SCHLERN-SCHRIFTEN VERÖFFENTLICHUNGEN ZUR LANDESKUNDE VON SÜDTIROL Herausgegeben von R. v. Klebelsberg

28. Das im Altertum

von

Richard Heuberger

UB INNSBRUCK

-C31410301

19 3 5 Universitäts-Verlag Wagner / Innsbruck Alle Rechte vorbehalten

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Druck: Kinderfreund-Anstalt, Innsbruck Dem Andenken Franz Jungers Abgekürzt angeführtes Schrifttum. 1. Im Text: Um Raum zu sparen und eigene Veröffentlichungen nicht allzu oft sichtbar in den Vordergrund zu stellen, wird auf Ausführungen des Verfassers ohne Nennung von dessen Namen in stark gekürzter Weise im Text hingewiesen, soweit dies als tunlich erscheint. Dabei sind folgende Siglen angewendet: K. = Klio, Beiträge zur alten Geschichte. R. 1. = Rätien im Altertum und Frühmittelalter 1 (Schlernschriften 20, 1932). Sl. = Der Schlern, illustrierte Monatsschrift für Heimat- und Volkskunde (Südtirols). TH. = Tiroler Heimat, Zeitschrift für Geschichte und Volkskunde Tirols, neue Folge. VF. = Veröffentlichungen des Museum Ferdinandeum in Innsbruck. Außerdem wird im Text mit den Siglen CIL. und IBR. auf das von Th. Mommsen begründete Corpus inscriptionum Latinarum (1863 ff.) und auf F. Vollmer, Inscrip- tiones Baivariae Romanae (1915) Bezug genommen.

2. In den Anmerkungen: Hier gelten folgende Abkürzungen: Cartellieri, Alpenstraßen = W. Cartellieri, Die römischen Alpenstraßen über den Brenner, Reschen-Scheideck und Plöckenpaß mit ihren Nebenlinien (Philologus, Supplementband 18, Heft 1, 1926). Castelpietra, Romana = S. Castelpietra, Merano Romana (SA. aus Annuario del ginnasio scientifico di Merano, 1930). Dietze, Rätien = H. Dietze, Rätien und seine germanische Umwelt in der Zeit von 450 bis auf Karl den Großen (Dissertation Würzburg, 1931). Forschungen und Mitteilungen = Forschungen und Mitteilungen zur Geschichte Tirols und Vorarlbergs. Germania = Germania, Korrespondenzblatt der römisch-germanischen Kommis- sion des deutschen archäologischen Instituts. Giovanelli, Ara Dianae = B. Graf Giovanelli, Über die in der k. k. Bibliothek zu Innsbruck befindliche Ara Dianae und die Richtung der Römerstraße Claudia Augusta von Tridento bis Vipiteno (1824). Göttinger Nachrichten = Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, philosophisch-historische Klasse. Heuberger, Rätien 1 = R. Heuberger, Rätien im Altertum und Frühmittelalter. Forschungen und Darstellung. 1 (Schlernschriften 20, 1932). Korbinianfestgabe = Wissenschaftliche Festgabe zum zwölfhundertjährigen Jubiläum des heiligen Korbinian, herausgegeben von J. Schlecht (1924). Laviosa, Carta 1 = Textheft zu Edizione archeologica della carta d'Italia al 100.000, foglio IV (Passo di Resia), foglio V (Merano), foglio 9 (M. Cevedale). A cura della R. soprintendenza alle antichità del Veneto, della Lombardia e della Venezia Tridentina. Rilevamento e compilazione della signora Pia Laviosa. R. Istituto geografico militare. Firenze 1933. Laviosa, Carta 2 = Textheft zu Edizione archeologica della carta d'Italia al 100.000, foglio XV (), foglio 11 (M. Marmolada) Firenze 1934. Mazegger, Römerfunde3 = B. Mazegger, Die Römerfunde und die römische Station in Mais (bei Meran)3 (1896). Mitteilungen der Zentralkommission = Mitteilungen der k. k. Zentralkommis- sion für die Erforschung und Erhaltung der Kunst- und historischen Denkmale. Pauly -Wissowa, Realenzyklopädie = Pauly-G. Wissowa, Realenzyklopädie der klassischen Altertumswissenschaft. Scheffel, Brennerstraße = P. H. Scheffel, Die Brennerstraße zur Römerzeit (1912). Schlern = Der Schlern. Illustrierte Monatsschrift für Heimat- und Volkskunde (Südtirols). Solmi, Appunti = A. Solmi, Appunti sulla Tavola Clesiana (SA. aus Rivista „Raetia" a. 4, 1934, 12 seconda edizione riveduta e ampliata). Stähelin, Schweiz2 = F. Stähelin, Die Schweiz in römischer Zeit2 (1931).

Bemerkung zur Fundkarte des Burggrafenamtes (S. 9). Die Karte ist im Maßstab 1:100.000 gehalten. Sie wurde nach meinen Angaben im Anschlusse an die Edizione archeologica della carta d'Italia al 100.000 (s. u. A. 16) unter Vornahme der sachlich notwendigen Änderungen, Berichtigungen und Er- gänzungen (vgl. u. a. unten A. 7, 16, 38, 241, S. 73 f.) von Frau Dr. S. Sterner- Rainer-Innsbruck, gezeichnet und von Herrn Dr. K. M. Mayr-Bozen überprüft. Beiden danke ich auch an dieser Stelle wärmstens für ihre freundliche Hilfe. Aus technischen Gründen ließ sich der archäologische Tatbestand nicht in sämt- lichen Einzelheiten veranschaulichen. So konnte z. B. nicht angedeutet werden, daß St. Hippolyt bei auch noch in den vorgeschichtlichen Metallzeiten be- siedelt war. An welcher Stelle der im Zieltal zutagegekommene Dianaaltar entdeckt wurde, ist nicht bekannt. Daher ließ sich der Fundort dieses Denkmals bloß will- kürlich, ohne eine Gewähr für die Richtigkeit dieser Eintragung, verzeichnen.

VI Inhaltsverzeichnis.

Abgekürzt angeführtes Schrifttum S. V Bemerkung zur Fundkarte des Burggrafenamtes S. VI Einleitung S. 1—7. Berechtigung und Notwendigkeit fachmännischer Einzelforschungen landesgeschichtlicher Art S. 1. — Geschichtliche Bedeutung des Burggrafenamtes und Wert einer Untersuchung seiner Frühgeschichte S. 4. — Grundlagen, Form und Ziele der folgenden Darstellung S. 6. 1. Das Burggrafenamt beim Einrücken der Römer S. 7—18. Eindringen des Menschen in die Meraner Gegend und Frage des Rätertums ihrer späteisen- zeitlichen Bewohner S. 7. — Volkstum, Lebensverhältnisse und Auslandsbeziehungen der späteisenzeitlichen Burggräfler S. 8. — Religiöses Leben im urzeitlichen Burggrafenamt S. 13. — Frage des Stammesnamens der späteisenzeitlichen Burggräfler S. 15. 2. Die Einfügung des Burggrafenamtes und seiner Nachbargebiete in das Römer- reich S. 18—29. Niederlassung von Kelten und Erscheinen der Kimbern im alpinen Etschtal S. 18. — Aus- greifen Roms bis Bozen und Meran S. 19. — Unterwerfung der Venostes, ihrer Nachbarn und der Vindeliker durch die Römer S. 23. — Vormarsch des Drusus durch Tirol S. 24. 3. Das Burggrafenamt und die römischen Verwaltungsgebiete . . . . S. 29—38. Römische Verwaltungssprengel in den mittleren Alpen und deren nördlichem Vorland S. 29. — Ausdehnung Venetiens im Flußgebiet der Etsch gegen Norden zu S. 30. — Zugehörigkeit des Vinschgaus zu Rätien S. 31. — Rätisch-italische Grenze im Etschtal S. 35. — Verhältnis des Vinschgaus zur Vindelicia und zur Raetia secunda S. 38. 4. Die Bevölkerung des Burggrafenamtes zur Römerzeit S. 39—4G. Etwaiger Gauverband und Rechtsstellung der römerzeitlichen Burggräfler S. 39. — Völkische Verschiebungen und sprachliche Verhältnisse im Burggrafenamt bis zum 6. Jahrhundert S. 39. — Gesittungsstand, landwirtschaftliche und religiöse Verhältnisse im römischen Burg- grafenamt S. 42. 5. Der heilige Valentin S. 47—55. Fehlen einer glaubwürdigen Überlieferung über St. Valentin und Ungewißheit über seine Geschichtlichkeit S. 47. — Grundlosigkeit der Gleichsetzung St. Valentins mit dem gleich- namigen rätischen Bischof und Fragwürdigkeit von Beziehungen St. Valentins zu Mais S. 51. — St. Valentin und die Anfänge des Bistums Säben S. 53. 6. Die „Römerstadt Maia" und das frühmittelalterliche castrum Maiense S. 55—65. Unklarheit über die Ausbreitung der Siedlung im römerzeitlichen Burggrafenamt im einzelnen S. 55. — Fabel von der Römerstadt Maia und deren Untergang S. 57. — Quellenangaben über das castrum Maiense; Valentinskirche und Passerbrücke S. 59. — Lage, Ausdehnung und Wesen des castrum Maiense S. 61.

VII 7. Das römische Maies S. 66—78. Anfänge und Name der römischen Passersiedlung S. 66. — Statio Maiensis quadragesimae Galliarum S. 69. — Bedeutung und Ausdehnung des römischen Maies S. 70. — Unerweisbar- keit eines Römerkastells bei Meran S. 72. — Möglichkeit, eine solche Feste anzunehmen S. 74. 8. Der Wegbau des Drusus und die via Augusta S. 78—85. Meilensteininschriften von Rabland und Feltre S. 78. — Zeit, Art und Umfang der von Drusus befohlenen Wegarbeiten und Beschaffenheit der via Augusta S. 81. — Unbestimmbarkeit des Verlaufs von Drususweg und via Augusta S. 84. 9. Die via Claudia Augusta S. 85—94. Bau, Südstrecken und Meilensteine der claudischen Straße S. 85. — Vermutliche Vollendung der via Claudia Augusta S. 87. — Claudische Straße und Brennerstraße, via Augusta und via Claudia Augusta S. 89. — Verkehrsbedeutung, Beschaffenheit, Stationen und Kastelle der römischen Reschenscheideckstraße S. 92. 10. Der Verlauf der claudischen Straße im Burggrafenamt S. 94—105. Grundsätzliches zur Römerstraßenforschung S. 94. — Straßenverhältnisse nördlich von Endidae S. 95. — Verlauf der claudischen Straße vom Bozner Becken bis zur Etschbrücke bei Steinach S. 100. — Verlauf dieser Straße von hier aus bis zum Schnalserbach S. 103. 11. Der Eintritt des Burggrafenamtes in das Mittelalter S. 106—112. Schicksale und Entwicklung des Burggrafenamtes im Mittelalter S. 106. — Bedeutung des Übergangs vom Altertum zum Mittelalter und der Römerzeit für das Burggrafenamt S. 109. Fundkarte des Burggrafenamtes S. 9.

Bildtafeln:

Tafel 1. Brückenpfeiler von Steinach. Tafel 2. Meilenstein von Rabland.

VIII EINLEITUNG.

Einige einleitende Bemerkungen mögen dem Leser sagen, warum und in welcher Absicht die vorliegende Darstellung geschrieben wurde. Die Entwicklung der Geschichtswissenschaft führte im Lauf des 19. Jahr- hunderts die Gelehrten dazu, sich in steigendem Maß der Untersuchung einzelner Gegenstände und Fragen zuzuwenden. So verfolgte man jetzt auch mit Vorliebe die Vergangenheit kleiner und kleinster Landschaften, und es erwuchs in der Heimat- kunde ein bevorzugtes Sonderfach der wissenschaftlichen Arbeit. Brachte dies auch in verschiedenster Richtung hohen Gewinn, so waren damit doch auch wesentliche Nachteile gegeben. Der Gesichtskreis der Forscher verengte sich vielfach in bedenk- licher Weise und es wurde nicht selten vergessen, daß die Untersuchung von Einzel- heiten niemals Selbstzweck werden darf. Namentlich schien — wenn auch nicht grundsätzlich, so doch tatsächlich — die Ansicht um sich zu greifen, daß es die Hauptaufgabe der Fachleute sei, die Wirtschafts- und Siedlungsgeschichte einzelner Landstriche zu bearbeiten oder auf räumlich beschränkter Grundlage Volkskunde zu treiben. Daher besinnt sich in unseren Tagen die Geschichtswissenschaft wieder darauf, daß es an der Zeit ist, die Ergebnisse der Sonderforschungen in einen weiteren Rahmen zu stellen, die Vergangenheit ganzer Volkseinheiten ins Auge zu fassen und den Blick mehr, als bisher, auch auf die großen Zusammenhänge der Entwicklung zu richten. Besonderen Anlaß, dies zu beherzigen, hat der deutsche Geschichts- forscher. Denn man lehrte uns Deutsche jahrhundertelang im Rahmen des bunt- scheckigen alten Reiches, die konfessionellen Gegensätze zu unterstreichen, die Anhänglichkeit an ein Herrscherhaus mit Vaterlandsliebe zu verwechseln und uns zu dem Satz zu bekennen „Vaterland benennen wir dasjenige Land, das erbeigen- tümlich gehört dem Fürsten" (H. Heine). Daher wurde bei uns stets nur allzusehr auf die landschaftlichen Unterschiede innerhalb des Volksganzen gesehen, auf sie hingewiesen und hiedurch zur Freude der fremden Mächte gegen die staatliche und geistige Einigung ganz Deutschlands von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt gearbeitet, Zwietracht gesät und Unheil gestiftet. So suchte man z. B. um die Mitte des 19. Jahrhunderts (also zu einer Zeit, in der die Bildung mächtiger, einheitlich gefügter Nationalstaaten bereits in fast ganz Europa ver- wirklicht oder doch wenigstens als notwendig erkannt und das Kaisertum Öster- reich noch ebensogut ein deutscher Bundesstaat war, wie Preußen) Tirol gegen Norden zu möglichst abzusperren, seiner Bevölkerung das nationale Empfinden abzugewöhnen und ihr die Lehre einzuprägen: „Zuerst sind wir Katholiken, dann Tiroler, dann Österreicher, dann ich weiß nicht was und fünftens endlich Deutsche, aber solche ganz besonderer Art"1) und es mußte H. v. Gilm seinen Landsleuten zurufen: Zwar gibt's noch viel Entbehrende des Lichts, Und viele heucheln Blindheit — das ist ärger! Wenn wir nicht Deutsche sind, so sind wir nichts, Das merkt, Tiroler und Vorarlberger! Dazu leben wir Deutsche immer noch im Schatten des uns von den Hütern und Verfechtern des Selbstbestimmungsrechtes der Völker nach dem Grundsatz „Divide et impera" aufgezwungenen Gewaltfriedens von 1919. An den deutschen Ge- schichtsforscher unserer Tage, der ja — ebenso, wie der englische, französische, italienische usw. — nicht bloß der Gelehrtenwelt, sondern auch seinem Volk zu dienen hat, tritt also mit besonderem Nachdruck die Forderung heran, er möge sich nicht allzusehr in Untersuchungen über die Sonderentwicklung einzelner Landschaften verlieren. Daraus ergibt sich dann weiter die Frage: Läßt es sich rechtfertigen, wenn im folgenden versucht wird, zu schildern, wie es während des Altertums im Burggrafenamt aussah ? Gewiß hat nun freilich der deutsche Geschichtsforscher unserer Zeit, in der seine Wissenschaft nach Zusammenfassung sowie nach großzügiger Betrachtungs- weise strebt und in der es noch immer um die ganze Zukunft seines Volkes geht, die ernste Pflicht, sein Können nicht zur Gänze an die Lösung allzu engumgrenzter Aufgaben zu verschwenden, nicht bloß für einen kleinen Kreis von Fachgenossen zu schreiben und seine Aufmerksamkeit vor allem dem Werden, Wachsen und Wesen der einheitlichen deutschen Blut-, Sprach- und Schicksalsgemeinschaft zuzuwenden, wobei er auch die neuen, durch die Entwicklung Europas während der letzten Jahre gegebenen Fragestellungen nicht außer Acht lassen darf. Indes nur wenige Gelehrte besitzen die Gabe, anziehend und gemeinverständlich zu schreiben, und noch seltener sind jene Männer der Wissenschaft, die — wie z. B. Th. Mommsen und H. Brunner — die Fähigkeit, große Gebiete zu überschauen sowie verwickelte und weitgespannte Zusammenhänge zu einem geschlossenen Bild zusammenzufügen, mit genauester Kenntnis aller in Betracht kommenden Quellen, Sonderfragen und Einzeltatsachen zu vereinigen. Gemeinverständliche, wie auch streng wissenschaftlich gedachte, großen Gegenständen gewidmete Darstellungen, deren Verfasser nicht über die eben bezeichneten Eigenschaften verfügen, sind aber notwendigerweise wertlos. Hängt doch — namentlich im Bereiche der alten und frühmittelalterlichen Geschichte — oft sehr viel an der richtigen Deutung einer einzigen Quellenstelle oder einer an sich wenig belangreichen Tatsache, und um eine solche Deutung geben zu können, bedarf es gemeinhin einer sehr ansehnlichen Sachkenntnis. Auch bleiben oft gerade die wichtigsten Zusammenhänge den Augen des nur mit ober-

1) J. Ph. Fallmerayer, Schriften und Tagebücher, herausgegeben von H. Feigl und E. Molden, 1 (1913), S. 220-225. Vgl. auch L. Steub, Sängerkrieg in Tirol (1882), S. 396. flächlichem Wissen Ausgestatteten verborgen. Dies alles weiß jeder Kundige. Der Anführung von Beispielen bedarf es also nicht. Neuerdings möchten nun freilich manche gerne unter Vermeidung der mühsamen und zeitraubenden Einzelforschung bloß mit Hilfe eines inneren Schauens oder Ahnens zu Erkenntnissen vordringen. Allein nur wenige ganz ungewöhnliche Geister sind dazu berufen, diesen abgekürzten Weg mit Erfolg einschlagen zu können, und selbst sie werden dabei oft genug auch zu Trugschlüssen und Fehlannahmen gelangen. Dies bezeugt etwa 0. Spenglers bekanntes Werk2). Der Durchschnittsgelehrte vollends, der ohne die erforderlichen genauen Einzelkenntnisse mit der Absicht, neue Ergebnisse zu gewinnen, an die Bewältigung großer Aufgaben herantritt, muß dabei rettungslos scheitern. Sieht sich also der deutsche Geschichtsforscher auch heute mehr als früher auf die Be- handlung umfassenderer, namentlich auch völkisch belangreicher Stoffe hingewiesen, so wird er doch auch gegenwärtig und in Zukunft gemeinhin das Schwergewicht seiner Tätigkeit auf die Untersuchung einzelner Gegenstände und Fragen zu verlegen haben, die allein die tragfähige Grundlage für weitgespannte Darstellungen zu liefern vermag. Wer ihm dies verwehren wollte, würde ihn zum Verzicht auf sorg- fältiges Arbeiten und zum Verfallen in großartig klingendes, aber hohles Gerede zwingen und ihn zugleich nötigen, auf diese Weise dem heranwachsenden Geschlecht seiner Fachgenossen ein übles Beispiel zu geben. Hiedurch müßte jedoch die deutsche Geschichtswissenschaft, deren Weltgeltung auf ihrer anerkannten Gewissenhaftigkeit und Gründlichkeit beruht, aufs schwerste geschädigt werden. Erkennt man aber auch derzeit noch Einzeluntersuchungen als berechtigt und notwendig an, so muß man dies auch für solche gelten lassen, die sich mit den Geschicken einzelner Land- striche, namentlich deutscher Grenzgegenden beschäftigen, wobei selbstverständlich auch die oft für die weitere Entwicklung richtunggebende vordeutsche Vergangenheit des betreffenden Gebietes erforscht werden muß. Es ist überdies aus einem besonderen Grund sehr zu begrüßen, wenn sachkundig geschriebene Arbeiten der eben bezeichneten Art erscheinen. Die Entwicklung von Heimat- und Volkskunde machte es wünschenswert und nötig, wissenschaftlich ungeschulte Männer und Frauen bei der Sammlung von Erkenntnisstoff als Helfer mitheranzuziehen, und solchen freiwilligen Mitarbeitern verdankt die For- schung unendlich viel. Im Zusammenhang damit fingen aber immer häufiger Freunde der Heimatgeschichte an, sich nicht nur als Sammler, sondern auch als Forscher zu betätigen, ohne die hiezu nötige Vorbildung und Schulung zu besitzen, und dies war in den meisten Fällen von Übel. Darüber darf man sich nicht fortwährend täuschen. Gewiß wäre es verfehlt, im Bereich von Landesgeschichte und Heimat- kunde dem zünftigen Gelehrten das ausschließliche Recht der Meinungsäußerung vorbehalten zu wollen. Denn die Geschichtsforschung ist keine unerlernbare, dem Laien unzugängliche Geheimkunst und bekanntlich ist mancher wissenschaftlich fruchtbare Gedanke zuerst von einem Nichtfachmann ausgesprochen worden.

2) 0. Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 2 Bände (1918—22), Band l33-47 (1923).

1 3 Allein kein Meister fällt vom Himmel, nichts in der Welt ist so einfach, wie es dem Fernstehenden erscheint, und daß Vermutungen eines Laien das Rechte treffen, ist auf dem Gebiet der Geschichte nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Daher muß endlich auch in der Landesgeschichte und Heimatkunde als Grundsatz anerkannt werden, was sonst überall — im Leben, wie in der Wissenschaft — als selbstver- ständlich gilt: Daß niemand über eine Sache reden darf, der von ihr nichts versteht. Vor allem ist es aber wahrlich an der Zeit, einmal mit dem Unfug Schluß zu machen, daß ungeprüft alles gedruckt wird, was einem Liebhaber von Landesgeschichte und Heimatkunde einfällt, der es versäumt hat, sich an Hand des ihm erreichbaren Fachschrifttums die erforderlichen Vorkenntnisse zu erwerben und sich darüber zu unterrichten, wie man bei wissenschaftlichen Forschungen zu verfahren hat. Als Helfer bei der Bearbeitung des hier in Rede stehenden Feldes ist der Laie auch künftig hochwillkommen und unentbehrlich. Die Auswertung des von ihm ge- sammelten Stoffes jedoch muß im allgemeinen dem Fachmann überlassen bleiben. Diese Mahnung dürfte jeder Einsichtige als begründet anerkennen. Soll die Be- handlung der Vergangenheit einzelner Landschaften aber den Händen Unberufener entzogen werden, so muß sie möglichst tatkräftig von Fachleuten übernommen werden. Mit dem Gesagten dürfte grundsätzlich dargetan sein, daß ein Stoff, wie der im folgenden behandelte, einer Bearbeitung würdig ist. Es seien nunmehr noch einige Bemerkungen vorgebracht, die sich im besonderen auf die vorliegende Dar- stellung beziehen. Wenige Gegenden der mittleren Alpen können sich im Hinblick auf die natur- gegebenen Verhältnisse mit jenem gesegneten Landstrich messen, der den zwischen dem Schnalser und dem Aschler- oder Gargazoner Bach gelegenen Teil des Etsch- landes in sich schließt, das Burggrafenamt genannt wird und im folgenden auch — in erweitertem Sinn — als die Meraner Gegend oder als das Mündungsgebiet der Passer bezeichnet werden soll. Bei Meran herrscht noch das Klima der Mittelmeer- welt, während oberhalb der zur Höhe der Töll ansteigenden Talstufe ebenso, wie hinter der Enge, durch die die Passer das nach ihr benannte Tal verläßt, schon der Bereich des mitteleuropäischen Klimas beginnt3). Dem Zugang von Süden her durch die breite Furche des Etschtales erschlossen, bietet das Mündungsgebiet der Passer dem Verkehr zwei Möglichkeiten, den Alpenhauptkamm zu überqueren und weiterhin die schwäbisch-bayrische Hochebene zu erreichen. Gelangt man doch durch den zum Reschenscheideck (1510 m) und von diesem aus durch das Oberinntal und über den Fernpaß (1210 m) nach dem nördlichen Alpenvorland, während das Passeiertal zum Jaufen (2130 m) emporführt, der ins Sterzinger Becken und damit in den Bereich des Brennerweges, der wichtigsten Nord-Südverbindung der westlichen Ostalpen hinüberleitet.

3) Über die großenteils schon seit der Urzeit in Südtirol heimischen Vertreter der Mittel- meerflora H. Hager, Schlern 16 (1935), S. 162 — 168; ebenda, S. 165 — 167 über die mittel- ländischen Pflanzen des Vinschgaus und des Burggrafenamtes. Diese naturgegebenen Vorbedingungen wiesen dem Burggrafenamt in der geschichtlichen Entwicklung jenes Landes stets eine hervorragende Rolle zu, das man mit Rücksicht auf die während des Mittelalters und der Neuzeit geschaffenen Verhältnisse Deutschtirol oder kurzweg Tirol nennt. Dieses Alpengebiet hinwieder besaß aber allzeit für die Geschicke des heute von den Deutschen bewohnten Raumes eine weit höhere Bedeutung, als andere Landstriche von gleicher Größe. Brenner und Reschenscheideck vermitteln neben den Bündner Pässen und dem erst im 13. Jahr- hundert gangbar gemachten St. Gotthard die beste und unmittelbarste Verbindung zwischen Italien und Deutschland und die durch das Gelände bedingten, die Ver- kehrsbeziehungen bestimmenden Verhältnisse verknüpfen Tirol weit enger mit dem nördlichen Alpenvorland, als mit anderen Nachbargebieten. Tirol war hiedurch berufen, für die friedlichen und kriegerischen Beziehungen zwischen den nördlich und südlich der Alpen ansässigen Völkern hervorragende Bedeutung zu gewinnen und unter entsprechenden Voraussetzungen zur wichtigsten Südmark Deutschlands zu werden. Dieser seiner geschichtlichen Sendung ist es denn auch in mannigfach abgewandelter, jeweils durch die Zeitumstände bedingter Form in allen Jahr- hunderten von der Urzeit bis herab zur Gegenwart, gerecht geworden. Auf seine Be- wohner paßten im unmittelbaren oder übertragenen Sinn stets die von H. v. Gilm den Tiroler Schützen in den Mund gelegten Worte: „Wir sind Deutschlands Grenzsoldaten"; und im Gedanken an das von den Besten seiner Zeitgenossen ersehnte mächtige deutsche Reich der Zukunft durfte derselbe Dichter ohne Über- treibung seine Heimat feiern als „des deutschen Einheitsbaues festen Eckstein". Die Geschichte Tirols bildet daher ein wichtiges Stück von jener Deutschlands und sie verdient infolgedessen nicht nur um ihrer selbst willen in besonderem Maß, genau untersucht zu werden. Stimmt man aber dieser Ansicht zu, so räumt man damit zugleich ein, daß auch die Beschäftigung mit der Vergangenheit des Burggrafen- amtes zu den wichtigeren Teilaufgaben der deutschen Geschichtswissenschaft gehört. Was der Meraner Gegend innerhalb Tirols eine besondere Bedeutung ver- schaffte, wirkte sich nun schon im Altertum aus. Im Schrifttum war daher von der ältesten Vergangenheit des Mündungsgebietes der Passer bereits oft die Rede4). Allein so manches, was dabei geäußert wurde, erweist sich bei näherem Zusehen als ungenügend begründet oder gar als völlig hinfällig. Denn über Zustände und Schicksale dieses Landstriches während der Römerzeit geben nur wenige Quellen Aufschluß und die Ausdeutung dieser dürftigen Zeugnisse begegnet nicht selten großen Schwierigkeiten. Deshalb stellt die Frühgeschichte des Burggrafenamtes der Forschung verschiedene, noch heute nicht endgiltig geklärte Fragen. Dabei handelt es sich noch dazu teilweise um Dinge, die auch dann als belangreich er- scheinen, wenn man sie von einem höheren Standpunkt aus betrachtet, als von dem der Tiroler Landesgeschichte. So ergibt sich z. B. für den, der sich mit Schick-

4) Vgl. zuletzt A. Sparber, Schlern 4 (1932), S. 301—303, R. Heuberger, Schlern 13 (1932), S. 132-135, K. v. Braitenberg, Schlern 15 (1934), S. 16-20. salen und Zuständen der Meraner Gegend während der Römerzeit befaßt, die Not- wendigkeit, auf die Vorschiebung des römischen Machtbereiches in das Flußgebiet der Etsch und auf die Bewegungen des im Jahre 15 v. Chr. von Drusus durch die Alpen nordwärts geführten Heeres einzugehen, zu untersuchen, wo die Südgrenze des römischen Rätien das Etschtal querte, und sich mit der vielumstrittenen via Claudia Augusta sowie mit der legendenhaften Gestalt des heiligen Valentin zu beschäftigen. Diese und manche andere Dinge, vor allem die ortsgeschichtlich nicht unwichtige Frage des castrum Maiense, verlangen also eine genauere Behand- lung. Es sei demnach gestattet, auf den folgenden Blättern ein Bild von Entwicklung und Zuständen der Meraner Gegend im Altertum zu entwerfen, womit zugleich gewissermaßen eine Ergänzung zu meinem dem römisch-frühmittelalterlichen Rätien gewidmeten Werk gegeben wird, dessen erster Band 1932 als Nr. 20 der Schlernschriften erschienen ist. Allen Ansprüchen vermag die vorliegende Darstellung freilich nicht zu genügen. Abschließend ließe sich die älteste Geschichte des Burggrafenamtes nur behandeln, wenn dabei sämtliche einschlägige Bodenfunde sachkundig verwertet und alle in Betracht kommenden Ergebnisse der Ortsnamenforschung mitberücksichtigt würden. Dies zu tun, vermochte ich indes infolge mangelnder fachlicher Zuständig- keit und aus anderen Gründen nicht. Ich war sogar nicht einmal in der Lage, alle hier zu berücksichtigenden Mitteilungen und Bemerkungen archäologischen In- halts in wissenschaftlichen Werken, Zeitschriften und Zeitungen kennen zu lernen. Außerdem blieben mir manche wichtige neuere Fachwerke unzugänglich, die wohl heranzuziehen gewesen wären5). Hiedurch sind zweifellos Fehlerquellen gegeben. Allein auch ohne eine erschöpfende Heranziehung sämtlicher durch die Spaten- und Sprachforschung gewonnenen Erkenntnisse dürfte sich nützliche Arbeit leisten lassen; zumal wenn dafür alle Aussagen der schriftlichen Überlieferung mit Ein- schluß jener frühmittelalterlichen Zeugnisse, die Rückschlüsse auf die Verhältnisse der Römerzeit gestatten, hinsichtlich ihres Inhaltes und ihrer Bedeutung genauer, als dies bisher geschehen ist, untersucht und sämtliche auftauchende Fragen unter Berücksichtigung jeglicher Möglichkeit bis aufs Letzte hin verfolgt werden. An- gesichts des Umstandes, daß die einschlägigen Quellen bloß gering an Zahl und meist nur mittels eindringender Prüfung, vielfach sogar überhaupt nicht mit voller Sicher- heit zu deuten sind, ergab sich damit aber zugleich die Notwendigkeit, den gewählten Stoff in einer Folge von Einzeluntersuchungen zu behandeln, bei Besprechung mancher Dinge eine gewisse Weitschweifigkeit nicht zu scheuen und stets scharf hervorzuheben, wo der Bereich unseres zweifelsfreien Wissens endet. Mit anspruchs- vollen Worten ist ja nichts getan und man darf nicht in einer Art vorgehen, die die Behauptung rechtfertigen könnte, die Geschichtswissenschaft sei die Kunst, unsichere

6) So E. Stein, Die kaiserlichen Beamten und Truppenkörper im römischen Deutschland unter dem Prinzipat und E. Ritterling - E. Stein, Fasti des römischen Deutschland unter dem Prinzipat (Beiträge zur Verwaltungs- und Heeresgeschichte von Gallien und Germanien 1 und 2, 1932).

6 Überlieferungen durch erdichtete Hypothesen zu ersetzen6). Gewöhnlich verlangt man allerdings nach einer großzügig und übersichtlich angelegten Darstellung, die tunlichst klar und knapp gefaßt ist und möglichst bestimmte Ergebnisse bringt. So mögen also die nachstehenden Darlegungen manchen Leser enttäuschen. Dies war jedoch nicht zu vermeiden. Ein Gewinn dürfte es jedenfalls sein, wenn hier den Freunden der Heimatgeschichte an einem anschaulichen Beispiel gezeigt wird, wie schwierig es ist, Gegenstände aus dem Bereich der Ur- und Römerzeit zu behandeln, wie vorsichtig man dabei verfahren muß und auf wie schwachen Füßen gar viel von dem steht, was man über die älteste Vergangenheit Tirols zu wissen glaubt.

1. Das Burggrafenamt beim Einrücken der Römer.

Schon in der jüngeren Steinzeit drang der Mensch mit seinen Wohnstätten bis in die Nähe der Passermündung, vielleicht sogar bis in den Vinschgau vor. Damals wurde vermutlich auch bereits das Reschenscheideck überschritten7). Die vorgeschichtlichen Metallzeiten brachten dann eine Verdichtung und Ausbreitung der Siedlung. Man kennt u. a. damals bewohnte Wallburgen auf dem Grumser Büchel (bei Obermais) und auf dem Sinnichkopf (südöstlich von Untermais) (s. u. S. 11). Bereits in der Bronze- oder doch wenigstens in der beginnenden Eisenzeit dürfte auch schon der Jaufenübergang benützt worden sein. Dies läßt der Fund einer frühhallstättischen Axt auf dem Strixonjoch im Hinterpasseier8) vermuten. Die Bergtäler in der weiteren Umgebung des Meraner Beckens, das Martell-, -, Passeier- und Sarntal blieben jedoch anscheinend selbst in der La Tènezeit noch unbewohnt9). Gelegentlich mögen sich allerdings damals und schon vorher einige wenige Menschen — von Feinden bedroht oder aus anderen Gründen — für kürzere oder längere Zeit innerhalb dieser Talschaften niedergelassen haben. Daß dies wirklich der Fall war, beweist der Umstand, daß kürzlich bei Matatz ober St. Martin in Passeier auf einem Hügel Brandknochen, Branderde, Feuersteingeräte und Spuren einer vorgeschichtlichen Befestigung entdeckt wurden10). Gehörten die Menschen, die während der letzten Jahrhunderte vor dem Beginn unserer Zeitrechnung im Burggrafenamt hausten, zu einer jener Völkerschaften, die ohne Rücksicht auf ihre Herkunft und Sprache, aber doch gewissermaßen im Sinn der Völkerkunde von Griechen und Römern unter der nachmals auf alle Bewohner

6) Diese witzige, von einem geistreichen Mathematiker geprägte Begriffsbestimmung erwähnt J. Haller, Das Papsttum 1 (1934), S. 447. 7) 0. Menghin, Jahrbuch für Altertumskunde 6 (1912), S. 35. Über die in der Jungsteinzeit und später besiedelte Wallburg von St. Hippolyt bei Tisens u. a. derselbe, Mitteilungen der anthropologischen Gesellschaft in Wien 40 (1910), S. 167, Jahrbuch für Altertumskunde 6, S. 27. Über den Fund zweier Steinbeile bei Dorf Tirol J. Tscholl, Dolomiten vom 23. April 1932. 8) Menghin, Mitteilungen der anthropologischen Gesellschaft in Wien 41 (1911), S. 307, derselbe, Schlern 2 (1921), S. 368. 9) Menghin, Schlern 2 (1921), S. 367. Io) L. Wallnöfer, Schlern 16 (1935), S. 176. der römischen Provinz Rätien angewendeten Bezeichnung Rhaitoi bzw. Raeti zusammengefaßt wurden ? Diese Frage läßt sich beim Fehlen einschlägiger Quellen- zeugnisse nicht mit Bestimmtheit beantworten. Sie zu bejahen, scheint die Beobach- tung zu verbieten, daß die Alten zu den Rätern in dem eben angedeuteten Sinn ge- wöhnlich bloß die Bewohner Graubündens (mit Ausschluß des Misox) sowie die der südlich vom Bodensee gelegenen Landstriche und daneben gelegentlich noch die Stämme rechneten, die zwischen diesem Gewässer und dem Quellgebiet der Donau, in der Gegend von Comum (Como) und Verona sowie in den diesen Städten benach- barten Talschaften der südlichen Alpen, so in der Valle Lagarina und um Tridentum (Trient) ansässig waren (Th. 5, 1932, 38-47). Eine gleichartige Folgerung ergibt sich anscheinend auch aus der Tatsache, daß der Verwaltungssprengel Raetia der begin- nenden Kaiserzeit nicht bis ins Etschtal hineinreichte (s. u. S. 29). Indes von der Ansicht der Alten über die Ausdehnung des rätischen Siedlungsraumes gibt lediglich eine dürftige und lückenhafte schriftliche Überlieferung Kunde und jenes früh- kaiserzeitliche Verwaltungsgebiet erstreckte sich, da es z. B. die Gegend von Comum, Verona und Tridentum nicht in sich schloß (s. u. S. 29) keineswegs über alle Land- striche, in denen rätische Stämme wohnten. Unter diesen Umständen wäre also auch die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, daß Griechen und Römer auch die Leute, die im Burggrafenamt hausten, noch als Räter aufgefaßt hätten. Zwar darf man gewiß nicht der Meinung zustimmen, der Rätername habe ursprünglich bloß an der Bevölkerung des Bozner Beckens (mit Einschluß der Meraner Gegend?) gehaftet und sei in der Folge deshalb in erweiterter Bedeutung gebraucht worden, weil diese Leute bei dem von Drusus und Tiberius geleiteten Feldzug des Jahres 15 v. Chr. zuerst von den Römern unterworfen worden seien10a). Denn Cassius Dio, der (54, 22) Drusus bei seinem Vorstoß nach Norden in den Tridentinischen Alpen einen Sieg über die Räter gewinnen läßt, verwendet den Räternamen nicht mehr im völkerkund- lichen Sinn (R. 1, 2) und die Bezeichnung Rhaitoi bzw. Raeti hatte sich in räumlich weitausgreifender Bedeutung bereits lange vor dem Krieg des Jahres 15 v. Chr. eingebürgert (TH. 5, 35 f.). Es hat indes die Vermutung manches für sich, daß als älteste Heimat des Räternamens die Gardaseegegend, in der sich Etrusker niederge- lassen haben dürften (TH. 5, 54), samt der Umgebung von Tridentum und dem Nons- berg anzusehen ist (TH. 5, 36 f.). Verhielt es sich aber so, dann können sehr wohl auch die Bewohner des Bozner Beckens und des Mündungsgebietes der Passer von Griechen und Römern noch zu den Rätern gezählt worden sein. Ihrem Volkstum nach waren die späteisenzeitlichen Burggräfler, ebenso wie ihre östlichen, nordwestlichen und nördlichen Nachbarn zweifellos indogermanische Illyrer bzw. Veneto-Illyrer11), die Reste einer älteren, wohl ligurischen Bevölkerung

10a) Diese Meinung vertritt L. Steinberger, Tiroler Heimat, neue Folge 3 (1930), S. 212 f. Hier auch die Vermutung, der Name Raeti entstamme vielleicht der illyrischen Sprache. 11) Zur Frage, ob man die späteisenzeitlichen Deutschtiroler als Veneto-Illyrer oder schlechtweg als Illyrer zu bezeichnen hat, u. a. Steinberger, Zeitschrift für Ortsnamen- forschung 8 (1932), S. 255 (mit Anführung von Schrifttum).

8 Tirol

'laus

+ Menhir (Bronzezeit) X Kultstätte- (Hallslatt-Latènez.) A Altar (Römerzeit) Q röm.Meilenstein. Pl Brückenpfeiler X? Grabiinschrift XX neol.od. aneolith. Siedlung O bronzezeitl. Siedlung 0 Wallburg der Latènezeit Q röm.Siedlung 0Siedlun g od. Wallburg unbestimmt • röm.Zeit Grab S Einzel- u.Streufund (Neolithik) / (Römerzeit) X Türme, mögl.´.röm.Ursprungs TR Mauern einer Römerstraße

Unterstreichung der Ortsnamen bedeutet Vorhandensein von Einzelfundentderen genauer Fundort nicht festgestellt ist Platzers •-"•*'>••-- Bronzezeit --> Hallstattzeit .._.-.. Latènezeit Gfrill in sich aufgenommen hatten. Einschläge fremden Blutes können ihnen durch Mi- schung mit Stämmen des unteren alpinen Etschgebietes zugekommen sein, in dem sich Menschen unsicherer Herkunft und einzelne Protoitaliker, dann Kelten und vielleicht auch manche (nichtindogermanische) Etrusker niedergelassen hatten12). Die auf dem Hoch- oder Segenbüchel, der höchsten Erhebung des Küchelberges (bei Meran), gemachten Funde aus der Hallstatt- und der früheren La Tènezeit gehören denn auch zu jenem nach dem Grabfeld von Melaun (Gemeinde St. Andrä bei Brixen) benannten Kulturkreis, der mit den Illyrern in Zusammenhang gebracht werden darf, lassen aber auch Beziehungen der Meraner Gegend zum nahen Nonsberg erkennen13). Die früher wohl im Nordosten Deutschlands ansässig gewesenen Veneter und Illyrer bzw. Veneto-Illyrer14) hatten sich im Flußgebiet des Alpenrheins auf der schwäbisch-bayrischen Hochebene, in den meisten Gegenden der Ostalpen, in manchen Landstrichen Nordostitaliens und in der nördlichen Hälfte der Balkan- halbinsel ausgebreitet. Infolge der keltischen Wanderungen und des Ausgreifens der Römer bis an den Fuß der Alpen war ihnen jedoch im Westteil dieses Raumes großenteils ihre Volkseigenart verloren gegangen. Sich diese zu bewahren, war ihnen nur in Nord- und Mitteltirol, einigermaßen auch in der Ostschweiz, in Oberschwaben und am Nordrand der bayrisch-tirolischen Kalkalpen gelungen. So verbanden gegen das Ende der La Tènezeit Blut, Sprache und Gesittung die Bewohner des Burggrafenamtes, wie die des Eisacktals und Nordtirols, im wesentlichen nur mit den Leuten, die damals in Teilen des nördlichen Alpenvorlandes und des alpinen Rheintals hausten. Bevölkert war das Mündungsgebiet der Passer während der Urzeit selbst in seinem Kernstück anscheinend nur recht schwach. Sind hier doch, wenn man von den Fundplätzen auf dem Segenbüchel, dem Grumserbüchel und dem Sinnichkopf absieht, weit weniger Gegenstände vorrömischen Ursprungs zutage gekommen, als in anderen Talschaften Tirols15). Diese Erscheinung, die auch in der neuesten Zusammenstellung der in Südtirol gemachten Funde aus der Ur- und Römerzeit16) 12) Über das Volkstum der späteisenzeitlichen Bewohner Tirols zuletzt auf Grund des ein- schlägigen Schrifttums R. Heuberger, Rätien 1, S. 8 f., 18 f., 27, 32, 37, 309, derselbe, Tiroler Heimat, neue Folge 5, S. 42, 53 f. Gegen die Versuche I. Hopfners und J. Zösmairs, die eisen- zeitlichen Bewohner Nord- und Mitteltirols als Kelten zu erweisen, Menghin, Forschungen und Mitteilungen 9 (1912), S. 250-255 und ebenda 11 (1914), S. 61—63; vgl. auch A. Egger, Zeitschrift des Ferdinandeums, 3. Folge 57 (1913), S. 165 und Steinberger, Zeitschrift für Ortsnamenforschung 8, S. 259 f. 13) G. v. Merhart, Wiener prähistorische Zeitschrift 14 (1927), S. 90-95. 14) Über die Veneter und Illyrer u. a. P. Reinecke, Der bayerische Vorgeschichtsfreund 6 (1926), S. 31 f., N. Jokl-K. O. Reche in M. Eberts Reallexikon der Vorgeschichte 6 (1926), S. 33-50, v. Duhn-G. Herbig-Reche, ebenda 14 (1929), S. 114-118. 15) Menghin, Mitteilungen der anthropologischen Gesellschaft in Wien 41, S. 307. 16) P. Laviosa(-Zambotti), Edizione archeologica della carta d'Italia al 100000, Fol. IV (Passo di Resia), Fol. V (Merano), Fol. 9 (Monte Cevedale), Fol. XV (Bolzano), Fol. 11 (Monte Marmolada), Fol. VI (Bressanone), Fol. VI bis (Passo del Brennero), Fol. VII (Monguelfo), Fol. VII bis (Vetta d'Italia) (Firenze 1933/34); dazu A. Egger, Schlern 15 (1934), S. 287. Berichtigungen und Ergänzungen für das Meraner Becken gibt J. Schmoranzer, Schlern 15, S. 497-506.

10 zum Ausdruck kommt, kann wohl kaum auf Zufall beruhen. Sie läßt sich auch gewiß nicht mit einem Hinweis darauf erklären, daß während der letzten Jahre in der Gegend von Meran den Überresten der Urzeit zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden sei17). Hätte doch den Augen der vor dem Weltkrieg tätigen Forscher, namentlich denen 0. Menghins, hier nicht mehr entgehen können, als anderwärts. Die späteisenzeitlichen Burggräfler hausten, wie ihre Vorfahren in Wallburgen. Von der Beschaffenheit dieser Wohngrubendörfer allerbescheidensten Umfangs, die durch ihre Höhenlage sowie durch Umwallungen, etwa auch durch gleichartige Seitenwerke, geschützt waren, geben die gegen Ende der Bronze- bzw. zu Beginn der Hallstattzeit entstandenen Siedlungen auf dem Sinnichkopf und auf dem Grumserbüchel18) einen Begriff. Das Alltagsleben der Leute, die in diesen Wohnplätzen hausten, hat man sich ähnlich vorzustellen, wie das anderer nicht zu den Kelten gehöriger Bewohner von Gebirgstalschaften. Im Anschluß an Poseidonios (um 135—50 v. Chr.) oder auf Grund von Nachrichten späterer Gewährsmänner19) erzählt ein Zeitgenosse des Augustus, der Geograph Strabon (4, 206), in den Alpen gebe es zwar überall bebautes Land, die höher gelegenen Striche seien aber nicht anbaufähig und die Not zwinge daher die Eingeborenen dazu, die Bewohner der (oberitalienischen) Ebene auszu- plündern oder sich von ihnen gegen Harz, Pech, Kienholz, Wachs, Honig und Käse — Dinge, die sie (die Gebirgsbewohner) in reicher Menge hätten — Lebensmittel und sonstige Waren einzuhandeln. Diese allgemein gehaltenen Worte sowie Angaben älterer römischer Schriftsteller über das Wirtschaftsleben des Alpengebietes20) beleuchten auch die Verhältnisse, die im letzten vorchristlichen Jahrhundert im Burggrafenamt herrschten. Ausdehnung und Bedeutung des Ackerbaus, der damals hier wie sonst im Innern der Alpen betrieben wurde, sind nach diesen Zeugnissen nicht hoch einzuschätzen. Ob die Anlegung jener verhältnismäßig breiten Terrassen- äcker, die sich in den bereits in vordeutscher Zeit besiedelten Teilen Tirols und der Ostschweiz an Hängen feststellen lassen, schon in die vorgeschichtliche Zeit gesetzt werden darf21), erscheint unter diesen Umständen als fraglich. Da das Mündungs- gebiet der Passer dem Siedlungsbereich der als Räter bezeichneten Stämme nicht ferne lag und möglicherweise als zu ihm gehörig betrachtet worden sein kann (s. o. S. 7 f.), so könnte an sich in jenem Landstrich der hochwertige Pflug benützt worden sein, der nach Plinius (Naturalis historia 18, 172) bei den Rätern erfunden

17) Wie Schmoranzer, Schlern 15, S. 506 meint. 18) Über diese Wallburgen u. a. Menghin, Mitteilungen der anthropologischen Gesellschaft in Wien 41, S. 298—302, Laviosa, Carta 2, S. 49 (hier das Alter der Grumserbüchelsiedlung für unsicher erklärt und die Sinnichkopfwallburg in die La Tènezeit gesetzt). 19) Über die Quellen, auf denen Strabon bei seinen Mitteilungen über die Alpenvölker fußte, U. Kahrstedt, Göttinger Nachrichten aus dem Jahre 1927 (1928), S. 1 f., 24. Dazu Heuberger, Tiroler Heimat, neue Folge 5, S. 35, A. 3, S. 38 f., A. 11 a, 13 c. 20) Zusammengestellt u. a.von F. Ramsauer, Zeitschrift des Deutschen und österreichischen Alpenvereins 32 (1901), S. 61 f. 21) So H. Wopfner, Veröffentlichungen des Museum Ferdinandeum 12 (1932), S. 8 f.

11 worden sein soll. Trotzdem ist wohl nicht anzunehmen, daß es sich so verhielt. Denn Plinius folgte in seiner Naturgeschichte den verschiedensten Quellen22), wir wissen nicht, ob sein Gewährsmann unter den Katern, denen er die Erfindung jenes Pfluges zuschrieb, Bewohner alpiner Talschaften, in der Nähe von Comum und Verona ansässige Leute oder die Bevölkerung des heutigen Oberschwaben verstand, und wenn das in Hede stehende Ackergerät wirklich ein nur im flachen Gelände brauchbarer Räderpflug war23), so wird man zu vermuten haben, daß es nicht inner- sondern außerhalb der Alpen erfunden bzw. verwendet worden sei24). In der Tat bedienten sich denn auch wahrscheinlich sowohl Kelten wie Germanen während der La Tènezeit des schweren, mit Zugtieren bespannten Räderpfluges mit eiserner Schar25). Auch der Weinbau spielte während der Urzeit im Burg- grafenamt, wie auch im südlichen deutschen Etschland und im , gewiß noch keine nennenswerte Rolle. Er wurde hier anscheinend zwar bereits damals betrieben, wie sich aus Überetscher Funden ergibt 26). Allein daß der schon von Cato, Augustus und dessen Zeitgenossen hochgeschätzte rätische Wein, der vor allem in der Umgebung von Verona und daneben auch in jener von Comum (Como) zuhause war (TH. 5,44 f., A. 21), auch bei Meran und Bozen wuchs, ist doch quellen- mäßig nicht erweisbar und erscheint als kaum glaublich, wenn man sich daran er- innert, daß der Wein unter den Naturerzeugnissen fehlte, die die Alpenbewohner nach Strabon (4, 206) im Tauschverkehr mit der Bevölkerung Oberitaliens verwendeten. Daß die späteisenzeitlichen Alpenbewohner nicht bloß von Jagd und Ackerbau, son- dern vor allem auch von der Viehzucht lebten, ist genugsam bezeugt27). Daß sie und ihre Vorfahren schon Almwirtschaft betrieben hätten, wird jedoch nur von dem Bota- niker A. Kerner v. Marilaun28) und von dem von der neuerenWirtschaftsgeschichte aus- gehenden Historiker H. Wopfner29) vermöge mittelbarer Erwägungen angenommen, von den Urgeschichtsforschern dagegen fast ausnahmslos bestritten30). Nur R. Pittioni hält es auf Grund der in Höhenlagen gemachten Funde für ziemlich sicher, daß man in den Alpen seit der Bronzezeit die Hochweiden — wenn auch durchaus noch nicht systematisch — genutzt habe und glaubt, die Erwähnung rätischen Käses,

22) Über die Naturalis historia des älteren Plinius vgl. M. Schanz, Geschichte der römischen Literatur3 (I. v. Müllers Handbuch der klassischen Altertumswissenschaft 8) 2. Teil, 2. Hälfte (1913), S. 481-489. 23) So zuletzt Stähelin, Schweiz2, S. 15 f., A. 3 und Wopfner, Veröffentlichungen des Museum Ferdinandeum 12, S. 9. 24) Ähnlich W. Oechsli, Mitteilungen der antiquarischen Gesellschaft in Zürich 26 (1903), S. 54. 25) L. Schmidt, Geschichte der deutschen Stämme. Die Ostgermanen2 (1934), S. 73. 26) F. Tumler-K. M. Mayr, Schlernschriften 4 (1924), S. 6 f. Für das folgende vgl. meinen demnächst im Schlern erscheinenden Aufsatz „Räterwein und Etschland". 27) Vgl. z. B. Ramsauer, Zeitschrift des Alpenvereins 32, S. 61. 28) Gesammelte Werke (herausgegeben von K. Mahler), S. 122. 29) Tiroler Heimat, neue Folge 4, S. 87 f., Geographischer Jahresbericht aus Österreich 16 (1933), S. 134-136. 30) Vgl. R. Pittioni, Mitteilungen der geographischen Gesellschaft in Wien 74 (1931), S. 109, Wopfner, Geographischer Jahresbericht aus Österreich 16, S. 136, A. 11.

