JüdischerSusannah Heschel : Islam und jüdisch-deutsche Selbstbestimmung

Aus dem Englischen von Dirk Hartwig, Moritz Buchner und Georges Khalil Mit einem Nachwort von Georges Khalil 1 »Es war der Islam, der das jüdische Volk rettete!« So verkündete es der große jüdische Wissenschaftler des Islam und der mittelalterlichen jüdischen Geschichte Shlomo Dov Goitein (1900–1985) in einem Vortrag einer britisch-jüdischen Hörerschaft im Jahre 1958. Was war darunter zu verstehen, und wie war es zu dieser Errettung gekommen? Weil der Islam, so setzte Goitein hinzu, die ökonomischen und intellektuellen Voraussetzungen hervorbrachte, die eine »schöpferische Symbiose« geradezu ermutigten, die zwischen2 den jüdischen und islamischen Kulturen im Mittelalter entstand. Die Religion des Islam, so betonte Goitein, war eine Religion der »persönlichen Verantwortung des3 Menschen gegenüber Gott«, eine »Religion des ethischen Monotheismus«. Diese Symbiose war keineswegs Vergangenheit: Goitein benutzte die gleiche Sprache zur Beschreibung des Islam, die liberale Juden seinerzeit einsetzten, um das Judentum zu beschreiben.

Jüdische GelehrsamkWas hateit Mohammed initiierte d ausie moder dem Judenthumene europäisch aufgenommen?e Auseinandersetzung mit dem Islam in den 1830er-Jahren mit Abraham4 Geigers Buch . Über ein Jahrhundert setzen jüdische Wissenschaftler

Journal of Jewish Studies 1 Shlomo Dov Goitein, »’s Inspiration by Judaism«, in: 9 (1958), S. 144–162, hier S. 162. 2 Zur Verwendung des Terminus »Symbiose« durchBetween jüdische Muslim Historiker, and Jew: insbesondereThe Problem of in SHinblickymbiosis auf under die DiskussionEarly Islam jüdischer Geschichte im islamischen Herrschaftsbereich und demUnder Goitein Crescent-Zita andt vgl. Cross: Steven The M. Jews Wasserstrom, in the Middle Ages Unter, KreuzPrinceton: und Halbmond. Princeton UniversityDie Juden im Press, Mittelalter 1995; Mark R. Cohen, , Princeton: Princeton University Press, 2008 [Deutsch: , aus dem Englischen von Christian Wiese, München: C.H. Beck, 2005, 22011]. 3 Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen? Goitein, »Muhammad’s Inspiration by Judaism«, op. cit., S. 162. 4 Abraham Geiger, , Bonn: Baaden, 1833 [Neudruck der zweiten Auflage : Kaufmann, 1902 mit einem Vorwort von Friedrich Niewöhner, : Parerga, 2005]. 5

Geigers Bemühungen fort, Parallelen zwischen Islam und Judentum, insbesondere zwischen dem Koran und der rabbinischen Literatur, aufzuspüren. Zeitgleich brachten sie auch historische Methoden in das Studium islamischer Texte ein, insbesondere des Koran und der - Literatur. Sie betrachteten den Islam wie auch das Christentum als »Tochterreligionen« des Judentums. In den späteren Dekaden des 19. und frühen 20. Jahrhunderts5 bekleidete bereits eine relevante Anzahl jüdischer Wissenschaftler Professuren an deutschen Universitäten. Ludmila Hanisch belegt in ihren Studien, dass um das Jahr 1933 Juden etwa 33 Prozent der akademischen Positionen im Bereich der 6 Orientwissenschaften innehatten, darunter 25 Prozent der Lehrstühle. Juden haben im deutschsprachigen Raum nicht nur die moderne Erforschung des Islam angestoßen, sondern sich auch durch ihre Islamstudien an die Spitze der erblühenden Orientwissenschaften gearbeitet. Die besondere jüdische Faszination am Islam fordert uns auf, unser konventionelles Verständnis eines passiven Verhältnisses der Juden zur Moderne zu überdenken. In ihrer wissenschaftlichen Leistung auf dem Gebiet der Islamstudien und der Position, die sie dem Islam in ihren Narrativen jüdischer Geschichte zugestanden, kann weder ein Eintritt in die Moderne noch eine Reaktion auf die Moderne ausgemacht werden, sondern eher ein starkes jüdisches Bemühen um die Neugestaltung

5 Da es sich bei den jüdischen Wissenschaftlern ausschließlich um männliche Wissenschaftler handelt, wird im weiteren Text auf die Verwendung weiblicher Formen verzichtet. Einzige Ausnahme ist Ilse Lichtenstädter (1907–1991), deren wissenschaftliche Laufbahn jedoch erst nach der Emigration aus dem nationalsozialistischen Deutschland wirklich begann. 6 Berichte zur Wissenschaftsgeschichte Vgl. Ludmila Hanisch, »Akzentverschiebung – Zur Geschichte der Semitistik und Islamwissenschaft während des ›Dritten Reichs‹«, in: 18 (1995), S. 217–226, hier S. 218. 6 des Verständnisses der modernen Zivilisation. Durch die Enthebung des Christentums aus dem Status des alleinigen Siegers unter den drei monotheistischen Religionen stellten jüdische Wissenschaftler das Judentum durchweg als ursprüngliche und wahre Religion dar, die mit der Hilfe von Christentum und Islam den jüdischen Monotheismus zu den Heiden der hellenistischen und arabischen Welt gebracht hatte. In dieser rhetorischen Neudefinition der Moderne wurde die christlichtheologische Landkarte auf den Kopf gestellt und der Islam zur loyaleren und authentischeren der zwei Töchter des Judentums erklärt. Der Enthusiasmus, den Goitein und so viele andere jüdische Wissenschaftler – beginnend in den 1830er-Jahren – dem Islam entgegenbrachten, stand für eine besondere Spielart des Orientalismus, die sich allerdings durch ihre Argumente und ihren Tonfall von jenem Orientalismus abhob, den Edward Said (1935–2003) identifiziert hat. Said nahm sich vor allem die Islamforschung in Großbritannien und Frankreich vor und verband Orientalismus mit den imperialistischen Projekten dieser Länder. Hingegen waren die meisten jüdischen Islamforscher im 19. Jahrhundert Mitteleuropäer und schrieben Deutsch. Die Länder, in denen sie lebten, waren entweder wie Deutschland koloniale Nachzügler, und beherrschten nur wenige muslimisch-geprägte Territorien oder verfügten wie Österreich-Ungarn über eine substanzielle Zahl

7 einheimischer Muslime. John Efron hat sicherlich zu Recht Kritik an Saids Vernachlässigung Deutschlands geübt, welches das Zentrum der jüdischen Islamforschung war. Nicht der Imperialismus, sondern eine weitreichende Faszination mit einer »sephardischen Aura« – so argumentiert Efron – trieb deutsche Juden an, sich mit dem Islam zu beschäftigen, Synagogen im maurischen 7Stil zu errichten oder in al-Andalus spielende schöne Literatur zu schaffen. Und doch war Saids Argument komplexer als der bloße Vorwurf, dass die ›westliche‹ Wissenschaft durch Imperialismus motiviert war und den kolonialen Interessen diente. Vielmehr identifizierte er einen imperialistischen Ton in der europäischen Forschung: »[…] so stellt sich der Orientalismus als institutioneller Rahmen für den Umgang mit dem Orient dar, das heißt für die Legitimation von Ansichten, Aussagen, Lehrmeinungen und Richtlinien zum Thema für ordnende und regulierende Maßnahmen. Kurz, der Orientalismus ist seither ein westlicher Stil, d8en Orient zu beherrschen, zu gestalten und zu unterdrücken.« Aus diesem Unternehmen gingen erotisierte Diskurse hervor, die den Islam als zeitlos, stagnierend, exotisch, rückständig, despotisch, gewalttätig, irrational und vollkommen gegenläufig zur europäischen Zivilisation, die vermeintlich durch Vernunft

German Jewry and the Allure to the Sephardic 7 Vgl. John Efron, Orientalismus , Princeton: Princeton University Press, 2015. 8 Edward W. Said, , übersetzt von Günter Holl, a. M.: Fischer Verlag, 2009, S. 11. 8 und Fortschritt geleitet war, wahrnahmen. Aziz al-Azmeh schreibt dazu: »Ich verstehe unter Orientalismus eine ideologische Trope, eine ästhetische, normative und letztlich politische Zuweisung bestimmter9 Eigenschaften an den Orient im Gegensatz zum Okzident.« Timothy Mitchell nimmt eine ähnliche Perspektive ein und betrachtet den Orientalismus als »eine Serie von absoluten Differenzierungen, nach denen der Orientale als negatives Abbild des Europäers verstanden werden könnte. Diese Unterschiede seien aber nicht die Differenzierungen innerhalb eines Selbst im Sinne einer gespaltenen Identität; es sind die Unterschiede zwischen einem Selbst und dessen Gegenstück, eben jenem Gegenstück, welches di10e Vorstellung eines ungespaltenen Selbst hervorbringen kann.«

Said identifizierte den imperialistischen Ton 197811 als »Orientalismus«. Shahab Ahmed (1966–2015) hat unterstrichen, dass die thematische Fokussierung der europäischen Islamforschung problematisch sei. Durch den besonderen Fokus auf die frühesten islamischen Texte und mit der Deklaration der Scharia zum zentralen islamischen Prinzip

Islams and Modernities 9 Aziz al-Azmeh, , London: Verso, 32009 [^11993]:, S. 123. Deutsch: Die Islamisierung desColonizing : Imaginäre Egypt Welten einer politischen Theologie, aus dem Englischen von Ulrich Enderwitz, Campus 1996. 10 What Is Islam: The Importance of Being Islamic Timothy Mitchell, , New York: Cambridge University Press, 1988, S. 166. 11 Shahab Ahmed, , Princeton: Princeton University Press, 2015. 9 brachte der Orientalismus die enggeführte Definition eines ›authentischen‹ Islam hervor, sodass nachfolgende kulturelle und theologische Entwicklungen innerhalb des Islam als von der Norm abweichend oder marginal beschrieben wurden. Die Grundannahme der Orientalisten, dass »nur das Original authentisch« sei, so argumentierte Robert Wisnovsky, habe den Islam auf die Texte der sogenannten12 ›klassischen Periode‹ (700– 1050 n. Chr.) reduziert und festgelegt.What Dieser is Islam eingeschränkte Textbestand hat ein entstelltes historisches Paradigma hervorgebracht. In seinem kürzlich erschienenen Buch fordert Shahab Ahmed die Wissenschaft dazu auf, »den Islam 13in weitläufigen, umfassenden und gegensätzlichen Begriffen zu denken.« Ähnlich ihren europäisch-christlichen Kontrahenten konzentrierten sich jüdische Gelehrte auf die frühesten islamischen Texte und trugen so zur Schaffung des Paradigmas bei, welches sich an der ›klassischen Zeit‹ des Islam orientierte. Und dennoch unterschied sich der Ton ihrer Gelehrsamkeit von dem bevormundenden, imperialistischen Ton, den Said als orientalistisch bezeichnete. Jüdische Gelehrte waren mit einem anderen, tief in der damaligen Wissenschaftswelt verankerten Ton konfrontiert: Wissenschaft wurde nicht nur von Christen dominiert, sondern war auch von einer konzeptionellen ›Christlichkeit‹ durchdrungen, welche Religionen in christlichen – und in Deutschland

12 The Cambridge History of Medieval Philosophy Robert Wisnovsky, »Islam«, in: M. W. F. Stone & Robert Wisnovsky, »Philosophy and Theology (Islam)«,What Is Islam in: , hrsg. von Robert Parnau, Cambridge: Cambridge University Press, 2010, Bd. 2, S. 687–706. 13 Ahmed, , op. cit., S. 83. 10

14 vornehmlich protestantischen – Denkmustern wahrnahm und definierte. Das bedeutete nichts anderes, als dass Religionen essenzialisiert wurden, indem sie über ihre frühesten, vermeintlich unverfälschten Textzeugnisse beschrieben wurden und indem Subjektivität (d. h. ›religiöse Erfahrung‹) über Glaubenspraxis erhoben wurde. In der protestantischen deutschen Wissenschaft des 19. Jahrhunderts wurden prophetische Traditionen als bedeutsamer angesehen als das Priestertum und seine Reinheitsgebote, welche ohnehin als Verfall in einen rigiden Legalismus aufgefasst wurden, den die protestantischen Gelehrten verabscheuten. Dieses Grundschema wurde beim Studium der hebräischen Bibel, des Judentums, des Katholizismus und letztlich auch des Islam angewandt. Anders als der Orientalismus, wie ihn Timothy Mitchell charakterisiert, suchten die jüdischen Gelehrten gerade nicht nach absoluten Differenzen, die den Orientalen zum Negativ des Europäers machten, sondern nach Übereinstimmungen zwischen Judentum und Islam, sei es in historischen Konvergenzen, wechselseitigen Einflüssen oder, wie Goitein erklärte, in einer symbiotischen heilsgeschichtlichen Beziehung begründet. Die Identifikation von Judentum und Islam hatte freilich nicht zur Folge, dass die Wissenschaft ihren imperialistischen Ton ablegte, aber sie brachte eine andere politische Sensibilität mit sich, insbesondere wenn man die marginalisierte Stellung der Juden

The Invention of World Religions: Or, How European Universalism was14 Preserved in the Language of Pluralism Tomoko Masuzawa, , Chicago: University of Chicago Press, 2005. 11 in Europa bedenkt, denen man den Status eines inneren Fremden zuwies. Zeitgleich mit den Debatten über die jüdische Emanzipation und dem Erstarken des Antisemitismus symbolisierte die jüdische Identifikatiosira n mit dem Islam ein antiorientalistisches Moment. Juden brachten nicht nur akademische Literatur zum Koran, der Prophetenbiographie ( ), der Hadith-Literatur und anderen frühislamischen Texten hervor, sondern produzierten zugleich populäre Erzählungen und Gedichte, die das »Goldene Zeitalter« des muslimischen Spaniens in Erinnerung riefen, sowie Erzählungen von Romanzen jüdischer Maiden mit muslimischen Helden und Koranübersetzungen ins Deutsche, Französische und Hebräische. All diese Aktivitäten trugen zur Bildung einer antihegemonialen Alternative zum Konzept des christlichen Westens bei, wie man es im imperialen Europa pflegte. 15 Im europäischen Diskurs hatte der Islam – wie al-Azmeh herausstellt – viele Gesichter: Trotz ›wissenschaftlicher‹ Analysekategorien stellte man ihn beständig infrage und schrieb ihm andere Attribute zu. Indem man ihn mit Begriffen aus der christlichen Theologie definierte, wurde der Islam mal als Neuauflage des jüdischen Legalismus, welchem das Christentum sich widersetze, mal zu einem Ableger häretischer christlicher Gruppen herabgewürdigt; beide Darstellungsweisen demonstrierten die christliche Vormachtstellung im

Islams and Modernities 15 al-Azmeh, , op. cit. 12

Osten. Hinter jüdischen und christlichen Analysen über die Ursprünge des Islam stand so nicht selten ein rhetorischer Kampf um die größere theologische und kulturelle Bedeutsamkeit der jeweils eigenen Religion. Dabei verlief die Konfliktlinie aber nicht notwendigerweise zwischen jüdischen und christlichen Wissenschaftlern. Charles Torrey (1863–1956) zum Beispiel unterstützte Abraham Geiger (1810–1874) in seiner Argumentation für jüdische Einflüsse auf den frühen Islam, wohingegen Franz Rosenthal (1914–2003), Julius Wellhausen (1844–1918), Karl Ahrens (1857–1943), Tor Andrae (1885–1947), Richard Bell (1876–1952) und andere für die größere Relevanz christlicher Einflüsse votierten. Was genau aber das Wesen des ›jüdischen‹ oder ›christlichen‹ Einflusses wirklich ausmachte, blieb dabei äußerst vage und wurde oft mit modernen theologischen Konzepten begründet. Dennoch ist der von Said wahrgenommene imperialistische Ton aus den Argumenten herauszulesen: Der Koran erscheint als Sammelsurium anderer religiöser Texttraditionen. Der Islam erschien damit nicht als originärer und eigenständiger Glaube, der seine16 Gehalte selbstbestimmt und aus eigener Tradition heraus verhandelte. Der jüdische Anteil galt der Umgestaltung des vorherrschenden Religionsverständnisses und der Inanspruchnahme des Islam für das Judentum. Als sich nämlich jüdische Gelehrte in den 1830erJahren daran machten, koranische Texte zu lesen,

Der Koran als Text der Spätantike: Ein europäischer Zugang 16 Angelika Neuwirth, , Berlin: Verlag der Weltreligionen, 2010; dies., Der Koran, Bd. 1: Frühmekkanische Suren. Poetische Prophetie, Berlin: Suhrkamp Verlag, 2011; dies., Koranforschung, eine politische Philologie? Bibel, Koran und Islamentstehung im Spiegel spätantiker Textpolitik und moderner Philologie, Berlin: de Gruyter, 2014; dies., Der Koran, Bd. 2/1: Mittelmekkanische Suren. Das neue Gottesvolk: »Biblisierung« des altarabischen Weltbildes, Berlin: Suhrkamp Verlag, 2017. Neuere Forschungen auf dem Gebiet des Koran und seines spätantiken Umfelds wurden herausgegeben: Qurʿānic Studies Today, hrsg. von Angelika Neuwirth und Michael Sells, London, New York: Routledge, 2016; Denkraum Spätantike. Reflexionen von Antiken im Umfeld des Koran, hrsg. von Angelika Neuwirth, Nora Schmidt und Nora K. Schmid, Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 2016. 13 erlebten sie, was ich das ›philologisch Unheimliche‹ nennen würde: Sie waren erstaunt, hebräische Sätze aus der Mischna oder den Geschichten aus dem Midrasch im arabischen Koran zu entdecken. Als sich Abraham Geiger im Jahre 1831 dem Koran zuwandte, war er Schüler des Arabisten Georg Wilhelm Freytag (1788–1861) an der Universität Bonn, der jüdische Studenten in seinen Seminaren willkommen hieß. Nicht wenige seiner Studenten sollten später anerkannte Forscher der arabischen Literatur werden, darunter Salomon Munk (1803–1867), Ludwig Ullmann (1804– 1843) und Joseph Derenbourg (1811–1895). Als Abraham Geiger begann, den Koran zu studieren, vertraute er seinem Tagebuch an: »In der That habe ich zu dieser Arbeit große Neigung und darf für diesen Zweck eine ziemlich reiche Ausbeute erwarten, da sich überall Anklänge an das Judenthum und zwar an das durch die Rabbinen und die17 märchenhafte Grillenfängerei morgenländischer Juden gestaltete finden.« Statt einer Forschung, welche den Islam beständig verunglimpfte, versuchten die jüdischen Gelehrten, die Ähnlichkeiten zwischen dem klassischen Judentum und dem Islam aufzuzeigen, nämlich ihren gemeinsamen Glauben an Gott und die Prophezeiung, ihre ähnliche Glaubenspraxis sowie die von

Abraham Geigers Nachgelassene17 Schriften Tagebucheintrag datiert auf den 29. April 1831; abgedruckt in: , hrsg. von Ludwig Geiger, 5 Bde., Berlin: Louis Gerschel, Verlagsbuchhandlung, 1878; Neudruck New York: Arno Press, 1980; hier Bd. 5, S. 39. 14 frappierenden Gemeinsamkeiten geprägte Auslegung biblischer Erzählungen. Das Paradigma, welches jüdische Gelehrte auf den Islam anwendeten, war dennoch nicht annähernd mit dem weitläufigen und umfassenden Ansatz Shahab Ahmeds zu vergleichen; wie andere europäische Philologen fokussierten die jüdischen Forscher auf frühe islamische Texte und definierten den Islam im Einklang mit ihren eigenen Lehren. Abschlägige Befunde über den zeitgenössischen Islam wurden ausnahmslos mit herabwürdigenden Urteilen über die jüdische Religion ihrer Zeit verbunden. Beide Religionen bedurften demnach der Reform von religiösen Praktiken, Bildungsmöglichkeiten und letztlich einer umfassenderen Integration in die (christliche) europäische Kultur. Insbesondere jüdische Gelehrte der frühen Generationen tendierten dazu, Facetten des Islam zu ignorieren, die s18ie im Judentum für belanglos hielten: Apokalyptik, Mystizismus, Pietismus; und, übertragen auf den Islam: das Schiitentum und den Sufismus. Aus jüdischer Perspektive wurde der Islam als rationale, anikonische (bildlose) und streng monotheistische Religion betrachtet, die einen aufrichtigen Glauben an göttliche Prophetie bezeugte und von einem ethisch-religiösen Gesetz bestimmt wurde. Für Ahmed ist es gerade diese Engführung und Befangenheit der europäischen Islamforschung, die eine unheimliche Nähe zwischen zeitgenössischem

Reuchlin18 und seine Erben: Forscher, Denker, Ideologen und Spinner Peter Schäfer, »›Adversus Cabbalam‹ oder Heinrich Graetz und die jüdische Mystik«, in: , hrsg. von Peter Schäfer und Irina Wandrey, Ostfildern: Thorbecke, 2005, S. 189–210. 15 salafistischem Dogmatismus und europäischem Orientalismus verdeutlicht. Suzanne Marchand argumentiert, dass deutsche Orientalisten ihre Forschung vor allem mit dem Ansinnen betrieben, ihre eig19ene religiöse Geschichte – die des Christentums – besser zu verstehen. Aber auch jüdische Forscher waren durch theologische Bekenntnisse und Fragen motiviert. Auch wenn die jüdischen Studenten in die Orientalistik strömten, blieben die Islamforscher innerhalb des Faches weiterhin eine Minderheit, da christliche Gelehrte stärker20 an Indien oder dem antiken Vorderen Orient interessiert waren. Was aber motivierte dieses jüdische Interesse am Islam? Die jüdische Islamforschung in den Blick zu nehmen, bedeutet unser Verständnis von der Wissenschaft des Judentums, einer der bedeutendsten intellektuellen Bewegungen des 19. Jahrhunderts, zu erweitern. Indem sie nämlich über den Islam schrieben, waren die Juden in der Lage, das Judentum zu erforschen und gleichzeitig eine Basis für eine jüdische Identität zu legen, die außerhalb des Bereichs religiöser Glaubensmotive und -praktiken vermutet wurde. Ob es sich nun um Studien über spezifische Themen der jüdischen Geschichte oder um größere Narrative jüdischer Erfahrung handelte, diese Forscher beschritten den Weg zu einer neuen Definition jüdischer Identität. Ihre historisierende Denkart jüdischer Identität muss als zweigleisig verstanden werden: Sie beschrieben

German Orientalism in the Age of Empire 19 Suzanne Marchand, , New York: Cambridge University Press, 2009. 20 Das Islamstudium war in den großen wissenschaftlichen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts von nachrangigem Interesse, was man u. a. an den von ihnen begründeten Zeitschriften ablesen kann: Société asiatique (1822), The Royal Asiatic Society of Great Britain and Ireland (1823), The American Oriental Society (1842) und die Deutsche Morgenländische Gesellschaft (1845). 16 die leidvolle Geschichte der Juden, betonten Verfolgung und Leid durch die Generationen hindurch, und doch legten sie gleichzeitig den Grundstein für eine selbstbewusste Darstellung des jüdischen Beitrags zur westlichen Zivilisation; ein Beitrag, der vor allem in der Heiligen Schrift und dem biblischen Monotheismus bestand, wodurch letztlich das Christentum und der Islam als »Tochterreligionen« des Judentums erschienen. Die Anhänger der Wissenschaft des Judentums konzentrierten ihre Anstrengungen auf das Produktive der jüdischen Geschichtsdarstellungen und vernachlässigten die bedeutsamen Beiträge jüdischer Historiker bei der Erforschung anderer Religionen wie dem Islam, Christentum und Zoroastrismus. Da sie andere Felder bestellten, sind jüdische Forscher, die sich der Erforschung des jüdischen Einflusses auf andere Religionen und der Parallelen zwischen ihnen verschrieben hatten, im Allgemeinen aus dem Kanon der Wissenschaft des Judentums herausgefallen. Und dennoch erforschten jüdische Gelehrte, die sich dem Islam widmeten, auch das Judentum. Die unheimliche Erfahrung, jüdische Lehren inmitten islamischer Texte zu entdecken, bedeutete zugleich, dass die Philologie gewissermaßen den Islam in ein Archiv der jüdischen Geschichte überführte. Die Tatsache, dass Muhammad von den Rabbinern in Arabien gelernt hatte, bedeutete nichts anderes, als dass der Koran Auskunft geben konnte über

17 das lokale Judentum seiner Zeit, auch wenn bereits Geiger zu dem Schluss gekomm21en war, dass die arabischen Juden nicht gerade gut gebildet waren. Für jüdische Gelehrte repräsentierte der Islam eine Art multifunktionale Schablone. Durch die Erläuterung des islamischen Monotheismus, die Ablehnung jeglicher Form von Anthropomorphismus und die strikte Verpflichtung gegenüber den religiösen Gesetzen definierten jüdische Gelehrte gleichzeitig auch die religiöse Identität des Judentums. Für einige Juden war die Verteidigung des Islam eine willkommene Gelegenheit, gegen das Christentum zu polemisieren, insbesondere gegen seine christologischen Doktrinen und die Dreifaltigkeitsvorstellung. Methoden, die für die Analyse des Koran und der Hadith-Literatur entwickelt wurden, konnten sie auch für die Analyse rabbinischer Texte heranziehen – und umgekehrt. Das jüdische Bild eines rationalen Islam war letztlich auch ein Mittel zur Entorientalisierung des Judentums. Die Identifikation von Judentum und Islam konnte naturgemäß positiv und negativ ausfallen: positiv als die Verteidigung einer Partnerschaft verwandter Religionsgemeinschaften; negativ als die jüdische Weigerung, die Eigenständigkeit des Islam anzuerkennen oder auch als Bezichtigung, dieser nehme eine ablehnende Haltung zum Judentum ein. Die eingehendere Beschäftigung mit der jüdischen Forschung erlaubt ein differenzierteres Verständnis

Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen? 21 Geiger, , op. cit., S. 9–10. 18 der Orientalismen, die Said beschrieben hat. Der Orientalismus umfasste mehr als die Funktionalisierung der Wissenschaft für imperiale Interessen; es handelte sich eher um eine komplexe Dreiecksbeziehung, die jüdische und christliche, aber auch muslimische Gelehrte einbezog. Während des 19. Jahrhunderts kamen viele Gelehrte aus dem Nahen und Mittleren Osten – Muslime, Christen und Agnostiker – nach Europa, um die dort entwickelten wissenschaftlichen Methoden zu studieren. Ahmad Faris al- Shidyaq (Libanon, 1804–1886), Rifaʿa al-Ṭahṭāwī (Ägypten, 1801–1873), Francis Marrash (Syrien, 1836–1886) und Muhammad ʿAbduh (Ägypten, 1849–1905) waren einige der prominenten arabischen Intellektuellen, die im 19. Jahrhundert mit der europäischen Wissenschaft in Austausch traten. Der Historiker Ian Coller spricht in diesem Zusammenhang mit der intellektuellen und kulturellen Vitalität der arabischen Gemeinde im 22 Frankreich des 19. Jahrhunderts gar von einem »arabischen Frankreich.« Napoleons Ägyptenfeldzug war keine Einbahnstraße gewesen, und die Araber, die mit ihm nach Frankreich kamen, viele von ihnen Christen, manche Muslime und einige Juden, waren bei weitem keine abgekapselte Gemeinschaft, sondern standen insbesondere in Paris und Marseille in regem Kontakt mit französischen Christen. Leider lässt Collers Studie die oben genannte »Dreiecksbeziehung« weitgehend unbeachtet: In welchem

Arab France: Islam and the Making of Modern Europe, 1798–1831 22 Vgl. Ian Coller, , Berkeley: University of California Press, 2011. 19

Maße bedingten französische Debatten über die Emanzipation der Juden das Araberbild, und welche Rolle spielten jüdische Intellektuelle vor Ort wie etwa Gustav Weil, der zu dieser Zeit bei Silvestre de Sacy Arabisch studierte? Collers Studie bricht im Jahr 1831 ab, als das jüdische Interesse am Islam in Frankreich mit der Ankunft Salomon Munks (1803–1867) und Joseph Derenbourgs (1811–1895) aus Deutschland, die sich mit der jüdischen Ideengeschichte des Mittelalters und der Antike befassten, gerade zu erblühen begann. Hinzu kam Albin de Biberstein (Albert Kazimirski, 1808–1887) aus Polen, der später für 23seine französische Koranübersetzung (1840) bekannt werden sollte. Die vielfältigen Beziehungen, die sich zwischen jüdischen und muslimischen Intellektuellen bildeten, sind noch nicht aufgezeigt worden; und dennoch zeigt sich bereits jetzt, dass Juden und Muslime an einer intensiven und kritischen Begegnung mit westlichen philologischen Methoden sowie mit den christlich-theologischen Grundannahmen,24 die diesen Methoden zugrunde lagen, beteiligt waren. Solche Grundannahmen sind etwa in den Werken christlicher Forscher erkennbar, die den Islam als »Mohammedanertum« bezeichneten, das heißt sie definierten den Islam allein durch seine Gründungsfigur – vergleichbar mit der Rolle Jesu für das Christentum –, obgleich sie erkannten, dass Muslime den Propheten Muhammad nicht als göttliche Instanz anbeteten.

