Protokoll-Nr. 18/70

18. Wahlperiode Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

Wortprotokoll der 70. Sitzung

Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Berlin, den 22. Juni 2016, 09:30 Uhr Marie-Elisabeth-Lüders-Haus - Anhörungssaal - (3.101)

Vorsitz: , MdB (CDU/CSU)

Öffentliches Fachgespräch zum Thema

„Förderung von Forschungsinfrastrukturen“

Berichterstatter/in: Abg. Sybille Benning [CDU/CSU] Abg. René Röspel [SPD] Selbstbefassung 18(18)SB-81 Abg. [DIE LINKE.] Abg. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] Vorlagen zum Fachgespräch:

Bundesministerium für Bildung und Forschung "Der Nationale Roadmap-Prozess für Forschungs- infrastrukturen - Investitionen für die Forschung von morgen", 2016 Ausschussdrucksache 18(18)217

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Bundesministerium für Bildung und Forschung "Leitfaden zur Konzepterstellung für die Nationale Roadmap für Forschungsinfrastrukturen des Bun- desministeriums für Bildung und Forschung", 2015 Ausschussdrucksache 18(18)218

Bundesministerium für Bildung und Forschung "Roadmap für Forschungsinfrastrukturen - Pilot- projekt des BMBF", 2013 Ausschussdrucksache 18(18)219

European Strategy Forum on Research Infrastruc- tures (ESFRI) "Strategy Report on Research Infrastructures", Roadmap 2016 Ausschussdrucksache 18(18)220

Bericht der Kommission an das Europäische Parla- ment und den Rat über die Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 723/2009 des Rates vom 25. Juni 2009 über den ge- meinschaftlichen Rechtsrahmen für ein Konsortium für eine europäische Forschungsinfrastruktur (ERIC) - COM(2014 460 final - Ausschussdrucksache 18(18)221

Organisation for Economic Co-operation and Devel- opment (OECD) "The Impacts of Large Research Infrastructures on Economic Innovation and on Society: Case Studies at CERN, 2014 Ausschussdrucksache 18(18)222

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Stellungnahmen der Sachverständigen

Ausschussdrucksachen

18(18)231 a Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), Generalsekretärin Dorothee Dzwonnek, Bonn

18(18)231 b Prof. Dr. Manfred Prenzel, Vorsitzender des Wissenschaftsrates (WR), Köln

18(18)231 c Prof. Dr. Wilfried Juling, Mitglieder der Ständigen Kommission für die Zukunft der Digitalen Information in Lehre und Forschung der Hochschulrektorenkonferenz (HRK), Karlsruher Institut für Technologie (KIT)

18(18)231 d Prof. Dr. Rolf-Dieter Heuer, Präsident der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG), Bad Honnef

18(18)231 e Prof. Dr. Dr. h.c. Karin Lochte, Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts (AWI), Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung, Bremerhaven

Unangeforderte Stellungnahmen

Ausschussdrucksachen

18(18)232 a Leibniz-Gemeinschaft, Berlin

18(18)232 b Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina / acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften / Union der Deutschen Akademien der Wissenschaften

18(18)232 c Deutsche Hochschulmedizin e. V., Berlin

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Sachverständige Seite

Prof. Dr. Dr. h.c. Helmut Dosch 8, 24, 34 Vorsitzender des DESY-Direktoriums, Deutsches Elektronen-Synchrotron DESY, Forschungszentrum der Helmholtz-Gemeinschaft, Hamburg

Dorothee Dzwonnek 9, 17, 25, 35 Generalsekretärin der Deutschen Forschungs- gemeinschaft (DFG), Bonn

Prof. Dr. Rolf-Dieter Heuer 11, 19, 26, 36 Präsident der Deutschen Physikalischen Gesellschaft e. V. (DPG), Bad Honnef

Prof. Dr. Wilfried Juling 12, 19, 27, 37 Mitglied der Ständigen Kommission für die Zukunft der Digitalen Information in Lehre und Forschung der Hochschulrektorenkonfe- renz (HRK),Karlsruher Institut für Technologie

Prof. Dr. Dr. h.c. Karin Lochte 13, 29, 38 Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts (AWI), Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung, Bremerhaven

Prof. Dr. Manfred Prenzel 14, 21, 30, 39 Vorsitzender des Wissenschaftsrates (WR), Köln

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Ausschussmitglieder Seite

CDU/CSU

Abg. 21

Abg. Sybille Benning 15, 33

Abg. Alexandra Dinges-Dierig 31

Abg. Dr. Stefan Kaufmann 32, 36

Abg. Dr. 23

Abg. Sven Volmering 24

SPD

Abg. Dr. 32

Abg. Dr. Simone Raatz 22

Abg. René Röspel 16, 23

Abg. Dr. 33

Abg. Elfi Scho-Antwerpes 31

DIE LINKE.

Abg. Ralph Lenkert 16, 22, 31

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Abg. Kai Gehring 17, 23, 32

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Jetzt kommen wieder meine Standardsätze: Der Beginn der Sitzung: 9.30 Uhr Eine oder Andere von Ihnen kennt sie, die Aus- schussmitglieder kennen sie alle, nichtsdestotrotz sind sie immer wieder notwendig. Vorsitzende Gemäß einer interfraktionellen Vereinbarung wer- Herzlich willkommen zu unserem öffentlichen den die Sachverständigen die Gelegenheit haben, Fachgespräch „Förderung von Forschungsinfra- zu Beginn ein drei-, vier-, maximal fünfminütiges strukturen“. Eingangsstatement abzugeben. Ich bitte Sie, dieses Ich begrüße die Ausschussmitglieder, die eventu- nicht zu überziehen. Der Aufruf erfolgt, wie ge- ell anwesenden Mitglieder der eingeladenen Aus- sagt, in alphabetischer Reihenfolge. schüsse, die Gäste und gegebenenfalls die Presse- Die Fragerunden werden wie folgt gestaltet: Ein vertreter. Mitglied jeder Fraktion stellt pro Fragerunde ma- Ich begrüße ganz besonders unsere Sachverständi- ximal zwei Fragen, entweder zwei Fragen an ei- gen. Ich tue das in alphabetischer Reihenfolge; das nen Sachverständigen oder nur eine Frage an zwei wird auch das Grundprinzip des heutigen Vormit- Sachverständige. Das Fragerecht für eventuell an- tags bleiben. wesende Abgeordnete, die nicht Mitglieder dieses Ausschusses sind, richtet sich nach dem Kontin- Zunächst Professor Dr. Dr. h.c. Helmut Dosch, gent der jeweiligen Fraktion. Das Ende des Fach- Vorsitzender des Deutschen Elektronen-Synchrot- gesprächs ist für spätestens 12 Uhr vorgesehen. ron DESY, Forschungszentrum der Helmholtz-Ge- Wir haben im Anschluss noch eine Ausschusssit- meinschaft, Hamburg. zung. Es wird ein Wortprotokoll erstellt. Das Ich begrüße Dorothee Dzwonnek, Generalsekretä- Fachgespräch wird im Parlamentsfernsehen über- rin der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), tragen und ist danach im Internet über die Media- Bonn. thek des Bundestages abrufbar. Gegebenenfalls können Einzelteile in der Presse zitiert oder als Professor Dr. Rolf-Dieter Heuer, Präsident der Originalton verwendet werden. Auch wenn Sie Deutschen Physikalischen Gesellschaft e. V. hier sichtbar keine Kamerateams sehen, sind über- (DPG), Bad Honnef. all Kameras vorhanden, die in dem Moment lau- fen, in dem wir anfangen zu sprechen. Professor Dr. Wilfried Juling, Mitglied der ständi- gen Kommission für die Zukunft der Digitalen In- Es gibt zu diesem Fachgespräch verschiedene Vor- formation in Lehre und Forschung der Hochschul- lagen. Sie sind entweder hier im Raum oder liegen rektorenkonferenz (HRK), Karlsruher Institut für vor dem Raum aus. Damit bin ich am Ende meiner Technologie. einleitenden Worte und darf mit der Eröffnungs- runde beginnen. Professor Dr. Dr. h.c. Karin Lochte, Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts (AWI), Helmholtz-Zent- Professor Dosch, Sie haben das Wort. rum für Polar- und Meeresforschung, Bremer- haven sowie Prof. Dr. Dr. h.c. Helmut Dosch (DESY - Deutsches Elektronen-Synchrotron): Professor Dr. Manfred Prenzel, Vorsitzender des Wirtschaftsrates (WR), Köln. Vielen Dank für die Einführung, Frau Lips. Seien Sie alle herzlich Willkommen. Ich finde es, wahrscheinlich zusammen mit allen Sachverständigen, die hier sitzen, toll, dass Sie Danke auch für Ihre Stellungnahmen im Vorfeld. sich mit diesem Thema „Forschungsinfrastruktu- Das hat den Ausschussmitgliedern die Vorberei- ren“ in dieser Runde beschäftigen. Ich glaube, alle tung auf heute Vormittag sehr erleichtert. Sachverständigen hier am Tisch würden mir zu- stimmen, dass das für Deutschland und für das Wissenschaftssystem ein sehr wichtiges Thema ist.

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Ich bin selbst vom DESY, ich bin auch Vizepräsi- Design bis hin zum Bau. Beim Bau ist es ja offen- dent der Helmholtz-Gemeinschaft. sichtlich, dass man mit den High-Tech-Firmen aus Deutschland und aus der ganzen Welt koope- Wir bei DESY betreiben seit Beginn an For- rieren muss, weil das normalerweise Technolo- schungsinfrastrukturen für die Forschung, im We- gien sind, die die Grenzen des technisch Machba- sentlichen Teilchenbeschleuniger, die seit Anbe- ren permanent verschieben; aber auch in Betrieb ginn grundsätzlich Supermikroskope für Welten sind das natürlich Technologietreiber. waren, die es zu erforschen galt und die mit nor- malen Methoden nicht zu erforschen sind. DESY Und um gleich mal ein kritisches Wort einzuwer- hat sich gewandelt von seinem ursprünglichen fen, meine derzeitige Beobachtung ist, dass man Schwerpunkt der Teilchenphysik, mit dem es be- beim Bau eines Großgerätes diesen Faktor sieht, gonnen hat, bis hin zu mittlerweile völlig anderen dass das tatsächlich ein Innovationsthema ist, Großgeräten, die Nanowissenschaften und biologi- aber dass man den Betrieb ein bisschen mehr als sche Forschung ermöglichen. Insofern ist da rela- Folgekosten dieser Bauaktivität ansieht. Aber der tiv viel passiert auf der Basis von völlig neuen Betrieb ist quasi die wissenschaftliche Ernte und Forschungsinfrastrukturen, die zum Unterschied die wissenschaftliche Innovation, die aus so ei- von früher eine sehr interdisziplinäre Forschung nem Großgerät entspringt, und deshalb ist der Ter- ermöglichen, an denen viele Organisationen aus minus „Kosten“ natürlich richtig, aber leicht irre- dem Wissenschaftssystem partizipieren. führend, weil es sich bei dem Betrieb dieser Infra- struktur genau um die Investitionen handelt, die Für mich sind Forschungsinfrastrukturen ein man macht, um die wissenschaftliche und techno- wichtiges Rückgrat für die Forschung in jedem logische Ernte einer Infrastruktur auszubeuten. modernen High-Tech-Land, weil sie Kompetenzen bündeln und disziplinübergreifende Forschung Ich will es mal bei diesem Eingangsstatement be- ermöglichen, die im Labormaßstab nicht möglich lassen und gebe dann weiter an Frau Dzwonnek. wäre. Die Forschungsinfrastrukturen, die wir be- treiben, sind Großgeräte, die Dinge ermöglichen, die im Labormaßstab nicht erreichbar sind; bei- Vorsitzende Patricia Lips: spielsweise das Eindringen in die Nanowelt, das Eindringen in das Universum, bis hin zum Ur- Vielen Dank. Frau Dzwonnek. knall, aber auch die Erforschung vom Planetenin- neren, dem Erdinneren, aber auch die Erforschung der Arktis, wo man mit dem Labormaßstab natür- Dorothee Dzwonnek (DFG): lich naturgemäß hinkommt. Frau Professor Lochte Frau Vorsitzende, meine Damen und Herren Ab- wird dazu bestimmt auch einiges erwähnen. geordneten, lassen Sie mich mit einem Schluss- satz anfangen: Jenseits von der Notwendigkeit, dass wir solche Die DFG hält die Forschungsinfrastrukturen und Forschungsinfrastrukturen für die wichtigen For- die damit verbundenen Fragen für die Schlüssel- schungs- und Innovationsthemen in Deutschland fragen, die man stellen muss, um über eine neue brauchen, sind Forschungsinfrastrukturen aus Architektur des Wissenschaftssystems nachzuden- meiner Sicht noch vieles mehr, was sie hoch at- ken. Es geht hier um Fragen des Zugangs zu Me- traktiv für Deutschland und jedes High-Tech-Land thoden, die in der heutigen Zeit in fast allen For- macht. Sie sind Plattformen für den wissenschaft- schungsfeldern wirklich den Standard und auch lichen Nachwuchs, die auf diese Art und Weise die Qualität der wissenschaftlichen Arbeit bestim- Zugang zu Topinstrumenten bekommen, und sie men. Und es geht hier um einen Raum, der – Sie sind Attraktionen für die wissenschaftliche Exzel- haben die Kosten schon angesprochen – der die lenz aus dem In- und Ausland. Und das ist ein Finanzkraft der meisten Hochschulen deutlich Punkt, auf den ich, wenn ich das Wort später übersteigt, um einen Raum, der von einem Stand- nochmal habe, kurz eingehen möchte: For- ort nur selten allein organisiert werden kann und schungsinfrastrukturen sind auch Technologie- für den wir uns daher professionelle Verbund- treiber in allen Phasen eines Lebenszyklus, vom

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strukturen und vielleicht auch neue Finanzie- in allen Bereichen, sowohl in den Universitäten rungswege vorstellen müssen. als auch in den Instituten der außeruniversitären Forschung, wichtig sind. Wir müssen den Zugang Sie wissen, dass die DFG auch jetzt schon auf ver- zu allen diesen Geräten über einen transparenten schiedenen Wegen auf drei großen Handlungsfel- Auswahlprozess regeln, der wissenschaftsgeleitet dern als Förderer mit Forschungsgroßgeräten zu sein muss, und wir brauchen, um das sicherzu- tun hat. Förderer zu sein, heißt auch immer: „Wir stellen, ein wirklich stabiles Management sowie haben einen guten Blick durch die Begutachtung nachhaltige Finanzierungsstrukturen. Manchmal auf die wissenschaftliche Landschaft.“ Und ich sind schon der Auswahlprozess und der Zugang kann sagen, dass sich das Forschungsgroßgerä- etwas streitig. Es gibt, Sie werden es kaum glau- teprogramm, was 2006 mit 170 Mio. € jährlich ben, auch in der Helmholtz-Gemeinschaft, Herr neu ausgestaltet wurde, wovon 50 Prozent co-fi- Dosch, nicht bei Ihnen, aber an anderen Stellen, nanziert sind, auch wirklich sehr gut entwickelt durchaus Geräteplattformen, die eben nicht für hat. Bei dem Verfahren, an dem wir beteiligt sind, die Universitäten zugänglich sind. sprechen wir Empfehlungen für die landesfinan- zierten Großgeräte aus, respektive für die For- Und das bringt mich zu einem weiteren Punkt: schungsbauten nach Artikel 91b GG, wo es um Wir brauchen neben dem vom BMBF erfolgreich Summen zwischen 200 und 250 Mio. € jährlich und auch disziplinoffen angestrengten Roadmap- geht. Bei diesem Verfahren beschäftigen wir uns Prozess über 50 Mio. € sicherlich auch einen aktuell auch mit dem Design und fragen uns, ob Roadmap-Prozess für das Finanzierungsvolumen der Ablauf, ich will das mal als „Ablauf“ bezeich- darunter. Es ist völlig klar, dass es da eine Finan- nen, auch wirklich gut aufeinander abgestimmt zierungslücke gibt. Auf die möchte ich aufmerk- ist. Jedenfalls hat die Vergangenheit gezeigt, dass sam machen, und an der müssen wir arbeiten. man dort manchmal zu unterschiedlichen Ent- Diese Finanzierungslücke ist für viele Gebiete in scheidungen kommt, was die Großgeräte- und was den Lebenswissenschaften wichtig. Es geht um die Forschungsbauten-Definition angeht. Ich die Omex-Plattform, es geht um die Elektronen- glaube, hier haben wir schon eine Lücke entdeckt, mikroskopie, es geht aber auch um verschiedene die man in den Blick nehmen muss, und dafür Bereiche der Bibliotheken, der Sammlungen und gibt es auch schon eine entsprechende Arbeits- so weiter, die also ein Finanzierungsvolumen in gruppe. der Anschaffung vielleicht von 10 bis 20 Mio. € haben, und dann geht es natürlich auch um die Die DFG übernimmt aber auch die Infrastruktur- immer noch streitige Frage der Betriebskosten, beiträge zu Schwerpunktprogrammen, die interna- denn bislang ist es so, dass die Betriebskosten der tionalen Charakter haben. Frau Professor Lochte Grundausstattung zugeschlagen werden und sie wird den Punkt vielleicht noch ein bisschen mehr gleichwohl bei diesen teuren Geräten ein Maß ansprechen, weil auch Schiffe in diesem Bereich übersteigen, bei dem man wirklich sagen muss, eine große Bedeutung haben, aber es gibt neben das schaffen zumindest die Hochschulen nicht den zwei Forschungsschiffen, die wir auch bei mehr. Und deswegen kann man sie dann kaum in uns als Hilfseinrichtung der Forschung betreuen den Mittelpunkt eines solchen Großgerätes stel- und finanzieren, auch große Bohrprogramme, die len. einem internationalen Konsortium unterliegen, und bei denen insbesondere die Frage wichtig ist, Die DFG unterstützt deswegen, Herr Prenzel, auch wie die Nutzungsregelungen organisiert sind, also sehr nachhaltig die Empfehlung des Wissen- wie die Governance-Strukturen für den Zugang schaftsrates. Und Sie haben den Begriff der Be- und die Teilhabe an solchen Bohrprogrammen triebskosten und die Finanzierung daher auch zu aussehen. einem großen Punkt gemacht. Ich glaube, was jetzt noch dazu kommt, ist der Blick auf alles, was mit Ich möchte sagen, dass für die Architektur der Be- Digitalisierung zusammenhängt. Da sind wir ja griff der „Mindeststandards“ wichtig ist. Wir brau- noch dabei, diesen Wissenschaftssektor in Bezug chen eine gemeinsame Vorstellung davon, welche auf das, was er mit den Wissenschaften macht, Forschungsinfrastrukturen nach einem anerkann- also den wissenschaftlichen Arbeitsweisen, An- ten wissenschaftlichen und technischen Angebot sprüchen, Zielen und Kulturen auf der einen Seite für Deutschland und für die deutsche Forschung

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zu definieren, aber dann auch zu schauen, wie wir Lassen Sie mich das an einem relativ einfachen, mit den Datenmengen so umgehen können und aber ich glaube, sehr schönen Beispiel erläutern: wie wir sie nutzen und zugänglich machen, dass Röntgen hat die Strahlung aus reiner wissen- sie auch wirklich hilfreich sind in den wissen- schaftlicher Neugier in der Grundlagenforschung schaftlichen Prozessen und dass es gelingt, den gefunden. Nicht durch gezielte anwendungsorien- Zugang für alle dort auf Basis von Begutachtungen tierte Forschung. Die folgte später, und es hat sich im Vorfeld zu organisieren. ein riesiges Forschungsgebiet entwickelt. Heute Also der Schwellenwert ist ein Punkt, den man in haben wir Forschungsinfrastrukturen wie den Eu- den Blick nehmen muss. Ein Roadmap-Prozess, ropäischen Freie-Elektronen-Laser, der nächstes der sich mit Plattformen befasst, die man an Insti- Jahr eingeweiht wird. Es hat sich ein riesiges Ge- tuten, aber vor allen Dingen auch in Universitäten biet entwickelt, und viel wurde dadurch an die installieren sollte, ist ein weiterer Punkt. Und ich Gesellschaft weitergegeben. Und nur durch den denke, wir sollten in der Tat auf das Personal Erhalt dieses Kreislaufes und die Förderung des schauen, denn für den Betrieb solcher Geräte gesamten Forschungsspektrums von der Grundla- brauchen wir dauerbeschäftigtes Personal mit ei- gen- über die angewandte Forschung ist Fort- ner wirklich guten Qualifizierung. Und das ist schritt möglich. eben auch nicht so einfach. Leider Gottes ist es Zweitens: Wissenschaft an einer Forschungsinfra- auch durch das neue Gesetz, zu dem wir Ihnen im struktur. Ein klares wissenschaftliches Konzept Prinzip gratulieren, auch nicht einfacher gewor- mit stetiger Weiterentwicklung ist wichtig. Man den; damit sind die akzessorischen Mitarbeiter an- darf nicht stehen bleiben, sondern muss schauen, gesprochen. was sich in der Welt tut. Die Anpassung der Ziele Soviel zu der Sicht der DFG, was die einzelnen entsprechend dem aktuellen Kenntnisstand welt- Baustellen betrifft, die wir sehen, von denen wir weit, ist, glaube ich, ganz wesentlich. Eine For- einige mit bearbeiten können, und bei anderen schungsinfrastruktur kann sehr schnell „out of gerne helfen würden, wenn das Design gemein- date“ sein, wenn man nicht aufpasst, und wenn sam vielleicht nochmal neu aufgestellt wird. Vie- man sich nicht anpasst. len Dank. Es wurde schon mehrfach erwähnt – freier Zugang für alle, die die entsprechenden Qualitätskriterien erfüllen. „Alle“ heißt auch die Beteiligung von Vorsitzende Patricia Lips: Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen aus Herr Professor Heuer. Schwellen- und Entwicklungsländern. Das halte ich für absolut essentiell. Warum? Erstens müssen wir die Schere zwischen entwickelten und Ent- Prof. Dr. Rolf-Dieter Heuer wicklungsländern schließen; das ist ganz wichtig. (Deutsche Physikalische Gesellschaft e. V.): Wir müssen sie „ranführen“. Zweitens müssen wir auch neue Köpfe gewinnen. Pro Jahr werden Vielen Dank, Frau Vorsitzende, meine Damen und mehr Physiker in nächster Zeit den Arbeitsmarkt Herren. altersbedingt verlassen, als wir Absolventen in den Masterstudiengängen nachfüttern können. Ich werde in diesem Kurzbeitrag versuchen, ei- Wir haben hier einen großen Bedarf. nige Aspekte meiner schriftlichen Stellungnahme zu vertiefen beziehungsweise auch zu verstärken. Drittens: Management einer Forschungsinfrastruk- tur. Die Besetzung darf nur nach Kompetenz und Erstens, das wesentliche Element für die Entwick- nicht nach irgendeinem Proporz vergeben werden. lung beziehungsweise Weiterentwicklung der Ge- Unterschiedliche Kompetenzen sind natürlich je sellschaft ist dieser sogenannte „Forschungsinno- nach Phase der Forschungsinfrastruktur erforder- vationskreislauf“, was ich in der Stellungnahme lich; von der Idee, der Planung bis hin zur Nut- den „nutzbringenden Kreislauf“ genannt habe. In zung. Wir haben das Problem, dass gute Manager diesem Kreislauf spielen Grundlagenforschung, nicht unbedingt gute Wissenschaftler sind und angewandte Forschung, Innovation und auch die Forschungsinfrastrukturen eine wichtige Rolle.

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vice versa. Deshalb ist eine bessere Professionali- wurde. Dennoch wollte ich auf ein paar Kernaus- sierung, eine bessere Verzahnung von Manage- sagen der schriftlichen Stellungnahme seitens der ment und Wissenschaft in allen Phasen der For- HRK eingehen: schungsinfrastruktur nötig. Ich glaube, hier müs- Die Hochschulen betreiben eine Fülle von Infra- sen wir auch noch etwas machen. strukturen zum Forschungsspektrum. Dabei ist Letzte Woche hat in der Deutschen Physikali- das Spektrum sehr weit und auch die Skala sehr schen Gesellschaft der Vorstand getagt, und wir groß. Das heißt, von kleinen bis hoch zu ganz gro- haben beschlossen, ein Pilotprojekt aufzusetzen, ßen Infrastrukturen, vielleicht nicht gerade zu um den Nachwuchs an dieser Stelle in beide Rich- Großanlagen. Frau Dzwonnek hat zu Recht darauf tungen zu verzahnen, um etwas zu bewegen, denn hingewiesen, dass es den Hochschulen natürlich da muss etwas passieren. nicht gelingt, richtig gehende großskalige Anlagen zu betreiben. Das liegt daran, dass angesichts der Viertens: Externe, internationale Begutachtungs- steigenden Kosten für Forschungsinfrastrukturen, gremien in allen Phasen und für alle Aspekte ei- was die Betriebs- und auch was die Investitions- ner Forschungsinfrastruktur. Und diese Gremien kosten angeht, die Hochschulen nicht mit den müssen kritisch hinterfragen. Kritisch heißt aber notwendigen Grundausstattungsmitteln versehen nicht „Macro-Managing“. sind. Sie müssen bedenken, dass bei Großanlagen Fünftens, die Finanzierung, wurde auch schon an- zum Beispiel jährlich 5 bis 10 Prozent der An- gesprochen. Forschungsinfrastrukturen haben in schaffungskosten wieder als Betriebskosten anfal- der Regel lange Laufzeiten. Und das braucht eine len. Dazu kommt beispielsweise, dass in meinem verlässliche, eine nachhaltige Finanzierung. Ins- Rechnersystem alle fünf Jahre eine Erneuerung besondere sollte am Anfang ein Konzept der Be- stattfinden muss. Das heißt auch, der Erneue- triebskostenfinanzierung und ein Konzept, wie rungszyklus spielt eine wesentliche Rolle. Das ich Upgrades finanziere, vorgelegt werden. Gerade macht es den Hochschulen insgesamt schwer, sol- die Upgrades, das sind Projekte, die zum Beispiel che großen Anlagen zu betreiben. Dennoch gibt es mit einem konstanten Budget nicht durchgeführt da Ausnahmen. werden können. Da muss man sich andere Instru- Grundsätzlich unterstützt die HRK den Weg, ver- mente überlegen. Auch die wissenschaftlichen mehrt wissenschaftliche Infrastrukturen in ge- Nutzer einer Forschungsinfrastruktur brauchen meinsamer Trägerschaft mit außeruniversitären langfristige Finanzierungsperspektiven. In Forschungseinrichtungen zu betreiben. Das Deutschland ist hier, nach meiner Meinung, die scheint auch, angesichts weiterer Notwendigkei- Rolle der Verbundforschung essentiell. Ohne ten, ein guter Weg zu sein. Wir haben es gehört – diese Verbundforschung haben sie keine Nutzer, die Hochschulen sind gefordert bei der Ausbil- keine exzellenten Nutzer an den Forschungsinfra- dung der jungen Leute, wo ich vielleicht noch strukturen; ohne exzellente Nutzer haben sie kurz etwas zu sagen werde. keine exzellente Forschungsinfrastruktur. Danke. Wenn ich mir den Nationalen Roadmap-Prozess ansehe, und das vor dem Hintergrund dieser Fest- Vorsitzende Patricia Lips: stellungen kurz spiegele, dann muss ich feststel- len, dass dort die Betriebskosten, insbesondere Vielen Dank. Personalkosten aus den Förderbedingungen ausge- Herr Professor Juling. schlossen sind. Das macht es den Hochschulen beispielsweise sehr schwer, sich an diesem Natio- nalen Roadmap-Prozess, wo es ja um große, sehr große Anlagen geht, zu beteiligen. Dann kommen Prof. Dr. Wilfried Juling (HRK): solche Verbundkonstruktionen zustande. Die Ver- Vielen Dank, Frau Vorsitzende. bundkonstruktionen sind heute deswegen auf der Tagesordnung, weil die Digitalisierung sehr weit Meine Damen und Herren, der Vorteil, jetzt als fortgeschritten ist. Uns gelingt es natürlich, durch Vierter zu sprechen, ist, dass man sich bei einigen bestimmte Verbundstrukturen den Zugriff auf For- Dingen kurz halten kann, weil schon vieles gesagt

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schungsinfrastrukturen ortsunabhängig zu ma- der Nutzer und ihrer Projekte orientieren. In dem chen. Diese Gelegenheit nutzen vorwiegend die Zusammenhang begrüßen wir sehr die Charter for Hochschulen. Da sind bestimmte Forschungsge- Access to Research Infrastructures der EU, wo das biete sehr weit fortgeschritten. Ich sage mal, die schon ein Stück weit sehr gut auf den Weg ge- klassischen Anlagen im Bereich der Physik schei- bracht worden ist. Vielen Dank. den dort vielleicht aus; das ist mehr eine Angele- genheit der Großforschungszentren in der Helm- holtz-Gemeinschaft. Vorsitzende Patricia Lips:

Jetzt komme ich aber zu dem Punkt mit dem Per- Wir danken Ihnen. sonal, an dem die Hochschulen besonders gefor- dert sind. Der Betrieb von Forschungsinfrastruktu- Frau Professor Lochte. ren bedarf fachlich wie infrastrukturtechnisch hervorragend ausgebildeter Wissenschaftler und Mitarbeiter. Die wissenschaftlichen Fachkräfte, Prof. Dr. Dr. h.c. Karin Lochte (Alfred-Wegener- die diese Infrastrukturen betreiben, müssen aber Institut): Karrierewege vorfinden, die der Verantwortung Sehr geehrte Vorsitzende, meine Damen und Her- ihrer Tätigkeit und dem geforderten hohen Leis- ren, ich möchte ein paar Punkte noch verstärken. tungsniveau angemessen sind. Dort hat sich die HRK schon einmal positioniert, was den Pakt für Das eine Thema ist, dass man mit Großgeräten na- den wissenschaftlichen Nachwuchs betrifft. Dort türlich ein Agenda-Setting-Prozess macht, das sollten vielleicht auch, neben der Ausrichtung auf heißt, man hat gewisse Themen, auf die man sich Professuren, Möglichkeiten oder Karrierewege für lange Zeit festgelegt hat. Das gilt inhaltlich, aber solche unabdingbar notwendigen Wissenschaftler es gilt auch personell und finanziell. Und das erwogen werden, die wir für den Betrieb der Groß- heißt, man muss sich im Vorfeld darüber klar forschungsinfrastrukturen benötigen. sein, dass dieses Thema sehr lange trägt und dass dieses Thema auch entsprechende gesellschaftli- Die zur Verfügung stehenden Förderinstrumente, che Relevanz für diese Zeiträume hat. wie Anträge über Artikel 91b GG, spezielle Aus- schreibungen der Bundesländer, aber auch die Na- Wie Herr Professor Heuer schon angesprochen tionale Roadmap für Forschungsinfrastrukturen o- hat, muss man natürlich auch in der Lage sein, der auch die ESFRI Roadmap haben in entschei- neue Ausrichtungen zu evaluieren und neue Aus- dendem Maße dazu beigetragen, die hervorragen- richtungen aufgreifen zu können. Das muss am den Forschungsinfrastrukturen in Deutschland Anfang der Planung mit bedacht werden. Die aufzubauen, um State of the Art-Forschung auf lange Bindung von Personal- und Finanzmitteln höchstem Niveau hervorbringen zu können. ist eines der ganz großen Probleme. Es wird nicht ausreichend überlegt, wie man die Betriebskosten Die Abstimmung eines Nationalen Roadmap-Pro- langfristig abdecken kann. Die Wissenschaftler zesses für große Forschungsinfrastrukturen mit kommen mit einem hervorragenden Konzept, das dem europäischen ESFRI-Prozess ist aus Sicht der hervorragend bewertet wird, und am Ende steht HRK sehr zu begrüßen. Möglichkeiten einer grenz- die Frage: Ja, und wer bezahlt das? Ich glaube, da nahen Zusammenarbeit zum Aufbau von Infra- muss sehr viel mehr Arbeit reingesteckt werden, strukturen mit seinen europäischen Nachbarn damit man von vornherein weiß: Wie wird es be- sollten eventuell zusätzlich genutzt werden. So trieben? Wie macht man eine Erneuerung? Ge- kann man Mitgliedsstaaten, die noch nicht im Be- nauso wie die Frage der wissenschaftlichen Nut- reich der Forschungsinfrastrukturen soweit entwi- zung der Daten, die man dadurch erzeugt. Es darf ckelt sind, wie das für uns der Fall ist, vielleicht nicht sein, dass man ein Großgerät mit den letzten noch näher an diese Themen heranführen. Mitteln, die man noch hat, betreibt und dass Last but not least, das wurde auch erwähnt, die dadurch die wissenschaftliche Nutzung hinten Schwelle des Zugangs zu Forschungsinfrastruktu- runterfällt. Ob es nun über Verbundprojekte geht ren sollte weiterhin so niedrig wie möglich liegen oder über Mittel, die im Haushalt noch zur Verfü- und sich rein an wissenschaftlichen Qualitäten gung stehen, sollte auch sichergestellt werden.

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Ich denke, wir sind uns alle einig, dass wir alle Prof. Dr. Manfred Prenzel (Wissenschaftsrat): wichtigen Partner einbinden müssen, und zwar Sehr geehrte Frau Vorsitzende, sehr geehrte Da- innerhalb und außerhalb Deutschlands. Diese men und Herren Abgeordnete, vielen Dank für die Großgeräte müssen international sein. Und wir Einladung und die Möglichkeit, hier die Position sind uns auch alle einig, dass die Hochschulen des Wissenschaftsrates nochmal kurz zu erläutern. eine wichtige Rolle spielen müssen. Es kann nicht sein, dass wir durch Zugang zu privilegierten Ich möchte in meinem mündlichen Statement nur Großgeräten ein Auseinanderdriften in der deut- noch einige Punkte hervorheben, die ich in der schen Forschungslandschaft erzeugen. Das ist schriftlichen Stellungnahme dargelegt habe, die noch nicht gelöst. Ich glaube, es sind Ansätze da, speziell mit dem Prozess der Nationalen Road- aber da müssen wir wirklich was machen. map-Erstellung für Forschungsinfrastrukturen zu tun haben. Ein Punkt, der auch schon angesprochen wurde, ist, dass wir hier wirklich hervorragende Leute Ich würde gerne zuerst nochmal die Bedeutung brauchen, um diese Geräte zu betreiben. Diese des Roadmap-Verfahrens für die Priorisierung um- Personen brauchen auch einen Anreiz. Im Augen- fangreicher Forschungsinfrastrukturvorhaben un- blick werden wir Wissenschaftler nur danach be- terstreichen; es hat eine hohe Bedeutung für die wertet, was für Publikationen wir machen und Wissenschaftspolitik und für das Wissenschafts- wie viel Drittmittel wir einwerben, aber nicht da- system. Es geht vor allem darum, aus der Perspek- für, dass wir eine Serviceeinrichtung zum Beispiel tive unterschiedlicher Akteure Bedarfe festzustel- betreiben oder Daten generieren, die für eine len, die Bedeutungen sichtbar zu machen, Fehlin- große wissenschaftliche Gemeinschaft wichtig vestitionen zu minimieren und den Ressourcen- sind. Das heißt, wir sollten tatsächlich Indikatoren einsatz zu optimieren. Zugleich ist die Erarbei- für die Bewertung dieser Arbeit entwickeln, damit tung einer Nationalen Roadmap auch von heraus- es auch einen Anreiz für gute Leute gibt, sich zu ragender Bedeutung für umfangreiche For- beteiligen. schungsinfrastrukturen auf internationaler Ebene, im europäischen wie auch im globalen Kontext; Und last but not least, nicht alle Großgeräte müs- das ist bereits mehrfach angesprochen worden. sen in Deutschland betrieben werden. Wir müssen Deshalb finde ich es nur folgerichtig, dass wir sehen, dass wir uns zumindest innerhalb Europas heute ein zweites Roadmap-Verfahren auf der Ba- einigen, wo ein Großgerät am besten platziert ist, sis der Erfahrungen aus dem ersten Roadmap-Pro- und der internationale Zugang muss gewährleistet zess gestartet haben. Und erfreulich ist auch, dass sein. Ich denke auch, dass die Abstimmung zwi- es einige Weiterentwicklungen gab. Dazu gehört schen ESFRI und der Nationalen Roadmap noch unter anderem eben eine weitere Öffnung für die verbessert werden kann, um wirklich zu erken- Universitäten, dazu gehört auch die engere Ver- nen, wo welches Großgerät für welchen For- zahnung zwischen der wissenschaftlichen und schungsbereich Beiträge leistet. Und da finde ich wirtschaftlichen Bewertung. die Landscape Analysis, die ESFRI gemacht hat, sehr gut. Dabei wurde aber nur auf EU-Projekte ge- Dennoch gibt es eine ganze Reihe weiterer Punkte, schaut und nicht auf die nationalen Facilities, die die aus meiner Sicht für die Verstetigung eines es ja außerdem noch gibt. Das könnte man noch Roadmap-Prozesses wünschenswert wären. Ich weiter entwickeln. würde hier gerne vier Punkte nennen: Vielen Dank. Ein erster Punkt ist schon angeklungen: Wir müs- sen uns nochmal über die Besonderheiten von Forschungsinfrastrukturen für die Verhaltens-, So- Vorsitzende Patricia Lips: zial- und Geisteswissenschaften verständigen. Das betrifft die Schwellenwerte, und es betrifft dort Und zum Abschluss dieser Runde Professor Pren- nochmal einen anderen Typ von Betriebskosten. zel.

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Mein zweiter Punkt: Wünschenswert ist eine früh- von europäischen Projekten beziehungsweise de- zeitige Prüfung im Lebenszyklus von Forschungs- ren deutschen Anteilen erhalten können. infrastrukturen. Zusätzlich zur Bewertung von Forschungsinfrastrukturkonzepten, die bereits eine gewisse Reife aufweisen und schematisch ge- Unklarheit besteht derzeit insbesondere in Bezug dacht eigentlich das Endprodukt einer Vorberei- auf Vorhaben, deren Investitionskosten unter den tungsphase sind, sollten auch Skizzen von For- national aktuell geltenden monetären Eingangs- schungsinfrastrukturen geprüft werden. Deshalb schwellen in der Höhe von 50 Mio. € beziehungs- wäre es erstrebenswert, einen zweistufigen Pro- weise 20 Mio. € für geistes- und sozialwissen- zess zu etablieren, in dem Skizzen und Konzepte schaftliche Forschungsinfrastrukturen liegen. Hier getrennt voneinander, jeweils vergleichend, be- kann es im nationalen Roadmap-Prozess insbeson- wertet werden können. Positiv bewertete und ge- dere zu Verzerrungen kommen, weil bei manchen förderte Skizzen würden anschließend in der Vor- großen internationalen Vorhaben der deutsche bereitungsphase zu Konzepten ausgearbeitet wer- Anteil unter 50 Mio. € liegt oder liegen kann und den, positiv bewertete und auf die Roadmap auf- deshalb nicht alle relevanten Alternativen auf genommene Konzepte könnten dann in die Um- dem Tisch liegen. Nach Abschluss des aktuellen setzungsphase eintreten. Roadmap-Prozesses sollte die aktuell geltende mo- netäre Eingangsschwelle deshalb noch einmal Dritter Punkt ist, dass der Wiederholungsturnus überprüft werden. So viel in aller Kürze nochmal des Roadmap-Verfahrens verbindlich festgelegt zu vier Punkten, die für eine Weiterentwicklung werden sollte. Für die wissenschaftlichen Com- wichtig sein könnten. munities ist es von hoher Bedeutung, jeweils bei der Ausschreibung eines Roadmap-Prozesses ver- Ich bin gespannt auf Ihre Fragen. Vielen Dank für lässlich zu wissen, wann eine erneute Ausschrei- Ihre Aufmerksamkeit. bung erfolgen wird. Nur so kann abgeschätzt wer- den, ob eine spätere Einreichung eines Vorhabens zur weiteren Ausarbeitung sinnvoll ist, oder ob Vorsitzende Patricia Lips: für das Projekt dadurch zu viel Zeit verstreichen würde. Dabei könnte eine weniger aufwendige Be- Das sind wir alle. Und damit beginnen wir jetzt. gutachtung von Skizzen durchaus häufiger erfol- Wir starten in die sogenannte Berichterstatter- gen als das komplexe Roadmap-Verfahren für runde mit jeweils einer oder einem Abgeordneten Konzepte. aus den vier Fraktionen. Wir beginnen mit der Kollegin Sybille Benning von der CDU/CSU-Fraktion. Mein vierter Punkt: Das Nationale Roadmap-Ver- fahren sollte enger mit den europäischen Road- map-Verfahren verzahnt werden. Oftmals lassen sich Forschungsinfrastrukturen nur noch transna- tional realisieren, weil die notwendigen Investiti- Abg. Sybille Benning (CDU/CSU): onen und die zu erwartenden Kosten das Budget eines einzelnen Landes übersteigen. Die Mehrzahl Meine Damen und Herren, herzlichen Dank für der Investitionsentscheidungen ist daher in einem Ihre Statements und herzlichen Dank, dass Sie internationalen Kontext zu bewerten und unter- heute hergekommen sind und Ihre Statements liegt somit einem politischen Aushandlungspro- vorher abgegeben haben. Es war sehr spannend, zess, in dem Partnerländer mit einbezogen werden sie zu lesen und sich in diesen Prozess nochmal müssen. Vor diesem Hintergrund scheint eine en- von Ihrer Seite heraus einzuarbeiten. Es ist ja sehr gere Abstimmung, insbesondere mit dem ESFRI- komplex, und das ist mir als Berichterstatterin Prozess, sinnvoll zu sein. Diese bezieht sich nicht nochmal klar geworden. nur auf die Abstimmung eines sinnvollen Turnus, Mir ist auch klar geworden, beziehungsweise Sie sondern grundsätzlich muss es transparent sein, haben unterstrichen, dass wir natürlich in wie Forschungsinfrastrukturvorhaben in Deutsch- land politische Unterstützung für die Realisierung

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Deutschland international sichtbar exzellente For- Abg. René Röspel (SPD): schung mit vielen Partnern betreiben. Und das Vielen Dank, auch, dass Sie Ihre wichtige Arbeit macht es auch so schwierig, die Dinge zu sortie- unterbrochen haben und uns heute für gute Tipps ren. Wir sind eine Forschungs-, wir sind eine Bil- und Ratschläge zur Verfügung stehen, für eine dungsnation auf höchstem Niveau, und das wurde Frage, die ja schon spannend ist. Ich glaube, für auch in Ihren Statements sehr deutlich. Das wol- meine Fraktion sagen zu können, dass der Natio- len wir weiter behalten. nale Roadmap-Prozess der richtige Weg ist, der Klar wurde, dass es unterschiedliche Forschungs- eingeschlagen worden ist, aber sicherlich an der infrastrukturen mit sehr unterschiedlichen An- einen oder anderen Stellen noch eine kleine Än- sprüchen gibt, die wir zum Teil in der Nationalen derung vollzogen werden muss oder ein paar Roadmap auffangen und beurteilen, die es aber Steine aus dem Weg geräumt werden müssen. auch in internationalen Projekten gibt. Das haben Ich habe Fragen an Frau Dzwonnek und Herrn Sie in Ihren Statements auch nochmal sehr deut- Professor Prenzel, weil meine Fragen sich auf das lich gemacht. Es gibt naturwissenschaftliche, ge- Thema beziehen, das Sie schon ansprachen und sellschaftswissenschaftliche Forschung, die er- das sicherlich auch zum Entstehen der Nationalen fasst werden muss. Sie sprachen, nicht alle, aber Roadmap geführt hat: Die Frage der Betriebskos- doch zum Teil, die Schwellenwerte an, und uns ten, die ja nicht unwesentlich ist. Meine Frage be- wurde klar, dass es auch um große Mengen von zieht sich auf mögliche Auswirkungen auf die Daten geht, was auch ein Thema ist, was die Beur- wissenschaftliche Exzellenz, wenn beispielsweise teilung deutlich schwieriger macht, weil daran ge- die Betriebskosten über den Investitionskosten lie- arbeitet werden muss. gen; schließt das möglicherweise ein wissen- Es gibt sehr viele Fragen, die ich Ihnen stellen schaftlich ganz interessantes Projekt aus diesen könnte. Ich fange mit der Frage an Herrn Professor wirtschaftlichen Gründen aus? Und die Beteili- Heuer an: gung oder die mögliche Nichtbeteiligung von Hochschulen, die Sie auch schon ansprachen, die Sie sprachen in Ihrem Statement auch von dem natürlich eine große Rolle in der Verknüpfung au- Wissenstransfer für Köpfe, der noch wichtiger sei ßeruniversitärer Forschungseinrichtungen auch in als der Technologietransfer. Das fand ich sehr der Zusammenarbeit spielen, hätte ich gerne ein- spannend. Wie beteiligen Sie die Mitarbeiter so- mal vertieft. Inwieweit werden die Hochschulen wohl am Betrieb als auch in der Forschung, weil über diese Betriebskostenbeteiligung rausgekegelt, das ja auch ein Teil dieses Verzahnungsprozesses beziehungsweise was kann man machen, damit ist, den Sie angesprochen haben. Wie beteiligen das nicht passiert? Sie Mitarbeiter am Betrieb, aber auch an der Wei- terentwicklung einer Forschungsinfrastruktur? Welche Möglichkeiten sehen Sie da? Und wie Vorsitzende Patricia Lips: kann man eine bessere Verzahnung von Wissen- schaftsmanagement und Forschern herstellen? Der Kollege Ralph Lenkert von der Fraktion DIE Welche Ideen haben Sie dazu? Das ist meine LINKE. Frage.

Abg. Ralph Lenkert (DIE LINKE.): Vielen Dank, Frau Vorsitzende. Vielen Dank für Vorsitzende Patricia Lips: Ihre Vorträge. Vielen Dank. Es wurde ja fast einhellig von Ihnen die Auffas- sung vertreten, dass der Betrieb der Großfor- Das Wort hat René Röspel von der SPD-Fraktion. schungsinfrastrukturen nicht so einfach ist. Aus persönlichen Besuchen musste ich feststellen, dass eben auch bei sehr teurer Forschungsinfra- struktur sehr oft mit Doktoranden oder Postdocs

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gearbeitet wird. Und wenn so eine Infrastruktur Es gibt jetzt zudem den Nationalen Roadmap-Pro- zehn Jahre steht und nach drei Jahren ein Perso- zess, der in Zukunft sicherlich stärker offenlegen nalwechsel stattfindet, dann kann man de facto kann, welcher Bedarf unterschiedlicher Akteure dieses Gerät für ein halbes Jahr als nicht voll ein- an großformatigen Infrastrukturen angemeldet satzfähig bezeichnen. Das heißt, könnten Sie, und wird und welche Investitionsschwerpunkte der jetzt die Frage an Frau Dzwonnek von der DFG Bund setzen will. und Herrn Professor Juling von der HRK, mal ab- Für uns als Fraktion ist daher die übergeordnete schätzen, wie viel Personaldauerstellen Sie zu- Frage, die ich auch gerne an Frau Dzwonnek und sätzlich bräuchten, um im Prinzip dieses Problem, Herrn Professor Juling stellen möchte: Halten die dass immer so viel Wissen über Doktoranden ver- bisherigen Finanzierungsmöglichkeiten für unsere loren geht, aufzuheben und damit auch den Eng- Forschungsinfrastrukturen hierzulande eigentlich pass für Universitäten, die eben bei Helmholtz mit den Bedarfen Schritt, um Forschung und und anderen nicht immer reinkommen, in der Ka- Lehre vor allem auch an den Hochschulen auf in- pazität zu verringern? Welchen Aufwuchs bräuch- ternational anschlussfähigem Niveau zu halten? ten Sie? Entweder in Zahlen geschätzt oder in Pro- Das halte ich für eine Schlüsselfrage. Wenn das zent; was schätzen Sie, wenn die Dauerstellen ge- nicht so ist: Wo sehen Sie besondere Bedarfe zur schaffen werden würden, was das kosten würde? Nachjustierung? Da haben Sie ein paar Hinweise gegeben. Ich fände es gut, wenn Sie das nochmal zuspitzen könnten, wo Sie bei den Finanzierungs- Vorsitzende Patricia Lips: möglichkeiten noch besondere Bedarfe sehen. Und der Kollege Kai Gehring von der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Vorsitzende Patricia Lips:

Wir beginnen in der Beantwortung der Fragen mit Frau Dzwonnek. Abg. Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank, Frau Vorsitzende. Dorothee Dzwonnek (DFG): Moderne und leistungsfähige Forschungsinfra- Vielen Dank. strukturen sind sicherlich ein wesentliches Ele- ment für unsere Wissenschaftsarchitektur insge- Die Betriebskosten sind Thema in verschiedenen samt und heute auch das strukturelle Rückgrat Fragen gewesen. vieler Forschungsaktivitäten in unserer Wis- Betriebskosten, Herr Lenkert, gehören dann ja im sensökonomie. Darauf haben Sie in Ihren schriftli- Grunde zum Dauerpersonal, was wir brauchen. chen Stellungnahmen hingewiesen. Und vielen Dank auch für Ihre mündlichen Statements. Es gibt in Deutschland verschiedene Vorbilder für Großgeräte, die in den vergangenen Jahren, ich Der Bund investiert derzeit jährlich noch knapp 1 denke da an den FRM II in München, mit Bundes- Mrd. € in Labore, Archive, Rechner und große geld an einer Hochschule installiert worden sind. Forschungsgeräte an Hochschulen. Dabei handelt Aber der FRM II wird natürlich trotzdem eher be- es sich hier um die sogenannten Kompensations- trieben wie ein außeruniversitäres Gerät, und die mittel der ehemaligen Gemeinschaftsaufgabe Finanzierung war völlig separat. Allerdings sind „Ausbau und Neubau von Hochschulen ein- auch bei einer solchen großen Anlage, laut dem schließlich Hochschulkliniken“, sowie die Bund- Leiter, Herrn Professor Petry, das Upgraden und Länder-Förderung von Forschungsbauten an die Bereitstellung der Betriebskosten für das Gerät Hochschulen einschließlich der Großgeräte. Und nicht immer ganz einfach. diese Vereinbarungen sind 2006 getroffen worden, sie werden auslaufen, und nach zehn Jahren liegt es nahe zu fragen, ob das weiter ausreicht.

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Der Bereich, den ich aus der Perspektive der DFG Wir würden uns ja gerne in dem Wissenschafts- eher im Auge habe als solche riesengroßen For- sektor da- und dorthin bewegen, wir können es schungsgroßgeräte, die im ESFRI-Prozess und dem aber nicht, weil wir letztlich mit dem Geld nicht internationalen Sektor, auch mit ihren Reflexen, sicherstellen können, dass eine solche Methoden- besprochen und eingeordnet werden müssen, ist plattform von uns getragen werden wird. Insbe- der Bereich der vielen Geräte, die wir in der Se- sondere was die Formen des Upgraden, des stän- quenzierung bei den Omex Technologien, bei dem digen Überholens angeht, handelt es sich um Elektronenmikroskop brauchen. Das sind 10 bis Summen, die meist bei der Erstbeantragung außer 20 Mio. € teure Großgeräte. Bei denen kann es Acht gelassen werden. Da muss man sich auch aber schon passieren, dass die Betriebskosten im das Beantragungsverfahren nochmal anschauen. Jahr ein solches Ausmaß annehmen, dass man Herr Lenkert, die Zahl der benötigten Dauerstellen schon fast für 5 Mio. € ein neues Elektronenmik- ist natürlich vor einer Landschaft, die wir noch roskop erwerben könnte. Also das ist sicherlich gar nicht gestaltet haben, schwer zu schätzen. Wir ein Faktor, der einer Sonderfinanzierung unterzo- haben die Plätze noch nicht definiert, und wir ha- gen werden muss. Wenn wir die Landschaft dieser ben noch nicht die Möglichkeiten für solche mit- kleineren oder mittleren Großgeräteplattform, die telpreisigen Großgeräteplattformen in einer Ver- bisher noch nicht Roadmap-Prozess-mäßig entste- bundstruktur skizziert. Insofern kann ich schlecht hen, auf der Basis der Anforderungen, die insbe- irgendwelche Größenordnungen angeben; aber das sondere von Frau Professor Lochte und Herrn Pro- sind sicher mehr als tausend, wenn ich jetzt ein- fessor Prenzel formuliert worden ist, geordnet hät- fach mal die Größenordnungen des Nachwuchs- ten, dann gäbe es hier sicherlich ein großes Feld, paktes nehme, obwohl er damit nichts zu tun hat. bei dem man darüber nachdenken könnte, ob Aber ich denke, man braucht schon fünf, sechs or- nicht der neue 91b GG dafür eine geeignete Finan- dentliche Techniker. Ich kenne mich, Sie wissen zierungshilfe sein könnte. Denn ich halte es für das, ganz gut aus mit JARA (Jülich Aachen Rese- eine bundesweite Aufgabe der Wissenschaft, die arch Alliance). JARA hat ja sehr früh, schon im Methoden, die es nun einmal in den meisten na- Jahr 2005, einen Vertrag zum Betrieb des soge- turwissenschaftlichen und lebenswissenschaftli- nannten Ernst Ruska-Centrums, geschlossen. Die chen Fächern, und zunehmend auch bei den Geis- DFG leistet ebenfalls einen Beitrag. Es sind auch teswissenschaften braucht, in Deutschland vorzu- einzelne Geräte damals von uns in den Großgerä- halten. Also, ich glaube, das ist eine Frage, bei der teverfahren und in unserem Schwerpunktpro- man wirklich über eine Bundesfinanzierung nach- gramm finanziert worden. Deswegen ist auch ein denken muss. Das heißt dann aber nicht, dass die wichtiger Punkt der Satzung, dass die Hälfte für Länder völlig rausgehalten werden sollen. den Zugriff von anderen Standorten offen sein muss. Aber allein für dieses Zentrum, bei dem, sa- gen wir mal, zehn große Elektronenmikroskope Zu dem Auslaufen der Kompensationsmittel, Herr aufgebaut sind, brauchen Sie sicher eine Mann- Gehring: Wir haben schon vor Jahren mit Sorge schaft von zwanzig Personen. Und wenn Sie das darauf geachtet. Ich glaube, dass das bisherige Vo- hochrechnen, ergibt das schon eine nennenswerte lumen im Großen und Ganzen ausreichend war; Zahl von hochqualifiziertem technischem Perso- nach Ansicht der Deutschen Forschungsgemein- nal, was wir dann auch noch ausbilden müssten, schaft füllen wir das gut aus, was wir verwalten; denn die Ausbildungsstandorte werden natürlich das können auch schon mal 50 Mio. € mehr sein, auch immer weniger. aber es wird keine Summe gebraucht, die über die Milliarde geht. Da bewegt es sich in den 200, 300 Millionensektoren. Und das ließe sich, glaube ich, Vorsitzende Patricia Lips: auch schon noch aufbringen. Herr Professor Heuer, auch an Sie ging eine Frage.

Was nützen uns Exzellenzstandorte in Deutsch- land, die dann bei ihrem Agenda Setting, Frau Professor Lochte, irgendwann feststellen müssen:

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Prof. Dr. Rolf-Dieter Heuer Die zweite Frage betrifft die Verzahnung zwischen (Deutsche Physikalische Gesellschaft e. V.): Wissenschaft und Management. Das ist schwierig. Ich sehe zwei Möglichkeiten: Die erste Frage von Frau Benning bezieht sich auf die Ausgestaltung des Wissenstransfers für Köpfe Eine Kurzzeitmöglichkeit, die teuer ist und eine und die Beteiligung an Betrieb und Forschung. Langzeitmöglichkeit, die sich relativ positiv aus- Dafür müssen wir zwischen der Forschungsinfra- wirken könnte. struktur und den wissenschaftlichen Nutzern un- Die Kurzzeitmöglichkeit ist, dass sie grundsätzlich terscheiden. Für die Forschungsinfrastruktur an Wissenschaft und Manager zusammenarbeiten las- sich ist es ganz essentiell, und das habe ich auch sen, sowohl bei der Planungs-, als auch später bei in der Stellungnahme geschrieben, dass die Leute, der Bau- und Betriebsphase. Sie können nicht ei- die die Infrastruktur betreiben, auch bei der For- nen Manager alleine lassen, Sie können nicht ei- schung und Weiterentwicklung beteiligt sind. nen Wissenschaftler alleine lassen, dafür ist nicht Also die Teilung in „Operations- und Betriebs- die richtige Ausbildung vorhanden. Das heißt, Sie mannschaft“ und „Forschungs- und Fortentwick- müssen beide haben. Das verdoppelt natürlich an lungsmannschaft“ ist meiner Ansicht nach kata- bestimmten Stellen die Personalkosten, aber ist im strophal. Das führt eine Forschungsinfrastruktur Endeffekt billiger, als immer Geld nachzuschie- sofort auf eine niedere Ebene, und ich denke, die ßen, wenn manche der Manager oder Wissen- sollte nicht überlebensfähig gehalten werden, um schaftler einen gewissen Realitätsverlust erleiden. es mal diplomatisch auszudrücken. Ganz wichtig ist, dass diese Verzahnung zwischen Betrieb und Die längerfristige Möglichkeit, die ich persönlich Forschung ungefähr gleichzeitig erfolgt; also 50 sehe, ist, den Nachwuchswissenschaftlern von Prozent Betrieb, 50 Prozent Weiterentwicklung. heute Hilfestellungen zu geben. Hilfestellungen in Sie müssen die Leute herausfordern, denn der Entscheidung, ob ich denn überhaupt geeignet dadurch bringen sie a) die guten Köpfe und b) die bin, etwas zu managen, sei es in der Wissenschaft gute Infrastruktur. Sie brauchen ein ausgewogenes oder der freien Wirtschaft, das ist, glaube ich, Verhältnis zwischen Dauer- und Teilzeitstellen. egal; aber den Nachwuchswissenschaftlerinnen Auf diese Weise halten Sie die Kompetenz, ohne und Nachwuchswissenschaftlern müssen Hilfe- eine Unterbrechung zu haben, Herr Lenkert, das stellungen gegeben werden, auch im Hinblick auf ist ganz, ganz wichtig. Dasselbe betrifft auch die das Erlernen von Selbstreflexion. Und genau an Experimente, die an diesen Forschungsinfrastruk- dieser Stelle wird die DPG ein Pilotprojekt aufset- turen ausgeführt werden. Dort machen Sie exakt zen. dasselbe. Auch die Doktoranden beteiligen sich am Betrieb. Sie müssen ja wissen, woher sie die nehmen, die Experimente kommen ja nicht aus Vorsitzende Patricia Lips: dem Nichts. Und dadurch haben sie auch hier eine enge Verzahnung zwischen Betrieb und For- Vielen Dank. schung, aber keine Unterbrechung. Herr Professor Juling, an Sie gingen auch zwei Was wir zum Beispiel am CERN (Conseil Euro- Fragen von den Kollegen Lenkert und Gehring. péen pour la Recherche Nucléaire) in den letzten paar Jahren eingeführt haben, sind nicht nur Zwei-Jahres-Stipendien für Wissenschaftler, son- dern auch für Ingenieure und Techniker. Das be- trifft genau diesen Wissenstransfer. Die Leute Prof. Dr. Wilfried Juling (HRK): kommen aus den Mitgliedsländern, lernen zusätz- Da geht es um die Frage „Aufwuchs an Dauerstel- liche Dinge am CERN und gehen wieder zurück len“ von Herrn Lenkert. Bevor ich jetzt auf Zahlen nach Hause. Die Besten behalten wir auch oder zu sprechen komme, was naturgemäß sehr schwer haben wir auch früher behalten, das muss ich zu- ist, gehe ich nochmal kurz auf die Forschungsinf- geben. Aber auf diese Weise erreichen Sie einen rastruktur unter dem Aspekt „Wofür brauchen wir „Austausch der Köpfe“ und zusätzlich ein inter- diese Postdocs?“ ein. Wir sprechen ja oftmals bei nationales Lernen beziehungsweise Arbeiten. solchen Infrastrukturen von dem Lifecircle, der

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mit der Exploration beginnt, welches Gerät für ei- hat man, was das Management über all diese Gele- nen Erkenntnisgewinn in der Forschung gut oder genheiten betrifft, sowieso einen Fehler gemacht. besonders gut geeignet ist. Dann geht es natürlich Jetzt kann man das nicht generalisieren, aber ich um die Planung und den Aufbau des Gerätes, und nehme beispielsweise das Thema „Hoch- und später wird das Gerät betrieben. Dazwischen liegt Höchstleistungsrechner“, in dem ich mich gut eine Phase, in der es darum geht, ein Gerät in Be- auskenne. Dort kann man die jungen Leute nicht trieb zu nehmen, ein Gerät gebrauchsfertig zu ma- an einen spezifischen Rechner binden, sondern chen, das heißt also, für die Anwender, für die ei- man muss es an die Thematik des High Perfor- gentlichen Nutzer gebrauchsfertig zu machen. mance Computing binden. Dasselbe trifft für den Letztendlich geht es dann auch darum, die Nutzer CERN zu. Und natürlich spielt jetzt der Beschleu- zu unterstützen, zu beraten, ihnen zu helfen, mit niger eine ganz große Rolle, aber im Wesentlichen dem Gerät richtig umzugehen. Das ist insgesamt geht es um Beschleuniger generell. Mehr kann ich der Zyklus, von dem auch unsere jungen Nach- Ihnen, Herr Lenkert, an Zahlen dazu nicht liefern. wuchswissenschaftler, die wir dringend für diese Ich meine, Frau Dzwonnek hatte gesagt, wenn wir Forschungsinfrastrukturen brauchen, betroffen den Pakt für den wissenschaftlichen Nachwuchs sind. mit den Tenure-Track-Optionen für Professuren nehmen, kommen wir in etwa auf eine Zahl Tau- Jetzt versuche ich, die Zahlen zu schätzen. Ich send. Diese Größenordnung würde mir auch sofort nenne mal den „Pakt für den wissenschaftlichen einfallen, wenngleich ich der Meinung bin, bei Nachwuchs“. Dort hat die HRK zum Beispiel eine dem Verhältnis 20:1 ist es auch nicht ausreichend. Zahl im Jahr 2012 notiert, die belegt, dass es ca. Und dann komme ich bei einem Wunsch von 25 27.000 Promotionen in Deutschland an den Hoch- Prozent der jungen Leute auf ein Verhältnis, wo schulen gegeben hat, davon ungefähr 7.400 im Be- ich eigentlich das Vier- bis Fünffache für solche reich der Medizin. Wenn ich das jetzt ins Verhält- Weiterbeschäftigungen benötige. nis zu den Professuren-Stellen setze, dann kommt auf 20 dieser Postdocs eine Professuren-Stelle. Wenn wir in Umfragen die Absolventen nach ih- Dann war, glaube ich, noch die Frage von Herrn rer Intention nach der Promotion gefragt haben, Gehring, zu beantworten: sagen ungefähr 25 Prozent, dass sie durchaus eine Hochschullaufbahn einschlagen möchten. Das 1 Mrd. € haben Sie gesagt. 2006 gab es diese Ab- kollidiert natürlich sofort mit dieser Zahl der Pro- wendung, ich glaube, diese Milliarde für das fessorenstellen. 40 Prozent sagen übrigens: Ich Hochschulbauförderungsgesetz könnten Sie mei- möchte in der Forschung bleiben. Und darum geht nen. Dort war es nämlich genau diese 1 Mrd. €. es jetzt auch. Wie kann man das Verhältnis, dass Und dann weiß ich noch sehr gut, dass 30 Prozent jemand eine klassische Hochschullehrerlaufbahn für regionale, überregionale Förderungen einbe- einschlägt, ins Verhältnis zu dem Wunsch von halten und 70 Prozent an die Länder nach dem vielen Postdocs setzen, weiterhin in der For- Königsteiner Schlüssel ausgeschüttet wurden. Das schung tätig zu sein? Natürlich haben wir Mög- läuft über Artikel 143c GG. Mir ist unklar, was lichkeiten, projektbezogen auch Postdocs über wirklich auf Dauer mit den Mitteln in den Län- eine längere Zeit, gerade die Veränderung des dern bezogen auf Hochschulbauförderung passiert Weiterbeschäftigungsgesetzes hat da geholfen, an ist. Ich darf das deswegen sagen, weil ich einem die Projektlaufzeit zu binden, aber ein Projekt ist Bundesland angehöre, in dem von Anbeginn an dadurch definiert, dass es einen Anfang und ein erklärt wurde, wir setzen diese „143c GG-Mittel“ Ende hat. Und dann passiert, Herr Lenkert, was nach wie vor für die Entwicklung von For- Sie vielleicht im Kopf haben, dass die Möglichkeit schungsinfrastrukturen ein. Und so passiert es für die dauerhafte Weiterbeschäftigung entfällt. auch in Baden-Württemberg. Ich weiß nicht, ob Grundsätzlich ist es sowieso falsch, die Leute, die das in allen Ländern der Fall ist. Ich glaube es wirklich hervorragend geeignet sind, solche For- nicht. Die 30 Prozent, das sind ungefähr 300 Mio. schungsinfrastrukturen zu betreiben, nur an ein €, kommen uns sehr zugute. Vielleicht würde man Gerät zu binden. Also wenn damit das Gerät obso- sich hier und da etwas mehr wünschen, aber ich let wird, und auch diese Stelle obsolet ist, dann glaube, es liegt eine gewisse Krux bei den „143c

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GG-Mitteln“. Wenn wir die 1 Mrd. € wirklich wie- Frage der bedingt vorhersagbaren Betriebskosten der konsequent für Forschungsinfrastrukturen ge- ansteht. rade an den Hochschulen einsetzen, glaube ich, würde man zunächst einmal gut zurechtkommen und zufrieden sein. Vorsitzende Patricia Lips:

Vielen Dank. Vorsitzende Patricia Lips: Wir kommen zu einer zweiten Runde. Insgesamt werden wir noch zwei Fragerunden haben, und Zum Abschluss der Antwortrunde Herr Professor die Anzahl der Fragesteller wird sich erhöhen. Prenzel. An Sie ging eine Frage von dem Kollegen Röspel. Der Kollege Albani von der CDU/CSU-Fraktion.