12 rätischer Viehherden und der Geschicklichkeit der Räter in der Tierwartung bei frühkaiserzeitlichen Schriftstellern mache einigermaßen wahrscheinlich, daß während der La Tènezeit in jenem Gebirge bereits wirkliche Almwirtschaft geübt worden sei31); übrigens, ohne sich zu fragen, ob diese Quellenaussagen nicht etwa großenteils auf die Bevölkerung des außeralpinen Rätien zu beziehen sind. Dies alles muß sich vergegenwärtigen, wer sich ein Bild von den Verhältnissen des Burggrafenamtes im letzten vorchristlichen Jahrhundert machen will. Die Bewohner dieses Landstrichs werden jedenfalls auch oft genug an den eben erwähnten, nicht nur durch Strabon, sondern auch durch andere Schriftsteller des Altertums bezeugten Kriegs- und Plünderungsfahrten der Alpenvölker ins Potiefland (R. 1, 51) teilgenommen und dabei dieselbe Wildheit an den Tag gelegt haben, wie ihre Genossen. Mit dem italischen Süden standen sie aber auch durch friedliche Handelsbeziehungen in Verbindung. Diese beschränkten sich nicht bloß auf das Eintauschen von Lebensmitteln und sonstigen Dingen zum Eigenbedarf, das Strabon (4, 206) schildert. Wanderten doch schon seit der Bronzezeit Waren verschiedenster Art im Tauschverkehr das Etschtal aufwärts sowie über das Reschen- scheideck weiter und dieser Handelsverkehr spielte sogar bis zum Einbruch der Kelten in Italien (5. Jahrhundert v. Chr.) eine nicht unwichtige Rolle32). Daneben fand während der vorgeschichtlichen Eisenzeit in den mittleren Alpen und namentlich in deren südlichen Talschaften auch in ost-westlicher Richtung ein Austausch von Waren statt33). Er besaß aber, schon weil auf diesem Weg nur Gebiete annähernd gleicher Gesittung mit einander in Verbindung traten, nicht dieselbe Bedeutung, wie der Handelsverkehr auf den vom Potiefland nordwärts führenden Pfaden. Dank der friedlichen und kriegerischen Beziehungen zu Oberitalien lernte man übrigens im Mündungsgebiet der Passer wahrscheinlich schon während der La Tène- zeit den Gebrauch der Schrift kennen. Fanden sich doch in der näheren und weiteren Umgebung von Bozen mehrere in einem nordetruskischen Alphabet und vermutlich teils in keltischer, teils in illyrischer Sprache geschriebene Inschriften (TH. 5, 54) und ein derartig beschrifteter Gegenstand kam sogar nicht allzuweit von der Passer- mündung zutage. Es ist dies ein bei Tisens entdecktes Bronzelappenbeil mit einer kurzen, wohl einen Eigennamen ausdrückenden Inschrift, von dem sich allerdings nicht sagen läßt, ob es in der unmittelbaren Nähe seines Fundortes gefertigt worden ist34). Welchen himmlischen Wesen die späteisenzeitliche Bevölkerung der Meraner Gegend diente und wie sie dies tat, wissen wir nicht. Sicher scheint nur zu sein,

31) Mitteilungen der geographischen Gesellschaft in Wien 74, S. 109 — 113. 32) Zu den vorgeschichtlichen Handelswegen über Reschenscheideck und Brenner u. a. Kahrstedt, Göttinger Nachrichten 1927, S. 17 — 19, L. Franz, Vorgeschichtliches Leben in den Alpen (1929), S. 23, G. v. Merhart, Schumacherfestschrift (1930), S. 118 f. 33) Dazu zuletzt H. Conrad — v. Merhart, Engiadina e Vnuost (SA. aus Anzeiger für schwei- zerische Altertumskunde 1, 1934), S. 9—11. 34) F. v. Wieser, Mitteilungen der anthropologischen Gesellschaft in Wien 19 (1889), S. [172], Zeitschrift des Ferdinandeums 3. Folge 35 (1891), S. XIII, XXX.

13 daß sie nicht jenen Gott der Urzeit verehrte, der nachmals dem römischen Saturnus gleichgesetzt wurde. Denn Inschriften, die diesen Gott nennen, haben sich zwar im Nonsberg und in der Gegend von Trient gefunden35), sie fehlen aber im Burg- grafenamt, wie auch in den anderen Alpenlandschaften, in denen während der Urzeit Veneto-Illyrer hausten. Daß im Mündungsgebiet der Passer auch keine jener Gott- heiten verehrt worden sein kann, an die die Kelten glaubten, versteht sich von selbst. In der Tat haben sich denn auch hier im Gegensatz zur Gegend von Bozen und Trient sowie zum Nonsberg keine Überreste jener Thronsessel gefunden, die anscheinend auf keltischem oder keltisch beeinflußten Gebiet zu gottesdienstlichen Zwecken verwendet wurden36). Daß endlich die späteisenzeitlichen Burggräfler gleich den in anderen Alpentalschaften ansässigen Leuten eine Art von Priesterschaft besaßen, darf als wahrscheinlich gelten. Erzählt doch Strabon (4, 206) nach Poseidonios oder einem andern Gewährsmann, daß jene Kriegerscharen, die so oft aus den Alpen hervorbrachen, um in den Städten und Dörfern des Potieflandes zu plündern und zu morden, von Wahrsagern begleitet zu werden pflegten. Wie schon vorher, so war auch in der La Tènezeit der religiöse Mittelpunkt des Burggrafenamtes gewiß der Hoch- oder Segenbüchel, die höchste Erhebung des Küchelberges. Zeigen doch Funde, die man auf dieser Höhe gemacht hat, daß hier von der Späthallstatt- bis zur Römerzeit eine wichtige Opferstätte bestand, die als ein Gauheiligtum aufgefaßt werden darf37). Bei und zwar in der Nähe jener Stelle, an der nachmals eine Römerstraße die Etsch überschritt (s. u. S. 103), kamen ferner zwei ligurisch beeinflußte Menhire ans Licht38), die wohl beweisen, daß sich schon in der Bronzezeit in der Nachbarschaft des gewöhnlich benützten Flußüberganges ein Heiligtum nebst einer Grabanlage befand. Hier könnte man also vielleicht auch noch zur La Tènezeit himmlischen Wesen gedient haben. Endlich gab es damals vielleicht auch in dem einsamen Zieltal, das in der Nähe der Töll von Norden her das Etschtal erreicht, eine Örtlichkeit, die in der Ur- und Römerzeit der Verehrung einer Gottheit geweiht war und weltabgeschiedenen Wallfahrts- orten des Mittelalters und der Neuzeit an die Seite gestellt werden könnte. Denn hier wurde der Sockel eines Dianaaltars entdeckt, der laut seiner Inschrift (CIL. 5,

35) Mommsen, Hermes 4 (1869), S. 101 f., derselbe, Gesammelte Schriften 4 (1906), S.293f., H. Nissen, Italische Landeskunde 2 (1902), S. 209. Zum Saturndienst im Nonsberg u. a. J. Jung, Römer und Romanen in den Donauländern2 (1887), S. 163, K. M. Mayr, Schlern 9 (1928), S. 87. 36) Über diese Thronsessel zuletzt K. M. Mayr, (Bozner) Jahrbuch für Geschichte, Kultur und Kunst 1931-1934 (1934), S. 294—305. 37) Menghin, Mitteilungen der anthropologischen Gesellschaft in Wien 41, S. 302—307; zu den Funden vom Segenbüchel vgl. auch v. Merhart, Wiener prähistorische Zeitschrift 14, S. 90-95. 88) P. Perkmann, Dolomiten vom 17. 2. 1932 (vgl. auch Dolomiten vom 20. 2. 1932 und K. M. Mayr, Schlern 14, 1933, S. 140, A. 2), Laviosa-Zambotti, Studi Trentini di scienze storiche 14 (1933), 12, S. 250-253. Irrig setzt Laviosa, Carta 1, S. 11 die Fundstelle der beiden Menhire nördlich von der Töll an (anstatt im untern Teil des Schuttkegels des Töll- grabens).

14 Nr. 5090, IBR. Nr. 68)39) 217 oder 246 n. Chr. von Aetetus Augustorum nostrorum libertus praepositus stationi Maiensi quadragesimae Galliarum zu Ehren des Kaiser- hauses (in honorem domus divinae)40) errichtet worden war, und unter der Diana verbirgt sich wohl eine ihr gleichgesetzte altheimische Göttin, deren Dienst mehr oder weniger römische Formen angenommen hatte, wie sich dies ganz allgemein in den Provinzen des Römerreiches beobachten läßt41). Es ist freilich auch möglich, daß Aetetus als Landfremder beabsichtigt hat, mit seinem Weihegeschenk der wirk- lichen römischen Diana, der griechischen Artemis oder einer mit ihr vermengten weiblichen Gottheit des Morgenlandes zu huldigen. Auch könnte das Denkmal etwa erst nachträglich — nach dem Sieg des Christentums — in die Einöde verschleppt worden sein, in der es später wieder aufgefunden worden ist, und ursprünglich an der Etschtaler Römerstraße gestanden haben und zwar am ehesten an der Aus- mündung des Zieltales, also in der Gegend der Töll oder in dem Römerort Maies an der Passer, von dem noch die Rede sein wird. Wie der Stammesname der späteisenzeitlichen Burggräfler lautete, ist fraglich. Vielleicht schloß das Siedlungsgebiet der Venostes42), die laut des 7—6 v. Chr. bei La Turbia an der ligurischen Küste errichteten tropaeum Alpium (Plinius, Naturalis historia 3,136 f., CIL. 5, Nr. 7817) zu den unter Augustus von den Römern unterworfenen Alpenvölkern gehörten und die dem von ihnen bewohnten Vinschgau ihren Namen vererbten43), auch noch die Meraner Gegend in sich44). Mittelbare Erwägungen sprechen allerdings eher gegen, als für die Annahme, daß dies der Fall gewesen sei. Die Gaue urzeitlicher Alpenstämme schieden sich selbstverständlich, wenn möglich, im Bereich naturgegebener Siedlungs- und Verkehrsschranken. So reichte das Gebiet der gleichfalls im tropaeum Alpium genannten Isarci, die im mittleren und oberen Eisacktal hausten45), aller Wahrscheinlichkeit nach gegen Süden zu nicht über die Gegend des Kuntersweges hinaus (R. 1, 32—34). Die Tat- sache, daß nicht bloß auf dem Ritten, sondern auch westlich sowie südwestlich von Bozen, in Moritzing, in Stadihof, im Leuchtenburger Forst und auf der Teufels- lammer an der Mendelstraße urzeitliche Gegenstände zutage gekommen sind, die

39) Dazu zuletzt Heuberger, Schlern 13 (1932), S. 200 f. Abbildungen der Inschrift ebenda und bei Heuberger, Rätien 1, Tafel 2. Abbildung des ganzen Altarsockels bei Mazegger, Römerfunde3 (Titelbild) und bei Vollmer, Inscriptiones Baivariae Romanae, Tafel 10. 40) Früher deutete man diesen Ausdruck irrigerweise auf einen von Aetetus gestifteten Dianatempel; so noch Castelpietra, Merano Romana, S. 3, A. 1. 41) Vgl. G. Wissowa in Pauly-Wissowa, Realenzyklopädie 5 (1905), Sp. 337. 42) Über die Venostes u. a. Menghin, Schlern 1 (1920), S. 305—309, Heuberger, Rätien 1, S. 27—32; vgl. auch Conrad-v. Merhart, Engiadina e Vnuost (SA. aus Anzeiger für schwei- zerische Altertumskunde 1), S. 10 f. 43) Neueres Schrifttum zu den Namen der Venostes und des Vinschgau verzeichnet von Stemberger, Zeitschrift für Ortsnamenforschung 8, S. 259. Nicht ernst zu nehmen ist es, wenn I. Hopfner, Schlern 12 (1931), S. 238 die Venostes am Oberlauf des Noce sucht und den Namen Vinschgau als finis terrae deutet. 44) So Menghin, Mitteilungen der anthropologischen Gesellschaft in Wien 41, S. 298—302, 305, derselbe, Schlern 1, S. 307. 45) Über die Isarci u. a. Heuberger, Rätien 1, S. 32—36, derselbe, Schlern 15, S. 302 f.

15 den eisacktalischen Funden von Melaun gleichen, rechtfertigt wohl kaum die An- nahme, daß das Siedlungsgebiet der Isarci auch noch das Bozner Becken in sich geschlossen habe46). Denn Waren vom Melauner Gepräge wurden in dem ganzen von veneto-illyrischen Völkerschaften besiedelten Abschnitt der mittleren Alpen, wie auch in dessen Nachbarschaft gefunden: im Burggrafenamt, im Vinschgau, im Nonsberg, im mittleren und oberen tirolischen Inntal, im alpinen Eheintal und im Engadin47). Endeten also die Gaue vorgeschichtlicher Alpenstämme, wenn es die Umstände gestatteten, an Örtlichkeiten, die Siedlung und Verkehr erschwerten, so tat dies vermutlich auch das Gebiet der Venostes innerhalb des Etschtals. Im Bereich jenes Stückes dieser Talschaft, in dem die Passer mündet, ist nun eine natürliche Hindernislinie bloß durch die Töller Talstufe und die an diese anschließen- den seitlichen Hänge gegeben, in deren nördlichem vielleicht schon zur La Tènezeit der Töllgraben nicht viel weniger tief eingerissen war, als er dies heute ist. Denn diese Talstufe stellt sich dem Aufstieg vom Meraner Becken zu dem höher gelegenen Untervinschgau in den Weg, ihr ostwärts abfallender Hang ist noch heute, besonders in der unmittelbaren Nachbarschaft des Etschbettes, siedlungsleer und selbst auf dem vom Töllgraben durchschnittenen flacheren Gelände, über das man von Part- schins nach Algund niedersteigt, liegen gegenwärtig bloß die verstreuten Höfe, die den Weiler Plars bilden. Der obere Rand der in Rede stehenden Talstufe aber war gegen Westen zu noch in den Tagen des Augustus und später unzweifelhaft durch ausgedehntes sumpfiges Gelände geschützt, dem sich Striche von Urwald und über- murte Stellen angeschlossen haben mögen48). Lag doch westlich der durch die Aufschüttungen des Ziel- und des Töllbachs gebildeten Töller Talstufe bis hinüber zur Gegend von einst ein großer See, der während der von einer starken Klima Verschlechterung betroffenen Zeit von etwa 850 bis etwa 120 v. Chr. an Ausdehnung gewonnen haben und in der durch Abnahme der Feuchtigkeit gekenn- zeichneten Zeit von etwa 120 v. Chr. bis etwa 180 n. Chr.49) zu einer weitausgebreiteten Moorfläche geworden sein muß. Die Umgebung von Naturns und war ja noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts als versumpft und ungesund bekannt50). Bereich und Nachbarschaft der untersten großen Stufe des Etschtals waren also in ganz besonderer Weise dazu berufen, als Landmark zu dienen, wie sie dies denn auch nachmals während des Mittelalters — in kirchlicher Beziehung sogar noch in der Neuzeit — getan haben ( s. u. S. 38). Hier war folglich jene Gegend, die sich am besten dazu eignete, die Grenze zwischen den Gauen urzeitlicher Völkerschaften darzustellen, die zweifellos nicht als linear gestaltet, sondern als Ödlandstreifen

46) Wie K. M. Mayr, Schlern 14 (1933), S. 140 meint. 47) v. Merhart, Wiener prähistorische Zeitschrift 14, S. 90—97, Conrad-v. Merhart, Engia- dina e Vnuost, S. 6—10. 48) Das Folgende nach freundlicher Mitteilung meines Kollegen Prof. R. v. Klebelsberg, dem ich für seine Auskunft auch an dieser Stelle bestens danke. 49) Über die Klimaverhältnisse dieser Zeiten H. Garns und R. Nordhagen, Mitteilungen der geographischen Gesellschaft in München 16 (1923), S. 303—306. 50) J. J. Staffler, Das deutsche Tirol und Vorarlberg 2 (1847), S. 671 f.

16 zu denken ist. Die Ausdehnung vorgeschichtlicher Stammesgebiete änderte sich allerdings bekanntlich oft genug. Auch gab es unterhalb der Töller Talstufe in dem einst vielfach versumpften Etschtal noch manche Stellen, an denen eine urzeitliche Stammeslandmark mit Vorteil festgelegt werden konnte. Solche wurden etwa durch die häufigen Überschwemmungen und Übermurungen ausgesetzten Gegenden an den Unterläufen der Passer, der Falschauer und anderer seitlicher Zuflüsse der Etsch gebildet. Immerhin hat jedoch auf Grund der eben vorgebrachten Erwägungen die Annahme mehr für sich, daß der Siedlungsbereich der Venostes — wenn auch vielleicht nicht immer — bei der Töller Talstufe geendigt habe. Dafür, daß dies im letzten vorchristlichen Jahrhundert der Fall war, spricht auch der Umstand, daß die Römer anscheinend ihr Machtgebiet bis hieher vorgeschoben hatten, ehe sie an die Unterjochung der Venostes gingen (s. u. S. 19 f); wenn auch selbstverständlich mit der Möglichkeit zu rechnen ist, daß zunächst eine im Meraner Becken ansässige Gruppe dieses Stammes, der Kern desselben aber erst später unterworfen worden sein könnte. Ob der venostische Gau damals und vorher wirklich nur bis in die Gegend der Töll reichte, dürfte sich freilich selbst mit Hilfe der Spatenforschung kaum feststellen lassen. War es aber der Fall, dann bleibt immer noch die Möglich- keit offen, daß die nächst der Passermündung ansässige Völkerschaft aus einer Ab- teilung der Venostes hervorgegangen sein könnte, wie die im Oberwallis hausenden Uberi aus einer Gruppe der einst im heutigen Kanton Tessin wohnhaften Lepontii51). Gehörten die Bewohner des Burggrafenamtes zur Zeit, als die Römer in ihr Land einrückten, nicht oder nicht mehr zu den im Vinschgau hausenden Stamm, dann wissen wir nicht, wie sie sich nannten. Ihr Name kann verschollen sein. Vielleicht sind diese Leute aber auch den Sinduni oder den Tulliasses gleichzusetzen. Diese zwei Völkerschaften, über deren Wohnsitze wir nicht unterrichtet sind, erscheinen nämlich neben den im Nonsberg ansässigen Anauni52) in einem inschriftlich über- lieferten Edikt des Kaisers Claudius vom 15. März 46 n. Chr. (CIL. 5, Nr. 5050)53). Dieser Erlaß erklärt aber, gestützt auf einen Bericht kaiserlicher Beauftragter, auf Grund dessen auch Streitigkeiten zwischen den im Bergell beheimateten Bergalei und der Stadt Comum (Como) geschlichtet werden, daß den Anauni, Sinduni und Tulliasses mit Rücksicht auf deren vielfache enge Beziehungen zur Einwohnerschaft von Tridentum gnadenweise das römische Bürgerrecht verliehen werde, das sie sich angemaßt hatten. Sinduni und Tulliasses sind mithin in der weiteren Umgebung von Tridentum sowie in der Nähe des Nonsbergs zu suchen. Andrerseits braucht man sich ihre Heimat nicht auf Grund der Voraussetzung, die kaiserlichen Beauf- tragten seien vom Bergell oder von Comum aus über den Tonalepaß nach dem

51) Über die Uberi J. Heierli, Urgeschichte der Schweiz (1901), S. 326, 435, Stähelin, Schweiz2, S. 32, 78, A. 4. 52) Über die Anauni, Sinduni und Tulliasses zuletzt R. v. Scala, Zeitschrift für die öster- reichischen Gymnasien 67 (1916), S. 7, Heuberger, Rätien 1, S. 17 f., Solmi, Appunti, S. 9—13. 53) Über dieses Edikt u. a. Mommsen, Hermes 4, S. 99—131, derselbe, Gesammelte Schriften 4, S. 291—311, Solmi, Appunti, S. 3-16.

2 17 Nonsberg gereist, im Westen der genannten Talschaft zu denken54). Denn wir wissen nicht, ob diese Männer wirklich diesen Weg einschlugen, und selbst, wenn sie es taten, so können sie vom Nonsberg aus auch das diesem unmittelbar benachbarte Burg- grafenamt aufgesucht haben, wofern sie dort dienstlich zu tun hatten. In Betracht zu ziehen ist eine Gleichsetzung der Bewohner dieses Landstrichs mit den Sinduni oder den Tulliasses — bei der es sich selbstverständlich um nicht mehr, als um eine Möglichkeit handelt — natürlich bloß unter der Voraussetzung, daß die Meraner Gegend im Altertum noch zu jenem Verwaltungsgebiet, in dem Tridentum lag, also zu Venetien gehörte. Dies dürfte aber der Fall gewesen sein (s. u. S. 38).

2. Die Einfügung des Burggrafenamtes und seiner Nachbargebiete in das Römerreich.

Die einzelnen Landschaften des Abendlandes traten in das helle Licht der Geschichte erst in dem Augenblick, in dem sie die Aufmerksamkeit der gesitteten Mittelmeerwelt auf sich zogen. Dies gilt auch für das Burggrafenamt und die ihm benachbarten Talschaften. Die frühesten, von der schriftlichen Überlieferung beleuchteten Vorgänge von Belang, die den Bereich der mittleren Alpen berührten, hingen bezeichnender Weise nicht mit der Ausbreitung des römischen Herrschafts- gebietes, sondern mit Wanderungen nordischer Völker zusammen. Im 5. vorchrist- lichen Jahrhundert breiteten sich die Kelten in der Poebene sowie im Osten Mittel- italiens aus. Die Römer erhielten nun Kunde davon, daß die keltischen Kenomanen damals auch in Tridentum eine Stadt gründeten (TH. 5, 45). Auch wollte man in der Mittelmeerwelt davon wissen, daß das Erscheinen der keltischen Schwärme im Potiefland daselbst ansässige Etrusker in die südlichen Talschaften der mittleren Alpen versprengt habe (TH. 5, 47—51). Dann durchzogen die germanischen Kimbern am Ende des 2. vorchristlichen Jahrhunderts zweimal das gewaltige Gebirge, das im Norden der Apenninenhalbinsel aufsteigt. Sie schlugen im Jahre 113 v. Chr. bei Noreia (in Kärnten oder im äußersten Süden Steiermarks) ein römisches Heer, wendeten sich hierauf — vielleicht auf dem Weg durch das Pustertal und über den Brenner — nach Gallien und drangen dann im Jahre 102 v. Chr. über diesen Paß unter Zurücklassung der ihnen verbündeten keltischen Tiguriner im Eisacktal nach Italien vor, um hier ein Jahr später in der Schlacht auf dem raudischen Feld (bei Vercelli) von Marius vernichtet zu werden (Sl. 14, 1933, 199—202, 489 f.). Auswirkungen dieses ersten machtvollen Auftretens der Germanen in der Geschichte mögen sich auch im Burggrafenamt fühlbar gemacht haben und das mittlere Alpen- gebiet war durch den Kimbernzug zum erstenmal, wenn auch nur leidend, in Be- ziehungen zu einem Ereignis von weltgeschichtlicher Tragweite gesetzt. Allein Wanderungen nordischer Völker konnten in einer Zeit, in der bereits Gesittung und staatliches Leben in der Mittelmeerwelt zu hoher Blüte gediehen waren, keine

54) Wie Solini, Appunti, S. 11 — 13 meint.

18 dauernden Folgen haben. So blieben die Meraner Gegend und die ihr benachbarten Landschaften noch lange außerhalb des eigentlichen geschichtlichen Lebens. Eine entscheidende Wendung hierin trat erst ein, als römische Heere im alpinen Fluß- gebiet der Etsch erschienen. Dazu kam es indes erst sehr spät. Denn auch nach der Ausbreitung der Herrschaft Roms über die ganze Apenninenhalbinsel und einen großen Teil des Mittelmeerraumes konnten die Stämme, die im Mündungsgebiet der Passer und anderwärts in den Alpen saßen, ihre Unabhängigkeit bewahren und das Potiefland nach Belieben brandschatzen. Erst in der letzten Zeit des rö- mischen Freistaates änderte sich dies einigermaßen und nach der Begründung des Prinzipats durch Augustus hatte es dann mit der Freiheit all dieser Völkerschaften ein Ende. Denn die Römer rafften sich nun dazu auf, die südlichen Ausfallstore der mittleren Alpen zu sperren, um dann noch einen Schritt weiterzugehen und nicht bloß das ganze, im Norden Italiens aufragende Gebirge, sondern auch dessen nörd- liches Vorland in ihre Gewalt zu bringen. Das tropaeum Alpium (Plinius, Naturalis historia 3, 136 f., CIL. 5, Nr. 7817), das die unter Augustus von den Römern bezwungenen Alpenvölker verzeichnet, nennt die Stämme, die in der Val Camonica, in der Val Trompia, im alpinen Fluß- gebiet des Tessins, des Rheins und des Inns, sowie im Vinschgau und im Eisacktal wohnten, nicht aber die südlichen Nachbarn dieser Völkerschaften. Wie ihre west- lichen und nördlichen Anrainer wurden mithin die Venostes und die Isarci erst unter Augustus von den Römern botmäßig gemacht, während dieses Los die süd- lichen Nachbarn dieser beiden Stämme, ebenso wie die Bewohner des Veltlins und des Bergells, schon vor der Aufrichtung des Prinzipats, also bereits vor dem Jahr 27 v. Chr. getroffen hatte (R. 1, 51 f.). Dem widerspricht es nicht, wenn Strabon (4, 204) im Anschluß an Poseidonios, vielleicht auch an einen anderen Gewährsmann, die wohl im Sarcatal hausenden Στόνοι (Stoeni)55) sowie die Tridentinoi (Tridentini) neben anderen Bergstämmen nennt und hinzufügt, diese und andere, von ihm teils schon vorher genannte, teils nicht näher bezeichnete Völkerschaften der Alpen seien durch Augustus unterworfen worden (R. 1, 225), zumal dieser Zusatz, der den ersten römischen Kaiser als Bezwinger sämtlicher Alpenvölker hinstellt, von einem Zeitgenossen dieses Herrschers stammt. Nun ist zu erwägen: Da die Römer die Isarci und die Venostes, deren Gaue wohl nicht bis in das Bozner und das Meraner Becken herabreichten (s. o. S. 15—17), erst später unterwarfen, als die Anauni und die sonstigen südlichen Nachbarn dieser Stämme, da sie ferner mit der zeitweiligen Vorschiebung ihres Machtbereiches im alpinen Flußgebiet der Etsch gewiß nicht in der offenen Weite des von diesem Fluß durchströmten Tales, sondern erst an naturgegebenen Verkehrs- und Bewegungsschranken Halt gemacht haben werden, wie sie in der weiteren Umgebung des Nonsbergs nur durch die Töller Talstufe und die Enge des Kunterswegs gegeben waren, und da endlich an denselben Stellen die Nordgrenze des kaiserzeitlichen Venetien die Täler der Etsch und des Eisacks

55) Über die Stoeni zuletzt Heuberger, Rätien 1, S. 17, 307, derselbe, Tiroler Heimat, neue Folge 5, S. 42, 45.

19 gequert haben dürfte (s. u. S. 31, 38), so steht zu vermuten, daß diese Landmark jene Linie bezeichnete, bis zu der sich das römische Herrschaftsgebiet vor der Zeit des Augustus ausgedehnt hatte. Hält man sich all dies vor Augen, so darf man wohl vermuten, daß das Meraner Becken gleich der Gegend von Bozen und dem Sarcatal sowie dem Südteil des alpinen Flußgebietes der Etsch von den Römern schon zur Zeit besetzt worden sei, als noch ihr Freistaat bestand. Wann und wie dies geschah, ist unbekannt. Daß im Jahre 117 v. Chr. zu Rom ein Triumph über die Stoeni gefeiert wurde (R. 1, 307), beweist nicht, daß damals das Sarcatal in den Besitz der Römer übergegangen ist. Denn bekanntlich blieben in der Spätzeit des römischen Freistaates Alpenvölker, die als besiegt auf dem Kapitol ausgerufen worden waren, gewöhnlich im un- geschmälerten Genuß ihrer Unabhängigkeit und fähig, das Flachland im Norden des Po mit Raub- und Plünderungszügen heimzusuchen56). Wir wissen nicht einmal, ob sich das römische Herrschaftsgebiet mittel- oder unmittelbar bereits bis in das alpine Etschtal erstreckte, als der Konsul Quintus Lutatius Catulus im Jahre 102 v. Chr. den nach Italien vorrückenden Kimbern unterhalb von Tridentum den Weg zu verlegen suchte57); ebensowenig, ob dieser Ort bereits zu jenen transpadani- schen Städten gehörte, denen im Jahre 89 v. Chr. die lex Pompeia die ihnen benach- barten Völkerschaftsgaue angliederte (R. 1, 224 f.). Unbegründet ist die Meinung, Lucius Munatius Plancus habe bei einer Unternehmung gegen die Räter, auf Grund der er 36 v. Chr. triumphiert habe, den größten Teil des Trentino erobert und dem Saturnus zu Tridentum einen Tempel erbaut58). Gänzlich verfehlt ist es vollends, aus einer in der Zeit von 23—5 v. Chr. gemeißelten Inschrift (CIL. 5, Nr. 5027)59), die vom Dos Trento stammt (R. 1, 52), schließen zu wollen, Tridentum und seine Umgebung seien erst im Jahre 24 v. Chr.60) oder gar erst zwischen 23 v. Chr. und 5. v. Chr.61) von den Römern besetzt worden. Denn diese unvollständig erhaltene Inschrift berichtet nichts weiter, als daß der Legat Marcus Appuleius, der wohl eine Legion befehligte, im Auftrag des Augustus irgend ein Bauwerk, also etwa eine Stadtmauer, einen Tempel, vielleicht sogar nur einen Altar, habe errichten lassen, beweist mithin nichts weiter, als daß Tridentum zur Zeit, als sie gefertigt wurde, — möglicherweise schon seit langem — im Besitz der Römer war62); und

56) Mommsen, Römische Geschichte 29 (1903), S. 168, ebenda 55 (1904), S. 14. 57) Über den damaligen Zusammenstoß zwischen Kimbern und Römern u. a. Mommsen, Römische Geschichte 29, S. 185, W. Capelle, Die Germanen im Frühlicht der Geschichte (Das Erbe der Alten 15, 1928), S. 35 f. 58) Heuberger, Rätien 1, S. 225. Zur Tempelstiftung des Plancus jetzt Stähelin, Klio 27, (1934), S. 345. 59) Diese Inschrift gehört nicht ins Jahr 24 v. Chr. (so zuletzt Heuberger, Rätien 1, S. 52), sondern erst in die Zeit von 23—5 v. Chr. (Stähelin, Klio 27, S. 344) oder vielleicht gar erst in die Jahre 15—5 v. Chr. (H. Dessau, Geschichte der römischen Kaiserzeit 1, 1924, S. 412, A. 2). 60) So Cartellieri, Alpenstraßen, S. 49. 61) So jetzt Stähelin, Klio 27, S. 343. 62) Dessau, Geschichte der römischen Kaiserzeit 1, S. 412, A. 2, Heuberger, Rätien 1, S. 52-54,225.

20 daß das untere alpine Etschtal samt seinen Nebentälern schon vor dem Jahre 27 v. Chr. in römische Hand gekommen sein muß63), ergibt sich aus der Tatsache, daß Tridentini, Anauni, Sinduni und Tulliasses im tropaeum Alpium nicht genannt werden (s. o. S. 19). — Aus der Art und Weise hinwieder, in der Strabon der Tri- dentini gedenkt (s. o. S. 19), läßt sich lediglich — und zwar keineswegs mit Bestimmt- heit — der Schluß ziehen, daß diese Völkerschaft und die in ihrer Nähe ansässigen Stämme erst in spätfreistaatlicher Zeit von den Römern unterjocht worden sein müssen. Da viele wichtige Quellen des Altertums verloren gegangen sind, berechtigt endlich auch die Tatsache, daß uns keine Nachrichten über das Einrücken der Römer in die Südhälfte des alpinen Flußgebietes der Etsch vorliegen, nicht dazu, es als gewiß zu betrachten, daß sich dieser Vorgang seit dem Ende des 2. vorchristlichen Jahrhunderts allmählich und abschnittsweise in der Form vollzogen habe, daß die südlichen Nachbarn der Venostes und Isarci nach und nach durch gewaltsame Unterwerfung oder freiwillige Unterordnung römische Untertanen geworden seien64). Die Annahme, es habe sich so verhalten, hat allerdings manches für sich. Denn man weiß, daß in spätrepublikanischer Zeit gelegentlich Statthalter der Gallia transpadana, so der Prokonsul des Jahres 94 v. Chr., der bekannte Redner Lucius Licinius Crassus65), gegen Völkerschaften der südlichen Alpen kriegerische Unter- nehmungen durchführten, die zu unbedeutend waren, als daß daraufhin eine Sieges- feier hätte veranstaltet werden können, und es ist bezeichnend, daß die Triumphal- fasten keine solchen Feierlichkeiten zu Ehren der Bezwingung der Tridentini, Anauni, Sinduni und Tulliases verzeichnen. Die Spatenforschung beleuchtet das Vordringen der Römer in die Südhälfte des alpinen Flußgebietes der Etsch nur ganz allgemein. Sie zeigt zwar, daß die Wallburgen des Burggrafenamtes, der Bozner Gegend, des Nonsberg und des übrigen Südtirol etwa seit den Tagen des Augustus aufhörten, bewohnt zu werden, und daß dabei vielfach gewaltsame Zerstörung im Spiel war66). Allein zeitlich genau fest- legen lassen sich diese Vorgänge mit Hilfe der Bodenfunde nicht. Ebensowenig geben die Münzfunde einen näheren Aufschluß über Zeit und Art der Einverleibung des hier in Rede stehenden Raumes in das römische Staatsgebiet. Zwar weiß man, daß laut einer Zusammenstellung67), die trotz ihrer Ergänzungsbedürftigkeit ein zu Vergleichszwecken sehr brauchbares Bild gibt, bis zum Jahre 1878 auf dem Boden der damaligen österreichischen Kronländer Tirol und Vorarlberg außer etlichen Asses sogenannte Konsular- oder Familienmünzen (fast ausnahmslos in

63) Ähnlich auch Dessau, Geschichte der römischen Kaiserzeit 1, S. 412. 64) Dies wurde vielfach angenommen; vgl. E. Werunsky, Österreichische Reichs- und Rechtsgeschichte, Lieferung 8 (1917), S. 573, A. +++, Heuberger, Rätien 1, S. 52, A. 8. 65) Mommsen, Römische Geschichte 29, S. 168, N. Häpke bei Pauly-Wissowa, Real- enzyklopädie 13 (1926), Sp. 259. 66) Heuberger, Rätien 1, S. 58; ebenda, A. 54, das einschlägige Schrifttum. Über die vor- römische Höhensiedlung auf dem Burghügel von Castelfeder bei Neumarkt Reinecke, Ger- mania, 1926, S. 151 f. 67) Fl. Orgler, Zeitschrift des Ferdinandeums 3. Folge 22 (1878), S. 62-85.

21 Erz geprägt) an folgenden Orten zutagegekommen sind: in bzw. bei Ala, Algund, Andrian, Arco, Auer, Avio, Baselga (Pinè), Borghetto, Borgo (mit Marter), Bren- tonico, Brez, Buchholz, Castel Tesino, Cembra, Cles, Cloz, Condino, Denno, Eichholz (bei Salurn), St. Michael in Eppan, Flavon, Fondo, Girlan, Graun (bei Kurtatsch), ltter, Klausen, Klughammer (Hof am Kalterer See), Kollmann, Kurtatsch, Kurtinig, Lana (Oberlana), Latsch, Lavis, Leifers, Lengmoos, Lienz, Lizzana, Lizzanella, St. Lorenzen, Mais, Marani (nördlich Ala), Matarello, Mechel, Mezzotedesco, St. Michael an der Etsch, Montan, Nago, Nano, Nomi, Pante, Pergine, Pinzon, Pressano, Prissian, Rabbi, Revò, Riva, S. Rocco (bei Trient), Rocchetta (bei Mezo- lombardo), Romallo, Rovereto, Rumo, Salurn, Sarnonico, , Schönberg, Serravalle, St. Siegmund (im Pustertal), Stenico, Taio, Tartsch, Tassullo, Tavon, Telve, Terlan, Tione, Torbole, Tramin, Tret, Trient, Verla, Vervò, Vezzano, Viers (bei Klausen), Vigo (im Nonsberg und andere Orte gleichen Namens), Vill (bei Neumarkt), Volders, Wilten, S. Zeno (Sanzeno), Bregenz, Götzis. Allein Römer- münzen gelangten im Handelsverkehr auch über das römische Reichsgebiet hinaus. Dies lehrt gerade die eben gebrachte Zusammenstellung; ebenso der Umstand, daß in Trient älteres römisches Schwergeld gefunden wurde68). Auch wurden die sogenannten Konsularmünzen noch unter Augustus — in Silber bis 15 v. Chr. und in Erz bis 12 v. Chr. — geprägt. Zudem lassen sie sich im Einzelfall nur mittels sachkundiger Untersuchung jedes Stückes datieren69). Die räumliche Verteilung der Fundorte von Konsularmünzen kann also nicht als Zeugnis dafür genommen werden, daß die Römer der freistaatlichen Zeit früher und nachhaltiger im Trentino, als im Burggrafenamt und in dessen Nachbarschaft Fuß gefaßt haben. Sie beleuchtet vielmehr nur die Stärke der Handels- und Verkehrsbeziehungen, in denen die ver- schiedenen Gegenden zum Potiefland und zur Apenninenhalbinsel standen; wie übrigens auch der Umstand zeigt, daß sich die Fundorte der im Namen der Kaiser geschlagenen Münzen räumlich ganz ähnlich verteilen, wie die der älteren Prä- gungen70). Unter diesen Umständen läßt sich lediglich sagen, daß die Bewohner des Burg- grafenamtes wie die des Bozner Beckens wahrscheinlich nicht allzulange vor dem Untergang des Freistaates der Römer von diesen unterjocht worden sein dürften, was jedenfalls teils durch unmittelbare Anwendung von Waffengewalt, teils durch Androhung kriegerischer Maßnahmen erreicht worden sein wird. Es bleibt mithin sogar die Frage offen, ob diese Gebirgsbewohner ihre Freiheit vor, während oder erst nach jener Zeit verloren, in der Roms Herrschaft durch Pompeius bis an den Euphrat (65—63 v. Chr.) und durch Cäsar bis an den Rhein und den Ärmelkanal

68) Archäologisch-epigraphische Mitteilungen aus Österreich-Ungarn 5 (1881), S. 113, Cartellieri, Alpenstraßen, S. 47. Über das römische Münzwesen K. Regling bei A. Gercke- E. Norden, Einleitung in die Altertumswissenschaft 23 (1922), S. 102—113. 69) Freundliche Auskunft Herrn Dr. E. Rehs, Innsbruck. 70) Vgl. die Zusammenfassung der Zahl gefundener Römermünzen und der räumlichen Verteilung ihrer Fundorte bei Orgler, Zeitschrift des Ferdinandeums 3. Folge 22, S. 90, 95 sowie die beigegebene Karte der Fundorte.

22 (58—51 v. Chr.) ausgebreitet wurde. Gewiß ist dagegen, daß sich nach der Begrün- dung des römischen Kaisertums die Verhältnisse an der Nordmark Italiens völlig änderten und daß sich dadurch auch die Lage gänzlich wandelte, in der sich das Burggrafenamt seit kurzem — seit seiner Einfügung in das römische Staatsgebiet — befunden hatte. Unter Augustus ging man gegen die im Tal der Dora Baltea behei- mateten Salassi, gegen die vier Keltenstämme des Wallis und gegen die im heutigen Kanton Tessin ansässigen Lepontii vor (R. 1, 57, 226). Damit war für die Sicherung des Potieflandes gegen Einfälle der Alpenvölker das Nötigste getan. Allein, um hier ganze Arbeit zu machen, Norditalien von Truppen entblößen zu können und einen Aufmarschraum zum Angriff gegen die freien Germanen zu gewinnen, beabsichtigte Augustus, die Grenze seines Reiches bis an die obere Donau vorzuschieben. Die Verwirklichung dieses Gedankens wurde im Jahre 16 v. Chr. eingeleitet und im nächsten Jahre durchgeführt (R. 1, 57 f.). Im Jahre 16 v. Chr., das auch die Eingliederung der im östlichsten Abschnitt der Alpen wohnenden Norici in den römischen Staatsverband anbahnte, machte der Prokonsul von Illyricum, Publius Silvius Nerva nach Cassius Dio (54, 20) die Ouennioi und die in der Val Camonica beheimateten Kammonioi (Camunni) bot- mäßig (R. 1, 58, 226—228). Die Vermutung, mit den Ouennioiseie n die im Vorder- rheintal und in der Gegend von Curia (Chur) hausenden Vennonetes71) — etwa mit Einschluß der Venostes — gemeint72), begegnet sachlichen Bedenken (R. 1, 227). Noch viel weniger aber erscheint es als zulässig, in den Ouennioi die urzeitlichen Bewohner des alpinen Addatals zu sehen, die Vennones geheißen haben sollen73). Denn fürs erste sind unter den Ouennioi, die bei Strabon (4, 204) erscheinen, nicht die vorgeschichtlichen Veltliner74), sondern die Vennonetes zu verstehen75), die dieser Schriftsteller gleich darauf (Strabon 4, 206) ebenfalls als Ouennones anführt, und es gibt keine Quelle, in der neben den Vennonetes ein Stamm erscheint, der den Namen Vennones getragen hätte (R. 1, 204). Die Annahme, es habe eine als Vennones bezeichnete Völkerschaft gegeben und diese habe im Veltlin gewohnt, entbehrt demnach jeder quellenmäßigen Begründung. Wäre sie aber auch richtig, so dürfte man Dios Ouennioi trotzdem nicht im alpinen Addatal suchen. Denn daß dessen Bewohner nicht erst im Jahre 16 v. Chr., sondern schon vor dem Jahre 27 v. Chr. von den Römern unterworfen worden sein müssen, bezeugt einwandfrei der Umstand, daß im tropaeum Alpium weder die Bergalei noch die angeblichen Vennones genannt werden, die doch eine durchaus nicht unansehnliche Völkerschaft gewesen sein müßten, wenn sie im Veltlin gehaust hätten. Es bleibt also nichts anderes übrig,

71) Über diesen Stamm zuletzt Heuberger, Rätien 1, S. 21—23, 204 f., 307 f. 72) Dies wurde vielfach angenommen; vgl. Nagl bei Pauly-Wissowa, Realenzyklopädie 2. Reihe 3 (1927), Sp. 94. 73) So zuletzt Stähelin, Schweiz8, S. 18, A. 2, derselbe, Klio 27, S. 342 f. 74) Wie zuletzt Stähelin, Schweiz2, S. 18, A. 2 und Klio 27, S. 342 annimmt. 75) So ursprünglich auch Stähelin, Schweiz1 (1927), S. 16, A. 4 und nunmehr mit ein- gehender Begründung Heuberger, Rätien 1, S. 204 f. Dagegen ohne einen Versuch, das hier Vorgebrachte zu widerlegen, jetzt Stähelin, Klio 27, S. 342.

23 als anzunehmen, mit den Ouennioi seien die Venostes gemeint (E. 1, 227). Hiefür spricht auch die Tatsache, daß das tropaeum Alpium die Venostes neben die Camunni stellt, ebenso wie Cassius Dio die Ouennioi neben die Kammounioi, und daß es jene beiden Stämme vor den im Jahre 15 v. Chr. von den Römern bezwungenen Völker- schaften nennt (R. 1, 227). Dieser Umstand allein vermöchte allerdings gewiß nicht, mit unbedingter Sicherheit zu beweisen, daß unter Dios Ouennioi die Venostes zu verstehen sind76). Dies muß unumwunden zugegeben werden. Denn die Annahme, die Siegesinschrift zähle zwar nicht durchwegs (R. 1, 226), wohl aber in ihrem hier in Betracht kommenden Abschnitt die Alpenvölker nach der Reihenfolge ihrer Unterwerfung auf (R. 1, 2), ist zwar nur deshalb bestritten worden77), weil man irrigerweise glaubte, sie beziehe sich auf alle Teile dieser Quelle. Allein es muß andererseits eingeräumt werden, daß die Möglichkeit fehlt, jene Ansicht mit Be- stimmtheit als zutreffend zu erweisen. Sieht man aber auch von der Einreihung der Venostes im tropaeum Alpium ab, so darf dem Gesagten zufolge doch an der Glei- chung Ouennioi — Venostes78) und damit daran festgehalten werden, daß, wie die Camunni, so auch die Venostes im Jahre 16 v. Chr. durch Nerva unterjocht worden sind. Wurde mithin der Vinschgau wohl schon im Jahre 16 v. Chr. von den Römern besetzt, so machten diese dann im folgenden Jahr die obere Donau zur Nordgrenze ihres Herrschaftsgebietes. Die Vennonetes wurden angegriffen, des Augustus Stief- sohn Nero Claudius Drusus drang mit einem Heer von Süden aus durch die Tiroler Alpen nach der schwäbisch-bayrischen Hochebene vor und sein Bruder Tiberius Claudius Nero, der nachmalige Kaiser Tiberius, führte andere Streitkräfte von Westen her ebendahin. Diese Unternehmungen hatten den gewünschten Erfolg. Die Räter, die Veneto-Illyrer der Alpen und die Vindelici des nördlichen Alpen- vorlands waren von nun an römische Untertanen (R. 1, 59—64, 228—231, 310). Die gegen die Venostes gerichtete Unternehmung war gewiß von Tridentum aus ins Werk gesetzt worden (R. 1, 228). Sie hatte mithin das Burggrafenamt un- mittelbar berührt. Taten dies nun auch die Kriegshandlungen des Jahres 15 v. Chr., die nach Strabon (4, 206) im Laufe des Sommers begonnen und beendet wurden (R. 1, 60, A. 67) ? Auf Grund der Annahme, Drusus habe nach seinem Alpenfeldzug eine Straße bauen lassen, die von Altinum (Altino bei Venedig) über Feltria (Feltre), Tridentum, das Reschenscheideck und den Fernpaß nordwärts geführt habe, wurde neuerdings vermutet, das Heer, das der Prinz im Jahr 15 v. Chr. befehligte, sei auf demselben Weg vorgegangen79). Dieser Schluß ist jedoch unzulässig, da man Ursache hat, zu vermuten, daß die von des Augustus jüngerem Stiefsohn geführten Streitkräfte nicht über Feltria, sondern über Verona nach Tridentum vorgerückt 76) So mit Recht Stähelin, Klio 27, S. 342 f. 77) So zuletzt von Stähelin, Klio 27, S. 342. 78) Daß diese Gleichung bloß auf dem tropaeum Alpium beruhe, glaubt mit Unrecht Stähelin, Klio 27, S. 342 f. 79) E. Ritterling, Bonner Jahrbücher 114/115 (1906), S. 178. Danach Dessau, Geschichte der römischen Kaiserzeit 1, S. 412, Stähelin, Schweiz2, S. 99, 105, derselbe, Klio 27, S. 343.

24 sind (R. 1, 59, A. 63), und da sich überhaupt die Marschrichtung eines Heeres nach ganz anderen Voraussetzungen und Bedürfnissen richtet, als die Herstellung einer Straße (R. 1, 228). Dies gilt namentlich bei Verhältnissen, wie sie im Inneren eines mächtigen Gebirges herrschen. Dagegen ist eingewendet worden, es ließe sich auch anderwärts, nämlich in Britannien und im Flußgebiet des Oberrheins erkennen, daß sich Römerstraßen Wegen angeschlossen hätten, die vorher von angriffsweise vorgehenden Legionen benützt worden waren80). Allein in diesen Fällen ist ein derartiger Zusammenhang nur vermutet, nicht aber nachgewiesen worden81) und bei ihnen handelt es sich auch gar nicht um Hochgebirgsgelände. Ohne Zweifel wurde nun freilich auch in den Alpen mancher einst von vorrückenden Legionen begangene Paßpfad von den Römern später in eine Straße umgewandelt. Was beweist dies jedoch für den hier zur Erörterung stehenden Fall, in dem für den Vormarsch des von Drusus befehligten Heeres wie nachmals für die Führung der Straße zwischen zwei Gebirgsübergängen (Reschenscheideck und Brenner) und zwar auf Grund ganz verschiedener Vorbedingungen und Erfordernisse zu wählen war? Mit einem Hinweis auf angebliche oder wirkliche Analogiefälle läßt sich also ein Zusammenhang zwischen der „drusischen Straße" und dem im Jahr 15 v. Chr. von dem römischen Südheer eingeschlagenen Weg nicht wahrscheinlich machen. Wenn ferner Drusus auch wirklich den Reschenscheideck-Fernweg ausgebaut haben sollte, so wäre damit noch keineswegs erwiesen, daß er dasselbe nicht auch mit dem Brennerpfad getan hat (R. 1, 228, A. 4a). Vor allem wurden aber die von dem Prinzen angeord- neten Wegarbeiten, die erst nördlich von Tridentum begonnen haben können, in Wahrheit vielleicht gar nicht auf der Reschenscheideck-, sondern auf der Brenner- linie durchgeführt, wofern sie nicht etwa gar bloß in dem zwischen Trient und Bozen gelegenen Stück des Etschtals stattfanden (s. u. S. 83). Aus der „drusischen Straße" ist mithin überhaupt kein Aufschluß über den Verlauf des Alpenfeldzugs vom Jahre 15 v. Chr. zu gewinnen. Damit verliert aber zugleich auch die Vermutung, damals sei das römische Südheer über das Reschenscheideck und den Fernpaß nordwärts vorgerückt, ihre quellenmäßige Grundlage. Ist diese Annahme nun deshalb als irrig und die Meinung, die in Rede stehende Streitmacht habe ihren Weg durch die Brennerfurche genommen82), als richtig zu betrachten ? Diese Frage muß näher untersucht werden, zumal die letzterwähnte Auffassung neuerdings bestritten worden ist83). Ließ Drusus bei seinem Vormarsch oberhalb der Talfermündung jene Brücke über den schlagen, die nachmals der wohl im Bozner Stadtgebiet gelegenen Straßenstation Pons Drusi (K. 23, 49 f.) ihren Namen gab, so beabsichtigte er höchst wahrscheinlich, über den Ritten ins Eisacktal und nach dem Brenner vor- zudringen, nicht aber, sich dem Vinschgau und dem Reschenscheideck zuzuwenden

80) Stähelin, Klio 27, S. 343. 81) Stähelin, Klio 27, S. 343 deutet dies selbst an. 82) So zuletzt Cartellieri, Alpenstraßen, S. 49 f., Heuberger, Rätien 1, S. 59 f., 228 f. 83) Von Stähelin, Klio 27, S. 343.

25 (R. 1, 59 f., 228 f.). Dem wird kaum widersprechen84), wer die in Frage kommenden örtlichen Verhältnisse näher kennt. Denn ein Heer, dessen Marschziel in letzterer Richtung lag, hatte in dem engen Winkel zwischen Talfer und Eisack nichts zu tun und nicht den mindesten Grund, bei Bozen über den Eisack zu gehen, um unmittelbar darauf, von Angriffen der nahen Isarci bedroht, das breite, im Früh- sommer größtenteils mit reißendem Wasser gefüllte Bett der Talfer überschreiten zu müssen. Indes besondere Umstände, von denen wir keine Kunde zu besitzen brauchen, konnten etwa auch ein an sich befremdliches Verfahren als rätlich er- scheinen lassen. Ferner wissen wir in Wahrheit gar nicht sicher, ob der pons Drusi erst im Jahre 15 v. Chr. gebaut und vom Hauptteil des dem Drusus unterstellten Heeres überschritten wurde. Konnte doch etwa auch eine bereits vorhandene Brücke, um deren Besitz oder in deren Nähe damals gekämpft wurde, den Namen pons Drusi empfangen. Endlich läßt sich zwar mit großer Wahrscheinlichkeit dartun, daß die spätrömische Brennerstraße den Rastort Pons Drusi von Süden her über eine Eisackbrücke erreichte (s. u. S. 97). Die Folgerung, damit sei diese Brücke einwand- frei als der pons Drusi erwiesen85), läßt sich aber kaum aufrecht erhalten. Denn über das frühkaiserzeitliche Straßenbild der Bozner Gegend sind wir nicht unter- richtet (s. u. S. 99 f.). Auch muß der pons Drusi keineswegs einer nachmals für den Verkehr belangreichen Brücke gleichgesetzt werden; er kann vielmehr möglicher- weise auch einen Flußübergang vermittelt haben, der zwar um seiner selbst willen beim Alpenfeldzug des Jahres 15 v. Chr. wichtig oder infolge eines damals in seiner Nähe ausgefochtenen Kampfes denkwürdig wurde, in der Folge aber für den Durch- gangsverkehr keine Bedeutung hatte. Unter diesen Umständen und in Anbetracht der Tatsache, daß sich von der in Eede stehenden Brücke keine Spuren erhalten haben (s. u. S. 97), ist man demnach völlig im Ungewissen darüber, ob sie ein ansehnliches und dauernd verkehrswichtiges Bauwerk war und ob sie, wenn dies der Fall gewesen sein sollte, den Eisack bei Bozen, die Etsch bei Siegmundskron86) oder etwa die Talfer zwischen Bozen und Gries87) überspannte. Aus dem Vorhanden- sein des pons Drusi läßt sich somit nicht mit Sicherheit der Schluß ziehen, daß die von dem Prinzen befehligte Streitmacht den Brennerweg eingeschlagen hat88). Daß dies der Fall gewesen ist, scheint dagegen bezeugt zu sein durch das tropaeum Alpium, das unmittelbar vor den inntalischen Breuni89) und deren nördlichen Nachbarn die Isarci nennt, und durch die consolatio ad Liviam, die (Vers 385 f.) erfolgreicher Kämpfe des Drusus am Isargus (Isarcus, Eisack) gedenkt. Denn

84) Wie dies Stähelin, Klio 27, S. 343 tut. 85) So Heuberger, Klio 23 (1929), S. 49 f. Dazu zustimmend Stähelin, Klio 27, S. 343. 86) So u. a. Cartellieri, Alpenstraßen, S. 54, 69, 71 f., 118; vgl. dazu auch Heuberger, Klio 27, S. 321, A. 5. 87) An Überbrückung auch der Talfer durch Drusus denken u. a. J. Egger, Geschichte Tirols 1 (1872), S. 31 und K. Atz, Kunstgeschichte von Tirol und Vorarlberg8 (1909), S. 23 f. 88) So mit Recht, wenn auch mit anderer, m. E. nicht stichhaltiger Begründung Stähelin, Klio 27, S. 343. 89) Über diesen Stamm zuletzt Heuberger, Rätien 1, S. 39-47, 149—167, 212—215, 323.