Le Koran, traduction nouvelle faite sur le texte arabe 23 Albert Kazimirski, , Paris: Charpentier, 1840, 21841, 31844. 24 Arabica Nadia el-Bahgdadi, »The Cultural Function of Fiction: From the Bible to Libertine Literature. Historical Criticism and Social Critique in Aḥmad Fāris al-Shidyāq«, in: 46 (1999), S. 375–401. 20

Rifaʿa al-Ṭahṭāwī, ein ägyptischer Muslim, und Gustav Weil (1808–1889), ein deutscher Jude, unternahmen in den 1820er- und frühen 1830er- Jahren akademische Pilgerfahrten nach Paris, der Erstere als Imam einer ägyptischen Studentengruppe, um sich selbst dem Studium der Wissenschaften und der Ideen von Montesquieu, Voltaire oder Rousseau zu widmen, der andere, um bei dem Philologen und Arabisten Silvestre de Sacy (1758–1838), einer Autorität in seinem Fach, an der École des Langues Orientales zu studieren. Während seiner Pariser Jahre von 1826 bis 1831 freundete sich al-Ṭahṭāwī mit Joseph Élie Agoub (1795–1832) an, der neben Edmé François Jomard25 (1777–1862) stellvertretender Direktor der École Egyptienne war. Agoub unterrichtete al-Ṭahṭāwī in französischer Sprache und Kultur, al-Ṭahṭāw26ī übersetzte im Gegenzug einige von Agoubs Gedichten ins Arabische. Al-Ṭahṭāwīs27 Abhandlung über Frankreich, die im Jahr 1834 auf Arabisch erschien, stellt Ost und West gegenüber, offenbart eine orientalistische Beobachtungsweise, insbesondere in Anmerkungen über Frauen, Mode, Ästhetik und Religion. Darin gleicht al-Ṭahṭāwī seinem Zeitgenossen Gustav Weil und seiner orientalisierenden Schilderung Ägyptens. Al-Ṭahṭāwī und Weil hatten bereits mehrere Jahre mit dem Studium klassischer Texte ihrer jeweiligen Religion an der al-Azhar-Universität in Kairo bzw. der Jeschiva in Metz (Frankreich) verbracht,

25 Agoub wurde 1795 in Kairo als Sohn eines Armeniers und einer syrischen Katholikin geboren. Nach dem Tod des Vaters und der erneuten Eheschließung seiner Mutter mit einem französischägyptischen Händler verließ Agoub mit seiner Familie Kairo im Jahre 1801 mit dem Abzug der französischen Truppen. Sie kamen letztlich nach Marseille, wo er das Lycée besuchte und seine universitäre Ausbildung beginnen sollte. Später zog es ihn jedoch nach Paris, wo er als ArabischlehrerArab tätig France war und sich der wachsenden Gemeinde arabischer Intellektueller anschloss. Im Jahr 1826 wurde er schließlich stellvertretender Direktor der École Egyptienne. Vgl. Coller, , op. cit., S. 159–160. 26 Ibid., S. 174–176. 27 Aufenthalt in Paris 1826–1831 Rifāʿa al-Ṭahṭāwī, Takhlis al-Ibriz fī Talkhis Bariz (Ein Muslim entdeckt Europa. Bericht über seinen [München: Beck, 1989]), Kairo 1834/2001. 21 und ihre kritische Wertschätzung philologischer Methoden aus Europa beeinflusste auch ihre späteren Forschungsmethoden. Nach dem Studium in Paris kehrte al-Ṭahṭāwī nach Kairo zurück, wo sich zu dieser Zeit auch Weil aufhielt, der für einige Jahre bei dem ausgewiesenen ägyptischen Philologen Muhammad Ayyad al-Tantawi (1810–1861) studierte und nebenbei als Französischlehrer für Medizinstudenten arbeitete. Bereits im Jahr 1837 berief der Herrscher Ägyptens, Mehmet ʿAli (1770–1849), al- Ṭahṭāwī zum Direktor der Sprachschule in Kairo. In den 1830er-Jahren Tausendundeinemachte Weil hier Nacht auch Bekanntschaft mit dem britischen Orientalisten Edward Lane (1801–1876), der w28ie er selbst eine Übersetzung von anfertigte. Ebenso verfassten beide Reise- und Erfahrungsberichte über den Nahen und Mittleren Osten, die weite Verbreitung fanden und noch heute im Buchhandel erhältlich sind. Muslimische und jüdische Wissenschaftler an europäischen Universitäten kamen schnell zu der Einsicht, dass die Wissenschaft geprägt war von Falschdarstellungen, Missverständnissen und offener Voreingenommenheit gegenüber dem Islam und dem Judentum. So hatte zum Beispiel Geiger die Universität bereits nach einem Semester im Jahr 1829 verlassen, nachdem einer seiner Professoren, der Alttestamentler Carl Umbreit (1795–1860), sich in seinen Vorlesungen verunglimpfend über Juden geäußert hatte.

Tausend und eine Nacht. Zum ersten Male aus dem arabischen Urtext treu28 übersetzt Vgl. Gustav Weil, One Thousand and One Nights. Commonly Called, in English,, hrs theg. und Arabian mit einer Nights’ Einleitun Entertainmentsg von August Lewald, 4 Bde., : Verlag der Classiker, 1837–1841; bzw. Edward W. Lane, , 3 Bde., London: Charles Knight, 1838–1840. 22

Mitte des 19. Jahrhunderts kam Ahmad Faris al- Shidyaq über Malta nach Frankreich und England. Shidyaq ist eine der schillerndsten Figuren der modernen arabischen Ideengeschichte. Sein Leben und Wirken umspannt drei Kontinente und entzieht sich eindeutigen Klassifizierungen von Genre und religiöser Zugehörigkeit. Als katholischer Maronit im Libanon geboren, konvertierte er zum Protestantismus undsaq später ’ala saq zumEin Islam. Bein überIn Europ das a andereverfasste er mehrerEin Beine seiner über Hauptwerke, das andere zu denen seine Übersetzung der Bibel ins Arabische und vor allem sein ( ) zählen. ist ein brillanter Roman voller philologischer Spielereien, subversiv durch seine radikalen Ideen und beißende Satire gegen soziale Hierarchien und Konventionen. Mit bissiger Satire führt er auch das defizitäre Wissen und Sprachvermögen englischer Orientalisten vor, die in ihrem Studium arabischer29 Texte die Expertise muttersprachlicher Wissenschaftler ignorieren. Al-Shidyaqs geistreiche und vernichtende Kritik an den Missverständnissen, welche häufig die europäische philologische Analyse klassischer arabischer Texte bestimmten, ähnelt im Tonfall den jüdischen Kritiken christlicher Interpretationen klassischer hebräischer und rabbinischer Texte. Haskala Nahda Der Vergleich von jüdischen und muslimischen Intellektuellen und ihren modernistischen Bewegungen, und , verdient größere Aufmerksamkeit.

29 The East Reads the West: Appraisals of European Orientalism Tarek el-Ariss, from ,»Recasting China, Tradition: and the Levant Ahmad Faris al-Shidyāq and the Orientalists in England and France, 1840s–1850s«, in: , hrsg. von Susannah Heschel und Umar Ryad, New York: Routledge Press, erscheint 2018. 23

Haskala Nahda

und waren nicht nur zeitgleich lokalisierbar, sondern sie beeinflussten sich auch gegenseitig. Lital Levy redet sogar von einer »interkulturelle[n] Zirkulation von Ideen und Tropen von ›Moderne‹ und ›Aufklärung‹,30 die sowohl von der Nahda als auch der Haskala beeinflusst wurden.« Darüber hinaus glichen sich auch die aus ihnen hervorgegangenen konservativen religiösen Bewegungen in ihrer Ablehnung historischer Analysen religiöser Texte – Analysen, die für sie mit einem imperialistischen Anspruch des Westens und des Christentums in Verbindung standen. Jüdische Intellektuelle traten mit muslimischen Gelehrten in Kontakt und formulierten ähnliche Kritik an der europäischen Wissenschaft. In den 1870er-Jahren besuchte31 der jüdisch-ungarische Islamforscher Ignaz Goldziher (1850–1921) die al-Azhar-Universität in Kairo. WährendHadith seines Aufenthalts kam er mit Forschern, religiösen Reformern und 32 Politikern in Kontakt. Mehrere seiner Arbeiten über Koran und wurden später ins Arabisch33 e übersetzt und Mitte des 20. Jahrhunderts in Ägypten veröffentlicht. Josef van Ess zufolge wurden diese Übersetzungen unter34 der Anleitung von ʿAli Hassan ʿAbd al-Qadir (1900– 1990) angefertigt, der während der 30er- und 4035 er-Jahre des 20. Jahrhunderts an der al-Azhar-Universität lehrte. Goldziher stand auch in Verbindung mit Jamal al-Din al-Afghani (1838–1897) und sprang

30 Middle Eastern Literatures Lital Levy, »The Nahḍa and the Haskala: A Contemporary Reading of ›Revival‹ and ›Reform‹«, in: 16 (2013), S. 300–316, hier S. 300. 31 Im vollen Licht der Geschichte. Die Wissenschaft des Judentums und die Anfänge der Vgl. kritischen Friedrich Koranforschung Niewöhner, »Der Gefangene von Budapest. Ignaz Goldziher (1850– 1921)«, in: Vorlesungen, hrsg. übervon Dirkden IslamHartwig et al., Würzburg: Ergon, 2008, S. 131–144. 32 Muhammedanische Studien Vgl. Ignaz Goldziher, , Heidelberg: Carl Winter,Goldziher 1910, Memorial 21925; ders., , 2 Bde., Halle: Max Niemeyer, 1889–1890. Conference33 Josef van Ess, »Goldziher as a Contemporary of Islamic Reform«, in: , hrsg. von EvaThe Apor Authenticity und Istvan of TraOrmos,dition Budapest: Literature: Hungarian Discussions Academy in Modern of Sciences, 2005, S. 37–50. Egypt34 Die Richtungen der islamischen Vgl. G. H. AKoranauslegung. Juynboll, , Leiden: Brill, 1969, S. 35 ff. Zur Übersetzung von Goldzihers , Leiden: Brill, 1920, die ebenfallsDie Richtungen von ʿAbd al der-Qadir islamischen im Jahre 1944Koranauslegung mit dem Titel alJournal-madhāhib of Quranic al-islāmīyah Studies fī tafsīr al-Qurʾān angefertigt wurde, siehe Walid Saleh, »An Translation of Ignaz Goldziher’s «, in: 14 (2012), S. 201–214. 35 Ibid., S. 38. 24 ihm36 in der berüchtigten Debatte zwischen al-Afghani und Ernest Renan bei. Hintergrund war die große Empörung, mit der Juden und Muslime in den 1860er-Jahren auf die rassistischen Denkweisen reagierten, die Renan in der Semitischen Philologie und den Neutestamentarischen Studien verbreitet hatte. (1874–1931), ein deutscher Jude, der zwischen 1907 und 1914 als Professor für Arabisch an der Aligarh Universität arbeitete, suchte die Nähe zu muslimischen Forschern und politischen Anführern in Indien und unterstützte das antikoloniale Engagement von Muhammad ʿAli Jauhar (1878–1931). Max Herz (1856–1919), ein ungarischer Jude, der an der Universität Wien studiert hatte, wurde um die Jahrhundertwende mit der Aufsicht über den Wiederaufbau der Moscheen al-Azhar und al-Rifaʿi in Kairo beauftragt. Während seines Aufenthalts in Ägypten betätigte sich Herz auch als Kunstsammler; seine Sammlung37 wurde später zur Grundlage des Museums für Islamische Kunst in Kairo. Eine problematische Grundannahme der Kritiker orientalistischer Diskurse, die sich selbst bei Said findet, war die Tendenz, den Mittleren Osten pauschal als islamisch zu definieren. Der Mittlere Osten war jedoch weitaus stärker durch religiöse und ethnische Diversität gekennzeichnet als etwa Europa. Ägypten selbst war ein kosmopolitisches Reich, welches verschiedenste Glaubensgemeinschaften

Moder ne Muslime. Ernest Renan und die Geschichte der ersten Islamdebatte36 1883 Vgl. Birgit Schäbler, , Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2016. 37 Historians Vgl. Istvan in :Ormos, Essays »Preservation in Honor ofan Georged Restoration: Scanion the Methods of Max Herz Pasha, Chief Architect of the Comité de Conservation des Monuments de l’Art Arabe, 1890–Max1914«, Herz in: Pasha, 1856–1919: His Life and Career , hrsg. von Jill Edwards, Kairo: American University in Cairo Press, 2002. S. 123–153; vgl. auch Istvan Ormos, , Kairo: Institut Français d’Archéologie Orientale, 2009. 25 einschloss: Muslime, Christen wie Juden mit unterschiedlichen Denominationen; während und nach der osmanischen Herrschaft lebten in Kairo, Alexandria und anderen Städten und Dörfern des Landes Griechen, Malteser, Marokkaner, Armenier, Italiener, Türken oder Iraner. Auch Istanbul beherbergte eine Mischung aus östlichen und westlichen Einflüssen; all diese Städte waren von einer beeindruckenden Vielfalt geprägt. Symbolisch hierfür stehen Personen wie Gottlieb Leitner, dessen ungarisch-jüdische38 Eltern ihn in den 1840er-Jahren an eine Koranschule in Istanbul schickten. Ebenso wenig war der europäische Orientalismus einförmig. Er bewegte sich im Spannungsfeld christlicher, jüdischer und muslimischer Einflüsse, hinzu kam die Bedingung einer transnationalen Wissenschaft. Mehr noch, die Islamwissenschaft war nicht auf das Studium islamischer Texte begrenzt; das Interesse der Forschung galt häufig auch grundsätzlicheren Aussagen über die Natur der Religion, was für jüdische Forscher auch eine Neudefinition des jüdischen SelbstbildsHaskala und der religiösNahda en Kontexte bedeutete, in denen es sich entwickelte und ausformte. 39Jüdische und muslimische Intellektuelle der bzw. der befassten sich mit dem Anliegen einer ›Modernisierung‹ ihrer jeweiligen religiösen Traditionen und bedienten sich des europäischen Historismus des 19. Jahrhunderts als Vehikel zur Schaffung einer neuen

38 Für Jewisheine Beschreibung Writers in the des Arab intensiven East: Literature, intellektuellen History, Austauschs and the Politics zwischen of Enlightenment, Juden, Muslimen1863–1914 und Christen in den ostarabischen Ländern um die Jahrhundertwende vgl. Lital Levy, , PhD Dissertation, Berkeley: University of California, 2007. 39 Vgl. Levy, »The Nahda and the Haskala«, op. cit., S. 300–316. 26 religiösen Identität. So argumentierte etwa der Großmufti von Ägypten Muhammad ʿAbduh (1849–1905), das größte Hindernis der Wissenschaft (insbesondere für die Lehre Darwins) und der religiösen Modernisierung sei nicht der Islam, sondern gerade das Christentum. In einer ganzen Serie von Artikeln zum Thema »Wissenschaft und Zivilisation im Islam und im Christentum«, die 1904 – ein Jahr vor seinem Tod – veröffentlicht wurden, argumentierte ʿAbduh, dass die christliche Welt lange Zeit durch gewalttätig40 e Konflikte geprägt gewesen sei, die den Islam nicht tangiert hatten. Diese These ist vergleichbar mit den Überlegungen jüdischer Denker von Geiger über Samson Raphael Hirsch (1808–1888) bis hin zu Elijah Banamozegh (1822–1900), die herausstellten, das Judentum sei mit den darwinschen Theorien kompatibel, während das Christentum aufgrund seiner Dogmenlehre mit vernunftbestimmter Wissenschaft nicht in Einklang zu bringen sei. Abraham Geiger: Der Begründer eines Forschungsfeldes Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen?

Das war die Frage, die Abraham Geiger im Titel eines41 1833 erschienenen Buches stellte, das in Europa großen Anklang fand. Geiger zeigte erstmals Parallelen zwischen den Lehren des

R eading Darwin in Arabic, 1860–1950 40 Vgl. MarwWasa Elshakry,hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen?, Chicago: University of Chicago Press, 2013, S. 14–15. 41 Geiger, , op. cit. 27

Koran und der rabbinischen Literatur auf. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte noch kein christlicher Forscher daran gedacht, die textlichen Parallelen zwischen Islam und rabbinischer Literatur zu untersuchen, obwohl die mittelalterliche christliche Polemik den Islam gerne als Wiederbelebung des Judentums herabwürdigte. Geigers Buch begründete eine neue Forschungsrichtung innerhalb der Orientalistik, indem er gerade diese Parallelen aufzeigte und auf den jüdischen Einfluss bei der Ausformung des frühen Islam hinwies. Geiger, im Jahre 1810 in eine orthodoxe jüdische Familie in Frankfurt am Main hineingeboren, erhielt bereits in frühen Jahren eine solide Ausbildung in klassischer rabbinischer Literatur. Säkulare Themen oder die jüdische Geschichtsschreibung enthielt man ihm vor, da er Rabbiner werden sollte. Dennoch schrieb er sich im Jahre 1829 an der Universität Heidelberg ein, wo er erste Seminare zum Buch Hiob bei dem Alttestamentsgelehrten Carl Umbreit besuchte und von Johann Kosegarten (1792–1860) herausgegebene arabische Texte studierte. Von den Sprachkenntnissen seines Lehrers war er jedoch wenig beeindruckt. Nach eigener42 Aussage verstand Geiger arabische Texte »häufig besser als er.« Noch problematischer waren die antisemitischen Witze, die Umbreit anlässlich der Hepp-Hepp-Krawalle, die von Bayern bis ins Rheinland, von Frankfurt bis Lübeck das Land überzogen hatten, erzählte. Geiger entschloss sich

Nachgelassene Schriften 42 Abraham Geiger, , hrsg. vonDas Ludwi Buch Hiob.g Geiger, Übersetzung Bd. 5, Berlin: und Louis AuslegungGerschel, Verlagsbuchhandlung, 1878, S. 13. Friedrich Wilhelm Carl Umbreit hatte bereits Chrestmathiaseinen berühmten Arabica Hiobkommentar ex codicibus manuscriptis veröffentlicht: Parisiensibus, Gothanis et Berolinensibus collecta atque, Heidelberg: tum adscriptis Mohr vocalibus,, 1824, 1832. tum Johann additis Gottfried lexico et adnotationibusLudwig Kosegarten explunata,

, Leipzig: Vogel, 1828. 28 daher bald, Heidelberg zu verlassen und sich an der neueröffneten Universität in Bonn einzuschreiben. Die Studienerfahrung mit christlichen Theologen blieb nicht ohne Folgen und provozierte eine Reihe von kritischen Artikeln, die Geiger später veröffentlichen sollte. Die Erfahrung, die der Umzug vom jüdisch-orthodoxen Umfeld in Frankfurt in die Welt der christlichen Theologie bedeutete, ähnelte den Erlebnissen Ṭahṭāwīs in Frankreich. Beide beobachteten die Welt des christlichen Europas mit einem Gefühl der Vertrautheit, aber auch aus kritischer Distanz; sie betrachteten sie mit ironischer Bewunderung, zuweilen aber auch mit beißender Kritik. Für Geiger stellte der Islam eine Art Brücke dar, an deren Beispiel er nicht nur seine eigenen analytischen Fähigkeiten, sondern auch die Notwendigkeit guter Hebräischkenntnisse aufzeigen konnte. In seinen Augen war aber nicht nur dieses Sprachwissen wichtig für die Arbeit von Arabisten; vielmehr begriff er auch die Kenntnis jüdischer Ideengeschichte als wichtige Voraussetzung, um den Koran zu verstehen. Im 18. Jahrhundert zeichnete sich ein besonderes Interesse am Koran und eine größere Wertschätzung des Islam unter deutschen protestantischen Wissenschaftlern ab, die zu mehr Übersetzungen führten, darunter eine deutsche Übersetzung des Koran durch Friedrich Boysen, die 1760 erschien und in einer durch Samuel Wahl revidierten Auflage 1828 mit einer neuen Einleitung

29 neu aufgelegt wurde. Diese Übersetzung las Geiger zu einer Zeit, in der die Wärme, d43ie dem Islam entgegengebracht wurde, bis zur Verachtung erkaltete. Für Geiger war der Koran dabei nicht nur eine unverzichtbare Quelle, die die Anfänge des Islam dokumentierte, sondern gleichsam Zeugnis für die Entwicklungen des Judentums im Arabien des 7. Jahrhunderts. Selbst die hebräische Bibel, so argumentierte Geiger, müsse auf direktem Wege, also ohne Umweg über das Christentum, von den Juden zu Muhammad gelangt sein, da die arabischen Christen dieser Zeit das Alte Testament nicht als auf derselben Stufe der Offenbarung stehend wie das Neue Testament anerkannten: »Die Christen, ungeachtet ihrer Aufnahme des a. T. als einer heiligen Schrift und obgleich ihnen in damaliger Zeit keine Zweifel kamen, ob sie dasselbe dem n. T. in Hinsicht auf Heiligkeit und Ausfluss von der Gottheit gleich stellen sollten, wie sie die neuere Zeit (z. B. bei Schleiermacher) hervorgebracht – die Christen der damaligen Zeit, sage ich, hatten doch immerfort ein regeres Interesse an dem n. T., da es eben ihre Trennung und Selbstständigkeit ausdrückte, das a. T. ihnen mehr gemeinsam mit den Juden war, ja sie diesen gleichsam ein grösseres Eigentumsrecht darauf nicht absprechen konnten, indem die Juden es so ganz besassen und

43 Als Beispiele des Wandels von positiven zu negativen Bewertungen des Islam durch deutsche Wissenschaftler führt Alistair Hamilton die Einleitung Samuel Wahls (Professor für Orientalische Sprachen an der Universität Halle) zur 1828er Neuausgabe der erstmalig 1773 erschienenen Qur’an Übersetzung von Friedrich Boysen an sowie derenFor the Sake of Learning:Besprechungen Essays durch in Honor Johan of nAnthony David Michaelis Grafton and Johann Friedrich Hirt. Siehe Alistair Hamilton, »Lutheran Islamophiles in Eighteenth-Century «, in: , hrsg. von Ann Blair, Anja-Silvia Goeing, Leiden, Boston: Brill, 2016, S. 339–40. 30 bis in die kleinsten Theil44 e desselben eingeweiht waren, was ihnen durchaus abgieng.« Mit diesen und ähnlichen Argumenten wurde der Koran regelrecht zu einem Archiv des Judentums erklärt. Durch das Aufzeigen von Parallelen zu koranischen Passagen in Midrasch und Mischna – zum Beispiel in Sure 5:32 und Mischna Sanhedrin 4:5 –, in denen45 offensichtlich nach der Bedeutung des menschlichen Lebens gefragt wird, konnte Geiger belegen, dass Muhammad umfassende Kenntnisse der jüdischen Gesetze und der mit ihnen verbundenen ethischen Vorstellungen hatte und sogar bereit war, diese anzuerkennen. Dabei war es nach Geiger das Hauptanliegen , nicht einen neuen Gesetzeskodex aufzuzwingen, sondern neue und rein jüdisch-religiöse Vorstellungen zu verbreiten. Ähnlich sollte Geiger wenig später über Jesus argumentieren. Letztlich stellte Geiger klar, dass Muhammad als Araber dennoch nicht zu weit von den bestehenden Bräuchen und Gepflogenheiten abweichen wollte. In seinem Buch nimmt Geiger an, dass Muhammad Autor des Koran war, obgleich er die Frage der ›Schriftlichkeit‹ nicht weiter diskutiert. Geiger war durchdrungen von einem liberalen theologischen Geist, ähnlich wie der protestantische Bibelforscher Wilhelm Leberecht de Wette (1780– 1849), der das Forschungsfeld der historisch-kritischen

Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen? 44 Geiger, , op. cit., S. 95–96. 45 Sure 5:32: »Wer ein menschliches Wesen tötet, ohne (daß es) einen Mord (begangen) oder auf der ErdeDer Unheil Koran. gestifte Kommentart (hat), und so is Konkordanzt es, als ob er alle Menschen getötet hätte. Und wer es am Leben erhält, so ist es, als ob er alle Menschen am Leben erhält.« Übersetzung von Rudi Paret, , Stuttgart: Kohlhammer, 1977. 31

Bibelwissenschaft begründet hatte: Zwar sei Moses nicht Autor der Heiligen Schrift, aber ihr Rang als authentisches und wahres, für die Menschen äußerst bedeutsames Werk werde dadurch nicht angetastet. Historisch-kritische Methoden waren für Geiger unabdingbar, wobei Erkenntnis und Glaube durch ein religiöses Gefühl versöhnt wurden, wie man es wohl von einem Forscher erwarten kann, der Schleiermachers Theologie nahestand. Geiger porträtiert Muhammad durchweg in einer Sprache, die für seine Zeit verhältnismäßig einfühlsam war. Muhammad war für ihn kein Betrüger oder Verführer, sondern das Produkt seines gesellschaftlichen Kontexts. Hinzu kam sein politisches Geschick und der Wunsch, einen monotheistischen Glauben zu verbreiten – keinesfalls jedoch, um eine neue Religion zu begründen. Geigers Argument bezog sich nicht nur auf die Art und Weise, in der Muhammad den Koran verfasste, mit dem er seine eigene Führungsposition festigen wollte, sondern sie betraf gleichermaßen die Weitergabe jüdischer Gelehrsamkeit. Hier zeigt sich, dass Geiger seiner Zeit weit voraus war: Er nimmt die politische Intention des Texts wahr, ohne die zugrundeliegende religiöse Motivation und die aufrichtige Frömmigkeit zu verwerfen. So argumentiert er etwa, dass Muhammad ein talmudisches Postulat (Bavli Sanhedrin 104a) verwirft, nach dem »der Sohn Verdienste für den Vater erwirbt, aber der Vater nicht für seinen Sohn.«

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Dagegen habe Muhammad gelehrt, so Geiger, dass die Nachfahren den Vorfahren Anerkennung schuldeten, »zekhut avot« (Verdienst der Väter), und nahm som46 it an, Muhammad habe Abraham als Prototyp seiner selbst geschaffen: als öffentlichen Prediger, der Menschen bekehrte, vorbildliche Frömmigkeit verkörperte,47 den Monotheismus begründete, Botschaften von Gott erhielt, etc. Auch Noah erscheint im Koran als Vorbild für den Propheten, der – den Argumentationsweisen der rabbinischen Literatur folgend – die Sünder ermahnt. So schreibt Geiger: »Sein ganzes Auftreten als Mahner und Verkünder ist nicht biblisch, aber rabbinisch, und dient Mohammed vorzüglich48 für seine Zwecke, da Noah so gleichsam ein Vorbild seiner selbst ist.« Die Verspottung der Arche Noah in Sure 11:40[38] entspricht dem Bericht in Midrasch Tanḥuma und der Aussage in Sure 11:24: »Die Wasser der Fluth waren heiss / und der Ofen brodelte«. Ähnliche Zeilen 49finden sich im Talmud (Babli Zevaḥim 113b und Babli Sanhedrin 108a). Gleichzeitig kann Geiger belegen, dass die Rabbinen der Antike nicht in einem Ghetto lebten und ihre Lehren nicht ausschließlich an Juden gerichtet waren, sondern dass s50ie sie im Gegenteil gerne mit heidnischen Arabern zu teilen bereit waren. Für Geiger, der zu einer der führenden Gestalten der jüdischen Reformbewegung avancieren sollte, war die Heilige Schrift nicht als Abbild von Gottes Wort bedeutsam, sondern weil sie über Jahrhunderte

Aspects of Rabbini c Theology 46 Salomon Schechter, , New York: Schocken, 1961, S. 170 f; sowie Angelika Neuwirth,Genealogie »Eine ›religiöse und Migr Mutationationsmythen der Spätantike‹: im antiken Von Mittelmeerraum tribaler undGenealogie auf der zuarabischenm Gottesbund. Halbinsel Koranische Refigurationen pagan-arabischer Ideale nach biblischen Modellen«, in: Was hat Mohammed aus, hrs demg. vonJudenthume Almut-Barbaraufgenommen?a Renger und Isabel Toral- Niehoff, Berlin: Edition Topoi, 2014, S. 203–232. 47 Geiger, , op. cit., S. 121 f. 48 Ibid., S. 110. 49 Der Koran als Text der Spätantike Ibid., S. 110 f. 50 Vgl. Angelika Neuwirth, , Berlin: Verlag der Weltreligionen, 2010, S. 76. 33 enormen religiösen Einfluss ausgeübt hatte. Der zeitgenössische Arabist und Koranforscher Nicolai Sinai liegt ohne Zweifel richtig mit der Annahme, Geiger stelle den Koranautor Muhammad als Taktiker dar, der mit der Niederschrift seines Texts die Gründung einer51 neuen religiösen Gemeinschaft mit formbaren Anhängern im Sinn hatte. Reimund Leicht liegt richtig damit, dass der Koran, so wie er in Geigers Arbeiten repräsentiert wird, eher als52 Empfängermedium zu verstehen ist denn als Quelle von Tradition(en). Geiger bringt dies offen zum Ausdruck, wenn er schreibt: »Die Entstehung des Islam enthüllt uns ein Stück jüdischer Geschichte, das53 ohne denselben uns ganz und gar verborgen geblieben wäre«. Im breiteren Kontext der modernen jüdischen Geistesgeschichte ist bemerkenswert, dass Geigers Hauptinteresse gerade darin lag, die intime Beziehung zwischen Judentum und Islam und den lebendigen Einfluss jüdischer Glaubensmotive und - praktiken nachzuzeichnen. Sein Ziel war es, den Beweis zu erbringen, dass das Judentum nicht nur ein Nebenschauplatz der Geschichte, sondern ein Herzstück der westlichen Zivilisation darstellte, aus dem sich der Islam, das Christentum, die Bibel und der Monotheismus entwickelt hatten. Sogar die Religion an sich, wie es Geiger später in verschiedenen Vorträgen (1860) formulieren sollte, sei aus dem Judentum hervorgegangen. Sein Buch hielt die spannende