Prof. Dr. Manfred Prenzel (Wissenschaftsrat): Abg. Stephan Albani (CDU/CSU): Die Frage von Herrn Röspel war sowohl an Frau Vielen Dank, Frau Vorsitzende. Dzwonnek als auch an mich gerichtet. Frau Dzwonnek hat da schon erhebliche Anteile beant- Ich habe zwei Fragen an Professor Heuer: wortet. In Ihrer Stellungnahme haben Sie auf erfrischende Art und Weise die Notwendigkeit von Öffentlich- keitsarbeit auch aus den Einrichtungen der For- Vielleicht nochmal zu der Rolle der Universitäten: schungsinfrastrukturen heraus stark adressiert Wir wollen die Universitäten nicht nur in der und haben dort auch die Lehrerausbildung bezie- Nutzerrolle, sondern als Kooperationspartner oder hungsweise das CERN als positive Beispiele dar- vielleicht sogar in der Rolle einer Federführung gestellt. Ich gehe davon aus, dass Sie meine Auf- sehen. Und in diesen Rollen ist die Frage „Be- fassung teilen, dass wir im Bereich der Öffentlich- triebskostenübernahme“ ganz entscheidend. Ent- keitsarbeit und der Begeisterung – und Sie nennen scheidend ist auch eine Konstellation, in der nach es Faszination – noch weiterhin Defizite haben? wenigen Jahren die Betriebskosten die Investiti- Was sehen Sie, und was würden Sie der Politik onskosten übertreffen können, in denen bedingt vorschlagen, um dieses, jenseits der immer wieder vorhersagbar ist, wie die Kostenentwicklung aus- gerne durchgeführten Querschnittsprojekte oder sehen wird, und in denen bedingt verfügbare Mit- Ähnliches, zu verbessern? Wie können wir eine tel an Universitäten zur Verfügung stehen, da Uni- nachhaltige Verbesserung erreichen? versitäten keine Sparbücher haben. Die zweite Frage bezieht sich auf die internatio- Von daher ist die Frage, wie eine Universität mit nale Koordinierung. Sie und Ihre Kolleginnen und gutem Gefühl eine Betriebskostenübernahme zu- Kollegen sagen: „Kein Land kann dieses entspre- sagen kann. Und da kann ich jeden Dekan verste- chend alleine reißen.“ Wir reden über nationale, hen, der zurückschreckt, weil er zu viel Geld fest- wir reden über europäische Roadmaps, aber letz- legt. In dieser Hinsicht muss man überlegen, wie ten Endes müssen wir auf internationaler Ebene man helfen kann, damit die Universitäten aus die- eine Koordinierung machen. Wo sehen Sie da ser Zwickmühle herauskommen, die an einigen Notwendigkeiten, dieses in Zukunft vielleicht bes- Standorten wirklich das Potenzial hätten, in Ko- ser zu strukturieren und die Zusammenarbeit operation oder vielleicht sogar einmal in Feder- noch zu verbessern? führung zu agieren. In dieser Hinsicht brauchen wir Überlegungen, wie wir eine Entlastung bei der Frage „Betriebskosten“ speziell für die Universitä- Vorsitzende Patricia Lips: ten hinbekommen. Aber es gilt, wenn ich das rich- tig wahrnehme, genauso für Helmholtz-Einrich- Vielen Dank. tungen, die ebenfalls erheblich stöhnen, wenn die Die Kollegin Dr. Raatz von der SPD-Fraktion.

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Abg. Ralph Lenkert (DIE LINKE.): Abg. Dr. Simone Raatz (SPD): Vielen Dank, Frau Vorsitzende. Vielen Dank, Frau Vorsitzende. Ich möchte auch meine erste Frage an Frau Profes- sor Lochte richten. Ich habe zwei Fragen, und eine richtet sich an Herrn Professor Dosch. Frau Dzwonnek sagte ja, Gerade im Bereich der Klimaforschung hören wir dass der Zugang zu den Geräten ein wichtiges Ele- ja sehr oft, uns fehlen Datengrundlagen und die ment sei. Die Geräte sind teuer, und es ist sehr Datenbasis, wie wir ja auch in Ny-Ålesund erfah- wichtig, dass der Zugang dann auch gewährleistet ren konnten, und gerade die Datenerfassung, be- wird. Daher bezieht sich meine Frage nicht nur al- ziehungsweise Datenerhebung, ist grundlegend; lein auf Hochschulen, sondern auch auf for- grundlegend ist auch die Erfassung von Rohdaten schungsstarke KMUs; ich denke an Unternehmen in hoher wissenschaftlicher Qualität, um anschlie- oder Forschungsinstitute, die über die AiF oder ßend hervorragende Forschungsergebnisse gene- die Zuse-Gemeinschaft finanziert werden. Welche rieren zu können. Sie sagten vorhin, dass eben Kooperationsmöglichkeiten bestehen, und sind dies oftmals bei den Bewertungskriterien für die diese auch 24 Stunden möglich? Bei Schiffen bei- Einschätzung einer Wissenschaftlerin und eines spielsweise ist es logisch, wenn sie sich auf dem Wissenschaftlers hinten runterfällt. Meer befinden, dass es sich um einen 24-Stunden- Deswegen die Frage an Sie: Könnten Sie mal grob Betrieb handelt, aber für alle stationären Anlagen, skizziert sagen, welche Kriterien in die Bewertung glaube ich, ist das eher schwierig. Darum auch von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nur die Frage: Ist denn so etwas angedacht oder aufgenommen werden sollten, damit wir diese Lü- möglich, und wo gibt es da etwas? cke schließen und auch Wissenschaftler/-innen, Meine zweite Frage richtet sich an Frau Professor die in der Datenerhebung gut sind, daran setzen, Lochte, die etwas zur Datengenerierung gesagt hat, bestmögliche Daten, die absolut zuverlässig sind, auch dadurch zur Qualität von Forschung. Und zu generieren, damit andere daraus neue Erkennt- wir reden ja alle über Open Access, also freien Zu- nisse entwickeln können? gang zu Daten, und beklagen den Mangel, dass es Und meine zweite Frage geht an Herrn Professor da überhaupt keine Rahmenbedingungen bei der Prenzel vom Wissenschaftsrat: Forschung gibt. Nach welchen Kriterien werden eigentlich Daten erhoben, so dass sie auch ver- In der Medizintechnik gilt ja Ähnliches. Wenn wir gleichbar sind? Theoretisch besteht der Wunsch beispielsweise das Krebsregister, das die DDR weltweit, auch auf diese Daten zugreifen zu kön- hatte, im selben Zeitraum in der Bundesrepublik nen. Wenn ich die Rahmenbedingungen aber gehabt hätten, wäre natürlich ganz andere wissen- nicht kenne, Drucktemperatur et cetera, dann schaftliche Forschung möglich, einige Gerüchte nutzt mir das alles nichts. wären vielleicht aufhebbar, andere Entwicklungen wären machbar bei Medikamenten, Auswirkungen von Umweltschäden wären besser abschätzbar ge- Meine Frage darum: Gibt es denn Initiativen in- wesen. Inwieweit sehen Sie jetzt eine entstehende nerhalb der Wissenschaftscommunity, diese Rah- Lücke, und wie kann man diese schließen, wenn menbedingungen zu setzen und wenn ja, welche das Deutsche Institut für Medizinische Informa- gibt es da? tions- und Datenverarbeitung und die Zentralbib- liothek für Medizin abgewickelt werden; wie soll das fortgesetzt werden, und wie kann man viel- Vorsitzende Patricia Lips: leicht zukünftig eine Einrichtung wie diese anders strukturieren, damit die Daten erstens nicht verlo- Der Kollege Lenkert von der Fraktion DIE LINKE. ren gehen und zweitens auch die Datenbanken weiterhin geführt und erfasst werden?

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Vorsitzende Patricia Lips: ist, dass sich eine große Forschungsnation diese wichtige Forschungsinfrastruktur leisten kann Der Kollege Gehring von der Fraktion BÜNDNIS und aus meiner Sicht auch leisten muss. Sie ha- 90/DIE GRÜNEN. ben relativ ausführlich die Bedenken hinsichtlich der langfristigen Planung neuer Projekte darge- stellt; die teile ich auch ein Stück weit. Ich weiß Abg. Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): aber nicht, ob das dazu führen sollte, dass wir Vielen Dank. neue Projekte „überkritisch“ betrachten sollten, weil sich am Ende des Tages dann eine gewisse Ich würde gerne das Thema der digitalen For- Asymmetrie daraus ergibt, sondern ich würde e- schungsinfrastrukturen nochmal besonders her- her fragen, ob wir nicht schärfer über Ausstiegs- vorheben und daher Herrn Professor Juling fragen, zentren nachdenken sollten, damit wir nach ge- wie Sie denn die Ausstattung und die Strategiebil- wisser Zeit, 30 oder 40 Jahre, mal aus einer Groß- dung bezüglich der digitalen Forschungsinfra- forschung aussteigen, um wieder Platz für neue strukturen hierzulande beurteilen? Meine Frage Dinge zu schaffen? Das wäre meine erste Frage. zielt dabei auch auf die bisherige Erfahrung der Und die zweite Frage ist schon angeklungen und Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftsorgani- diskutiert worden, aber ich will sie nochmal ein sationen und Bund und Ländern bezüglich der bisschen härter stellen. Ich verstehe, dass die Modernisierung oder überhaupt Einführung digi- taler Forschungsinfrastrukturen ab. Hochschulen eine wichtige Rolle spielen sollen, aber wenn die langfristigen Finanzierungszusagen Die zweite Frage richtet sich an Herrn Professor nicht geliefert werden oder nicht geliefert werden Prenzel, weil ich erstmal Ihre Forderung, dass es können, dann frage ich mich, wie das funktionie- einen festen und verlässlichen Wiederholungstur- ren soll. Also wie soll ein Verhandeln auf Augen- nus für den Roadmap-Prozess geben und dieser höhe aussehen, wenn man die Augenhöhe nicht festgelegt werden sollte, teile. Welchen Zeitraum liefern kann oder will? und Turnus halten Sie denn da für sinnvoll und adäquat? Und bezüglich des Erneuerungszyklus – das war ja ein Thema, was Sie auch bei den For- Vorsitzende Patricia Lips: schungsinfrastrukturen als eine große Herausfor- derung angesprochen haben – wie kann man die- Erneut der Kollege Röspel von der SPD-Fraktion. ses Thema des Erneuerungszyklus überhaupt sinnvoll handhabbar machen, weil das ja sehr breit über die unterschiedlichen Größen und Her- Abg. René Röspel (SPD): ausforderungen bei diesen Forschungsinfrastruk- Meine Frage geht an Frau Dzwonnek, weil Sie die turen streuen dürfte; wie lässt sich das fassen? Finanzierungslücke ansprachen und sicher damit auch meinen, dass es Schwellenwerte gibt, die eine Rolle spielen, aber darunter, gerade im uni- Vorsitzende Patricia Lips: versitären Hochschulbereich oder hochschulmedi- Der Kollege Dr. Lengsfeld, CDU/CSU-Fraktion. zinischen Bereich, ganz viele wichtige langfristige Projekte liegen, die eigentlich diesen Schwellen- wert nicht erreichen. Abg. Dr. Philipp Lengsfeld (CDU/CSU): Und andererseits gibt es, das ist sicher auch et- Vielen Dank, Frau Vorsitzende. was, zu dem Herr Professor Dosch beitragen kann, diese unterschiedliche und nicht klare Definition Ich habe zwei Fragen an Frau Professor Lochte, zwischen Forschungsinfrastrukturen und For- auch weil ich bei Ihnen doch einen relativ kriti- schungsbauten; welche Rolle kann das beides schen Unterton, was unsere Großforschungsinfra- spielen, welche Lösungsmöglichkeiten werden an- struktur angeht, rausgehört habe. Ich bin der fes- gedacht? Werden wir das im Positionspapier der ten Überzeugung, dass der Unterschied zwischen DFG lesen können? Haben Sie den Artikel 91b GG einer großen und einer kleinen Forschungsnation in dem Zusammenhang ins Spiel gebracht, und

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könnte das ein Weg sein, diese Probleme ein we- eine unabhängige internationale Expertenkommis- nig anzugehen? sion, die ein wissenschaftliches Ranking dieser Anträge macht. In der Regel sind diese Großgeräte überzeichnet. Bei den Großgeräten, von denen ich Vorsitzende Patricia Lips: jetzt spreche, handelt es sich um Röntgenanlagen, Neutronenanlagen, Hochfeldmagnetlabore und La- Und zum Abschluss dieser Runde der Kollege ser. Typischerweise wird bei den Großgeräten nur Volmering von der CDU/CSU-Fraktion. jeder zweite oder dritte Antrag berücksichtigt. Für diejenigen, die zu langsam sind, ist das natürlich enttäuschend, gewährleistet aber auch eine hohe Abg. Sven Volmering (CDU/CSU): Exzellenz, weil wirklich nur die Besten der Besten Zugang bekommen. Der Normalfall ist, dass die Ich habe eine Frage an Frau Dzwonnek. Sie haben Forschergruppen, die an diese Großgeräte kom- gerade schon die Herausforderung der Digitalisie- men, von einem routinierten Expertenteam vor rung angesprochen; Sie haben auf das Thema „Da- Ort betreut werden. Das heißt, die brauchen nor- ten“ abgespielt. Mich würde insgesamt zu diesem malerweise keine technischen Details von der Inf- Themenkomplex konkret interessieren, welche rastruktur zu kennen, sondern werden vor Ort be- drei Maßnahmen Sie eigentlich vorschlagen, die treut, damit sie mit ihrem Forschungsthema kom- Ihnen in diesem Bereich helfen können, damit wir men können und von der lokalen Expertise der auf diese Herausforderung vernünftig reagieren Betreiber dieses Forschungsgroßgerätes arrondiert können? werden. Also insofern ist das eine gut eingespielte Angelegenheit, wie diese Forschungsinfrastruktu- ren genutzt werden, sowohl in Deutschland als Vorsitzende Patricia Lips: auch international. Wir beginnen in der Beantwortung der Fragen mit Bei KMUs und der Industrienutzung ist das ein Herrn Professor Dosch. bisschen komplexer, auch komplizierter und bei weitem nicht so ausgereift, wie es sein könnte. Und da gibt es durchaus auch für die Zukunft noch Verbesserungsbedarf und Luft nach oben. Die Großgeräte, die ich genannt habe, betreiben Prof. Dr. Dr. h.c. Helmut Dosch (DESY - Deut- Industrienutzung in nur kleinem Umfang; ich sches Elektronen-Synchrotron): würde mal sagen 5 Prozent, wenn es hochkommt Ich würde kurz auf die Frage von Frau Dr. Raatz 10 Prozent. Ich sehe Möglichkeiten, das noch zu nach dem Zugang zu Großgeräten eingehen. Ich erhöhen. Es liegt zu einem Großteil daran, dass es würde mich hier nur auf die Groß-Großgeräte be- ein Informationsdefizit auf der industriellen Seite ziehen, die, glaube ich, gemeint waren. gibt, welche Möglichkeiten an diesen Forschungs- großgeräten überhaupt für industrielle Forschung Es ist so, Frau Dr. Raatz, alle Großgeräte, die ich nutzbar sind. Daran muss man in der Zukunft, überblicke, haben einen, was die Amerikaner glaube ich, arbeiten. „24/7 - Betrieb“ nennen, also sieben Tage die Wo- che, 24 Stunden rund um die Uhr. Der Zugang ist Die Industrie oder die, die diese Infrastruktur nut- in der Tat aus meiner Sicht durch ein sehr, sage zen, können das auf zweierlei Weise machen: Ent- ich mal, eingespieltes Verfahren gewährleistet, da- weder sie kaufen explizit „Messzeit“, das macht mit alle Organisationen des Wissenschaftssystems beispielsweise die pharmazeutische Industrie re- über Anträge an diese Großgeräte mit Messzeitan- gelmäßig. Die kommen gar nicht an die Großge- trägen rankommen, die in der Regel auch, und ich räte, sondern schicken ihr Problem, ihre Proben kenne keine Ausnahme, normalerweise von einer dorthin und kriegen die Antwort wieder zurück, internationalen Expertenkommission evaluiert was über Kurierdienste erfolgt. Oder sie beantra- werden. Das heißt die Evaluation erfolgt also nicht gen „Messzeit“ und publizieren. Dann brauchen durch die Betreiber der Großgeräte, sondern durch sie für die Messzeit auch nicht zu zahlen.

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Insgesamt müsste man an dem Informationsdefi- der Planungs- und Bewertungsstruktur nicht abge- zit, was derzeit in Deutschland herrscht, aber an deckt ist: Das sind im Wesentlichen die lebens- anderen Stellen in der Welt genauso arbeiten, weil wissenschaftlichen und die medizinischen Berei- die Nutzung dieser Forschungsinfrastrukturen für che, die wir da in den Blick nehmen müssen. Ich die Industrie in der Zukunft durchaus erhöht wer- bin dafür, dass wir nicht nur für die Geisteswis- den könnte, was auch mit dem Thema „Technolo- senschaften, sondern auch generell einen Road- gietransfer und Wissenstransfer“ sowie „Transla- map-Prozess im Zusammenhang mit der Bewer- tion“ zu tun hat. Dafür muss man tatsächlich Stra- tung der Forschungsbauten-und Forschungsgroß- tegien in der Zukunft entwickeln. Das wird jetzt geräte-Frage, die auch noch im Raum steht, etab- wahrscheinlich zu weit führen, aber ein Weg wäre lieren. Dieser Roadmap-Prozess sollte die Qualität zum Beispiel die Zwischenschaltung von Techni- und die Etablierungsstandards des Betriebes die- schen Universitäten oder Fachhochschulen, die ser mittelpreisigen, damit meine ich im Wesentli- zwischen den Fragestellungen, welche die Indust- chen Geräte zwischen 5 und 20 Mio. €, oder den rie hat und den Hightech-Lösungen, die auf der Verbund und die Experimentierplattformen be- Forschungsinfrastrukturseite zur Verfügung ge- trachten. Denn das ist tatsächlich etwas, was die stellt werden, vermitteln können. heutigen Finanzmittel nicht hergeben. Auch die DFG kann mit ihrem Haushalt nur eine Ausschrei- Ich hatte von Herrn Röspel noch eine Frage nach bung für diese Größenordnung im Jahr machen. Forschungsinfrastrukturen und Forschungsbau- Da kommt es dann meist auch zu kombinierten ten. Das ist ein interessanter Punkt, den Sie an- Geräten, etwa Pad- und MRT-Systeme“. Die kos- sprechen. Ich glaube, das müsste man in der Tat ten dann auch 8 Mio. € pro Stück. Aber ansonsten weiter beleuchten. Kann man über gemeinsame gibt es eigentlich keine Möglichkeit, solche mit ei- Forschungsbauten zwischen außeruniversitären nem flächendeckenden Zugang dringend benö- Einrichtungen und Universitäten Strukturen tigte Methodenplattform in Deutschland zu finan- schaffen, die es den Universitäten leichter machen zieren, nachhaltig zu etablieren und nicht von oder direkt ermöglichen, einen neuen Zugang zu eingeworbenen Projekten abhängig zu machen. diesen Forschungsinfrastrukturen zu ermögli- Das ist eine nationale Infrastruktur, die ein Land chen? Es gibt Beispiele, wo das gemacht wurde wie Deutschland leisten muss. und es hervorragend funktioniert. Und darüber könnte man nachdenken; 91b GG ist da ein inte- ressantes Vehikel, um intersektorale Forschungs- Und an vielen dieser Projekte, Frau Dr. Raatz, sind bauten aufzuziehen, welche in der Zukunft, in der Tat auch Industrievertreter beteiligt, die glaube ich, herausragende Möglichkeiten bieten Hand in Hand gehen, denn es geht natürlich um würden. Forschung, aber es geht auch in vielen Fällen um Technologie. Und das kann man nicht trennen. Ich glaube, dass wir in Deutschland so etwas ein- Vorsitzende Patricia Lips: fach leisten müssen und dass wir, Herr Gehring, Vielen Dank. Frau Dzwonnek. bei dem Auslaufen dieser Finanzierung auf die Widmung dieser Mittel zumindest stark achten müssen, damit sie nicht einfach nur in den Län- Dorothee Dzwonnek (DFG): derhaushalten versickern, sondern es muss ein „Zaun darum gelegt werden“. Und das kann nur Zunächst einmal zu Ihrer Frage zu den Schwellen- vom Bund definiert werden. Richtig wäre, wenn werten, Herr Röspel: der Bund außerdem noch darüber nachdenkt, ob er Art. 91b GG, der über viele Jahre erstritten Wir setzen uns schon seit langem dafür ein, und wurde, auch wirklich für etwas investiert, was ich habe mit Herrn Nelle, glaube ich, schon vor ganz Deutschland in ein stabiles Wissenschafts- drei Jahren erörtert, dass die 50 Millionengrenze land umwandelt. Das ist vielleicht nicht so drama- natürlich für einige wenige große Infrastrukturen tisch wie die Exzellenzinitiative, aber es würde Sinn macht, aber dass es ein ganz großes Feld von der Wissenschaft vielleicht sogar mehr geben, nötigen Methoden-Plattformen gibt, was tatsäch- lich von der jetzigen Finanzierungs- und auch von

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denn ich glaube, wir kommen ohne diese Metho- Erstens geht das nicht ohne Mittel, und die müs- den nicht aus. sen bei jeder Wissenschaft, bei jeder Forschung, bei jeder Forschungsinfrastruktur eingeplant wer- Herr Volmering, Sie wollten drei konkrete Maß- den. Diese Mittel müssen natürlich in einem ver- nahmen genannt haben, insbesondere auch im Be- nünftigen Konzept verwendet werden und basie- reich der Digitalisierung. Ich glaube, als erstes ren meiner Ansicht nach vor allem auf dem Her- müssen wir für die Frage der Forschungsdaten- anziehen junger Leute, die fähig sind, ihre Begeis- speicherung ein wirklich überzeugendes, ein vali- terung für diese Wissenschaft auch der Öffentlich- diertes Konzept haben. Diesbezüglich sehe ich keit zu vermitteln. Das bedeutet, ich muss eine an- aber Land, weil wir ein Projekt als Miniplanver- dere Sprache lernen. Ich kann ja den Inhalt nicht such in einem kleineren Maßstab in unserem in der Sprache der Wissenschaft der Öffentlich- kommenden Hauptausschuss, haben werden. Das keit vermitteln, sondern ich muss Vergleiche mit Projekt heißt „GeRDI“ und wird von einem Leib- dem Alltag ziehen, ich muss eine Änderung in der niz-Institut gestellt. Das ist ein guter Antrag, wenn Argumentation und in der Sprache finden. Ich er läuft, und ich gehe davon aus, dass er positiv muss generelle Konzepte für die Weiterbildung beschieden wird. Dann haben wir auf dieser Basis und Dinge zum Anfassen haben. Ich muss zum eine Möglichkeit, das Modell in ein paar Jahren Beispiel für die Lehrer Kurse nicht nur in der, in auszurollen, und wir haben hier vor allen Dingen unserem Fall in der Physik, sondern eben auch in einheitliche Nutzungsstandards und einheitliche der Mythologie anbieten. Und, was ich für einen Zugriffsmöglichkeiten. Damit gelingt es, eine schönen Erfolg, zum Beispiel das CERN-Lehrer- Ebene zu schaffen, wo mit einem bestimmten ver- programm halte, ist, dass wir vor ein paar Jahren abredeten „Alphabet“ gearbeitet wird. Das ist das Besuch aus der Dominikanischen Republik von eine. der Vizepräsidentin hatten. Ich glaube, jeder ver- Dann glaube ich, dass wir uns das Konzept zur bindet die Dominikanische Republik mit Urlaub; Rechnererneuerung nochmal anschauen müssen. ich bin da nicht der Einzige. Warum ist die Vize- Dabei geht es nicht nur um die drei Großrechner, präsidentin gekommen? Weil sie Lehrertrainer die zwischen Stuttgart und Jülich hin und her ge- schicken wollte; 20 Lehrer für anderthalb Jahre, hen, sondern es geht vor allen Dingen um die et- die am CERN Methoden des Physikunterrichts ler- was kleineren, sogenannten Landeshochleistungs- nen sollten und dadurch ein neues Curriculum in rechner (tier 2), die man auch braucht, und zwar Physik in der Schule aufsetzten. ebenfalls mit einer Größenordnung von acht bis Wenn Sie solche Programme haben, dann kriegen zehn Standorten, die aber dann auch ein einheitli- Sie die Faszination weiter. Sie brauchen aber, wie ches Portal definieren, so dass dort auch deutsch- gesagt, das Konzept, Sie müssen mit den Medien landweit mit einer einheitlichen Sprache Bedarfe zusammenarbeiten, junge Leute heranziehen, die eingebracht werden können, die dann von dem diese Konzepte umsetzen. Was ich außerdem für Personal an dem Rechnerstandort bearbeitet wer- einen sehr schönen Erfolg halte, im Jahre 2012 den. Das sind die drei Dinge, die ich mir, wirklich wurde das Higgs-Boson, auch Higgs-Teilchen ge- auf den Punkt gebracht, im Apparativen vorstellen nannt, entdeckt. Heute wird man immer gefragt, kann. was das bedeutet und wie das kommt, kam und so weiter. Es ist schon ein großer Erfolg, dass die Leute vier Jahre danach noch über so eine Entde- Vorsitzende Patricia Lips: ckung reden. Das heißt, da wurde ein wirklich Herr Professor Heuer. langfristiges Konzept aufgesetzt, wie man das ver- mittelt. Ich fand es auch damals sehr toll, dass es in den Prof. Dr. Rolf-Dieter Heuer Journalen als „Giant Heap for Science“ bezeichnet (Deutsche Physikalische Gesellschaft e. V.): wurde. Es ging nicht um Teilchenphysik, es ging nicht um Physik, es ging um die Wissenschaft. Herr Albani, wie kann ich die Faszination nach- Und ich denke, das ist ein Grundkonzept von haltig verbessern oder erhalten? Das ist eine gute maßgeblicher Wichtigkeit. Wir müssen etwas aus Frage:

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unserem eigenen Wissenschaftsgebiet rausgehen Prof. Dr. Wilfried Juling (HRK): und der Wissenschaft Fragen stellen, und zwar Herr Gehring hatte nach der digitalen Forschungs- nicht nur in unserem Gebiet. infrastruktur gefragt, was die Ausstattung und Was brauchen Sie? Sie brauchen natürlich Leucht- Strategie betrifft. Ich will versuchen, dies von vier turmprojekte, und Sie brauchen schöne Pro- Betrachtungsebenen zu beleuchten, auch den Zu- gramme, wie zum Beispiel das „German Young stand, insbesondere in Deutschland. Physicists Tournament“, wo die jungen Leute ler- Das erste ist die Ebene des Networking. Ohne digi- nen, Wissenschaft und Forschung zu interpretie- tale Kommunikation funktionieren keine Ver- ren, sich gegenseitig ihre Erkenntnisse zu vermit- bünde. Es geht sogar so weit, dass bestimmte la- teln und darüber zu streiten. Das Schöne bei die- bormäßige Entwicklungen heutzutage, die wir sen Projekten ist, dass da an die 50 Prozent Mäd- dringend benötigen, wie zum Beispiel der Ver- chen partizipieren. Das ist ein Mittel, um auch in such, die Energiewende zu beherrschen, nicht der Gender-Balance ein bisschen voranzukom- ohne diese kommunizierenden Röhren, was Ener- men. gieforschung, was Informations- und Kommunika- Internationale Koordination ist notwendig, und tionstechnologie betrifft, weitergeleitet werden die Zusammenarbeit sollte verbessert werden. Die können. Frage ist, wie das geschehen sollte, und das hängt Die zweite Ebene ist die Ebene des Computing. vom Themengebiet, vom Wissenschaftsgebiet und Also wir sprechen über Rechner, aber ganz allge- von der Größe der Fragestellungen ab. Für die mein auch über Datenverarbeitung. Groß-Großgeräte müssen Sie das international ko- ordiniert machen, weil es da zum Teil nur ein Ge- Die dritte Ebene ist die Ebene der Daten. Dort rät weltweit gibt. In der Teilchenphysik haben wir sprechen wir heutzutage überwiegend über das die europäische, die amerikanische sowie die ja- Phänomen Big Data. Big Data reflektiert zum ei- panische Roadmap, und die sind ziemlich iden- nen, dass es sich um ein sehr kostbares Gut han- tisch. Nur die Schwerpunkte liegen unterschied- delt. Wir fahren sehr kostspielige Experimente, lich, womit sie sich über die Kontinente verteilen. machen kostspielige Beobachtungen und müssen Bei kleineren Großgeräten hängt es dann davon mit den Daten sehr gut umgehen. Insbesondere ab, welchen Schwerpunkt eine Region setzen will, müssen wir so gut damit umgehen, dass wir die- aber in der Koordination kann man erstmal über ses Thema „Data Analysis“ auch gut vorantreiben. das „Wer“, das „Was“ und das „Wie“ reden: Wer kann was, und wer wirft den Hut in den Ring. Das Die vierte Ebene ist dann die Ebene der Services, muss international abgestimmt werden und auch, der Dienste, der Unterstützung und so weiter. wer sich dann an diesen entsprechenden Geräten Wie sieht es jetzt in Deutschland aus, Herr Geh- beteiligt. Je kleiner die Geräte werden, desto öfter ring? Wir haben in Deutschland seit vielen, ich können sie Forschungsinfrastrukturen duplizieren glaube, seit dreißig Jahren das Deutsche For- oder vervielfachen. Sie müssen ja auch Überprü- schungsnetz. Das wurde aus der Community wie fungsmöglichkeiten haben. Und insofern hängt es eine eigene Selbsthilfeeinrichtung entwickelt. Das damit zusammen, heißt aber nicht, dass ich nicht ist ein Verein der Wissenschaft und wird auch koordinieren, nicht vernetzen und nicht zusam- von der Wissenschaft getragen. Das funktioniert menarbeiten kann. Das ist alles, was ich dazu sa- ganz hervorragend. Ich sage das deswegen leiden- gen kann. schaftlich, weil ich sechs Jahre Vorstandsvorsit- zender dieses Vereins war. Dieses Deutsche For- schungsnetz ist in die europäischen Netze einge- Vorsitzende Patricia Lips: bunden; allen voran ist das GÉANT-Projekt. Wenn Sie bei ESFRI nachlesen, befasst sich ESFRI genau Herr Professor Juling. auch mit diesen vier Ebenen und sagt, GÉANT muss weiterentwickelt werden. Genauso erleben wir die Entwicklung des Deutschen Forschungs- netzes.

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der Klimaforschung, der Energieforschung, im Forschungsbereich der Materie, sollen die Daten, Auf der zweiten Ebene, der des Computing, kann die wir dort erzeugen, vorliegen. Diese verschie- man feststellen, dass wir über all die vergangenen denen Daten sollen dann föderativ miteinander Jahre ein gut funktionierendes Ecosystem aufge- zusammenwirken. Da fließt wieder das zusam- baut haben. Ecosystem bedeutet dabei, dass wir men, was ich eben gesagt habe: Wir brauchen sowohl, was die Breite als auch die Leistung an- Kommunikation, wir brauchen verarbeitende Sys- geht, über all die Jahre ein gutes Prinzip und da- teme für die Datenanalyse, wir brauchen aber mit auch eine gute Weiterentwicklungsstrategie auch, und deswegen Föderation, die Korrelation vorliegen hatten. Ich kann das von oben nach un- der verschiedenen Daten. Und da kommen zuneh- ten aufzählen: Auf europäischer Ebene habe ich mend auch die Sozialdaten ins Spiel, nämlich das das Gauss Center für Supercomputing, dieses Wissen um das Verhalten der Gesellschaft zum Dreigestirn in München, Stuttgart und Jülich, das Beispiel angesichts einer bestimmten Entwicklung bereits von Frau Dzwonnek erwähnt wurde. Wir im Energiebereich, vielleicht auch unter unter- haben darunter die Gauss-Allianz, das sind zwölf schiedlichen klimatischen Bedingungen. Solche High Performance Computing Center, die firmie- Erkenntnisse könnte man dann in Zukunft aus ren, was die Größenordnung der Installationen be- diesen Daten gewinnen. Deswegen ist es nicht nur trifft, zwischen 5 und 20 Millionen €. Das ist das, ein kostbares Gut für die einzelne Community, was angesprochen wurde, was bis dato über eine sondern für uns insgesamt. Was haben wir ge- gesonderte Förderlinie gefördert wurde, nämlich macht? Der Bund hat zwei Kompetenzzentren für zum Ausbau dieser tier2-Ebene. Big Data gefördert, eins in Berlin, eins in Dresden. Dann gibt es eine ganz wichtige Ebene, nämlich Am Standort in Karlsruhe haben wir gemeinsam die Ebene „lokal“ in den Hochschulen, lokal am mit der Industrie ein Smart Data Innovation Lab Arbeitsplatz der Wissenschaftler, und das ist die gegründet, wo wir uns gemeinsam mit der Wirt- tier3-Ebene. Dort hatten wir zu früheren Zeiten, schaft diesen Fragen der Datenanalyse zuwenden. zu Zeiten des Hochschulbauförderungsgesetzes Ich kann mir gut vorstellen, dass wir das dort in noch Programme. Wir hatten das Wissenschaftler- den entsprechenden Gremien wieder aufzugreifen Arbeitsplatz-Programm, wo also begutachtet und haben, um daraus eine Strategie zu entwickeln. gut geordnet, auch auf Basis der Konzepte der Wenn ich auf das Thema „Services und Werk- Hochschulen, die Gelder vom Bund und vom zeuge“ eingehe, dann muss in diesem Zusammen- Land bereitgestellt werden. Das ist das, was ich hang die Frage beantwortet werden, was wir von eben kritisiert habe: Genau das ist mit dem Über- unseren hervorragenden jungen Leuten erwarten, gang auf Art. 91b GG und Art. 143c GG weggefal- um all diese Dinge, die wir für Forschungszwecke len. Und man sollte mal darüber nachdenken, ob einsetzen, auch tatsächlich gebrauchsfertig zu ma- man das nicht wieder programmatisch aufgreifen chen. sollte. Nebenbei gesagt, es tut mir leid, wenn ich das nochmal sagen muss, aber in Baden-Württem- Noch eine kurze Bemerkung aus Sicht der HRK. berg haben wir das genauso gemacht. Wir haben Ich gehöre ja dieser ständigen Kommission für di- mit dem Land Projekte entwickelt, in denen wir gitale Informationen an. Wir betreiben dort das diese tier3-Ebene, nämlich was die Hochschulen Thema für die Hochschulen, sich dem For- und die Wissenschaftler betrifft, programmatisch schungsdatenmanagement konsequent zuzuwen- wieder in Gang gesetzt haben; das wurde auch den. Das geht zunächst einmal mit der Bewusst- von der DFG in der Begutachtung hochgelobt. seinsbildung einher. Wir sind jetzt soweit, dass wir demnächst einen Workshop mit den Hoch- Komme ich nun zu den Daten. Bei den Daten sind schulleitungen veranstalten, damit sie erkennen wir noch nicht so weit, als dass wir von einer können, wie man das denn zu machen hat. Natür- richtig etablierten Strategie sprechen könnten. Wir lich kommt dann unweigerlich immer wieder die haben Betrachtungen, die auf der einen Seite mit Frage auf, wo die zugehörige Infrastruktur sei. Wir dem Thema „Föderation“ einhergehen, das heißt, brauchen die Infrastruktur. Da schließt sich dann das ist auch ein Vorschlag, der in der Helmholtz- wieder der Kreis, dass wir genau dafür, was un- Gemeinschaft verfolgt wird; an verschiedenen sere Datenbeherrschung betrifft, entsprechende Zentren, in denen die Daten entstehen, im Bereich

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programmatische Ansätze benötigen. Wert legt, dass sie alle in der Klimaforschung ab- gelegt werden, dass sie auch Open Access haben, Was eine ganz wesentliche Rolle, nicht nur auf aber sie sind in unterschiedlichen Repositorien. deutscher, sondern auch auf europäischer Ebene Zurzeit werden Portale entwickelt, die auf diese spielt, ist das Thema der Datensicherheit, das klug Repositorien zugreifen, um einem Nutzer zu er- im Auge behalten werden muss. Wir können nicht sparen, dass alle einzeln anfragen. Das ist relativ beliebig unsere Daten aus den Hochschulen her- gut entwickelt, muss aber natürlich aufrechterhal- aus in andere Rechtsräume abgeben, weil wir ten werden. keine entsprechende Infrastruktur zur Verfügung haben. Das heißt, wer das Stichwort „Dropbox“ Und meine Bitte betrifft eigentlich diejenigen, die kennt, weiß, wovon ich rede. Das darf einfach Projektgelder bewilligen: Für jedes bewilligte Pro- nicht sein. Das wird in ein ganz anderes Hoheits- jekt müssen auch Mittel für die Datenablage und gebiet verlagert, und das können wir uns auf die Datenhaltung bewilligt werden sowie auch da- Dauer mit den Daten nicht leisten. Danke. für, dass diese langfristig in hoher Qualität zur Verfügung stehen. Sonst wird es nicht möglich sein, das auch noch aus den normalen Projektmit- Vorsitzende Patricia Lips: teln zu stemmen.

Frau Professor Lochte. Das, was die Daten aufrechterhält, wird dann nicht im Projekt, sondern in dem Datenzentrum verbraucht. Also da werden Mittel dann auch wei- tergegeben. Es würde uns sehr helfen, da weiter Prof. Dr. Dr. h.c. Karin Lochte (Alfred-Wegener-Institut): zu kommen, und wir werden auch auf internatio- naler Ebene vergleichbare Rahmenbedingungen Frau Dr. Raatz hatte eine Frage zur Vergleichbar- anstreben. Im Augenblick ist die Einigung aller keit und den Rahmenbedingungen von Daten für Arktis-Anrainerstaaten zum Beispiel ein ganz gro- die Klimaforschung. Dabei geht es nicht nur um ßes Thema. Daten, die wir in Deutschland erheben, sondern auch um die internationale Vergleichbarkeit. Dann war noch die Frage, wie man die Datengene- ration, die Erhebung, die qualitätsmäßig und lang- Es gibt mehrere Ansätze, um das zu verbessern: fristig aufrechterhalten wird, auch honorieren und Zum einen gibt es seit neuestem Journals, in de- sicherstellen kann. Ich hatte schon erwähnt, dass nen man Daten publizieren kann, in denen auch das mit einer Datenpublikation geht. Das ist zum ganz klar darlegt werden muss, welche Methoden Beispiel ein Thema, bei dem auch Menschen, die angewandt werden und welche Metadaten dazu- hauptsächlich mit der langfristigen Beobachtung gehören. Das hilft, um diese Rahmenbedingungen von Klimadaten zu tun haben, Publikationen vor- festzulegen. Aber ich stimme durchaus zu, dass es weisen können. Dann gibt es außerdem die Mög- sich um ein ganz kritisches Thema handelt, das lichkeit, diese Personen in eine höhere Tarifein- wir auch weiterhin besprechen müssen. In den gruppierung einzusetzen und nicht auf einer un- physikalischen Fächern ist das schon sehr gut ge- tergeordneten Ebene, um einen Anreiz zu schaf- löst; bei den meteorologischen Daten zum Beispiel fen. Schlussendlich gibt es noch die Möglichkeit funktioniert das sehr gut sowie vielleicht auch in der leistungsorientierten Mittelvergabe, wobei da- der Ozeanografie. Wir haben aber ein ganz großes bei der Punkt ist, wie wir Kriterien erstellen kön- Problem bei den biologischen Daten, die noch nen, die es uns ermöglichen, diese leistungsorien- überhaupt nicht abgestimmt sind, genauso wenig tierte Mittelvergabe transparent zu machen. So- wie die Methoden. Das ist ein Thema, das wir weit sind wir noch nicht. Es gibt ein paar Ansätze; noch erarbeiten müssen, um zu sehen, wie die Da- in der Helmholtz-Gemeinschaft versuchen wir ten in vergleichbarer Form erhoben und wie sie zum Beispiel, dieses Thema aufzugreifen. Wir be- zur Verfügung gestellt werden. schäftigen uns auch mit dem Thema, wie Perso- nen, die in der Öffentlichkeitsarbeit zum Beispiel Es gibt dabei auch das Thema, wo die Daten lan- oder im Transfer von Wissen tätig sind, honoriert den. Im Augenblick ist es so, dass man darauf werden können.

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Dann hatte ich von Herrn Dr. Lengsfeld zwei Fra- Und zum Abschluss erneut Professor Prenzel. gen. Er hatte gemeint, ich hätte das sehr kritisch gesehen. Ich bin nicht kritisch, aber ich denke, dass wir sehr viel Geld in die großen Infrastruktu- Prof. Dr. Manfred Prenzel (Wissenschaftsrat): ren stecken, und daher müssen wir auch sehr gut planen und sehr gut überlegen. Der Vorschlag, Herr Gehring hatte mir die Frage gestellt, wie das dass wir auch Ausstiegsszenarien überlegen müs- mit einer Art Turnus für Roadmap-Prozesse aus- sen, der ist sehr wichtig; auf jeden Fall sollte man sieht. Von Seiten des Wissenschaftsrates halten auch schon überlegen, wann es sich nicht mehr wir es für sinnvoll, alle vier Jahre einen Roadmap- lohnt, so etwas nicht zu betreiben. Dazu möchte Prozess bezogen auf diese ausgereiften Konzepte ich aber sagen, dass Sie ein Schiff oder ein Flug- aufzusetzen. Das müsste man natürlich auch syn- zeug verkaufen, aber einen Rechner nicht erneu- chronisieren, aber ich denke, das synchronisiert ern können, Sie können aber eine Großeinrich- sich vermutlich dann auch mit Roadmap-Prozes- tung, wie einen Beschleuniger mit sehr vielen Ge- sen, die auf der Ebene von Helmholtz oder WGL bäuden nicht einfach abschalten. Also man kann (Wissenschaftsgemeinschaft Gottfried Wilhelm sie abschalten, aber das ist dann eine sehr teure Leibniz) stattfinden. Die Synchronisierung mit ES- Angelegenheit. Insofern ist das Thema „Flexibili- FRI ist natürlich auch wichtig, wenn man die Up- sierung der Aufgaben“ ein ganz wichtiger Punkt, dates sieht, die in bestimmten Zeitpunkten kom- den man aufgreifen muss, um regelmäßig zu über- men. legen, welche Aufgaben mit diesem Großgerät Was ich aber gerne noch betonen wollte, wäre, wirklich wichtig und durchführbar sind. Denn dass wir uns eine deutlich höhere Frequenz für solche Großgeräte sind auch für andere Themen Skizzen vorstellen können. Wir halten es für sehr einsetzbar. sinnvoll und wichtig, dass wir Gelegenheiten ge- Und der letzte Punkt betraf die Frage, wie man die ben, Ideen zu generieren und Ideen auch relativ Hochschulen auf Augenhöhe beteiligen könne. kurzfristig zu entwickeln. Deswegen würden wir Wenn wir dazu eine gute Antwort fänden, wäre uns vorstellen können, zwei Jahre tatsächlich so das sehr schön. Ich möchte nur einen Vorschlag eine Skizzenbeurteilung zu machen; diese muss machen: In der Helmholtz-Gemeinschaft gibt es nicht den gleichen Aufwand haben, wie die der die sogenannte „Leistungsklasse II“. Das heißt, das reifen Konzepte, aber für die Wissenschaft wäre sind Großgeräte, bei denen Auflagen gemacht wer- das extrem hilfreich, eine Chance zu haben, nicht den, dass mehr als 50 Prozent der Nutzung extern erstmal jahrelang an einer Idee zu arbeiten und laufen muss und dass die Finanzierung im Haus- dann zu scheitern, sondern verschiedene Ideen halt sicher eingestellt ist. Man könnte also für die auszuprobieren und damit auch sehr schnell zu Betreibung der Großgeräte an den Hochschulen werden. für deren Haushalt als spezielle Mittelzugabe ei- Herr Lenkert hatte die Frage in Bezug auf medizi- nen Betrag zuweisen, der dann aber nur für dieses nische Datensätze, Krebsregister und Ähnlichem Gerät eingesetzt werden darf und damit auch si- gestellt und gefragt, wie man die Kontinuität si- cherstellt, dass eine Hochschule dieses Gerät be- chern könnte. treiben kann. Die Hochschulen haben dann natür- lich auch die Auflagen, dass sie das für externe Zum einen reden wir hier über Sammlungen, wir Nutzer, mehr als 50 Prozent, öffnen müssen, einen reden zum anderen aber natürlich über Monito- wissenschaftlichen Beirat dabei haben und Ähnli- ringsysteme. Und für solche Monitoringsysteme ches, um ähnlich wie bei Großforschungseinrich- wäre aus meiner Sicht wieder sehr wichtig, dass tungen ein solches System auch langfristig betrei- diese nicht einfach als Monitoring stattfinden, ben zu können. Aus dem jetzigen Haushalt der sondern an die Forschung zurückgebunden sind. Hochschulen würde ich sagen, ist das in den Das heißt, wir müssen natürlich auch bei Infra- meisten Fällen sonst nicht möglich. Vielen Dank. strukturen sicherstellen, dass sie alle paar Jahre in ihrer Qualität überprüft werden und dass sie up- gedatet werden, dass sie anschlussfähig sind, zu Vorsitzende Patricia Lips: dem, was in der Forschung passiert. Also in dieser Hinsicht müssen wir natürlich sehen, dass wir

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dort Infrastrukturen anbinden, wo wir erwarten sichtlich der Finanzierung von Projektkosten ha- können, dass diese Verknüpfung mit Forschung ben? Brauchen wir ein anderes Denken hinsicht- sehr gut stattfindet. Dabei gibt es natürlich noch lich der Struktur eines Projektes und der Projekt- das Datenmanagement. Herr Professor Juling hat ja kosten, einschließlich solcher Programme wie schon eine Menge über Datensicherung und Da- zum Beispiel „Exzellente Köpfe“? Müssen wir tenmanagement gesprochen, aber in dieser Hin- hier nicht auch anders denken, wenn Herr Profes- sicht würde ich gerne nochmal darauf hinweisen: sor Prenzel zu Recht sagt, da kommt jemand, der Wir brauchen die Monitoringsysteme, sie müssen auch viel Geld für sein eigenes Projekt hat, aber forschungsorientiert werden, und wir müssen wer finanziert jetzt den Arbeitsplatz? noch mehr Überlegungen da hineinstecken, inwie- weit wir gerade auch im medizinischen oder sozi- alwissenschaftlichen Bereich Datensätze „poolen“ Vorsitzende Patricia Lips: oder „mergen“, also zusammenführen, sodass wir einen sehr viel höheren Ertrag daraus ziehen kön- Vielen Dank. nen; natürlich unter Berücksichtigung von Daten- Die Kollegin Scho-Antwerpes von der SPD-Frak- schutzgrundsätzen, aber das ist eine große Heraus- tion. forderung, die wir haben. Und dafür brauchen wir eben auch geeignete Einrichtungen, die das tragen können. Abg. Elfi Scho-Antwerpes (SPD): Vielen Dank, Frau Vorsitzende. Vorsitzende Patricia Lips: Ich habe an Frau Dzwonnek und an Herrn Profes- Kommen wir nun zur Schlussrunde. sor Prenzel eine Frage. Die Kollegin Dinges-Dierig von der CDU/CSU- Wie bewerten Sie die Verzahnung des Zusammen- Fraktion hat das Wort. spiels zwischen deutscher und europäischer Ar- beit gerade im Hinblick auf Strategieentwicklun- gen? Es gibt ja sehr gute Strategieforen, wie ESFRI Abg. Alexandra Dinges-Dierig (CDU/CSU): etc. Und viele Fragen, ob es sich um Klima, Ge- sundheit oder Digitalisierung handelt, wurden be- Vielen Dank, Frau Vorsitzende. reits angesprochen; inwieweit sind wir da gut auf- gestellt oder gibt es Verbesserungen, auch im Hin- Ich habe eine Frage an Herrn Professor Dosch. blick auf die Evaluierung, die ja auch schon ange- Diese ist möglicherweise auch schnell mit einem sprochen wurde? Dankeschön. Ja oder Nein, je nachdem, wie Sie den ersten Teil der Frage beantworten, zu beantworten.

Sie hatten eben dargestellt, wie die Nutzung der Vorsitzende Patricia Lips: Großgeräte durch verschiedene Wissenschaftler- gruppen oder auch Wissenschaftler stattfindet Der Kollege Lenkert von der Fraktion DIE LINKE. und wie das Verfahren ist. Deshalb meine Frage: Findet durch die Nutzergruppen auch eine Erstat- tung der anteiligen Kosten an dem Großgerät statt? Abg. Ralph Lenkert (DIE LINKE.): Und wenn ja, wie wird das kalkuliert? Das heißt, Vielen Dank, Frau Vorsitzende. wer macht das, einschließlich Abschreibung und dergleichen, auch vor dem Hintergrund der Prob- Mal ein ganz anderes Thema: Die Finanzierung leme der Rücklagenbildung verschiedener wissen- der Großforschungseinrichtungen beziehungs- schaftlicher Institutionen? weise der Forschungsinfrastruktur ist dreigeteilt; das heißt wir haben Bundesmittel, wir haben ei- Und meine nächste Frage geht an Frau Dzwonnek: nen gemeinsamen Länderfonds, und wir haben Aus all dem, was heute gesagt wurde, folgt für Sie die Finanzierung durch das jeweilige Bundesland. als DFG daraus, dass wir Handlungsbedarf hin-

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Die Verteilung der Großforschungsstandorte er- folgte aber nicht ganz gleichmäßig über die Land- karte der Bundesrepublik. Gleichzeitig ist natür- lich ein Großforschungsstandort mit einem Re- Abg. Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU): nommee-Gewinn verbunden, was wiederum Fol- gewirkungen für die Forschung in der jeweiligen Ich hätte gern Herrn Professor Heuer zu seiner Region hat, die deutlich, wie wir hören, über das neuen Funktion als Direktor von SESAME (Syn- hinausgehen, als dass es nur Zugangsschwierig- chroton-Light for Experimental Sciences and Ap- keiten für externe Hochschulen gibt. Sondern es plications in the Middle East) befragt, weil ich ist schwierig, bei gewissen Forschungseinrichtun- jüngst erst da war, aber die Frage erspare ich mir gen überhaupt Zeiten zu bekommen. jetzt, und frage nochmal nach dem Verhältnis von deutscher Roadmap und ESFRI. Sie hatten ja be- Insofern wäre meine Frage an Herrn Professor Ju- tont, dass das Zusammenspiel wichtig sei. Die ling und Frau Dzwonnek, wie man zukünftig eine deutsche Roadmap orientiert sich ja auch an ES- bessere Regionalisierung von Forschungseinrich- FRI. Jetzt wollte ich das mal an zwei Beispielen tungen sicherstellen könnte? Weil die Finanzie- konkret machen; und zwar ACTRIS und EST sind rung zumindest zu zwei Dritteln von den Ländern jetzt sowohl bei ESFRI als auch im deutschen oder geleistet wird, haben diese ein berechtigtes Inte- nationalen Roadmap-Prozess vorhanden; kann resse daran, dass diese Finanzierung auch in je- man vielleicht an dem Beispiel einmal sagen, was dem Bundesland ankommt. Wie könnte man das das konkret heißt, wenn so eine Infrastruktur so- sicherstellen, und wie könnte man gleichzeitig da- wohl hier als auch dort gegebenenfalls unterstützt mit eine bessere Entwicklung in der Fläche errei- wird? Das wäre meine Frage an Sie, Professor chen? Gibt es dafür ausreichende Förderinstru- Heuer. mente, oder müssten wir andere Instrumente ent- wickeln, um das sicherzustellen? Und Frau Professor Lochte hätte ich gerne gefragt, welche Auswirkungen denn die ESFRI-Roadmap- Projekte auf die Ausgestaltung des europäischen Forschungsraumes haben? Ob Sie dazu etwas sa- Vorsitzende Patricia Lips: gen können, wie sich das auswirkt auf den ERA? Der Kollege Gehring von der Fraktion BÜNDNIS Danke sehr. 90/DIE GRÜNEN.

Vorsitzende Patricia Lips: Abg. Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Kollegin Dr. De Ridder von der SPD-Fraktion. Vielen Dank. Ich habe noch eine strukturelle Frage an Herrn Professor Prenzel und Frau Dzwonnek. Abg. Dr. Daniela De Ridder (SPD): Die Einbeziehung privater Mittelgeber und kom- Vielen Dank, Frau Vorsitzende. merzieller Anbieter in die Frage der Finanzierung – welche Chancen, Risiken, Grenzen, auch Vo- Meine Frage richtet sich an Frau Professorin raussetzungen sehen Sie sowohl einerseits beim Lochte und Herrn Professor Prenzel. Bau und Betrieb von Forschungsinfrastrukturen Es tut mir leid, wenn es jetzt vielleicht ein biss- als auch bei der Mammutaufgabe Digitalisierung chen grundsätzlicher wird, aber ich habe den Pro- und Big Data? Wäre das ein Potenzial oder raten zess noch nicht so ganz durchdrungen, und Sie Sie, lieber die Finger davon zu lassen? sehen mir das bitte nach. Was mich umtreibt, ist die Sorge, dass wir die Vorsitzende Patricia Lips: Auswahlkriterien so setzen könnten, ich relati- viere das auch gerne, dass wir Gefahr laufen, wie- Der Kollege Dr. Stefan Kaufmann von der derum nur Mainstream-Forschung zu betreiben. CDU/CSU-Fraktion. Deshalb interessiert mich außerordentlich, wenn

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Sie, und so konnte das nachgelesen werden, auf Vernetzung optimaler werden kann. Ein wichtiger die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit Teil dazu sind die Daten, die erhoben werden. Es der Aufgabe setzen, Agenda-Setting zu betreiben. ist von mehreren von Ihnen auch schon angeklun- Dann muss es uns doch auch umtreiben, welches gen, dass die Datenaufnahme, die Erhebung, aber dann die Auswahlkriterien in diesem Prozess auch die Sicherung ein wichtiger Teil ist. sind. Ich habe verstanden, dass es hier zu einer Einzelbewertung der Vorhaben kommen darf oder sogar kommen sollte, aber mir ist noch nicht klar, Herr Professor Heuer, Sie sprachen davon, und welche Kriterien Sie dann tatsächlich zugrunde das hat mir als Nachhaltigkeitspolitikerin gut ge- legen, die eben vermeiden helfen, dass man sich fallen, dass gerade die großen Projekte internatio- sozusagen doch nur in eine Richtung bewegt; Herr nal auch für die Nachhaltigkeit, die Erhebung der Professor Heuer hatte vorhin auch die Nach- Daten um die Sustainable Development Goals rea- wuchswissenschaftlerinnen angesprochen; das lisieren zu können, wichtig sind. Wie kann man könnte ja ein zentraler Punkt sein. das im europäischen Raum, aber auch im interna- tionalen Raum daten- und urhebersicher gestalten, Mich interessiert in diesem Kontext, und wir ha- auch, was die Verwendung angeht? Das halte ich ben beispielsweise eine hohe Verantwortung in für eine wichtige Frage. der Legitimationsfunktion, deshalb sehen Sie mir meine Frage nach, welche Bedeutung etwa die Und Frau Professor Lochte hat eben auch nochmal Wissenschaftskommunikation an der Stelle hat? gesagt, wie an manchen Stellen die Datenerhe- Welche Funktion hat die Inter- oder gar Transdis- bung und –sicherung funktioniert. Vielleicht kön- ziplinarität? Wir hören immer von Nachwuchs- nen Sie nochmal deutlich machen, woran wir wissenschaftlern, dass das zwar gewünscht wäre, dringend arbeiten müssen, um dieses große Poten- dass sie so einen appellativen Charakter hat, aber zial, was wir erheben, auch sicher nutzen zu kön- Inter- und Transdisziplinarität dann doch nicht nen? Danke. belohnt werde. Und wie gesagt, vor dem Hinter- grund der Governance-Strukturen, die auch ange- sprochen wurden, lese ich das in den Texten im- Vorsitzende Patricia Lips: mer im Zusammenhang mit Effektivität. Insofern interessiert mich auch nochmal, gerade wenn es Und der letzte Fragesteller ist der Kollege Dr. eine Einzelprüfung geben soll, wie diese denn ge- Rossmann von der SPD-Fraktion. messen werden soll? Woran soll das denn mög- licherweise auch aufgehängt werden? Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Und mein letzter Punkt: Welche Rolle spielt bei- spielsweise so etwas wie Risikokapital, wie Ven- Mir geht es ganz konkret um diesen Roadmap-Pro- ture-Capital, das wir eigentlich brauchen, insbe- zess als neues Instrument, und zu dem es jetzt ein sondere um nochmal zu ermutigen, bereits ausge- paar Erneuerungsvorschläge gibt. tretene Pfade in der Forschung zu verlassen und vielleicht das eine oder andere „Apart“ mal zu un- Wenn Herr Professor Prenzel vom Wissenschafts- tersuchen? Vielen Dank. rat fünf Dinge vorträgt, die sehr konkret in Bezug auf den Wiederholungsturnus sind, und jetzt so- gar noch mit vier Jahren und Skizzen nach zwei Jahren hinterlegt, dann interessiert mich, wie der Vorsitzende Patricia Lips: Vizepräsident von Helmholtz, der das dann ja we- Die Kollegin Benning von der CDU/CSU-Fraktion. sentlich umsetzen sollte, diesen sehr präzisen Vorschlag mitbewertet? Und ob das dann etwas sein kann, was wir aus dieser Ausschusssitzung Abg. Sybille Benning (CDU/CSU): als Bitte an Regierungen und andere Beteiligte mitnehmen, es dann auch so umzusetzen. Je mehr Die Frage der Internationalität ist eben bereits ein Sie übereinstimmen, umso eher wird es so kom- paar Mal gestellt worden. Ich bin auf die Antwort men, je weiter Sie auseinanderliegen, umso mehr gespannt, welche Vorschläge Sie haben, wie die müssten wir diskutieren.