26 nur wenn das von des Augustus jüngerem Stiefsohn geführte Heer durch die Brenner- furche vorging, stieß es früher auf die Isarci, als auf die Breuni und als Schauplatz eines am Eisack ausgefochtenen Treffens wird man sich selbstverständlich an sich eher das Tal dieses Flusses, als jenes Stück des Etschtales zu denken haben, in dem der Eisack mündet (R. 1, 60, 228 f.). Dagegen wurde eingewendet, aus dem tropaeum Alpium lasse sich die Reihenfolge der Bezwingung der in ihm genannten Stämme nicht erschließen und man solle die Worte eines Dichters nicht pressen90). Erstere Behauptung ist nun zwar bisher noch nicht als richtig erwiesen worden (s. o. S. 24) und die eben gegebene Deutung von Vers 385 f. des Trostgedichtes ist doch wohl kaum als gezwungen zu bezeichnen. Allein zweifelsfreie Aufschlüsse über den Verlauf des Drususfeldzuges geben jene beiden Quellenstellen in der Tat nicht. Läßt es sich doch in Wahrheit nicht als unbedingt sicher erweisen, daß die Völkerschaften der mittleren Alpen im tropaeum Alpium gemäß der Reihenfolge ihrer Unterwerfung durch die Römer aufgezählt sind (s. o. S. 24), und selbst wenn es gelänge, diesen Nachweis zu führen, so wäre auch damit noch nicht allzuviel gewonnen. Denn die Isarci können vielleicht auch schon bei einem von ihnen unter- nommenen Vorstoß in die Bozner Gegend besiegt91) und deshalb in der Sieges- inschrift bereits vor den Breuni genannt worden sein. Wurde aber jenes Gefecht, das nach Cassius Dio (54, 22) in den Tridentinischen Bergen, also irgendwo in Süd- tirol stattfand (R. 1, 60) und das sehr unbedeutend gewesen sein muß, da Horaz (Carmina 4, 14, 10 f.) als ernsthafte Gegner des Drusus nur die Breuni und die Genauni, nicht aber die Isarci erwähnt, nicht im Tal, sondern im Mündungsgebiet des Eisacks geschlagen, so konnte der Verfasser des Trostgedichtes an jener Stelle, die dieses Treffen feiert, etwa der Wirkung halber, lieber statt des allgemein bekannten Athesis (Etsch) den Gebirgsfluß Isargus (Isarcus) nennen, von dem man in weiteren Kreisen Italiens erst anläßlich des Alpenfeldzugs des Jahres 15 v. Chr. zum erstenmal gehört hatte. Ob dies alles sehr wahrscheinlich ist, mag dahingestellt bleiben. Immerhin hegen aber hier Möglichkeiten vor, die nicht außer Acht gelassen werden dürfen, zumal der Name des pons Drusi, wie schon bemerkt, an ein in der Nähe von Bozen geliefertes Treffen erinnern könnte. Auch das tropaeum Alpium und die consolatio ad Liviam vermögen also nicht unwiderleglich zu bezeugen, daß Drusus mit seinen Truppen durch die Brennerfurche nordwärts vorrückte. Wie ist unter diesen Umständen aber nun die Frage zu beantworten, ob das römische Südheer im Jahre 15 v. Chr. bei seinem Marsch durch die Tiroler Alpen den Brennerpfad oder den Reschenscheideckweg benützte? In solcher Form ist diese Frage, wie sich bei kurzer Überlegung ergibt, überhaupt unrichtig gestellt. Nach Cassius Dio (54, 22) waren bei den von Tiberius und Drusus geleiteten Kriegs- handlungen jenes Jahres auch kleinere, von Unterführern befehligte Heeresabtei- lungen tätig. Läge aber dieses Schriftstellerzeugnis auch nicht vor, so müßte man doch auf jeden Fall annehmen, die von Drusus geführte Streitmacht sei nicht ge-

90) Stähelin, Klio 27, S. 343. 91) So denkt sich z. B. Egger, Geschichte Tirols 1, S. 30 f. die Sache.

27 schlossen vom Etschtal aus nordwärts vorgerückt (K. 27, 316, A. 9). Hatte sie doch zwei Hauptpässe vor sich, deren einer, der Brenner, überdies nicht bloß durch das untere Eisacktal, sondern auch durch das Passeiertal und über den Jaufen erreicht werden konnte. Hierüber mußten die Römer gut unterrichtet sein, besonders seit sie in der Südhälfte des alpinen Flußgebietes der Etsch Fuß gefaßt hatten. Auch hatte der Kimbernzug des Jahres 102 v. Chr. die militärische Bedeutung des Brennerweges gezeigt92) und die Unternehmung gegen die Venostes römische Truppen zum mindesten bis in die Nähe des Reschenscheidecks geführt. Ferner galt es im Jahr 15 v. Chr. nicht bloß, von der Etsch bis nach der schwäbisch-bay- rischen Hochebene vorzudringen, sondern ebenso auch, die in den mittleren Alpen ansässigen Stämme, also auch die Bewohner des Eisack-, Sill-, Ober- und Unter- inntals zu unterwerfen. Bei einer derartigen Sachlage wäre es gar nicht zu begreifen, wenn sich die von des Augustus jüngerem Stiefsohn befehligte Streitmacht nach ihrem Eintreffen in der Gegend, die heute das deutsche Etschland heißt, nicht in zwei Hauptgruppen geteilt hätte. Es handelt sich mithin in Wahrheit nur um die geschichtlich wenig belangreiche Frage: Welchen Weg schlug die von Drusus selbst befehligte Hälfte der Truppen ein? Diese Frage ließe sich nun aber nicht einmal dann beantworten, wenn sich einschlägige Quellenzeugnisse mit einer jeden Zweifel ausschließenden Gewißheit zugunsten der Annahme ins Treffen führen ließen, die dem Drusus unterstellten Streitkräfte hätten bei ihrem Vormarsch die Brenner- oder die Reschenscheidecklinie durchzogen und dabei gekämpft. Denn der Prinz war Oberbefehlshaber des ganzen römischen Südheeres und alles, was einer der Unter- führer tat, geschah in seinem Namen. Angesichts einer derartigen Sachlage und in Erwägung des Umstandes, daß wir nicht wissen, wie die durch Geländeverhältnisse und feindliche Abwehrmaßnahmen bedingten Schwierigkeiten auf dem einen und dem anderen Gebirgsweg eingeschätzt wurden und welche sonstigen Gesichtspunkte die Entscheidung darüber bestimmten, ob der Oberfeldherr selbst die Leitung dieses oder jenes Heeresteiles übernehmen sollte, muß man also auf eine Beantwortung der hier zur Erörterung stehenden Frage verzichten und sich damit begnügen, zu sagen, die von Drusus befehligten Streitkräfte seien durch die Tiroler Alpen vorgerückt93) und zwar nicht auf einem einzigen Weg94). Es muß demnach als sicher betrachtet werden, daß das Burggrafenamt bei dem Alpenfeldzug des Jahres 15 v. Chr. als Aufmarschraum und Nachschubgebiet gedient hat. Dem Gesagten zufolge zogen also die Kriegshandlungen, die sich in den Jahren 16 und 15 v. Chr. in den mittleren Alpen — in letzterem Jahre auch in deren nörd- lichem Vorland — abspielten, das Mündungsgebiet der Passer in Mitleidenschaft. Derlei hat aber selbst für die Geschichte einzelner Landstriche gewöhnlich nur geringe 92) Zur Benützung des Brennerweges durch die Kimbern im Jahre 102 v. Chr. u. a. Mommsen, Römische Geschichte 29, S. 185, J. Kromayer in L. M. Hartmanns Weltgeschichte 32 (1921), S. 134, Stähelin, Schweiz2, S. 51, Heuberger, Schlern 14, S. 199. 93) Mommsen, Römische Geschichte 55 (1904), S. 15. 94) So z. B. Egger, Geschichte Tirols 1, S. 30 f. in seiner sehr von starker Einbildungs- kraft getragenen Schilderung des Alpenfeldzugs.

28 Bedeutung. Ausschlaggebend für die Entwicklung des Burggrafenamtes war es dagegen, daß dieser Landstrich in spätfreistaatlicher Zeit in den römischen Staats- verband und den mittelmeerischen Gesittungskreis des Altertums einbezogen und unter Augustus durch die eben behandelten Feldzüge zu einer im Inneren jenes Reiches gelegenen Gegend gemacht wurde. Damit hatte das Mündungsgebiet der Passer seinen Eintritt in die Geschichte und in die gesittete Welt vollzogen. Daß diese entscheidende Wendung erst eintrat, als Roms Arm bereits bis an das atlantische Weltmeer, bis an den Rand der Sahara und bis nach Vorderasien reichte, beruhte nicht bloß auf sogenanntem Zufall. Gewiß war es durch den Gang der römischen Innen- und Außenpolitik bedingt. Es kam darin aber auch zum Ausdruck, daß das Burggrafenamt gleich den übrigen Talschaften des inneren Alpengebietes von Natur aus nicht zu der Apenninenhalbinsel gehört und daß es daher nicht dazu bestimmt ist, die Schicksale Italiens zu teilen.

3. Das Burggrafenamt und die römischen Verwaltungsgebiete.

Der Vorschiebung der römischen Reichsgrenze bis an den Oberlauf der Donau schloß sich die Einrichtung der römischen Verwaltung in jenen Gegenden an, die dabei in den Verband des römischen Staates eingefügt worden waren. Die Gaue der Camunni (Val Camonica) und Trumpilini (Val Trompia) wurden dem Stadt- gebiet des italischen Brixia (Brescia) zugeteilt. Jene der Ambisontes (Pinzgau) und Alauni (Salzburg- und Chiemgau) schlug man in der Folge zur Provinz Norikum. Dasselbe geschah mit dem östlich des Inn gelegenen Teil des von den Vindelici bewohnten Flachlandes und allem Anschein nach auch mit dem mittleren Eisacktal, dem Kernstück des Gaus der Isarci (R. 1, 66, 318 f., Sl. 15 [1934], 304). Aus allen übrigen, in den Jahren 16 und 15 v. Chr. von den Römern besetzten Landstrichen, dem Siedlungsraum der vier Keltenstämme des Wallis, dem Gau der Lepontii (Kanton Tessin) und der Gegend östlich von Pfyn im Thurgau aber bildete man einen eigenen Verwaltungssprengel. Dieser hatte seinen Mittelpunkt im Legions- lager von Oberhausen bei Augsburg und dann in Augusta Vindelicum (Augsburg) (R. 1, 66 f.), das nach dem Untergang jenes Lagers (6—9 n. Chr.) als Forum gegründet worden war und unter Hadrian zum Munizipium erhoben wurde (R. 1, 100). Er zerfiel anfangs in die drei Teilgebiete Raetia (Flachland westlich der Iller, Vorarlberg, Ostschweiz), Vindelicia (Hochebene zwischen Iller und Inn, Nordtirol, oberes , Vinschgau) und Vallis Poenina (Wallis) (R. 1, 67, 312). Vor dem Jahre 20 n. Chr. wurde er zu einer Provinz, die man bald einfach mit dem Namen Raetia bezeichnete (R. 1, 67). Dieses Verwaltungsgebiet, von dem inzwischen die Vallis Poenina abgetrennt (R. 1, 67 f., 312) und das Flachland westlich der Iller infolge des Vordringens der Alamannen losgerissen worden war (R. 1, 80), wurde endlich in der diokletianisch-konstantinischen Zeit — wahrscheinlich zu Beginn des 4. Jahr- hunderts — in zwei Provinzen zerlegt, deren eine, die Raetia prima (Hauptstadt

29 wohl Curia [Chur]) die vordem zum frühkaiserzeitlichen Teilgebiet Raetia gehörigen Landstriche in sich schloß, soweit sie noch in römischer Hand waren, während sich die andere, die Raetia secunda (Hauptstadt Augusta Vindelicum) räumlich mit der einstigen Vindelicia deckte und außerdem noch das mittlere Eisacktal mit umfaßte (R. 1,68 f., 300—303). Zu welchem römischen Verwaltungsgebiet gehörte nun das Burggrafenamt? Wo die Grenze des rätisch-vindelikischen Amtssprengeis bzw. der Provinz Rätien gegen die 10. italische Region, Venetia et Histria, und die spätrömische Provinz gleichen Namens im Bereich des Etschtals verlief, sagt uns kein Schriftsteller des Altertums. Denn die Angabe des Claudius Ptolemaeus (2, 12, 1; 3, 1, 1), die Alpen schieden Rätien-Vindelikien von Italien, ist zu allgemein gefaßt, als daß aus ihr irgendwelche Schlüsse auf die Richtung gezogen werden dürften, die jene Landmark im einzelnen einschlug (R. 1, 84, 317). Sachliche Erwägungen gestatten aber doch, mit einiger Sicherheit die Stelle zu bestimmen, an der die in Rede stehende Grenze der Römerzeit das Tal der Etsch querte. Die neuerdings geäußerte Ansicht, diese Stelle habe sich unmittelbar nördlich von Tridentum befunden95), beruht lediglich auf unzutreffender Deutung des unten (S. 33) erwähnten, auf die Verruca (Dos Trento) bezüglichen Schreibens Theoderichs des Großen und auf mangelnder Kennt- nis des in Betracht kommenden Fachschrifttums sowie der Quellen, die über den Verlauf der rätisch-italischen Grenze des Altertums auf dem Boden Tirols Auf- schluß geben. Keine ernsthafte Widerlegung verdient vollends die kürzlich auf- gestellte Behauptung, Plinius (soll heißen: das bei Plinius, Naturalis historia 3,136 f. überlieferte tropaeum Alpium) bezeuge, daß die Eroberung Rätiens durch Drusus mit der Unterwerfung der im Sulzberg (in Wahrheit im Vinschgau; s. o. S. 15) ansässigen Venostes und der im Nonsberg (in Wirklichkeit im alpinen Rheintal; R. 1, 21—23) beheimateten Vennonenses (richtig: Vennonetes) begonnen habe (was, so ausgedrückt, nicht richtig ist; s. o. S. 24) und dies beweise, daß der Noce in der früheren Kaiserzeit die Landmark zwischen Rätien und dem diesseitigen Gallien (soll heißen: Venetien) gebildet habe96). In Wahrheit überschritt die in Rede stehende Grenze das Etschtal nicht südlich, sondern nördlich von Bozen. Dies läßt sich leicht dartun. Von irgendwelchen Beziehungen des Mündungsgebietes der Talfer zum römischen Rätien verlautet nichts (R. 1, 88). Da während des 4. Jahr- hunderts nur an der italischen Strecke des Brennerheerweges, nicht aber — wenn man von Arbeiten des Jahres 363 absieht — am rätischen Abschnitt dieser Verkehrs- ader oder an anderen Straßen Rätiens neue Meilensäulen gesetzt oder alte mit neuen Inschriften versehen wurden (K. 27, 334 f.), so standen der 307—312 errichtete Meilenstein von Blumau (CIL. 5, Nr. 8054, IBR. Nr. 463) und die zwei Meilenweiser von Castelfeder bei Neumarkt (CIL. 5, Nr. 8008, IBR. Nr. 466 f.)97), von denen

95) Dietze, Rätien, S. 5. 96) Hopfner, Alemannia, (Vorarlberger) Zeitschrift für alle Gebiete des Wissens und der Kunst mit besonderer Berücksichtigung der Heimatkunde 8 (1934), S. 97 f. 97) Zu den Standorten der drei Meilensteine zuletzt Heuberger, Klio 24 (1931), S. 351, A. 7, Wopfner, Tiroler Heimat, neue Folge 4, S. 117, A. 158, Reinecke, Germania, 1926, S. 154.

30 der eine 317 gesetzt und der andere 375 neu beschriftet worden ist, zweifellos noch im Bereich Venetiens. Um 157 und wohl auch noch später befand sich das Grenz- zollamt, an dem von den auf der Brenner- und weiter auf der Pustertalstraße nord- wärts beförderten Waren das portorium Illyricum zu entrichten war, nicht in der Nähe der Talfermündung, sondern am Nordende des Kunterswegs, zu Sublavione (Kollmann) (R. 1, 69—71, 87, 313 f.). Wenn die jetzt zu auf der Schwanburg befindliche Inschrift (CIL. 5, Nr. 5085, IBR. Nr. 63), die auf Grund der letztwilligen Verfügung eines sevir Augustalis (Trägers des munizipalen Kaiserkults)98) — zweifellos eines solchen sevir von Tridentum — gefertigt worden ist, nicht etwa im Nonsberg oder im südlichen Stück des alpinen Etschtals, sondern in der Nähe des genannten Schlosses zutage gekommen sein sollte, so wäre darin ein Beweis dafür zu erblicken, daß das zu Venetien gehörige territorium Tridentinum bis hieher reichte (R. 1, 310). Dieser städtischen Gemarkung wurden durch das schon erwähnte Edikt des Claudius vom 15. März 46 n. Chr. (CIL. 5, Nr. 5050) auch die Gaue der Anauni, Sinduni und Tulliasses (als Gemeinden minderen Rechtes) angegliedert99), nachdem dieses Verhältnis bis dahin nur teilweise rechtlich bestanden hatte (R. 1, 54). Gegen Ende des 4. Jahrhunderts bildete denn auch der Nonsberg, wie die Akten dreier daselbst erschlagener christlicher Glaubensboten und jene des heiligen Vigilius vermuten lassen, die dem Tridentiner Gemeindegebiet verbundene civitas Anagnis (R. 1, 54), die nach ihrem Hauptort, dem heutigen Cles, benannt war100), und diese Siedlung selbst befand sich im Jahr 580, also zu einer Zeit, in der die Verhältnisse des Alter- tums noch nachwirkten, innerhalb der civitas Tridentina, wie aus der Datierung eines damals von Secundus von Trient verfaßten Schriftstückes101) erhellt. Die Gemarkung des römischen Tridentum erstreckte sich also vielleicht bis in die Nalser Gegend, mit Einschluß der ihr zugeteilten Landgaue aber bis an die nördlichen Randhöhen des Nonsberges und, wenn die Sinduni oder die Tulliasses wirklich in der Umgebung der Passermündung gewohnt haben sollten, etschaufwärts bis an die Töller Talstufe. Der Vinschgau hinwieder gehörte gewiß niemals zu Venetien, sondern stets zum rätischen Verwaltungssprengel. Hiefür spricht verschiedenes: 1) Diese Talschaft wurde erst unter Augustus von den Römern besetzt, sie lag ganz im Innern der Alpen und sie stand über das Reschenscheideck sowie über den Ofenpaß (2155 m), der gewiß schon seit der Bronzezeit begangen wurde (R. 1, 30), in uralten Beziehungen zum Oberinntal und zum Engadin. — 2) Venetien griff auch östlich des Meraner Beckens nicht weit nach Norden aus. Seine nördliche Grenze querte das Eisacktal vielmehr in der Gegend von Sublavione (R. 1, 86—89, 317—319). — 3) Nichts deutet darauf hin, daß der Vinschgau im Altertum irgendwelche Beziehungen zu

98) Über die seviri Augustales u. a. Neumann, bei Pauly-Wissowa, Realenzyklopädie 2 (1896), Sp. 2349-2360. 99) So deutet den Wortlaut des Ediktes auch Solmi, Appunti, S. 5. 100) Über Anagnis zuletzt Solmi, Appunti, S. 10. 101) Monumenta Germaniae, Scriptores rerum Langobardicarum et Italicarum 1 (1878), S. 25, A. 3. Dazu zuletzt Heuberger, Tiroler Heimat, neue Folge 4 (1931), S. 144 f.

31 Tridentum hatte. Ein in der Malser Gegend gefundener römischer Grabstein (CIL. 5, Nr. 5091, IBR. Nr. 69) besteht zwar aus rotem Trienter Marmor. Daraus lassen sich aber keine weiteren Schlüsse ziehen. Denn dieser Marmor wurde schon in alten Zeiten weithin verschickt, wie die Tatsache beweist, daß in der Merowingerzeit in Chur, dem Hauptort des fränkischen Churrätien, ein Grabstein gefertigt wurde, der laut seiner Inschrift (CIL. 13, Nr. 5252, IBR. Nr. 71) aus einem de Triento, also aus der Hauptstadt des Langobardenherzogtunis Trient, geholten Block dieses Gesteins gearbeitet war102). — 4) In seiner Beschreibung des rätisch-vindelikischen Verwaltungsgebietes, bei der er die Verhältnisse der beginnenden Kaiserzeit im Auge hatte103), überging zwar Claudius Ptolemaeus die Venostes. Dies tat er aber auch mit anderen, unzweifelhaft innerhalb jenes römischen Amtssprengels ansässigen Stämmen, und er nannte die Venostes auch bei seiner Schilderung Italiens nicht (R. 1, 310, 317). Andrerseits führte er dagegen im Rahmen jener Beschreibung Rätien-Vindelikiens (Ptolemaeus 2, 12, 4) unter den vindelikischen „Städten" die Orte Inutrium (INOUTRION) und Medullum (Medoullon) an. Diese lagen nun allem Anschein nach in den Tiroler Alpen, nahe der Grenze Italiens und zwar im Bereich des Reschenscheideckweges104). Zwischen Nauders und dem Fernpaß sind sie aber — Humiste (Imst) trug einen uralten Namen illyrischen Ursprungs105) — nicht unterzubringen und gegen die Gleichung Inutrium=Nauders lassen sich Be- denken erheben106). So hat man also in Inutrium und Medullum höchst wahrscheinlich Ringwallsiedlungen des Vinschgaus zu erblicken107), woraus sich ergäbe, daß Pto- lemaeus diese Talschaft nicht zu Venetien, sondern zu Vindelikien rechnete. — 5) Nächst dem Unterlauf der Passer befand sich im 3. Jahrhundert und wohl schon vorher die durch die Inschrift des Zieltaler Dianaaltars (CIL. 5, Nr. 5090, IBR. Nr. 68) bezeugte statio Maiensis quadragesimae Galliarum, also eine Einhebestelle für den gallischen Warenzoll (s. u. S. 69 f.). Diese Tatsache läßt zwar die Frage offen, ob die Meraner Gegend im Altertum zu Venetien oder zu Rätien gehörte (R. 1, 87 f.), beweist aber, daß in deren näherer Umgebung die Grenze zwischen diesen beiden Verwaltungsgebieten verlief, und zwar irgendwo im Bereich des Etschtals (R. 1, 88 f., 317). Denn für den Verkehr der Römerzeit, den das in Rede stehende Mautamt zu überwachen hatte, war der Weg über den Jaufen, im Gegensatz zu jenem über das Reschenscheideck, ohne größere Bedeutung (s. u. S. 104 f.). — 6) Die in der In- schrift des eben genannten Altars erscheinende Wendung in honorem domus divinae

102) Dazu Heuberger, Schlern 11 (1930), S. 393, derselbe, Rätien 1, S. 30, A. 24. 103) Reinecke, Germania 15 (1931), S. 238, Heuberger, Rätien 1, S. 78, 312, 316. 104) Cartellieri, Alpenstraßen, S. 79, Reinecke, Der bayerische Vorgeschichtsfreund 4 (1924, S. 32, 35 f., Fluß bei Pauly-Wissowa, Realenzyklopädie der klassischen Altertums- wissenschaft 15 (1931), Sp. 117 (hier nebenbei auch die in jeder Hinsicht unmögliche Gleichung Medullum-Mühlau bei Innsbruck erwähnt), Heuberger, Rätien 1, S. 310, A. 25 a. 105) Über den Namen Humiste und andere illyrische Namen mit der gleichen Endung W. Steinhausen, Wiener prähistorische Zeitschrift 19 (1932), S. 306—308. 106) Reinecke, Der bayrische Vorgeschichtsfreund 4, S. 32. 107) Reinecke, Der bayerische Vorgeschichtsfreund 4, S. 32, 35 f., Heuberger, Rätien 1, S. 310; vgl. auch Fluß bei Pauly-Wissowa, Realenzyklopädie 15, Sp. 117.

32 (s. o. S. 15) wurde in Rätien, wie auch in der Gallia Belgica und den beiden ger- manischen Provinzen häufig verwendet108). Im römischen Oberitalien war sie dagegen nicht üblich. Der der 9., 10. und 11. italischen Region gewidmete 5. Band des Corpus inscriptionum Latinarum verzeichnet laut seines Registers (S. 1202) außer dem im Rahmen der 10. Region angeführten Zieltaler Altar (Nr. 5090) kein Denkmal, auf dem jene Formel zu lesen ist, und nur zwei aus dem Bereich der Alpes Maritimae stammende Inschriften (Nr. 7865, 7866), in denen die verwandte Wendung pro salute domus divinae begegnet. Der ursprüngliche Standort des in Rede stehenden Dianaaltars und der Wohn- oder Dienstort des Aetetus praepositus stationi Maiensi guadragesimae Galliarum, der dieses Denkmal stiftete, sind also jedenfalls auf räti- schem Boden oder hart an der Grenze Rätiens zu suchen. Auch Rückschlüsse, die sich aus Quellen und Zuständen des beginnenden Mittelalters ergeben, stützen die Ansicht, daß der Vinschgau im Altertum zu Rätien gehört habe. Hier ist dreierlei hervorzuheben: 1) Innerhalb des italischen Ostgoten- reiches, in dem hinsichtlich der bürgerlichen Verwaltung die Verhältnisse der Römer- zeit unverändert fortlebten109), kann Venetien kaum über die Meraner Gegend hinausgereicht haben. Ein ostgotisches Grenzsperrwerk läßt sich zwar hier nicht nachweisen (s. u. S. 72). Allein ein in Cassiodors Varien überliefertes Schreiben Theuderichs110), das die in der Umgebung des Kastells Verruca (Dos Trento) an- sässigen Goten und Römer auffordert, sich für den Fall der Not innerhalb dieser sicheren Feste Wohnungen einzurichten, sagt, daß die Verruca die Provinz (Venetien) gegen die Angriffe wilder Völker decke (R. 1, 133, 256). Dieser Erlaß, der unmöglich bezweckt haben kann, der Burg auf dem Dos Trento eine Besatzung zu schaffen111), — Römer durften im damaligen Italien ja keine Waffen tragen112) — entstand nach der herrschenden Meinung gleich dem ebenfalls in den Varien überlieferten Schreiben des Amalers an den dux Raetiarum113) zwischen 507 und 511, also zu einer Zeit, in der das alpine Rätien nachweislich zum italischen Ostgotenreich gehörte, wenn auch nur als vorgeschobene Mark dieses Staates (s. u. S. 106). H. Dietze meint freilich, der Erlaß an den dux sei schon in das Jahr 496, jener betreffs der Verruca aber in eine noch frühere Zeit zu setzen und letzteres Schreiben spiegle daher Ver- hältnisse wider, die in Theoderichs erster Königszeit geherrscht hätten, als die Macht des Amalers nordwärts noch nicht über Tridentum hinausgereicht habe114). Dies ist aber völlig verkehrt. Zeigen doch beide Schriftstücke gleich den übrigen in die Varien aufgenommenen Erlassen unverkennbar das Gepräge der gesuchten

108) Stähelin, Schweiz2, S. 469, A. 4 (hier weiteres Schrifttum). 109) Über Theoderichs italisches Reich zuletzt Schmidt, Geschichte der deutschen Stämme bis zum Ausgang der Völkerwanderung. Die Ostgermanen2, S. 337—398. 110) Cassiodor, Variae 3, 48 (Monumenta Germaniae, Auetores antiquissimi 12, 1894, S. 103 f.). 111) Dies nimmt Dietze, Rätien, S. 80 an. 112) Schmidt, Geschichte der deutschen Stämme. Die Ostgermanen2, S. 366, 380. 113) Cassiodor, Variae 1, 11 (Monumenta Germaniae, Auetores antiquissimi 12, S. 20). 114) Dietze, Rätien, S. 80 f. samt den zu dieser Bemerkung gehörigen Anmerkungen auf S. 102-104.

3 33 und schwülstigen Schreibweise Cassiodors und dieser feingebildete Mann trat erst 507, nicht mehr als etwa 17 oder höchstens etwa 26 Jahre alt, als Quästor in den ostgotischen Staatsdienst115). Daher hält man denn auch gemeinhin daran fest, daß keines der in den Varien überlieferten Schreiben vor diesem Jahre entstanden sei, und wenn man auch annehmen wollte, einige Stücke dieser Sammlung seien von Cassiodor schon vor seiner Ernennung zum Quästor entworfen worden116), so wäre damit im Hinblick darauf, daß dieser Mann um 490 oder frühestens um 481 geboren worden ist, doch keinesfalls die Möglichkeit gegeben, die Abfassung der zwei hier in Rede stehenden Erlasse in das Jahr 496 und in eine noch frühere Zeit zu verlegen. Das königliche Schreiben in Sachen der Verruca, das in Wahrheit erst auf Grund der gespannten Lage der Jahre 507—508 herausgegeben wurde117), lehrt also, daß diese Wehranlage im Rahmen des festgeordneten italischen Ostgoten- reiches nicht weit von der Grenze Venetiens entfernt war, und es steht daraufhin zu vermuten, daß nicht bloß das mittlere Eisacktal, sondern auch der Vinschgau noch zu Rätien zählte. Bestätigt wird diese Annahme durch ein in den Jahren 523—526 verfaßtes Schreiben Theoderichs118). Spricht es doch von der Kleinheit des territorium Tridentinum (R. 1, 257), das sich mit den ihm zugeteilten Alpengauen damals gewiß bis an die Nordgrenze Venetiens oder doch wenigstens bis in deren Nähe erstreckte. — 2) Nach dem ohne Zweifel noch mit den spätrömischen Zuständen wohlvertrauten Secundus von Trient (+ 612) oder nach Paulus Diaconus, der seine erdkundlichen Kenntnisse aus einer vor allem auf Plinius beruhenden Karte schöpfte, lag Anagnis (Cles) nahe der Grenze Italiens119). Im Anschluß an die Auffassung der Römerzeit rechnete somit dieser oder jener Gewährsmann den Vinschgau nicht mehr zu Venetien. — 3) Die genannte Talschaft gehörte im 6.—9. Jahrhundert zum fränkischen Churrätien und — wie auch noch später — zum Bistum Chur (R. 1, 28, 90). Diese Verbindung hatte sich zwar gewiß erst infolge des von König Theudebert I. (534—548) eingeleiteten Ausgreifens der austrasischen Franken auf das Flußgebiet der Etsch (R. 1, 136 f.) und nicht auf Grund des Nachwirkens spätrömischer Verhältnisse herausgebildet (K. 24, 1931, 366, A. 2). Allein der Umstand, daß von einem Versuch der frühmittelalterlichen Trienter Bischöfe, den Vinschgau für ihren Sprengel in Anspruch zu nehmen, nichts verlautet120), wirft trotzdem ein Licht auf die Provinzialzugehörigkeit dieser Talschaft in den Tagen

115) F. Schneider, Rom und Romgedanke im Mittelalter (1926), S. 87, 255, Schmidt, Geschichte der deutschen Stämme. Die Ostgermanen2, S. 395. 116) So Schmidt, Mitteilungen des österreichischen Instituts für Geschichtsforschung 41 (1926), S. 321 f., derselbe, Geschichte der deutschen Stämme. Die Ostgermanen2, S. 28, A. 1, S. 342, A. 1. 117) L. M. Hartmann, Geschichte Italiens im Mittelalter l2 (1923), S. 158, 169, A. 19. 118) Cassiodor, Variae 5, 9 (Monumenta Germaniae, Auetores antiquissimi 12, S. 148 f.). 119) Paulus Diaconus, Historia Langobardorum 3, 9 (Monumenta Germaniae, Scriptores rerum Langobardicarum et Italicarum 1, S. 97). Dazu Heuberger, Tiroler Heimat, neue Folge 4, S. 142-146, derselbe, Rätien 1, S. 270, 317. 12°) Gegen die Vermutung, der Vinschgau habe ursprünglich zur Gänze oder größtenteils zum Trienter Sprengel gehört, Heuberger, Schlern 11, S. 393.

.34 der Römer. Beweist er doch, daß man in der Merowinger- und Karolingerzeit nichts von einer einstigen Ausdehnung des Tridentiner Sprengels bis in die Nähe des Reschenscheidecks wußte, und dieser geistliche Amtsbereich hatte sich doch im ausgehenden Altertum fraglos bis an die Nordgrenze Venetiens erstreckt. Dem Gesagten zufolge muß demnach die rätisch-italische Grenze, die in der Sohle eines von einem wichtigen Verkehrsweg durchzogenen Haupttals der Alpen zweifellos einigermaßen linear gestaltet war, das Etschtal irgendwo im Bereich des Burggrafenamtes überschritten haben, wie dies auch bisher von der ernsthaften Forschung stets angenommen wurde (R. 1, 88). Wo tat sie dies aber? Diese Frage läßt sich nicht mit Hilfe von Rückschlüssen aus dem Verlauf jener Staats-, Bistums- und Grafschaftsgrenzen beantworten, die im Mittelalter in der engeren und weiteren Umgebung des heutigen Meran festgelegt waren. Denn diese Landmarken sind erst auf Grund der Ereignisse und Zustände der Frankenzeit entstanden (R. 1, 89—92). Auch sagt uns weder eine Steininschrift — die Eyrser Meilensäule (IBR. Nr. 464) wurde ohne Untersuchung vernichtet — noch, wie bereits erwähnt, ein Schriftstellerzeugnis des Altertums ausdrücklich, wie weit sich Rätien ins Etschtal hinein erstreckte. Indes mittelbare Erwägungen gestatten doch wenigstens eine Vermutung hierüber aufzustellen. Begrenzte die Gegend der Töller Talstufe vor Augustus einerseits das Land der Venostes und andrerseits den damaligen Macht- bereich der Römer, so lag es für diese nahe, hier nach der Vorschiebung ihres Herr- schaftsgebietes bis an den Oberlauf der Donau die Grenze zwischen Venetien und dem rätisch-vindelikischen Verwaltungssprengel, der späteren Provinz Rätien, anzusetzen, und zwar am besten am obern Rand jener Stufe, da dieser auch gegen Westen hin durch schwer gangbares Gelände abgeschlossen war (s. o. S. 16). So zu verfahren, hatten sie aber auch dann Grund, wenn jene Voraussetzungen nicht vorhanden gewesen sein sollten. Denn das Meraner Becken hängt klimatisch und geographisch durchaus mit der Bozner Gegend und dem ihr südlich benachbarten Teil des alpinen Etschtales, nicht aber mit dem Vinschgau zusammen, während sich dieser andrerseits als eine geschlossene Talschaft von ganz verschiedenem Gepräge erweist. Auch stellt sich dem nach Norden Wandernden im Etschtal die Talstufe der Töll als erstes Geländehindernis entgegen, ebenso wie im Eisacktal der Kuntersweg mit dem Ritten und dem Mittelgebirge von Völs am Schlern und Kastelrut. Verlegten aber die Römer die Nordgrenze Venetiens dauernd in den Bereich der untersten Eisackschlucht und errichteten sie daraufhin an deren oberem Eingang zu Sublavione eine Zollstelle (s. o. S. 31), so ist zu vermuten, daß sie jene Landmark auch das Etschtal im Bereich einer ähnlichen Örtlichkeit, also in jenem der Töller Talstufe, am wahrscheinlichsten an deren oberem Rand, queren ließen. Von hier aus konnte zudem die Südgrenze des rätisch-vindelikischen Verwaltungs- sprengels bzw. der Provinz Rätien auf die natürlichste Weise durch die Wildnisse in der weiteren Umgebung des einsamen Passeiertals hinüber nach der Mittewalder Klause ziehen, an der diese Amtsgebiete während der früheren Kaiserzeit mit Norikum zusammenstießen, sofern diese Provinz damals gemäß der oben (S. 29)

3» 35 ausgesprochenen Annahme bis ins mittlere Eisacktal reichte. So spricht also manches zugunsten der Annahme, daß sich Venetien und Rätien in der Gegend der Töll von einander schieden. Gegen diese Annahme läßt sich andrerseits nichts Stichhaltiges einwenden. Wie bereits erwähnt, kann das am Unterlauf der Passer errichtete Zollamt ebensogut auf dem Boden Rätiens, wie auf jenem Venetiens gelegen haben. Es an dieser Stelle einzurichten, empfahl sich ja auch dann, wenn die in Rede stehende Grenze weiter westlich lag. War doch nur von der Meraner Gegend aus gleichzeitig mit dem Verkehr über das Reschenscheideck auch jener über den Jaufen zu über- wachen (R. 1, 87 f.). Wenn aber der von einem Vorstand dieses Mautamtes gestiftete Dianaaltar ursprünglich im Zieltal oder unterhalb desselben nächst der Etsch gestanden haben sollte (s. o. S. 15), so wäre darin lediglich ein Anzeichen dafür zu sehen, daß sich die Gegend von Meran und jene der Töll wahrscheinlich im Be- reich eines und desselben Verwaltungsgebietes befanden, ohne daß damit entschieden wäre, ob es sich bei diesem um Rätien oder um Venetien handelte. Selbst wenn endlich wirklich im 5. Jahrhundert ein Bischof von Augsburg, namens Valentin, durch die Not der Zeit aus dem nordalpinen Flachland vertrieben, in der Nachbar- schaft der Passermündung tätig gewesen und hier sein Leben beschlossen haben sollte (s. u. S. 53), so bewiese auch dies nicht, daß dieser Landstrich zum römischen Rätien zählte. Wurden doch in den Stürmen der Völkerwanderungszeit Leiter bischöflicher Kirchen oft genug dazu gezwungen, ihren Wohnsitz vorübergehend oder dauernd außerhalb der Provinz aufzuschlagen, in der ihr Sprengel lag. So ging es z. B. den Erzbischöfen von Mailand und den Patriarchen von Aquileja121). Die Annahme, Rätien und Venetien seien oberhalb der westlich von Meran aufsteigenden Talstufe aneinandergestoßen, erscheint mithin als unbedenklich und, wie schon gezeigt, als innerlich wahrscheinlich. Sie läßt sich aber nun auch mit Gründen stützen, die sich bei einer näheren Betrachtung des zu Rabland, also nächst der Töll, gefundenen, jetzt im Bozner Museum verwahrten Meilensteins vom Jahr 46 n. Chr. (CIL. 5, Nr. 8003, IBR. Nr. 465)122) ergeben. Dieses aus weißem Marmor gefertigte Denkmal war eine Säule von ungewöhnlicher Größe — der Durchmesser des erhaltenen Bruchstückes beträgt 72 cm, während sich z. B. jener des verlorenen, vielleicht ebenfalls im Jahr 46 errichteten Meilenweisers von Eyrs (IBR. Nr. 464) bloß auf etwa 47 cm belaufen haben soll — und seine in schönen stattlichen Buchstaben ausgeführte Inschrift lautet: Ti(berius) Claudius Caesar Augustus German(icus), pont(ifex) max(imus), trib(unicia) pot(estate) VI, cos(ul) desig- (natus) IIII, imp(erator) XI, p(ater) p(atriae) am ClaudiamAugustam, quam Drusus paterAlpibusbell o patefactis derexserat, munit a flumine Pado adlumen Danuvium per p(assuum) CC. Diese Inschrift stimmt nun fast wörtlich mit jener der im Jahr 46 oder 47 gesetzten Meilensäule (CIL. 5, Nr. 8002, IBR. Nr. 469) überein (s. u. S. 78—80), die nachmals in dem zwischen Feltre und Belluno gelegenen Ces Maggiore als Werkstück beim Bau der dortigen Kirche verwendet wurde,

121) Hartmann, Geschichte Italiens im Mittelalter 2/l (1900), S. 35. 122) Abbildung bei Vollmer, Inscriptiones Baivariae Romanae, Tafel 64. TAFEL II

Meilenstein von Rabland (S. 36) Denn daß ein solches Erinnerungsmal bei einer Stadt, wie Feltria, aufgestellt wurde, erscheint als durchaus verständlich. Die Errichtung eines derartigen Denkzeichens an einer von jeder Stadt weit entfernten Stelle, wie die Gegend von Rabland eine war, läßt sich dagegen nur dann begreifen, wenn die betreffende Örtlichkeit ander- weitige Bedeutung hatte; was der Fall war, wenn hier der Bereich Venetiens und damit jener des frühkaiserzeitlichen Italien endete. Alles zusammengehalten, darf somit gesagt werden: Es läßt sich gewiß keinesfalls mit unbedingter Sicherheit bestreiten, daß die rätisch-italische Grenze der Römerzeit in der Nähe oder unterhalb der Passermündung, etwa auch irgendwo im Untervinschgau gelegen haben könnte. Ebensowenig kann geleugnet werden, daß sie möglicherweise einmal — etwa in der späteren Kaiserzeit — räumlich verschoben worden sein könnte. Derlei kam ja vor130). Eine erkennbare Veranlassung, zu solchen Annahmen zu greifen, besteht jedoch nicht. Gewichtige Gründe sprechen vielmehr dafür, daß das römische Rätien auf dem Boden des Etschtals bis an den oberen Rand der Töller Talstufe gereicht habe. Diese Örtlichkeit spielte ja auch im Mittelalter als Landmark eine nicht unwichtige Rolle; wie daraus erhellt, daß bei ihr ursprünglich wohl die Churer- Trienter Sprengelgrenze lag — nach ihrer genauen Festlegung erreichte diese die Etsch bei dem von der Höhe der Talstufe nur durch siedlungsleeres Gelände ge- trennten Schloß Forst (R. 1, 90) — und daß die Töll, die vielleicht anfangs als Landmark zwischen der Vinschgauer und der Trienter Grafschaft gegolten hatte (R. 1, 28, 308), auch noch zur Zeit häufig genannt wurde, als sich jene Grafschaft rechts der Etsch weiter nach Süden erstreckte (R. 1, 308, A. 8). War der Vinschgau dem rätischen Verwaltungssprengel angeschlossen, so gehörte er wohl in der frühesten Kaiserzeit, in der dieser in die drei Teilgebiete Vallis Poenina, Raetia und Vindelicia zerfiel, zu letzterer Landschaft und seit der Teilung der rätischen Provinz in zwei gesonderte Statthalterschaften zur Raetia secunda. Ersteres wird durch die Andeutungen des Claudius Ptolemaeus über Lage und Ausdehnung jener zwei frühkaiserzeitlichen Verwaltungssprengel (R. 1, 305, 312) wahrscheinlich gemacht und muß als quellenmäßig erwiesen gelten, wenn die von diesem Schriftsteller zu den „Städten" Vindelikiens gerechneten Orte Inutrium und Medullum im Vinschgau lagen (s. o. S. 32). Daß diese Talschaft der Raetia secunda des ausgehenden Altertums zugeteilt war, darf mit Rücksicht auf die Tatsache, daß in diesem Amtsgebiet das frühkaiserzeitliche Vindelikien wieder auflebte (s. o. S. 30), und auf Grund sonstiger sachlicher Erwägungen als wahrscheinlich betrachtet werden (K. 24, 366, A. 2, R. 1, 98). Durch ein Zeugnis der schriftlichen Überlieferung läßt sich diese Meinung allerdings nicht als richtig erweisen. Doch weiß andererseits auch keine Quelle etwas von einer Verbindung des Vinschgaus mit der Raetia prima zu melden und das Vorhandensein eines derartigen Verhältnisses ist auch nicht aus den nachmaligen Beziehungen der genannten Talschaft zum fränkischen Churrätien und zu dessen Bistum zu erschließen, da diese Bande zweifellos erst in der Mero- wingerzeit geknüpft worden sind (s. o. S. 34). 130) Vgl. z. B. Stähelin, Schweiz3, S. 261, Heuberger, Rätien 1, S. 82.

38 4. Die Bevölkerung des Burggrafenamtes zur Römerzeit. Wohnten die Sinduni oder die Tulliasses im Burggrafenamt, so bildete dieses zur Römerzeit einen Gauverband, der gleich jenem der Anauni durch das Edikt des Claudius vom 15. März 46 n. Chr. (CIL. 5, Nr. 5050) dem Stadtgebiete von Tri- dentum, zu dem er schon vorher in näheren Beziehungen gestanden hatte, als Gemeinde minderen Rechtes angeschlossen wurde (s. o. S. 17). Ein ähnliches, wenn auch bei einer anderen Gelegenheit begründetes Verhältnis könnte auch bestanden haben, wenn jene Voraussetzung nicht zutreffen sollte. Der Hauptort dieses Gaues müßte die unten noch näher besprochene Siedlung gewesen sein, die am Unterlauf der Passer lag. Sinduni und Tulliasses erhielten, ebenso wie die Anauni, durch Kaiser Claudius gnadenweise das römische Bürgerrecht, das sie schon vorher für sich in Anspruch genommen hatten (s. o. S. 17). Auch wenn keiner dieser Stämme im Burggrafenamt zu suchen sein sollte, können dessen Bewohner eine solche be- vorzugte Rechtsstellung schon vor der Erlassung der constitutio Antonina erlangt haben, durch die Caracalla im Jahre 212 die meisten freien Reichsangehörigen zu römischen Bürgern machte. Denn man weiß, daß auch sonst gelegentlich an italische Stadtgebiete angegliederte Landgaue in der Folge zu römischen Bürgergemeinden wurden. Dies war z. B. der Fall bei dem anfänglich der Gemarkung von Brixia (Brescia) zugeteilten Gau der Camunni (Val Camonica) (R. 1, 66). Auch muß die Bevölkerung des Mündungsgebietes der Passer, wie die anderer Gegenden des Kaiser- reiches, Rekruten zu den römischen Truppen gestellt haben. Die Leistung des Waffendienstes konnte aber den Zugang zum römischen Bürgerrecht eröffnen. Wurde dieses doch, wie die sogenannten Militärdiplome bezeugen131), häufig an noch dienende oder an ausgediente Soldaten verliehen, wenn sie es noch nicht besaßen. Wie sich die Bevölkerungsverhältnisse im BurggTafenamt nach dessen Er- oberung durch die Römer wandelten, läßt sich beim Fehlen einschlägiger Quellen- aussagen nicht genauer feststellen. Man weiß, wie die Römer unterjochte Völker- schaften zu behandeln pflegten, und daß sie im nördlichen Teil des alpinen Etschtals, ebenso, wie auch im Tal des Eisacks, nicht mild vorgegangen sind, lehrt der archäo- logische Befund (s. o. S. 21). Wie groß die Verluste waren, die die Bewohner der Meraner Gegend beim Einrücken der römischen Heere erlitten, entzieht sich unserer Kenntnis. Als gewiß darf es andrerseits gelten, daß sich nun manche in der Mittel- meerwelt geborene Leute vorübergehend oder dauernd in der näheren und weiteren Umgebung der heutigen Passerstadt niederließen, die hier dienstlich oder geschäftlich zu tun hatten. Zu ihnen gehörte der kaiserliche Freigelassene und Zollbeamte Aetetus, der im 3. Jahrhundert den im Zieltal gefundenen Dianaaltar stiftete (s. o. S. 14 f.), vielleicht auch jener Marcus Ulpius Primigenius, der seinem im Alter von 21 Jahren und 11 Monaten verstorbenen Sohn, Quintus Caecilius Eutropius, bei

131) Über die Militärdiplome und die in ihnen ausgesprochenen Bürgerrechtsverleihungen u. a. B. Faaß, Archiv für Urkundenforschung 1 (1908), S. 201—219.

39 einen Grabstein (CIL. 5, Nr. 5089, IBR. Nr. 67)132) errichten ließ. Auch grundherr- liche Kolonen und sonstige Leute fremder Herkunft — darunter etwa auch aus- gediente Soldaten — mögen in der Meraner Gegend angesiedelt worden sein. Diese Zuwanderung von Süden her muß sich aber in sehr bescheidenen Grenzen gehalten haben. Zum mindesten wurden durch Grundherrn kaum viele von ihnen abhängige und später schollenpflichtige Bauern von außen her ins Mündungsgebiet der Passer verpflanzt. Spielte hier doch der landwirtschaftliche Großbetrieb, der dem spät- römischen Italien die freie Landbevölkerung raubte, anscheinend keine Rolle von Belang (s. u. S. 43 f.). Die Zahl der Zuwanderer aus der Mittelmeerwelt war demnach wohl nicht erheblich. Außer Zweifel steht es auch, daß diese Leute, zum mindesten großenteils, keine reinblütigen Italiker waren, selbst wenn sie aus der Apenninen- halbinsel gekommen waren. Ist es doch bekannt, daß die aus Nachkommen von Latinern, Sabellern, Etruskern, Hellenen, Kelten, Ligurern,Venetern usw. zusammen- gesetzte Bevölkerung Italiens, die bereits in den Tagen des römischen Freistaates stark zusammengeschmolzen war, im Lauf der Kaiserzeit immer mehr Einschläge fremden, namentlich griechischen und orientalischen Blutes, in sich aufnahm und daß sie dadurch bald zu einem Völkergemisch wurde, dem nur Sprache und Lebens- formen nach außen hin für eine Weile einen einheitlichen Anstrich gaben133). Tat- sächlich war denn auch der Stifter des Zieltaler Altars als einstiger Sklave seiner Abstammung nach kein Römer und ob jener Marcus Ulpius Primigenius, ein solcher war, der seinem Sohn den Partschinner Grabstein setzen ließ, ist wohl fraglich. Wie die Tracht vermuten läßt, war auch jener Mann seinem Blut und seiner Rechts- stellung nach kein Römer, der auf dem in Untermais gefundenen Bruchstück eines Grab- oder Denkmalreliefs134) in einem mantelartigen Überwurf und in einer glatten, gegürteten Tunika erscheint, unter der kurze, enganliegende Hosen hervorlugen, wie sie unter anderem von manchen Germanen und von den in den Ostalpenländern ansässigen Kelten getragen wurden135). Der hier Abgebildete kann übrigens — ebenso, wie jener Marcus Ulpius Primigenius — selbstverständlich auch einer im näheren oder weiteren Bereich der Passerstadt bodenständigen Geschlecht angehört haben. Neuen Zuzug von Außen und zwar diesmal von Norden her, erhielt dann die Bevölkerung des Burggrafenamtes vermutlich im 3.—5. Jahrhundert, als die Ala- mannen und andere Germanen das außeralpine Rätien bedrohten und zuletzt besetzten (R. 1, 80, 121—124). Dürften damals doch so manche Menschen aus dem nördlichen Alpenvorland, dessen Bewohner oberflächlich romanisiert worden waren, in die Täler der mittleren Alpen geflohen sein (R. 1, 73 f.), also wohl auch ins Mündungsgebiet der Passer. Vielleicht wissen wir sogar von einem dieser Flücht- linge. Es kann nämlich sein, daß im 5. Jahrhundert ein quellenmäßig bezeugter

132) Abbildung bei Vollmer, Inscriptiones Baivariae Romanae, Tafel 10. 133) Vgl. z. B. Hartmann, Geschichte Italiens im Mittelalter l2, S. 4—6. Eingewanderte Orientalen waren z. B. die drei im Jahr 397 im Nonsberg erschlagenen Trienter Geistlichen; vgl. V. Inama, Storia delle valli di Non e di Sole nel Trentino (1905), S. 74. 134) Mazegger, Römerfunde3, S. 7 f. Abbildung ebenda, Tafel 3, Figur 18. 135) Wopfner, Tiroler Heimatblätter 12 (1934), S. 129.

40 Bischof des rätischen Flachlandes namens Valentin in der Meraner Gegend Schutz gesucht hat (s. u. S. 53). Ob sich in diesem Landstrich bereits im Altertum oder in den Tagen der Ostgotenherrschaft über Italien einzelne Germanen angesiedelt haben, entzieht sich unserer Kenntnis. Möglich ist es zweifellos. Denn die römischen Heere setzten sich im Lauf der späteren Kaiserzeit immer mehr aus Angehörigen germanischer Stämme zusammen, damals wurden auch Teilen auswärtiger, vor allem germanischer Völkerschaften im Inneren des Reiches mit der Verpflichtung zum Waffendienst Wohnsitze angewiesen136), das Potiefland erlebte im ausgehenden Altertum öfter — so im Jahre 457 (R. 1, 129) — Einfälle germanischer Scharen und unter Theoderich und seinen Nachfolgern ließen sich im nördlichen Italien, so auch bei Tridentum, gotische Krieger mit ihren Familien nieder137). Es können also ausgediente römische Soldaten germanischen Blutes, Angehörige germanischer, auf italischem Boden angesiedelter Abteilungen, an germanischen Vorstößen in die Apenninenhalbinsel beteiligte und nach der Heimkehr oder Vernichtung ihrer Genossen im Süden- zurückgebliebene Leute oder ostgotische Heermänner ihren Aufenthalt im Mündungsgebiet der Passer genommen haben. Quellenmäßige Aussagen hierüber liegen indes nicht vor, spätrömische oder ostgotische Befesti- gungen lassen sich in der Gegend von Meran nicht mit Bestimmtheit bzw. überhaupt nicht nachweisen (s. u. S. 72—74) und die Ansicht, mittelbare Erwägungen gestatteten, die Burggräfler als Nachkommen von Ostgoten anzusehen, ist mit Recht schon längst aufgegeben worden138). Übrigens könnte die Bevölkerung des Burggrafenamtes im Zusammenhang mit Ereignissen, die den Untergang des italischen Ostgoten- reiches begleiteten und beschleunigten, möglicherweise auch von Norden her Ein- schläge germanischen Blutes empfangen haben. Wir wissen, daß die von Theude- bert I. beherrschten austrasischen Franken in den ersten Jahren des ostgotisch- byzantinischen Krieges — spätestens 539 — Churrätien in ihre Gewalt brachten139), daß sie sich 539 ansehnlicher Teile Nordwestitaliens bemächtigten und daß sie um 545 das bereits 537 durch die Alamannen heimgesuchte Venetien mit Ausnahme einiger Küstenstriche besetzten140). Diese Vorgänge zogen — gleichviel, ob der Vinsch- gau schon anläßlich der Erwerbung des übrigen Churrätien durch jenen Merowinger oder erst um 545 fränkisch geworden ist — auch die Meraner Gegend in Mitleiden- schaft und führten gewiß gelegentlich vorrückende austrasische Heerhaufen, etwa auch ständige Besatzungsabteilungen hieher. Dies konnte aber zur Folge haben,

136) Darüber u. a. Hartmann, Geschichte Italiens im Mittelalter l2, S. 24, 28 f. 137) Über die Gotensiedlungen in Italien u. a. Schmidt, Geschichte der deutschen Stämme. Die Ostgermanen2, S. 364 f. 138) Heuberger, Rätien 1, S. 134, A. 125, 0. Stolz, Zeitschrift des Deutschen und Österrei- chischen Alpenvereins 63 (1932), S. 15, 35, A. 16, Schmidt, Geschichte der deutschen Stämme. Die Ostgermanen2, S. 364 f. 139) Heuberger, Rätien 1, S. 136, G. Löhlein, Die Alpen- und Italienpolitik der Merowinger im 6. Jahrhundert (Dissertation Erlangen 1932 = Erlanger Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte 17), S. 4—6, 10 f. 140) Über Theudeberts italische Eroberungen zuletzt Löhlein, Die Alpen- und Italienpolitik der Merowinger, S. 28-43.

