute ler- Peter Ruzicka, Komponist, Dirigent und in den Kindern so früh wie nen die wenigsten Kinder zu singen und sich Intendant der Salzburger Festspiele möglich den Keim für ein Leben als kulturelles zur Musik zu bewegen, unerlässliche Voraus- Wesen mit einer individuellen Herkunft zu setzungen für den Instrumentalunterricht. „Die Pädagogik als Einübung ins Kennen- pflanzen und ihnen immer wieder emotionale Letztlich würde ich die Werkstatt „Schule- lernen-Können des Anderen … wird eines der Kraft und offene Entwicklungsmöglichkeiten Lernen-Hirnforschung“ fördern. Ich denke, wichtigsten Instrumente für das friedliche Zu- zu geben. Musik spielt dabei eine zentrale dort liegt viel Erkenntnispotenzial. sammenleben in den modernen Gesellschaften Rolle, denn sie lässt uns die eigene Seele Und grundsätzlich: Wer Schule ändern will, werden. Der Musikrat hat einen Katalog von spüren und verbündet uns so von klein auf muss offen für Entwicklungen sein. Hier geht Thesen aufgestellt, die für das Gebiet der Musik mit den Seelen unserer Mitmenschen, auch es um einen längeren Prozess, auch seitens und der musikalischen Erziehung, das aller- zwischen unterschiedlichen Kulturkreisen.“ der Politik. dings ein exemplarisches ist, die Grundbedürf- Rolf Zuckowski, Komponist und Musiker