51 Im vollen Licht der Geschichte Vgl. Nicolai Sinai, »Orientalism, Authorship, and the Onset of Revelation: Abraham Geiger and Theodor Nöldeke on Muhammad and the Qur’an«, in: , hrsg. von Hartwig et al., op. cit., S. 145–156. 52 Im vollen Licht der Geschichte Vgl. Reimund Leicht,Das »DasJudentum Schriftlichkeitsgebo und seine Geschichte,t bei Darlehensverträgen in vierunddreißig Vorlesungen im Koran (Sure 2:282)«, in: , hrsg. von Hartwig et al., op. cit., S. 203–222. 53 Abraham Geiger, , Breslau: Jacobson, 21910, S. 217. 34

Erkenntnis bereit, dass sich sein eigener Glaube – das Judentum, das im christlichen Europa häufig verachtet wurde – im Islam widerspiegelte. Damit unterstrich es den kulturellen Einfluss des Judentums. In späteren Jahren entwickelte Geiger vergleichbare Argumente in Hinblick auf die Evangelien und das christliche Schrifttum insgesamt. So argumentierte er beispielsweise, Jesus sei ein ›einfacher‹ Rabbiner gewesen, der wenig Neues zu berichten hatte und keineswegs die Begründung einer neuen Religion im Sinn gehabt habe; erst Paulus sei als Begründer des Christentums anzusehen, da er, so Geiger in seiner protosoziologischen Analyse, die Lehren Jesu unter den griechisch-römischen Heiden verbreitete. Im Gegensatz dazu sei der Islam stets loyal zu den Lehren des Judentums geblieben, wenngleich er einige ihrer Praktiken verändert habe. Im Großen und Ganzen habe er aber den Respekt gegenüber seiner jüdischen theologischen »Mutter« beibehalten, was man dem Christentum nicht attestieren könne. Gustav Weil: Vom jüdischen Lehrhaus (Yeshiva) nach Kairo und von Kairo zur deutschen Professur

Geiger verbrachte ein Semester an der Universität Heidelberg (1829), bevor er an die Universität Bonn wechselte, um bei Georg Wilhelm Freytag

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(1788–1861) zu studieren. Sein Heidelberger Kommilitone Gustav Weil (1808–1889), der ebenfalls aus einer orthodoxen und religiösen jüdischen Familie stammte, sollte federführend werden bei der Begründung der Islamstudien. Geboren in Sulzburg, einem kleinen Dorf in Baden, wurde Weil bereits im zarten Alter von zwölf Jahren in die Yeshiva im französischen Metz geschickt, die von seinem Großvater geleitet wurde. Nach acht Jahren schrieb er sich an der Universität Heidelberg ein, wo er Arabisch studierte. Schon zwei Jahre später zog es ihn nach Paris, um bei dem seinerzeit führenden Arabisten Europas, Silvestre de Sacy (1758– 1838), zu studieren. Bereits nach einem Jahr schloss er sich dem französischen Expeditionskorps an, das ihn zunächst nach Algier und dann nach Kairo führte, wo er letztlich für weitere vier Jahre verblieb und Persisch, Türkisch und Arabisch bei dem ausgewiesenen Philologen Muhammad54 Ayyad al-Tantawi (1810–1861) an der al-Azhar-Universität studierte. In den späten 1820erund frühen 1830er-Jahren hatte Kairo etwa 250.000 Einwohner, einschließlich einer kleinen Gemeinschaft von europäischen Forschern, darunter auch einige Ägyptologen aus England: Gardner Wilkinson (1797–1875), Robert Hay (1799–1863), James Burton (1788– 1862) und Joseph Bonomi (1796–1878). Weil war einer von mehreren Europäern, die in dieser Zeit bei al-Tantawi studierten; mit einem seiner Studienkollegen, dem

54 Zu al-Ṭanṭawīs bemerkenswerter Karriere – er lehrte ab 1840 auch 10 Jahre in St. Petersburg – und seinem großen Einfluss auf die Entwicklung Frontiersder arabischen of Ottoman PhilologieStudies: Stat siehee, Province, Svetlana and Kirillina, the West »Arab Scholars from the Ottoman Empire in Russian Universities in the Nineteenth and Early Twentieth Century«, in: , Bd. 2, hrsg. von Colin Imber, Keiko Kiyotaki und Rhoads Murphey, London: I. B. Tauris, 2005, S. 165–178. 36 britischen Orientalisten und Arabisten Edward Lane (1801–1876), Tausendundeinefreundete er sich Nacht bald an. Die Aufenthalte in ÄgyptenAn (1825 Account–28 of und the 1832– Manners35) inspirier andten Customs Lane nebof theen Modern der bereits Egyptians erwähnten Übersetzung von zu dem vielgelesenen Werk An55 Arabic-English Lexicon (1836), außerdem verfasste er das mehrbändig56 e arabische Wörterbuch (1863–1893). Weils Schriften sind Zeugnisse eines leidenschaftlichen und brillanten Denkers. In Kairo verdiente er seinen Lebensunterhalt als Autor von Erfahrungsberichten, die in deutschen Zeitschriften publiziert wurden und ein eindrucksvolles jüdisches Orient-Reisetagebuch ergaben. Er berichtete über die dramatischen politischen, sozialen und kulturellen Veränderungen unter Mehmet Ali (1769–1849), einem geborenen Albaner und osmanischen Offizier, der sich nach dem Scheitern der französischen Besatzung 1805 als Herrscher Ägyptens durchsetzte. In Deutschland interessierte man sich vor allem für Weils Berichte über die politischen Entwicklungen im Osmanischen Reich. Weil hielt aber auch seine persönlichen Erfahrungen in Ägypten (und später der Türkei) fest, wobei er der orientinteressierten deutschen Leserschaft sein Alltagsleben und seine jugendlichen Eskapaden darlegte. Die Leserschaft der beiden Zeitschriften, in denen Weils Berichte erschienen, die Augsburger Allgemeine Zeitung und das Morgenblatt

Arabic - English Lexicon 55 Vgl. Edward W. Lane, An Account of the Manners, 8 Bde., and London:Customs Williamsof the Modern and Norgate, Egyptians, 1863–1893 [Bde. 5–8 wurden von Stanley Lane-Poole bearbeitet]. Written56 in Egypt during the years 1825, ’26, ’27 and ’28 Vgl. Edward W. Lane, , 2 Bde., London: Charles Knight, 1836. 37 für gebildete Stände, stammte hauptsächlich aus der intellektuellen Mittelklasse; neben liberalen und/oder nationalen Anschauung57 en einte sie vor allem ein ausgeprägtes Interesse am Weltgeschehen. Weils Berichte zeichneten sich durch eine kritische Sicht auf das ägyptische Bildungssystem aus, das den europäischen Strukturen unterlegen sei. Zugleich artikulierte er eine aus seiner Sicht erforderliche Reform des Islam, wobei er häufig Parallelen zum Judentum zog. »Auch die mohammedanische Religion ist einer Verfeinerung und Vergeistigung fähig, und man sieht nicht ein, warum nicht einst der Islamismus sowohl, als der aufgeklärte Judaismus sich dem Christentum freundschaftlich anschließen könnten. Wie der gebildete Teil der europäischen Israeliten, je mehr er an der allgemeinen Kultur Teil nahm, dem orthodoxen Rabbinismus Feind wurde, so werden auch bald die Mohammedaner, wenn sie sich einmal aus ihrer krassen Ignoranz emporgerungen haben, die Elemente in ihrem Koran, welche sich auf gewisse Verhältnisse, auf einen bestimmten Zustand des Volks beziehen, von dem ewig58 wahren, keiner Veränderung unterworfenen Teil desselben scheiden.«

Young Germany, Young Ireland, and the »Augsburger Allgemeine 57Zeitung«: Different perspectives of nationalism. S. Brigitte Anton, Doctoral dissertation,Religion Belfast: Compass Queens University Press, 1997. Siehe auch Ruchama Johnston-Bloom, »Jews, , and Bildung: The German-Jewish Orientalist Gustav Weil in Egypt«, in: 8/2 (2014), S. 49–59. 58 Morgenblatt 205; 27. August 1832, S. 820. 38

Gleichzeitig kritisierte Weil die Nachahmung christlicher Verhaltensweisen, die er bei Juden und Muslimen beobachtete; westliche Kleidung und Essgewohnheiten standen nach seiner Vorstellung nicht für die religiöse Reform, die er als so dringlich erforderlich erachtete. Stattdessen bedürfe es philosophischer und pädagogischer Anstrengungen, doch die ausgeprägte Frömmigkeit der Muslime, die, so Weil, bei diesen viel tiefer verankert sei als bei Christen und Juden, mache sie weitaus weniger zugänglich für Reformen. Er schloss sich der langen Tradition europäisch-jüdischer Darstellungen jüdischer Glaubensgenossen in muslimischen Gesellschaften an: Er betrachtete diese Juden aufgrund ihrer Anpassung an muslimische Verhaltensregeln als rückständig und primitiv. Dennoch waren Ägypten und die Türkei in Weils Beschreibungen Länder voller Exotik und Verlockung, obwohl er sie teilweise als abstoßend empfand. Dabei verhielt er sich wie viele andere europäische Orientreisende: Er trug einheimische Kleidung, ritt auf Kamelen und rauchte Opium. Manchmal sehnte Weil sich während seines Ägyptenaufenthalts zurück nach Europa, doch schon in der Türkei begann er, Ägypten als vermeintlich authentischeren Orient zu idealisieren. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland wurde Weil an der Universität Tübingen promoviert und ließ sich anschließend in Heidelberg nieder. Dort versuchte Weil auch eine Professur zu erlangen,

39 was ihm aber zunächst verwehrt blieb. Stattdessen erhielt er eine Anstellung als Bibliotheksassistent und unterrichtete parallel Persisch, Arabisch, Türkisch und gelegentlich auch Hebräisch. Sein wiederholtes Ersuchen nach einer Professur wurde von der Universität Heidelberg mit der Begründung abgewiesen, dass er »mosaischer Überzeugung« sei und die Taufe abgelehnt habe. 59 Weil verfolgte seine Karriere als einer der »einsamen Orientalisten« , wie Suzanne Marchand diese Generation von Islamwissenschaftlern charakterisiert hat. Seine Forschung betrieb er auf einem Gebiet, auf dem praktische Verwertbarkeit keine Rolle spielte, da Deutschland zu dieser Zeit noch keine Kolonien mit muslimischer Bevölkerung besaß. Es war von Philologen dominiert, die eher auf die griechische Klassik als auf den Orient fokussiert waren. Als Jude an einer deutschen Universität hatte Weil einen zusätzlichen Nachteil, da Juden Professuren grundsätzlich verwehrt waren und die Judaistik noch nicht als eigenes Forschungsfeld anerkannt war. Als Außenseiter im Hochschulwesen erarbeitete Weil innovative und gewagte Forschungsergebnisse, die für die nachfolgenden Generationen von IslamwissenschaftlerInnen von wegweisender Bedeutung waren. Dank behördlicher Intervention wurde Weil schließlich im Jahr 1861, im fortgeschrittenen Alter von 51 Jahren, doch zum Professor für Orientalische Studien ernannt. Die Berufung »befreite ihn von der Sklaverei

German Orientalism in the Age of Empire 59 Vgl. Marchand, , op. cit., S. 102–156. 40

60 des Bibliothekdienstes.«61 Er war damit der erste Jude überhaupt, der eine solche Position erlangte. Zugleich war sein Lehrstuhl das erste Ordinariat für orientalische Sprachen. Weil war ein Pionier der Forschung seiner Zeit, der als Bibliothekar nur über ein bescheidenes Einkommen verfügte. Während Geiger sich von den Islamstudien schließlich abwandte und sich verstärkt der jüdischen Geschichte und der Erforschung des frühen Christentums widmete, blieb Weil seiner Disziplin treu und wurde zu einem ihrer produktivsten Forscher im 19. Jahrhundert. Sein wissenschaftliches Werk sollte später europaweite Anerkennung erfahren.

Weils Veröffentlichungen waren grundlegend und wegweisend:62 1843 veröffentlichte er die Biographie »Muhammed der «. Sie war die erste Darstellung dieser Art aus der Feder eines westlichen Gelehrten, die sich an islamischen Quellen, vor allem an der63 Biographie des Propheten von Ibn Hisham’s nach orientierte. Spätere Biographien Muhammads des 19. Jahrhunderts zeichneten meist ein fragwürdiges Gesamtbild, so etwa das 1861 erschienene mehrbändige Werk »Das Leben und die Lehre des Mohammad64 « des österreichischen Forschers Alois Sprenger (1813–1893). Hier wird Muhammad als Epileptiker 65 beschrieben, der an Halluzinationen und hysterischen Anfällen litt – eine Darstellung, die bis ins 20. Jahrhundert insbesondere von der protestantisch geprägten Heidelberger Professoren aus dem 19. Jahrhundert 60 Adalbert Merx, , Heidelberg: Carl Winter, 1903, S. 58. 61 Unterlagen, die Weils Anstrengungen um eine Professur dokumentieren, sind in den Archiven der UniversitätMuhammad Heidelberg der Prophet. erhalten. Sei Philosophischen Leben und seine Fakultät Lehre H-IV 102/40 (Stand: September 2011). 62 Vgl. Gustav Weil, Das Leben Mohammeds nach Muhammed Ibn, Stuttgart: Ishâk bearbeitet J. B. Metzler, 1843. von63 Abd elMalik Ibn Hischâm Method Gustav and Weil Theory (Übersetzer): in the Study of Islamic Origins Das Leben. Stuttgart: und die Verla Lehreg derdes Mohammad,J. B. Metzler, nach1864. bisher Vgl. Herbert grösstenteils Berg, , Leiden, Boston: Brill Publishers, 2003. unbenutzten64 Quellen bearbeitet Vgl. Alois Sprenger, , 3 Bde., Berlin: Nicolai’sche Verlagsbuchhandlung, 1861– 1865. 65 Vgl. ibid., Bd. 1, S. 313 f.: »Glühender Enthusiasmus gepaart mit gemeiner Schlauheit, reine Aufopferung für den höhern Zweck mit niedriger Selbstsucht, Nachgiebigkeit, ja Abhängigkeit von andern mit Zähigkeit und Hinterlist, und Hingebung mit Verrath; dies sind einige der widersprechenden psychischen Symptome der Krankheit, an der Moḥammad litt.« 41 deutschen Wissenschaft häufig aufgegriffen wurde. Beinahe auf jeder Seite seiner Schrift wiederholt Sprenger den Vorwurf der Falschheit des Islam und der degenerierten Natur der Muslime. Sowohl der englische Missionar und Orientalist (1819–1905) als auch der amerikanische (1783–1859) zitieren Gustav Weil ausgiebig in ihren Biographien des Propheten Muhammad, wobei sie jedoch weitaus größeres66 Augenmerk auf die psychologische Betrachtung des Propheten legen. Überdies enthält Weils Buch eine Reihe von Polemiken und Warnungen, die an europäische Gelehrte gerichtet waren, die die islamischen Texte fehlinterpretierten und über das Prophetenleben phantasierten; gleichzeitig sprach er sich gegen eine Mythologisierung des Propheten aus, wie sie bereits in den frühesten islamischen Texten vorgenommen wurde. Erklärtes Ziel Weils war es, selbst »die Ideenund Lebensgeschich67 te dieses außerordentlichen Mannes und seiner Lehre [zu] schreiben«.

Weils Biographie war die erste68 Darstellung des Lebens Muhammads aus europäischer Feder seit 1732 und kam der kritischen Ausgabe der Biographie Ibn Ishaqs zuvor,69 die erst 1858 von Ferdinand Wüstenfeld herausgegeben wurde. Bernard Lewis ist voll des Lobes für Weils Arbeit: »Im Jahr 1843 veröffentlichte er sein erstes größeres Werk über das Leben und die Lehre des

The Life of Mahomet and 66 Mahomet and His Successors William Muir, , 4 Bde., London: Smith, Elder & Co. 1856Muhammad–1861; Washington der Prophet Irving, , New York: George P. Putman, 1849. 67 Weil, , op. cit., S. xiv. 68 La vie de Mahomet 1732 veröffentlichte Jean Gagnier (1670–1740), französischer Orientalist an der Universität Oxford, seine BiographieDas Leben des MuhammedsPropheten. Vgl. nach Jean Muhammad Gagnier, Ibn Ishaq, , Amsterdam: Wetsteins & Smith, 1732. bearbeitet69 von Abd el-Malik Ibn Hischam Vgl. Ferdinand Wüstenfeld, . Aus Handschriften zu Berlin, Leipzig, Gotha und Leyden, Göttingen: Dieterichsche Universitäts-Buchhandlung, 1858. 42

Propheten Muhammad. Es gab bereits eine Reihe von Muhammad- Biographien in Europa; Weils Darstellung war jedoch die erste, die frei war von Vorurteil und Polemik, auf profunder kritischer Kenntnis der arabischen Quellen basierte und sich durch70 eine wohlwollende Auffassung des islamischen Glaubens auszeichnete«. Was Lewis hier offensichtlich bewundert, ist die Abwesenheit jeglicher Polemik und Herabsetzung des Propheten, die in anderen europäischen Werken so verbreitet waren. Voltaire (1694–1778), Pierre Bayle (1647– 1706), Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) und viele andere hatten Muhammad als Lügner, Betrüger und Fanatiker71 beschrieben; Voltaire betitelte ihn gar als bluthungrigen Schurken. Für Goethe (1749–1832) hingegen hatte Muhammad etwas Neues in die Welt gebracht; etwas, das es vermochte, die Trennung zwischen Ost und West hinter72 sich zu lassen und eine Alternative zum Dogma der Kirche zu bieten. Für Goethe bringt der Islam nicht das Ende des Christentums, vielmehr eröffnet er die Möglichkeit seiner Verjüngung: »Die jüdische Religion wird immer einen gewissen starren Eigensinn, dabei aber auch freien Klugsinn und lebendige Tätigkeit verbreiten; die mahometanische läßt ihren Bekenner nicht aus seiner dumpfen Beschränktheit heraus, indem

Judaism 70 Islam in History: Ideas, People and Events in the Middle East Bernard Lewis, »The Pro-Islamic Jews«, in: 17 (1968), S. 391–404; erneut abgedruckt in Bernard Lewis, , Chicago: Open Court, 2002, S. 137–151, hier: S. 142. 71 Der maskierte Voltaire – Versteckte Schreibarten und Textstrategien Vgl. Cornelia des Klettke, Aufklärers »Mythisierung und Modellierung des Fanatismus in Voltaires Tragödie Mahomet«, in: , hrsg. von Cornelia KlettEncounterske und Corduwith Islamla Wöbbekning, in German Berlin: Frank & Thimme, 2015, S. 31–47. Literature72 and Culture Yomb May, »Goethe, Islam, and the Orient«, in: , hrsg.Goethe von James und Hodkinsodie arabischen und Welt James Morrison, Rochester, New York: Camden House, 2009, S. 95. Goethes Einschätzung des Islam ist äußerst wandelbar; siehe Katharina Mommsen, , Frankfurt a. M.: Insel, 1988. 43 sie, keine schweren Pflichten fordernd, ihm innerhalb derselben alles Wünschenswerte verleiht und zugleich durch Aussicht auf 73die Zukunft Tapferkeit und Religionspatriotismus einflößt und erhält.«

Weils Muhammad74 fügt sich weitestgehend mit Goethes Vorstellung vom Islam: Er sieht ihn als aufgeklärten Reformer, welcher den monotheistischen Glauben Abrahams wiederzubeleben bestrebt war, der über die Jahrhunderte hinweg durch Judenund Christentum entstellt worden war. Historisch-kritische Einleitung in den Koran Nur ein Jahr später, 1844, erschien Weils Studie zur Chronologie75 der koranischen Suren, ; es handelte sich um den ersten Versuch dieser Art von einem Historiker. Die Studie erschien zunächs76 t 1840 als Vorwort zu Ludwig Ullmanns deutscher Koranübersetzung, die erkennbar unter dem Einfluss Geigers stand, der Ullmanns Kommilitone in Bonn gewesen war. Durch die Erklärung der Organisationsstruktur der Suren wurde der Koran unweigerlich mit dem Leben Muhammads verknüpft: Tonfalländerungen und Themenwechsel innerhalb koranischer Kapitel und Passagen wurden analog zum Wandel der Persönlichkeit und seiner Zielsetzungen aufgefasst. Somit diente der Koran zugleich der Rekonstruktion der Biographie Muhammads. Die Lebensgeschichte des Propheten schien die Abfolge der Suren zu erklären, während

Goethes Werke, Bd. II, Gedichte und Epen II 73 Johann Wolfgang von Goethe, , textkritisch gelesen und kommentiert von Erich Trunz, München: C. H. Beck, 1981, S. 149. 74 Michigan Germanic Studies Vgl. Ingeborg H. Solbring, »The Theatre, Theory, and Politics: Voltaire’s Le Fanatisme ou Mahomet le prophèteHistorisch and Goethe’s-kritische Mahomet Einleitung Adaptation«, in den Koran in: 16 (1990), S. 21–43. 75 Vgl. Gustav Weil, Der Koran. Aus dem Arabischen wortgetreu, : neu übersetzt, Velhage undn & mit Klasing, 1844. erläuternden76 Anmerkungen versehen Vgl. Ludwig Ullmann, , Crefeld: Funcke, 1840. 44 die Suren einen Eindruck von Muhammads Biographie vermittelten. Geiger und Weil verband vor allem das Interesse, den größeren Kontext zu skizzieren, der die religiösen und politischen Bewegungen Arabiens einbezog und den Propheten Muhammad und seine Anhänger als Akteure innerhalb eines bestimmten geistigen Umfelds verortete. Der Text des Koran sei vom Leben und den Intentionen Muhammads getrennt worden, so argumentierte Weil, und zu dessen Lebzeiten sei keine abschließende Textversion entstanden. Muhammad sei zwar des Lesens und Schreibens nicht mächtig gewesen und habe an Epilepsie gelitten, aber sein Gefühl, dass Gott ihm Offenbarungen habe zuteilwerden lassen, sei aufrichtig gewesen, schrieb Weil. Offen blieb die Frage, warum Muhammad keine Niederschrift des Koran vor seinem Ableben hatte anfertigen lassen, insbesondere in Anbetracht des Vorwurfs, dass Christen und Juden ihre eigenen Schriften verfälscht hätten. Weil führt verschiedene Gründe dafür an, etwa Muhammads Hoffnung auf weitere Offenbarungen bis zu seinem Ableben oder auch sein andauernder Versuch, die Widersprüchlichkeiten und Probleme im Korantext aufzulösen. Letzteres Argument kann am Beispiel von Sure 4:97 gezeigt werden, wo den Blinden versichert wird, dass sie denen gleichgestellt sind, die in Glaubenskämpfen sterben. Nach Weil führten unterschiedliche Interpretationen

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Abu Bakrs und ʿUthmans zu Veränderungen der Orthographie, wodurch sich die Bedeutung des Texts verschob, während die Einteilung der Suren ohnehin kaum erklärlich sei. Geiger hatte ein Erklärungsmuster für die Surenfolge gefunden, welches er zuvor schon in der Mischna beobachtet hatte. Diese ist entsprechend der77 abnehmenden Anzahl der Kapitel strukturiert, die ein Abschnitt enthält. Abgesehen von der ersten sind die Suren des Koran ähnlich organisiert: Sie beginnen mit derjenigen mit der größten Anzahl an Versen, danach folgt Schritt für Schritt die nächst kürzere Sure. Weil nahm diese Übereinstimmung mit Geigers Untersuchung allerdings nicht zur Kenntnis und ging von einer willkürlichen Abfolge78 aus, die aus dem Verlust oder der Zerstörung von Textpassagen resultiere. In seiner grundlegenden Studie zur Surenchronologie nahm Weil an, dass die Suren in drei mekkanische und eine medinische Periode zu differenzieren seien, wobei er sich von folgenden drei Kriterien leiten ließ: (1) Verweise auf historische Begebenheiten, die auch in anderen Suren erwähnt werden; (2) Veränderungen in der Themenwahl der Suren nach der Hijra, die den Wandel von Muhammad als Reformer zu Muhammad als Gesetzgeber und Begründer einer neuen Religion markieren; und (3) Wechsel von poetischen und rhythmischen Passagen zu prosaischen Abschnitten, die inhaltlich von Gesetz und Herrschaft bestimmt sind.