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Dann fange ich mal an. Zum Zweiten gibt es ja mehrere Handreichungen, Frau Dinges-Dierig, Sie wollten wissen, wie das unter anderem den „Leitfaden zur Konzepterstel- mit eventueller Kostenerstattung bei den Nutzern lung“ vom BMBF und die Drucksache „Nationale an den Großgeräten aussieht. Die Antwort, wenn Roadmap-Prozess für Forschungsinfrastrukturen“. Sie es kurz haben wollen, ist: „Nein“. Also wir er- An einer Stelle komme ich da noch nicht klar. statten keine Kosten, aber ich will trotzdem ein Wenn man den Leitfaden aus dem Ministerium paar Dinge dazu sagen: Dahinter steckt schon ein nimmt, dann ist davon die Rede, dass in der Stufe gutes Rational, weil es aus meiner Sicht eine gute 2 eine wissenschaftsgeleitete und eine wirtschaft- Arbeitsteilung ist; auch in der Ressourcenauftei- liche Bewertung durch unabhängige Experten lung ist zwischen den Betreibern der großen Infra- durchzuführen sei. „Diese Bewertungen werden strukturen, und ich sage jetzt mal den Universitä- anschließend durch eine Abschätzung der gesell- ten, die ja große Nutznießer sind, diese Belastung schaftlichen Bedeutung der Konzepte ergänzt“; aufzuteilen. Ziel ist es ja gerade, dass nicht dieje- das steht hier. Wenn ich mir dann Ihren Leitfaden nigen, die Großgeräte nutzen, die irgendwie die vornehme, dann gibt es dort ausführliche Seiten Mittel dazu haben, das sind dann vielleicht grö- zur wissenschaftlichen und zur wirtschaftlichen ßere Arbeitsgruppen und so weiter, sondern wir Bewertung, aber die gesellschaftliche Bewertung wollen natürlich jeden an diese Großgeräte lo- ist vollkommen textlich sowie verfahrensmäßig cken, auch Nachwuchswissenschaftler, Postdocs ausgespart. und andere, die gute Ideen haben. Die Antwort lautet also: Wir laden diejenigen ein, die herausra- Meine Fragen an Herrn Professor Prenzel: Ist es gende Ideen haben. Und wenn die Ideen dann ei- vorstellbar, dass ein drittes Kapitel „Gesellschaft- ner internationalen Begutachtung standhalten, liche analog wissenschaftlicher und wirtschaftli- dann dürfen die Leute auch diese Großgeräte nut- cher Bewertung“ mit dazu kommt? Und müsste zen. Die Frage wird übrigens, Frau Dinges-Dierig, das nicht auch so sein? Und gleichzeitig die Frage: alle zwei Jahre immer neu gestellt – warum macht Wie kann ich das verstehen, dass hier in Phase 2 man das so? Ich bin dann schon ab und zu mal ge- die gesellschaftliche Bedeutung von den Wissen- fragt worden: Wenn ich spazieren gehe und ich schaftlern beurteilt werden soll, und dann blättere sehe irgendwo einen Porsche stehen, dann darf ich die Broschüre des Ministeriums um, und da ich auch nicht umsonst mit dem Porsche fahren, liegt der gesellschaftliche Nutzen allein in der Be- sondern ich muss dafür das Benzingeld bezahlen. wertung des Ministeriums? Meine Rückfrage ist Und bei der Analogie sage ich immer: Unsere Nut- also: Wie implementiert man die gesellschaftspo- zer sind nicht standardmäßig Porschefahrer, son- litische Bewertung in den Roadmap-Prozess, und dern sie sind Formel-1-Piloten, die holt man auch ist das bisher schon hinreichend und klar genug dazu, um das Potenzial dieses Porsche zu nutzen. vollzogen? Also, ich glaube, das ist eine gute Sache, das so zu belassen. Das ist im Übrigen auch international Usus, das heißt, wenn man in einem Staat wie bei Vorsitzende Patricia Lips: uns, so etwas anfangen würde, hätte das einen Do- minoeffekt auf internationaler Ebene, weil uns Es sind wieder alle Sachverständigen angespro- chen. auch die internationalen Partner nach dem glei- chen System Zugang ermöglichen. Insofern würde Die Schlussrunde eröffnet Ihnen auch die Mög- ich meinen, sollten wir an dieser sehr gut einge- lichkeit, eventuell auf Fragen zu antworten, bei spielten Arbeitsteilung sowie Kostenteilung nicht denen Sie das Gefühl hatten, Sie haben sie gar rühren. nicht gestellt bekommen. Herr Dr. Rossmann, Sie haben das mit dem Road- Herr Professor Dosch hat das Wort. map-Prozess angesprochen. Ich würde Herrn Pro- fessor Prenzel mit allem hundertprozentig zustim- men, was er zu diesem Prozess gesagt hat. Man Prof. Dr. Dr. h.c. Helmut Dosch kann sich streiten, ob man vier Jahre oder fünf (DESY - Deutsches Elektronen-Synchrotron): Jahre macht, aber auf alle Fälle muss gewährleistet

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sein, dass das regelmäßig aktualisiert wird, und behalten. Wenn Sie die Zeit sehen, die ich ange- gegebenenfalls sind ja auch Prozesse im Gange, in- sprochen habe, beschäftigt uns so ein Großgerät ternational, auf die man auch schneller reagieren typischerweise fünfzig Jahre vom Konzept bis muss, um mit irgendeiner internationalen Ent- zum Ende des Lebenszyklus. Und wenn man ei- wicklung Stand zu halten. nen dreißigjährigen Betrieb hat und die Faustre- gel, die fast überall gilt, beachtet, dass nämlich 10 Aber ich will auf einen Punkt aufmerksam ma- Prozent der Investitionskosten jährliche Betriebs- chen: Zunächst einmal, glaube ich, begrüßen wir kosten sind, dann muss man in so einem Verfah- es alle, dass dieser Prozess jetzt angefasst und auf- ren, wenn man das auch finanziell unterlegt, da- gesetzt wird. Aber es gibt natürlich auf alle Fälle mit rechnen, dass, wenn die Finanzierung des noch Justierbedarf. Und Herr Professor Prenzel Baus ungefähr 1 Milliarde € beträgt, dann muss hatte einige Dinge sehr korrekt angesprochen. Ich man Cum grano salis 4 Milliarden €, die vierfache kann dem wirklich nur zustimmen. Wenn Sie sich Summe, mit in Anschlag nehmen; man muss also den Lebenszyklus eines Groß-Großgerätes mal wissen, dass diese Summe irgendwo in verschie- ganz grob anschauen, dann braucht man vom denen Jahresscheiben bereit gestellt werden muss, Konzept bis zur Fertigstellung einer Planung, bis damit dieses Projekt vom Konzept bis zur Ab- zur Fertigstellung eines reifen Projektes mindes- schaltung ausfinanziert ist. tens fünf bis zehn Jahre, von der Grundidee bis zur Konzepterstellung. Bis man dann so etwas wie Herr Dr. Lengsfeld, Frau Professor Lochte hatte einen Conceptual Designreport oder einen techni- auf die Abschaltung geantwortet. Natürlich schal- schen Designreport hat, vergehen zehn Jahre; ten wir Großgeräte ab. Wir kommunizieren das dann kommt der Bau hinzu, der typischerweise dummerweise zu schlecht, und darum ist das im- fünf Jahre braucht, teilweise auch länger, und mer eine Frage. Sie können auch sagen, in dann haben wir es außerdem mit einer typischen Deutschland wurden in den letzten zehn Jahren Betriebsdauer, sagen wir von dreißig Jahren, zu drei Forschungsreaktoren abgeschaltet, weil man tun. Das heißt, ein Großgerät vom Konzept bis zu der Meinung war, das es anders gehen muss. In seinem Lebenszyklus, der bei der Konzeptionie- Deutschland hat man praktisch alle nationalen Be- rung losgeht, braucht fünfzig Jahre. Das heißt also schleuniger für die Hochenergiephysik abgeschal- bei einem Roadmap-Prozess muss der Zeitablauf tet und hat das alles ans CERN transferiert. Da in dieser langfristigen Planung drin sein. Darum sind also mitunter Groß-Großgeräte dabei, die un- hat Herr Professor Prenzel vollkommen Recht, ter der Erde liegen, Beschleuniger, die jetzt abge- dass in dem Roadmap-Prozess die Konzeptphase schaltet wurden. Also das passiert in der Tat, es mitaufgenommen werden muss; ansonsten verliert muss aber vermutlich etwas besser kommuniziert man nämlich den ganzen strategischen Überblick, werden, damit der Eindruck nicht entsteht, dass wo es im Verfahren hingeht, weil man wissen man permanent Neues baut und Altes weiterdüm- muss, was denn an Ideen in diese Roadmap-Ver- peln lässt. fahren gegebenenfalls reinkommt. Das muss bei der Konzeptphase natürlich in mehreren Stufen erfolgen, auf denen man dann überlegen kann, Vorsitzende Patricia Lips: wie man es macht; den Wissenschaftsrat, die DFG und andere Organisationen könnte man evaluie- Frau Dzwonnek. ren lassen, ob dieses Konzept auf einem richtigen Weg ist oder nicht, und dann kann man Handrei- chungen geben, was da gegebenenfalls geändert Dorothee Dzwonnek (DFG): werden kann oder ob man diese Idee stoppen Frau Dinges-Dierig, brauchen wir ein anderes muss, weil sie einfach nicht hält. Aber wenn man Denken bei den Projekten? Ja, ich glaube, auch die dieses Verfahren dazu aufsetzt, dass man nur die Projekte müssen wir uns mehr im Vollkostenum- völlig ausgereiften Dinge aufnimmt, die in den fang vorstellen. Und deswegen glaube ich, dass es nächsten fünf Jahren umgesetzt werden sollen, notwendig ist, dass dieser Forschungsinfrastruktu- dann springt das wesentlich zu kurz. Man muss ren-Roadmap-Prozess auch wirklich zu einer inte- also einen wesentlich längeren Prozess im Auge grierten Betrachtung der gesamten Landschaft und

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der gesamten dort nötigen Methoden führt und Und wir brauchen natürlich eine stabile und eine dass man dabei die Gesamtkosten, Aufbaukosten, nicht projektabhängige Finanzierung dieser Ele- operativen Kosten und auch Rückbaukosten even- mente in Deutschland, bei den Methoden sinnvoll tuell schon mit veranschlagt. Bisher ist es so, dass in die Wissenschaftslandschaft eingeordnet wer- man eher die Kosten runterrechnet, um noch in den und einen offenen und transparenten Zugang die 5-Millionen-Grenze zu kommen, und später haben. kommen noch irgendwelche „Kleckerteile“ hinter- Zu den privaten Mittelgebern: Es ist uns, Herr her. Ich glaube, wir müssen uns einfach der Auf- Gehring, schon beim Bauen nicht besonders gut gabe stellen. Und bei dieser Aufgabenzuordnung gelungen, die privaten Mittelgeber in nennenswer- kann man sich auch noch mal die Akteure an- ter Form bei diesen doch eher noch viel schwieri- schauen. Was sollen die Hochschulen tatsächlich geren Projekten ins Boot zu holen, bei denen man übernehmen? Was sollen Hochschulen im Ver- wohl kaum noch irgendeine Form von Gewinn ha- bund übernehmen? Was ist Aufgabe der einzelnen ben wird. Deshalb sehe ich nicht, dass sich da pri- Player Max Planck und Helmholtz-Gemeinschaft? vate Mittelgeber beteiligen. Ich meine, die Helmholtz-Gemeinschaft hat als eine Servicegemeinschaft angefangen, die die ganz großen Großgeräte auch für auswärtige Nutzer be- treibt, aber sie hat sich jetzt noch viel mehr auf Vorsitzende Patricia Lips: die Agenda geschrieben. Ich glaube, man muss Vielen Dank. auch erstmal die Aufgaben im System sortieren und diese in einen absolut nationalen Prozess mit- Professor Heuer. einbeziehen. Da geht es nicht, dass das eine oder das andere Bundesland eine bestimmte Methode hortet, so etwas funktioniert nur mit einem Bun- Prof. Dr. Rolf-Dieter Heuer desblick, um es wertvoll zu machen. Und im euro- (Deutsche Physikalische Gesellschaft e. V.): päischen Rahmen brauchen wir einen weiter aus- gefeilten gemeinsamen Rechtsrahmen, der dann Herr Dr. Kaufmann, zu Ihrer Bemerkung über SE- auch in der Lage ist, die Verbundstrukturen in Be- SAME; ich werde nicht Direktor von SESAME, zug auf steuerliche Implikationen – Mehrwert- sondern ich werde den Aufsichtsrat übernehmen. steuer, Verbrauchsteuer und so weiter – zu ord- Ich hoffe, das ist etwas einfacher. Dies werde ich nen. Dieser gesamte Aspekt der Unterstützung der Mitte nächsten Jahres machen, und das wird eine Governance durch die Rechtswissenschaften ist spannende Aufgabe. auch noch nicht angesprochen worden. Das ist Zu Ihrer direkten Frage: Ich habe Ihre Beispiele auch eine wichtige Sache, die wir noch im Auge akustisch nicht ganz mitbekommen, aber ich behalten müssen. denke, ich kann auch andere Beispiele nehmen. Wie kann man die ausreichende Verteilung si- cherstellen, Herr Lenkert? Durch einen nationalen Blick und eine Bedarfsanalyse. Der Roadmap-Pro- Abg. Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU): zess vom BMBF ist kein Prozess von heute, son- Ich hatte das Sonnenteleskop EST genannt und dern er hat schon vor fünfzehn Jahren begonnen. ACTRIS, diese Atmosphärenforschung. Die ersten großen Infrastrukturen wurden Ende der Neunzigerjahre untersucht, und viele sind gut gelungen, wie zum Beispiel der XFEL beim DESY, Prof. Dr. Rolf-Dieter Heuer aber wir haben mit dem FAIR-Projekt ja auch ei- (Deutsche Physikalische Gesellschaft e. V.): nes, was uns, obwohl es absolut internationale Strahlkraft haben sollte, doch auch große Sorgen ACTRIS hatte ich mitbekommen. Ich denke, es ist macht. Auch mit solchen Krisen muss man dann ganz klar: Wenn sich Deutschland an solchen irgendwie fertig werden. Dazu gehört erstmal eine Großprojekten beteiligen will oder auch ein Sicht eines nationalen Komitees, das eine solche Standort oder Teilstandort eines solchen Großpro- Gesamtbetrachtung der Aufgaben im Auge hat. jektes mit einer solchen Infrastruktur sein möchte, dann muss es auch auf der Nationalen Roadmap

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sein. Das ist eigentlich die ganz kurze klare Ant- nanzierung vorgesehen sein, und da muss es An- wort. reize für Leute geben, die das machen, denn diese Leute sind wesentlich, werden aber sehr häufig Ich sehe verschiedene Aspekte: Das Eine ist, Sie nicht anerkannt. Ich glaube, das ist auch ein gro- haben eine Infrastruktur, die aus einer Infrastruk- ßes Problem, das wir lösen müssen. tur an einer Stelle besteht, zum Beispiel der euro- päische XFEL. Und wenn man da den Hut in den Und den Zugang zu den Daten bekommen wir Ring legt, dann muss das auf der Nationalen Road- durch Zertifizierung, durch anerkannte Zertifizie- map sein. Wenn ich Teil einer Infrastruktur sein rungszentren. Ich glaube, das KIT ist auch eines möchte, kann es bei ACTRIS oder bei ELI (Ext- der Zertifizierungszentren bei uns. Da wird eben reme Light Infrastructure) eine Koordinationsfrage auf Vertrauensbasis gearbeitet nach dem Motto, sein; wenn ich da Partner sein will, muss es auch wer beim KIT zertifiziert ist, das kann niemand auf der Nationalen Roadmap sein. Und wenn ich aus Südamerika oder wo auch immer sein; er hat mich „nur“ beteiligen möchte, muss es auch auf Zugang zu den Daten, egal wo er herkommt. Ich der Nationalen Roadmap sein. Ich glaube, das ist glaube, diese Vertrauensbasis ist hier ganz wich- die Grundvoraussetzung, dass die beiden überein- tig. Danke. stimmen. Ich muss nicht bei allen mitmachen, ich sollte nicht bei allen mitmachen, sondern ich muss da mitmachen, wo meine forschungspoliti- Vorsitzende Patricia Lips: schen Interessen liegen, auch die Interessen des Landes, einschließlich der Interessen der Wissen- Professor Juling. schaftler.

Vielleicht noch zur Abschaltung ein ganz kurzes Prof. Dr. Wilfried Juling (HRK): Wort. Auch am CERN nutzen wir andere Be- schleuniger. Der LHC ist zwar der neueste Be- Herr Lenkert, ich hoffe, dass ich Ihre Frage jetzt schleuniger, aber wenn das Proton-Zyklotron aus richtig beantworte beziehungsweise überhaupt den fünfziger Jahren, nicht funktioniert, funktio- richtig aufgefasst habe. Sie haben nach der besse- niert gar nichts mehr. Das heißt, ein Beschleuniger ren Regionalisierung der Forschungszentren ge- baut auf dem anderen wieder auf. Das heißt, es fragt, angesichts von Bundesmitteln, gemeinsa- wird wiedergenutzt und nicht unbedingt abge- men Länderfonds und Landesmitteln. schaltet. Wir müssen da, glaube ich, zunächst einmal ein Frau Benning, zur Datensicherung und Nachhal- gewisses Spektrum sehen. Wir haben die Helm- tigkeit: In der Teilchenphysik ist es relativ klar; holtz-Gemeinschaft, wir haben die Max-Planck- wir wollen unsere Daten so lange wie möglich Gesellschaft, wir haben die Fraunhofer-Gesell- nutzen können, das heißt, man muss die Daten si- schaft und wir haben die Leibniz-Gemeinschaft. chern und sicherstellen, dass die Daten gelesen, Diese alle sind außeruniversitäre Forschungsein- dass sie wieder verwendet, und Sie müssen si- richtungen, und natürlich treffen sich hier einige cherstellen, dass die Daten analysiert werden kön- Themen, die wir an diesem Vormittag diskutiert nen; das bedeutet, dass das Wissen über die Da- haben. Es geht um Inhalte und damit um Kompe- tenerhebung und die Datenkalibration in den Da- tenzen und Qualität, es geht natürlich auch um ten enthalten ist. Das heißt, Sie müssen jede das Geld. Man muss wissen, dass die Standortlän- Menge Metadaten speichern. Nur dadurch haben der zu der Finanzierung dieser Forschungszentren Sie das Wissen. Und das müssen Sie jährlich, ich beitragen; bei Helmholtz mit 10 Prozent, bei den übertreibe jetzt vielleicht ein bisschen, aber Sie anderen Zentren mit noch mehr Prozent. Und, müssen es fast jährlich an die neuen Technologien und das scheint mir wichtig zu sein, es geht anpassen. Das ist ein Riesenaufwand, aber es ist schlichtweg um Wettbewerb. Also jede Region, je- ein Aufwand, den wir betreiben müssen, denn wir der Standort kann sich um so etwas bewerben. Da- können ja nicht die teuren Daten, die wir genom- für gibt es auch gesonderte Ausschreibungen. Ich men haben, irgendwann wegschmeißen und wie- hatte eben diese Kompetenzzentren für Big Data derverwenden. Das muss übrigens auch in der Fi- erwähnt, das gibt es unter Steuerung der DFG auch für andere Fälle, so dass das tatsächlich dem

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wissenschaftlichen Wettbewerb unterliegt. Ich wirklich sehr groß. CERN ist ein gutes Beispiel da- warne so ein bisschen davor, daraus eine politi- für, aber da gibt es natürlich auch andere. sche Betrachtung zu machen und darüber zu einer Wir hatten die ganz grundlegende Frage nach dem Regionalisierung zu kommen, weil eigentlich alle Agenda-Setting – welche Auswahlkriterien denn Möglichkeiten vorhanden sind. genutzt werden? Wie kann man solche For- schungsinfrastrukturen legitimieren? Das ist auch eine Frage der Legitimation gegenüber dem Steu- Vorsitzende Patricia Lips: erzahler, und das steht im Zusammenhang mit der Frau Professor Lochte. Frage, was der gesellschaftliche Nutzen oder der inhaltliche Nutzen ist? Und da müssen wir sehen, dass wir einen guten Weg finden zwischen einer Grundlagenforschung, bei der man nicht von An- Prof. Dr. Dr. h.c. Karin Lochte (Alfred-Wegener-Institut): fang an sieht, wie sie angewandt werden kann, die aber trotzdem wichtig ist und einer Forschung, Herr Dr. Kaufmann hatte eine Frage, wie sich die die tatsächlich auch zu Nutzen führt. Wir brau- ESFRI-Roadmap auf den europäischen For- chen beide. Wir müssen auch beides durch gute schungsraum ausgewirkt hat. Ein Teil wurde be- Kommunikation vermitteln, dass es möglich und reits von Herrn Professor Heuer angesprochen. notwendig ist, beide Aspekte abzudecken. Mein Plädoyer wäre, frühzeitig die Interdisziplinarität Der europäische Forschungsraum profitiert natür- zu berücksichtigen und bei der Planung und Initi- lich davon, dass man Expertise aus den verschie- alisierung nicht nur die direkt beteiligten Wissen- denen Ländern zusammenführen kann und damit schaftler dabei zu haben, sondern tatsächlich auch eine größere Vernetzung erreicht. Wenn man sich die Nutzer, aber auch andere, die sich mit rechtli- die augenblicklichen ESFRI-Projekte oder jetzt chen Fragen, mit ökonomischen Auswirkungen o- auch diese sogenannten Landmarks anschaut, der was sonst noch auftreten kann, befassen. Und liegt es in sehr vielen Fällen daran, dass Messun- da sind wir in gewisser Weise noch zu blind. Ich gen in verschiedenen Bereichen gemacht oder ver- glaube, das müssen wir noch ein bisschen üben. schiedene Aspekte in den verschiedenen Ländern bearbeitet und dass die Daten dann zusammenge- Sie fragten auch danach, wie man die Effektivität führt werden. Damit haben wir also einen Mecha- prüfen kann. Ich denke, da sind Fragen zu beant- nismus, um zum Beispiel Daten zusammen zu worten, wie beispielsweise wie viele Nutzer das führen, Kriterien, wie man die Daten vereinheit- nutzen, was die Ergebnisse sind, die dabei raus- licht und Rahmenbedingungen schafft. Dieser Me- kommen und ob es woanders eine ähnliche Ein- chanismus ist schon in diesem Roadmap-Prozess richtung gibt, die besser aufgestellt ist, oder kann angelegt. man eventuell etwas einsparen, in dem man sich vernetzt und zusammentut? Das andere ist ein Thema, was ich auch stark un- terstütze: Wir müssen die ESFRI-Roadmap-Pro- Und ein ganz wichtiger Punkt bei der Frage des jekte auch national begutachten und national un- Agenda-Settings ist auch, und da unterstütze ich terstützen, weil wir die Forschungslandschaft ins- den Wissenschaftsrat sehr, dass wir uns die Skiz- gesamt im Auge haben müssen; was machen wir zen ansehen müssen, weil da die guten und neuen national und was eher auf der internationalen, Ideen zu finden sind, und bevor man sich auf also auf der europäischen Ebene? Den Einfluss, diese mühselige Strecke begibt, alles für einen den ESFRI gehabt hat, sehe ich jetzt – also sozio- vollen Programmvorschlag auszuarbeiten, wäre es ökonomisch kann ich nichts dazu sagen -, aber wichtig, im Vorfeld diese Fragen schon einmal zu wissenschaftlich haben wir sehr gute Forscher- klären. netzwerke aufgebaut, die sich wirklich sehr gut Und die Frage von Frau Benning lautete, was für gegenseitig stützen und die einem in gewisser die Datensicherung notwendig sei. Weise auch ersparen, dass man Doppelstrukturen in den verschiedenen Ländern aufbaut. Die Aus- Herr Professor Heuer hatte das auch schon ange- wirkung auf die Forschungslandschaft ist damit

18. Wahlperiode Protokoll der 70. Sitzung Seite 38 von 40 vom 22. Juni 2016 Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik- folgenabschätzung

sprochen. Es ist nötig, dass die Metadaten gut hin- wir das in Vier- oder Fünfjahresabständen takten terlegt werden, es ist nötig, dass der Zugang zu wollen, welchen Stellenwert wir diesem Road- den Daten wirklich transparent und leicht ge- map-Verfahren zusprechen wollen, also diesem macht wird, und es ist auch nötig, dass man ver- national und international eingebettetem Verfah- schiedene Datenströme miteinander verknüpfen ren. Man kann auch fragen, ob das jetzt ein inter- kann. Das ist eine Arbeit, die wir bisher noch nes Begutachtungssystem, dass für das BMBF ar- nicht so gut geleistet haben. Und daher würde ich beitet oder ob das mehr ist als ein internes Begut- schon dafür plädieren, dass bei der Erstellung ei- achtungssystem. nes Großgerätes diese Aspekte berücksichtigt wer- Das schließt ein bisschen an die Fragen an, die den: Wie gehen wir mit den Daten um, machen Herr Dr. Rossmann hatte: Inwieweit wir dieses wir zum Beispiel Richtlinien für die Nutzer, was Verfahren nicht ein Stück in dem Prozess ernster mit den Daten passieren soll, wie sie die ablegen nehmen müssen, nicht im Sinne von: „Wir gucken sollen oder wo sie die ablegen sollen und was da uns Projekte an und begutachten sie“. Herr Dr. eigentlich noch alles berücksichtigt werden muss. Rossmann hatte auch die Frage nach der gesell- Und der andere Punkt, den ich vorhin schon ange- schaftspolitischen Beurteilung gestellt. Derzeit sprochen hatte, ist, und da müssten wir bei den richtet sich die Frage am wissenschaftlichen Po- Großgeräten auch Finanzen vorhalten, dass die tential aus. Wer wird das Ganze nutzen? Wie kann Projekte auch im Datenmanagement finanziell ver- es umgesetzt werden? Und was ist die Bedeutung ankert werden müssen, sonst können wir uns das für den Wissenschaftsstandort Deutschland? Dazu nicht leisten. nehmen die Gutachterinnen und Gutachter Stel- lung. Natürlich gibt es darüber hinaus immer eine wissenschaftspolitische Einschätzung, die nicht Vorsitzende Patricia Lips: aus der wissenschaftsgeleiteten Betrachtung resul- Das letzte Wort hat Herr Professor Prenzel. tiert, aber diese beiden Prozesse, glaube ich, muss man differenzieren. Wir werden uns bis zu der Frage „Bedeutung für den Wissenschaftsstandort“ Prof. Dr. Manfred Prenzel (Wissenschaftsrat): äußern. Die Gewichtung ist am Ende dann auch eine wissenschaftspolitische Entscheidung, und Vielleicht fange ich mit der Frage von Herrn Geh- da muss man dann eben sehen, in welchen Räu- ring an. Ich kann mich nur Frau Dzwonnek an- men sie stattfindet. Ich bin mir auch nicht sicher, schließen. Ich bin da auch nicht so optimistisch, ob es sinnvoll ist, hier nochmal auf unserer Ebene dass wir private Mittel in der von uns gewünsch- eine wissenschaftspolitische Bewertung vorzu- ten Freiheit der Nutzung in nennenswertem Um- nehmen. Davon würde ich eigentlich eher Ab- fang bekommen können, um Infrastrukturen zu fi- stand nehmen. nanzieren. Frau Dr. De Ridder hat ja, auch Frau Professor Ich komme nochmal zu der Frage der Verzahnung Lochte, auf einige Punkte hingewiesen. Wenn der europäischen ESFRI-Roadmap von Frau Scho- man sich die Lebensdauer, die Herr Professor Antwerpes zurück. Herr Professor Heuer und Frau Dosch skizziert hat, anschaut, fünfzig Jahre, dann Professor Lochte haben schon wichtige Punkte wollen Sie nicht mit einem wahnsinnig hohen Ri- dazu genannt. Ich finde es bemerkenswert, diese siko reingehen, sondern die Frage wird sein, ob Verzahnung gibt es, aber wir haben auch Projekte strategische Durchbrüche zu erwarten sind, wenn auf der ESFRI-Roadmap, die nicht auf der Natio- in die Forschungsinfrastruktur investiert wird. nalen Roadmap sind. Da kann man sich fragen, Und das ist jetzt kein Spiel, sondern da muss man wie kommen die dahin? Wir haben auf der ande- sehr solide einschätzen, wie derzeit die Situation ren Seite mögliche Beteiligungen, die unter dem ist. In dieser Hinsicht ist die Beurteilung des wis- Schwellenwert von 50 Millionen € liegen, die senschaftlichen Potenzials sicherlich schon so an- auch nicht über die Roadmap laufen. Da kann gelegt, dass man sagt, wir wollen hier neue Ideen man sich auch fragen, wie die dahin kommen. Das sehen, die wirklich eine Chance auf einen Durch- betrifft die Transparenz des Roadmap-Verfahrens. bruch haben. Da geht man auch ein Risiko ein, Das betrifft aber vielleicht auch die Frage, wenn

18. Wahlperiode Protokoll der 70. Sitzung Seite 39 von 40 vom 22. Juni 2016

Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- abschätzung

Ausschussdrucksache 18(18)231 a

15.06.2016

Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)

Stellungnahme

Öffentliches Fachgespräch

zum Thema

„Förderung von Forschungsinfrastrukturen“

am Mittwoch, 22. Juni 2016

Stellungnahme der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Anhörung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestages

„Förderung von Forschungsinfrastrukturen“

22. Juni 2016

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) dient der Wissenschaft in allen ihren Zweigen durch die finanzielle Unterstützung von Forschungsaufgaben und durch die Förderung der Zu- sammenarbeit unter Forscherinnen und Forschern. Sie ist selbst keine Trägerinstitution von Forschungsinfrastrukturen, jedoch auf vielfältige Weise in Bezug auf Forschungsinfrastruktu- ren aktiv: - sie verschafft Hochschulen Investitionsmöglichkeiten für Forschungsgroßgeräte nach Art. 91b GG (170 Mio. Euro jährlich, davon 50% kofinanziert), - sie spricht Empfehlungen für weitere Großgeräte (landesfinanziert resp. in Forschungs- bauten nach Art. 91b GG) aus (ca. 200-250 Mio. Euro jährlich), - sie bietet infrastrukturbezogene Projektförderangebote in einer Größenordnung von ca. 70-80 Mio. Euro jährlich, etwa mit Bezug zu Informationsinfrastrukturen, Geräte- zentren, e-Research-Technologien oder Längsschnittstudien, - sie übernimmt in Infrastruktur-Schwerpunktprogrammen deutsche Beiträge zu größe- ren (inter-)nationalen Forschungsinfrastrukturen (z.B. Ozeanforschung, Antarktisfor- schung, Biodiversitäts-Exploratorien, Bohrprogramme), verbunden mit Projektförde- rung der Nutzung, sowie die Betriebskosten zweier Forschungsschiffe (Maria S. Me- rian, Meteor, ca. 15 Mio. Euro jährlich), - sie engagiert sich bei der Etablierung von Standards, gerade auch im Kontext von Zu- gangsregelungen, Forschungsdaten, einzelnen Technologien (z.B. „Informationsverar- beitung an Hochschulen“), - sie erarbeitet Positionspapiere, etwa zu Bibliotheksverbünden als Teil einer überregio- nalen Informationsinfrastruktur, - sie propagiert zeitgemäße Regeln der Nutzung sowohl auf nationaler wie auf internati- onaler Ebene, etwa in der „European Charta for Access to Research Infrastructures“ oder „Basic Requirements for Research Infrastructures“.

Diese Maßnahmen und Projekte unterstützen die Transformation in der (digitalen) For- schungswelt, haben eine qualitätssichernde Funktion und/oder eine Initialwirkung im Wissen- schaftssystem und sind auf dauerhafte Strukturwirkung ausgerichtet. In diesem Sinne setzt 2

sich die DFG für die Belange der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ein, denen ein optimales Nutzungsangebot oftmals unerlässlich für ihre Forschungsvorhaben ist.

Forschungsinfrastrukturen selbst stellen wichtige, teilweise unersetzliche Ressourcen für For- schung und Wissenschaft zur Verfügung. Die DFG begrüßt es sehr, dass diese Bedeutung zunehmend erkannt und anerkannt wird. Viele Wissenschaftsdisziplinen beruhen auf Zugang und Nutzung zu Forschungsinfrastrukturen. Konsequenterweise sind an vielen universitären und außeruniversitären Einrichtungen Forschungsinfrastrukturen entstanden. Roadmap-Pro- zesse der letzten Jahre, insbesondere das European Strategy Forum on Research Infrastruc- tures (ESFRI), haben substanziell dazu beigetragen, den Begriff der Forschungsinfrastruktur über standortbezogene Großprojekte etwa in Physik und Materialwissenschaften hinaus zu weiten, die Bedarfe zum Beispiel in den Lebenswissenschaften oder den Geistes- und Sozial- wissenschaften zu artikulieren und Wege auch für verteilte oder virtuelle Forschungsinfrastruk- turen zu eröffnen.

Der nationale Roadmap-Prozess beim BMBF ist richtigerweise disziplinoffen und geeignet für die Identifikation großer, teurer Forschungsinfrastrukturen, adressiert mit den definierten Schwellenwerten aber notwendigerweise nur einen Teil des Gesamtbedarfs. Damit ist er ein wichtiger Baustein für die Gesamtlandschaft der Forschungsinfrastrukturen in Deutschland und auch darüber hinaus. Gerade mit Blick auf die Hochschulen dürfen aber die kleinen und mittleren sowie die verteilten Forschungsinfrastrukturen und ihre Förderbedarfe nicht aus dem Blickwinkel geraten, sind sie doch in vielen Fällen die unverzichtbare Voraussetzung nicht nur, aber auch für die Forschung an den großen internationalen Forschungsinfrastrukturen. In an- deren Bereichen leisten sie mit spezifischen Angeboten einzigartige Beiträge für die Wissen- schaft (z.B. Repositorien, wissenschaftliche Sammlungen, spezielle Geräte).

Die in der Allianz zusammengeschlossenen Wissenschaftsorganisationen (AvH, Leopoldina, DAAD, DFG, FhG, HGF, HRK, MPG, WGL,WR) erarbeiten momentan ein Positionspapier mit konkreten Vorschlägen zur Weiterentwicklung des Roadmap-Prozesses (u.a. zur Versteti- gung, Betriebskosten, Governance). Aus DFG-Perspektive müssen wissenschaftsgeleitete Prozesse dafür Sorge tragen, dass zum einen bedarfsgerechte Ressourcen geschaffen und zum anderen die Stärken des ausdifferenzierten Wissenschaftssystems in Deutschland ge- nutzt werden können. Insbesondere auch die Hochschulen bedürfen adäquater Förderstruk- turen, die unabhängig von Schwellenwerten den Aufbau und Betrieb von Forschungsinfra- strukturen gewährleisten. Die aus Art. 91b GG resultierenden Möglichkeiten institutioneller

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Förderung könnten gerade für dauerhaftere Finanzierungsnotwendigkeiten (z.B. beim Hoch- leistungsrechnen) an Hochschulen Bedeutung erlangen und sollten dahingehend geprüft wer- den.

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft als Projektförderorganisation erfährt die Bedarfe rund um die Nutzung von Forschungsinfrastrukturen in den vielzähligen Anträgen. Aus Perspektive der Wissenschaft erwachsen einige Anforderungen, denen Forschungsinfrastrukturen genü- gen müssen und für die sich die DFG einsetzt:

- Forschungsinfrastrukturen sollen ein anerkanntes wissenschaftliches und techno- logisches Angebot bieten. Nur eine enge Verknüpfung von Service mit wissenschaft- licher Expertise garantiert, dass Ressourcen dem Stand der Forschung und Technik entsprechend genutzt werden können.

- Es ist essentiell, dass der Zugang über einen transparenten Auswahlprozess auf der Basis von wissenschaftlicher Qualität und Machbarkeit des Projekts geregelt ist. Wissenschaftsgeleitete Prozeduren spielen gerade bei ressourcenlimitierten Angebo- ten (etwa Gerätenutzung, Rechenzeit, Schiffszeit) eine entscheidende Rolle für die Ak- zeptanz. Detaillierte Beschreibungen, welche Voraussetzungen, aber auch welche Kosten zu erwarten sind, sind in Nutzungsordnungen festzulegen. Um diese vielfältigen Leistungen von Forschungsinfrastrukturen gebührend zu würdigen, sollte schließlich auch ihre anerkennende Erwähnung in Publikationen zur Selbstverständlichkeit wer- den. Je nach Intensität der Zusammenarbeit können bei intensiveren Kooperationen auch gemeinsame Publikationen resultieren und den Beitrag von Forschungsinfra- strukturen zum Ausdruck bringen. Die Einrichtungen sind hier gefordert, Regeln zu de- finieren, wie bei der Nutzung jeweils zu verfahren ist.

- Dies setzt ein nachhaltiges Management voraus, welches die Zugangsvoraussetzun- gen entsprechend beschreibt und die Nutzung gewährleistet. In Bezug auf das in For- schungsinfrastrukturen tätige Personal ist es wichtig, verlässliche Karrierewege zu etablieren, insbesondere im so genannten „akademischen Mittelbau“. Für Forschungs- infrastrukturen wird zunehmend die Professionalisierung des Betriebs auch auf Ebene des betreibenden Personals unerlässlich. Nur wenn es gelingt, hoch qualifiziertes Per- sonal in diesen Positionen dauerhaft zu halten, kann eine Forschungsinfrastruktur eine entsprechende Unterstützung rund um die Nutzung anbieten, etwa was technologische

DFG

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Einweisung, Training, Ausbildung, Probenvorbereitung, Datenauswertung, Ergeb- nisanalyse und so weiter betrifft.

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Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- abschätzung

Ausschussdrucksache 18(18)231 b

15.06.2016

Wissenschaftsrat (WR) Prof. Dr. Manfred Prenzel, Vorsitzender

Stellungnahme

Öffentliches Fachgespräch

zum Thema

„Förderung von Forschungsinfrastrukturen“

am Mittwoch, 22. Juni 2016

wissenschaftsrat wr

D E R VORSITZENDE

Drs. 5392-16 Köln 15 06 2016

STELLUNGNAHME

Fachgespräch zur Förderung von Forschungsinfrastrukturen

Deutscher : Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung am 22.06.2016 in Berlin

Professor Dr. Manfred Prenzel Vorsitzender des Wissenschaftsrates

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I. VORBEMERKUNG

„Die Entwicklung und Bereitstellung von wissenschaftlichen Forschungs- und Informa- tionsstrukturen sowie die wissenschaftliche Arbeit mit diesen Infrastrukturen gehört […] untrennbar zum Leistungsspektrum des Wissenschaftssystems, sowohl im außer- universitären wie auch im universitären Bereich“ |1 Dies hat der Wissenschaftsrat in den „Perspektiven des deutschen Wissenschaftssystems“ konstatiert und damit die Bedeutung von Forschungs- und Informationsinfrastrukturen herausgestellt. Diese ho- he Wertschätzung spiegelt die Erfahrungen verschiedener Arbeitsgruppen und Aus- schüsse des Wissenschaftsrates wider, die sich in den vergangenen Jahren mit dem Thema Forschungsinfrastrukturen befasst und einschlägige Empfehlungen abgegeben haben. Hierzu gehören - neben der Entwicklung und Erprobung eines wissenschaftsge- leiteten Verfahrens zur Bewertung umfangreicher Forschungsinfrastrukturvorhaben für eine Nationale Roadmap |2 - auch die „Empfehlungen zur Weiterentwicklung der wis- senschaftlichen Informationsinfrastrukturen in Deutschland bis 2020” |3, die der Wis- senschaftsrat im Juli 2012 verabschiedet hat. Dieser waren u. a. Empfehlungen zu „Forschungsinfrastrukturen in den Geistes- und Sozialwissenschaften“ sowie zu „Wis- senschaftlichen Sammlungen als Forschungsinfrastrukturen“ vorangegangen. |4 Dar- über hinaus hat der Wissenschaftsrat auch Empfehlungen zu Entwicklungen im Bereich des Hoch- und Höchstleistungsrechnens erarbeitet. |5

Die vorliegende Stellungnahme konzentriert sich auf umfangreiche Forschungsinfra- strukturen im Sinne des Nationalen Roadmap-Prozesses und beruht auf den Erfahrun- gen des mandatierten Ausschusses des Wissenschaftsrates aus der Pilotphase.

II. DER BEGRIFF DER FORS CHUNGSINFRASTRUKTURE N

Während zunächst allein Großgeräte wie beispielsweise Beschleuniger oder For- schungsschiffe als Forschungsinfrastrukturen firmierten, wird der Begriff in der aktuel-

| 1 Wissenschaftsrat: Perspektiven des deutschen Wissenschaftssystems, Köln 2013, S. 26. | 2 Wissenschaftsrat: Bericht zur wissenschaftsgeleiteten Bewertung umfangreicher Forschungsinfrastrukturvorhaben für die Nationa- le Roadmap (Pilotphase), Köln April 2013 (http://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/2841-13.pdf, zuletzt abgerufen am 03.06.2016). | 3 Wissenschaftsrat: Empfehlungen zur Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Informationsinfrastrukturen in Deutschland bis 2020, Köln 2012. | 4 Die beiden genannten Empfehlungen sind abgedruckt in: Wissenschaftsrat: Empfehlungen zu Forschungsinfrastrukturen, Köln 2011. | 5 Wissenschaftsrat: Strategische Weiterentwicklung des Hoch- und Höchstleistungsrechnens in Deutschland | Positionspapier (Drs. 1838-12), Berlin Januar 2012 und Wissenschaftsrat: Empfehlungen zur Finanzierung des Nationalen Hoch- und Höchstleistungs- rechnens in Deutschland (Drs. 4488-15), Stuttgart April 2015.

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len wissenschaftspolitischen Debatte vielfach weiter gefasst. Dies ist nicht zuletzt auf die Entwicklung neuer Typen von Forschungsinfrastrukturen zurückzuführen. Der Wis- senschaftsrat hat bereits in seinen „Empfehlungen zu Forschungsinfrastrukturen in den Geistes- und Sozialwissenschaften“ (2011) eine sehr breite Definition von Forschungs- infrastrukturen entwickelt und vier Typen unterschieden:

Instrumente: Neben „klassischen“ unilokalen Großgeräten wie Teilchenbeschleuniger, Teleskope, Forschungsschiffe auch sog. verteilte Forschungsinfrastrukturen wie z. B. Labore, die sich unter einem Dach zusammengeschlossen haben.

Ressourcen: Informationsinfrastruktureinrichtungen, die Informationen und Wissensbe- stände unter systematischen Gesichtspunkten sammeln, pflegen und für eine wissen- schaftliche Nutzung zugänglich machen.

Serviceeinrichtungen: Z. B. Hoch- und Höchstleistungsrechner, Hochleitungskommuni- kations- und Rechnergitterverbünde.

Soziale Forschungsinfrastrukturen: Begegnungs- und Forschungszentren, die für den Austausch über oder die Entwicklung von neuen Forschungsfragen geschafften wurden (z. B. Institutes for Advanced Study).

Bis auf Hoch- und Höchstleistungsrechner, für die es andere Fördermechanismen gibt, können prinzipiell alle Typen Gegenstand des Roadmap-Prozesses sein. Dabei kann es sich sowohl um neue Forschungsinfrastrukturen als auch um substanzielle Upgrades bestehender Forschungsinfrastrukturen handeln. Im Kontext des nationalen Roadmap- Prozesses finden dabei allein solche Forschungsinfrastrukturen Berücksichtigung, die folgende Merkmale aufweisen: |6

_ Sie sind von nationaler wissenschaftspolitischer Bedeutung.

_ Sie weisen eine lange – in der Regel mindestens zehnjährige – Nutzungsdauer auf.

_ Der Zugang zu ihnen ist grundsätzlich offen, und ihre Nutzung wird auf Basis wissen- schaftlicher Qualitätsmaßstäbe geregelt.

_ Die Kosten für ihren Aufbau und ihre Errichtung sind so hoch, dass sie erhebliche nati- onale öffentliche Mittel erfordern und somit einen umfangreichen nationalen Entschei- dungsprozess rechtfertigen.

| 6 Vgl. Bundesministeriums für Bildung und Forschung: Der Nationale Roadmap-Prozess für Forschungsinfrastrukturen, Bonn Januar 2016, S. 5 (https://www.bmbf.de/pub/Nationaler_Roadmap_Prozess_fuer_Forschungsinfrastrukturen.pdf, zuletzt abgerufen am 10.06.2016).

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_ Sie weisen eine aufgabenadäquate übergreifende Governance auf. Handelt es sich um verschiedene Standorte mit einander ergänzenden Aufgaben, müssen diese eine funk- tional integrierte und damit als Einheit zu bewertende Forschungsinfrastruktur mit ge- meinsamen Standards bilden.

III. DER DEUTSCHE ROADMAP -PROZESS FÜR FORSCHUN GSINFRASTRUKTUREN

III.1 Hintergrund

Umfangreiche Forschungsinfrastrukturen sind neben den Forschenden und den Institu- tionen eine weitere unabdingbare Voraussetzung für ein leistungsfähiges Wissen- schaftssystem. Vielfach ist die Wissenschaft auf den Einsatz solcher Forschungsinfra- strukturen angewiesen, um wissenschaftlich anspruchsvolle Fragestellungen bearbeiten und international anschlussfähige Spitzenforschung betreiben zu können. Zu beobachten ist dabei eine stark wachsende Bedeutung von Forschungsinfrastruktu- ren für die Leistungsfähigkeit von Wissenschaft und Forschung und zwar in dreierlei Hinsicht:

1 − Wissenschaftlich: Waren es in der Mitte des 20. Jahrhunderts vornehmlich die phy- sikalischen Wissenschaften, die für die Forschung auf Großgeräte zurückgriffen, sind heute fast alle Disziplinen auf den Einsatz von Forschungsinfrastrukturen an- gewiesen: die Ökosystemforschung auf Bodenobservatorien, die modellbasierte Klimaforschung auf Höchstleistungsrechner für ihre Simulationen, die Sprachwis- senschaften auf umfassende digitale Repositorien, um nur einige wenige Beispiele zu nennen.

2 − Organisatorisch: Während die physikalischen Wissenschaften für ihre Forschung im wesentlichen Großgeräte entwickelten, die an einem Standort angesiedelt waren, haben andere Wissenschaftsbereiche auf ihre spezifischen Bedürfnisse zugeschnit- tene Infrastrukturen entwickelt: verteilte Geräteplattformen in den Lebenswissen- schaften oder vernetzte Datenbanken oder auch Befragungspanels in den Sozial- wissenschaften. Damit steigen die organisatorischen Herausforderungen, d. h. vor allem die Anforderungen an die Governance von Forschungsinfrastrukturen, weil diese immer komplexer und vielgestaltiger werden. Zunehmend wichtig ist dabei auch die Verbindung zu informationstechnischen Infrastrukturen (Hoch- und Höchstleistungsrechner, Rechnergitterverbünde, Software zur Verarbeitung großer Datenmengen (big data) etc.).

3 − Finanziell: In den letzten Jahren sind deutliche Steigerungen im Ressourceneinsatz zu beobachten. Schon die Investitionen erreichen häufig dreistellige Millionenbe-

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träge; für Betrieb, Wartung und Weiterentwicklung ist angesichts der langen Le- bensdauer von Forschungsinfrastrukturen mindestens noch einmal die gleiche Summe erforderlich. Damit werden Pfadabhängigkeiten geschaffen, die zu Beginn der Entscheidung für oder gegen eine Investition wohl überlegt sein müssen.

Aufgrund der weitreichenden Bedeutung von Forschungsinfrastrukturen, ihres wach- senden Ressourcenbedarfs und ihrer steigenden Komplexität ist es notwendig gewor- den, Entscheidungen über Einrichtung und Betrieb von Forschungsinfrastrukturen sys- tematisch vorzubereiten und nicht von Zufälligkeiten (gute Lobbyarbeit, günstige öffentliche Stimmung, Projektreife, Windhundprinzip etc.) abhängig zu machen. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) hat daher im Sommer 2011 ei- nen Pilotprozess für eine Nationale Roadmap in Deutschland initiiert und den Wissen- schaftsrat gebeten, dazu ein wissenschaftsgeleitetes und transparentes Verfahren zu entwickeln und an neun Forschungsinfrastrukturen aus drei unterschiedlichen Wissen- schaftsfeldern zu erproben.

Der Bewertungsprozess zielt auf eine die Wissenschaftsgebiete übergreifende Bewer- tung als Grundlage für die Prioritätensetzung seitens der politischen Entscheidungsträ- ger. Mit der Veröffentlichung der ersten BMBF-Roadmap |7 im Jahr 2013 hat Deutsch- land zum ersten Mal öffentlich gemacht, welche Investitionsschwerpunkte in den folgenden Jahren gesetzt werden sollen. Hervorzuheben ist, dass mit der Aufnahme eines Vorhabens auf die Roadmap eine grundsätzliche Finanzierungsabsicht verknüpft ist. Die Nationale Roadmap entspricht damit nicht – wie Roadmaps vieler anderer Län- der – einer reinen Wunschliste. Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass es sich bei der Nationalen Roadmap nicht um ein Förderprogramm, sondern um ein strategisches In- strument zur forschungspolitischen Priorisierung handelt. Mit dem Start des aktuellen Roadmap-Prozesses im August 2015 hat das BMBF das Verfahren etabliert. Der Wis- senschaftsrat hat auf Bitte des BMBF erneut die Durchführung der wissenschaftsgelei- teten Bewertung übernommen und holt derzeit die Gutachten für die zu bewertenden Vorhaben ein.

III.2 Desiderate für einen verstetigten Nationalen Roadmap-Prozess

Der Nationale Roadmap-Prozess ist wichtig, um den Bedarf unterschiedlicher Akteure im deutschen Wissenschaftssystem in verschiedenen Fachgebieten sichtbar zu ma- chen, die Vorhaben vergleichend bewerten und eine den wissenschaftlichen und ge- sellschaftlichen Bedürfnissen genügende Investitionsstrategie entwickeln zu können.

| 7 Bundesministeriums für Bildung und Forschung: Roadmap für Forschungsinfrastrukturen. Pilotprojekt des BMBF, Bonn April 2013 (https://www.bmbf.de/pub/Roadmap.pdf, zuletzt abgerufen am 03.06.2016).

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Zudem dient der Nationale Roadmap-Prozess dazu, investive Fehlentscheidungen zu verhindern und eine Finanzplanung zu unterstützen, welche nicht nur die zu tätigenden Investitionen, sondern auch die langfristig festgelegten und anteilig aufzuwendenden Betriebskosten berücksichtigt. Zugleich entsteht durch den Nationalen Roadmap- Prozess eine Wettbewerbssituation, der sich die Vorhaben stellen müssen. Damit trägt der Roadmap-Prozess zur Vernetzung der Forschenden und ihrer Institutionen bei und lässt Synergie-Effekte erwarten. Auch mit Blick auf die Positionierung Deutschlands im europäischen und internationalen Kontext ist der Roadmap-Prozess von Bedeutung. Es liegt daher im Interesse der deutschen Wissenschaftspolitik und des deutschen Wis- senschaftssystems, den Roadmap-Prozess zu verstetigen und weiterzuentwickeln. Um allerdings langfristig Erfolg und Akzeptanz in den wissenschaftlichen communities zu sichern, gilt es folgende Punkte zu beachten:

Offener Zugang zum Verfahren Es ist zu begrüßen, dass das BMBF mit der Bekanntgabe vom 31.08.2015 den aktuel- len Roadmap-Prozess für alle Forschungsorganisationen, Hochschulen und außeruni- versitäre Forschungseinrichtungen, die die Errichtung einer Forschungsinfrastruktur planen, geöffnet hat. Der offene Zugang zum Verfahren stellt eine wichtige Vorausset- zung für eine rationale Entscheidungsfindung dar, die auf einer möglichst breiten Grundlage und einer angemessenen Ausschöpfung der Kreativität und Expertise der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Deutschland basiert. Zudem ist eine transparente Gestaltung des Zugangs zum Roadmap-Prozess mit entscheidend für die Akzeptanz in den wissenschaftlichen communities. Auch zukünftig sollte daher sicher- gestellt sein, dass alle institutionellen und inhaltlichen Bereiche des deutschen Wis- senschaftssystems grundsätzlich die Möglichkeit erhalten, sich an diesem Prozess zu beteiligen.

Frühzeitige Prüfung im Lebenszyklus Die Lebensphasen einer Forschungsinfrastruktur können schematisch wie folgt einge- teilt werden:

Bedarfs- Inbetrieb- Auslauf- Skizze Vorbereitung Konzept Realisierung Betrieb entwicklung nahme phase

Der Roadmap-Prozess ist dabei auf eine entscheidende Phase im Lebenszyklus einer Forschungsinfrastruktur fokussiert, nämlich auf die Vorbereitungsphase. Diese umfasst den Übergang von einer ersten Ausarbeitung eines Forschungsinfrastrukturvorhabens als „Skizze“ hin zu einem weiter entwickelten „Konzept“, das prinzipiell realisiert wer- den kann.

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Es hat sich in der Pilotphase als sinnvoll herausgestellt, wenn Forschungsinfrastruktur- vorhaben sowohl zu Beginn der Vorbereitungsphase in einem frühen Stadium als Skizze als auch an deren Ende als ausgereiftes Konzept den wissenschaftsgeleiteten Bewer- tungsprozess durchlaufen würden. So bietet die frühe Begutachtung von Skizzen den communities die Möglichkeit, Ideen für Forschungsinfrastrukturen auf ihr wissenschaft- liches Potenzial hin überprüfen zu lassen und so wissenschaftliche Fehlschläge frühzei- tig zu erkennen und den erheblichen Ressourceneinsatz, der für die Ausarbeitung eines Konzeptes erforderlich ist, zu minimieren. Es wäre daher erstrebenswert, einen zwei- stufigen Prozess zu etablieren, in dem Skizzen und Konzepte getrennt voneinander je- weils vergleichend bewertet würden.

Skizzen, die anschließend auf die Roadmap aufgenommen würden, könnten dann eine Förderung zur weiteren Ausarbeitung bis hin zu einem realisierungsreifen Konzept er- halten. Anschließend müssten sie sich als Konzept erneut der vergleichenden Bewer- tung im Roadmap-Prozess unterziehen. Auf der Grundlage eines ausgearbeiteten Kon- zepts, das Ergebnisse aus möglichen Vorstudien sowie aus der dann erfolgten weiteren wissenschaftsgeleiteten und wirtschaftlichen Bewertung einbezieht, könnte dann fun- diert über die Realisierung eines Vorhabens politisch entschieden werden.

Verlässlicher Verfahrensturnus Für die wissenschaftlichen communities ist es von hoher Bedeutung, jeweils bei Aus- schreibung eines Roadmap-Prozesses verlässlich zu wissen, wann eine erneute Aus- schreibung erfolgen wird. Nur so kann abgeschätzt werden, ob eine spätere Einrei- chung eines Vorhabens zur weiteren Ausarbeitung sinnvoll ist oder ob für das Projekt dadurch zu viel Zeit verstreichen würde.

Die Frage des Wiederholungsturnus in einem verstetigten Roadmap-Prozess für For- schungsinfrastrukturkonzepte erscheint derzeit noch völlig offen. Damit sich die wis- senschaftlichen communities und insbesondere die Konzeptverantwortlichen auf den Roadmap-Prozess einstellen können, sollte er regelmäßig in einem festen Turnus erfol- gen. Der Turnus sollte dabei einerseits nicht zu lang sein. Vorhaben, die während einer Ausschreibungsphase eines Roadmap-Prozesses noch nicht ausreichend weit fortge- schritten sind, um eingereicht zu werden, sollten so innerhalb eines angemessenen Zeitraums die Gelegenheit erhalten, sich um Aufnahme auf die Roadmap zu bewerben. Andererseits darf der Turnus im Sinne der Verfahrenseffizienz auch nicht zu kurz sein, so dass der Prozess für die beteiligten Organisationen handhabbar bleibt, das aufwän- dige Bewertungsverfahren noch gerechtfertigt ist und eine Mindestanzahl von Vorha- ben für die Bewertung, insbesondere für die vergleichende Bewertung, zur Verfügung steht.

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Die Begutachtung von Forschungsinfrastrukturskizzen könnte und sollte dagegen häu- figer stattfinden. Die Ausarbeitung der Skizzen erfordert zum einen weniger Ressour- cen und ist somit für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schneller möglich als die Erstellung reiferer Konzepte. Daher sollte auch ihre Bewertung zeitnah stattfin- den, ohne dass lange Wartezeiten entstehen. Zum anderen sollte für Skizzen ein schlankeres Begutachtungsverfahren entwickelt werden, das eine rasche und effiziente Bewertung erlaubt.

Verzahnung mit europäischen bzw. internationalen Forschungsinfrastrukturprozessen Oftmals lassen sich Forschungsinfrastrukturen nur noch transnational realisieren – sei es in Europa oder sei es global –, weil die notwendigen Investitionen und die zu erwar- tenden laufenden Kosten das Budget eines einzelnen Landes übersteigen. Die Mehrzahl der Investitionsentscheidungen ist daher in einem internationalen Kontext zu bewerten und unterliegt somit einem politischen Aushandlungsprozess, in den Partnerländer mit einbezogen werden müssen. Vor diesem Hintergrund scheint eine Verzahnung mit dem ESFRI-Prozess sinnvoll, der nach einer längeren Pause zwischen 2010 und seinem ge- rade erfolgten Update von 2016 nun wieder eine Aktualisierung der ESFRI-Roadmap im Zweijahresrhythmus anstrebt.

Allerdings ist die wünschenswerte engere Abstimmung mit dem ESFRI-Prozess nicht notwendigerweise auf einen zeitlich angepassten Turnus beschränkt. Vielmehr muss grundsätzlich transparent sein, wie Forschungsinfrastrukturvorhaben politische Unter- stützung für die Realisierung von europäischen Projekten bzw. deren deutschen Anteil erhalten können. Unklarheit besteht derzeit insbesondere bei Vorhaben, deren Investi- tionskosten unter der national derzeit geltenden monetären Eingangsschwelle in Höhe von 50 Mio. Euro bzw. 20 Mio. Euro für geistes- und sozialwissenschaftliche For- schungsinfrastrukturen liegen. Hier kann es im Nationalen Roadmap-Prozess insofern zu Verzerrungen kommen, als bei manchen großen internationalen Vorhaben der deut- sche Anteil unter 50 Mio. Euro liegt und deshalb nicht alle relevanten Alternativen auf dem Tisch liegen. Die Bestimmung der monetären Eingangsschwelle sollte daher auf der Basis der Ergebnisse des aktuellen Roadmap-Prozesses noch einmal genau abge- wogen werden.