 MUSIK ORUM 59 DOKUMENTATION

Breite Unterstützung für Präsident der Bundesvereinigung Deutscher Chor- und (Kulturpolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke, Mitglied Orchesterverbände), Jens Cording (Präsident der Gesell- des Bundestagsausschusses für Kultur und Medien für die schaft für Neue Musik e.V.), Barbara Dennerlein (Musikerin), Fraktion Die Linke), Kathy Kaaf (Präsidentin der GEDOK – den 2. Berliner Appell Dipl.-Ing. Geerd Dettmers (Vorsitzender der Arp Schnittger Verband der Gemeinschaften der Künstlerinnen und Gesellschaft), Prof. Dr. Patrick Dinslage (Vorsitzender der Kunstförderer), Prof. Dr. Mauricio Kagel (Komponist und Über 200 Persönlichkeiten aus Politik, Kultur Rektorenkonferenz der Musikhochschulen in der BRD, Vize- Dozent), Prof. Hans-Jürgen Kaiser (Vorsitzender der Konfe- und Wirtschaft unterstützen mit ihrer Unter- präsident der Universität der Künste Berlin), Prof. Thomas renz der Leiterinnen und Leiter katholischer kirchenmusikali- schrift unter den 2. Berliner Appell die For- Duis (Rektor der Hochschule für Musik Saar), Peter Duss- scher Ausbildungsstätten Deutschland), Prof. Karl Karst mann (Vorsitzender des Aufsichtsrats der Dussmann AG & (Programmleiter WDR3), Konrad Körner (Rektor der Hoch- derungen des Deutschen Musikrats nach Stär- Co. KgaA), Prof. Dr. Andreas Eckhardt (Direktor des schule für Musik und Theater „Felix Mendelsohn Bar-tholdy“ kung der kulturellen Identität und des inter- Beethoven-Hauses Bonn), Prof. Dr. Karl Heinrich Ehrenforth Leipzig), Prof. Hermann Kokenge (Rektor der Technischen kulturellen Dialogs. Hier die gesamte Liste der (Ehrenvorsitzender des Verbandes Deutscher Schulmusiker), Universität Dresden), Dr. Wolfram Knauer (Direktor des Erstunterzeichner: Siegmund Ehrmann, MdB (stellv. Vorsitzender des Bundes- Jazzinstituts Darmstadt), Dr. Niels Knolle (1. Vorsitzender tagsausschusses für Kultur und Medien für die SPD-Frak- des Arbeitskreises Musikpädagogische Forschung e. V.), Dr. Walter Scheel (Bundespräsident a. D.,), Dr. Richard von tion), Dr. Martin Elste (Vorsitzender des Preises der Deut- Arthur Knopp (Präsident des Gesamtverbandes Deutscher Weizsäcker (Bundespräsident a. D.), Prof. Dr. Richard Jako- schen Schallplattenkritik e.V.), Dr. Reinmar Emans (Sprecher Musikfachgeschäfte), Prof. Wilfried Krätzschmar (Präsident by (Ehrenpräsident des Deutschen Musikrats), Martin Maria der Fachgruppe Freie Forschungsinstitute in der Gesell- des Sächsischen Musikrats e.V.), Gidon Kremer (Geiger und Krüger (Präsident des Deutschen Musikrats), Prof. Dr. Hans schaft für Musikforschung), Herbert Fandel (FIFA-Schieds- Dirigent), Prof. Dr.-Ing. Edwin Kreuzer (Präsident der Tech- Bäßler (Vizepräsident des Deutschen Musikrats), Prof. Udo richter und Leiter der Kreismusikschule Bitburg-Prüm), Prof. nischen Universität Hamburg-Harburg), Dr. Wilhelm Krull Dahmen (Vizepräsident des Deutschen Musikrats), Christian Dr. h.c. Brigitte Fassbaender (Intendantin des Tiroler Lan- (Generalsekretär der Volkswagen-Stiftung), Tobias Künzel Höppner (Generalsekretär des Deutschen Musikrats) sowie destheaters Innsbruck), Peter Fischer (Präsident von Ein- (Musiker), KMD Prof. Wolfgang Kupke (Präsident des Lan- die Mitglieder des Präsidiums des Deutschen Musikrats: tracht Frankfurt), Prof. Dr. Dietrich Fischer-Dieskau (Sänger), desmusikrats Sachsen-Anhalt), Dr. Otto Graf Lambsdorff Prof. Dr. Detlef Altenburg (Präsident der Gesellschaft für Prof. Dr. Drs. H.c. (Ordinarius für Musik- (Bundesminister a. D., Vorsitzender der Friedrich-Naumann- Musikforschung), Prof. Kapt. Ernst Folz (Vorsitzender der wissenschaften), Prof. Dr. Jürgen Flimm (Intendant der Ruhr Stiftung Potsdam), Prof. Dr. h.c. Klaus-Dieter Lehmann Konferenz der Landesmusikräte), Prof. Dieter Gorny (Execu- Triennale und der Salzburger Festspiele), KMD Lothar (Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz), Dr. Lothar tive Vice President MTV Networks). Prof. Reinhart von Gut- Friedrich (Kirchenmusikdirektor; Präsident des Verbandes Theodor Lemper (Vorsitzender des Kulturausschusses der zeit (Direktor des Bruckner-Konservatoriums Linz), Hans-Willi evangelischer Kirchenchöre Deutschlands e.V.), Dr. Michel Stadt Köln, Präsident der Otto-Benecke-Stiftung Bonn), Hefekäuser (Präsident der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Friedman (Rechtsanwalt und Moderator), Götz-Werner von Univ.-Prof. Dr. Dieter Lenzen (Präsident der Freien Universi- Chorverbände), Erik Hörenberg (Geschäftsführer der Bun- Fromberg (Vorstandsvorsitzender Hannover 96 e.V.), Bern- tät Berlin), Prof. Dr. Silke Leopold (Prorektorin für Lehre und desvereinigung deutscher Orchesterverbände), Hartmut hard Fromkorth (Präsident des Landesmusikrats Saar), Direktorin des Musikwissenschaftlichen Seminars der Uni- Karmeier (Präsident der Deutschen Orchestervereinigung), Dr. Stephan Frucht (Geschäftsführer des Kulturkreises der versität Heidelberg), Prof. Dr. Werner Lohmann (Präsident Prof. Dr. Karl-Jürgen Kemmelmeyer (Präsident des Landes- Deutschen Wirtschaft im BDI e.V.), Klaus Fuchs (Geschäfts- des Landesmusikrats Nordrhein-Westfalen e.V.), Helge musikrats Niedersachsen), Dr. Uli Kostenbader (Dozent an führer des VFL Wolfsburg), Prof. Dr. Max Fuchs (Vorsitzen- Lorenz (Präsident des Bundesverbandes Deutscher Lieb- der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar), Prof. Dr. der des Deutschen Kulturrates, Vorsitzender der Bundes- haberorchester e.V.), Dr. Dr. h.c. Jürgen Lüthje (Präsident Eckart Lange (Präsident des Landesmusikrats Thüringen), vereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e.V.), der Universität Hamburg), Holger Maack (Vorstand der Dr. Ulrike Liedtke (Geschäftsführerin und Künstlerische Lei- Dr. Heiner Geißler (Bundesminister a.D.), Theo Geissler Deutschen Rockmusik Stiftung), Heinz Mader (Vizepräsident terin der Musikakademie Rheinsberg), Prof. Dr. Christoph- (Inhaber und Geschäftsführer der ConBrio Verlagsgesell- des Zithermusik-Bundes e.V.), Prof. Dr. Christoph Mark- Hellmut Mahling (Präsident des Landesmusikrats Rheinland- schaft Herausgeber und Chefredakteur der neuen musik- schies (Präsident der Humboldt-Universität zu Berlin), Prof. Pfalz), Wilhelm Mixa (Akademischer Direktor an der Universi- zeitung), Dr. Tilo Gerlach (Geschäftsführer der Gesellschaft Dr. Siegfried Mauser (Rektor der Hochschule für Musik und tät Passau), Stefan Piendl (Managing Director EMI Classics), zur Verwertung von Leistungsschutzrechten), Dr. Hans- Theater München), Monika Mayr (1. Vorsitzende Bildungs- Wolfhagen Sobirey (Präsident des Landesmusikrats Ham- Herwig Geyer (Vorsitzender der Jeunesses Musicales werk Rhythmik e.V.), Prof. Rudolf Meister (Staatliche Hoch- burg), Dagmar Sikorski-Großmann (Präsidentin des Deut- Deutschland), Prof. Dr. Stefan Gies (Rektor der Hochschule schule für Musik und Darstellende Kunst Mannheim), Prof. schen Musikverleger-Verbands e.V.). für Musik „Carl Maria von Weber“, Dresden), Prof. Wolfgang Sabine Meyer (Klarinettistin und Hochschulprofessorin), Prof. Theo Adam, (Kammersänger), Prof. Gerd Albrecht Gönnenwein (Staatsrat a. D., Präsident des Landesmusikrats Prof. Wolfgang Meyer (Rektor der Hochschule für Musik (Dirigent, Initiator des Klingenden Museums), Prof. Dr. med. Baden-Württemberg), Katrin Göring-Eckardt (Vizepräsiden- Karlsruhe), Liz Mohn (stellv. Vorsitzende der Bertelsmann Eckart Altenmüller, (Präsident der Deutschen Gesellschaft tin des Deutschen Bundestages, Kulturpolitische Sprecherin Stiftung), Gerhard Meinl (1. Vorsitzender des Bundesver- für Musikphysiologie und Musiker Medizin), Prof. Rolf-Dieter der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen), Prof. Christhard bandes der deutschen Musikinstrumenten-Hersteller), Arens (Rektor der Hochschule für Musik „Franz Liszt“ Wei- Gössling (Rektor der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ Suzette Yvonne Moissl, (Präsidentin der Deutschen Jazz mar), Prof. Dr. Marianne Assenmacher (Präsidentin der Hoch- Berlin), Dr. Martin Greve (Musikwissenschaftler), Lissy Grö- Föderation), Prof. Dr. Jürgen Morlok (Vorsitzender des schule Vechta), Dr. Lore Auerbach (Mitglied des Landtags ner, MdEP (Kulturpolitische Sprecherin der SPD im Euro- Kuratoriums der Friedrich-Naumann Stiftung Potsdam), a. D.), Juliane Banse-Poppen (Sängerin), Dr. Alenka Barber- päischen Parlament), Monika Griefahn, MdB (Kultur- und Prof. Dr. Franz Müller-Heuser (Sänger), Eske Nannen Kersovan (Geschäftsführerin Arbeitskreis Studium Populärer Medienpolitische Sprecherin der SPD, Mitglied des Aus- (Geschäftsführerin Stiftung Henri und Eske Nannen), Prof. Musik e.V.), Rolf Beck (Intendant des Schleswig-Holstein schusses für Kultur und Medien für die SPD Fraktion), Prof. Dr. Miriam Nastasi (Rektorin der Hochschule für Musik Musik Festivals), Gerhard Becker (Präsident des Landesmu- Dr. Peter Gülke (Dirigent und Musikwissenschaftler), Barbara Freiburg), Gerd Natschinski (Präsident der Dramatiker sikrats Hessen), Prof. Dr. Jürgen Becker (Sprecher des Vor- Haack (Verlagsleiterin ConBrio Verlag), Michael Haentjes Union e.V. Schriftsteller und Komponisten von Bühne, Film stands der Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und (Gründer und Vorstandschef der Hamburger Edel Music AG, und Medien), Prof. med. Dr. phil. Eckhard Nagel (Vorsitzen- mechanische Vervielfältigungsrechte (GEMA), Prof. Werner Präsident der Deutschen Phono-Verbände), Prof. Dr. Franz der des Kuratoriums der Hanns-Lilje-Stiftung), Wolfgang Beidinger (Vorsitzender der Orff-Schulwerk-Gesellschaft Häuser (Rektor der Universität Leipzig), Hans Hee (Präsident Neskovic, MdB (Mitglied des Bundestagsausschusses für Deutschland), Dr. Martin Bente (Präsident VG Musikedition), des Deutschen Textdichter-Verbandes), Susanne Hein (Präsi- Kultur und Medien für die Fraktion Die Linke), Ernst Ullrich Prof. Dr. Theodor Berchen (Präsident des Deutschen Akade- dentin der Internationalen Vereinigung der Musikbibliothe- Neumann (Präsident des Landesmusikrats Brandenburg), mischen Austauschdienstes e.V.) , Dr. habil. Wolfgang ken, Musikarchive und Musikdokumentationszentren (IVMB) Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin (Staatsminister für Kultur und Bergsdorf (Präsident der Universität Erfurt), Grietje Bettin, – Gruppe Bundesrepublik Deutschland e.V.), Prof. Dr. Medien a. D.), Christoph Nielbock (Vorsitzender der Arbeits- MdB (Mitglied des Bundestagsausschusses für Kultur und Roman Heiligenthal (Präsident der Universität Koblenz- gemeinschaft Deutscher Musikakademien und Konservato- Medien für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen), Helmut Landau), Joachim Held (Lautenist), Prof. Rolf Hempel (Präsi- rien), Prof. Dr. Thomas Olk (Hochschullehrer der Martin- Bieler-Wendt (Vorsitzender des Instituts für Neue Musik und dent des Deutschen Ton- künstlerverbandes), Barbara Hen- Luther-Universität Halle-Wittenberg), Hans-Joachim Otto, Musikerziehung, Darmstadt), Prof. Dr. Rudolf Brandl (Profes- dricks (Sängerin), Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Wolfgang A. Herr- MdB (Vorsitzender des Bundestagsausschusses für Kultur sor für Musikethnologie an der Universität Göttingen), mann (Präsident der technischen Universität München), und Medien), Cem Özdemir, MdEP (Mitglied des europäi- Christine Braun (Präsidentin des Landesmusikrats Schles- Prof. Dr. Frauke Heß (Bundesvorsitzende der Gesellschaft schen Parlaments für die Partei Die Grünen), Jo Plée (Präsi- wig-Holstein), Hans-Jürgen Brackmann (Generalsekretär der für Musikpädagogik e.V.), Wilfried Hiller (Präsident des dent der Vereinigung Deutscher Musikbearbeiter), Ernst Stiftung der Deutschen Wirtschaft), Prof. Dr. Edmund Bayerischen Musikrats), Prof. Asmus J. Hintz (Vorstandsmit- Pfister (Präsident des Harmoniker-Verbandes e.V. Trossin- Brandt (Präsident der Technischen Universität Clausthal), glied der „Stiftung 100 Jahre Yamaha“ e.V.), Walter Hirche gen), Prof. Dr. Martin Pfeffer (Rektor der Folkwang Hoch- Alfred Brendel (Pianist und Schriftsteller), Prof. Dr. Wolf- (Präsident der Deutschen UNESCO-Kommission), Ruth schule Essen), Isabel Pfeiffer-Pönsgen (Generalsekretärin gang Bretschneider (Präsident des Allgemeinen Cäcilien- Hieronymi, MdEP (Mitglied des Ausschusses für Kultur und der Kulturstiftung der Länder), Christoph Poppen (Dirigent), verbandes für Deutschland ), Frank Bsirske (Bundesvorsit- Bildung des Europäischen Parlaments für die CDU), Peter Prof. Dr. Rolf-Dieter Postlep (Präsident der Universität Kas- zender der Vereinten Dienstleistungsgesellschaft ver.di), James (1. Vorsitzender des Verbands unabhängiger Ton- sel), Christa Prets (Mitglied des Europäischen Parlaments), Rainer Bürck (Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für trägerunternehmen, Musikverlage und Musikproduzenten Prof. Thomas Quasthoff (Sänger und Hochschulprofessor), Elektroakustische Musik), Ernst Burgbacher, MdB (Parla- e.V.), Prof. Siegfried Jerusalem (Rektor der Hochschule für Dr. Peter Rantmann (Rektor der Hochschule der Künste mentarischer Geschäftsführer der FDP- Bundestagsfraktion, Musik Nürnberg-Augsburg), Dr. Lukrezia Jochimsen, MdB Bremen), Prof. Dr. Hermann Rauhe (Ehrenpräsident der

