SWP-Studie Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit

Uwe Halbach Ungelöste Regionalkonflikte im Südkaukasus

S 8 März 2010 Berlin

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ISSN 1611-6372 Inhalt

5 Problemstellung und Empfehlungen

8 Der regionale Kontext: Die südkaukasische Konfliktlandschaft

10 Gemeinsamkeiten und Unterschiede ungelöster Sezessionskonflikte 11 Die Sezessionskonflikte Georgiens 12 Südossetien – Rückfall in Krieg im kleinsten De-facto- Staat 15 Abchasien – gescheiterte Konfliktprävention 18 Berg-Karabach – der älteste Regionalkonflikt im postsowjetischen Raum

22 Externe Akteure und regionale Umfeldbedingungen 23 Militarisierung 25 Die Rolle Russlands 27 Die Türkei als regional- und friedenspolitischer Akteur

30 Herausforderungen für europäische Außen- und Sicherheitspolitik 33 Hindernisse für »harte« und »weiche« Konfliktbearbeitung 33 Psychologische Fallen und Barrieren für Konflikttransformation

35 Ausblick

36 Abkürzungen

Dr. Uwe Halbach ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsgruppe Russland / GUS

Problemstellung und Empfehlungen

Ungelöste Regionalkonflikte im Südkaukasus

Ungelöste Sezessionskonflikte im Südkaukasus, einer neuen Nachbarschaftsregion der EU, blockieren seit zwei Jahrzehnten intraregionale Beziehungen und beeinträchtigen politische Entwicklungen in den drei Staaten der Region. Der russisch-georgische Waffen- gang vom August 2008 rückte die Auseinandersetzun- gen um Abchasien, Südossetien und Berg-Karabach als sicherheitspolitische Herausforderung in den Blick Europas und der internationalen Gemeinschaft. Die EU hat sich nach diesem »Fünftagekrieg« stärker als zuvor in der Region positioniert. Im August und Sep- tember 2008 vermittelte sie Waffenstillstandsverein- barungen; danach entsandte sie eine zivile Beobach- tungsmission nach Georgien, um den Waffenstillstand zu sichern (EU Monitoring Mission, EUMM), und setzte eine Fact-Finding-Mission ein, um die Kriegsursachen zu ermitteln. Externe Akteure kommen an Konflikt- bearbeitung im Südkaukasus nicht mehr vorbei, auch wenn sie ihre Schwerpunkte auf andere Politikfelder wie die Förderung demokratischer Entwicklung oder energiewirtschaftliche Kooperation setzen. Die schwe- lenden Konflikte beeinflussen alle Politikfelder. Grundlegende Dokumente der EU zur Nachbarschafts- politik im Südkaukasus, zum Schwarzmeerraum oder zur Östlichen Partnerschaft gehen allerdings über die bloße Erwähnung dieses Kernproblems oft nicht hinaus. Die EU war und ist in den südkaukasischen Brenn- punkten unterschiedlich intensiv engagiert – vor dem Einschnitt vom August 2008 am stärksten in Süd- ossetien, am wenigsten bei der Regelung des Karabach- konflikts, der als historischer Schlüsselkonflikt der Region gilt. Als im Frühjahr und Sommer 2008 die Spannungen im Umfeld der Sezessionskonflikte Geor- giens eskalierten, versuchten europäische und inter- nationale Akteure zu verhindern, dass diese wie An- fang der 1990er Jahre in eine Kriegsphase mündeten. Doch in der Georgienkrise kamen diese Initiativen zu spät. Vor der Zäsur vom August 2008 ließen sich die friedenspolitischen Bemühungen im Südkaukasus als working around conflict bezeichnen: Es ging um Ver- trauensbildung, Vermittlung wirtschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Kontakte zwischen den Kontra- henten und Wiederaufbauprojekte in kriegsgeschä- digten Gebieten. Diese Arbeit erforderte viel Geduld

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5 Problemstellung und Empfehlungen

und sollte zivilgesellschaftliche Organisationen in abtrünnigen Landesteilen sowie im Verhältnis zwi- die angestrebte Konflikttransformation einbeziehen. schen Russland und Georgien. Dynamik zeigt sich in Die Bedingungen dafür waren allerdings denkbar einer neuen, nie gekannten Häufigkeit von armenisch- ungünstig. Gleichzeitig nämlich wuchs die Frustra- aserbaidschanischen Präsidententreffen und Verhand- tion der sezessionsgeschädigten Staaten über den lungen im Karabachkonflikt sowie einem türkisch- »eingefrorenen« Status der ungelösten Sezessions- armenischen Annäherungsprozess, der vorläufig aber konflikte. Georgien und Aserbaidschan rüsteten rasant noch von diesem blockiert wird. Die Probleme in den auf, Russland mischte sich direkt in die innerstaatli- bilateralen Beziehungen zwischen Georgien und Russ- chen Konflikte Georgiens ein und die zwischenstaat- land zeigen hohen Vermittlungsbedarf. Die EU kann liche Konfrontation zwischen Russland und Georgien eine vermittelnde Rolle hier eher spielen als andere nahm spätestens seit 2006 besorgniserregende Aus- Akteure wie USA oder Nato. Dabei wirft die Georgien- maße an. Nach dem Krieg verlegte sich die EU mit krise für Berlin und Brüssel auch die Frage auf, wie ihrer zivilen Beobachtungsmission in Georgien auf ein künftig mit Russland umgegangen werden soll. Russ- working on conflict, das sie zuvor eher vermieden hatte, land fordert eine multipolare Weltordnung mit multi- um Russland nicht zu verärgern. Doch der Stabilisie- lateralen Mechanismen und reklamiert darin eine rungsauftrag dieser Mission steht auf tönernen Füßen, Stellung auf Augenhöhe mit westlichen Mächten. Mit da der freie Zugang internationaler Beobachter nach der diplomatischen Anerkennung Abchasiens und Abchasien und Südossetien blockiert wird. Internatio- Südossetiens hat es aber in der Georgienkrise eher ein nale Missionen mit Beobachtungszugang zu beiden Beispiel für unilaterales Handeln gesetzt. Russland Regionen, nämlich die der OSZE und der Vereinten beansprucht, als Vertragspartner für eine neue Sicher- Nationen, mussten 2009 auf Betreiben Russlands das heitsordnung zwischen Vancouver und Wladiwostok Feld räumen. zu fungieren. Mit der Verletzung der Waffenstill- Der Südkaukasus liegt an einer Schnittstelle ost- standsvereinbarungen zur Beendigung des »Fünftage- politischer EU-Projekte wie der Europäischen Nachbar- kriegs« in Georgien vom August 2008 beweist es aller- schaftspolitik (ENP), der Black Sea Synergy-Initiative von dings nicht gerade Vertragstreue. 2007 und der im Juni 2009 beschlossenen Initiative Die Trennung Abchasiens und Südossetiens von Geor- der Östlichen Partnerschaft (Eastern Partnership, EaP). gien ist nach dem Krieg so verfestigt wie nie zuvor. Durch die Georgienkrise rückte der postsowjetische Gleichwohl wird Europa die Nichtanerkennungspoli- Teil des Schwarzmeerraums als Zone ungelöster tik gegenüber den beiden Entitäten fortsetzen. Es soll- Regionalkonflikte in die sicherheitspolitische Wahr- te dabei aber über statusneutrale Kontakte zu ihnen nehmung Europas. Der Blick ging über den Kaukasus (zumindest zu Abchasien) nachdenken, um sie nicht hinaus auf andere Gebiete gemeinsamer Nachbar- international isoliert zu lassen. Zudem sollte die EU schaft zwischen der EU und Russland. War das militä- den türkisch-armenischen Annäherungsprozess nach- rische Vorgehen gegen Georgien ein Sonderfall, aus- drücklich unterstützen. Er könnte im derzeit noch gelöst von einer georgischen Offensive gegen die süd- nicht absehbaren Erfolgsfall ein neues diplomatisches ossetische Hauptstadt Zchinwali und bestimmt von Umfeld und Vorbild für den Südkaukasus bieten. der Position, die Russland seit langem beim Peace- keeping in der Region einnahm? Oder handelte es sich um russische Machtprojektion in einer »Zone privile- gierten Einflusses«, die Russland nach dem Krieg nun erst recht beanspruchte? Zudem hatte die georgische Regierung gegenüber abtrünnigen Landesteilen eine Politik betrieben, die militärische Drohungen und Ins- trumente einschloss. Angesichts dieser Entwicklungen stellte sich die Frage, wie viel friedenspolitischen Ein- fluss europäische Akteure auf die Streitparteien im Südkaukasus überhaupt hatten ausüben können. Nach dem Einschnitt vom August 2008 ist die Situation im Südkaukasus teils von Stagnation, teils von neuer Dynamik geprägt. Stagnation herrscht vor allem in der Beziehung zwischen Georgien und seinen

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6 Karte Die Kaukasus-Region

© Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, und von Herrn Dipl.-Ing. Joachim R.H. Zwick, Gießen. Der regionale Kontext: Die südkaukasische Konfliktlandschaft

Der regionale Kontext: Die südkaukasische Konfliktlandschaft

Der Südkaukasus hat wie keine andere Region im tschenien und Russland und diverse Streitigkeiten postsowjetischen Raum unter ungelösten Sezessions- unter Volksgruppen um Territorien. konflikten zu leiden. Dabei bildet er flächenmäßig Seit Frühjahr 2008 eskalierten die Spannungen zwi- und mit einer Gesamtbevölkerung von gerade einmal schen Georgien und seinen abtrünnigen Gebieten Ab- 16 Millionen nur einen kleinen Abschnitt dieses Rau- chasien und Südossetien. Gegenseitige Provokationen mes, ist aber am stärksten politisch fragmentiert. Die und gewaltsame Zwischenfälle häuften sich. All dies Region umfasst drei international anerkannte unab- fand in einem Umfeld konfrontativer Beziehungen hängige Staaten, nämlich Georgien (4,7 Millionen zwischen Georgien und Russland statt. OSZE, EU, USA, Einwohner), Armenien (3 Millionen) und Aserbaid- Deutschland und andere Akteure starteten Initiativen schan (8 Millionen). Dazu kommen mit Abchasien, zur Prävention und konzentrierten sich überwiegend Südossetien und Berg-Karabach drei nicht oder nur auf Abchasien. Der befürchtete größere Waffengang teilweise anerkannte Sezessionsgebilde, die mit einer mit Beteiligung russischer Streitkräfte spielte sich Gesamtbevölkerung von weniger als einer halben dann aber zunächst in Südossetien ab, dem kleineren Million winzige politische Entitäten darstellen.1 Den- Sezessionsgebilde. Mit dem Krieg wurden Kaukasuskon- noch ist ihr umstrittener Status eine hohe Barriere flikt und Georgienkrise zu Synonymen. Erst allmählich für intraregionale Beziehungen im Kaukasus und im öffnete sich der Blick auf den benachbarten Karabach- Schwarzmeerraum. Welche Störwirkung die unge- konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan, in lösten Sezessionskonflikte entfalten können, zeigt der den die Georgienkrise neue Impulse brachte. Es gilt Einfluss des Karabachkonflikts auf den diplomati- also, das Gesamtbild ungelöster Regionalkonflikte im schen Prozess türkisch-armenischer Annäherung, der Auge zu behalten. einen der tiefsten und ältesten Gräben zwischen zwei Zu den Sezessionskonflikten kommen latente Staaten und Völkern im Umfeld Europas überwinden Bruchstellen hinzu, etwa die mangelnde Integration könnte. Die Karabachkontroverse macht aus dem bila- bestimmter Regionen und Minderheitenenklaven in teralen Prozess zwischen Ankara und Jerewan eine ver- den georgischen Staat. So hatte sich zu Beginn des ver- wickelte trilaterale Angelegenheit. Aserbaidschan be- gangenen Jahrzehnts das Pankisi-Tal im Grenzgebiet fürchtet, dass die 1993 geschlossene türkisch-armeni- zu Tschetschenien der Kontrolle durch die georgische sche Grenze geöffnet werden könnte, ohne dass vorher Zentralregierung entzogen und war zum Rückzugs- die armenischen Truppen begonnen haben, von aser- raum für tschetschenische Untergrundkämpfer avan- baidschanischem Territorium abzuziehen. ciert. Kompakte Minderheitenenklaven wie das arme- Im Südkaukasus ballen sich Konflikte aus der Erb- nische Siedlungsgebiet von Javacheti sind nach wie schaft sowjetischer Nationalitätenpolitik. In dem vor nicht ausreichend in den georgischen Wirtschafts-, komplizierten kaukasischen Ethnogramm hatte diese Verkehrs- und Informationsraum integriert und bil- Politik brisante Muster »nationaler Staatlichkeit« und den Zonen potentieller Sezession. Zudem ist die süd- innersowjetischer Grenzziehung geschaffen. Beim Zer- kaukasische Konfliktlandschaft über mehrere Schnitt- fall des sowjetischen Ordnungssystems gerieten auto- stellen mit Krisenzonen des Nordkaukasus verbunden, nome Republiken und autonome Gebiete mit ihren innerhalb der Russischen Föderation das Paradebei- »Elternstaaten«, also ihren ehemaligen Unionsrepu- spiel für fragile Staatlichkeit. Russland hat nach dem bliken, über Kreuz: Abchasien und Südossetien mit Augustkrieg 2008 zwar praktisch ein Protektorat über Georgien, Berg-Karabach mit Aserbaidschan. Dazu die beiden von Georgien abtrünnigen Regionen über- kamen im Nordkaukasus der Konflikt zwischen Tsche- nommen und behauptet nun, Abchasien und Südosse- tien Sicherheit zu garantieren. In Wirklichkeit aber ist es mit der Gewährleistung von Sicherheit in seiner 1 Abchasien hat gut 200 000 (1989: 525 000), Südossetien kaukasischen Peripherie überfordert.2 hatte vor dem Augustkrieg 2008 rund 70 000 Einwohner, danach kaum noch die Hälfte (1989: 99 000); in Berg- Karabach leben etwa 145 000 Menschen (1989: 200 000). 2 Vgl. Nordkaukasus – Russlands Inneres Ausland?, 18.12.2009

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8 Der regionale Kontext: Die südkaukasische Konfliktlandschaft

Vor dem Einschnitt vom August 2008 wurden die gestellt hatten. Die Bevölkerung in Berg-Karabach ist seit nahezu zwei Jahrzehnten ungelösten Sezessions- strikt dagegen, dass es erneut aserbaidschanischer konflikte als »eingefroren« bezeichnet, weil sich in Staatlichkeit unterstellt wird. Auch die Rückkehr der grundlegenden Regelungs- und Statusfragen die Posi- aus dem Gebiet vertriebenen oder geflohenen Aser- tionen der Streitparteien kaum verändert hatten und baidschaner würde an einer Mehrheit für dieses Vo- internationale Vermittlungsbemühungen keinen poli- tum nichts ändern. tischen Durchbruch erzielen konnten. Diesen Bemü- Die internationale Gemeinschaft betonte die Unan- hungen wurde bis dahin allerdings bescheinigt, den tastbarkeit bestehender Grenzen und die territoriale Rückfall in die volle militärische Konfliktaustragung Integrität. Gemeint waren damit die Grenzen zwi- erfolgreich verhindert zu haben. In den Verhandlun- schen den unabhängig gewordenen sowjetischen gen kollidierte das Prinzip territorialer Integrität inter- Gliedstaaten, das heißt den ehemaligen Unionsrepu- national anerkannter Staaten mit dem des nationalen bliken, und deren Integrität. Dass nicht auch noch Selbstbestimmungsrechts, auf das sich die separatisti- nachgeordneten nationalen Gebietskörperschaften schen Parteien berufen. Die De-jure-Staaten Georgien wie Abchasien Eigenstaatlichkeit zugestanden wurde, und Aserbaidschan erklärten sich bereit, den umstrit- hatte seinen Grund, denn schließlich hätte gerade im tenen Gebieten größtmögliche Autonomie zu gewäh- Kaukasus die Formel »Ethnos = Staat« beim Zerfall der ren,3 bestehen aber darauf, dass diese zu georgischem Sowjetunion eine extrem instabile, zerklüftete Staa- bzw. aserbaidschanischem Staatsterritorium gehören. tenlandschaft geschaffen. Gleichwohl wandte man Entgegen einer gängigen georgischen Darstellung diese Prinzipien selektiv an, abzulesen an den Aktions- ist es im größeren Teil Abchasiens und Südossetiens plänen, die die EU 2006 im Rahmen ihrer Nachbar- (mit Ausnahme der georgisch besiedelten Gebietsteile) schaftspolitik formulierte. Im Aktionsplan mit dem nicht nur eine kleine, in Tiflis als kriminell abgestem- sezessionsgeschädigten Georgien wurde die territoria- pelte separatistische Machtelite, die für die Trennung le Integrität hochgehalten, in dem mit Armenien von Georgien votiert. Nach den Kämpfen von 1991 bis dagegen die nationale Selbstbestimmung. Armenien 1994 sprach sich die Mehrheit der lokalen Bevölke- unterstützt die Trennung Berg-Karabachs von Aser- rung dafür aus.4 Die heutigen Bevölkerungsverhält- baidschan und verzeichnet innerhalb seiner eigenen nisse Abchasiens sind freilich auch Ergebnis der Ver- Staatsgrenzen keinerlei Sezessionspotential. Nach den treibung von rund 250 000 ethnischen Georgiern, die Ereignissen vom August 2008 besteht nun ein völker- vor den Kämpfen dort die größte Bevölkerungsgruppe rechtlicher Gegensatz zwischen Russland und der übrigen internationalen Gemeinschaft. Ersteres er- kennt die Unabhängigkeit und Eigenstaatlichkeit Ab- (Russland-Analysen Nr. 194). chasiens und Südossetiens zusammen mit bislang drei 3 Die Bevölkerung Georgiens und Aserbaidschans war jedoch mehrheitlich gegen diesen Sonderstatus. Bei einer Meinungs- weiteren Staaten (Nicaragua, Venezuela, Nauru) diplo- umfrage in Aserbaidschan im Sommer 2006 mit 971 Befrag- matisch an, während Letztere weiterhin davon aus- ten (davon 86% Aseris) hielten knapp 60% die Wiedereinglie- geht, dass die beiden Gebiete zum Territorium Geor- derung Berg-Karabachs in den aserbaidschanischen Staat giens gehören. ohne jegliche Autonomie für die beste Lösung. Nur knapp Vor allem in einem Punkt erwies sich die Vorstel- 25% befürworteten einen hohen Autonomiestatus. Vgl. Arif lung von der »Eingefrorenheit« der Konflikte als Yunusov, Azerbaijan in the Early of XXI Century: Conflicts and Poten- tial Threats, Baku 2007, S. 221. Ähnlich war die Stimmung in falsch, nämlich in der Annahme, dass sie durch die Georgien. 2007 betrachteten 59% der Befragten einer Erhe- Waffenstillstandsabkommen zwischen 1992 und 1994 bung Abchasien und Südossetien als ganz gewöhnliche Regio- gewaltfrei gemacht und »auf Eis gelegt« worden seien. nen eines einheitlichen georgischen Staates und nur 35% Dies galt vor dem Augustkrieg 2008 allenfalls für die billigten ihnen Autonomie in diesem Staat zu. Vgl. Interna- volle militärische Konfliktaustragung. In den georgi- tional Republican Institute (IRI) u.a., Georgian National Voters Study, September 2007, S. 50. schen Sezessionskonflikten wurde wiederholt bewaff- 4 In einer Meinungsumfrage in Abchasien 2006 sahen 63,3% nete Gewalt angewandt, teilweise – wie in Abchasien der Befragten Abchasien als unabhängigen Staat, 30,4% als 1998 – mit der Folge erneuter Fluchtbewegungen. Im Mitglied der Russischen Föderation, 3,1% als gleichberechtig- Karabachkonflikt kam es entlang der 189 Kilometer ten Teil einer staatlichen Union mit Georgien (Konföderation) langen, von keiner internationalen Friedenstruppe und 1% als föderalen Bestandteil Georgiens. Alexander bewachten Waffenstillstandslinie von 1994 zu Zwi- Skakov, : Challenges and Threats to the Republic and the Region, Jerewan: Spectrum, 2006 (Regional Security Issues), schenfällen, die fortgesetzt militärische und zivile S. 91–105 (95). Todesopfer forderten.