Wissenschaftliche77 Zeitung für jüdische Theologie AbrahamHistorisch Geiger,-kritische »Einiges Einleitung über Plan inund den Einordnung Koran der Mishnah«, in: (1836), S. 474–492. 78 Weil, , op. cit., S. 54. 46

Ferner unternahm Weil erstmals den Versuch, Muhammads Beschreibungen der göttlichen Offenbarung in drei Gruppen einzuteilen. Zunächst, so Weil, sei Muhammad noch ein »religiöser Schwärmer« gewesen, dessen »unmittelbare Ergießungen eines übersprudelnden Inneren« Anzeichen einer79 tiefen inneren Überzeugung der göttlichen Offenbarung aufwiesen. In der zweiten mekkanischen Periode bezeichnete er Muhammad als Prophet, der dem Aberglauben der Mekkaner kritisch gegenüberstand, eine klare Vorstellung von den göttlichen Attributen und generell eine positive Einstellung gegenüber der prophetischen Tradition zeigte. Die dritte mekkanisch80 e Periode zeichnete sich nach Weil durch ein »rednerisches Talent« Muhammads aus, mit dem dieser seine Anhänger nach Medina wies, wie etwa in Sure 64:14. Die These einer Degeneration, die Weil mit der Entwicklung des Koran von poetisch inspirierter Offenbarung (Mekka) bis hin zur trockenen Diskussion über Gesetzesfragen (Medina) begründete, fügte sich in die Wissenschaftstradition des 19. Jahrhunderts: Was hier auf den Koran angewandt wurde, hatten Ernest Renan und Julius Wellhausen (1844– 1918), zwei der einflussreichsten Bibelwissenschaftler ihrer Zeit, bereits der hebräischen Bibel diagnostiziert: Ein Dekadenznarrativ, das von den Höhen 81klassischer Prophetie zur Religion der Gesetze und der Priester führte. Geschichte Als nächstes folgte Weils fünfbändige

79 Ibid., S. 59. 80 Abraham Geiger and the Jewish Jesus Ibid., S. 61–63. 81 Vgl. Susannah Heschel, , Chicago: University of Chicago Press, 1998, S. 209–213. 47 der Chalifen

, die zwischen 1846 und 1851 erschien. Sie basierte unter anderem auf den Schriften von Abu Jaʿfar Muhammad b. Jarir, eines persischen Gelehrten des 9. Jahrhunderts, und anderen islamischen Quellen, welche er in Manuskriptform 82in den Bibliotheken von Gotha, Berlin, Paris und Leiden studiert hatte – ein Vorhaben, das zu dieser Zeit mit erheblichem Aufwand verbunden war. Die Geschichte, die Weil zusammentrug, war eher eine trockene Abhandlung politischer GeschichteEntwicklung deren Chalifen als eine83 sozial- oder religionsgeschichtliche Studie,Die Geschichte wofür dersie kritisierrömischent wurde. Päpste Methodisch orientierte sich Weil bei seiner an Leopold vo84n Rankes (1795–1886) (1834–1837); eine islamwissenschaftliche Historiographietradition, an die er mit seinen Entdeckungen und Deutungen hätte anschließen können, gab es zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wie bei Weil nachzulesen ist: »[…] denn ich habe auch hier, wie es in jedem, kritischer Vorarbeiten entbehrenden und aus handschriftlichen Quellen geschöpften Werke, nothwendig ist, in den Noten, über alle neuen, oder von meinen 85 Vorgängern abweichenden Facta und Ansichten, Rechenschaft abgelegt.« Besonders charakteristisch für Weils Methode ist seine sorgfältige Quellenlektüre und das Anliegen, historische Sachverhalte zu beleuchten, die häufig

Geschichte der Chalifen 82 Gustav Weil, , 5 Bde., Heidelberg & Stuttgart, 1846–51. Historians83 of the Middle East Douglas Morton Dunhop, »Some Remarks on Weil’s History of the Caliphate«, in: Geschichte, hrsg. von der Bernard Päpste Lewis und P. M. Holt, London: Oxford University Press, 1962, S. 315–329. 84 Vgl. Leopold von Ranke, [=Die römischen Päpste, ihre Kirche und ihr Staat im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert], 3 Bde., Berlin: Duncker und Humblot, 1834–1836, 21938–1939. 85 Gustav Weil, *Geschichte der Chalifen. Nach handschriftlichen, größtentheils noch unbenützten Quellen bearbeitet, Erster Band: Vom Tode Mohammeds bis zum Untergang der Omejjaden […], Mannheim: Friedrich Bassermann, 1846, S. IV. 48 nur hagiographisch und legendenhaft überliefert waren. Sein Augenmerk liegt auf der oft blutigen politischen Geschichte der Kalifen, und dennoch wiederholt er immer wieder Berichte aus Quellen, die verdächtig mythisch erscheinen. Wenn Weil zum Beispiel über Abu Muslim al-Khurasani (etwa 728–755) berichtet, einen der Führer der Abbasidischen RevolutioAkhbar aln-duwal gegen aldie-munqati Omayaden,a zeichnet er ein Bild von Eifersucht, Frauenfeindlichkeit und Gewalt, das er offensichtlich aus dem vierbändigen Werk ʿ von al-Azdi übernomm86 en hat, welches Weil in der Gothaer Bibliothek entdeckt hatte. Weils Beiträge zur Islamforschung waren umfassender und basierten auf einer breiteren Quellenbasis als die Arbeiten Geigers, was dieser neidlos anerkannte. Anders als Geiger verwendete Weil das rabbinische Schrifttum nur sehr zurückhaltend bei seiner Korananalyse, und auch Vergleiche zwischen biblischen und koranischen Erzählungen nahmen nur begrenzten Raum ein. Er benutzt die späte mittelalterliche Midrasch-Anthologie Yalqut Schimoni und erklärt dazu, er verfüge nur über bescheidene Kenntnisse der rabbinischen Literatur – eine seltsame Aussage für jemanden, der immerhin acht Jahre in einer Yeshiva zugebracht hatte. Dennoch zitiert er Geigers Arbeiten und scheut sich nicht davor, aufgezeigte Parallelen zwischen rabbinischen und koranischen Texten zu übernehmen. Die Bedeutung Weils

86 Akhbar al-duwal al-munqati’a Der Text dieses Werks wurde jedoch erst 1972 herausgegeben, vgl. Jamal al-Din Abu l- Hasan, Ali al-Azdi Ibn Zafir, , hrsg. von André Ferré, Kairo: Institut Français d’Archéologie Orientale, 1972. 49 resultiert aber nicht nur aus seiner wegweisenden Forschung, die schon Zeitgenossen wie Theodor Nöldeke anerkannten und von Auszeichnungen aus ganz Europa bestätigt wird, sondern auch aus der Schlussfolgerung, der Islam sei eine aufgeklärte Religion: »Ein Judenthum ohne die vielen Ritual- und Ceremonialgesetze, welche nach Mohammeds Ausspruch, schon Christus aufzugeben berufen war, oder ein Christenthum ohne Trinität, ohne Kreuzigung und damit zusammenhängende Erlösung, das war der Islam, den Mohammed87 in der ersten Zeit seiner Sendung mit wahrer Begeisterung predigte.« Spätere Entwicklungen

Für Geiger als auch für Goitein, und überhaupt für die Mehrheit der jüdischen Denker, galt: Der Islam war aus dem Judentum geboren: »So lässt sich gewiss nicht zweifeln, dass, wiefern er Mittel dazu hatte und damit gegen keine seiner andern Absichten verstiess, es ihm wohl am Herzen gelegen habe, recht Vieles88 dem Judenthume zu entlehnen und seinem Korane einzuverleiben.«

Biblische Leg enden der Muselmänner. Aus arabischen Quellen zusammengetragen87 und mit jüdischen Sagen verglichen Gustav Weil, Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen?, Frankfurt a. M.: Literarische Anstalt, 1845, S. 3 f. 88 Geiger, , op. cit., S. 22. 50

Allerdings wurden daraus unterschiedliche Schlüsse gezogen. Für Geiger bezeugte der Befund, dass viele der islamischen Lehren auf jüdische Ursprünge zurückgingen, die Bedeutung des religiösen Einflusses des Judentums auf den Westen. Diese These machte er in den 1860er-Jahren noch stärker: »Die Einheit Gottes und seine Unbildlichkeit, die die Grundlage des Islam ausmachen, sind aus dem Judenthume genommen, und die ganze Darstellung der Wahrheiten ist vollständig eine jüdische. Die ganze Darstellung, die er [Muhammad] seiner Lehre gibt, ist von jüdischer Färbung, er belegt seine Lehre mit Beispielen aus der jüdischen Bibel, aus der jüdischen Geschichte. […] So ist das Judentum, wenn auch nicht die Mutter des Islam, wie es die des Christentums ist, doch seine Amme, die ihn mit ihren besten Säften und Kräften nährte,89 doch seine Lehrerin, welche den Schüler ausstattete und gross zog.« Andere jüdische Forscher beschworen den Einfluss des Judentums auf den Islam, um dessen mangelnde Originalität hervorzuheben. So hält etwa der deutsch-jüdische Historiker Heinrich Graetz in seiner elfbändigen Geschichte der Juden, die zwischen 1853 und 1878 veröffentlicht wurde, fest:

»Das Beste,90 was der Koran enthält, ist der Bibel oder dem Talmud entlehnt.«

Das Judentum und seine Geschichte 89 Geschichte der Juden: von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart, Bd. Geiger, , op. cit., S 221. 5:90 Geschichte der Juden vom Abschluß des Talmuds (500) bis zum Aufblühen der jüdisch- spanischen Heinrich KulturGraetz, (1027)

, 4. verb. und erg. Auflage, Leipzig: Leiner, 1909 [^1861]:, S. 102. 51

Insgesamt beruhte das historische Interesse vor allem auf der Frage, wie Muslime die Juden im Laufe der Jahrhunderte behandelt hatten. Graetz schrieb dazu, dass obgleich das Judentum den Islam inspiriert habe und Muslime ihm einen Lebensraum bereitgestellt hätten, in dem die jüdische Kultur zum Erblühen kam, der Islam neben dem Christentum der größte Feind der Juden bliebe: »Das Judentum bekam an dem Islam, den es an seiner Brust genährt hatte, einen zweiten mächtigen Feind. Der Koran wurde das Grundbuch für einen grossen Teil der Menschheit in drei Erdteilen, und da er von gehässigen Aussprüchen gegen die Söhne des Judentums gefüllt ist, so erzog er die mohammedanischen Völker,91 wie die Evangelien die christlichen, zum Hasse gegen dieselben.« Ein Jahrhundert nach Graetz traf Goitein seine vielzitierte Aussage, der Islam habe das Judentum »vor dem Untergang bewahrt«; und auch Goitein war überzeugt, dass der Islam aus dem Judentum entstanden sei: »Es wäre sicherlich richtig zu sagen, dass der Islam in weiten Teilen nichts anderes ist, als ein Judentum in arabischer Form. […] Die gesamte religiöse Typisierung des Islam als eine Gesetzesreligion lässt erkennen, dass er nichts anderes

Geschichte der Juden 91 Graetz, Orient als Grenzbereich?, op. cit., S. 118. Rabbinisches Eine eingehende und ausserrabbinisches Erörterung dieses Judentum Problems bietet Klaus Herrmann, »Das Bild des Islam im Reformjudentum des 19. und 20. Jahrhunderts«, in: , hrsg. von Annelies Kuyt und Gerold Necker, Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 2007, S. 217–247. 52

92 ist als eine Reflektion und Erweiterung des Judentums.« Von jüdischer Seite beurteilte man den Islam allerdings nicht durchgehend positiv. Ein BeispielDie Religion ist der des deutsch Geistes -jüdische Philosoph Salomon Formstecher (1808–1889), der die Thematik in seinem 1841 erschienenen Hauptwerk aufgriff. Formstechers Gedanken sind durch die Bewunderung Hegels geprägt, wenn er schreibt:

»Als eine Mission des Judenthums gegenüber der heidnisch93 en Welt findet der Islam sein Wesen im Wesen des Judenthums […]«. Aber durch die Vermischung des jüdischen mit paganem Denken ändere der Islam sein Gesicht und gewinne eine despotische Dimension, so Formstecher: »Ein sklavisches Unterwerfen dem despotischen Machtgebote Gottes ist Islam, und ein Jeder, der diese Unterwerfung94 in seiner Denkund Handlungsweise darstellt, ist Moslem.« Am wichtigsten jedoch war die Identifikation des Islam mit dem Judentum, wobei beiden Religionen bescheinigt wurde, dass sie auf Monotheismus bestünden und Anthropomorphismus zurückwiesen. Außerdem hingen sie einem ethisch-religiösen Gesetz an, welches der Agenda des liberalen Judentums des 19. Jahrhunderts entspräche. Tatsächlich wurden Judentum und Islam als Religionen eines

Molad 92 Shlomo Dov Goitein,The Jewish »On Past the Revisited:Israel-Arab Reflections Encounter«, on Modern in: Jewish 95 (1956), Historians S. 265; zitiert nach Gideon Libson, »Hidden Worlds and Open Shutters: S. D. Goitein between Judaism and Islam«, in: Religion des Geistes: Eine , hrsg. von David N. Myers und David B. Ruderman, New Haven: Yale University Press, 1998, S. 176. 93 Salomon Formstecher, Wissenschaftliche Darstellung des Judentums nach seinem Charakter, Frankfurt a. M.: J. C. Hermann, 1841, S. 398. 94 Ibid. 53

»ethischen Monotheismus« bezeichnet. Das Arabisch- und Islamstudium faszinierte auch orthodoxe Studenten an der Jeschiva in Würzburg, an den liberalen Rabbinerseminaren in Breslau und Berlin und natürlich an den Universitäten. Die Zahl an Publikationen, die sich insbesondere mit95 dem Vergleich von Judentum und Islam beschäftigten, ist umfangreich. Die jüdischen Wissenschaftler betonten durchgängig die zentrale Bedeutung des Judentums, um die Genese des Islam zu verstehen, selbst dann, wenn sie dafür die Quellenlage strapazieren oder die Begründungen vernebeln mussten. Isaac Gastfreund (1845–1880) argumentierte, dass Muhammad durch den Hellenismus beeinflusst gewesen sei, das Judent96um aber bereits zuvor in das hellenistische Arabien importiert worden sei. Darüber hinaus war er der Ansicht, das islamische Muhammad-Bild sei durch jüdische Lehren beeinflusst. Die Überzeugung, der Islam sei maßgeblich durch einen jüdischen Entstehungskontext bestimmt, wurde von christlichen Islamwissenschaftlern aus Europa schon bald infrage gestellt und ein gänzlich anderes Bild der Islamgenese entworfen. Während Theodor Nöldeke (1836–1930) Geigers Werk als epochemachend lobte, war die Reaktion Heinrich Ewalds (1803–1875) verhalten; er akzeptierte zwar die Hauptthesen, bezichtigte Geiger aber des Versäumnisses, die Beziehungen zwischen Islam und Judentum nicht richtig erkannt

Mohammed nach Talmud und Midrasch 95 Jüdische Elemente im Koran Isaac Gastfreund, Die haggadischen Elemente, Berlin: im erzählenden Louis Gerschel Teil des KoranVerlagsbuchhandlung 1875; Hartwig Hirschfeld, Die biblischen Erzählungen, Berlin: im Qoran Selbstverlag 1878; Israel Schapiro,Zur Entstehungsgeschichte des islamischen Gebets und Kultus , Leipzig: Gustav Fock, 1907; Heinrich Speyer, , 1931; und Eugen Mittwoch, , Berlin: Verlag der Königl.Mohammed Akademie nach der Talmud Wissenschaften, und Midrasch: in Commissionkritisch-historisch bei Georg bearbeitet Reimer 1913. 96 Isaac Gastfreund, , 3 Bde., Berlin: L. Gerschel, 1875–80, Bd. 1, S. 8. Hier schreibt Gastfreund: »Mohamed hat bekanntlich manche Elemente des arabischen Heidenthums in seine Religion aufgenommen. Unter diesen Elementen mögen sich vielleicht bereits einige jüdische Bräuche eingeschmuggelt haben, die allmählich seit früher Zeit noch unter den heidnischen Arabern heimisch geworden waren.« 54 zu haben. Die Nähe zwischen Islam und Judentum sei nicht in der Tatsache zu suchen, dass es einen intellektuellen Austausch zwischen Muhammad und den Juden Arabiens gegeben habe, sondern sei, so insistierte Ewald auf proto-rassistisch97 e Weise, das Ergebnis uralter Bande zwischen Hebräern und Arabern. Heinrich Leberecht Fleischer (1801–1888), Professor für Orientalistik an der Universität Leipzig, der jüdischen Studenten und Kollegen interessiert gegenüberstand, war äußerst kritisch bezüglich Geigers Übersetzungen, pries aber dessen Werk98 dennoch als beachtenswerte wissenschaftliche Leistung. Die nächste Forschergeneration gab sich weniger wohlwollend: Hubert Grimme (1864– 1942) besprach die 1902 herausgegebene Neuauflage von Geigers Buch zum Kor99an und befand, dass das Buch100 »für seine Zeit eine treffliche Arbeit«, jedoch »in der Grundidee« veraltet sei. Grimme wendet sich »gegen die noch heute verbreitete Ansicht, dass Mohammed ein Schüler jüdischer Rabbinen 101und der Islam ein Schmarotzergewächs des 102 Spätjudentums sei« und sieht selbst nur einen ›indirekten‹ Einfluss. Führende Gelehrte wie Julius Wellhausen (1844–1918), Carl Brockelmann (1868–1956) und Carl Heinrich Becker (1876–1933) argumentierten um die Jahrhundertwende, dass Muhammads Kenntnis der Bibel durch christliche und nicht durch jüdische Quellen bedingt sei. So schreibt Wellhausen:

Abraham Geiger and the Jewish Jesus 97 Literaturblatt des Zu dieser Problematik vgl. Heschel, , op. cit., S. 59. 98Orients Kleinere Schriften Heinrich Fleischer, »Über das arabische in Dr Geigers Preisschrift«, in: , 1841, Nr. 5, 6, 8, 10 u.12; abgedruckt in: Heinrich Fleischer, , gesammelt, durchgesehen und vermehrt, Bd. 2, Leipzig: S. Hirzel, 1888, S. 107–138. Zu FleischersLeo Baeck Beziehung Institute zu Yearbook jüdischen Wissenschaftlern siehe Ismar Schorsch, »Converging Cognates: The Intersection of Jewish and Islamic Studies in Nineteenth Century Germany«, in: 55 (2010), S. 3–36. 99 Orientalistische Hubert Grimm Literaturzeitunge, »Besprechung von Abraham Geiger, Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen«, 2. revidierte Auflage, Leipzig: Kaufmann, 1902, in: 7 (1904), S. 226. 100 Ibid. 101 Ibid. 102 Grimme dazu: »M. Er. ist G.’s Annahme heute nicht mehr zu halten; denn Mohammed ist vom Judentum nicht direkt, sondern nur indirekt beeinflusst worden. Geleitet durch den Hinblick auf die verschiedenen Züge des spätsabäischen Monotheismus, die uns südarabische Inschriften überliefern, und durch die Beobachtung, dass die Religionstermini und Eigennamen des Koran südarabisches Gepräge tragen, wird man besonders den ältesten Islam an den südarabischen Monotheismus anknüpfen lassen, an das Judentum aber nur insofern, als jener eine Verschmelzung von altarabischen Ideen mit jüdischen darstellt.«, ibid. 55

»Es ist wahrscheinlich, dass Muhammed denselben [legendarischen Stoff, S. H.] durch jüdische Vermittlung zugeführt bekommen hat, wenngleich man dessen eingedenk bleiben muss, dass derselbe Sagenstoff auch bei den orientalischen Christen im Umlauf war, und dass die Haggada ihre Quelle grossenteils in apokryphen Schriften hatte, die wenn sie auch jüdischen Ursprungs waren, doch seit dem zweiten Jahrhunder103t immer ausschliesslicher in christlichen Besitz übergingen.«

Aber es gab auch christliche Forscher, die Geigers Grundthesen positivThe gegenüberstanden.Jewish Foundation of Der Islam amerikanische Semitist Charles Torrey (1863– 1956) etwa insistierte auf einer ›jüdischen Begründetheit des Islam‹ – , so der Titel seines Buches – und lobte die Arbeiten von Geiger und Weil: »Wir finden nicht eine einzige Zeremonie (oder Fest), keine einzige Doktrin des Islam, wie nebensächlich sie auch sein104 mag, die geformt oder auch nur gefärbt wäre durch christliche Elemente.« Protestantische Grundannahmen bezüglich des Verhältnisses von Evangelium und göttlichem Recht, aber auch des Wesens der Prophezeiung beeinflussten auch die Islamforschung. Für Wellhausen

Reste arabischen Heidentums 103 Julius Wellhausen, , Berlin: Georg Reimer, 21897, S. 235. Auf S. 236 wird Wellhausen konkret: »Jüdische Gesinnung verrät es nicht, dass Jesus im hoch über alle Propheten des Alten Testaments gestellt wird. Ebenso wenig, dass für die Griechen gegenThe die Jewish Perse Foundationr Partei genomme of Islamn wird: die Juden taten bekanntlich das Umgekehrte.« 104 Charles C. Torrey, , New York: New York Jewish Institute of Religion Press, 1933, S. 82. 56 stellte die Epoche der klassischen biblischen Prophetie die Blütezeit des alten Israel dar; Priestertum und religiöses Gesetz resultierten dagegen erst aus späteren Entwicklungen, welche den Verfall der Religion des Alten Israel und die Periode eines legalistischen Judentums einläutete. Ähnlich argumentiert Becker, der einen Gegensatz zwischen subjektivem Glauben und institutionalisierter Religion annahm – eine Überlegung, mit der er eine Differenz zwischen Judentum und Christentum implizierte. Die Kritik am Judentum zielte dabei auch auf den Islam und die Scharia. Im frühen 20. Jahrhundert veränderte sich die Sicht auf die klassischen biblischen Propheten, die aus Sicht der Gelehrten des 19. Jahrhunderts als Vorgänger und Verkündiger Jesu das Herzstück der monotheistischen Lehre bildeten. Nun begriff man sie immer häufiger als ekstatische, unzurechnungsfähige und irrationale Wahrsagerfiguren. Wellhausen erhoffte sich von seinem Islamstudium, wie er sagte, »den Wildling kennen [zu] lernen, auf den105 von Priestern und Propheten der Spross der Thora Jahves gepfropft ist.« Die prophetische Natur Muhammads, wie sie Geiger, Weil, Goldziher, Horovitz und Mittwoch skizziert hatten, war vernunftbestimmt und überlegt, aber auch berechnend und politisch. Und dennoch war es ihr Hauptanliegen, den Islam als Religion und nicht als politische Bedrohung begreiflich zu machen – zur gleichen Zeit, als die europäischen Juden danach

Muhammed in Medina. Das ist Vakidi’s Kitab almaghazi 105 Julius Wellhausen, Homeland and Exile: Studies in Honor, in verkürzte of r deutscherBustenay Oded Wiedergabe, Berlin: G. Reimer, 1882, S. 5. Vgl. auch Peter Machinist, »The Road Not Taken: Wellhausen and Assyriology«, in: , hrsg. von Gershon Galil, Mark Geller und Alan Millard, Leiden, Boston: Brill, 2009, S. 469–532. 57 strebten, das Judentum zu entnationalisieren und als Religion neu erstehen zu lassen, um sich im staatsbürgerlichen Sinne zu emanzipieren. Erst als Deutschland seine Beziehungen zum Osmanischen Reich und die Bemühungen um Überseekolonien intensivierte, begann man auch im akademisch106en Milieu, den Islam als politisches und ökonomisches System zu deuten. Dies schlug sich auch institutionell nieder: 1887 wurde das Seminar für Orientalische Sprachen an der Berliner Universität gegründet; im Jahre 1908 folgte das Deutsche Kolonialinstitut in Hamburg. Beide Institutionen hatten die Aufgabe, Diplomaten, Staatsbeamte, Bankiers und Geschäftsleute hervorzubringen,107 welche die Interessen Deutschlands im Ausland vertreten würden. Die Islamforschung nahm von nun an ein politisches Gepräge an, und deutsche, auch jüdische Wissenschaftler wurden zu Akteuren politischer Interessen und Propaganda. Etliche Vertreter der ersten Generationen jüdischer Islamforscher waren aus Deutschland ausgewandert, um in akademische Positionen zu gelangen: Salomon Munk (1805–1867) und Josef Derenbourg (1811–1895) gingen nach Paris, Hartwig Hirschfeld (1854–1934) nach England, Julian Obermann (1888–1956) in die Vereinigten Staaten, Gotthold Weil (1882– 1960) nach Palästina. Andere arbeiteten hauptberuflich als Rabbiner, Lehrer oder Schriftsteller und konnten ihre Forschung nur nebenbei betreiben. Einige Gelehrte reisten

Der Traum vom deutschen Orient. Zwei deutsche Kolonien im 106Osmanischen Reich (1851–1918) Vgl. Malte Fuhrmann, , Frankfurt a. M.: Campus Verlag, 2006. 107 Comparative Studies of South Asia, Africa and the Middle East Vgl. Gottfried Hagen, »German Heralds of Holy War: Orientalists and Applied Oriental Studies«, in: International Journal of Middle East Studies 24 (2004), S. 145–162. Siehe auch Mark Batunsky, »Carl Heinrich Becker: From Old to New Islamology«, in: 13 (1981), S. 287–310. 58 nach Nordafrika, Indien oder in den Fernen Osten, so etwa Jacob Obermeyer (1845–1938), später Professor für Arabisch und Persisch am Kolleg für Orientalische Sprachen in Wien. Andere konvertierten zum Islam – der bekannteste unter ihnen war Muhammad Asad, geboren als Leopold Weiss (1900–1992); andere Juden wollten aus der Konversion kulturellen Nutzen ziehen, so etwa Arminius Vambery (1832–1913) und Essad Bey (Lev Nussimbaum, 1905–1942). Gottlieb Leitner – Jüdisches Wirken in Indien und England

Durch ihre Reiseaufenthalte kamen jüdische Forscher nicht nur mit islamischen Kulturen in Kontakt, sondern auch mit dem europäischen Kolonialismus. Dabei fällt auf, dass viele von ihnen sich klar gegen den Kolonialismus positionierten, so etwa Goldziher, Horovitz und Leitner. Von diesen war Leitner zweifellos der engagierteste. Mitte des 19. Jahrhunderts reiste er gemeinsam mit britischen Kolonialbeamten nach Indien und identifizierte sich dort stärker mit den Muslimen als mit den britischen Kolonialherren. Leitners Abenteuer verdienen hier eine nähere Betrachtung: Als Sohn jüdischer Eltern aus Budapest wurde Leitner nach dem frühen Tod des Vaters nach Istanbul gebracht, nachdem seine Mutter

59 erneut geheiratet hatte und ihr Ehemann die Familie vor dem ungarischen Antisemitismus schützen wollte; kurz vor Abreise ließ sich die Familie noch in einer protestantischen Kirche taufen. In Istanbul angekommen, lernte Leitner Arabisch und studierte den Koran in einer lokalen Moschee. Wenig später siedelte er nach England über, wo er in Oxford studierte und seit 1859 am King’s College Arabisch und Islamisches Recht lehrte. Dann trat er zur britischen Kolonialverwaltung in Indien über und wurde nach Lahore entsandt, das er zu einer Zeit erreichte, in der sich die Stadt infolge der Zerstörung Delhis während der Revolte im Jahre 1857 als intellektuelles Zentrum des Landes herausbildete. Damit ging eine größere Veränderung einher, nämlich der Übergang von einer persisch orientierten hin zu einer immer deutlicher anglisierten Kultur und Lebensweise. In Punjab entfremdete sich Leitner zunehmend von den britischen Kolonialbeamten, obwohl er von ihnen aufgrund fließender Urdu- Kenntnisse als wertvoller Vermittler zur lokalen Kultur angesehen wurde. 1864 wurde Leitner von den Briten zum Dekan des neugegründeten Government College ernannt. Ein Jahr darauf gründete er die Anjuma-e Punjab, die Punjab Society, welche eine Bibliothek betrieb, öffentliche Vorträge veranstaltete und aus der 1882 schließlich die Universität Punjab hervorging, die Leitner noch heute als einen ihrer Gründungsväter würdigt. Das von ihm erstellte Kurrikulum

60 umfasste neben Urdu, Arabisch, Sanskrit und Persisch auch Unterricht in europäischen Sprachen. Daneben legte er den Grundstein für die juristische Fakultät, wo neben indischem auch hinduistisches und Islamischesmaulvis Rechpanditst angeboten werden sollte. Auf diese Weise sollte die Fakultät auch zu einer Ausbildungsstätte für religiöse Rechtsgelehrte ( und ) werden, die die koloniale Justiz bei der Arbeit beraten und unterstützen sollten,maulvis insbesonderpanditse im Zivilrecht, wo nach wie vor häufig Gewohnheitsrecht angewandt wurde. Leitner hoffte damit auf die Ernennung von offiziellen und zur Unterstützung und Beratung europäischer Richter an anglo-indischen Gerichtshöfen, insbesondere in Hinblick auf das Persönlichkeitsrecht – Heirats-, Scheidungsund Erbregelungen –, welches zukünftig die Vorstellung108 en des hinduistischen und islamischen Gesetzes berücksichtigen sollte. Zu Leitners Forschungen zählen eine in Urdu verfasste Darstellung der Entstehung und Geschichte des Islam, eine Überblicksdarstellung der Entwicklung islamischer Kultur in Arabien und dem Mittleren Osten vor der Eroberung durch die Mongolen sowie zahlreiche linguistische Werke. In der langen Tradition jüdischer Forscher stehend, definierte er den Islam als »reines Judentum nebst Proselytentum und als ursprüngliches109 Christentum ohne die Lehren des heiligen Paulus.« Während seiner ausgedehnten Reisen, die ihn in unerforschte

108 Modern Asian Studies Vgl. Robert Ivermee, »Shari’at and Muslim community in colonial Punjab, 1865–1885«, in: 48 (2014), S. 1068–1095. 109 Muhammadanism: Being The Report of an Extempore Dieser Auss Addresspruch stammt aus einer Vorlesung, die Leitner im Jahre 1889 hielt und die posthum veröffentlicht wurde; vgl. G. W. Leitner, , England: The Oriental Nobility Institute, Woking, 1890, S. 5. 61

Regionen von Kaschmir bis Afghanistan führten, studierte Leitner die verschiedenen Lokalsprachen und -bräuche, veröffentlichte Grammatiken und Wörterbücher der dardischen Sprachen. Nachdem er Indien verlassen hatte, verbrachte er noch einige Jahre in Heidelberg, sicherlich nicht ohne die Bekanntschaft von Gustav Weil gemacht zu haben. Leitner kehrte erst 1881 nach England zurück. Dort beschaffte er die nötigen Finanzmittel, um in einem Vorort von London (Woking, in der Grafschaft Surrey) die erste Moschee Englands zu bauen. An die Moschee war ein Zentrum für Orientalistische Studien110 angeschlossen, wo er arabische und islamische Lektürekurse anbot. Trotz seiner Affinität konvertierte Leitner selbst nie zum Islam und wurde auf dem christlichen Friedhof unweit der Moschee begraben. Obwohl sein Elternhaus jüdisch war, gibt es keinerlei Hinweise darauf, dass er praktizierender Jude gewesen wäre; dasselbe gilt für eine christliche Taufe. Bemerkenswert ist, dass Leitner einige Fenster der Moschee in Woking mit Davidsternen gestaltete. Es läge zumindest nahe, dies als Ausdruck von Leitners Wunsch nach religiöser Versöhnung zu lesen. Ayesha Jalal warnt in Hinblick auf Leitners facettenreiche Analyse des ›Jihad‹-Begriffs vor »voreiligen Schlüssen bezüglich der gegen d111en Islam gerichteten Feindseligkeit in der orientalistischen Forschung.« Und tatsächlich hatte bereits Leitner

110 Zu Gottlieb Leitner siehe Jeffrey M.South Diamond, Asia Research »The Orientalist-Literati Relationship in the Northwest: G. W. Leitner, MuhammaPaedagogicad Hussain Historica: Aza Internationald and the Rhetoric Journal of of Neo the- History of Educationorientalism in Colonial Lahore«, in: 31 (2012), S. 25–43; Tim Allender, »Bad Language inPartisans the Raj«, of in: Allah: Jihad in South Asia 43 (2007), S. 383–403. 111 Ayesha Jalal, , Cambridge: Harvard University Press, 2008, S. 162. 62 seine Leserschaft ermahnt, dass beim Blick auf eine Religion wie dem Islam nicht nur bloßes Wissen, sondern auch Einfühlungsvermögen erforderlich sei: »Einfühlungsvermögen ist der Schlüssel zum eigentlichen Wissen – jenes Wissen, welches dem Leben einhaucht, was sonst nur tote Knochen wären. Es gibt eine ganze Reihe an Fällen, wo ausgewiesene Forscher in Ermangelung von Einfühlungsvermögen dem Mohammedanertum großes Unrecht getan haben. Sir William Muir etwa wurde zu einigen schwerwiegenden Fehlern in Hinsicht auf diese Religion verleitet. […] Sich Gottes im täglichen Leben gewiss zu sein mit dem Ziel einen inneren Frieden zu erlangen, der die Vernunft übersteigt. Sich dem Willen Gottes zu unterwerfen, dazu bekennen auch wir uns. Doch im Islam wird dieses Bekenntnis112 in die Praxis umgesetzt und bildet einen Grundpfeiler des Glaubens. Haben Juden nun also den Islam judaisiert, oder wurde das Judentum islamisiert, wie Goitein meinte? Es ist bemerkenswert, dass jüdische Forscher im 19. Jahrhundert der jüdischen Apokalyptik, Mystik und auch dem Chassidismus nur in sehr begrenztem Maße Aufmerksamkeit entgegenbrachten. Analog ignorierten sie bei ihrem Blick auf den Islam das Schiitentum und den Sufismus.