 60 MUSIK ORUM Hochschule für Musik Hamburg), Prof. Dr. Peter Raue (Rechtsanwalt), Gustav Adolf Rabus (Direktor der Bayeri- schen Musikakademie Marktoberdorf, Sprecher des Arbeits- kreises der Musikbildungsstätten), Prof. Aribert Reimann (Komponist und Ehrenmitglied des Deutschen Musikrats), Prof. Dr. rer.nat Burkhard Rauhut (Rektor der Rheinisch- Westfälischen Technischen Hochschule Aachen), Dr. Winfried Richter (1. Vorsitzender des Verbands Deutscher Musikschulen), Dr. Jörg Riedlbauer (Präsident der Deutschen Mozartgesell- schaft), Prof. Dr. Nikolaus Risch (Rektor der Universität Pader- born), Prof. Dr. Christian Rolle (Vorsitzender der Bundes- fachgruppe Musikpädagogik), Prof. Dr. Claus Rollinger (Präsident der Universität Osnabrück), Prof. Dr. Jürgen Rode (Rektor der Universität Potsdam), Prof. Inge-Susann Römhild (Rektorin der Musikhochschule Lübeck), Michael Roth, MdB (Mitglied des Ausschusses für Kultur und Medien), Prof. Dr. Wolfgang Rüdiger (Sprecher der Arbeitsgemeinschaft der Leitenden musikpädagogischer Studiengänge), Prof. Dr. Dr. h. c. Helmut Ruppert (Präsident der Universität Bayreuth), Michael Russ (Präsident des Verbands der deutschen Kon- zertdirektionen), Peter Ruzicka (Komponist und Dirigent,