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9 Gemeinsamkeiten und Unterschiede ungelöster Sezessionskonflikte

Gemeinsamkeiten und Unterschiede ungelöster Sezessionskonflikte

Die Unabhängigkeitserklärung Kosovos warf im poli- In Berg-Karabach dagegen, das zu Aserbaidschan ge- tik- und völkerrechtswissenschaftlichen Diskurs die hört, stellten Armenier eine klare Bevölkerungsmehr- Frage auf, was ungelöste Sezessionskonflikte gemein- heit, bevor Feindseligkeiten ausbrachen und die aser- sam haben und was sie unterscheidet. Sämtliche post- baidschanische Bevölkerungsgruppe aus dem Gebiet sowjetischen Konfliktfälle sind von problematischen floh. Ein weiteres Beispiel sind divergierende Ziele, die Hinterlassenschaften sowjetischer Nationalitäten- und von den separatistischen Parteien verfolgt werden: Territorialpolitik geprägt. Diese resultieren aus dem einerseits Eigenstaatlichkeit, andererseits der An- Aufbau der Sowjetunion als ethno-territoriale (Pseu- schluss an einen anderen Staat wie im Falle Südosse- do-)Föderation mit 15 Gliedstaaten (Unionsrepubliken) tiens. Die Einwirkung externer Akteure ist ebenfalls und nachgeordneten nationalen Gebietskörperschaf- unterschiedlich, vor allem der Grad der Einmischung ten (20 autonome Republiken, 16 autonome Gebiete durch Russland, der in den georgischen Sezessions- und Kreise), die Russland und einigen der nichtrussi- konflikten höher ist als in den Auseinandersetzungen schen Unionsrepubliken inkorporiert waren. Obwohl um Berg-Karabach. alle wichtigen Entscheidungen im sowjetischen Zwar sind alle Sezessionsgebilde Kleinstaaten, doch Machtzentrum getroffen wurden, suggerierte diese ihre demographischen und ökonomischen Parameter Ordnung den »Titularnationen« in der nichtrussischen sind ungleich. Abchasien hat über 200 000 Einwohner Peripherie, sie besäßen ethnische Territorialhoheit. und besitzt wegen seiner Lage am Schwarzen Meer Dieses wie die Puppen in der Puppe angeordnete »Ma- hohes touristisches Potential und strategische Bedeu- troschka-Modell« nationaler Staatlichkeit geriet beim tung. Südossetien dagegen hatte vor dem neuerlichen Zerfall der Sowjetunion aus den Fugen. Die interna- Krieg 70 000 Einwohner, danach kaum mehr die tionale Gemeinschaft erkannte nur die staatliche Un- Hälfte und verfügt nur über minimale Wirtschafts- abhängigkeit der Unionsrepubliken an, nicht die der ressourcen. Zu nennen sind ferner verschiedene Grade nachgeordneten Gebietskörperschaften. Die sowjeti- innerer Stabilität.5 Darüber hinaus weicht die jewei- sche Ordnung hinterließ den nun offen miteinander lige Politik der sezessionsgeschädigten »Elternstaaten« kollidierenden Streitparteien zwei schwierige Erb- gegenüber Russland voneinander ab, die in Georgien schaften, die eine Konfliktbearbeitung beeinträchti- konfrontativer ist als in Aserbaidschan. gen: Ethnisierung von Politik und Mangel an demokratischen Festzuhalten ist weiterhin, dass zivilgesellschaft- Regelungsmechanismen. liche Kräfte mehr oder weniger weitreichend in Pro- Die Regionalkonflikte weisen eine Reihe von Unter- zesse der Vertrauensbildung zwischen den Streit- schieden und Besonderheiten auf, und zwar hinsicht- parteien einbezogen werden. Dies beeinflusst auch die lich Chancen externer Akteure, sich dort einzuschalten.  der historischen Tragweite, Konfliktbearbeitung auf zivilgesellschaftlicher Ebene  des Ausmaßes der kulturellen und ethnischen beinhaltet den schwierigen, oft riskanten Einsatz für Differenz, Kompromissbereitschaft, die Auseinandersetzung mit  der ethnischen Bevölkerungszusammensetzung in Konfliktwahrnehmungen in der eigenen Gesellschaft den Konfliktzonen, und den Versuch, sich in die Wahrnehmungen und  des Ausmaßes von Gewalt, mit dem sie in den Sicherheitsbedürfnisse des Gegners zu versetzen.6

Kriegsphasen ausgetragen wurden,  der internationalen Umgebung der Konflikte. 5 Zum Vergleich der südkaukasischen De-facto-Staaten siehe So ist zum Beispiel die Bevölkerungskomposition Pål Kolstø/Helge Blakkisrud, »Living with Non-recognition: in den umstrittenen Territorien vor Ausbruch gewalt- State-and Nationbuilding in South Caucasian Quasi-States«, samer Sezessionskonflikte ein relevantes Unterschei- in: Europe-Asia Studies, 60 (Mai 2008) 3, S. 483–509. 6 Walter Kaufmann, »Der weite Weg zur ›Zivilgesellschaft‹«, dungsmerkmal. In Abchasien bildete die namengeben- in: Aus Politik und Zeitgeschichte, (23.3.2009) 13, S. 12–18, hier de Volksgruppe vor der Kriegsphase 1992 nur eine besonders S. 17f; Susan Stewart, »The Role of International Minderheit, nämlich 17,8% der lokalen Bevölkerung. and Local NGOs in the Transformation of the Georgian-

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10 Die Sezessionskonflikte Georgiens

Zivilgesellschaftliche Initiativen spielen im Südkauka- giens Sezessionskonflikte9 reichen in sowjetische und sus unterschiedliche Rollen. In der Karabachfrage zum Teil in vorsowjetische Zeit zurück und wurden in beschränken sich Mediation und Konfliktbearbeitung der Reformperiode von Perestrojka und Glasnost in den auf die Ebene internationaler Diplomatie (Track 1), späten 1980er Jahren neu geschürt. Die georgische auf Gesprächsrunden im Rahmen der Minsker OSZE- Nationalbewegung versäumte es, die Minderheiten des Gruppe und auf armenisch-aserbaidschanische Präsi- Landes und seine nationalen Gebietskörperschaften dentengipfel. Diese hohe Diplomatie ist von Abge- für die Unabhängigkeit Georgiens zu gewinnen. Statt- schlossenheit gegenüber der Öffentlichkeit geprägt7 dessen verprellte sie sie mit Parolen wie »Georgien den und hat wiederholt den Fehler gemacht, einen bevor- Georgiern« und verstärkte damit Sezessionsbestrebun- stehenden Durchbruch in den Verhandlungen anzu- gen in Abchasien und Südossetien, in denen die geor- kündigen, der später dementiert werden musste. In gische Seite wiederum »einen aus Moskau gesteuerten den georgischen Sezessionskonflikten war vor dem Anschlag auf die georgische Integrität« sah.10 Augustkrieg 2008 durchaus ein Engagement auf zivil- Zunächst bestand der Schlagabtausch zwischen der gesellschaftlicher Ebene (Track 2) zu verzeichnen. Vor georgischen Nationalbewegung und den separatisti- allem in Abchasien hatte sich ein entsprechendes schen Kräften in verfassungs- und kulturpolitischen Milieu herausgebildet. Seine Protagonisten unterstütz- Aktionen, nationalistischen Demonstrationen und ge- ten zwar die Unabhängigkeit, wollten sie aber demo- waltsamen Zusammenstößen. In Südossetien ging die- kratisch ausgestaltet sehen und bekundeten Interesse se Eskalation im Januar 1991 in kriegerische Gewalt an Kontakten zur Europäischen Union. Bemerkens- über, in Abchasien im August 1992, beide Male mit wert an diesen Initiativen in Abchasien war, dass sie dem Einmarsch georgischer paramilitärischer Verbän- ihre Arbeit zu Menschenrechten, Medienfreiheit und de in die umstrittenen Gebiete. Bewaffnete Kräfte aus anderen Themen »zehn Jahre lang ohne jede finanziel- Russland und dem Nordkaukasus unterstützten die le Unterstützung von außen und unter extremen poli- separatistischen Parteien. Mit der Erfahrung gegensei- tischen und wirtschaftlichen Bedingungen entwickel- tiger Gewalt, der Tausende Menschen zum Opfer fie- ten«.8 len und die Flüchtlingsströme von Hunderttausenden auslöste, überschatteten diese Sezessionskriege die nachsowjetische Entwicklung und erschwerten fried- Die Sezessionskonflikte Georgiens liche Konfliktregelung und Aussöhnung. Überwiegend von Russland vermittelte Waffenstillstandsabkommen Georgien war von der oben geschilderten Matroschka- beendeten die kriegerischen Konfliktphasen im Juni Struktur besonders betroffen, denn es besaß drei 1992 (Südossetien) und Mai 1994 (Abchasien). Die Ab- »Unterpuppen«, nämlich die Autonomen Republiken kommen enthielten Vereinbarungen über ein Peace- Abchasien und Adscharien und das Südossetische Au- keeping in beiden Konfliktzonen, in dem russische tonome Gebiet. Gut ein Viertel des georgischen Terri- Truppen eine dominierende Rolle spielten. Russlands toriums entfiel auf nationale Autonomien, mehr als in Engagement wurde international zunächst positiv jedem anderen nichtrussischen Gliedstaat der UdSSR. gewertet, auch weil kein anderer Akteur bereit war, Wie kein anderer nachsowjetischer Staat hatte Geor- hier sicherheitspolitisch einzustehen.11 Mit der Ver- gien von Beginn seiner Unabhängigkeit an Schwierig- schlechterung der russisch-georgischen Beziehungen keiten, seine territoriale Integrität zu wahren. Geor- wurde aber immer deutlicher, dass diese Rolle auch

Abkhazian Conflict«, in: The Global Review of Ethnopolitics, 9 Zum Südossetienkonflikt vgl. Marietta S. König, »Der un- (März–Juni 2004) 3–4, S. 3–22. gelöste Streit um Südossetien«, in: Marie-Carin von Gumppen- 7 Die Art und Weise, in der die Ko-Vorsitzenden der Minsker berg/Udo Steinbach (Hg.), Der Kaukasus. Geschichte – Kultur – Gruppe die Konfliktregelung monopolisierten, erschien mit- Politik, 2., neubearbeitete Auflage, München: C. H. Beck, 2010, unter bizarr. So wurde ein Vorschlag zur Konfliktlösung 2009 S. 125–136; zum Abchasienkonflikt Ulrike Gruska, »Abcha- zunächst so geheim gehalten, dass man nicht einmal dem sien – Kämpfe um den schönsten Teil der Schwarzmeerküs- Sondergesandten der EU für den Südkaukasus Einblick in die te«, ebd., S. 103–113. schriftliche Fassung gewährte. Siehe Amanda Akçakoca u.a., 10 Jürgen Gerber, Georgien. Nationale Opposition und kommunisti- After Georgia: Conflict Resolution in the EU’s Eastern Neighbourhood, sche Herrschaft seit 1956, Baden-Baden 1997, S. 15. Brüssel: European Policy Centre, April 2009 (EPC Issue Paper 11 Vgl. John Mackinlay/Evgenii Sharov, »Russian Peacekeep- Nr. 57), S. 24. ing Operations in Georgia«, in: John Mackinlay/Peter Cross 8 Kaufmann, »Der weite Weg zur ›Zivilgesellschaft‹« [wie (Hg.), Regional Peacekeepers. The Paradox of Russian Peacekeeping, Fn. 6], S. 17. New York: United Nations University Press, 2003, S. 63–110.

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11 Gemeinsamkeiten und Unterschiede ungelöster Sezessionskonflikte

etwas mit russischer Machtpolitik im Südkaukasus zu Adscharien wieder der Kontrolle der Zentralregierung tun hatte. Die Georgier betrachteten die russischen unterstellt. Der Streit Georgiens mit dieser Region am Friedenstruppen in Abchasien und Südossetien als Schwarzen Meer, die sich unter der patrimonialen Schutzmacht für Georgiens separatistische Gegner. Herrschaft ihres Landesfürsten Aslan Abaschidse von Russland mischte sich immer stärker in die ungelös- Tiflis fiskalisch abgesondert hatte, war mit den realen ten Sezessionskonflikte ein. Von Äquidistanz eines Sezessionskonflikten um Abchasien und Südossetien neutralen Schlichters gegenüber den Streitparteien allerdings nicht zu vergleichen. Es fehlte die ethnische konnte kaum noch die Rede sein. Den augenfälligsten Differenz, die zwischen Georgiern einerseits und Ab- Ausdruck erhielt dieser bias in der Politik der »pass- chasen und Osseten andererseits besteht, es fehlte die portisatsija«: Seit der Novellierung seines Staatsbür- gegenseitige Gewalterfahrung aus den Sezessionskrie- gerschaftsgesetzes 2002 gewährte Russland den Ein- gen und es fehlte eine Unabhängigkeitserklärung, wohnern Abchasiens und Südossetiens massenhaft denn Adscharien hatte die Abspaltung von Georgien seine Staatsbürgerschaft, was in Georgien als »schlei- nie vollzogen. Die georgische Regierung saß dem Irr- chende Annexion« dieser Territorien gewertet wurde. tum auf, den adscharischen Erfolgsfall auf diese Kon- Die Verfasser des EU-Berichts zum Augustkrieg von flikte zu übertragen. Daraus gingen seit Sommer 2004 2008, erstellt unter Leitung der Schweizer Diplomatin Entwicklungen hervor, die zu wachsender Konfronta- Heidi Tagliavini und veröffentlicht im September tion mit Russland führten und die Vorgeschichte zum 2009, widmen dieser Maßnahme breiten Raum und Augustkrieg 2008 bildeten.13 bewerten sie als völkerrechtlich fragwürdig.12 Die genannten Sezessionskonflikte fielen zu Beginn der staatlichen Unabhängigkeit mit politischen Tur- Südossetien – Rückfall in Krieg im kleinsten bulenzen und Machtkämpfen in »Kerngeorgien« zu- De-facto-Staat sammen, die aus dem Land ein Beispiel für fragile Staatlichkeit unter nachsowjetischen Bedingungen Im russisch-georgischen »Fünftagekrieg« vom August machten. Zwar gelang während der Präsidentschaft 2008 konzentrierten sich die Kämpfe und die darauf Eduard Schewardnadses seit 1995 eine Stabilisierung folgenden Fluchtbewegungen vor allem auf Südosse- im Vergleich zum unruhigen Eintritt in die Unab- tien und die ihm vorgelagerte Pufferzone um die Stadt hängigkeit, doch die Grundprobleme fragiler Staat- Gori. Russland wurde nicht vorrangig deshalb kriti- lichkeit wurden nicht überwunden. Gegen sie trat siert, weil es auf eine georgische Offensive gegen die nach der »Rosenrevolution« vom November 2003 eine südossetische Hauptstadt Zchinwali militärisch re- sehr junge, erstmals wirklich nachsowjetische Macht- agierte. Aus dem EU-Bericht über die Kriegsursachen elite an. Sie gab drei weitreichende Versprechen, zwi- geht hervor, dass der größere Waffengang von der ge- schen denen später Zielkonflikte auftauchen sollten: orgischen Offensive ausgelöst wurde und diese nicht Demokratisierung, Stärkung von Staatlichkeit und als notwendige und legitime Gegenwehr gegen eine Wiederherstellung der territorialen Integrität Geor- angeblich zuvor erfolgte Invasion russischer Truppen giens. Tatsächlich konnten einige staatliche Funktio- gelten kann.14 Die Verfasser des Berichts machen aber nen wieder in Gang gesetzt werden, die in der späten auch klar, dass an dem längeren »countdown to war« Schewardnadse-Ära weitgehend zum Erliegen gekom- alle Streitparteien einschließlich Russlands beteiligt men waren, so etwa durch eine Haushaltskonsolidie- waren. rung und eine Polizeireform. Als fatal jedoch sollte Die Kritik an Russland entzündete sich am Über- sich das Versprechen rascher Reintegration abtrünni- gang der Militäraktion »Erzwingung des Friedens« in ger Landesteile entpuppen, das der neue Präsident Südossetien in eine Operation zur Bestrafung und Michail Saakaschwili feierlich am Grabe des bedeu- Teilung Georgiens, die mit der diplomatischen An- tendsten georgischen Königs abgegeben hatte. Schon erkennung Abchasiens und Südossetiens am 26. Au- kurz nach seinem Amtsantritt im Januar 2004 konnte Saakaschwili auf diesem Handlungsfeld einen Erfolg 13 Uwe Halbach, »Der ›Countdown to war‹ in historischer vorweisen. Im Mai 2004 wurde die autonome Republik Perspektive. Konfrontation zwischen Russland und Georgien 2004–2008«, in: Russland-Analysen, 192 (20.11.2009), S. 13–16. 14 Independent International Fact-Finding Mission, Report 12 Independent International Fact-Finding Mission on the [wie Fn. 12], Bd. 1, S. 25; vgl. Wolfgang Richter, »Militärische Conflict in Georgia, Report, 2009, Bd. 1, S. 19; Bd. 2, S. 147– Anfangsoperationen während des Georgienkriegs im August 178, . 2008«, in: Russland-Analysen, 193 (4.12.2009), S. 26–31.

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12 Die Sezessionskonflikte Georgiens

gust 2008 politisch besiegelt wurde. Der Wille, Geor- Der Streit um Südossetien war historisch weniger gien zu züchtigen, war in Russland seit langem gereift belastet als die Kontroversen um Abchasien und Berg- und vor allem von der westorientierten Außen- und Karabach. Zwar gehen auch hier die Ursachen bis in Sicherheitspolitik der georgischen Regierung moti- vorsowjetische Zeit zurück,17 aber dennoch war Süd- viert. ossetien weniger als die beiden anderen Regionen prä- Der Krieg katapultierte Südossetien, mit 3885 Qua- destiniert, beim Zerfall der Sowjetunion zum Gegen- dratkilometern Fläche und damals etwa 70 000 Ein- stand eines Sezessionskonflikts zu werden. Während wohnern mit Abstand kleinstes unter den postsowjeti- abchasische und armenische Aktivisten schon in sow- schen Sezessionsgebilden, in die Schlagzeilen der jetischer Zeit Beschwerden gegen die übergeordnete Weltpresse und provozierte Schlagworte wie »neuer Republikgewalt vortrugen, stand das Südossetische Kalter Krieg« und »Wende in der Weltpolitik«.15 Dass Autonome Gebiet kaum im Widerspruch zum übrigen gerade Südossetien für den Rückfall eines ungelösten Georgien. Von der ossetischen Bevölkerung Georgiens Sezessionskonflikts in offenen Krieg steht, ist insofern (1989: 164 000) lebte die Mehrheit außerhalb dieses bemerkenswert, als der Streit um dieses Territorium Gebiets in verschiedenen Teilen des Landes. Es gab lange Zeit als derjenige Regionalkonflikt im Südkau- zahlreiche georgisch-ossetische Mischehen sowohl in kasus galt, der sich noch am ehesten würde lösen Südossetien als auch im übrigen Georgien. In Südosse- lassen. Bis Sommer 2004 bestanden Verkehrsverbin- tien, das im georgischen Sprachgebrauch als »Region dungen zwischen Zchinwali und Tiflis. In der Konflikt- von Zchinwali« oder mit dem historischen Landes- zone und den ihr vorgelagerten Gebieten in »Kern- namen Samachablo bezeichnet wird, lagen ossetische georgien« führten lokale Märkte Georgier und Osseten und georgische Siedlungen dicht beieinander. Im zusammen. Zwar bestand der wirtschaftliche Aus- Augustkrieg 2008 aber wurde die georgische Bevölke- tausch vorwiegend aus Schmuggel und Schwarz- rung in einem Akt »ethnischer Säuberung« fast voll- marktgeschäften, an denen sich Osseten, Georgier ständig vertrieben und Südossetien »entgeorgisiert«. und russische Friedenstruppen beteiligten, sorgte aber Der erste, im Januar 1991 begonnene Krieg in Süd- für gewaltfreie Kontakte. Südossetien hatte sich im ossetien, der rund 1000 Todesopfer forderte, wurde im September 1990 für souverän erklärt und dies mit Juni 1992 beendet, indem Georgien, Russland und Ver- einem Unabhängigkeitsreferendum im November treter Nord- und Südossetiens ein Waffenstillstands- 2006 untermauert. Obwohl also offen abtrünnig, abkommen unterzeichneten. Auf seiner Grundlage stand das Gebiet auf vielfältige Weise mit »Kerngeor- wurde eine 1500 Mann umfassende Gemeinsame Frie- gien« über leicht passierbares Flachland in Verbin- denstruppe aus georgischen, russischen und nordosseti- dung, während es von Nordossetien und Russland schen Kontingenten aufgestellt, um den Waffenstill- durch Hochgebirge getrennt und von dort nur durch stand zu überwachen, die Konfliktparteien zu trennen ein Nadelöhr, den inzwischen weltbekannten Roki- und Sicherheit in der Konfliktzone zu gewährleisten. Tunnel, zu erreichen ist. Mit Georgien gemeinsam Als Forum für Verhandlungen und Dialog wurde eine hatte Südossetien auch die besonders in seinen süd- Gemeinsame Kontrollkommission aus vier Parteien (Russ- lichen Bezirken vor dem Krieg vorherrschende geor- land, Georgien, Süd- und Nordossetien) gebildet, in der gisch-ossetische Streusiedlung. Es hätte zu einem Arbeitsgruppen sich um sicherheitsrelevante Fragen, Musterfall für Konfliktlösung werden können. Statt- Wiederaufbau und Rückkehr der Flüchtlinge küm- dessen avancierte es zum abschreckenden Beispiel für mern sollten. Die OSZE beobachtete die Friedenssiche- verpasste Gelegenheiten zur Konfliktregelung und für rung in Südossetien mit einem kleinen Team und den Rückfall in militärische Gewalt.16

17 So wurden 1920 ossetische Aufstände in der Republik 15 Zur Wahrnehmung des Krieges siehe Hans-Henning Georgien von Truppen der menschewistischen Regierung Schröder (Hg.), Die Kaukasus-Krise. Internationale Perzeptionen niedergeworfen, was zahlreiche Todesopfer forderte. 1922 und Konsequenzen für deutsche und europäische Politik, Berlin: wurden die ossetischen Siedlungsgebiete aufgeteilt: Nord- Stiftung Wissenschaft und Politik, September 2008 (SWP- ossetien, später Autonome Republik, gehörte fortan zur RSFSR, Studie 25/2008); dazu zuletzt Ronald D. Asmus, A Little War das Südossetische Autonome Gebiet mit der Hauptstadt Zchinwali That Shook the World. Georgia, Russia and the Future of the West, zur georgischen Unionsrepublik. Aus georgischer Sicht gibt New York 2010. es kein historisches Subjekt »Südossetien«, sondern die Re- 16 Otto Luchterhandt, »Gescheiterte Gemeinschaft. Zur gion Samachablo als Teil des georgischen Kernlandes, in die Geschichte Georgiens und Südossetiens«, in: Osteuropa, Osseten aus ihrer historischen Heimat im Nordkaukasus 58 (November 2008) 11, S. 97–110. relativ spät eingewandert sind.