41 daß einzelne Alamannen oder Franken dauernd im Mündungsgebiet der Passer zurückblieben. Erwähnt sei endlich, daß die letzten Jahre, in denen sich noch einmal vorübergehend die unmittelbare Macht eines römischen Herrschers, des Kaisers Justinian L, bis ins alpine Etschtal erstreckte, eine Landanweisung an germanische Krieger brachte, die vielleicht auch das Burggrafenamt berührte. Nach der Vernichtung des italischen Ostgotenreiches legte nämlich der byzantinische Feldherr und Statthalter Narses anscheinend die 3000 von dem magister militum Sindual befehligten erulischen Heiter in das territorium Tridentinum und hier werden diese Leute auch nach der Niederwerfung des Aufstandes verblieben sein, den sie um 565 gegen den Vertreter des Kaisers unternommen hatten. Berichten die Quellen doch nur von einer Wiederunterwerfung, nicht aber von einer Vernichtung oder Verpflanzung der Aufrührer141). Im Burggrafenamt lernte man jedenfalls schon in der früheren Kaiserzeit sich der lateinischen Sprache zu bedienen. Dies war eine selbstverständliche Folge der Zuwanderung im Inneren des Römerreichesgeborene r Menschen, der Berührung mit den römischen Beamten, Soldaten und Kaufleuten und der Einziehung der tauglichen jungen Männer zum Heeresdienst. Allein man hat guten Grund an- zunehmen, daß die Bewohner der Meraner Gegend, ebenso, wie die der zu Rätien gehörigen Gebirgstalschaften erst in der Völkerwanderungs- und Merowingerzeit dank des Zuströmens von Flüchtlingen aus dem nördlichen Alpenvorland und dank des Wirkens der christlichen Kirche äußerlich ganz romanisiert wurden und daß viele von ihnen die Sprache ihrer Vorfahren über der lateinischen noch nicht ganz vergessen hatten, als sich in ihrer Heimat Langobarden und Baiern niederzulassen begannen (R. 1, 74). Verhielt es sich tatsächlich so, so kann dies keineswegs be- fremden. War doch die Bevölkerung des Mündungsgebietes der Passer, wie oben angedeutet, ihrem Blut nach während der Römerzeit nicht dem altitalischen Volks- tum eingefügt worden. Vom Tun und Treiben der römerzeitlichen Burggräfler erzählt leider keine schriftliche Quelle. Was die Aufzeichnungen über die gegen Ende des 4. Jahrhunderts im Nonsberg erschlagenen christlichen Glaubensboten von den Sitten und Bräuchen der rauhen Bewohner dieser Talschaft berichten142), läßt ahnen, wie urwüchsig die Zustände waren, die damals im nahen Burggrafenamt abseits des Verkehrsweges herrschten. In den bescheidenen Siedlungen, die hier nächst der via Claudia Augusta lagen, wird sich das Leben im späteren Altertum gewiß ebenso abgespielt haben, wie in den römischen Straßen benachbarten Dörfern und Flecken in anderen Land- strichen gleicher Art innerhalb des Kaiserreiches. Diese Annahme wird durch die Funde bestätigt. Außer sogenannten Konsularmünzen, späteren Prägungen aus der Zeit von Augustus bis zu Justinian I. und einem Goldstück des Kaisers Heraklios, die im Bereich von Mais und Meran, vereinzelt aber auch in bzw. bei Algund, Gratsch,

141) Über Sindual und seine Empörung zuletzt Heuberger, Rätien 1, S. 155 — 159 und — etwas anders — Löhlein, Die Alpen- und Italienpolitik der Merowinger, S. 51 —53. 142) Dazu J. Jung, Römer und Romanen in den Donauländern1 (1887), S. 162 — 164.

42 Marling, Naturns, Partschins, Rabland, Riffian, Schenna und Töll zutagegekommen sind143), wurden in dem hier in Rede stehenden Landstrich zahlreiche Dinge rö- mischen Ursprungs mit Hilfe des Spatens entdeckt, hauptsächlich auf dem Boden von Ober- und Untermais. Hier fanden sich, 80 cm bis 2 m unter der Erde: Brand- und Skelettgräber, Reste eines Straßenpflasters, Grundmauern von Gebäuden, teilweise mit Brandschutt, Ziegel, Überbleibsel eines Mosaikfußbodens, das bereits erwähnte Reliefbruchstück, ein ehernes Merkurbild, Bronzeringe, Gewandnadeln, das Bruchstück eines Bronzeschmuckes, Spinnwirtel, Gefäßscherben, sogenannte Tränenfläschchen, Teile von Handmühlen, eine Pferdetrense, Reste von Pferde- geschirren, eiserne Pfeil- und Speerspitzen, eine Schwertklinge und Bruchstücke von solchen aus Eisen, steinerne Schleuderkugeln und verschiedene andere Gegen- stände144). Diese besonders in den Jahren 1887—1894 gewonnenen Funde gleichen in ihrem Gepräge denen, die man anderwärts in den einst zum römischen Reich gehörigen Landschaften gemacht hat, und sie bestätigen somit das oben Gesagte; wenngleich die rohe Arbeit vieler Stücke, so der ohne Benutzung der Drehscheibe gefertigten Gefäße, zeigt, daß die Gesittung der Burggräfler auch nach der Einfügung ihrer Heimat in das Römerreich noch sehr rückständig blieb145). Außer Zweifel steht es auch, daß man sich im Mündungsgebiet der Passer unter der Herrschaft Roms daran gewöhnte, die Häuser nicht mehr, wie bisher, nur aus Holz, sondern auch nach römischer Art aus Stein herzustellen und daß diese Bauweise hier, ebenso wie sonst in Südtirol, nicht mehr in Vergessenheit geriet146). Daß auch im Burg- grafenamt nach römischer Sitte Altäre und Grabdenkmäler errichtet wurden, be- zeugen der Zieltaler Dianaaltar (CIL. 5, Nr. 5090, IBR. Nr. 68), das Untermaiser Reliefbruchstück und der Grabstein von Partschins (CIL. 5, Nr. 5089, IBR, Nr. 67). In der Nähe und in der weiteren Umgebung der Passermündung fand also, wenigstens mancherorts, Einiges von der höheren Gesittung der alten Mittelmeerwelt Eingang; allerdings kaum in weiteren Kreisen der Bevölkerung. Blieb die Gesittung der Burg- gräfler zur Römerzeit doch, wie bereits erwähnt, im allgemeinen sehr rückständig. Daß sich im Burggrafenamt in den Tagen der Römerherrschaft auf land- wirtschaftlichem Gebiet manches verändert haben wird, versteht sich von selbst. Zur Entstehung von großen Grundherrschaften, auf denen abhängige und später sogar Schollenpflichtige Leute die Feldarbeit versahen, kam es hier freilich damals anscheinend kaum in ausgedehntem Maße. Der Name des Dorfes Riffian wird zwar gemeinhin auf ein lateinisches Rufianum (von Rufus) und jener des Ortes

143) Orgler, Zeitschrift des Ferdinandeums 3. Folge 22, S. 62, 72—76, 78, 80, C. Stampfer, Programm des k. k. Obergyninasiums zu Meran 1884, S. 12, 18, Mazegger, Römerfunde3, S. 2 f., 5, 7, 9—13, derselbe, Mitteilungen der Zentralkommission 3. Folge 2 (1903), Sp. 106 f., Laviosa, Carta 1, S. 10—13. 144) Stampfer, Programm Meran 1884, S. 17 f., Mazegger, Römerfunde3, S. 1 — 10 (dazu am Schluß des Buches 4 Abbildungstafeln und eine Planskizze); vgl. auch Mazegger, Mit-' teilungen der Zentralkommission 3. Folge 2, Sp. 106, Laviosa, Carta 1, S. 12. 145) Menghin, Mitteilungen der anthropologischen Gesellschaft in Wien 41, S. 307. 146) Wopfner in dem vom Hauptausschuß des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins herausgegebenen Werk „Tirol, Land, Natur, Volk und Geschichte" (1933), S. 221 f.

43 Schenna (Schennan) von manchen auf ein lateinisches Scenianum (von Scenius) zurückgeführt147). Derartige, nach der herrschenden Meinung an Landgüter römischer Grundherren erinnernde Örtlichkeitsbezeichnungen, die im Süden des alpinen Flußgebietes der Etsch und noch in der Gegend von Bozen häufig vorkommen, sind indes im Burggrafenamt und in dessen nächster Nachbarschaft nur selten — der Name Merans selbst scheidet hier natürlich aus — und die Eigennamen, von denen man sie abzuleiten hat, klingen hier meist nicht lateinisch148). Der Ackerbau an sich erlangte jedoch zweifellos in römischer Zeit im Mündungsgebiet der Passer eine weit höhere Bedeutung, als er sie vorher besessen hatte, die Viehzucht gewann vielleicht in dieser Gegend durch die Einführung hochwertiger Schläge von Groß- und Kleinvieh und wahrscheinlich nützte man hier jetzt auch die Bergwiesen in weitergehendem Maße als früher als sommerliche Weiden149). Mit Bestimmtheit darf ferner angenommen werden, daß sich in der näheren und weiteren Umgebung von Meran, wie auch in jener von Bozen, in den Tagen der Römerherrschaft der hier wohl schon vorher betriebene Weinbau (s. o. S. 12) auf eine höhere Stufe und zu größerer Wichtigkeit erhob. Die Römer mögen ein vervollkommnetes Verfahren bei der Verarbeitung des Traubensaftes und etwa auch hochwertige Rebenarten im Mündungsgebiet der Passer, wie auch in der Bozner Gegend, eingeführt haben. Hier konnte sich die Weinerzeugung früher, als in dem nicht mehr zu Venetien gehörigen Eisacktal, frei entfalten. Verboten doch die Kaiser der früheren Zeit öfters den Weinbau in den außeritalischen Teilen ihres Staates150). Außer den Obstbäumen ist endlich vielleicht auch die Edelkastanie schon während des Altertums im Burg- grafenamt heimisch geworden151). Auch in Glaubenssachen entwickelten sich die Verhältnisse in der Meraner Gegend begreiflicherweise ähnlich, wie in anderen Landstrichen des römischen Reiches. Daß auch hier die alten Gottheiten jetzt Gestalten der römisch-griechischen Götterwelt gleichgesetzt und unter dementsprechenden lateinischen Benennungen verehrt wurden, lehrt vielleicht der Zieltaler Dianaaltar (s. o. S. 15). Auch auf dem Segenbüchel mag man nunmehr den himmlischen Wesen, an die die Vorfahren geglaubt hatten, unter den Namen römisch-griechischer Götter geopfert haben, ebenso wie man jetzt im Nonsberg sowie in der Gegend von Tridentum einem Sa- turnus diente, der in Wahrheit der höchste einst hier verehrte Gott war (s. o. S. 14). Daneben kann im Mündungsgebiet der Passer auch manche Gottheit der Urzeit noch in den Tagen der Römerherrschaft unter ihrem ursprünglichen Namen verehrt

147) J. Tarneller, Archiv für österreichische Geschichte 100 (1910), S. 181, 255. 148) Darüber und über die Verbreitung ursprünglich auf -anum auslautender Ortsnamen in Südtirol K. v. Ettmayer, Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 9. Ergänzungsband (1913), S. 6—8. Zu v. Ettmayers Arbeitsweise und Folgerungen vgl. aber Heuberger, Rätien 1, S. 239—241. Eine Ableitung des Namens „Schenna" von scena erwähnt bei Tarneller, Archiv für österreichische Geschichte 100, S. 255. 149) Über Ackerbau und Viehzucht in der Schweiz zur Römerzeit Stähelin, Schweiz2, S. 398-400. 150) Vgl. z. B. Mommsen, Römische Geschichte 55, S. 99 f., Stähelin, Schweiz2, S. 401 f 151) Zur Einführung der Edelkastanie in Südtirol K. Meusburger, Schlern 14 (1933), S. 56 f

44 worden sein, wie dies auch anderwärts, so z. B. in den zur Gallia Belgica gehörigen Teilen der Schweiz152) geschah. Denn der römische Staat war im Geist einer hohen sittlichen Auffassung äußerst duldsam gegen alle Religionen, die seine Hoheits- befugnisse, die geistige Freiheit und die öffentliche Sittlichkeit nicht gefährdeten und nicht mit dem Anspruch auf unbedingte Alleinberechtigung auftraten; und dies änderte sich erst, als er unter den beherrschenden Einfluß der christlichen Kirche kam, deren Angehörige das stets für sich selbst beanspruchte Recht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit anderen versagten und von nun an jedermann unter hemmungsloser Heranziehung der staatlichen Machtmittel zum Eintritt in ihre Gemeinschaft, ja sogar zum Glauben an ihre Dogmen in der jeweils vorgeschrie- benen Fassung zu zwingen suchten153). Zeugnis von der Verehrung einer griechisch- römischen Gottheit in unserer Gegend legt das eherne Merkurbild ab, das in Mais entdeckt wurde154), sofern es nicht etwa in Wahrheit in entsprechender Verhüllung einen einheimischen Gott, am ehesten jenen, dem man von altersher auf dem Segen- büchel gedient hatte, darstellen sollte. An diese Möglichkeit wäre zu denken, wenn man sich daran erinnert, daß die Römer Hauptgötter fremder Völker, so der Ger- manen155) und Kelten156) mit Vorliebe dem Merkur gleichsetzten, und wenn man sich vergegenwärtigt, daß die antike Passersiedlung zwar gewiß nicht Maia, sondern Maies hieß, also nicht den Namen der Mutter des Hermes-Merkur trug (s. u. S. 66—68), daß es aber trotzdem besonders nahe lag, einen in der Gegend dieses Ortes verehrten Gott als den Sohn der Maia aufzufassen. Da man nachweislich bei manchen römischen Zollämtern, z. B. zu St. Maurice im Wallis, zu einem genius stationis betete157), so könnte auch in der statio Maiensis quadragesimae Galliarum ein solcher Schutzgeist verehrt worden sein. Daß der von amtswegen geförderte Kaiserkult — an die Gött- lichkeit der Herrscher zu glauben, wurde nicht verlangt158) — auch für das Burg- grafenamt Bedeutung gewann und hier ebenso, wie anderwärts, z. B. in der gallischen Schweiz159) der altheimischen Religion mehr Abbruch tat, als die Verehrung der römisch-griechischen Gottheiten, steht außer Frage, wenn auch die in der Inschrift des Zieltaler Dianaaltars erscheinende Wendung in honorem domus divinae vor allem als Ausdruck einer staatstreuen Gesinnung aufzufassen ist160). Bei Nals, also in der Nachbarschaft der Meraner Gegend, lag vielleicht ein Träger des munizipalen Kaiser- kults begraben (s. o. S. 31). Gewiß bürgerten sich während der Kaiserzeit, namentlich seit dem 2. Jahrhundert, im Zusammenhang mit der steigenden Notlage, der inneren Auflösung und der Orientalisierung der römisch-griechischen Welt, wie in anderen Landstrichen des Reiches, so auch in der Meraner Gegend die teil-

152) Stähelin, Schweiz2, S. 485-498. 153) Über all dies vgl. z. B. R. v. Poehlmann in Ullsteins Weltgeschichte 1 (1909), S. 606-628. 154) Stampfer, Programm Meran 1884, S. 17. 155)E.Mogk,bei J.Hoops,ReallexikondergermanischenAltertumskunde4(1918—1919),S.559. 156) Stähelin, Schweiz2, S. 502. 157) Stähelin, Schweiz2, S. 474. 158) Über Inhaltund Sinn des Kaiserkults u.a. v. Poehlmann inUllsteins Weltgeschichte 1.S.609. 159) Stähelin, Schweiz2, S. 466-472. 160) Vgl. z. B. Stähelin, Schweiz3, S. 469.

45 weise mehr oder weniger monotheistischen Offenbarungs-, Mysterien- und Er- lösungsreligionen des Morgenlandes ein161). Bezeugen doch noch vorhandene Denk- male, daß im nahen Eisacktal die Verehrung der ägyptischen Isis, des persischen Mithras und des ihm später gleichgesetzten Sol Wurzel faßte (R. 1, 66) und daß man in dem noch näheren Nonsberg eifrig dem Mithras diente162). Schließlich setzte sich dann — und damit hing wohl das an den Gräberfunden in Mais (s. o. S. 43) nachweisbare Aufhören der Feuerbestattung zusammen — das Christentum, das die andern großen und ebenfalls nach Weltgeltung strebenden Jenseits- und Heilandsreligionen des Ostens überflügelt und die Herrschaft im Staat der Cäsaren gewonnen hatte, auch im Mündungsgebiet der Passer durch. Dies geschah trotz der Nähe der Stadt Tridentum, die, wie andere ihresgleichen, zu einem Ausstrah- lungspunkt für die Verbreitung der christlichen Lehre werden mußte, kaum viel früher, als in den zu Rätien gehörigen Talschaften Tirols, in denen der neue Reichs- glaube trotz allen zu seinen Gunsten ausgeübten Druckes nicht vor der Mtte des 5. Jahrhunderts einigermaßen gesiegt haben dürfte (R. 1, 179). Denn das Christen- tum verbreitete sich auch in den Bergtälern der regio Tridentina nicht wesentlich früher, so im Nonsberg, wo erst zu Ende des 4. Jahrhunderts einige Leute ihrem alten Glauben abwendig gemacht werden konnten163), und in der Val Rendena, wo der Trienter Bischof Vigilius noch im Jahre 400 oder 405 die Vernichtung eines allgemein verehrten Saturnstandbildes mit dem Tod büßen mußte164); und die neue Lehre hat sogar in Tridentum selbst erst recht spät die Herrschaft erlangt. Dies erhellt daraus, daß der eben genannte Bischof Vigilius, der Nachfolger des zum Jahr 381 bezeugten Bischofs Abundantius, in seiner Würde nur zwei Vorgänger hatte164a), daß er bei seinem Amtsantritt bloß außerhalb der Stadt, auf dem Dos Trento, ein christliches Gotteshaus vorfand164b) und daß er seine Weihe noch nicht innerhalb der Mauern von Tridentum empfangen konnte164c); wie es denn auch bezeichnend ist, daß weder er selbst — er war angeblich ein gebürtiger Römer — noch einer der drei Geistlichen, die im Jahre 397 bei der Bekehrungsarbeit im Nonsberg erschlagen wurden, aus der regio Tridentina stammte164d).

161) Über das religiöse Leben des römischen Kaiserreiches vgl. u. a. v. Poehlmann in Ullsteins Weltgeschichte 1, S. 574—598, S. Wide-M. P. Nilsson bei A. Gercke-E. Norden, Einleitung in die Altertumswissenschaf123 (1922), S. 250—263, 308-312. 162) Über Nonsberger Mithrasdenkmäler Mayr, Schlern 9, S. 84—88. 163) Ueber das Eindringen des Christentums in den Nonsberg Inama, Storia delle valli di Non e di Sole, S. 73—79. 164) Passio sancti Vigilii, episcopi et martyris (herausgegeben von L. Cesarini Sforza, Per il XV. centenario della morte di s. Vigilio, vescovo e martire, Scritti di storia e d'arte, Trento 1905, S. 5—29), S. 23 f. Über das Todesjahr des Bischofs vgl. Cesarini Sforza, Per il XV. centenario della morte di s. Vigilio, S. 29, A. 1. 164a) G. Gerola, Studi Trentini di scienze storiche 12 (1931), S. 201 f. 164b) Gerola, I monumenti antichi del Dos Trento (SA. aus Trentino, Rivista mensile della legione Trentina 9, 1926), S. 6, 8. 164c) Passio sancti Vigilii, S. 16. 164d) Über Rom als Heimat des Bischofs Vigilius vgl. Passio s. Vigilii, S. 13 f. Betreffs der Herkunft der drei 397 getöteten Geistlichen s. o. A. 133.

46 5. Der heilige Valentin.

Die Verbreitung des Christentums im Burggrafenamt wird gern mit der Gestalt des heiligen Valentin in Zusammenhang gebracht, von dem man im Hochmittelalter und später zu wissen behauptete, er sei ursprünglich Bischof von Passau gewesen, habe aber in dieser Stadt wenig Erfolg gehabt, hierauf in andern Gegenden Rätiens, namentlich im alpinen Rheintal, eine ertragreiche Wirksamkeit entfaltet, in Mais ein Kloster gegründet und hier um 470 sein Leben beschlossen165). Indes diese ganzen Erzählungen sind, wie man schon längst erkannt hat, geschichtlich völlig wertlos166). Die Grundlage für ihre Erfindungen bildet lediglich die Meinung, der beatus Christi confessor Valentinus, dessen Leichnam nach Arbeo von Freising167) während der ersten Jahrzehnte des 8. Jahrhunderts in einer nach dem Heiligen benannten Kirche nächst der Passer im castrum Maiense (Magense) lag, dann von den Langobarden nach Trient und schließlich durch Herzog Tassilo von Bayern und Bischof Josef von Freising (+ 764/765) nach Passau gebracht wurde, sei jenem Valentinus gleich- zusetzen, der laut einer ungefähr im Jahre 480 gesprächsweise gegenüber St. Severin gemachten, durch Eugippius168) überlieferten Bemerkung des damals schon hoch- bejahrten Priesters Lucillus Raetiarum episcopus, vielleicht auch abbas des Lucillus gewesen und an einem 7. Jänner gestorben war. Alles, was die Legende im einzelnen von ihrem Helden berichtet, ist — und deshalb besitzt es für die geschichtliche Erkenntnis keinerlei Bedeutung169) — offensichtlich nur durch eine Verwendung der eben angeführten Quellenzeugnisse und durch eine Ausmalung des auf diese Weise umrissenen Bildes gewonnen. Weil der Valentin des Eugippius ein rätischer Bischof und ein abbas gewesen war, mußte der Heilige die bischöfliche Weihe besessen und einer Gemeinschaft von Mönchen vorgestanden haben. Weil man wußte, daß die Leiche des beatus Christi confessor Valentinus früher im castrum Maiense verwahrt, schließlich aber nach Passau überführt worden und daselbst dauernd zur Ruhe gekommen war, mußte der heilige Mann ursprünglich die Kirche jener Stadt geleitet, dabei kein Glück gehabt, zuletzt im Burggrafenamt gewirkt und dort sein Kloster gestiftet sowie sein Leben geendigt haben. Dagegen ließe sich freilich einwenden, die Tatsache, daß die eben erst von den Langobarden nach Trient verschleppten Gebeine des Heiligen — gewiß im Zusammenhang mit der Angliederung des Burggrafenamtes an Bayern, die vor 765 stattfand (R. 1,208), — durch den letzten Agilolfinger, der dem König Desiderius persönlich und politisch nahestand, und durch Bischof Josef von Freising nach Passau

165) Vgl. z. B. Sparber, Schlern 8 (1927), S. 33 f. 166) Vgl. etwa S. Riezler, Geschichte Bayerns l/l2 (1927), S. 169, A. 3. 167) Vita Corbiniani 23, 33, 38, 41 (Scriptores rerum Gennanicarum, 1920, S. 214 f., 224, 227-229). 168) Vita Severini 41 (Scriptores rerum Gennanicarum, 1898, S. 48). 169) Dies verkennt u. a. noch Castelpietra, Merano Romana, S. 5, 9.

47 (und nicht nach Freising) übertragen wurden, dürfe als ein Beweis dafür angesehen werden, daß man schon in der Mitte des 8. Jahrhunderts an Beziehungen zwischen St. Valentin und Passau geglaubt habe, daß die Legende also wenigstens in diesem Punkt auf eine alte und daher vielleicht glaubwürdige Überlieferung zurückgehe. Daraufhin könnte dann ein ähnlicher Sachverhalt auch für andere Teile der St. Va- lentinsgeschichte vermutet werden. Allein mit derartigen Schlußfolgerungen be- fände man sich auf einem ganz falschen Weg. Denn daß der Baiernfürst anläßlich der Erwerbung des Burggrafenamtes die vor kurzem noch daselbst bestattet ge- wesene Leiche des Heiligen beanspruchte -und sich um deren Überführung nach Passau bemühte, erklärt sich aus seinem bekannten Streben, die Kirchen seines Landes in jeder Hinsicht und zwar auch bei der Gewinnung von Reliquien zu fördern170). Daß sich aber Bischof Josef an der Angelegenheit beteiligte, ohne sie für sein eigenes Hochstift nutzbar zu machen, erscheint als verständlich, wenn man sich daran erinnert, daß die Freisinger Kirche, die 769 das Kloster Innichen erhalten sollte (E. 1, 191 f., A. 164), zu Bayrisch-Tirol, das seit 739 für eine Weile zu ihrem Sprengel gehört hatte (R. 1, 191—195), und namentlich zum Burggrafenamt, in dem sie seit der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts Güter und eine Pfarrei () besaß171), in besonders nahen Beziehungen stand, und daß sie andrerseits mehr danach trachten mußte, die Gebeine ihres ersten Bischofs, des damals im castrum Maiense bestatteten heiligen Korbinian, zu erwerben, die sie in der Tat schon 765 erhielt (R. 1,43, A. 127), als jene St.Valentins. Daß endlich die Überreste des letztgenannten Heiligen gerade nach Passau kamen, konnte durch den persönlichen Einfluß der dortigen Geistlichkeit auf den Herzog oder durch andere, uns nicht mehr bekannte Umstände bedingt sein. Das Passauer Hochstift war insoferne das älteste Bayerns, als der heilige Bonifatius 739 bei seiner Ankunft in diesem Land bloß in Passau einen kanonisch und zwar von Papst Gregor III. selbst geweihten Bischof vor- gefunden hatte (R. 1, 191). Auch konnten Ansprüche auf St. Valentins Leichnam, wenn sie von'Freising nicht geltend gemacht wurden, am ehesten von Passau erhoben werden. Denn die Kirche von Augsburg gehörte nicht mehr zu Bayern, die von Säben war erst vor kurzem wieder errichtet worden (s. u. S. 54) hatte wohl noch keinen Einfluß auf Tassilo und kann möglicherweise schon die wirklichen oder angeblichen Überreste ihres einstigen Bischofs, des nachmals als Heiligen betrach- teten Ingenuin, besessen haben172), die von Regensburg nannte bereits die irdische Hülle St. Emmerams ihr eigen173) und die von Salzburg, die in der Folge bald mit den Reliquien St. Ruperts ausgestattet werden sollte, stand in den Jahren 747—767 unter der Leitung des sehr eigenartig und selbständig denkenden Abtes Virgil von

170) Darüber A. Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands3-4 2 (1912), S. 427 f. 171) A. Jäger, Geschichte der landständischen Verfassung Tirols 1 (1881), S. 315, G. Morin, Korbinian-Festgabe, S. 72. 172) Darüber, daß Ingenuin erst seit dem 10. Jahrhundert als Heiliger galt und daß seine Reliquien wahrscheinlich erst damals auftauchten, vgl. Heuberger, Festschrift für A. Brack- mann (1931), S. 34-39. 173) Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands3-4 1 (1904), S. 378.

48 St. Peter, dessen Blick vor allem auf den slavischen Südosten gerichtet war174). Hält man sich all dies vor Augen, so erkennt man leicht, daß die Überführung der Gebeine des beatus Christi confessor Valentinus nach Passau lediglich bezweckte, dem dortigen Hochstift einen Schatz zu verschaffen, wie ihn die anderen Bischofs- kirchen Bayerns entweder schon besaßen oder doch hoffen durften, bald zu ge- winnen. Dieser Vorgang kann also nicht zugunsten der Annahme ins Treffen geführt werden, die auf die Bischofswürde ihres Helden bezügliche Angabe der St. Valentins- legende entspreche einer alten Überlieferung und enthalte somit vielleicht etwas Wahres. Tatsächlich läßt sich denn auch dartun, daß der Heilige nicht Bischof von Passau gewesen sein kann und daß die Meinung, er sei es gewesen, erst nach der Zeit Karls des Großen entstanden ist175). Das römische Passau war ja auch keine Stadt im Eechtssinn (R. 1,103), also an sich gar nicht dazu berufen, Bischofssitz zu werden. Beherbergten doch nur ganz ausnahmsweise nichtstädtische Orte, so Säben und einige castra der gallischen Schweiz während der Völkerwanderungszeit Inhaber der bischöflichen Weihe (R. 1, 181, 324). Es geht auch nicht an, die auf die Bischofswürde ihres Helden bezügliche Angabe der Legende dadurch als geschichtlich zu retten, daß man sie umdeutet und annimmt, St. Valentin sei zwar kein Bischof von Passau, wohl aber ein rätischer Wanderbischof gewesen (R. 1, 297). Übrigens wäre ein solches Verfahren zur Not nur statthaft, wenn man es mit einer alten und gut beglaubigten Überlieferung zu tun hätte, was aber hier nicht der Fall ist. Ebenso- wenig wie in Passau sind im Burggrafenamt irgendwelche greifbare Spuren einer Erinnerung an St. Valentin und dessen Wirken nachzuweisen. Von einem Kloster zu Mais verlautet während des früheren Mittelalters nichts, weder die Meraner Gegend noch der Vinschgau besitzt eine jenem Heiligen geweihte Kirche, die auf ein höheres Alter zurückblicken kann176), und die für das frühere Mittelalter nicht beglaubigte Verehrung St. Valentins in Obermais ist wahrscheinlich erst im 12. Jahr- hundert aufgekommen177), wo nicht noch später. Zudem gilt oder galt als Schutzherr mancher etschländischer Valentinskirchen nicht der angebliche Passauer Bischof, sondern der im 3. Jahrhundert seines Glaubens wegen hingerichtete Bischof Valentin von Terni und dieser Mann, dessen Fest auf den 14. Februar fällt, wird noch heute als zweiter Schutzheiliger der Kirche von Obermais betrachtet178). Unter diesen Umständen ist es für jeden, der über den fragwürdigen Quellenwert so mancher Heiligenleben Bescheid weiß179) und nicht von blinder Gläubigkeit an alle Über- lieferungen älterer Zeiten beseelt ist, ganz unbegreiflich, daß noch heutzutage das,

174) Über das damalige Bistum Salzburg und Virgil Hauck, Kirchengeschichte Deutsch- Iands3-4 2, S. 427-429, 468 f. 175) Riezler, Geschichte Bayerns l/l2, S. 169, A. 3, Heuberger, Rätien 1, S. 295 f. 176) Vgl. H. Fink, Die Kirchenpatrozinien Tirols (1928), S. 217, 219, A. 2. 177) Morin, Korbinianfestgabe, S. 73. 178) Fink, Kirchenpatrozinien, S. 216. Über Valentin von Terni u. a. M. Buchberger, Kirchliches Handlexikon 2 (1912), Sp. 2540. 179) Über Wesen und geschichtliche Verwertbarkeit dieser Quellen vgl. z. B. E. Bernheim, Lehrbuch der historischen Methode^ (1908), S. 358, 369 f., 492.

4 49 was man im Hochmittelalter und später von dem angeblich um 470 verstorbenen heiligen Valentin erzählte, nicht bloß in Erbauungsbüchern harmlos benützt und ausgeschmückt180), sondern sogar in Werken und Schriften gläubig nachgesprochen wird, die ernst genommen werden oder gar als wissenschaftlich gelten wollen181). Selbstverständlich geht es auch nicht einmal an, einzelne Angaben der Legende zu verwerten, die nicht geradezu als sachlich unmöglich oder als irrig zu erweisen sind. Widerstritte ein solches Verfahren doch den allgemein anerkannten Grund- sätzen über die Beurteilung und Benützung als unzuverlässig erkannter Quellen, die von Ereignissen und Gestalten einer weit zurückliegenden Vergangenheit be- richten182). Was wissen wir aber nun in Wahrheit von unserem St. Valentin? Zunächst muß betont werden: Daß er überhaupt jemals gelebt hat, kann nicht als eine ein- wandfrei verbürgte Tatsache angesehen werden. Ob die bereits angeführte Äußerung des Eugippius auf ihn bezogen werden darf, ist dem unten Gesagten zufolge mehr als fraglich. Die nicht über dem Grab ihres Schutzheiligen erbautenV alentini benedicti templa aber, die sich nach Venantius Fortunatus183) um 565 auf dem Boden Tirols und zwar, wo nicht an einem unbestimmbaren Ort (R. 1, 217, A. 12a) wahrscheinlich auf der vielleicht schon vor dem Sieg des Christentums mit einem Paßheiligtum gekrönten Höhe des Brenners befanden184), könnten auch St. Valentin von Terni geweiht gewesen sein. Denn dieser Blutzeuge war vielleicht auch der Schutzherr alter, an Bündner Römerwegen erbauter Kirchen185), er wurde, wie bereits erwähnt, später nachweislich auch in Tirol verehrt und man weiß, daß in diesem Land auch sonst während der Römer- und Frankenzeit die Verehrung italischer Heiliger Eingang fand, so die St. Kassians im Eisacktal (R. 1, 169 f.). Die älteste unzweifelhaft auf unseren Heiligen bezügliche Quellenaussage ist also erst das schon angeführte Zeugnis Bischof Arbeos von Freising, demzufolge in der ersten Hälfte des 8. Jahr- hunderts im castrum Maiense die Überreste des beatus Christi confessor Valentinus verwahrt wurden. Damit ist aber noch nicht bewiesen, daß der damals im Burggrafen- amt verehrte Leichnam wirklich das war, als was er galt. Es fehlt also jedes, der an- geblichen Lebenszeit St. Valentins nahestehende Zeugnis dafür, daß dieser Mann jemals wirklich gelebt hat. Erinnert man sich nun daran, daß im römischen Reich

180) Vgl. z. B. die geradezu abenteuerliche, im Innsbrucker Pfarrblatt 16 (1935), Nr. 4, S. 3—5 wieder abgedruckte Abhandlung über St. Valentin in J. Walterscheid, Deutsche Heilige, eine Geschichte des Keiches im Leben deutscher Heiliger (1935). 181) So z. B. bei Wetzer und Welte, Kirchenlexikon8 12 (1901), Sp. 549-551, bei J. G. Mayer, Geschichte des Bistums Chur 1 (1907), S. 42 f. und bei J. Kröß, Die Heiligen und Seligen Tirols 1, (Austria sancta, Studien und Mitteilungen aus dem kirchengeschicht- lichen Seminar der theologischen Fakultät der k. k. Universität in Wien 5 1910) S. 88 — 99. Ähnlich, wenn auch etwas vorsichtiger, Sparber, Schlern 8, S. 33 f. 182) Vgl. z. B. Bernheim, Lehrbuch der historischen Methode5-6, S. 502 f., 522 f. 183) Vita Martini 4, Vers 647 (Monumenta Germaniae, Auctores antiquissimi 4, 1881, S. 368). 184) Heuberger, Rätien 1, S. 215-219, K. Staudacher, Schlern 15, S. 278 f. 185) Gegen diese Vermutung — nicht völlig überzeugend — Fink, Kirchenpatrozinien, S. 215 f.

50 seit dem 4. und 5. Jahrhundert häufig neue Heilige entdeckt und deren angebliche Überreste gefunden wurden, daß innerhalb dieses Staatsgebietes, namentlich außer- halb der Städte, allerwärts Götter und Halbgötter, denen man an bestimmten Orten gedient hatte, durch christliche Blutzeugen und sonstige Heilige verdrängt wurden186), so etwa in Porto S. Venere bei Monteleone Calabro Aphrodite-Venus durch S. Venere187), so ist demnach mit der Möglichkeit zu rechnen, daß der beatus Christi confessor Valentinus, dessen Leib man — vielleicht nicht erst im 8. Jahrhundert — im castrum Maiense zu besitzen glaubte, in Wahrheit ursprünglich nichts anderes gewesen sei, als eine zu einem christlichen Heiligen umgewandelte Ortsgottheit der Ur- und Römerzeit; zumal sich bei Maies schon in vorgeschichtlicher Zeit ein Mittelpunkt des religiösen Lebens befunden hatte (s. o. S. 14). Da St. Valentin schon im 5.—6. Jahrhundert am Unterlauf der Passer verehrt worden sein kann, bliebe selbstverständlich das eben Gesagte auch dann in Geltung, wenn das von Venantius Fortunatus erwähnte Gotteshaus jenem Bekenner geweiht gewesen sein sollte, was in der Tat sehr wahrscheinlich ist und daher wohl mit Recht ganz allgemein angenommen wird188). Mit dem eben Ausgeführten sind jedoch nur Möglichkeiten angedeutet, auf die hier nicht weiter eingegangen werden soll. Es gilt also nunmehr, auf Grund der Voraussetzung, daß unser St. Valentin als eine geschichtliche Gestalt aufzufassen sei, zu untersuchen, was man in Wahrheit von diesem Mann weiß. Er galt — ebenso, wie der am Geburtsort St. Korbinians verehrte St. Germanus (Vita Corbiniani 2), der seines Glaubens halber nie behelligt worden war189)—dem Bischof Arbeo von Frei- sing als confessor, d. h. als ein nicht zu den Blutzeugen gehöriger Heiliger190) und war nach diesem Gewährsmann in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts in einer Kirche im castrum Maiense bestattet. Auch läßt es sich, wie eben erwähnt, kaum bezweifeln, daß er der Schutzherr der nicht über seinem Grab errichteten Valentini benedicti templa war, die nach Venantius Fortunatus um 565 irgendwo in Tirol und zwar wahrscheinlich auf dem Brenner standen. Anders steht es dagegen mit der auch von ernsten Forschern191) vertretenen Meinung, der Heilige sei möglicherweise jener Valentinus Raetiarum episcopus gewesen, der, wie schon bemerkt, nach Eugip- pius von einem Gefährten St. Severins, dem Priester Lucillus, vielleicht als sein abbas verehrt wurde192), in der ersten Hälfte oder um die Mitte des 5. Jahrhunderts im nördlichen Alpenvorland gelebt hatte und wahrscheinlich ein Bischof von Augusta Vindelicum (Augsburg) gewesen war (R. 1, 293—299). Denn sieht man näher zu

186) vgl. z. B. K. Heussi, Kompendium der Kirchengesehichte4 (1919), S. 122 f., Schneider, Rom und Romgedanke im Mittelalter, S. 36—39. 187) Schneider, Rom und Romgedanke im Mittelalter, S. 38. 188) So zuletzt von Heuberger, Rätien 1, S. 215 und von Staudacher, Schlern 15, S. 278. 189) Über St. Germanus, Bischof von Auxerre und St. Germanus, Bischof von Paris, vgl. Wetzer-Welte, Kirchenlexikon2 5 (1888), Sp. 447-449, 453-455. 190) Über die Bedeutung des Wortes confessor seit dem 4. Jahrhundert vgl. Wetzer-Welte, Kirchenlexikon2 2 (1883), Sp. 269. 191) So von Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands l3-4, S. 360, A. 5. 192) Darüber, was hier unter abbas zu verstehen sein kann, Heuberger, Rätien 1, S. 294.

4* 51 und läßt man sich weder durch die nachweislich unglaubwürdige Valentinslegende noch durch lokalpatriotische Anwandlungen beeinflussen, so ergibt sich, daß nicht der mindeste Anlaß dazu vorliegt, den Heiligen und den Bischof für eine und dieselbe Gestalt zu halten (R. 1,295). Der Name Valentin war gleich anderen, ihm verwandten, im ausgehenden Altertum recht beliebt geworden, und wie wenig mit Schlüssen anzufangen ist, die aus bloßer Namensgleichheit gezogen werden, lehrt schon die Tatsache, daß in jedem Adreßbuch einer heutigen Stadt zahlreiche Leute erscheinen, die die gleichen Vor- und Zunamen tragen. Von dem durch Venantius Fortunatus und Arbeo bezeugten Valentin weiß man nur, daß er um 565 in dem von der Brenner- straße durchzogenem Gebiet als Heiliger galt und daß er in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts in einer einst vermutlich zu Venetien und nicht zu Rätien gehörigen Berggegend begraben war. Davon, daß er jemals im rätischen Flachland gewirkt habe und daß er ein Geistlicher oder gar ein Bischof gewesen sei, verlautet dagegen nichts. Der von Eugippius genannte Valentin ist dagegen bloß als rätischer Bischof des 5. Jahrhunderts, nicht aber als Heiliger bezeugt (R. 1, 294). Denn jener Schrift- steller läßt zwar den Priester Lucillus sagen, er sei im Begriff, den Todestag des sanctus Valentinus Raetiarum quondam episcopus zu feiern, und daraufhin St. Severin eine Bemerkung machen, die mit den Worten begann: Si beatus Valentinus haec tibi celebranda sollemnia delegavit. Allein sanctus heißt bei Eugippius,. wie auch bei seinen Zeitgenossen, jeder Bischof (R. 1, 294, bes. A. 7) und das Wort beatus wurde bekanntlich im Mittelalter ganz allgemein den Namen Verstorbener vorgesetzt. Man hat demnach gar keinen Grund, jenen Valentin für einen Heiligen zu halten. Auch werden Beziehungen dieses Geistlichen zum Alpengebiet nicht gemeldet. Die Annahme, die beiden Namensvettern seien einander gleichzusetzen, läßt sich auch nicht durch die Erwägung rechtfertigen, die Valentinsverehrung im castrum Maiense werde eher auf den bekannten und jedenfalls hervorragenderen Bischof Valentin zurückgehen, als auf einen zufällig gleichnamigen Bekenner, von dem sonst nirgendwo etwas überliefert sei193). War denn dafür, daß jemand als Bekenner, d. h. als nicht zu den Märtyrern gehöriger Heiliger gefeiert wurde, seine Lebens- stellung maßgebend ? Wer sagt uns ferner, daß jener Bischof, der seine Erwähnung bei Eugippius nur seinen persönlichen Beziehungen zum Priester Lucillus, dem Gefährten St. Severins verdankt, eine bedeutende Erscheinung und außerhalb seines Sprengeis bekannt war ? Liegt es endlich nicht auch bloß an einem glücklichen Zufall, daß wir von diesem Mann überhaupt etwas wissen ? Die Annahme, die beiden Namensvettern seien für eine und dieselbe Gestalt zu halten, eine Annahme, die, bei Licht besehen, lediglich auf bewußtem oder unbewußtem Anschluß an eine schon längst als wertlos erkannte Überlieferung später Zeiten beruht, erscheint also zum mindesten als unbegründet. Weiters entbehrt die herrschende Ansicht, der Leichnam des beatus Christi confessor Valentinus habe von Anfang an seine Ruhestätte im castrum Maiense gehabt, jeglichen Beweises (R. 1, 215 f.). Er kann vielmehr auch erst nachträglich 193) Diesen Gedanken spricht v. Braitenberg, Schlern 15, S. 19, A. 18 aus.

52 von anderswoher ins Burggrafenamt gebracht worden sein, etwa durch flüchtige Romanen aus dem rätischen Flachland, durch ausgewanderte Bewohner Nord- italiens aus ihrer im Frühmittelalter gleichfalls von manchen Drangsalen betroffenen Heimat oder durch Leute, die beim Erscheinen der Baiern in Tirol oder anläßlich eines früheren Germaneneinfalles das vom Brennerweg durchzogene Gebiet ver- ließen, aus einer Siedlung dieses Landstriches. Selbst wenn endlich der Heilige sofort nach seinem Tod im castrum Maiense beigesetzt worden sein sollte, so wäre damit noch keineswegs erwiesen, daß er in der unmittelbaren Nachbarschaft dieses festen Platzes gewirkt hat, zumal die Erinnerung an ihn, wie schon bemerkt, hier bald verschollen ist. Kann er doch, wie so mancher andere Heilige, auch auf einer Reise gestorben und an dem zunächst gelegenen sicheren Ort bestattet worden sein. Von hier aus konnte sich dann die Verehrung St. Valentins in den mittleren Alpen verbreiten194). Vom heiligen Valentin ist also — seine Geschichtlichkeit vorausgesetzt — zuverlässig nichts weiter bekannt, als daß er — wann wissen wir nicht — vor der Mitte des 6. Jahrhunderts gelebt hat und zwar, wie zu vermuten ist, in dem zu Venetien gehörigen Teil des alpinen Etschtals, vielleicht aber auch im Bereich der Brennerstraße, im rätischen Flachland oder in Norditalien. Möglich ist es aber immer- hin, daß es sich bei dem durch Arbeo von Freising und Venantius Fortunatus be- zeugten und dem von Eugippius genannten Valentinus um einen und denselben Mann handelt, daß also ein Augsburger Bischof dieses Namens als einer von jenen romanisierten Bewohnern des rätischen Flachlandes, die während der Völkerwande- rungszeit in die Alpen abwanderten (s. o. S. 40) in den Sturmtagen des 5. Jahrhunderts in einer Talschaft Tirols, vielleicht sogar wirklich in der Gegend von Meran, Schutz suchte (R. 1, 299, 324). Verhielt es sich aber tatsächlich so, dann hatte die Flucht dieses Mannes in die Berge vielleicht weitergreifende Folgen, die sich zwar nicht in der Geschichte des Burggrafenamtes, wohl aber in der kirchlichen Entwicklung des übrigen Nord- und Mitteltirol fühlbar machten. Hierauf sei noch kurz eingegangen. Nach der Besetzung des nördlichen Alpenvorlandes durch die Germanen dürfte in den mittleren Jahrzehnten des 5. Jahrhunderts das hart an der Grenze Italiens und auf einem steilen Felskopf gelegene, möglicherweise auch schon durch Wehranlagen geschützte Sähen, in das sich damals vielleicht der Präses der Raetia secunda zurückgezogen hatte195), zum Mittelpunkt eines Bistums geworden sein, das nachweislich von den Jahren 572—577 bis zum Frühjahr 591 in Unterordnung unter das Patriarchat Aquileja bestand196) und dann im Zusammenhang mit dem 194) Über die Ausbreitung der Verehrung St. Valentins und über die Tiroler St. Valentin- kirchen Fink, Kirchenpatrozinien, S. 212—220. 195) Heuberger, Rätien 1, S. 132, Solmi, Archivio storico della Svizzera Italiana 11 (1933), S. 6. 196) Über Anfänge, erste Bischöfe und Frühgeschichte des Bistums Säben Heuberger, Festschrift für A. Brackmann, S. 17-39, derselbe, Rätien 1, S. 168-188, 299 f., 323 f. Gegen diese Darlegungen, ohne sie ganz verstanden zu haben, mit wissenschaftlich kaum ernst zu nehmender Beweisführung J. M(utschlechner), Katholisches Sonntagsblatt (Brixen) 7 (1933), Nr. 6, S. 1 f. und — ganz unsinnig — I. Hopfner, Priesterkonferenzblatt (Brixen) 46 (1934), bes. S. 13-16, 244-246, 277-280.

53 Einrücken der Baiern in Tirol zugrundeging, um erst in den Vierziger- oder Fünfziger- jahren des 8. Jahrhunderts als bairisches Hochstift wieder neu zu erstehen197). Man hat nun Ursache, jene ältere ecclesia Sabionensis als Rest oder Fortsetzung der bischöflichen Kirche von Augusta Vindelicum anzusehen, die infolge des Vor- dringens der Germanen bis an den nördlichen Alpenrand zugrundegegangen war198), was übrigens auch dann angenommen werden dürfte, wenn sich erweisen lassen sollte, daß es bereits um die Mitte des 6. Jahrhunderts wieder ein Bistum Augsburg gegeben habe199). Die Ansicht, Säben sei im 5. Jahrhundert nicht bloß der Verwal- tungsmittelpunkt, sondern auch der wichtigste Ort der Raetia secunda sowie ein Munizipium und deshalb an sich dazu berufen gewesen, Bischofsitz zu werden200), beruht auf einer mit den geographischen Voraussetzungen und mit dem archäo- logischen Befund kaum vereinbaren Einschätzung der Bedeutung Säbens und hat daher wohl nicht viel für sich. Wurde aber der Sitz der Bischofskirche der Raetia secunda um die Mitte des 5. Jahrhunderts, also zu jener Zeit, in der der Raetiarum episcopus Valentinus lebte, von Augusta Vindelicum nach Säben verlegt und flüch- tete dieser Geistliche in die Tiroler Alpen, so darf man ihn vielleicht mit der Ent- stehung des älteren Bistums Säben in Zusammenhang bringen201), vorausgesetzt, daß er in seiner geistlichen Würde Nachfolger erhielt und daß diese ihren Aufenthalt in Säben nahmen, wofern er dies nicht schon selbst — vorübergehend oder dauernd — getan hatte. Im einzelnen blieben dann noch verschiedene Möglichkeiten offen, sich die Art und Weise vorzustellen, in der die ecclesia Sabionensis das Erbe der ecclesia Augustana übernahm. Doch wird kaum damit zu rechnen sein, daß Valentins Nachfolger bis zur Zeit Theudeberts I. im castrum Maiense gewohnt hätten und erst durch den Vorstoß dieses Frankenkönigs nach Venetien (s. o. S. 34) zur Übersiedlung nach Säben veranlaßt worden seien202). Denn im 5. und im beginnenden 6. Jahr- hundert war das Burggrafenamt, soweit man zu sehen vermag, nicht mehr gefährdet, als das Eisacktal, es bestand daher für Bischöfe Rätiens kein ersichtlicher Anlaß, sich dauernd im Mündungsgebiet der Passer aufzuhalten, das, wie oben dargelegt, zu Venetien gehört haben dürfte. Auch konnte ein Erscheinen der größtenteils christlich gewordenen Franken in der Meraner Gegend, selbst wenn es dabei zu Gewalttaten gekommen sein mag, einen Bischof kaum dazu bewegen, dieses Gebiet zu verlassen. Selbst wenn endlich das castrum Maiense etwa wirklich bis ins 6. Jahr-

197) Heuberger, Rätien 1, S. 189—196. Dagegen ohne jede Sachkenntnis Mutschlechner, Katholisches Sonntagsblatt (Brixen) 8 (1934), Nr. 5, S. 1—4, Nr. 6, S. 5 f. Vermittelnd K. Stau- dacher, ebenda 8, Nr. 16, S. 1 f., Nr. 17, S. 1 f. 198) Heuberger, Rätien 1, S. 323 f., G. Gerola, Archivio per l'Alto 27 (1932-1933), S. 315—319. Vgl. auch Solmi, Archivio storico della Svizzera Italiana 11, S. 3 f. 199) Gegen die auch die Frühgeschichte des Bistums Augsburg betreffenden Ausführungen E. Mayers über übersehene Quellen zur bayrischen Geschichte des 6.-8. Jahrhunderts (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 4,1931, S. 1—36), H. Zeiß, ebenda 4, S. 351—366. 200) Solmi, Archivio storico della Svizzera Italiana 11, S. 4—6. 201) Heuberger, Rätien 1, S. 324. Dazu Gerola, Archivio per l'Alto Adige 27, S. 16 f., Solmi, Archivio storico della Svizzera Italiana 11, S. 3 f. 202) Wie v. Braitenberg, Schlern 15, S. 19 f. vermutet.

54 hundert hinein den Nachfolgern Valentins als Aufenthaltsort gedient haben sollte, so dürfte man deshalb doch keineswegs sagen, daß es während dieser Zeit Bischofssitz gewesen sei203). Denn wenn das Burggrafenamt innerhalb der Grenzen Venetiens lag, so unterstand es in kirchlicher Hinsicht dem Bischof von Tridentum und jenes castrum konnte demnach einem flüchtigen Leiter der Kirche von Augusta Vindelicum und dessen Nachfolgern nur als Zufluchtsort im Bereich eines fremden Sprengels, nicht aber als Amtssitz dienen. Ebenso war ja die Stellung Genuas zur Zeit, als sich daselbst der durch die Langobarden aus seiner Stadt vertriebene Erzbischof von Mailand aufhielt (s. o. S. 36). Was eben auf grund der an sich schon mehr als fragwürdigen Voraussetzung, der Valentinus benedictus des Venantius Fortunatus und der beatus Christi confessor Valentinus des Arbeo von Freising seien dem gleichnamigen Raetiarum episcopus des Eugippius gleichzusetzen, über die etwaige Bedeutung St. Valentins für die Geschichte des Augsburger und des Säbner Bistums gesagt wurde, behandelt selbst- verständlich nur Möglichkeiten, wie dies ja immer der Fall ist, wenn man sich Fragen zuwendet, die in den Bereich quellenarmer Zeiten führen. Immerhin dürfte aber die nähere Betrachtung solcher Möglichkeiten mehr Wert haben, als das starre Festhalten an den haltlosen Behauptungen der mittelalterlichen Valentinslegende. Das eigentliche Ergebnis der in diesem Abschnitt gebotenen Ausführungen über St. Valentin darf jedenfalls in die Worte zusammengefaßt werden: Wir wissen — vorausgesetzt, daß dieser Mann überhaupt als geschichtliche Gestalt aufgefaßt werden darf — zuverlässig bloß, daß er irgendwann vor der Mitte des 6. Jahr- hunderts lebte, vermögen aber nicht zu sagen, ob er wirklich schon vor seinem Tod irgendwelche Beziehungen zum Burggrafenamt hatte.