Abstimmung von wissenschaftlicher mit wirtschaftlicher Bewertung Parallel zur wissenschaftsgeleiteten Bewertung durch den Wissenschaftsrat findet eine wirtschaftliche Bewertung durch einen Projektträger statt, deren Kern eine externe Kostenschätzung der eingereichten Konzepte für Forschungsinfrastrukturen bildet. Auf Basis der beiden Bewertungsergebnisse und unter Berücksichtigung der gesellschaftli- chen Relevanz der geplanten Forschungsinfrastrukturen nimmt das BMBF anschließend

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eine forschungspolitische Priorisierung der Konzepte vor und erstellt die Nationale Roadmap.

Es steht außer Frage, dass eine wirtschaftliche Prüfung der Forschungsinfrastruktur- konzepte unabdingbar ist. Zu begrüßen sind die Anstrengungen des Bundes, die Kos- tenkalkulationen schon in einer sehr frühen Phase eines Vorhabens zu prüfen. Die Er- fahrungen der Pilotphase haben jedoch gezeigt, dass beide Bewertungsprozesse sowohl in personeller, inhaltlicher und zeitlicher Hinsicht enger miteinander verzahnt werden sollten. Dem wurde in dem aktuellen Roadmap-Prozess durch die gemeinsame Ausgestaltung des Leitfadens für die Konzepterstellung und durch die Abstimmung des Zeitplans der beiden Bewertungsprozesse bereits Rechnung getragen. Zudem ist ein Austausch zwischen den beiden Bewertungsprozessen durch Berichterstatter aus dem Ausschuss des Wissenschaftsrates für das jeweilige Vorhaben geplant.

IV. FAZIT

Die Bedeutung von Forschungsinfrastrukturen für die Leistungsfähigkeit von Wissen- schaft und Forschung wächst – wissenschaftlich, da heute alle Disziplinen auf den Ein- satz von Forschungsinfrastrukturen angewiesen sind, organisatorisch, weil Forschungs- infrastrukturen immer komplexer werden, und finanziell, weil der Ressourceneinsatz immer größer wird. Das Roadmap-Verfahren auf der Grundlage einer wissenschaftsge- leiteten Bewertung zielt vor diesem Hintergrund darauf, Fehlinvestitionen zu minimie- ren, aus wissenschaftlicher Sicht den Ressourceneinsatz mit Blick auf ein leistungs- starkes Wissenschaftssystem zu optimieren und sich international zu positionieren.

Mit der ersten Nationalen Roadmap für Forschungsinfrastrukturen von 2013 hat Deutschland zum ersten Mal öffentlich gemacht, welche Investitionsschwerpunkte es in den folgenden Jahren zu setzen plant. Bereits damit hat es seine Position im europä- ischen und internationalen Kontext ausgebaut. Die im vorigen Jahr eingeleitete Fortfüh- rung nimmt Erfahrungen der Pilotphase auf und stellt eine Weiterentwicklung dar. So ist beispielsweise der Zugang erstmals über eine offene Ausschreibung erfolgt und die wissenschaftsgeleitete Bewertung soll enger mit der wirtschaftlichen verzahnt werden.

Von zentraler Bedeutung für die Akzeptanz des verstetigten Roadmap-Prozesses in der Wissenschaftsgemeinschaft ist ein transparenter und verlässlicher Verfahrensablauf. Der Wiederholungsturnus sollte idealerweise verbindlich festgelegt werden; mindestens mit Ausschreibung einer Phase sollte bereits der Zeitpunkt der nächsten angekündigt werden. Zudem ist zu überlegen, einen zweistufigen Prozess in dem Sinne einzurichten, dass frühe Skizzen für Forschungsinfrastrukturen und ausgearbeitete Konzepte jeweils nur untereinander vergleichend bewertet werden. Über die Einbeziehung der Skizzen

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könnten zu einem frühen Zeitpunkt wichtige Anregungen zur Weiterentwicklung gege- ben oder nicht aussichtsreiche Vorhaben beendet werden. Idealerweise sollte der Nati- onale Roadmap-Prozess potentiell deutsche Beteiligungen an europäischen Projekten unterstützen. Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- abschätzung

Ausschussdrucksache 18(18)231 c

15.06.2016

Prof. Dr. Wilfried Juling, Ständige Kommission für die Zukunft der Digitalen Information in Lehre und Forschung der Hochschulrektorenkonferenz (HRK), Karlsruher Institut für Technologie (KIT)

Stellungnahme

Öffentliches Fachgespräch

zum Thema

„Förderung von Forschungsinfrastrukturen“

am Mittwoch, 22. Juni 2016

Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestags

Öffentliches Fachgespräch zum Thema "Förderung von Forschungsinfrastrukturen" am 22.06.2016

Schriftliche Stellungnahme von Prof. Dr. Wilfried Juling, ehemals Mitglied des Erweiterten Präsidiums und Bereichsleiter für „Informatik, Wirtschaft und Gesellschaft“ des Karlsruher Institut für Technologie (KIT) sowie langjähriges Mitglied der Ständigen Kommission für die Zukunft der Digitalen Information in Lehre und Forschung der Hochschulrektorenkonferenz (HRK).

Der Begriff der Forschungsinfrastruktur ist einem Wandel unterworfen und hat sich in den letzten 15 Jahren enorm erweitert. Durch die rasante technologische Entwicklung der Digitalisierung erhalten Forschungsinfrastrukturen eine zusätzliche Dynamik; einerseits ergeben sich dadurch erweiterte Möglichkeiten der internationalen Kooperation, und andererseits spielen sie im internationalen Wettbewerb eine immer bedeutendere Rolle. Die Entwicklung der digitalen Kommunikation ermöglichen heutzutage Forschungsinfrastrukturen, die zunehmend in Form von thematischen oder überregionalen Verbundstrukturen, wie Grids, Clouds und virtuellen Forschungsumgebungen, ausgeprägt sind.

Hochschulen betreiben über alle Disziplinen hinweg und häufig interdisziplinär eine Fülle von Infrastrukturen zu Forschungszwecken, die bisher nicht landesweit oder bundesweit nach bestimmten Kriterien, wie fachliche und regionale/nationale/internationale Bedeutung, Investitionsgröße, Zugangsmöglichkeit für die Wissenschaft und andere Nutzer etc. datentechnisch erfasst sind. Dies ist zu bedauern und könnte eine Zukunftsaufgabe darstellen.

Angesichts voraussehbar steigender Kosten für Forschungsinfrastrukturen sowohl was den Aufbau, die Betriebskosten und die Reinvestitionskosten angeht, muss die Grundfinanzierung der Hochschulen entsprechend bemessen sein, um den steigenden Ansprüchen gerecht zu werden, und auch die notwendigen personellen Ressourcen zum Betreiben von Infrastrukturen müssen ausfinanziert sein. Auch sollte grundsätzlich geklärt werden, wie sich bei der Nutzung von im Verbund bereitgestellten länderübergreifenden Infrastrukturen die Beschränkungen aufgrund des Föderalismus in Deutschland überwinden lassen.

Wie vom Wissenschaftsrat 2012 gefordert, sollten auch die Kriterien für die Leistungsorientierte Mittelvergabe (LOM) an Hochschulen in den Ländern so erweitert werden, dass die Leistungen für das Betreiben von Infrastrukturen, die für die ganze Wissenschaft und ggfs. andere Nutzer offenstehen, entsprechend anerkannt und berücksichtigt werden. (WR, Empfehlungen zur Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Informationsinfrastrukturen in Deutschland bis 2020, Berlin 2012, S. 14)

Grundsätzlich unterstützt die HRK ebenfalls die Feststellung des Wissenschaftsrates von 2012, dass Bund und Länder gemeinsam Wege finden sollten, um vermehrt wissenschaftliche Infrastrukturen an Hochschulen oder in gemeinsamer Trägerschaft von Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen anzusiedeln, um Dysfunktionalitäten im Wissenschaftssystem zu vermeiden. (WR, Empfehlungen zur Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Informationsinfrastrukturen in Deutschland bis 2020, Berlin 2012, S. 10)

Der Ausschluss der Übernahme von Betriebskosten, insbesondere Personalkosten, aus den Förderbedingungen etwa der Nationalen Roadmap für Forschungsinfrastrukturen, benachteiligt hier allerdings die Antragstellung von Hochschulen gegenüber den außeruniversitären Forschungseinrichtungen, die häufig bereits über einen Personalstamm an Infrastrukturexperten verfügen, der für neue Projekte eingesetzt werden kann.

Der Betrieb von Forschungsinfrastrukturen bedarf fachlich wie infrastrukturtechnisch hervorragend ausgebildeter Wissenschaftler und Mitarbeiter. Hier sind die Hochschulen gefordert, im Dialog mit den Ländern flächendeckende und alle Disziplinen erfassende Ausbildungs- und Weiterbildungskapazitäten anzubieten und vorzuhalten. Dies treibt die HRK zurzeit auf dem Gebiet der Informationsinfrastrukturen voran.

Die notwendigen wissenschaftlichen wie technischen Fachkräfte, die Infrastrukturen auf hohem Niveau betreiben sollen, müssen Karrierewege vorfinden, die der Verantwortung ihrer Tätigkeit und dem geforderten hohen Leistungsniveau angemessen sind. Die HRK hat in ihrem "Orientierungsrahmen für den wissenschaftlichen Nachwuchs" von 2015 auf die Notwendigkeit hingewiesen, mehr attraktive Stellen in diesem Feld zwischen Promotion und Professur anzubieten. Außerdem hat die HRK in ihrer Reaktion auf den aktuell diskutierten Entwurf des "Pakt für den wissenschaftlichen Nachwuchs" deutlich darauf hingewiesen, dass der Pakt keine Möglichkeiten für die Schaffung solcher attraktiven Dauerstellen neben der Professur eröffnet. Das muss sich ändern.

Angesichts steigender Kosten und Bedarfe im Bereich der Forschungsinfrastrukturen ist ohne Zweifel die länderübergreifende und die internationale Zusammenarbeit zu verstärken. Hier ist die nun von der Politik eingeleitete Abstimmung eines nationalen Road Map Prozesses für große Forschungsinfrastrukturen mit dem europäischen ESFRI-Prozess sehr zu begrüßen.

Deutschland kann hier aufgrund seiner geographischen Lage auch durchaus stärker die Möglichkeiten einer grenznahen Zusammenarbeit beim Aufbau von Infrastrukturen mit seinen europäischen Nachbarn nutzen, wie dies bereits Schweden und Dänemark zeigen. Dies könnte auch der politisch gewollten Heranführung der neuen Mitgliedstaaten der EU (Polen, Tschechien) an eine höhere Stufe der wissenschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit dienen.

Die neue europäischen Rechtsform für Infrastrukturen (ERIC) wird dabei allerdings nur dann umfassender genutzt werden können, wenn die dort vorgesehenen Möglichkeiten zur Erlassung der Mehrwertsteuer bei der Beschaffung von hochmoderner Infrastrukturtechnik auch genutzt werden kann und von der Politik unterstützt und getragen wird.

Der Zugang zu Forschungsinfrastrukturen ist ein für die Wissenschaft entscheidender Punkt. Hier sollte die Schwelle weiterhin so niedrig wie möglich liegen und sich rein an wissenschaftlicher Qualität der Nutzer und ihrer Projekte orientieren. Bei dafür geeigneten Infrastrukturen kann die Nutzung natürlich auch anderen nicht-profitorientierten Einrichtungen oder auch der Forschung in der Wirtschaft geöffnet werden, wenn eine entsprechende Kostenbeteiligung gewährleistet ist. Es ist zu begrüßen, dass die EU mit der "Charta of Access for Research Infrastructures" im März 2016 einen Satz von Grundregeln für den Zugang auf europäischer Ebene vorgelegt hat.

Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- abschätzung

Ausschussdrucksache 18(18)231 d

16.06.2016

Prof. Dr. Rolf-Dieter Heuer, Deutsche Physikalische Gesellschaft e. V. (DPG)

Stellungnahme

Öffentliches Fachgespräch

zum Thema

„Förderung von Forschungsinfrastrukturen“

am Mittwoch, 22. Juni 2016

Stellungnahme für die öffentliche Anhörung zur

Förderung von Forschungsinfrastrukturen

22. Juni 2016

Prof. Dr. Rolf-Dieter Heuer Präsident der Deutschen Physikalischen Gesellschaft

Allgemeines

Der Begriff Forschungsinfrastruktur umfasst nationale Einrichtungen von Universitäten und Forschungsinstituten bis hin zu internationalen Großforschungseinrichtungen innerhalb und außerhalb Deutschlands.

Die Aufgaben von Forschungsinfrastrukturen (FIS) sind

- Forschung auf höchstem internationalem Niveau: Klare wissenschaftliche Zielsetzung zur Adressierung der drängendsten Fragen eines Wissenschaftsgebiets, dabei kontinuierliche Weiterentwicklung dieser wissenschaftlichen Mission während der gesamten „Lebensdauer“ der FIS. - Technologieentwicklung: Wissenschaftliches Neuland kann nur durch die Entwicklung neuer Technologien betreten werden, was von hoher Industrierelevanz ist. - Ausbildung von Wissenschaftlern und Fachleuten: Forschung und Technologieentwicklung an vorderster Front des Wissens schafft einmalige Ausbildungsmöglichkeiten auf vielen Gebieten. - Öffentlichkeitsarbeit: Wissenschaft und die Notwendigkeit von wissenschaftlicher und technischer Entwicklung für die Zukunftssicherung muss für die Allgemeinheit „erfassbar“ gemacht werden.

Jede FIS sollte in allen Phasen, von der Idee über Planung, Bau bis zur Nutzung, überzeugende Konzepte für diese Aufgaben besitzen.

Ein ganz wichtiger Aspekt, der Zusammenhang zwischen Forschung und Innovation, soll gleich am Anfang dieser Stellungnahme herausgestellt werden: Grundlagenforschung treibt Innovation, diese wiederum die angewandte Forschung, diese wiederum Innovation und Industrieanwendungen und diese wiederum Grundlagenforschung. Dieser nutzbringende Kreislauf („virtuous circle“) ist ein, vielleicht sogar der, Motor der nachhaltigen Entwicklung und muss aufrechterhalten werden. Unterbrechung dieses Kreislaufes an welcher Stelle auch immer schadet Wissenschaft und Weiterentwicklung im Allgemeinen. Eine gut ausgewogene Förderung aller Aspekte der Forschung ist essentiell und ist eine grundlegende Aufgabe für ein Land wie Deutschland. Es ist Investition in die Zukunft.

Im Folgenden soll auf die vier genannten Aufgaben näher eingegangen werden, teilweise unterlegt mit Beispielen von Großforschungseinrichtungen. Forschung

Wichtigstes Kriterium ist die klare, herausragende wissenschaftliche Zielsetzung, Erweiterung des Wissens im Forschungsbereich der FIS, kompetitiv auf internationalem Niveau. Die Forschungsziele müssen während der gesamten „Lebensdauer“ der FIS, ab Planungsbeginn, ständig dem neuesten Stand der Erkenntnis in dem entsprechenden Gebiet angepasst, evtl. sogar umdefiniert werden, z.B. auch durch einen Ausbau („Upgrade“) einer FIS oder eines Projektes innerhalb einer FIS.

Weitere wichtige Kriterien sind Kompetenz innerhalb der FIS in allen Bereichen, in allen Arbeits- gruppen, sowie eine kritische Begleitung durch externe Begutachtung in allen Bereichen und Projektphasen, allerdings ohne Mikromanagement durch diese Gremien.

Ganz wichtig ist auch die enge Kooperation einer FIS mit Universitäten und Instituten weltweit. Zugang zu den Forschungsmöglichkeiten an einer FIS muss frei sein, unabhängig von Nationalität oder Mitgliedschaft eines Landes an der FIS, abhängig allerdings von der Erfüllung entsprechender Qualitätsstandards. Nur dadurch ist auch eine Beteiligung von WissenschaftlerInnen aus Entwicklungs- und Schwellenländern möglich, die ich persönlich für essentiell halte.

Erst durch solche Zusammenarbeit wird eine FIS exzellent.

Was kann nur mit Großforschung geleistet werden?

Alle (fundamentale) Fragestellungen, die nur mit großen Infrastrukturen wie z.B. denen am CERN beantwortet werden können. Großforschung ist nicht die Alternative zur Forschung im Labor, sondern die notwendige Ergänzung dazu. Großforschung und Forschung im Labor ergänzen sich, vor allem an den Schnittstellen der Disziplinen. Die Großforschung ist quasi eine „verlängerte Werkbank“ der Universitäten im Forschungsbereich. Erst beides zusammen bildet eine gesunde Forschungs- landschaft. Großforschung ist nicht „entindividualisierte“ Forschung, sondern Forschung für Individuen, die auf große Infrastrukturen angewiesen sind.

Beispiel: CERN stellt die Infrastruktur (große Beschleunigeranlagen, insbesondere heute den Large Hadron Collider, LHC) zur Verfügung, notwendig zur Durchführung dieser Forschung. CERN ist eine Nutzereinrichtung (selbstverständlich mit Eigenforschung). Eine große internationale Forschungs- Infrastruktur wie CERN bietet Wissenschaftlern aus der ganzen Welt einmalige Forschungs- bedingungen wie sie kein einzelnes Land oder eine Region alleine bereitstellen kann. Wegen dieser Einmaligkeit arbeiten hier Menschen ungeachtet ihrer Religion, Herkunft, Weltanschauung friedlich zusammen. Wissenschaftler aus aller Welt formen Teams, um ihre Experimente am CERN durchzuführen und brauchen dazu nur eine Sprache, nämlich die der Wissenschaft. Vielleicht eines der besten Beispiele weltweiter friedlicher Zusammenarbeit heute.

Ein Supermikroskop, wie z.B. der LHC, kann von individuellen Forschern/Ingenieuren konzipiert, aber nicht gebaut werden. Die Industrie wird hier zum unverzichtbaren Partner der Forschung, der „Großforschung“ oder „Big Science“, weil sie den früheren Labormaßstab durch einen industriellen Großanlagen-Maßstab ersetzt. Die Forschung selbst ist jedoch nicht „industriell“, da sie erkenntnisorientiert ist und sich keinem unmittelbaren industriellen Nutzen unterordnet. Indem sie erkenntnisorientiert ist, ist sie zwangsläufig auch „individuell“, selbst wenn Wissenschaftler in grösseren Gruppen disziplinübergreifend zusammenarbeiten. Technologieentwicklung, Industrierelevanz

Die erkenntnisorientierte Forschung (u.a. am CERN) ist industrierelevant, da sie Techniken und Technologien benötigt, die nur, oder häufig, gemeinsam mit der Industrie entwickelt werden können. Aus dieser Forschungs- und Innovationslandschaft entstehen Partnerschaften mit der Industrie, die im Erfolgsfall zu erheblichen Rückflüssen in die Industrie führen, für die eine FIS, z.B. CERN, dann plötzlich eine bedeutsame Referenz geworden ist, die sich wiederum vermarkten lässt. Wissenschaftliche Projekte stellen in den meisten Fällen keine Großaufträge für die Industrie dar, allerdings entstehen aus solchen Partnerschaften auch Ideen für neue Produkte oder Herstellungs- methoden, die über den Knowhow- und Technologietransfer kanalisiert, kommerzialisiert und schliesslich der Gesellschaft nutzbar gemacht werden können. Beispiele CERN: WWW, GRID- Computing, Medizin (PET, Krebstherapie). Die Partnerschaft zwischen FIS und Industrie erlaubt den Unternehmen durch ihren Knowhow-Vorsprung häufig eine bessere Stellung am Markt.

Eine überzeugendes Konzept zum Technologietransfer ist unabdingbar.

Standortvorteil: Eine FIS bringt Vorteile für die Region oder das Land, sei es durch Aufträge an die lokale Privatwirtschaft, insbesondere KMUs, sei es durch die Anziehungskraft der FIS für gut ausgebildete Fachkräfte und intellektueller Köpfe. Exzellente FIS üben eine Strahlkraft aus, die wichtig ist für ein Land wie Deutschland im internationalen Wettbewerb um die besten Köpfe.

Ausbildung, Training

Jede FIS dient nicht nur der Forschung und Technologieentwicklung, sondern auch der Ausbildung und Bildung. Forschung und Bildung sind eng verzahnt, sie müssen eng verzahnt sein in einer exzellenten FIS. Dies gilt generell, ob national oder international, ob Großforschung oder „Individualforschung”. Wissenstransfer, gut ausgebildete, insbesondere junge Menschen sind der Schlüssel für die zukünftige Entwicklung. Daher halte ich den Wissenstransfer durch „Köpfe” für noch wichtiger als den Technologietransfer. Die bereits erwähnte Zusammenarbeit der FIS mit Universitäten und Instituten ist essentiell hierfür. Beispiel CERN: Über 3000 Studierende von Universitäten weltweit arbeiten z.Zt. für ihre Promotion am LHC. Die großen Experimente (z.T. über 3000 Wissenschaftler beteiligt) fördern Zusammenarbeit und Wettbewerb gleichzeitig, sind strukturell ähnlich aufgebaut wie KMUs, die Arbeiten sind Teil eines großen Projektes, die Arbeitsgruppen sind international zusammengesetzt. Die Experimente sind daher ein exzellentes Trainingsfeld für zukünftige MitarbeiterInnen in Wissenschaft und Industrie, insbesondere auch im Hinblick auf die Herausforderungen des globalen Marktes. Etwa 50% der bisher Promovierten fanden ihre Erstanstellung im Privatsektor.

Ein wichtiges Kriterium für eine exzellente FIS sind exzellente MitarbeiterInnen. Ständige wissenschaftliche oder technische Herausforderungen ziehen die besten MitarbeiterInnen an. Beteiligung an Betrieb und Forschung oder Weiterentwicklung einer FIS sind ein Schlüssel hierfür.

Großforschungsinstitute sind auch eine „verlängerte Werkbank“ der Universitäten im Bereich der Ausbildung. Bestimmte Ausbildungsinhalte können nur an großen FIS mit entsprechender Ausstattung vermittelt werden. Insbesondere das Lernen und Arbeiten im Team und an Projekten mit internationaler Beteiligung kann im großen Maßstab nur in solchen FIS geübt werden. Das gilt z.B. für die Betreiber von Supermikroskopen im Bereich der Kern- und Teilchenphysik (CERN) ebenso wie für die Betreiber großer Teleskope im Bereich der Astronomie und Astroteilchenphysik (ESO). Öffentlichkeitsarbeit

Wissenschaft und die Notwendigkeit von wissenschaftlicher und technischer Entwicklung für die Zukunftssicherung muss für die Allgemeinheit „erfassbar” gemacht werden. Die Faszination muss bereits im frühen Alter geweckt und später erhalten und weiter gefördert werden. Jede FIS sollte von Beginn an ein überzeugendes Konzept vorstellen, womit ihre Forschung, als Teil der Wissen- schaft insgesamt, der Allgemeinheit zugänglich gemacht werden soll. Insbesondere „Leuchtturm- projekte” an Großforschungseinrichtungen (LHC!) können eine große Faszination ausüben. Dies ist besonders wichtig im Hinblick auf den Mangel an Physikern und Ingenieuren in Deutschland, der in der nahen Zukunft noch deutlicher sichtbar werden wird.

Öffentlichkeitsarbeit ist in allen Altersstufen und Funktionen notwendig. Essentiell sind Programme für Lehrerweiterbildung. Motivierte und motivierende Lehrer sind die Basis der Ausbildung. Jede FIS sollte Lehrerfortbildung betreiben. Beispiel CERN: Jährlich durchlaufen ca. 1100 Lehrer die Weiterbildungsprogramme. Viele kommen mit ihren Klassen zu Besichtigungen zurück. Daher sind etwa 40% der 120,000 Besucher der CERN-Führungen Schüler.

Bemerkungen zu Großforschungseinrichtungen

Das Kriterium für alle Großforschungseinrichtungen: kaum ein Land auf der Welt hat die Resourcen, solche Projekte alleine durchzuführen.

Insbesondere die Erreichung der 17 Ziele und 169 Targets der UN-Agenda 2030 für eine nachhaltige Entwicklung („sustainable development goals“) ist eine enorme Herausforderung: die Ziele adressieren globale Zusammenhänge, meist mit regionalen Unterschieden, daher ist regionale oder lokale Implementierung notwendig. Es braucht dazu aber globale Zusammenarbeit in und durch Großforschungseinrichtungen, Universitäten, Industrie. Deutschland und Europa sollten hier eine führende Rolle annehmen. Zur Erreichung der Ziele sollte man über die Schaffung neuer internatio- naler FIS nachdenken, als wissenschaftliche „Dachorganisationen“ in bestimmten Wissenschaftsgebieten, die die nationalen Kompetenzzentren nicht nur vernetzen sondern auch eine mehr globale Sichtweise einbringen.

Grundvoraussetzung für die Implementierung all dieser Ziele und Targets ist Ausbildung. Ohne entsprechend ausgebildete Menschen können solche Ziele nicht erreicht werden. Bildung und Öffentlichkeitsarbeit sind aber ebenso wichtig, da die Allgemeinheit die Notwendigkeit der Umsetzung der Ziele (an)erkennen und akzeptieren muss. Ohne diese Akzeptanz wird die Umsetzung wohl ebenso scheitern.

Management: Die Auswahl aller verantwortlichen Mitarbeiter, insbesondere aber im Management, muss nach Qualitätsstandards und Kompetenzen erfolgen, nicht nach Proporz.

Budget: Qualitätssicherung bei Bau und Betrieb liegt in der Verantwortung des Managements. Das Management muss daher über Auftragsvergabe an Privatunternehmen unter Berücksichtigung der jeweiligen EU- oder Ländervergabekriterien frei entscheiden können. Ein entsprechendes Budget zur Verfügung des Managements ist unabdingbar. Teilweise in-kind Leistungen können sinnvoll sein, auch in der Betriebsphase. Wissenschaftliche Nutzung

Wie bereits oben ausgeführt: Zugang zu den Forschungsmöglichkeiten an einer FIS muss frei sein, unabhängig von Nationalität oder Mitgliedschaft eines Landes an der FIS, abhängig allerdings von der Erfüllung entsprechender Qualitätsstandards. Nur dadurch ist auch eine Beteiligung von WissenschaftlerInnen aus Entwicklungs- und Schwellenländern möglich.

Die wissenschaftliche Nutzung von FIS muss über lange Laufzeiten ermöglicht werden, die Verbundforschung ist ein wichtiges, ja unabdingbares Instrument (Begutachtungsverfahren und Einhaltung von Qualitätsstandards sind essentiell) hierfür in der deutschen Forschungslandschaft.

Zusammenstellung einiger Kernbotschaften

- Förderung von Forschung und Bildung ist Investition in/für die Zukunft. Essentiell für Deutschland im nationalen wie internationalen Kontext. Essentiell für die Erreichung der 17 Nachhaltigkeitsziele der UN-Post2020 Agenda. - Der nutzbringende Kreislauf („virtuous circle”) von der Grundlagenforschung über Innovation, angewandte Forschung, Innovation zur Grundlagenforschung muss aufrechterhalten werden. Eine gut ausgewogene Förderung aller Aspekte der Forschung ist unerlässlich und ist eine grundlegende Aufgabe für ein Land wie Deutschland. - Forschung und Bildung gehen Hand in Hand, FIS sind wesentliche Pfeiler für beide. - Klare wissenschaftliche Zielsetzung zur Adressierung der drängendsten Fragen eines Wissenschaftsgebiets mit kontinuierlicher Weiterentwicklung dieser wissenschaftlichen Mission während der gesamten „Lebensdauer” der FIS. - Großforschung und „individuelle Forschung” ergänzen sich, beide sind notwendig für eine gesunde Forschungslandschaft. - Der wichtigste Transfer aus der Forschung neben den wissenschaftlichen Resultaten ist das Wissen, sind die „Köpfe”. - Managementpositionen müssen nach Kompetenz besetzt werden. - Budget zur Verfügung des Managements ist unabdingbar. - kritische Begleitung durch externe Begutachtung in allen Bereichen und Projektphasen, allerdings ohne Mikromanagement. - enge Kooperation einer FIS mit Universitäten und Instituten weltweit ist wichtig. Die wissenschaftliche Nutzung muss für alle WissenschaftlerInnen bei entsprechender Qualifikation frei möglich sein. - Öffentlichkeitsarbeit ist ein wesentlicher Aspekt der FIS. - Die Nachhaltigkeitsziele der UN können nur durch globale Zusammenarbeit erreicht werden. Hier braucht es u.U. neue internationale unabhängige Großforschungseinrichtungen. - Die wissenschaftliche Nutzung muss über lange Laufzeiten ermöglicht werden, die Verbundforschung ist hierfür ein wichtiges, ja unabdingbares Instrument in Deutschland.

Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- abschätzung

Ausschussdrucksache 18(18)231 e

21.06.2016

Prof. Dr. Dr. h.c. Karin Lochte, Alfred-Wegener-Institut (AWI), Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung, Bremerhaven

Stellungnahme

Öffentliches Fachgespräch

zum Thema

„Förderung von Forschungsinfrastrukturen“

am Mittwoch, 22. Juni 2016

Öffentliches Fachgespräch „Förderung von Forschungsinfrastrukturen“

Stellungnahme Prof. Dr. Dr. h.c. Karin Lochte

Große Forschungsinfrastrukturen (FIS) sind nicht nur wichtige Werkzeuge für die Bearbeitung wissenschaftlicher Fragestellungen, sondern sie ermöglichen und bestimmen auch die Themen der federführenden Institutionen sowie die nationale Forschungsagenda für eine relativ lange Zeit. Daher ist es eine grundlegende Voraussetzung, dass die entsprechenden Themen aus wissenschaftlicher Sicht eine lange Perspektive haben, dass die zentral beteiligten Institutionen die inhaltliche Verantwortung dafür dauerhaft übernehmen können und dass auf forschungspolitischer Ebene ebenfalls ein langfristiges Interesse an diesen Themen deutlich ist. Eine grundlegende Rolle bei der der forschungspolitischen Bewertung spielt die gesellschaftliche Relevanz dieser Themen, daher sollte sie ebenfalls unter diesem Gesichtspunkt betrachtet werden.

Über den Agenda-setting Prozess, der durch die FIS ausgelöst wird, entsteht ein Anreiz für die Forschenden verschiedener Institutionen, sich in der Planungsphase inhaltlich zu vernetzen – auch über nationale Grenzen hinweg. Das ist ein wichtiges Instrument für die Entwicklung von nationalen und internationalen „Leuchtturmprojekten“. Dies führt aber oft dazu, dass ein gutes wissenschaftliches Programm aufgestellt wird, dessen langfristige Finanzierung durch die Partner in vielen Fällen nicht rechtzeitig geklärt wird. Das Problem liegt hierbei in der langen Dauer der Bindung von Personal und Mitteln für den Betrieb und die wissenschaftliche Bearbeitung der Daten. Es sollte daher schon in einem relativ frühen Stadium auch die langfristige Finanzierungsverantwortung (für auskömmliche Betriebskosten, Entwicklungskosten und Kosten für wissenschaftliche Auswertungen) geklärt werden. Dies hat in der Vergangenheit für einige große FIS zu Unklarheiten und erheblichen Problemen geführt. Andererseits dürfen hohe Investitionen in hervorragende cutting-edge Infrastrukturen anschließend nicht mit unterfinanziertem und damit ungenügender Unterstützung zu einer Nutzung unter Wert führen.

Ein wichtiger Punkt für einen erfolgreichen Planungsprozess einer neuen FIS ist die Einbindung aller wichtigen Partner in die Konzeption, Entwicklung und Nutzung der FIS ohne Benachteiligung z.B. der Hochschulen, die essentielle Beiträge leisten können, aber durch ihre finanziellen Bedingungen oft nicht in der Lage sind, FIS langfristig betreiben zu können. Das darf nicht dazu führen, dass dadurch im deutschen Wissenschaftssystem die Hochschulen und die außeruniversitären Einrichtungen unterschiedliche Erfolgschancen erhalten. Dieses Thema ist immer wieder aufgegriffen worden, harrt aber noch der Lösung. Es sind gewisse Tendenzen sichtbar, dass geisteswissenschaftliche FIS und ortverteilte FIS eher an Hochschulen angesiedelt werden und naturwissenschaftliche (insbes. physikalische) FIS eher an außeruniversitären Einrichtungen (es gibt dazu auch Ausnahmen). Der qualitätsorientierte Zugang zu den betreffenden FIS für alle Partner muss einschließlich der finanziellen Konsequenzen geregelt werden – hierzu können die LK II Regeln der Helmholtz-Gemeinschaft ein gutes Beispiel sein.

Der Betrieb der FIS stellt zu einem gewissen Grad eine Serviceeinrichtung für die wissenschaftliche Community dar. Es ist daher notwendig, gut qualifizierte Wissenschaftler in ausreichender Zahl für den anspruchsvollen Betrieb dieser Einrichtungen zu gewinnen. Dies setzt entsprechende Anreize, z.B. in Form von LOM, voraus. Die Qualitätsbegutachtung wissenschaftlicher Leistungen sollte solche wichtigen Beiträge berücksichtigen und entsprechende Leistungsindikatoren entwickeln. In Publikationen sollten die Beiträge von FIS Personal entsprechend anerkannt werden.

Zurzeit liegen die Roadmaps für FIS auf der nationalen Ebene (BMBF), von der Helmholtz-Gemeinschaft und auf der europäischen Ebene (ESFRI) vor. Eine Verbindung zwischen der Helmholtz Roadmap und der nationalen Roadmap ist vorgesehen. Es ist aber (noch) nicht klar, wie die nationale Roadmap und die ESFRI Roadmap miteinander kommunizieren. Deutsche Institutionen sind an vielen ESFRI- Projekten beteiligt, aber dies spiegelt sich nicht konsequent in der nationalen Strategie wider, sondern ist eher eine Aktivität auf der Ebene der einzelnen Institutionen. Eine bessere Integration der wissenschaftlichen Initiativen auf den unterschiedlichen Ebenen wäre daher notwendig, um Mittel effizient einzusetzen und Fehlentwicklungen zu vermeiden. Der Nationale Roadmap Prozess ist dazu sehr gut geeignet, diese Integration aufzugreifen und den Roadmap Prozess weiter zu entwickeln. Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- abschätzung

Ausschussdrucksache 18(18)232 a

20.06.2016

Leibniz-Gemeinschaft, Berlin

Unangeforderte Stellungnahme

Öffentliches Fachgespräch

zum Thema

„Förderung von Forschungsinfrastrukturen“

am Mittwoch, 22. Juni 2016

Forschungsinfrastrukturen im Wissenschaftssystem Qualität – Reputation – Nachhaltigkeit 2

Die Broschüre ist das Ergebnis der 2014-2015 tätigen Projektgruppe „Forschungsinfrastrukturen und Wissenstransfer in der Leibniz-Gemeinschaft – Best Practice Modelle und Strategien“.

Finanziert wurde das Projekt durch den Strategiefonds des Präsidiums der Leibniz-Gemeinschaft und koordiniert vom „Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung“ in Kooperation mit dem „Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Leibniz-Gemeinschaft“ in Marburg und dem „Sozio-oekonomischen Panel“ am „Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung“ in Berlin.

Impressum

Forschungsinfrastrukturen im Wissenschaftssystem. Qualität – Reputation – Nachhaltigkeit

Stand November 2015

Herausgeber: Projektgruppe im Strategiefondsprojekt „Forschungsinfrastrukturen und Wissenstransfer in der Leibniz-Gemeinschaft – Best Practice Modelle und Strategien“

Verantwortlich: Prof. Dr. Simone Lässig, Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung (seit 01.10.2015 Deutsches Historisches Institut in Washington DC) Prof. Dr. Peter Haslinger, Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Leibniz-Gemeinschaft Prof. Dr. Jürgen Schupp, Sozio-oekonomisches Panel (SOEP) im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung

Projektbeteiligte Institute der Leibniz-Gemeinschaft: Sektion A: Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung (GEI), Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Leibniz-Gemeinschaft (HI), Römisch-Germanisches Zentralmuseum – Forschungsinstitut für Archäologie (RGZM) Sektion B: Sozio-oekonomisches Panel (SOEP) im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften Sektion C: Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) Sektion D: Leibniz-Zentrum für Informatik GmbH – Schloss Dagstuhl (LZI) Sektion E: Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung e.V. (ZALF)

Gestaltung: unicom-berlin.de

© Fotos: Titelbild, S. 4, 6 (u.), 7 (u.), 13 (u.), 14/15 (o.), 17: Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale ­Schulbuchforschung (GEI)

S. 8: Leibniz-Institut DSMZ-Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen S. 96 (o.): GermanischesLeibniz-Institut Nationalmuseum Hessische Stiftung (GNM) Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) – Fritz Philipp/HSFK S. 10 (o.): Kiepenheuer-Institut für Sonnenphysik (KIS) S. 10 (u.): Deutsche Zentralbibliothek für Wirtschaftswissenschaften (ZBW) S. 12 (o.): Museum für Naturkunde, Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung (MfN) – Hwa Ja Goetz S. 5, 12 (u.), 15 (u.): GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften S. 7 (o.), 13 (o.): Römisch-Germanisches Zentralmuseum – Leibniz-Forschungsinstitut für Archäologie (RGZM) S. 16: Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Leibniz-Gemeinschaft (HI)

FORSCHUNGSINFRASTRUKTUREN IM WISSENSCHAFTSSYSTEM 3

Inhalt

1. Zielsetzungen �������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 5

���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 7 2. Definition 3. Qualitätsbestimmung und Qualitätssicherung von Forschungsinfrastrukturen ��������������������������������������������������������������� 10

4. Potenziale von Forschungsinfrastrukturen für die Förderung wissenschaftlichen Nachwuchses ����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 14 und beruflicher Ausbildung 5. Vorschläge zur nachhaltigen Sicherung und Entwicklung von Forschungsinfrastrukturen­ ��������������������������������������� 16

6. Ausblick ��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������17

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1. Zielsetzungen

Wissenschaft erwächst heute aus drei unterschiedlich schungsinfrastrukturen mitgestaltet und von dort aus strukturierten, aber gleichwertigen Komponenten, die neue Fragestellungen erschlossen. sich wechselseitig bedingen und produktiv verstärken: Die nationale wie die europäische Wissenschaftspolitik · aus Forschung im Sinne der Produktion neuen Wissens, hat die wachsende Bedeutung qualitativ hochwertiger · aus dem Transfer dieses Wissens in Gesellschaft, Forschungsinfrastrukturen inzwischen erkannt und ent- Wirtschaft und Politik und sprechende Strategien formuliert.2 Aus diesem Prozess · aus der Ermöglichung von Forschung durch zeitgemäße ergeben sich allerdings weitere Fragen, zu denen die vor- und breit zugängliche Forschungsinfrastrukturen. liegende Broschüre Stellung nimmt.

In Diskussionen über die strategische Weiterentwicklung Als Partner der Universitäten hat die Leibniz-Gemein- des Wissenschaftssystems wird vor allem der Forschungs­ schaft bei der strategischen Weiterentwicklung und Stär- aspekt in den Blick genommen, während die beiden an- kung von Forschungsinfrastrukturen früh Verantwortung deren Komponenten trotz ihrer hohen Relevanz für eine übernommen.3 Die Erfolge sind sichtbar4 und weithin zeitgemäße Wissenschaft eher selten thematisiert und anerkannt. Umso dringlicher ist nun die Verständigung diskutiert werden. Unterstützt durch den Strategiefonds über zentrale, für die Zukunft des Wissenschaftssystems hat sich deshalb eine sektionsübergreifende Arbeitsgrup- insgesamt wichtige und noch keineswegs gelöste Fragen pe der Leibniz-Gemeinschaft vertieft mit grundlegenden moderner Forschungsinfrastrukturen. Ausgangspunkt für Fragen des Wissenstransfers und qualitativ hochwertiger das Projekt „Forschungsinfrastrukturen und Wissenstrans- Forschungsinfrastrukturen beschäftigt. Ihre Befunde und fer in der Leibniz-Gemeinschaft – Best Practice Modelle und Empfehlungen für den Bereich Forschungsinfrastrukturen Strategien“ war zunächst die Beobachtung, dass viele Leis- (FIS) werden hier vorgestellt. tungen von Forschungsinfrastrukturen mit herkömmli- chen Rastern wissenschaftlicher Qualitätssicherung nicht Forschungsinfrastrukturen sind unverzichtbar für die adäquat erfasst werden oder im direkten Vergleich zur Wissenschaft. Sie ermöglichen Forschung und gehen aus Forschung keine vergleichbare Wertschätzung erfahren. Forschungsprozessen hervor.1 Gerade in Zeiten des digi- Davon ausgehend hat die Projektgruppe in folgenden Fel- talen Wandels werden Forschungsagenden durch For-

dern Handlungsbedarf identifiziert:

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· die Bestimmung von Qualität: Während sich Indikatoren zur Evaluierung von Forschungs­ leistungen weitestgehend etabliert haben, sind

einzigartige,diese für Forschungsinfrastrukturleistungen deshalb für die Forschung einerseits häufig sonoch wertvolle, nicht definiert. andererseits Zu fragen aber ist, auch wie schwer sich für oft vergleichbare Forschungsinfrastrukturen Qualität bestimmen und ggf. auch mit Hilfe quantitativer Indikatoren bewerten lässt: Auf welche best-practice- Modelle können sich Akteure beziehen, wenn es um wissenschaftliche Qualität jenseits von Forschung und Forschungsevaluation geht? · Potenziale und Strategien infrastrukturorientierter Nachwuchsentwicklung:­ Einrichtungen mit hohen Infrastrukturanteilen verfügen über besonders Das Projekt hat alle diese Fragen und Handlungsfelder zukunftsträchtige und attraktive Möglichkeiten adressiert und dabei insbesondere das Ziel verfolgt, über betrieblicher Ausbildung und wissenschaftlicher 5 Wie kann aber sichergestellt werden, für die Entwicklung angemessener Leistungskriterien für dass diese Karriereperspektiven, die sich jenseits Forschungsinfrastrukturenspezifische Fachgemeinschaften zu entwickeln hinausreichende und zur Diskus Ideen- Qualifizierung.der etablierten Wege zur Professur bewegen, sion zu stellen. Die aktive Mitwirkung von Einrichtungen aus allen fünf Leibniz-Sektionen hat über Disziplinengren- wahrgenommen werden? Inwieweit sind tradierte zen hinweg dafür die bestmöglichen Voraussetzungen ge- Reputationssystemeumfassend genutzt und anzupassen? in ihrem spezifischen Wert schaffen.6 · Nachhaltigkeit: Förderorganisationen und Wissenschaftspolitik haben für neue Gleichwohl war das Projekt nur ein erster Schritt in der Forschungsinfrastrukturen Investitionen in großem Verständigung über neue Strategien und Anerkennungs- Umfang bereitgestellt. Dennoch stellt sich vielfach die kulturen. Deshalb wird im Folgenden neben Empfehlun- Frage, wie Dauerbetrieb und Innovationsfähigkeit auch gen auch eine Reihe von offenen Fragen und Impulsen für nach einer Förderphase gesichert werden können. eine weiterreichende Debatte formuliert.

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2. Definition

Als Forschungsinfrastrukturen7 gelten materielle wie im- Forschungsinfrastrukturen in diesem Sinne zeichnen sich materielle Forschungsressourcen­ und Einrichtungen für auch aus durch: die Forschung in allen Wissenschaftsgebieten, die folgen- de Kriterien erfüllen: · Zugänglichkeit und Nutzbarkeit für externe Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus · sie sind überregional bedeutsam; den jeweiligen Fachgemeinschaften und aus der · sie stellen strategische, langfristig angelegte und transdisziplinären Forschung; überwiegend forschungsbasierte Dienstleistungen dar; · höchste wissenschaftliche Qualität, Innovations­ · sie werden ortsgebunden, ortsverteilt oder virtuell potenzial und Nachhaltigkeit; die Kriterien hierfür angeboten. basieren auf anerkannten Standards und Verfahren der Qualitätssicherung in der Wissenschaft (z.B. wissenschaftliche Beiräte bzw. Nutzerbeiräte, interne Audits und externe Evaluierungen); · überregionale, vielfach gesamtstaatliche bzw. ­internationale Bedeutung für das jeweilige Wissen- schaftsgebiet.

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- zept des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF),Diese Definition das bisher ergänzt vorrangig und erweitert für besonders das Roadmap-Kon große und in- vestitionsintensive Forschungsinfrastrukturen passfähig ist. In einer Reihe von wissenschaftlichen Feldern, vor al- lem in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften, aber auch anderen Disziplinen, etwa der Mathematik, zeichnen Das Leibniz-Institut DSMZ-Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkul- sich Forschungsinfrastrukturen eher durch Dezentralität turen hält die weltweit vielfältigste Sammlung von mehr als 30.000 Lebendkulturen. und den intensiven Einsatz von Personal und Sachmitteln Dies macht die DSMZ zu einem international renommierten Dienstleister für die aus. In vielen Bereichen haben Forschungsinfrastrukturen Wissenschaft, diagnostische Labore, nationale Referenzzentren sowie für industrielle unabhängig von ihrer Größe oder Kostenintensität nicht Partner. Das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) mit seinen Survey-Daten stellt für die - sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Grundlagenforschung Mikrodaten bereit. Das liche Disziplinen und übergreifende Forschungsfelder. Institut für Deutsche Sprache (IDS) hält mit über 28 Milliarden Wörtern die weltweit selten singuläre Bedeutung für spezifische wissenschaft größte Sammlung deutschsprachiger Korpora als empirische Basis für die linguis- auch Soziale Forschungsinfrastrukturen eine stärkere tische ­Forschung bereit. Die Bibliothek des Georg-Eckert-Instituts – Leibniz-Institut Aufwertung.Nicht zuletzt Als erfahren Orte internationaler mit dieser erweiterten wissenschaftlicher Definition für i­nternationale Schulbuchforschung (GEI) beherbergt die weltweit umfangreichs- Begegnung tragen sie wesentlich zur Netzwerkbildung te Sammlung internationaler Schulbücher und schafft so ideale Voraussetzungen für bestimmte, oft emergente Forschungsfelder und mul- für die vergleichende Forschung am Medium Schulbuch. Ebenso einzigartig ist die tidisziplinäre Forschungen bei. Sie bieten auf nationaler Spezialbibliothek­ des Herder-Instituts für historische Ostmitteleuropaforschung – Insti- wie internationaler Ebene einen besonderen Ort für die tut der Leibniz-Gemeinschaft (HI), die rund 450.000 Bände, Zeitschriften und Zeitungen Forschungskommunikation und regen durch ihre Pro- sowie elek­tronische Ressourcen wie historische Bilder und Atlanten zur Kultur-, Wirt- gramme zu innovativen Lösungen an, teils mit erhebli- schafts- und Sozialgeschichte Ostmitteleuropas bereithält. Forschungsfeldern. chem Einfluss auf das Agenda-Setting in ihren jeweiligen

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Das Römisch-Germanische Zentralmuseum, Leibniz-Forschungsinstitut für Archäologie (RGZM) unterhält an seinen drei Standorten Mainz, Neuwied und Mayen Kollegiatenzimmer und -wohnungen sowie Arbeits- und Besprechungsräume unterschiedlicher Größe, die Gastwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern, Fellows, Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern sowie Studierenden aus dem In- und Ausland zur Verfügung stehen. Die mit Arbeitsplätzen und einem unbeschränkten Zugang zu den Forschungsinfrastrukturen des RGZM ausgestatteten Räumlichkeiten bieten optimale Arbeitsmöglichkeiten für kurze oder auch längere ­Studienaufenthalte in den Bibliotheken, Sammlungen, Archiven und Restaurierungswerkstätten wie auch für die Teilnahme an Tagungen, Workshops, Lehrveranstaltungen und Experimenten in den Laboren des RGZM. Sie sind unverzichtbare soziale Infrastrukturen für den internationalen wissenschaftlichen Austausch, sie befördern eine intensive Vernetzung und fachliche Diskussion.

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3. Qualitätsbestimmung und Qualitäts­ sicherung von Forschungsinfrastrukturen

Das Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung (GEI) hat die Erfahrung gemacht, dass die Interaktion von Forschungs- und Infrastrukturbereichen wichtige Synergien generiert. Deshalb orientieren sich der Aufbau und die nachhaltige Pflege von Forschungsinfrastrukturen an einem zirkulären Modell wissenschaftlicher Wertschöpfung: Aus Serviceleistungen, wie sie etwa in Quellen- oder Datenbankprojekten entstehen (Beispiele sind Edumeres oder WorldViews), werden regelmäßig relevante neue Fragestellungen für die Forschung abgeleitet; umgekehrt werden aktuelle Forschungsergebnisse, wie sie zum Beispiel in dem Leibniz-Projekt „Welt der Kinder“ unter Nutzung von Methoden der Digital Humanities gewonnen werden, auch für die Weiterentwicklung von Forschungsinfrastruktur- und Transferleistungen, etwa für ein digitales historisches Schulbuchportal (GEI-digital), fruchtbar gemacht.

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Für die Forschung haben sich über viele Jahre Bewer- tungssysteme etabliert, die innerhalb der jeweiligen Fachdisziplinen breit akzeptiert sind. Eine direkte Über- setzung dieser Bewertungssysteme auf die Leistung von Forschungsinfrastrukturen hat sich jedoch als problema- tisch erwiesen. Dass allgemein anwendbare Kriterien, insbesondere für Evaluierungs- und Berufungsverfahren, Als forschungsbasierte Infrastruktureinrichtung ist das vorrangige Ziel des Sozio-­ noch nicht existieren, steht einer adäquaten Bewertung oekonomischen Panels (SOEP), längsschnittliche Forschungsdaten für die interna­ von Forschungsinfrastrukturleistungen und den dafür nö- tionale wissenschaftliche Community bereitzustellen. Um dieses Ziel optimal erfüllen tigen Ressourcen im Wege. Beispiele sind die Dokumen- zu können, leistet das SOEP vor allem Grundlagenforschung. Darüber hinaus betätigt tation von Forschungsdaten, neue Softwareapplikationen, sich das SOEP im Bereich der Politikberatung sowie der Sozialberichterstattung, da wissenschaftliche Kommentierungen bei kritischen Editi- auch diese Aktivitäten der Optimierung des Primärziels dienen. Das SOEP ist eine der onen, Fachbibliographien oder virtuelle Ausstellungen. weltweit führenden Haushaltspanelstudien, die umfassende Informationen zur Haus- haltszusammensetzung, zu subjektiven Einstellungen und Persönlichkeitsmerkmalen, Ziel entsprechend erweiterter Leistungsindikatoren muss zur Erwerbs- und Familienbiographie, Erwerbsbeteiligung und beruflichen Mobilität, es daher sein, Infrastrukturleistungen angemessen abzu- zu Einkommensverläufen und Vermögensverhältnissen, Gesundheit und Lebens­ bilden. Dazu wurden aus der wissenschaftlichen Praxis zufriedenheit erfasst. Das gegenwärtige Portfolio des SOEP setzt sich folgendermaßen - zusammen: 51 % Infrastruktur und Serviceaufgaben, 35 % Forschungsaktivitäten, ziplinübergreifend anwendbar sind. Hochwertige For- 14 % Politikberatung und Wissenstransfer. schungsinfrastrukturenheraus mögliche Qualitätskriterien sind demnach: identifiziert, die dis

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· zeitgemäß: Die Präsentations- bzw. Durchführungsform entspricht dem state of the art und orientiert sich technisch an etablierten oder für die Zukunft vielversprechenden Standards. Ein Höchstmaß an Interoperabilität mit vergleichbaren Angeboten anderer Einrichtungen ist gegeben;

· relevant: Die Relevanz einer Forschungsinfrastruktur basiert auf ihrer Rolle innerhalb der Bezugsdisziplin und wird bestimmt durch folgende Kriterien, die von einzelnen Forschungsinfrastrukturen nicht vollständig adressiert, aber in einem sinnvollen Verhältnis bedient werden können: · Bedeutung für die jeweiligen Fachgemein­ schaften: Die Frage von Nutzung und Art der Wissenschaftsbasiertheit ist im Verhältnis zur Größe einer scientific community ein maßgebender Indika- tor; · strukturbildende oder strukturverändernde Effekte: Hierzu zählen die Erschließung neuer Forschungsgebiete, die Stärkung interdisziplinärer Kooperationen und das Aufzeigen neuer Fragestel- lungen und Methoden für die jeweilige Fachgemein- schaft; · Unikalität: Forschungsinfrastrukturen stellen Objekte und/oder Leistungen bereit, deren Verlust oder deren Fehlen unwiederbringliche Lücken bzw. forschungsbehindernde Folgen nach sich ziehen; GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften führt jährlich eine Portfolioanalyse · Exemplarität: Forschungsinfrastrukturen sind bei- zur Bewertung seiner Angebote durch. Regelmäßig wird außerdem eine ergänzende spielgebend für ein Fachgebiet oder verfügen über Zielgruppenumfrage zu den Angeboten durchgeführt. Dabei werden Daten zur einen dokumentarischen Charakter im Sinne des Attraktivität der Angebote, zum Markt und zur Wettbewerbssituation erhoben. kulturellen und natürlichen Erbes der Menschheit; Zentrale Fragen sind solche zu Bekanntheit, Nutzung und Wichtigkeit der Angebote. · internationale Anschlussfähigkeit: Vielfach Die Portfolioanalyse wird kontinuierlich von einer Arbeitsgruppe begleitet, die mit übernehmen Forschungsinfrastrukturen über ihre ganz unterschiedlichen Akteuren besetzt ist: Kommunikation, Qualitätsmanagement, gesamtstaatliche Aufgabe im internationalen Rah- Verwaltung, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. men eine herausgehobene Rolle für Vernetzung und Kooperation.

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· qualitätsgesichert:

und Begutachtungssysteme (etwa durch Nutzer- und ProjektbeiräteAn der Einrichtung oder existierenStatusgruppen). geregelte Wo Workflows sinnvoll und möglich betreiben sie (inter)aktive Benutzer-/Nut- zungsforschung (Feedback-Mechanismus) und evaluie- ren regelmäßig die Useability ihrer Angebote. Darüber hinaus existiert ein zeitgemäßes internes System zur Qualitätsbestimmung und -sicherung (Arbeitsgruppen, interne Monitoringberichte, Nutzerbeiräte etc.);

· nutzerorientiert und antizipativ: Die Anbieter sichten regelmäßig das Feld potenzieller Nutzergruppen, entwickeln qualitative Nutzerbefra- gungen für konventionelle und virtuelle Angebote und reagieren auf begründete Bedarfe der jeweils relevan- ten scientific community. Auch bemisst sich die Qualität vieler Forschungsinfrastrukturen an ihrer forschungs- offenen und proaktiv antizipierenden Struktur (für Spezialbibliotheken z.B. in Form eines klaren Samm-

Erwerbung oder für Forschungsdaten von Panel- und Kohortenstudien);lungsprofils mit vollständiger oder repräsentativer

· transparent zugänglich und rechtlich validiert: Die Sicherstellung der gesetzlichen Datenschutzbe- stimmungen gehört zu den Voraussetzungen für den Betrieb einer Forschungsinfrastruktur. Diese sind selbsterklärend ausgewiesen und über variable Such- - sches – in der Regel gebührenfreies – Schulungsange- botkriterien für Nutzer zugänglich. oder Gäste Auch der stellen Forschungsinfrastruktur die Anbieter spezifi bereit;

· nachhaltig: Das Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) strebt bei der Leistungs­ Die Forschungsinfrastrukturen verfügen über eine bewertung an, Forschungs- und Infrastrukturleistungen als gleichwertige Komponen- qualitativ und quantitativ angemessene personelle ten der wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit des Instituts anzuerkennen und darzu- Ausstattung und damit auch über ein ausreichendes stellen. So werden wissenschaftliche Leistungen bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Potenzial für strategische Planungen und technische mit einem bestimmten Anteil von Infrastruktur- und Service-Aufgaben entsprechend wie methodische Innovationen. Dies setzt voraus, diesem Anteil höher bewertet als bei „reinen“ Forscherinnen und Forschern. Bei der dass sie über eine ausreichende Grundförderung ihrer Entscheidung über die unbefristete Weiterbeschäftigung werden die eigenständige und operativen Kosten, die vielfach extern verursachten engagierte Entwicklung und Umsetzung von Qualitätsmanagement-Maßnahmen für Kostensteigerungen unterliegen, verfügen und nicht den Service-Bereich ebenso bewertet wie die Forschungsleistungen. dauerhaft auf einem hohen Drittmittelanteil basieren.8

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4. Potenziale von Forschungsinfra­strukturen für die Förderung ­wissenschaftlichen ­Nachwuchses und ­beruflicher Ausbildung

Zu einer nachhaltigen Qualitätssicherung gehört auch infrastrukturen als eine attraktive Alternative zur reinen - Forschungsfokussierung wahrgenommen werden, wird es senschaftliches Personal zu rekrutieren und exzellente auch gelingen, die jeweils Besten zu gewinnen. Fachkräftein Forschungsinfrastrukturen, auszubilden. Hierfür bedarf hochqualifiziertes es jedoch entspre wis- chender Anerkennungskulturen: Nur wenn Forschungs- Jüngst hat der Wissenschaftsrat bekräftigt, dass längst nicht alle Absolventen von Graduiertenschulen und -kollegs ihre

Das Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Leibniz-­ mithin die Erweiterung wissenschaftlicher Karrierewege Gemeinschaft (HI) hat im Rahmen seiner Leibniz Graduate School ein eigenes eineberufliche Herausforderung Zukunft in dervon Forschunghoher Priorität sehen darstellt. (können) Ausge und- Fellowship-Programm entwickelt. Dieses bietet jungen Wissenschaftlerinnen und hend von diesen Empfehlungen, die der Wissenschaftsrat Wissenschaftlern die Möglichkeit, in strukturierter Weise Grundkenntnisse und Ein­ zu „Karrierezielen und -wegen an Universitäten“9 veröffent- blicke in Karrieren im Forschungsinfrastrukturbereich außerhalb der Universitäten zu licht hat, können gerade außeruniversitäre Einrichtungen erhalten, die am Ende auch zertifiziert werden. Dieses Programm steht gleichermaßen einen ganz besonderen Beitrag zur Etablierung von gleich- Interessierten der Partneruniversität Gießen und aus dem internationalen Netzwerk wertigen Karrierewegen erbringen. Die Leibniz-Gemein- des Herder-Instituts offen. Dadurch werden Ausbildungsstandards auch grenzüber- schaft mit ihrer besonderen disziplinären Breite von For- schreitend weiterentwickelt und theoretisch reflektiert. In die Diskussionen werden die schungsinfrastrukturen verfügt hier über ein besonderes Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Infrastrukturbereich des Herder-Instituts offensiv eingebunden. Sie sind es, die aus praxisbezogenen Perspektiven maßgeblichen Input eine besondere Verantwortung. Im Sinne einer integrierten leisten und durch ihr Anwendungswissen den theoretischen Diskussionen entscheiden- PersonalentwicklungReservoir an beruflichen bedarf Optionen es klarer und Konzepte, damit auch wie überjun- de Dimensionen hinzufügen. ge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler früh in For- schungsinfrastrukturen eingebunden und nachhaltig ge-

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fördert werden können. Damit einher geht eine realistische die in enger Anbindung an Forschungsinfrastrukturen pro- movierenBestimmung und der damit Qualifizierungszeit eine über die eigene von Promovierenden, Forschung hin- ausgehende wissenschaftliche Expertise erwerben.

- se, Leistungserwartungen und Ergebnisse der Arbeit mitDie oder Erarbeitung an Forschungsinfrastrukturen von Kompetenzprofilen, deutlich die Kenntnis formu- lieren und sichtbar machen, bildet hierfür einen ersten wichtigen Schritt. Es wird daher angeregt, zur Erfassung von Forschungs- und Wissenschaftsleistung in den For- schungsinfrastrukturen eine eigene und passgenaue Kompetenzmatrix zu erstellen, die im gleichen Maße als internes Personalentwicklungsinstrument und externes An den einzelnen Instituten der Projektgruppe haben sich vielfältige Ausbildungs­ angebote etabliert: Biologielaborant/in, Zootierpfleger/in, Kauffrau/Kaufmann NebenProfilmerkmal den wissenschaftlichendienen kann. Karrieren benötigen für ­Büromanagement, Fachangestellte/r für Medien und Kommunikation, Fach­ zahlreiche Forschungsinfrastruktureinrichtungen auch informatiker/in mit der Fachrichtung Systemintegration (IZW); Kauffrau/Kaufmann - für Büromanagement, Fachangestellte/r für Medien- und Informationsdienste senschaftsorientiert tätig ist. Hierzu bietet das duale Aus- und Fachinformatiker/in mit der Fachrichtung Anwendungsentwicklung (GESIS); bildungssystemqualifiziertes Fachpersonal, für Forschungsinfrastruktureinrichtun das auf hohem Niveau wis- Fachangestellte/r für Medien und Kommunikation, Verwaltungsfachangestellte/r, Fachinformatiker/in mit der Fachrichtung Systemintegration, Buchbinderei (GEI); an. Fachangestellte ergänzen dabei in idealer Weise Teams Fachangestellte/r für Medien- und Informationsdienste mit der Fachrichtung vongen eineServicewissenschaftlern, Vielzahl möglicher beruflicher denn gerade Ausbildungswege Nutzerinnen Bibliothek (HI); Fachangestellte/r für Markt- und Sozialforschung (SOEP); und Nutzer schätzen solche Beschäftigte als kompetente Restaurator/in im Fachbereich Altertumskunde (RGZM). und verlässliche Ansprechpartner für Dienstleistungen.