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13 Gemeinsamkeiten und Unterschiede ungelöster Sezessionskonflikte

unterstützte die Verhandlungen mit EU-Hilfe. Die EU gien forderte, teilweise sekundiert vom Westen, eine wurde zum Hauptgeber für Rehabilitationsprojekte Erweiterung des OSZE-Monitorings in der Konflikt- in Südossetien. zone um Zchinwali und eine gemeinsame (russisch- Eine Offensive zur Schmuggelbekämpfung, mit der georgische) Kontrolle über den Roki-Tunnel.18 Außer- die neue georgische Regierung im Sommer 2004 einen dem sollten nach dem Willen Georgiens die bestehen- Vorstoß in die Konfliktzone unternahm, rief die Ge- den Mechanismen für Verhandlung und Friedens- walt aus der Kriegsphase 1991/92 in Erinnerung. Diese sicherung durch »internationalisierte«, also weniger Aktion unterbrach Schmuggelgeschäfte, die empfind- russlandlastige Formate ersetzt werden.19 Die Gegen- liche Einbußen für den georgischen Staatshaushalt seite bestand mit russischer Rückendeckung darauf, verursacht hatten, und war insofern mit der von der dass die bestehenden Formate beibehalten wurden, »Rosenrevolution« angestrebten Wiederherstellung und verlangte von Georgien vor allem eine Gewalt- von Staatlichkeit in Georgien zu legitimieren. Aller- verzichtserklärung. dings wurde Saakaschwilis Vorgehen auch mit einem Wie sehr die beiden Sezessionskonflikte Georgiens anderen Versprechen der »Rosenrevolutionäre« in miteinander vernetzt sind, zeigte sich, als die Span- Zusammenhang gebracht: der baldigen »Rückholung nungen in Südossetien im Juli 2008 eskalierten, nach- abtrünniger Landesteile«. Mit der Operation sollte dem zuvor Abchasien im Blickfeld der internationalen dem »separatistischen Regime« eine wichtige Einkom- Politik gestanden und Deutschland einen Friedens- mensquelle entzogen und die Kontrolle georgischer plan für diese Konfliktzone vorgestellt hatte. Die süd- Sicherheitskräfte in Südossetien erweitert werden. Die ossetische Sezessionsregierung mobilisierte ihre mili- Offensive gipfelte in Kämpfen mit südossetischen Mili- tärischen Kräfte und evakuierte Kinder nach Nord- zen. Schon damals, im August 2004, stand Georgien ossetien. In Abchasien hieß es nun, im Kriegsfall wolle am Rand einer militärischen Auseinandersetzung mit man eine zweite Front gegen Georgien eröffnen. Be- russischen Streitkräften, die noch einmal unterbun- waffnete Freiwillige aus dem Nordkaukasus waren seit den werden konnte. Der Vorstoß nach Südossetien Wochen in die beiden Gebiete eingesickert, um Osse- wurde beendet, markierte aber einen nachhaltigen ten und Abchasen gegen einen georgischen Angriff Einschnitt in die russisch-georgischen Beziehungen, beizustehen. Seit langem genährte gegenseitige Feind- die sich unter der neuen georgischen Regierung in bilder wurden aktiviert und Horrorgeschichten über den ersten Monaten nach der »Rosenrevolution« noch die Gewaltbereitschaft des Gegners verbreitet, so in positiv entwickelt hatten. Russland mischte sich da- Südossetien die Version, Georgien bereite biologische nach massiv in diesen Konflikt ein. Unter allen post- und andere Maßnahmen der Ausrottung von Osseten sowjetischen Sezessionsterritorien stand Südossetien und Abchasen vor.20 In dieses Bild fügte sich die Dar- nun am stärksten unter russischer Kontrolle. Funk- stellung des »Völkermordes«, die nach dem georgi- tionäre aus den Sicherheitsapparaten der Russischen schen Artillerieangriff auf Zchinwali vom 7./8. August Föderation wurden in die »Gewaltministerien« für 2008 in russischen Medien kolportiert wurde und das Verteidigung und für innere Angelegenheiten, in den Kernstück der russischen Kriegspropaganda bildete. Nationalen Sicherheitsrat, die Grenzschutzorgane und Unter allen postsowjetischen Sezessionsgebilden die Präsidialadministration der »Republik Südosse- weist Südossetien mit einer verschwindend kleinen tien« entsandt. Zudem war seit dieser Operation Geor- Bevölkerungszahl und minimalen Wirtschaftsressour- giens Glaubwürdigkeit beschädigt, was Initiativen zur cen das geringste Potential für Eigenstaatlichkeit auf. Vertrauensbildung gegenüber seinen abtrünnigen Daher tritt hier die Option auf den Anschluss an einen Landesteilen betraf. Gleichwohl blieb Südossetien das anderen Staat, nämlich die Aufnahme in die Russische vorrangige Objekt für Präsident Saakaschwilis Politik Föderation und die Vereinigung mit der Teilrepublik der forcierten Reintegration. Nach der gescheiterten

Aktion vom Sommer 2004 bevorzugte man in Tiflis 18 Der vier Kilometer lange Tunnel verbindet Nord- mit Süd- nun zivile Methoden und installierte in Südossetien ossetien. Aus georgischer Sicht wurden über ihn Munition einen politischen Brückenkopf mit einer »provisori- und Waffen aus Russland nach Südossetien geschmuggelt. schen Verwaltung« unter Dmitri Sanakojew, welche 19 Als Mediationsrahmen schlug Georgien anstelle des Vier- die Verwaltungshoheit über die georgischen Siedlun- parteienformats der Gemeinsamen Kontrollkommission ein 2+2+2-Format vor (Georgien und die Sanakojew-Verwaltung, gen Südossetiens erhielt. Russland und das separatistische Regime, EU und OSZE). Vor dem Augustkrieg 2008 standen sich die Streit- 20 Nachrichtenagentur Ossinform, zitiert in Caucasus Press, parteien mit folgenden Positionen gegenüber: Geor- 5.8.2008.

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14 Die Sezessionskonflikte Georgiens

Nordossetien, am stärksten hervor. Im Augustkrieg und legen Wert darauf, dass dies als »ethnische Säube- wurde die Region weitgehend »entgeorgisiert«. Die rung« anerkannt und die Rückkehr der Vertriebenen mehr als 20 000 Georgier, die vor allem in der Süd- von der internationalen Politik forciert wird. Die krie- hälfte der Region lebten, wurden vertrieben, ihre Dör- gerische Konfliktphase wurde unter aktiver Vermitt- fer und Häuser zerstört. Internationale Beobachter lung Russlands durch das Moskauer Abkommen über werteten dies als »ethnische Säuberung«.21 Im Unter- Waffenstillstand und Truppentrennung vom 14. Mai 1994 schied zu Zigtausenden Vertriebenen aus der Puffer- beendet. In den bewaffneten Auseinandersetzungen zone im georgischen Grenzgebiet zu Südossetien, die waren die abchasischen Milizen von Kräften aus dem bis 2009 mit auswärtiger Unterstützung in ihre Hei- Nordkaukasus militärisch unterstützt worden. Der matorte zurückkehren konnten, wird dieser Bevölke- Krieg hinterließ in dem zuvor als sowjetisches Tou- rungsteil wohl auf Dauer in Flüchtlingssiedlungen ristenparadies bekannten Landstreifen am Schwarzen in »Kerngeorgien« leben. Doch auch die ossetische Meer bis heute kaum bereinigte Ruinenlandschaften. Bevölkerung leidet unter den bis heute nicht behobe- In keiner anderen Konfliktzone haben sich Bevölke- nen Schäden aus zwei Kriegen. Die nach dem August- rungsgröße und -zusammensetzung so drastisch ver- krieg 2008 verstärkten Geldflüsse aus Russland für ändert. Abchasien mit seinen 8700 Quadratkilometern Wiederaufbauprojekte versickerten auf dem Weg, so (12,5% des georgischen Staatsterritoriums) hatte 1989 dass der Unmut in Russland gegenüber den Behörden rund 525 000 Einwohner. 45,7% entfielen auf den ge- seines Protektorats wuchs. Ende September 2009 kam orgischen Bevölkerungsteil, kaum 18% auf die namen- es zur ersten größeren Protestaktion der lokalen Bevöl- gebende Volksgruppe, der Rest auf Armenier, Russen, kerung, weil nichts gegen die Misere getan wurde. pontische Griechen und andere. Nach der Flucht von angeblich 250 000 Georgiern aus der Kriegszone und weiterer Migration aus dem wirtschaftlich ruinierten Abchasien – gescheiterte Konfliktprävention Gebiet hat Abchasien heute kaum mehr als 200 000 Einwohner, darunter etwa 95 000 ethnische Abchasen. Wie im Falle Südossetiens liegen die unmittelbaren Für die georgische Seite ist die Auseinandersetzung Ursachen des Abchasienkonflikts in der Phase der um Abchasien kein interethnischer und innerstaat- »Souveränitätsparade«, als nationale Gebietseinheiten licher Konflikt, sondern eine Last, die Georgien von sich aus der zerfallenden Sowjetunion lösten. Der Russland auferlegt wurde. Die abchasische Seite er- Konflikt hat aber tiefere historische Wurzeln. Schon zählt eine andere Geschichte. Sie sah sich mit einem lange vor seiner Revitalisierung in der Zeit von 1989 »georgischen Chauvinismus« konfrontiert, der beim bis 1991 und seiner gewaltsamen Austragung 1992 bis Übergang von der sowjetischen in die nachsowjetische 1994 prallten antagonistische Vorstellungen über das Periode autonome Gebietskörperschaften und Min- Verhältnis zwischen georgischer und abchasischer derheiten verprellte. Nach der »Rosenrevolution« habe Geschichte und Staatlichkeit aufeinander.22 Der seit die georgische Führung an diesen nationalistischen 1989 eskalierende Streit ging mit der Invasion georgi- Ausgangspunkt wieder angeknüpft, lautet der Vor- scher Truppen nach Abchasien im August 1992 in wurf aus Suchumi. einen Krieg über, der schätzungsweise 8000 Todes- In dem seit Frühjahr 2008 wieder zugespitzten Kon- opfer forderte und von massiven Menschenrechts- flikt versuchte die deutsche Diplomatie mit einer Ab- verletzungen begleitet war. Abchasischen Hinweisen chasien-Initiative zu vermitteln. Außenminister Frank- auf ungezügelte Gewalt georgischer Kampfverbände Walter Steinmeier legte einen dreistufigen Friedens- gegen die nichtgeorgischen Teile der Zivilbevölkerung plan vor, der die Statusfrage hinter lösbar erscheinen- in Abchasien halten die Georgier die Vertreibung von de Probleme zurückstellte. Gleichwohl lautete die Ant- 250 000 ihrer Landsleute aus der Kriegszone entgegen wort aus Abchasien, der politische Status sei bereits

geklärt, nämlich mit der Unabhängigkeit von Geor- 21 Vgl. Independent International Fact-Finding Mission, gien. Zwei Monate zuvor hatte Tiflis neue Angebote Report [wie Fn. 12], Bd. 1, S. 28; Bd. 2, S. 394–400; Human an die abchasische Seite gerichtet: uneingeschränkte Rights Watch, Up in Flames. Humanitarian Law Violations and Autonomie, Föderalismus, Sicherheitsgarantien und Civil Victims in the Conflict over , New York, Januar friedliche Entwicklung im Bestand eines einheitlichen 2009, . georgischen Staates. Abchasische Vertreter sollten in 22 Zur Behandlung der »abchasischen Frage« in sowjetischer Zeit siehe Gerber, Georgien: Nationale Opposition und kommunisti- nationalen Machtorganen bis zum Posten eines Vize- sche Herrschaft [wie Fn. 10], S. 121–149. präsidenten repräsentiert sein und ein Vetorecht bei

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15 Gemeinsamkeiten und Unterschiede ungelöster Sezessionskonflikte

Verfassungsänderungen haben. Abchasische Sprache te die georgische Regierung die Forderung nach Inter- und Kultur sollten durch Gesetze geschützt werden. nationalisierung entgegen und wünschte hier insbe- Doch die Gegenseite lehnte das großzügig wirkende sondere ein stärkeres Engagement der EU. Seit Früh- Angebot ab und verwies auf ihre längst konstituierte jahr 2008 gelangte man zwar in Europa zur Einsicht, Eigenstaatlichkeit und die geringe Vertrauenswürdig- dass Russland kaum noch als neutraler Peacekeeper in keit des Gegners.23 Was die in internationalen den Konfliktzonen Georgiens gelten konnte. Man war Lösungsvorschlägen behandelte Frage der Rückkehr aber nicht bereit, Moskau mit einer harten sicherheits- georgischer Flüchtlinge nach Abchasien betrifft, wies politischen Alternative zu dem bestehenden Format die abchasische Seite darauf hin, dass bereits zwischen herauszufordern. 45 000 und 60 000 Georgier in ihre Heimatdörfer im Stärker als in anderen »eingefrorenen Konflikten« Landesteil Gali zurückgekehrt seien. Darüber hinaus waren hier zivilgesellschaftliche Organisationen an sei es für das »unabhängige Abchasien« unzumutbar, Konfliktbearbeitung beteiligt, traten neben den VN- wenn die georgische Bevölkerung abermals die Mehr- geleiteten diplomatischen Bemühungen Nichtregie- heit stelle.24 Auf den deutschen Friedensplan rungsorganisationen und »grassroot«-Akteure in Er- erwiderte De-facto-Präsident Bagapsch, die Rückkehr scheinung. Internationale NGOs wie International aller georgischen Flüchtlinge nach Abchasien werde Alert, Conciliation Resources, University of California zu neuem Krieg führen.25 Für die abchasische Seite und Berghof Forschungszentrum für konstruktives fallen dabei historische Traumata ins Gewicht, die das Konfliktmanagement in Berlin engagierten sich mit Bild eines kleinen, ungeschützten Volks prägen. Dazu Netzwerkbildung, Medienprojekten und einer Reihe gehören Vertreibung und Flucht Zigtausender von Seminaren, bei denen sich teilweise hochrangige Abchasen beim Anschluss der Region an das Zaren- Vertreter der Streitparteien begegneten.27 In Abcha- reich und eine Politik der »Georgisierung« Abchasiens sien bestanden im Vergleich mit anderen Konflikt- zwischen 1939 und 1957. zonen relativ günstige Bedingungen, die Zivilgesell- Im Abchasienkonflikt hatte sich Russland das Mono- schaft an der Konfliktbearbeitung zu beteiligen. Auch pol für Peacekeeping verschafft. Die Sicherheitszone in Georgien ist die Zivilgesellschaft stärker ausgeprägt am Grenzfluss Inguri wurde, entsprechend dem Mos- als in Nachbarländern.28 Doch mit dem georgischen kauer Waffenstillstandsvertrag vom 14. Mai 1994, von militärischen Vorstoß in das obere Kodori-Tal erlitten (maximal 3000) russischen Soldaten unter GUS-Man- Vertrauensbildungsprozesse, die von Volksdiplomatie dat überwacht. Die Operation dieser Friedenstruppen unterstützt wurden, bereits im Sommer 2006 einen wurde von der United Nations Observer Mission in Georgia Rückschlag. (UNOMIG) beobachtet, die der VN-Sicherheitsrat im Seit April 2008 eskalierten im Umfeld Abchasiens August 1993 eingerichtet hatte.26 Diesem Format setz- die Spannungen zwischen Georgien und Russland.

Russland reagierte auf die einseitige Unabhängigkeits- 23 Jurij Simonjan, »Suchumi otkazalsja ot pol’nogo federa- erklärung Kosovos und stieg aus einem von der GUS lizma« [Suchumi lehnt vollständigen Föderalismus ab], in: 1996 vereinbarten Embargo gegenüber Abchasien aus. Nezavisimaja gazeta, 31.3.2008. In einem Erlass vom 16. April 2008 befahl der russi- 24 Premierminister Ankwab in einem Spiegel-Interview sche Präsident noch engere Beziehungen zwischen dazu: »Das können wir aus Sicherheitsgründen nicht zulas- russischen Staatsbehörden und ihren Pendants in Ab- sen. Wir werden uns hier nicht eine Bevölkerungsmehrheit schaffen, die unsere schwer errungene Republik abschaffen chasien und Südossetien. Russland hatte schon zuvor will. Dann würde vom abchasischen Volk, seiner Kultur und Sprache nicht viel übrig bleiben.« Zitiert in Spiegel Online, 27 Oliver Wolleh, A Difficult Encounter. The Informal Georgian- 1.6.2008. Abkhazian Dialogue Process, Berlin, September 2006 (Berghof 25 Nikolaus von Twickel, »Steinmeier Promotes Plan for Report Nr. 12). Abkhazia«, in: The Times, 21.7.2008. 28 Ernst Piehl, Organisierte Zivilgesellschaft in Georgien, Armenien 26 Die Aufgaben von UNOMIG bestanden darin, die Umset- und Aserbaidschan im Kontext der Europäischen Nachbarschaftspoli- zung des Waffenstillstands von 1994 zu verifizieren, die Ope- tik. Studie für den Europäischen Wirtschafts- und Sozialaus- ration der GUS-Friedenstruppe zu beobachten, unerlaubte schuss, Brüssel 2008, Kapitel 2.4.: »Zivilgesellschaftliche Truppen- und Waffenbewegungen zu melden, regelmäßig im Ansätze in den Sezessionsgebieten«; Kaufmann, »Der weite unkontrollierten Kodori-Tal zu patrouillieren, dem VN-Gene- Weg zur ›Zivilgesellschaft‹« [wie Fn. 6], Abschnitt »Zivilgesell- ralsekretär regelmäßig Bericht zu erstatten, mit beiden Kon- schaft als Konfliktlösungselement«, S. 17f. Eine sehr kritische fliktparteien engen Kontakt zu halten und zu Bedingungen Einschätzung zur »Zivilgesellschaft« im Kaukasus gibt beizutragen, die eine Rückkehr von Flüchtlingen und Binnen- Jonathan Wheatley, »Civil Society in the Caucasus. Myth and vertriebenen ermöglichten. Reality«, in: Caucasus Analytical Digest, (22.1.2010) 12, S. 2–7.