6. Die „Römerstadt Maia" und das frühmittelalterliche castrum Maiense.

Im Burggrafenamt mag sich der besiedelte Raum während der früheren Kaiser- zeit vergrößert haben, um dann wieder an Ausdehnung zu verlieren, als gegen Ende des Altertums im römischen Reich die Zahl der Menschen und der Umfang des bebauten Landes abnahmen. Quellenmäßig nachzuweisen ist dies aber nicht. Auch die Ortsnamenforschung vermag hier keine einschlägigen Aufschlüsse von hin- reichender Verläßlichkeit zu gewähren. Denn Flur- und Örtlichkeitsbezeichnungen romanischen Ursprungs204) können ebensogut in den früheren Jahrhunderten des Mittelalters, wie im Altertum entstanden sein, und die Frage, ob ersteres oder letzteres der Fall gewesen sein dürfte, läßt sich erst beantworten, wenn mit Hilfe der Boden- funde festgestellt ist, ob die betreffende Gegend schon in der Römerzeit besiedelt

203) Dies tut v. Braitenberg, Schlern 15, S. 20. 204) Über die Hofnamen im Burggrafenamt und in den angrenzenden Gemeinden Tarneller, Archiv für österreichische Geschichte 100 (1910), S. 1-308, ebenda 101 (1911), S. 183-572. Hier auch die urkundlichen Formen der Ortsnamen.

55 war oder nicht205). Außerdem ist stets im Auge zu behalten, daß aus Namen von Fluren solche von Höfen und aus denen von Höfen solche von Siedlungen werden konnten. So weiß man z. B., daß die romanischen Hofnamen Dosser und Gatschuner (Dorf Tirol und Marling) ursprünglich Flurbezeichnungen waren206) und daß der Weiler Rabland, der im Mittelalter Cantraun geheißen hatte, seinen heutigen Namen von einem Meierhof empfing207). Andrerseits beweist aber das Vorkommen von Örtlichkeitsbezeichnungen romanischer Herkunft ebensowenig, daß die betreffende Gegend oder Ortschaft erst von den Römern besiedelt worden ist. Es wird ja auch niemand aus der Tatsache, daß man die Namen der Meraner Gilf und der Passer bzw. des Passeiertals von den romanischen Worten gulivinu und passaria und den des Jaufen vom lateinischen iugum abzuleiten hat208), den Schluß ziehen wollen, daß erst die Römerzeit Menschen in die Gegend von Meran und über den Jaufen geführt habe. In der Tat tragen denn auch Orte, die bereits in der Urzeit bewohnt waren, heute bekanntlich oft genug Namen romanischen oder gar deutschen Ur- sprungs, so etwa , das an die Stelle des schon von der vorgeschichtlichen Bevölkerung benannten und dann zu einer römischen Straßenstation gewordenen Vipitenum getreten war209). Es könnten also z. B. die innerhalb des alten Siedlungs- raumes gelegenen Ortschaften Partschins und Riffian, deren Namen als romanisch gelten210), bereits vorrömische Wohnplätze gewesen sein, wenn sich dies auch durch urzeitliche Siedlungsfunde derzeit noch nicht nachweisen läßt. Daß sich aus so- genannten Volksüberlieferungen, denen zufolge z. B. bei Partschins einst eine später untergegangene Stadt und in St. Katharina in der Scharte vor Zeiten ein Tempel des Sonnengottes vorhanden gewesen sein soll211), für die Erkenntnis der römerzeit- lichen Siedlungsverhältnisse im Burggrafenamt nichts gewinnen läßt, versteht sich von selbst. Man weiß ja zur Genüge, was von dem geschichtlichen Wert der- artiger Erzählungen zu halten ist212). Zudem läßt sich bei manchen von ihnen auf den ersten Blick erkennen, daß sie erst spät und noch dazu unter dem durch Geist- liche, Lehrer usw. vermittelten Einfluß der Bücherweisheit entstanden sind213).

205) Ähnlich (im Hinblick auf vorrömische Ortsnamen) Menghin, Forschungen und Mit- teilungen 9 (1912), S. 250. 206) Tarneller, Archiv für österreichische Geschichte 100, S. 14, 173, Nr. 748, ebenda 101, S. 356, Nr. 2838. Über gleichartige Fälle aus Nordtirol Stolz, Zeitschrift für Ortsnamen- forschung 7 (1931), S. 72-75. 207) Tarneller, Archiv für österreichische Geschichte 100, S. 95, A. 1. 208) L. Steinberger, Zeitschrift für Ortsnamenforschung 8 (1932), S. 253, ebenda 9 (1933), S. 70, Stolz, Schlernschriften 12 (1927), S. 128. 209) Zum Namen Sterzing zuletzt Steinberger, Zeitschrift für Ortsnamenforschung 9, S. 72. Über Vipitenum zuletzt Heuberger, Veröffentlichungen des Ferdinandeums 10 (1930), S. 15 f., derselbe, Schlern 15, S. 158. 210) Steinberger, Schlern 12 (1931), S. 46, derselbe, Zeitschrift für Ortsnamenforschung 9, S. 70 bzw. Tarneller, Archiv für österreichische Geschichte 100, S. 181. 211) Vgl. z. B. K. W. v. Dalla Torre, Tirol, Vorarlberg und Liechtenstein (W. Junks Natur- führer 1913), S. 288 f. 212) Heuberger, Klio 23, S. 63 f., Wopfner, Tiroler Heimat, neue Folge 4, S. 101—106. 213) Vgl. z. B. Heuberger, Schlern 10 (1929), S. 152 f.

56 Dies gilt u. a. von der angeblichen Sage, der heilige Valentin habe den Heiden in der Stadt Maia gepredigt, von der noch ein Stück Mauer bei St. Valentin und ein Stück Festungsturm beim Thurner in Obermais übrig geblieben seien214). Die Boden- funde endlich geben zwar verläßliche Auskunft über die Besiedlung der Meraner Gegend zur Römerzeit und sie sind neuerdings von sachkundiger Hand verzeichnet worden (s. o. A. 16). Es bedürfte aber doch noch mancher fachlichen Einzel- forschung, ehe man es wagen dürfte, in halbwegs abschließender Weise die Entwick- lung der Siedlungsverhältnisse im Burggrafenamt während der römischen Kaiserzeit zu behandeln. Man vermag beim gegenwärtigen Stand unseres Wissens nicht einmal mit voller Bestimmtheit zu sagen, ob damals in den dem Meraner Becken benach- barten Bergtälern menschliche Wohnplätze geschaffen wurden. In manchen dieser Talschaften scheint es indessen nicht dazu gekommen zu sein. Dies gilt z. B. für das Ultental215). Als eine sichere Tatsache darf es dagegen betrachtet werden, daß im näheren und weiteren Bereich der heutigen Passerstadt in den Tagen der Römer- herrschaft über Tirol nirgends eine Ortschaft von großer Bedeutung erwuchs. Früher glaubte man freilich, 1746 ausgesprochenen Gedanken A. Roschmanns folgend, auf dem Boden der jetzt mit der Stadt Meran vereinigten Dörfer Ober- und Untermais, die vormals eine einzige Gemeinde bildeten und kirchlich noch heute zusammengehören, habe eine blühende römische Stadt namens Maia gestanden, sie sei zu Lebzeiten Bischof Arbeos von Freising (+ 784) noch vorhanden gewesen und erst vor 857 oder 931 durch einen furchtbaren Bergsturz zerstört worden216). Diese Meinung, die jeden nicht genauer Eingeweihten zur Annahme verleiten muß, es ließe sich quellenmäßig im Herzen Tirols ein im Frühmittelalter eingetretenes gewaltiges Naturereignis nachweisen und verhältnismäßig genau zeitlich festlegen217), ist aber ganz hinfällig. Dies wurde schon seit langem erkannt218), allerdings ohne daß dabei das Entscheidende klar gesagt worden wäre. Dieses Ausschlaggebende liegt nun in Folgendem: Der Glaube an das Vorhandensein und den Untergang der Römer- stadt Maia beruhte lediglich auf der Beobachtung, daß das bereits erwähnte castrum Maiense (Magense) von Bischof Arbeo von Freising, der ein gebürtiger Burggräfler war, in der von ihm in den Jahren 766—768 verfaßten Lebensbeschreibung St. Kor- binians219) gewöhnlich als castrum (Vita Corbiniani 23, 30, 37—40, 43) und daneben auch als urbs (Vita Corbiniani 23, 37, 40), von dem Überarbeiter dieses Werkes

214) v. Dalla Torre, Tirol, S. 285. 215) Menghin, Schlern 2, S. 367. 216) Vgl. z. B. Giovanelli, Ara Dianae, S. 67—69, J. J. Staffier, Das deutsche Tirol und Vorarlberg 2 (1847), S. 657 f., C. Stampfer, Geschichte von Meran (1889), S. 20, Mazegger, Römerfunde3, S. 32, v. Dalla Torre, Tirol, S. 285. 217) Vgl. v. Klebelsberg, Geologie von Tirol (1935), S. 596. 218) Vgl. u. a. Stampfer, Geschichte von Meran, S.20—22, Mazegger, Römerfunde3, S. 32 — 35, Morin, Korbiniansfestgabe, S. 76, A. 1, Castelpietra, Merano Romana, S. 3 f. 219) Letzte von B. Krusch besorgte Ausgabe von Arbeos Vitae sanctorum Haimhrammi et Corbiniani in den Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum ex Monumentis Germaniae Historicis separatim editi (1920). Über Arbeo, seine Vita Corbiniani und deren Überarbeitung vgl. Kruschs Vorrede zu dieser Schulausgabe S. 123—127, 135—160.

57 aber, der an der Wende vom 9. zum 10. Jahrhundert schrieb, gelegentlich als civitas bezeichnet wurde220) und daß dann einerseits im Jahr 857 in einer Ausfertigung König Ludwigs des Deutschen221) die spätere Stadt Meran als locus, qui dicitur Mairania und andrerseits im Jahr 931 Mais in einer Urkunde König Heinrichs I.222) bloß als ein Dorf namens Maies erscheint. Allein im Frühmittelalter gebrauchte man das Wort castrum zwar gelegentlich als Bezeichnung für Städte — dies tat auch Arbeo (s. u. S. 64) —, gewöhnlich aber als eine solche für burgartige, manchmal aus alten Römerkastellen hervorgegangene Wehranlagen sowie für Dörfer, die durch Wall und Graben geschützt waren223). Auch die Ausdrücke urbs und civitas wurden damals in derselben Doppelbedeutung und nicht bloß als Benennungen für wirkliche Städte verwendet224). Das castrum Maiense des 8. Jahrhunderts ist also durchaus nicht als Stadt erwiesen223), und daß es keinesfalls eine solche gewesen sein kann, geht aus dem hervor, was Arbeo über diesen befestigten Platz und dessen Umwelt erzählt. Damit ergibt sich aber zugleich, daß die Annahme, eine Römerstadt Maia sei vorhanden gewesen und einem zerstörenden Naturereignis zum Opfer gefallen, bloß einer irrigen Auslegung der Worte eines frühmittelalterlichen Schriftstellers ihren Ursprung verdankt. Diese Meinung kann daraufhin also ohne weiteres als erledigt gelten. Man wollte sie freilich auch durch einen Hinweis auf Spuren von Berg- stürzen und Übermurungen stützen226). Indes auch dies ist hinfällig. Das zeigt schon der Umstand, daß die Römerfunde auf Maiser Boden in keiner größeren Tiefe zutage kamen, als an anderen Orten. In der Tat haben sich die Geländeverhält- nisse im Meraner Stadtgebiet sowie in dessen Umgebung in geschichtlicher Zeit nicht nennenswert geändert. Die Passer floß schon im Altertum sowie im Früh- mittelalter in dem noch heute von ihr benützten Bett und ein alter Bergsturz, Über- murungen und Überschwemmungen durch die Naif haben bloß eine nicht allzu beträchtliche Schutt-Überlagerung der Maiser Gegend hervorgerufen227). Auch die Ansicht, eine frühmittelalterliche Naifmur habe die Passer aufgestaut und dadurch seien die Überreste der Römrezeit im Bereich der Meraner Oberstadt und ihrer Umgebung vernichtet worden, läßt sich nicht halten228). Endlich lehren die bereits aufgezählten römerzeitlichen Funde, die man links des Unterlaufes der Passer

220) Krusch, Schulausgabe der Vitae sanctorum Haimhrammi et Corbiniani, S. 227, A. 10. 221) Monumenta Germaniae, Diplomata regum Germaniae ex stirpe Karolinorum 1 (1932), Nr. 84, S. 121 f. 222) Monumenta Germaniae, Diplomata 1 (1879—1884), Nr. 28, S. 63 f. 223) vgl. z. B.Wopfner, Schlernschriften 9 (1925), S. 410-413, Heuberger, Tiroler Heimat, neue Folge 4, S. 142—145, 162—166, derselbe, Veröffentlichungen des Ferdinandeums 12 (1932), S. 45 f. 224) R. Schröder-E. Freiherr v. Künßberg, Lehrbuch der deutschen Rechtsgeschichte' (1922), S. 678. Vgl. auch Heuberger, Veröffentlichungen des Ferdinandeums 12, S. 45 f., A. 9. 225) Dies verkennt noch Castelpietra, Merano Romana, S. 11. 226) vgl. z. B. Staffier, Tirol u. Vorarlberg 2, S. 657 f. 227) Freundliche Auskunft meines Kollegen, Herrn Prof. R. v. Klebelsberg. Vgl. auch Stampfer, Geschichte von Meran, S. 21 f. und Mazegger, Römerfunde8, S. 32 —35. 228) Mazegger, Chronik von Mais (1905), S. 192, Castelpietra, Merano Romana, S. 14.

58 gemacht hat, daß im Altertum hier zwar eine Siedlung lag, aber keineswegs eine solche, in der man berechtigt wäre, eine Stadt zu erblicken. Die blühende Römer- stadt Maia muß demnach ins Reich der Fabel verwiesen werden. Tatsache ist es dagegen, daß, wie in späteren Zeiten, so auch schon im Altertum die wichtigste Siedlung des Burggrafenamtes dort lag, wo die Passer ins Etschtal eintritt. Im 8. Jahrhundert befand sich hier nach Bischof Arbeo von Freising das bereits mehrfach genannte castrum Maiense (Magense). Ob es bereits bestand, als die Franken um 575 und im Sommer 590 ins Etschtal einfielen (s. u. S. 98 f.) ist un- gewiß. Es wird zwar von Secundus von Trient bzw. von Paulus Diaconus bei Er- zählung der damaligen Vorgänge (Historia Langobardorum III, 9, 31) nicht genannt. Daraus lassen sich aber keine Schlußfolgerungen ableiten, da sich Vinschgau und Burggrafenamt damals in der Hand der Franken befanden (R. 1, 137 f., 269—272), also von den Kriegsereignissen nicht betroffen wurden. Ebensowenig läßt sich mit Bestimmtheit sagen, ob das castrum schon zur Zeit vorhanden war, als der beatus Christi confessor Valentinus lebte. Denn es muß dahingestellt bleiben, ob der Heilige von Anfang an in diesem festen Platz begraben war (s. o. S. 52 f.). Die Möglichkeit besteht aber, daß in dem genannten castrum ein Römerkastell fortlebte (VF. 12, 44, R. 1, 237 f.), wie vielfach als gewiß angenommen wird229). Daher gilt es, das castrum Maiense der Frankenzeit näher ins Auge zu fassen. Die frühmittelalterliche Feste an der Passer wird, wie bereits bemerkt, von Arbeo meist als castrum, daneben aber auch als urbs und von dem Überarbeiter seines Werkes gelegentlich als civitas bezeichnet. Sie besaß nach jenem Gewährsmann außer der oben erwähnten Valentinskirche auch ein Tor (Vita Corbiniani 37) und war also durch eine Ringmauer oder eine Pfahlwerkverschanzung, vielleicht auch bloß durch eine jedenfalls aus Steinblöcken und Erdaufschüttungen hergestellte Umwallung mit vorgelagertem Graben geschützt. Nach Arbeo lagen in dem castrum um 710 bairische und um 725 langobardische Krieger, die hier den Grenzschutzdienst versahen und den Grenzverkehr überwachten (Vita Corbiniani 23, 37; dazu R. 1, 205 f., 208). Einige Aufschlüsse über die örtliche Lage des castrum Maiense ergeben sich aus Arbeos Bericht über einen von ihm selbst erlebten Unfall mit glücklichem Ausgang (Vita Corbiniani 40). Der Bischof erzählt: Er sei als kleiner Knabe außerhalb der Mauern der St. Valentinskirche (secus muris ecclesiae) unvorsichtig hinabgelaufen (oder herumgelaufen) (incaute decurreret), dabei ausgeglitten und in den Abgrund des castrum Maiense (in praecipitium castri) gestürzt. Bis zu der an den Berghang (ad montisque ipsius latere) herantretenden Passer hinunter sei es schauerlich tief gewesen. Er habe sichere Aussicht gehabt, an den scharfen Felsen und den un- geheuren Klippen (saxarum aciebus, scopulis ingentis) zu zerschellen, wie dies bei der Gestalt dieser urbs erklärlich gewesen wäre (sicut huius urbis forma declarit), und wenn sein Fall ihn bis an den Fuß des Berges (ad ima montis) führte, im Fluß zu ertrinken. Leute, die seine Leiche suchten, hätten ihn aber, nachdem sie den

229) So zuletzt von v. Braitenberg, Schlern 15, S. 16.

59 Fluß unter Benützung der Brücke verlassen hatten (amne super pontem amissi)230), an einem Felsen hängen sehen (saxo cuidam coherenti), sich an Seilen über die Fels- überhänge zu der Stelle herabgelassen, an der er lag (areptis funibus per saxorum se immiserunt cavernas usque ad iacentem) und ihn unverletzt (inlesus) gerettet. Aus dieser Erzählung, die kein, auch nur halbwegs Unvoreingenommener als unklar und daher als quellenmäßig nicht verwertbar bezeichnen wird231), geht zunächst hervor: die Kirche, die Mauern besaß, also ein Steinbau war, wie sich auch aus Vita Corbiniani 25 ergibt, befand sich auf oder an einem Berg, der un- mittelbar neben ihr tief, jäh und felsig zur Passer abfiel. Die Wendung per saxorum cavernas muß sinngemäß wohl so übersetzt werden, wie es oben geschehen ist, und sie deutet somit kaum auf das Vorhandensein eigentlicher Höhlen in diesem Hang hin. Denn man kann sich zwar über Felsüberhänge, nicht aber über eine Anzahl von Höhlen an Seilen herablassen. Wenigstens vermochte man das im Frühmittelalter gewiß nicht. Auch wird man sich selbst heute noch beim Versuch, einen Abgestürzten zu retten, nicht gerade dort über eine Felswand abseilen, wo sie von mehreren Höhlen durchsetzt ist. Ferner lehrt Arbeos Bericht, daß der Steil- hang nur vom gegenüberliegenden Ufer aus zu überblicken war. Denn die Retter sahen den Verunglückten, der offenbar nicht, oder umsonst gerufen hatte, erst, nach- dem sie am Fluß gewesen waren, an dessen unterhalb der Absturzstelle gelegenem Ufer sie also den Totgeglaubten gesucht hatten, und nachdem sie über die Brücke gegangen waren. Zu Arbeos Zeit sah nun das Gelände im näheren und weiteren Bereich der heutigen Passerstadt, wie bereits gesagt, im wesentlichen ebenso aus, wie gegenwärtig. Unter diesen Umständen ist die Erzählung des Freisinger Bischofs aber nur zu verstehen, wenn man sich das von ihm genannte Gotteshaus auf der Höhe des Zeno- berges denkt, wie dies auch neuerdings gewöhnlich angenommen wird232). Denn daß Arbeo im Bereich der dieser Erhebung benachbarten Passerklamm abstürzte, ist klar und zur Linken dieser Schlucht, wohin man gelegentlich Valentinskirche und castrum Maiense verlegen wollte233), gibt es weder einen mons noch eine nahegelegene Stelle, an der sich ein frühmittelalterliches Gotteshaus vermuten ließe. Zugunsten der Meinung, die von dem Bischof genannte Kirche habe auf dem Zenoberg ge- standen, spricht auch der Umstand, daß Arbeo bei Erwähnung eines wohl schon vor St. Korbinians Zeit dem Weinbau erschlossenen234), von diesem Mann erworbenen und teilweise mit Reben bepflanzten locus dilectabilis, unter dem die ganze Gegend von Kuens und Mais zu verstehen sein dürfte, auch eines oratorium gedenkt, mit

230) Andere Handschriften bieten die grammatisch richtige Form amisso. Der Überarbeiter des Werkes ersetzt amissi (amisso) durch transgresso. Vgl. Schulausgabe der Vitae Haim- hrammi et Corbiniani, S. 228, A. h und A. 2. 231) Dies tut Mazegger, Römerfunde3, S. 31, 73, derselbe, Chronik von Mais, S. 198. 232) So von Morin, Korbinianfestgabe, S. 75 f. und von v. Braitenberg, Schlern 15, S. 18. 233) So besonders Mazegger, Römerfunde3, S. 31 f., der demgemäß S. 65, A. 1 und S. 69 Arbeo gegenüber dem Zenoberg abstürzen läßt. 234) Vgl. den Zusatz des Überarbeiters zu Vita Corbiniani 25 (Schulausgabe von Arbeos Vitae Haimhrammi et Corbiniani, S. 217, A. 2).

60 dem jedenfalls die Valentinskirche gemeint ist, und dabei von Valentini Zenonis patrimoniam redet (Vita Corbiniani 25)235). Mit dem eben Gesagten soll indes keines- wegs für die innerlich durchaus unwahrscheinliche Vermutung eingetreten werden, an Arbeos Unfall und Rettung erinnere ein unterhalb der Höhe des Zenoberges sichtbarer Eisenring236), der in Wahrheit gewiß — ebenso wie andere derartige Ringe — ein Grenzzeichen war237). Ebensowenig soll selbstverständlich damit behauptet werden, daß die Kapelle des im 12. Jahrhundert erbauten Schlosses Zenoburg238) noch Überreste aus Arbeos Zeit enthalte239) und daß zwei leere Gräber im Fußboden dieses Gotteshauses einst die Ruhestätte der Leichen St. Valentins und St. Korbinians gebildet hätten240). Weiters bezeugt die Erzählung des Freisinger Bischofs das Vorhandensein einer frühmittelalterlichen Passerbrücke. Diese Brücke, von der nicht gesagt wird, ob sie ein Holz- oder ein Steinbau war, muß nicht in Sicht des Zenoberges gedacht werden, da der abgestürzte Arbeo nicht von ihr aus, sondern erst nach ihrer Überschreitung bemerkt wurde. Allzuweit von der genannten Er- hebung entfernt, hat man sie sich aber mit Rücksicht auf die Geländeverhältnisse kaum vorzustellen. Sie kann sich also möglicherweise dort befunden haben, wo gegenwärtig der Steinerne Steg zu sehen ist, der seinem heutigen Kern nach aber wohl erst aus dem 15. oder 16. Jahrhundert stammt241). Was der Freisinger Bischof über sein Jugenderlebnis erzählt, läßt nun aber auch unzweideutig erkennen, daß die Valentinskirche noch zum Bereich des castrum Maiense gehörte, wie auch aus Vita Corbiniani 23, 33, 38, 43 erhellt. Ob sich das castrum auf die Gipfelfläche des Zenoberges beschränkte oder ob es auch den Bereich der Meraner Oberstadt und das einer Siedlung besonders günstige Maiser Gelände umfaßte, ist Arbeos Bericht über seinen Unfall nicht zu entnehmen. Denn der Aus- druck praecipitium castri läßt sich ebensogut auf einen Abgrund neben dem castrum, wie auf einen solchen innerhalb desselben beziehen, und mit der forma urbis kann zwar auf die eigentümliche Lage einer auf einem Felskopf erbauten Feste angespielt sein, ebensowohl aber auch auf die auffallenden Geländeverhältnisse im Bereich einer am Rand oder beiderseits eines Engtals gelegenen urbs. Die Angabe des Frei- singer Bischofs aber, er sei als Knabe außerhalb der Mauern der Valentinskirche

235) Zur Deutung dieser Stelle Krusch in der Schulausgabe der Vitae Haimhrammi et Corbiniani, S. 216 f., A. 6, Morin, Korbinianfestgabe, S. 72. 236) Diese Vermutung spricht v. Braitenberg, Schlern 15, S. 22 aus. 237) Über solche Südtiroler Metallringe B. Huber, Schlern 6 (1925), S. 397, derselbe, ebenda 7 (1926), S. 39, Jordan, ebenda 7, S. 104, H. Erlacher, ebenda 11 (1930), S. 251. 238) Über die Baugeschichte der Zenoburg und ihrer Kapelle J. Weingartner, Die Kunst- denkmäler Südtirols 4 (1930), S. 156 f. Vgl. auch Morin, Korbinianfestgabe, S. 76 f., K. Moeser, Veröffentlichungen des Museum Ferdinandeum 8 (1928), S. 461—477. Über die gesamte Geschichte der Zenoburg zuletzt v. Braitenberg, Schlern 15, S. 15—34. 239) Dies vermutet v. Braitenberg, Schlern 15, S. 23. Gegen eine derartige Annahme Morin, Korbinianfestgabe, S. 77. 240) Dies hält Morin, Korbinianfestgabe, S. 77 für möglich. 241) Weingartner, Die Kunstdenkmäler Südtirols 4, S. 150; vgl. auch Mazegger, Römer- funde3, S. 98. Seltsamerweise schreibt Laviosa, Carta 1, S. 10 unter Berufung auf Mazegger dem Steinernen Steg römischen Ursprung zu.

61 hinab- oder herumgelaufen und dabei abgestürzt, beweist lediglich, daß zwischen diesem Gotteshaus und der Passerklamm kein einen Fall in die Tiefe hemmendes Hindernis, also auch keine Mauer, Pfahlwerkverschanzung oder Wallanlage vor- handen war. Dabei bleiben aber immer noch verschiedene Möglichkeiten offen. Die Kirche kann fürs erste außerhalb der Befestigung des castrum gestanden haben. Sie kann ferner in diese Wehranlage eingebaut gewesen sein, wobei sie jedenfalls mit Rücksicht auf die Verteidigungsfähigkeit des Platzes ihr Tor nach Innen zu gekehrt haben müßte. Sie kann sich endlich ganz im Inneren des Befestigungsringes befunden haben, der in diesem Fall gegen die Passerklamm hin nicht geschlossen gewesen sein könnte, also einen größeren, auch auf das Gelände zur Linken dieser Schlucht sowie gegen die Meraner Oberstadt hin ausgreifenden Umfang gehabt haben müßte. Wie es sich damit in Wahrheit verhielt, läßt sich auch nicht aus der Tatsache erschließen, daß die langobardischen Wächter im Jahre 725 nach Arbeo (Vita Corbiniani 37) die Männer, die die Leiche des in Freising verstorbenen Corbi- nian in die Valentinskirche bringen wollten, am Tor der urbs anhielten, weil sie in dem Sarg Vorrichtungen vermuteten, mit deren Hilfe die urbs erobert werden sollte (machinis insidias, ut urbem capere quivissent). Denn dieser Vorfall konnte sich selbst dann ereignen, wenn das Gotteshaus außerhalb der Befestigungswerke des castrum lag. Die Beisetzung des Verstorbenen sollte ja gewiß nicht sofort und in aller Eile erfolgen. Die Träger des Leichnams, die über den Jaufen, möglicherweise aber auch vom Bozner Becken hergekommen waren (R. 1, 45), mußten also auf jeden Fall nach ihrer Ankunft beim castrum Maiense daselbst übernachten und Vor- bereitungen für die Feierlichkeiten treffen. Zudem hatten sie keine Veranlassung und wohl auch keine Möglichkeit, das castrum selbst zu vermeiden. Auch die anderen Stellen, an denen der Freisinger Bischof des castrum Maiense gedenkt, geben über dessen räumliche Ausdehnung keine Auskunft. Allerdings ist einmal von dem Wandern Corbinians durch die gesamte bergige Umgebung dieses Ortes (universam montanam urbis confinium) die Rede (Vita Corbiniani 23). Diese unbestimmte Wen- dung berechtigt aber selbstverständlich zu gar keinen weiteren Schlußfolgerungen. Das frühmittelalterliche castrum an der Passer lag mithin auf dem Zenoberg242) oder es schloß diesen und das angrenzende Gelände in sich. In letzterem Fall um- faßte es außer der Gipfelfläche jener Erhebung noch entweder den Bereich der späteren Meraner Oberstadt oder die jenseits der Passer gelegene nachmalige Maiser Dorfgemarkung oder das ganze dem Zenoberg benachbarte, einer Siedlung günstige Gelände diesseits und jenseits des genannten Flusses. Keine dieser Möglichkeiten, deren Vorhandensein einen lebhaften Streit über die Lage des castrum Maiense und die römische statio Maiensis veranlaßt hat243), darf in Anbetracht des Fehlens

242) So zuletzt v. Braitenberg, Schlern 15, S. 21 f. 243) Darüber und über das einschlägige Schrifttum Krusch in der Schulausgabe der Vitae Haimhrammi et Corbiniani, S. 110 f. Vgl. auch Mazegger, Römerfunde3, S. 17—101, derselbe, Chronik von Mais, S. 187—196. Morin, Korbinianfestgabe, S. 69, Caatelpietra, Merano Romana, S. 3 f.

62 näherer Quellenaussagen als ausgeschlossen betrachtet werden. Daß die wohl schon im 8. Jahrhundert vorhandene Siedlung, aus der in der Folge die Stadt Meran erwachsen sollte, um 857 bereits Mairania hieß (s. o. S. 58), beweist keineswegs, daß sie damals und vorher schon außerhalb der Gemarkung des im Jahre 931 ur- kundlich bezeugten Mais lag und daß sie zu Arbeos Zeit nicht mehr zum castrum Maiense gerechnet worden war244). Denn räumlich gesonderte Teile einer Ortschaft führten bekanntlich oft genug eigene Namen, auch wenn sie noch keine selbständigen Gemeinden bildeten. Andrerseits läßt der Umstand, daß das bereits erwähnte Diplom König Heinrichs I. von 931 und eine möglicherweise nach echter Vorlage gefälschte, angebliche Urkunde des späteren Baiernherzogs Bertold, die in das Jahr 932 gesetzt wird245), Güter in Maies noch zum Bereich der Grafschaft Vinschgau rechnen, vielleicht den Schluß zu, daß die Gemarkung des Dorfes Mais noch im 10. Jahr- hundert auf das rechte Ufer der Passer hinübergriff. Reichte jene Grafschaft doch im 11. Jahrhundert nachweislich nur bis an die Passer und die Annahme, sie habe sich um 930 weiter nach Süden erstreckt, gründet sich bloß auf die Aussage der eben genannten zwei Schriftstücke (R. 1, 308 f.). Diese geben aber keine Auskunft darüber, ob die in ihnen genannten Güter ausschließlich bzw. teilweise rechts oder links der Passer lagen. Schied aber dieser Fluß, der in der Frankenzeit auch zur Bis- tumsgrenze geworden war (R. 1, 90—92), etwa schon um 930 die Dorffluren von Mais und Meran, so wäre damit noch keineswegs bewiesen, daß er dasselbe auch bereits im 9. Jahrhundert tat. Der Bereich der nachmaligen Meraner Oberstadt könnte mithin damals noch zu Mais gehört haben. Selbst wenn aber auch dies nicht der Fall gewesen sein sollte, so kann die Gegend von Meran doch in den Tagen Bischof Arbeos von Freising noch zum castrum Maiense gerechnet worden sein. Befand sich dieser Platz doch, wie oben dargelegt, nachweislich zur Gänze oder zum Teil auf der rechten Seite der Passer und die Beschränkung oder Übertragung der seinem Namen zugrundeliegenden Ortsbezeichnung Maies auf die zur Linken dieses Flusses gelegene Siedlung vollzog sich erst, nachdem und gewiß auch weil die Passer zu einer wichtigen Landmark geworden war. Nach dem, was früher über die Bedeutung der Worte castrum, urbs und civitas im frühmittelalterlichen Latein gesagt wurde, läßt sich das castrum Maiense des 8. Jahrhunderts entweder als ein schon zur Römerzeit oder erst später erbautes Kastell oder als eine befestigte bürgerliche Siedlung auffassen. War es lediglich auf die Gipfelfläche des Zenoberges beschränkt, also sehr klein, so kann es kaum etwas anderes gewesen sein, als eine burgartige Wehranlage römischen oder früh- mittelalterlichen Ursprungs. Man hätte es demnach hier mit einem castrum im engeren Sinn zu tun, neben dem in der Nähe — vor allem auf dem schon im Altertum gut besiedelten Boden des heutigen Mais — ein offener vicus (Dorf) zu vermuten wäre. Hier läge dann ein Seitenstück vor zu dem Nebeneinander von castellum und vicus

244) Zu den Anfängen Merans Stolz, Die Ausbreitung des Deutschtums in Südtirol im Licht der Urkunden 3/1 (1932), S. 113 f. 245) J. Zahn, Fontes rerum Austriacarum, 2. Abteilung 31 (1870), Nr. 30, S. 29.

63 zu Wipitina in der Sterzinger Gegend, das uns durch eine Urkunde246) für das Jahr 827 bezeugt ist. Breitete sich dagegen das castrum auch über das dem Zenoberg benach- barte Gelände, vor allem auf das jenseits der Passer gelegene, aus, hatte es also einen verhältnismäßig ansehnlichen Umfang, so muß es wohl als eine bürgerliche Siedlung betrachtet werden, die zum mindesten großenteils befestigt war und ge- legentlich militärischen Zwecken dienstbar gemacht wurde. Eine unbedingt sichere Entscheidung über Umfang und Wesen des frühmittel- alterlichen castrum Maiense läßt sich kaum gewinnen. Die Tatsache, daß zu diesem festen Platz das aus Stein erbaute, dem heiligen Valentin geweihte Gotteshaus gehörte, schließt die Möglichkeit nicht aus, daß es sich hier bloß um eine kleine burgartige Wehranlage gehandelt haben könnte. Denn über dem Grab eines Heiligen konnte an jedem beliebigen Ort eine bescheidene Kirche errichtet werden. Auch besaß z. B. die gelegentlich als Fluchtburg verwendete Feste Verruca auf dem Dos Trento (s. o. S. 33) im Altertum mehrere Tempel sowie später ein altchristliches Gotteshaus217) und die kleine wehrhafte bürgerliche Siedlung Endidae der spät- römischen Zeit auf dem Burghügel von Castelfeder (s. u. S. 95) einen Tempel248) und nachmals möglicherweise eine Kirche der Christen249). Der oben erwähnte Umstand, daß das castrum Maiense einmal von bairischen und ein anderesmal von langobardischen Kriegern gehütet wurde, kann andrerseits nicht als Beweis dafür angesehen werden, daß es eine kleine, burgartige Wehranlage war. Konnte doch gegebenenfalls auch ein befestigtes Grenzdorf mit einer Besatzung belegt werden. Schlüsse auf Größe und Wesen des castrum Maiense ergeben sich auch nicht aus der Tatsache, daß die langobardischen Wächter dieses festen Platzes, wie oben bemerkt, argwöhnten, der Sarg, der die zur Beisetzung in der Valentinskirche bestimmte Leiche Korbinians barg, enthalte machinae, mittels deren die urbs erobert werden sollte. Denn bei diesen vermuteten Vorrichtungen kann es sich, da größere Belagerungswerkzeuge in einem Sarg keinen Platz fanden, nur um Waffen, Strick- leitern, Pechfackeln u. dgl. gehandelt haben, und derartige Dinge ließen sich auch bei einem verräterischen Handstreich auf ein bloßes befestigtes Dorf verwenden. Zugunsten der Annahme, das in Rede stehende castrum sei ein kleines, neben einer gleichnamigen bürgerlichen Siedlung gelegenes Kastell gewesen, ließe sich geltend machen, daß Einbürgerung und Gebrauch der Bezeichnung castrum Maiense das Vorhandensein eines vicus Maiensis voraussetzten. Allein da Arbeo den festen Platz, wie oben erwähnt, auch urbs nennt und da er adjektivische Bildungen liebt — Tridentum heißt bei ihm nur Trigentinum castrum oder Trigentinum urbs (Vita Corbiniani 16, 41) — so ist es nicht erwiesen, ja nicht einmal wahrscheinlich, daß

246) Th. Bitterauf, Quellen und Erörterungen zur bayrischen und deutschen Geschichte, neue Folge 4 (1905), S. 472 f., Nr. 550a, Sparber, Schlernschriften 12 (1927), S. 177—179. 247) Über die antiken Bauten auf dem Dos Trento G. Gerola, SA. aus Trentino, Rivista mensile della legione Trentina, Nr. 9 (1926), S. 1 — 8. 248) F. v. Wieser bei Vollmer, Inscriptiones Baivariae Romanae, S. 143 (Vorbemerkung zu Nr. 466). 249) Reinecke, Germania, 1926, S. 155.

64 der Ausdruck castrum Maiense wirklich üblich und im Gegensatz zu einer Bezeichnung vicus Maiensis geschaffen worden war. Es liegt vielmehr weit näher, zu vermuten, der wehrhafte Ort sei wie das spätere Dorf einfach Maies genannt und je nach Geschmack als castrum oder urbs bezeichnet worden. Auch bei den Namen der von Paulus Diaconus im Anschluß an Secundus von Trient erwähnten castra oder castella des alpinen Etschtals und seiner Umgebung (Historia Langobardorum III, 9, 31) sind ja die näheren Bestimmungen nicht in Eigenschaftswortform beigefügt. Gegen die Annahme, es habe neben dem castrum Maiense noch einen vicus Maiensis gegeben, spricht auch die Beobachtung, daß Arbeo öfters vom castrum Maiense, nie aber von einem vicus gleichen Namens redet. Dies könnte freilich auch bloß durch Ungenauigkeit im Sprachgebrauch und dadurch bedingt sein, daß sich in dem etwa vorhandenen vicus nichts zugetragen hatte, was dem Bischof erzählenswert schien. Andrerseits wird die Vermutung, das castrum Maiense sei eine wehrhafte bürgerliche Siedlung größeren Umfangs gewesen, nahegelegt durch den Umstand, daß sich während des Frühmittelalters im deutschen Etschland verschiedene, als castra oder castella bezeichnete, verteidigungsfähig gemachte Wohnplätze, aber — wenn man vom castrum Maiense absieht — mit einer einzigen übrigens auch nicht un- zweifelhaft gesicherten Ausnahme keine Kastelle im eigentlichen Sinn nachweisen lassen (TH. 4, 142—145, 162—166, VF. 12, 44—47, Sl. 15, 152—154, 481). Endlich fällt zugunsten der Annahme, das castrum Maiense habe auch das Gelände am linken Passerufer in sich geschlossen, man habe es hier also mit einem größeren wehrhaften Dorf zu tun, die Tatsache ins Gewicht, daß der Name dieses festen Platzes in dem des Maies von 931 und des Mais späterer Zeiten fortlebte. Allerdings entscheidet auch dies die zur Erörterung stehende Frage nicht mit unbedingter Sicherheit. Kam es doch nicht selten vor, daß der Name eines verlassenen Kastells auf ein nahegelegenes Dorf übertragen wurde, so jener des einst auf dem Martinsbüchel befindlichen ( s. u. S. 72) Teriola (Teriolis) auf die benachbarte Ortschaft Zirl. Die Ergebnisse dieses großenteils einer Abschweifung ins Gebiet des Frühmittel- alters gewidmeten Abschnittes lassen sich kurz so zusammenfassen: Eine der Passer benachbarte Römerstadt, namens Maia, hat es nie gegeben. Das durch eine Mauer oder eine Pfahlwerkverschanzung, vielleicht auch nur durch eine Umwallung ge- schützte und mit einer Kirche versehene castrum Maiense des 8. Jahrhunderts war vermutlich bloß ein auf dem rechten Ufer oder zu beiden Seiten der Passer gelegenes, zur Gänze oder großenteils befestigtes Dorf, möglicherweise aber auch ein auf dem Zenoberg erbautes Kastell mit einem in der Nähe, wahrscheinlich auf Maiser Boden, befindlichen offenen vicus. Daß jenes castrum, in dessen Nähe eine Holz- oder Steinbrücke über die Passer führte, schon zu Lebzeiten des heiligen Va- lentin, also bereits im ausgehenden Alterum vorhanden war, läßt sich nicht erweisen. Damit sind jene Voraussetzungen gewonnen, die bei einer Betrachtung der römer- zeitlichen Siedlung an der Passer beachtet werden müssen.

65 7. Das römische Maies.

Die im Gebiet von Ober- und Untermais zutagegekommenen Münzen, die mit sogenannten konsularischen Prägungen und mit solchen des Augustus einsetzen, und die übrigen hier gemachten Bodenfunde (s. o. S. 42 f.) lehren, daß sich in dieser Gegend zur Römerzeit eine Siedlung ausbreitete, die wohl schon vorhanden war, als der römische Freistaat sein Ende fand. Sie wird jedenfalls nach dem Untergang der auf dem Grumser Büchel und an anderen hochgelegenen Stellen erwachsenen Wohnplätze der Urbevölkerung entstanden sein. Vielleicht geschah dies im An- schluß an eine kleine vorgeschichtliche Niederlassung. Sind doch auf Maiser Boden einige Überreste aus der Hallstatt- und La Tènezeit zutage gekommen250). Daß der der Passermündung benachbarte Römerort in den Stürmen der Völkerwande- rungszeit nicht unterging, lassen die Münzfunde erkennen, und daß er in der mittel- alterlichen Maiser Siedlung fortlebte, ohne von einem zerstörenden Naturereignis betroffen zu werden, ergibt sich aus dem, was früher bei Besprechung der Meinung gesagt wurde, nächst der Passer habe eine blühende Römerstadt gelegen (s. o. S. 57—59). Gemeinhin wird auf Grund der Tatsache, daß uns durch den Zieltaler Diana- altar (CIL. 5, Nr. 5090, IBR. Nr. 68) für das 3. Jahrhundert eine statio Maiensis quadragesimae Galliarum und durch die Vita Corbiniani des Bischofs Arbeo von Freising für das 8. Jahrhundert ein castrum Maiense (Magense) bezeugt ist, die Ansicht vertreten, der Römerort an der Passer habe Maia geheißen251). DieMeinung, er habe gleich dem im alpinen Rheintal gelegenen Maienfeld den keltischen Namen Magia getragen252), fußt auf einem Irrtum bezüglich der von Arbeo gebrauchten Namensformen und kommt nicht ernsthaft in Betracht. Denn eine von den Kelten geprägte Örtlichkeitsbezeichnung ist im Burggrafenamt nicht zu erwarten, und wenn die Passersiedlung in der Vita Corbiniani gelegentlich als castrum Magense und in etwas jüngeren Quellen, wie unten erwähnt, manchmal als Mages oder Magis erscheint, so beruht dies lediglich auf einer auch sonst nachweisbaren Eigentümlich- keit der mittelalterlichen romanisch beeinflußten Schreibweise. Man hat es also nur mit der Annahme zu tun, zur Römerzeit sei der in Rede stehende Ort Maia genannt worden. Allein auch diese Ansicht muß abgelehnt werden. Denn der Aus- druck castrum Maiense (Magense) ist wohl von Arbeo geprägt worden (s. o. S. 64 f,). der zu verschieden auslautenden Namen Eigenschaftswörter mit der Endung -ensis schuf, so z. B. zu Noricum Noricensis (Vita Corbiniani 15) und auch der Name der antiken statio läßt keinen zwingenden Schluß darauf zu, welche Endung der ihm zugrundeliegenden Ortsbezeichnung in Hauptwortform zukam. Bildete man doch

250) Castelpictra, Merano Romana, S. 12. 251) So z. B. von Morin, Korbinianfestgabe, S. 70,74 und von Cartellieri, Alpenstraßen, S.73. 252) I. Hopfner, Schlern 11 (1930), S. 250; hier auch der wunderliche Gedanke, mit Magia- Maia stände vielleicht die im nordetruskischen Alphabet von Bozen gefertigte Inschrift von Klobenstein (Menghin, Wiener prähistorische Zeitschrift 1, 1914, S. 71) in Zusammenhang, die laseke maieche zu lesen ist. Über Magia-Maienfeld Stähelin, Schweiz2, S. 349 f.

66 im klassischen Latein viefach — ständig oder gelegentlich — auch von Ortsnamen, die nicht mit -a auslauteten, Eigenschaftswörter mit der in der Kaiserzeit sehr beliebten Endung -ensis, so von Lugdunum Lugdunensis, von Minturnae Mintur- nensis, von Narbo Narbonensis, von Sardes Sardensis, von Tarsus Tarsensis und von Volsinii Volsiniensis253), während andrerseits in jener Sprache auch nach Örtlichkeits- bezeichnungen auf -a häufig andere Eigenschaftswörter, als solche auf -ensis ge- schaffen wurden, so Albanus (Alba), Antiochenus (Antiochia) und Numantinus (Numantia)254). Die in Rede stehende Römersiedlung kann also ebensogut wie Maia auch Maium, Maiae, Maies, Maius usw. geheißen haben255). Auch kann ihr Name, selbst wenn er erst von den Römern geschaffen worden sein sollte, un- möglich mit dem der Göttin Maia in Zusammenhang gebracht werden256), da die unveränderte Übertragung eines Götternamens auf eine Ortschaft im Altertum nicht üblich war. Unter diesen Umständen kann aber die Frage, wie der den Be- zeichnungen statio Maiensis und castrum Maiense zugrundeliegende Ortsname lautete, nur mit Hilfe der ältesten schriftlichen Überlieferung des Mittelalters ent- schieden werden. In dieser ist nun ausschließlich die Namensform Maies (auch Maiis, Mays, Mages, Magis) bezeugt257). Man könnte freilich vermuten, ein lateinisches Maia habe sich zu einem späteren Maies gewandelt. Diese Annahme muß indes abgelehnt werden. Denn da das Althochdeutsche auch die volltönende Endung -a kannte, hatten die Deutschen keine Veranlassung, bei der Übernahme auf -a aus- lautender Örtlichkeitsbezeichnungen römischen oder vorrömischen Ursprungs deren Endung durch -es zu ersetzen. In der Tat wurden denn auch aus den Namen Vel- didena (Wilten-Innsbruck; R. 1, 241—245) und Teriola (Martinsbüchel) die Dorf- namen Wilten und Zirl, also keine mit -es schließenden Örtlichkeitsbezeichnungen. Zudem erscheinen bekanntlich gerade im deutschen Etschland, wie auch anderwärts in Tirol, häufig Ortsnamen vorrömischer und römischer Herkunft, die noch heute mit -s oder -es schließen. Außerdem spricht die Tatsache, daß von allen an der römischen Brenner- und Reschenscheideckstraße liegenden Orten bloß drei, die sich noch dazu nördlich des Alpenhauptkammes befanden, nämlich Veldidena, Teriola und Scarbia (Mittenwald; R. 1, 37), im Mund der Römer auf -a auslautende Namen führten, nicht eben für die Annahme, im Burggrafenamt habe man mit einer Maia genannten Ortschaft des Altertums zu rechnen. Unter diesen Umständen muß

253) K. E. Georges, Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch7 (1879 f.), 2, Sp. 639, 827, 968, 2230, 2719, 3180. Über die Eigenschaftswörter auf -ensis vgl. Fr. Stolz, Historische Grammatik der lateinischen Sprache 1 (1894), S. 540 f. 254) Georges, Handwörterbuch7 I, Sp. 267, 441; 2, Sp. 1078. 255) Daß sie den Namen Maies getragen haben könnte, hält auch Stolz, Ausbreitung des Deutschtums 3/1, S. 107 für möglich. 256) Dies zu tun, war früher sehr beliebt; vgl. z. B. Giovanelli, Ara Dianae, S. 68. Über andere Möglichkeiten, den in Rede stehenden Ortsnamen aus dem Lateinischen zu erklären, Menghin, Forschungen und Mitteilungen 9 (1912), S. 257. 257) Über die mittelalterlichen Formen des Namens Mais Tarneller, Archiv für österreichi- sche Geschichte 100, S. 275, Stolz, Ausbreitung des Deutschtums 3/1, S. 111 f.

5* 67 es mithin als sicher angesehen werden, daß die Römersiedlung an der Passer nicht Maia, sondern Maies hieß. Der Name Maies entstammt wohl der Sprache der Urbevölkerung und nicht jener der Römer258). Die Endung -es, die als vorrömisch zu gelten hat259), findet sich allerdings auch bei Örtlichkeitsbezeichnungen lateinischer Herkunft. Es sei etwa an den Namen Partschins (s. o. S. 56) — 1237 Parcindes260) — erinnert. Allein es ist wohl kaum mit der Möglichkeit zu rechnen, daß die nach dem Untergang der umliegenden Wallburgen entstandene oder doch wenigstens erst damals zu einer halbwegs ansehnlichen Ortschaft gewordene Siedlung an der Passer einen lateinischen Namen empfangen habe. Gewiß nannten die Römer den im Bozner Becken erwach- senen Straßenort Pons Drusi (s. o. S. 25). Die Schaffung dieses amtlichen Namens, der übrigens in der Folge bald der schon von der Urbevölkerung geprägten oder von den Namen eines römischen Grundbesitzers (Baudius) abgeleiteten Bezeichnung Bauzanum weichen mußte261), stellte aber einen Ausnahmsfall dar, bei dem besondere Umstände mitsprachen (s.u. S. 83). Gemeinhin ersannen die Römer vielmehr für die Rastorte ihrer die mittleren Alpen durchquerenden Heerwege keine neuen, aus ihrer Sprache geschöpften Benennungen. So trugen sämtliche Siedlungen, die an den über das Reschenscheideck und den Brenner führenden Straßen des Altertums lagen, unlateinische Namen: Endidae (Castelfeder), Inutrium (vermutlich im Vinsch- gau), Medullum (wohl ebenda), Humiste (Imst; R. 1, 104:), Foetibus (wahrscheinlich bei Füssen; R. 1, 37), Sublavione (Kollmann)262), Vipitenum (Sterzinger Altstadt?), Matreium (Matrei; R. 1, 104), Veldidena, Teriola, Scarbia, Parthanum (Parten- kirchen; R. 1, 37), Masciacum (wohl bei Matzen im Unterinntal; R. 1, 37), Albiancon (vermutlich bei Eichelwang nächst Kufstein; R. 1, 37). Selbst Straßenorte, die von den Römern zu Städten im Rechtssinn erhoben wurden, behielten nicht selten — Beispiele hiefür bieten Cambodunum (Kempten; R. 1,100 f.), Brigantium (Bregenz; R. 1, 101 f.) und Curia (Chur; R. 1, 106—111) — ihre althergebrachten Namen. Unter diesen Umständen ist man zweifellos voll berechtigt, die Örtlichkeitsbezeich- nung Maies für vorrömisch zu halten, zumal sie, anders, als Namen, die, — wie z. B. Riffian, — durch ihre Endung ihren lateinischen Ursprung verraten (s. o. S. 43 f.), nichts an sich trägt, was darauf hinwiese, daß sie erst von den Römern geschaffen worden ist. Maies wird also ursprünglich wohl eine vorgeschichtliche Siedlung geheißen haben. Dabei wäre entweder an einen kleinen, unweit der Passer im Tal gelegenen Wohnplatz oder — wenn es einen solchen in der Urzeit nicht gegeben

258) So zuletzt Castelpietra, Merano Romana, S. 3, A. 2, S. 12. Vgl. auch Menghin, For- schungen und Mitteilungen 9, S. 257. 259) Vgl. Stolz, Ausbreitung des Deutschtums 3/1, S. 109, A. 1. 260) Tarneller, Archiv für österreichische Geschichte 100, S. 94, A. 1. 261) Über den Namen von Bozen v. Ettmayer, Schlernschriften 9, S. 41—52. Gegen die Annahme, der Name Pons Drusi habe in späteren Örtlichkeitsbezeichnungen fortgelebt, Heuberger, Klio 23, S. 40. 262) Zum Namen Sublavione zuletzt Heuberger, Klio 23, S. 59, derselbe, Rätien 1, S. 34, A. 49.