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5. Vorschläge zur nachhaltigen ­Sicherung und Entwicklung von Forschungs­ infrastrukturen

Zeitgemäße Forschungsinfrastrukturen müssen mit den Innovationsschübe sinnvoll und für die Forschung bere- rasanten Entwicklungen der digitalen Welt Schritt halten, chenbar nutzen zu können. Hierbei ist zu berücksichtigen, wenn sie ihre Funktion als Forschung förderndes und For- dass die langfristig anfallenden Betriebskosten aus der schung generierendes Angebot auf Dauer aufrechterhalten regulären Budgetentwicklung einzelner Institute meist wollen. Problematisch erscheint, dass neue Forschungsin- nicht zur Gänze abzudecken sind und daher eine gra- frastrukturen, die diese Herausforderungen adressieren, - wettbewerblich angelegte Förderformate zur Betriebs- jekte aufgebaut und anschließend nicht oder nur durch kostenübernahmevierende ­Finanzierungslücke innovativer entsteht. Neuentwicklungen Spezifische undvon Umverteilungnur über drittmittelfinanzierte von Forschungsressourcen Zwei- bis auf Dreijahrespro längere Sicht ­Infrastrukturen sind daher unabdingbar. angeboten werden können. So scheitert ein nachhaltiger Betrieb oftmals, selbst wenn dieser nach Auswertung der Die Projektgruppe hält daher eine Diskussion für notwen- Ergebnisse aus Sicht der Betreiber und der Nutzerinnen dig, über welche Wege spezielle Förderlinien für innovative, und Nutzer naheliegend, ja aus Forschungsinteressen insbesondere für digitale Forschungsinfrastrukturen einge- zwingend wäre. richtet werden können. Dabei könnte es sich um nationa- le Förderformate handeln, die es ermöglichen, nach einer Sowohl die Einrichtungen selber als auch die jeweilige dreijährigen Förderung die Ergebnisse zu bewerten und scientific­ community und die Wissenschaftspolitik sind ggf. eine zweite Förderphase von zwei Jahren zu bewilligen. Nach einer erneuten positiven Evaluierung könnte dann nachhaltigen Sicherung von drittmittelgenerierten For- über die Übernahme dauerhafter Kosten in den Kernhaus- schungsinfrastrukturendaher gefordert, neue undzu entwickeln, flexible Förderformate die es gestatten, zur halt der beteiligten Einrichtungen entschieden werden.

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6. Ausblick

Forschungsinfrastrukturen nehmen im Wissenschafts- system und in der Vermittlung von akademischem Wis- sen in die Gesellschaft eine ausnehmend wichtige und in wachsendem Maße aktive Rolle ein. Aus den Rückkopp- lungseffekten zwischen der Entwicklung und Nutzung von Forschungsinfrastrukturen einerseits und einem ak- tiven, professionellen Wissenstransfer im Dialog mit Ge- sellschaft, Wirtschaft und Politik andererseits erschließen sich vielfach neue Fragestellungen und Möglichkeiten – auch und vor allem für die Forschung.

Akteure in der Wissenschaftspolitik wie in der Forschung sind deshalb gefordert, vorausschauende und integrati- ve Konzepte für die wechselseitige Befruchtung von For- schung, Forschungsinfrastrukturen und Wissenstransfer zu entwickeln. Es gilt, die Diskussionen über eine sinnvolle Bestimmung von Qualität und Nachwuchsentwicklung in den wissenschaftlichen Zukunftsfeldern jenseits der For- schung voranzutreiben und optimale Rahmenbedingun- gen für die Erarbeitung zukunftsgerichteter Forschungs­ infrastruktur-Agenden zu schaffen. Auf diese Weise können und sollten Forschungsinfrastrukturen, die für die Wissensgesellschaft der Zukunft entscheidende Weichen stellen, langfristig geplant, verfügbar gemacht und erwei- tert werden können.

Die Projektgruppe hat hierfür einen Beitrag erarbeitet und stellt diesen mit vorliegender Broschüre zur Diskus- sion. Dies wäre nicht ohne die Unterstützung möglich gewesen, die sie seitens der Geschäftsstelle der Leibniz-­ Gemeinschaft erfahren hat. Allen dem Projekt verbunde- nen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sei ebenso herzlich gedankt wie den Mitgliedern der Projektgruppe, darunter den Kolleginnen und Kollegen aus dem Bereich Wissens­ transfer, die ihre Erfahrungen, Konzepte und Probleme in den gemeinsamen Workshops offen und ausgesprochen konstruktiv diskutiert haben. Die beste Anerkennung für ihr Engagement­ wäre es, wenn diese Impulse von den re- levanten Akteuren aufgegriffen und eine breite Diskussion zu den wissenschaftlichen Potenzialen von Forschungs­ infrastrukturen angestoßen würde.

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Nachweise

1 So ist zum Beispiel das an der Otto-Friedrich-Univer- 6 Sektion A: Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für sität Bamberg angesiedelte Leibniz-Institut für Bil- internationale Schulbuchforschung (GEI), Herder-Insti- dungsverläufe e.V. (LIfBi) als jüngstes Neu-Mitglied tut für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Forschungsdateninfrastrukturen aus einem DFG- der Leibniz-Gemeinschaft (HI), Römisch-Germanisches Schwerpunktprogramm hervorgegangen. Zentralmuseum – Forschungsinstitut für Archäologie (RGZM); Sektion B: Sozio-oekonomisches Panel (SOEP) 2 WR (2011): Empfehlungen zu Forschungsinfrastruktu- im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), ren in den Geistes- und Sozialwissenschaften; WR (2012): GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften; Sek- Empfehlungen zur Weiterentwicklung der wissenschaft- tion C: Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung lichen Informationsinfrastrukturen in Deutschland bis (IZW); Sektion D: Leibniz-Zentrum für Informatik GmbH 2020; WR (2013): Bericht zur wissenschaftsgeleiteten – Schloss Dagstuhl (LZI); Sek­tion E: Leibniz-Zentrum für Bewertung umfangreicher Forschungsinfrastrukturvor- Agrarlandschaftsforschung e.V. (ZALF). haben für die Nationale Roadmap; BMBF (2013): Road- map für Forschungsinfrastrukturen: Pilotprojekt des 7 Die Projektgruppe orientiert sich hier an der Begriff- BMBF; BMBF (2015): Leitfaden zur Konzepterstellung lichkeit, die die Präsidiumsgruppe „Forschungsinfra- für eine nationale Roadmap für Forschungsinfrastruk- strukturen in der Leibniz-Gemeinschaft“ entwickelt turen des Bundesministeriums für Bildung und For- hat: Forschungsinfrastrukturen in der Leibniz-Gemein- schung; DFG (2012): Die digitale Transformation weiter schaft/Research Infrastructures in the Leibniz Associa- gestalten – Der Beitrag der Deutschen Forschungsge- tion (2015), S. 7. meinschaft zu einer innovativen Informationsinfra- struktur für die Forschung; ESFRI (2006): European 8 Die Projektgruppe weist allerdings darauf hin, dass eine roadmap for research infrastructures. Report. systematische Umsetzung bzw. umfassende Etablie- rung aller Maßnahmen zur Qualitätssicherung von For- 3 Präsidiumsgruppe „Forschungsinfrastrukturen in der schungsinfrastrukturen überaus anspruchsvoll ist und Leibniz-Gemeinschaft“ (Leitung: Prof. Simone Lässig, in vielen, vor allem kleinen und mittelgroßen Instituten Direktorin des Georg-Eckert-Instituts – Leibniz-Institut auf erhebliche Probleme stößt, weil die dafür notwendi- für internationale Schulbuchforschung Braunschweig, gen personellen Ressourcen fehlen. Die Anforderungen seit Juni 2015: Prof. Jörg Overmann, Geschäftsführer zur Qualitätssicherung von Forschungsinfrastrukturen des Leibniz-Instituts Deutsche Sammlung von Mikroor- steigen kontinuierlich, die zur Verfügung stehenden ganismen und Zellkulturen GmbH Braunschweig). Mittel allerdings nicht in gleichem Maße.

4 Siehe: Forschungsinfrastrukturen in der Leibniz-Ge- 9 Vgl. WR (2014): Empfehlungen zu Karrierezielen und meinschaft/Research Infrastructures in the Leibniz As- -wegen an Universitäten, S. 41–44. sociation (2015).

5 WR (2014): Empfehlungen zu Karrierezielen und -we- gen an Universitäten.

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Literatur

Bundesministerium für Bildung und Forschung Deutsche Forschungsgemeinschaft (2012): Die digitale (2015): Leitfaden zur Konzepterstellung für eine Transformation weiter gestalten – Der Beitrag der nationale Roadmap für Forschungsinfrastrukturen des Deutschen Forschungsgemeinschaft zu einer innovativen Bundesministeriums für Bildung und Forschung Informationsinfrastruktur für die Forschung (https://www.bmbf.de/pub/leitfaden_zur_ (http://www.dfg.de/download/pdf/foerderung/ konzepterstellung_forschungsinfrastruktur.pdf) programme/lis/positionspapier_digitale_transformation. pdf) Leibniz-Gemeinschaft (2015): Forschungsinfrastrukturen in der Leibniz-Gemeinschaft/Research Infrastructures in Wissenschaftsrat (2011): Konzept für eine the Leibniz Association wissenschaftsgeleitete Bewertung umfangreicher (http://www.leibniz-gemeinschaft.de/fileadmin/ Forschungsinfrastrukturvorhaben für eine Nationale user_upload/downloads/Presse/Publikationen/Leibniz_ Roadmap (Pilotphase), Köln 2011 Infrastrukturen_2-2015_web.pdf) (http://www.wissenschaftsrat.de/download/ archiv/1766-11.pdf) Wissenschaftsrat (2014): Empfehlungen zu Karrierezielen und -wegen an Universitäten Wissenschaftsrat (2011): Empfehlungen zu (http://www.wissenschaftsrat.de/download/ Forschungsinfrastrukturen in den Geistes- und archiv/4009-14.pdf) Sozialwissenschaften (http://www.wissenschaftsrat.de/download/ Bundesministerium für Bildung und Forschung (2013): archiv/10465-11.pdf) Roadmap für Forschungsinfrastrukturen. Pilotprojekt des BMBF Wissenschaftsrat (2011): Übergreifende Empfehlungen (https://www.bmbf.de/pub/Roadmap.pdf) zu Forschungsinfrastrukturen (http://www.wissenschaftsrat.de/download/ Bundesministerium für Bildung und Forschung archiv/10466-11.pdf) (2013): Leitfaden zur Konzepterstellung für eine nationale Roadmap für Forschungsinfrastrukturen des Ausführungsvereinbarung zum GWK-Abkommen über die Bundesministeriums für Bildung und Forschung gemeinsame Förderung der Mitgliedseinrichtungen der (https://www.bmbf.de/pub/leitfaden_zur_ Wissenschaftsgemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibniz konzepterstellung_forschungsinfrastruktur.pdf) e.V. – Ausführungsvereinbarung WGL (AV-WGL) – vom 27. Oktober 2008 Leibniz-Gemeinschaft (2013): Leitlinien für die (http://www.gwk-bonn.de/fileadmin/Papers/AV-WGL.pdf) Arbeitsbedingungen und die Karriereförderung promovierender und promovierter Wissenschaftlerinnen ESFRI (2006): European roadmap for research und Wissenschaftler in den Instituten der Leibniz- infrastructures. Report Gemeinschaft (ftp://ftp.cordis.europa.eu/pub/esfri/docs/esfri-roadmap- (http://www.leibniz-gemeinschaft.de/fileadmin/user_ report-26092006_en.pdf) upload/downloads/Karriere/Karriere-Leitlinien_Leibniz- Gemeinschaft_Maerz_2013.pdf)

Wissenschaftsrat (2012): Empfehlungen zur Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Informationsinfrastrukturen in Deutschland bis 2020 (http://www.wissenschaftsrat.de/download/ archiv/2359-12.pdf)

QUALITÄT – REPUTATION – NACHHALTIGKEIT

Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- abschätzung

Ausschussdrucksache 18(18)232 b

20.06.2016

Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina / acatech - Deutsche Akademie der Technikwissenschaften / Union der Deutschen Akademien der Wissenschaften

Unangeforderte Stellungnahme

Öffentliches Fachgespräch

zum Thema

„Förderung von Forschungsinfrastrukturen“

am Mittwoch, 22. Juni 2016

- Gesamtbericht (einschließlich Kurzfassung) -

Mai 2016 Kurzfassung

Wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Bedeutung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien

Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften Union der deutschen Akademien der Wissenschaften

Bevölkerungsweite Längsschnittstudien bilden das Rückgrat der empirischen Forschung in den Sozial-, Wirtschafts- und Verhaltenswissenschaften sowie der Epidemiologie und der Gesund- heitsforschung. Sie sind die „Großgeräte“ dieser Wissenschaften, mit denen diese ihre Theorien testen, neue Beobachtungen schöpfen und evidenzbasierte Politikberatung durchführen.

Großgeräte bzw. „Forschungsinfrastrukturen“ sind umfangreiche und aufwändige Instrumente für die Forschung, die eine internationale oder zumindest nationale Bedeutung für die zugehö- rigen Wissenschaftsgebiete tragen, eine langfristige Lebensdauer anstreben, ohne die wissen- schaftliche Kreativität zu gefährden, und einer großen Anzahl externer Nutzerinnen und Nutzer für vorwiegend wissenschaftliche Zwecke zur Verfügung stehen.

Obwohl bevölkerungsweite Längsschnittstudien seit einigen Jahren in Deutschland verstärkt unterstützt werden, erschweren strukturelle Hemmnisse der Forschungsförderung, mangelnde Harmonisierung der Datenerhebung und -auswertung sowie Defizite der erforderlichen interdis- ziplinären Aus- und Weiterbildung ihren Anschluss an die internationale Spitzenforschung. Es ist daher das Ziel dieser Stellungnahme, auf der Grundlage einer Bestandsaufnahme der aktuellen Situation und unter Einbeziehung wegweisender internationaler Erfahrungen Empfehlungen zur Struktur der Forschungsförderung und zur Harmonisierung zukünftiger Forschung in diesem Be- reich zu geben.

| www.leopoldina.org | www.acatech.de | www.akademienunion.de 2 Wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Bedeutung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien

Der für Wissenschaft und Gesellschaft unverzichtbare Bedarf an bevölkerungsweiten Längs- schnittstudien resultiert inhaltlich aus drei Aufgabenbereichen:

• Erstens sind menschliche Gesellschaften einem steten Wandel unterworfen. Längsschnitt- studien ermöglichen es, sowohl stabile Muster als auch Veränderungen im Zeitverlauf zu dokumentieren, neue Trends zu identifizieren sowie Zusammenhänge zwischen sozioöko- nomischen und biomedizinischen Mechanismen zu analysieren. • Zweitens können bei bevölkerungsweiten Längsschnittstudien, in denen identische Perso- nen mehrfach im Zeitverlauf untersucht werden, unter klar definierten Bedingungen theo- riegestützte Hypothesen zu Ursache-Wirkungs-Beziehungen getestet werden. Dies ist mit administrativen und prozessgenerierten Daten („big data“) in der Regel nicht möglich. • Drittens können aus vielen dieser Analysen modellbasierte Vorhersagen über zukünftig zu erwartende Entwicklungen abgeleitet werden, die eine wichtige Orientierungs- und Pla- nungshilfe für gesellschafts-, wirtschafts- und gesundheitspolitische Entscheidungen bilden.

Die wissenschaftstheoretische Bedeutung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien mit mul- ti- oder interdisziplinär angelegten Erhebungsprogrammen in den genannten Wissenschaften resultiert daraus, dass die in den Natur- und Lebenswissenschaften vorherrschende experimen- telle Methodik beim Studium von Vorgängen auf Bevölkerungsebene nur sehr begrenzt einge- setzt werden kann. Daher nutzen die Sozial-, Wirtschafts- und Verhaltenswissenschaften, die Epidemiologie und die Gesundheitsforschung (kurz: Sozial- und Gesundheitswissenschaften) die große Vielfalt und die zeitliche Veränderung biomedizinischer, persönlichkeitsbezogener und sozioökonomischer Faktoren innerhalb einer Bevölkerung, um aus diesen Daten anhand theoriegeleiteter statistischer Analysen Erkenntnisse über kausale Beziehungen zu gewinnen und Prognosen abzuleiten. Gute Beispiele hierfür sind die Abschätzung des Pflegebedarfs ei- ner alternden Bevölkerung, der Nachweis positiver Effekte von Bildungsinvestitionen auf die lebenslange Gesundheit und die Quantifizierung des Einflusses, der von der sozialen Lage einer Bevölkerungsgruppe auf deren Lebenserwartung ausgeht. Den Erfolg dieser Forschungsstra- tegie zeigen die wegweisenden Erkenntnisse von Geburtskohortenstudien, die es erlauben, biomedizinische und sozioökonomische Prozesse über den Lebensverlauf zu analysieren. Die- se Studien zeigen auch, wie wichtig eine langfristige Perspektive ist, weil der Wert von Längs- schnittdaten mit der Anzahl von Untersuchungswellen exponentiell zunimmt.

Einerseits ist die Arbeitsgruppe sich einig, dass der Forschungsstandort Deutschland sich glück- lich schätzen kann, eine auch im internationalen Vergleich vielfältige, intensiv und breit ge- nutzte Landschaft von bevölkerungsweiten Längsschnittstudien aufweisen zu können, z.B. das Sozio-oekonomische Panel (SOEP), das Nationale Bildungspanel (National Educational Panel Study – NEPS), das Beziehungs- und Familienpanel (Panel Analysis of Intimate Relationships and Family Dynamics – pairfam) sowie mehrere epidemiologische Kohortenstudien in der Nachfol- ge von Multinational Monitoring of Trends and Determinants in Cardiovascular Disease (MONI- CA)/Kooperative Gesundheitsforschung in der Region Augsburg (KORA) und insbesondere die vor kurzem initiierte Nationale Kohorte (NAKO). Ebenso ist Deutschland in eine Reihe interna- tional vergleichender Studien einbezogen, z.B. den querschnittlich replikativenEuropean Social Survey (ESS) und den längsschnittlichen Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe (SHARE). Schließlich hat Deutschland viele gut ausgebildete Absolventinnen und Absolventen in den einschlägigen Studiengängen sowie ein großes Potenzial an entsprechenden wissenschaft- lichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

Andererseits stellt die Arbeitsgruppe jedoch fest, dass dieses Potenzial gegenwärtig nicht ge- nügend zur Geltung kommen kann, so dass Erkenntnispotenziale unausgeschöpft bleiben. Dies Wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Bedeutung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien 3

liegt an drei Gründen: Erstens weist die verfügbare finanzielle und organisatorische Infrastruk- tur (z.B. Förderformate) Widersprüche und Mängel auf, die es erschweren, bevölkerungsweite Längsschnittstudien nachhaltig durchzuführen. Dies trifft zweitens auch für bestimmte Elemen- te der intellektuellen Infrastruktur (z.B. Aus- und Weiterbildung) zu. Drittens sind sozialwissen- schaftliche und biomedizinische Forschungsansätze auf praktisch allen Ebenen ungenügend vernetzt und harmonisiert.

Das zentrale Anliegen dieser Stellungnahme ist es daher, Hinweise zu liefern, die es erlauben, eine langfristige und koordinierte Strategie der Förderung von bevölkerungsweiten Längs- schnittstudien zu entwickeln, die das derzeitige Vorherrschen von kurzfristiger Planung und Ad- hoc-Management in einer Vielzahl von finanziell und organisatorisch nicht ausreichend ausge- statteten Trägerinstitutionen ergänzen und verbessern kann, sowie die bessere Verbindung von biomedizinischen und sozioökonomischen Inhalten in Forschung und Ausbildung zu stärken.

Handlungsbedarf, den die Arbeitsgruppe primär beim Bundesministerium für Bildung und For- schung (BMBF) in Zusammenarbeit mit den außeruniversitären Forschungseinrichtungen und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) sieht, gibt es zunächst bei den Finanzierungsin- strumenten und den Karrieremöglichkeiten leitender Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wie bei den naturwissenschaftlichen Großgeräten ist auch für die Forschungsinfrastrukturen der Sozial-, Verhaltens- und Gesundheitswissenschaften eine längerfristig stabile Finanzierung und Betreuung durch leitende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unabdingbar. Diese Erkenntnisse haben sich im Gegensatz zu den Naturwissenschaften in den Sozial-, Verhaltens- und Gesund- heitswissenschaften jedoch bislang nur wenig durchgesetzt. So sollten erstens Förderinstru- mente geschaffen werden, die eine langfristige Finanzierung (z.B. planbare Verlängerungen) erlauben. Zweitens sollten Personen, die im Management großer Forschungsinfrastrukturen tätig sind, entsprechende Kompetenzen erwerben und definierte Karrieren (z.B. Tenure-Track für leitende Studienmitarbeiterinnen und -mitarbeiter oder gemeinsam berufene S-Junior- Professuren) anstreben können. Beides ist bei vielen bevölkerungsweiten Längsschnittstudien derzeit nicht der Fall.

Die Arbeitsgruppe ist sich über das Spannungsfeld zwischen Kreativität und Stabilität im Klaren. Sie plädiert deshalb weiterhin für einen dezentralen Ansatz, der die Kreativität bei der Schaf- fung neuer Initiativen und die wissenschaftlichen Innovationen im Rahmen bereits erfolgreicher Infrastrukturen nicht einschränkt. Alle bewährten bevölkerungsweiten Längsschnittstudien be- nötigen jedoch eine mit entsprechenden Fördertiteln ausgestattete stabile Finanzierungsbasis, damit ihre Fortführung und Weiterentwicklung auf der Grundlage wiederholt erfolgender Eva- luation sichergestellt werden kann (wie sich dies z.B. in der Leibniz-Gemeinschaft mit einem siebenjährigen Evaluationsrhythmus erfolgreich etabliert hat).

Handlungsbedarf besteht zudem bei den Universitäten und außeruniversitären Forschungs- einrichtungen. Die derzeitige Aus- und Weiterbildung leidet unter mehreren Defiziten. Ers- tens ist eine gezielte Schulung von Methodenkompetenzen in den Kernfächern dieses For- schungsbereichs nur an wenigen Standorten verfügbar, sowohl im Grundstudium wie auch in Aufbaustudiengängen. Zweitens fehlen Trainingsprogramme für die transdisziplinäre- For schungskooperation insbesondere zwischen biomedizinischen und sozioökonomischen Nach- wuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern, die zur Erzielung innovativer Erkenntnisse oft unerlässlich sind. Drittens sind die Studienpläne der biomedizinischen und sozioökonomi- schen Studien erschreckend wenig koordiniert, so dass oft keine vergleichbaren Daten gene- riert und erkenntnisfördernde Synergieeffekte verfehlt werden. Schließlich mangelt es an Aus- bildungsmöglichkeiten im Survey-Management. 4 Empfehlungen

Empfehlungen

1. Nationale Förderinitiative der Ausbau von Leibniz-Instituten als Inf- für interdisziplinäre Längs- rastruktureinrichtungen für Längsschnitt- schnittstudien studien bei der laufenden Planung für Neuaufnahmen in die Leibniz-Gemein- 1.1 Bevölkerungsweite Längsschnittstudien schaft vorgesehen werden. Dabei sollten sind nationale Forschungsinfrastrukturen, die neuen Möglichkeiten genutzt werden, die – vielfach im internationalen Kontext die die Änderung von Art. 91b Abs. 1 GG – eine essentielle Grundlage für demo- für die Einrichtung von Leibniz-Instituten graphische, biomedizinische, sozioökono- als universitäre Leibniz-Forschungszent- mische und verhaltenswissenschaftliche ren bietet. Forschungsprojekte bilden. Ihre finanzi- elle und organisatorische Unterstützung 2.2 Da die Etablierung und Bund-Länder- sollte daher eine nationale Aufgabe sein. finanzierte Neugründung eines mit einer Universität verbundenen oder außeruni- 1.2 Die Arbeitsgruppe empfiehlt eine nati- versitären Instituts jedoch nicht immer onale Förderinitiative zur Stärkung der sinnvoll ist, empfiehlt die Arbeitsgruppe interdisziplinären Zusammenarbeit bei daher zum anderen, als alternative Form der Durchführung bevölkerungsweiter der Institutionalisierung auf Zeit, eine Längsschnittstudien, insbesondere zwi- Aufhebung der Begrenzung der DFG- schen den biomedizinischen und so- Langzeitvorhaben auf zwölf Jahre, da zioökonomischen Wissenschaften. Sie diese Zeitspanne für die hier im Interes- empfiehlt eine gezielte Ausschreibung se stehenden Längsschnittstudien nicht von biomedizinisch-sozioökonomischen sachgerecht ist. Zudem ist der dreijäh- Forschungskooperationen nach dem rige Begutachtungszeitraum zu kurzfris- Beispiel des US-amerikanischen National tig und kollidiert mit den Wiederbefra- Institute on Aging bzw. der engen Koope- gungszyklen vieler Längsschnittstudien. ration zwischen dem Medical Research Er sollte dem Vorgehen der US National Council und dem Economic and Social Institutes of Health entsprechend auf Research Council in Großbritannien. 5–6 Jahre erhöht werden.

2.3 Innerhalb der DFG sollte die Begut- 2. Langfristige Förderinstrumente achtung solcher Initiativen und For- schungsinfrastrukturen „entsiloisiert“ 2.1 Die Arbeitsgruppe empfiehlt den Ausbau werden und die spezifische Vernetzung und die Schaffung von Förderinstrumen- des Gesamtsystems der Wissenschaft in ten, die eine auf der Basis periodischer Deutschland genutzt werden. Bei Lang- Begutachtungen im Prinzip unbeschränkt zeitvorhaben sollte der entsprechende oft verlängerbare Finanzierung von Querschnittsfachausschuss ­proportional ­Forschungsinfrastrukturen bereitstellen aus Wissenschaftlerinnen und Wissen­ können, solange das wissenschaftliche schaftlern derjenigen Fachgebiete zu- Interesse an ihnen weiterbesteht und die sammengesetzt werden, welche die Qualität nachgewiesen wird. Dafür sollte jeweilige Forschungsinfrastruktur ent- 5 Empfehlungen

wickeln oder bedienen und von Expertin- 3.2 Ferner sollten die bestehenden nationa- nen und Experten aus bestehenden Infra- len Längsschnittstudien (bspw. Nationale strukturen ergänzt werden. Kohorte in Deutschland und CONSTAN- CES-Studie in Frankreich; HLS-Studie in 2.4 Ebenfalls nicht sachgerecht ist die bisher Großbritannien, SOEP und mehrere as- gültige Entscheidung, sämtliche Kosten soziierte und kooperierende prospektive für die Erstellung von bevölkerungswei- Kohortenstudien) über die Landesgren- ten Längsschnittstudien ausschließlich als zen hinaus stärker harmonisiert und da- Betriebskosten einzustufen. Vielmehr ent- tenschutzrechtlich geregelte Formen des spricht der Aufbau solcher nationalen For- Datentransfers über die Landesgrenzen schungsinfrastrukturen sowohl inhaltlich erleichtert werden (Bsp. Transferstelle als auch organisatorisch der Erstellung phy- des Forschungsverbundes Community sikalischer Großgeräte. Erhebungskosten, Medicine der Universität Greifswald). Kosten für Harmonisierung und Standardi- sierung, Qualitätssicherung, Zertifizierung für Erhebungspersonal sowie Aufbau des 4. Ressourcen für Datenharmoni- Datenmanagements und der Datensicher- sierung, -dokumentation und heit sind daher sowohl als Betriebs- als -verknüpfung auch Konstruktionskosten anzuerkennen, zumal sowohl der Aufbau und auch der 4.1 Um die disziplinenübergreifende Nutzung laufende Betrieb von bevölkerungsweiten von Längsschnittstudien zu intensivie- Längsschnittstudien ebenso Arbeitsplätze ren, sollten Möglichkeiten der Harmoni- schaffen wie z.B. die Herstellung physi- sierung zwischen den einzelnen Studien kalischer Großgeräte. Die Arbeitsgruppe überprüft und bis zum Pooling von Daten empfiehlt daher, im Forschungsetat des ausgebaut werden. Bundes einen Posten für biomedizinisch- sozioökonomische Forschungsinfrastruktu- 4.2 Im Sinne verstärkter Nutzerfreundlich- ren zu schaffen, u.U. unter Ausnutzung von keit sollten die Informationen zu Design Art. 91b GG, der bis zu 90 Prozent Bundes- und Dateninhalten von Surveys einheit- finanzierung ermöglicht. licher aufbereitet und zentral verfügbar gemacht werden. Dazu sollten standardi- sierte Verfahren einer nutzerfreundlichen 3. Bessere Koordinierung mit der längsschnittlichen Metadatenbereitstel- europäischen Ebene lung angewendet werden.

3.1 Die Arbeitsgruppe empfiehlt eine besse- 4.3 Der Datenzugriff sollte durch ein survey- re Koordinierung zwischen der europä- übergreifendes Internet-basiertes Portal ischen und der deutschen Roadmap für erleichtert werden. Forschungsinfrastrukturen. Dies erfordert insbesondere, dass eine Zustimmung 4.4 Juristische und technische Möglichkeiten Deutschlands auf europäischer Ebene zur Verlinkung von Survey und administ- zu einer Forschungsinfrastruktur auch rativen Daten sollten ausgebaut werden die Bereitstellung eines Finanzierungs- („data matching and linkage“), ebenso mechanismus impliziert, der sicherstellt, die Verknüpfung der bevölkerungsbe- dass diese Forschungsinfrastruktur dann zogenen Daten mit georeferenzierten auch auf- bzw. weitergebaut werden Umweltdaten sowie die Sicherstellung kann. Im Zusammenhang mit Empfehlung von Datenschutz und Probandenethik. 2.4 ist hier insbesondere ein eigener Etat All dies erfordert zusätzliche Ressourcen, für Forschungsinfrastrukturen der ESFRI- die Teil der Studienfinanzierung sein soll- Roadmap zu nennen. ten. 6 Empfehlungen

5. Karrierepfade für leitende sprechende Kurse sollten in die Strukturen Studienmitarbeiterinnen und eingebettet werden, die laut Empfehlung -mitarbeiter 8 geschaffen werden sollten.

5.1 Während Studienleiter zumeist feste Stel- 6.2 Die Arbeitsgruppe empfiehlt ferner, die len als vielfach gemeinsam berufene Pro- leitenden Studienmitarbeiterinnen und fessoren oder Institutsdirektoren inneha- -mitarbeiter v.a. der außeruniversitären ben, gibt es für die leitenden Mitarbeiter Forschungseinrichtungen auch wissen- auf der zweiten Hierarchieebene derzeit schaftlich weiterzubilden, indem sie bes- keine Karrierepfade, die über die größ- ser in die jeweiligen Universitäten und tenteils zeitlich befristeten Stellen des Graduiertenschulen eingebunden wer- akademischen Mittelbaus hinausgehen. den, mit dem Ziel, selbst künftige Promo- Selbst in außeruniversitären Instituten, vierende mit empirischem Schwerpunkt die grundsätzlich Entfristungen erlauben, betreuen zu können. Dies erfordert eine sind bislang keine regelhaften Karrierepfa- Studienfinanzierung, welche der zusätz- de für leitende Mitarbeiter von Längs- lich erforderlichen Zeit für Weiterbildung schnittstudien entwickelt worden. Da Rechnung trägt. diese Mitarbeiter ein für bevölkerungs- weite Längsschnittstudien unabdingbares Erfahrungspotenzial besitzen, empfiehlt 7. Ausbildung an Universitäten die Arbeitsgruppe, hier in Analogie zu Tenure-Track-Professuren Karrierepfade 7.1 Um dem steigenden Qualifizierungsbe- zu schaffen, die es ermöglichen, dass lei- darf Rechnung zu tragen und einen quali- tende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tativ hochwertigen, langfristig kompetiti- als „Laborleiter“ Dauerstellen innehaben ven Stand der Forschung auf dem Gebiet können mit einer Vergütung, welche die bevölkerungsweiter Längsschnittstudien von W2-Professuren erreichen kann. in Deutschland zu erreichen, sollte bereits in der universitären Grundausbildung der 5.2 Die entsprechende Anfangs- und Weiter- entsprechenden Kerndisziplinen eine ge- qualifizierung sollte entsprechend den zielte Wissens- und Kompetenzentwick- nachfolgenden Empfehlungen gesichert lung erfolgen. werden. 7.2 In der Soziologie und den Wirtschafts- wissenschaften ist die datenanalytische 6. Weiterbildungsprogramme für Ausbildung im Allgemeinen gut, jedoch leitende Studienmitarbeiterin- mangelt es an der datengenerierenden nen und -mitarbeiter Ausbildung. Daher sollten im Rahmen von Masterstudiengängen auch speziali- 6.1 Leitende Studienmitarbeiterinnen und sierte Kurse zu Survey-Methodologie und -mitarbeiter sollten eine strukturierte Datenerhebung angeboten werden. Dies Weiterbildung in Forschungs- und Pro- gilt auch für die Politikwissenschaft und jektmanagement erhalten. Diese sollte die Psychologie. An einzelnen Universitä- Voraussetzung für den Aufstieg im Rah- ten sollten darüber hinaus entsprechen- men der in Empfehlung 5 vorgeschlagenen de Masterstudiengänge mit einem inhalt- Karrierepfade sein. Zwar gibt es zahlreiche lichen und methodischen Schwerpunkt Weiterbildungsprogramme für allgemei- auf dem Gebiet der Gesundheits- und nes Forschungs- und Projektmanagement, Medizinsoziologie entwickelt werden. jedoch nicht für derart komplexe, umfang- reiche und langfristige Projekte wie bevöl- 7.3 Im Medizinstudium sollten innerhalb der kerungsweite Längsschnittstudien. Ent- bestehenden Curricula in Epidemiologie 7 Empfehlungen

und Public Health methodische Kompe- men der Weiterbildungsangebote von tenzen der Datenerhebung und -auswer- GESIS oder an von der DFG geförderten tung vermittelt werden. Zusätzlich sollten Graduiertenschulen oder – im Verbund Modellstudiengänge gefördert werden, in kooperierender Studienzentren – als na- denen Medizinstudierende eine Zusatz- tionale Förderinitiative, welche bspw. in qualifikation in einem für die bevölke- Analogie zum britischen CLOSER-Projekt rungsweite Gesundheitsforschung rele- realisiert werden könnte. vanten Gebiet erwerben können. 8.3 Zentrales Ziel einer entsprechenden na- 7.4 Forschungsinteressierten Ärztinnen und tionalen Förderinitiative sollte neben Ärzten sollte nach Abschluss des Medi- der wissenschaftlichen Kapazitätsbil- zinstudiums der Zugang zu postgradu- dung die Stärkung disziplinübergreifen- alen berufsbegleitenden Ausbildungs- der Forschungskooperationen sein. programmen (v.a. Master of Science in Epidemiologie, Master of Science in Pu- blic Health) erleichtert werden. Die be- reits bestehenden postgradualen Studi- engänge sollten gezielt weiterentwickelt werden, um den Anschluss an führende internationale Ausbildungsprogramme zu erreichen.

8. Kapazitätsentwicklung durch wissenschaftliche Nachwuchsförderung

8.1 Die Kapazität an wissenschaftlichen Nachwuchskräften für bevölkerungswei- te Längsschnittstudien sollte deutlich erhöht und durch überregionale Pro- motionsprogramme und Post-Doc-Aus- bildung besser gefördert werden. Zwar besteht bereits gegenwärtig ein Angebot an postgradualen Zusatzqualifikationen sowie an nationalen und internationa- len Trainingskursen, jedoch fehlt eine wissenschaftliche Qualifizierung zur Be- arbeitung der spezifischen inhaltlichen und methodischen Anforderungen, die sich im Rahmen bevölkerungsweiter Längsschnittstudien ergeben, insbeson- dere, wenn sozialwissenschaftliche und biomedizinische Aspekte verbunden werden sollen.

8.2 Entsprechend maßgeschneiderte Qua- lifizierungsangebote sollten teils stand- ortgebunden, teils standortübergreifend entwickelt werden, entweder im Rah- Mitglieder der Arbeitsgruppe Sprecher der Arbeitsgruppe: Prof. Dr. Axel Börsch-Supan (Max-Planck Institut für Sozial- recht und Sozialpolitik, München), Prof. Dr. Johannes Siegrist (Universität Düsseldorf) Mitglieder der Arbeitsgruppe: Prof. Dr. Hans-Peter Blossfeld (Universität Florenz), Prof. Dr. Monique Breteler (Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen, Bonn), Prof. Dr. Josef Brüderl (Ludwig-Maximilians-Universität München), Prof. Dr. Gabriele Doblhammer-Reiter (Universität Rostock), Prof. Dr. Wolfgang Hoffmann (Universität Greifswald), Prof. Dr. Karl Ulrich Mayer (Leibniz-Gemeinschaft, Berlin), Prof. Dr. Beatri- ce Rammstedt (Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften, Mannheim), Prof. Dr. Gert G. Wagner (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Berlin) Wissenschaftliche Referenten der Arbeitsgruppe:Dr. Thorsten Kneip (Max-Planck- Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik, München), Dr. Constanze Breuer, Anna-Maria Gramatté, Dr. Alexandra Schulz (Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina)

Kontakt: Dr. Constanze Breuer Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina Abteilung Wissenschaft – Politik – Gesellschaft (Leiter der Abteilung: Elmar König) [email protected] Tel: +49 (0)345 472 39-867

Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften und die Union der deutschen Akademien der Wissenschaften unter- stützen Politik und Gesellschaft unabhängig und wissenschaftsbasiert bei der Beantwortung von Zukunftsfragen zu aktuellen Themen. Die Akademiemitglieder und weitere Experten sind hervorragende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem In- und Ausland. In inter- disziplinären Arbeitsgruppen erarbeiten sie Stellungnahmen, die nach externer Begutachtung vom Ständigen Ausschuss der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina verab- schiedet und anschließend in der Schriftenreihe zur wissenschaftsbasierten Politikberatung veröffentlicht werden.

Deutsche Akademie der acatech – Deutsche Akademie Union der deutschen Akademien Naturforscher Leopoldina e. V. der Technikwissenschaften e. V. der Wissenschaften e. V. Nationale Akademie der Residenz München, Geschwister-Scholl-Straße 2 Wissenschaften Hofgartenstraße 2 55131 Mainz Jägerberg 1 80539 München Tel.: (06131) 218528-10 06108 Halle (Saale) Tel.: (089) 5 20 30 9-0 Fax: (06131) 218528-11 Tel.: (0345) 472 39-867 Fax: (089) 5 20 30 9-9 E-Mail: [email protected] Fax: (0345) 472 39-839 E-Mail: [email protected] Berliner Büro: E-Mail: [email protected] Hauptstadtbüro: Jägerstraße 22/23 Berliner Büro: Pariser Platz 4a 10117 Berlin Reinhardtstraße 14 10117 Berlin 10117 Berlin Mai 2016 Stellungnahme

Wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Bedeutung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien

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Herausgeber Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina e. V. (Federführung) – Nationale Akademie der Wissenschaften – Jägerberg 1, 06108 Halle (Saale) acatech – deutsche Akademie der Technikwissenschaften e. V. Residenz München, Hofgartenstraße 2, 80539 München

Union der deutschen Akademien der Wissenschaften e. V. Geschwister-Scholl-Straße 2, 55131 Mainz

Redaktion Dr. Constanze Breuer Anna-Maria Gramatté Dr. Alexandra Schulz Kontakt: Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina Abteilung Wissenschaft – Politik – Gesellschaft (Leitung: Elmar König) [email protected]

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Zitiervorschlag: Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, acatech – Deutsche Akademie der Technikwissen- schaften, Union der deutschen Akademien der Wissenschaften (2015): Wissenschaftliche und gesell- schaftspolitische Bedeutung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien. Halle (Saale). Wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Bedeutung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien

Geleitwort 3

Geleitwort

Politische und gesellschaftliche Akteure sind auf verlässliche Daten als Grundlage für Entscheidungen sowie zur Überprüfung der Wirkung von Maßnahmen angewiesen, beispielsweise wenn es um das Auftreten von Volkskrankheiten oder die Entwicklung von Bildungsbiographien geht. Indem bevölkerungsweite Längsschnittstudien die im- mer gleiche Gruppe an Menschen über einen langen Zeitraum wiederholt in den Blick nehmen, können sie ebensolche Daten zur Verfügung stellen.

Mit der Stellungnahme „Wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Bedeutung von bevölkerungsweiten Längsschnittstudien“ der Nationalen Akademie der Wissen- schaften Leopoldina, der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften und der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften acatech möchten die Akademien eine Bestandsaufnahme der aktuellen Situation vorlegen und Empfehlungen zur wei- teren Entwicklung von Längsschnittstudien und den hierfür notwendigen Infrastruk- turen geben.

Den Autorinnen und Autoren, die in den vergangenen zwei Jahren in vielen Sitzungen dieses Papier erstellt haben, sowie den Gutachterinnen und Gutachtern sei für ihre Arbeit herzlich gedankt. Die Akademien hoffen, mit dieser Stellungnahme den politi- schen und gesellschaftlichen Akteuren, aber auch jedem Interessierten einen fundier- ten Sachstand zur Bedeutung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien zur Verfügung zu stellen.

Halle (Saale) und Berlin, im April 2016

Prof. Dr. Jörg Hacker Prof. Dr. Reinhard F. Hüttl Prof. Dr. Dr. Hanns Hatt Präsident Präsident Präsident Nationale Akademie der acatech – Deutsche Akademie der Union der deutschen Akademien Wissenschaften Leopoldina Technikwissenschaften der Wissenschaften 4 Inhalt

Inhalt

1 Zusammenfassung ������������������������������������������������������������������������������������ 6

2 Hintergrund und Ziel der Stellungnahme �����������������������������������������������10

3 Wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Bedeutung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien �����������������������������������������������15

3.1 Bedeutung für die frühkindliche Entwicklung und deren langfristige Folgen ��������17 3.2 Bedeutung für die Gesundheit und die Gesundheitspolitik ����������������������������������� 18 3.3 Bedeutung für die Familien und Migration ������������������������������������������������������������ 20 3.4 Bedeutung für die Bildungs- und Kompetenzentwicklung ������������������������������������� 21 3.5 Bedeutung für den Berufsverlauf, den Arbeitsmarkt und die soziale Ungleichheit �� 22 3.6 Bedeutung für die Wirtschafts- und Sozialpolitik ��������������������������������������������������� 23 3.7 Bedeutung für erfolgreiches Altern ������������������������������������������������������������������������ 25 3.8 Fazit ������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 26

4 Entwicklung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien in Deutschland ��28

4.1 Epidemiologie und Public Health ��������������������������������������������������������������������������� 29 4.2 Sozialwissenschaftliche Längsschnittstudien ��������������������������������������������������������� 31 a) Demographie ����������������������������������������������������������������������������������������������������� 31 b) Wirtschafts- und Sozialwissenschaften �������������������������������������������������������������� 32 4.3 Neueste Entwicklungen: Die biomedizinisch-sozialwissenschaftliche Gesamtschau ���������������������������������������������������������������������������������������������������������� 36 4.4 Ausgewählte Studien: Inhalte, Forschungsorganisation und Finanzierung ������������38 a) Das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) �������������������������������������������������������������� 41 b) Die Nationale Kohorte (NAKO) ��������������������������������������������������������������������������� 43 c) Das Nationale Bildungspanel (NEPS) ����������������������������������������������������������������� 45 d) Das Beziehungs- und Familienpanel (pairfam) �������������������������������������������������� 46 e) Der Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe (SHARE) ���������������������48 4.5 Entwicklung von Organisationsstrukturen im In- und Ausland ������������������������������49 a) Exzellenzzentren ������������������������������������������������������������������������������������������������ 50 Das Beispiel University College London (UCL) ��������������������������������������������������� 50 b) Studienzentren �������������������������������������������������������������������������������������������������� 51 Das Beispiel CONSTANCES-Studie in Frankreich ������������������������������������������������� 51 c) Überregionale Forschungsverbünde ������������������������������������������������������������������ 52 Das Beispiel UK Clinical Research Collaboration: Public-Health-Forschungsverbund ��������������������������������������������������������������������� 52 d) Vernetzungsprojekte ������������������������������������������������������������������������������������������ 53 Das Beispiel CLOSER: Vernetzungsprojekt ��������������������������������������������������������� 53

5 Aktuelle Herausforderungen in Deutschland �����������������������������������������54

5.1 Finanzierung und Organisationsstrukturen ������������������������������������������������������������ 54 a) Aufbau neuer bevölkerungsweiter Längsschnittstudien ������������������������������������ 54 Inhalt 5

b) Weiterführung bestehender bevölkerungsweiter Längsschnittstudien �������������55 c) Koordinationsprobleme zwischen Zuwendungsgebern ������������������������������������� 57 d) Koordinierungsprobleme zwischen der nationalen und der europäischen Ebene ��59 e) Hindernisse für die Interdisziplinarität von Längsschnittstudien �����������������������59 f) Spannungsfeld zwischen Forschungs- und Service-Aufgaben ����������������������������60 g) Datenqualität und -dokumentation ������������������������������������������������������������������� 60 h) Unausgenutztes Potenzial von Datenverknüpfungen ���������������������������������������� 61 i) Finanzierungsmodelle im Ausland ��������������������������������������������������������������������� 61 5.2 Mitarbeiterqualifizierung und Karrierewege ���������������������������������������������������������� 62 a) Mitarbeiterqualifizierung ����������������������������������������������������������������������������������� 62 b) Karrierewege ������������������������������������������������������������������������������������������������������ 64 5.3 Studentische Ausbildung und Kapazitätsentwicklung �������������������������������������������� 68 a) Universitäre Ausbildungsprogramme (Bachelor, Master, Diplom, Staatsexamen): ������������������������������������������������������� 68 Medizin �������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 68 Sozial- und Wirtschaftswissenschaften �������������������������������������������������������������� 68 Gesundheitswissenschaften ������������������������������������������������������������������������������ 69 b) Postgraduale Studienprogramme (Masterstudiengänge Public Health, Epidemiologie und verwandte Gebiete) ������������������������������������������������������������ 69 c) Doktorandenschulen ����������������������������������������������������������������������������������������� 70 d) Förderprogramme für Qualität und Kontinuität ������������������������������������������������ 70

6 Empfehlungen ���������������������������������������������������������������������������������������� 72

Empfehlung 1: Nationale Förderinitiative für interdisziplinäre Längsschnittstudien �����72 Empfehlung 2: Langfristige Förderinstrumente ������������������������������������������������������������� 72 Empfehlung 3: Bessere Koordinierung mit der europäischen Ebene ����������������������������73 Empfehlung 4: Ressourcen für Datenharmonisierung, -dokumentation und -verknüpfung ���������������������������������������������������������������������������������� 73 Empfehlung 5: Karrierepfade für leitende Studienmitarbeiterinnen und -mitarbeiter ���� 74 Empfehlung 6: Weiterbildungsprogramme für leitende Studienmitarbeiterinnen und -mitarbeiter ������������������������������������������������������������������������������������ 74 Empfehlung 7: Ausbildung an Universitäten ����������������������������������������������������������������� 74 Empfehlung 8: Kapazitätsentwicklung durch wissenschaftliche Nachwuchsförderung ��� 75

7 Literaturverzeichnis �������������������������������������������������������������������������������� 76

8 Abkürzungsverzeichnis ���������������������������������������������������������������������������83

9 Glossar ���������������������������������������������������������������������������������������������������� 86

10 Anhänge ������������������������������������������������������������������������������������������������� 90

Anhang 1: Derzeit laufende bevölkerungsweite Längsschnittstudien in Deutschland ��� 91 Anhang 2: Stichpunkte zu einem Curriculum für die Aus- und Weiterbildung im Management großer Forschungsinfrastrukturen ��������������������������������������� 96 Anhang 3: Stichpunkte zu einem Curriculum für die Methodenexpertise in der universitären Aus- und Weiterbildung �������������������������������������������������������� 97 6 Zusammenfassung

1 Zusammenfassung

Bevölkerungsweite ­Längsschnittstudien Der für Wissenschaft und Gesell- bilden das Rückgrat der empirischen schaft unverzichtbare Bedarf an bevölke- Forschung in den Sozial-, Wirtschafts- rungsweiten Längsschnittstudien resultiert und Verhaltenswissenschaften sowie der inhaltlich aus drei Aufgabenbereichen: Epidemiologie und der Gesundheitsfor- schung. Sie sind die „Großgeräte“ dieser Erstens sind menschliche Gesell- Wissenschaften, mit denen diese ihre schaften einem steten Wandel unterwor- Theorien testen, neue Beobachtungen fen. Längsschnittstudien ermöglichen es, schöpfen und evidenzbasierte Politikbe- sowohl stabile Muster als auch Verände- ratung durchführen. rungen im Zeitverlauf zu dokumentieren, neue Trends zu identifizieren sowie Zu- Großgeräte bzw. „Forschungsinfra- sammenhänge zwischen sozioökonomi- strukturen“ sind umfangreiche und auf- schen und biomedizinischen Mechanis- wändige Instrumente für die Forschung, men zu analysieren. die eine internationale oder zumindest nationale Bedeutung für die zugehörigen Zweitens können bei bevölkerungs- Wissenschaftsgebiete tragen, eine lang- weiten Längsschnittstudien, in denen iden- fristige Lebensdauer anstreben, ohne die tische Personen mehrfach im Zeitverlauf wissenschaftliche Kreativität zu gefähr- untersucht werden, unter klar definierten den, und einer großen Anzahl externer Bedingungen theoriegestützte Hypothesen Nutzerinnen und Nutzer für vorwiegend zu Ursache-Wirkungs-Beziehungen getes- wissenschaftliche Zwecke zur Verfügung tet werden. Dies ist mit administrativen stehen. und prozessgenerierten Daten („big data“) in der Regel nicht möglich. Obwohl bevölkerungsweite Längs- schnittstudien seit einigen Jahren in Drittens können aus vielen dieser Deutschland verstärkt unterstützt wer- Analysen modellbasierte Vorhersagen den, erschweren strukturelle Hemmnis- über zukünftig zu erwartende Entwick- se der Forschungsförderung, mangelnde lungen abgeleitet werden, die eine wich- Harmonisierung der Datenerhebung und tige Orientierungs- und Planungshilfe für -auswertung sowie Defizite der erforder- gesellschafts-, wirtschafts- und gesund- lichen interdisziplinären Aus- und Wei- heitspolitische Entscheidungen bilden. terbildung ihren Anschluss an die inter- nationale Spitzenforschung. Es ist daher Die wissenschaftstheoretische das Ziel dieser Stellungnahme, auf der Be­deutung bevölkerungsweiter Längs- Grundlage einer Bestandsaufnahme der schnittstudien mit multi- oder interdiszi- aktuellen Situation und unter Einbezie- plinär angelegten Erhebungsprogrammen hung wegweisender internationaler Er- in den genannten Wissenschaften resul- fahrungen Empfehlungen zur Struktur tiert daraus, dass die in den Natur- und der Forschungsförderung und zur Har- Lebenswissenschaften vorherrschende monisierung zukünftiger Forschung in experimentelle Methodik beim Studium diesem Bereich zu geben. von Vorgängen auf Bevölkerungsebe- Zusammenfassung 7

ne nur sehr begrenzt eingesetzt werden schung in der Region Augsburg (KORA) kann. Daher nutzen die Sozial-, Wirt- und insbesondere die vor kurzem initiier- schafts- und Verhaltenswissenschaften, te Nationale Kohorte (NAKO). Ebenso ist die Epidemiologie und die Gesundheits- Deutschland in eine Reihe international forschung (kurz: Sozial- und Gesundheits- vergleichender Studien einbezogen, z.B. wissenschaften) die große Vielfalt und die den querschnittlich replikativen Euro- zeitliche Veränderung biomedizinischer, pean Social Survey (ESS) und den längs- persönlichkeitsbezogener und sozioöko- schnittlichen Survey of Health, Ageing nomischer Faktoren innerhalb einer Be- and Retirement in Europe (SHARE). völkerung, um aus diesen Daten anhand Schließlich hat Deutschland viele gut aus- theoriegeleiteter statistischer Analysen gebildete Absolventinnen und Absolven- Erkenntnisse über kausale Beziehungen ten in den einschlägigen Studiengängen zu gewinnen und Prognosen abzuleiten. sowie ein großes Potenzial an entspre- Gute Beispiele hierfür sind die Abschät- chenden wissenschaftlichen Mitarbeite- zung des Pflegebedarfs einer alternden rinnen und Mitarbeitern. Bevölkerung, der Nachweis positiver Ef- fekte von Bildungsinvestitionen auf die Andererseits stellt die Arbeits- lebenslange Gesundheit und die Quan- gruppe jedoch fest, dass dieses Potenzial tifizierung des Einflusses, der von der gegenwärtig nicht genügend zur Geltung sozialen Lage einer Bevölkerungsgruppe kommen kann, so dass Erkenntnispoten- auf deren Lebenserwartung ausgeht. Den ziale unausgeschöpft bleiben. Dies liegt Erfolg dieser Forschungsstrategie zeigen an drei Gründen: Erstens weist die ver- die wegweisenden Erkenntnisse von Ge- fügbare finanzielle und organisatorische burtskohortenstudien, die es erlauben, Infrastruktur (z.B. Förderformate) Wider- biomedizinische und sozioökonomische sprüche und Mängel auf, die es erschwe- Prozesse über den Lebensverlauf zu ana- ren, bevölkerungsweite Längsschnittstu- lysieren. Diese Studien zeigen auch, wie dien nachhaltig durchzuführen. Dies trifft wichtig eine langfristige Perspektive ist, zweitens auch für bestimmte Elemente weil der Wert von Längsschnittdaten mit der intellektuellen Infrastruktur (z.B. der Anzahl von Untersuchungswellen ex- Aus- und Weiterbildung) zu. Drittens sind ponentiell zunimmt. sozialwissenschaftliche und biomedizi- nische Forschungsansätze auf praktisch Einerseits ist die Arbeitsgruppe allen Ebenen ungenügend vernetzt und sich einig, dass der Forschungsstand- harmonisiert. ort Deutschland sich glücklich schät- zen kann, eine auch im internationalen Das zentrale Anliegen dieser Stel- Vergleich vielfältige, intensiv und breit lungnahme ist es daher, Hinweise zu lie- genutzte Landschaft von bevölkerungs- fern, die es erlauben, eine langfristige und weiten Längsschnittstudien aufweisen koordinierte Strategie der Förderung von zu können, z.B. das Sozio-oekonomische bevölkerungsweiten Längsschnittstudien Panel (SOEP), das Nationale Bildungs- zu entwickeln, die das derzeitige Vor- panel (National Educational Panel Study herrschen von kurzfristiger Planung und – NEPS), das Beziehungs- und Familien- Ad-hoc-Management in einer Vielzahl panel (Panel Analysis of Intimate Rela- von finanziell und organisatorisch nicht tionships and Family Dynamics – pair- ausreichend ausgestatteten Trägerinsti- fam) sowie mehrere epidemiologische tutionen ergänzen und verbessern kann, Kohortenstudien in der Nachfolge von sowie die bessere Verbindung von bio- Multinational Monitoring of Trends and medizinischen und sozioökonomischen Determinants in Cardiovascular Disease Inhalten in Forschung und Ausbildung (MONICA)/Kooperative Gesundheitsfor- zu stärken. 8 Zusammenfassung

Handlungsbedarf, den die Arbeits- werden kann (wie sich dies z.B. in der gruppe primär beim Bundesministerium Leibniz-Gemeinschaft mit einem sieben- für Bildung und Forschung (BMBF) in jährigen Evaluationsrhythmus erfolgreich Zusammenarbeit mit den außeruniver- etabliert hat). sitären Forschungseinrichtungen und der Deutschen Forschungsgemeinschaft Handlungsbedarf besteht zudem (DFG) sieht, gibt es zunächst bei den Fi- bei den Universitäten und außeruniver- nanzierungsinstrumenten und den Kar- sitären Forschungseinrichtungen. Die rieremöglichkeiten leitender Mitarbei- derzeitige Aus- und Weiterbildung lei- terinnen und Mitarbeiter. Wie bei den det unter mehreren Defiziten. Erstens naturwissenschaftlichen Großgeräten ist ist eine gezielte Schulung von Metho- auch für die Forschungsinfrastrukturen denkompetenzen in den Kernfächern der Sozial-, Verhaltens- und Gesundheits- dieses Forschungsbereichs nur an we- wissenschaften eine längerfristig stabile nigen Standorten verfügbar, sowohl im Finanzierung und Betreuung durch lei- Grundstudium als auch in Aufbaustu- tende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter diengängen. Zweitens fehlen Trainings- unabdingbar. Diese Erkenntnisse haben programme für die transdisziplinäre sich im Gegensatz zu den Naturwissen- Forschungskooperation insbesondere schaften in den Sozial-, Verhaltens- und zwischen biomedizinischen und sozio- Gesundheitswissenschaften jedoch bis- ökonomischen Nachwuchswissenschaft- lang nur wenig durchgesetzt. So sollten lerinnen und -wissenschaftlern, die zur erstens Förderinstrumente geschaffen Erzielung innovativer Erkenntnisse oft werden, die eine langfristige Finanzie- unerlässlich sind. Drittens sind die Stu- rung (z.B. planbare Verlängerungen) er- dienpläne der biomedizinischen und so- lauben. Zweitens sollten Personen, die zioökonomischen Studien erschreckend im Management großer Forschungsin- wenig koordiniert, so dass oft keine frastrukturen tätig sind, entsprechende vergleichbaren Daten generiert und er- Kompetenzen erwerben und definierte kenntnisfördernde Synergieeffekte ver- Karrieren (z.B. Tenure-Track für leitende fehlt werden. Schließlich mangelt es an Studienmitarbeiterinnen und -mitarbei- Ausbildungsmöglichkeiten im Survey- ter oder gemeinsam berufene S-Junior- Management. Professuren) anstreben können. Beides ist bei vielen bevölkerungsweiten Längs- Im Einzelnen spricht die Arbeitsgruppe schnittstudien derzeit nicht der Fall. die folgenden Empfehlungen aus (vgl. Ka- pitel 6): Die Arbeitsgruppe ist sich über das Spannungsfeld zwischen Kreativität und 1. Eine nationale Förderinitiative starten Stabilität im Klaren. Sie plädiert deshalb zur Stärkung der interdisziplinären Zu- weiterhin für einen dezentralen Ansatz, sammenarbeit bei der Durchführung der die Kreativität bei der Schaffung neu- bevölkerungsweiter Längsschnittstu- er Initiativen und die wissenschaftlichen dien, insbesondere zwischen den bio- Innovationen im Rahmen bereits erfolg- medizinischen und sozioökonomischen reicher Infrastrukturen nicht einschränkt. Wissenschaften. Alle bewährten bevölkerungsweiten 2. Langfristige Förderinstrumente schaf- Längsschnittstudien benötigen jedoch fen, die bei nachweisbarer Qualität eine eine mit entsprechenden Fördertiteln im Prinzip unbeschränkt oft verlänger- ausgestattete stabile Finanzierungsbasis, bare Fortführung von Längsschnitt- damit ihre Fortführung und Weiterent- studien ermöglichen. Dies impliziert wicklung auf der Grundlage wiederholt die Einstufung von Infrastruktur- und erfolgender Evaluation sichergestellt Erhebungskosten als Konstruktions- Zusammenfassung 9

kosten und ihre entsprechende Be- rücksichtigung im Forschungsetat des Bundes. 3. Koordinierung zwischen der europä- ischen und der deutschen Roadmap für Forschungsinfrastrukturen verbes- sern. 4. Kapazitäten schaffen für die Doku- mentation, Vermittlung und Verknüp- fung von Längsschnittdaten. 5. Karrierepfade nach dem Tenure- Track-Prinzip schaffen, die es ermögli- chen, dass leitende Studienmitarbeite- rinnen und -mitarbeiter Dauerstellen innehaben können mit einer Vergü- tung, welche diejenige von W2-Profes- suren erreichen kann. 6. Die Weiterbildung in Forschungs- und Projektmanagement für leitende Stu- dienmitarbeiterinnen und -mitarbeiter ausbauen. 7. Kapazität des wissenschaftlichen Nachwuchses für bevölkerungsweite Längsschnittstudien durch Promo­ tionsprogramme und Post-Doc-Aus- bildung entwickeln. 8. Dem steigenden Qualifizierungsbedarf Rechnung tragen durch eine gezielte Wissens- und Kompetenzentwicklung im Master- und Aufbaustudium. 10 Hintergrund und Ziel der Stellungnahme