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16 Die Sezessionskonflikte Georgiens

Wirtschaftsbeziehungen mit der Sezessionsrepublik zen.29 Ihrerseits hatte die georgische Führung Ansätze geknüpft und damit das GUS-Embargo unterlaufen, von Vertrauensbildung mit dem Gegner in Abchasien das nur die Einfuhr lebenswichtiger Güter nach Ab- zunehmend untergraben. Dabei belastete vor allem chasien erlaubte und für alle übrigen Wirtschaftsakti- die Situation im oberen Kodori-Tal in Oberabchasien vitäten dort das Einverständnis der georgischen Regie- seit Sommer 2006 die Beziehungen. Damals rückten rung verlangte. Die Restriktionen wurden ohnehin georgische Sicherheitskräfte in das von einem War- durch mannigfachen Schmuggel umgangen, der Ab- lord kontrollierte Gebiet ein und ließen dort fortan chasien mit dem russischen, aber auch dem türki- eine (aus vertriebenen Georgiern bestehende) Exil- schen Wirtschaftsraum verband und in den Russen, regierung residieren. Seitdem waren die Verhand- Georgier, abchasische Behörden, Geheimdienste und lungskontakte zwischen den Konfliktparteien unter- Friedenstruppen involviert waren. Die Eskalation setz- brochen. Zur wichtigsten Voraussetzung für weitere te sich fort, als georgische Aufklärungsdrohnen über Verhandlungen erhoben Abchasien und Russland den Abchasien abgeschossen wurden. Georgien konzen- Abzug georgischer Truppen aus diesem Tal. Sie inter- trierte Truppen im Grenzgebiet zu Abchasien und pretierten die georgische Präsenz dort als Sprungbrett beklagte seinerseits, Russland verstärke sein Friedens- für die Rückeroberung Abchasiens. Tiflis behauptete, truppen-Kontingent in Abchasien mit Waffen- und im Kodori-Tal lediglich Polizeikräfte, kein Militär sta- Truppengattungen, die das Waffenstillstandsabkom- tioniert zu haben, und lud ausländische Reporter und men nicht gestatte. Ende Mai schickte Russland UNOMIG-Vertreter in die Region ein, um zu zeigen, Eisenbahntruppen nach Abchasien, um beschädigte dass von Truppenmassierung nicht die Rede sein kön- Bahnlinien zu reparieren. Im Vorfeld des neuerlichen ne.30 Allerdings wiesen georgische Politiker selbst wie- Kaukasuskrieges erlangte diese »humanitäre Aktion« derholt darauf hin, dass mit dem Vorstoß ins Kodori- militärische Bedeutung, wurden doch über diese Tal die Rückkehr nach Abchasien eingeleitet worden Bahnlinien im »Fünftagekrieg« russische Truppen sei.31 nach Westgeorgien befördert. Abchasiens Territorium entlang der Schwarzmeer- Vor dem Augustkrieg 2008 vertraten die Kontrahen- küste hat für Russland größere strategische Bedeu- ten folgende gegensätzliche Positionen im Abchasien- tung als das Südossetiens. Als deutliches Zeichen dafür konflikt: Georgien forderte erstens einen Fahrplan für kann gelten, dass nach dem Krieg und der diplomati- die Rückkehr georgischer Flüchtlinge in ihre Heimat- schen Anerkennung Abchasiens neue russische Mili- orte in ganz Abchasien (und zwar in einer frühen tärbasen dort errichtet und zuvor geschlossene wieder Phase der Verhandlungen, nicht erst an deren Ende), in Betrieb genommen wurden. Der russische Regie- zweitens die Internationalisierung der bis dato rein rungschef Putin stellte bei einem Besuch in Suchumi russischen Peacekeeping-Operation und drittens die am 12. August 2009 für das kommende Jahr Investi- Rücknahme des Präsidentenerlasses vom 16. April tionen von 340 Millionen Euro für ein Militärpro- 2008 über die offizielle Zusammenarbeit zwischen gramm in Abchasien und für Grenzsicherung in Aus- russischen und abchasischen Staatsorganen. Unter- sicht. Dazu kommen Gelder für Sozialleistungen und stützt von Russland forderte die Gegenseite erstens den Aufbau der noch vom Krieg 1992/93 geschädigten den georgischen Rückzug aus dem oberen Kodori-Tal, Infrastruktur. Vor August 2008 bestand die »schlei- zweitens die bedingungslose Unterzeichnung einer chende Annexion« Abchasiens in der Durchdringung Gewaltverzichtserklärung durch Georgien sowie drit- mit russischem Kapital und mit Tourismus aus Russ- tens eine nur allmähliche und begrenzte Rückkehr land, vor allem aber in der Verteilung russischer Pässe der Flüchtlinge, und das allenfalls nach Wiederher- an mehr als 90 Prozent der Einwohner Abchasiens, stellung gegenseitigen Vertrauens, also am Ende eines von denen nur eine Minderheit ethnische Russen sind. Verhandlungsprozesses. Begleitet wurden diese Kon- troversen von ständigen Provokationen zwischen den 29 Giorgi Lomsadze, »Georgia: Tensions Flare over Breakaway Konfliktparteien. South Ossetia«, Eurasianet – Civil Society, 4.8.2008. Anfang August 2008 verlagerte sich der »count- 30 »Georgia Brings Foreign Reporters in Kodori«, Civil Georgia, down to war« auf Südossetien. Da kurz zuvor der deut- 19.5.2008. sche Friedensplan für Abchasien vorgestellt worden 31 So Präsident Saakaschwili: »Wir Georgier sind eine sehr geduldige Nation. Aber ich möchte, dass die Welt zur Kennt- war, erklärten georgische Kommentatoren diese Ent- nis nimmt: Unsere Geduld ist langsam erschöpft. Wir starten wicklung mit dem russischen Bestreben, europäische den Countdown für die Rückkehr nach Abchasien.« Zitiert in Friedensbemühungen im Südkaukasus zu durchkreu- Civil Georgia, 6.10.2007.

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17 Gemeinsamkeiten und Unterschiede ungelöster Sezessionskonflikte

Zudem spielt der Landstreifen am Schwarzen Meer testens mit dem Antrag des Autonomen Gebiets Berg- eine exponierte wirtschaftliche und logistische Rolle Karabach auf Transfer von der Aserbaidschanischen beim Aufbau einer »Olympischen Zone« für die Win- zur Armenischen Unionsrepublik im Februar 1988 terolympiade im nahen Sotschi 2014. wurde die Welt auf den Karabachkonflikt aufmerk- Gleichzeitig betont man in Abchasien die Eigen- sam. Die als Schlüsselkonflikt im Südkaukasus behandel- ständigkeit auch gegenüber Russland. Trotz hoher te Karabachfrage ist Haupthindernis für eine intra- Abhängigkeit von seinem Protektor sieht sich Abcha- regionale Kooperation, die alle drei südkaukasischen sien nicht als dessen Marionette, sondern als staat- Staaten einbezieht. Internationale Finanzorganisatio- liche Entität, die eine strategische Position am Schwar- nen haben die Kosten berechnet, die der Konflikt zen Meer besitzt und in internationale Verbindungen einem durch Grenzblockaden eingeschränkten Land treten möchte. Im abchasischen Präsidentschaftswahl- wie Armenien auferlegt. Mit ökonomischen Anreizen kampf im Dezember 2009 wurde geargwöhnt, Abcha- konnte er allerdings nicht überwunden werden. Erst sien betreibe seinen »Ausverkauf an Russland«. Des- der Krieg in Georgien gab dafür neue Impulse. Er führ- halb sollte Europa Abchasien nicht als russisches Pro- te Armenien seine einseitige Transitabhängigkeit von tektorat betrachten und in internationaler Isolation Georgien vor Augen und verstärkte den Wunsch, die belassen, sondern statusneutrale Kontakte zu ihm Grenze zur Türkei zu öffnen, die diese 1993 wegen des erwägen und georgische Bemühungen um zivile Bezie- Karabachproblems geschlossen hatte. Auf diese Weise hungen über den Grenzfluss Inguri hinweg unterstüt- erhielten diplomatische Annäherungsversuche zwi- zen. Im Dezember 2009 diskutierten die Botschafter schen der Türkei und Armenien neuen Schub, die der EU-Staaten ein Papier über Kontakte zu Abchasien schon vor dieser Krise eingeleitet worden waren. und Südossetien unter der Bedingung der Nichtaner- Der Karabachkonflikt weist die stärkste zwischen- kennung.32 Bei künftigem EU-Engagement in Abcha- staatliche Dimension auf. Im bestehenden Verhand- sien sind freilich Vorbehalte zu überwinden, die in der lungsformat unter Leitung der Minsker OSZE-Gruppe dortigen Bevölkerung gegen die EU wegen ihrer Unter- gelten nur Armenien und Aserbaidschan als Streit- stützung Georgiens teilweise stark ausgeprägt sind. parteien. Berg-Karabach selbst wurde auf Druck Aser- Zudem gilt es, die Situation im Landesteil Gali zu be- baidschans 1997 aus dem Format ausgeschlossen. achten, aus dem Nachrichten über diskriminierende Dabei sind Frieden und Friedensvertrag nur möglich, Maßnahmen gegenüber der dortigen georgischen Be- wenn alle involvierten Kontrahenten sich wechsel- völkerung an die Öffentlichkeit drangen. Die Rede ist seitig als Parteien anerkennen. Zu ihnen gehört Berg- von Russifizierung der Schulen und dem Zwang, ab- Karabach genauso wie die aus ihm vertriebene aser- chasische Pässe anzunehmen. baidschanische Gemeinde. Obwohl auch dieser Konflikt nicht mit einem durchgängig problembeladenen Verhältnis und weit Berg-Karabach – der älteste Regionalkonflikt in die Vergangenheit zurückreichendem Hass zwi- im postsowjetischen Raum schen zwei Volksgruppen erklärt werden kann, hat er von den hier behandelten Fällen doch den tiefsten Der Konflikt um das zu Aserbaidschan gehörende, historischen Hintergrund. Der Karabachkrieg 1991– aber überwiegend von Armeniern bewohnte autono- 1994 gilt als der dritte armenisch-aserbaidschanische me Gebiet Berg-Karabach bildete den ersten gravieren- Waffengang nach 1905/06 und 1918–1920. Die Streit- den »ethnischen Störfall« in der Reformperiode unter parteien selbst greifen mit ihren historischen Besitz- Gorbatschow. Er warf einen Zukunftsschatten auf eine ansprüchen auf das umstrittene Gebiet bis ins Alter- Vielzahl ethno-territorialer Streitigkeiten, die beim tum zurück. Demnach ist Berg-Karabach oder Arzach Zerfall der Sowjetunion aufkamen. Seine Akteure, vor in der armenischen Darstellung ein »ur-armenisches« allem armenische Intellektuelle, machten am frühes- Gebiet, von dem in der neueren Geschichte des Ar- ten Gebrauch von den durch Glasnost veränderten Arti- meniertums Anstöße zur nationalen Einigung aus- kulationsmöglichkeiten für nationale Anliegen. Spä- gingen. In der aserbaidschanischen Historiographie dagegen ist die Region Teil des antiken und früh- 32 »Non-paper on the Parameters for EU’s Non-recognition mittelalterlichen kaukasischen Albanien, das als and Engagement Policy for Abkhazia and South Ossetia«, zitiert in International Crisis Group (ICG), Abkhazia: Deepening Dependence, Suchumi u.a., 26.2.2010 (ICG Europe Report Nr. 202), S. 12.

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18 Berg-Karabach – der älteste Regionalkonflikt im postsowjetischen Raum

Karte Südkaukasus/Berg-Karabach

Quelle: Modifizierte Darstellung nach Thomas de Waal, Black Garden [wie Fn. 34], S. xii

integraler Bestandteil aserbaidschanischer Geschichte rungen und immensen Fluchtbewegungen. Diese behandelt wird.33 gegenseitige Gewalterfahrung hat Vergeltungs- und Gemeinsam mit den Tschetschenienkriegen und Sicherheitsbedürfnisse erzeugt, die Kompromissbereit- dem Bürgerkrieg in Tadschikistan (1992–1996) gehört schaft verhindern. Auf armenischer wie aserbaidscha- die kriegerische Phase dieses Konflikts mit schätzungs- nischer Seite spielt Geschichts- und Erinnerungskultur weise 30 000 Todesopfern zu den schlimmsten Gewalt- eine bedeutende Rolle. Große Anstrengungen werden ereignissen nachsowjetischer Geschichte. Sie erfüllt unternommen, um die Welt über die Untaten des je- das Vollbild des »ethnic war«34 mit ethnischen Säube- weiligen Gegners zu informieren.35 Diese Kultivierung

33 Michael H. Kohrs, »Geschichte als politisches Argument. Azerbaijan through Peace and War, New York/London 2003. Der ›Historikerstreit‹ um Berg-Karabach«, in: Fikret Adanir/ 35 Die Armenier begehen den »Tag von Sumgait«, der an Po- Bernd Bonwetsch (Hg.), Osmanismus, Nationalismus und der Kau- grome gegen die armenische Bevölkerung in Aserbaidschan kasus, Wiesbaden 2005, S. 43–63; Eva-Maria Auch, »Berg Kara- im Februar 1988 erinnern soll. Demgegenüber gedenkt Aser- bach – Krieg um den ›Schwarzen Garten‹«, in: von Gumppen- baidschan des Massakers an der aserbaidschanischen Zivil- berg/Steinbach (Hg.), Der Kaukasus [wie Fn. 9], S. 113–124. bevölkerung in der Stadt Chodschali durch armenische Trup- 34 Stuart J. Kaufman, Modern Hatreds. The Symbolic Politics of pen im Februar 1992, das auch von Human Rights Watch als Ethnic War, Ithaca/London: Cornell University Press, 2001, größtes Kriegsverbrechen im Karabachkonflikt gewertet wird. S. 49–83; zu Konflikt- und Kriegsverlauf sowie historischem Die armenische Seite hält dem wiederum einen anderen Orts- Hintergrund siehe Thomas de Waal, Black Garden. Armenia and namen entgegen: Maragha, ein von aserbaidschanischen

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der Opfer- und Feindbilder macht es den politisch  Sicherheitsgarantien für Berg-Karabach durch Verantwortlichen auf beiden Seiten denkbar schwer, internationales Peacekeeping sich auf Kompromisse zu einigen und diese ihren Ge- Im August 2009 legten die Ko-Vorsitzenden eine sellschaften zu vermitteln. ergänzte Version des Madrider Dokuments vor. Darin Hauptmediator in diesem Konflikt ist die seit 1992 betraf ein zusätzlicher Punkt tätige Minsker Gruppe der OSZE, die in mehreren Pha-  einen Interim-Status für die »Republik Berg-Kara- sen und mit wechselnden Formaten (seit 1997 mit den bach«, der ihre Sicherheit und ihr Recht auf »self- Ko-Vorsitzenden Russland, Frankreich und USA) zwi- governance« bis zur endgültigen Statusklärung schen den Streitparteien vermittelte. Verhandelt wur- garantieren soll. den kontroverse »Paket-« und »Etappenlösungen«.36 In Obwohl angeblich bereits weitreichende Kompro- Aserbaidschan wuchs die Frustration über die festge- misse zwischen den Präsidenten Armeniens und Aser- fahrene Konfliktbearbeitung und die Hinnahme eines baidschans erzielt wurden, bleiben vor allem zwei völkerrechtswidrigen Zustands, nämlich dass armeni- Fragen weiterhin umstritten. Zum einen regt sich in sches Militär einen bedeutenden Teil aserbaidschani- weiten Teilen der armenischen Öffentlichkeit Wider- schen Staatsterritoriums besetzt hält. Aserbaidschans stand gegen die Rückgabe der besetzten Territorien. territoriale Integrität, von der internationalen Ge- Die sieben Regionen figurieren in Berg-Karabachs Ver- meinschaft anerkannt, wird nicht nur durch die mit fassung als »Sicherheitszone«. Zum anderen herrscht nationaler Selbstbestimmung begründete Sezession Uneinigkeit über ein zukünftiges Referendum zum Berg-Karabachs verletzt, sondern auch durch die Be- endgültigen Status Berg-Karabachs. Die »basic prin- setzung sieben umliegender aserbaidschanischer Pro- ciples« stoßen zumindest bei einer Streitpartei, näm- vinzen durch armenische Truppen.37 Der größte Teil lich in Berg-Karabach selbst, weitgehend auf Ableh- der auf rund eine Million geschätzten aserbaidschani- nung, wobei man hier besonders beklagt, dass man schen Flüchtlinge und Binnenvertriebenen des Kara- seit langem nicht mehr in den Verhandlungsprozess bachkrieges stammt aus diesen Provinzen. Mit gut einbezogen war. einem Achtel seiner Bevölkerung hat Aserbaidschan Mit dem Karabachproblem sind auch andere inter- damit weltweit einen der höchsten Anteile an Vertrie- nationale und regionale Organisationen befasst (VN, benen. Europarat, GUS, GUAM, OIC). Die Vereinten Nationen Die Ko-Vorsitzenden der Minsker Gruppe haben ver- verabschiedeten 1993 vier Resolutionen und forderten handelbare »basic principles« herausgearbeitet und darin den Rückzug armenischer Truppen. Sie setzten auf einem Treffen der Konfliktparteien in Madrid im aber weder eine Frist noch verhängten sie Sanktionen. November 2007 fixiert. Sie umfassen: Auch die Parlamentarische Versammlung des Europa-  den Rückzug armenischer Truppen aus der rats stellte die Okkupation beträchtlicher Teile des Umgebung Berg-Karabachs (zumindest aus fünf aserbaidschanischen Staatsterritoriums durch armeni- der sieben Provinzen) sche Truppen fest. Die EU ist in der Karabachfrage am  einen Korridor zwischen Berg-Karabach und der wenigsten engagiert und in der Konfliktbearbeitung Republik Armenien offiziell nicht vertreten. Sie hat lediglich die Ver-  die gesicherte friedliche Rückkehr der Vertriebenen pflichtung zur friedlichen Konfliktlösung in ihre mit an ihre Heimatorte Armenien und Aserbaidschan 2006 vereinbarten  internationale Wiederaufbauhilfe Aktionspläne im Rahmen der Nachbarschaftspolitik  ein zukünftiges Referendum über den Status Berg- aufgenommen. Die EU könnte sich intensiver an der Karabachs Konfliktbearbeitung beteiligen, indem sie den von Frankreich vertretenen Ko-Vorsitz in der Minsker Gruppe übernimmt. Allerdings wird bezweifelt, dass

Truppen im April 1992 erobertes und in Brand gesetztes Dorf. Veränderungen und Erweiterungen des Mediations- 36 Siehe besonders Rexane Dehdashti, Internationale Organi- formats wesentliche Fortschritte bringen werden. sationen als Vermittler in innerstaatlichen Konflikten. Die OSZE und Der Streit um Berg-Karabach wird gern in einen der Berg Karabach-Konflikt, Frankfurt a.M./New York: Campus geopolitischen Kontext gestellt, in dem es vor allem Verlag, 2000. um die Energieressourcen der kaspischen Region und 37 1992/93 besetzten armenische Truppen folgende Territo- ihre kaukasischen Transportwege geht. Aserbaidschan rien in der Umgebung Berg-Karabachs: Latschin (1835 km2), Kälbäcär (1936 km2), Cäbrayil (1059 km2), Qubadli (802 km2), ist das Schlüsselland für Energiepolitik im Kaukasus. Agdam (1093 km2), Füzuli (1386 km2) und Zängilan (707 km2). Die tägliche Ölproduktion ist hier auf knapp 900 000

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Barrel gestiegen (1997: 180 000). Der Erdgasexport wagten sich ihre Präsidenten auf die Verhandlungs- betrug 2009 6,5 Milliarden Kubikmeter und soll auf bühne. Nach dem Augustkrieg trafen sie sich so oft 9 Milliarden gesteigert werden. Im Zusammenhang wie nie zuvor – allein sechs Mal von November 2008 mit dem ungelösten Konflikt und seiner Verbindung bis November 2009, so am 18. November 2009 in mit dem türkisch-armenischen Annäherungsprozess München. Zweitens ist die Konfliktbearbeitung in (s. unten) vollziehen sich seit Ende 2009 wichtige diesem Fall weitgehend auf die hohe Diplomatie Änderungen in der aserbaidschaischen Außenpolitik. beschränkt. Hinter dieser Track-1-Ebene, deren Bemü- Dazu gehören tiefe Irritationen im »brüderlichen« hungen von den Streitparteien und ihren Bevölke- Verhältnis Aserbaidschans zur Türkei. Auch die Bezie- rungen als diplomatisches Ritual wahrgenommen hungen zu den USA sind abgekühlt, weil diese den werden, treten zivilgesellschaftliche Aktivitäten türkisch-armenischen Annäherungsprozess angeblich zurück. Obwohl die Volksdiplomatie nach dem Kara- ohne Rücksicht auf Aserbaidschans Position im Kara- bachkrieg Erfolge beim Austausch von Kriegsgefange- bachkonflikt unterstützen, auf der Trennung dieses nen erzielt hatte, sind die für Frieden und Kompro- Prozesses von der Karabachfrage beharren und zudem miss eintretenden zivilen Kräfte auf beiden Seiten Berg-Karabach Finanzhilfe in Höhe von 8 Millionen gegenüber ihren Widersachern deutlich im Nachteil. US-Dollar gewähren wollen. Sie laufen Gefahr, als innerer Feind dargestellt zu Die historischen Regionalmächte Türkei und Iran werden, der nationale Positionen aufgeben will, und sind von der Mediation im Karabachkonflikt vorläufig sind dem Druck ausgesetzt, den die Regierungen ausgeschlossen. Die Türkei steht aus armenischer (besonders in Aserbaidschan) auf zivilgesellschaftliche Sicht Aserbaidschan, der Iran aus aserbaidschanischer Akteure ausüben. Sicht Armenien zu nahe. Wie sieht es mit der histori- Nach der Zäsur vom August 2008 startete Russland schen Regionalmacht Russland aus? Für viele Beobach- eine Friedensoffensive für Berg-Karabach, die eine Kon- ter liegt der Schlüssel zur Lösung des Problems in Mos- trastfolie zu seinem militärischen Vorgehen gegen kau, weil Russland von seinem engen Verbündeten Georgien bot. Präsident Medwedew lud seine Amts- Armenien Kompromisse erzwingen könnte. Dennoch kollegen aus Armenien und Aserbaidschan im Novem- gab es zwischen Russland und westlichen Akteuren ber 2008 nach Moskau ein und konnte sie dazu bewe- über Berg-Karabach weit weniger Unstimmigkeiten als gen, sich zu friedlicher Konfliktlösung auf der Grund- im Falle der Sezessionskonflikte Georgiens. Russland lage der »basic principles« zu bekennen. Erstmals in und die USA bevorzugen in ihrer Funktion als Ko-Vor- der Geschichte der Auseinandersetzungen unter- sitzende der Minsker Gruppe eher die Kooperation. zeichneten die Präsidenten eine gemeinsame Erklä- Beim Jahreswechsel 2009/10 sprachen sich beide dafür rung. So hat die Georgienkrise Bewegung in die Ver- aus, die Diplomatie im Fall Berg-Karabach zu intensi- handlung des benachbarten Konflikts gebracht. Dies vieren und diesen vom türkisch-armenischen Dialog kann sich aber nur unter zwei entscheidenden Vor- zu trennen. Trotz dieses relativen Vorteils konnten aussetzungen als nachhaltig erweisen: dass erstens externe Akteure aber bislang keinen wirklichen externe Akteure wie Russland, die westlichen Ko-Vor- Durchbruch in der Konfliktbearbeitung erreichen. sitzenden der Minsker Gruppe und die Türkei koope- Dies hatte vor allem zwei Gründe. Erstens hat der rieren und nicht konkurrieren und dass zweitens alle Konflikt einen starken Einfluss auf die Innenpolitik in Streitparteien aus der Georgienkrise die Lehre ziehen, Aserbaidschan und Armenien.38 Es ist bezeichnend, dass die militärische Option keine Konflikte löst. Von dass ein »window of opportunity« für Kompromisse einem Durchbruch sind die Verhandlungen über die stets nur dann gesehen wurde, wenn in keinem der Karabachfrage nach wie vor ein gutes Stück entfernt. beiden Länder Wahlen anstanden. Auch in dieser Vielmehr belastete diese gegen Ende des Jahres 2009 Hinsicht brachte die Georgienkrise Bewegung in die den türkisch-armenischen Annäherungsprozess, auf verfahrene Situation. Obwohl im Jahr 2008 in Aser- den noch einzugehen sein wird. baidschan und in Armenien gewählt werden sollte,

38 Kompromissbereitschaft in diesem Konflikt kann für den sie vertretenden Politiker vernichtende innenpolitische Fol- gen haben. Dies zeigte der Fall des ersten armenischen Präsi- denten Ter-Petrosjan. Er musste 1998 aus dem Amt scheiden, nachdem er das Kompromissmodell einer »Etappenlösung« im Karabachkonflikt angestrebt hatte.

