Die „Volksgemeinschaft“ Unter Freiem Himmel: Thing
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I. Marsch zu setzen. Die jeweilige Zusammensetzung der Mitwirkenden an Thingspielen war von Ort zu Ort Die „Volksgemeinschaft“ Die über weite Teile des heutigen Deutschlands (und der unterschiedlich. Überall aber stand die SA in Bataillons- ehemaligen deutschen Ostgebiete) verstreuten Thing- stärke zur Verfügung, während die Hitlerjugend den stätten oder Thingplätze sind die gewaltigen Überreste ideologischen Nachwuchs aufbot. Die Massenszenen der unter freiem Himmel: Thing(spiel)- einer gescheiterten Massenkulturinitiative im 20. Jahr- Thingspiele wären ohne die dazu abkommandierten hundert. Sie entstammen der Anfangsphase der NS- Parteiformationen oft schwer zu inszenieren gewesen. Herrschaft und stellen das wohl sichtbarste kulturelle Groß- Das Heer der Arbeitslosen, die mehr oder minder freiwillig bewegung und Thingstätten vorhaben des ‚Dritten Reichs‘ dar. Eigentlich ging die in Robert Leys ‚Freiwilligen Arbeitsdienst‘ (FAD) ein- Idee für die sogenannten Thingspiele allerdings gar nicht traten, ließ die Zahl an verfügbaren Thingdarstellern von der NSDAP aus, sondern entstand gegen Ende der weiter ansteigen.4 Außerdem bot der Freiwillige Arbeits- Text Weimarer Republik. Diese Gleichzeitigkeit verlieh der dienst kostengünstige, genügsame Arbeitskräfte zum Thing(spiel)bewegung aber ihre entscheidende politische Bau der neuen Spielstätten.5 Es handelte sich also beim Legitimation nach der nationalsozialistischen Macht- Thingspiel einerseits um ein Kulturgroßvorhaben. Aber ergreifung. Der Thingspielgedanke bot dem neuen Regime zugleich war es auch für Propagandazwecke perfekt Gerwin Strobl ein sofort einsatzbereites Mittel, um auch die Kultur- geeignet (samt eines verwendbaren Handlungsmusters landschaft auf spektakuläre Weise zu prägen. Begeiste- für die einfacheren Thingspiele). Die politische Botschaft rungsfähige Laien und politische Förderung durch – und die Legende, die viele der Thingtexte begeistert das NS-Regime ergänzten sich dabei. —— Es kam in kür- verbreiteten – lautete wie folgt: dass alle, die in der Welt- zester Zeit zu einer regelrechten Thingeuphorie. In ganz wirtschaftskrise vom Kapitalismus und der Demokratie Deutschland entstanden Spielgemeinschaften, die ins Elend gestürzt worden seien, nun durch den ‚Führer‘ Laiendarsteller ausbildeten, Stücke einstudierten und für gerettet würden, indem er ihnen die Handlungsfähig- den ‚Thingspielgedanken‘ warben. Ausstellungen, keit zurückgegeben habe.6 Ein gemeinsames Ziel vereine Radiovorträge und Sendungen ausgewählter Thingspiele alle unter der Hakenkreuzfahne. Gemeinsam würde man sollten das Interesse der Allgemeinheit fördern. Vom nun das neue Reich errichten – so wortwörtlich und Wirtschaftsblatt bis zur Schülerzeitung brachten zig im übertragenen Sinne.7 Beim Thingspiel passierte all das Presseberichte regional und überregional das Konzept wohlgemerkt im Dienst der Kultur, die Hitler zum vor- unter die Leute.1 Architektonische Entwürfe für künftige rangigen Regierungsziel erklärt hatte, nachdem der Reichs- Spielstätten folgten bald. Am Höhepunkt des Thing- tag ihm im März 1933 diktatorische Vollmacht verliehen