2 Hintergrund und Ziel der Stellungnahme

In Deutschland erfolgen umfangrei- durch Veränderungen der Bevölkerungs- che forschungspolitische Investitionen struktur, durch technologische und wirt- in bevölkerungsweite Längsschnittstu- schaftliche Entwicklungen, infolge in- dien1 wie z.B. das Sozio-oekonomische stitutioneller Reformen, durch soziale Panel (SOEP), das Nationale Bildungs- Bewegungen oder politische Konflikte. panel (National Educational Panel Stu- Längsschnittstudien ermöglichen es, sol- dy – NEPS), das Beziehungs- und Fa- che Veränderungen im Zeitverlauf zu do- milienpanel (Panel Analysis of Intimate kumentieren und zu analysieren. Zweitens Relationships and Family Dynamics – können bei bevölkerungsweiten Längs- pairfam) sowie in mehrere epidemiolo- schnittstudien, in denen identische Perso- gische Kohortenstudien in der Nachfolge nen mehrfach im Zeitverlauf untersucht von Multinational Monitoring of Trends werden, unter klar definierten Bedingun- an Determinants in Cardiovascular Di- gen Hypothesen zu Ursache-Wirkungs- sease (MONICA)/Kooperative Gesund- Beziehungen getestet werden. Die dadurch heitsforschung in der Region Augsburg gewonnenen Erkenntnisse sind in einigen (KORA), insbesondere die vor kurzem gesellschaftspolitisch herausgehobenen initiierte Nationale Kohorte (NAKO) (vgl. Bereichen besonders bedeutsam, so insbe- die Übersichtstabelle in Kapitel 4 sowie sondere in den Bereichen der frühkindli- die ausführliche Tabelle in Anhang 1). chen Entwicklung, der Persönlichkeitsent- Ebenso ist Deutschland in international wicklung, des Bildungs- und Berufserfolgs, vergleichende Längsschnittstudien einbe- der Einkommens- und Vermögensvertei- zogen, z.B. den Survey of Health, Ageing lung, der Entstehung von Krankheiten, der and Retirement in Europe (SHARE). Die- Erhaltung der Gesundheit sowie des Al- sen bevölkerungsweiten Längsschnittstu- terns. Es ist daher nicht erstaunlich, dass zu dien kommt in den Sozialwissenschaften, diesen Themen international die meisten den Wirtschaftswissenschaften, den Ver- Längsschnittstudien initiiert worden sind. haltenswissenschaften, der Demographie Drittens können aus vielen dieser Analysen und der Epidemiologie bzw. Gesundheits- Prognosen über zukünftig zu erwartende forschung eine zentrale Bedeutung zu, Entwicklungen abgeleitet werden. Dieses da die in den Lebens- und Naturwissen- prognostische Wissen bildet eine wichtige schaften vorherrschende experimentelle Orientierungshilfe bei gesellschafts- und Methodik beim Studium von Vorgängen wirtschaftspolitischen Planungen und Ent- auf Bevölkerungsebene nur sehr begrenzt scheidungen. eingesetzt werden kann. Diese Aufgaben können bevölke- Bevölkerungsweite Längsschnittstu- rungsweite Längsschnittstudien leisten, dien haben drei wichtige Aufgabenbereiche: weil sie die große Vielfalt biomedizini- Erstens sind menschliche Ge­sellschaften scher, verhaltens- und persönlichkeitsbe- einem steten Wandel unterworfen, z.B. zogener sowie sozioökonomischer Fakto- ren innerhalb einer Bevölkerung und die Interaktion dieser Faktoren im Lebens- 1 Fachbegriffe werden im Glossar erklärt, Abkürzungen im Abkürzungsverzeichnis aufgelöst. verlauf widerspiegeln. Zudem können sie Hintergrund und Ziel der Stellungnahme 11

als „Referenzpopulationen“ für spezifi- gestellt und auch eigene Befragungsstudi- schere Studien dienen, deren Stichproben en durchgeführt, die entweder als Längs- gezielt enger gefasst sind (z.B. regional schnittstudie konzipiert sind wie z.B. die beschränkt sind, auf Zwillinge oder spe- European Union Statistics on Income zifisch Unterstützungsbedürftige abzielen and Living Conditions (EU-SILC) oder wie z.B. Kinder aus bildungsschwachen Längsschnittkomponenten enthalten Elternhäusern). (z.B. Mikrozensus). Allerdings ist der wis- senschaftliche Datenzugang oft schwie- Prozessgenerierte Datensätze („big rig und v.a. entsprechen das Design und data“) werden bevölkerungsweite Längs- die Variablenauswahl oft nicht aktuellen schnittstudien in absehbarer Zukunft wissenschaftlichen Fragestellungen und nicht – und wahrscheinlich niemals – Notwendigkeiten. Dies liegt auch an der ersetzen können. Prozessgenerierte Da- bedenklichen Entkopplung zwischen der tensätze enthalten typischerweise einen amtlichen Statistik und den empirischen zumeist nur sehr eng definierten Satz von Sozial- und Gesundheitswissenschaften, Merkmalen. Selbst einfachste sozioöko- wie sie etwa in der Implementation der nomische oder gesundheitliche Merkma- EU-SILC deutlich geworden ist. le, wie etwa der Bildungsstand, fehlen oft oder sind nur unzureichend erfasst. Auch Weil sich bevölkerungsweite Längs- fehlt zumeist der Haushaltskontext. Dies schnittstudien nicht auf Teilpopulationen liegt an der kommerziellen Herkunft und und Momentaufnahmen beschränken, ist Primärnutzung der Daten oder im Falle deren Durchführung ein zeitaufwändiges, administrativer Daten an ihrer notwendi- umfangreiche Ressourcen bindendes Un- gen gesetzlichen Grundlage für die Spei- terfangen. Internationale Erfahrungen cherung. Zudem unterliegen „big data“ haben gezeigt, dass die Erfolgschancen ei- nicht der hypothesengeleiteten Steuerung nes solchen Vorhabens ganz entscheidend durch die Wissenschaft. Schließlich sind von einigen zentralen Bedingungen ab- prozessgenerierte Datensätze bezüglich hängen. Hierzu zählen eine hohe wissen- der Qualitäts- und Standardisierungsan- schaftliche Qualifikation des die Studie forderungen sehr heterogen. Sie sind oft leitenden Personals und eine kontinuierli- stark selektiv bezüglich der erfassten Be- che Schulung und Motivierung der an ihr völkerung (z.B. Käufer bei Amazon oder beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitar- Versicherte in der gesetzlichen Kran- beiter, eine gut funktionierende Arbeits- kenversicherung), so dass Schlüsse aus organisation einschließlich zuverlässiger solchen Daten in der Regel nicht ohne Kooperationsbeziehungen mit Partnerin- Weiteres verallgemeinerungsfähig auf nen und Partnern sowie eine verlässliche, die gesamte Bevölkerung und deren rele- über einen längeren Zeitraum gesicherte vante Teilgruppen sind, zumal ein Wech- Studienfinanzierung. Eine längerfristig sel zwischen Teilgruppen (z.B. Käufer zu stabile Finanzierung ist v.a. deswegen Nichtkäufer, gesetzlich Versicherte zu wichtig, weil der Wert von Längsschnitt- Privatversicherten) zu den besonders re- daten mit der Anzahl von Untersuchungs- levanten Analysegegenständen zählt. wellen sowie der Länge und Qualität der Nachverfolgung exponentiell zunimmt. Auch die amtliche Statistik kann kein Ersatz für wissenschaftsgenerier- Diese Bedingungen sind weder te bevölkerungsweite Längsschnittstu- in Deutschland noch im Ausland selbst- dien sein. Die amtliche Statistik hat der verständlich gegeben. Vielmehr besteht Wissenschaft zwar inzwischen eine an- weltweit – so auch in Deutschland – eine sehnliche Zahl prozessgenerierter längs- erhebliche Diskrepanz zwischen dem ge- schnittlicher Datenbasen zur Verfügung sellschaftspolitisch bedeutsamen poten- 12 Hintergrund und Ziel der Stellungnahme

ziellen Erkenntnisgewinn aus solchen Ziel dieser Stellungnahme ist es Studien und der verfügbaren wissen- daher, zunächst die wissenschaftliche, ge- schaftlichen, organisatorischen und fi- sellschaftliche und ökonomische Bedeu- nanziellen Infrastruktur, um diese Stu- tung bevölkerungsweiter Längsschnitt- dien nachhaltig durchzuführen, deren studien darzustellen, deren aktuelle Lage komplexe Datenstrukturen stets für neue in Deutschland zu schildern und schließ- Fragestellungen aufzubereiten und zu lich Empfehlungen auszusprechen, wie analysieren und schließlich die Ergebnis- vor diesem Hintergrund die Entwicklung, se international hochrangig zu publizie- Durchführung und Auswertung bevöl- ren und lösungsorientiert an Entschei- kerungsweiter Längsschnittstudien in dungsgremien zu vermitteln. Bezüglich Deutschland qualitativ und quantitativ einer längerfristig sicherzustellenden Fi- sichergestellt werden kann. nanzierung werden entsprechende Festle- gungen vielfach ad hoc getroffen, ohne die Konkrete Ziele sind hierbei: notwendige Orientierungssicherheit zu schaffen. Ferner gibt es hierzulande so gut 1. Es soll ein effizienterer und nachhalti- wie keine Aus- und Weiterbildung im Ma- gerer institutioneller Rahmen für die nagement großer Forschungsinfrastruk- infrastrukturell, organisatorisch und fi- turen. Schließlich wird die erforderliche nanziell aufwändigen Längsschnittstu- Methodenkompetenz in vielen Fächern dien geschaffen werden. Konkret man- nicht oder nicht mit der notwendigen Pri- gelt es in Deutschland an langfristig orität und Qualität an Studierende und an stabilen Finanzierungsmöglichkeiten den wissenschaftlichen Nachwuchs ver- für viele bestehende und fast alle neuen mittelt. bevölkerungsweiten Längsschnittstudi- en. Zu einer nachhaltigen Finanzierung Der Wissenschaftsrat hat sich in wurden in der Arbeitsgruppe konkrete seinen Empfehlungen zu Forschungsinf- Empfehlungen erarbeitet. rastrukturen in den Geistes- und Sozial- 2. Es soll die Aus- und Weiterbildungs- wissenschaften im Januar 2011 und sei- initiative im Management großer nen Empfehlungen zu Karrierezielen und Forschungsinfrastrukturen gezielt -wegen an Universitäten im Juli 2014 zu gefördert werden. Konkret fehlen in ähnlichen Themen geäußert. Zudem hat Deutschland v.a. „mid career“-Weiter- die DFG Workshops zu Large Scale Stu- bildungskurse, in denen organisatori- dies in den deutschen Sozialwissenschaf- sche und kommunikative Fähigkeiten ten: Stand und Perspektiven (Kämper & für die Governance, das Management Brüggemann, 2009) im März 2009 und und die Finanzierung bevölkerungs- zur Förderung sozialwissenschaftlicher weiter Forschungsinfrastrukturen ver- Surveys im DFG-Langzeitprogramm – mittelt werden. Hierzu hat die Arbeits- eine Zwischenbilanz im Oktober 2014 gruppe stichwortartig die benötigten veranstaltet. Aufgrund ihrer oben geschil- Tätigkeitsprofile, Fähigkeiten und derten spezifischen Bedeutung treffen die entsprechenden Lehrinhalte skizziert vom Wissenschaftsrat und den Teilneh- (vgl. Anhang 2). mern der DFG-Workshops gemachten 3. Es soll die Methodenexpertise in der Beobachtungen und Empfehlungen für universitären Aus- und Weiterbildung bevölkerungsweite Längsschnittstudien sowie die Qualifikation des wissen- in besonderem Maße zu. Sie sind von den schaftlichen Nachwuchses gestärkt dort geschilderten Strukturproblemen bei werden. Konkret geht es insbesondere Finanzierung, Karrierewegen und Kapa- um die Synthese bislang disziplinä- zitätsausweitung in spezifischer Art und rer Ansätze der Sozial-, Verhaltens-, Weise betroffen und dadurch gefährdet. Wirtschafts- und der Gesundheits- Hintergrund und Ziel der Stellungnahme 13

wissenschaften/Medizin in einen ge- Kapitel 4 präsentiert die Entwick- meinsamen Rahmen (u.a.: Mehrebe- lung bevölkerungsweiter Längsschnittstu- nen-Modelle, Längsschnittanalysen, dien in Deutschland und die wichtigsten, ländervergleichende Analysen, Kom- aktuell laufenden Längsschnittstudien in bination biomedizinischer, geographi- tabellarischer Form einschließlich ihrer scher, ökonomischer, psychologischer Organisation und Finanzierung. Dabei und soziologischer Variablen, Analy- werden die oben angesprochenen struk- se von Gen×Umwelt-Interaktionen). turellen Herausforderungen sichtbar, mit Hierzu wurde in Anlehnung an inter- denen diejenigen konfrontiert sind, die nationale Modelle stichwortartig ein gegenwärtig an deutschen Universitäten Curriculum entsprechender Lehrin- und außeruniversitären Einrichtungen halte skizziert (vgl. Anhang 3). bevölkerungsweite Längsschnittstudien betreiben, an ihnen mitarbeiten und sie Einige Mitglieder der Arbeitsgruppe initi- für ihre Forschung verwenden. ierten oder leiten große bevölkerungswei- te Längsschnittstudien. Die Erfahrungen Diese strukturellen Herausforde- aus der Entwicklung dieser Studien, die rungen werden in Kapitel 5 herausge- im Abschnitt 4.4 exemplarisch dargestellt arbeitet, gegliedert nach den drei oben werden, stellen eine wichtige Basis für die genannten Bereichen: erstens Herausfor- Empfehlungen der Arbeitsgruppe dar. derungen in der Finanzierung und den Organisationsstrukturen bevölkerungs- Da Experten in der Sache unabding- weiter Längsschnittstudien, zweitens bar sind für die Formulierung einer solchen Herausforderungen in der Weiterqualifi- Stellungnahme, sind Interessenkonflikte zierung der in Längsschnittstudien ange- vorprogrammiert. Deshalb kam der Ein- stellten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, beziehung internationaler Experten hier speziell ihrer methodischen und Manage- große Bedeutung zu. Die beteiligten Aka- mentkompetenzen, wobei gleichzeitig eine demien haben weiterhin bei der externen Verbesserung ihrer Karrierewege bedeut- Begutachtung der Stellungnahme beson- sam ist, und drittens Herausforderungen ders auf diese Konfliktsituation verwiesen in der studentischen Ausbildung und der und um entsprechende kritische Würdi- Kompetenz- und Kapazitätsentwicklung gung gebeten, welche im Weiteren von der des wissenschaftlichen Nachwuchses. Arbeitsgruppe berücksichtigt wurde. Die gesammelte und bewertete Die Arbeitsgruppe hat im Rahmen Evidenz legt es nahe, dass zur Bewälti- von Anhörungen mit internationalen Ex- gung der genannten Herausforderungen pertinnen und Experten sowie anhand strukturelle Veränderungen nötig sind. eigener Recherchen eine Reihe wichti- Kapitel 6 formuliert sie als acht konkre- ger Anregungen erhalten, welche für die te Empfehlungen, die sich an die Akteure Gestaltung der weiteren Entwicklung in der Wissenschaftslandschaft richten. Deutschland von Interesse sind. Sie wer- den anhand von konkreten Beispielen Fachausdrücke und Abkürzungen dargestellt. lassen sich nicht immer vermeiden; sie werden in einem Glossar und dem Abkür- Die Stellungnahme ist wie folgt ge- zungsverzeichnis erklärt. Eine Übersicht gliedert: Kapitel 3 grenzt bevölkerungs- über die in Deutschland derzeit laufenden weite Längsschnittstudien von anderen bevölkerungsweiten Längsschnittstudien Methodiken ab und stellt ihre Bedeutung und Stichpunkte zu je einem Curriculum und den praktischen Nutzen für Wissen- in der methodischen und organisatori- schaft und Gesellschaft dar. schen Weiterbildung sind in den Tabellen 14 Hintergrund und Ziel der Stellungnahme

des Anhangs enthalten. Alle an der Ent- wicklung der Stellungnahme beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft- ler sind gleichfalls am Schluss aufgeführt.

Die Arbeitsgruppe dankt den Ex- pertinnen und Experten, die in drei Fach- gesprächen zu den Themen Finanzie- rungsmodelle, studentische Ausbildung sowie Weiterbildung in Forschungsinfra- strukturen wertvolle Anregungen gegeben und ihre Erfahrung aus dem Ausland zu- sammengefasst haben.

Wir danken zudem dem Präsidi- um der Nationalen Akademie der Wis- senschaften Leopoldina, den Mitgliedern ihrer Wissenschaftlichen Kommission „Demographischer Wandel“ sowie den Referentinnen der Geschäftsstelle, die diese Arbeitsgruppe unterstützt haben, v.a. Dr. Alexandra Schulz für ihre Hilfe bei der Redaktion, der Erstellung des Glos- sars sowie der diversen Verzeichnisse. Au- ßerdem gedankt sei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Max-Planck-Insti- tuts (MPI) für Sozialrecht und Sozialpo- litik, hier besonders Dr. Thorsten Kneip, der die Arbeitsgruppe begleitet und das Thema Karrierepfade und professionelle Weiterbildung betreut hat, sowie Judith Kronschnabl und Dominik Steinbeißer für Recherchen und die Betreuung des Litera- turverzeichnisses.

Schließlich danken wir der Gutach- terin und den Gutachtern dieser Stellung- nahme für ihre detaillierten Anmerkun- gen und Anregungen. Wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Bedeutung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien 15

3 Wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Bedeutung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien

Gegenstand dieser Empfehlung sind be- Stichproben können diese Selektionsef- völkerungsweite Längsschnittstudien von fekte vermieden werden. Individuen und/oder Haushalten. Sie wer- den zum einen dadurch charakterisiert, Bevölkerungsweite Längsschnitt- dass ein repräsentativer Ausschnitt einer studien unterscheiden sich in methodi- Bevölkerung erhoben wird und diese In- scher Sicht ferner von Querschnittstu- dividuen oder Haushalte über einen län- dien, in denen Daten eines Kollektivs geren Zeitraum beobachtet werden. Die lediglich zu einem Zeitpunkt erhoben Repräsentativität wird durch eine Stich- werden, wodurch weder über Verände- probenziehung gewährleistet, die nach den rungen noch über mögliche Ursache-Wir- Regeln der Wahrscheinlichkeitstheorie kungs-Beziehungen belastbare Aussagen durchgeführt wird. Ziel dieses Vorgehens möglich sind. Längsschnittstudien sind ist es, die große Heterogenität der biome- auch keine wiederholten Querschnittstu- dizinisch-sozioökonomischen Interaktio- dien (Replikationsstudien). Diese Befra- nen und deren soziale Einbettung in einer gungsmethode wird in vielen amtlichen Bevölkerung angemessen zu erfassen. Erhebungen (z.B. Mikrozensus) und so- zialwissenschaftlichen Befragungen (z.B. Bevölkerungsweite Studien können Allgemeine Bevölkerungsumfrage der in inhaltlicher Sicht die soziale Umwelt, Sozialwissenschaften – ALLBUS oder d.h. die Gesamtheit zwischenmenschlicher ESS) benutzt. Hier können Sachverhalte Beziehungen in einer räumlich und zeitlich in gleicher Weise im Zeitverlauf doku- begrenzten Bevölkerung, erfassen. Soziale mentiert werden, allerdings nicht bei ei- Umwelten zeichnen sich durch die Ent- nem identischen Personenkollektiv, wie wicklung eigenständiger Strukturmerk- dies bei Längsschnittstudien der Fall ist. male und Gesetzmäßigkeiten aus, deren Analyse Gegenstand verschiedener wis- Längsschnittstudien im eigentli- senschaftlicher Disziplinen ist, speziell der chen Sinne umfassen die mehrfache Be- Demographie, der Soziologie, der Psycho- fragung, Untersuchung und Nachverfol- logie und der Wirtschaftswissenschaften. gung einer repräsentativen Gruppe von Personen aus der Bevölkerung über einen Bevölkerungsweite Studien unter- längeren Zeitraum, idealerweise über die scheiden sich daher zum einen von Fall- gesamte Lebenszeit von Individuen. In studien selektiver Bevölkerungsgruppen der Demographie und Soziologie bezeich- (z.B. Patientinnen und Patienten mit be- net der Begriff „Kohorte“ in der Regel die stimmten Krankheiten, Personen, welche Bevölkerungsgruppe eines Geburtsjahr- bestimmte Güter oder Dienstleistungen gangs, die – sei es vom Zeitpunkt der Ge- kaufen), bei denen bereits die Ergebnisse burt an oder zu einem späteren Zeitpunkt eines biomedizinischen oder sozioöko- – prospektiv oder retrospektiv untersucht nomischen Prozesses die Einbeziehung wird. Neben Geburtskohorten werden in eine Studie bestimmen. In bevölke- in der Forschung auch Heiratskohorten, rungsrepräsentativen, auf Annahmen der Bildungsabschlusskohorten oder Arbeits- Wahrscheinlichkeitstheorie beruhenden markteintrittskohorten verwendet. In 16 Wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Bedeutung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien

der Epidemiologie umfasst eine Kohorte wird dies im Bereich der Gesundheit in das Bevölkerungskollektiv, welches zum sich aktuell anbahnenden Entwicklungen Zweck der Durchführung einer neuen der Personalisierten bzw. Individualisier- prospektiven Studie rekrutiert worden ist. ten Medizin mit dem Ziel individuell maß- geschneiderter Präventions-, Diagnostik- Gegenstand dieser Empfehlung und Behandlungsverfahren (Leopoldina, sind vorwiegend prospektive bevölke- 2014a). Im Bereich der Bildung haben rungsweite Längsschnittstudien, also bevölkerungsweite Längsschnittstudien solche, in welchen die Messungen über gezeigt, wie früh in Kindheit und Jugend einen längeren Zeitraum jeweils zu den Erfolge oder Misserfolge im Erwachsenen- aktuellen Zeitpunkten („Wellen“) vorge- alter bestimmt werden. Zugleich haben sie nommen werden (z.B. SOEP, pairfam). offensichtlich gemacht, dass individuelle Teilweise berücksichtigt werden auch ret- Eigenschaften durch die natürliche und rospektive Studien, in welchen eine Popu- soziale Umwelt entscheidend beeinflusst lation wie etwa ein Geburtsjahrgang über werden können, so dass eine Erweite- Lebensumstände in der Vergangenheit rung des entsprechenden Erkenntnispro- befragt wird (z.B. die Deutsche Lebens- gramms um die Analyse von Beziehungen verlaufsstudie/German Life History Stu- zwischen individuellem Leben und Um- dy – GLHS, der Generations and Gender weltbedingungen nahegelegt wird. Survey – GGS oder SHARE). Ein weiterer wichtiger Vorteil be- Prospektive und retrospektive völkerungsweiter ­Längsschnittstudien Längsschnittstudien haben komplemen- liegt darin, dass zwischen bestimmten täre Vor- und Nachteile. Retrospektive Ursachen und nachfolgend beobachteten Längsschnittstudien haben das Problem, Wirkungen Zusammenhänge analysiert dass die definierte Population zu dem Be- und damit gegebenenfalls praktisch ver- obachtungszeitpunkt wegen Mortalität wertbare Erkenntnisse gewonnen werden und Migration nicht vollständig „überlebt“ können. Zum Nachweis solcher Kausalbe- hat und dass außerdem die Messungen ziehungen hat die Forschung – besonders Erinnerungsfehlern unterliegen können in den Gebieten der Ökonometrie und der (Kroh et al., 2015). Prospektive Studien Epidemiologie – Kriterien festgelegt, die haben das Problem des selektiven Aus- erfüllt sein müssen, um eine statistische falls von Teilnehmern sowie der Erzeu- Beziehung zwischen zwei zeitlich aufein- gung sog. Paneleffekte, d.h. des Einflusses anderfolgenden Merkmalen im Sinne ei- wiederholter Datenerhebung auf das Ver- nes Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs halten der Befragten (z.B. Lerneffekte). zu interpretieren. Diese werden in der Stel- Manche Panelstudien ergänzen daher ihre lungnahme Public Health in Deutschland Stichproben im Verlauf länger dauernder der Leopoldina ausführlich diskutiert (vgl. Studien durch neu rekrutierte Probanden Leopoldina, 2015). Besonders wirkungs- („Auffrischungsstichproben“), um die sta- voll zur Identifikation von Kausalbezie- tistische Aussagekraft zu sichern. hungen ist die Zeit als exogene Dimension, d.h. die zeitliche Abfolge von ursächlichen Ein entscheidender Vorteil von be- Einwirkungen (Expositionen) und deren völkerungsweiten Längsschnittstudien ist, Auswirkungen (Effekte); dies gibt Längs- dass sie unser Verständnis von Lebens- schnittstudien auch wissenschaftstheore- prozessen verfeinern. Bevölkerungsweite tisch einen besonderen Stellenwert.2 Längsschnittstudien lassen weitreichende

Erkenntnisfortschritte und Anwendungen 2 Es liegen erste Ansätze vor, bevölkerungsweite Studien insbesondere auf der Ebene des individu- mit echten Verhaltensexperimenten zu ergänzen (vgl. z.B. Fehr, 2009; Dohmen et al., 2011; Vischer et al., 2013 und ellen menschlichen Lebens zu. Sichtbar für einen Überblick Keuschnigg & Wolbring, 2015). Wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Bedeutung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien 17

Die beiden zentralen Qualitäts- auf die physische, psychische und sozia- merkmale bevölkerungsweiter Längs- le Entwicklung im Kindes-, Jugend- und schnittstudien – also die Möglichkeit, Erwachsenenalter (sog. Lebenslauf-Epi- Phänomene als Ergebnisse der kumula- demiologie) (Power & Kuh, 2006). Ge- tiven Interaktion zwischen biologischen, mäß dem Latenzmodell manifestieren verhaltensbezogenen und soziokulturel- sich früh erworbene Schädigungen (z.B. len Einflüssen zu verstehen und in diesen durch Fehlernährung oder Suchtmittel- Interaktionsprozessen kausale Beziehun- konsum der Mutter während der Schwan- gen zu identifizieren – können in den ver- gerschaft) erst Jahrzehnte später in Form schiedenen Anwendungsbereichen unter- von Erkrankungen, die Folge einer frühen schiedlich ausgeprägt sein. Die folgenden Fehlregulation sind (z.B. Typ-2-Diabetes) Abschnitte zeigen daher die Bedeutung (Barker, 1998). Das Modell der Vulnera- bevölkerungsweiter Längsschnittstudien bilität bzw. der kritischen Perioden postu- in ausgewählten Anwendungsbereichen. liert, dass Ereignisse in einem begrenzten Zeitfenster während sensibler Entwick- lungsphasen schädigende oder protek- 3.1 Bedeutung für die tive Effekte auf das Funktionsvermögen frühkindliche Entwicklung und in späteren Lebensphasen ausüben. Als deren langfristige Folgen Beispiel pathogener Wirkungen kann der Zusammenhang zwischen frühkindlicher Mit der Initiierung einer besonders be- Traumatisierung, mangelnder Selbstre- weiskräftigen Form bevölkerungsweiter gulation und späteren Anpassungsstörun- Längsschnittstudien, den Geburtskohor- gen genannt werden (Caspi et al., 2005; tenstudien, die teilweise bereits vor Jahr- Moffitt et al., 2011), als Beispiel protekti- zehnten v.a. in skandinavischen Ländern, ver Effekte die psychische Resilienz jun- Großbritannien und den USA erfolgte, ger Menschen angesichts frühkindlicher sind zahlreiche neuartige Einsichten in Benachteiligung (Masten, 2013). Ebenso die enge Interaktion von anlagebeding- verdanken wir der psychologischen Le- ten Prädispositionen und umwelt- bzw. benslaufforschung (Baltes et al., 1995; erfahrungsbedingten Entwicklungspro- Mühlig-Versen et al., 2012; Voelcker- zessen gewonnen worden. Eine wichtige Rehage et al., 2011) wegweisende Er- Rolle spielen hierbei in den Lebenswis- kenntnisse zur Plastizität kognitiver und senschaften neuerdings eingesetzte epi- persönlichkeitsbezogener Fähigkeiten im genetische Forschungsmethoden. Solche Alter, die enormen Einfluss auf die Pro- Studien setzen üblicherweise mit der Re- jektion der Folgen des demographischen krutierung eines bevölkerungsrepräsen- Wandels haben. tativen Kollektivs von Säuglingen ein, die in einem festgelegten Zeitraum geboren Nach dem Kumulationsmodell sind wurden und die sodann als Kohorte über bestimmte Verhaltensstörungen und Er- Jahre bzw. Jahrzehnte periodisch anhand krankungen eine Folge wiederkehrend biomedizinischer und/oder verhaltens- auftretender Belastungen, welche die und sozialwissenschaftlicher Methoden Bewältigungsressourcen der Person zu- untersucht werden. Ergänzend zu etab- nehmend unterminieren (Graham, 2002; lierter Evidenz über wichtige Risikofak- Viner et al., 2012). In der vor kurzem ver- toren chronischer Erkrankungen (Ezzati öffentlichten Stellungnahme Frühkind- & Riboli, 2012; Ezzati et al., 2015) ver- liche Sozialisation der Leopoldina sind danken wir diesen Studien fundamentale die komplexen, anhand der skizzierten Erkenntnisse zu langfristigen Auswirkun- Modelle erfassten Zusammenhänge von gen ungünstiger Bedingungen während Disposition, frühem Entwicklungsver- Schwangerschaft und früher Kindheit lauf und späteren kognitiven, affektiven 18 Wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Bedeutung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien

und motivationalen Fähigkeiten umfas- werden, in einem Bevölkerungskollektiv send erörtert worden (Leopoldina et al., verteilt sind, und der Häufigkeit der im 2014b). Hierzu liegen weitere Erkenntnis- nachfolgenden Beobachtungszeitraum se aus deutschen Studien vor (Blossfeld, neu auftretenden Zielkrankheiten. Die- 2013). se Merkmale können genotypische oder phänotypische Eigenschaften von Perso- Wie im Bereich der Gesundheits- nen sein oder aber Umweltbedingungen, forschung gilt auch in diesem Forschungs- denen Personen über einen längeren Zeit- bereich, dass die vorliegende Evidenz zu raum ausgesetzt sind (sog. Exposition).4 Ursache-Wirkungs-Beziehungen durch Im Regelfall sind Kombinationen innerer Interventionsstudien im Bereich der Me- und äußerer Faktoren ursächlich für Er- dizin insbesondere durch randomisier- krankungen. te kontrollierte Studien (RCTs) und im Bereich der Sozialwissenschaften durch Für die epidemiologische For- Feldexperimente erhärtet wird. Weit- schung haben daher bevölkerungsweite reichende – auch bildungs- und gesell- Längsschnittstudien eine besondere Be- schaftspolitisch wichtige Resultate – sind deutung. Eine ganze Reihe grundlegen- bspw. im Rahmen vorschulischer und der, in der Medizin und in der Gesund- schulischer Bildungsinitiativen bei sozial heitspolitik anerkannter Entdeckungen benachteiligten Kindern erzielt worden zu Ursachen bzw. Risiko- und Schutz- (Heckman, 2006; Heckman et al., 2010; faktoren weitverbreiteter Krankheiten vgl. auch die Abschnitte 3.3, 3.4 und 3.6). verdanken wir epidemiologischen Längs- schnittstudien, die sich an den genannten Qualitätskriterien orientieren. Dies gilt 3.2 Bedeutung für die Gesundheit sowohl für die Entdeckung genetischer und die Gesundheitspolitik Ursachen bestimmter Krankheiten (Bi- ckeböller & Fischer, 2007) wie für den Trotz bahnbrechender Erkenntnisfort- Nachweis, dass gesundheitsschädigen- schritte sind die Ursachen weitverbrei- de Verhaltensweisen die Entwicklung teter Erkrankungen nicht hinreichend chronisch-degenerativer Erkrankungen geklärt. Dies trifft in erster Linie für kom- maßgeblich beeinflussen. So zeigte bspw. plexe, von mehreren Faktoren beeinfluss- bereits in den frühen Nachkriegsjahren te chronisch-degenerative Erkrankungen die US-amerikanische Framingham-Stu- zu, welche die Krankheitslast in modernen die, dass die klassischen Risikofaktoren Gesellschaften wesentlich bestimmen. Hypertonie, (Zigaretten-)Rauchen und Hierzu zählen u.a. Herz-Kreislauf- und Hypercholesterinämie das Herzinfarkt- Stoffwechselkrankheiten, fast alle Krebs- risiko erhöhen (Dawber, 1980; Kannel, erkrankungen, neurodegenerative Er- 1988). In der Sieben-Länder-Studie wur- krankungen und psychische Störungen.3 de anschließend der negative Einfluss von Neben der biomedizinischen Grundlagen- Ernährungsverhalten und weiteren Le- forschung und der klinischen Forschung bensstilfaktoren (z.B. mangelnder körper- wird hier eine dritte Forschungsrichtung licher Bewegung) unter Berücksichtigung benötigt, die Epidemiologie. Sie unter- der klassischen Risikofaktoren aufgezeigt sucht Zusammenhänge zwischen der (Kromhout et al., 2002). Aus diesen Er- Häufigkeit bzw. Stärke, mit der bestimmte kenntnissen sind wichtige Strategien der Merkmale, welche als Ursachen bzw. Ri- Prävention hervorgegangen (Rose, 2008). sikofaktoren einer Zielkrankheit vermutet

4 Als Beispiele der in deutscher Sprache verfügbaren 3 Zur Schätzung der entsprechenden Krankheitslast in Lehrbücher der Epidemiologie vgl. Bonita et al. (2008) globaler Perspektive vgl. Mathers & Loncar (2006). und Gordis (2008). Wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Bedeutung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien 19

Für den wissenschaftlichen Fort- Für einige der bisher genann- schritt und für gesundheitspolitische ten Einflussfaktoren auf weitverbreite- Entwicklungen bedeutsam sind bahn- te Krankheiten gilt, dass die genannten brechende Erkenntnisse zu sozialen De- Risiken oft erst in Kombination mit ge- terminanten chronischer Erkrankungen netischen Dispositionen zum Ausbruch und Funktionseinschränkungen (Mar- manifester Erkrankungen führen. Daher mot & Wilkinson, 2006; Berkman & Ka- sind aus Sicht der Grundlagenforschung wachi, 2014; vgl. auch Abschnitt 4.3). insbesondere Gen×Umwelt-Studien von Dies lässt sich am überzeugendsten am Interesse. Belastbare neue Erkenntnis- Beispiel sozialer Ungleichheit verdeutli- se erfordern die Einbeziehung umfang- chen. Ausgehend von den einflussreichen reicher Kollektive, da die statistischen Whitehall-Studien in England (Marmot Assoziationen zwischen Genvarianten, et al., 1978; Marmot et al., 1991) wurde die eine Krankheit hervorrufen oder be- inzwischen in der überwiegenden Mehr- günstigen können, und der Inzidenz der heit europäischer Länder gezeigt, dass entsprechenden Krankheiten in der Re- ein systematischer Zusammenhang zwi- gel sehr schwach ausgeprägt sind. Die schen der Zugehörigkeit zu einer sozia- erhöhte Wahrscheinlichkeit des Auftre- len Schicht (gemessen anhand des Bil- tens bestimmter Genvarianten („Allele“) dungsniveaus, des Einkommens und/ relativ zur Normalausprägung liegt selten oder der beruflichen Position) und der jenseits eines Bereichs von 5–30 Prozent Häufigkeit chronischer Erkrankungen (Collins, 2004). Dies gilt auch für die sowie des vorzeitigen Todes besteht: Je Analyse von Beziehungen zwischen be- niedriger die soziale Stellung, desto hö- stimmten Genvarianten und assoziierten her die Gefährdung (Mackenbach et al., Merkmalen („Phänotypen“). Um die sta- 2008; Gallo et al., 2012). Dieser soziale tistische Aussagekraft angesichts schwa- Gradient von Morbidität und Mortalität cher Effekte und der Komplexität der zu ist auch für die deutsche Bevölkerung untersuchenden Beziehungen zu sichern, nachgewiesen worden. Zu seiner Erklä- bieten sich zwei Strategien an: das Zu- rung liegen umfangreiche Forschungser- sammenführen vergleichbarer Daten aus gebnisse vor, die zu einem wichtigen Teil verschiedenen Studien im Rahmen von auf bevölkerungsweiten Längsschnitt- Forschungskonsortien (Hindorff et al., studien beruhen, weil diese die in beiden 2009) und die Durchführung einer oder Richtungen wirkenden Kausalitätsbezie- mehrerer Megastudien mit fünf- oder hungen aufzeigen können (Smith, 1999). sechsstelligen Teilnehmerzahlen. Aktu- Gut dokumentiert ist hierbei der Einfluss elle Beispiele solcher Megastudien sind kritischer sozioökonomischer und psy- die European Prospective Investigation chosozialer Bedingungen während der into Cancer and Nutrition (EPIC) (Ribo- Schwangerschaft und in früher Kind- li et al., 2002), die The Million Women heit auf die spätere Gesundheit (Kuh & Study (The Million Women Study Col- Ben-Shlomo, 2004). Ebenso liegen um- laborative Group, 1999), das norwegi- fangreiche Erkenntnisse zu pathogenen sche CONOR-Konsortium (Næss et al., Auswirkungen psychosozial belastender 2008) oder die CONSTANCES-Studie Arbeitsbedingungen sowie mangelnder in Frankreich (Zins et al., 2010; vgl. Ab- sozialer Integration auf die Gesundheit schnitt 4.5). Die zurzeit im Aufbau be- im mittleren und höheren Lebensalters findliche NAKO in Deutschland fügt sich vor (Siegrist & Marmot, 2006; Berkman als jüngstes Beispiel in diese Reihe ein & Krishna, 2014). Auf neuere Ergeb- (vgl. Abschnitt 4.4). Auf Chancen sowie nisse zu den vermittelnden psychobio- Probleme, die mit dieser Forschungsent- logischen Mechanismen verweist Ab- wicklung verbunden sind, wird weiter un- schnitt 4.3. ten eingegangen. 20 Wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Bedeutung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien

Der wissenschaftliche und gesund- werden. Hierbei kann sowohl der Zeit- heitspolitische Stellenwert vorhandener verlauf als auch der Einfluss vorbeste- Erkenntnisse aus bevölkerungsweiten hender subklinischer oder bereits klinisch Längsschnittstudien zu Determinan- relevanter Veränderungen systematisch ten von Gesundheit und Krankheit wird berücksichtigt werden. Auf dieser Daten- schließlich dadurch verdeutlicht, dass basis sollen geeignete Interventionsmaß- diese Längsschnittstudien das Design nahmen zur Primär- und/oder Sekundär- erfolgreicher Interventionsstudien stark prävention entwickelt und implementiert beeinflusst haben. Dabei handelt es sich werden. Die Datenbasis der NAKO soll um Untersuchungen, welche einen oder darüber hinaus ermöglichen, die für eine mehrere der genannten Einflussfaktoren bestimmte Intervention jeweils besonders auf die Krankheitsentwicklung auszu- geeigneten Bevölkerungsgruppen zu iden- schalten oder zumindest abzuschwächen tifizieren und hinsichtlich des zu erwar- versuchen, mit dem Ziel, im nachfolgen- tenden Nutzens zu charakterisieren. den Beobachtungszeitraum die Neuer- krankungsrate zu senken. Als Beispiele Diese exemplarischen Hinweise erfolgreicher Interventionsstudien seien aus epidemiologischen Beobachtungs- in diesem Zusammenhang kommunale und Interventionsstudien verdeutlichen Präventionsstudien zur Verringerung von eindrucksvoll den Stellenwert von Längs- Herz-Kreislauf-Risiken genannt, allen vo- schnittstudien für die wissenschaftlichen ran die Nordkarelienstudie (Puska, 2010), und gesundheitspolitischen Bemühungen ferner Interventionsstudien zur Senkung um eine Verbesserung der Gesundheit von HIV-Risiken (Rhodes, 2014). ganzer Bevölkerungen.

Ein strategisches Ziel der Gesund- heitspolitik ist schließlich die Förderung 3.3 Bedeutung für die Familien präventiver Ansätze, insbesondere die und Migration Stärkung der Gesundheitsförderung im beruflichen Setting und der primären und Für die Familienforschung sind Längs- sekundären Prävention in der Gesund- schnittdaten inzwischen unverzichtbar, heitsversorgung, insbesondere bei älteren denn sie ermöglichen – wie oben be- Patientinnen und Patienten. Gemäß der schrieben – die Analyse von Lebensver- gültigen Zulassungs- und Erstattungsre- läufen und von kausalen Effekten von Er- geln neuer Interventionen nach dem So- eignissen/Veränderungen. Es zeigt sich zialgesetzbuch (SGB) V ist hierfür eine immer mehr, dass die älteren, auf Quer- Evidenzbasis zu schaffen, die derzeit für schnittsdaten basierenden Erkenntnisse viele Maßnahmen noch nicht vorliegt. massiv verzerrt sind. Denn auf Grundla- Hier belastbare Daten zu liefern, ist ein ge von Querschnittsdaten lässt sich nicht Hauptziel der NAKO. Ihr Untersuchungs- differenzieren, ob Unterschiede zwischen programm fokussiert auf die quantitative, z.B. Unverheirateten und Verheirateten standardisierte Erfassung von Risikofak- schon zuvor existierten (Selektionsef- toren chronischer Erkrankungen und ih- fekt) oder ob diese Unterschiede auf die rer frühen subklinischen Manifestationen Heirat zurückzuführen sind (Kausalef- und Veränderungen. Durch wiederholte fekt). Querschnittsdaten sagen z.B. aus, Untersuchungen und einen langjährigen dass verheiratete Menschen vermeintlich Beobachtungszeitraum kann der Einfluss glücklicher sind als unverheiratete. Sie einzelner Risikofaktoren ebenso wie der erlauben aber nicht die Unterscheidung, Einfluss spezifischer Kombinationen von ob glücklichere Menschen häufiger heira- Risikofaktoren auf die Entstehung der ten oder ob eine Heirat glücklich macht. wichtigen Volkskrankheiten ermittelt Mit Hilfe von Längsschnittdaten können Wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Bedeutung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien 21

beide Effekte unterschieden werden. Ein- 2015). So zeigt Milewski (2010), dass schlägige Studien finden beide Effekte Frauen der zweiten Migrantengeneration und differenzieren den jeweiligen Wir- sich dem Geburtenverhalten von deut- kungsgrad (Stutzer & Frey, 2005). Zu- schen Frauen nahezu angepasst haben. sätzlich zeigt sich aber, dass der kausale Dass Mobilitätsprozesse vielfach zirkulär Effekt einer Heirat viel kleiner ist, als ihn verlaufen und Zuwanderinnen und Zu- die Querschnittstudien ermittelt haben, wanderer unter bestimmten Vorausset- und auch nach wenigen Jahren wieder zungen auch wieder in ihre Heimatländer verschwunden ist. zurückkehren, konnte ebenfalls auf Basis des SOEP sowie dessen Oversampling an Ähnliche Probleme treten im Be- Bevölkerungsgruppen mit Migrations- reich der Mobilität auf: Auch hier kann hintergrund belegt werden (Dustmann man Selektionseffekte nur mit Hilfe von et al., 2015). SOEP ist ebenfalls wichtig Längsschnittdaten von Kausaleffekten bei der Analyse von Pflegebedürftigkeit, trennen. So zeigen z.B. Kratz und Brü- Morbidität und Mortalität (Doblhammer derl (2013), dass Querschnittsanalysen & Hoffmann, 2009). die Einkommenserträge von regionaler Mobilität unterschätzen, weil eher die In den letzten Jahren sind auch Da- Geringverdiener wandern. Umgekehrt ten aus pairfam in diesem Forschungsfeld überschätzen Querschnittstudien den Ge- wichtig geworden.5 Wichtige Erkenntnis- sundheitszustand von Migrantinnen und se auf dem Forschungsgebiet „Integration Migranten, denn es zeigt sich eine positi- von Migranten“ sind zudem in den kom- ve Gesundheitsselektion in die Migration, menden Jahren vom neuen Panel Child- d.h., es sind eher die Gesunden, die mig- ren of Immigrants Longitudinal Survey rieren (Razum et al., 1998; Norman et al., in Four European Countries (CILS4EU) 2005). sowie von den SOEP-Migrationsstichpro- ben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Über diese Beispiele hinaus konn- Berufsforschung zu erwarten (Brücker et ten mit Längsschnittdaten in der Fami- al., 2014). lien- und Mobilitätsforschung viele neue Erkenntnisse gewonnen werden. Insbe- sondere das SOEP konnte für eine Rei- 3.4 Bedeutung für die Bildungs- he an Befunden, die den Stand unseres und Kompetenzentwicklung Wissens erweitert haben, die notwen- dige längsschnittliche Datenbasis be- Gegenstand von Längsschnittstudien im reitstellen. Um nur wenige Beispiele zu Bildungsbereich sind v.a. die Bedingun- nennen: Nur mittels Längsschnittdaten gen und Wirkungszusammenhänge des lassen sich kausale Aussagen z.B. zum Schulerfolgs. Der Schulerfolg gilt dabei Einfluss ökonomischer Unsicherheit auf als eine wesentliche Weichenstellung für das Geburtenverhalten treffen (Kreyen- viele Aspekte des späteren Lebensverlaufs feld, 2005; Kreyenfeld, 2010) bzw. zur wie z.B. bei der beruflichen Ausbildung, Frauenerwerbstätigkeit und Fertilität dem Berufserfolg und den Lebensein- (Kreyenfeld, 2004) sowie der Höhe des kommenschancen, aber auch im späteren Erwerbseinkommens von Frauen auf den Gesundheitsverhalten. Untersucht wird Übergang zum ersten und zweiten Kind u.a., wie sich vorteilhafte und nachteilige (Andersson et al., 2014). In der Migrati- Bedingungen der Herkunftsfamilie und onsforschung ermöglicht das Oversamp- Kindheit auf den Bildungserfolg auswir- ling von Personen mit Migrationshinter- grund eigene Analysen zur Migration und 5 Vgl. z.B. die Übersicht zu wichtigen Erkenntnissen aus Integration (Milewski & Doblhammer, pairfam in Keller & Nauck (2013). 22 Wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Bedeutung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien

ken und wie Auswahlprozesse auf ver- 3.5 Bedeutung für den Berufsver- schiedenen Stufen eines stark geglieder- lauf, den Arbeitsmarkt und die ten Schulsystems vonstattengehen (Solga soziale Ungleichheit & Becker, 2012). Von herausragendem Interesse in diesem Bereich ist ferner, Längsschnittstudien in der beruflichen ob die familiäre Herkunft unabhängig Dimension sind für eine Vielzahl gesell- von den Schulleistungen die weitere Bil- schaftspolitischer Problemstellungen dungslaufbahn beeinflusst (Uhlig et al., von erheblicher Bedeutung. So stellen 2009) und zu welchem Zeitpunkt der vor- sich bspw. folgende Fragen: Wie erfolg- schulischen, schulischen und nachschuli- reich sind Qualifizierungsprozesse vor schen Bildung Interventionen besonders und während der beruflichen Tätigkeit wirksam und kosteneffektiv sind (Heck- für die Allokation von Arbeitskräften man, 2006). In jüngster Zeit wurden in und den Berufserfolg? Wie gestalten sich der Forschung Kompetenzen über den Prozesse der beruflichen Mobilität, des Bildungsverlauf auch unabhängig von Arbeitsplatz- und Firmenwechsels für Schulnoten analysiert (Lohmann et al., die Anpassung an strukturellen Wan- 2009; Blossfeld et al., 2011) und über ei- del (Mayer et al., 2010; Stawarz, 2013; nen längeren Zeitraum bis in das Erwach- Manzoni et al., 2014)? Wie folgenreich senenalter hinein überprüft (Rammstedt, sind Unterbrechungen der Erwerbstä- 2013). tigkeit infolge von Arbeitslosigkeit oder aufgrund familienbedingter Auszeiten Bevölkerungsweite Längsschnitt- (Aisenbrey et al., 2009)? Wie offen sind studien sind im Bereich der Bildungs- unsere Gesellschaften, wie stellen sich die und Ausbildungsforschung nicht zuletzt Strukturen der Ungleichheit von Chancen deshalb von Bedeutung, weil die instituti- dar und wie verändern sie sich über die onellen Bedingungen zwischen Regionen Zeit (Müller & Pollack, 2004; Hillmert, teilweise stark variieren (z.B. in Deutsch- 2015)? Insbesondere für die Aufdeckung land zwischen den Bundesländern) und der ursächlichen Mechanismen sowie der weil bildungspolitische Änderungen, de- direkten und indirekten Effekte sind hier ren Auswirkungen von Interesse sind, neben sog. prozess-produzierten, d.h. aus relativ kurzfristig erfolgen. Längsschnitt- Verwaltungsvorgängen z.B. der Sozialver- studien mit kurzen Untersuchungsinter- sicherungen entstehenden Daten, die von vallen sind daher erforderlich, um zu prü- der Forschung initiierten und definierten fen, wie sich Bildungsanstrengungen und Längsschnittstudien unverzichtbar. -entscheidungen von Familien in Interak- tion mit institutionellen Rahmenbedin- Verfügbarkeit und Qualität der gungen auf den Schulerfolg von Kindern Arbeit haben Auswirkungen auf Fami- auswirken. Diese Studien geben somit liengründung und Erziehungsverhal- auch Aufschluss über Einflussfaktoren auf ten (Kohn, 1969; Bertram & Deuflhard, ungleiche Bildungschancen von Kindern 2014), auf die aktive Freizeitgestaltung aus sozial benachteiligten Familien (Sol- einschließlich des zivilgesellschaftlichen ga, 2001; Blossfeld et al., 2015; Diewald et und politischen Engagements (Karasek & al., 2015). Sie ergänzen und vertiefen die Theorell, 1990) sowie auf die Erhaltung bereits aus der PISA-Studie bekannten von Erwerbsfähigkeit und Gesundheit Erkenntnisse über weitreichende – und und die damit verbundenen Einkom- zum großen Teil vermeidbare – soziale menschancen (Siegrist, 2015). Neuere Ungleichheiten beim Zugang zu weiter- Forschungsergebnisse zeigen darüber hi- führenden Schulen und einem erfolgrei- naus, dass sich manche Persönlichkeits- chen Abschluss (Baumert et al., 2006; Be- eigenschaften, die bisher als zeitinvari- cker & Hadjar, 2013). ant stabile Merkmale betrachtet wurden, Wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Bedeutung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien 23

durch nachhaltige Einflüsse der sozialen Erstens hat die Wirtschafts- und So- – und insbesondere beruflichen – Um- zialpolitik nur ganz selten die Möglichkeit, welt verändern (Diewald et al., 1996; An- ex ante wohldefinierte und kontrollierte ger, 2012). Die Perpetuierung sozial un- randomisierte Experimente durchzufüh- gleicher Lebenschancen im Kontext von ren, wie dies in den Naturwissenschaften Berufsverläufen ist in internationalen üblich und in der Medizin vielfach mög- Studien bereits eindrucksvoll nachgewie- lich ist und sich dort zum methodischen sen worden, bedarf aber noch weiterer Standard entwickelt hat. Dieser Mangel Forschung. Hier überall vermögen Er- an Experimenten liegt an ethischen und gebnisse aus Längsschnittstudien nicht juristischen Vorbehalten gegen die daraus nur wissenschaftlich innovative, sondern erwachsende Ungleichbehandlung, den auch praktisch bedeutsame Einsichten zu sich oft erst langfristig einstellenden di- vermitteln. rekten und indirekten Folgen wirtschafts- und sozialpolitischer Eingriffe, welche eine konsequente Kontrolle der Experi- 3.6 Bedeutung für die Wirtschafts- mentalbedingungen erschweren, und an und Sozialpolitik den vielen Wechselwirkungen der Ver- suchspersonen mit ihrem wirtschaftlichen Die Wirtschafts- und Sozialpolitik, breit und sozialen Umfeld, die in der Regel kein gefasst einschließlich der Bildungs- und isolierendes Experimentaldesign zulas- Arbeitsmarktpolitik, greift über den sen.6 Daher waren auch die großen „sozi- ganzen Lebensverlauf tief in unsere Le- alen Experimente“ der 1980er und 1990er bensumstände ein. Sie beeinflusst den Jahre7 auf begleitende Längsschnittstudi- Bildungsstatus, die Qualität von Beschäf- en angewiesen, um unverzerrte Ursache- tigungsverhältnissen, Einkommenshöhe Wirkungs-Beziehungen zu schätzen. und -verteilung, den Lebensstandard, die soziale Inklusion und indirekt auch die Eine zweite Eigenheit der wirt- Gesundheit, da Einkommens- bzw. Sozi- schafts- und sozialpolitischen Analyse ist alstatus und Gesundheit stark miteinan- die Schwierigkeit, eindeutige Ursache- der korrelieren. Wegen dieser Wirkungs- Wirkungs-Beziehungen nach ex post be- mächtigkeit ist es essentiell, die kurz- und obachteten wirtschafts- und sozialpoli- langfristigen direkten Effekte sowie die tischen Eingriffen zu isolieren. Da diese vielfach eintretenden unbeabsichtigten Beziehungen zumeist auf komplexen Wir- Nebenwirkungen wirtschafts- und sozial- kungsketten beruhen, die bei verschiede- politischer Eingriffe qualitativ und quan- nen Personen unterschiedliche Ausprä- titativ zu identifizieren und entsprechende gungen haben, kommt es über die Zeit zu institutionelle Mechanismen zu verstehen. Selektionseffekten, welche die eigentlichen Hier spielen bevölkerungsweite Längs- kausalen Effekte überlagern. So unter- schnittstudien eine zentrale Rolle; ohne scheiden sich z.B. Sozialhilfeempfängerin- sie kommt eine aussagekräftige Analyse wirtschafts- und sozialpolitischer Ein- 6 Gleichwohl hat in der Ökonomie die Bedeutung von Labor-Experimenten für die disziplinäre Weiterent- griffe nicht mehr aus. Diese Rolle liegt an wicklung eine wichtige Rolle gespielt (Falk & Heckman, 2009). In manchen Situationen können zudem Feldex- drei wissenschaftlichen Eigenheiten der perimente ebenfalls zum Ziel führen. Die Ergebnisse Thematik, nämlich der weitgehenden Un- von solchen Feldexperimenten sind jedoch oft erst nach Jahrzehnten beobachtbar, so dass wiederum anschlie- möglichkeit, randomisierte Experimente ßende sozioökonomische und/oder epidemiologische Längsschnitterhebungen notwendig werden. Ein gutes durchzuführen, den sich überlagernden Beispiel dafür sind die Feldexperimente in der (prä-) bidirektionalen Ursache-Wirkungs-Bezie- schulischen Ausbildung und deren Folgen für die späte- re Karriere auf dem Arbeitsmarkt und die gesundheitli- hungen und der Einbettung des Untersu- che Entwicklung (z.B. Heckman et al., 2010). chungsgegenstands in ein sich andauernd 7 Zur negativen Einkommenssteuer: Pechman & Timpane (1975); zum Wohngeld: Rosen (1985); zur Krankenver- änderndes politisches Umfeld. sicherung: Newhouse et al. (1993). 24 Wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Bedeutung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien

nen und -empfänger nicht nur hinsichtlich von Kausalität zugrunde (d.h. das Prinzip des Bezugs dieser staatlichen Leistung, „post hoc, ergo propter hoc“), weshalb es sondern auch bezüglich messbarer Merk- ohne Längsschnittdaten nicht umzusetzen male (z.B. Bildung) und vieler nicht oder ist. Diese Interaktion zwischen Instrument nur schwer messbarer Merkmale (z.B. Of- (bevölkerungsweite Längsschnittstudien) fenheit, Risikobereitschaft oder Motivati- und Methode (statistische Theorie kau- on) von Nicht-Sozialhilfeempfängerinnen saler Identifikation) ist in ihrer wissen- und -empfängern. Zudem wird es mit der schaftsgeschichtlichen Bedeutung für die zeitlichen Länge dieser Wirkungsketten Wirtschafts- und Sozialwissenschaften zunehmend wahrscheinlich, dass andere kaum zu unterschätzen. Ein Schlüssel- Einflussfaktoren ins Spiel kommen, die konzept ist das des „Instruments“, einer mit dem ursprünglichen wirtschafts- und Variable, die den Wirkungspfad, den es sozialpolitischen Eingriff nichts zu tun zu identifizieren gilt, zusammen mit der haben, z.B. die Finanz-, Wirtschafts- und eigentlichen Ursache beeinflusst, ohne Schuldenkrise seit 2008. Schließlich ver- selbst von der Wirkung der Ursache be- ursachen wirtschaftliche und soziale Ent- einflusst sein zu können. Dank der mo- wicklungsprozesse typischerweise Gegen- dernen statistischen Theorie wissen wir, bewegungen, Ausweichreaktionen und dass ohne solche Instrumente eine kausa- Anpassungsprozesse, so dass sich das le Interpretation von Wechselwirkungen „Henne und Ei“-Problem umgekehrter nicht möglich ist. Die mittlerweile vielfach Kausalitätsbeziehungen einstellt. So kann replizierten Befunde der Wechselwirkun- z.B. eine großzügig gestaltete Arbeitslo- gen des Eintritts von Arbeitslosigkeit auf senversicherung eine höhere Arbeitslosig- das Niveau des subjektiven Wohlbefin- keit hervorrufen, die ihrerseits wiederum dens wurde 1998 erstmals von Winkel- zu psychischen Problemen bei Bezieherin- mann und Winkelmann für Deutschland nen und Beziehern von Arbeitslosengeld panelökonometrisch modelliert und zählt führen kann. Umgekehrt kann es aber mittlerweile zu einem der am häufigsten auch sein, dass ein Mensch aufgrund einer zitierten SOEP-basierten Aufsätze, der von vornherein schlechteren psychischen zudem zahlreiche Psychologen weltweit Verfassung arbeitslos wurde. Eine konti- zu entsprechenden Replikationen sowie nuierliche und umfassende Beobachtung Weiterentwicklungen der Set-Point-The- der von wirtschafts- und sozialpolitischen orie inspirierte. Typische Instrumente der Eingriffen betroffenen Menschen über die wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Zeit spielt daher für die wirtschafts- und Analyse tragen fast immer den Charakter sozialpolitische Analyse eine essentielle von Auslösern zeitlicher Veränderungen. Rolle. Genau dies leisten bevölkerungs- Ein gutes Beispiel sind die in den 1960er weite Längsschnittstudien. Jahren gültigen Kurzschuljahre: Die El- tern der jungen Erwachsenen bzw. Kinder In dieser Hinsicht ging die Entwick- haben etliche Jahre früher, als die Kinder lung bevölkerungsweiter Längsschnitt- gezeugt und geboren wurden, dies nicht studien in den Wirtschafts- und Sozial- im Hinblick darauf getan, ob sich diese wissenschaften Hand in Hand mit der Kinder durch Kurzschuljahre Zeit in der Entwicklung statistischer und ökonome­ Schule ersparen werden. Insofern kann trischer Methoden, welche die Identifika- man durch den Vergleich des Lebenswegs tion von kausalen Wirkungspfaden ermög- von Kindern, die rund um den Zeitpunkt licht (vgl. Adams et al., 2003; Stowasser et der Einführung des „Instruments“ ver- al., 2012 und Stowasser et al., 2014, die gleichbare Lebensabschnitte durchlaufen alle dem Konzept der Granger-Kausalität haben, die Bedeutung von weniger Schul- folgen (Granger, 1969)). Diesem Konzept bildung für eine Vielzahl von späteren liegt die zeitliche Abfolge zur Identifikation Folgen empirisch abschätzen. Solche zeit- Wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Bedeutung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien 25

lichen Veränderungen sind jedoch nur in sind in den letzten Jahren zunehmend bevölkerungsweiten Längsschnittstudien Studien gestartet worden, die ihren Be- zu finden, die damit unumgänglich für die ginn in eine spätere Phase des Lebens- moderne wirtschafts- und sozialpolitische verlaufs legen. Neben der Adoleszenz Analyse sind. (Viner et al., 2012) steht das mittlere Er- wachsenenalter als Initialphase prospek- Eine dritte Eigenheit der wirt- tiver Untersuchungen im Vordergrund, so schafts- und sozialpolitischen Analyse, dass typischerweise Personen jenseits des welche die Bedeutung bevölkerungswei- 40. Lebensjahres in solche Studien ein- ter Längsschnittstudien unterstreicht, ist geschlossen werden (vgl. Abschnitt 3.2). die Tatsache, dass sich Wirtschafts- und Damit richtet sich ein wissenschaftliches Sozialpolitik im historischen und politi- Hauptinteresse auf die Analyse von Be- schen Umfeld abspielt, in dem Ereignisse dingungen erfolgreichen Alterns. Im geschehen und Entscheidungen getroffen Zuge des demographischen Alterns in werden, die vorher nicht abzusehen wa- wirtschaftlich entwickelten und sich rasch ren. Laufende bevölkerungsweite Längs- entwickelnden Gesellschaften hat das schnittstudien können dann die Folgen Thema gesunden Alterns nicht nur in der dieser unvorhergesehenen Ereignisse und Öffentlichkeit große Resonanz gefunden8, Entscheidungen dokumentieren und ihre sondern auch die Forschung und die Wis- nachträgliche Analyse ermöglichen. Ein senschaftspolitik veranlasst, umfangrei- gutes Beispiel ist die Finanz-, Wirtschafts- che Längsschnittstudien bei älteren Be- und Schuldenkrise seit 2008, deren wirt- völkerungen zu initiieren. schaftliche, soziale und gesundheitliche Folgen dank vorhandener bevölkerungs- Belastbare Ergebnisse aus solchen weiter Längsschnittstudien wie SOEP und Studien sind aufgrund hoher intra- und SHARE im Vergleich mit dem Zustand vor interindividueller Unterschiede von Al- dieser Krisentriade analysiert werden kön- terungsprozessen und ihren Folgen nicht nen. Diese Dokumentations- und Analyse- nur für die entsprechenden wissenschaft- funktion gilt auch für vorhersehbare wirt- lichen Disziplinen von Interesse, sondern schafts- und sozialpolitisch hochrelevante ebenso für alle Politikbereiche, die mit historische Ereignisse wie z.B. den mas- den Herausforderungen einer rasch al- senhaften Eintritt der Babyboom-Genera- ternden Gesellschaft konfrontiert sind. tion in den Ruhestand mit einer absehbar Da differentielles Altern und dessen Fol- großen Belastung der Sozialversicherungs- gen viele Lebensbereiche betreffen, sind systeme. Man mag die Rolle von bevölke- Altersstudien typischerweise thematisch rungsweiten Längsschnittstudien in dieser breit angelegt und interdisziplinär kon- Hinsicht mit einem Teleskop vergleichen zipiert. Besondere Schwerpunkte werden (Butz & Boyle Torrey, 2006), das gleicher- in diesen Studien auf die Entwicklung maßen für vorhersehbare wie unvorher- der Lebenserwartung und die Erklärung sehbare astronomische Ereignisse frühzei- ihrer Unterschiede, insbesondere nach tig in Stellung gebracht werden muss. Geschlecht, sozialer Lage und ethnischer Zugehörigkeit gelegt (Vaupel, 2010) und auf die Krankheitsentwicklung im Alter 3.7 Bedeutung für erfolgreiches (Christensen et al., 2009). Breiten Raum Altern nehmen ferner Untersuchungen zum al- tersbedingten Wandel kognitiver Fähig- Während sich eine große Anzahl der bis- keiten (Lindenberger, 2014) sowie zur herigen bevölkerungsbezogenen Längs- schnittstudien auf die Kindheit und das 8 In deutscher Sprache z.B. Schröder & Pohlmann (2012); über neuere US-amerikanische Studien informiert frühere Erwachsenenalter konzentrierte, http://www.nia.nih.gov/ (Abruf 1.3.2016). 26 Wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Bedeutung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien

aktiven Gestaltung des „dritten Lebens- onale Zusammenarbeit, durch welche die alters“ ein (Morrow-Howell et al., 2001). erforderliche Harmonisierung verwende- Diese Phase umfasst typischerweise die ter Methoden und Auswertungsstrategien Zeitspanne vom Berentungsbeginn bis gewährleistet wird, sowie eine die Dis- hin zu eingeschränktem Funktionsvermö- ziplinen übergreifende Verbindung bio- gen und beginnender Pflegebedürftigkeit. medizinischer, psychosoziologischer und Da ein beachtlicher Teil der Bevölkerung sozioökonomischer Untersuchungsinhal- in dieser Altersspanne relativ gesund und te. Letztere resultiert aus der Erkenntnis, vital ist, werden hierdurch neue Perspek- dass erfolgreiches Altern nur als ein Pro- tiven sozialer Produktivität und individu- zess über die gesamte Lebenszeit, also von eller Freiheit eröffnet (Laslett, 1989). Im frühester Kindheit an, verstanden werden Zentrum der ökonomisch und sozialpoli- kann, in dem biomedizinische und sozio- tisch ausgerichteten Altersstudien stehen ökonomische Mechanismen auf eine kom- Fragen der Einkommenssicherung und plexe Art und Weise zusammenspielen. der Vermögensverhältnisse, des Transfers zwischen Generationen, der Wohn- und Betreuungssituation im Alter, einschließ- 3.8 Fazit lich medizinischer und pflegerischer Ver- sorgung.9 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass bevölkerungsweite Längs- Zu diesen Themen ist nach Pionier- schnittstudien international einen un- arbeiten im 20. Jahrhundert, die nicht verzichtbaren Bestandteil all jener For- nur unsere Vorstellungen vom Altern ra- schungsaktivitäten bilden, welche die dikal verändert, sondern auch zu vielen Aufklärung von Bedingungen erfolgrei- praktischen Verbesserungen geführt ha- cher und gesunder menschlicher Entwick- ben, inzwischen eine neue Generation von lung in einer Lebensverlaufsperspektive Studien entstanden. Kennzeichnend ist zum Ziel haben. Im Schnittfeld von Bio- hierbei die Tatsache, dass ihre Studien- medizin, Demographie, Epidemiologie, pläne und Methoden eng aufeinander ab- Genetik, Geographie, Psychologie, Öko- gestimmt werden, so dass deren Ergebnis- nomik, Soziologie und Statistik konnten se länderübergreifend verglichen werden und können Forschungsprogramme ent- können. Den Anfang hierzu machte die wickelt werden, welche die Initiierung Englische Längsschnittstudie des Alterns und Umsetzung disziplinübergreifender (English Longitudinal Study of Ageing – wissenschaftlicher Kooperationen ermög- ELSA) (Banks et al., 2006), die sich eng lichten und deren Ergebnisse entschei- an der einige Jahre früher begonnenen dend dazu beigetragen haben, dass eine US-amerikanischen Studie zu Gesundheit Vielzahl präventiver Maßnahmen und und Berentung (Health and Retirement Programme zur Verbesserung von Le- Study – HRS) orientierte. Diesem Bei- benschancen und Lebensqualität bei den spiel folgte der von Deutschland aus initi- entsprechenden Bevölkerungsgruppen in- ierte europaweite SHARE (Börsch-Supan itiiert werden konnten. Die überwiegende et al., 2011), der wiederum als Modell für Mehrheit bahnbrechender Studien hierzu analoge Studien in Japan, China, Südko- ist in Nordamerika, in Großbritannien, in rea sowie weiteren Schwellen- und Ent- den skandinavischen Ländern und in den wicklungsländern diente. Kennzeichnend Niederlanden durchgeführt worden. für diese Studien ist eine enge internati- Mit einiger Verspätung lässt sich