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21 Externe Akteure und regionale Umfeldbedingungen

Externe Akteure und regionale Umfeldbedingungen

Zu den überregionalen Aspekten des russisch-georgi- und der Türkei. Was den Schwarzmeerraum betrifft, schen Gegensatzes, der die ungelösten Sezessionskon- setzte die EU eine aktivere Rolle in der Konfliktbear- flikte überlagerte, gehörten Solidaritätsbeziehungen beitung erst an die dritte Stelle der Prioritäten ihres von der Ostsee über den Schwarzmeerraum bis zum Projekts Black Sea Synergy – nach der Förderung von Kaspischen Meer. Sie richteten sich gegen »neo-imperi- Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlich- ale Ambitionen« Russlands gegenüber seinem »nahen keit und der Sicherheit gegenüber Schmuggel und Ausland« und fanden ihren Niederschlag in einer illegaler Migration, aber noch vor der energiepoliti- Community of Democratic Choice, die im Dezember 2005 schen Zusammenarbeit.40 Fortschrittsberichte zu vom ukrainischen Präsidenten Juschtschenko und Black Sea Synergy zeigten, dass bei der Umsetzung seinem georgischen Amtskollegen Saakaschwili aus andere Handlungsfelder wie Umwelt, Fischerei, Ener- der Taufe gehoben wurde. Pate standen damals die gie und Transport weit vor der Konfliktbearbeitung Außenminister der USA und Polens. Obwohl dies ein rangierten. Im Kaukasus und im Schwarzmeerraum rein virtuelles Integrationsprojekt blieb, fühlte sich tätige Regionalorganisationen haben kaum wirkungs- Russland vor allem von Solidaritätsbeziehungen zwi- volle Beiträge zur Konfliktlösung leisten können. Dies schen Kiew und Tiflis provoziert und bezichtigte ukra- gilt für die 1992 gegründete Organisation für Schwarz- inische Verbände zusammen mit anderen »ausländi- meerkooperation (Black Sea Economic Cooperation, schen Söldnern«, im Augustkrieg 2008 auf georgischer BSEC) ebenso wie für GUAM. Es misslang, die Differen- Seite gekämpft zu haben. zen durch Integration der Streitparteien in regionale Auf regionaler Ebene vernetzten sich nord- und Kooperationsformate beizulegen.41 südkaukasische Akteure: kaukasische Volksgruppen Die Entwicklung hin zum Augustkrieg 2008 zeigte, der Russischen Föderation mit der Nationalbewegung wie eng Regionalkonflikte mit geopolitischen Zusam- der ihnen ethnisch verwandten Abchasen, Nordosse- menhängen verbunden sind. So muss die Eskalation tien mit Südossetien, Kosakenverbände mit Kräften, seit Frühjahr 2008 im Lichte der Nato-Beitrittsperspek- die sich gegen das prowestliche Georgien positionier- tive Georgiens und der Auseinandersetzung um einen ten. Schon vor dem neuerlichen Kaukasuskrieg von Membership Action Plan für Georgien (und die Ukraine) 2008 wiesen russische und georgische Quellen darauf gesehen werden. Hier verschränkten sich regionale hin, dass Kämpfer und Waffen aus russischen Födera- Streitigkeiten mit dem russischen Bestreben, eine wei- tionssubjekten des Nordkaukasus in die beiden geor- tere Runde der Nato-Osterweiterung abzuwehren, die gischen Konfliktzonen einsickerten. Dies erinnerte diesmal in den GUS-Raum hineingereicht hätte. Eine an ähnliche Vorgänge während der Sezessionskriege wichtige Rolle spielte zudem ein anderes Ereignis, das 1991–1993.39 eine Kontroverse zwischen Russland und westlichen Auf der Ebene der weiteren Schwarzmeerregion Akteuren hervorrief: die Unabhängigkeitserklärung blockieren die ungelösten Regionalkonflikte inter- Kosovos und ihre Anerkennung durch eine Reihe west- nationale und intraregionale Beziehungen. Der (hier licher Staaten. nicht behandelte) Transnistrienkonflikt belastet die Beziehungen zwischen Russland, Ukraine und Mol- dova, die Auseinandersetzungen um Abchasien und Südossetien erschweren diejenigen zwischen Russland und Georgien und das Karabachproblem beeinträch- tigt diejenigen zwischen Armenien, Aserbaidschan 40 Michael Emerson, The EU’s New Black Sea Policy, Brüssel: Center for European Policy Studies, Juli 2008 (CEPS Working 39 Damals hatte eine Konföderation kaukasischer Bergvölker vom Document Nr. 297), S. 4, 7. Staatsgebiet Russlands aus abchasische Kampfverbände gegen 41 Siehe dazu Mykola Kapitonenko, »Resolving Post-Soviet georgische Truppen unterstützt und maßgeblich dazu beige- ›Frozen Conflicts‹. Is Regional Integration Helpful?«, in: tragen, dass diese sich gegenüber dem militärisch überlege- Caucasian Review of International Affairs, 3 (Winter 2009) 1, nen Gegner behaupten konnten. S. 37–44.

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22 Militarisierung

Militarisierung sozialökonomische Aufgaben wesentlich dringlicher zu erledigen seien.44 Hätte danach die EU-Nachbar- Im Südkaukasus war seit 2004 anschwellende Kriegs- schaftspolitik Obergrenzen für militärische Haushalts- rhetorik zu vernehmen. So häuften sich in Aserbaid- ausgaben in den Aktionsplänen mit den drei südkau- schan Aussagen von Politikern über die Bereitschaft kasischen Staaten vereinbaren sollen? Das wäre gegen- und Fähigkeit, Berg-Karabach und die umliegenden über einem Partner wie Aserbaidschan, der kaum von armenischen Truppen besetzten Provinzen zu- noch auf Finanzhilfen angewiesen ist, schwer durch- rückzuerobern. Daniel Fried, unter der Bush-Adminis- zusetzen gewesen. Die Steigerung der Ausgaben wurde tration im State Department für Europa und Eurasien mit Modernisierung und Anpassung an westliche zuständig, hielt diese Rhetorik für innenpolitisch Militärstandards begründet, diente aber unübersehbar motiviert, wies aber auf ihre Eigendynamik hin: »Wir auch dem Aufbau einer Drohkulisse gegenüber dem erklären der aserbaidschanischen Regierung, dass jeweiligen Kontrahenten. Sicherheitspolitischen Aus- dieses Kriegsgerede einen riskanten Zyklus von Rheto- sagen und Dokumenten in Georgien war zu entneh- rik, Gegenrhetorik und Ereignissen auslösen kann.«42 men, dass diese Aufrüstung nicht zuletzt dem Ziel der Diese Besorgnis wiegt umso schwerer, als die militäri- Wiederherstellung territorialer Integrität galt.45 West- sche Option offenbar auch in breiteren Teilen der liche Partner des Landes hätten früher Aufmerksam- aserbaidschanischen Bevölkerung vertreten wird. Bei keit für solche Tendenzen zu militärischer »Konflikt- einer Umfrage votierten 2006 knapp 60% von 971 lösung« entwickeln müssen. Befragten für die militärische Lösung des Karabach- In Georgien stand dies in einem riskanten Kontext problems, das ein ähnlich hoher Prozentsatz für das mit gegenseitigen militärischen Provokationen. Ab- dringlichste Problem des Landes hielt.43 Aserbaid- chasien und Südossetien beklagten gemeinsam mit schans Klage über die fortdauernde Besetzung seiner Russland die Aufrüstung Georgiens durch Israel, Westprovinzen durch armenische Truppen ist zweifel- Tschechien, die Ukraine, Bulgarien und andere Staa- los berechtigt. Dass die aserbaidschanische Seite aber ten und die Unterstützung seiner Streitkräftemoder- eine militärische »Konfliktlösung« in Betracht zog, nisierung durch die USA. Umgekehrt beschwerte sich erwies ihrem Anliegen keinen guten Dienst, denn Georgien über wiederholte Verletzungen seines Luft- damit stützte sie das Argument der Gegenseite, die raums durch russische Militärflugzeuge seit 200146 Sicherheit Berg-Karabachs militärisch gewährleisten und eine von den Waffenstillstandsabkommen nicht zu müssen. Dabei wäre die Räumung der Umgebung gedeckte militärische Unterstützung seiner Gegner Berg-Karabachs durch armenische Truppen die ent- durch Russland. Vor allem seit Frühjahr 2008 beschul- scheidende Station auf einem Weg zum Frieden. Auch digten sich Georgien und Russland gegenseitig, ihr in Georgien spielte man auf unverantwortliche Weise Militär in und um Abchasien und Südossetien zu ver- mit der militärischen Option von »Konfliktlösung« in stärken. So wuchs lange vor dem Krieg die Besorgnis Hinsicht auf abtrünnige Landesteile. vor einem größeren Waffengang – allerdings weniger Gleichzeitig schraubte sich eine Rüstungsspirale in aus der Erwartung, dass eine Streitpartei ernsthaft die Höhe. Aserbaidschan und Georgien verzeichneten 2006–2008 weltweit die höchsten Steigerungsraten für 44 Caucaz Europenews, 1.9.2006, . Militärausgaben. Georgien trieb zwischen 2003 und 45 Dazu Jacob W. Kipp, »The Russia-Georgia Conflict: Ana- 2008 seine Militärausgaben von 0,5 auf mehr als 8% lyzed by the Center of Analysis of Strategies and Technologies seines BIP hoch. Aserbaidschan blähte seinen Militär- in Moscow, Part One«, in: Eurasia Daily Monitor, 7 (22.1.2010) haushalt 2008 auf 2 Milliarden US-Dollar auf, was den 15. Gesamthaushalt Armeniens erheblich übersteigt, und 46 Im März 2001 bombardierten zwei nicht identifizierte Kampfflugzeuge das abchasische Kodori-Tal. Im August 2002 investierte einen Teil seiner durch Ölexporte erhöhten bezichtigte Georgien Russland, das Pankisi-Tal an der Grenze Staatseinnahmen in diesen Sektor. Schon 2006 hatte zu Tschetschenien mit Bomben angegriffen zu haben. Im EU-Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner die März 2007 bombardierten Mi-24-Kampfhubschrauber Gebiete Militärausgaben im Südkaukasus beklagt, wo wichtige in Oberabchasien, die zu der Zeit unter georgischer Kontrolle standen. Im selben Jahr wurde das Dorf Tsitebulani nahe der 42 Joshua Kucera, »US Diplomat Grapples With Issues of administrativen Grenze Georgiens zu Südossetien aus der Closed Borders and Frozen Conflicts in Caucasus«, Eurasianet – Luft attackiert. Erstmals gab Russland eine Verletzung des Civil Society, 19.6.2008. georgischen Luftraums im Juni 2008 zu, als russische Kampf- 43 Vgl. Yunusov, Azerbaijan in the Early of XXI Century [wie flugzeuge Südossetien überflogen – angeblich um georgische Fn. 3], S. 221. Angriffsabsichten abzuschrecken.

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23 Externe Akteure und regionale Umfeldbedingungen

Krieg führen wollte, als mit der Aussicht, unbedachte Südossetien baute es nach dem Krieg seine militäri- Provokationen könnten eine Eskalation auslösen, die sche Position aus und verletzte damit die unter Lei- über die Absichten des Provokateurs hinausging.47 tung Präsident Sarkozys im August und September Auch Zeitdruck wurde als Risikofaktor identifiziert. 2008 ausgehandelten Waffenstillstandsvereinbarun- Die rasche Aufrüstung Aserbaidschans schien sich aus gen. Von einem Rückzug auf die Vorkriegsstellungen energiewirtschaftlicher Sicht anzubieten48 und Geor- konnte keine Rede sein. Russland begründete seine gien wollte seine Sezessionskonflikte vor einem Nato- Bündnisverträge mit Abchasien und Südossetien mit Beitritt lösen. Die Kosovo-Frage brachte 2008 die sezes- den von ihm selbst geschaffenen »neuen Verhältnis- sionsgeschädigten Staaten in Bedrängnis, während sie sen«, mit der »staatlichen Unabhängigkeit« der beiden die Sezessionsgebilde in ihrer Abtrünnigkeit vom ehe- Regionen und ihrer außen-und sicherheitspolitischen maligen »Elternstaat« bestärkte. Eile hatte sich Präsi- Souveränität. dent Saakaschwili schon bei seinem Amtsantritt im In Georgien machte man sich derweil an den Wie- Januar 2004 auferlegt, als er schwor, die Einheit des deraufbau der im Augustkrieg zerstörten Streitkräfte. Landes zügig wiederherzustellen. Dabei traten Zügig- Washington unterstützte dies mit einem Trainings- keit und Friedlichkeit auf diesem Handlungsfeld in programm.51 Gegenüber einer Wiederbewaffnung ein Spannungsverhältnis. Die in Georgien und außer- Georgiens üben die USA unter der Obama-Administra- halb des Landes gesetzten Zeitperspektiven für Kon- tion indes deutliche Zurückhaltung.52 Die mit der fliktlösung klafften immer weiter auseinander.49 Überwachung der Waffenstillstandsabkommen in Der »Fünftagekrieg« bildete eine Zäsur in den be- Georgien beauftragte EUMM schloss mit der georgi- schriebenen Entwicklungen. Das nachsowjetische schen Regierung zwei Memoranda of Mutual Understan- Russland demonstrierte erstmals Militärgewalt außer- ding, die Tiflis Meldepflicht über Truppenbewegungen halb seines Staatsterritoriums, allerdings nicht auf von Militär und Polizei in den Grenzgebieten zu Ab- eine Weise, die seine Armee als moderne Streitkraft chasien und Südossetien auferlegen. Gleichwohl des 21. Jahrhunderts auswies.50 In Abchasien und behauptet Russland, seine beiden Protektorate auch künftig gegen »georgische Aggression« schützen zu müssen, und erweitert seine Militärpräsenz vor allem 47 »… a localised provocation or an accident could cut across in Abchasien. 2010 will es dafür 465 Millionen US- the calculations of all sides.« International Crisis Group (ICG), Georgia and Russia: Clashing over Abkhazia, Tiflis/Moskau/Brüssel, Dollar investieren, was den gesamten georgischen 5.6.2008 (ICG Europe Report Nr. 193), S. 8. Militärhaushalt (435 Millionen US-Dollar) und die US- 48 Danach geht die Aufrüstung in Aserbaidschan mit einem Militärhilfe für Georgien seit 2002 übertrifft.53 »energy honeymoon« einher, der seinen Höhepunkt in naher Knapp ein Jahr nach dem Augustkrieg wurde im Zukunft erreicht haben wird. Eine Kriegsoption könnte sich Sommer 2009 wieder von der Gefahr militärischer dadurch aufdrängen, dass nach dem bevorstehenden »peak« 54 die finanzielle Aufrüstungskapazität wieder absinkt. Dies Auseinandersetzungen gesprochen. Das Gipfeltref- wird allerdings von Experten kaspischer Energiewirtschaft als fen zwischen den Präsidenten Obama und Medwedew unzutreffend kritisiert, da der »peak« sich nur für die aser- in Moskau vom 6. Juli 2009 dämpfte zwar das erneute baidschanische Erdölförderung abzeichnet, nicht jedoch für Kriegsgerede und auch die EUMM berichtete, die die noch ausbaufähige Gasförderung. Situation entlang der administrativen Grenzen Geor- 49 Bruno Coppieters, The EU and Georgia: Time Perspectives in giens zu Abchasien und Südossetien sei wesentlich Conflict Resolution, Paris: Institute for Security Studies, Dezember 2007 (Occasional Papers Nr. 70); Inter- ruhiger als in der Presse dargestellt. Doch im August national Crisis Group (ICG), Georgia’s South Ossetia Conflict. Make 2009 verlagerten sich die militärischen Drohungen Haste Slowly, Tiflis/Brüssel, 7.6.2007 (ICG Europe Report Nr. 183). 51 Giorgi Lomsadze, »Georgia: Pentagon to Start Military 50 Anfangs feierte es sein militärisches Vorgehen gegen Training Program«, Eurasianet – Eurasia Insight, 30.3.2009. Georgien noch als seinen »ersten erfolgreichen Blitzkrieg« 52 US-Waffenverkäufe an Georgien, die 2008 mit 72,3 Millio- und legte Wert darauf, dass es hier eine mit US-Hilfe moder- nen US-Dollar ihren Höhepunkt erreichten, fielen 2009 auf nisierte Armee innerhalb weniger Tage ausschalten konnte. null. Vgl. Ellen Barry, »South Ossetians Warn Against Rearm- Bald jedoch wurden Mängel in der militärischen Durchfüh- ing Georgia«, in: New York Times, 4.2.2010, . und ein erheblicher Reformbedarf der russischen Streitkräfte 53 ICG, Abkhazia: Deepening Dependence [wie Fn. 32], S. 3. festgestellt. Vgl. Margarete Klein, Militärische Implikationen des 54 Michael Schwirtz, »Russia Begins War Games in Georgia«, Georgienkrieges. Zustand und Reformbedarf der russischen Streitkräf- in: New York Times, 29.6.2009; International Crisis Group (ICG), te, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Oktober 2008 Georgia and Russia: Still Insecure and Dangerous, Tiflis/Brüssel, (SWP-Aktuell 74/2008). 22.6.2009 (Europe Briefing Nr. 53).