Fotos: Britta von Mock/Hufner Intendant der Salzburger Festspiele), Prof. Dr. Joachim Sartorius (Intendant der Berliner Festspiele), Prof. Dr. rer. nat. habil. Peter Scharff (Rektor der Technischen Universität Ilmenau), Dr. Henning Scherf (Bürgermeister und Präsident des Senats der Freien und Hansestadt Bremen a. D., Präsi- dent des Deutschen Chorverbands), Michael Schindhelm Mehr Musikvermittlung (Generaldirektor der Stiftung Oper in Berlin), Renate Schmidt, MdB (Bundesministerin a. D.), Prof. Dr. Gesine Schwan (Universitätspräsidentin der Europa-Universität IN DEUTSCHLAND Viadrina Frankfurt/Oder), Hans-Hermann Schwick (Präsident von Arminia Bielefeld), Ole Seelenmeyer (Sprecher des Deutschen Rock&Pop Musikverbands e.V.), Prof. Wolfgang Kongress in Wildbad Kreuth formuliert Forderungskatalog Seifen (stellv. Vorsitzender der Konferenz der Leiterinnen und Leiter der Ausbildungsstätten für katholische Kirchen- musik in Deutschland), Michael Sommer (Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes), Prof. Dr. Hans W. m Spannungsfeld von medialer Schule. Die Hochschulen müssen einen Per- Sikorski (Ehrenpräsident des Deutschen Musikverleger- IReizüberflutung, kommerziell spektivwechsel vollziehen durch stärkeren Verbandes), Prof. Klaus Staeck (Präsident Akademie der begründeter Monotonie und Praxisbezug in allen Bereichen der Musik- Künste), Hans-Dieter Starzinger (Präsident des Verbands ausbildung und Öffnung für neue Entwick- Deutscher KonzertChöre e.V.), Helmut Steger (Generalsek- ausfallendem Musikunterricht retär des Arbeitskreises Musik in der Jugend), Jörg Tauss, lungen und Berufsbilder. MdB (Mitglied des Ausschusses für Kultur und Medien), gewinnt die möglichst frühe Es bedarf einer Verbesserung der finan- Prof. Dr. Jürgen Terhag (Bundesvorsitzender des Arbeits- Vermittlung musikalischer Vielfalt ziellen und organisatorischen Rahmenbedin- kreises für Schulmusik und allg. Musikpädagogik e.V.), Dr. Wolfgang Thierse, MdB (Vizepräsident des Deutschen und des Umgangs mit Musik gungen für die außerschulischen Institutio- Bundestags), Siegfried Thilemann (Bundesinnungsmeister zunehmend an Bedeutung. nen (z. B. Musikschulen und Musikvereine), des Bundesinnungsverbandes für das Musikinstrumenten- damit diese sich neuen Aufgabenfeldern (in- handwerk), Prof. Manfred Trojahn (Präsident des Deutschen Komponisten Verbandes), Prof. Dr. Georg Unland (Rektor Die Bandbreite, die sich aus dem kultu- terkulturelle Lernfelder, Musizierpraxen, Me- der Technischen Universität Bergakademie Freiberg), Prof. rellen Erbe und der Vielfalt zeitgenössischer dienumgang) öffnen können. Martin Christian Vogel (Rektor der Hochschule für Musik Ausdrucksformen ergibt, kann sehr individuelle Detmold), Michael Walter (Vorstand der Oscar und Vera Zugangsmöglichkeiten zur Musik eröffnen. 2. Weitere Institutionen Ritter-Stiftung), Christoph Waitz (Kultur und Medienpoliti- scher Sprecher der FDP), Dieter Wasilke (1. Vorsitzender Es steht in der Verantwortung aller politischen Es bedarf einer Vereinfachung der öffent- der PROFOLK – Verband für Lied, Folk und Weltmusik in Entscheidungsträger, der Medien und der Mu- lichen und privaten Förderstrukturen für freie Deutschland e.V.), Thomas Wendorf (Präsident des Landes- sikschaffenden, möglichst differenzierte Zu- Musikinitiativen. Voraussetzung dafür ist ein musikrats Mecklenburg-Vorpommern), Dr. Verena Wiede- mann (ARD-Generalsekretärin), Prof. Dr. Ruprecht Wimmer gänge zur Musik im Sinn einer humanen Ge- neues Verständnis von Partnerschaft der (Präsident der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt), sellschaft zu ermöglichen. Beteiligten. Prof. Dr. Matthias Winiger (Rektor der Friedrich-Wilhelms- Vor diesem Hintergrund haben die Teil- Universität Bonn), Jürgen Wittekind (Vorsitzender der Oscar nehmer des Kongresses „Musikvermittlung“, 3. Orchester und Vera Ritter-Stiftung), Evelin Wittich (Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Rosa-Luxemburg-Stiftung), Prof. Dr.- veranstaltet vom Deutschen Musikrat, dem Musikvermittlung ist eine Pflichtaufgabe Ing. Johann-Dietrich Wörner, (Präsident der Technischen Bayerischen Rundfunk und der Hanns-Sei- für Orchester und Musiktheater. Sie ist kein Universität Darmstadt), Klaus Wowereit (Regierender Bür- del-Stiftung, vom 2. bis 5. Mai in Wildbad Ersatz für Musikerziehung in der Schule, son- germeister von Berlin), Dr. Monika Wulf-Mathies (EU-Kom- missarin a. D., Vorsitzende des Kuratoriums der Beethoven- Kreuth folgende Forderungen formuliert: dern Unterricht an einem anderen Ort (z. B. Stiftung für Kunst und Kultur der Bundesstadt Bonn), Chris- Konzertbesuche, Opernbesuche und Work- tian Wulff (Niedersächsischer Ministerpräsident), Dr. h.c. 1. Schulen, Hochschulen, Musikschulen shops). mult. Hans Zehetmair (Staatsminister a. D., Vorsitzender der Es bedarf der Verankerung und Bereitstel- Die Verantwortlichen in den Orchestern Hanns-Seidel-Stiftung München), Wolfgang Ziesmann (Prä- sident des Deutschen Bundesverbandes der Spielmanns-, lung der Kapazitäten für ein verbessertes und den Musiktheatern sowie den Schulen Fanfaren-, Hörner- und Musikzüge e.V.), Olaf Zimmermann musisches Ausbildungsangebot für Erziehe- und Bildungs- und Kulturbehörden müssen (Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates e.V., Heraus- rinnen und Erzieher in Kindergärten. das Bewusstsein für die Notwendigkeit und geber von „Politik und Kultur“), Peter Zombik (Geschäfts- führer der Gesellschaft zur Verwertung von Leistungsschutz- Es bedarf verbesserter Rahmenbedingun- den Wert von professioneller Musikvermitt- rechten), Rolf Zuckowski (Musiker und Komponist). gen und einer Aufwertung von Musik in der lung stärken und fördern. !