68 haben sollte — an eine in der Nähe des heutigen Ober- und Untermais vorhanden gewesene Wallburg, etwa an die auf dem Grumserbüchel, zu denken. Daß römische Straßenorte die Namen vorgeschichtlicher Höhensiedlungen übernahmen, kam ja bekanntlich sehr häufig vor. Einen Beleg hiefür liefert z. B. die Benennung des rö- mischen Endidae263). Die statio Maiensis quadragesimae Galliarum war eine Amtsstelle, an der im 3. Jahrhundert die mit 21/2% bemessene Abgabe von den in das gallische Zollgebiet eingeführten Waren eingehoben wurde (R. 1, 70 f.). Das gleichartige, für das 2. Jahr- hundert nachweisbare Mautamt von Turicum (Zürich; R. 1, 70) bestand damals nicht mehr (R. 1, 71) oder es gehörte nur zu einer inneren Zollinie, die Rätien vom belgischen Gallien schied. Auch letztere Annahme ist zulässig. Trennte doch eine solche Zwischenzollgrenze auch die beiden germanischen Provinzen von der Gallia Belgica (R. 1, 314). Sollte Rätien im 2. Jahrhundert zum illyrischen Steuersprengel gezählt haben, so müßte man damals in der statio Maiensis das portorium Illyricum entrichtet haben264). Viel wahrscheinlicher ist es aber, daß zu dieser Zeit dieselben Verhältnisse herrschten, wie im 3. Jahrhundert265). Der Einwand, der gegen diese Ansicht unter Hinweis auf die statio quadragesimae Galliarum zu Turicum erhoben wurde266), erledigt sich durch das oben Gesagte. Daß sich die statio Maiensis nicht, wie man gelegentlich gemeint hat, bei Maien- feld im alpinen Rheintal267) oder an einem anderen, nicht mehr bestimmbaren Ort268), sondern im Burggrafenamt nächst der Passermündung befand, darf als sicher gelten269). Die Vermutung, das römische Mautamt sei weitab von der Ortschaft, der es seinen Namen entlehnte, auf der Töll, also in der Nähe von Partschins, an- zusetzen270), ist nicht haltbar. Denn sie ging von der Meinung aus, der Dianaaltar sei ursprünglich hier aufgestellt gewesen, dies gestatte einen Schluß auf den Standort der statio, diese habe sich im mittelalterlichen Zollamt Töll fortgesetzt und an sie erinnere auch die vom lateinischen Worte teloneum (Zoll) stammende Örtlichkeits- bezeichnung „Töll". Diese Voraussetzungen treffen jedoch nicht zu (R. 1, 236). Der Name „Töll" oder „auf der Töll", der im 12. Jahrhundert Teiles oder Tels, dann bis ins 18. Jahrhundert meist Tell geschrieben wurde und der auch als Be-

263) Vgl. Reinecke, Germania 1926, S. 151 f. 264) Heuberger, Rätien 1, S. 69 f. Dieser Ansicht schließt sich an Stähelin, Zeitschrift für schweizerische Geschichte 13 (1933), S. 397 f. 265) Heuberger, Rätien 1, S. 313—315. Dieselbe Ansicht vertreten auch Patsch und E. Stein, vgl. Stähelin, Zeitschrift für schweizerische Geschichte 13, S. 397. 266) Stähelin, Zeitschrift für schweizerische Geschichte 13, S. 397 f., derselbe, Klio 27 (1935), S. 341. 267) Mommsen, Corpus inscriptionum Latinarum 3/2, S. 707; ebenda 5/1, Nr. 5090, S. 543, R. Cagnat, Etude historique sur les impôts indirects chez les Romains (1882), S. 31 f., 59, W. Oechsli, Mitteilungen der antiquarischen Gesellschaft in Zürich 26 (1903), S. 74. 268) Stähelin, Schweiz2, S. 351. 269) Heuberger, Rätien 1, S. 233—236. Stähelin, Zeitschrift für schweizerische Geschichte 13, S. 397. 270) Cartellieri, Alpenstraßen, S. 75.

69 Zeichnung von Höfen in Schluderns, bei Taufers und in Vöran begegnet271), haftete überdies früher nicht bloß an dem Weiler, dem er gegenwärtig eignet, sondern zugleich auch an einem beträchtlichen Teil des heutigen Plars272) und er kann gar nicht von teloneum abgeleitet werden273), wie schon seine älteste bezeugte Form dartut. Er muß vielmehr als vorrömisch betrachtet werden274). Es wäre zudem auch gar nicht zu begreifen, warum ein römisches Zollamt, in dessen Nähe sich an der Stelle des heutigen Partschins sicher schon im Altertum eine Siedlung befand, nicht nach diesem Wohnplatz, sondern nach dem verhältnismäßig weit entfernten Maies benannt worden sein sollte. Nicht in Betracht kommt selbstverständlich die Annahme, jene Siedlung habe ursprünglich Maies geheißen und dieser Name sei erst später — etwa in der Völkerwanderungszeit — auf den Passerort übertragen worden. Denn solche Wanderungen von Namen kamen zwar vor. Sie waren aber stets die Folge von Verlegungen der betreffenden Siedlungen, wie sich an zahlreichen Beispielen dartun läßt275), und ein derartiger Vorgang fand in unserem Fall nicht statt, wie schon daraus hervorgeht, daß das römische Maies zum mindesten schon unter Augustus und dessen Nachfolgern bestand (s. o. S. 66). Daß Maies zur Römerzeit der wichtigste Ort des Burggrafenamtes war, steht außer Zweifel. Denn es lag, wie das Vorhandensein der statio quadragesimae Galliarum beweist, an der nach dem Reschenscheideck und weiter nach Augusta Vindelicum (Augsburg) sowie bis an die Donau führenden, unten noch näher besprochenen via Claudia Augusta und von diesem Heerweg zweigte hier der Pfad über den Jaufen ab, der im Altertum zwar keine größere Bedeutung besaß (s. u. S. 104 f.), aber doch begangen wurde. Auch befand sich in der Nähe die wichtige Opferstätte auf dem Segenbüchel, die auch noch in den Tagen der Römerherrschaft über Tirol benützt wurde (s. o. S. 14), und es ist nicht unmöglich, daß schon im 5. Jahrhundert auf dem Zenoberg die den Anhängern des neuen Reichsglaubens heilige Grabkirche St. Va- lentins erstand (s. o. S. 51). Dazu kam dann noch das Bestehen des Zollamtes in Maies. Näheres über die Ausdehnung der antiken Passersiedlung läßt sich derzeit noch kaum mit Bestimmtheit sagen. Den besonders in den Jahren 1887—1903 gewonnenen Funden nach hatte der Römerort seinen Schwerpunkt auf dem Boden von Obermais und zwar in der Lazag. Dazu trat dann noch eine zweite Siedlung im Gebiete von Untermais, um die St. Vigilpfarrkirche, im Bereich des neuen Fried-

271) Tarneller, Archiv für österreichische Geschichte 100, S. 102 f., A. 1, ebenda 101, S. 196, Nr. 1727. 272) Tarneller, Archiv für österreichische Geschichte 100, S. 102 f., A. 1, S. 120, A. 1. 273) So schon Tarneller, Archiv für österreichische Geschichte 100, S. 102 f., A. 1. 274) Steinberger, Zeitschrift für Ortsnamenforschung 8, S. 258. Hopfner, Schlern 12, S. 237 denkt an einen Zusammenhang mit dem lateinischen tilia (Linde). Unannehmbar ist gewiß die von K. Staudacher vorgeschlagene, von K. M. Mayr, Schlern 14, 1933, S. 140, A. 6 erwähnte Ableitung vom niederdeutschen Personennamen Till. 275) Vgl. etwa Stähelin, Schweiz8, S. 569 (Lousonna-Lausanne), Reinecke, Germania 15 (1931), S. 237 f. (Römerorte an Iller und oberer Donau).

70 hofs sowie in der Nähe der Villa Straßburg276). Spuren öffentlicher Gebäude konnten nicht entdeckt werden. Die Vermutung, an der Stelle der Untermaiser Pfarrkirche zum heiligen Vigilius habe ein römischer Tempel gestanden, gründete sich lediglich auf die Annahme, ein außen an dem Chor jenes Gotteshauses eingemauertes selt- sames Steinrelief stamme von einem uralten, dem Dienst himmlischer Wesen ge- weihten Gebäude277). Dieses Bildwerk wurde aber in Wahrheit erst im Mittelalter geschaffen278). Die Meinung, das römische Maies habe sich nicht über die Passer hinüber in den Bereich der heutigen Meraner Oberstadt und des angrenzenden Geländes erstreckt279), läßt sich gewiß nicht halten. Denn hier konnten zwar keine Siedlungsreste römischer Zeitstellung zutage gefördert werden, allein Münzen des Altertums wurden auch auf dem rechten Passerufer in ansehnlicher Zahl gefunden280) und da zu Römerzeit dort, wo die Passer im Frühmittelalter sowie später überbrückt war, eine Brücke vorhanden gewesen sein muß281) — die via Claudia Augusta hatte ja hier den Fluß zu übersetzen — so war die Gegend von Mais aufs engste mit dem Bereich der Meraner Oberstadt und dessen Nachbarschaft verbunden. Auf der Strecke zwischen dem Passeirertor und dem Zenoberg, wo sich anläßlich der Weg- und Straßenbauten der neuesten Zeit keinerlei Spuren einer Niederlassung des Altertums gefunden haben282), wird man freilich schon mit Rücksicht auf die Geländeverhält- nisse mit dem einstigen Vorhandensein römischer Wohnstätten nicht zu rechnen haben. Die Frage aber, ob und in welcher Zahl während der römischen Kaiserzeit im Weichbild von Meran Häuser erbaut waren, muß derzeit wohl noch als eine offene betrachtet werden. Sie wird sich allerdings, wenn überhaupt, dann nur durch glückliche Zufallsfunde oder durch wissenschaftliche Spatenarbeit beantworten lassen, sofern die Bauten des Mittelalters nicht alle Überreste des Altertums voll- kommen überdeckt haben. Als gewiß darf es dagegen betrachtet werden, daß auch das rechts der Passer gelegene Gelände, selbst wenn es ganz unbesiedelt gewesen sein sollte, im ausgehenden Altertum und ebenso schon in der früheren Kaiserzeit zum Bereich von Maies zählte283), gleichviel, ob dieser Ort stets ein einfacher vicus blieb oder ob in seiner Gemarkung einmal ein größeres oder kleineres Kastell er- richtet wurde. Bezog sich doch noch im 8., vielleicht sogar noch im 10. Jahrhundert

276) Nähere Angaben hierüber bei Mazegger, Römerfunde3, S. 14—16. Vgl. auch derselbe, Chronik von Mais, S. 5. — 277) Mazegger, Römerfunde3, S. 15. 278) Weingartner, Die Kunstdenkmäler Südtirols 4, S. 104, H. Waschgler, Tiroler ro- manische Bildhauerkunst (die Kunst i. Tirol 18, ohne Jahr), S. 5 f. 279) So Mazegger, Römerfunde3, S. 13 f., Cartellieri, Alpenstraßen, S. 74, Heuberger, Rätien 1, S. 237. 280) Orgler, Zeitschrift des Ferdinandeums 3. Folge 22, S. 74, 80, Stampfer, Programm Meran 1884, S. 18, Mazegger, Römerfunde3, S. 13, v. Braitenberg, Schlern 15, S. 16 f. 281) Dies wird allgemein angenommen; vgl. z. B. Mazegger, Römerfunde3, S. 43, v. Braiten- berg, Schlern 15, S. 16. 282) Mazegger, Chronik von Mais, S. 192 f. 283) Dies wurde öfter anläßlich der Erörterungen über die sogenannte Maiafrage (darüber u. a. Mazegger, Chronik von Mais, S. 189—201) vermutet und zuletzt von Sparber, Schlern 4, S. 302.

71 der Name Maies bzw. der von ihm abgeleitete Ausdruck castrum Maiense (et vicus Maiensis ?) auf das Gebiet zu beiden Seiten jenes Flusses (s. o. S. 63—65). Erhob sich schon zur Römerzeit bei Maies ein Kastell? In der schriftlichen Überlieferung findet sich kein Hinweis auf das Vorhandensein einer solchen Wehr- anlage. Daß Arbeos Mitteilungen über das castrum Maiense weder dessen Bestehen zu Lebzeiten St. Valentins bezeugen, noch gestatten, in diesem castrum mit größerer Wahrscheinlichkeit ein burgartiges Befestigungswerk römischen oder frühmittel- alterlichen Ursprungs zu sehen, wurde bereits dargelegt. Die früher sehr beliebte Annahme aber, das Sperrwerk Teriola (Teriolis), das im Kapitel 35 des die West- hälfte des Kaiserreiches behandelnden Teiles der Notitia dignitatum erscheint284), habe sich dort befunden, wo sich nachmals das Schloß Tirol erhob, hat man mit Recht schon längst aufgegeben285). Denn es kann nicht daran gezweifelt werden, daß dieses aus einer wehrhaften bürgerlichen Siedlung erwachsene Kastell anderswo und zwar auf dem Martinsbüchel bei Zirl zu suchen ist286). Die durch ein Schreiben Theoderichs des Großen (Cassiodor, Variae 2, 5) bezeugten Augustanae clusurae endlich, die jedenfalls den Platz einer talsperrenden Befestigung der Römerzeit einnahmen, hat man sich nicht im Burggrafenamt, wo sie neuerdings vermutet wurden287), sondern in der Nähe von Aosta zu denken (R. 1, 126, bes. A. 55). Derzeit fehlen auch noch Bodenfunde, die geeignet wären, die Ansicht zu beweisen, daß es schon im Altertum ein castrum Maiense gegeben habe. Freilich fand man zu Obermais in der Lazag neben Grundmauern, Menschenknochen, etlichen kleineren Gegenständen und Münzen aus der Zeit vom Ende des 2. bis zur Mitte des 4. Jahrhunderts eine eiserne Pfeilspitze und in Untermais nächst dem Suppanturm in Gesellschaft mehrerer Silbermünzen und anderer Dinge eiserne Pfeilspitzen, ferner nördlich der Vigiliuspfarrkirche außer Münzen Aurelians und der urbs Roma Ziegeln, Resten von Pferdegeschirr, sonstigen Gegenständen und Gebeinen drei eiserne Speerspitzen, eine 40 cm lange eiserne Schwertklinge und Bruchstücke von solchen sowie nördlich vom Widum neben einem antiken Reliefstein (s. o. S. 40) Knochen, kleineren Gegenständen und Münzen Theodosius des Großen und Kon- stantins II. sieben steinerne Schleuderkugeln288). Allein irgendwelche Spuren rö- mischer Befestigungswerke ließen sich auf Maiser Boden nicht nachweisen289) und

284) Notitia dignitatum ed. 0. Seeck (1876), S. 200 f. 285) Diese aus Unkenntnis von Dietze, Rätien, S. 12 beibehaltene Annahme wird nur noch von Stolz, Ausbreitung des Deutschtums 3/1, S. 107 erwähnt, also anscheinend als möglicherweise zutreffend betrachtet. 286) Über Teriola (Teriolis) jetzt F. Winkelmann, Deutsche Gaue 13 (1912), S. 150 f., 155, Menghin, ebenda 14 (1913), S. 87—93, derselbe, Forschungen und Mitteilungen 10 (1913), S. 177—185, Reinecke, Der bayrische Vorgeschichtsfreund 4, S. 44, Cartellieri, Alpenstraßen, S. 146—149, F. Wagner, Die Römer in Bayern4 (Bayrische Heimatbücher 1, 1928), S. 32, 41, 66, Heuberger, Schlern 15, S. 157, 159 f. 287) Schmidt, Germania 11 (1927), S. 36. 288) Mazegger, Römerfunde8, S. 2 f., 6 f., 9. Abbildungen der Schwertklinge, einer Speer- spitze und eines Schleudersteins, ebenda, Tafel 3, Figur 14, 15, 19. 289) Dies gibt selbst Mazegger, Römerfunde3, S. 72 zu.

72 die eben erwähnten Waffen, die den mit ihnen zusammen gefundenen Münzen nach aus der späteren Kaiserzeit stammen, können ebensogut Einwohnern von Maies, wie einer hier einquartierten Besatzung gehört haben. Hatte sich doch im ausgehenden Altertum die bürgerliche Bevölkerung an Römerstraßen gelegener Siedlungen oft genug Barbarenscharen gegenüber mit eigener Kraft ihrer Haut zu wehren. Nun kann aber in der Gegend, in der fast alle jene Waffen zutagegekommen sind, ein Kastell der späteren Kaiserzeit unmöglich vermutet werden. Denn die damaligen Römerfesten befanden sich gemeinhin in geschützten Höhenlagen, wenn die Um- stände dies gestatteten (s. u. S. 76). Jene größtenteils in Untermais gefundenen Waffen können mithin nicht als Beweis dafür angesehen werden, daß in dieser Ge- gend während des ausgehenden Altertums eine Römerfeste vorhanden war. Sie mögen an einen damals ausgefochtenen Abwehrkampf der möglicherweise durch Soldaten unterstützten Bewohner von Maies gegen eine Germanenschar erinnern. Daß Tirol damals unter Einfällen und Durchzügen nordischer Heerhaufen zu leiden hatte, läßt sich an der Hand von Bodenfunden zeigen (R. 1, 128 f.), und daß dabei auch die Siedlung an der Passer nicht ganz ungeschädigt durchkam, geht daraus hervor, daß auch in ihrem Umkreis bei den römischen Mauerresten Brandschutt festgestellt werden konnte (s. o. S. 43). Sichere Spuren von Wehranlagen des Alter- tums haben sich — entgegen der Meinung älterer Schriftsteller, die in vielen mittel- alterlichen Burgen der Meraner Gegend wie des übrigen Tirol Nachfolgerinnen antiker Festen zu erkennen glaubten290) — im näheren und weiteren Bereich der Passerstadt nicht gefunden. Der Bergfried von Schloß Tirol könnte zwar möglicherweise auf einer von einem römischen Wartturm herrührenden Mauergrundlage stehen und jener der Burg Ortenstein, der jetzt den Kern des Pulverturms auf dem Küchelberg bildet, ließe sich vielleicht mit einem gleichartigen Römerturm in Verbindung bringen. Die beiden Bergfriede können aber ebensogut zur Gänze mittelalterlichen Ursprungs sein. Ihre ältesten Bauteile, deren Entstehung gelegentlich noch heute von Nichtfachleuten291) mit Bestimmtheit in die Römerzeit zurückverlegt wird, lassen sich also nicht mit Sicherheit oder auch nur mit Wahrscheinlichkeit als Überbleibsel von Warttürmen des Altertums auffassen292). Im Bereich des Zenoberges endlich kamen zwar vorgeschichtliche und römische Scherben293), sowie Münzen des Drusus, Septimius Severus und Maximianus294) zutage. Allein hiedurch ist nur erwiesen, daß die Höhe dieses Hügels in der Ur- und Römerzeit besiedelt war, nicht aber, daß sich hier eine vorgeschichtliche Wallburg und ein römisches

290) Vgl. z. B. K. Atz, Mitteilungen der Zentralkommission, neue Folge 13 (1887), S. LXI— LXXI. Gegen solche Annahmen in mehrfacher Hinsicht P. Clemen, ebenda, neue Folge 19 (1893), S. 20—23 und allgemein Weingartner, Tirol, Natur, Kunst, Volk, Leben, 2. Folge, Heft 2 (1928), S. 18-26. 291) So von Castelpietra, Merano Romana, S. 10. 292) Weingartner, Tirol, Natur, Kunst, Volk, Leben, 2. Folge, Heft 2, S. 23 f. Vgl. auch Mazegger, Römerfunde3, S. 91—95. 293) Mazegger, Chronik von Mais, S. 190 f., Zeitschrift des Ferdinandeums, 3. Folge, 41 (1897), S. XXX. 294) Mazegger, Chronik von Maia, S. 194, v. Braitenberg, Schlern 15, S. 16 f.

73 Befestigungswerk befanden295). Einwandfreie Spuren römischer Wehranlagen konnten in der Tat auf dem Zenoberg bisher noch nicht festgestellt werden. Ältere Behaup- tungen gegenteiliger Art erwiesen sich bei näherem Zusehen als hinfällig296) und sollten daher nicht mehr aufgewärmt werden297). Die Vermutung aber, Reste eines durch hochbuckelige Eckquadern auffallenden Turmes und einer von ihm aus- gehenden Mauer auf der Zenoburg stammten vielleicht von einem römischen castrum Maiense298), entbehrt — wenigstens hinsichtlich des Turmes — jeder greifbaren Begründung. Denn sogenannte Buckelquadern wurden bekanntlich auch sehr häufig beim Bau mittelalterlicher Festen und zwar besonders im 12. und 13. Jahrhundert, also gerade zu jener Zeit verwendet, in der das genannte Schloß entstanden ist. Daß sich auf dem Zenoberg geringfügige Überbleibsel römischen Mauerwerks er- halten haben können — an das Vorhandensein solcher scheint G. Gerola zu glauben299) — ist demnach zwar möglich, aber nicht erwiesen und auf jeden Fall fehlt es hier an einwandfreien baulichen Überresten des Altertums, die sich ihrer Ausdehnung und Beschaffenheit nach in unzweifelhafter Weise als einstige Bestand- teile einer Römerfeste zu erkennen geben. Ein Römerkastell am Unterlauf der Passer ist also durch Bodenfunde nicht einwandfrei und durch Quellenaussagen überhaupt nicht bezeugt. Trotzdem kann es selbstverständlich vorhanden gewesen sein. Tritt man an die Frage heran, ob dies wirklich der Fall gewesen sei, und versucht man sich eine Meinung über Beschaffen- heit und Lage eines etwaigen castrum Maiense der Römerzeit zu bilden, so muß man mit der Feststellung beginnen, daß ein großer Teil von dem, was bisher hierüber geschrieben wurde (s. o. A. 243), auf ganz unrichtigen Voraussetzungen beruht und daher schon deshalb gänzlich verfehlt ist. Bei den einschlägigen Erörterungen wurde z. B. vielfach mit einem ansehnlichen, nach den Vorschriften der damaligen Kriegskunst von Drusus errichteten Römerlager gerechnet, das bis zum Ende des Altertums bestanden habe, und auf Grund dieser Annahme über den Platz gestritten, an dem das castrum Maiense des Altertums zu suchen sei300). Dabei verfiel man gelegentlich auf ganz seltsame Vermutungen, so etwa auf den Gedanken, dieses in Rechteckform angelegte Lager habe den Abhang des Küchelberges bis herab zum Pulverturm und zur Zenoburg eingenommen301). Es hieße Zeit und Mühe verschwen- den, wollte man im einzelnen alle Ansichten besprechen, die — besonders in den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts — über die in Rede stehende Römer- feste geäußert worden sind. Daher sei hievon abgesehen und nur kurz dargelegt, was sich nach dem heutigen Stand unseres Wissens über die Frage sagen läßt,

295) Dies wurde vielfach als sicher angenommen, so zuletzt von v. Braitenberg, Schlern 15, S. 15 f. 296) Mazegger, Chronik von Mais, S. 191. 297) Wie dies Castelpietra, Merano Romana, S. 9 f. tut. 298) v. Braitenberg, Schlern 15, S. 16. 299) vgl. Schmoranzer, Schlern 15, S. 501. 300) Vgl. u. a. Mazegger, Römerfunde3, S. 39-52. 301) Castelpietra, Merano Romana, S. 10—12. Plan hiezu S. 6.

74 inwieweit man mit einem römischen Kastell am Unterlauf der Passer zu rechnen und wie man sich diese Wehranlage vorzustellen hat. Wendet man sich der Erörterung dieses Gegenstandes zu, so hat man zwischen den Verhältnissen der früheren und jenen der späteren Kaiserzeit zu unterscheiden. Wurde das Burggrafenamt von den Römern schon früher besetzt, als der Vinschgau und die übrigen Landstriche, die nachmals in der Provinz Eätien zusammengefaßt waren, so darf es als gewiß betrachtet werden, daß vor den Feldzügen der Jahre 16 und 15 v. Chr. bei Meran zwar kein dauerndes Legionslager — solche große Lager entstanden nur in wichtigen oder ständig schwer gefährdeten Gegenden — wohl aber eine kleine Feste errichtet war. Bestand eine solche, so wurde ihre Besatzung jedenfalls von Tridentum aus gestellt, wo damals vermutlich eine Legion lag (s. o. S. 20). Nachdem dann die Grenze des römischen Machtbereiches bis an den Oberlauf der Donau vorgeschoben worden war, entfiel die Notwendigkeit, im Burggrafenamt einen militärischen Stützpunkt aufrecht zu erhalten. War doch seitdem die regio Tridentina jeder Bedrohung durch äußere Feinde entzogen und Tridentum selbst wahrscheinlich nicht mehr Standort einer größeren Heeresabteilung (E. 1, 53). Ein kleines Kastell kann in der Meraner Gegend aber möglicherweise auch jetzt noch bestanden haben (Sl. 15,152). Denn bei Maies befand sich ja eine statio quadra- gesimae Galliarum und bei solchen Zollämtern gab es, wie sich verschiedenenorts, so in Turicum (Zürich) nachweisen läßt302), derartige Festen, in denen Wachabtei- lungen untergebracht waren. Es ist mithin gar nicht unwahrscheinlich, daß während der ersten zweieinhalb Jahrhunderte unserer Zeitrechnung in oder bei Maies ein kleineres, neu oder im Anschluß an eine voraugusteische Wehranlage erbautes Kastell vorhanden war, das nicht eigentlich kriegerischen Zwecken diente. In ihm könnte seit dem Ende des 2. Jahrhunderts auch einer jener beneficiarii (Gefreiten) Dienst getan haben, die damals zwecks Sicherung und Überwachung des Verkehrs auf die an den Reichsstraßen gelegenen Orte verteilt wurden303). Ein solcher Posten- fuhrer war z. B. der statio quadragesimae Galliarum zu Acaunum oder Tarnaiae (St. Maurice im Wallis) zugewiesen304). Sollte in der früheren Kaiserzeit in oder bei Maies eine Feste bestanden haben, so hätte man sie sich ähnlich vorzustellen, wie jene von Turicum, die inmitten des zugehörigen, beiderseits der Limmat gelegenen vicus nächst der hier diesen Fluß überschreitenden Römerstraße auf der beherr- schenden Höhe des früher mit einer wehrhaften Keltensiedlung belegten Lindenhofes lag, eine Fläche von etwa 5400 m2 einnahm und außer einem festen Gebäude von einem Tor durchbrochene Mauern sowie einen Turm besaß. Als etwaiger Standort eines castrum Maiense der früheren Kaiserzeit käme — schon mit Rücksicht auf die dort gemachten Funde — am ehesten der Zenoberg in Betracht. Eine auf der Höhe

302) Über Turicum, Stähelin, Schweiz2, S. 354-356, 572 f.; Plan des Kastells ebenda, S. 355. 303) Stähelin, Schweiz2, S. 249, 339. Über beneficiarii v. Domaszewski bei Pauly-Wissowa, Realenzyklopädie 3 (1899), Sp. 271 f. 304) Stähelin, Schweiz2, S. 332 f.

75 dieses Hügels erbaute kleine Römerfeste konnte annähernd die gleiche Ausdehnung besitzen, wie die Wehranlage von Turicum, und sie beherrschte die Passerbrücke der via Claudia Augusta. Vielleicht befanden sich auch die Stelle, an der der Jaufen- weg des Altertums von dieser Straße abzweigte, und das römische Zollamt nicht auf dem linken Passerufer, sondern auf dem Boden der heutigen Meraner Oberstadt und damit in der unmittelbaren Nähe einer auf dem Zenoberg errichteten Feste. Ob sich wirklich während der früheren Kaiserzeit an dem nachmals von der mittel- alterlichen Zenoburg eingenommenen Platz oder etwa anderswo in der Nähe des römischen Maies ein Kastell erhob, das ist allerdings eine Frage, die beim gegenwär- tigen Stand unseres Wissens derzeit noch als offen bezeichnet werden muß. Sie wird auch in Zukunft unbeantwortet bleiben, wofern nicht ein glücklicher Zufall oder erfolgreiche Nachforschungen im Gelände Klarheit schaffen. Denn selbst wenn einschlägige Untersuchungen in umfassendster Weise angestellt werden, aber ergebnislos bleiben sollten, so wäre dadurch noch nicht bewiesen, daß es ein früh- kaiserzeitliches castrum Maiense nicht gegeben hat. Könnte eine solche Feste doch auch zugrundegegangen sein, ohne uns erkennbare Überreste hinterlassen zu haben. Als die Germanen seit dem Ende des 2. und besonders seit der Mitte des 3. Jahr- hunderts unserer Zeitrechnung in immer steigendem Maß die Marken und dann auch die Kernländer des Kaiserreiches bedrohten, wurden von den Römern auch im Innern ihres Staatsgebietes an verkehrswichtigen Orten alte Kastelle wieder- hergestellt oder ausgebaut und neue errichtet, so zu Vitudurum (Oberwinterthur), Irgenhausen (bei Pfäffikon, Kanton Zürich) und Schaan (Fürstentum Liechten- stein)305), sowie bei Tridentum auf der Verruca (Dos Trento; R. 1, 256). Auch ge- staltete man kleine bürgerliche Wohnplätze, die sich auf leicht verteidigungsfähigen Hügeln befanden oder dorthin verlegt wurden, zu militärischen Stützpunkten um. Beispiele hiefür liefern die Römerfesten Teriola und Endidae (s. u. S. 77). Auch römische Städte wie Cambodunum (Kempten), Brigantium (Bregenz) und Curia (Chur) wurden ja damals auf nahe Anhöhen verlegt und durch Mauern geschützt (R. 1, 101 f., 106 f.). Endlich machte man zu dieser Zeit auch sonstige Siedlungen durch Umwallungen, Pfahlwerkverschanzungen u. dgl. wehrhaft und auch diese so befestigten Wohnplätze hießen in der Folge im weiteren Sinn castra oder castella (s. o. S. 58). Hieraus sowie auf Grund der Tatsache, daß im ausgehenden Altertum nicht bloß der inneralpine Bereich der Brennerstraße, sondern auch das Burggrafen- amt von Einfällen feindlicher Scharen bedroht war (s. o. S. 73), ergeben sich die Vor- aussetzungen, mit denen zu rechnen ist, wenn man an die Frage herantritt, ob es damals ein castrum Maiense gegeben habe oder nicht. Man hat es in Anbetracht des Gesagten mit folgenden Möglichkeiten zu tun: 1) Hatte schon in der früheren Kaiserzeit bei der statio Maiensis eine Wehranlage bestanden, so kann dieses jetzt zu militärischer Bedeutung gelangte Kastell nunmehr wiederhergestellt und etwa auch zeitgemäß ausgebaut worden sein. 2) War Maies früher ungeschützt gewesen, so kann

305) Über diese Kastelle Stähelin, Schweiz2, S. 264-267, 568, 583.

76 man in der Nähe dieser Siedlung jetzt eine kleine Feste neu errichtet haben (Sl. 15, 152) und zwar am ehesten auf einer leicht zu verteidigenden Anhöhe. Ein auf diese Weise oder durch Ausbau eines älteren Befestigungswerkes entstandenes castrum Maiense der Spätzeit müßte wohl den Kastellen von Oberwinterthur und Irgen- hausen geglichen haben, die turmbewehrte Mauervierecke mit einem Flächeninhalt von 7200 bzw. 3600 m2 bildeten. 3) Eine in geschützter Höhenlage befindliche oder dorthin verlegte kleine bürgerliche Siedlung in der Nachbarschaft von Maies könnte im ausgehenden Altertum in einen militärischen Stützpunkt umgewandelt worden sein. Römerfesten dieser Art besaßen gelegentlich einen recht ansehnlichen Umfang. Dies zeigt das Beispiel des spätrömischen Endidae. Umschlossen die Mauern dieses Platzes doch die dem Burgberg von Castelfeder vorgelagerte halb- mondförmige, über 300 m lange und bis zu 120 m breite Terrasse und gewiß auch die Höhe jenes Hügels306). 4) Die Ortschaft Maies selbst kann im ausgehenden Altertum durch einen Mauerring, durch eine Umwallung oder durch eine Pfahlwerkverschan- zung in verteidigungsfähigen Zustand versetzt worden sein. Welche dieser Möglichkeiten dürfte nun wohl tatsächlich verwirklicht worden sein ? Fall 3 kommt kaum in Betracht. Denn in der Umgebung des römischen Maies und seiner Passerbrücke gab es unseres Wissens im ausgehenden Altertum keine Siedlung, die so gelegen war, daß sie sich dazu geeignet hätte, als Kastell zu dienen, und die Höhe des Zenoberges bot zu wenig Raum für die Anlegung eines castrum von der Art von Teriola oder Endidae. Eine spätrömische Feste im engeren Sinn (Fall 1 und 2) fand dagegen auf diesem Hügel genügend Platz. Sie kann wohl auch nur hier gestanden haben. Denn sie müßte jedenfalls bestimmt gewesen sein, die Passerbrücke zu decken. Hatten doch auch andere, in der Nachbarschaft von Flüssen erbaute spätrömische Werke derartige Aufgaben zu erfüllen, wie denn z. B. das um- mauerte und mit Besatzungsmannschaften belegte Teriola die Innbrücke der antiken Brennerstraße schirmte (R. 1, 219 f., Sl. 15, 160). Nächst der römischen Passer- brücke war aber zweifellos nicht der durch den Küchelberg überhöhte und von ihm aus eingesehene Bereich der Meraner Oberstadt, sondern die Höhe des Zeno- berges der günstigste Standort für eine kleine Feste des ausgehenden Altertums. Auf diesem Hügel sind freilich bisher noch keine römischen Waffen und mit einer einzigen Ausnahme auch keine Münzen der späten Kaiserzeit gefunden worden, wie sie in Ober- und Untermais zutagegekommen sind, und die Mauergrundlagen der Zenoburg tragen anscheinend nichts an sich, was dazu berechtigen könnte, ihnen auch nur die bei jenen der Bergfriede von Schloß Tirol und Ortenstein be- stehende Möglichkeit römischen Ursprungs zuzugestehen. Ersteres könnte jedoch bloß auf Zufall beruhen und vielleicht haben sich auf dem Zenoberg doch dürftige Überreste römischen Mauerwerks erhalten (s. o. S. 74). Mithin ist es also nicht ausgeschlossen, daß sich im ausgehenden Altertum auf dieser Höhe ein kleines, neben dem offenen vicus Maies gelegenes Kastell erhob, besonders, wenn es nicht

306) Reinecke, Germania, 1926, S. 152 f.

77 stark ausgebaut gewesen sein sollte. War eine solche Feste nicht vorhanden, so wurde die bürgerliche Siedlung an der Passer im ausgehenden Altertum zweifellos durch Wehranlagen geschützt und dadurch zu einem castrum im weiteren Sinn (Fall 4). Ob das eine oder das andere eingetreten ist, können wir beim gegenwärtigen Stand unseres Wissens nicht sagen. Hängt doch die Entscheidung dieser Frage derzeit noch davon ab, ob man im castrum Maiense des 8. Jahrhunderts ein be- festigtes Dorf oder eine der bürgerlichen Siedlung benachbarte burgartige Feste auf dem Zenoberg zu erblicken hat und ob diese, wenn das letztere der Fall sein sollte, als ein castrum römischen Ursprungs angesehen werden darf oder nicht. Über all dies vermögen wir aber keine Klarheit zu gewinnen. Die Wahrscheinlichkeit spricht allerdings eher dafür, daß jenes castrum bloß eine wehrhafte Dorfsiedlung war (s. o. S. 65), woraus sich der Schluß ergäbe, daß in spätrömischer Zeit am Unterlaufe der Passer kein neben dem vicus gelegenes Kastell auf dem Zenoberg bestand. Auch dieser Schluß ist jedoch nicht zwingend. Lag doch zwischen dem Ende des Altertums und dem 8. Jahrhundert eine sehr lange, von mannigfachen Ereignissen erfüllte Zeit, in der sich manches ändern konnte. So muß es also vorläufig unent- schieden bleiben, wie man sich das castrum Maiense der spätrömischen Zeit vor- zustellen hat. Vielleicht bringt hierüber einmal ein glücklicher Zufallsfund oder wissenschaftliche Forschung im Gelände eindeutigen Aufschluß. Mit Bestimmtheit ist darauf freilich nicht zu hoffen.

8. Der Wegbau des Drusus und die via Augusta.

Die Verhältnisse, die während des Altertums im Burggrafenamt herrschten, wurden sehr wesentlich dadurch beeinflußt, daß die Römer den Pfad, der schon lange vor ihrem Erscheinen in dieser Gegend vom Etschtal über das Reschenscheideck nordwärts geführt hatte (s. o. S. 7,13), in das Netz der großen Verkehrsadern ihres Reiches einbezogen. Wann und wie geschah dies nun ? Nach der gangbaren Ansicht soll dieser Weg schon unter Augustus zu der nachmals von Claudius zur via Claudia Augusta ausgebauten Straße geworden und diese bis zur Zeit des Septimius Severus der einzige Heerweg gewesen sein, der, Tirol durchquerend, AugustaVindelicum (Augs- burg) mit dem östlichen Potiefland verband307). Sieht man aber näher zu, so ergibt sich bald, daß die Dinge hier durchaus nicht so klar und einfach liegen, wie es den Anschein hat und gewöhnlich geglaubt wird. Von dem Bau des das Meraner Becken berührenden römischen Heerweges be- richten die Meilensteininschriften von Rabland und Feltre, von denen bereits die Rede war (s. o. S. 36—38). Das Rablander Denkmal (CIL. 5, Nr. 8003, IBR. Nr. 465) setzt dem Namen und den Ehrentiteln des Kaisers Claudius die Worte hinzu: pontifex maximus, tribunicia potestate VI, cosul designatus IIII, imperator XI. Auf dem Feltriner Stein (CIL. 5, Nr. 8002, IBR. Nr. 469), der dem Kaisernamen

307) Vgl. z. B. Cartellieri, Alpenstraßen, S. 51 f., 54.

78 die Bezeichnung Drusi filius hinzufügt, erscheinen dieselben Ausdrücke und Ziffern, nur fehlt hier das Wort designatus. Nun bekleidete Claudius seit dem 25. Jänner 41 das Oberpontifikat, hatte die tribunizische Gewalt zum sechstenmal vom 25. Jänner 46 bis zum 24. Jänner 47 inne, war zum viertenmal vom 1. Jänner bis zum 31. Dezember 47 Konsul und nahm zu Ende des Jahres 46 zum zwölftenmal den Imperatorentitel an308). Der Stein von Rabland wurde also nach dem 25. Jänner 46 und vor dem Ende dieses Jahres errichtet. Dasselbe gilt auch von dem Feltriner Denkmal, wofern auf ihm das Wort designatus versehentlich weg- geblieben ist. Andernfalls müßte man annehmen, dieser Meilenweiser sei erst während des vierten Konsulates des Claudius, also nach dem 1. Jänner 47 aufgestellt worden und der Steinmetz habe vergessen, die auf den Imperatorentitel bzw. auch die auf die tribwnicia fotestas des Kaisers bezügliche Ziffer um eine Einheit zu erhöhen. Auf dem Stein von Rabland ist nun zu lesen, daß Claudius die via Claudia Augusta, die sein Vater Drusus nach der durch Krieg erzwungenen Erschließung der Alpen (wohl unter gelegentlicher Benützung der gruma, einer Art von Nivellierinstrument) habe gerade machen lassen (Alpibus bello patefactis derexserat)309) vom Po bis an die Donau in einer Länge von CC... (gewöhnlich ergänzt zu CCCL) Meilen habe ausbauen lassen (munit). Mit der an ihrem Schluß verstümmelten Inschrift dieses Denkmals, die die claudische Straße am Po — jedenfalls in Hostilia (Ostiglia) — beginnen läßt310), stimmt jene des Meilenweisers von Feltre, auf der die die Gesamt- länge des Heerweges anzeigende Zahl CCCL zur Gänze lesbar ist, fast wörtlich überein. Eine unzweifelhaft erkennbare Abweichung besteht (abgesehen von den schon erwähnten) nur darin, daß hier als südlicher Ausgangspunkt der Verkehrsader anstatt des Flusses Po die Stadt Altinum (Altino bei Venedig) angeführt ist, was sachlich und sprachlich als eine Unebenheit erscheint und demnach als eine Ab- änderung der ursprünglichen, auf dem Eablander Stein überlieferten Fassung der Inschrift betrachtet werden muß, selbst wenn die beiden in Rede stehenden Denk- male gleichzeitig hergestellt worden sein sollten. Es wird aber noch mit einer zweiten Verschiedenheit zwischen den zwei Inschriften zu rechnen sein. Nennt die Inschrift von Feltre anstatt des Po Altinum, so kann sie auch die Straßenlänge anders an- gegeben haben, als jene von Eabland, und es muß mithin auf dieser die Zahl CC... durchaus nicht auf CCCL ergänzt werden. Es ist in der Tat recht fraglich, ob auch auf dem Rablander Denkmal einst die Ziffer CCCL eingemeißelt war. In der Inschrift dieses Steines kann nämlich — das versteht sich von selbst — nur mit einem Verlauf des Heerweges von Hostilia aus und über das Reschenscheideck gerechnet sein. Nun hatte man aber auf der via Claudia Augusta — vorausgesetzt, daß diese nicht etwa über Cambodunum (Kempten) und dann über Celio monte (Kellmünz)

308) W. Liebenam, Fasti consulares imperii Romani (Kleine Texte für theologische und philologische Vorlesungen 41/43, 1909/1910), S. 104. 309) Zur Bedeutung von derigere oder dirigere im Straßenbauwesen vgl. Thesaurus linguae Latinae 5 (1910), Sp. 1234 f. 310) Cartellieri, Alpenstraßen, S. 53; vgl. dazu auch ebenda, S. 97.

79 nach Guntia (Günzburg) führte311), von Altinum aus bis an die Donau nicht 350, sondern ungefähr 389 römische Meilen zurückzulegen312) und diese Strecke verkürzte sich nur um 4 Meilen, wenn man die Heise von Hostilia anstatt von Altinum aus antrat313). Auch wenn man berücksichtigt, daß es sich in den beiden Inschriften gewiß nur darum handelte, die Straßenlänge in abgerundeter Zahl anzugeben, dürfte man also wohl anzunehmen haben, daß auf dem Rablander Stein — von dem Feltriner wird noch unten gesprochen werden — die in Rede stehende Ziffer nicht auf CCCL, sondern auf CCCLXXX oder CCCLXXXX (bzw. CCCXC) zu ergänzen ist. Freilich könnte der Heerweg in den Jahren 46—47 noch nicht zur Gänze im einzelnen vermessen gewesen und seine Gesamterstreckung infolgedessen lediglich auf Grund einer Schätzung ermittelt worden sein314). Allein selbst wenn dies der Fall gewesen sein sollte, so kann man doch kaum bei der Berechnung der Straßenlänge einen so großen Fehler begangen und kaum durch Einmeißelung einer viel zu niedrigen Zahl auf der Rablander Inschrift — Ehrendenkmäler pflegen ja eher zu übertreiben, als zu verkleinern — das Werk des Straßenbaues als weniger bedeutend hingestellt haben, als es wirklich war. Die zwei Inschriften sind eigentümlich und feierlich gefaßt (s. o. S. 37). Sie verherrlichen die Verdienste des Claudius und seines Vaters und rühmen, anstatt, wie andere Inschriften gleicher Art, die Entfernung zur nächsten Stadt anzugeben, das Gesamtwerk des Straßenbaues. Daher begnügen sie sich damit, die Länge des im Entstehen begriffenen Heerweges in abgerundeter Zahl zu verzeichnen und stellen in ihrer ursprünglichen, auf dem Rablander Stein überlieferten Fassung die genannte Verkehrsader als eine neugeschaffene Verbindung zwischen dem Hauptstrom Italiens und jenem Fluß dar, bis zu dem einst Drusus die Grenze des römischen Machtbereiches vorgeschoben hatte. Daß auf der Feltriner Meilensäule die Nennung des Po durch die einer italischen Stadt ersetzt werden mußte, störte zwar die Ge- schlossenheit der Inschrift, ließ sich aber nicht vermeiden, da dieses Denkmal an der Straße Tridentum — Altinum stand und da letztere Stadt nicht an jenem Strom, sondern am Sile lag und da dieser Fluß im Altertum kaum sehr wichtig und berühmt war, trotzdem er damals den Unterlauf der Piave bildete315). Verfehlt ist gewiß der Versuch, das Auftreten von Po und Donau in den beiden Inschriften durch die Annahme zu erklären, im Jahr 46 seien Ausgangsort und Ziel der via Claudia Augusta noch nicht bestimmt gewesen und in den späteren Monaten dieses oder in denen des folgenden Jahres habe noch keine Klarheit darüber bestanden, bis zu welchem Donauort die Straße geführt werden solle316). Denn es ist ja ungewiß, ob der Stein von Feltre wirklich jünger ist, als jener von Rabland, zur Zeit, als bereits

311) Die von andern Forschern nicht geteilte Meinung, die claudische Straße habe diese Richtung genommen, vertritt K. Miller, Itineraria Romana (1916), Sp. 280 f. 312) Cartellieri, Alpenstraßen, S. 90. 313) Miller, Itineraria Romana, Sp. 280. 314) Dies nimmt Cartellieri, Alpenstraßen, S. 53, an. 315) H. Nissen, Italische Landeskunde 1 (1883), S. 195, Cartellieri, Alpenstraßen, S. 59. 316) Diese Meinung vertritt Cartellieri, Alpenstraßen, S. 53.

80 im Bereich der Alpen der Bau des neuen Heerweges durch Denkmäler verewigt wurde, mußte man doch unbedingt schon wissen, welchem Endziel man mit dem Straßenbau zustreben wollte, und wenn einmal — sei es auch nur vorübergehend — eine Postadt als südlicher Endpunkt des im Ausbau befindlichen Heerweges in Aussicht genommen war, so konnte doch unmöglich eine Unklarheit darüber bestehen, welcher Ort hiefür zu wählen sei. Nur die Inschriften des Rablander und des Feltriner Meilensteins überliefern uns Namen und Baugeschichte der via Claudia Augusta. Dieser Tatsache verdanken sie ihre hohe geschichtliche Bedeutung. Vielleicht sind sie aber noch aus einem andern Grund merkwürdig. Vergegenwärtigt man sich die Eigenart ihrer Fassung und ihres Inhaltes — auch die ganz ungewöhnliche Erwähnung einer Kriegshandlung, des von Drusus geleiteten Alpenfeldzuges, ist hier zu beachten —, so drängt sich die Vermutung auf, daß ihr Wortlaut vielleicht von Kaiser Claudius selbst festgesetzt worden sein könnte. Weiß man doch, daß dieser gelehrte und etwas wunderliche Herrscher manchmal sogar bei ganz untergeordneten Angelegenheiten persönlich Entwürfe für die Beurkundung von ihm getroffener Entscheidungen lieferte. Ein Beispiel hiefür bietet das inschriftlich erhaltene kaiserliche Edikt vom 15. März 46, das Streitigkeiten zwischen den Bergalei und der Stadt Comum schlichtete und über die Rechtsstellung der Anauni, Sinduni und Tulliasses entschied (CIL. 5, Nr. 5050)317). Es hätte also gar nichts Befremdliches, wenn der auf dem Rablander und fast un- verändert auch auf dem Feltriner Meilenstein eingegrabene Satz, der vor allem das Andenken des Drusus verherrlichte, von dessen Sohn, dem Kaiser Claudius, selbst verfaßt worde wäre. Allerdings zeigt der Wortlaut der beiden Inschriften die für diesen Herrscher bezeichnende Wunderlichkeit in Gedankengang und Ausdruck nicht. Hier war indes beim besten Willen nicht viel Unheil anzurichten. Nun zur Vorgeschichte der via Claudia Augusta, Die von Drusus angeordneten Wegarbeiten führten anscheinend nicht sofort zur Entstehung der nachmals von Claudius ausgebauten Straße. Denn dieser Heerweg, der vor der Zeit dieses Kaisers selbstverständlich nur via Augusta geheißen haben kann, wurde vermutlich erst im Zusammenhange mit der nach dem Untergang des Legionslagers von Ober- hausen bei Augsburg (6—9 n. Chr.) erfolgten Gründung von Augusta Vindelicum (R. 1, 100) gebaut318) und Drusus war bekanntlich schon im Jahr 9 v. Chr. auf der Heimkehr von einem Sommerfeldzug gegen die Germanen gestorben. Nach Angabe der beiden Inschriften ordnete dieser Prinz erst nach seinem im Sommer des Jahres 15 v. Chr. begonnenen und beendeten Alpenfeldzug die Wegarbeiten an. Dazu stimmt die Bemerkung Strabons (4, 204), daß Augustus nach der Unterwerfung der in den Alpen ansässigen Völkerschaften im Bereich dieses Gebirges nach Mög- lichkeit überall die Wege habe gangbar machen lassen. Allein für den Sonderfall können aus dieser ganz allgemein gehaltenen Äußerung des Geographen keine Schlüsse

317) Darüber Mommsen, Hermes 4 (1869), S. 106 f., derselbe, Gesammelte Schriften. 4 (1906), S. 298 f. 318) Mommsen, Römische Geschichte 55 (1904), S. 19, A. 1.

6 81 abgeleitet werden, zumal dieser Gewährsmann an derselben Stelle auch unklare und teilweise unrichtige Angaben bringt (s. o. S. 19). Andrerseits darf man aber auch nicht allzu engherzig auffassen, was die zwei Inschriften berichten. Denn diese sind ja ganz ungewöhnlich gefaßt und sie gedenken des von Drusus geleiteten Alpenfeld- zuges ersichtlich nur, um den Vater des Claudius zu feiern. Drusus könnte den Befehl zum viam derigere mithin auch schon anläßlich der Vorbereitungen zu seinem Vor- gehen gegen die Bewohner der mittleren Alpen, also vor dem Sommer des Jahres 15 v. Chr. gegeben haben. Ließ er doch damals vielleicht in der Nähe von Bozen jene Brücke schlagen, die in der Folge der ihr benachbarten Straßenstation den Namen Pons Drusi gab (s. o. S. 25 f.). Befahl der Prinz dagegen die Wegbauten erst nach dem Krieg des Jahres 15 v. Chr. in Angriff zu nehmen, so kann er dies wohl nur in den Jahren 13—9 v. Chr. verfügt haben, in denen er Statthalter der tres Galliae sowie Befehlshaber der gallisch-rheinischen Heere war319) und als solcher auch die Verwaltung jenes Gebietes unter sich hatte, das nachmals die Provinz Rätien bildete (R. 1, 66 f.). Daß die via Augusta wohl erst lange nach des Drusus Tod hergestellt und erst unter Claudius ausgebaut wurde, wird allgemein angenommen. Ebenso, daß sich die von dem Vater des Kaisers veranlaßten Wegarbeiten auf eine Verbesserung in der Urzeit begangener Pfade beschränkten, wobei man bemüht war, zeitraubende Aus- biegungen zu beseitigen und die Verkehrsader auf diese Weise, vielleicht unter gelegentlicher Verwendung der gruma, gerade zu machen320). An eine eigentliche Trassierung, Aufschüttung eines Straßenkörpers u. dgl. ist hier umsoweniger zu den- ken, als selbst die vollausgebauten römischen Heerwege im Gebirge nicht annähernd so kunstvoll ausgeführt waren, wie im Flach- und Hügelland (s. u. S. 93). Die via Claudia Augusta erreichte gemäß der herrschenden Meinuug einerseits von Hostilia über Verona und andrerseits von Altinum über Feltria sowie durch die Valsugana oder nur auf letzterem Weg Tridentum und führte von dieser Stadt über Endidae (Castelfeder), Maies, das Reschenscheideck, Humiste (Imst), den Fernpaß, Abu- diacum (Epfach am Lech) und Augusta Vindelicum nach dem Donaukastell Sum- muntorium (Burghöfe, Gemeinde Wertingen, Bezirksamt Donauwört)321). Die vorclaudische via Augusta dagegen, die zur Zeit ihrer Entstehung gleich allen da- maligen Reichsstraßen grundsätzlich ihren südlichen Endpunkt in Rom selbst gehabt haben dürfte322), bildete vermutlich nur die nördliche Fortsetzung des vom Potiefland her über Verona nach Tridentum geführten Heerweges, der gewiß schon

319) Über die letzten Lebensjahre des Drusus Stein bei Pauly-Wissowa, Realenzyklopädie 3 (1899), Sp. 2707-2714. 320) So Chr. Frank, Altstraßen (Sonderheft 78 zu den „Deutschen Gauen", ohne Jahr), S. 18 f., Cartellieri, Alpenstraßen, S. 51, Wopfner, Geographischer Jahresbericht aus Öster- reich 16 (1933), S. 140 f. 321) Über die via Claudia Augusta u. a. Mommsen, Römische Geschichte 55, S. 18 f., Stein bei Pauly-Wissowa, Realenzyklopädie 3, Sp. 2708, Frank, Altstraßen, S. 18—58, Wopfner, Schlernschriften 9 (1925), S. 377-381, 384, Cartellieri, Alpenstraßen, S. 45, 51-90. Über Endidae s. u. S. 95. 322) Mommsen, Römische Geschichte 56, S. 19, A. 1.

82 vor dem Alpenfeldzug des Jahres 15. v. Chr. bestanden hatte (R. 1, 52, 59, A. 63), und sie endete im Norden zweifellos schon bei Augusta Vindelicum (K. 27, 321). Auch muß damit gerechnet werden, daß sie vielleicht gar nicht der Reschenscheideck- Fernpaßlinie folgte. Sie kann vielmehr möglicherweise auch — das untere Eisacktal oder den Jaufenübergang benützend — die Richtung über den Brenner und die Seefelder Senke eingeschlagen haben (K. 27, 320—322). Mit dieser Möglichkeit ist umsomehr zu rechnen, als sich auf der Reschenscheideck-Fernpaßlinie kein beschrifteter vorclaudischer Meilenweiser — ein Nalser Stein war kaum ein solcher (s. u. S. 101 f.) — und nicht einmal eine einzige jener Steinsäulen gefunden hat, die möglicherweise als schriftlose oder jetzt ihrer einstigen Inschrift ganz bzw. größten- teils beraubte Meilensteine der früheren Kaiserzeit, also auch etwa der augusteischen Zeit, aufgefaßt werden dürfen (s. u. S. 87). Unter diesen Umständen müssen aber auch die von Drusus befohlenen Wegverbesserungen, anläßlich deren möglicherweise in der Gegend von Bozen der pons Drusi entstanden sein könnte, lediglich innerhalb der Strecke zwischen Tridentum und dem Lager von Oberhausen vorgenommen worden sein und zwar entweder auf der Reschenscheideck- oder auf der Brenner- bzw. der Jaufen-Brennerlinie. Da sie sich mithin unzweifelhaft nicht auf den Gesamt- bereich der nachmaligen via Claudia Augusta erstreckten und da die beiden Meilen- steininschriften also nachweislich die Verdienste des Prinzen in übertreibender Weise feierten, so ließe sich weiters auch daran denken, daß sich die von Drusus angeord- neten Wegarbeiten vielleicht nur auf einen sehr engen Raum beschränkt haben könnten, so etwa bloß auf das nördlich von Tridentum gelegene und schon vor dem Feldzug des Jahres 15 v. Chr. in römischer Hand befindliche Stück des Etsch- tals oder auf Gegenden, die zum rätisch-vindelikischen Verwaltungsgebiete gehörten. Ersteres müßte der Fall gewesen sein, wenn der Prinz diese Arbeiten vor seinem Gebirgskrieg befohlen haben sollte, letzteres, wofern er dies erst als Statthalter der drei Gallien und Befehlshaber der dortigen Heere tat. Er könnte freilich auch die Wegverbesserungen bei der Vorbereitung seines Gebirgskrieges im Etschtal beginnen und sie dann nach der Unterwerfung der Räter, Vindeliker und Alpenillyrer auf der zwischen der Nordgrenze Venetiens und dem Oberhausener Lager gelegenen Strecke fortsetzen haben lassen. Verhielt es sich so, dann wurde aber auf der ganzen in Be- tracht kommenden Strecke dem Bau der via Augusta vorgearbeitet. Wie hat man sich nun die Beschaffenheit der augustischen Straße vorzustellen ? Die Meilensteine von Rabland und Feltre behaupten, Claudius habe die auf ihnen genannte Verkehrsader ausgebaut (munit)323), und dabei kann nicht an den Ge- samtbereich des Heerweges gedacht sein, da zum mindesten auf den Strecken Hostilia—Verona und Altinum — Feltria gewiß nicht erst unter jenem Herrscher Reichsstraßen geschaffen worden sind. Im Hinblick hierauf und in Anbetracht des Umstandes, daß Ehrendenkmäler gern aufzubauschen pflegen, ließe sich aber damit rechnen, daß das munire der beiden Inschriften nur auf die Weiterführung der Straße 323) Zur Bedeutung von viam munire Georges, Ausführliches lateinisch-deutsches Hand- wörterbuch7 2, 8p. 937.