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24 Die Rolle Russlands

vom Land zur See. 2009 brachte die georgische Küsten- diesen Vorfall als Hinweis darauf, dass Georgien er- wache 20 Schiffe auf, die Güter nach Abchasien trans- neut Krieg vorbereite.58 portierten. Als sie im August einen türkischen Frach- Im Karabachkonflikt trat die militärische Rhetorik ter mit Brennstoff für Abchasien stoppte, drohte die unter dem Eindruck des Georgienkrieges zunächst abchasische Seite, georgische Schiffe zu beschießen, zurück. Im aserbaidschanischen Präsidentschaftswahl- um »Piraterie« in »abchasischen Küstengewässern« zu kampf im Oktober 2008 spielte sie kaum eine Rolle.59 unterbinden. Russland gab daraufhin seinem Inlands- Die Präsidenten Aserbaidschans und Armeniens unter- geheimdienst FSB Anweisung, mit seinen Küstenboo- zeichneten im November 2008 in Moskau eine ge- ten Abchasien beizustehen. Solche Zwischenfälle wie- meinsame Erklärung, in der es hieß, man wolle den sen auf Sicherheitsdefizite im Schwarzen Meer hin Konflikt friedlich regeln. Aserbaidschan kündigte für und erinnerten daran, dass die russische Schwarz- 2009 zunächst an, den Militärhaushalt zu senken, ent- meerflotte im »Fünftagekrieg« georgische Küstenboote schied sich aber später für das Gegenteil. Baku reagier- im Hafen Poti versenkt hatte. Damit hatte ein Anrai- te gereizt auf die Aussicht, dass die 1993 wegen des nerstaat des Schwarzen Meeres, Russland, das Terri- Karabachproblems von der Türkei geschlossene Gren- torium eines anderen Anrainers, der Ukraine, als Aus- ze zu Armenien wieder geöffnet werden könnte, noch gangspunkt für Angriffe auf einen dritten Anrainer, bevor das armenische Militär aus der Umgebung Berg- Georgien, benutzt. Bereitet sich die russische Schwarz- Karabachs abzuziehen begonnen hat. Im November meerflotte also wirklich darauf vor, im Jahr 2017 ver- 2009 drohte Präsident Alijew kurz vor einem Treffen tragsgemäß Sewastopol zu räumen, ihren Hafen auf mit seinem armenischen Amtskollegen in München der Halbinsel Krim? Russische Militärführer haben erneut mit militärischer »Konfliktlösung«, wenn nicht wiederholt durchblicken lassen, sie dächten nicht da- bald ein Durchbruch in der Karabachfrage und beim ran, sich an diese Vereinbarung zu halten. Im Februar Abzug armenischer Truppen erzielt würde.60 2010 kündigte Russland an, die Flotte mit neuen Kriegsschiffen und U-Booten zu verstärken.55 Ange- sichts massiver Präsenz der russischen Schwarzmeer- Die Rolle Russlands flotte an der georgischen Küste im August 2008 rief Anfang 2010 der geplante Verkauf französischer Mis- Russische Politiker kritisierten vor dem Augustkrieg tral-Schiffe an Russland tiefe Irritation in Georgien, 2008 die westliche, vor allem amerikanische Unter- den baltischen Republiken und Washington hervor. In stützung Georgiens und drohten dem Land ernsthafte Russland wurde der Erwerb dieses modernen Hub- Konsequenzen und den endgültigen Verlust seiner schrauberträgers mit den Worten kommentiert, dass abtrünnigen Landesteile an, sollte es der Nato beitre- mit dieser Waffe der kurze Georgienkrieg noch viel ten. Dabei unterstellten russische Kommentatoren schneller hätte entschieden werden können.56 Im eine Komplizenschaft zwischen Washington und Tiflis russisch-georgischen Verhältnis halten gegenseitige hinsichtlich einer georgischen Reconquista-Politik Vorwürfe an, weiterhin Kriegsabsichten zu hegen. In gegenüber den Sezessionsgebilden. Dagegen wurde in Georgien zeigte sich dies, als am 13. März 2010 ein der diplomatischen Gemeinde der georgischen Haupt- fiktiver Fernsehbericht über eine erneute russische stadt darauf hingewiesen, Washington habe einige Invasion in der Bevölkerung der Hauptstadt Tiflis Male, so in der Südossetienkrise von 2004, die georgi- panische Reaktionen auslöste und Telefonverbindun- sche Seite eher zur Zurückhaltung ermahnt. Auf geor- gen lahmlegte. Präsident Saakaschwili distanzierte gische Forderungen nach einer Internationalisierung sich zwar von dem unverantwortlichen Beitrag des der Peacekeeping-Formate für Abchasien und Südosse- privaten, aber regierungsnahen Senders, fügte aber tien reagierte die russische Regierung erbost. Inter- hinzu, die Fiktion sei doch sehr nahe an der Realität.57 nationale Aktivitäten in den Regionalkonflikten des

Der russische Nato-Botschafter Rogosin interpretierte 58 »Russian NATO Envoy Accuses Georgian President of 55 »New Warships, Subs to Join Russia’s Black Sea Fleet«, BBC Planning New War«, BBC Monitoring Global Newsline – Former Monitoring Worldwide – Former Soviet Union Political File, 5.2.2010. Soviet Union Political File, 14.3.2010. 56 Gerhard Gnauck, »Damit hätten wir Georgien in 40 Minu- 59 Aser Babajew, »Weiterungen des Georgienkriegs. Bewe- ten besiegt«, in: Die Welt, 26.2.2010. gung im Konflikt um Bergkarabach«, in: Osteuropa, 58 (2008) 57 Molly Corso, »Fake TV Report about Russian Invasion 11, S. 55–63. Makes Truth Stranger than Fiction«, Eurasianet – Eurasia 60 »Alijew droht Armenien«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Insight, 15.3.2010. 23.11.2009, S. 6.

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25 Externe Akteure und regionale Umfeldbedingungen

GUS-Raums wurden in Teilen der politischen Öffent- bares Motiv für die russische Politik gegenüber den lichkeit Russlands als Angriff auf die russische Stel- Sezessionskonflikten Georgiens bestand darin, Ein- lung in diesem Raum gewertet. fluss auf die Außen- und Sicherheitspolitik dieses »na- Militärmanöver im Juli 2008 vermittelten den Ein- hen Auslands« zu nehmen und dessen Souveränität in druck eines »Stellvertreterkrieges« zwischen Russland diesem Handlungsbereich einzuschränken. Die Nato- und den USA im Kaukasus. In der Südhälfte der Re- Beitrittsperspektive des Landes und die Auseinander- gion beteiligten sich 1000 US-Soldaten an der Übung setzung um einen Membership Action Plan an Geor- »Immediate Response 2008« der georgischen Streit- gien (und die Ukraine) trugen wesentlich dazu bei, kräfte, in der georgische Soldaten für den Einsatz in dass sich die Entwicklung im Frühjahr 2008 zuspitzte. Afghanistan trainiert wurden. Gleichzeitig übten im Regionale Konfliktentwicklungen, Geopolitik und die Nordkaukasus 8000 russische Soldaten in einem Ma- russische Abwehr einer weiteren Nato-Osterweiterung növer Terrorismusbekämpfung und die Unterstützung bildeten hier ein dichtes Geflecht. russischer Friedenstruppen in Abchasien. Nach Ab- Seit 2004 war eine Entkrampfung der russisch- schluss des Manövers wurde ein Teil der Soldaten georgischen Beziehungen praktisch nur noch auf nicht in ihre Kasernen zurückbeordert, sondern in Feldern möglich, die nichts mit den Sezessionskon- Kampfbereitschaft an der Grenze zu Georgien gehal- flikten zu tun hatten. Doch solch neutraler Raum im ten. bilateralen Verhältnis schrumpfte, erklärte Präsident Die Auseinandersetzung mit Russland bildet ein Saakaschwili doch die Reintegration abtrünniger Hauptproblem für jeden externen Akteur in den unge- Landesteile noch innerhalb seiner Amtszeit zu seinem lösten Regionalkonflikten. Dies galt besonders für die politischen Hauptanliegen, während Russland seine Sezessionskonflikte Georgiens, in die Russland weit Unterstützung für die herausgeforderten separatisti- über die Rolle eines neutralen, Äquidistanz gegenüber schen Regierungen verstärkte. den Streitparteien wahrenden Schlichters hinaus Russland stellte seine Georgienpolitik in engen involviert war. Seine »Friedenspolitik« wurde in Geor- Zusammenhang mit der Unabhängigkeitserklärung gien als »not peacekeeping, but keeping in pieces« Kosovos vom Februar 2008 und dessen diplomatischer kommentiert. Diese Formel fand ihren Ausdruck in Anerkennung durch westliche Staaten. Als Reaktion der diplomatischen Anerkennung Abchasiens und darauf forderte der russische Präsident mit seinem Südossetiens durch den Kreml am 26. August 2008. Erlass vom 16. April 2008 den offiziellen Schulter- Externe Konfliktbearbeitung im postsowjetischen schluss russischer Regierungsstellen mit den zuvor Raum steht vor dem Dilemma, dass dort nichts ohne bereits unterstützten Sezessionsregierungen in Abcha- Russland geht, schon gar nichts in Konfrontation mit sien und Südossetien. Schon bevor es die beiden Enti- Russland, aber bislang auch kaum etwas in Koopera- täten diplomatisch anerkannte, rückte Russland also tion mit Russland. Besonders gegenüber Georgien von seinem formalen Bekenntnis zur Souveränität spielte Russland eine hybride Rolle zwischen Mediator und territorialen Integrität Georgiens ab. Im Januar und Streitpartei. Die von Georgien gewünschte Funk- 2006 hatte Präsident Putin Kosovo zum Präzedenzfall tion der EU als Peacekeeper an Russlands Statt war für erklärt. Er forderte allgemeingültige Prinzipien für die Russen eine Provokation. Aus russischer Sicht ist es die Regelung von Sezessionskonflikten und warnte: zwar nicht ausgeschlossen, mit anderen Akteuren zu »Wenn Leute glauben, man könne Kosovo volle Unab- kooperieren, wenn es um die Regelung von Sezessions- hängigkeit gewähren, warum wird diese dann Abcha- konflikten im Raum der ehemaligen Sowjetunion sien und Südossetien verwehrt?«62 Allerdings wandte geht. Die Modalitäten einer solchen Zusammenarbeit der Kreml die »Kosovo-Präzedenzformel« selektiv an, dürfen die Schlüsselrolle Russlands auf diesem Hand- nämlich hauptsächlich gegenüber Georgien und weni- lungsfeld allerdings nicht in Frage stellen. ger gegenüber Aserbaidschan und dessen Karabach- Fordert Russland damit Europa auf, eine Art Mon- problem. Die russische Führung war nun bemüht, die roe-Doktrin für seine Nachbarschaft zu akzeptieren? für die Unabhängigkeit Kosovos vorgebrachten Beweg- Geht es um geopolitische Einflusszonen im Sinne des gründe auf Abchasien und Südossetien zu übertragen. 19. Jahrhunderts oder um Bereiche legitimer außen- politischer Interessen Russlands?61 Ein unüberseh- S. 3–22; European Stability Initiative (ESI), Privileged Interest? The Russian Debate on the South Caucasus, Berlin/Brüssel/Istanbul, 61 Vgl. Dmitri Trenin, »Russia’s Spheres of Interest, not Dezember 2009. Influence«, in: The Washington Quarterly, 32 (Oktober 2009) 4, 62 Zitiert bei Akçakoca u.a., After Georgia [wie Fn. 7], S. 26.

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26 Die Türkei als regional- und friedenspolitischer Akteur

Das betraf erstens das Mehrheitsvotum in der jewei- Die russische Politik gegenüber den hier behandel- ligen lokalen Bevölkerung für die Trennung vom ten Sezessionskonflikten hatte sich allerdings schon »Elternstaat« und zweitens das »Genozid«-Argument. lange vor der Kosovofrage herausgebildet. Als diese Russische, nordkaukasische und südossetische Abge- virulent wurde, stand Russland in seiner »Friedens- ordnete machten Georgien nun für einen »Völker- politik« längst an der Seite der Sezessionsparteien von mord« an Osseten im Jahre 1920 und in den kriegeri- Transnistrien bis Südossetien. Nach dem Krieg gegen schen Auseinandersetzungen 1991/92 verantwortlich. Georgien betonte Russland nun gegenüber den beiden In diese Argumentations- und Propagandalinie fügte anderen sezessionsgeschädigten Staaten Aserbaid- sich die russische Darstellung im Augustkrieg 2008 schan und Moldova, seine diplomatische Anerken- ein, die den georgischen Artillerieangriff auf Zchinwa- nung Abchasiens und Südossetiens sei keineswegs als li als erneuten georgischen »Genozid« am ossetischen Modellfall für andere schwelende Sezessionskonflikte Volk präsentierte und die Zahl der zivilen Todesopfer im GUS-Raum zu verstehen. So verstrickte sich der mit 2000 anfangs maßlos übertrieb.63 Kreml mit seiner Politik gegenüber dem Separatismus Allerdings hatten vor dem Krieg die meisten Exper- in krasse Widersprüche, warf aber seinerseits dem ten fälschlich prognostiziert, der Kreml werde sich Westen vor, auf diesem Feld mit zweierlei Maß zu damit begnügen, die Integration Kosovos in internati- messen. Russland muss außerdem sein eigenes Separa- onale Strukturen zu behindern. Die russische Führung tismusproblem im Auge behalten, das zwar in Tsche- werde zwar auf die Risiken des Präzedenzfalls hinwei- tschenien mit äußerstem Gewalteinsatz niedergeschla- sen und die Unterstützung der Sezessionsregierungen gen, aber im Nordkaukasus noch nicht restlos bewäl- gegen Georgien deutlich verstärken, aber nicht die tigt wurde. beiden De-facto-Staaten unter Berufung auf Kosovo Im Karabachkonflikt nimmt Russland trotz enger diplomatisch anerkennen. Schließlich hatte Putin sicherheitspolitischer Beziehungen zu Armenien eine noch in seiner Amtszeit als Präsident gesagt, man weniger parteiische Haltung ein und kooperiert mit werde den Fehler westlicher Staaten hinsichtlich der den beiden anderen Ko-Vorsitzenden in der Minsker Legalisierung von Sezession nicht wiederholen. Nach Gruppe, den USA und Frankreich. Nach seinem mili- dem Krieg wich Moskau von dieser Linie ab. Am tärischen Vorgehen gegen Georgien war Russland 26. August 2008 erkannte es die beiden Territorien als sichtlich bemüht, eine aktive Friedensdiplomatie zu unabhängige Staaten an. Dies wie auch den Krieg demonstrieren. Doch auch auf diesem Handlungsfeld begründete Präsident Medwedew mit dem Satz: »Wir beansprucht Moskau Vorrang vor anderen Akteuren. haben getan, was andere im Kosovo getan haben.«64 Nur eine traditionelle russische Institution weigerte sich vorläufig noch, diese Teilung Georgiens mitzu- Die Türkei als regional- und tragen. Die Leitung der Russisch-Orthodoxen Kirche friedenspolitischer Akteur beschied die Bitte der orthodoxen Kirchen in Abcha- sien und Südossetien, ihre Trennung von Georgien Die Regionalmacht Türkei bringt sich verstärkt mit anzuerkennen, mit den Worten: »Wir bestätigen die friedenspolitischen Initiativen im kaukasischen Kon- Integrität des kanonischen Territoriums der Georgi- fliktraum ins Spiel. Eine im August 2008 von Ankara schen Orthodoxen Kirche und meinen, dass die politi- vorgeschlagene Plattform für Stabilität und Zusammen- schen Spaltungen und die Veränderung von Staats- arbeit im Kaukasus ist bislang zwar kaum konkretisiert grenzen nicht zur Veränderung der kirchlichen Gren- worden und erinnert an kaukasische Stabilitätspakte, zen führen sollten.«65 die von Politikern und Think Tanks in der Türkei und der EU bereits 1999 und 2000 konzipiert wurden und dann in der Schublade verschwanden. Die Aufmerk-

63 Zu dieser »Genozid«-Anschuldigung siehe International samkeit für Regionalkonflikte im Kaukasus und im Independent Fact-Finding Mission, Report [wie Fn. 12], Bd. 1, Schwarzmeerraum ist seit 2008 jedoch deutlich ge- S. 18, 22; Bd. 2, S. 421–428. stiegen. Die Türkei ist prädestiniert dafür, in diesem 64 Interview mit Präsident Medwedew in der BBC, Präsident Kontext eine bedeutende Rolle zu spielen. Wie kein Russlands – Offizielles Webportal (russisch), 26.8.2008, anderer Staat außerhalb des GUS-Raums ist sie von . regionalen Auseinandersetzungen aus sowjetischer 65 Zitiert bei Pavel Korobov, »Sergej Bagapš prišel za blagos- loveniem« [Sergej Bagapsch kam, um sich segnen zu lassen], Erbschaft betroffen: sei es weil turksprachige Völker in: Kommersant, 19.2.2010. wie Aserbaidschaner zu den Streitparteien gehören,

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27 Externe Akteure und regionale Umfeldbedingungen

sei es weil große und politisch organisierte Diaspora- Türkei hier doch als Mittler zwischen dem EU-Raum gemeinden konfliktbeteiligter Volksgruppen in der und benachbarten Regionen.69 Türkei existieren. Die Türkei ist zum Beispiel ein Besonders dem diplomatischen Dialog mit Arme- Hauptansprechpartner für Abchasien, leben auf ihrem nien gebührt Aufmerksamkeit, weil er in dem – frei- Territorium doch mehr als doppelt so viele Abchasen lich noch längst nicht gesicherten – Erfolgsfall einen wie in ihrem ethnischen Mutterland. Bevor die GUS der tiefsten und ältesten, noch aus der Zeit des Ersten 1996 eine Blockade gegen Abchasien verhängte, hatte Weltkrieges stammenden Gräben zwischen zwei Staa- es vielfältige Handelsbeziehungen zwischen der türki- ten und Gesellschaften im Umfeld Europas überbrü- schen und der abchasischen Schwarzmeerküste gege- cken könnte. Gegenüber kaukasischen Streitparteien ben.66 könnte dies den Nachweis erbringen, dass selbst ze- Mit einem Konzept, das die regionale Dimension mentiert scheinende Feindbilder nicht ewig Bestand türkischer Außenpolitik betont und die Handschrift haben müssen. Im Dezember 2009 unterzeichneten von Außenminister Davutoğlu trägt, bemühte sich die zwei bisher verfeindete Teilrepubliken im Nordkauka- Türkei in den letzten Jahren um gute Nachbarschaft sus, Inguschien und Nordossetien, ein Dokument über und Konfliktlösung in ihrer Umgebung. Ihre Regie- die Entwicklung gutnachbarlicher Beziehungen und rung unternahm einige mutige Schritte innen- und markierten damit eines der wenigen hoffnungsvollen außenpolitischer Öffnung,67 die allerdings auch Rück- Ereignisse in der problembeladenen kaukasischen schläge wie das Verbot der Kurdischen Demokrati- Peripherie Russlands im ausklingenden Jahr. Ein rus- schen Partei erlitt. Das Land wird nicht nur zur Ener- sischer Kaukasusexperte verglich dies mit dem tür- giehandelsdrehscheibe zwischen Europa und dem kisch-armenischen Annäherungsprozess.70 kaukasisch-kaspischen Raum, sondern auch zu einem Am 10. Oktober 2009 paraphierten die Außenminis- Kooperationspartner für Konfliktbearbeitung in der ter Armeniens und der Türkei in Zürich zwei Proto- Region. In ihrem Fortschrittsbericht zur Türkei 2009 kolle über Grenzöffnung und Aufnahme diplomati- lobt die Europäische Kommission Ankaras Engage- scher Beziehungen. Damit sollten erste Schritte zur ment im Rahmen von Black Sea Synergy und im Süd- Normalisierung der zwischenstaatlichen Beziehungen kaukasus sowie die »bedeutsamen diplomatischen eingeleitet werden. Den Dialog hatte die Schweizer Bemühungen um eine Normalisierung der Beziehun- Diplomatie 2007 mit Unterstützung aus den USA in gen zu Armenien«.68 Einerseits werden die regional- Gang gesetzt. Die Georgienkrise brachte 2008 neue politischen Initiativen Ankaras als Gegengewicht zur Impulse in diesen Prozess. Vor der Unterzeichnung türkischen EU-Perspektive gesehen, andererseits als der Protokolle war es noch zu Streitigkeiten über wichtiger Teil dieser Perspektive, empfiehlt sich die heikle Themen gekommen, was diese Zeremonie in Anwesenheit internationaler Politikprominenz fast verhindert hätte. Vor allem US-Außenministerin Hillary Clinton und ihr russischer Amtskollege Sergej 66 Igor Torbakov, »Turkey: Ankara Probing for Stronger Iwanow setzten sich dafür ein, dass die Unterzeich- Ties to Renegade Georgian Region of Abkhazia«, Eurasianet – nung trotz der Differenzen zustande kam. Im Vorfeld Eurasia Insight, 8.10.2009. Zur Rolle der abchasischen Diaspora hatten türkische und armenische Regierungsvertreter in der türkischen Politik siehe besonders Gareth Winrow, PR-Touren durch Gesellschaft und Parteienlandschaft Turkey, Russia and the Caucasus: Common and Diverging Interests, London: Chatham House, November 2009 (Chatham House ihrer Länder absolviert, um Widerstandsfronten auf- Briefing Paper), S. 7; zur türkischen Sicht auf Abchasien und zuweichen. Präsident Sarkisian reiste durch die arme- seine Stellung im Schwarzmeerraum siehe vor allem Burcu nischen Diasporagemeinden in den USA, Frankreich Gültekin Punsmann/Argun Başkan/Kemal Tarba, Abkhazia for und Russland, um das dort stark ausgeprägte Miss- the Integration of the Black Sea, Ankara: The Economic Policy trauen gegen eine Verständigung mit der Türkei zu Research Foundation of Turkey (TEPAV)/Center for Middle Eastern Strategic Studies (ORSAM), Dezember 2009, . 67 Heinz Kramer, Mutige Öffnung in der türkischen Innen- und 69 Katinka Barysch, Can Turkey Combine EU Accession and Außenpolitik, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Sep- Regional Leadership?, London: Centre for European Reform, tember 2009 (SWP-Aktuell 54/2009). Januar 2010 (Policy Brief), . Policy in the South Caucasus«, in: Eurasia Daily Monitor, 70 Sergej Markedonov, »Točka proryva na linii primirenija« 6 (22.10.2009) 194. [Ein Schritt zur Aussöhnung], in: Izvestija, 21.12.2009.