 MUSIK ORUM 61 ECHO

˜ Leserbrief 4. Medien Adressaten einer gesellschaftlich verant- Das MUSIKFORUM 3/2006 ging Alle Anbieter von Radio- und Fernseh- worteten Musikvermittlung entsprechen der dem Verhältnis von Kirche und programmen – und nicht nur die öffentlich- gesellschaftlichen Breite und Vielfalt; das heißt, rechtlichen – werden aufgefordert, die Pro- dass es weder eine Alterspräferenz der Ver- Musik auf den Grund. grammangebote im Bereich der Musikver- mittlung von Musik (z. B. nur für Kinder und mittlung, hauptsächlich für Kinder und Ju- Jugendliche) noch einen Ausschluss bestimmter gendliche, zu erweitern und spezielle Sende- Genres geben kann. plätze sowie geeignete Sendeformen dafür Für die Politik folgt daraus, dass als Rah- Kirchenmusik in kritischer Situation. anzubieten. Die Kultur- und Informationspro- menbedingung eine größtmögliche Chancen- Jürgen Essl, Organist, Komponist und Pro- gramme müssen sich künftig verstärkt auch gleichheit garantiert werden muss. Diese fessor für Orgel an der Hochschule für Mu- als Informations- und Kommunikationsplatt- bezieht sich auf die unterschiedlichen Grup- sik und Darstellende Kunst Stuttgart, nimmt form für das Musikleben in Deutschland pierungen und auf spezifische Strategien. Stellung. verstehen. Formen der Vermittlung von Musik orien- Im Zuge der neuen technischen Entwick- tieren sich an kontinuierlichen Strategien (z. B. lungen und der zunehmenden Verbreitung Unterricht in der Schule) ebenso wie an ein- Es ist notwendig, das Bewusstsein für die von Internet-Programmangeboten ist eine Fle- zelnen punktuellen Impulsen, die ihrerseits breite Arbeit in der Kirchenmusik zu schär- xibilisierung des Urheberrechts notwendig, in ein Gesamtkonzept münden müssen. Dieses fen, und ich freue mich sehr darüber, dass um die Chancen von musikpädagogisch aufbe- Gesamtkonzept ist geleitet von der Idee größt- das MUSIKFORUM einen so gewichtigen reiteten Beiträgen im Internet zu erhöhen. möglicher Nachhaltigkeit. Akzent gesetzt hat. Meist bleibt es in der Zu beachten ist zudem, dass die Formen Öffentlichkeit zu diesem Themenbereich bei der Vermittlung von Musik grundsätzlich von jenen Heften, die ohnehin nur Insider lesen. Grundsätzliches zum Thema den jeweiligen Rezipienten und ihren bishe- Natürlich ist das Thema nicht in einem einzi- „Musikvermittlung“ rigen musikalischen Erfahrungen abhängen. gen Magazin darstellbar, eine Auswahl ist daher Trugen in früheren Zeiten im Wesent- immer eine schwere Entscheidung. Ich mei- Möglichkeiten kultureller, insbesondere lichen die Familie und der Staat die Verant- ne aber, dass wesentliche Fragen des Berufs- musikalischer Erfahrungen hängen zu häufig wortung für Vermittlung von Musik, so ha- bildes in der aktuellen Situation gut darge- von momentanen Zufällen ab und werden ben sich gerade in den vergangenen Jahren stellt sind. oft unkoordiniert angeboten, ohne dass die weitere ausgesprochen effizient arbeitende Was m. E. fehlt, ist eine Darstellung der Zielrichtung und die Ortsbestimmung in ei- Träger für diese Aufgabe engagiert: Orches- kritischen Situation mancher Hochschulen nem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang ter, Chöre, Musikvereine, Medien, Stiftun- (Schließung der Gregorius-Hochschule Aa- erkennbar sind. Hier sind Politik, Wirtschaft, gen, freie Träger u. a. m. und Zivilgesellschaft gemeinsam gefordert, Leitende Vorstellungen für die Musikver- neue Zusammenhänge zu entwickeln. mittlung hängen stets von den Selbstdefini- Denn die Aufgabe einer postindustriellen tionen der jeweilig Verantwortlichen ab: Gesellschaft besteht nicht nur in der Schaf- ˇ Für die Politik ist dies die Idee eines fung ihrer materiellen Reproduktion, sondern geordneten Gemeinwesens, auch im Entwickeln unterschiedlicher For- ˇ für die Wirtschaft Erhalt und Mehrung men der Selbstfindung und Selbstbestimmung des privaten und gemeinschaftlichen Nutzens, Zwischen ihrer Mitglieder. Wesentlichstes Medium für ˇ für andere gesellschaftliche Gruppen und Glaube und diese Selbstfindung und Selbstbestimmung Institutionen eine Orientierung an ihren ei- Event: ist das der Kultur, die sich in unterschiedli- genen geschichtlich-sozialen-ästhetischen Be- Das MUSIK- chen Praxen artikuliert. dingungen. FORUM Sie werden nicht nur im Rahmen familiä- Sie alle eint die gemeinsame ethische Selbst- reflektierte rer Lebenszusammenhänge gestiftet und verpflichtung, die darauf zielt, dass sich das das Spektrum gepflegt, sondern im zunehmenden Maße über Grundrecht auf den Selbstentwurf des musi- der Kirchen- musik. gesellschaftlich organisierte und verantwor- zierenden Menschen erst noch entwickeln tete Institutionen. Aus der Idee des Staats als muss und ständiger Überarbeitung und Re- ein geordnetes Gemeinwesen erwächst die- flexion bedarf. Dieses Grundrecht ermöglicht chen, Sparzwänge der kirchlichen Hochschu- sem die Verpflichtung, Räume zu definieren gelungenes Leben in einem demokratischen len, Ausbluten mancher Kirchenmusik-Insti- und zu sichern, innerhalb derer die Zivilge- Gemeinwesen. Die Verantwortung der Poli- tute an staatlichen Hochschulen). Der von sellschaft ihre kulturellen Praxen realisiert. tik, der Medien, der Wirtschaft und der Zivil- Gunter Kennel festgestellte Rückgang an Insofern umfasst der Begriff Musikvermitt- gesellschaft zielt dementsprechend auf Rah- Kirchenmusik-Studierenden hat an den Hoch- lung nicht nur ein einzelnes Segment (wie menbedingungen, innerhalb derer sich der schulen bereits deutliche Spuren hinterlas- z. B. die Musikpädagogik), sondern steht für Einzelne musikalisch entdecken und entwi- sen. das Gesamt all jener Praxen, in denen Musik ckeln kann. An der Stuttgarter Musikhochschule wird geschaffen, präsentiert und aufgenommen Wildbad Kreuth, 5. Mai 2006 derzeit über einen großen Kongress zum wird. Darum bezieht sich Musikvermittlung Thema Kirchenmusik nachgedacht, nicht auf keineswegs nur auf durch Tradition Überkom- Funktionärsebene, sondern unter Beteiligung menes und Gesichertes, sondern ebenso auch von Komponisten, kirchlich Verantwortlichen, auf das Neue, das Ungesicherte, das aufgrund Popmusikern etc. Das MUSIKFORUM regt seiner Aktualität noch Labile. die Diskussion darüber sicher weiter an.

 62 MUSIK ORUM PRÄSENTIERT

In der Rubrik „Präsentiert“ stellt das MUSIKFORUM kurz und bündig Initiativen aller Sparten im deutschen Musikleben vor: ˜ Der Wettbewerb „creole“ ist Künstlern auf der Spur, die sich in ihrer Musik der Grenzüberschreitung, der transkulturellen Verknüpfung und interkulturellen Begegnung widmen. Stellen Sie Ihr Musikprojekt in dieser Rubrik vor! Mail an: [email protected]

Bewerber um den „creole“-Preis: Nomad Soundsystem.

Foto: Arnika Grosse

rieren sich wechselseitig und fusionie- sche Schaffen. Scheinbar klare Ein- und Ab- Creole – Preis für Welt- ren zu neuen Stilen; angeblich eth- grenzungen gelten nicht mehr. Ob heute ein nische Musik verschiedenster Her- Musiker in Hamburg wohnt, in Mexico City musik aus Deutschland kunft, Jazz, elektronische Lounge- oder Diyarbakır, ob er arabischer Herkunft Klänge, HipHop und avantgardisti- ist, indischer oder deutscher, kann sich in seiner sche Neue Musik, mal als Weltmu- Musik niederschlagen – muss es aber nicht. Einen Musikwettbewerb zu begründen, der sik, mal als reine Kunst, mal als Dancefloor – Diesem stilistisch höchst diversen, kaum explizit auf die neuen Gegebenheiten der zu hören in lokalen Milieus ebenso wie auf überschaubaren musikalischen Schaffen sind Einwanderungsgesellschaft Bezug nimmt, das internationaler Bühne. Schon sind musikali- die regionalen Wettbewerbe und der bundes- war die Idee der Werkstatt der Kulturen, als sche Crossover derart selbstverständlich, dass weite Preis „creole – Weltmusik aus Deutsch- sie für Berlin und Brandenburg vor gut zehn die neuen Sounds hier und da aus den Ni- land“ gewidmet. Es gilt, die Vielfalt der Mu- Jahren erstmals „musica vitale“ ausschrieb. schen in den Mainstream gespült werden, weil siktraditionen (einschließlich der hiesigen) Um nach dieser neuen Musik auch andernorts sie einen sich langsam verändernden breiten sichtbar zu machen und gleichzeitig nach dem zu forschen und die Szene bundesweit zu Musikgeschmack treffen. Virtuosen der neuen creolischen Musikspra- erschließen, fanden sich Veranstalter bundes- Es ist leichter und bedeutend produkti- chen zu suchen. Weder die stilistische Rein- weit zu einem Trägerkreis zusammen, der in ver, diese Entwicklung zu fördern, als zu ver- heit noch die creolische Mischung kann heute diesem Jahr – beginnend mit „creole – Welt- hindern. Die Globalisierung bringt, neben per se überzeugen. Was zählt, ist alleine die musik aus NRW“ nach bewährtem Berliner manchem Negativen, eine ständige Erweite- künstlerische Qualität. Wenn der Wettbewerb Muster, aber unter neuem Titel – sieben re- rung kultureller Möglichkeiten. Wer will, macht dafür Anerkennung bietet und die Entwick- gionale Wettbewerbe aufgelegt hat. Deren davon Gebrauch. Internationale Medien und lung entsprechend befördert, erfüllt er sei- Preisträger werden im Mai 2007 den Bundes- Reisen sind heute alltäglich, in Deutschland nen primären Zweck. wettbewerb „creole – Preis für Weltmusik aus ist beinahe jede Musiksprache der Welt ver- Andreas Freudenberg Deutschland“ austragen. fügbar. Hinzu kommen die Folgen von Mig- Wenn eine Sprachmischung zur neuen Spra- ration: Seit einem halben Jahrhundert hat sich Kontakt: creole Projektbüro c/o alba Kultur, che wird, nennt man das „creolisch“. Genau die deutsche Gesellschaft durch Einwande- Zwirner Str. 26, 50678 Köln; dies geschieht in der internationalen Musik- rung spürbar verändert. Eine für viele noch Fon 0221/813211, Fax 0221/811053, welt und so auch in Deutschland: Immer mehr ungewohnte Pluralität an kulturellen Interes- E-mail: [email protected] musikalische Welten treffen aufeinander, inspi- sen und Präferenzen inspiriert das künstleri- U www.creole-weltmusik.de