6« 83 bis an die Donau, also bloß auf den Bau des Heerweges Augusta Vindelicum—Sum- muntorium zu beziehen sein könnte. In diesem Fall wäre schon die via Augusta eine vollwertige Eeichsstraße gewesen. Allein die Tatsache, daß im Jahr 46 (bzw. in den Jahren 46 und 47) an der via Claudia Augusta so einzigartige Erinnerungs- male, wie die von Rabland und Feltre, aufgestellt wurden, ließe sich zwar mit einem Hinweis auf Drususfeldzug und Drususweg erklären, sie ist aber doch wohl eher im Sinn der herrschenden Meinung als Zeugnis dafür zu betrachten, daß in jener Zeit wirklich ein großangelegtes Straßenbauunternehmen im Gang war. Gestützt wird diese Annahme durch die Beobachtung, daß man damals auch sonst in den mittleren Alpen eifrig an der Ausgestaltung des Verkehrsnetzes arbeitete. Denn im Jahre 47 wurden auch die beiden über den großen und den kleinen St. Bernhard führenden Pfade in vollwertige Reichsstraßen umgewandelt324), und wenn man sich daran er- innert, daß die römische Regierung im Jahr 46 laut eines kaiserlichen Ediktes (s. o. S. 17) den lange vernachlässigten Verhältnissen in der Gegend von Comum (Como) und im Bergell Beachtung schenkte, so ließe sich daran denken, daß damals auch die Julierstraße entstanden sei, die sich, gemeinsam mit den über den Splügen und den Bernhardin führenden Verkehrswegen, in der Straße Curia (Chur)—Bri- gantium (Bregenz) fortsetzte325). Außerdem bemühte man sich unter Claudius wahrscheinlich auch auf dem Boden Tirols nicht bloß um die Ausgestaltung einer einzigen Verkehrsader (s. u. S. 89—91). Ferner ist der Umstand, daß im gleichen Jahr, in dem man den Rablander Meilenweiser setzte, durch den Kaiser über die seit geraumer Zeit unklar gewordene Rechtsstellung der Anauni, Sinduni und Tul- liasses entschieden wurde (s. o. S. 17), gewiß nicht als ein Zufall, sondern als ein Beweis dafür aufzufassen, daß damals im Burggrafenamt wirklich an einer Straße gebaut wurde und daß dies der Reichsregierung die Verhältnisse dieses Landstriches und seiner Nachbarschaft wieder in Erinnerung brachte. Endlich lassen die Denk- male von Rabland und Feltre zwar nicht mit unbedingter Sicherheit, wohl aber mit Wahrscheinlichkeit darauf schließen, daß auch im alpinen Norden Venetiens unter Claudius an der nach diesem Herrscher benannten Straße gebaut wurde. Unter diesen Umständen hat man also bei dem munire der beiden Meilenstein- inschriften wohl an alle innerhalb und nördlich der Alpen gelegenen Teile der via Claudia Augusta zu denken. Dann war aber die via Augusta, zumal selbst ihre Nach- folgerin nicht so kunstvoll angelegt war, wie außeralpine Römerstraßen (s. u. S. 92 f.), nur eine höchst unvollkommen gebaute Verkehrsader und ihrer Beschaffenheit nach dem Drususweg nur wenig überlegen. Wie oben bemerkt, muß es dahingestellt bleiben, ob der von Drusus verbesserte und bald zur via Augusta ausgestaltete Pfad das Burggrafenamt berührte oder nicht. Eine sichere Entscheidung dieser Frage dürfte sich kaum erreichen lassen. Dies wäre selbst dann nicht möglich, wenn sich mit Hilfe des Spatens Gewißheit über

324) Stähelin, Schweiz2, S. 156. 325) Über diese Straßen zuletzt Stähelin, Schweiz2, S. 349—352, 360-367, Heuberger, Rätien 1, S. 19, A. 138.

84 die Lage des pons Drusi gewinnen ließe. Denn dieser hatte vielleicht keine Bedeutung für den friedlichen Durchgangsverkehr (s. o. S. 26), also auch keine Beziehung zur via Augusta. Sollte dies aber auch der Fall gewesen sein und ließe sich nachweisen, daß die Drususbrücke den Eisack bei Bozen überspannte oder daß sie unterhalb des Hügels von Siegmundskron über die Etsch führte, so wäre damit noch keine Klarheit über den Verlauf der augustischen Straße erzielt. Denn traf Ersteres zu, so ist zwar im Hinblick auf die Geländeverhältnisse am ehesten zu vermuten, daß sich der von Drusus verbesserte und dann zur via Augusta umgewandelte Pfad dem unteren Eisacktal und dem Brenner zuwendete (K. 27, 321), wie dies nachmals auch die über diesen Paß geführte Römerstraße tat, die laut der Tabula Peutin- geriana den nach dem pons Drusi benannten Rastort berührte326). Er könnte jedoch vielleicht auch nach Überschreitung der Talfer links der Etsch nach Maies und weiter nach dem Reschenscheideck oder nach dem Jaufen und dem Brenner gegangen sein (K. 27, 321, A. 5). Diese beiden Möglichkeiten blieben aber auch offen, sofern etwa der pons Drusi die Etsch bei Siegmundskron überbrückt haben sollte. Besäßen wir ferner auch volle Gewißheit darüber, daß der Drususweg und die via Augusta Maies berührten, so wäre damit die für die Geschichte des Burggrafenamtes nicht unwichtige Frage noch keineswegs gelöst, welche Richtung diese Verkehrsader von jener Siedlung aus einschlug. Konnte sie doch, wie erwähnt, entweder dem Reschen- scheideck oder dem Jaufen und dem Brenner zustreben327). Die nachmalige via Claudia Augusta tat letzteres der herrschenden Meinung nach freilich nicht. Für die augustische Straße und den drusischen Weg braucht aber nicht dasselbe zu gelten, da kein Zeugnis dafür vorliegt, daß sie die Gegend der Töll und den Obervinschgau durchzogen. Endlich ist noch zu sagen: Selbst wenn man bestimmt wüßte, daß die via Augusta — sei es nun das untere Eisacktal oder den Jaufenübergang benützend — den Brenner überschritt, so wäre damit noch nicht erwiesen, daß die Römer vor der Zeit des Claudius dem Reschenscheideckweg keine Beachtung geschenkt haben. Denn auch in diesem Falle könnte der genannte Pfad bei den von Drusus angeordneten Wegverbesserungen, die sicher nicht bloß einer einzigen Verkehrsader galten (R. i, 228, A. 4a), berücksichtigt und als Nebenzweig der via Augusta betrachtet worden sein. 9. Die via Claudia Augusta.

Was wissen wir nun von der Via Claudia Augusta ? Laut des Rablander Meilen- steins waren im Jahr 46 die ihr gewidmeten Arbeiten vom Po aus, also im Anschluß an die gewiß schon seit langem vorhandene Straße Hostilia—Verona—Tridentum, bis in die Gegend der Töll vorgeschritten. Möglicherweise lenkte dies die Blicke weiterer Kreise auf die vermutlich im Vinschgau gelegenen Orte Inutrium und Medullum. Dies würde die an sich auffallende Tatsache erklären, daß dies die beiden 326) Zur Überlieferung des Namens Pons Drusi Heuberger, Klio 23, S. 39—41. 327) Mit dieser Möglichkeit rechnet offenbar auch Mommsen, Römische Geschichte 55, S. 19, A. 1.

85 einzigen, wahrscheinlich in Tirol befindlichen Siedlungen sind, die Claudius Ptole- maeus, einer frühkaiserzeitlichen Quelle folgend, in seinen Mitteilungen über das rätisch-vindelikische Verwaltungsgebiet nennt (s. o. S. 32). Vielleicht wurden die Straßenbauarbeiten auf der Strecke Feltria—Tridentum erst etwas später, als im alpinen Etschtal, in Angriff genommen. Ist doch die Feltriner Meilensäule möglicherweise erst im Jahr 47 aufgestellt worden. Bedenkt man dies und erwägt man, daß die Nennung Altinums auf dem Feltriner Denkmal an Stelle des auf dem Rablander Stein genannten Padus (Po) nur eine notgedrungene und stilistisch unebene Abänderung des ursprünglichen Inschrifttextes darstellte (s. o. S. 79 f.) und vergegenwärtigt man sich, daß eine durchgreifende Änderung des eben erst ent- worfenen Straßenbauplanes im Lauf weniger Monate kaum als glaubhaft erscheint, so wird man wohl anzunehmen haben, daß die Straße Hostilia—Tridentum der Hauptarm, die Straße Altinum—Tridentum hingegen nur ein Nebenzweig der via Claudia Augusta war328). Diese Ansicht hat in Anbetracht des Gesagten jedenfalls mehr für sich, als die Meinung, die via Claudia Augusta hätte nach dem ursprüng- lichen Plan die Straße Hostilia—Tridentum fortsetzen sollen, man habe sich dann aber entschlossen, Tridentum mit Feltria durch eine neugebaute Verkehrsader zu verbinden und nunmehr bloß diese gemeinsam mit der Straße Feltria—Altinum als Südteil der via Claudia Augusta zu betrachten329). Zugunsten dieser Auffassung kann keinesfalls der Umstand ins Treffen geführt werden, daß sich zwar nächst dem alten Feltria, nicht aber auf der Strecke Hostilia—Verona—Tridentum ein Inschriftstein gefunden hat, der den Bau der via Claudia Augusta feierte. Kann denn nicht einst auch südlich des römischen Tridentum — etwa in oder bei Verona — ein gleichartiges, heute verschollenes Denkmal gestanden haben? Wie sehr bei der Erörterung von Fragen, wie die hier in Rede stehende eine ist, die Zufälligkeit der inschriftlichen Überlieferung in Betracht gezogen werden muß, lehrt die Er- wägung, daß es wohl niemand wagen würde, die Südstrecke der via Claudia Augusta in der Richtung Feltria—Altinum zu suchen, wenn uns nur die Rablander Meilen- säule erhalten geblieben wäre. Nebenbei sei noch bemerkt, daß sich weder zwischen Tridentum und Verona noch zwischen jener Stadt und Feltria ein Meilenstein gefunden hat, der mit Bestimmtheit der Zeit des Claudius zuzuweisen wäre. Auf der Strecke Tridentum—Verona sind nur Meilensäulen des 4. Jahrhunderts (CIL. 5, Nr. 8047—8052) zutagegekommen. Der bruchstückweise erhaltene Meilenzeiger von Tenna in der Valsugana aber braucht zwar nicht deshalb, weil er im Gegensatz zu den Steinen von Rabland und Feltre eine Entfernungsangabe verzeichnet, in die nachclaudische Zeit versetzt und vermutungsweise mit dem Bau der Straße Opitergium (Oderzo)—Feltria in Verbindung gebracht zu werden330). Denn es ist

328) Die Straßen Hostilia-Tridentum und Altinum-Tridentum fassen u. a. Miller, Itineraria Romana, Sp. 280 und Haug bei Pauly-Wissowa, Realenzyklopädie 2. Reihe 1 (1920), Sp. 50 als Südstrecken der via Claudia Augusta auf. . 329) So Cartellieri, Alpenstraßen, S. 53, 68, Heuberger, Klio27, S. 321. 330) Wie Cartellieri, Alpenstraßen, S. 55, 66 f. meint.

86 nicht anzunehmen, daß die gewöhnlichen, bei der Herstellung der via Claudia Augusta errichteten Meilensäulen ebenso beschriftet waren, wie die einzigartigen Denkmale von Rabland und Feltre, und wenn dieser Heerweg in den Jahren 46 und 47 etwa auch noch nicht zur Gänze im einzelnen vermessen gewesen sein sollte331), so kann er dies in seinen südlichsten, im Bereich Venetiens gelegenen Teilen doch schon damals gewesen sein. Ob aber der Meilenweiser von Tenna tatsächlich in die Zeit der ersten römischen Kaiser, also etwa in die des Claudius gehört, müßte erst mittels einer Untersuchung der Schrift dieses Denkmals festgestellt werden. Es erhebt sich nun die Frage, ob der von Süden her begonnene Bau der via Claudia Augusta nicht etwa vor oder nach der Erreichung des Reschenscheidecks stecken geblieben ist. Dies wurde schon angenommen332) und man begreift es auch, daß das geschehen konnte. Auch heute noch ließe sich über diese Vermutung reden. Gewiß darf es als erwiesen gelten, daß jene Straße bis auf die Höhe der Töll und bis in den Obervinschgau geführt worden ist (s. u. S. 104 f.). Allein Claudius Ptolemaeus nennt zwar die wohl in dieser Talschaft gelegenen Orte Inutrium und Medullum, aber keine einzige Alpensiedlung, die nördlich des Reschenscheidecks zu suchen wäre; und wenn man von zwei bei Epfach entdeckten Steinsäulen absieht, die — wofern sie römische Meilenweiser waren — auch zur Straße Brigantium (Bregenz)—Cam- bodunum (Kempten)—Iuvavum (Salzburg) gehört haben können333), so ist auf der ganzen Strecke Reschenscheideck—Abudiacum (Epfach), wie übrigens auch auf jener von diesem Orte bis Summuntorium (Burghöfe) kein einziger Meilenstein des Altertums zutage gekommen, während sich im Bereich des Brennerweges im Gebiet zwischen der Hauptwasserscheide und dem Nordrand der Alpen mehrere, heute inschriftlos erscheinende, zum Teil aber einst beschriftete Steinsäulen, die wohl als frühkaiserzeitliche Denkmäler dieser Art anzusprechen sind334), sieben den Jahren 195, 201, 250 und 363 angehörige Meilensteine und drei in den Jahren 236, 250 und 363 neubeschriftete, also gewiß schon in der früheren Kaiserzeit errich- tete Meilensäulen335) gefunden haben. Auch ließen sich nördlich des Alpenhaupt- kammes bisher noch keine unzweifelhaften Spuren einer über das Reschenscheideck nach Augsburg und zur Donau führenden Straße des Claudius nachweisen. Denn ob die im Felsgrund ausgefahrenen Wagengleise auf dem Milserberg zwischen Imst und Mils im Oberinntal als Reste eines Römerweges anzusehen sind336), ist doch mehr als fraglich. Die im Bereich des Fernpasses sowie zwischen Füssen und Epfach

331) Dies nimmt Cartellieri, Alpenstraßen, S. 53, an. 332) So von 0. Wanka v. Kodlow, Die Brennerstraße im Altertum und Mittelalter (Prager Studien aus dem Gebiet der Geschichtswissenschaft 7, 1900), S. 26. 333) Cartellieri, Alpenstraßen, S. 87. Der genannten Straße weist die Steinsäulen Vollmer, Inscriptiones Baivariae Romanae, S. 174, Nr. 474 b zu. 334) Cartellieri, Alpenstraßen, S. 94, Heuberger, Klio 23, S. 31, derselbe, Rätien 1, S. 220, 242, 247, A. 6. 335) Über diese Denkmale zuletzt Heuberger, Klio 27, S. 323, 326 f. 336) Dies wird in den Innsbrucker Nachrichten vom 10. 7. 1934, Nr. 155, S. 7 vermutet.

87 erkennbaren Spuren einer antiken Straße337) aber könnten gleich einer zwischen Nassereit und Obsteig stehenden Steinsäule (IBR. S. VII), die vielleicht ein un- beschrifteter Meilenweiser war, auch an Wegbauten der nachclaudischen Zeit, etwa an solche des 3. Jahrhunderts erinnern, in dem, wie die Entstehung der so- genannten via Decia (R. 1, 247—249) beweist, in dieser Gegend an Straßen ge- arbeitet wurde. Auch die auf der Strecke Epfach—Augsburg—Burghöfe festgestellten Reste römischer, wohl unter Claudius entstandener Straßenanlagen338) müssen nicht mit einer claudischen Straße in Zusammenhang gebracht werden, die von Italien über das Reschenscheideck nach Augsburg und an die Donau führte. Denn der Heer- weg Augusta Vindelicum—Summuntorium kann auch für sich zwecks Verbindung dieser beiden Plätze, jener von Abudiacum nach Augusta Vindelicum aber auch als Nordstück einer über den Brenner geführten Straße entstanden sein. Später galten diese zwei Straßenabschnitte laut des Itinerarium Antonini bzw. der Tabula Peutin- geriana als Teilstrecken der Straße über den Brenner und jener von der Provinzial- hauptstadt nach Castra Regina (Regensburg)339). Von sachkundiger Seite wurde allerdings erklärt, erstere Angabe müsse irrig sein, da auf Grund des Fehlens ent- sprechender Bodenfunde im Gelände zwischen Parthanum (Partenkirchen) und Abudiacum (Epfach) daran festzuhalten sei, daß zur Römerzeit zwischen diesen beiden Orten und damit auch zwischen der nachweislich über Weilheim nach Augs- burg führenden Brennerstraße und dem Heerweg Abudiacum—Augusta Vindelicum keine Straßenverbindung vorhanden gewesen sein könne340). Allein vor kurzem wurde im Eschenloher Moos ein zweifellos von den Römern hergestellter Prügelweg auf- gedeckt, der als Überrest einer von Parthanum nach Abudiacum gehenden Straße des Altertums aufgefaßt werden könnte341), und damit entfällt wohl die Veranlassung, die Richtigkeit jener Angabe der Itinerare sowie das Bestehen einer Straßenver- bindung zwischen dem antiken Brennerheerweg und Abudiacum zu bestreiten. Endlich verzeichnet weder das Antoninsche Reisebuch noch die Peutingertafel eine vom Etschtal her über das Reschenscheideck nach Abudiacum ziehende Straße. Unter diesen Umständen könnte man in der Tat noch heute versucht sein, die Mei- nung zu vertreten, der von Süden her begonnene Bau der via Claudia Augusta sei, bald nachdem man mit ihm über die rätisch-italische Grenze hinaus und in den Bereich der eigentlichen Geländeschwierigkeiten gekommen war, abgebrochen und nicht weiter fortgesetzt worden; zumal es nicht an Beispielen dafür mangelt,

337) Frank, Altstraßen, S. 21,481, Reinecke, Deutsche Gaue 20 (1919), S. 130, Cartellieri, Alpenstraßen, S. 83,85 f.Vgl. jetzt auch B. Eberl, Die Römerstraße Augsburg—Füssen (Schwä- bisches Museum 1931, S. 1—34). 338) Frank, Altstraßen, S. 36—58. Vgl. auch den in der vorigen Anmerkung genannten Aufsatz Eberls. 339) Cartellieri, Alpenstraßen, S. 54 f. 340) Reinecke, Deutsche Gaue 20, S. 131, derselbe, Weilheimer Sonntagsblatt, Unter- haltungsbeilage zum Weilheimer Tagblatt 4 (1927), Nr. 6, S. 1. 341) Reinecke, Germania 19 (1935), S. 57-60.

88 daß die Römer Straßenarbeiten in Angriff nahmen, die dann wegen Ungunst des Geländes wieder aufgegeben wurden342). Indes trotz allem wäre es doch wohl verfehlt, sich für die eben angedeutete Annahme zu entscheiden. Denn, daß Claudius Ptolemaeus zwar Inutrium und Me- dullum, aber weder Humiste (Imst) noch eine der anderen Alpensiedlungen nennt, die im Altertum nördlich des Reschenscheidecks lagen, kann auf Zufall beruhen und dieser Schriftsteller übergeht ja auch die am Brennerheerweg gelegenen Gebirgs- orte. Daß aber weder das Itinerarium Antonini noch die Tabula Peutingeriana der Reschenscheideck-Fernstraße gedenkt, beweist lediglich, daß diese, wofern sie vor- handen war, in der späteren Kaiserzeit keine größere Bedeutung besaß, und im gleichen Sinn wird der Umstand zu deuten sein, daß sich nördlich des Alpenhaupt- kammes keine zur via Claudia Augusta gehörigen Meilensteine erhalten haben343). Denn diese Tatsache darf zwar, da in Tirol — anders als in der Ostschweiz, Vorarlberg und Liechtenstein344) — zahlreiche solcher Denkmale der Vernichtung entgangen sind, nicht als belanglos angesehen werden. Sie läßt aber nur erkennen, daß die rätische Provinzialverwaltung im ausgehenden Altertum an der Reschenscheideck- Fernstraße weder neue Meilensäulen errichten noch alte instandhalten und neu beschriften ließ. Stammen doch auch sämtliche noch vorhandene sichere Meilenweiser des Brennerheerweges ihren heutigen Inschriften nach aus der späteren Kaiserzeit. Unter diesen Umständen und im Hinblick auf den durch die Rablander und die Feltriner Meilensäule bezeugten Wegbau des Claudius liegt es doch am nächsten, die am Fernpaß und auf der Strecke Füssen—Epfach—Augsburg—Burghöfe nach- gewiesenen Straßenreste mit der via Claudia Augusta in Verbindung zu bringen. Vielleicht deutet sogar die zwischen Obsteig und Nassereit aufgestellte Steinsäule, wofern sie ein unbeschrifteter Meilenweiser war, darauf hin, daß schon in der früheren Kaiserzeit eine Straße von Veldidena (Wilten-Innsbruck) an den Südfuß des Fern- passes, also jedenfalls auch eine solche über diesen Sattel selbst führte. Ferner lehrt die Tatsache, daß im 3. Jahrhundert und wohl auch schon vorher, in Maies ein Zollamt bestand und daß im 4. Jahrhundert laut der Notitia dignitatum (Occidens, Kapitel 35) eine Etappenformation der legio III. Italica in dem vermutlich, wenn auch nicht mit Bestimmtheit bei Füssen anzusetzenden Kastell Foetibus lag345), deutlich genug, daß es im späteren Altertum eine über Reschenscheideck und Fernpaß geführte Straße gab, und in dieser muß man gewiß den im Jahr 46 (bzw. in den Jahren 46—47) geschaffenen Heerweg sehen. Damit ist jedoch noch durchaus nicht erwiesen, daß nur die Reschenscheideck- Fernstraße das Mittelstück der via Claudia Augusta darstellte, wie gegenwärtig

342) Ein Beispiel aus der Gegend des Chiemsees bespricht Reinecke, Germania 19, S. 60. 343) Cartellieri, Alpenstraßen, S. 97, Heuberger, Klio 23, S. 30. 344) Der einzige hier gefundene Meilenstein ist der heute verschollene von Nendeln (zwi- schen Feldkirch und Schaan); vgl. über dieses Denkmal Vollmer, Inscriptiones Baivariae Romanae, S. VII. 345) Zur Datierung von Kapitel Occidens 35 der Notitia dignitatum Heuberger, Rätien 1, S. 250. Über Foetibus zuletzt derselbe, Schlern 15, S. 157—159.

89 allgemein angenommen wird. Man erwäge: Die von Verona und Feltria nach Tri- dentum führenden Heerwege standen zur Brennerstraße im gleichen Verhältnis wie zu dem über das Reschenscheideck gebauten Verkehrsweg. Dies versteht sich von selbst. Es ist aber auch ausdrücklich bezeugt. Galt doch laut des Itinerarium Antonini, das gleich der Tabula Peutingeriana die das Reschenscheideck über- schreitende Verkehrsader nicht erwähnt, die Straße Tridentum—Verona—Hostilia als Fortsetzung und die Straße Tridentum—Feltria in Verbindung mit der Straße Feltria—Opitergium (Oderzo) als Nebenzweig des Brennerheerweges346). Ferner ver- liefen die über das Reschenscheideck und über den Brenner gebauten Heerwege nicht nur von Tridentum bis Endidae oder Pons Drusi auf derselben Linie (s. u. S. 99 f.), sie waren vielmehr auch nördlich der Alpen aufs engste miteinander verschwistert. Denn die den Reschenscheideckheerweg fortsetzende Straße Abudiacum-Augusta Vindeli- cum bildete im Verein mit dem Verkehrsweg Parthanum-Abudiacum laut des Antonin- schen Reisebuchs und der Peutingertafel ein Stück der Brennerstraße, deren anderer Nordarm Augsburg über Weilheim erreichte (s. o. S. 88). Endlich ist der Brenner- heerweg gewiß nicht erst unter Septimius Severus, sondern schon unter Augustus oder Claudius hergestellt und unter dem erstgenannten Herrscher nicht einmal in höherem Maß mit Ausbesserungsarbeiten bedacht worden, als andere Reichs- straßen (K. 27, 315—334). Hält man sich dies alles vor Augen, so liegt die Vermutung nahe, die via Claudia Augusta habe sich, wie in ihrem südlichen, so auch in ihrem mittleren Abschnitt aus zwei Ästen zusammengesetzt, es sei also im Jahre 46 (bzw. in den Jahren 46 und 47) nicht bloß der Weg über das Reschenscheideck, sondern auch jener über den Brenner zur Reichsstraße ausgebaut worden, wobei dann natur- gemäß letztere Verkehrsader den Hauptarm der claudischen Straße gebildet haben müßte347). Mit einem derartigen Sachverhalt zu rechnen, verbietet das Vorhandensein der Rablander Meilensäule nicht. Befand sich doch auch das ihr ähnliche Feltriner Denkmal nur an einer Nebenlinie der via Claudia Augusta. Ebensowenig steht der hier geäußerten Vermutung die Tatsache im Weg, daß sich im Bereich der Brenner- furche kein Erinnerungsmal von der Art des Rablander und des Feltriner Steins gefunden hat. Denn der Standort eines solchen Denkmals wäre im Hinblick auf den der Rablander Meilensäule nur in oder bei der Zollstation Sublavione (Kollmann) zu suchen, in deren Nähe die rätisch-italische Grenze das Eisacktal querte und dieses sich zur Klamm des Kunterweges verengt. Die Meilensäulen, die einst nördlich dieser Schlucht und südlich der Mittewalder Klause standen, sind aber sämtlich spurlos untergegangen. Andrerseits ließe sich aber zugunsten der Annahme, die via Claudia Augusta habe sich in ihrem mittleren Abschnitt in zwei, die beiden Hauptpässe der Tiroler Alpen benützende Stränge geteilt, zweierlei anführen: 1) Die Meilensteininschriften von Rabland und Feltre scheinen anzudeuten, daß

346) Cartellieri, Alpenstraßen, S. 55, 97. 347) Auch Mommsen, Römische Geschichte 55, S. 19, bes. A. 1. nimmt, wenngleich auf Grund eines etwas andersartigen Gedankenganges an, der Name via Claudia Augusta sei auch der Brennerstraße zugekommen.

90 vor dem Jahr 46 noch keine vollwertige Reichsstraße vom östlichen Potiefland nach der schwäbisch-bayrischen Hochebene führte, und die durch das Pustertal ziehende Verkehrsader, die in den Brennerheerweg einmündete, dürfte am ehesten unter Claudius entstanden sein (K. 27, 328). Dies spricht dafür, daß die Brenner- straße erst unter Claudius, also gleichzeitig mit der Reschenscheideckstraße voll ausgebaut worden sei. 2) Auf dem Feltriner Denkmal ist die Gesamtlänge der via Claudia Augusta auf 350 Meilen veranschlagt. Diese Zahl ist um etwa 39 Einheiten zu niedrig, wenn sie auf Grund der Voraussetzung ermittelt wurde, daß die Verkehrs- ader das Reschenscheideck überschritt, und es ist kaum zu vermuten, daß eine derartige Angabe einen so beträchtlichen Fehler enthielt (s. o. S. 80). Auf der Feltriner Säule kann man aber — anders, als auf der Rablander — bei der Verzeichnung der Straßenlänge an die Brennerlinie gedacht haben, zumal, wenn diese den Hauptarm des claudischen Heerweges bildete. Tat man dies aber, so stimmte die als abgerundete Zahl aufzufassende Meilenziffer 350 ziemlich genau. Denn die Entfernung Pons Drusi—Abudiacum ist auf der Reschenscheideckstraße mit 187, auf der Brenner- straße hingegen nur mit 153 Meilen zu berechnen348), bei einer Benützung des Brenners hatte man also von Altinum bis Summuntorium bloß 354 Meilen zurückzulegen. Anders stellen sich die Dinge dar, wenn man daran festhält, daß die via Claudia Augusta lediglich Reschenscheideck und Fernpaß überschritten habe. In diesem Fall ergeben sich zwei Möglichkeiten. Hatte die via Augusta dieselbe Richtung eingeschlagen, dann wurde sie einfach im Jahr 46 (bzw. in den Jahren 46 und 47) zur Reichsstraße ausgebaut, wie ja auch gemeinhin geglaubt wird. Man hätte hier dann ein Seitenstück zur Entstehungsgeschichte des über den großen St. Bernhard geführten Römerweges vor sich, den Augustus anlegen und Claudius zu einer voll- wertigen Straße ausgestalten ließ349). Hatte sich die via Augusta dagegen an die Brennerlinie gehalten, dann bedeutete die Herstellung der via Claudia Augusta eine Verlegung der Verkehrsader350) oder die Schaffung eines Nebenarmes zu ihr (K. 27, 321 f.), wobei noch zu berücksichtigen ist, daß der Reschenscheideck-Fernpaß- weg schon unter Augustus verbessert und als Nebenzweig der augustischen Straße betrachtet worden sein kann (s. o. S. 85). Wie immer es sich mit all dem verhalten haben mag, aus dem Gesagten geht jegenfalls hervor, daß die gangbare Meinung, die Reschenscheideckstraße habe bis zum Ende des 2. oder bis zum Beginn des 3. Jahrhunderts die einzige unmittelbare Verbindung Italiens mit Augusta Vindelicum und mit dem rätischen Flachland gebildet, nicht den Tatsachen entspricht und daß wir nicht einmal Anlaß haben, zu behaupten, sie habe damals den Brennerheerweg an Bedeutung überragt. Es kann sehr wohl sein, daß sie — selbst wenn Claudius beabsichtigt haben sollte, in ihr eine Hauptverkehrsader zu schaffen — stets nur eine Straße zweiter Ordnung blieb.

348) Catellieri, Alpenstraßen, S. 166 f. 349) Stähelin, Schweiz8, S. 106, 156, 332. 350) Mit einer Verlegung der Straße, allerdings in umgekehrter Richtung und erst für die nachclaudische Zeit, rechnet auch Mommsen, Römische Geschichte 55, S. 19, A. 1.

91 Daß sie in der späteren Kaiserzeit bloß diese bescheidene Stellung einnahm und daß sie damals von der rätischen Provinzialverwaltung stiefmütterlich behandelt wurde, läßt sich, wie oben erwähnt, deutlich erkennen. Besonders bezeichnend ist hiefür, daß sie, wie das Fehlen von Meilensäulen mit Inschriften aus dem Jahr 201 vermuten läßt, im Gegensatz zu dem den Brenner überschreitenden und dem das Pustertal durchziehenden Heerweg bei den umfassenden, in diesem Jahr in ganz Rätien und Norikum durchgeführten Ausbesserungsarbeiten an Straßen und Brücken351) unberücksichtigt blieb. Daß die Reschenscheideck-Fernstraße im 4. Jahr- hundert für den Nachschubdienst der zur Verteidigung Rätiens bestimmten Streit- kräfte nicht unwichtig war, erhellt zwar aus der bereits erwähnten Tatsache, daß das damalige Kastell Foetibus Standort des Befehlshabers einer Etappenformation war; aber nur, wofern diese Feste wirklich bei Füssen lag, was, wie oben bemerkt, nicht unbedingt gewiß ist. Allein selbst wenn sich damals dort, wo der Lech ins Flach- land eintritt, tatsächlich ein solcher Stützpunkt befand, so deckte er zugleich auch die sogenannte via Decia, die von Brigantium über Lennoos und Seefeld nach Veldidena führte352) und damit einen gerade im 3. und 4. Jahrhundert besonders des Schutzes bedürftigen Zugang zum Brenner vermittelte. Auch zeigt der Umstand, daß die Feste Teriola (Martinsbüchel bei Zirl) laut der Notitia dignitatum (Occidens, Kapitel 35) nicht bloß dem Befehlshaber einer Etappenformation, sondern auch dem einer Barbarentruppe (gens per Raetias deputata) als Aufenthaltsort diente (R. 1, 238 f.), unverkennbar, daß das rätische Generalkommando im 4. Jahrhundert weit mehr um die Sicherung des Brennerheerweges besorgt war, als um die der Re- schenscheideckstraße353). Der Vollständigkeit halber sei auch noch vermerkt, daß wir zwar von Unternehmungen einer fränkischen Kriegerschar (um 575) und eines großen Frankenheeres (im Sommer 590) wissen, bei denen vom Engadin her die einst im Altertum gebaute Reschenscheideckstraße erreicht und auf ihr südwärts vorgegangen wurde (s. u. S. 98 f.), daß aber im übrigen keinerlei Nachrichten über eine Benützung dieser Verkehrsader in den ersten sieben Jahrhunderten unserer Zeitrechnung vorliegen. Hat doch Venantius Fortunatus um 565 gewiß nicht auf diesem Römerweg, sondern auf der Brennerstraße die mittleren Alpen durch- wandert354). Auch im weiteren Verlauf des Frühmittelalters blieb übrigens die Verkehrsader, die das untere alpine Etschtal, das Burggrafenamt und den Vinschgau mit dem Oberinntal, dem Außerfern und dem flachländischen Lechtal verband, an Bedeutung weit hinter der Brennerstraße zurück355). Den unter Claudius ausgebauten Römerweg über Reschenscheideck und Fern- paß — der Kürze und Klarheit halber wird im folgenden nur er als via Claudia Augusta bezeichnet — hat man sich kaum zur Gänze als eine gepflasterte, auf"

351) Über diese Ausbesserungsarbeiten zuletzt Heuberger, Klio 27, S. 330—334. 352) Cartellieri, Alpenstraßen, S. 141. Dazu Heuberger, Rätien 1, S. 248 f. 353) Über die militärische Bedeutung von Teriola Heuberger, Schlern 15, S. 159 f. 354) Heuberger, Rätien 1, S. 42-44. Staudacher, Schlern 15, S. 276-279. 355) Wopfner, Schlernschriften 9, S. 388 f.

92 einer Dammaufschüttung gelagerte und befahrbare Kunststraße vorzustellen. Denn nach den bisherigen Ergebnissen der Forschung scheinen die Römer im Innern der Alpen ihre Heerwege zum mindesten großenteils weit weniger kunstvoll als im Flach- und Hügelland gebaut und sie vielfach nicht für die Bedürfnisse des Wagen- verkehrs eingerichtet zu haben356), der übrigens auch auf den römischen Straßen außerhalb der Berge, so auf denen Südbayerns, keine große Rolle spielte357). Die gegenteilige Behauptung K. Millers358) dürfte irrig sein. Denn nur fachlich un- geschulte Männer, deren Angaben dann gelegentlich selbst von wissenschaftlichen Werken übernommen wurden359), vermochten bisher an vielen Stellen in den Alpen deutliche Spuren römischer Straßenanlagen im Gelände zu erkennen. Die sach- kundigen Nachforschungen P. Reineckes und G. v. Merharts nach den Überresten der antiken Heerwege über den Brenner und durch das Unterinntal blieben dagegen laut persönlicher Mitteilungen dieser Gelehrten völlig ergebnislos und auch mit zweifels- frei nachweisbaren Spuren der Römerstraßen, die den Splügen und den Julier überschritten, ist es nicht zum besten bestellt360). Ob an der via Claudia Augusta wie auch an den übrigen Tirol durchziehenden Römerwegen die Meilensteine regel- mäßig in Abständen von je 1000 Doppelschritten (1478.5 m) oder bloß an verkehrs- wichtigen Stellen aufgerichtet waren, ist ungewiß. Unter Hinweis auf die Fundorte der erhaltenen Denkmale dieser Art wurde zwar behauptet, daß letzteres der Fall gewesen sei361). Allein manche Meilenweiser sind doch auch an Stellen zutage- gekommen, die keinerlei besondere Bedeutung für den Verkehr hatten. Dies gilt z. B. von den meisten auf der Strecke —Innsbruck—Seefeld gefundenen Meilensteinen362). Daß es, wie an anderen Römerstraßen, so auch an der via Claudia Augusta Rast- und Pferdewechselstellen gab, versteht sich von selbst. Eine solche mansio befand sich laut des Itinerarium Antonini in Ausugum (Borgo di Valsugana)363) und eine andere ist durch die statio Maiensis quadragesimae Galliarum bezeugt. Namen sonstiger, zum inneralpinen Teil der via Claudia Augusta gehöriger Rast- orte sind jedoch, insoweit diese Verkehrsader nicht mit der römischen Brennerstraße zusammenfiel, in den Quellen des Altertums nicht überliefert, und die dadurch bedingten Lücken unseres Wissens konnten bisher auch durch Bodenfunde noch nicht ausgefüllt werden364). Auch in den Namen der an der Reschenscheideck-Fern-

356) Wopfner, Geographischer Jahresbericht aus Österreich 16, S. 141. 357) Reinecke, Deutsche Gaue 20, S. 129. 358) Heimat, Vorarlberger Monatshefte 9 (1928), S. 265 f. 359) So von Cartellieri, Alpenstraßen. Über den fragwürdigen Wert dieses mit staunens- wertem Fleiß geschriebenen Buches Reinecke, Wiener prähistorische Zeitschrift 14 (1927), S. 24, Heuberger, Klio 23, S. 25 f. 36°) Über diese Straßen Stähelin, Schweiz2, S. 361—366 und das daselbst verzeichnete Schrifttum. 361) Cartellieri, Alpenstraßen, S. 168. 362) Verzeichnis derselben bei Cartellieri, Alpenstraßen, S. 169—171. 363) Cartellieri, Alpenstraßen, S. 64 f. 364) Vgl. z. B. die mit manchen zweifelhaften Vermutungen durchsetzten Ausführungen über das zwischen der Passermündung und dem Nordrand der Alpen gelegene Stück der via Claudia Augusta bei Cartellieri, Alpenstraßen, S. 77—84.

93 straße gelegenen Orte haben sich keine Erinnerungen an Kaststellen des Altertums erhalten. Der Name von Naturns ist nicht von Nocturnes abzuleiten (s. u. S. 105) und ebensowenig kann jener von Dormitz (bei Nassereit) auf ein Dormitium zurück- geführt werden365), da er zuerst (um 1150) in der Form Dormundes auftaucht366). Von antiken, hier in Betracht kommenden Kastellen im engeren und weiteren Sinn wissen wir nur wenig. Von derartigen Wehranlagen des Altertums wurde zwar früher viel gefabelt367). Allein in Wahrheit sind hier außer dem etwaigen castrum Maiense und dem militärischen Stützpunkt Foetibus lediglich die schon erwähnten Festen Verruca (Dos Trento) und Endidae (Castelfeder) sowie ein Befestigungswerk zu nennen, das sich vielleicht an der Stelle der mittelalterlichen Burg Formigar- Siegmundskron befand (s. u. S. 98). Die neuerdings wieder aufgestellte Behauptung, in und bei Ausugum seien umfassende Wehranlagen der Römerzeit nachzuweisen368), entbehrt der Begründung (TH. 4,160,162—165, VF. 12,42, R. 1, 257). Die Annahme aber, im ausgehenden Altertum sei in der ganzen regio Tridentina sowie in dem zu Feltria gehörigen Teil der Valsugana ein umfassendes, nachmals von den Ostgoten, den Byzantinern und den Langobarden übernommenes und ausgebautes Netz von Kastellen und Kriegersiedlungen geschaffen worden369), läßt sich als unhaltbar erweisen (TH. 4, 142—145, 162—167, VF. 12, 27—50). Endlich muß festgestellt werden, daß sich einwandfreie Überreste zum Schutz unseres Heerweges errichteter Wachtürme nirgends erhalten haben370).

10. Der Verlauf der claudischen Straße im Burggrafenamt.

Darlegungen, die der Frage gelten, in welcher Weise die via Claudia Augusta das Burggrafenamt erreichte und durchzog, muß eine kurze Bemerkung allgemeinen Inhaltes vorausgeschickt werden. Neuerdings wird es — und zwar nicht bloß von fachlich ganz ungeschulten Liebhabern der Geschichte und Heimatkunde — oft genug versucht, den Verlauf römischer Reichsstraßen im einzelnen mit mehr oder weniger großer Zuversichtlichkeit unter Hinweis auf das Vorhandensein heute vom Verkehr nicht mehr benutzter Hohlwege oder unbedeutender, aber als öffentliche

365) Diese Ableitung wurde verschiedentlich vorgeschlagen, vgl. Cartellieri, Alpenstraßen, S. 83. 366) Vgl. Stolz, Archiv für österreichische Geschichte 107 (1923/1925), S, 511. 367) So von K. Atz in seiner Abhandlung über die römischen Straßenkastelle und Stand- lager in Tirol (Mitteilungen der Zentralkommission, neue Folge 13, 1887, S. LXI—LXXI). 368) Cartellieri, Alpenstraßen, S. 64—66. 369) Hartmann, Jahreshefte des österreichischen archäologischen Institutes 2 (1899), Beiblatt, Sp. 1—12, Geschichte Italiens im Mittelalter l2, S. 342, 393, A. 2, F. Schneider, Die Entstehung von Burg und Landgemeinde in Italien, Studien zur historischen Geographie, Verfassungs- und Sozialgeschichte (Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte 68, 1924), S.20-22,141—143, derselbe, Elsaß-lothringisches Jahrbuch 8 (1929), bes. S. 43,59 — 66. 370) Zur Frage von römischen Kastellen und Wachtürmen im Bereich der regio Tridentina zuletzt Heuberger, Schlern 15, S. 151—154.

94 Wege geltender Pfade, auf Bezeichnungen wie „Römerweg" oder „Heidenweg", auf Volkssagen von heidnischen Bauwerken, auf bestimmte alte Kirchenpatrozinien, auf Orts- und Flurnamen, auf die Flureinteilung im Bereich heutiger Siedlungen u. dgl. sowie auf Grund von Erwägungen über die Eignung des Geländes für die Führung römischer Straßen oder die Anlegung römischer Kastelle und Wachtürme festzulegen371). Indes mit solchen Mitteln läßt sich dort, wo Meilensteine und sonstige einwandfreie Überreste römischer Heerwege sowie einschlägige schriftliche Quellen- aussagen des Altertums fehlen, kein auch nur halbwegs gesichertes Ergebnis er- zielen372), wie sich z. B. bei einer Untersuchung der Römerstraße zwischen Steinach am Brenner und Vinaders373) gezeigt hat. Welchen Wert könnte es also haben, mit einem erheblichen Aufwand von Mühe und Scharfsinn ein Verfahren anzuwenden, das gerade dann versagt, wenn man auf dasselbe angewiesen ist? Im folgenden soll daher auf die eben gekennzeichnete Arbeitsweise verzichtet und über das hier in Betracht kommende Stück der claudischen Straße nur gesagt werden, was sich ohne Heranziehung unzuverlässiger Erkenntnisquellen ermitteln oder vermuten läßt. Daß die via Claudia Augusta von der Bozner Gegend aus, die Etsch links lassend, nach Maies gelangte, darf als sicher betrachtet werden (s. u. S. 102). Als gewiß gilt es auch, daß dieser Heerweg gleich der römischen Brennerstraße Endidae berührte374), das in der früheren Kaiserzeit an einer bisher noch nicht ermittelten Stelle hart nördlich oder südlich des Burghügels von Castelfeder lag und im 3. Jahrhundert auf diese nunmehr mit Wehranlagen versehene Höhe selbst verlegt wurde, um dann im 5. Jahrhundert unterzugehen375). Der hier noch einheitliche Römerweg dürfte von der Neumarkter Gegend aus über Vill auf den linksseitigen Talhängen dahin- gezogen sein, eine Einsattelung östlich des mittelalterlichen Schlosses Castelfeder überschritten und die Talsohle selbst erst wieder in der Nähe von Auer erreicht haben376). Auf dem Burgberg von Castelfeder kamen zwei ihrer heutigen Beschriftung nach dem 4. Jahrhundert angehörige Meilensteine zutage (s.o. S.30f.).Wie gelangte nun aber die claudische Straße von Endidae aus, dessen Entfernung von Tridentum im Itinerarium Antonini mit 24 römischen Meilen (35, 52 km) richtig angegeben ist, in die Bozner Gegend und wo trennte sie sich von dem Brennerweg des Alter- tums? Hierüber wurden verschiedene Ansichten geäußert. Mommsen ließ beide Verkehrsadern vereinigt von Endidae aus östlich der Etsch bis nach Pons Drusi ziehen, das bei Bozen gelegen und seinen Namen von der nahen Eisackbrücke

371) Beispiele solcher Römerstraßenforschungen bieten etwa M. Mayr, Die Römerstraße durch das Unterinntal (Tiroler Heimatschriften 1/2, 1927) und A. Plattner, Altstraßen vom Brenner bis Matrei (Tiroler Heimat, neue Folge 4, S. 21—57). 372) Vgl. Wopfners Ausführungen über Altstraßenforschung (Tiroler Heimat, neue Folge 4, S. 81-136). 373) Wopfner, Tiroler Heimat, neue Folge 5, S. 3—8. 374) So u. a. Cartellieri, Alpenstraßen, S. 69. 375) Über Endidae zuletzt Reinecke, Germania 1926, S. 150—155. Dazu Heuberger, Schlern 15, S. 480 f. 376) Reinecke, Germania 1926, S. 152, 154.

95 empfangen habe, und sich erst hier von einander scheiden377). Andere Forscher glaubten, der einheitliche Römerweg sei bei Castelfeder auf das rechte Ufer der Etsch übergetreten, auf der Hochfläche des Überetsch nordwärts dahingezogen und bei Siegmundskron auf dem pons Drusi ein zweitesmal über jenen Fluß gegangen, um sich erst in der nach dieser Brücke benannten Station, die auf dem Boden von Bozen oder Gries zu suchen sei, in die zwei dem Reschenscheideck und dem Brenner zustrebenden Stränge zu teilen378). Auch auf der Ostseite des Etschtals, wo bei Branzoll, Leifers und St. Jakob außer einer sogenannten Konsularmünze Münzen Vespasians, Trajans, Hadrians, Antoninus', Pius' und Valens' zutagegekommen sind379), habe jedoch vermutlich ein Weg, wenn auch keine Reichsstraße, von Endidae aus nordwärts geführt380) und vielleicht sei sogar in der späteren Kaiserzeit — etwa unter Septimius Severus — der eigentliche Heerweg selbst auf diese Linie verlegt worden381). Endlich wurde vermutet, die beiden Hauptstraßen hätten sich schon bei Castelfeder von einander getrennt und die via Claudia Augusta habe den eben angedeuteten Verlauf über das Überetsch genommen, aber den Ort Pons Drusi nicht berührt, während der römische Brennerweg östlich der Etsch geblieben sei, bei Bozen auf der Drususbrücke den Eisack übersetzt und so jene Station erreicht habe, die wohl auf dem Schuttkegel der Talfer, mithin im Bereich Bozens und seiner Nachbargemeinden gelegen haben müsse382). Demnach wäre im Altertum nicht Pons Drusi, sondern Endidae der wichtigste Verkehrsknotenpunkt des oberen alpinen Etschtals und jene Siedlung gewesen, bei der die claudische Straße begann, die Richtung auf Maies hin einzuschlagen. Beim gegenwärtigen Stand unseres Wissens dürfte es kaum möglich sein, sich mit Bestimmtheit für eine dieser Auffassungen zu entscheiden. Fehlen doch noch die hiefür nötigen Voraussetzungen. Dem Gesagten zufolge ist man sich zwar jetzt im allgemeinen darüber einig, daß die Station Pons Drusi in oder bei dem heutigen Bozen anzusetzen ist. Einschlägige Bodenfunde fehlen aber bisher (K. 23, 48 f., 51), auch wird der nach der Drususbrücke benannte Rastort in den Quellen des 1. und 2. nachchristlichen Jahrhunderts nicht erwähnt und das Itinerarium Antonini übergeht Pons Drusi, die Tabula Peutingeriana hingegen Endidae. Wir vermögen also nicht zu sagen, ob in der früheren und der späteren Kaiserzeit diese oder jene Straßen-

377) Corpus inscriptionum Latinarum 5/2, S. 938. Dazu Cartellieri, Alpenstraßen, S. 120, A. 6, Heuberger, Klio 23, S. 47 f. Zu einer älteren, von Nissen, Italische Landeskunde 2, S. 211 übernommenen Ansicht Mommsens (Karten im Corpus inscriptionum Latinarum 3/2, Tafel 4 und ebenda 5/2, Tafel 1) über die Straßengabelung und Pons Drusi zuletzt Heuberger, Klio 23, S. 45, 47. 378) Scheffel, Brennerstraße, S. 16-20, 27 f., Cartellieri, Alpenstraßen, S. 69-71, 117 f. Einen Flußübergang der einheitlichen Römerstraße nördlich von Castelfeder bei Auer nimmt auch Reinecke, Germania 1926, S. 154 an. 379) Orgler, Zeitschrift des Ferdinandeums 3. Folge 22, S. 64, 68, 70. 380) Cartellieri, Alpenstraßen, S. 124 f. 381) Scheffel, Brennerstraße, S. 4L 382) Heuberger, Klio 23, S. 49—51. Endidae ist hier noch bei Neumarkt, also südlich von Castelfeder, angesetzt.

96 Station größere Bedeutung besaß. Ein Römerkastell im eigentlichen Sinn ist weder hier noch dort nachzuweisen383), und ob die Siedlung Pons Drusi im ausgehenden Altertum ebenso befestigt war, wie das damalige Endidae, muß dahingestellt bleiben,: da sich aus einer Stelle bei Paulus Diaconus (Historia Langobardorum 5, 36), an der für die Jahre 680—688 Bauzanum et reliqua castella erwähnt werden, keinerlei Rückschlüsse auf die Verhältnisse der spätrömischen Zeit ziehen lassen (VF. 12,45 f.). Ferner haben sich in der Nähe von Bozen nirgends Spuren römischer Heerwege oder antiker Brücken erhalten. Zwar schrieb man einem alten, in Gries beim Bau des dortigen Kurhauses freigelegten Straßenpflaster römischen Ursprung zu384) und deutete einen 1760—1766 zwischen Siegmundskron und Moritzing aufgedeckten Prügelweg, der auch mit einem vorgeschichtlichen Pfad in Zusammenhang gebracht wurde385), als Überrest eines römischen, durch das sumpfige Gelände gebauten Pfahldammes, der der Drususbrücke gleichgesetzt wurde386). Allein diese Ver- mutungen entbehren jeglicher Begründung. Weiters ist es wohl möglich, aber keines- wegs sicher, daß der pons Drusi den Eisack bei Bozen und nicht die Etsch bei Sieg- mundskron überbrückte (s. o. S. 26). Auch lassen zwar die Entfernungsangaben des Itinerarium Antonini und der Tabula Peutingeriana darauf schließen, daß die spätrömische Brennerstraße zwischen Endidae und Pons Drusi östlich der Etsch blieb (K. 23, 49 f.), es fehlt indes für die frühere Kaiserzeit an ähnlichen Zeugnissen und von der via Claudia Augusta reden ja nicht einmal jene beiden Quellen. Vor allem konnten jedoch zwischen Castelfeder und Bozen bisher noch keine Meilensteine und keine im Gelände erkennbaren Spuren einer römischen Straßenanlage entdeckt werden. Ebensowenig gelang es, hier mittel- oder unmittelbar Wehranlagen des Altertums festzustellen, die dem Schutz eines an ihnen vorbeiziehenden Heerweges dienten. Die Meinung, in Eppan sei ein solches Römerkastell nachzuweisen387), ist irrig. Denn die noch erhaltenen Teile des Schlosses Hocheppan sind rein mittel- alterlichen Ursprungs388) und das zum Jahr 590 von Secundus von Trient bzw. von Paulus Diaconus (Historia Langobardorum 3, 31) genannte castrum Appianum (Eppan) war gleich den an derselben Stelle erwähnten castra Tesana (Tisens), Maletum (Mölten), Sermiana (Sirmian), Fagitana (Faedo), Cimbra (Cembra), Vitianum (Vezzano), Bremtonicum (Brentonico), Volaenes (Volano) und Ennemase (unbekannter Lage) keine von den Römern erbaute und dann von den Byzantinern, Ostgoten und Langobarden übernommene Feste, sondern lediglich eine wehrhafte bürgerliche

383) Gegen die Meinung, in und bei Bozen hätten sich Überreste römischer Befestigungen und Warttürme erhalten P. Clemen, Mitteilungen der Zentralkommission, neue Fo ge, 19 (1893), S. 23, bes. A. 57a, Scheffel, Brennerstraße, S. 33, Cartellieri, Alpenstraßen, S. 118, Weingartner, Tirol, Natur, Kunst, Volk, Leben, 2. Folge 2. Heft, S. 24. 384) Atz, Mitteilungen der Zentralkommission, neue Folge 13, S. LXVII, Cartellieri, Alpenstraßen, S. 119. 385) v. Braitenberg, Schlern 15, S. 15. 386) Scheffel, Brennerstraße, S. 31. 387) Cartellieri, Alpenstraßen, S. 70. 388) Über Hocheppan Weingartner, Die Kunstdenkmäler Südtirols 4, S. 272—275.