Muhammadanism 112 Leitner, , op. cit., S. 3–4. 63

Sie argumentierten, es sei gerade der Islam des Koran, der das wahre Judentum bewahre und vor christlichen Einflüssen schütze. Einen weiteren Forschungsschwerpunkt der jüdischen Islamforschung bildeten die rationalistischen Tendenzen des mittelalterlichen Islam: Philosophie, Wissenschaft, Mathematik und allem voran religiöse Toleranz. Unter islamischer Herrschaft standen Juden und Muslime in einem intellektuellen Austausch miteinander, wie er im christlichen Europa nicht denkbar gewesen wäre. Dieses Zusammenwirken wurde als ein Höhepunkt in der jüdischen Geschichte verstanden, wie Goitein herausstellte. Es stand paradigmatisch für das, was die deutschen Juden im 19. Jahrhundert zu erreichen hofften. Das Schiitentum fand erst mit den einschlägigen Werken Israel Friedlaenders (1876–1920) Eintritt in die jüdische Forschung. Friedlaender war gleichzeitig der erste jüdische Gelehrte, der islamische Einflüsse auf jüdische Glaubenspraktiken aufzeigte, wobei er insbesonder113e die schiitischen Einflüsse auf den jüdischen Messianismus herausstellte. Ignaz Goldziher – Gelehrtenaustausch in Damaskus und Kairo

Ignaz Goldziher (1850–1921) ist anerkanntermaßen einer der bedeutendsten Islamforscher Europas.

Jewish Quarterly 113Review Israel Friedlaender, »Shiitic Elements in Jewish Sectarianism«, in: , new series, 2:4 (April 1912), S. 481–516. 64

Obwohl er erst spät, im Alter von 44 Jahren, eine Professur an der Universität Budapest erhielt, wurden seine Publikationen weit rezipiert und hoch geschätzt, sowohl in Europa als auch an Stätten muslimischer Gelehrsamkeit, etwa an der al-Azhar Universität in Kairo. Goldziher durchlief eine traditionelle jüdische Erziehung, studierte an der Universität Budapest und an deutschen Universitäten. Er wurde an der Universität Leipzig promoviert. Sein Doktorvater, Heinrich Fleischer, bezeichnete ihn als den besten Studenten, den er jemals gehabt habe. Nach Reisen in den Nahen Osten in den 1870er114 -Jahren verbrachte er die längste Zeit seines Lebens in Budapest. Goldziher setzte sich von der Tradition Geigers ab und argumentierte zugunsten einer Stimmenvielfalt christlicher, hellenistischer und jüdischer Motive, die auf der arabischen Halbinsel kursierten und in deren Kontext der Islam entstanden sei. Goldziher war als Forscher eine Ausnahmeerscheinung, weil er den Islam nicht nur als Vehikel nutzte, um den Einfluss jüdischer Kultur zu belegen. Wie Patricia Crone betont hat, sah Goldziher eher im römischen als im jüdischen Recht einen Vorgänger des islamischen Rechts. Gleichzeitig stellte Goldziher vergleichende Studien zu Judentum und Islam an, die sowohl rabbinische Traditionen als auch Hadith-Überlieferungen aus historisch-kritischem Blickwinkel präsentierten. Damit widerlegte er die Kritik Ernest Renans, nach

Ignac Goldziher: His Life and Scholarship as Reflected in his Works and Correspondence 114 , hrsg. von Robert Simon, Leiden: Brill, S. 198. 65 der monotheistische Religionen statisch seien und sich durch fehlende Mythologie und einen Mangel an theologischer Vitalität auszeichneten. Im Gegensatz dazu argumentierte Goldziher in einem seiner ersten Bücher, dass das Judentum von Mythen durchzogen sei, wie etwa ein Blick in die Traditionen des Midrasch verdeutliche. isnad sanad hadith ahadith Mit der Verbreitung des Islam und der Traditionsketten ( , Pl. ), die zu Überlieferungen ( , Pl. ) des Propheten Muhammad zurückführen, ähnele dieser laut Goldziher dem Judentum, insofern auch die rabbinische Tradition komplexe Traditionsketten umfasse. Goldziher unterzog die Hadith-Literatur einer historisch-kritischen Analyse, wie sie ursprünglich von der historizistisch115 en Tübinger Schule für Neutestamentarische Forschung entwickelt worden war und die schon Geiger im Jahre 1857 in seinem Buch116 über das Judentum im Zeitalter des zweiten Tempels untersucht hatte. Die nachträgliche Zuweisung von Traditionen an bedeutende islamische Persönlichkeiten führte dazu, dass die Lehre vom Propheten historisch zweifelhaft erschien: »Eine genaue Untersuchung verweist auf die Absichten und das Interesse späterer Tage, auf die Wirkmächtigkeit eines Geistes, welcher den Bericht zugunsten unterschiedlicher117 Stimmen zu verhandelten Fragen an sich zu reißen vermag.«

The Tübingen School: A Historical and Theological Investigation of 115the School of F. C. Bauer Vgl. Horton HarrisUrschrift, und Übersetzungen der Bibel in ihrer Abhängigkeit von der , Oxford: Oxford University Press, 1975. 116inneren Entwickelung des Judenthums Abraham Geiger, Muslim Studies , Breslau: Julius Hainauer, 1857. 117(Muhammedanische Schriften) Ignaz Goldziher, »The Principles of Law in Islam«, in: ders., , hrsg. von Samuel Miklos Stern, Bd. 2, Albany: State University of New York, 1971, S. 302. 66

»Das Ḥadîth wird uns nicht als Document für die Kindheitsgeschichte des Islam, sondern als Abdruck der in der Gemeinde hervortretenden Bestrebungen aus der Zeit seiner Entwicklungsstadien dienen; es bietet ein unschätzbares Material von Zeugnissen für den Entwicklungsgang, den der Islam während jener Zeiten durchgemacht hat, in welchen er aus einander widerstrebenden Kräften, aus mächtigen Gegensätz118 en sich zu systematischer Abrundung herausformt.« Obwohl es sich als unmöglich herausstellte, eine frühe Datierung bestimmter Hadithe zu beweisen, zog Goldziher nicht die Konsequenz, dass die enthaltenen Lehren falsch seien. Vielmehr bewertete er die Überlieferungsketten als Beweis einer progressiven Entwicklung des Islam, die sich weit über die mekkanische und medinische Zeit hinaus erstreckte. Sihat Yitzchak Der Hadith bedurfte einer kritischen Analyse seiner Traditionsketten,119 wie Goldziher sie bereits in seinem ersten Buch, , welches er bereits im Alter von zwölf Jahren abgefasst hatte, für das Judentum eingefordert hatte – eine Studie, die ihm unter konservativen ungarischen Juden zeitlebens den Ruf eines Häretikers einbrachte. Goldzihers Islamdarstellung war gewissermaßen eine Schablone, mit der er dem europäisch-christlichen Publikum das Judentum nahezubringen

Muhammedanische Studien 118 Ignaz Goldziher, , Bd. 2, Halle: Max Niemeyer, 1890, S. 5. Dabei ist anzumerken, dass D. S. Margoliouth (1858–1940), ein Zeitgenosse Goldzihers, in seiner Analyse der Hadith-LiteraturAbhandlung noch weitreic überhender Ursprung,e Konsequenzen Einteilung und zog; Zeit ebenso der Henri Lammes (1862–1937) und (1902–1969). 119Gebete Ignaz Goldziher, Sihat Yitzchak, , Pest: Johann Herz, 1862. 67 versuchte. Er zog strukturelle Parallelen zwischen Hadith und Aggada sowie zwischen Scharia und Halacha. Islam und Judentum repräsentierten für ihn streng monotheistische Religionen, die jeglichen Anthropomorphismus ausschließen und die Bedeutung ethischer Verhaltensregeln hervorheben. Bei Goldziher nahm der Islam für das moderne Judentum gar die Rolle einer Projektion dessen ein, was das Judentum werden sollte. Auf seinen Reisen nach Beirut, Damaskus und Kairo kam er in freundschaftlichen Kontakt mit Muslimen und bekam einen persönlichen Eindruck vom religiösen Leben im Islam, zu dem er große Affinitäten verspürte. Aus Damaskus berichtete er, »[…] dass ich120 zuletzt innerlich überzeugt wurde, ich sei selbst Mohammedaner […].« In Kairo, wo Goldziher einem Freitagsgebet beigewohnt hatte, vertraute er seinem Tagebuch an: »Inmitten tausender Andächtiger rieb ich meine Stirn am Boden der Moschee. Ich war nie im Leb121en andächtiger, wahrhafter andächtig als an diesem erhabenen Freitag.« »Mein Ideal war es, das Judenthum zu ähnlicher rationeller Stufe zu erheben. Der Islam, so lehrte mich meine Erfahrung, sei die einzige Religion, in welcher Aberglaube und heidnische Rudimente nicht durch122 den Rationalismus, sondern durch die orthodoxe Lehre verpönt seien.«

Tagebuch 120 Ignaz Goldziher, , hrsg. von Alexander Scheiber, Leiden: Brill Publishers, 1978, S. 59 f. 121 Ibid., S. 72. 122 Ibid., S. 59. 68

Solche Bemerkungen konnte man sonst von keinem jüdischen Gelehrten vernehmen, der eine Kirche oder Synagoge besuchte. Durch die jüdische Allianz mit dem Islam wurde das Christentum theologisch marginalisiert; es repräsentierte eine Religion, welche sich nicht auf Rationalität, sondern auf Dogmen, Wunder und Übernatürlichem begründete. Bereits einige Jahrzehnte zuvor hatte Ludwig Philippson (1811–1889) auf diese Gegensätzlichkeit verwiesen: »Weil im obersten Grundsatz der Islam mit dem Mosaismus identisch, ist das Christenthum123 durch die Trinitätslehre und Menschwerdung Gottes beider Gegensatz.« Als vernunftbestimmte Religion sahen jüdische Denker ihren eigenen Glauben in einem brüderlichen Verhältnis mit dem Islam, während das Christentum aufgrund von Dogmen wie der jungfräulichen Empfängnis als Ausbund an Irrationalität galt, als Gegenteil von Vernunft. Da sich auch der liberale Protestantismus, der mittlerweile in Deutschland etabliert war, von Wundern und Dogmen alter Schule zugunsten der Heilslehre distanzierte, wurde die Thes124 e vom irrationalen Christentum auf den Katholizismus umgeleitet. Hier wird deutlich, dass die historisch-kritische Forschung mit muslimischen Quellen für Goldziher und die meisten anderen deutsch- jüdischen Gelehrten nicht mit der Absicht verbunden war, den Islam zu diskreditieren – im Unterschied zur Bibelforschung und anderen Zweigen der Orientalistik.

123 Ludwig Philippson, »Der Islam und sein Verhältnis zum Judentum und Christentum«, in: Weltbewegende Fragen in Politik und Religion. Aus den letzten dreißig Jahren, Bd. 2: Religion, hrsg. von Ludwig Philippson, Leipzig: Baumgärtners Buchhandlung, 1869, S. 311. 124 Das historische Phänomen, dass Juden darauf bestanden, das Christentum als einer der Ratio entgegengesetzten Religion zu behandeln, wenngleich Protestanten bereits die Dogmen hinter sich gelassen hatten, hat Uri Tal in seinem klassischen Werk thematisiert; vgl. Uri Tal, Christians and Jews in Germany, übersetzt von Noah Jacobs, Ithaca: Cornell University Press, 1976. Für eine jüdische Betrachtung des Katholizismus dieser Zeit siehe Ari Joskowicz, The Modernity of Others: Jewish AntiCatholicism in Germany and France, Stanford: Stanford University Press, 2013. 69

Dies wird ersichtlich am125 Beispiel Friedrich Delitzschs (1850–1922) und des Babel-Bibel-Streits. In dieser Debatte ging es darum, das Alte Testament mit dem Verweis auf babylonische Einflüsse als minderwertig zu erklären. Liberale Protestanten begrüßten dieses Bestreben, da man auch hier an der Widerlegung des Alten Testaments arbeitete. Anders als diese argumentierten jüdische Gelehrte jedoch nicht, dass der Islam nur ein blasses Abbild ihres eigenen Glaubens sei – oder gar, dass die Muslime ein besseres Schicksal ereilt hätte, wenn sie Juden geblieben wären. Im Jahre 1898 schreibt Goldziher an seinen Freund und Kollegen Martin Hartmann (1851–1918): »Mir schwebt eine Zeit vor der Phantasie vor, in der man in der Azhar Koranund Hadith-Kritik dociren wird, wie man auf europ. theolog. Kathedern Evangelienkritik begründet hat.126 Dann wird auch das relig. Leben im Islam eine höhere Stufe erklimmen.« Die kritische Lektüre religiöser Texte war, das hatte schon für Geiger festgestanden, demnach nicht das Werk von Religionsverächtern, sondern eher ein Versuch, durch die Anwendung historischer Methoden tiefer in die Materie vorzudringen. Bei Goldziher kam seine kolonialismuskritische Haltung, seine Verteidigung al-Afghanis und seine scharfe Kritik an Renan hinzu.

Friedrich Delitzsch und der Babel-Bibel-Streit 125 »MachenVgl. etwa SieReinhard doch unseren G. Lehmann Islam, nicht gar so schlecht.« Der Briefwechsel der , Freiburg: Universitätsverlag, 1994. 126Islamwissenschaftler Ignaz Goldziher und Martin Hartmann 1894–1914

, hrsg. und komm. von Ludmila Hanisch, Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 2000, S. 115. 70

Als das Deutsche Reich im späten 19. Jahrhundert die kolonialpolitische Bühne betrat, blieb dies auch für den deutschen Orientalismus nicht folgenlos. Es wurden Zeitschriften gegründet,Die dWeltie gegenwärtig des Islam e Aspekte des Islam zuDer beleuch Islam ten suchten und diese Überlegungen in einen kolonialen Kontext stellten: Beispiele sind , gegründet 1910, und , gegründet 1912. Für den Orientalisten und späteren preußischen Kultusminister Carl Heinrich Becker (1876–1933) sollte der Islam im Kontext globaler Geschichte beschrieben werden – nicht nur als Religion, sondern als Zivilisation. Er betrachtete den Islam als asiatisierten Hellenismus, wie er mehrfach betonte. Marchand nimmt an, dass Becker den Islam in die europäisch127e Geschichte integrieren und so politisch unter Kontrolle bringen wollte. Damit waren Fragen verbunden, die lange relevant bleiben sollten: Wie konnte der Islam für die Kolonisierung Afrikas nutzbar gemacht werden? Wie konnte man den Osmanen vermitteln, dass der Islam auch mit politischer, gesellschaftlicher und ökonomischer Modernisierung vereinbar war? Und nicht zuletzt die bis heute aktuelle Frage: Wie konnte Europa den Islam kontrollieren? Einige der bedeutendsten Forscher der Jahrhundertwende hoben vor allem die politische Natur des Islam hervor. So stand etwa für Julius Wellhausen (1844–1918) fest, dass Muhammads Hauptleistung in seiner Staatskunst liege, in seiner an Bismarck erinnernden

German Orientalism in the Age of Empire 127 Marchand, , op. cit., S. 163. 71

Einigung der Araber, und weniger in der128 Abfassung des Koran und in der Begründung einer neuen Weltreligion. Alfred von Kremer (1828–1889) »hatte wenig Gutes oder Spannendes über den Islam als Glaubenssystem zu sagen; sein Interesse lag eher in seiner sozialen und politisch129 en Funktion als in seiner Lehre bzw. seiner inneren Entwicklung.« Einige Zeitgenossen spielten mit dem Gedanken, eine muslimische Revolte anzuzetteln, um so den deutschen Einfluss zu vergrößern. Aktiv war hier insbesondere der Orientalist Max von Oppenheim (1860–1946), dem eine diplomatisch130 e Karriere aufgrund seiner halbjüdischen Herkunft verwehrt blieb. Laut Lionel Gossman betätigte er sich als »Chefermittler und Organisator eines projizierten muslimischen Jihads gegen die Kräfte der Entente (Großbritannien, Frankreich und Russland) mit dem Hauptziel, die militärische Effektivität auf europäischer Ebene durch die Verlagerung ihrer Ressourcen in strategisch bedeutsame Regionen ihrer Reiche, die durch muslimisch131 e Aufstände gefährdet waren, drastisch zu vermindern«. Stattfinden sollte sie in Indien, Ägypten, Nordafrika und im Kaukasus.

128 Ibid., S. 188. 129 The Passion of Max von Oppenheim: Archeology and Intrigue in Ibid., S. 189. 130the Middle East from Wilhelm II to Hitler Siehe Lionel Gossman, , Cambridge: Open Book Publishers, 2013. 131 Ibid., S. xxiii–xxiv. 72

Eugen Mittwoch – Jüdische Liturgie und islamisches Gebet

Eugen Mittwoch (1876–1942) ist ein Musterbeispiel eines jüdischen Gelehrten, der einerseits die jüdischen Ursprünge des Islam hervorhob und sich andererseits in den Dienst der deutschen Kolonialinteressen stellte. In eine orthodoxe jüdische Familie in Posen hineingeboren, studierte er an der Hochschule der Wissenschaft des Judentums in Berlin, um Rabbiner zu werden. Letztendlich wurde er 1899 an der Friedrich-Wilhelms- Universität bei (1845–1930) in Islamwissenschaften promoviert, den er später als Direktor des Seminars für orientalische Sprachen ablösen sollte. Mittwochs Studien zum islamischen Gebet erörterten, dass elementare Praktiken wie Reinheitsgebote, Fastenund Geburtsrituale, Beschneidung, Eheschließung,132 Scheidung und Beerdigungsriten dem Judentum entlehnt waren. Seine Studien schrieb er in erster Linie als Erwiderung auf die Behauptungen Carl Heinrich Beckers, der das islamisch133 e Gebet auf die ostkirchlichen Sonntagsgottesdienste zurückführte. Dem entgegnete 134 Mittwoch, dass auchqiraʾa das christliche Gebet vom Judentum abgeleitet sei. In Bezug auf die Terminologqeriyat Shemaie stellte Mittwoch unter anderem fest, dass das arabische Wort , ›das Rezitieren des Koran‹, eine Herleitung aus dem hebräischen ʿ, ›die Schema‹-Rezitation (Dtn 6,5-9; 11,13-21;

Zur Entstehungsgeschichte des islamischen Gebets und Kultus 132 Eugen Mittwoch, Der Islam , Berlin: Preussische Akademie der Wissenschaften, 1913. 133 Carl HeinrichZur Becker, Entstehungsgeschichte »Zur Geschichte des des islamischen islamischen Gebets Kultus«, und in: Kultus (1912), S. 398 f. 134 Mittwoch, , op. cit., S. 4. 73

salat tselota

SchemonehNum 15,37– Esreh41) sei; , Gebet ließe sich vom aramäischen herleiten,niyah welches auf das zentrale Gebet der jüdisch135en Liturgie, das (Achtzehnbittengebet)kawwanah verweise. Die Bedeutung von , Arabisch für die seelische Haltung eines Menschen, sei mit dem hebräischen Wort vergleichbar, mit dem in der jüdischen Tradition die intensive Konzentration auf das Gebet bezeichnet würde. Mittwochs Absicht war es, den omnipräsenten jüdischen Einfluss auf den Islam aufzuzeigen, der weit über Muhammads Lebzeiten hinausreiche und den er für die islamische Glaubenspraxis in vielerlei Hinsicht als prägend erachtete. Als Beleg dafür führte er nicht nur die jüdischen Gemeinden auf der arabischen Halbinsel, sondern auch die sehr lebendigen Gemeinschaften in Babylonien an. Während Mittwoch das Modell vertrat, dass das Judentum den Islam hervorgebracht habe, verkehrte sein Zeitgenosse Israel Friedlaender (1876–1920) diese Wirkungsweise in ihr Gegenteil. Als Schüler Theodor Nöldekes erörterte Friedlaender in einer ganzen Reihe von Artikeln den Einfluss der Schiʿa auf das Judentum. Er behauptete,136 dass doketische Elemente in den Islam durch ʿAbdallah ibn Saba eingeführt worden seien, einen jemenitisch-jüdischen Islamkonvertit und Anhänger ʿAlis, dem Schwiegersohn des Propheten Muhammad, der im 7. Jahrhundert gelebt hatte. Ibn Sabas Glaubensüberzeugung, derzufolge ʿAli nicht

Der jüdische Gottesdienst: Gestalt und Entwicklung 135 Der jüdische Gottesdienst in seiner historischen Entwicklung Vgl. Leo Trepp, , Stuttgart: Kohlhammer, 1992; Ismar Elbogen, , Leipzig: Gustav Fock, 1913. 136 Vgl. Israel Friedlaender, »ʿAbdallah b. Sabā, der Begründer der Shiʿa, und sein jüdischer Ursprung«, in: Zeitschrift für Assyriologie und verwandte Gebiete 23 (1909), S. 296–327; 24 (1910), S. 1–46. 74 getötet worden sei, sondern eines Tages wiederkehren und die Führung des Islam übernehmen werde, hatte die Entstehung weiterer religiöser Bewegungen zur Folge, die um messianische Gestalten innerhalb der Schiʿa kreisten. Dieser Prozess hatte im 8. Jahrhundert in Iran begonnen und die Herausbildung vergleichbarer jüdischer Bewegungen um messianisch137 e Gestalten beeinflusst, von denen bereits einige gestorben waren. Während des Ersten Weltkriegs wurde insbesondere der Aufruf Mittwochs zum Jihad von der deutsch138 en Propaganda-Politik vereinnahmt, wie Hilmar Kaiser dargelegt hat. Mittwoch war zu dieser Zeit Direktor der Berliner Nachrichtenstelle für den Orient, die Eduard Sachau 1887 gegründet hatte. Mittwoch reiste in den Mittleren Osten und nach Ostafrika, wo er sich besonders mit der jüdischen Gemeinde Äthiopiens befasste und sich für die Aufnahme des Amharischen als Fach an der Berliner Universität einsetzte. Das Berliner Seminar verfügte über ein außergewöhnlich vielfältiges Sprachenangebot, welches von den klassischen Sprachen bis hin zu gegenwärtigen Dialekten reichte. Studenten konnten hier Sprachzertifikate erwerben, welche ihnen den Einstieg in eine berufliche Laufbahn im diplomatischen Dienst oder im internationalen Handel erlaubten. Darüber hinaus war Mittwoch in der zionistischen Bewegung und der Organisation jüdischer Gemeindedienstleistungen aktiv; sein Studieninteresse

Jewish Quarterly Review137 Vgl. Israel Friedlaender, »Shiitic Elements in Jewish Sectarianism«, in: 2 (1912), S. 481Imperialism,–516. Friedlaender Racism, anentdecktd Development ebenfalls Theories: islamische The Einflüsse Construction in der of sabbatianischen Bewegung und bei den Frankisten. 138a Dominant Paradigm on Ottoman Armenians Vgl. Hilmar Kaiser, , Ann Arbor: Gomidas Institute, 1997. 75 war vielseitig und reichte von altaramäischer Inschriftenkunde über die äthiopische Sprache bis hin zu islamischem Gebet und Kultus. Er war einer von vielen Juden, die ihre Professur unter den nationalsozialistischen Rassegesetzen verlieren sollten. Infolgedessen zog er mit seiner Familie nach England, wo er 1942 starb. Ein bereits im Jahr 1935 ausgearbeiteter Plan der NS-Behörden, Mittwochs Seminar für semitische Sprachen in ein Institut für die Erforschung139 der Arischen Philologie umzubauen, wurde letztlich nicht umgesetzt. Zur Zeit der Weimarer Republik wurde in Berlin die Moschee in der Brienner Straße in Wilmersdorf errichtet, einem bürgerlichen Viertel mit hohem jüdischen Bevölkerungsanteil. Sie wurde von der Deutsch- Moslemischen Gesellschaft, einem Ableger der Lahore-Ahmadiyya erbaut, einer liberal-islamischen Reformbewegung, die für intellektuelle und kulturelle Impulse außerhalb der islamischen Welt offen war. Viele ihrer Mitglieder waren indische Studenten und Intellektuelle, die zum Studieren nach Berlin gekommen waren. Die Deutsch-Moslemische Gemeinde und die Moschee entwickelten sich schnell zu Orten des kulturellen Austauschs, die Künstler, Schriftsteller und Akademiker anzogen, darunter auch viele Juden. Der junge Leopold Weiss, ein jüdischer Journalist und Autor aus Lemberg, konvertierte nach mehreren Reisen in den Nahen Osten in der Berliner Gemeinde

139 Siehe dazu die Archivmaterialien der Berliner Universität, Personalakten UK M 225, S. 25. Brief des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung an den Rektor, datiert auf den 6. Dezember, 1935: »Der Lehrstuhl für Semitische Philologie wird künftig für Arische Philologie in Anspruch genommen werden.« 76 zum Islam und nahm den Namen Muhammad Asad an, unter dem er einer der wichtigsten muslimischen Intellektuellen im 20. Jahrhundert wurde. Nach längeren Aufenthalten in Saudi-Arabien, Britisch-Indien, einer kurzen Amtszeit als pakistanischer Botschafter bei den Vereinten Nationen schrieb er seine vielbeachtete Autobiographie »Der Weg nach Mekka«, die zu einem Bestseller wurde. Im Anschluss arbeitete er mit finanzieller Förderung des saudischen Königs an einer kommentierten englischen Koranübersetzung. Der Geschäftsführer der Deutsch-Moslemischen Gemeinde in Berlin war der Philosoph und Schriftsteller Hugo/Hamid Marcus, Sohn einer vermögenden Industriellenfamilie, der Anfang der 1920er- Jahre zum Islam konvertierte. Als Muslim gab er weder seine Mitgliedschaft in der jüdischen Gemeinde noch sein Engagement für die Anerkennung von Homosexuellen auf und schrieb in der Zeitschrift »Sexus«, die von Magnus Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft herausgegeben wurde. Sein Beispiel verweist ganz besonders auf den hohen Grad an intellektueller und spiritueller Toleranz, der in der Berliner Gemeinde vorherrschte. Nachdem Marcus 1938 in Sachsenhausen als »Hugo Israel« interniert worden war, bewirkte der Imam der Ahmadiyya- Moschee, Scheich Muhammad Abdullah, seine Freilassung und ermöglich140 te ihm mit einem Visum für Britisch-Indien die Flucht in die Schweiz.