 MUSIK ORUM 63 REZENSIONEN TONTRÄGER sinfonisches kammermusik

French Cello Concertos Harald Weiss Niklas Eppinger (Cello), Bochum Orchestra, Ltg. Steven Sloane Stille Mauern für Streichquartett und Zuspielband aulos AUL 66148 Nomos-Quartett Wergo WER 6685 2

„Pour moi, l’art, c’est avant tout verschüchtert wirkt. Das Vivace schließ- Wenn sich das Nomos-Quartett, genau wo (an einer verrufenen Stel- la forme“, erklärt Camille Saint-Saëns lich – wild, gehetzt, treibend gespielt dessen Mitglieder von Erfahrungen le, auf verwachsenen Pfaden, in ver- im Jahr 1919, und Formexperimen- – lässt in der rhythmischen wie me- im Ensemble Modern und Chamber klärter Nacht?). Mit Alfred Schnittke te sind es auch, durch die sich insbe- lodischen Faktur deutlich die Jazz- Orchestra of Europe zehren, dauer- könnte man von „erfundenen Zita- sondere seine Solokonzerte auszeich- Einflüsse auf Martins Werk erkennen. haft für den Schott-Autor Harald Weiss ten“ sprechen. Beim Hören kam mir nen. Eine neue Interpretation des Kon- Auch das Cellokonzert No. 1 op. erwärmt, so muss etwas Besonderes Mörikes Gesang Weylas in den Sinn. zerts für Violoncello und Orchester 136 aus dem Jahr 1934 von Darius „an ihm“ sein. Hannoveraner Theater- Das Gedicht scheint mir dem We- No. 1 a-Moll op. 33 hat jetzt Niklas Milhaud, Zeitgenosse Martins, bietet gäste und Besucher der EXPO 2000 sen des knapp einstündigen Besin- Eppinger zusammen mit den Bochu- mit seinen drei Satz-Charakteren Non- bzw. Plattensammler, die seine Pro- nungsstücks am nächsten zu kommen: mer Symphonikern unter der Leitung chalant, Grave und Joyeux vielfältige jekte Ade (Wergo-CD SM 1077-50) Du bist Orplid, mein Land! / Das ferne von Steven Sloane auf der bei aulos Abstufungsmöglichkeiten in der klang- oder Reise in die Nacht (Wergo-CD leuchtet; / Vom Meere dampfet dein erschienenen CD „French Cello Con- lichen Umsetzung, die Eppinger voll SM 10892) kennen, werden das ohne besonnter Strand / Den Nebel, so der certos“ vorgelegt. Und Eppinger – so- auskostet. Den ersten Satz interpre- Umschweife bestätigen. Götter Wange feuchtet… viel sei gleich vorweg gesagt – über- tiert er korrekterweise „gemächlich“ Wer ist Harald Weiss? Im Book- Lutz Lesle zeugt von der ersten Sekunde an, nicht – aber nur, wenn das Orchester dabei let führt er ein aufschlussreiches Selbst- nur mit Saint-Saëns, sondern auch mit ist. In den Solo-Stellen hingegen wird gespräch zu seinem Streichquartett den beiden Cellokonzerten von Frank sein Spiel bewegt bis brutal. Auf den Stille Mauern („warum langsam – Martin und Darius Milhaud, die die „ernsten“, polytonal gestalteten zwei- warum leise?“). Doch einen biografi- CD ebenfalls bietet. ten folgt dann noch der „fröhliche“ schen Steckbrief sucht man vergebens. Saint-Saëns’ Konzert, das die Form dritte Satz mit seinen Kastagnetten- Darum sei er hier nachgetragen: 1949 einer dreiteiligen Durchkomposition Partien, auch dieser von Jazz-Elemen- in Salzgitter geboren, 1968-72 Schul- besitzt, ist hierbei das wohl virtuoseste ten bestimmt, auch dieser lebhaft und musik-, Kompositions- und Dirigier- der drei Werke. Und Eppinger meis- virtuos vorgetragen. studium in Hannover sowie Schlag- tert alle technischen Schwierigkeiten Die Bochumer Symphoniker un- zeugstudien in Hamburg, 1973-83 – die halsbrecherischen Läufe im ter Steven Sloane, schon zweimal vom Dozent bzw. Professor für Rhythmik Allegro, die abwärts gerichteten Stac- Deutschen Musikverleger-Verband und Arrangement in Hannover, seit cato-Arpeggien im Allegretto, die Ok- mit der Auszeichnung „Bestes Kon- 1984 freischaffend auf Mallorca. Be- tavpassagen und Schwindel erregen- zertprogramm“ geehrt, bieten dem reiste Afrika, Asien, Amerika. Arran- den Höhen im dritten Teil –, als ob Solisten übrigens zu jeder Zeit kon- gierte Jazz und Rock. Erfand Stücke nichts weiter dabei wäre. Vor allem geniale Unterstützung. Keine Unrein- instrumentalen Theaters, Klangszenen, aber begeistert er mit seinem gran- heit, keine ungewollte Überlagerung Happenings, Performances. diosen und immer reinen Ton. Den des Violoncellos, keine Störung der „Einer der schönsten Momente für einzelnen Nuancen der Musik ent- klanglichen Ausgewogenheit trüben mich in der Musik ist die Stille, die sprechend vermag er seinem Instru- den durchweg positiven Gesamtein- den Raum, in dem sie ausgeübt wird, ment die verschiedensten Klangfar- druck. Ein bemerkenswertes Stück nach einem gehörten Klang erfüllt“, ben zu entlocken. Arbeit. heißt es im Beiheft. Auf seiner Suche Dies zeigt sich auch deutlich im Julia Hartel nach der verlorenen Stille lässt sich Violoncellokonzert des Französisch- Weiss tatsächlich von nichts und nie- Schweizers Frank Martin (entstanden mand aus der Ruhe bringen. Zwar 1965/66), dessen „Lento“-Einleitung fließt seine Musik (getreu dem chi- vom Cello solistisch begonnen und nesischen Sprichwort: „Fürchte dich vom Künstler mit unvergleichlicher nicht vor dem langsamen Vorwärts- Intensität vorgetragen wird: zuerst gehen, fürchte dich nur vor dem Ste- nachdrücklich-elegisch, später, in tie- henbleiben“), doch strömt sie gemäch- ferem Register, wunderschön sonor. lich, „entschleunigt“. Sie breitet sich Im zweiten Satz, Adagietto, der beinahe verstohlen aus wie die Flut im Wat- zu unheimlich ist, um noch feierlich tenmeer an windstillen Tagen. zu wirken, gibt es richtiggehend durch- Die Stillen Mauern klingen unge- dringende Passagen, daneben aber niert (neu)romantisch, so als hätte man auch Stellen, an denen das Cello fast sie schon mal gehört, weiß nur nicht