7 97 Siedlung389). Dort, wo nachmals im Jahre 946 die Burg Formicaria (d. h. Formigar, jetzt Siegmundskron) dem König Berengar den Weg vom oberen ins untere Etschtal und nach Italien verlegte390), könnte zwar möglicherweise schon zur Römerzeit ein Kastell im eigentlichen Sinn gestanden haben391). Denn auf der Höhe des Hügels von Siegmundskron ist schon ein vorgeschichtlicher und römischer Wohnplatz fest- stellbar392) und vielleicht hat man hier jene von Secundus von Trient bzw. von Paulus Diaconus (Historia Langobardorum 3, 31) zum Jahr 590 in ablativischer Form als Ferruge (Ferrage, Feruge, Femigero, Femugero) castro erwähnte Wehranlage zu suchen, die wohl ein wirkliches, möglicherweise schon von den Römern erbautes Sperrwerk war (TH. 4, 160—162, 165 f.). Gewiß ist dies alles jedoch nicht. Es fehlen auch mittelbare Anhaltspunkte, die es gestatteten, mit unbedingter Gewißheit im Raum zwischen Endidae und Pons Drusi den Verlauf eines römischen Heerweges oder zweier solcher Verkehrsadern zu erschließen. Die einschlägigen Bodenfunde und die Ortsnamen lehren zwar, daß das sonnige und in jeder Hinsicht für die Niederlassung von Menschen sehr geeignete Überetsch im Altertum wie schon in der Urzeit verhältnismäßig dicht besiedelt war393); jedenfalls weit dichter, als die dieser Hochfläche östlich benachbarte, früher viel stärker als jetzt versumpfte Sohle des Etschtals selbst. Allein damit ist noch nicht bewiesen, daß ein römischer Heerweg das Überetsch berührte und daß kein solcher östlich der Etsch das Bozner Unterland durchzog. Denn Besiedlung und Straßenbau sind zwei ganz verschiedene Dinge, zumal die römischen Heerwege bekanntlich nicht den örtlichen Bedürfnissen, sondern der möglichst geradlinigen Verbindung der Städte und Grenzlager mit- einander und mit Italien dienten. Daß im Frühmittelalter, in dem Kaufleute , sonstige Reisende und vorrückende Heere, wenn möglich, die von den Römern gebahnten Wege benützten, bloß eine einzige, das Überetsch durchziehende und bei Auer über die Etsch gehende Straße von der Bozner Gegend südwärts geführt habe, läßt sich nicht erweisen394). Die Frankenschar, die nach Secundus von Trient bzw. nach Paulus Diaconus (Historia Langobardorum 3, 9) um 575 unter Herzog Chramnichis (wohl dem dux von Churrätien), durch das Engadin, den Vinschgau und das Burg- grafenamt vorstoßend, in das Langobardenherzogtum Trient einfiel, entsandte zwar eine Abteilung über das Gampenjoch oder den Mendelpaß nach Anagnis (Cles), 389) Heuberger, Tiroler Heimat, neue Folge 4, S. 162-165; ebenda S. 158—160 über die örtliche Lage dieser castra. 390) Liutprand von Cremona, Antapodosis 5, 26 (Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum 1915, S. 145). Dazu u. a. Hartmann, Geschichte Italiens im Mittelalter 3/2 (1911), S. 235. Zur Namensform Formicaria Heuberger, Tiroler Heimat, neue Folge 4, S. 162. 391) Dies wurde schon öfters vermutet, so von Giovanelli, Ara Dianae, S. 134—136. 392) Tappeiner, Mitteilungen der Zentralkommission, neue Folge 20 (1894), S. 61 f., Scheffel, Brennerstraße, S. 31 f. Vorgeschichtliche Funde von Siegmundskron u. a. auch erwähnt Zeitschrift des Ferdinandeums 3. Folge 24 (1880), S. 278. Über die Wallburg auf dem nahen Kaiserkogel zuletzt K. M. Mayr, Schlern 9 (1928), S. 282-285. 393) Cartellieri, Alpenstraßen, S. 71 f. Die ur- und römerzeitlichen Funde des Überetsch verzeichnet von Laviosa, Carta 2, S. 15—25. Zur vorgeschichtlichen Besiedlung des Überetsch Schmoranzer, Schlern 11 (1930), S. 312-324, 372. 394) Daß dies möglich sei, glaubt Cartellieri, Alpenstraßen, S. 69 f.

98 besiegte auf dem Campus Rotaliani, der Ebene zwischen dem Rocchettapaß und der Mündung des Noce den comes Ragilo, verheerte die Umgebung von Trient und wurde schließlich auf dem Rückzug bei Salurnis (Salurn) von Herzog Evin vernichtet. Auf welchen Wegen sie im Raum zwischen Bozen und Trient ihre Bewegungen aus- geführt hat, entzieht sich indes unserer Kenntnis395). Ebensowenig wissen wir auch, ob das große Frankenheer, das Herzog Chedin und 13 andere Herzoge nach Gregor von Tours und Secundus von Trient bzw. nach Paulus Diaconus (Historia Lango- bardorum 3, 31) im Sommer des Jahres 590 durch Churrätien und das Etschtal südwärts bis vor Verona führten390), zur Gänze oder auch nur mit seinem Hauptteil den Weg durch das Überetsch eingeschlagen hat oder nicht. Gewiß zerstörten die Austrasier damals Tesana (Tisens), Sermiana (Sirmian) und Appianum (Eppan) und es verlautet nichts davon, daß sie Bauzanum (Bozen) dasselbe Schicksal bereitet hätten397). Sie bemächtigten sich aber auch der wehrhaften Dörfer Maletum (Mölten) und Vitianum (Faedo), was erkennen läßt, daß ihre Schlachthaufen oberhalb wie unterhalb von Bozen auch auf der linken Seite des Etschtales vorgingen und Ver- heerungen ausführten398). Übrigens gelangten die Austrasier bei ihrem Kriegszug wahrscheinlich auf einem abseits der einstigen via Claudia Augusta dahinziehenden alten Höhenweg nach Appianum. Folgte die Besetzung dieses Ortes doch jener von Tesana und Sermiana399). Der Umstand endlich, daß, wie bereits erwähnt, im Jahr 946 König Berengar bei seinem Vordringen im Etschtal durch den Wider- stand der Burg Formicaria (Formigar) aufgehalten wurde, erlaubt durchaus nicht unbedingt den Schluß, daß ihm damals nur eine einzige und zwar eine durch das Überetsch gehende Straße für seinen Vormarsch zur Verfügung stand (K. 23, 45 f.). Dies ergibt sich schon aus der Erwägung, daß die Besatzung dieser Feste den über Tisens und Sirmian nach Eppan führenden, einst von den Franken benützten Höhenweg dem feindlichen Heer nicht zu sperren vermochte, solange sie im Schutz ihrer Mauern verblieb, und daß sie andrerseits den Kriegern König Berengars ebensogut das Überschreiten der Talfer und des Eisacks bei Bozen, wie eine Begehung jenes Pfades wehren konnte, wenn sie sich dazu entschloß, ihre Burg zu verlassen. Überdenkt man all das bisher Gesagte und vergegenwärtigt man sich die Geländeverhältnisse im Raum zwischen Castelfeder und Bozen, so ist es zwar klar, daß im Altertum von Endidae aus zwei Verkehrswege nach Norden geführt haben müssen, von denen der eine durch das Überetsch und der andere östlich der Etsch — selbstverständlich unter Vermeidung der sumpfigen Niederungen — dahinzog;

395) Über die Unternehmung des Herzogs Chramnichis zuletzt Heuberger, Tiroler Heimat, neue Folge 4, S. 142—154, derselbe, Rätien 1, S. 267 f. 396) Über diese Unternehmung zuletzt Heuberger, Tiroler Heimat, neue Folge 4, S. 154— 173, Rätien 1, S. 268 f. 397) Zum Fehlen Bozens unter den damals zerstörten Plätzen vgl. Heuberger, Rätien 1, S. 326 (Nachtrag zu S. 287). 398) Gegen eine Gleichsetzung des damals zerstörten Ennemase mit dem alten Endidae Heuberger, Tiroler Heimat, neue Folge 4, S. 158, derselbe, Schlern 15, S. 480. 399) Wopfner, Schlernschriften 9, S. 387, A. 1.

7* 99 daß es aber unmöglich ist, derzeit mit Bestimmtheit zu sagen, welche Richtung hier die via Claudia Augusta und die römische Brennerstraße einhielten. Wir wissen ja nicht einmal, ob der Heerweg über das Reschenscheideck früher oder später als die Brennerstraße oder gleichzeitig mit dieser angelegt und ausgebaut worden ist (s. o. S. 90 f.). Außerdem sind wir nicht nur über die Absichten, die die Römer hier bei ihrem Straßenbau im einzelnen verfolgten, sondern auch über die in Betracht kommenden Geländeverhältnisse, mit denen im Altertum zu rechnen war, nicht näher unterrichtet. Man vermag also nicht zu sagen, wie man die Schwierigkeiten einschätzte, die einerseits durch die Notwendigkeit, zwei Etschbrücken herstellen und das Sumpfgelände zwischen Siegmundskron und Moritzing mit einer Dammstraße durchqueren zu müssen, und andrerseits dadurch gegeben waren, daß man sich ge- zwungen sah, mit dem Heerweg nördlich von Castelfeder der moorigen Talsohle auszuweichen und den Eisack zu überbrücken. Da sich während des Spätaltertums, wie anderwärts, so auch in Tirol die Verkehrsverhältnisse und die Beschaffenheit des Geländes verschiedentlich geändert haben dürften — die Brennerstraße gewann seit dem Markomannenkrieg (166—180 n. Chr.) zweifellos an Bedeutung400) und das Klima Mitteleuropas begann eben damals feuchter und um die Mitte des 4. Jahr- hunderts wieder trockener zu werden401) —, so ist zudem mit der Möglichkeit zu rechnen, daß im Lauf der Römerzeit zwischen Endidae und Pons Drusi Straßen- verlegungen stattgefunden haben könnten, wenn solche auch bisher im Bereich des antiken Brennerheerweges noch nicht nachgewiesen wurden402). Unter diesen Umständen muß man die Frage, ob sich die via Claudia Augusta schon bei Castelfeder oder erst bei Bozen von dem römischen Brennerheerweg trennte, einstweilen wohl auf sich beruhen lassen. Daß die claudische Straße vom Bozner Becken aus auf der Ostseite des Etsch- tales — selbstverständlich unter Vermeidung des Sumpfgeländes — nach Maies gelangte und daß sie hier die Passer überschritt, wird allgemein als gewiß an- genommen403). Diese Ansicht hat im Hinblick auf die Bodenverhältnisse die innere Wahrscheinlichkeit für sich. Sie kann auch deshalb nicht wohl bezweifelt werden, weil die antike Straße, wenn sie den unmittelbaren Bereich der Passermündung auf der Westseite der Etsch erreicht hätte, kaum einen verhältnismäßig ansehnlichen Umweg sowie die Notwendigkeit, zweimal diesen Fluß und einmal die Passer über- schreiten zu müssen, in Kauf genommen hätte, um Maies berühren zu können. Zwar liegen in dem hier in Rede stehenden Landstrich rechts der Etsch verschiedene

400) So zuletzt Wopfner, Tiroler Heimat, neue Folge 5, S. 11. Dazu aber Heuberger, Klio 27, S. 318 f. 401) Gams-Nordhagen, Mitteilungen der geographischen Gesellschaft in München 16, S. 306. 402) Gegen die Annahme von Straßenverlegungen im unteren alpinen Etschtal, im untersten Eisacktal und in der Brennergegend Heuberger, Klio 23, S. 25 f., derselbe, Schlern 10, S. 150— 157, derselbe, Klio 27, S. 313, A. 1. 403) So zuletzt von Cartellieri, Alpenstraßen, S. 72 f. und von v. Braitenberg, Schlern 15, S. 16.

100 Orte, deren Namen auf -an auslauten und dadurch ihren römischen Ursprung verraten, z. B. Sirmian und Prissian404). Auch müssen den Bodenfunden nach in Andrian und Nals zur Römerzeit Siedlungen bestanden haben, deren Einwohner in der Nähe bestattet wurden. Denn im Bereich des ersteren Dorfes kamen u. a. römische Ziegel und Sarkophage ans Licht405), an einer Stallmauer des Ansitzes Schönhaus (Stachelburg) wurde der von Claudius Priscus seiner Gattin Pulcheria gesetzte Grabstein entdeckt406), auf der Schwanburg befinden sich zwei Inschrift- steine des Altertums (CIL. 5, Nr. 5085,5086, IBR. Nr. 63, 64) und auf diesem Schloß war früher noch ein dritter solcher (CIL. 5, Nr. 5087, IBR. Nr. 65) vorhanden407). Allein die heute mit -an und einst mit -anum endigenden Ortsnamen erinnern der herrschenden Meinung nach gewöhnlich nur an Landgüter der Römerzeit (s. o. S. 44), aus dem Vorhandensein antiker Siedlungen kann, wie schon bemerkt, nicht auf den Verlauf eines römischen Heerweges geschlossen werden und auch Begräbnis- stätten und Grabinschriften des Altertums gestatten, da sie sich zwar gerne, aber durchaus nicht immer an Straßen befanden, keine unbedingt zwingenden Fol- gerungen auf den Zug römischer Verkehrsadern. Übrigens kennt man ja auch die ursprünglichen Standorte der Inschriften von der Sachelburg und von der Schwan- burg nicht. Gegen die herrschende Ansicht über den Verlauf der via Claudia Augusta zwischen Bozen und Meran spricht auch der Umstand nicht, daß in einem Wein- garten bei Nals das heute wieder verschollene Stück einer kleinen Säule aus rotem Trienter Marmor entdeckt wurde, auf dem noch die erste Zeile einer Inschrift mit den drei Buchstaben VIC und in der unteren der Teil eines I sichtbar war (CIL. 3, Nr. 5088, IBR. Nr. 66)408). Man könnte freilich daran denken, daß dieses Denkmal ein den (in)vic(tus) Augustus nennender Meilenstein gewesen sei. Wahrscheinlich ist eine derartige Deutung aber durchaus nicht409). Gegen sie spricht schon die Kleinheit der Steinsäule. Das VIC der Inschrift wird demnach anders zu ergänzen sein, wenn auch kaum zu VIC(TORIAE)410), da ein der Siegesgöttin oder der Victoria Augusta geweihtes Denkmal zweifellos die Gestalt eines Altars (wie z. B. CIL. 3, Nr. 5565, 5612, 5615, 11760, IBR. Nr. 5, 56, 336, 49 und gewiß auch IBR. Nr. 348) besessen haben müßte. Eher ließe sich das VIC etwa noch als Überrest von VIC(US) oder VIC(I) und die Nalser Säule daraufhin als Grenzstein auffassen411). Wie aber dem auch sein mag — es kommen ja noch verschiedene andere Möglichkeiten in

404) Zum Namen Prissian (Priscianum) K. M. Mayr, Schlern 6 (1925), S. 17. 405) Laviosa, Carta 2, S. 9, 11. 406) Darüber Mayr, Schlern 6, S. 16 f.; mit Abbildung. Vgl. auch Laviosa, Carta 2, S. 52 und betreffs römischer Münzen und eines Eisendolchs aus Nals ebenda, S. 10. 407) Über die Römersteine der Schwanburg zuletzt M. P., Schlern 3 (1922), S. 227 f. (mit Bildtafel), Mayr, Schlern 6, S. 16, Laviosa, Carta 2, S. 51. 408) Laviosa, Carta 2, S. 11 verlegt den Fundort dieser und einer zweiten unbeschrifteten Steinsäule nach Andrian. 409) So mit Recht Vollmer, Inscriptiones Baivariae Romanae, S. 22, Bemerkung zu Nr. 66. 410) Wie Vollmer, Inscriptiones Baivariae Romanae, S. 22, Bemerkung zu Nr. 66, für möglich hält. 411) Diese Ansicht sprach mein Kollege, Prof. F. Miltner, mir gegenüber aus.

101 Betracht — es darf jedenfalls als so gut wie sicher gelten, daß man es hier mit keinem Meilenweiser zu tun hat. Man wird also in Anbetracht des oben Gesagten wohl daran festzuhalten haben, daß sich die via Claudia Augusta im Raum zwischen der Bozner und der Meraner Gegend durchwegs östlich der Etsch gehalten habe. Die Straße mag auf dieser Strecke Terlan berührt haben, dessen Name von Tau- rilianum abgeleitet wird, wie jener Vilpians von Philippianum412). Im Bereich von Terlan wurden verhältnismäßig viele Römermünzen, namentlich ältere, sowie Gefäße und sonstige Dinge römischen Ursprungs gefunden413). Spuren einer antiken Straßenanlage konnten jedoch im Gelände zwischen Bozen und Meran nicht fest- gestellt werden; ebensowenig — entgegen früher gangbaren Behauptungen414) — Überreste römischer Kastelle415). In Maies erreichte die claudische Straße jenen sicher als mansio dienenden Ort, an dem die quadragesima Galliarum eingehoben wurde (s. o. S. 69 f.). Hier zweigte von ihr an einer uns nicht mehr bekannten Stelle der antike Jaufenweg ab, auf den im folgenden noch kurz zurückgekommen werden muß. Im Bereich von Untermais könnte die via Claudia Augusta an jenen nördlich des Widum gelegenen Örtlich- keiten vorbeigekommen sein, an denen das Bruchstück eines antiken Reliefsteins (s. o. S. 40) und römische Gräber gefunden wurden416). Ob mit ihr auch das Pflaster von Findlingsteinen in Verbindung gebracht werden darf, das 1.6 m unter der heu- tigen Erdoberfläche in einer Breite von 4 m, beiderseits von Trockenmauern begleitet und nicht weit von römerzeitlichen Gräbern entfernt, in einer Länge von 6 m nörd- lich der Pfarrkirche von Untermais bloßgelegt wurde417), mag dahingestellt bleiben. Die Passer kann dieser Heerweg, wie sich aus einer Betrachtung der Geländever- hältnisse ergibt, wohl nur — die Obermaiser Lazag mit ihren Römergräbern418) rechts lassend — irgendwo in der Nähe des Steinernen Steges der Gegenwart über- schritten haben419), ohne daß es jedoch möglich wäre, vermutungsweise genauer die Stelle anzugeben, an der dies geschah, da sich hier nirgends Überreste einer antiken Brücke nachweisen lassen420). Der Steinerne Steg selbst ist erst an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit erbaut worden (s. o. S. 61). Die römische Passerbrücke könnte übrigens auch bloß ein Holzbau gewesen sein. Überschritt doch z. B. auch ein Heerweg des Altertums lediglich auf einer Pfahlbrücke die Limmat bei Baden421).

412) v. Ettmayer, Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 9. Er- gänzungsband, S. 7. 413) Orgler, Zeitschrift des Ferdinandeums 3. Folge 22, S. 80, Laviosa, Carta 2, S. 9 f. 414) Vgl. z. B. Atz, Mitteilungen der Zentralkommission, neue Folge 13, S. LXIXf.; siehe dazu oben A. 290. 415) Ur- und römerzeitliche Funde aus der Gegend von Moritzing und Siebeneich ver- zeichnet von Laviosa, Carta 2, S. 7 f. 416) Mazegger, Römerfunde3, S. 7 f., 10. 417) Mazegger, Römerfunde3, S. 6 f. 418) Über diese Gräber Mazegger, Römerfunde1, S. 3—5. 419) Ähnlich u. a. v. Braitenberg, Schlern 15, S. 16. 420) Mazegger, Römerfunde3, S. 43. . 421) Stähelin, Schweiz1, S. 348, A. 5.

102 TAFEL I bei ihrem Anstieg vom Bergell zum Malojapaß tat429). Daß sich die via Claudia Augusta im Bereich der Töll wieder auf der linken Seite der Etsch befand, bezeugt der zu Kabland gefundene Meilenstein (CIL. 5, Nr. 8003, IBK. Nr. 465). Kann er doch, obgleich er mehr ein ehrendes Erinnerungsmal, als ein Meilenweiser im ge- wöhnlichen Sinn war (s. o. S. 37), unmöglich abseits der Straße gestanden haben, zu der er gehörte. In der heutigen Töllbrücke sah man früher gern ein Werk der Römerzeit430), aber mit Unrecht431). Dagegen betrachtet man als sicher römisch zwei mit schönen großen Platten gepflasterte und mit Sandsteinen eingefaßte Weg- stücke, die sich, in einem Abstand von 30—40 Schritt annähernd parallel 55 bzw. 25 Schritt lang verlaufend und 4, 8 bzw. 4 m breit, rechts der Etsch zwischen der sogenannten alten Töllstraße und dem Fluß, etwa 20 Minuten von dem oben er- wähnten Brückenpfeiler entfernt, im Gelände erkennen lassen. Daraufhin nimmt man dann an, die via Claudia Augusta habe sich hier wieder der Etsch zugewendet, um sie neuerdings zu überschreiten, und sie sei daselbst im Lauf des Altertums verlegt worden, vermutlich, weil es sich als nötig erwiesen habe, den Standort der hier über den Fluß geschlagenen Brücke zu wechseln432). Diese Ansicht hat gewiß viel für sich. Ob sie aber wirklich zutrifft, muß wohl dahingestellt bleiben. Hat man doch auch einen auf der Höhe des Septimerpasses sichtbaren alten Platten- weg solange für römisch erklärt, bis sich herausstellte, daß er erst in den Achtziger- jahren des 14. Jahrhunderts von den Bergellern hergestellt worden ist433). Auf der Töll, wo möglicherweise ursprünglich der im Zieltal zutagegekommene Dianaaltar gestanden haben könnte (s. o. S. 15), überschritt die claudische Straße wahrscheinlich die rätisch-italische Grenze (s. o. S. 38). Auf Grund der irrigen Meinung, die zur antiken Brennerstraße gehörige Zollstation Sublavione (Kollmann) sei in Labers bei Meran und die spätrömische Feste Teriola (Martinsbüchel bei Zirl) beim Schloß Tirol zu suchen, glaubte man früher gelegentlich, die via Claudia Augusta habe sich von der Töll aus über Partschins nach Tirol und von hier aus als bloßer Saumpfad über Kuens ins Passeiertal gewendet, um über den Jaufen die Brennerfurche zu erreichen434). Diese anscheinend noch von Mommsen435) als möglich in Betracht gezogene Annahme erledigt sich jedoch im Hinblick auf die Unhalt- barkeit ihrer Voraussetzungen und auf das sachlich Unverständliche einer derartigen Wegführung. Man ist sich daher schon längst darüber einig, daß die von Claudius ausgebaute Straße, die Maies berührte, dem Reschenscheideck zustrebte (s. o. S. 82) und daß der römerzeitliche Jaufenweg, der manchmal noch heute von Nichtfach- 429) H. Meyer, Mitteilungen der antiquarischen Gesellschaft in Zürich 13/2, 4 (1861), S. 16; danach Stähelin, Schweiz2, S 363. 430) Vgl. z. B. Staffier, Das deutsche Tirol und Vorarlberg 2 (1847), S. 666, Atz, Mittei- lungen der Zentralkommission, neue Folge 13, S. LXX. 431) Mazegger, Römerfunde3, S. 98. 432) Atz, Mitteilungen der Zentralkommission, neue Folge, 13, S. LXX, Mäzegger, Römer- funde3, S. 90; vgl. auch Cartellieri, Alpenstraßen, S. 75. Laviosa, Carta 1, S. 9. 433) Stähelin, Schweiz2, S. 361. 434) So u. a. Giovanelli, Ara Dianae, S. 148—156. 435) Mommsen, Römische Geschichte 5, S. 19, A. 1.

104 leuten unter Berufung auf eine angebliche Volksüberlieferung als eine Straße des Altertums angesehen wird436), nur ein Gebirgspfad ohne größere Bedeutung war437). Der bei Eyrs gefundene, leider ohne nähere Untersuchung vernichtete Meilenstein (IBR. Nr. 464) bezeugt denn auch, daß die via Claudia Augusta den Vinschgau durchzog (K. 27, 320, A. 1), in dem die von Claudius Ptolemaeus nach einer früh- kaiserzeitlichen Quelle genannten Orte Inutrium und Medullum gelegen haben dürften (s. o. S. 32). Zwischen der Töll und der Mündung des Schnalserbaches in die Etsch haben sich keine Spuren einer antiken Straßenanlage erhalten. Die Rablander Meilensäule beweist aber, daß jener Heerweg auf dieser Strecke am Fuß der sonnigen Nordhänge des Etschtals dahinführte und auf diese Weise die Moore vermied, die hier im Altertum die Sohle dieses Tals bedeckten (s. o. S. 16). An der claudischen Straße war hier jedenfalls einst auch jener römische Grabstein (CIL. 5, Nr. 5089, IBR. Nr. 67) aufgestellt, der jetzt an der westlichen Hausmauer des zu Partschins gehörigen Hochhuebenhofs eingemauert ist. Da der antike Re- schenscheideckheerweg oberhalb der Töll am Nordrand des Etschtals dahinzog, muß er, ehe er — den Schnalserbach überschreitend — das Burggrafenamt verließ, Naturns berührt haben. Dieses Dorf liegt auf einem der menschlichen Siedlung günstigen Gelände, sein heute und nachweislich schon seit Jahrhunderten in der Mundart des Volkes Láturns gesprochener und zum erstenmal im Jahr 1109 in der Form Naturnes erscheinender Name438) darf zwar nicht aus dem Keltischen ab- geleitet werden439), er ist aber zweifellos schon vor dem Einrücken der Deutschen in Tirol geprägt worden, bei Naturns wurden römische Münzen gefunden440) und hier steht noch heute ein Kunstdenkmal des 8. Jahrhunderts, das merkwürdige St. Prokuluskirchlein441), das als Andachtsraum für eine weltliche Gemeinde und nicht im Anschluß an ein kleines Kloster erbaut worden war442). Naturns ist somit eine sehr alte Siedlung, die gewiß bereits in römischer, wo nicht schon in vor- geschichtlicher Zeit bestand. Eine Straßenstation des Altertums ist hier aber nicht nachzuweisen. Denn die gelegentlich in mittelalterlichen Aufzeichnungen gebrauchte Namensform Nocturnes kann selbstverständlich nur als das Erzeugnis eines gelehrten Deutungsversuches aufgefaßt werden443), nicht aber als ein Beweis dafür, daß Naturns zur Römerzeit gewöhnlich den Reisenden als Übernachtungsort diente und daß es diesem Umstand seinen Namen verdankte444). 436) So anscheinend von H. Matscher, Schlern 15, S. 518. 437) Cartellieri, Alpenstraßen, S. 75-77, Stolz, Schlernschriften 12, S. 121. 438) Über dessen Formen Tarneller, Archiv für österreichische Geschichte 100, S. 61, A. 1. 439) Wie Hopfner, Schlern 12, S. 236-238 will. 440) Orgler, Zeitschrift des Ferdinandeums, 3. Folge 22, S. 75. 441) Das auf diese Kirche bezügliche Schrifttum verzeichnet von A. Kleeberg-Hochnaturns, Schlern 11 (1930), S. 340 f. Über die neueren einschlägigen Forschungsergebnisse berichtet, auch eigene Gedanken vorbringend, derselbe, Schlern 15, S. 561—572. Hier und bei F. Kobler, Schlern 16, S. 171 f. St. Prokulus als klösterliche Kirche aufgefaßt. 442) Freundliche Auskunft meines Kollegen, Prof. H. Hammer. 443) Diese Möglichkeit zog schon Tarneller, Archiv für österreichische Geschichte 100, S. 61, A. 1 in Erwägung. 444) Ähnlich Cartellieri, Alpenstraßen, S. 77.

105 11. Der Eintritt des Burggrafenamtes in das Mittelalter.

Am Schluß der auf diesen Blättern vorgelegten Ausführungen gilt es noch, zu betrachten, wie sich im Burggrafenamt die im Altertum geschaffenen Verhält- nisse in die späterer Zeiten wandelten. Ist es doch nur auf diese Weise möglich, voll zu erfassen, was die Römerzeit für das Mündungsgebiet der Passer bedeutete. Dabei hat man den Blick nicht bloß auf das 5. und etwa noch auf das 6. Jahrhundert zu richten. Denn was sich in der Völkerwanderungszeit anbahnte und vollzog, wirkte sich in der Meraner Gegend, wie auch anderwärts im Abendland, teilweise erst viel später zur Gänze aus, und ein Entwicklungsvorgang läßt sich in seinem Wesen und in seiner Tragweite nur dann verstehen und würdigen, wenn er in seiner Gesamtheit ins Auge gefaßt wird. Die hier in Frage kommenden Veränderungen politischer Art sind, kurz gesagt, im wesentlichen diese: Gegen Ende des 5. Jahrhunderts lockerte sich der Zusammen- hang zwischen Italien und den damals auf das inneralpine Gebiet beschränkten Provinzen Raetia prima und Raetia secunda. Diese Landschaften bildeten unter Theoderich dem Großen und dessen Nachfolgern nur mehr eine zu einer gewissen Sonderstellung gelangte Mark des auf der Apenninenhalbinsel errichteten Ostgoten- reiches445). Das Burggrafenamt war also in dieser Zeit gewissermaßen wieder zu einem Grenzland Italiens geworden. Den Ausbruch des ostgotisch-byzantinischen Krieges benützend, bemächtigten sich dann die Austrasier in den Dreißigerjahren des 6. Jahrhunderts der Ostschweiz, des alpinen Etschtals sowie großer Teile des Potieflandes und später auch Friauls (s. o. S. 41). Die zu Ligurien und Venetien gehörigen Landschaften mußten dann allerdings den Byzantinern und deren Erben, den Langobarden, überlassen werden. Allein die Franken blieben dauernd Herren Graubündens und des Vinschgaus und diese Gebiete bildeten von nun an das Land Churrätien, das in seiner Bergeinsamkeit unter fränkischer Oberhoheit ein Eigen- leben führte und hierauf im Jahr 916 dem Herzogtum Schwaben eingefügt wurde (R. 1, 136—140). Das Mündungsgebiet der Passer war in der 2. Hälfte des 7. und wäh- rend des 8. Jahrhunderts bald in der Hand der Langobarden, bald in der der Baiern, die damals im tirolischen Inntal, im Eisack- und im Westpustertal geboten (R. 1, 144 f., 205—209). Um 830 erstreckte sich dann die zum italischen Reich zählende Mark oder Grafschaft Trient, die Nachfolgerin des gleichnamigen Langobarden- herzogtums, vorübergehend etschaufwärts bis in die Gegend von Morter, während der Obervinschgau auch jetzt noch mit Churrätien vereinigt blieb (R. 1, 208—210). Vor 930 schuf man dann die zu Churrätien Schwaben zählende Grafschaft Unter- engadin-Vinschgau (R. 1, 210—212), die im 11. Jahrhundert bis an die Passer und möglicherweise nur bis an die Töll, zu Ende des 12. Jahrhunderts aber bis an den Gargazonerbach und bis über hinausreichte (R. 1, 28, 308 f.). Dieses

445) Über das ostgotische Rätien zuletzt Heuberger, Rätien 1, S. 125 — 128, 131—135, 160-166, 322 f.

106 Verwaltungsgebiet, dessen Schwerpunkt wohl schon vor dem 12. Jahrhundert in der Meraner Gegend lag, wurde vermutlich im Jahr 1027, in dem der Bischof von Brixen die auch den Nurichtalgau (Eisacktalgau) in sich schließende Grafschaft Welfs und jener von Trient die von dieser abgetrennte Grafschaft Bozen erhielt (Sl. 8 [1927], 186—190), letzterem Kirchenfürsten geschenkt446), der bereits 1004 zum Herrn der jetzt mit dem deutschen Reich vereinigten Trienter Grafschaft geworden war (Sl. 8, 184 f.). Die Grafschaft Unterengadin-Vinschgau wurde jedoch niemals mehr, als dem Namen nach, vom Bistum Trient abhängig und andrerseits hatte die Loslösung der Trienter Mark von Italien die für die Geschichte des Burg- grafenamtes sehr wesentliche Folge, daß sich die Meraner Gegend, die vom 6. bis zum 10. Jahrhundert ein meist zum fränkisch-deutschen Reich gehöriger Grenz- landstrich gewesen war, von nun an im Innern des deutschen Staatsgebietes befand. Nur die kirchlichen Verhältnisse erinnerten noch an die Zustände der Frankenzeit. Denn bei Forst, also nahe der Töll, und an der Passer schieden sich das Churer und das Trienter Bistum und damit die Erzsprengel von Mainz und von Aquileja (R. 1, 90). Als endlich im 12. und 13. Jahrhundert die damals bereits nach ihrem Stamm- schlosse Tirol benannten Grafen, die im Unterengadin und im Vinschgau geboten, vor allem auf Kosten der Bischöfe von Brixen und Trient nördlich und südlich des Brenners Herrschaftsrechte sowie Eigengüter erwarben und auf diese Weise die Grafschaft Tirol begründeten, die anfangs größtenteils landrechtlich zum Herzogtum Baiern gehörte, wurde das Mündungsgebiet der Passer, das jetzt in dem Meraner Land- gericht zu einer Einheit zusammengefaßt war447) und von nun an als das Burggrafenamt bezeichnet wurde, für längere Zeit zum Kernstück eines größeren inneralpinen Hoheitsbereiches, der die wichtigen Straßen über Brenner und Reschenscheideck beherrschte und bald der Sache nach zur Reichsunmittelbarkeit gelangte. Mit diesen politischen Wandlungen gingen mannigfache Veränderungen anderer Art Hand in Hand, auch abgesehen davon, daß sich in Tirol selbstverständlich im allgemeinen die Verhältnisse in ähnlicher Weise umgestalteten, wie im übrigen Deutschland und sonst in Mitteleuropa. Da das Romanentum infolge der durch das Wirken der bairischen und schwäbischen Grundherrschaften, später auch durch die Landnot und durch die Entwicklung des Verkehrs veranlaßten oder geförderten Ausbreitung des Deutschtums während des Früh- und Hochmittelalters bis ins oberste tirolische Inntal, in den Obervinschgau, in die Täler der Dolomiten und ins untere alpine Etschtal zurückweichen mußte443), wurde das Burggrafenamt,

446) So F. Huter, Veröffentlichungen des Ferdinandeums 12, S. 51—67. 447) Über dieses Landgericht und dessen ursprünglichen Umfang Stolz, Erläuterungen zum historischen Atlas der österreichischen Alpenländer 1/3 (1910), S. 71 f. 448) Darüber zuletzt kurz Wopfner in dem vom Hauptausschuß des deutschen und öster- reichischen Alpenvereins herausgegebenen Werk „Tirol, Land, Natur, Volk und Geschichte" (1933), S. 141, 143; ebenda S. 144 das wichtigste einschlägige Schrifttum. Gegen die auf eine Behauptung U. Campells gestützte Annahme, in Partschins sei noch im 16. Jahrhundert rätoromanisch gesprochen worden, Stolz, Ausbreitung des Deutschtums 3/1, S. 198 f.

107 in dem sich neben den Baiern viele Schwaben und manche Franken niederließen449), im Lauf dieses Zeitraums auch in völkischer Hinsicht zu einer deutschen Binnen- landschaft. Seit dem 12. und besonders seit dem 13. Jahrhundert gewann ferner der Verkehr über das Reschenscheideck und daneben auch der über den Jaufen an Bedeutung450) und dadurch wurde die Meraner Gegend, die, wie im Bereich der Kunst erkennbar, gleich dem Vinschgau schon während der Frankenzeit von Schwaben aus beeinflußt worden war451), wirtschaftlich und geistig mit dem außer- alpinen Deutschland, namentlich mit dessen westlicher Hälfte, enger verbunden, als bisher. Zugleich erwuchs aber seit dem 11. Jahrhundert Bozen zu einer Stadt, die in der Folge nach und nach ganz in die Gewalt der Grafen von Tirol geriet452) und zu einem der wichtigsten Umschlagplätze des mächtig aufblühenden deutsch- italienischen Handels. Infolgedessen sowie infolge der Entstehung einer das mittlere alpine Etschtal kreuzenden Sprachgrenze, einer das Mündungsgebiet der Passer in zwei Hälften teilenden kirchlichen Scheidelinie und weltlicher Landmarken, die das Tal der Etsch innerhalb oder südlich der Meraner Gegend querten, war Trient für das Burggrafenamt jetzt nicht mehr das, was es für diesen Landstrich in der Römer- und noch in der Frankenzeit gewesen war. Weiters wurde auch Meran im 13. Jahrhundert zu einer Stadt, entwickelte sich dank des Verkehrs auf der Keschenscheideckstraße und auf dem Jaufenweg rasch und nahm auch deshalb eine bedeutende Stellung ein, weil es bis zum 15. Jahrhundert gewissermaßen als Hauptstadt Tirols galt453). Damit erhielt nun das Burggrafenamt, in dem sich der besiedelte Eaum ausbreitete und eine große Zahl von Adelsburgen aus dem Boden wuchs, einen eigenen städtischen Mittelpunkt. Endlich verwischten sich hier während des Hochmittelalters infolge der Entwicklung der politischen, völkischen und son- stigen Verhältnisse alle jene Unterschiede, die in der Römer- und Frankenzeit zwischen dem damals zu Rätien bzw. Churrätien und dem zu Italien gehörigen Teil der Meraner Gegend bestanden hatten. Dies kam z. B. darin zum Ausdruck, daß die rätoromanische Urkunde im 12. Jahrhundert im Mündungsgebiet der Passer dem durch das Siegel und dem durch die Unterschrift des öffentlichen Notars beglaubigten Schriftstück wich454). So wurde das im Meraner Landgericht zu einer Einheit zusammengefaßte Burggrafenamt, dessen Zugehörigkeit zu zwei verschie- denen Bistumssprengeln nur mehr für die kirchliche Verwaltung belangreich war,

449) Dazu Stolz, Die Ausbreitung des Deutschtums 3/1, S. 120—124; vgl. auch Wopfner, Schlernschriften 9, S. 384 und Heuberger, Veröffentlichungen des Museum Ferdinandeum 6 (1926), S. 81—85 (Verzeichnis in Meran tätiger Notare). 450) Scheffel, Verkehrsgeschichte der Alpen 2 (1914), S. 217,220 f. Stolz, Schlernschriften 12 (1927), S. 129—133, derselbe im Alpenvereinswerk „Tirol", S. 307 f., 310. 451) Wopfner, Schlernschriften 9, S. 386. 452) E. Werunsky, Österreichische Reichs- und Rechtsgeschichte, Lieferung 10 (1926), S. 752 f., Stolz, Die Ausbreitung des Deutschtums in Südtirol 3/1, S. 14. 453) Werunsky, Österreichische Reichs- und Rechtsgeschichte, Lieferung 10, S. 757 f. 454) Zum Verschwinden der rätoromanischen und zum Vordringen der notariellen Urkunde in der Grafschaft Vinschgau zuletzt Heuberger, Veröffentlichungen des Museum Ferdinandeum 6, S. 49 f., 55, 60 f., 67-71, K. Moeser, ebenda 12, S. 280-293.

108 in jeder Hinsicht zu einem innerlich geschlossenen Landstrich von ausgeprägter Eigenart, dessen Beziehungen dank der Herkunft seiner Bewohner und dank der Verkehrsverhältnisse nach Norden und Nordwesten wiesen. Mit dem Gesagten wäre in allen wesentlichen Hauptzügen vorgeführt, wie sich im Mündungsgebiet der Passer der Übergang vom Altertum zum Mittelalter anbahnte und vollendete. Wer den tieferen Sinn einer geschichtlichen Entwicklung verstehen will, darf sich aber nicht mit einer Feststellung des Tatsächlichen begnügen. Es gilt also, die Frage zu beantworten: Was bedeuteten die eben geschilderten Wandlungen an sich und was ergibt sich aus ihnen für eine Beurteilung der Rolle, die die Römerzeit in der Geschichte der Meraner Gegend spielte ? Vor einer Anzahl von Jahren kamen, veranlaßt durch ein großes, Zustimmung und Widerspruch weckendes Werk von A. Dopsch455), Erörterungen darüber in Gang, ob das Vordringen der Germanen während der Völkerwanderungszeit und der dadurch, verursachte Untergang des weströmischen Reiches einen Bruch in der Gesittungs- entwicklung des Abendlandes herbeigeführt hätten oder nicht456). Es ist hier nicht der Ort, zu diesen Auseinandersetzungen Stellung zu nehmen. Gewiß ist aber jeden- falls, daß im allgemeinen weder von einer vollkommenen „Kulturzäsur" noch von einer ganz ungestört gebliebenen „Kulturkontinuität" gesprochen werden darf und daß sich der Übergang von den Zuständen des Altertums zu denen des Mittel- alters in den einzelnen Landschaften des einst vom römischen Reich eingenommenen Raumes in sehr verschiedener Weise vollzogen hat. Im Bereich und in der Nachbar- schaft des Burggrafenamtes stießen nun gerade Gebiete aneinander, die während und nach der Völkerwanderungszeit sehr ungleiche Bahnen der Entwicklung ein- schlugen. Denn in Churrätien, das sich dem Eindringen des deutschen Volkstums lange verschloß, änderten sich die im Altertum geschaffenen Lebensformen während der Frankenzeit nur wenig und auch später bloß ganz allmählich (R. 1, 138—141), im Langobardenherzogtum Trient und in der späteren Mark oder Grafschaft gleichen Namens setzte sich germanisches Blut und Wesen nur teilweise durch und im nörd- lichsten Stück dieses Gebietes, besonders aber im Eisack- und Pustertal sowie im Norden des Brenners und des Reschenscheidecks trat mit dem Eindringen der Baiern ein tiefgehender Bruch mit den Überlieferungen der römischen Vergangenheit ein, dem ein rascher Rückgang des Romanentums in diesen Gegenden entsprach (R. 1, 145—147). Näher zu verfolgen, wie sich in der Meraner Gegend die Dinge an der Schwelle des Mittelalters entwickelten, gestattet die Quellenlage nicht. Gewiß ist jedoch, daß die Verhältnisse, die hier zur Zeit Arbeos, des nachmaligen Bischofs von Freising, herrschten, ungefähr denen glichen, die damals im Eisacktal und nördlich des Brenners bestanden, und daß die Beziehungen des Burggrafen- amtes zu Churrätien und seine zeitweilige Zugehörigkeit zum Trienter Langobarden-

455) A. Dopsch, Wirtschaftliche und soziale Grundlagen der europäischen Kulturentwick- lung aus der Zeit von Cäsar bis auf Karl den Großen, 2 Bände (1918/20), 2 (1923 f.). 456) Vgl. die Besprechungen von Dopschs Werk (die wichtigsten verzeichnet bei Dahl- mann-Waitz-Haering, Quellenkunde der deutschen Geschichte9, 1931, S. 303, Nr. 5088).

109 herzogtum nicht vermochten, die Entwicklung jenes Landstrichs in andere Bahnen zu lenken, als die seiner östlichen und nördlichen Nachbargegenden. Als eine Tatsache darf es auch gelten, daß sich im Mündungsgebiet der Passer im einzelnen kein Fortleben von Einrichtungen und Zuständen des Altertums in solchen des Mittel- alters beobachten läßt. Daß das Amt des Burggrafen auf Tirol, das Stadtrecht von Meran und das Wappen dieses Ortes römischen Ursprungs seien457), glaubt schon längst niemand mehr. Die Meinung, das spätmittelalterlich-neuzeitliche Zoll- amt auf der Töll sei als unmittelbare Fortsetzung der statio Maiensis quadragesimae Galliarum zu betrachten458), ist irrig (R. 1, 236) und die das Burggrafenamt durch- querenden Ostgrenzen des Bistums Chur und der Grafschaft Vinschgau sind nicht im Anschluß an die Landmark zwischen Eätien und Venetien459), sondern ohne Zusammenhang mit dieser auf Grund der Verhältnisse des früheren Mittelalters fest- gelegt worden (R. 1, 90—92). Gänzlich verkehrt ist endlich die Behauptung, die Stadt Meran sei (als Nachfolgerin des antiken Maies) als eine „Tochter Roms" anzusehen460), d. h. sie verdanke ihren Ursprung den Römern. In der Gegend von Maies wohnten schon in der Urzeit Menschen, dieser Ort erlangte zur Römerzeit niemals die Stellung eines municipium oder einer Kolonie und die Stadt Meran wurde erst durch die Grafen von Tirol auf dem ihnen gehörigen Grund rechts der Passer gegenüber dem Dorf Mais neu geschaffen461), das dort lag, wo sich einst der Kern des antiken Maies befunden hatte. Die Stadt Meran stand also zu diesem Römerort in keinem andern Verhältnis, als die Stadt Innsbruck zum römischen Veldidena (Wilten)462). So kam es also auch im Burggrafenamt während der Frankenzeit zu einem Bruch mit den römischen Überlieferungen. Sehr viel bedeutete dies aber nicht. Daß in dieser Ge- gend manches von dem erhalten blieb, was man von den Römern gelernt hatte, so die Errichtung von Häusern aus Stein und der Weinbau, will zwar nicht viel besagen. Handelt es sich dabei doch nur um wenig belangreiche Äußerlichkeiten. Auch darauf wird nicht viel Gewicht zu legen sein, daß das nachmals im Burggrafenamt wie ander- wärts zur Herrschaft berufene Christentum hier schon zur Römerzeit bekannt geworden war. Denn dieser Glaube gewann im Mündungsgebiet der Passer erst während der Völkerwanderungszeit den vollen Sieg. Er schlug hier also keine Brücke vom Altertum zum Mittelalter. Entscheidend ist dagegen anderes. Ein Bruch mit den römischen Überlieferungen konnte bloß in Landschaften einschneidend wirken, in denen unter der Herrschaft Roms die blutmäßige Zusammensetzung der Be- völkerung eine weitgehende Veränderung erfahren hatte, eine Stadt, also ein Aus- 457) So z. B. Stampfer, Programm Meran 1884, S. 15 f. Dagegen Mazegger, Römerfunde3, S. 60-63. 458) Diese Meinung vertreten Stolz, Archiv für österreichische Geschichte 97 (1909), S. 615, Cartellieri, Alpenstraßen, S. 75 und — wenn auch nur teilweise — Heuberger, Schlern 11, S. 394. 459) Dies wird gemeinhin, so von H. v. Voltelini, Erläuterungen zum historischen Atlas der österreichischen Alpenländer 1/3, S. 127, angenommen. 460) So Castelpietra, Merano Romana, S. 15. 461) Werunsky, österreichische Reichs- und Rechtsgeschichte, Lieferung 10, S. 757. 462) Über das Verhältnis von Innsbruck zu Veldidena Heuberger, Rätien 1, S. 244 f.

110 Strahlungspunkt für fortgeschrittenere Formen des Lebens und Denkens entstanden war und überhaupt viel von den Errungenschaften der alten Mittelmeerwelt Eingang gefunden hatte. Zu all dem war es aber in der näheren und weiteren Umgebung von Maies nicht gekommen. Es gab hier demnach gewiß keine beträchtlichen Werte einer höheren Gesittung, die beim Einrücken der Germanen zugrundegehen konnten, und das Dasein der Burggräfler wird sich im Frühmittelalter unter nicht viel anderen Voraussetzungen und in nicht viel niedriger stehenden Formen abgespielt haben, als zur Zeit, da man an der Passer römischen Beamten gehorcht hatte. Mag also die Zugehörigkeit zum Kaiserreich des Altertums in der Meraner Gegend auch einen gewissen Fortschritt in der Gesittung herbeigeführt haben, der in der Folge wieder einigermaßen rückgängig gemacht wurde, so war damit doch kein tiefgreifender Einschnitt in der Gesamtentwicklung dieses Landstriches von der Urzeit zum Mittelalter gegeben. In einem anderen Licht stellen sich die Dinge dar, wenn man den Blick auf das jeweilige Verhältnis der Meraner Gegend zu den größeren räumlichen Einheiten des geschichtlichen Lebens richtet. Die Römer hatten diese Gegend allem Anschein nach verwaltungsmäßig an die oberitalienische Ebene und damit an die Apenninen- halbinsel, also an das Kernland ihres Reiches, sowie an die Mittelmeerwelt an- geschlossen und dieser Zustand war bis zum 6. Jahrhundert unserer Zeitrechnung in Geltung geblieben. Das Ergebnis der frühmittelalterlichen Entwicklung aber war, daß das Burggrafenamt nach mannigfachen Schwankungen völkisch wie staat- lich dem fränkisch-deutschen Reich eingefügt wurde, das von den Alpen bis an die Nordsee reichte, und daß es von nun an in jeder Hinsicht die Geschicke der einst im römischen Rätien, jetzt aber in den Herzogtümern Schwaben und Bayern zusam- mengeschlossenen Landschaften teilte, um zuletzt zur Keimzelle und zum Herzstück der Grafschaft Tirol zu werden, die anfangs größtenteils zum landrechtlichen Verband des bayrischen Herzogtums gehörte. So angesehen, brachte mithin der Eintritt ins Mittelalter für die Meraner Gegend tatsächlich einen völligen Umschwung von größter, alle Zukunft bestimmender Tragweite. Indes auch diese Wandlung der Verhältnisse darf in ihrer Bedeutung nicht überschätzt werden. Denn die rätisch- italische Grenze des Altertums hatte bloß zwei Verwaltungsgebiete eines streng einheitlich regierten Staates von einander geschieden und die dem militärischen Nachschubdienst, dem Reiseverkehr und dem Handel dienende via Claudia Augusta das Tal der Etsch eng mit dem nördlichen Alpenvorland verknüpft. Ja noch mehr: In der vorgeschichtlichen Eisenzeit war das Mündungsgebiet der Passer der Ab- stammung und Gesittung seiner illyrischen Bewohner nach sowie vermöge seiner damaligen Verkehrsverbindungen aufs innigste mit den übrigen Talschaften der mittleren Alpen, mit Oberschwaben und dem südlichen Oberbayern verbunden gewesen. Der Bruch mit den Überlieferungen der Vergangenheit, den der Untergang des römischen Reiches für die Gesamtlage des Burggrafenamtes zur Folge hatte, war also im Grund nichts anderes, als ein Zurücklenken zu den Verhältnissen, die in der Urzeit geherrscht hatten, oder — anders ausgedrückt — die Beseitigung

111 eines Zustandes, der von den Römern im Widerspruch mit den natürlichen Voraus- setzungen geschaffen und jahrhundertelang aufrecht erhalten worden war, eines Zustandes, der zwar die Außenseite des geschichtlichen Lebens berührt, dessen Grundlagen jedoch im wesentlichen nicht verändert hatte. Jener Umschwung war demnach weit tiefer begründet, als in zufälligen Verkettungen der Umstände. Er entsprang vielmehr einer geschichtlichen Notwendigkeit, die sich über kurz oder lang in dieser oder jener Form durchsetzen mußte. So offenbarte sich in jenem Wandel der Dinge lediglich die Tatsache, daß sich selbst ein kleiner Landstrich gemeinhin nur vorübergehend mit äußeren Machtmitteln aus der ihm vorgezeichneten Bahn der Entwicklung herausdrängen läßt und daß jede Staatsgewalt auf die Dauer ohnmächtig ist gegenüber den geschichtlichen Gesetzen, die, gegründet auf natur- gegebene Vorbedingungen, die Schicksale von Völkern und Ländern im großen wie im kleinen bestimmen. Das Gesagte lehrt aber zugleich auch, welche Bedeutung der Römerzeit in der Geschichte des Burggrafenamtes zukommt. Dieses Zeitalter hat der Meraner Gegend einen gewissen Gesittungsfortschritt beschert und ein Band zwischen ihr und der Mittelmeerwelt geschlungen. Jener Fortschritt war indes nicht sehr er- heblich, ihm folgte an der Schwelle des Mittelalters wieder ein, wenn auch nur ziemlich geringfügiger, Rückschlag und damals wurde das Mündungsgebiet der Passer neuerdings und zwar für fast eineinhalb Jahrtausende von Italien getrennt. Die Römerzeit war also gewiß ein denkwürdiger, aber durchaus kein folgenreicher und schicksalshafter Abschnitt in der Geschichte des Burggrafenamtes. Vermochte sie doch lediglich, dessen Entwicklung auf eine Weile in eine neue Richtung zu zwingen, nicht aber, damit eine nachhaltige Wirkung zu erzielen. Ungeachtet ihrer einstigen Zugehörigkeit zum römischen Venetien war die Gegend von Meran wie jene von Bozen schon seit dem früheren Mittelalter das Kernstück des von Reschen- scheideck- und Brennerstraße durchzogenen deutschen Landes, dessen geschicht- liche Bestimmung kurz und klar gekennzeichnet erscheint in den seinem sagen- haften deutschen Eroberer, dem Baiernherzog Adelger, von einem Dichter des 12. Jahrhunderts in den Mund gelegten Worten:

daz lant hân ih gewunnen den Baieren ze êren; diu marke diene in iemer mêre463).

463) Monumenta Germaniae, Deutsche Chroniken 1 (1895), S. 212. Über die Adelgersage zuletzt Heuberger, Schlern 4 (1923), S. 72-78, derselbe, Rätien 1, S. 291-293.

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