140 American Historical Review Marc Baer, »Muslim Encounters with Nazism and the Holocaust: The Ahmadi of Berlin and Jewish Convert to Islam Hugo Marcus«, in: (Februar 2015), S. 140–171. Gerdien Jonker hat gezeigt,The Ahmadiyya dass darüber Quest hinaus for Religious auch zahlreich Progress:e Missionizingandere jüdisch Europee Ahmadiyya 1900–1965-Mitglieder von ihren dortigen Glaubensgenossen vor den Nazis gerettet wurden. Gerdien Jonker, , Leiden: Brill, 2015. 77

Josef Horovitz – Wege zum plurikulturellen Milieu des Koran

Einer von Mittwochs Zeitgenossen, der dessen Interesse an Wissenschaft und Politik teilte, war der 1874 geborene Josef Horovitz. Als Sohn des gemäßigt-orthodoxen Rabbiners Markus Horovitz (1844–1910) studierte er an der Berliner Universität bei Eduard Sachau. Horovitz war mit einer Doktorarbeit über das Werk des frühislamischen Historikers al-Waqidi promoviert worden, das sich vor allem mit der Geschichte des Propheten Muhammad befasste. Er arbeitete dann gemeinsam mit Eduard Sachau (und einem Team von Arabisten, darunter Eugen Mittwoch, Friedrich Schwally, Julius Lippert, K. V. Zetterstéen, Bruno Meissner und Carl Brockelmann) an der kritischen Ausgabe von Ibn Saʿds historiographischen Werken, einem Schüler al-Waqidis. Horovitz’ Interessengebiete waren weitgefächert: Er verfasste altarabische und islamische Dichtung und schrieb unter anderem über die jüdischen Stämme im vorislamischen Arabien und über das Mishnah-Traktat Avot als Vorbild für die Kodifizierung der Hadith-Literatur. Im Jahr 1907 nahm Horovitz eine Professur für Arabisch am Mohammedan Anglo-Oriental College (später umbenannt in Aligarh Muslim University) in Indien an und blieb dort bis 1914. 1909 wurde Horovitz außerdem zum Epigraphiker für islamische Inschriften im Dienst der indischen Regierung

78 ernannt. Einer141 seiner Kollegen in Aligarh war Hamid al-Din al-Farahi (1863–1930), der spätere Lehrer von Amin Ahsan Islahi (1904–1997) – beides bedeutend142 e Koranforscher, die auch hebräische Texte in ihre Arbeit einbezogen. Horovitz und al-Farahi studierten miteinander hebräische und arabische Texte. Noch in Indien geriet Horovitz in Kontakt mit Muhammad ʿAli Jauhar (1878–1931), einem Forscher, Dichter und politischen Aktivisten, welcher federführend an der Gründung der All-India Muslim League beteiligt war und mit antikolonialen Standpunkten sympathisierte. Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs kehrte Horovitz nach Deutschland zurück und lehrte an der neugegründeten Universität Frankfurt am Main. Dort hatte er maßgeblichen Anteil am Aufblühen des jüdischen intellektuellen Lebens, das in Frankfurt insbesondere mit den Namen Nehemiah Nobel (1871–1922), Martin Buber (1878–1965), Erich Fromm (1900–1980) und Franz Rosenzweig (1886–1929) verbunden war. In diesem Umfeld begann Horovitz, sich neue Forschungsfelder zu erschließen, darunter auch die historische Entwicklung des Koran, in der Tradition Weils und Nöldekes mit Fokus auf die Kontextualisierung und Sequenzierung der Suren. Horovitz’ Überlegungen sind aber auch in Verbindung mit der Philosophie Wilhelm Diltheys (1833–1911) zu sehen, die zu seiner Zeit großen Einfluss

Dalāʾil al-Niẓām, Azamgarh: al-Dāʾirah al- 141Ḥamīdīyah wa-Matabatuhā al-Takmīl fī Uṣūl al-Taʾwīl, Azamgarh: al-Dāʾirah al- Ḥamīdīyah Zu seine wan bedeutende-Matabatuhān Koranstudien zählen: Pondering, 1968, over und the Qur’an , 1968. 142 Amin Ahsan Islahi, , übersetzt von Mohammed S. Kayani, Bd. 1, London, 2003, S. 227–228. [Ich danke Islam Dayeh, der mich auf diese Verbindung aufmerksam gemacht hat.] 79 ausübte. Horovitz setzte sich von dem Paradigma ab, nach dem man islamische Texte auf ihre jüdischen und christlichen Wurzeln untersuchte. Stattdessen ging er von einer dem Koran immanenten historischen Dynamik aus, in deren Rahmen sich die frühe Beschreibung Muhammads als Prophet in den mekkanischen Suren hin zu den formalistischeren Schilderungen der jüngeren medinischen Texte entwickelte. Darüber hinaus nahm Horovitz die Rolle der altarabischen Dichtung für die Herausbildung der Sprache des Koran ernst. Auf diese Weise brach er mit dem bis dahin vorherrschenden Ansatz der Orientalistik, nach dem man im Islam ein Sammelsurium jüdischer, christlicher und paganer Ideen sah, und betonte dessen eigenständige Entwicklungstradition. In gewisser Weise spiegelten sich Horovitz’ politische Anschauungen in dem Anliegen wider, den Islam zu dekolonialisieren und vom Judentum zu emanzipieren. Politische Intentionen aus dem akademischen Milieu waren aber nicht immer antikolonial ausgerichtet. Einige jüdische Forscher wiesen dem Koran weiterhin die Rolle eines passiven Empfängers zu, der jüdische Elemente in sich aufnahm. Der Anschauung, dass der Koran eine eigenständige Verhandlung bzw. Interpretation früherer Texte darstelle, schlossen sie sich nicht an. Ein Beispiel dafür ist die 1907 erschienene Dissertation von Israel Schapiro (1882–1957), welcher die Figur des

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Josef im Koran untersuchte. Indem er aggadische Einflüsse auf den Koran aufzeigte, schrieb Schapiro dem Koran eine »Abhängigkeit von jüdischen Texten« zu und war der Ansicht, dass der Koran als143 eine Art »Ausschmückung« des Originals zu verstehen sei. Nur ein paar Jahre zuvor hatte Hartwig Hirschfeld (1854–1934), ein weiterer jüdischer Islamgelehrter, geschrieben: »Der Koran, d. h. das Textbuch des144 Islam, ist in Wirklichkeit nichts anderes als eine Nachahmung der Bibel.« In Einklang mit kolonialen Grundeinstellungen wurden Argumente, die den Koran nicht als eigenständige Offenbarung, sondern als eine Entstellung biblischer und nachbiblischer jüdischer Traditionen verstanden, nicht nur benutzt, um den Islam herabzuwürdigen. Christliche Missionare griffen sie auch in der Hoffnung auf, muslimische Gläubige würden sich vom Islam abwenden. Und tatsächlich ging die Veröffentlichung der englischen Übersetzung von Geigers Koranstud145 ie auf die britische Mission im Indien der Jahrhundertwende zurück. Zu seiner Frankfurter Zeit wurde Horovitz von Judah Magnes (1877– 1948), dem Gründer und ersten Präsidenten der Hebräischen Universität in Jerusalem, angefragt, einen Plan für ein orientalistisches Institut zu entwerfen. Horovitz schwebte ein zweisprachiges Institut vor, in dem neben der Lehre des Hebräischen und Arabischen auch Kurse

Die haggadischen Elemente im erzaehlenden Teil des Korans 143 Israel Schapiro, New Researches into the Composition and Exegesis of the, TheilQuran 1, Berlin: H. Itzkowski, 1907, S. 5. 144 Hartwig Hirschfeld, , London: Royal Asiatic Society, 1902, S. ii. 145 Judaism Der anonyme and Islam: Übersetze A Prize Essayr schreibt, dass die Übersetzung zum Zwecke der Mission von dem Direktor der Cambridge Mission in angefordert wurde. Abraham Geiger, , Madras: SPCK Press, 1898. 81 in islamischer Gegenwartstheologie angeboten werden sollten. Dabei war sowohl der Unterrich146 t von Imamen als auch von europäischen Philologen vorgesehen. Während eines Besuchs in Jerusalem im Jahre 1925 traf sich Horovitz mit einer Gruppe Jerusalemer Intellektueller, für die er zur Inspirationsquelle für die Gründung des Brit Schalom (Friedensbund) – eine transnationale Bewegung jüdischer Intellektueller – werden sollte. Der Zionist und Soziologe Arthur Ruppin hielt in seinem Tagebuch fest: »Horovitz will Juden und Araber zur Kooperation bewegen, während [der österreichisch-jüdische Physiker, Autor und revisionistische Zionist Wolfgang von] Weisl die Juden als europäische Pioniere gegen die147 Araber schicken will, um ihre Gebiete als Vorposten Asiens zu besetzen.« Ruppin wurde erster Vorsitzender von Brit Schalom, zu dessen 200 Mitgliedern einige wichtige deutsch-jüdische Intellektuelle wie Hans Kohn, Hugo Bergmann, Ernst Simon, Gershom Scholem, Dorian Feigenbaum und Robert Welsch gehörten. Das Ergebnis seiner Bemühungen sollte der 1931 verstorbene Horovitz nicht mehr miterleben. Ein Institut, wie es Horovitz für die Hebräische Universität skizziert hatte, wurde jedoch niemals eröffnet, obwohl die Debatten darüber die gesamten 1920er-Jahre durchzogen. Nach dem Willen des islamischen Kunsthistorikers Leo Mayer sollte die Islamwissenschaft in die Judaistik integriert

146 Judaism Menachem Milson, »The Beginnings of Arabic and Islamic Studies at the Hebrew University in Jerusalem«, in: 45 (1996), S. 169–83. 147 Land and Power: The Zionist Resort to Force, 1881–1948 Arthur Ruppin, Tagebucheintrag datiert auf den 26. April 1925, zitiert nach Anita Shapira, , New York: Oxford University Press, 1992, S. 163. 82 werden. Dagegen wandte Horovitz ein, dass die Gründung von unabhängigen Fachrichtungen ein friedvolles Miteinander befördere: Die Araber würden eine Universität schätzen,148 wenn sie eine unabhängige Arabistik in ihr Programm aufnähme. Dennoch waren die meisten Vertreter der ersten Generation der Islamwissenschaft europäische Juden, die auch Judaisten waren. Dazu zählten Shlomo Dov Goitein, David Zvi Baneth, Yosef Yoel Rivlin, Walter Joseph Fischel, Martin Plessner und Eliyahu Ashtor. Während seiner Jahre an der Universität Frankfurt am Main unterrichtete Horovitz eine Vielzahl jüdischer Studenten in Islamischen Studien, etwa den bereits erwähnten Shlomo Dov Goitein, Yosef Yoel Rivlin (1889–1971), Ilse Lichtenstädter (1901–1991), Richard Ettinghausen (1906–1979), Martin Plessner (1900–1491973), Gotthold Weil (1882–1960) und David Sidersky (1857–1950). Einer der begabtesten Weggenossen von Horovitz war sicherlich Heinrich Speyer (1897–1935), der mit seiner Dissertation einen neuen Weg eingeschlagen hatte, indem er die Genese des Koran neben biblischen, rabbinischen und christlichen auch mit 150 gnostischen und samaritanischen Texten in Beziehung gesetzt hatte; auch erweiterte er Horovitz’ Methode zur Betrachtung koranimmanenter Textentwicklung. Man kann sogar sagen, dass Speyer in gewisser Weise ein Vorläufer intertextueller Lesarten des Koran war, wie sie derzeit Angelika Neuwirth

Arab-Jewish Relations:148 From Conflict to Resolution?: Essays in Honor of Moshe Maoz Eli Podeh, »Israel in the Middle East or Israel and the Middle East«, in: Les origines des légendes musulmanes dans le Coran, hrset dansg. von les Elie vies des Podeh und Asher Kaufman, Eastbourne: Sussex Academic Press, 2006, S. 93–113. 149prophètes Von den Biblischen Erzählungen im Qoran David Sidersky, , Paris: P. Genthner,Die biblischen 1933; Heinrich Erzählungen Speyer,im Qorân , Berlin: Akademie für die Wissenschaft des Judentums, 1924. 150 Vgl. Heinrich Speyer, , Gräfenhainichen: C. Schulze, 1931 [^1935]:, Nachdruck Hildesheim: Olms Verlag, 1988. 83 vorantreibt; Neuwirth versteht den Koran nicht als bloßen Empfänger früherer Tradition, sonder151 n als Manifestation einer exegetischen Behandlung desselben. Speyer sah im Blick des Koran auf biblische Texte sowohl jüdische als auch christliche Einflüsse und ging damit von einer komplexen Interaktion der Religionen aus. Seine Arbeit konnte sich auf bedeutsame Fortschritte in den Rabbinischen Studien stützen, insbesondere die zahlreichen, in den 1880er- und 1890er-Jahren veröffentlichten kritischen Editionen rabbinischer Texte, unter anderem von Salomon Buber (1827–1907) und Victor Aptowitzer (1871–1942). In Bezug auf die koranische Relektüre biblischer Erzählungen stellt Speyer fest: »Jüdische Sagen und Vorstellungen verschwinden, sobald das Christentum sich für seine Dogmenlehre auf sie bezieht, gehen vom Christentum in den Islam über, um auf diesem152 Umwege später wieder in der jüdischen Haggada aufzutauchen.« Er betont, dass jüdische Lehren von Christen weiterentwickelt und an den Islam vermittelt worden waren; diese kehrten dann in jüdischen Legendentexten wieder. Damit beschritt Speyer153 den Weg, den spätere Forscher wie Jacob Lassner weitergingen. Er nimmt eine Dynamik des Austauschs zwischen den drei monotheistischen Religionen an, ein

Der Koran als Text der Spätantike Der Koran: 151Handkommentar und Vgl. Neuwirth, , op. cit.; dies., Übersetzung, Bd. 1: Poetische Prophetie. Frühmekkanische Suren, Berlin: Verlag der Weltreligionen, 2011; dies., Koranforschung, eine politische Philologie? Bibel, Koran und Islamentstehung im Spiegel spätantiker Textpolitik und moderner Philologie, DieBerlin: biblischen de Gruyter, Erzählungen 2014; dies., im Qoran Scripture, Poetry, and the Making of a Community. Reading the Qur’an as a Literary Text, Oxford: Oxford University Press, 2014. 152 Demonizing the Queen of Sheba: Boundaries of Gender and Culture in Speyer, , op. cit., S. xiii. 153Postbiblical Judaism and Medieval Islam Jacob Lassner, , Chicago: University of Chicago Press, 1993. 84

Wechselspiel von Beeinflussung und Zusammenspiel. Speyers Ausführungen, die 1935 posthum veröffentlicht wurden, hatten eine radikale Natur. Sein Werk, welches für Dekaden unbeachtet blieb, ist besonders als Gegenposition zu Goitein bemerkenswert, der christliche Einflüsse auf den Koran verneinte und die Ansicht vertrat, dass »es absolut unmöglich ist, anzunehmen, dass Chris154ten oder auch Judenchristen die Mentoren Muhammads gewesen sind« , da die Figur des Christus und »alles andere christlich155e« in den ältesten 50 oder 60 Kapiteln des Koran nicht enthalten seien. Goitein nimmt daher an, dass der Koran allein dem Judentum verpflichtet sei. Ohne es offen darzulegen, impliziert diese Argumentation, dass die islamische Toleranz gegenüber dem Judentum – wie letztlich alles im Islam – aus diesem selbst herzuleiten sei. Nachdem Horovitz 1931 verstorben war, wurde Gotthold Weil zu seinem Nachfolger berufen, der nach Hitlers Machtübernahme nach Palästina auswandern sollte. Nach Osten: Einige zionistische Entwicklungen

In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts differenzierte sich jüdische Forschung über den Islam immer stärker aus; Juden besetzten jetzt Lehrstühle an deutschen Universitäten. In den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts begann, zeitgleich

154 Goitein, »Muhammad’s Inspiration by Judaism«, op. cit., S. 158. 155 Ibid. 85 mit dem Aufkommen deutscher Kolonialinteressen, die Blütezeit der akademischen Orientalistik und der mit ihr verbundenen Publizistik. Aber gerade die jüdische Forschung erinnert uns daran, dass der europäische Orientalismus nicht monolithisch gesehen werden kann; die Identifikation des Judentums mit dem Islam widerspricht Edward Saids Behauptung,156 dass der Islam für Europa ein »anhaltendes Trauma« darstelle. Gleiches gilt für Norman Daniels These, dass »die koloniale Expansion den Hintergrund aller Beziehungen mit dem Islam im 19. Jahrhundert bildete, und es verbreiterte sich zu zwei Extremen, nämlich zu administrativem Pragmatismus und missionarischem157 Eifer. Für letzteren war der Islam der große Gegenspieler.« Suzanne Marchand hat darauf hingewiesen, dass die Generation der Studenten nach 1885 eine neue geistige Haltung auszeichnete: Sie kritisierten ihre Doktorväter als engstirnig und suchten nach umfassenderen Hypothesen, welche inhaltlich und methodisch über die Disziplingrenzen hinwegreichten. Autoren wie Fritz Stern (1926–2016), Fritz K. Ringer (1934–2006) oder H. Stuart Hughes (1916–1999) haben sich mit dieser Wissenschaftlergeneration auseinandergesetzt, die fasziniert war von einem imaginierten Orient, den sie als dem Westen überlegen ansahen: Für sie verkörperte er

Orientalismus 156 Islam and the West: The Making of an Image Said, , op. cit., S. 76. 157 Norman Daniel, , New York: Oxford University Press, 1960, S. 327. 86 eine mystische Ursprünglichkeit und Natürlichkeit, die noch nicht von Rationalismus und kulturell bedingter Selbstentfremdung verstellt war.

Martin Buber ist wohl der bekanntes158te jüdische Denker, der das Judentum als orientalisch zu definieren suchte. Um jüdisch zu sein bedurfte es für ihn nicht ritueller Glaubensbekundungen, sondern spiritueller Sensibilität. Für Buber lag das schöpferische Potenzial des Judentums in der Mystik begründet, die jedoch im VerborgDie enenjüdische lieg Mystike und von den Rabbinern gegeißelt worden sei – eine Wortwahl, die später auch Gershom Scholem (1897–1982) in seinem Werk 159 in ihren Hauptströmungen aufgreifen sollte. Dieser jüdische Orientalismus, der mit dem Zustrom osteuropäischer Juden nach Zentraleuropa in Verbindung stand, war in viele Richtungen anschlussfähig – ob Mystik, Zionismus oder einer Ausprägung des Neo-Chassidismus, die der Schriftsteller Shai160 Ish Hurwitz (1860–1922) voller Sarkasmus ›tenuʿat ha- bimbam‹ nannte. Für Hurwitz war die Nachahmung des Chassidismus nicht authentisch und sogar lächerlich. Die neue Sprache des frühen 20. Jahrhunderts suchte nach Authentizität, Ganzheit und der Überwindung vermeintlicher degenerativer Entwicklungen. Demzufolge forderte man eine geistige Erneuerung des Judentums, aber auch Europas, die beide gleichermaßen von der unverbrauchten Vitalität des Orients profitieren sollten.

Vom Geist des Judentums. Reden und Geleitworte 158 Vgl. u. a. Martin Buber, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Leipzig: Kurt Wolff Verlag, 1916. 159 Vgl. Gershom G. Scholem, , FrankfurtDivided a. M.: Passions:Suhrkamp Jewish Verlag, Intellectuals 1957. Siehe and dazu the auch Experience Paul MendesFlohr, of Modernity »Fin de Siecle Orientalism, the Ostjuden, and the Aesthetics of Jewish Self-Affirmation«, in: Paul Mendes-Flohr, In Search of Hebraism. Shai Hurwitz and, hisDetroit: Polemics Wayne in the State Hebrew University Press, 1991, S. 88. 160Press Vgl. Stanley Nash, , Leiden: Brill Publishers, 1980. 87

Als die junge Generation zentraleuropäischer Juden begann, die geistige Erneuerungsbewegung des Chassidismus zu bewundern, machte sich dies auch in der Islamforschung bemerkbar. Verschiedene Ausprägungen des Islam wie der Sufismus und das Schiitentum, aber selbst die Praxis des Gebets, die im 19. Jahrhundert von der Forschung noch ignoriert worden waren, wurden nun, wie auch analoge Phänomene im Judentum wie Mystik, Apokalyptik und Pietismus, zu wichtigen Themen. Hinwendung zum Mystischen war dabei nicht gleichbedeutend mit einem Rückzug vom Politischen – im Gegenteil: Oft war die Hinwendung zur Mystik auf das Engste mit revolutionären Bestrebungen für jüdische Identität und Zionismus verbunden. Celtic Revivals Ein vergleichbares Phänomen ließ sich in Irland 161beobachten; Seamus Deane beschreibt in seinem Buch , dass William Butler Yeats’ (1865–1939) Hinwendung zur Mystik während des irischen Aufbegehrens gegen die Engländer nicht als ein Rückzug ins Private zu verstehen sei, sondern vielmehr gerade auf ihr revolutionäres Potenzial verweise. Exemplarisch dafür steht die Aussage des Dichters, dass »Irland seine Kultur162 durch das Wachhalten des Bewusstseins für metaphysische Fragen« behalten solle. In seiner Studie zum Orientalismus in Irland schreibt Joseph Lennon:

Celtic Revivals. Essays in Modern Irish Literature – Joyce, Yeats, O’Casey,161 Kinsella, Montague, Friel, Mahon, Heaney, Beckett, Synge Vgl. Seamus Deane, Natio, London,nalism, Boston: Colonialism, Faber and Faber, 1985. 162and Literature Zitiert nach Edward W. Said, »Yeats and Decolonization«, in: , hrsg. von Terry Eagleton, Fredric Jameson und Edward W. Said, Minneapolis: University of Minnesota Press, 1990, S. 81. 88

»Texte aus dem imperialen England haben Irland lange mit orientalischen Kulturen verglichen, zunächst um es auch auf textueller Ebene zu einem barbarischen Territorium zu erklären, um dann163 imperiale Strategien zur Beherrschung seiner Kolonien zu entwickeln.« Aber die Antwort der Iren darauf war gerade nicht der Rückzug. Ein Blick in den Orient half dabei, die eigene Rolle kennenzulernen. Die Orientalisierung Irlands entwickelte sich zweigleisig, wie Joseph Lennon anmerkt: Auf eine »imperialistische und [eine] antikoloniale Art, was wiederum die irische Gesellschaft in ihrer Identifikatio164 n und Gegnerschaft zum britischen Imperium widerspiegelte.« Die jüdische Faszination für Mystik, Chassidismus und die vermeintliche Authentizität osteuropäischer Juden war Ausdruck einer allgemeineren kulturellen Entwicklung, die sich auch am Beispiel des deutschen Interesses an den Religionen Indiens oder der Harlem165 -Renaissance und der Suche nach authentischem Schwarzsein äußerte. Hierbei handelte es sich nicht nur um romantische Erwägungen, sondern um konkrete politische Anliegen. Zur gleichen Zeit, zu der sich irische Intellektuelle dem Orient zuwandten, wuchs auch das jüdische Interesse am Islam merklich an, das sich ebenfalls im Spannungsfeld zwischen Identifikation und Widerstand gegenüber der deutschen Mehrheitsgesellschaft bewegte.

Irish Orientalism: A Literary and Intellectual History 163 Vgl. JosephIrish Lennon, Orientalism , Syracuse: Syracuse University Press, 2004, S. xviii. 164 German Imperialism Authentic Blackness. The Folk in Lennon, , op. cit., S. 116. 165the New Negro Renaissance Marchand, , op. cit.; J. Martin Favor, , Durham: Duke University Press, 1999. 89

Ein Wendepunkt der jüdischen Islamforschung war mit der frühen zionistischen Besiedlung Palästinas erreicht. Als selbst Forscher wie Friedlaender islamische Einflüsse auf das Judentum anerkannt hatten, zeichnete sich in einigen jüdischen Texten eine neue Sichtweise ab, die vor allem die Andersartigkeit des Islam stark machte. Den Koran lediglich als Rezeptor jüdischer Lehren zu betrachten machte es leichter, Muslime als Anhänger einer alten israelitischen Tradition zu identifizieren, auf die sich die Zionisten in Palästina berufen konnten. Aziza Khazzoom und Gil Eyal haben auf die auffällige Kontinuität hingewiesen, die zwischen den europäisch-jüdischen Orientalisten auf der einen sowie den gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen im Staat Israel auf der anderyishuven Seite bestand. In diesem Rahmen hat Eyal die Rolle jüdischer Islamgelehrter als Ratgeber bei der jüdischen Ansiedlung166 in Palästina ( ) und der israelischen Regierung untersucht. Khazzoom argumentiert, dass es die Übertragung des Orientalismusdiskurses auf den israelischen Kontext erlaubte, sowohl Juden als auch Araber entsprechenden Kategorien zuzuordnen. Dabei wurden osteuropäische Juden dem Westen zugerechnet. Bemühungen um einen kulturellen und politischen Binationalismus waren nicht erfolgreich. Als Goitein in Palästina ankam, unterrichtete er von 1923 bis 1928 zunächst an der jüdisch-muslimischen Reali-Schule in Haifa. Erst danach erhielt

The Disenchantment of the Orient: Expertise in Arab Affairs and the Israeli State 166 Gil Eyal, , AmericanStanford: StanforSociologicald University Review Press, 2006; Aziza Khazzoom, »The Great Chain of Orientalism: Jewish Identity, Stigma Management, and Ethnic Exclusion in Israel«, in: 68 (2003), S. 481–510. 90 er einen Ruf an die Hebräische Universität, wo er vor allem Islamisches Recht unterrichtete. Neben seinen Lehraufgaben arbeitete Goitein für das Bildungsministerium der Mandatsverwaltung in Palästina und forderte vehement die Einführung des Arabischunterrichts an jüdischen Schulen. In einer kurzen Streitschrift von 1946 schrieb Goitein, dass die Zionis167 ten als Kinder des Orients dazu angehalten seien, Arabisch zu lernen: »Das Erlernen der arabischen Sprache ist integraler Bestandteil des Zionismus […], ein Element der Rückkehr zur hebräischen Sprache und in den semitischen Orient, der heute komplett arabischsprachig ist. Wir möchten, dass sich unsere Töchter und Söhne als Kinder des Orients begreifen können, um sich in der Welt zurechtzufinden, genauso wie wir danach streben, dass sie das wertvolle Erbe des europäischen Geistes weitertragen, das wir mit uns gebracht haben.« Seine offensichtliche Enttäuschung über das wachsende jüdische Desinteresse an der arabischen Sprache veranlasste Goitein jedoch nicht dazu, zu überlegen, wie die arabische Bevölkerung seine Annäherungsversuche empfand: War168 sie in gleichem Maße an einer Symbiose interessiert, wie er es war? Schließlich betonte Goitein auch, dass »der Staat Israel die Speerspitze des Westens inmitten

On the Teaching of Ara bic 167 Shlomo DovThe Goitein, Jewish Quarterly Review (Hebrew; Tel Aviv, 1946), S. 8; zitiert nach: Liora R. Halperin, »Orienting Language: Reflections on the Study of Arabic in the Yishuv«, in: , Vol. 96, No. 4 (2006), S. 481–489. 168 Diese Frage wurde von Walid Saleh, University of Toronto, anlässlich einer Konferenz zu Shlomo Dov Goitein, die im März 2014 in Brandeis stattfand, aufgeworfen. 91

169 einer weiterhin feindlich-gesinnten östlichen Welt« sei. Das Problem, das sich heute stellt, so fügte er hinzu, sei, »ob die Kultur des Westens stark genug ist, die gigantischen Massen östlicher Völker zwischen Marokko bis nach Indonesien und auf die Philippinen, die bereits westliche Fertigkeiten und westliche Denkmuster angenomm170 en haben, zu einer einzigen globalisierten Zivilisation zu einen.« Sicherlich war dem Westen an solch einer Verschmelzung gelegen, aber ließ sich das so einfach auf den Osten übertragen? Goitein verließ Israel bereits 1957 und verbrachte danach viele Jahre als Wissenschaftler in den Vereinigten Staaten. Bedenkt man, wie er sich über den Propheten Muhammad geäußert hatte, so kann man annehmen, dass er seinen arabischen Zeitgenossen ähnlich gegenüberstand; er sah sie als »Mentoren, die ihn bei seinen ersten Schritten führten und ihn mit dem Material und im Ansatz sogar171 mit einer Vorstellung von seiner historischen Mission ausstatteten.« Wer waren diese »Mentoren«? Personen, die Muhammad in Mekka antraf, so argumentierte Goitein, die »er als gut versiert in den hebräischen

Jews and Arabs: their contacts through the ages 169 Shlomo Dov Goitein, , dritte revidierte Ausgabe, New York: Schocken Books, 1974, S. 9. 170 Ibid. 171 Goitein, »Muhammad’s Inspiration by Judaism«, op. cit., S. 152. 92

Schriften ansah und als kompetent in ihrem 172Zeugnis des wahren Inhalts der Offenbarung Gottes an die Menschheit.« Und tatsächlich meinte Goitein, »dass die ältesten Teile des Koran zu ihm [Muhammad] gekommen waren, sozusagen vorgefertigt, als organisches Ganzes.173 Sein eigener Beitrag bestand lediglich in seinem prophetischem Eifer.« Diese Darstellung der Ursprünge des Islam ähnelt dem Geschichtsentwurf, den Geiger schon hundert Jahre früher skizziert hatte, obgleich sich die politischen Implikationen der beiden Darstellungen stark voneinander unterschieden. Um den Transfer europäisch-jüdischer Wissenschaft nach Palästina und Israel nachzuzeichnen und die kulturellen und politischen Implikationen dieses Transfers zu bemessen, sind weitere wissenschaftliche Untersuchungen erforderlich. Die jüdische Vereinnahmung des Islam als eine vom Judentum abstammende Religion könnte auch ein Faktor keffiyehgewesen sein, der es den frühen Zionisten erschwerte, die Differenz arabisch-muslimischer und jüdischer Identitäten zu erkennen. Eine zu tragen, ein Kamel zu reiten und zu glauben, die Beduinen hätten sich eine authentische, biblische Identität bewahrt und könnten auf dieser Basis für die Sache der modernen Zionisten gewonnen werden: All dies war letztlich Ausdruck für die Suche nach einer jüdischen Identität, in deren Rahmen man den Islam als eine veränderte Form des Judentums interpretierte, die man für