wahns wurden Pläne für einige Hundert Thingstätten hatte.8 Die in ganz Deutschland entstehenden Thing- gewälzt.2 Auf Gemeindeebene überboten sich die stätten pries Goebbels denn auch als „steingewordenen NS-Funktionäre in ihrem Eifer, diese Pläne umzusetzen, Nationalsozialismus“.9 sodass dem Propagandaministerium mitunter die Kontrolle zu entgleiten drohte.3 Regionale Arbeitsge- meinschaften und Reichstagungen versuchten indessen, die Logistik zu meistern. Die Erfolge und Misserfolge II. einzelner Aufführungen wurden in diesen Diskussionsforen besprochen und als praktische Anleitungen zurück an Der kometenhafte Aufstieg der Thingspiele kann auf zwei die einzelnen Landesteile gegeben. Die an sich unabhän- sehr unterschiedliche Weisen interpretiert werden. Er gig von der NSDAP entstandene Thingbewegung pro- kann etwa als das Husarenstück einer kleinen Gruppe fitierte dabei von der Mobilisationsfähigkeit der Partei, Gleichgesinnter aus derselben Generation erzählt werden, ein Großaufgebot an Unterstützern auf Ortsebene in die alle Verbindungen ins Rheinland hatten und sich 1 Die Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Niessen Nachlass Thingspielmappe [im Folgenden: TSUK NN/Th], enthält Beispiele für Publikationen zu den Thingspielen; für Beispiele für Sendungen siehe Niessens Hörfunk-Manuskript vom 18. Oktober 1934. 2 Die genauen Zahlen lassen sich nicht ermittlen, weil nach Auffassung des Propaganda- ministeriums nicht alle Projekte die Bezeichnung ‚Thing‘ verdienten. 3 BA [Bundesarchiv Berlin] R 55/20441: Laubinger an Goebbels am 29. November 1934 gewährt Einblicke in das Verwaltungschaos. 4 Siehe etwa TSUK NN/Th, Lager-Zeitung des FAD, 15. August 1934: „Deutsche Passion“. 5 BA R55/20441, 60: Laubinger an Ley, 12. Dezember 1933 [bezüglich der DAF]. 6 Anon. (Hrsg.): Volksspiel und Feier: Alphabetisches Suchbuch nebst Stoffsammlung für Brauch, Freizeit und Spiel, München 1936 enthält kurze Charakterisierungen. 7 Prägnant zusammengefasst in Westdeutscher Beobachter vom 29. Oktober 1934: „Völkische Weihestunde in Jülich: Eine Kultstätte, die Jahrhunderte überdauern wird – ein symbolisches Werk des Arbeitsdienstes“. 8 Eintrag vom 23. März 1933 in: Max Domarus (Hrsg.): Hitler: Reden und Proklama- tionen 1932–1945, Wiesbaden 1973. 9 Tagebucheintrag vom 24. Juni 1935 in: Elke Fröhlich (Hrsg.): Die 16 Tagebücher des Joseph Goebbels, München 2005, Band 3/I. 17 1933 zusammenfanden. Als glühende Patrioten (aber ur- spielen 1934 bei einer weiteren Musterinszenierung von der sogenannten Machtergreifung. Dabei gelang es ihm, III. sprünglich keine Nationalsozialisten) erstrebten sie Kurt Euringers Deutscher Passion Regie. Erneut han- die formale Gleichschaltung des Reichsbundes abzu- eine Wiedergeburt des Freilichtspiels als ‚Volkstheater‘. delte es sich um eine tendenziöse Darstellung jüngerer wenden – was keine gering zu schätzende Leistung war. Die Führungsriege der Thingbewegung war somit wider- Dafür rührten sie energisch die Werbetrommel: Sie deutscher Geschichte in pseudobiblischem Gewand. Als einziger Berliner des Quartetts trat Gerst als „der sprüchlich zusammengesetzt: Neben den machtbe- publizierten, boten sich für Radioreden an, organisierten Anschließend gestaltete