 64 MUSIK ORUM BÜCHER

Die Musen tanzen Hand in Hand Hermann Rauhe Musikalische Spaziergänge durch Potsdam Nur wer selbst brennt, kann andere entzünden. Der Musiker, Mittler und Manager im Christina Siegfried; Hrsg.: Musikfestspiele Sanssouci und Nikolaisaal Potsdam Gespräch mit Manfred Eichel L&H Verlag, Berlin 2005; 204 Seiten, 12,80 Euro, ISBN: 3-928119-91-5 Murmann Verlag, Hamburg 2006; 268 Seiten, inkl. DVD, 24,90 Euro, ISBN: 3-938017-57-0

Am liebsten möchte man sofort meister und Musikschulinhaber Hans Wer Herman Rauhe kennt, weiß haben in diesem Alter ein enormes die Wanderschuhe anziehen, sich Chemin-Petit. Im Schlosstheater wird sofort, dass der Titel dieses Buchs es Erfahrungspotenzial, das in der Ge- einen Walkman über die Ohren stül- der Uraufführung von Felix Mendels- nicht besser ausdrücken könnte, was sellschaft dringend gebraucht wird.“ pen und mit Christina Siegfrieds Buch sohn Bartholdys Sommernachtstraum- dieser Mann ausstrahlt: die Liebe zur Obwohl das Gespräch zwischen in der Hand auf den Spuren der Musik Musik gedacht, im Stadtschloss u. a. Musik, gepaart mit Leidenschaft, Eichel und Rauhe in einzelne The- durch Potsdam wandern. Acht mu- an den Besuch Johann Sebastian Bachs Inspiration und einem Engagement, menschwerpunkte wie Herkunft und sikalische Spaziergänge in Potsdam 1747 bei Friedrich II. erinnert, dem wie es selten zu finden ist. So ist es Heimat, Musiker, Mittler, Manager und werden unter dem Titel Die Musen die Musikgeschichte die Entstehung nur folgerichtig, einmal hinter die Weggefährte unterteilt ist, ist es doch tanzen Hand in Hand empfohlen. des Musikalischen Opfers verdankt. Die Kulissen zu schauen und zu erfahren, ein langes, sich immer weiter fort Die Autorin entführt uns nach- Beispiele ließen sich beliebig fortset- was die Musik- und Lebenslust die- entwickelndes Gespräch, das nie lang- einander auf Entdeckungsreise: „Zwi- zen. ses Mannes auszeichnet. weilig wird. Ergänzt wird dieses Buch schen Gestern und Heute“ in die his- Jeder Spaziergang erhält eine in Manfred Eichel befragte den Jaz- durch ein Filmporträt von Gallus Kalt, torische Mitte Potsdams, auf „Musi- sich geschlossene, einzeln lesbare zer, Hochschulpräsidenten, Musikwis- in dem sich zahlreiche Persönlichkei- kalische Spurensuche“ zu den Woh- Darstellung. Daraus ergibt sich, dass senschaftler, Pädagogen, Fernsehmo- ten wie der ehemalige Hamburger nungen und Wirkungsstätten bekann- Wiederholungen nicht vermeidbar derator, Kantor und Komponisten zu Bürgermeister Henning von Vosche- ter Musiker, an musikhaltige Orte sind, weil manche Orte in jeder Route seinem Leben. Rauhe schildert mit rau, Udo Jürgens oder Gyula Trebitsch „Zwischen Mirbach-Wäldchen und passiert werden müssen. Abstecher Witz und Charme, wie er durch sei- zu Rauhes außerordentlicher Arbeit Kolonie Alexandrowka“, zu Orten (z. B. zu Friedhöfen) werden emp- ne Mutter an die Musik herangeführt äußern. einer reichen kirchenmusikalischen fohlen ebenso wie Wegabkürzungen, wurde, wie er über den Jazz zur Päda- Gerade in einer Zeit, in der so viel Tradition sowie vergangenen, gegen- die Nutzung öffentlicher Verkehrs- gogik kam, wie er sich selbst heute über den Ausfall des Musikunterrichts wärtigen und zukünftigen Stätten des mittel oder ein gutes Restaurant. noch leidenschaftlich für eine barrie- geschrieben und diskutiert wird, wo Musiktheaters. Sie begibt sich auf die Übersichtliche Karten leiten die refreie Musikvermittlung in unserem die Kultur und insbesondere die Musik Suche nach musikalischen Motiven Benutzer sicher von Ort zu Ort. Aus- Land einsetzt. um ihre Daseinsberechtigung regel- in Architektur, Bildender und Gar- sagekräftige Fotos – historische und In seinen Ausführungen erfährt recht kämpfen muss, ist es heilsam, tenkunst von Schloss Sanssouci und aktuelle – , CD-Empfehlungen sowie man Erstaunliches, etwa, dass er zu- jemanden zu hören, der den Wert führt selbstverständlich nach Babels- ein ausführlicher Serviceteil mit Ver- nächst hätte Postinspektor werden der Musik in so einfache Worte fas- berg mit seiner einzigartigen Filmmu- anstaltungshinweisen, Adressen und sollen, bis er es dann doch mit viel sen kann: „Die Begeisterung der Musik siktradition und dem weniger bekann- Telefonnummern von Veranstaltern, Fleiß und Disziplin beim zweiten muss im Mittelpunkt stehen, das ten Kapitel tschechischer Musiker- Musikinstitutionen (bei den Kirchen Anlauf an die Hamburger Musikhoch- umfassende Erleben von Musik muss emigration. werden praktischerweise die Besich- schule schaffte, an der er mit nur 35 der Ausgangspunkt sein – der Aus- Der erste Spaziergang startet am tigungszeiten angeführt) und touris- Jahren zum jüngsten Hochschulpro- gangspunkt und das Ziel. […] Mein Glockenspiel in der Dortustraße, ei- tischen Einrichtungen sowie Litera- fessor Hamburgs berufen wurde. Credo ist: dass Musik nicht nur et- nem mehr als symbolischen Ort, ist turtipps und ein Sach- und Personen- Durch seine klaren Fragen schafft was für studierte Köpfe ist, sondern es doch eine Nachbildung des Glo- register bilden eine willkommene es Eichel, das Bild eines Musikers für jedermann. Wirklich jeder braucht ckenspiels der Potsdamer Hof- und Ergänzung in diesem jedem musik- aufzuzeigen, wie es vielfältiger nicht Musik, und zwar seine Musik auf seine Garnisionkirche, identitätsstiftender interessierten Potsdamer und Pots- sein könnte. Endet ein Lebensabschnitt, Weise, je nach individueller Erfahrung, Ort für die Potsdamer, der am Ende dam-Besucher zu empfehlenden und so wie 2004 nach seiner Emeritie- Neigung und Interessenslage.“ Hier des 2. Weltkriegs von britischen Bom- überdies angenehm handlichen Buch. rung als Präsident der Hochschule für spricht jemand, der nicht von einem bern schwer beschädigt,1968 in der Brigitte Kruse Musik und Theater in Hamburg, dann elitären Sockel aus die Welt der Musik DDR endgültig abgerissen wurde und beginnt für Rauhe sogleich ein neuer, betrachtet, sondern sie als elementa- nun wiederaufgebaut werden soll. wie er im Interview mit dem MUSIK- re Notwendigkeit betrachtet. In zahl- Berühmte Söhne und Töchter der FORUM 04/2004 erklärte. Seither en- reichen Büchern, Veranstaltungen und Stadt treffen wir an ihren Wohn-, gagiert er sich noch intensiver bei sei- Fernsehsendungen hat er dies immer Ausbildungs- und Wirkungsstätten: nem Projekt „New Generation“, einem wieder unter Beweis gestellt. den Kirchenmusiker Wilhelm Kempff gemeinnützigen Netzwerk, dass Men- Dieses Selbstverständnis von Musik sen., seinen Sohn, den weltberühm- schen ab 50 aktive Hilfe für die kre- und Musizieren ist einmalig und soll- ten Pianisten gleichen Namens und ative Gestaltung der dritten Lebens- te jedem Kulturpolitiker sichtbar ge- seinen Kollegen an der Nikolaikirche phase gibt. „Die sinnvolle Gestaltung macht werden. Dieses Buch wird dazu und Glockenisten der Garnisionkir- dieser Lebensphase ist ein Thema, das beitragen! che, Otto Becker, den Opernkapell- mir sehr am Herzen liegt. Menschen Kristin Bäßler