172 Ibid., S. 154. 173 Ibid., S. 155. 93 die eigenen politischen Ziele in Anspruch nehmen konnte. Im Jahr 1911 versicherten die Mitarbeiter einer jüdischen Zeitschrift aus Palästina, »Ha- Herut« (›die Freiheit‹), dass Christen einen »religiösen Hass« gegenüber Juden pflegten, wohingegen174 Muslime von Natur aus tolerant gegenüber anderen Religionen seien. »Tolerant« war in den letzten Jahrzehnten kein Adjektiv, mit dem man von israelischer Seite aus den Islam beschrieb. Das von Europa nach Palästina verpflanzte Projekt der jüdischen Islamforschung wandelte sich mit der Gründung der Hebräischen Universität und unter dem Einfluss geopolitischer Konflikte, die in der Gründung des jüdischen Staates gipfelten. Auch wenn das Hauptaugenmerk der Forschung – die Übersetzung des Koran ins moderne Hebräisch, philologische Studien zu islamischen Texten sowie vergleichende Untersuchungen islamischer und jüdischer Lehren und Praktiken – sich kaum veränderte, war sie nun in einen spannungsreichen politischen Kontext eingebettet. Zusammenfassung

Der europäische Orientalismus brachte einen Diskurs hervor, der vor allem durch einen imperialistischen Ton geprägt war, wie Said aufgezeigt hat. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Die Islamwissenschaft war nicht einfach nur das Produkt

Defining Neighbors: Religion, Race, and the Early Zionist-Arab 174Encounter Vgl. Jonathan Gribetz, , Princeton: Princeton University Press, 2014, S. 115, 119. 94 des Forschungsinteresses christlich-europäischer Gelehrter mit imperialistischen Ambitionen. Die Frage, die ich aufwerfen möchte, ist: Warum fühlten sich so viele Juden im 19. und 20. Jahrhundert vom Islam angezogen? Und welchen Anteil hatte der Islam bzw. die jüdische Vorstellung von ihm an der Herausbildung einer modern-jüdischen Gelehrsamkeit und Identität? Dem Islam wurden in den imperialen Nationalstaaten Europas verschiedene Rollen zugeschrieben: Man skizzierte ihn als Garanten europäischchristlicher Überlegenheit und benutzte ihn als willkommene Ausrede für koloniale Abenteuer in Übersee, oder er war das Versuchsfeld, auf dem die Philologie ihre Fähigkeiten verfeinern konnte; ein andermal war er narrative Grundlage für erotische Abenteuer europäischer Männer oder diente als Schablone für die jüdische Selbstdarstellung im Kontext des christlichen Europa. Mit Saids Orientalismusbegriff kann man festhalten, dass die jüdische Islamforschung die traditionelle Dichotomie von europäischer Zivilisation und orientalisch-primitivem Islam durchbrach, weil sich Juden sowohl mit Europa als auch mit der muslimischen Welt identifizierten: Sie gehörten zum kolonisierten Anderen und hatten zugleich Anteil am europäischen Imperialismus. Mit einigen Ausnahmen wie Heinrich Graetz (1817–1891) und Ludwig Philippson (1811–1889) skizzierten jüdische Gelehrte den Islam als vernunftbasierte

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Religion, die zentrale Elemente mit dem Judentum teilte, obgleich das jüdische Recht viele religiöse Regeln gelockert hatte. Durch das Postulat, der Islam sei aus dem Judentum hervorgegangen oder teile zumindest elementare Überzeugungen mit ihm, wurde der jüdische Glaube zur »Mutterreligion« erhoben, die gleichzeitig ihre Eigenständigkeit bewahrt hatte. Und so kann man auch für die Wissenschaft des Judentums festhalten: Der schöpferische Einfluss des Judentums auf das Christentum und den Islam wurde beständig herausgestellt, wobei die Gelehrten stets bemüht waren, christliche oder muslimische Ideen oder Praktiken auszuklammern, die die Ursprünge des Judentums beleuchten könnten. Damals versuchten jüdische Wissenschaftler, das Judentum als autochthon zu bewahren. Wenn die Moderne durch die Konstruktion eines archaischen Moments in Erscheinung tritt, begründet die Wissenschaft des Judentums sich selbst nicht nur einfach durch ihre eigentümliche Konstruktion jüdischer Geschichte, sondern durch ihre weitgefassten Grundannahmen für den wissenschaftlichen Überbau des Studiums der westlichen Zivilisation. Wenn ich mit dem Gesagten den Eindruck vermittelt habe, dass es bei der Erforschung des Islam eine allen gemeinsame Stoßrichtung gebe, so ist das sicherlich etwas vereinfacht, denn tatsächlich handelte es sich nicht um eine uniforme Bewegung. Sicherlich hatten Goldziher

96 und Horovitz jeweils ihre eigenen Interessen, aber auch ein gemeinsames Verständnis von der Beziehung zwischen Judentum und Islam, welches sich aber von dem Geigers, Mittwochs oder Goiteins sehr unterschied; und auch die negativen Einstellungen gegenüber dem Islam, wie sie etwa Graetz, Phillipson und Hirschfeld vertraten, sollten nicht verschwiegen werden. Für viele jüdische Gelehrte des 19. Jahrhunderts war der Historismus ein willkommenes Vehikel zur Stärkung jüdischer Identität, wobei sie gleichzeitig abwertende Darstellungen der eigenen Religion in der christlichen Forschung kritisierten. Im 20. Jahrhundert war es nicht nur Ismar Elbogen (1874–1943), der dem Historismus die Qualität einer Offenbarung zuschrieb: »Gewiss ist das letzte und höchste in der Wissenschaft wie in der Kunst eine Offenbarung – wenn wir das heute begreifen, wie wir die Grenzen menschlicher Vernunft und Fähigkeit erfassen, wer anders kann diese Erkenntnis zur allgemeingültig175 en erheben, wenn nicht die Wissenschaft?« Die Aufgabe der Wissenschaft war für Elbogen fast messianisch. Er war überzeugt, sie könne den Hass überwinden und die Gegensätze unter den Völkern überbrücken. Innerhalb dieser universellen, Erlösung verheißenden Aufgabe müssten die Forscher

Festrede 175 Modern Judaism Ismar Elbogen, , Berlin, 1925, S. 14–15. Zitiert nach Michael Meyer, »Two Persistent Tensions within Wissenschaft des Judentums«, in: 24 (2004), S. 108. 97 der Wissenschaft des Judentums ihre Rolle einnehmen, indem sie geistig zu einer spirituellen Erneuerung der Welt beitrügen. Die jüdische Islamforschung war in vielerlei Hinsicht bedeutsam. Saids Analyse der europäischen Islamwissenschaft hatte sich hauptsächlich England und Frankreich zugewandt und wäre sicherlich beträchtlich erweitert worden, wenn sie auch die jüdische Forschung berücksichtigt hätte. Gleichzeitig wäre ihm sicherlich aufgefallen, dass seine Kritik am Orientalismus Berührungspunkte mit denjenigen jüdischen Stimmen hatte, welche christliche Interpretationen des Judentums kritisch gesehen hatten. Saids Argument gilt somit gleichermaßen auch für diese jüdische Kritik, wenn er schreibt: »Die entscheidende Frage ist doch, ob es überhaupt eine wahre Darstellung von etwas geben kann. […] Der eigentliche Punkt, den ich in Bezug auf ein solches System anbringen möchte, bezieht sich nicht auf Fehlinterpretationen eines wie auch immer gearteten orientalischen Wesens – an welches ich nicht im Geringsten glaube –, sondern, dass [das System] wie jede Darstellung in einem zuvor gesetzten historischen,176 intellektuellen und sogar ökonomischen Rahmen orientiert ist.«

Orientalismus 176 Said, , op. cit., S. xx. 98

Man könnte hinzufügen, dass dies ebenso für den theologischen Kontext gilt. Gerade das Aufspüren dieser »Tendenz« eines Textes, sei sie politisch, sozial oder religiös, war zentraler Bestandteil der philologischen Methode, welche schon der große Forscher des frühen Christentums, Ferdinand Christian Bauer (1792–1860), angewandt hatte. Dabei folgte er Geiger, der diese Vorgehensweise in seinen Forschungen zum antiken Judentum benutzt und die er später an Goldziher weitergegeben hatte, der sie wiederum in seinen Studien zum Hadith einsetzte. Doch konnte man hier eine wahre Darstellung bestimmen? Alle Autoren wurden für Vorurteile und Entstellungen kritisiert, sicherlich nicht immer zu Unrecht. Auf übergeordneter Ebene kommt man dennoch nicht umhin, die Relevanz des politischen, sozialen und religiösen Kontexts der jüdischen Auseinandersetzung mit dem Islam anzuerkennen. Das philologische Unbehagen, das Geiger, Weil und andere frühe Forscher erlebten, als sie jüdische Textpassagen, Ideen und Praktiken im Koran und anderen Texten frühislamischer Geschichte aufspürten, bereitete ihnen zugleich Freude, Bestätigung und sogar eine Art Kompensation für den Verlust ihrer religiösen Überzeugungen. Nach der Abkehr vom Geltungsanspruch jüdischer Orthodoxie sowie von der Überzeugung, die Tora sei die direkte Überlieferung des Wortes Gottes, konnten sie ihren Frieden im Nachweis der historischen Bedeutung

99 des Judentums für westliche Religionen finden. Die Emanzipation der Juden bedeutete nicht einfach nur eine Emanzipation vom Glauben oder vom Korsett der europäischen Nationalstaaten, sondern eher eine imaginierte Verwandlung der westlichen Geschichte in ein maßgeblich jüdisch beeinflusstes Narrativ. Auf diese Weise konnten sie sich in gewissem Maß über den Verlust ihres Glaubens hinwegtrösten; damit entstand jedoch die Gefahr einer imperialistisch angelegten Historizität, die es nicht vermochte, den Islam als eigenständige Religion wahrzunehmen. Wissenschaftler und Intellektuelle in der Levante – Muslime, Christen und Juden – haben sich der europäischen Islamforschung aus verschiedenen Richtungen angenähert. In den letzten Jahren sind im arabischen Raum mehrere Nachschlagewerke zur Arbeit europäischer Orientalisten erschienen. Ihr Einfluss reichte jedoch weit über den Nahen und Mittleren Osten hinaus,177 man denke hier nur an Südostasien, Indonesien, aber auch Nordafrika. Die Rezeptionsgeschichte dieser Forschung ist vielfältig und komplex, oft vermengen sich dabei Reaktionen auf die Geschichtsgläubigkeit der Moderne mit einer grundlegenden Skepsis gegenüber dem europäischen Islamverständnis, Frustration über den Imperialismus und den Schwierigkeiten im Umgang mit dem Stimmengewirr religiöser Antworten auf die Industrialisierung und den mit ihr einhergehenden

al - Mustashriqūn: mawsū a fī turāth al-ʿarab maʻa tarādjum al- 177mustashriqīn wadirāsātihim anhu, mundhu alf āmm hattā al-yaum Vgl. Najīb al-ʿAqīqī, ʿ ʿ ʿ [Die Orientalisten: Eine Enzyklopädie zum arabischen Erbe mit einer BiographieMawsu atüber al- mustashriqūnOrientalisten und ihre Arbeiten seit eintausend Jahren bis heute], 3 Bde., Kairo: Dār al-Maʿārif bi-Miṣr, 1964 (mehrereJuhūd Nachdrucke); al-mustashriqīn ʿAbd al al-Ra-indjilīzḥmān Badawī,fī l-tah qīq alturāthʿ al lughawī al- arabī [Enzyklopädie der Orientalisten], Beirut: Dār al-ʿilm li-l-Malāyīn, 1993 (mehrere Nachdrucke); ʿAunī ʿAbd al-Raʿūf, ʿ [Bemühungen der Orientalisten des arabischen Erbes zwischen Studium und Übersetzung], 3 Bde., Kairo: Maktabat al-Ādāb, 2004 (Nachdruck 2015). [Ich danke Mostafa Hussein, Brandeis University, für den freundlichen Hinweis.] 100

178 ökonomischen und politischen Veränderungen. Das heutige Misstrauen und die Verärgerung, die manche muslimische Intellektuelle gegenüber dem europäischen Orientalismus hegen, übersieht jedoch die vielschichtigen Motivationen und Ziele der Orientalisten. Der muslimisch-europäische Intellektuelle Parvez Manzoor klagt pauschal an: »Das orientalistische Unternehmen der Koranstudien, ungeachtet ihrer Verdienste, war ein aus Verachtung geborenes, in Frustration erzogenes, in Rachsucht genährtes Projekt; der Verachtung der Mächtigen für die Machtlosen, der Frustration der ›Rationalen‹ mit den ›Abergläubischen‹ und der Rachsucht der ›Orthodoxen‹ gegenüber ›Nonkonformisten‹. In der größten Stunde seines weltlichen Triumphs richtete der Westliche Mann mit der koordinierten Macht von Staat, Kirche und Wissenschaf179 t seinen entschiedensten Angriff gegen den Kern des Islam.« Im Gegensatz zu Manzoor sahen jüdische Gelehrte ihre Wissenschaft niemals als einen »entschiedenen Angriff« auf den Koran und den islamischen Glauben. Im Gegenteil, ihr Projekt war geprägt von Respekt und Faszination für den Islam, eine Religion, die sie als einen Höhepunkt des Rationalismus und nicht als Aberglauben ansahen.

The Reception of European Orientalism in the East: Scholarly Encounters in India, 178Iran, and the Maschriq during the Nineteenth and Twentieth Centuries Vgl. Enlightenment or Empire: Colonial Discourse in German, hrsg. Culturevon Susannah Heschel und Umar Ryad, New York: Routledge, 2018 (im Druck). 179 Russell Berman, , Lincoln, Nebraska: University of Nebraska Press, 1998, S. 118. 101

Der Zionismus hat die Frage, ob das Judentum dem Westen oder dem Osten zuzuordnen sei, in neuer Form aufgeworfen. Die Identifikation des Judentums mit dem Islam, wie sie von jüdischen Gelehrten forciert wurde, war der Versuch gewesen, das Judentum mit modernen philologischen Methoden und einer eurozentrisch angelegten Weltgeschichte in das kulturelle Zentrum Europa einzupassen. Das Christentum wurde in dieser jüdischen Deutung der Geschichte entthront, aber nicht der Westen an sich, der seinen Ehrenplatz auch in der modernen jüdischen Gelehrsamkeit behaupten konnte. Der Zionismus verkomplizierte dieses Verständnis weiter, da er dazu aufrief, den »östlichen« Charakter des Judentums anzuerkennen, auch wenn er selbst tief in der westlichen Politik wurzelte und die Präsenz der Araber im Nahen Osten übersah. Das konnte nicht ohne Folgen bleiben. Die europäisch-jüdischen Orientalisten verfolgten einen anderen Ansatz. Persönlichkeiten wie Wilhelm Bacher, David Yellin und Shlomo Dov Goitein erachteten die jüdische Gemeinde im Jemen als mögliches Vorbild für eine arabisch-jüdische Koexistenz. Laut Goitein lebten Araber und Juden 180dort in einem symbiotischen Verhältnis, das er sich auch für Israel erhoffte. Die Kontrolle von Staat und Verwaltung sollte danach nicht allein in den Händen von nur einer religiösen oder ethnischen Gruppe liegen. Goiteins Utopie einer arabisch-jüdischen

Like Joseph in Beauty: Yemeni Vernacular Poetry and Arab-Jewish 180Symbiosis Mark S. Wagner, The Jewish Past Revisited: Reflections on Modern Jewish Historians, Leiden: Brill, 2009, S. 6; Gideon Libson, »Hidden Worlds and Open Shutters: S. D. Goitein between Judaism and Islam«, in: , hrsg. von David Myers, New Haven: Yale University Press, 1998, S. 163– 98. 102

Symbiose hatte auf arabischer Seite kein Äquivalent. Im Mandatsgebiet Palästina spielte Goiteins Hoffnung keine Rolle, weder bei der jüdischen noch bei der arabischen Bevölkerung. Der Traum von jemenitischen Verhältnissen hatte nicht zuletzt das zionistische Ansinnen zum Gegner, einen jüdischen Nationalstaat statt eine integrierte Gesellschaft für Araber und Juden zu schaffen. Hinzu kam, dass man in Europa zwar eine Identifikation von Judentum und Islam betrieb, aber keine vergleichbare muslimische Verortung gegenüber dem Judentum erfolgte. Historische Untersuchungen über den Aufstieg des Islam waren bis Mitte des 20. Jahrhunderts an muslimischen Universitäten nicht verfasst worden, und obwohl die Beziehungen zwischen Juden und Muslimen in muslimischer Umgebung meist friedlich waren, zeigte die traditionelle islamische Theologie zumindest vor 1948 wenig Interesse am Judentum, der Bibel oder anderen hebräischen Texten. Walid Saleh hat in einem neueren Aufsatz zu einem muslimischen Hebräisten des 15. Jahrhunderts hervorgehoben, dass »Muslime sich selten, wenn überhaupt jemals auf die Bibel bezogen, um Glaubensgehalte zu beleg181en oder sie auf göttliche Botschaften und alte Gesetze zurückzuführen.« Wesentlich intensiver als mit dem Judentum war die arabische Welt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit dem europäischen Kolonialismus und islamischen

181 Speculum Walid A. Saleh, »A Fifteenth-Century Muslim Hebraist: Al-Biqa’i and His Defense of Using the Bible to Interpret the Qur’an«, in: 83 (2008), S. 632. 103

Modernisierungsbewegungen, aber auch mit aufkommenden Fundamentalismen befasst. Die Bemühungen jüdischer Islamforscher, in Palästina eine jüdisch- arabische Symbiose mit Referenzen an eine gemeinsame Vergangenheit zu befördern, weckten unter arabischen Intellektuellen zuweilen Argwohn und Vorbehalte. Kürzlich hat Yuval Evri etwa auf die Diskussionen um einen Vortrag hingewiesen, den Abraham Shalom Yahuda (1887–1951), ein in Palästina geborener, in Deutschland promovierter jüdischer Orientalist 1920 vor einem palästinensischen Publikum in Jerusalem gehalten hatte. In arabischer Sprache rief Yahuda die Araber dazu auf, ihr andalusisches Erbe zu beleben: »Wenn heute die Chance für die Araber besteht zu ihrer alten Aufklärung zurückzukehren, so wurde dies nur durch die Tugend der Imperien möglich, die für die Rechte der unterdrückten Völker kämpften. Wenn die Araber ihre ruhmreiche Vergangenheit erwecken […] müssen sie zu Ihrer ursprünglichen Generosität zurückkehren und anderen unterdrückten Völkern – einschließlich des Volkes Israel – erlauben, von den nationalen Rechten zu profitieren, die die Britische Regierung gewährt. Nur wenn der Geist der Toleranz und Freiheit, der im goldenen Zeitalter arabischen Denkens in al-Andalus herrschte […] sich heute in einer Art und Weise

104 wieder durchsetzt, die es allen Völkern ermöglicht, ohne religiöse oder ethnische Vorurteile, für die Wiederbelebung der Aufklärung der orientalischen Nationen zusammenzuarbeiten, […] kann eine allumfängliche orientalische Aufklärung wiedergebor182 en werden, die alle östlichen Nationen und Völker einschließt«. Yahudas Vortrag war getragen von seiner Vision einer Rückkehr zur jüdisch-muslimischen Koexistenz des Mittelalters, welche er als »goldenes Zeitalter« von al-Andalus idealisierte. Ähnliches galt es nach ihm auch in Palästina zu realisieren. Dieses Bild, welches durch die deutsch-jüdische Forschung von Geiger und Graetz bis Goitein für eine jüdische und christliche Leserschaft in Deutschland kultiviert wurde, hatte bei einem arabischen Publikum in Palästina jedoch andere Implikationen. Die arabische Antwort auf Yahudas Vortrag war, wie Evri festhält, äußerst scharf. So fragte der arabische Autor Hasan Sidqi al-Dajani (1890–1938), der 1938 mutmaßlich wegen seiner moderaten politischen Ansichten in Bezug auf die Zusammenarbeit mit Zionisten von arabischen Radikalen ermordet wurde: »Könnte es eine Rückkehr nach al-Andalus, zu einer Zeit der Toleranz und des Miteinanders gerade zu dem Moment geben, da der Zionismus alles daran setzt183 seine Hoheitsgewalt über die arabische Heimat zu erlangen?«

Translating the Arab -Jewish Tradition: From al-Andalus to Palestine / Land of 182Israel Yuval Evri, Army of Shadows: Palestinian Collaboration with Zionism, 1917–1948 , Berlin: Essays of the Forum Transregionale Studien 1/2016, S. 5. 183 Vgl. Hillel Cohen, , übersetzt von Haim Watzman, Berkeley: University of California Press, 2008, S. 130–131. 105

Wenige Jahre nach Yahudas Vorlesung, als in Palästina die Spannungen zwischen Arabern und Juden zunahmen und schließlich in die gewaltsamen Übergriffe von 1929 mündeten, publizierte das Brit Schalom- Mitglied Haim Margolis-Kalvaryski in der hebräischen Zeitung Davar einen Artikel mit dem Titel »An unsere muslimischen Brüder«. Darin skizzierte er die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg als utopische Ära der jüdisch- arabischen Beziehungen und wünschte sich deren Erneuerung. Brit Schalom war für den Autor der Beweis für das jüdische Interesse an einem friedlichen Zusammenleben mit den Arabern. Die Reaktionen arabischer Intellektueller waren nun noch feindlicher. Wie die Historikerin Anita Shapira aufgezeigt hat, verbreiteten Zeitungen aus dem Umfeld des Jerusalemer Muftis al-Hajj Amin al-Husaini das Gerücht, dass die Juden die al-Aqsa-Moschee zerstören und die Araber184 vertreiben wollten; selbst Brit Schalom könnte man nicht mehr trauen. Welche Schlüsse lassen sich aus der hier dargelegten Betrachtung über ein Jahrhundert jüdischer Islamforschung ziehen? Als Forschungsgebiet wurde der Islam mit Geigers 1833 erschienener Untersuchung zu den Gemeinsamkeiten zwischen Islam und Judentum entdeckt. Als Hitler hundert Jahre danach an die Macht gelangte, verlor ein Viertel der Orientalistikprofessoren an deutschen Hochschulen ihre Stellen, hinzu kamen unzählige

Land and Power 184 Shapira, , op. cit., S. 171–72. 106

Assistenten, Mitarbeiter und Studierende. Einige der jüdischen Wissenschaftler konnten emigrieren, so etwa Eugen Mittwoch, der 1935 seine Professur an der Berliner Universität verlor, die in Frankfurt promovierte Ilse Lichtenstädter (1907–1991) oder Franz Rosenthal (1914–2003), ebenfalls aus Berlin. Nicht alle konnten ihre akademischen Karrieren fortsetzen: Mitwoch verstarb 1942 in London, andere wurden von den Nazis ermordet oder beging185en Suizid wie der nach Kairo emigrierte Paul Kraus (1904–1944). Kann man die jüdische Forschung, die eine Blütezeit von hundert Jahren erlebt hat, aus der Perspektive der NS-Zeit und des Holocaust als tragisch begreifen? Oder sollte man eher ihrem wissenschaftlichen Erbe Respekt zollen, ihre intellektuelle Lebendigkeit und die Leistungen jüdischer Forscher anerkennen, die sich für eine andere Religion als ihre eigene interessierten? War diese Arbeit nicht sogar beispielhaft? Die hier erzählte Geschichte soll wenigstens teilweise den blinden Fleck erschließen, den die bisherige Forschung über die deutsche Islamwissenschaft hinterlassen hat, indem sie die Forschungsmotiv186 e und Arbeiten jüdischer Gelehrter ausklammerte. Einige ihrer Kollegen, die nach den Rassegesetzen des Dritten Reichs als Arier eingestuft wurden, nahmen die NS-Ideologie bereitwillig bis begeistert auf. Rudi Paret (1901–1983), Bertold Spuler (1911–1990), August Fischer (1865–1949), Franz

185 Die Nachfolger der Exegeten: Deutschsprachige Erforschung des Vorderen Einen ÜberblicOrients ink derzu Flucht ersten und Hälfte Vertreibung des 20. Jahrhunderts jüdischer Orientalisten aus Deutschland bieten: Ludmila Hanisch, The Jewish discovery of Islam: Studies, Wiesbaden:in honor of Bernard Harrassowitz Lewis Verlag, 2003, S. 114–173; Joel L. Kraemer, »The Death of an Orientalist: Paul Kraus from Prague to Cairo«, in: , hrsg. von Martin Kramer, Tel-Aviv: Moshe Dayan Centre forLeo Middle Baeck Eastern Institute an dYearbook African Studies, Tel Aviv University, 1999; Ruchama Johnston-Bloom, »Symbiosis Relocated: The German- Jewish Orientalist Ilse Lichtenstädter in America«, in: 58 (2013), S. 95–110. 186 Der Nahe Osten Hans Heinrich Schaeders 1940 veröffentlichte Erhebung beinhaltet keine jüdischen Gelehrten, vgl. Hans Heinrich Schaeder, »Deutsche Orientforschung«, in: (Berlin) 1 (1940), S. 129–34. Die 1942 von Enno Littmann verfasste Einschätzung des deutschen Beitrags ignoriert Goldziher und marginalisiert Mittwoch, vgl. Wokoeck, op. cit., DieS. 191. arabischen Johann FückStudien läss int GeigerEuropa ebenso wie die von einigen Forschern herausgestellten Berührungspunkte zwischen dem Islam und dem Judentum unerwähnt, vgl. Johann Fück, , Leipzig: Otto Harrassowitz, 1955. 107

Taeschner (1888–1967) und Richard Hartmann (1881–1965) engagierten sich in unterschiedlichem Ausmaß in Naziaktivitäten. Rudi Paret, von dem die in Wissenschaftskreisen maßgebliche Übersetzung des Koran ins Deutsche stammt, trat 1934 in die NSDAP ein und wurde Mitglied des deutschchristlichen Instituts zur Erforschung und Beseitigung187 des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben. Dasselbe gal188t für den Orientalisten und Iranisten Hans Heinrich Schaeder (1896–1957). Letzterer interpretierte den Islam ganz im Sinne der NS-Ideologie, wenn er »die Feindschaft des Propheten gegenüber den Juden« als zentrales Identitätsmerkmal hervorhob und Muhammad als »natürlichen Führer« charakterisierte. Auf diese Weise suggerierte Schaeder eine Verwandtschaft zwischen Deutschen und Muslimen, die gleichermaße189 n ein »völkisches Bollwerk gegen Überfremdung« verkörperten. Die NSPropaganda verbreitete diese Darstellung gezielt in Nordafrika und Arabien und hinterließ ein Repertoire antisemitischer Bilder und Motive, dessen gefährliche Folgen bis in die Gegenwart zu besichtigen sind. Doch die Geschichte jüdischer Islamforschung endete nicht mit Hitler. Deutsch-jüdische Gelehrte prägten auch das Denken nachfolgender Generationen von Wissenschaftlern. Ihr positives Bild vom Islam trug dazu bei, einige orientalistische

187 The Aryan Jesus: Christian Theologians and the Bible in Nazi Germany Rudi Paret war seit dem 20. Juli 1934 Parteimitglied mit der Mitgliedsnummer 295691. Vgl. Susannah Heschel, , Princeton: Princeton University Press, 2008. 188 Schaeder hielt im November 1941 einen Vortrag bei der »Nordischen Arbeitstagung der Arbeitsgemeinschaft Germanentum und Christentum« zum Thema »Wilhelm Groenbach [ein dänischer Religionsund Literaturwissenschaftler] und die heutige Religionswissenschaft«. Bei der »Nordic WorkingThe Aryan Conference«, Jesus die vom 7.–13. Oktober 1942 in Weißenfels stattfand, hielt er einen Vortrag zum Thema »Die Ostgrenze der europäischen Kultur«. Siehe dazu: Heschel, , op. cit., S. 147. Laut eines Beobachters der Konferenz von 1942 forderte Schaeder ein Bündnis des Mittleren Ostens und Deutschlands gegen England. Er erklärte dies damit, dass es niemals deutliche Unterschiede zwischenIslam christlichen and Nazi Germany’s und muslimischen War Traditionen gegeben habe. Archiv des Auswärtigen Amtes, Signatur R98796: Nummer 1949: Abteilung Inland I-D, 3/4. 189 Nazi Propaganda for the Arab Dav Worldid Motadel, , Cambridge, MA: Belknap Press of Harvard University Press, 2014, S. 68. Siehe auch Jeffrey Herf, , New Haven, CT: Yale University Press, 2010. 108