Niedecken-Gebhard die Eröff- Herr vom Thingspiel“ an den Schaltstellen der Macht auf wussten NSDAP-Führern, die von außen her politisch Ein- Ausstellungen sowie Beispielinszenierungen und ver- nungszeremonie der Olympiade in Berlin. Sein anhal- (bis das Propagandaministerium ihn schließlich zum fluss nahmen, agierten intern anfänglich vor allem Nicht- suchten durch den kurz zuvor geschaffenen Reichsbund tendes Interesse an Bewegungschören auf der Bühne Rücktritt zwang).19 —— Aufgrund seiner eigenen Berufs- Nationalsozialisten, die von aufrichtigem kulturellem für Freilichtspiele, Orte und Städte für ihr Vorhaben zu schuf auch die Verbindung zu dem dritten Thing- erfahrung als Architekt war Gerst in der Lage, eine Engagement getrieben waren. Dieses Nebeneinander hat gewinnen.10 —— Aus dieser Perspektive betrachtet ist der Mitstreiter, Hans Brandenburg. Inzwischen vollständig kleine Architektengruppe heranzuziehen, die bei der die Analyse der Thingbewegung naturgemäß erschwert.22 Beginn der Thingbewegung eine toll-dreiste Geschichte in Vergessenheit geraten, war Brandenburg damals Kölner Gründungstagung im August 1933 Entwürfe einer kleinen Schar Theaterversessener, die es verstand, ein durchaus angesehener Schöngeist im Umkreis der für Freilichtbühnen einreichte. Diese Männer – und es Die Uniformen und Hakenkreuzflaggen in den S/W- im Sog der ‚nationalen Revolution‘ des Jahres 1933 ihr Ausdruckstanzbewegung, die von Rudolf von Laban, handelte sich ausschließlich um Männer – wurden dank Fotografien der Arenen dienten dazu, alles andere zu ver- persönliches Steckenpferd zu einem ‚reichsweiten‘ Émile Jaques-Dalcroze und Mary Wigman geprägt wurde. Gerst zu den Hausarchitekten des Reichsbunds.20 Einer decken; aber das Ausblenden alles Nicht-Nationalsozia- Gemeinschaftsanliegen zu machen. Um diese Geschichte Brandenburg wurde schnell von den anderen Thing-Ver- von ihnen, Fritz Schaller (der später beim Wiederaufbau listischen war eben der Zweck der Übung. ‚Gleichschal- zu erzählen, lohnt es sich, ihre Protagonisten näher zu tretern in den Schatten gestellt, doch sein Renommee Kölns federführend war), erinnerte sich nach dem Krieg tung‘ – die Idee davon, ein Land am Rande des Bürger- betrachten. —— Sie waren ursprünglich zu viert. Erstens und seine Veröffentlichungsflut zu Kulturthemen waren daran, dass Gerst die Vergabe der Thing-Bauvorhaben kriegs magisch in eine harmonische ‚Volksgemeinschaft‘ ein Professor der Theaterwissenschaften an der Uni- der frühen Thingbewegung nützlich.15 —— Nummer vier sehr geschickt von seiner winzigen Wohnung unweit zu verwandeln, war selbst pure Inszenierung. versität zu Köln namens Carl Niessen, der im Sommer 1933 im Thing-Quartett – und in mehrfacher Hinsicht der des Ku’damms aus leitete. Dorthin zitierte er die aus- den Ausdruck „Thingspiel“ erfand, für die theoretischen Wichtigste im Bunde – war ein katholisches Unikum mit erwählten Architekten, um sie in Kontakt mit den Bürger- Wenden wir uns daher noch einmal den jeweiligen Beweg- Grundlagen sorgte und an seiner Fakultät die Thing- Berufserfahrung in der Architektur, Sozialarbeit, dem meistern der Orte zu bringen, die eine Thingstätte gründen zu. Niessen, Niedecken-Gebhard, Brandenburg Gründungstagung