9 Diese Fragen werden aktuell in großen internationalen auch in Deutschland eine beeindrucken- Alternsstudien untersucht, so v.a.: Juster & Suzman de Entwicklung auf dem Gebiet bevölke- (1995), Marmot et al. (2003) und Börsch-Supan et al. (2013). rungsweiter Längsschnittstudien feststel- Wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Bedeutung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien 27

len (Kapitel 4). Sie ist allerdings in den verschiedenen Disziplinen eher unter- schiedlich verlaufen und bedarf weiterer struktureller Maßnahmen, um dauerhaft Anschluss an die internationale Spitzen- forschung zu erreichen. Nachfolgend wird diese Entwicklung kurz skizziert und eine Übersicht über wichtige, aktuell laufende Längsschnittstudien gegeben. Anschlie- ßend werden der daran sichtbare weitere Entwicklungsbedarf diskutiert (Kapitel 5) und die Empfehlungen der Arbeitsgruppe vorgestellt (Kapitel 6). 28 Entwicklung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien in Deutschland

4 Entwicklung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien in Deutschland

Deutschland nimmt auf dem Gebiet der Krupp), das von Beginn an in einem Teil- Erhebung, Methodenentwicklung und projekt am Deutschen Institut für Wirt- Auswertung von Längsschnittstudien in schaftsforschung (DIW) in Berlin ange- den Wirtschafts- und Sozialwissenschaf- siedelt war. Das hat nicht nur zu einem ten seit Jahrzehnten eine Vorreiterrolle in einzigartigen Aufschwung in der sozio- Europa ein. Bereits mit der Mikrozensus- logischen Lebensverlaufsforschung, der Zusatzerhebung 1971 des Statistischen mikroökonometrischen Arbeitsmarkt- Bundesamtes, in dem v.a. die Bildungs- analyse und der Weiterentwicklung von und Berufskarrieren von Flüchtlingen und Mikrosimulationsmodellen bis hin zu Vertriebenen untersucht werden sollten, ökonomischen Ungleichheitsstudien in stand in Deutschland relativ früh eine re- Deutschland geführt (in denen z.B. Armut präsentative retrospektive Längsschnitt- und Einkommen als dynamische Phäno- datenbasis zur Verfügung, die seinerzeit mene im Lebensverlauf betrachtet wur- von der amtlichen Statistik durchgeführt den), sondern auch die methodische Ent- und der Wissenschaft zur Verfügung ge- wicklung der Ereignis- und Panelanalyse stellt wurde. Diese Daten erlaubten es, deutlich vorangetrieben. Das SOEP spielt Karriereverläufe in der Nachkriegszeit in inzwischen auch in der Entwicklungs- Deutschland relativ gut abzubilden, im und Persönlichkeitspsychologie eine Längsschnitt zu beschreiben und zu ana- weltweite Rolle. Mit der Bereitstellung lysieren. In Großbritannien entstanden eines speziellen längsschnittlichen Inno- in dieser Zeitperiode prospektiv ange- vation-Samples (SOEP Innovationsstudie legte Längsschnittstudien, die National – SOEP-IS) wird seit 2012 diese Entwick- Child Development Study (NCDS) (1958) lung ausgebaut und auch für neue Fra- und die British Cohort Study (BCS70). In gestellungen, Verfahren und Methoden derselben Woche in England, Schottland verstetigt. Zwar gab es auch in anderen und Wales geborene Personen wurden im europäischen Ländern Längsschnittstudi- Laufe ihres Lebens mehrfach in größeren en, so z.B. im Vereinigten Königreich den zeitlichen Abständen interviewt. Auf diese British Household Panel Survey (BHPS) Weise wurden wertvolle Längsschnittin- und dessen Nachfolgeerhebung, die Un- formationen generiert. derstanding-Society-Studie (beide ange- siedelt am ESRC UK Longitudinal Studies In den 1980er Jahren hat Deutsch- Centre des Institute for Social and Econo- land in der Erhebung und Analyse retro- mic Research (ISER) an der Essex Univer- spektiver und prospektiver Längsschnitt- sity). Doch wurden diese Studien in der studien weltweit eine führende Rolle Regel erst einige Jahre später begonnen übernommen. Dies geschah zum einen als vergleichbare Studien in Deutschland mit der GLHS am MPI für Bildungsfor- und sie standen und stehen im Vereinig- schung in Berlin (Leitung: Karl Ulrich ten Königreich unter einem permanenten Mayer) und zum anderen mit dem SOEP Finanzierungsvorbehalt sowie mangeln- des Sonderforschungsbereichs (SFB) 3 der Verstetigung eines einmal gewähl- an den Universitäten Frankfurt am Main ten Forschungsprogramms. Erst später und Mannheim (Leitung: Hans-Jürgen folgten im Vereinigten Königreich spe- Entwicklung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien in Deutschland 29

zialisiertere Längsschnittstudien wie die Es ist kaum möglich, ein einheitli- ELSA, die Studie Growing Up in Scotland, ches Muster der hier nur grob skizzierten die Longitudinal Study of Young People Forschungsentwicklung der mit Längs- in England und die Millennium Cohort schnittstudien befassten wissenschaftli- Study, welche an die in den 1960er Jah- chen Disziplinen in Deutschland zu erken- ren begonnenen Geburtskohortenstudien nen. Hierzu sind die wissenschaftlichen anschlossen und zunehmend auch Mehr- Traditionen und die Chancen ihrer For- Kohorten-Analysen von Lebensverläufen schungsförderung zu unterschiedlich. Des- sowie sozialem Wandel erlaubten. halb werden die Entwicklungen im Folgen- den disziplinweise geschildert. Dabei zeigt Auf Grundlage der Vorreiterpositi- sich, dass bevölkerungsweite Längsschnitt- on in der Längsschnittforschung konnte studien auf den Gebieten der Wirtschafts- sich Deutschland in Europa auch in z.T. wissenschaften, Soziologie und Demogra- führender Position an den international phie den Anschluss an die international vergleichenden retrospektiven Längs- führenden Trends etwas früher gefunden schnittstudien beteiligen, etwa dem Fa- haben als dies in der epidemiologischen mily and Fertility Survey (FFS) im Jahre und Public-Health-Forschung der Fall war. 1992, dem GGS im Jahre 2005 (beide im Auftrag des Bundesinstituts für Bevölke- rungsforschung in Wiesbaden) und seit 4.1 Epidemiologie und Public Health 2004 im SHARE (zuerst an der Universi- tät Mannheim, später am MPI für Sozial- Für den in verschiedenen Denkschriften recht und Sozialpolitik in München; vgl. in den 1970er und 1980er Jahren festge- Abschnitt 4.4). stellten Rückstand einer bevölkerungswei- ten Gesundheitsforschung in Deutschland Diese verschiedenen Längsschnitt- sind mehrere Faktoren verantwortlich ge- studien in Deutschland stellten schließ- macht worden (Labisch & Woelk, 2012). lich auch die Voraussetzung für die Ent- Größte Bedeutung kommt der in wis- wicklung des NEPS im Jahre 2009 dar, senschaftshistorischer Sicht zutiefst ein- mit dem Deutschland heute in der längs- schneidenden Unterbrechung und Zerstö- schnittlichen Bildungsforschung inter- rung der im Deutschen Kaiserreich und in national führend ist. Ähnliches gilt für der Weimarer Republik sehr erfolgreichen das pairfam, das im Jahre 2008 gestartet Forschungsentwicklung durch den Natio- wurde (an den Universitäten Mannheim, nalsozialismus zu. In der Nachkriegszeit Bremen, Chemnitz und München), und waren infolge der Diskreditierung von Un- für die genetisch sensitive Zwillingsstudie tersuchungen auf dem Gebiet öffentlicher TwinLife (an den Universitäten Bielefeld Gesundheit, des Mangels an wissenschaft- und des Saarlands in enger Zusammen- licher Expertise und der Konzentration der arbeit mit dem DIW Berlin). Vor dieser Forschungsförderung auf die biomedizini- Entwicklung ist die häufig geäußerte Be- sche Grundlagenforschung und die klini- hauptung, dass das Vereinigte Königreich sche Forschung die Entwicklungschancen in Europa als das führende Land in der von Epidemiologie und Prävention au- Längsschnittforschung zu gelten habe, ßerordentlich begrenzt. Dies änderte sich deutlich zu relativieren. Deutschland sukzessive während der letzten zwei Jahr- konnte spätestens seit den 1980er Jahren zehnte des vergangenen Jahrhunderts. bis heute in zentraler Rolle in der Daten- erhebung und Methodenentwicklung in So erfolgte bspw. eine erste größe- der Längsschnittforschung mithalten und re Förderinitiative durch Mittel aus der hat das Vereinigte Königreich in den letz- Programmforschung des damaligen Bun- ten Jahren darin sogar überflügelt. desministeriums für Forschung und Tech- 30 Entwicklung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien in Deutschland

nologie, indem fünf regionale Forschungs- 2003; Keil et al., 2005) und die PRO- verbünde auf dem Gebiet von Public CAM-Studie in Münster (Schulte et al., Health für einen maximal zehnjährigen 1999). Später folgten die Study of Health Zeitraum etabliert und gefördert wurden. in Pomerania (SHIP) in Greifswald (Völz- Mit der kombinierten Förderung von For- ke, 2012), die Heinz Nixdorf Recall Stu- schungsprojekten und universitären Wei- die (Recall) in Essen (Schmermund et terbildungsstudiengängen sollte zugleich al., 2002) und die Gutenberg-Gesund- eine breitere Nachwuchsförderung in den heitsstudie (GHS) in Mainz10, wobei das entsprechenden Disziplinen erfolgen. Zu- Spektrum der Zielkrankheiten in den vor war die erforderliche wissenschaftli- letzteren Studien erweitert wurde. Rele- che Qualifikation lediglich in begrenztem vante epidemiologische Beiträge während Umfang zu gewährleisten und zwar in der letzten Jahrzehnte des vergangenen Form von durch Stipendien des Deut- Jahrhunderts sind zudem aus der Krebs­ schen Akademischen Austauschdienstes epidemiologie am Deutschen Krebsfor- (DAAD) gewährten Master- und/oder schungszentrum in Heidelberg, der psy- Ph.D.-Studiengängen an ausländischen chiatrischen Epidemiologie am Zentrum Universitäten (DAAD-Sonderprogramm für Seelische Gesundheit in Mannheim, Epidemiologie). Zu den etwa 140 Stipen- der Diabetesepidemiologie in Düsseldorf diatinnen und Stipendiaten, die in aller und München sowie der Epidemiologie Regel eine forschungsnahe internationale ernährungsbedingter Erkrankungen in Ausbildung erhielten, gehören heute füh- Potsdam und Heidelberg zu verzeichnen, rende Vertreter der epidemiologischen um nur besonders sichtbare Beispie- Forschung, mehrere Lehrstuhlinhaberin- le einer insgesamt recht umfangreichen nen und -inhaber in den Bereichen Epi- Forschungsaktivität zu nennen. Mit der demiologie, Biometrie und Versorgungs- EPIC-Studie (Gallo et al., 2012) ist bspw. forschung sowie Vorstandsmitglieder eine international sehr stark vernetzte entsprechender Fachgesellschaften. Der Studie entstanden. Die Kohortenstudie in Erfolg beider Förderinitiativen blieb den- der deutschen Kautschukindustrie stellt noch begrenzt, weil nach Auslaufen der ein Beispiel arbeitsmedizinisch ausge- Initiativen keine geeigneten Programme richteter Krebsepidemiologie dar (Birk et zur Forschungsförderung aufgelegt wur- al., 1995). Soweit die wichtigsten dieser den, mit denen die Weiterentwicklung ei- Studien heute weiter fortgeführt werden, ner koordinierten Forschung ermöglicht werden sie in einem der folgenden Ab- und der Strukturaufbau abgesichert wor- schnitte tabellarisch aufgelistet und be- den wäre. schrieben. An dieser Stelle kann bereits festgehalten werden, dass mit der in der Weitere Initiativen entstanden im jüngeren Vergangenheit erfolgten Ver- Rahmen epidemiologischer Forschungs- dichtung epidemiologischer Forschung in projekte an medizinischen Fakultäten Deutschland bezüglich methodischer und bzw. in enger Kooperation mit medizini- forschungsorganisatorischer Expertise schen Forschungszentren. Entsprechend eine kritische Masse geschaffen worden ihrem überragenden gesundheitspo- ist, die es ermöglicht, nunmehr eine um- litischen Stellenwert befassten sich fassende, in ihrer Dimension alles Vor- die ersten großen Studien mit Herz- hergehende weit übersteigende Studie in Kreislauf-Krankheiten und ihren wich- Angriff zu nehmen: dieNationale Kohorte tigsten Risikofaktoren. Zu nennen sind (NAKO, s. Abschnitt 4.4b). Eine ausführli- in diesem Zusammenhang die MONICA/ chere Erörterung des Entwicklungsstands KORA-Studien (Keil, 2005) in Augsburg/ München, in Verbindung mit dem Euro- 10 Vgl. http://www.gutenberg-gesundheitsstudie.de (Abruf päischen SCORE-Projekt (Conroy et al., 1.3.2016). Entwicklung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien in Deutschland 31

der deutschen Forschung auf dem Gebiet Im Bereich von Längsschnittstu- von Public Health ist hier nicht erforder- dien auf der Basis von Registerdaten lich, da hierzu seit kurzem eine eigene seien zuerst die Registerdaten der deut- Stellungnahme der Nationalen Akademie schen gesetzlichen Rentenversicherung der Wissenschaften Leopoldina vorliegt erwähnt, mit deren Hilfe unterschiedli- (Leopoldina, 2015). che Fragestellungen wie Erwerbsverläufe und Renteneintritt (Hansen et al., 2011), soziale Unterschiede in der Lebensdauer 4.2 Sozialwissenschaftliche (Himmelreicher et al., 2008) oder Fer- Längsschnittstudien tilität (Kreyenfeld & Mika, 2008) unter- sucht werden. In den Rentendaten sind a) Demographie keine Informationen zum Migrationshin- Die Demographie bedient sich traditio- tergrund enthalten, es wird jedoch nach nell der amtlichen Bevölkerungsstatis- deutscher und ausländischer Staatsbür- tik, um die Themenbereiche zu den drei gerschaft unterschieden, so dass auf- demographischen Prozessen Mortalität, grund der großen Fallzahlen differen- Fertilität, und Migration zu untersuchen. zierte Analysen nach Staatsbürgerschaft Für Deutschland waren dies meist Quer- durchgeführt werden können (Mika, schnittsdaten ohne Längsschnittbezug 2006). wie z.B. die Volkszählungen, die Gebur- ten- und Sterbestatistiken sowie die Zu- Eine weitere wichtige längsschnitt- und Fortzugsstatistiken. Vor etwa zwei basierte Datenquelle, die sich erst in den Jahrzehnten setzte mit der Bereitstellung letzten Jahren erschlossen hat, sind die von längsschnittbasierten Sekundärda- Daten der gesetzlichen Krankenkassen. ten v.a. durch die Forschungsdatenzen- Im Rahmen der Verordnung zur Umset- tren des Bundes und der Länder eine zung der Vorschriften über die Daten- wesentliche Verbesserung der Daten- transparenz im Jahre 201211 wurde das verfügbarkeit ein. Da ein wichtiges Ziel Deutsche Institut für Medizinische Do- demographischer Studien in der Schät- kumentation und Information (DIMDI) zung demographischer Indikatoren wie beauftragt, die Daten des sog. Morbidi- z.B. kohorten- und periodenspezifischer tätsorientierten Risikostrukturausgleichs Fertilitätsraten und Sterberaten auf Be- (Morbi-RSA) zu pseudonymisieren und völkerungsebene besteht, sind längs- der Forschung zur Verfügung zu stellen. schnittbasierte Registerdaten von großer In Zusammenarbeit mit diesen Instituti- Bedeutung. Ihnen können die für die Be- onen werden z.B. Fragestellungen zu Prä- rechnung der Raten notwendigen Daten valenz, Inzidenz, Medikation und Kosten zum Zähler (z.B. Geburten oder Todesfäl- von Erkrankungen (Doblhammer et al., le) wie auch zum Nenner (Bevölkerung) 2015) oder zu Übergängen von Personen entnommen werden. in die gesetzliche Pflegeversicherung, zu Pflegeheimen und zu Mortalität (Fink, Mit den Vor- und Nachteilen unter- 2015) bearbeitet. schiedlicher Datengrundlagen hat sich die Demographie intensiv beschäftigt, so z.B. Unter den ­Längsschnittstudien in der Fertilitätsforschung (Kreyenfeld et auf der Basis von Paneldaten nimmt in al., 2012), der Migrationsforschung (Car- der demographischen Forschung das seit nein et al., 2015) und der Morbiditätsfor- 1984 laufende SOEP, eine der längsten schung (Schulz & Doblhammer, 2011). Im Panelstudien weltweit, einen wichtigen Folgenden werden einige wichtige ausge- wählte Längsschnittdaten auf Basis von 11 Vgl. http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/ Registern und Panel-Surveys dargestellt. datrav/gesamt.pdf (Abruf 17.3.2016). 32 Entwicklung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien in Deutschland

Platz ein (vgl. Abschnitt 4.4a). In der Bezüglich der Morbiditäts- und Al- Fertilitätsforschung wird es für die Ana- ternsforschung sei auf die nachfolgenden lyse des Geburtenverhaltens von Män- Abschnitte verwiesen, wobei vorrangig nern und Frauen verwendet (Unterstich- der deutsche Teil des SHARE, die Berli- probe SOEP Familien in Deutschland ner Altersstudie (BASE-I und -II) sowie – SOEP-FiD) (Kreyenfeld et al., 2012). der Deutsche Alterssurvey (DEAS) zu In der Migrationsforschung ermöglicht nennen sind. das Oversampling von Personen mit Mi- grationshintergrund eigene Analysen zur Mit den vorliegenden Registerda- Migration und Integration (Milewski & ten und Surveys wird die Datensituation Doblhammer, 2015). SOEP ist ebenfalls für demographische Längsschnittstudien wichtig bei der Analyse von Pflegebedürf- in Deutschland generell als gut beurteilt. tigkeit, Morbidität und Mortalität (Dobl- Dennoch soll auf Einschränkungen hin- hammer & Hoffmann, 2009). sichtlich der Datenqualität durch Survey Bias und fehlende Teilpopulationen in Neben diesen Mehrzweckpanels den Registerdaten hingewiesen werden. gibt es eine Reihe von Familienpanels. Ein wichtiger Schritt für die Zukunft liegt In der ersten Welle des deutschen GGS in der Verknüpfung von Survey- und Re- wurden 2005 an die 10 000 Personen im gisterdaten. Hier ist noch ein großes un- Alter von 18–79 Jahren befragt. Die zwei- gehobenes Forschungspotenzial gegeben, te Welle im Jahr 2008 enthielt nur noch das im Vergleich zu den skandinavischen ein Drittel der Population aus der ersten Ländern oder auch den Niederlanden un- Welle. In einer kritischen Validierung der genutzt bleibt. Daten für die Fertilitätsforschung wurde ein „Family Bias“ festgestellt, wodurch Einschränkungen bestehen auch in Kinderlose unterrepräsentiert sind. Zu- der Mortalitätsforschung, v.a. den Todes- dem wird die Fertilität jüngerer Kohorten ursachen, da in Deutschland kein zentra- überschätzt und die der älteren unter- les wissenschaftlich zugängliches Mortali- schätzt (Kreyenfeld et al., 2013). Die Auto- tätsregister wie z.B. in den USA (National rinnen weisen darauf hin, dass dieses Bias Death Register) mit den entsprechenden in Befragungen mit familienspezifischen Angaben verfügbar ist. Ganz im Gegenteil Schwerpunkten besonders bedeutend zu verhindert derzeit das Bundesstatistikge- sein scheint und in Mehrzweckumfragen setz, dass für die Erforschung von Todes- geringer ausfällt. ursachen wichtige Teile der Totenscheine ausgewertet werden können. Das aktuellste Familienpanel ist pairfam, dessen erste Welle in den Jah- In Zukunft sollten daher vermehr- ren 2008/2009 durchgeführt wurde und te Anstrengungen unternommen werden, mehr als 12 000 Befragte enthält (Hu- datenschutzrechtliche Probleme anzuge- inink et al., 2011). Die Ergänzungsstich- hen und die einzelnen Datenhalter zu ver- probe Demographic Differences in Life netzen. Course Dynamics in Eastern und Wes- tern Germany (DemoDiff) enthält weite- b) Wirtschafts- und Sozialwissenschaften re 1 400 Personen, die in Ostdeutschland In der Lebenslauf-Soziologie dominierten leben. Pairfam scheint derzeit das größte in den 1980er und frühen 1990er Jahren familienbezogene Panel Europas zu sein. die (retrospektiven) Lebensverlaufsstu- Es wird im jährlichen Rhythmus durchge- dien. Im Rahmen des SFB 3 an der Uni- führt und ist für eine Laufzeit von 14 Jah- versität Mannheim und am MPI für Bil- ren konzipiert. Weitere Einzelheiten wer- dungsforschung in Berlin wurde zwischen den in Abschnitt 4.4 dargestellt. 1979 und 2005 die GLHS durchgeführt. Entwicklung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien in Deutschland 33

Sie umfasst acht retrospektive Geburtsko- Schwangerschaft, Kindheit, Persönlich- hortenstudien für Westdeutschland und keitsentwicklung, Bildung, Einkommen, fünf retrospektive Geburtskohortenstudi- Erwerbstätigkeit, Gesundheit und Le- en für Ostdeutschland (Mayer, 1990). Die benszufriedenheit (Schupp, 2012). Das Studien für die ostdeutschen Kohorten SOEP dient für eine Reihe von Spezialstu- und 1971 für die westdeutsche Kohorte dien als „Referenz-Stichprobe“ (u.a. BA- wurden um eine Panelwelle ergänzt, um SE-II, TwinLife). Zudem bietet das SOEP die Folgen der Wiedervereinigung zu un- mit seinem Innovationssample SOEP-IS tersuchen (Mayer et al., 2006; Mayer & eine Plattform für innovative Fragestel- Solga, 2010). Ursprünglich zielte das For- lungen deutscher und internationaler schungsprogramm der GLHS auf Bedin- Nutzerinnen und Nutzer, z.B. eine Spezi- gungen und Mechanismen sozialer Un- alerhebung zu Stress mit Hilfe von epige- gleichheit in Herkunftsfamilie, Schul- und netischen Markern. Seit dem Beginn von Ausbildung sowie Berufsverlauf. Dieses SOEP-IS gehen jährlich mehr als 40 An- Programm wurde dann inhaltlich ergänzt träge ein, von denen knapp ein Drittel re- um Untersuchungen zu Familienbildung, alisiert werden kann. Migration sowie u.a. zum Verhältnis von Sozialpolitik und Lebensverlauf (Mayer, In den 1990er Jahren setzte eine 2015). Bewegung hin zu prospektiven Panelstu- dien ein, die wesentlich durch das ‚Erfolgs- Die großen Panelstudien, die von modell SOEP‘ ausgelöst wurde (Schupp, den Wirtschaftswissenschaften genutzt 2009). Da es bei den nachfolgenden Studi- werden, sind nahezu alle wissenschaftsge- en weniger um eine Replikation des SOEP trieben oder basieren auf Verordnungen als um eine Vertiefung spezieller Themati- der amtlichen Statistik. Sie dienen nur ken ging, setzten diese Studien bestimmte indirekt der Politikberatung.12 Für die Be- Schwerpunkte. Der DEAS ist ein seit 1996 friedigung kommerzieller Interessen lie- laufendes Survey-Programm zur Untersu- gen zwei Panelstudien vor (GfK Verbrau- chung der sozialen, wirtschaftlichen und cherpanel und Nielsen Haushaltspanel), gesundheitlichen Lebenssituation der auf die hier nicht näher eingegangen wird Bevölkerung in der zweiten Lebenshälfte (vgl. Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten, (Motel-Klingebiel et al., 2010). Der DEAS 2011). wird aus Mitteln des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Das SOEP ist die größte und am (BMFSFJ) gefördert und vom Deutschen längsten laufende multidisziplinäre Lang- Zentrum für Altersfragen (DZA) als Teil zeitstudie in Deutschland und Europa, der Ressortforschung durchgeführt. Die die von Sozial- und Wirtschaftswissen- teilnehmenden Personen im Alter ab schaftlerinnen und -wissenschaftlern 40 Jahren werden wiederholt umfassend geleitet wird. Sie wird ausführlich in Ab- zu ihren objektiven und subjektiven Le- schnitt 4.4a beschrieben. Zurzeit umfasst bensumständen befragt. Hinzu kommen das SOEP etwa 50 000 Teilnehmerinnen Testverfahren zur Erhebung der kogniti- und Teilnehmer in etwa 25 000 Haushal- ven Leistungsfähigkeit und zu Aspekten ten (SOEP Core und SOEP-IS). Die Da- der körperlichen Gesundheit. ten des SOEP geben u.a. Auskunft über Der DEAS kombiniert wiederkeh- 12 Was man unschwer daran erkennen kann, dass eine rende, bundesweit repräsentative Quer- möglichst fehlerfreie Einkommensmessung, die sich auf jeweils das gesamte Kalenderjahr vor dem schnittserhebungen mit individuellen Erhebungs(Befragungs)jahr bezieht, sowie eine sorgfäl- tige Datenaufbereitung dazu führen, dass ökonomisch Längsschnittbefragungen im Paneldesign. bestimmte Panel-Einkommens-Ergebnisse notorisch zu Derzeit liegen die Daten der Erhebungs- spät vorliegen, um die aktuelle Entwicklung zu beschrei- ben. wellen 1996 (n=4838), 2002 (n=5194), 34 Entwicklung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien in Deutschland

2008 (n=8198) und 2011 (n=4855) vor. zeitlich und international vergleichbare Sie eröffnen die Möglichkeit zur Analy- mehrdimensionale sowie komparative se von Lebenssituationen und -zusam- Paneldaten zu mehreren Themen zu er- menhängen im Querschnitt, zur Unter- heben. Es werden dabei sowohl monetä- suchung des sozialen Wandels sowie zur re als auch nicht-monetäre Aspekte nach Analyse der individuellen Entwicklung im objektiven und subjektiven Gesichts- Verlauf des Älterwerdens. Im Jahr 2014 punkten erhoben. Pro Jahr werden in fand die fünfte Befragungswelle statt: Deutschland ca. 14 000 Haushalte mit Zwischen April und Oktober 2014 wurden 28 000 Personen befragt, wobei jährlich etwa 6 000 Personen zum ersten Mal und ca. ein Viertel der Stichprobe ausschei- über 4 000 Personen erneut zu ihrer Le- det sowie ein Viertel komplett neu rek- benssituation befragt. rutiert werden muss.13 EU-SILC ist nicht wissenschaftsgesteuert und nicht durch- Auf der europäischen Ebene war gängig harmonisiert, was vergleichende der SHARE, dessen erste Welle 2004 sozialwissenschaftliche und epidemiolo- durchgeführt wurde, das erste der gro- gische Analysen erschwert (vgl. Jagger et ßen spezialisierten Panels mit sozial- und al., 2008). wirtschaftswissenschaftlichen Schwer- punkten. SHARE ist rein wissenschafts- Im Zuge der Hartz-IV-Evalua- gesteuert und wurde zunächst von der tionsforschung wurde 2006 das Panel EU-Kommission und danach vom BMBF Arbeitsmarkt und soziale Sicherung finanziert (vgl. die ausführliche Beschrei- (PASS) begonnen, welches durch das bung in Abschnitt 4.4e). Die Stichproben- IAB getragen wird. PASS wird zweijähr- größe der fünften Welle in Deutschland lich erhoben14 und seine Befragungsda- (2013) betrug 4 556 Personen, die min- ten sind inzwischen mit den administ- destens 50 Jahre alt waren. rativen Daten des IAB verknüpft worden (vgl. Antoni & Bethmann, 2014). Die ver- Für die Jahre 2010–2013 wur- knüpften Prozess- und Befragungsdaten de Familien in Deutschland (FiD) als bestehen aus in Interviews erhobenen Haushaltspanel mit großer Fallzahl Informationen von Teilnehmerinnen und (4 337 Haushalte, in denen Kinder unter Teilnehmern an der IAB-Erhebung PASS 18 Jahren leben) gemeinsam vom Bun- und ihren Personendaten aus den admi- desfinanzministerium und dem BMFSFJ nistrativen Daten der Bundesanstalt für finanziert. Im Jahr 2014 erfolgte -die In Arbeit (BA), sofern sie ihre Zustimmung tegration der FiD-Haushalte in das SOEP, zur Verknüpfung der Daten erteilt haben und seit 2015 sind auch die FiD-Daten der und dort identifiziert werden konnten. Jahre 2010–2013 zur Erhöhung der Nut- Die PASS-Daten enthalten u.a. detail- zerfreundlichkeit in den SOEP-Datenbe- lierte Informationen zur Dynamik des stand rückwirkend eingepflegt. Bezugs von Arbeitslosengeld II sowie zur Versorgungslage und sozialen Teil- Auf der europäischen ­Ebene habe von Haushalten. Zu den befragten ent­hielt das European Community Personen wurden u.a. Details zu Arbeits­ Household Panel (ECHP) für Deutsch- marktintegration, arbeitsmarktrelevan- land die umformatierten SOEP-Daten. ten Einstellungen und Verhaltensweisen, Die Nachfolgerstudie ist die in den Mit- physischer und psychischer Gesundheit gliedsstaaten der EU im Auftrag der je- sowie zur sozialen Vernetzung erhoben. weiligen statistischen Ämter durchge- führte EU-SILC. Dieses rotierende Panel 13 Vgl. https://www.destatis.de/DE/Meta/AbisZ/EU_Silc. ist eine europäische Erhebung der Bevöl- html (Abruf 16.3.2016). 14 Vgl. http://www.iab.de/de/befragungen/iab-haus- kerung in Privathaushalten mit dem Ziel, haltspanel-pass.aspx (Abruf 16.3.2016). Entwicklung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien in Deutschland 35

Für Welle 5 liegen Informationen von 2010 stieg die Migrationsforschung 15 607 Personen in 10 235 Haushalten mit der ersten Welle des CILS4EU in die vor. Wie beim SOEP können externe Panelszene ein und wurde von der DFG Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft- zunächst im Rahmen des Programms ler Vorschläge zur Ausgestaltung der Be- New Opportunities for Research Funding fragung machen. Agency Co-operation in Europe (NOR- FACE) finanziert. Mittlerweile wurde die Das größte der spezialisierten Pa- deutsche Stichprobe ebenfalls in das DFG- nels ist das NEPS, das ebenfalls in der Langzeitprogramm überführt. Schließlich tabellarischen Übersicht in Abschnitt 4.4 begann im Jahre 2014 die erste Welle des charakterisiert wird. In diesem Zusam- Zwillingspanels TwinLife, welches gleich- menhang erwähnenswert ist das inter- falls im Rahmen des DFG-Langzeitpro- nationale Programme for the Internati- gramms finanziert wird. Ebenfalls 2014 onal Assessment of Adult Competencies begann mit dem GESIS Panel ein Inter- (­PIAAC), initiiert von der OECD, für das net-Panel, welches seine Befragungszeit in Deutschland die erste Erhebungswelle der Forschergemeinschaft kostenlos zur in den Jahren 2011 und 2012 durchgeführt Verfügung stellt (als Projekt finanziert wurde.15 Die Erhebung basierte auf einer von der Gesellschaft Sozialwissenschaftli- repräsentativen Bevölkerungsstichprobe. cher Infrastruktureinrichtungen (GESIS) Zunächst wurde ein computergestütztes mit Mitteln des BMBF). Interview durchgeführt. Im Anschluss daran erfolgte die Kompetenzmessung, in Noch stärker spezialisiert ist die Pa- der Regel am Computer. In Deutschland nelstudie Sparen und Altersversorgung wurde PIAAC in ein Panel überführt (PI- in Deutschland (SAVE), die in zehn Wel- AAC-L), in dem die Befragten mindestens len zwischen 2001 und 2013 Daten zum über drei Jahre hinweg wiederbefragt und ökonomischen und sozialpsychologischen auch – analog zum SOEP – Informatio- Hintergrund von langfristiger Finanzpla- nen zu sämtlichen Erwachsenen im Haus- nung, Ersparnisbildung und öffentlicher, halt eingeholt werden. Außerdem bieten betrieblicher und v.a. privater Altersvor- die nationalen Ergänzungen Competen- sorge erhoben hat (zunächst finanziert cies in Later Life (CiLL), die PIAAC bei durch den SFB 504 in Mannheim, dann 66–80-Jährigen untersuchte, sowie die durch diverse Drittmittel, schließlich Studie zum Zusammenhang von Kom- durch Eigenmittel des MPI für Sozialrecht petenzen und Arbeitsmarktchancen von und Sozialpolitik). Im Rahmen eines in- gering Qualifizierten in Deutschland, für ternational vergleichenden Projekts der welche zusätzliche Daten bei 26–55-Jäh- Europäischen Zentralbank hat die Bun- rigen erhoben wurden, weitere Analyse- desbank damit begonnen, ein ähnliches potenziale. Panel on Household Finances (PHF) auf- zubauen, das bislang allerdings unter sehr Das im Bereich der Familien- niedrigen Antwortraten leidet. forschung spezialisierte Panel pairfam startete 2008, getragen von einem For- Mit dem SOEP, dem NEPS und schungskonsortium von vier Universitä- der Vielzahl an weiteren spezialisierten ten und finanziert im Rahmen des DFG- Panelstudien verfügt Deutschland gegen- Langzeitprogramms (vgl. die ausführliche wärtig über eine auch im internationalen Beschreibung in Abschnitt 4.4d). Vergleich hochrangig ausgebaute sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Panel- dateninfrastruktur.

15 Vgl. http://www.ratswd.de/forschungsdaten/fdz-piaac (Abruf 16.3.2016). 36 Entwicklung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien in Deutschland

4.3 Neueste Entwicklungen: negativen Feedback-Zyklen führen (Blane Die biomedizinisch-­ et al., 2006; Swedish National Institute of sozialwissenschaftliche Public Health, 2006; Heckman & Conti, Gesamtschau 2013), bis sie schließlich die gesundheit- liche, wirtschaftliche und soziale Situati- Eine neue und besonders für diese Stel- on im Alter bestimmen. Abbildung 1 zeigt lungnahme bedeutende wissenschaftliche diese Zusammenhänge schematisch auf: Einsicht ist die, dass – ausgehend von Viele Forschungsprojekte, v.a. im angel- der genetischen Prädisposition sowie der sächsischen Raum, konzentrieren sich elterlichen und der frühkindlichen Um- auf die Wirkung sozial-, wirtschafts- und gebung – die Gesundheit wie auch die gesundheitspolitischer Interventionen soziale und wirtschaftliche Situation im und zeigen, dass die in Abbildung 1 dar- späteren Leben in einem lebenslangen gestellten Trajektorien von Gesundheit gemeinsamen Zusammenspiel biomedizi- sowie sozialer und wirtschaftlicher Situati- nischer, sozialer und wirtschaftlicher Ein- on durch gesundheits-, bildungs-, sozial-, flussfaktoren bestimmt werden. Aspekte wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische dieses lebenslangen Zusammenhangs Eingriffe modifizierbar sind (Ben-Shlomo sind der „sozioökonomische Gradient“ & Kuh, 2002; Oxley, 2009). Manche In- und die Gen×Umwelt-Interaktionen, die terventionen der Wohlfahrtsstaaten be- bereits kurz in Abschnitt 3.2 thematisiert einflussen direkt die Gesundheit und die wurden. So wirkt sich Gesundheit bspw. Berufstätigkeit. So wird die Gesundheit auf den wirtschaftlichen Status aus, weil ganz offensichtlich direkt durch medizi- gesündere Menschen eher über größere nische Interventionen beeinflusst, deren Lernkapazitäten in jüngeren Jahren ver- Prävalenz und Intensität wiederum je nach fügen und größeren Belastungen im Alter Gesundheitssystem variiert (Sirven & Or, standhalten, während Einkommensdis- 2011). Frühe Verrentung wird ebenso di- krepanzen wiederum Ungleichheiten in rekt durch Rentenregelungen einschließ- der Gesundheit befördern. Reichere Indi- lich Erwerbsminderungsrenten und Son- viduen können eher hohe zusätzliche me- derregelungen für Arbeitslose bestimmt dizinische Ausgaben aus der eigenen Ta- (Gruber & Wise, 2004; Börsch-Supan, sche finanzieren, wobei die Stärke dieses 2007). Viel weniger weiß man, zumindest Einflusses von der Ausgestaltung des Ge- quantitativ, über die Langzeiteffekte des sundheitssystems abhängt (Deaton, 2002; Wohlfahrtsstaates wie Bildung, Armuts- Marmot, 2002; Willett, 2002; Smith, vermeidung oder Arbeitsplatzregulierun- 2003). Gesundheitliche Verhaltenswei- gen. Eine gesellschaftspolitisch wichtige sen, Lebensstil sowie umweltbedingte und Frage ist, welche lebenslangen, komplexen berufliche Konditionen beeinflussen zu- und oft indirekten Wirkungen auf Gesund- sätzlich dieses Zusammenspiel zwischen heit und Beschäftigung diese sehr breiten Gesundheits- und wirtschaftlichem Status und oft unspezifischen Eingriffe des Wohl- und bedingen gleichzeitig einen Zusam- fahrtsstaates haben. Auch hier überschnei- menhang mit der sozialen Umgebung (vgl. den sich die Domänen. Ein vorbeugendes Abschnitt 3.1). So gibt es etwa reichlich Gesundheitswesen z.B. soll nicht nur die Evidenz dafür, dass die Einbettung in eine Gesundheit verbessern, sondern auch eine funktionierende Familie vorteilhaft für längere Beschäftigung im Alter ermögli- die Gesundheit der Familienmitglieder ist chen. Hohe Berufsstandards wiederum (Fagundes et al., 2011). Eine wichtige Er- verbessern umgekehrt nicht nur die Be- kenntnis der jüngsten Forschung ist, dass schäftigung in älteren Jahren durch Redu- diese Zusammenhänge sich schon in sehr zierung der Frühverrentung, sondern ver- jungen Jahren manifestieren, dann im Le- bessern auch die physische und psychische bensverlauf sowohl zu positiven als auch Gesundheit (Jusot et al., 2012; Reinhardt Entwicklung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien in Deutschland 37

Medizinische Interven5onen und Gesundheitspoli5k

Entwicklung der Gesundheit im Lebensverlauf Gesundheit, Gene%sche soziale und Prädisposi%on, Entwicklung der sozialen wirtscha3liche elterliche und Beziehungen im Lebensverlauf Situa5on frühkindliche im späteren Leben Umgebung (Alter 50+)

Entwicklung der wirtschaBlichen Situa%on im Lebensverlauf

Sozial-­‐, Wirtscha3s-­‐ und Arbeitsmarktpoli5k

Abbildung 1: Konzeptionelle Grundlage für Längsschnittstudien, die biomedizinische und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse verbinden. et al., 2013). Neuere Untersuchungen bele- die Veränderungen der konventionellen gen, dass Länder mit späterem Rentenzu- Risikofaktoren wie Rauchen, Bluthoch- gangsalter negative kognitive Entwicklun- druck und Fettleibigkeit zurückgeführt gen im Alter hinausschieben (Rohwedder werden kann (Ezzati & Riboli, 2012; Har- & Willis, 2010; Börsch-Supan, 2013). per et al., 2011; Ezzati et al., 2015). Inter- essant ist nun, inwieweit diese konventi- Die quantitative Wirkung man- onellen Risikofaktoren ihrerseits auf die cher sozioökonomischer Faktoren ist sehr Entwicklung sozioökonomischer Faktoren groß. Zum Beispiel ist der Unterschied in über den Lebensverlauf zurückgeführt der Lebenserwartung zwischen niedrigem werden können (etwa Bildung, Einkom- und hohem sozioökonomischen Status men und sozialer Status) (Mackenbach et oftmals größer als der Unterschied zwi- al., 2008; Mackenbach et al., 2013). schen Männern und Frauen (Marmot, 2002; Olshansky et al., 2012). Der Zu- Hierzu gibt es bereits viele konkre- sammenhang zwischen sozialen und wirt- te Ansatzpunkte (vgl. Abschnitt 3.2). So schaftlichen Faktoren mit der Gesundheit zeigt sich bspw., dass das Immunsystem einerseits und zwischen gesundheitlichen akut auf psychosozialen Stress reagiert, Faktoren und der sozialen und wirtschaft- der wiederum durch einen widrigen so- lichen Situation anderseits ist deshalb ein zioökonomischen Hintergrund, schlechte gesellschaftspolitisch höchst bedeutendes Arbeitsbedingungen und soziale Isolati- Forschungsobjekt. on generiert wurde (Steptoe et al., 2007). Viele Studien haben Veränderungen in Wissenschaftlich besteht die größte der Anzahl und Proportion der zirkulie- Herausforderung darin, die in Abbildung 1 renden T- und B-Zellen, Veränderungen dargestellten Zusammenhänge als Kausal- in der Anzahl der natürlichen Killerzel- effekte zu identifizieren und zu quantifizie- len sowie Zytotoxizität und Beeinträch- ren. So weiß man z.B., dass der Rückgang tigung der funktionalen Reaktionen wie bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen u.a. auf der mitogeninduzierten Zellproliferation 38 Entwicklung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien in Deutschland

dokumentiert (Zorrilla et al., 2001; Se- Die Erhebung solcher Daten ist auf- gerstrom & Miller, 2004). Auch lässt sich wändig, da sowohl die sozioökonomische der Zusammenhang zwischen Stress in Situation als auch biomedizinische Indi- sozialen Beziehungen und Entzündungen katoren gemessen werden müssen. So er- nachweisen, z.B. bedingt Stress infolge hobene Daten erlauben jedoch, die oben schwerer Pflegearbeit in längsschnittli- angezeigten grundlegenden Mechanis- cher Betrachtung einen beschleunigten men zu identifizieren und besser zu ver- altersbedingten Anstieg im Zytokin IL-6 stehen, wie psychosoziale Faktoren, die (Kiecolt-Glaser et al., 2003). nicht zuletzt auf das ökonomische Umfeld reagieren, Krankheitsrisiko und Progno- Diese Einsichten haben die Ent- se beeinflussen und umgekehrt biomedi- wicklung von bevölkerungsweiten Längs- zinische Entwicklungen am Anfang des schnittstudien beschleunigt, die sowohl Lebens die spätere sozioökonomische biomedizinische als auch sozioökonomi- Situation mitbestimmen. Keine klinische sche Variablen erfassen. Hier haben auf Studie kann die Heterogenität der sozio- der biomedizinischen Seite technische ökonomischen Lebensumstände erfassen; Fortschritte der Messverfahren die Analy- hierfür werden bevölkerungsweite Daten se vieler wichtiger Marker (z.B. C-reakti- benötigt. Die Längsschnittdimension wie- ves Protein, Vitamine, Zytokine) auch in derum ist erforderlich, um die Dynamik sehr großen Bevölkerungsgruppen etwa und das Zusammenspiel der in Abbil- mit Hilfe getrockneter Blutstropfen (Dried dung 1 aufgezeigten Faktoren zu erfassen. Blood Spot – DBS) ermöglicht, z.B. in der sechsten Welle des SHARE. Mittlerweile ist es auch möglich, aus DBS genetische 4.4 Ausgewählte Studien: Inhalte, Informationen zu extrahieren; sogar eine Forschungsorganisation und komplette DBS-gestützte Genomanalyse Finanzierung ist bereits auf dem Wege. Auf der sozio- ökonomischen Seite hat der technische Deutschland unterhält derzeit zwölf be- Fortschritt in der Softwareentwicklung völkerungsweite Längsschnittstudien, die computergestützte graphische Oberflä- sowohl biomedizinische als auch sozioöko- chen zur intuitiven und umfassenden nomische Merkmale erheben; fünf von ih- Erfassung ganzer Lebensabläufe möglich nen werden deutschlandweit erhoben, die gemacht, die z.B. der Nationalen Kohorte übrigen sind regional beschränkt, in diesen zugutekommen könnte. Die Kombination Regionen jedoch bevölkerungsrepräsenta- biomedizinischer und sozialwissenschaft- tiv im Rahmen des jeweils gewählten Al- licher Innovationen in bevölkerungswei- tersspektrums (siehe Tabelle 1). Dies allein ten Längsschnittstudien hat zu „biosocial ist schon eine große Zahl, die nur von den surveys“ geführt (Weinstein et al., 2007), USA übertroffen wird. Darüber hinaus gibt bei denen eine enge Zusammenarbeit es eine große Anzahl von Längsschnittstu- zwischen den biomedizinischen und sozi- dien in Deutschland, die entweder nur bio- alwissenschaftlichen Wissenschaften es- medizinische oder nur sozioökonomische sentiell ist und zu wichtigen Fortschritten Merkmale erheben; sie sind im Anhang 1 geführt hat. So wurde bspw. vor kurzem aufgeführt. Dort finden sich weitere Eigen- ein enger Zusammenhang zwischen le- schaften aller derzeit in Deutschland noch benslanger sozioökonomischer Benach- laufenden bevölkerungsweiten Längs- teiligung und dem Ausmaß der DNA- schnittstudien. Methylierung eines Gens nachgewiesen, welches an der Regulierung körpereige- ner Entzündungsprozesse maßgeblich be- teiligt ist (Stringhini et al., 2015). Entwicklung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien in Deutschland 39

Tabelle 1: Überblick über Längsschnittstudien, die biomedizinische und sozioökonomische Merkmale erfassen

Anzahl Regionale Name Beginn Altersgruppen Schwerpunkte Link Beobachtungen Abdeckung Gesundheit, BASE-II 2 200 2009 Berlin 20–35, 60–80 soziale https://www.base2.mpg.de/de Berliner Altersstudie II Bedingungen Demographie, 4 000 + 6 000 DEAS Arbeit, Gesund- http://www.dza.de/forschung/ (Erweiterung 1996 Deutschland ab 40 Deutscher Alterssurvey heit, Werte und deas.html 2014) Normen DEGS Gesundheit, Studie zur Gesundheit Lebensbedingun- http://www.degs-studie.de/ 8 152 1997 Deutschland ab 18 von Erwachsenen in gen, Gesund- deutsch/studie.html Deutschland heitssystem GHS Rhein-Main- Gesundheit und http://www.gutenberg-­ Gutenberg- 15 000 2007 35–74 Region Psyche gesundheitsstudie.de/ Gesundheitsstudie KORA http://www.helmholtz-­ Kooperative Gesund- 20 000 1984 Augsburg 25–74 Gesundheit muenchen.de/kora/ueber- heitsforschung in der kora/index.html Region Augsburg Volkskrankheiten, NAKO 200 000 2014 Deutschland 20–69 Lebensgewohn- http://www.nako.de Nationale Kohorte (geplant) heiten Recall Bochum, Herz-Kreislauf- https://www.uni-due.de/ Heinz Nixdorf Recall 4 814 2000 Essen und 45–75 Erkrankungen recall-studie/ Studie Mülheim/Ruhr Wohlbefinden, http://www.dzne.de/­ Rheinland Studie 30 000 2015 Rheinland ab 30 Lebenswandel, wissenschaft-gesellschaft/ Gehirn rheinland-studie.html SHARE 3 000 (w1), Demographie Survey of Health, 900 (w2), 2004 Deutschland ab 50 und http://www.share-project.org/ Ageing and Retire- 4 500 (w5) Gesundheit ment in Europe Stralsund, SHIP Greifswald, http://www.medizin.uni-­ Study of Health in 4 308 1997 Anklam 20–79 Gesundheit greifswald.de/cm/fv/ship.html Pomerania (jeweils mit Landkreisen) Stralsund, SHIP-TREND Greifswald, Gesundheit, Psy- http://www.medizin.uni-­ Study of Health in 4 420 2008 Anklam 20–79 che, Lebensstil, greifswald.de/cm/fv/ship.html Pomerania (jeweils mit Demographie Landkreisen) Persönlichkeit, Einkommen, SOEP 12 200 (w1), ab Geburt (seit Erwerbstätigkeit, Sozio-oekonomisches 13 972 (w7), 1984 Deutschland 2002, zuvor ab Bildung und http://www.diw.de/de/soep Panel (SOEP Core und 51 028 (w30) Einschulung) Gesundheit, SOEP-IS) Präferenzen und Zufriedenheit 40 Entwicklung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien in Deutschland

Das deutschlandweite SOEP ist zusammen mit der auf die Stadt Augsburg, das Augs- burger Land und den Landkreis Aichach- Friedberg beschränkten Panelstudie KORA die mit Abstand am längsten lau- fende Längsschnittstudie. Viele der Studi- en haben relativ kleine Stichproben (unter 10 000), in puncto Stichprobengröße soll die NAKO mit 200 000 Probanden einen Spitzenplatz einnehmen. Kleine Stichpro- ben gefährden insbesondere dann die Qua- lität einer Studie, wenn ­Subpopulationen (z.B. Migrantinnen und Migranten oder Hochbetagte) oder seltene Ereignisse (ins- besondere seltene Erkrankungen) unter- sucht werden sollen. Im Folgenden wird anhand von fünf Studien – SOEP, NAKO, NEPS, pairfam und SHARE – aufgezeigt, wie sich bevölkerungsweite Längsschnitt- studien in Deutschland gebildet und ent- wickelt haben, welche Herausforderungen dabei überwunden werden mussten und welche Schwierigkeiten sie derzeit gefähr- den, um daraus gemeinsame Muster abzu- leiten, die auf Strukturprobleme schließen lassen. Die Studien werden zunächst in ei- ner Box kurz vorgestellt. Dann wird auf die Entwicklung eingegangen. Entwicklung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien in Deutschland 41

a) Das Sozio-oekonomische Panel (SOEP)

SOEP, das Sozio-oekonomische Panel16, ist eine weltweit vielgenutzte bevölkerungsrepräsenta- tive Längsschnitterhebung bei privaten Haushalten mit dem Ziel, die individuellen und gesell- schaftlichen Folgen des demographischen und ökonomischen Wandels zu dokumentieren, bes- ser zu verstehen und die arbeitsmarkt-, gesundheits- und sozialpolitischen Rahmenbedingungen sowie Reformen auf eine solide wissenschaftliche Basis zu stellen (Schupp, 2009 und 2014). Zu diesem Zweck werden seit 1984 jährlich bei inzwischen insgesamt etwa 25 000 Haushalten für über 15 000 Kinder und Jugendliche (beginnend mit Neugeborenen) sowie etwa 35 000 Er- wachsenen jeden Lebensalters umfassende Informationen zu Haushaltszusammensetzung, subjektiven Einstellungen und Persönlichkeitsmerkmalen, Erwerbs- und Familienbiographie, Erwerbsbeteiligung und beruflicher Mobilität, zu Einkommensverläufen und Vermögensverhält- nissen, Gesundheit und Lebenszufriedenheit erhoben. Bereits im Juni 1990, also noch vor der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, wurde das SOEP auf das Gebiet der ehemaligen DDR ausgeweitet, um die historisch einmalige Chance zu nutzen, in ausgewählten Lebensbereichen Längsschnittdaten zur Transformation einer Gesellschaft zu gewinnen (Schupp & Wagner, 1991).

Die explizite Einbeziehung originär sozialwissenschaftlicher und gesundheitlicher Themen führte dazu, dass das SOEP im Vergleich zu seiner Vorbildstudie Panel Study of Income Dy- namics (PSID) sowohl bezüglich der Themenauswahl als auch in den Erhebungsmethoden innovative, neue Wege beschritt und mehrere konzeptionelle Weiterentwicklungen durchlief (Schupp & Wagner, 2010).

Im Jahre 2015 wird die 32. Welle der SOEP-Kernstichprobe im Feld sein sowie die vierte Auf- lage der SOEP-Innovationsstudie mit einer von der Hauptstichprobe getrennten Stichprobe, in der – auf Basis eines Vorschlags-Wettbewerbs – neue und spezielle Fragen gestellt und Messungen vorgenommen werden können (Richter & Schupp, 2012). Mit den „SOEP Related Studies“, so insbesondere der BASE-II (vgl. Mayer & Baltes, 1996; Bertram et al., 2014), aber auch z.B. TwinLife und BIP (vgl. Hahn et al., 2015; Schildberg-Hörisch et al., 2015), werden eng verbunden mit dem SOEP zusätzliche Datenangebote bereitgestellt.

Die SOEP-Daten stehen für vertraglich registrierte Forscherinnen und Forscher im In- und Aus- land unentgeltlich zur Verfügung (Bowen et al., 2008).

Budget: 9,5 Millionen Euro (jährliches Gesamtbudget) Drittmittelquote: 10 Prozent Laufzeit: seit 1984 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter: 90 Interviewerinnen und Interviewer: ca. 500

16 Das SOEP wurde Anfang der 1980er Jahre die DFG gefördert und am DIW angesie- innerhalb des SFB 3 der DFG Mikroana- delt, da der Leiter des SOEP von der Uni- lytische Grundlagen der Gesellschaftspo- versität Frankfurt am Main als Präsident litik als ein multidisziplinär ausgerichte- zum DIW gewechselt war. Die Anbin- tes Teilprojekt vorbereitet (Krupp, 2008). dung an das DIW erfolgte seinerzeit aus Die Längsschnittstudie SOEP wurde dann der pragmatischen Überlegung, dass das ab 1983 als Teilprojekt des SFB 3 durch DIW als außeruniversitäres Institut der sog. „Blauen Liste“ für Daueraufgaben 16 Vgl. http://www.leibniz-soep.de (Abruf 17.3.2016). unbefristete Verträge an wissenschaftli- 42 Entwicklung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien in Deutschland

che Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Aussicht stellen konnte; dies war damals an Universitäten praktisch unmöglich.