Stereotype über Muhammad und den Koran zu entkräften. Indem sie rabbinische und islamische Traditionen zueinander in Bezug setzten, öffneten sie neue Sichtweisen auf die Entstehungsgeschichte des Islam. Zugleich inspirierten sie damit auch die Geschichte des Judentums mit neuen Narrativen, in deren Rahmen man nun die leidvolle Erfahrung unter christlicher Herrschaft mit dem goldenen Zeitalter jüdischen Lebens unter der muslimischen Herrschaft auf der iberischen Halbinsel in Kontrast setzte. Verstärkt wurde die Identifikation der beiden Religionen, indem man sie beide als »ethische Monotheismen« klassifizierte. Der Ausbruch des Konflikts zwischen jüdischem und arabischem Nationalismus in Palästina blieb auch für die jüdische Islamrezeption nicht ohne Folgen. Koranzitate, die Juden als beleidigend empfanden oder in denen von militärischer Eroberung die Rede war, erlangten eine neue diskursive Präsenz. Das Bild vom Islam als aufgeklärte, rationale Religion, wie Goldziher es vertreten hatte, verlor vor dem Hintergrund des gewaltsamen Konflikts an Bedeutung. Der Verweis auf theologische und textuelle Berührungspunkte war kaum noch von Interesse; philologische Feinheiten hatten im tödlichen Kampf um Land und politische Macht keine wahrnehmbare Stimme mehr. Wie kaum ein anderer brachte der palästinensische Lyriker Mahmud Darwish (1941–2008) die

109 politische Misere zwischen Arabern und Juden in einem Gedicht zum Ausdruck: »Bald werden wir nachforschen, Was unsere Geschichte in den Ländern neben eurer Geschichte war. Und am Ende werden wir uns fragen: War al-Andalus 190 Hier oder dort? Auf der Erde … oder im Gedicht?«

190 Wir haben ein Land aus Worten. Ausgewählte Gedichte, 1986–2002. Arabisch-Deutsch Mahmud Darwish, »Elf Sterne über dem letzten andalusischen Schauplatz (1992)«, in: ders., , übersetzt und hrsg. von Stefan Weidner, Zürich: Amman20.n VerlagJahrhundert 2002, S. 49 [hier abgewandelte Übersetzung von Patricia Hertel, Der erinnerte Halbmond. Islam und Nationalismus auf der Iberischen Halbinsel im 19. und , München: Oldenbourg Verlag, 2012, S. 205.] 110

Danksagung

Dieses Buch geht auf den Vortrag »Islam und jüdisch-deutsches Selbstverständnis« zurück, den ich am 7. Dezember 2013 auf dem Symposium »Gelehrsamkeit und Engagement« zu Ehren von Angelika Neuwirth im Rahmen eines Symposiums von »Europa im Nahen Osten – Der Nahe Osten in Europa« (EUME), einem Forschungsprogramm des Forum Transregionale Studien an der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften gehalten habe. Angelika Neuwirth gebühren große Verdienste bei der Erforschung des Koran und der Erhaltung des Erbes der Wissenschaft vom Judentum. Ihr möchte ich dieses Buch widmen: Als Wissenschaftlerin, aber auch als Freundin. Die zeitgenössische Koranforschung, die Vielfalt islamischer Modernismen, intellektuelle und kulturelle Bewegungen in der Levante sowie die verschiedenartigen politischen Strömungen wie der Zionismus sind gleichsam Erben der Islamforschung, die in Europa ihren Anfang nahm und die ich in ihrem jüdisch-islamischen Faden in diesem Buch aufgegriffen habe. Die gegenwärtige Koranforschung, wie sie durch Angelika Neuwirth verkörpert wird, knüpft an diese

111 deutsch-jüdische orientalistische Tradition an und markiert gleichzeitig einen Wendepunkt in unserem Koranverständnis. Mit ihrer Sensibilität für Poesie und Gebet, für Mündlichkeit und Schriftlichkeit, macht sie auf Aspekte des Koran aufmerksam, die bisher nicht oder nur unzureichend wahrgenommen worden sind. Sie hat das Interesse an der jüdischen Koranforschung, wie sie die Wissenschaft des Judentums betrieben hat, in Erinnerung gerufen. Was ihre Forschung ausmacht, ist gerade die Erkenntnis, dass der Koran nicht nur ein »Empfänger« früherer Traditionen ist, sondern vielmehr ein Übersetzer und Erklärer dieser Traditionen. Mit ihrem Ohr für Poesie konnte sie überzeugend nachweisen, dass der Koran biblische Psalmen aufnimmt und überformt. Ihre Forschung setzt die komplexe und oft synkretistische Religiosität der Spätantike in Szene und begnügt sich nicht damit, lediglich die Beeinflussung durch Judentum, Christentum oder andere Traditionen hervorzuheben. Und, vielleicht am wichtigsten, sie gibt dem Koran seine eigene Ordnung und Subjektivität zurück und hebt deren Anteil bei Interpretation und Lektüre hervor. Zunächst richtet sich mein Dank an Constance Buchanan und Alice Bernstein von der Ford Foundation, die mir die diesem Buch vorausgegangene Recherche mit zwei Forschungsstipendien ermöglicht haben. Ihre Förderung ermöglichte es mir,

112 insgesamt acht Konferenzen am Dartmouth College zu veranstalten, bei denen Islamforscher und Judaisten miteinander ins Gespräch kamen. Mein Interesse am Islam entstand, als ich in den 1990er-Jahren an einem Buch über Abraham Geiger arbeitete, dem Begründer der modernen jüdischen Islamforschung. Zehn Jahre später erkannte mir die Carnegie Corporation ein Stipendium für weitere Forschungen auf diesem Gebiet zu. Das Dartmouth College erteilte mir dankenswerterweise zwei Sabbatjahre, um mein Vorhaben voranzutreiben. Dazu stellte mir Jonathan Wilson einen Arbeitsplatz am Center for the Humanities der Tufts University in Boston zur Verfügung. Hier traf ich unter anderen auf die Historikerin Ayesha Jalal, mit der ich viele inspirierende Gespräche führen durfte. In den Jahren 2011 bis 2012 war ich Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. An diesem wunderbaren Ort konnte ich zahlreiche renommierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kennenlernen. Besonderen Dank schulde ich dem Rektor des Wissenschaftskollegs, Luca Giuliani, für seine inspirierenden Gedanken und kritischen Anmerkungen. Danken möchte ich auch allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die offene und warme Atmosphäre am Kolleg sowie dem großartigen Bibliothekspersonal. Ich hatte das Glück,

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Teil eines Fellow-Jahrgangs zu sein, den ich für die vielen stimulierenden Gespräche und Seminare dankbar in Erinnerung behalte. Danken möchte ich außerdem Georges Khalil, wissenschaftlicher Koordinator am Forum Transregionale Studien, der gedanklich stets einen Schritt voraus ist und mich an seinem profunden Wissen über die Islamforschung teilhaben ließ. Ohne Georges wären Übersetzung und Veröffentlichung des vorliegenden Textes nicht möglich gewesen. Bedanken möchte ich mich auch bei Fellows des von ihm koordinierten EUME-Programms des Jahrgangs 2011–12, darunter Samer Rashwani, Adam Mestyan und Michael Allan, sowie bei Islam Dayeh, einem Schüler Angelika Neuwirths, den ich im EUME-Umfeld kennengelernt habe. Nach meiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten wurde mir 2013 ein Guggenheim Fellowship zuerkannt, das mir weitere Forschungen ermöglichte. Im November 2014 war ich Stipendiatin des Katz Center for Advanced Jewish Research der University of Pennsylvania. Dort profitierte ich von der Zusammenarbeit mit anderen Forschern der Wissenschaft des Judentums, darunter Hanan Harif, Katalin Rac und Michael Meyer. Herzlich danken möchte ich dem Direktor des Instituts, Steve Weitzman, für seine inspirierenden Forschungen und Ideen.

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Selbstverständlich geht mein Dank auch an die Freundinnen und Freunde und KollegInnen, die mit mir über das Projekt diskutiert haben, darunter David Powers, Suzanne Marchand, Jane McAuliffe, Mark Cohen, Abraham Udovitch, William Graham, Roy Parviz Mottahedeh, Jeffrey Herf, Samuel Klausner, Gideon Libson, Robert Erlewine, Zachary Braiterman, Jonathan Skolnik, Jonathan Decter, Veronika Fuechtner, Sander Gilman, Anat Biletzki, Zahra Ayubi, Neilesh Bose, Katajun Amirpur, Navid Kermani und der 2016 im Berliner Exil verstorbene Sadik al-Azm. In Berlin bin ich vielen großartigen WissenschaftlerInnen begegnet, denen ich für ihre Arbeit danken möchte: Joerg Tiejdman, Peter Janz, Gerdien Jonker, Sabine Mangold, Sabine Schmidtke, Corry Guttstadt, Ute Frevert, und nicht zuletzt Rainer Graupner. Hinzu kommen meine engsten Freunde, die Berlin schon lange zu meinem zweiten Zuhause machen: Christina von Braun, Micha Brumlik, Beatrix Jessberger und Siegfried Virgils. Einen wichtigen Anteil an der Fertigstellung meiner Arbeit haben außerdem meine Kolleginnen und Kollegen am Dartmouth College. Unter den Studierenden möchte ich insbesondere Jacob Cutler, Evan Ashley und Terren Klain hervorheben. Wichtige praktische Unterstützung leistete mir der Bibliothekar von Dartmouth, William

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Fontaine. Er half mir, schwierig aufzufindendes Material zu beschaffen, und gab mir viele wertvolle Lektürehinweise. Ich bin auch meinen KollegInnen am Dartmouth College dankbar, insbesondere in den Fakultäten für Religionswissenschaft, Jüdische Studien und Geschichte. Es ist mir eine Ehre, Inhaberin des Eli Black Chair in Jewish Studies zu sein, den Leon Black 1973 im Andenken an seinen Vater gestiftet hat. Mein besonderer Dank geht an die Übersetzer, insbesondere an meinen wunderbaren Kollegen Dirk Hartwig. Von seiner behutsamen und kenntnisreichen Übersetzung ins Deutsche, seinen Anmerkungen und seinen bibliographischen Hinweisen hat dieses Buch sehr profitiert. Zu meiner großen Freude habe ich einen wundervollen Ehemann, James Aronson, und zwei großartige Töchter, Gittel und Avigael, die für mich ihr Leben über den Haufen geworfen haben und mit mir nach Berlin und Boston gekommen sind. Ihre Geduld und ihr Interesse an meiner Arbeit bedeuten mir viel.

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Nachwort

Einen »jüdischen Islam« gibt es genauso wenig oder so viel wie ein »jüdisch-christliches Abendland«. Letzteres sei eine Erfindung der europäischen Moderne und ein Lieblingskind der traumatisier191 ten Deutschen, so die Religionsphilosophin Almut Bruckstein. Ein echter jüdisch-christlicher Dialog sei erst nach der Shoah entstanden. Gewöhnlich, so Bruckstein weiter, werde die jüdischchristliche Tradition, im Sinne einer Verteidigung unseres Rechtsstaates, unserer Freiheiten und freiheitlichen Werte auf einem Kampfplatz in Stellung gebracht, auf dem es vor allem einen Gegner gebe, der zu keinem Bindestrich zu taugen scheine, den Islam. Verweigerte Integration, doppelte Loyalitäten, rückständige Religiosität und eine Unfähigkeit zur Bindung an Land und Kultur sind nur einige der Vorwürfe, die im 19. Jahrhundert und bis in die Dreißigerjahre des 20. Jahrhunderts die Auseinandersetzungen um die rechtliche und gesellschaftliche Stellung der Juden in Deutschland begleiteten. Viele dieser Vorwürfe leben in den zeitgenössischen Diskussionen um die Emanzipation von Muslimen in der deutschen Gesellschaft

Der Tagesspiegel 191 »Die jüdisch-christliche Tradition ist eine Erfindung«, , 12.10.2010. 117 weiter. Unter dem Titel »jüdischer Islam« thematisiert Susannah Heschel die Bedeutung, die der Islam für jüdische Wissenschaftler im deutschsprachigen Raum für ihre eigene Selbstbestimmung hatte. Jüdischer Islam ist dabei vor allem eine Perspektive, mit der Wissenschaftler wie Abraham Geiger, Gustav Weil, Gottlieb Leitner, Ignaz Goldziher, Eugen Mittwoch, Josef Horovitz und viele andere nicht nur den Islam studierten, sondern auch ihr eigenes Verhältnis zu jüdischer Tradition und Reform sowie Fragen ihrer staatsbürgerlichen Emanzipation in deutschsprachigen Ländern verhandelten – auf einem Terrain, auf dem sie der Umklammerung der christlichen Theologen und Philosophen entweichen konnten. Die Vorstellungen einer jüdisch-islamischen Symbiose, zum Beispiel in Andalusien, sind so gesehen weniger Nostalgie als vielmehr Spiegel zeitgenössischer Emanzipationserwartungen. Die Rede von jüdisch-islamischen Affinitäten in Theologie, Literatur und Philosophie fand im 19. und frühen 20. Jahrhundert ihren Widerhall auch in der andalusischen Architektur vieler Synagogen, so etwa in der Oranienburger Straße in Berlin. Im Deutschland des 19. Jahrhunderts schien der Weg der Emanzipation über Andalusien, die arabische Philologie, den Islam oder den Orient zu führen. Gustav Weil, ein Philologe und Islamwissenschaftler, war der erste jüdische Wissenschaftler überhaupt, der 1861 eine ordentliche Professur an einer deutschen

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Hochschule erhielt. Ihm folgten viele andere, natürlich nicht nur in der Islamwissenschaft, aber gerade ihre Entwicklung wurde bis zur Shoah maßgeblich von jüdischen Gelehrten geprägt. Jüdische Islamwissenschaftler und OrientalistInnen wurden nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten mit Promotionsund Habilitationsverboten belegt, entlassen, ins amerikanische, englische, türkische oder nah-östliche Exil getrieben, manch192e wie die Hamburger Arabistin Hedwig Klein in Auschwitz ermordet. Der andauernde Konflikt um Israel und Palästina hat nicht viel mit den Forschungen und Ansichten der Protagonisten Susannah Heschels zu tun. Aber gerade weil dieser Konflikt auch mit der deutschen Geschichte verflochten ist und seine Schatten auf unsere Gesellschaft wirft, ist es wichtig, an diese gebrochene jüdisch-islamisch-deutsche Tradition zu erinnern. Und dies nicht etwa, weil die Muslime die neuen Juden oder Antisemiten der Deutschen sein könnten, denn sie sind es nicht. Die Arabistin und Koranforscherin Angelika Neuwirth, der Susannah Heschel den vorangegangenen Essay widmet, spinnt einige der Fäden weiter, die von Vertretern der Wissenschaft des Judentums wie Abraham Geiger193 oder anderen jüdischen Islamwissenschaftlern entwickelt worden sind. Gemeinsam mit der eingangs zitierten Almut Bruckstein und mit Navid Kermani hat sie von 2001 bis

Deutsche Orientalistik zur Zeit des Nationalsozialismus 1933–1945 192 Ekkehard Ellinger, Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang, Berlin 2006. 193 Der Koran. Band 1: Frühmekkanische Suren. Poetische Prophetie So z. B. Angelika Neuwirth, Band 2/1: Frühmittelmekkanische Suren. Das neue, FrankfurtGottesvolk a. M. 2010; Im vollen Licht der Geschichte. Die Wissenschaft des Judentums, und Verlagdie Anfänge der Weltreligionen, der kritischen Koranforschung Berlin 2011, , Berlin 2017; , hrsg. gemeinsam mit Dirk Hartwig, Walter Homolka u. Michael Marx, Würzburg, Ergon, 2008. 119

2006 im Rahmen des Berliner Arbeitskreises Moderne und Islam das Projekt Jüdische und Islamische Hermeneutik als Kulturkritik geleitet. Ziel dieses Vorhabens war die (erneute) Inblicknahme des jüdisch-arabischen Kulturund Gesprächsraums. Dabei ging es nicht um die Verklärung einer goldenen Vergangenheit in Andalusien, sondern um die Idee, jüdische und muslimische kulturkritische Diskussionen der Gegenwart über die gemeinsame Arbeit an Fragen der religiösen194 Traditionen und ihrer Politisierung in einen Austausch zu bringen. Fragen nach Schriftlichkeit und Mündlichkeit, nach Kanonisierungsprozessen, exegetischen Strategien, der Hermeneutik von Gemeinschaft und ihren Grenzen, nach Konzeptionen von Häresie und Apostasie, der Ästhetik von Gewalt in religiösen Traditionen leiteten die Diskussionen dieses Projekts, an dem sich über Fellowberufungen des Wissenschaftskollegs zu Berlin und über das Postdoc-Programm, die Sommerakademien, Workshops und Seminare des Arbeitskreises Moderne und Islam Hunderte von Wissenschaftlern unterschiedlicher Generationen,195 Fachrichtungen, nationaler oder religiöser Herkünfte beteiligten. Seit einigen Jahren ist in Israel, in vielen arabischen Ländern und in ihren Diasporas ein zunehmendes Interesse an der Geschichte und Kultur von Juden im Nahen Osten zu beobachten. Zahlreiche akademische

194 https://www.wiko-berlin.de/institution/projekte- kooperationen/projekte/archiv/arbeitskreis-moderne-und-islam/islamische-und- juedische-hermeneutik-als-kulturkritik/, letzter Zugriff 05.07.2018. 195 Das Vorhaben wurde seinerzeit durch die Fritz Thyssen Stiftung ermöglicht, die auch die ersten fünf Jahre (2006–2011) des Forschungsprogramms »Europa im Nahen Osten – Der Nahe Osten in Europa (EUME)« finanziert hat, das seit 2011 am Forum Transregionale Studien weitergeführt wird. 120

Studien, Romane, Memoiren und Dokumentarfilme behandeln das Leben und das Ende jüdischen Lebens in arabischen Ländern. Intellektuelle und Wissenschaftler wie Ella Shohat, Sami Shetrit Shalom, Shimon Balas oder Yehuda Shenhav haben die Idee des »Arabischen Juden« in die israelische Debatte um kulturelle und politische Identität eingebracht. Im Jahr 2014 haben wir im Rahmen von EUME Wissenschaftler aus Israel, Palästina, dem Libanon, Ägypten und aus anderen Ländern nach Berlin eingeladen, um über die Chancen zu diskutieren, die sich aus der arabischjüdischen Ideengeschichte und der Geschichte jüdischen Lebens in arabischen Ländern für die Such196 e nach einer Sprache ergeben könnten, dModernie verbind Middleet sEasterntatt zu trennen.Jewish Thought. Der unmittelbarWritings on eIdentity, Anstoß Politicswar das & Ersch Culture,einen 1893 der– von 1958Moshe Behar und Zvi Ben-Dor herausgegebenen Anthologie 197 . Dieses Buch komplementiert in gewisser Weise den Essay von Susannah Heschel, da es Positionierungen von Zeitgenossen Weils, Leitners oder Goldzihers im Nahen Osten dokumentiert – von orientalischen Juden (Mizrahim, Sephardim und Aschkenasim) in ihrer arabischsprachigen Umwelt. Die Texte etwa des ägyptischen Theaterpioniers Ya’qub Sanu’a, der aus Beirut stammenden Journalistin Esther Moyal, des ägyptischen Rechtsanwalts Murad Farag, des palästinensischen Intellektuellen

Possibilities of Arab Jewish Thou ght 196 , Forum Transregionale Studien, Berlin, 25. bis 27. Juni 2014: https://www.eume-berlin.de/veranstaltungen/workshops/workshops-seit- 2006/the-possibilities-of-arab-jewish-thought.html, letzter Zugriff 05.07.2018. 197 Brandeis University 2013. 121

Haim Ben-Kiki, des ägyptischen Ministers Jusuf Qattaui Pasha oder des Kommunisten Henri Curiel behandeln politische und kulturelle Fragen nach dem Verhältnis von Judentum, Zionismus, Nationalismus und Kommunismus, der Bedeutung von Sprache und Land, nach dem Stellenwert europäischer Kultur im Orient oder von Solidarität und Diversität als Grundlagen einer humanen Gesellschaft. Der Berliner Arabist Islam Dayeh, ein Schüler Angelika Neuwirths, hat den intellektuellen Lebensweg von Israel Wolfensohn (1899–1980) 198 nachgezeichnet, der zwischen Jerusalem, Kairo und Frankfurt verlief: Wolfensohn (arabisch Abu Dhu`ayb / hebräisch Ben-Ze’ev) wurde als Kind einer aus KulliyyaBelarus stammend’Arabiyya en und Anfang des 19. Jahrhunderts ins galiläische Safad eingewanderten Familie in Jerusalem geboren, hat dort ab 1918 das (Arabisches Kolleg) besucht, das von den palästinensischen Intellektuellen und Bildungspolitikern Khalil Sakakini und Khalil Totah geleitet wurde. Wolfensohn gehörte dem ersten Jahrgang des Kollegs199 an und war unter 24 palästinensischen Studenten der einzige Jude. Anschließend setzte er sein Studium an der Universität Kairo fort und wurde dort mit einer Arbeit zur Geschichte der Juden auf der Arabischen Halbinsel (1927 in arabischer Sprache in Kairo erschienen) bei dem bedeutenden Literaturwissenschaftler,

Taha Hussein, Israel Wolfensohn and the Construction of the Arab Jew 198 Possibilities of Arab Jewish Thought , Vortrag auf dem Workshop , Forum Transregionale Studien, Berlin, 25. bis 27. Juni 2014. 199 Journal of Nationalism, Memory & Language Politics Samir Hajj, »The Arab College in Jerusalem 1918–1948. Influence of the Curriculum on the Cultural Awakening«, in: , Volume/Issue: Volume 11: Issue 1, S. 20–38. 122

LiterDar alaten-Muʿallimin und Kulturpolitiker Taha Hussein promoviert. Nach seiner ersten Promotion arbeitete er einige Jahre am Arabischen Kolleg, das nunmehr (Lehrer-Kolleg) hieß, um dann sein Studium am Orientalischen Seminar der Universität Frankfurt bei Josef Horovitz und Gotthold Weil (zwei der Protagonisten Susannah Heschels) fortzusetzen,200 das er 1929 mit einer Dissertation zu Ka’b al-Ahbar abschloß. Ka’b al- Ahbar wiederum ist eine schillernde und umstrittene Figur der frühen islamischen Geschichte, ein aus dem Jemen stammender jüdischer Gelehrter, der zur Zeit des Khalifen Umar ibn al-Khattab (592–644) in Medina zum Islam konvertierte und als enger Berater Umars an der Einnahme Jerusalems teilnahm. Als muslimischer Gelehrter vermittelte er jüdische Legenden und Narrative aus Talmud und MidraschIsrailiyat in die islamische Tradition, als jüdischer Konvertit wurde er Zeuge der Prophetie Muhammads und geriet später als eine der Quellen der – christlichen oder jüdischen Intertexten – unter Verdacht. Israel Wolfensohn jedenfalls wurde nach der erneuten Promotion in Deutschland als ProfessorGeschichte an das Dar der al Semitischen-Ulum der Univers Sprachenität Kairo berufen, wo er zwischen 1933 und 1940 unterrichtete. Seine 1929 auf Arabisch publizierte wird dort bis heute unterrichtet und ist ein Standardwerk der arabischen Philologie. Anfang der Vierzigerjahre nahm Wolfensohn eine Stellung im

Kaʿb al -A ḥ bār und seine Stellung im Ḥadīṯ und in der islamischen Legendenliteratur 200 , Gelnhausen: F. W. Kalbfleisch 1933. 123

Rahmen eines ArabischunterrichtprogrammsNakba in Jerusalem an. Mit der Gründung des Staates Israel, dem anschließenden Krieg und dem Beginn der palästinensischen (Katastrophe) wurde 1948 die kulturelle Welt Israel Wolfensohns zerrissen. Wolfensohn, der zuvor mit den Größen der arabischen Literatur und Wissenschaft, mit arabischen – christlichen und muslimischen – und jüdischen Kollegen und Kolleginnen verkehrte, beschäftigte sich einen guten Teil seiner verbleibenden Karriere mit der Sammlung, Erschließung und Bewahrung der Bücher und Bibliotheken der vertriebenen Palästinenser201 und als Inspektor für den Arabischunterricht an israelischen Schulen. Auch die in Berlin lebende palästinensische Historikerin Najat Abdulhaq hat zur Neubewertung der Figur des202 arabischen Juden in der neueren arabischen Literatur beigetragen. Während die Darstellungen von orientalischen Juden in Literatur, Film oder TV-Serien in203 den Sechzigerbis Achtzigerjahren – mit einigen signifikanten Ausnahmen – vor allem negativ durch den Konflikt um Palästina und Israel und die vorherrschenden Ideologien geprägt waren, werden die individuellen Erfahrungen von Juden in arabischen Ländern, ihr Leben, ihre Vertreibung und das Ende der jüdischen Gemeinschaften von ägyptischen, irakischen, marokkanischen, syrischen oder tunesischen Schriftstellern und Filmemachern

201 SeinAdding Projekt, Insult die »verlassenento Injury: Zionist« Bücher Cultural aus Colonialism. palästinensischen In response Bibliotheken to Gish Amit’s in einer Eḳ s öffentlichenlibris: hisṭoryah Bibliothek shel gezel, in Yaffashimur/Tel ṿe- Avivnikus zugänglich ba-Sifriyah zu ha machen,-leʼumit scheiterte.bi-Yerushalayim Siehe: Zeev Gries, (Ex Libris: Chronicles of Theft, Preservation, and Appropriating at the Jewish National Library). Jerusalem: MekhonOwnerless Ṿan LiObjects?r bi-Yerushalayim, The story of the2014. books 220 Palestinians p. (hebräisch); left Judaicabehind in Librarianship1948 19: S. 73–92. https://ajlpublishing.org/jl/vol19/iss1/5/, letzter Zugriff 05.07.2018; Gish Amit, , in: Journal of Palestine StudiesPossibilities (2011); of www.palestineArab Jewish Thought- studies.org/sites/default/files/jq-articles/33_amit_0.pdf, letzter Zugriff 05.07.2018. 202 Vortrag auf dem Workshop , Forum Transregionale Studien, Berlin, 25. bis 27 Juni 2014, {voicerepublic.com/talks/ rethinking-narratives-the- emergence-of-the-arabjew-in-contemporary-arabic-literature}, letzter Zugriff 05.07.2018. Siehe auch den Bericht https://arablit.org/2014/10/14/najat-abdulhaq-on-the- emergence-of-the-arabBeer-jew in-in the-contemporary Snooker Club-arabic-literature/, letzter Zugriff 05.07.2018. 203 Z. B. WaguihAlexandria Ghali …, warum? (1964), [Deutsch: Snooker in Kairo, C.H. Beck 2018], im deutschen Exil in Englisch geschrieben; oder den Film von Youssuf Chahine, (1978). 124

Erschöpfte Herzen: Der Muslimische Jude einerTage derjünger Diasporaen Generation auf Tageneue derArt Rückkehrund Weise thematisiert, so etwa in Kamal RTagebuchuhayyims eiTnesrilog Damaszenerie Juden Die ( 2004), Letzten Juden Alexandrias (2012) und Der (2012), gutaussehende Ibrahim a Judel- Jubains Der Tabak Händler (2008), Mutaz Fatihas Jüdin in meinem Herzen (2008), Ali al-Muqris (2009), Ali Baders 204 (2008) und Khawla Hamdis (2012). Die muslimischen oder arabischen Juden sind hier vor allem Individuen, an deren Charakteren, Ansichten und Geschichten grundlegende Konflikte heutiger arabischer Gesellschaften um die Grenzen und Möglichkeiten von Individualität und Gesellschaft, Religion und Politik, Freiheit und Diversität ausgehandelt werden. Man könnte den genannten Beispielen noch Dutzende weitere hinzufügen, auch an Romanen oder Dokumentarfilmen, die sich mit Armeniern, mit Kurden, Kopten oder Berbern beschäftigen. Ähnlich wie den jüdischen Wissenschaftlern im deutschsprachigen Raum vor mehr als hundert Jahren das Studium des Islam der eigenen Selbstbestimmung diente, scheint die Figur des orientalischen, gar des muslimischen Juden, die Idee des arabischen Juden und die Geschichten von Außenseitern heutigen Autoren und Autorinnen und Intellektuellen der Aushandlung ihrer eigenen Selbstbestimmung zu dienen. Das Interesse arabischer und jüdischer Autoren und WissenschaftlerInnen an diesen Narrativen und Ideen spiegelt wahrscheinlich nicht den Mainstream in den Ländern der Region oder in Deutschland wider, nährt aber die Zuversicht.

Georges Khalil, Forum Transregionale Studien, Juli 2018

Kamal Ruhayyims »Tagebuch eines muslimischen 204Juden«. Ein Teil der ägyptischen Identität Siehe auch: Marcia Lynx Qualey, auf der Webseite al-Qantara (2014), https://de.qantara.de/inhalt/kamal-ruhayyims-tagebuch-eines-muslimischen-juden-ein- teil-der-aegyptischen-identitaet, letzter Zugriff 05.07.2018. 125 Anmerkungen

Dieses Buch erscheint in der Schriftenreihe des Forum Transregionale Studien, herausgegeben von Marianne Braig, Sebastian Conrad, Andreas Eckert, Georges Khalil, Barbara Mittler, Friederike Pannewick. Redaktion: Moritz Buchner Verlagspublikation: Heschel, Susannah: Jüdischer Islam: Islam und jüdisch-deutsche Selbstbestimmung, erste Auflage, Berlin 2018: Matthes & Seitz, ISBN: 978-3-95757-341-4.

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