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28 Die Türkei als regional- und friedenspolitischer Akteur

gen in beiden Gesellschaften weiterhin spürbare Vor- In den kaukasischen Konfliktlandschaften erzeugt behalte gegen die Annäherung.71 ein Prozess wie die türkisch-armenische Annäherung Vor allem zwei Probleme mobilisierten Ablehnungs- Skepsis auf verschiedenen Seiten. So schaut man auch fronten: erstens die Koppelung der bilateralen Bezie- in Georgien mit einem gewissen Argwohn auf diese hungen an den Karabachkonflikt durch die besondere Entwicklung, die zur Überwindung der bisherigen Verbindung der Türkei zum »Bruderland« Aserbaid- Isolation Armeniens führen könnte. Die Öffnung der schan und zweitens die ins Mark türkisch-armenischer 360 Kilometer langen Grenze Armeniens zur Türkei Beziehungen treffende Behandlung der Massaker an würde die Transitabhängigkeit des Landes von Geor- der armenischen Volksgruppe im Osmanischen Reich gien deutlich reduzieren, über dessen Territorium bis- 1915. Des zweiten Problems soll sich nun eine Histori- her 70% des armenischen Außenhandels abgewickelt kerkommission annehmen. Noch vor der hochemotio- wurden. Dies hätte für Georgien nicht nur wirtschaft- nalen und hochpolitischen Genozidfrage entfaltete liche Folgen. Georgisch-armenische Beziehungen ent- beim Jahreswechsel 2009/10 der Karabachkonflikt halten potentielle Streitpunkte, die sich mit dieser seine Sprengkraft, denn er macht aus der bilateralen verminderten Abhängigkeit Armeniens entzünden Beziehung ein multilaterales Problem. In Aserbaid- könnten.73 So wird in Tiflis befürchtet, dass sich die schan regte sich vehementer Widerstand dagegen, die Politik Jerewans gegenüber der armenischen Sied- türkisch-armenische Grenze zu öffnen, ohne dass vor- lungsenklave Javacheti in Georgien ändern könnte. In her mit dem Abzug armenischer Truppen aus den diesem georgischen Landesteil leben überwiegend besetzten Provinzen in der Umgebung Berg-Karabachs Armenier, die bisher von ihrem ethnischen Mutter- begonnen wurde. Dieser Abzug war schon 1993 Vor- land nicht zu separatistischen Bestrebungen, sondern aussetzung für die Wiederöffnung der Grenze, die die eher zur Loyalität gegenüber ihrem Wohnland ermun- Türkei damals aus Solidarität mit Aserbaidschan tert wurden, vor allem wegen der genannten armeni- geschlossen hatte. Baku drohte Ankara sogar, die ener- schen Transitabhängigkeit vom Nachbarland. Die giewirtschaftliche Kooperation einzustellen. Die mit beiden größten Minderheiten Georgiens, Aserbaid- »zwei Staaten, eine Nation« (iki devlet, bir millet) um- schaner und Armenier, konzentrieren sich in zwei schriebene Beziehung zu Aserbaidschan rangiert auch Landesteilen, deren Integration in den georgischen für weite Teile der türkischen politischen Öffentlich- Wirtschafts-, Verkehrs- und Informationsraum bislang keit höher als die Bemühungen der türkischen Regie- nicht ausreichend gelungen ist. Um Separatismus in rung um einen Ausgleich mit Armenien.72 Unter dem diesen Enklaven langfristig zu verhindern, muss die Druck Aserbaidschans, mit dem die Türkei intensive georgische Regierung sich um deren Integration Wirtschafts- und Energiebeziehungen unterhält, und bemühen. Hier besteht ein wichtiger Ansatzpunkt für der Öffentlichkeit im eigenen Land machte die Füh- Unterstützung von außen. rung in Ankara den armenischen Truppenabzug aus Aserbaidschan nun zur Bedingung für die Fortsetzung des Aussöhnungsprozesses. Damit liegt die Ratifizie- rung der Zürcher Protokolle durch die Parlamente in Ankara und Jerewan vorläufig auf Eis. In der Folge wurde 2010 die Genozidfrage wieder zum Hauptpro- blem in den Beziehungen zwischen der Türkei und Armenien und denjenigen der Türkei zu Drittstaaten.

71 In einer Umfrage vom Oktober 2009 in Jerewan lehnten 52,4% der Befragten den Inhalt der zur Ratifikation anstehen- den Protokolle ab. In der Türkei sprachen sich 53% gegen den Annäherungsprozess aus. Dort war allerdings die Ableh- nungsfront (zuvor 70%) deutlich geschrumpft. BBC Monitoring Global Newsline – Former Soviet Union Political File, 20.10.2009. 72 Jaroslaw Adamowski, »Dancing with Armenia – The 73 Zaal Anjaparidze, »Is Georgia-Armenia Friction a Source of Turkish View«, openDemocracy, 25.11.2009, . ?lang=en&nic=expert&pid=2152&qmonth=0&qyear=0>.

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29 Herausforderungen für europäische Außen- und Sicherheitspolitik

Herausforderungen für europäische Außen- und Sicherheitspolitik

Der Südkaukasus als Teil einer weiteren Schwarzmeer- sprechend aus.76 Einerseits nimmt man sie in Russ- region liegt an einer Schnittstelle sich überlappender land als vages, unausgereiftes Projekt der EU wahr, ostpolitischer Projekte der EU wie der Europäischen andererseits als geopolitische Kampfansage.77 Als »Ver- Nachbarschaftspolitik, der Black Sea Synergy und der such, die EU-Einflusssphäre auszudehnen« charakteri- Eastern Partnership. Keine dieser Initiativen kann die sierte der russische Außenminister Lawrow ostpoliti- ungelösten Regionalkonflikte ignorieren, aber keine sche Initiativen der EU nach der Georgienkrise und enthält eine klare Perspektive für Konfliktbearbeitung. damit als etwas, das mit Russlands Anspruch auf seine Seit 2003 gelangten Sezessionskonflikte im GUS-Raum »Zone privilegierten Einflusses« kollidiert.78 In der EaP auf die Agenda europäischer Außen- und Sicherheits- geht es um neue Vertragsformen, die über die beste- politik. Stationen auf diesem Weg waren die Europäi- henden Partnerschafts- und Kooperationsabkommen sche Sicherheitsstrategie, mit der Europa Interesse an und die ENP-Aktionspläne hinausgehen, um vertiefte »stabilen Rändern« bekundete, die Ernennung von EU- Freihandelsräume (Deep and Comprehensive Free Sondergesandten für Moldova und für den Südkauka- Trade Areas, DCFTA) und andere Interaktionsfelder sus, die Einbeziehung des westlichen GUS-Raums in zwischen Brüssel und sechs Staaten in der gemeinsa- die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) und ge- men Nachbarschaft mit Russland. Die ungelösten steigerte Aufmerksamkeit für die Schwarzmeerregion Regionalkonflikte in diesem Kooperationsraum wer- nach dem EU-Beitritt Bulgariens und Rumäniens. den zwar thematisiert; Ansätze der EU aber, mit ihnen Durch die Georgienkrise von 2008 wurde eine Initia- umzugehen, werden kaum näher ausgeführt.79 tive gestärkt, die Polen und Schweden kurz zuvor In den zurückliegenden sieben Jahren wurden die unter dem Namen Östliche Partnerschaft vorgestellt Regionalkonflikte in der gemeinsamen Nachbarschaft hatten. Im Dezember 2008 wurde sie von der Kom- mit Russland zunehmend als europäische Konfliktfälle mission in einem Eastern Partnership Proposal mit wahrgenommen. Das war nicht immer so. In der ers- Inhalt gefüllt74 und im Juni 2009 vom Europäischen ten Hälfte der 1990er Jahre war Europas Blick vor Rat beschlossen. Unter dem Eindruck der Georgien- krise mahnte Außenkommissarin Ferrero-Waldner 76 Susan Stewart, Russland und die Östliche Partnerschaft. Harsche eine verstärkte EU-Ostpolitik an: Aus der Krise resul- Kritik, punktuelles Kooperationsinteresse, Berlin: Stiftung Wissen- tiere ein Gefühl der Dringlichkeit, die östlichen Nach- schaft und Politik, April 2009 (SWP-Aktuell 21/2009). Zur barn an die EU heranzuführen, allerdings unterhalb Verbindung von Georgienkrise und EaP vgl. Jean-Philippe der Beitrittsperspektive.75 Um Moskau zu beruhigen, Tardieu, Russia and the »Eastern Partnership« after the War in wies Brüssel darauf hin, dass damit keine neue Trenn- Georgia, Paris: Institut français des relations internationales linie in Osteuropa gezogen und Russland nicht iso- (IFRI), August 2009 (Russie.Nei.Visions Nr. 43). 77 Zur russischen Wahrnehmung der EaP siehe Alexander liert, sondern in einzelne Projekte der Östlichen Part- Sergunin, »EU and Russia: an Eastern Partnership Muddling nerschaft einbezogen werden solle. Doch im Umfeld on?«, openDemocracy, 28.1.2010, . »Zone privilegierten Einflusses« beansprucht, eine 78 Zitiert bei Pertti Joenniemi, The Georgian-Russian Conflict: A Turning Point?, Kopenhagen: Danish Institute for Internatio- Integrationskonkurrenz in der gemeinsamen Nach- nal Studies (DIIS), 2010 (Working Paper 2/2010), S. 21. barschaft herausforderte. Die Reaktionen in Russland 79 In einer umfassenden Studie zum Eastern-Partnership- auf den Ratsentschluss zu dieser Initiative fielen ent- Konzept werden die ungelösten Regionalkonflikte gerade einmal in einem Satz erwähnt, während Energiekooperation, 74 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Mitteilung vertiefte Freihandelsräume und neue Vertragsarrangements an das Europäische Parlament und den Rat. Östliche Partnerschaft, ausführlich behandelt werden. Ketie Peters/Jan Rood/Grze- Brüssel, 3.12.2008, KOM (2008) 823. gorz Gromadzki, The Eastern Partnership. Towards a New Era of 75 Martin Winter, »Geld gegen Freundschaft. Außenkommis- Cooperation between the EU and its Eastern Neighbours? Revised sarin will Osten stärker an die EU heranführen«, in: Süddeut- Overview Paper, Den Haag: Clingendael European Studies sche Zeitung, 16.10.2008, S. 9. Programme, Dezember 2009.

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30 Herausforderungen für europäische Außen- und Sicherheitspolitik

allem auf die Balkankriege gerichtet. Diese drängten zum »Fünftagekrieg« steht es nun paradigmatisch für die gerade erst aus der Kriegsphase herausgetretenen ein Scheitern des Plans, »europäische Konfliktkultur« Sezessionskonflikte im Südkaukasus in den Hinter- auf den Kaukasus zu projizieren. Gerade dasjenige grund, obwohl die Kämpfe Zigtausende Todesopfer Land, das laut eigenem Bekunden den konsequenten gefordert und mehr als ein Zehntel der Gesamtbevöl- Weg nach Europa gehen wollte, praktizierte mit einer kerung der Region zu Flüchtlingen oder Binnenver- Mischung aus Friedens- und Militärinitiativen, neuen triebenen gemacht hatten. Nach den vor allem von Autonomieangeboten und Säbelrasseln gegenüber Russland vermittelten Waffenstillstandsabkommen seinen abtrünnigen Landesteilen eine unausgegorene und mit der Mediationstätigkeit von OSZE und VN Konfliktpolitik. kam die Frage auf, inwieweit sich europäische Institu- Zur Rolle internationaler Organisationen in der tionen in die Konfliktbearbeitung einschalten sollten. Region hieß es in Georgien, die OSZE (tätig vor allem »Europäisierung« auf diesem Handlungsfeld meint im Karabachkonflikt und in Südossetien) und die VN einen Prozess von Konfliktbearbeitung, der von euro- (tätig im Abchasienkonflikt) seien durch ihre interne päischen Institutionen aktiviert und ermutigt wird, Struktur gehemmt, in der Russland Vetomacht be- wobei der friedliche Ausgang des Konflikts mit einem sitze. Viel freier in dieser Hinsicht sei die EU, der es gewissen Grad der Integration aller Konfliktparteien bislang aber an politischer Geschlossenheit und Ent- in europäische Strukturen verbunden wird.80 Dieser schlossenheit zu einer strategischen Kaukasuspolitik Hebel kann allenfalls wirken, wenn man wie in der gefehlt habe. Europäische Politik war von der Abnei- Balkanpolitik der EU dem Partnerland eine Beitritts- gung geprägt, sich im postsowjetischen Raum in geo- perspektive eröffnet, die von dessen Verhalten abhän- politische Rivalität mit anderen Akteuren, vor allem gig gemacht wird. Das ist in der Beziehung zum Süd- mit Russland, zu verwickeln. Auch wenn sich einzelne kaukasus aber nicht der Fall. Außerdem konnte von europäische Staaten für verstärkte Beziehungen zum einer Integration aller Streitparteien in europäische Südkaukasus einsetzten, fehlte doch innerhalb Euro- Strukturen nicht die Rede sein. De-facto-Staaten wie pas ein starker Fürsprecher für die Region, wie etwa Berg-Karabach lagen weitgehend außerhalb einer Frankreich für die Mittelmeerunion. Mit der Erweite- »Europäisierung«. rung um neue Mitgliedstaaten in Mitteleuropa änder- Mit der Nachbarschaftspolitik (ENP), in deren Rah- te sich dies. So kooperierten Polen und die baltischen men 2006 Aktionspläne mit Georgien, Armenien und Staaten eng mit Georgien und forderten, die EU möge Aserbaidschan vereinbart wurden, verdichtete sich der sich in ihrem östlichen Nachbarschaftsraum stärker in europäische Einfluss auf den Südkaukasus. Ein Umfeld der Konfliktbearbeitung engagieren. Zusammen mit von Rechtsstaatlichkeit, Zivilgesellschaft und staats- Schweden, Tschechien, Rumänien und der Ukraine bürgerlichem Bewusstsein sollte geschaffen werden, bildeten sie eine Staatengruppe, die sich »New Friends um die Lösung ethno-politischer und territorialer Kon- of Georgia« nannte. Sie unterstützte die euro-atlanti- flikte zu erleichtern. Die Partner griffen dies auf. So sche Ausrichtung georgischer Außen- und Sicherheits- legte die georgische Regierung Nachdruck auf einen politik und sympathisierte mit deren Hauptmotiv: der »civic nationalism«. Georgien hat aber den Übergang Emanzipation von russischer Machtpolitik. zu einem Gemeinwesen noch nicht geschafft, das Das ökonomische Gewicht des Südkaukasus und seine Bürger ungeachtet ethnischer Zugehörigkeit in seine handelspolitische Bedeutung für Europa waren die Nation integriert.81 Präsident Saakaschwili betrieb im ersten nachsowjetischen Jahrzehnt noch sehr bei seinem Machtantritt eine Symbolpolitik, die in gering, seine Funktion als potentieller Energiekorri- erster Linie einen unitären georgischen Staat im Sinn dor ausgenommen. Nach der Jahrtausendwende aber hatte. So bemühte sich Georgien zu wenig darum, ein wurde die »kaukasische Landbrücke« im europäischen föderales Staatswesen zu werden, das sich für Diskurs über Diversifizierung beim Bezug von Erdöl autonome Komponenten öffnet. Mit der Entwicklung und Erdgas immer wichtiger. Auch in sicherheitspoli- tischer Hinsicht verschob sich die Wahrnehmung. So 80 Vgl. Bruno Coppieters u.a., Europeanization and Conflict Reso- forderte die EU in ihrer Europäischen Sicherheits- lution. Case Studies from the European Periphery, . in gewaltsame Konflikte verstrickt sind, schwache 81 So der Befund bei Johanna Popjanevski/Niklas Nilsson, Staaten, in denen organisierte Kriminalität gedeiht, National Minorities and the State in Georgia, Conference Report, Washington, D.C./Uppsala, August 2006 (Central Asia-Cauca- zerrüttete Gesellschaften oder explosionsartig wach- sus Institute: Silk Road Studies Program).

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sende Bevölkerungen in Grenzregionen Europas«.82 Insgesamt war die EU im Südkaukasus friedens- Mit Ausnahme des letzten Punktes lieferte der Süd- politisch weit weniger engagiert als auf dem Balkan.85 kaukasus aufgrund seiner Sezessionskonflikte An- Im Augustkrieg 2008 aber entwickelte sie unter fran- schauungsmaterial für sämtliche genannten Proble- zösischer Ratspräsidentschaft eine bemerkenswerte me. Betriebsamkeit. Erstmals war es die EU und nicht die Europa sah diese Streitigkeiten als Hauptursachen USA, die zum Herrn des Verfahrens bei der Vermitt- für politische und sozialökonomische Missstände und lung eines Waffenstillstands in einem Krieg in Euro- Entwicklungsbarrieren in seiner Nachbarschaft an pas Nachbarschaft wurde. Die Präsidenten Nicolas und votierte für friedliche Konfliktregelung und intra- Sarkozy und Dmitri Medwedew hatten am 12. August regionale Kooperation. Die EU entwickelte allerdings und 8. September 2008 Waffenstillstandsvereinbarun- keine Strategie für ihre direkte Beteiligung an der gen ausgehandelt. Danach wurde eine internationale Konfliktbearbeitung. Wohl unterstützte sie als Haupt- Mission benötigt, um ihre Umsetzung und einen Stabi- geber Rehabilitationsmaßnahmen in kriegsgeschädig- lisierungsprozess im Nachkriegsgeorgien zu beobach- ten Konfliktzonen und förderte zivilgesellschaftliche ten. Die EU-Mitgliedstaaten erklärten sich bereit, zu Kontakte zwischen den Streitparteien. Harten sicher- einer solchen Mission beizutragen. Die Geschlossen- heitspolitischen Themen aber wie einem europäischen heit in dieser Frage war umso erstaunlicher, als das Peacekeeping als Alternative zur russischen Dominanz Verhältnis gegenüber Georgien und Russland zuvor in diesem Bereich wich sie aus, wohl wissend, dass sie Differenzen aufgeworfen hatte – zwischen EU-Mit- damit Russland provoziert hätte. »Working around con- gliedstaaten, die sich an die Seite Georgiens und flict«, eben nicht »working on conflict« – so charakteri- seiner euro-atlantischen Ambitionen stellten, und sierte die International Crisis Group in einer Studie solchen, die eher Äquidistanz zu den beiden Kon- von 2006 die EU-Politik auf diesem Handlungsfeld.83 trahenten wahrten. Innerhalb kürzester Zeit wurde Im ENP-Aktionsplan mit dem besonders sezessions- im ESVP-Rahmen eine zivile unbewaffnete Beobach- geschädigten Georgien genossen andere Themen Vor- termission aufgestellt, die seit Anfang Oktober 2008 rang vor aktiver Konfliktbearbeitung. Dem Plan war mit einem Stab von 320 Mitarbeitern unter Leitung zu entnehmen, dass »Restgeorgien« sich zunächst re- des deutschen Diplomaten Hansjörg Haber den Waf- formieren und seine Attraktivität gegenüber den eige- fenstillstand in Georgien sichern soll.86 Nach der nen Bürgern steigern müsse, bevor es in der Lage sein militärischen Auseinandersetzung um Südossetien werde, seine abtrünnigen Landesteile auf friedliche werden nun in Genf international vermittelte Ge- Weise wieder an sich zu binden. Dies widersprach spräche zwischen allen Konfliktparteien über Geor- Hoffnungen, die in Georgien an die Integration in giens ungelöste Regionalkonflikte geführt und die euro-atlantische Strukturen geknüpft worden waren. beiden Streitfälle, Abchasien und Südossetien, gleich- Laut georgischen Meinungsumfragen erwarteten fast zeitig und im selben Format behandelt. Die Rolle der die Hälfte der Befragten davon vor allem Unterstüt- EU beim Konfliktmanagement wurde damit erweitert, zung bei der Wiederherstellung territorialer Integri- ihre Präsenz vor Ort durch die EUMM deutlich erhöht. tät.84 Die Regierung weckte in der Bevölkerung unrea- Die Union fungiert nun nicht mehr als bloßer Beob- listische Vorstellungen über eine baldige Reintegra- achter und Unterstützer anderer Mediatoren, wie der tion der abtrünnigen Landesteile. OSZE im Falle Südossetiens, sondern hat als Ko-Vor- sitzende der Genfer Verhandlungen und als allein ver- bliebener Akteur mit Beobachterauftrag mehr Verant- 82 Ein sicheres Europa in einer besseren Welt. Europäische Sicher- wortung übernommen. heitsstrategie, Brüssel, 12.12.2003, S. 7, . 83 International Crisis Group (ICG), Conflict Resolution in the South Caucasus: The EU’s Role, Tiflis/Brüssel, 20.3.2006 (ICG 85 Dazu Asmus, A Little War that Shook the World [wie Fn. 15], Europe Report Nr. 173). S. 12. 84 In einer Meinungsumfrage vom Februar 2007 lauteten die 86 Uwe Halbach, »Die Europäische Beobachtungsmission in Antworten auf die Frage »Was erwarten Sie von der Nato-Mit- Georgien: Friedenssicherung auf umstrittener Grundlage«, gliedschaft?«: Sicherheitsgarantien 57%, Wiederherstellung in: Muriel Asseburg/Ronja Kempin (Hg.), Die EU als strategischer der territorialen Integrität 42%, Verbesserung der sozialöko- Akteur in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik? Eine systematische nomischen Situation 22%, Stärkung von Demokratie 16%. Bestandsaufnahme von ESVP-Missionen und -Operationen, Berlin: International Republican Institute (IRI) u.a., Georgian National Stiftung Wissenschaft und Politik, Dezember 2009 (SWP- Voter Study, Februar 2007, S. 81. Studie 32/2009), S. 124–137.