 MUSIK ORUM 65 Denken wir… …bevor es zu spät ist und der Lesestoff Gehören wir als Sänger bereits der MUSIKORUM dieses Hefts abrupt mit dem Impressum Fortgeschrittenen-Klasse an und präsentie- DAS MAGAZIN DES DEUTSCHEN MUSIKRATS versiegt, endlich an: Stimmhygiene! An ren uns mit unserem Chor öffentlich in dieser Stelle dürfen Weisheiten bekanntlich Konzerten, müssen wir selbstverständlich Die Herausgeber nur augenzwinkernd verbreitet werden – elaboriertere Regeln zur Kenntnis nehmen. Deutscher Musikrat und doch ist alles ernst gemeint. Die da wären, vor Aufführungen wenig Gemeinnützige Projektgesellschaft mbH, So sehr wir das vokale Vermögen des bzw. fettarme, nicht blähende Speisen zu Weberstr. 59, 53113 Bonn ([email protected]) Menschen in diesem MUSIKFORUM vor essen, keine Abmagerungskuren durchzu- in Zusammenarbeit mit allem auf seiner ästhetischen Seite betrach- führen, ungesüßten Zitronensaft und Schott Music GmbH & Co. KG, tet haben, müssen wir doch konstatieren: Kräutertee zu trinken und Schuhe mit Postfach 3640, 55026 Mainz Das Phänomen der (Gesangs-)Stimme flachen Absätzen zu tragen. Ach so… und ([email protected]) Koordination: Rolf W. Stoll schließt nicht per se den Wohlklang ein. den Alkohol sollten wir auf jeden Fall erst Verantwortlich i. S. d. Pressegesetzes: Tönende Gefälligkeit setzt Stimmbildung, „danach“ konsumieren. Christian Höppner vorher aber noch „Stimmhygiene“ voraus. Atme ökonomisch! Auch ein wichtiger Rat. Das beste Atmen sei das, das man Die Redaktion nicht merkt, heißt es unter „Stimmklemp- Chefredakteur: Christian Höppner, Oranienburger Str. 67/68, 10117 Berlin nern“. Und: Weniger ist mehr. Hat man ([email protected]) aber beim Freiluftkonzert doch zu viel ge- Fon 030–308810-10, Fax 030–30 8810-11

Foto: Karow atmet und sich eine Erkältung eingefangen, Dr. Alenka Barber-Kersovan ([email protected]) dann hilft nur eines: heiße Kartoffelwickel! Prof. Dr. Hans Bäßler ([email protected]) Werner Bohl ([email protected]) Susanne Fließ ([email protected]) Singen wir… Prof. Dr. Birgit Jank ([email protected]) Dr. Ulrike Liedtke ([email protected]) schöner mit Kartoffelwickeln? Nichts für Torsten Mosgraber ([email protected]) ungut, liebe Stimmhygieniker, die ihr uns Dr. Peter Ortmann ([email protected]) Margot Wallscheid ([email protected]) die oben genannten Tipps im Internet Redaktionsassistenz: Kristin Bäßler serviert. Alles lieb und vernünftig gemeint! Dennoch, ich halte es lieber mit Henning Die Produktion und Schlussredaktion Scherf, der uns lehrt, dass Musikmachen BWM: Bohl e-Publishing und Singen einfach Begeisterung und ([email protected]) Lebensfreude wecken, uns Lebensinhalt Die Anzeigen geben soll. Ob da immer Seebäder, flache Leitung: Dieter Schwarz Absätze und fettarme Speisen vonnöten Service: Almuth Willing sind, stelle ich mal dahin… Schott Music GmbH & Co. KG, Postfach 3640, 55026 Mainz Werner Bohl Fon 06131–24 6852, Fax 0 6131– 2468 44 Nicht nur für Kinder und Jugendliche ([email protected]) gilt nach der gängigen Lehrmeinung von Gehen wir… Der Vertrieb Stimmhygienikern: Sing’ nicht zu lange, Leserservice: Nicolas Toporski, Verena Runde nicht zu laut, nicht zu leise, nicht zu hoch, den Themenkomplex „Musik zwischen Schott Music GmbH & Co. KG, Beruf und Berufung“ an, so ist es sinnvoll, Postfach 3640, 55026 Mainz nicht zu tief! Bevor wir daraus patzig die Fon 06131–24 6857, Fax 0 6131– 2464 83 Konsequenz ziehen, gar nicht zu singen, den „Broterwerb“ rund um die Musik im ([email protected]) begeben wir uns lieber intensiver in die Spektrum von ästhetischer bis wirtschaft- Hände erfahrener Gesangspädagogen. Die licher Orientierung zu beleuchten. Das Die Erscheinungsweise uns Choraspiranten zum Beispiel dringend kommende MUSIKFORUM bringt Daten vierteljährlich: Oktober, Januar, April, Juli Einzelheftpreis: m 7,40 anraten, auf Rauschmittel aller Art (wirk- zum Arbeitsmarkt, zeigt Tendenzen und lich aller Art?) zu verzichten und das Inha- Entwicklungen auf und befragt junge lieren von Dampf zu vermeiden, der die Musiker nach ihren Wünschen und Vor- stellungen. Anlass zum Themenheft gibt Stimmlippen aufweichen könnte. Die in den namentlich gezeichneten Beiträgen ver- die Expertentagung „Zukunft der Musik- tretenen Meinungen decken sich nicht notwendiger- Machen wir… berufe“, die der Deutsche Musikrat am 9. weise mit der Auffassung des Herausgebers und der und 10. März 2007 in der Musikakademie Redaktion. vor Klimaanlagen einen großen Bogen und Rheinsberg veranstaltet. Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Unter- schlucken und knurren wir eher, anstatt zu lagen wird keine Haftung übernommen. räuspern und zu husten, dann wird es uns Nachdruck oder fotomechanische Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Zustimmung des die Stimme danken. Sehr zu empfehlen Das nächste MUSIKFORUM Herausgebers. sind ferner Massagen (besonders im Bereich erscheint am 15. Januar 2007 ISSN 0935–2562 des Schultergürtels), Seebäder (ich persön- © 2006 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz lich rate zu St. Peter-Ording!), rohe Eier Printed in Germany und unehrgeizig (!) betriebener Sport.

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