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32 Hindernisse für »harte« und »weiche« Konfliktbearbeitung

Der Einsatz der OSZE in Südossetien und der von kaukasus eine derart besorgniserregende Zunahme UNOMIG in Abchasien wurden im Sommer 2009 von Terror und Gewalt verzeichnen, dass Präsident wegen des russischen Vetos gegen die Mandatsverlän- Medwedew ihn zum größten innerrussischen gerungen eingestellt. Daher lastet die Aufgabe der Problemfall erklärte. So bleibt die gesamte kaukasi- Friedenssicherung in Georgien nun allein auf der sche Region eine sicherheitspolitische Herausforde- EUMM. Doch ihre Tätigkeit steht unter ungünstigen rung in neuer Nachbarschaft Europas. Vorzeichen. Es besteht ein völkerrechtlicher Gegensatz Zur »weicheren« Politik auf diesem Handlungsfeld zwischen Russland, das Abchasien und Südossetien als gehören Fragen der Konflikttransformation. Hier war eigenständige Staatsgebilde und damit die Teilung die EU vor dem Einschnitt vom August 2008 seit län- Georgiens anerkennt, und dem Rest der Welt (außer gerem zumindest in der Bearbeitung der georgischen Nicaragua, Venezuela und dem polynesischen Insel- Regionalkonflikte aktiv, nicht aber in der Karabach- staat Nauru), der weiterhin davon ausgeht, dass diese frage. Sie engagierte sich in der Vertrauensbildung, Territorien zum international anerkannten Staats- unterstützte Wirtschaftskontakte zwischen den Streit- gebiet Georgiens gehören. Die EU bezieht ihr Beobach- parteien (zum Beispiel den gemeinsamen, durch Zwi- tungsmandat auf das Gesamtterritorium Georgiens, schenfälle nicht unterbrochenen georgisch-abchasi- doch der ungehinderte Zugang zu Abchasien und Süd- schen Betrieb des Kraftwerks am Inguri-Fluss) und ossetien wird ihr von Russland und seinen Protégés beteiligte sich am Wiederaufbau in Südossetien. Diese in Suchumi und Zchinwali nicht gewährt. Mit dieser Projekte kamen durch den Krieg weitgehend zum Einschränkung trägt die Beobachtungsmission dazu Erliegen. bei, faktische, von Europa aber nicht anerkannte Gren- zen zu sichern. Die Zugangssperre etwa zu Südosse- tien beschneidet ihre Fähigkeit, bewaffnete Zwischen- Psychologische Fallen und Barrieren für fälle zu überprüfen und ihr Beobachtungsmandat zu Konflikttransformation erfüllen. Konflikttransformation, die geduldige und langfristige Arbeit zur Veränderung von Wahrnehmungen und Hindernisse für »harte« und »weiche« Verhaltensweisen der Konfliktparteien, wird von psy- Konfliktbearbeitung chologischen Mechanismen behindert, die den Raum für Kompromisse radikal einschränken. Will europäi- Zur »härteren« Politik gehören Fragen von Peacekeep- sche Politik sich für die Überwindung solcher Barrie- ing und Stabilitätssicherung, die in Georgien nach ren engagieren, muss sie sich mit diesen Mechanis- dem Augustkrieg 2008 vor allem die EUMM betreffen. men näher beschäftigen: der Opferfalle, der Gewöhnungs- Sie muss mit den Beschränkungen zurechtkommen, falle, der Geschichtsfalle und der Isolationsfalle. Haben die ihr von Russland in Verletzung der Waffenstill- Konflikte Phasen gegenseitiger Gewalt durchlaufen, standsvereinbarungen auferlegt werden. Immerhin kursieren oft bei allen Streitparteien Horrorgeschich- reduziert die Anwesenheit der EUMM in »Kerngeor- ten, die Hass und Angst schüren und den jeweiligen gien« – mit Büros an vier Orten und einem Haupt- Gegner dämonisieren. Sie führen in ein Sicherheits- quartier in Tiflis – die Gefahr erneuter militärischer dilemma, denn wenn interethnische Gewalt einmal Abenteuer auf georgischer Seite. Der Zugang zu den ausgebrochen ist, rechtfertigen sich solche Reden von beiden umstrittenen Territorien wird zumindest spo- selbst, schnappt die Opferfalle zu. Wenn Menschen der radisch gewährt, nämlich durch einen »Incident Pre- eigenen Gruppe für ein bestimmtes Ziel getötet wur- vention and Response Mechanism« (IPRM): In gemein- den und man dieses Ziel nicht aufgeben kann, ohne samen Treffen von Sicherheitsorganen der Konflikt- sich einzugestehen, dass die Opfer umsonst waren, parteien und der EUMM werden Zwischenfälle geprüft wird man sich von diesem Konflikt kaum mehr lösen und erörtert. Aber auch dieser Mechanismus wurde können. Annäherungen der Kontrahenten in der Kara- bereits in Frage gestellt. Russland präsentiert sich als bachfrage etwa hielt Berg-Karabachs Verteidigungs- Garant für Sicherheit und Unabhängigkeit einer ehe- minister Movses Hakobian im Mai 2009 entgegen, maligen Kriegszone wie Südossetien, hat aber seine armenische Truppen aus den umliegenden aserbaid- eigene kaukasische Peripherie mit Teilrepubliken wie schanischen Provinzen dürften keinesfalls abgezogen Dagestan, Tschetschenien und Inguschien nicht werden, und bemühte dafür das Opferargument: annähernd im Griff. Im Jahr 2009 musste der Nord- »Alle diese Territorien haben wir unter großen Opfern

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befreit.«87 Hier wird die völkerrechtswidrige Besetzung Seiten verbuchen das umstrittene Territorium zumeist von Territorien eines Nachbarstaats als Befreiung prä- als ihre jeweilige »Wiege nationaler Kultur«, so etwa sentiert.88 In einem Geschichtslehrbuch für die Repu- im Fall Berg-Karabach. Die Fähigkeit, sich in den blik Südossetien aus dem Jahr 2000 wird die Opfer- Gegner zu versetzen, geht im Gezerre historischer dimension im kleinsten südkaukasischen Konfliktfall Argumente verloren. Abhanden kommt hier auch zur Hauptlegitimation für Eigenstaatlichkeit erhoben: das Bewusstsein für einen Grundzug kaukasischer »Der Krieg [d.h. die Kämpfe in Südossetien 1991/92) Geschichte: dass der größere Teil historischer Erfah- hat Tausende unserer Bürger getötet … Und doch hat- rung in der Region polyethnischer Natur war. Ge- ten diese Jahre besondere Bedeutung für uns, weil wir schichte wird zudem zum physischen Angriffsobjekt. nicht nur den Aggressor [d.h. georgische Truppen] zu- Ein Beispiel dafür lieferten georgische Kampfverbände rückgeschlagen, sondern unseren eigenen Staat auf- im Abchasienkrieg 1992/93, als sie abchasische Archi- gebaut haben.«89 Abchasiens De-facto-Präsident Sergej ve und Kulturdenkmäler zerstörten.91 Wie Erinne- Bagapsch beruft sich ebenfalls auf die erbrachten rungskultur und Geschichtspolitik zu Kampfinstru- Opfer, um den Anspruch auf die internationale An- menten gemacht werden, ist in den hier behandelten erkennung der endgültigen Trennung seines Landes Konfliktfällen erst ansatzweise erforscht.92 Die Aus- von Georgien zu begründen.90 In den georgischen einandersetzung mit den genannten Mechanismen Sezessionskonflikten gab es zu Beginn der »Rosen- aber ist Voraussetzung für eine Politik, mit der aus- revolution« noch gewisse Ansätze zur gegenseitigen wärtige Akteure dazu beitragen könnten, die Starre Aufarbeitung von Gewalt, die aber in der nachfolgen- in einem Fall wie Berg-Karabach zu überwinden. Dort den Entwicklung wieder verschüttet wurden. hat bislang keine der beiden involvierten Regierungen Die Gewöhnungsfalle schnappt zu, wenn gewaltför- ihre Gesellschaft auf Kompromisse vorbereitet. Das mige Konflikte so lange dauern, dass sich Kriegsalltag, wirkt sich nun auf die türkisch-armenische Annähe- Kriegswirtschaft und Warlord-Strukturen etablieren. rung aus, in der die Karabachfrage sich als Barriere Die kriegerischen Phasen im Südkaukasus waren da- auftürmt. für zu kurz. Gewöhnung bezieht sich hier auf etwas Schließlich geraten die in den Konflikt verstrickten anderes, nämlich die sich verfestigende Abtrünnigkeit Gesellschaften in die Isolationsfalle. Dies zeigt sich vor der Sezessionsgebilde von ihren ehemaligen »Eltern- allem darin, dass Informationen über Entwicklungen staaten« und damit die Historisierung ihrer »Eigen- jenseits der Fronten blockiert oder dem jeweiligen staatlichkeit«. In die Geschichtsfalle tappen die Kontra- Feindbild entsprechend verzerrt präsentiert werden. henten mit der aus ihrer Sicht unantastbaren Über- Das gilt sowohl für den Abchasien- als auch für den zeugung, historisch gesehen im Recht zu sein. Natio- Karabachkonflikt. Im ersten Fall halfen zivilgesell- nale Geschichte und insbesondere Siedlungsgeschich- schaftliche Kontakte vor dem Augustkrieg 2008, diese te wird dann wie ein Grundbuch vorgelegt, aus dem Blockade zu durchlöchern. Im zweiten Fall dient territoriale Besitzansprüche abgeleitet werden. Beide neuerdings eine Art »Twitter diplomacy« diesem Zweck. In Aserbaidschan setzt sie sich allerdings staat- 87 Zitiert bei Liz Fuller, »Is the Karabakh Peace Process in licher Verfolgung aus und wird auch auf armenischer Jeopardy?«, Eurasianet – Eurasia Insight, 16.5.2009. Seite nicht gerade gefördert.93 88 In einer gemeinsamen Erklärung von Nichtregierungs- organisationen in Berg-Karabach vom Juli 2009 heißt es dazu: »Wir sind bereit, über Frieden in der Region zu verhandeln 91 Dabei wurden über 90% des Dokumentenbestands und uns für dieses Ziel einzusetzen, aber nicht für den Preis vernichtet. Vgl. Thomas de Waal, »A Remnant of History«, eigener Sicherheit und Freiheit, für die Tausende mit ihrem Transitions Online, 27.10.2009. Leben bezahlt haben, und zwar nicht nur Soldaten, sondern 92 Dittmar Schorkowitz, Postkommunismus und verordneter friedliche Zivilisten … Ihr Angedenken ist unsere Würde.« Nationalismus. Gedächtnis, Gewalt und Geschichtspolitik im nörd- Statement of Non-governmental Organizations of NKR, lichen Schwarzmeergebiet, Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang Verlag, Adopted at Extraordinary Forum of NKR NGOs, 16.7.2009. 2008; Farid Shafiev, »Ethnic Myths and Perceptions as a 89 Kosta G. Dzugaev (Hg.), Južnaja Osetija. 10 let Respublike Hurdle to Conflict Settlement. The Armenian-Azerbaijani [Südossetien. Zehn Jahre Republik], Wladikawkas 2000, S. 4. Case«, in: The Caucasus & Globalization, 1 (2007) 2, S. 57–70; 90 »Während der letzten 20 Jahre mussten wir uns dreimal Natia Gogoladze, »Historikerstreit als ideologischer Wegberei- gegen Georgien verteidigen und niemand kann uns daran ter des Abchasienkonflikts«, Berlin, 20.8.2006, . zu erhalten«, rechtfertigt Bagapsch die Anlehnung Abcha- 93 Onnik Krikorian, »Twitter Diplomacy. Can New Media siens an Russland. Zitiert in Neue Zürcher Zeitung, 9.12.2009, Help Break the Armenia-Azerbaijan Information Blockade?«, S. 9. Transitions Online, 2.2.2010.

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Ausblick

Nach dem Einschnitt vom August 2008 prägt eine programme nicht nur georgische, sondern auch ab- Mischung aus Stagnation und neuer Dynamik die chasische Studenten einbezogen werden. Georgien kaukasische Konfliktlandschaft und ihr regionales müsste die Erkenntnis nahegebracht werden, dass Umfeld. Nach dem Waffengang mit Russland, der seine Blockadepolitik gegenüber seinen abtrünnigen Flucht und Vertreibung des georgischen Bevölke- Landesteilen diese in den Wirtschafts- und Sicher- rungsteils aus Südossetien, der diplomatischen heitsraum Russlands gedrängt hat. Durch eine See- Anerkennung Abchasiens und Südossetiens durch blockade, die sich vor allem gegen türkisch-abchasi- Moskau und der Umwandlung der beiden Territorien sche Verbindungen richtet, würde diese Politik mit in Protektorate und Militärbasen Russlands hat sich dem Risiko militärischer Zwischenfälle im Schwarzen für Georgien die von Präsident Saakaschwili 2004 Meer fortgesetzt. Georgien sollte ein Interesse daran gelobte rasche »Rückholung der abtrünnigen Landes- entwickeln, dass Abchasien nicht allein Russland über- teile« erledigt. Die Trennung dieser Gebiete von ihrem lassen bleibt. Und dies geschieht offenbar. Die georgi- ehemaligen »Elternstaat« ist verfestigt wie nie zuvor. sche Führung legte im Januar 2010 ein Strategiepapier Georgiens westliche Partner und die internationale für den Umgang mit Abchasien und Südossetien unter Gemeinschaft bekennen sich gleichwohl weiterhin dem Titel »Engagement through Cooperation« vor, in zur territorialen Integrität des Landes. Für lange Zeit dem als Hauptanliegen die Überwindung solcher Iso- wird der Status der beiden Territorien zwischen zwei lation genannt wird.96 Der Raum für Kooperation wird Formeln schweben, die gleichermaßen realitätsfern jedoch dadurch eingeschränkt, dass die lokalen Macht- sind: der Behauptung, sie seien integrale Bestandteile organe in den beiden Regionen übergangen werden, Georgiens, und der Darstellung Moskaus, sie seien obwohl das Papier auf die Verbesserung von Infra- unabhängige Staaten und nicht etwa Objekte der struktur und Wiederaufbauprojekte verweist, die Annexion durch Russland. In fiskalischer, militäri- ohne die lokalen Behörden kaum umzusetzen sind. scher und administrativer Hinsicht erscheinen beide Der Appell, zwischenmenschliche Kontakte zu pflegen Regionen als De-facto-Föderationssubjekte Russlands, und die Demarkationslinien zu überwinden, richtet aus georgischer Perspektive als von Russland »besetzte sich nur vage an die »Staatsbürger Georgiens in den Gebiete«. besetzten Gebieten«. Zumindest wird hier die gewalt- Neben dem Auftrag an die EUMM, die Nachkriegs- same Rückholung der Gebiete ausgeschlossen. situation durch Beobachtung, Berichterstattung und Das Verhältnis zwischen Georgien und Russland Vertrauensbildung zu stabilisieren, geht es für die EU bleibt vorläufig zutiefst gestört. Beide Seiten werfen in Georgien um die Frage, inwieweit Abchasien und sich weiterhin Angriffsabsichten vor. Die russische Südossetien für europäische Politik noch erreichbar Regierung bekundet zwar Bedauern über den Abbruch sind.94 Zumindest in Abchasien werden Verbindungen diplomatischer Beziehungen mit Georgien, verweigert zur Außenwelt über Russland hinaus nachgefragt, aber den Dialog mit dessen Präsidenten Saakaschwili, wenn auch unter dem derzeit unerfüllbaren Vorbehalt der in offiziellen Aussagen und in den Medien Russ- diplomatischer Anerkennung. Die EU muss Wege fin- lands als Krimineller behandelt wird. den, sich dort im Rahmen ihrer Nachbarschaftspolitik Georgien macht die Wiederaufnahme der Beziehun- und ihrer Initiative Östliche Partnerschaft zu enga- gen davon abhängig, dass Russland seine diplomati- gieren, ohne die Statusfrage zu berühren.95 So sollten sche Anerkennung Abchasiens und Südossetiens zu- zum Beispiel in europäische akademische Austausch- rückzieht. Immerhin kam Ende des Jahres 2009 etwas Bewegung in dieses Verhältnis. Ein 2006 geschlossener 94 Vgl. Walter Kaufmann, »A European Path for Abkhazia. Grenzposten wurde wieder geöffnet, der Flugverkehr Yesterday’s Pipe Dreams?«, in: Caucasus Analytical Digest, 7 (25.6.2009), S. 2–6. 95 Thomas de Waal, »Abkhazia and South Ossetia«, in: Adam 96 Government of Georgia, »State Strategy on Occupied Hug (Hg.), Spotlight on Georgia, London: Foreign Policy Center, Territories. Engagement Through Cooperation«, 3.2.2010, 2009, S. 111–121. .

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zwischen Tiflis und Moskau in ersten Ansätzen wieder im »nahen Ausland« aufhorchen. In der »Zone privi- aufgenommen. Einer Normalisierung stehen aber legierten Einflusses« gerät hier etwa die zur Ukraine vorläufig noch Gesten der Feindseligkeit entgegen. gehörende, aber weitgehend russischsprachige Halb- Dazu gehörten in Georgien die Sprengung eines sowje- insel Krim in den Blick. Dasselbe gilt für Moldova mit tischen Kriegerdenkmals in der zweitgrößten georgi- seinem ungelösten Transnistrienkonflikt. Die dort schen Stadt Kutaisi oder der fiktive Fernsehbericht 2009 an die Macht gekommene Regierungskoalition über eine erneute russische Militärintervention, Allianz für europäische Integration forderte den Abzug hinter dem Kritiker Regierungspropaganda und die russischer Truppen aus Transnistrien, während »Hand des Präsidenten« vermuteten. In dem Bericht die separatistische Regierung Moskau um Truppen- werden Oppositionskräfte als Kollaborateure und verstärkung bat. Russland vertritt die Position, dass Landesverräter dargestellt. Auf der Gegenseite stehen Transnistrien ein Sonderstatus im Bestand Moldovas diffuse Hinweise russischer Quellen auf angebliche eingeräumt werden kann, wenn dieses seinerseits georgische Rachegelüste, die darauf ausgerichtet außen- und sicherheitspolitische Neutralität wahrt seien, den Nordkaukasus zu destabilisieren. Laut und nicht den georgischen Weg der Westintegration russischen Verschwörungstheorien arbeitet hierfür anstrebt. Kernregion postsowjetischer Regionalkon- der georgische Geheimdienst mit al-Qaida zusammen. flikte bleibt aber der Südkaukasus, der zusammen Wenn dieses prekäre zwischenstaatliche Verhältnis mit der Türkei immer wichtiger wird, wenn es um normalisiert werden soll, ist die EU stärker gefordert Projekte wie den von der EU geförderten Südlichen als andere internationale Akteure wie Nato oder USA, Transitkorridor und um neue Pipelinerouten wie die dafür aus russischer Sicht nicht in Frage kommen. Nabucco und South Stream geht. Europäische Politik Neue Dynamik war nach dem Augustkrieg von 2008 gegenüber dieser Region lässt sich kaum noch an den vor allem in der intensivierten Friedensdiplomatie im ehemals als »eingefroren« missverstandenen Konflik- Karabachkonflikt und in den türkisch-armenischen ten vorbei betreiben. Beziehungen zu verzeichnen. Europa bekundet ebenso wie die USA und auch Russland Interesse an einem Durchbruch in beiden Prozessen, muss aber zur Abkürzungen Kenntnis nehmen, dass diese sich mittlerweile eher gegenseitig blockieren. Weder ein Erfolg in den Kara- BIP Bruttoinlandsprodukt bach-Verhandlungen noch eine Ratifizierung der BSEC Black Sea Economic Cooperation DCFTA Deep and Comprehensive Free Trade Areas Zürcher Protokolle vom Oktober 2009 durch die EaP Eastern Partnership (Östliche Partnerschaft) Parlamente der Türkei und Armeniens stehen beim ENP Europäische Nachbarschaftspolitik Abschluss dieser Studie unmittelbar in Aussicht. ESVP Europäische Sicherheits- und Der Krieg in Georgien hatte zur Folge, dass der zur Verteidigungspolitik GUS gehörende Teil des Schwarzmeerraums als Zone EU Europäische Union ungelöster Regionalkonflikte in die sicherheitspoliti- EUMM Georgia EU Monitoring Mission in Georgien GUAM Georgien, Ukraine, Aserbaidschan, Moldova sche Wahrnehmung Europas rückte. Nicht nur der GUS Gemeinschaft Unabhängiger Staaten Kaukasus, auch andere Gebiete gemeinsamer Nachbar- IPRM Incident Prevention and Response Mechanism schaft zwischen der EU und Russland erschienen nun IRI International Republican Institute im Blickfeld der Europäer. Wie würde Russland künf- Nato North Atlantic Treaty Organization tig mit Staaten im GUS-Raum umgehen, die in forma- OIC Organization of Islamic Countries NGO Non-Governmental Organization lisierte Nachbarschaftsbeziehungen zur EU getreten NKR Nagorno-Karabakh (Berg-Karabach) sind? Ein Jahr nach dem Krieg legte Präsident Med- OSZE Organisation für Sicherheit und wedew der Staatsduma eine Ergänzung zum Föderalen Zusammenarbeit in Europa Gesetz über Verteidigung vor, die russische Streitkräfte RSFSR Russische Sozialistische Föderative zum militärischen Eingreifen im Ausland berechtigt, Sowjetrepublik wenn dort russische Staatsbürger zu schützen und UNOMIG United Nations Observer Mission in Georgia VN Vereinte Nationen russische Sicherheitsinteressen zu verteidigen sind. Vor dem Hintergrund der Einmischung in die georgi- schen Sezessionskonflikte und der Politik der »pass- portisatsija« in Abchasien und Südossetien ließ dieser Hinweis auf schutzbefohlene russische Staatsbürger

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