Im Anschluss an das planmäßige Auslaufen des SFB 3 im Jahr 1989 wur- de das SOEP von 1990–2002 von Bund und Ländern im Rahmen des Normal- verfahrens als Folge mehrerer DFG-Ein- zelprojekte gefördert, seit 2000 mit einer Zusatzfinanzierung (Projektmittel) durch das BMBF. Erst seit dem Jahr 2003 wur- de das SOEP auf Beschluss der damali- gen Bund-Länder-Kommission für Bil- dungsplanung und Forschungsförderung (BLK) als Infrastruktureinrichtung der Leibniz-Gemeinschaft (Wissenschafts- gemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibniz – WGL) am DIW Berlin in die institutio- nelle Förderung durch Mittel des Bundes und der Länder aufgenommen; der Bund (konkret das BMBF) trägt zwei Drittel der Förderung. Die Langzeitstudie findet sich inzwischen auf der 2013 veröffentlichten Roadmap des BMBF.

Die Geschichte des SOEP zeigt, dass es keineswegs klar war, wie sich das SOEP aus den SFB-3-Anfängen zu einer stabilen Einrichtung entwickeln sollte. Bei allem Erfolg des SOEP darf im Hin- blick auf das Ziel dieser Stellungnahme nicht übersehen werden, dass in den Anfangsjahren auch Fehler (z.B. häufi- ge Veränderungen des Fragebogens, die unglückliche Vermögensbefragung 1988) gemacht wurden, weil es sehr lange dau- erte, die Strukturen für eine professi- onelle Entwicklung in Deutschland zu schaffen. Durch eine frühzeitigere Pro- fessionalisierung des SOEP außerhalb der reinen Forschungsförderung hätten einige dieser Fehler wahrscheinlich ver- mieden werden können. Entwicklung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien in Deutschland 43

b) Die Nationale Kohorte (NAKO)

Die NAKO ist Deutschlands derzeit größte epidemiologische Gesundheitsstudie (German Natio- nal Cohort Consortium, 2014). In den nächsten zehn Jahren sollen 200 000 Menschen zwischen 20 und 69 Jahren umfassend medizinisch untersucht und nach ihren Lebensumständen befragt werden. Die Studie ist ein gemeinsames interdisziplinäres Vorhaben von zahlreichen Wissen- schaftlerinnen und Wissenschaftlern aus der Helmholtz-Gemeinschaft (HGF), mehreren Univer- sitäten und der WGL in Deutschland.

Die NAKO plant die detaillierte Erforschung der Volkskrankheiten, insbesondere von Herz-Kreislauf- Erkrankungen, Krebs, Diabetes, psychiatrischen und neurodegenerativen Erkrankungen, Infekti- onskrankheiten, respiratorischen Erkrankungen und Krankheiten des Bewegungsapparates. Es sollen die Ursachen dieser chronischen Erkrankungen und deren Zusammenhang mit Lebensstil, Umwelt sowie genetischen und soziodemographischen Faktoren aufgeklärt werden. Neue Krank- heitsrisikofaktoren sollen identifiziert und die Auswirkungen geographischer und sozioökonomi- scher Ungleichheiten auf das Krankheitsrisiko in Deutschland untersucht werden. Hauptziel ist die Entwicklung evidenzbasierter Präventionsstrategien. Ein wichtiger Schwerpunkt der NAKO sind die sozialen und psychosozialen Einflüsse auf die Gesundheit der Bevölkerung (vgl. Abschnitt 4.3).

Aus den gewonnenen Bioproben sollen biochemische und genetische Marker als effektive Hilfs- mittel zur Früherkennung von chronischen Krankheiten evaluiert werden. Im Laufe der Studie sollen insgesamt ca. 28 Millionen Bioproben gesammelt und gelagert werden, die für die wis- senschaftliche Forschung zur Verfügung stehen werden. Die Daten der aktuellen Hauptstudie sollen abschnittsweise, jeweils nach der Durchführung der Qualitätssicherung, zur Beantragung für die wissenschaftliche Auswertung freigegeben werden. Für die Beantragung und Übergabe von Daten und Bioproben wird eine seit 1. Juni 2015 geförderte und derzeit im Aufbau befindli- che Transferstelle der NAKO zuständig sein. Durch die Entwicklung von komplexen IT-Lösungen sollen die Prozesse so weit wie möglich automatisiert werden, um die jährlich bis zu 1 000 er- warteten Bioprobenübergaben durchführen zu können.

Budget: 210 Millionen Euro (Fördervolumen für die ersten 10 Jahre) Drittmittelquote: 67 Prozent Laufzeit: seit 2013, bewilligt zunächst bis 2018 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter: 257 VZÄ, davon 220 VZÄ in den Studienzentren Interviewerinnen und Interviewer: derzeit 110 zertifizierte Interviewerinnen und Interview- er; weitere mit z.T. zusätzlichen Aufgaben vorgesehen

Die Vorarbeiten zur NAKO laufen seit Das wissenschaftliche Konzept der 2009. Die Finanzierung der beteiligten NAKO wurde im Februar 2011 durch ein Helmholtz-Zentren erfolgte anfänglich internationales Gremium positiv bewer- aus internen Mitteln (Prämienbudget), die tet. Die Gemeinsame Wissenschaftskon- der Universitäten und Leibniz-Institute ferenz (GWK) beschloss daraufhin am aus Eigenmitteln. Mit Beginn des Pretests 29. Juni 2012 den Aufbau der NAKO. erfolgte ab September 2010 erstmals eine Förderung durch das BMBF. In dieser Zeit Zum 1. Mai 2013 erfolgte die Bewil- bis 2013 gab es jedoch Finanzierungspro- ligung für die Hauptstudie, die bis zum bleme, die durch einen hohen Einsatz von 30. April 2018 befristet ist. Eine Fortset- Eigenleistungen, besonders für die Kon- zung bis April 2023 ist avisiert. Eine län- zeption der Studie, kompensiert wurden. gerfristige Finanzierungszusage gibt es 44 Entwicklung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien in Deutschland

derzeit nicht. Insgesamt 25 Forschungs- Bundesbeauftragten für den Datenschutz einrichtungen sind bundesweit beteiligt. und die Informationsfreiheit auf Grund- Das Fördervolumen für die ersten zehn lage der Erfahrungen in beteiligten Stu- Jahre beträgt 210 Millionen Euro und dienzentren und unter Berücksichtigung wird aus öffentlichen Mitteln des BMBF, einschlägiger Empfehlungen (Standards der Länder und der Helmholtz-Gemein- der Technologie- und Methodenplattform schaft finanziert. Die Mitgliedsinstituti- für die vernetzte medizinische Forschung onen tragen mit Eigenbeteiligungen von e.V., Empfehlungen des Deutschen Ethi- etwa 30 Prozent zusätzlich zur Finanzie- krats zu Biomaterialien) entwickelt. Alle rung bei. Diese Eigenbeteiligungen sind in Dokumente rund um Datenschutz und der Zuwendung ausgewiesen und müssen Ethik sind auf der Homepage des Vereins nachgewiesen werden. einsehbar.17 Die NAKO wird von einem externen Ethikbeirat begleitet. Im September 2013 wurde der Trägerverein Nationale Kohorte e. V. ge- gründet, der die Studie durchführt. Die Geschäftsstelle des Vereins hat ihren Sitz in Heidelberg.

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbei- ter in den Studienzentren und zentralen Einrichtungen der NAKO haben derzeit befristete Verträge, die aufgrund der Lauf- zeit der aktuellen Förderung bis maximal April 2018 geschlossen wurden. Aufgrund der erfolgreichen Implementierung und der großen Bedeutung der NAKO für die epidemiologische Forschung in Deutsch- land wird erwartet, dass die Finanzierung nach aktuellem Förderende – wiederum befristet – fortgesetzt wird.

Einige der Studienzentren verfüg- ten aus früheren oder laufenden Studien bereits über gut qualifiziertes und er- fahrenes Studienpersonal. In den Studi- enzentren, die sich erst seit kurzem mit epidemiologischer Kohortenforschung beschäftigen, wurden Infrastrukturen aufgebaut. Hier war die Rekrutierung von geeignetem Personal teilweise schwierig. Die Qualifizierung und Schulung dieser Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erfolg- te vorwiegend innerhalb der NAKO durch formelle und informelle Maßnahmen des Wissens-, Kompetenz- und Erfahrungs- transfers.

Das Datenschutzkonzept der Stu- die wurde in enger Abstimmung mit der 17 Vgl. http://www.nako.de (Abruf 16.3.2016). Entwicklung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien in Deutschland 45

c) Das Nationale Bildungspanel (NEPS)

Das Nationale Bildungspanel (National Educational Panel Study –NEPS) stellt eines der gro- ßen interdisziplinären Netzwerke in den Human- und Sozialwissenschaften in Deutschland dar. Es untersucht im Längsschnitt Bildungsprozesse und Kompetenzentwicklungen von der frühen Kindheit bis in das hohe Erwachsenenalter und setzt dabei z.B. an folgenden Fragestel- lungen an: Wie entfalten sich kognitive und soziale Kompetenzen im Lebenslauf? Wie werden die in den verschiedenen Bildungsetappen relevanten Entscheidungen getroffen? Welche Rol- le spielt dabei die soziale Herkunft und wie kommen bei den verschiedenen Entscheidungen primäre und sekundäre Effekte der sozialen Herkunft zum Tragen? Welche Bedeutung kommt den verschiedenen Lernumwelten beim Erwerb von Kompetenzen und den individuellen Bil- dungsentscheidungen in verschiedenen Lebensphasen zu? Wie wirken Bildungseinrichtungen und non-formale/informelle Lernumwelten (wie Familie, Peers, Medien) im Zeitverlauf dabei zusammen? Wie verändert sich die Situation von Migrantinnen und Migranten im Lebenslauf und über die Generationen hinweg? Welche Rolle spielt dabei die erste und zweite Sprache? Welche Renditen hat Bildung in verschiedenen Phasen des Lebenslaufs? Wie wirkt sich Bil- dung auf Karrieren und Einkommen sowie auf Merkmale wie Gesundheit, Zufriedenheit und gesellschaftliches Engagement im Lebenslauf aus?

Budget: 85 Millionen Euro für 5,5 Jahre Drittmittelquote: 0 Prozent (seit 2014, zuvor 100 Prozent) Laufzeit: seit 2006 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter: 200 Interviewerinnen und Interviewer: 1 100

Da die Fragestellungen des NEPS nicht begleitende Schwerpunktprogramm 1646 aus einer einzelnen Disziplin heraus zu Education as a lifelong process unter- beantworten sind, sondern das Zusam- stützt, in dem Wissenschaftlerinnen und menführen der vorhandenen Expertise Wissenschaftler aus verschiedenen Diszi- aus unterschiedlichen Fachgebieten und plinen die NEPS-Daten methodisch bear- Forschungsinstituten verlangen, wurde beiten und inhaltlich auswerten. in den Jahren 2006–2008 ein Netzwerk von Forschungsgruppen an zehn Uni- Nach einer weiteren Begutachtung versitäten und außeruniversitären For- durch den Wissenschaftsrat im Jahr 2013 schungseinrichtungen aufgebaut, in dem wurde das NEPS-Konsortium im Januar führende Expertinnen und Experten aus 2014 in einem neuen Leibniz-Institut für verschiedenen Disziplinen in Deutsch- Bildungsverläufe (LIfBi) an der Universi- land zum Thema „Bildung im Lebens- tät Bamberg auf Dauer institutionalisiert. lauf“ zusammenarbeiten (Blossfeld et al., Der Übergang in die Leibniz-Förderung 2011). war allerdings mit Budget-Kürzung um etwa 10 Prozent verbunden, die durch Das NEPS-Projektvorhaben wur- eine Anpassung des Erhebungsdesigns de in dieser Aufbauphase von der DFG vom Konsortium abgefangen wurden. in zwei internationalen Begutachtungs- verfahren in den Jahren 2006 und 2008 überprüft und nach erfolgreicher Begut- achtung vom BMBF von Mitte 2008 bis Ende 2013 gefördert. Die DFG hat darü- ber hinaus das NEPS-Vorhaben durch das 46 Entwicklung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien in Deutschland

d) Das Beziehungs- und Familienpanel (pairfam)

Das Beziehungs- und Familienpanel (pairfam) will als sozialwissenschaftliche Infrastruktur Da- ten für die Analyse von individuellen Entscheidungsprozessen und langfristigen Entwicklun- gen in den Bereichen Partnerschaft und Familie zur Verfügung stellen. Anhand der pairfam- Daten sind längsschnittliche Analysen zu Partnerwahl und Partnerschaftsentwicklung sowie Entscheidungsfindung in Bezug auf Elternschaft, Betreuungs- und Erziehungsarrangements in unterschiedlichen Familienkonstellationen und Generationenbeziehungen möglich. Aufgrund der Thematik ist pairfam inhaltlich und personell stark interdisziplinär ausgerichtet: Soziolo- gie, Psychologie, Pädagogik und Demographie sind die Hauptdisziplinen.

In Welle 1 (2008/09) wurden aus drei Geburtskohorten (1971–73, 1981–83 und 1991–93) je ca. 4 000 Personen (Ankerpersonen) befragt (insgesamt 12 402). Die Stichprobe wurde zufällig aus 343 Einwohnermeldeämtern in ganz Deutschland gezogen. Die Ankerpersonen werden jährlich wiederkehrend befragt, wobei das computergestützte Interview ca. eine Stunde dauert. Erhe- bungsinstitut ist TNS Infratest (München). Inzwischen (Juni 2015) wurden sieben Wellen durch- geführt und sechs Wellen stehen der wissenschaftlichen Öffentlichkeit als Scientific-Use-File (SUF) zur Verfügung (Brüderl et al., 2015a). Das SUF wird über das Datenarchiv von GESIS ausge- liefert und die Metadaten in einem Portal vorgehalten, das vom SOEP im DIW Berlin entwickelt wurde18. Seit der zweiten pairfam-Welle wurde vom MPI in Rostock eine ostdeutsche Auffri- schungsstichprobe von ca. 1 400 Ankerpersonen betrieben (DemoDiff), die inzwischen voll in pairfam integriert ist. Insgesamt haben deshalb 5 900 Ankerpersonen an Welle 7 teilgenommen.

Neben den Ankerpersonen werden auch deren Partnerinnen und Partner, (Stief-)Eltern und Kin- der (im Alter zwischen 8 und 15 Jahren) interviewt. Damit will pairfam die unterschiedlichen Perspektiven auf familiale Beziehungen abbilden (Multi-Actor-Design). Eine ausführliche Dar- stellung des Designs von pairfam und der Response-Raten findet sich in Brüderl et al. (2015b).

Budget: 2,5 Millionen Euro pro Jahr Drittmittelquote: 100 Prozent Laufzeit: seit 2004, bis voraussichtlich 2022 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter: 23 Interviewerinnen und Interviewer: ca. 300

Pairfam startete im Jahr 2004 als sechs­ als ein Dutzend Forschungsprojekte er- jähriges DFG-Schwerpunktprogramm 1161 probten in einer Pilotstudie („Mini­panel“) Beziehungs- und Familienentwicklung.1819 verschiedenste Instrumente zur Erfas- Die Initiative zu diesem Schwerpunktpro- sung familialer Prozesse. In den letzten gramm ging auf fünf Familienforscherin- zwei Jahren des Schwerpunktprogramms nen und -forscher zurück, deren Anliegen wurden die beiden ersten Wellen der es war, der internationalen Familienfor- Haupterhebung durchgeführt. Im Jahre schung eine solide Datenbasis zur Ver- 2010 wurde pairfam in ein DFG-Langzeit- fügung zu stellen. Die ersten vier Jahre vorhaben überführt, das voraussichtlich des Schwerpunktprogramms dienten der zwölf Jahre (also bis 2022) laufen wird. Vorbereitung der Haupterhebung. Mehr Eine gewaltige Herausforderung von pairfam (und von Panelstudien im 18 Vgl. http://www.paneldata.org (Aufruf 16.3.2016). Allgemeinen) stellt der große, regelmäßig 19 Zur inhaltlichen Konzeption von pairfam vgl. Huinink et al. (2011). anfallende Aufwand für die Datenaufbe- Entwicklung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien in Deutschland 47

reitung und Dokumentation dar. Insbe- sondere in den ersten Wellen müssen umfangreiche Datenaufbereitungs- und Dokumentations-Routinen entwickelt werden. Pairfam hat (im Unterschied zu anderen Studien) dafür relativ viel Per- sonal beantragt, das auch bewilligt wurde (ca. 10 VZÄ). Aufgrund der in Abschnitt 5.2 dargestellten Defizite in Ausbildung und Karrierewegen gelang es allerdings nicht, geeignetes Personal auf Post-Doc-Ebene einzustellen, weshalb die Datenaufberei- tung überwiegend von Doktorandinnen und Doktoranden geleistet wurde. Für diese ist diese Tätigkeit aber eigentlich unzumutbar, weil sie ihnen kaum Zeit für die eigene Weiterqualifikation lässt. Erst mit Ausweitung des Personalbestandes (auf ca. 12 VZÄ) und gewachsener Routi- ne bei gestiegener Wellenzahl hat sich die Situation entspannt. Es wäre daher für neue Panelstudien sehr wichtig, dass von Beginn an ausreichend qualifiziertes und erfahrenes Personal auf Post-Doc-Ebene vorhanden ist (vgl. Empfehlungen 5–7).

Ein weiteres Problem ist die lang- fristige Finanzierung (vgl. Abschnitt 5.1b). Das Modell der Koppelung von Schwer- punkt- und Langzeitprogramm eröffnete pairfam einen relativ langen Finanzie- rungszeitraum von 18 Jahren. Zusammen mit den bewährten, wissenschaftsadäqua- ten Routinen der DFG verfügt pairfam deshalb über eine angemessene Finan- zierung. Allerdings ist auch von Seiten der DFG klar festgestellt worden, dass dies nach den (maximal) zwölf Jahren im Langzeitprogramm zu Ende sein wird bzw. muss. Deshalb wird die weitere Da- tenerhebung von pairfam vermutlich im Jahre 2022 auslaufen. 48 Entwicklung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien in Deutschland

e) Der Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe (SHARE)

SHARE, der Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe, ist eine vergleichende paneu- ropäische Befragung mit dem Ziel, die individuellen und gesellschaftlichen Folgen des demo- graphischen Wandels zu dokumentieren, besser zu verstehen und die begleitenden gesund- heits- und sozialpolitischen Maßnahmen auf eine solide wissenschaftliche Basis zu stellen. SHARE erhebt in zweijähriger Abfolge international strikt harmonisierte Daten zu Gesundheit, ökonomischem Status und sozialer Einbindung von Personen im Alter ab 50 Jahren in 20 eu- ropäischen Ländern, wobei die Wechselbeziehungen zwischen diesen Merkmalen im Vorder- grund stehen.

Kernkonzept von SHARE ist die Triade bestehend aus (a) thematischer und interdisziplinärer Breite mit möglichst objektiven Messungen von sozioökonomischem Status und Gesundheit, einschließlich Abnahme von Blut sowie physischen Bewegungs- und kognitiven Testbatteri- en, (b) einer Längsschnittperspektive und (c) einer Ex-ante-Harmonisierung von Survey-Ins- trument und -Methoden über alle beteiligten Länder, um Ursachen und Wirkungen sozialer, ökonomischer und gesundheitlicher Veränderungen im Laufe des demographischen Wandels international vergleichend analysieren zu können. Derzeit läuft die sechste Welle des SHARE, in der etwa 82 000 Befragte computerunterstützte persönliche Interviews von etwa 75 Minu- ten Länge beantworten.

Budget: ca. 12,5 Millionen Euro pro Jahr Drittmittelquote: 94 Prozent Laufzeit: seit 2004, bis voraussichtlich 2024 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter: 23 in der zentralen Koordination in Deutschland, ca. 80 in den Mitgliedsländern Interviewerinnen und Interviewer: ca. 2 000

Nach etwa zweijähriger Vorbereitung beansprucht. Diese EU- und NIA-Projek- und erfolgreicher Antragstellung im da- te finanzierten auch die Erhebungskosten maligen 5. Forschungsrahmenprogramm in Deutschland. Zudem beteiligte sich die der EU-Kommission durch eine große DFG an der Finanzierung eines methodi- internationale Forschergruppe begann schen Experiments und des SHARE-For- SHARE im Jahr 2002 zunächst als voll- schungsdatenzentrums. umfänglich von der EU finanziertes Ein- zelprojekt (Börsch-Supan et al., 2013). 2008 wurde SHARE als zu priori- Bis 2007 wurde SHARE durch weitere sierendes Projekt in die europäische Road- fünf EU-Projekte des 6. Forschungsrah- map des European Strategy Forum for menprogramms und zwei US-amerikani- Research Infrastructures (ESFRI) aufge- sche Zuwendungen des National Institute nommen mit der Folge, dass laut Beschluss on Aging (NIA) im Wesentlichen zentral des europäischen Rates die Erhebungskos- finanziert. Die Anträge mussten vonein- ten von den Mitgliedsstaaten zu tragen wa- ander abweichende thematische Schwer- ren. In Deutschland übernahm das BMBF punkte aufweisen, da sie als getrennte ab Januar 2010 die entsprechende Finan- Einzelprojekte begutachtet wurden. Die zierung mittels einer Zuwendung an die Erstellung dieser jeweils ca. 100 Seiten Universität Mannheim. Die europäische langen und für eine Antragssumme von Kommission übernahm weiterhin die in- durchschnittlich jeweils etwa drei Millio- ternationale Koordination; dazu wurden nen Euro ausgelegten Anträge hat einen drei weitere Anträge mit wiederum wech- erheblichen Teil der Personalkapazität selnden Schwerpunkten gestellt. Entwicklung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien in Deutschland 49

Im Jahr 2011 wurde SHARE als meinsam getragen, soweit sie in München juristische Person in der Form eines Eu- anfallen. Die übrigen Koordinationskos- ropean Research Infrastructure Consorti- ten trägt die EU-Kommission. Insgesamt ums (ERIC) gegründet. Der entsprechen- wird SHARE durch 64 verschiedene Zu- de Staatsvertrag mit seinen finanziellen wendungen finanziert (Stand Mai 2015, Verpflichtungen an die Mitgliedsländer nur Zuwendungen über 10 000 Euro in wurde vom BMBF als Vertreter Deutsch- den einzelnen Ländern). lands unterzeichnet. Er legte die Dauer von SHARE auf zunächst zehn Wellen, Die zentrale Koordination in Mün- d.h. bis zum Jahr 2024, fest. chen zählt derzeit 21 wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und Da der Leiter des SHARE im Jahr zwei Verwaltungsangestellte. Von den 2011 von der Universität Mannheim zur wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Max-Planck-Gesellschaft (MPG) wechsel- Mitarbeitern in München sind fünf pro- te, zog auch die Koordination von der Uni- moviert, sieben haben konkrete Promoti- versität Mannheim an das MPI für Sozial- onsvorhaben. Die Betreuung der Promo- recht und Sozialpolitik um. Damit wurde tionen erfolgt in den nicht-ökonomischen unklar, welche Institution die Vertragsver- Fächern im Wesentlichen durch Professo- pflichtungen der Bundesrepublik Deutsch- rinnen und Professoren außerhalb Mün- land übernehmen muss. Nach einer für chens, was die Betreuung schwieriger Universitäten nicht geltenden BMBF- macht. Die ökonomischen Promotionen internen Vereinbarung sollten die Konst- werden im Wesentlichen durch den Stu- ruktionskosten von Forschungsinfrastruk- dienleiter betreut und sind in die Münch- turen der ESFRI-Roadmap vom BMBF, ner Graduiertenschule eingebunden. Die die Betriebskosten von den jeweiligen au- größten Herausforderungen im Perso- ßeruniversitären Einrichtungen getragen nalmanagement sind zum einen, Mitar- werden. Nach der derzeit gültigen Kos- beiterinnen und Mitarbeitern mit wissen- tendefinition entstehen bei Längsschnitt- schaftlichen Zielen genug Zeit zu geben, studien wie SHARE jedoch ausschließlich diese neben der Koordinationsarbeit auch Betriebskosten. Diese bei den Verhand- verfolgen zu können. Zum anderen führt lungen über den Wechsel von Mannheim die Personalfluktuation bei den leitenden nach München unbekannte Konsequenz Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu war für die MPG wiederum inakzeptabel. erheblichen Friktionen, da deren Erfah- Ein avisierter Plan, ab Januar 2015 die rungswissen verloren geht. Innerhalb der Kosten zwischen BMBF, MPG und DFG MPG besteht keine Möglichkeit, hochqua- aufzuteilen, stieß auf Schwierigkeiten, da lifizierte leitende Mitarbeiterinnen und eine Vorabvereinbarung mit der Unab- Mitarbeiter bei Auswärtsrufen zu halten. hängigkeit des DFG-Gutachterprozesses Dieser negativen Erfahrung steht der wis- unvereinbar ist und die Aufnahme von senschaftliche Erfolg gegenüber, dass es SHARE-Deutschland als DFG-Langzeit- bislang drei leitenden SHARE-Mitarbei- vorhaben zunächst scheiterte, so dass die terinnen und -Mitarbeitern gelungen ist, Kosten der deutschen SHARE-Erhebung W3-Professorenstellen zu erhalten. gemeinsam aus Projektmitteln von BMBF und MPG getragen werden mussten. 4.5 Entwicklung von Organisations- Ende 2015 wurde die deutsche strukturen im In- und Ausland SHARE-Erhebung dann in das DFG- Langzeitprogramm aufgenommen. Auch Aufbau, Durchführung und nachhaltiges die Kosten der internationalen Koordi- Datenmanagement bevölkerungsweiter nation werden von BMBF und MPG ge- Längsschnittstudien binden ­langfristig 50 Entwicklung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien in Deutschland

umfangreiche Forschungsmittel, sie er- schnittstudien gerecht zu werden. Ein fordern erhebliche räumliche und inf- Exzellenzzentrum zeichnet sich typischer- rastrukturelle Investitionen (bspw. Stu­ weise dadurch aus, dass Spitzenforscherin- dienzentrum, Untersuchungszentrum, nen und -forscher eines Gebietes das For- Probandenmanagement, Datenmanage- schungsprofil ihrer Universität zu prägen ment inkl. Datensicherheit und IT), und vermögen, indem sie ihr wissenschaftliches sie sind essentiell auf ein Konsortium Arbeitsprogramm über einen bestimmten hochqualifizierter Wissenschaftlerinnen Zeitraum am Standort erfolgreich entfal- und Wissenschaftler aus relevanten Dis- ten und dadurch Ausstrahlungseffekte und ziplinen angewiesen, die gemeinsam mit Wachstumsimpulse erzeugen. kompetenten, erfahrenen und motivier- ten Mitarbeitergruppen die Forschungs- Ein herausragendes Beispiel, das arbeiten verantwortlich organisieren und die Chancen und Grenzen eines solchen durchführen. Parallel zur wissenschaftli- nationalen Exzellenzzentrums gut be- chen Entwicklung haben sich v.a. in Groß- leuchtet, ist das University College Lon- britannien Organisationsstrukturen ent- don (UCL). Ein vergleichbares Exzellenz- wickelt, die sich an diesen Anforderungen zentrum fehlt bislang in Deutschland. orientieren und die wissenschaftliche und organisatorische Professionalisierung be­ Das Beispiel University College Lon- völkerungsweiter Längsschnittstudien be- don (UCL) schleunigt haben. Die hier ausgewählten Das UCL beherbergt das gegenwärtig um- Beispiele können nicht beanspruchen, für fangreichste und vermutlich auch wissen- die internationale Forschungslandschaft schaftlich produktivste Exzellenzzentrum repräsentativ zu sein. Sie dürften jedoch für Längsschnittstudien Großbritanniens. die Chancen und Grenzen der in diesem Es ist über Jahrzehnte gewachsen, wobei Forschungsbereich vorherrschenden Or­ die beiden älteren britischen Geburtsko- ga­nisationsstrukturen exemplarisch wi­ hortenstudien (MRC National Survey of der­spiegeln. Nachfolgend werden sie unter Health and Development (NSHD): 1946 den vier Stichworten „Exzellenzzentren“, Birth Cohort Study und National Child „Studienzentren“, „Forschungsverbünde“ Development Study (NCDS): 1958 Birth und „Vernetzungsprojekte“ skizziert. Da Cohort Study – Letztere unter Federfüh- sich diese Art der Forschung in Deutsch- rung des Institute of Child Health (Centre land historisch begründet noch in einer for Paediatric Epidemiology and Biosta- früheren Entwicklungsphase befindet, ist tistics)) eine entscheidende Ausgangsba- der Blick in die internationale Forschungs- sis bildeten (Ferri et al., 2003; Power & landschaft sehr hilfreich. Natürlich ist bei Kuh, 2006). solchen best practice Sammlungen immer die Spezifität nationaler Bedingungen zu 1985 kam sodann die sog. White- berücksichtigen, die die Übertragbarkeit hall-II-Studie hinzu, eine Längsschnitt- und bewertende Einordnung erschweren. studie mit über 10 000 Männern und Im Folgenden sind deshalb die Einord- Frauen im Alter von 35–55 Jahren, die nungen und Bewertungen der internatio- als Regierungsbeamte mit Sitz in London nalen Beispiele ausschließlich im Hinblick arbeiteten. Die Studie wurde von Michael auf die Empfehlungen für die Situation in Marmot, dem Direktor des Department of Deutschland zu verstehen. Epidemiology and Public Health am UCL, initiiert und während vieler Jahre geleitet a) Exzellenzzentren (Marmot et al., 1991). Aus der Whitehall- Exzellenzzentren bilden eine geeignete Or- II-Studie werden fortlaufend hochwertige ganisationsform, um den besonderen An- und innovative Beiträge publiziert (als forderungen bevölkerungsweiter Längs- jüngstes Beispiel Zalli et al., 2014). Entwicklung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien in Deutschland 51

1999 konnte an dem Department b) Studienzentren eine weitere Studie etabliert werden: die Die Zielsetzung eines Studienzentrums Health, Alcohol and Psychosocial Factors ist zunächst bescheidener als die eines in Eastern Europe (HAPIEE) Study, in Exzellenzzentrums, da seine Aufgabe da- der städtische Bevölkerungsgruppen im rin besteht, eine einzige, jedoch umfang- Alter von 45–64 Jahren aus drei osteuro- reiche und von mehreren Einrichtungen päischen Ländern prospektiv untersucht oder Standorten getragene wissenschaft- werden (Pikhart et al., 2001). liche Studie zentral zu verwalten und zu koordinieren. Selbstverständlich kann 2002 begann ELSA, deren initiales sich ein Studienzentrum unter günstigen Sample aus früheren Befragungswellen Bedingungen zu einem Exzellenzzentrum der Health Study of England (HSE) rekru- weiterentwickeln, dies muss aber nicht tiert wurde (12 100 über 50-jährige Män- zwangsläufig der Fall sein. Dennoch leistet ner und Frauen). Diese multizentrische, ein Studienzentrum für die Forschungs- interdisziplinäre Studie wurde – und wird netzentwicklung von Längsschnittstudien weiterhin – von den Universitäten Oxford, unverzichtbare Dienste. Dies wird an dem Cambridge und Nottingham, vom Natio- folgenden Beispiel der CONSTANCES- nal Centre for Social Research, vom Ins- Studie in Frankreich erläutert. Einem titute for Fiscal Studies und vom Depart- solchen Studienzentrum kommt wohl die ment of Epidemiology and Public Health differenzierte Infrastruktur des SOEP am am UCL durchgeführt, bei dem auch die DIW Berlin (einschließlich Schulungs- Gesamtleitung liegt (Banks et al., 2006). und Gästeprogrammen) am nächsten.

Durch die vor kurzem erfolgte Ein- Das Beispiel CONSTANCES-Studie gliederung des renommierten Londoner in Frankreich „Institute of Education“ in das UCL ist CONSTANCES ist eine repräsentative be- eine weitere Konzentration von Längs- völkerungsepidemiologische Studie der schnittstudien unter dem Dach des UCL erwachsenen Bevölkerung Frankreichs erfolgt, da am dortigen Centre for Longi- im Alter von 18–69 Jahren, die zum Ziel tudinal Studies verschiedene Kohorten- hat, neue Erkenntnisse zur Entwicklung studien durchgeführt wurden und wer- weitverbreiteter Krankheiten mit komple- den, u.a. die bekannte Millenium Cohort xen genetischen und umweltbezogenen Study20. Ursachen zu gewinnen. Zusätzlich sollen ihre Daten der Gesundheitsberichterstat- Diese Konzentration von Studien, tung und der epidemiologischen Überwa- laufenden Datenerhebungs- und Daten- chung („surveillance“) dienen (Zins et al., auswertungsarbeiten, organisatorischen 2010). Die Studie befindet sich aktuell in Abstimmungen und die große Zahl lokal der Phase der ersten Datenerhebung. Es präsenter ausgewiesener wissenschaftli- sollen 200 000 Personen im Rahmen von cher Expertinnen und Experten scheinen Gesundheitsuntersuchungen rekrutiert ideale Voraussetzungen für die Entwick- werden, die von 17 regionalen Gesund- lung von Synergieeffekten zu bilden. Mit heitszentren der kranken- und rentenver- der Skizzierung dieses in einem längeren sicherten Bevölkerung angeboten werden. Zeitraum und unter speziellen Bedingun- Die nach einem einheitlichen Studienpro- gen entwickelten Forschungszentrums tokoll durchgeführten Untersuchungen soll keine allgemeine Bewertung des Für umfassen ein medizinisches Screening, und Wider der Förderung von Exzellenz- einschließlich Gewinnung von Labordaten, zentren verbunden werden. eine standardisierte Befragung (Interview, Fragebogen) sowie verschiedene Funkti- 20 Vgl. http://www.birthcohorts.net (Abruf 17.3.2016). onstests (u.a. kognitive Leistungen). 52 Entwicklung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien in Deutschland

CONSTANCES weist insofern eine Analyse von Daten aus der CONSTANCES besondere Struktur auf, als das Projekt Studie zum Ziel haben. Da sie sich an inter- aus einem Zusammenschluss zwischen ei- nationale Forschergruppen richtet, eröff- nem wissenschaftlichen Leitungsgremium, net sie neue Chancen länderübergreifender welches im Rahmen der universitären For- wissenschaftlicher Kooperation. schungsgruppe INSERM UMS011 etabliert ist, und den beiden nationalen Kranken- c) Überregionale Forschungsverbünde und Rentenversicherungen sowie dem Die dritte Organisationsform wird auch Ministerium für Soziales und Gesundheit in Deutschland häufig praktiziert, bei hervorgegangen ist. Dies hat weitreichende der DFG in Form von Schwerpunktpro- Folgen für die beabsichtigten Verknüpfun- grammen oder Transregio-Sonderfor- gen von Primärdaten mit administrativen schungsbereichen, bei der Förderung von Daten sowie für längerfristige Förderchan- Programmforschung durch das BMBF cen entsprechender Forschungsprojekte. in Form überregionaler Forschungsver- bünde. Die Organisationsstrukturen der Im Prinzip stellt CONSTANCES NAKO, des NEPS und des SHARE lassen eine Studienplattform dar, deren verant- sich diesem bewährtem Muster zuordnen. wortliche Organisation, Durchführung Ein instruktives Beispiel aus dem Ausland und Datenhaltung (einschließlich der findet sich in der neuen britischen Public- Einrichtung einer Biobank) in den Hän- Health-Förderinitiative. den des wissenschaftlichen Leitungsgre- miums an der Universität Versailles liegt Das Beispiel UK Clinical Research und deren Qualitätskontrolle durch eine Collaboration: Public-Health-For- externe Institution erfolgt. Als Plattform schungsverbund wird die Studie jedoch der wissenschaftli- Es handelt sich um eine von acht ver- chen Gemeinschaft des In- und Auslands schiedenen Förderorganisationen unter für vernetzte Forschungsprojekte, d.h. in dem Dach des MRC getragene nationa- der Regel für spezifische Auswertungen le Ausschreibung zur Finanzierung von der zentral verfügbaren Daten, offen ste- Forschergruppen, die sich mit neuartigen hen. Entsprechende Anträge durchlaufen Ansätzen zur Verhütung weitverbreiteter ein dreistufiges Prüfverfahren durch das chronischer Krankheiten befassen. Insge- Steering Committee – ein um Vertreter samt wurden fünf Gruppen zur Förderung der Projektträger erweitertes Leitungs- ausgewählt, die entweder eine langjähri- gremium –, durch einen internationalen ge Tradition in Bereichen wie Bewegung wissenschaftlichen Beirat und schließlich und Ernährung oder Suchtmittelkonsum durch die Ethikkommission der nationa- aufwiesen oder aber innovative Program- len Forschungsorganisation INSERM. me der Verhaltensmodifikation und der medialen Beeinflussung beantragten. Ein erstes, bereits erfolgtes Aus- Die 2-mal fünf Jahre umfassende, bis schreibungsverfahren wurde auf diejenigen 2018 laufende Förderung im Umfang von Forschergruppen begrenzt, die an der Pro- 36 Millionen Pfund wurde wesentlich der jektentwicklung von CONSTANCES betei- Projektfinanzierung an den fünf ausge- ligt waren. Etwa 40 Projektanträge wurden wählten Standorten gewidmet, wobei eine bewilligt, wobei von besonderem Interesse geringe Förderkomponente koordinierten ist, dass neben Einzelvorhaben themen- Aktivitäten (Methodenaustausch, Aus- spezifische Projektanträge von Konsortien und Fortbildungsinitiativen) zwischen zum Tragen kommen, die explizit interdis- den fünf Zentren vorbehalten war.21 ziplinär angelegt sind. Inzwischen erfolgte eine zweite Ausschreibung zur Beantra- 21 Dies und der folgende Absatz: Janet Valentine, Per- sönliche Mitteilung, Fachgespräch der Arbeitsgruppe, gung von Forschungsvorhaben, welche die München, 3. Juli 2014. Entwicklung bevölkerungsweiter Längsschnittstudien in Deutschland 53

Dass überhaupt Fördermittel in sol- lennium Cohort Study einschließt, wer- chem Umfang in den Bereich Public Health den Vernetzungsaktivitäten in vier Ar- fließen konnten, verdankt sich dem Um- beitsgruppen zu „Datenharmonisierung“, stand, dass der MRC 2006 beauftragt wur- drei Arbeitsgruppen zu „Datenverknüp- de, die bisherigen Fördermittel für die ein- fung“ und einem gemeinsamen Aus- und zelnen Bereiche der Gesundheitsforschung Fortbildungsprogramm zur Kapazitäts­ zu dokumentieren und der Öffentlichkeit entwicklung organisiert. Zusätzlich über- zugänglich zu machen. Dabei zeigte sich, nimmt das Führungsteam Aufgaben stra- dass mehr als zwei Drittel aller Fördergel- tegischer Planung der weiteren Forschung der in den Bereich der biowissenschaft- auf dem Gebiet. Die British Library ist be- lich-medizinischen Grundlagenforschung auftragt, den Publikationsimpact dieser flossen, knapp 20 Prozent in die klinische Forschungsrichtung zu dokumentieren. Forschung (einschließlich Evaluationsfor- Diese bemerkenswerterweise vom Me- schung), jeweils 5 Prozent in die Forschung dical Research Council (MRC) und vom zur Früherkennung von Krankheiten und Economic and Social Research Council in die Versorgungsforschung sowie le- (ESRC) gemeinsam getragene Förderini- diglich 3 Prozent in den Bereich der Prä- tiative soll dazu beitragen, die Ergebnisse ventionsforschung. Daraus resultierte die der aufwändigen und teuren Längsschnitt- forschungspolitische Forderung, den letzt- studien optimal zu nutzen, den Wert und genannten Bereich stärker zu fördern. den Impact der erhobenen Daten durch verstärkte Kooperation weiter zu steigern d) Vernetzungsprojekte und die vorhandenen Forschungsressour- Die Besonderheit der Förderung von Ver- cen für innovative, quer durch die ver- netzungsprojekten besteht darin, dass die- schiedenen Studien laufenden Fragestel- se auf einer bereits etablierten Förderstruk- lungen nutzbringend zu bearbeiten. Da tur von Forschungsverbünden aufbauen die Langzeitstudien stets den Zeitraum und Anreize zu einer gezielten Entwicklung von Förderperioden übersteigen, bilden von Synergieeffekten zwischen den ausge- die strategische Planung und der konti- wählten Projektpartnern bieten. Man kann nuierliche Austausch zwischen Forschen- gewissermaßen von einer Meta-Projektför- den, Förderinnen und Förderern sowie derung sprechen, zu deren Initiative man Entscheidungsträgerinnen und -trägern sich entschlossen hat, um optimale Nutzef- in relevanten Politikbereichen eine per- fekte aus einer dezentralen Forschungsför- manente Aufgabe, zu der CLOSER bei- derung zu erzielen und damit die nationale tragen soll.23 Wie reichhaltig das wissen- Forschungsposition im weltweiten Wettbe- schaftliche Potenzial interdisziplinärer werb weiter zu stärken. Das britische Pro- Kohortenstudien in Großbritannien ist, jekt Cohort and Longitudinal Studies En- hat vor kurzem eine Bestandsaufnahme hancement Resources (CLOSER) stellt ein durch den MRC gezeigt. Nach strengen informatives Beispiel dar, das zeigt, dass Auswahlkriterien wurden 34 Langzeitstu- diese Organisationsform deutlich geziel- dien in den Bericht aufgenommen. Dabei ter konzipiert ist als z.B. ein DFG-Schwer- zeigte sich, dass insgesamt mehr als zwei punktprogramm in Deutschland. Millionen Teilnehmerinnen und Teilneh- mer in diese Studien einbezogen sind und Das Beispiel CLOSER: Vernetzungs- dass mehr als die Hälfte der Untersuchun- projekt gen bereits eine Laufzeit von mehr als Im Rahmen des von neun Studienteams 20 Jahren aufweisen (MRC, 2014). getragenen Programms CLOSER22, das u.a. Understanding Society und die Mil-

23 Heather Joshi, Persönliche Mitteilung, Fachgespräch 22 Vgl. http://www.closer.ac.uk (Abruf 17.3.2016). der Arbeitsgruppe, München, 3. Juli 2014. 54 Aktuelle Herausforderungen in Deutschland

5 Aktuelle Herausforderungen in Deutschland

5.1 Finanzierung und ßem Vorteil, weil sie konkurrierende wis- Organisationsstrukturen senschaftliche Ansätze ermöglichen und vermieden wird, dass in den verschiede- a) Aufbau neuer bevölkerungsweiter Längs- nen Studien die gleichen Fehler gemacht schnittstudien werden, zumal meist keineswegs Einig- Abschnitt 4.2 hat gezeigt, dass sich in keit herrscht, welche Messkonzepte für Deutschland eine auch im internationa- bestimmte Fragestellungen die wissen- len Vergleich sehr reiche Landschaft von schaftlich besten sind. ­bevölkerungsweiten Längsschnittstudien (z.B. SOEP, NEPS, pairfam, NAKO, weitere Die Studienbeschreibungen in Ab- epidemiologische Kohorten wie z.B. KORA) schnitt 4.4 haben jedoch gezeigt, dass die entwickelt hat. Ebenso ist Deutschland in derzeitige finanzielle und organisatorische international vergleichende Studien einbe- (v.a. in puncto Förderinstrumente) und zogen (z.B. SHARE, Haushaltspanels), bei z.T. auch die intellektuelle Infrastruktur denen deutsche Wissenschaftsinstitutionen Deutschlands (v.a. in der Aus- und Wei- (MPG, DIW) eine führende Rolle spielen. terbildung) noch weiteren Entwicklungs- bedarf erfordert, um, bevölkerungsweite Dies lässt darauf schließen, dass die Längsschnittstudien nachhaltig und auf institutionellen Rahmenbedingungen in international hohem Niveau durchzu- Deutschland zahlreiche Initiativen für neue führen. Probleme der Finanzierung und bevölkerungsweite Längsschnittstudien er- Organisationsstruktur treten weniger bei möglicht haben, ohne dass dies durch eine der „Geburt“, sondern eher in der „Reife- zentralistische Förderpolitik organisiert phase“ solcher Studien auf oder wenn die- werden musste. Die Arbeitsgruppe hält den se von Anfang an mit großem finanziellen Ansatz der „darwinistischen Selektion“, der und organisatorischen Aufwand betrieben wenig vielversprechende Initiativen schnell werden müssen. auslaufen lässt, die Entstehung neuer Initi- ativen aber nicht einschränkt, für hilfreich. Die Entstehungsgeschichte der Zuletzt zeigt das Beispiel NEPS, dass bei existierenden Längsschnittstudien im me- der Einrichtung einer neuen Studie, deren dizinischen Bereich ist häufig von großen Bedarf entweder aus der Forschungsge- Unwägbarkeiten, gelegentlich sogar von meinde oder von politischer Seite kommt, Zufällen geprägt. Keine der länger laufen- mit Hilfe des peer-review Verfahrens ein den Kohorten ist gegenwärtig maßgeblich Start über die DFG optimal sein dürfte, da von einem der qualitätskontrollierten eta- dadurch eine exzellente Qualitätskontrolle blierten Forschungsförderinstrumente garantiert und das Zusammenwachsen ei- (DFG, EU-Forschungsförderung) finan- nes Teams gefördert wird. ziert. Stattdessen findet häufig eine „Stü- ckelung“ statt: Einzelne Teilaspekte er- Auch die Vielfältigkeit der deut- halten in kompetitiven Antragsverfahren schen Studien und ihre sehr unterschied- Zuschläge, die aber in der Mehrzahl die lichen institutionellen Anbindungen sind erforderliche Studienlogistik wie Untersu- in der Anfangsphase der Studien von gro- chungszentren, Rekrutierungsstrukturen, Aktuelle Herausforderungen in Deutschland 55

Probandenmanagement, Datenmanage- studien festgestellt werden. Zu ihrer er- ment, Datentransfer und Qualitätssiche- folgreichen Fortsetzung sind jedoch be- rung nicht mit umfassen. So entsteht ein stimmte organisatorische, finanzielle und prekäres Potpourri, das eine mittelfristige wissenschaftspolitische Änderungen er- Planung und auch eine angemessene Per- forderlich (s.u. Empfehlungen). sonalentwicklung unmöglich macht. All- gegenwärtige finanzielle Engpässe müssen b) Weiterführung bestehender bevölke- durch Querfinanzierungen, Eigenmittel rungsweiter Längsschnittstudien und „Selbstausbeutung“ der Mitarbei- In der deutschen institutionellen Wissen- terinnen und Mitarbeiter – oft auch der schaftslandschaft gibt es bislang keinen Studienleiterinnen und -leiter – kompen- klar definierten Prozess, welche Insti- siert werden. Statt mittel- und langfris- tutionen wann und wie über die Weiter- tige Forschungsziele konsequent verfol- führung von bevölkerungsweiten Längs- gen zu können, werden Studienteams zu schnittstudien entscheidet. taktischem Verhalten gezwungen, immer in der Hoffnung auf die nächste Bewilli- Zwei Beispiele mögen dies verdeut- gung. Die Universitäten sind aufgrund ih- lichen. Das SOEP hat etwa 20 Jahre ge- res deutlich höheren Drittmittelanteils an braucht, um eine stabile Finanzierung in der Forschung und geringer ausgebauter der Leibniz-Gemeinschaft zu finden. Es Infrastruktur hier strukturell in einer er- war sicherlich im Sinne der Qualitätssiche- heblich schlechteren Position als die ins- rung klug, dass das SOEP nicht von Anfang titutionell geförderten außeruniversitären an eine Zusage auf Dauerfinanzierung hat- Forschungsinstitutionen in Deutschland. te, sondern von der DFG wissenschaftlich begutachtet und finanziert wurde (mit zu- Einen gewissen Ausnahmefall stellt nehmend mehr Sondermitteln, die Bund die NAKO dar. Die hier gewählte Finanzie- und Länder an die DFG zahlten). Zwischen rungsstruktur ist bisher einmalig. Über die der ersten Empfehlung auf Dauerfinanzie- mehr als zweijährige Planungsphase wur- rung durch den Wissenschaftsrat im Jahr den lediglich die beteiligten Einrichtun- 1992 und der Aufnahme als Infrastruktu- gen der Helmholtz-Gemeinschaft durch reinrichtung in die Leibniz Gemeinschaft ein internes außerordentliches Budget ge- vergingen jedoch zehn Jahre. fördert. Die Universitäten und Leibniz-In- stitute arbeiteten dagegen ausschließlich SHARE wurde zunächst fast voll- auf der Basis von Eigenmitteln. In der Pre- ständig von der Europäischen Kommis- test- und Pilotphase wurden Projektförde- sion finanziert. Nach drei Wellen ging die rungen durch das BMBF gewährt. In der Finanzierung aufgrund eines Beschlusses seit 2014 laufenden Hauptphase fließt der des Europäischen Rates von der Kommis- größte Anteil der Fördermittel über das sion an die Mitgliedsländer. Dies hatte zur BMBF mit einer Beteiligung der meisten Folge, dass es in der 6. Welle 64 verschie- Länder auf der Basis einer Bund-Länder- dene Zuwendungsgeber gab. Deutschland Vereinbarung. Weitere Bundesmittel flie- unterschrieb den SHARE zugrundelie- ßen indirekt über die HGF. Die beteiligten genden Staatsvertrag, ohne jedoch eine Institutionen, mehrheitlich Universitäten, konkrete Finanzierung festzulegen. Diese müssen nachweisbare Eigenanteile von wurde nachträglich entwickelt und liegt mindestens 30 Prozent aufbringen. derzeit bei drei Zuwendungsinstitutionen. Auf eine vierte wird noch gewartet. Zusammenfassend kann in Deutschland eine auch international be- In beiden Beispielen wurden viele achtliche Entwicklung der Forschung im Finanzierungsentscheidungen ohne lang- Gebiet bevölkerungsweiter Längsschnitt- fristige Festlegungen und meist ad hoc ge- 56 Aktuelle Herausforderungen in Deutschland

troffen mit dem Ergebnis, dass die notwen- ist die Beschränkung von DFG-Langzeit- dige Orientierungssicherheit bei SOEP erst vorhaben auf zwölf Jahre. Ein Opfer dieser sehr spät (gemessen an der ersten Emp- Beschränkung ist der querschnittlich repli- fehlung des Wissenschaftsrates) und bei kative ESS, dessen Weiterfinanzierung in SHARE bislang noch gar nicht geschaffen Deutschland nach Auslaufen seiner För- werden konnte. derung als DFG-Langzeitvorhaben impro- visiert werden musste. Für die Förderung Eine Ausnahme zu diesem Finan- der Runde 8 (2016/17) liegt ein Antrag zierungsmuster bildet das NEPS, das nach beim BMBF vor. Danach soll ein Antrag nur wenigen Jahren bereits 2014 in eine für einen „großen strategischen Sondertat- Vollfinanzierung durch den Bund mittels bestand“ vom baden-württembergischen des dafür neugegründeten Leibniz-Insti- Ministerium für Wissenschaft, Forschung tuts für Bildungsverläufe (LIfBi) überführt und Kunst an die GWK gestellt werden. werden konnte. Pairfam wird nach der vierzehn- Besondere Probleme ergeben sich ten Welle (im Jahr 2022) vor einer ver- dadurch, dass aufgrund der Fördervor- gleichbaren Situation stehen. In diesem schriften (u.a. der DFG) Langzeitvorha- Fall haben die entsprechenden Finanzie- ben nicht etwa als Verlängerungsprojekte rungsunsicherheiten aber ungleich größe- beantragt werden können, sondern als re Wirkungen, da pairfam im Gegensatz Neuprojekte „verkleidet“ werden müssen, zum ESS eine genuine Längsschnittstudie auch wenn es sich um die Fortführung ei- ist, die auf die stetige Wiederbefragung ner Längsschnittstudie mit im Kern im- ein und derselben Personen angewiesen mer gleichen Inhalten handelt, was ein ist. Kriterium für das Ende der Förde- Wesens-, Struktur- und Qualitätsmerkmal rung sollte das gutachterlich festgestell- von Längsschnittstudien ist. Beispiele dafür te Nachlassen bzw. Ausbleiben wissen- sind nicht nur die oben beschriebene Früh- schaftlicher Erkenntnis aus der jeweiligen phase des SOEP, sondern auch die Früh- Forschungsinfrastruktur sein. Die Be- phase des für die Soziologie und die politi- grenzung der DFG-Langzeitvorhaben auf schen Wissenschaften wichtigen ALLBUS, zwölf Jahre ist in diesem Sinne nicht sach- bevor er bei GESIS institutionalisiert wur- gerecht, sofern weiterhin wissenschaftli- de, sowie gegenwärtig die in Beantragung ches Interesse an der Studie fortbesteht befindliche dritte Phase der BASE. In all und eine Beendigung weder von den Stu- diesen Fällen durfte die weitere Datenerhe- dienleiterinnen und -leitern noch von ex- bung im Rahmen einer BMBF-Förderung ternen Gutachterinnen und Gutachtern kein ausdrückliches Antragsziel sein, da das als sinnvoll erachtet wird. BMBF bis vor kurzem nicht dauerhaft för- dern durfte. Diese Anforderung führt nicht In mehreren Fällen erwuchsen nur zu vermehrter und Ressourcen ver- Längsschnittstudien aus einem SFB der schwendender Antragsarbeit, sondern auch DFG (z.B. das SOEP und die GLHS aus zur künstlichen Veränderung von wissen- dem SFB 3 und SAVE aus dem SFB 504). schaftlichen Inhalten, was eine erfolgreiche Eine weitere Fördervorschrift, die den Antragstellung erschweren und opportunis- Aufbau von Langzeitvorhaben behin- tisch zu inhaltlichen Schwerpunkten führen dert, ist in diesem Zusammenhang die kann, die wissenschaftlich nicht unbedingt zwölfjährige Beschränkung von Sonder- an der Spitze der Prioritätenliste stehen. forschungsbereichen. Durch eine Kombi- nation der Förderinstrumente SFB und Eine zweite Fördervorschrift, die Förderung im Normalverfahren lässt nicht nur, aber besonders bevölkerungs- sich zwar eine relativ lange Förderzeit weiten Längsschnittstudien im Wege steht, erreichen (insbesondere dann, wenn der Aktuelle Herausforderungen in Deutschland 57

DFG von Bund und Ländern dafür Son- Verlängerungen, Dauerstellen) ermög- dermittel zur Verfügung gestellt werden, lichen und Aufstiegsmöglichkeiten (z.B. wie das Beispiel SOEP zeigt). Diese Vor- übertarifliche Bezahlung für die leiten- gehensweise geht aber mit der bereits den Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, angesprochenen Notwendigkeit einher, nebenberufliche Weiterqualifizierungen immer wieder ein neues Projekt mit neu- sowie international anerkannte Fachkar- en Forschungsinhalten zu „erfinden“, da rieren, Tenure-Track für leitende Stu- ein Projekt im Normalverfahren nicht mit dienmitarbeiterinnen und -mitarbeiter dem ursprünglichen SFB-Vorhaben iden- oder gemeinsam berufene S-Junior-Pro- tisch sein darf, auch wenn es sich um ein fessorinnen und -Professoren) der Mit- und dieselbe Längsschnittstudie handelt. arbeiterinnen und Mitarbeiter eröffnen (vgl. Abschnitt 5.2). Einem klar definierten Prozess zur Weiterführung bevölkerungsweiter c) Koordinationsprobleme zwischen Längsschnittstudien sollten allgemein Zuwendungsgebern von den beteiligten Akteuren anerkannte Bevölkerungsweite Längsschnittstudien Kriterien zugrunde liegen. Gegenwärtig werden auch dadurch in ihrer wissen- werden jedoch von verschiedenen ad hoc schaftlichen Entfaltung behindert, dass eingesetzten Gutachtergremien unabhän- die Koordinierung verschiedener Zuwen- gig voneinander Kriterien entwickelt. Es dungsgeber oft mit großen Schwierigkei- fehlt an einheitlichen Kriterien zur Begut- ten behaftet ist. Ein typisches Beispiel ist achtung der Datenqualität, der bisherigen SHARE, wo eine Koordinierung zwischen Befunde und zur Aktualität einer popula- BMBF, MPG und DFG angestrebt war, tionsbezogenen Längsschnittstudie. aber zunächst an der Unabhängigkeit der zuständigen Gremien, nicht zuletzt Ein klar definierter Prozess zu­einer der Gutachterausschüsse, scheiterte (vgl. längerfristig stabilen Finanzierung ist Abschnitt 4.4). In diesem konkreten Fall auch deswegen wichtig, weil der Wert von liegt der innere Widerspruch erstens an Längsschnittdaten mit der Anzahl von Un- dem Bestreben der MPG, keine Infra- tersuchungswellen sowie der Länge und strukturen zu finanzieren, zweitens dem Qualität der Nachverfolgung exponentiell Grundsatz des BMBF, dass außeruniver- zunimmt. Dies gilt v.a. für die kausalanaly- sitäre Einrichtungen die Betriebskosten tischen Analysepotenziale. Zudem besteht von Forschungsinfrastrukturen selbst fi- ein wichtiger Wert von bevölkerungswei- nanzieren müssen – wobei die Betriebs- ten Längsschnittstudien darin, die Effekte kosten, wie im Folgenden beschrieben, von historischen und persönlichen Ereig- im Falle von Längsschnittstudien ohne nissen zu erfassen, die bei Studienbeginn entsprechende Begründung auch deren nicht absehbar waren und dadurch die für Erhebung einschließen –, und drittens die Kausalanalyse essentiellen Daten vor der Unabhängigkeit des DFG-Gutachter- Eintritt des Ereignisses zur Verfügung prozesses. Jedes einzelne dieser drei Ele- zu haben (vgl. Abschnitt 3.7 und die dort mente hat seine eigene innere Logik, führt geschilderten Beispiele der Finanz-/Wirt- in der Kombination mit den anderen Ele- schafts-/Schulden-Krise und deren Aus- menten jedoch zu einer Sackgasse in der wirkungen auf Einkommen, Sozialstatus Finanzierung solcher Projekte, die am und Gesundheit). besten von mehreren Zuwendungsgebern getragen werden.24 Langfristige Finanzierungsstruk- turen sind schließlich auch deswegen unabdingbar, weil nur sie eine effiziente 24 Wir weisen ausdrücklich darauf hin, dass ein leitendes Personalentwicklung (z.B. langfristige AG-Mitglied Koordinator von SHARE ist. 58 Aktuelle Herausforderungen in Deutschland

Auch die mangelnde föderale Koor- und der Leibniz-Gemeinschaft nicht mit dination führt zu Widersprüchen, wie das Investitionsmitteln für kostenintensive Beispiel von SHIP/SHIP-TREND zeigt. Langzeitprojekte ausgestattet, sondern Hier wird von Seiten des Bundes eine sollen laufende Forschung finanzieren. Landesförderung angeregt, die jedoch teilweise auf den Landeszuführungsbe- Die Kategorisierung als Betriebs- trag für die Universitätsmedizin Greifs- kosten ist nicht sachgerecht, denn der wald angerechnet wird. Auch bei SHARE Aufbau bevölkerungsweiter Längsschnitt- sollen eingeworbene Drittmittel den För- studien durch die wellenweise Erhebung derbetrag reduzieren, was die Drittmitte- von Daten entspricht im Sinne der Entste- leinwerbung unattraktiv macht. hung einer überdauernden Forschungsin- frastruktur dem Aufbau von Großgeräten Die mangelnde Koordinierung zwi- in den Naturwissenschaften. Erst nach schen den verschiedenen Zuwendungs- der Erhebung der Daten und der Erstel- gebern widerspricht der Tatsache, dass lung der Datenbank (Konstruktion mit bevölkerungsweite Längsschnittstudien­ entsprechenden Kosten) können die Da- nationale Forschungsinfrastrukturen ten der Wissenschaft als Dienstleistung sind, die eine unverzichtbare Grundlage zur Verfügung gestellt werden (Betrieb sowohl für sozioökonomische und biome- mit entsprechenden Kosten). Wie bei den dizinische Forschungsprojekte als auch Großgeräten der Naturwissenschaften gibt für Entscheidungen in der Wirtschafts-, es auch bei Längsschnittstudien zunächst Sozial-, Arbeits-, Gesundheits- und Fami- eine Konstruktionsphase, in der zunächst lienpolitik bilden. Ihre finanzielle und or- eher limitierte Querschnittsauswertungen ganisatorische Unterstützung sollte daher möglich sind, da die Daten noch keinen eine nationale Aufgabe sein. ausreichenden Zeitabstand voneinander haben. Umgekehrt finden auch bei den Dies wird für physische Infrastruk- Großgeräten in den Naturwissenschaften turen (Gebäude mit ihren Großgeräten, regelmäßig Erweiterungen statt, die dort Untersuchungszentren etc.) auch aner- gemäß den geltenden Richtlinien als Kon- kannt, indem der Bund die Konstrukti- struktionskosten eingestuft werden. Dass onskosten dieser physischen Infrastruk- bevölkerungsweite Längsschnittstudien turen übernimmt. Bevölkerungsweite keine physische, sondern eine vorwie- Längsschnittstudien befinden sich hier gend elektronische Infrastruktur herstel- jedoch in einer wesentlich schwierigeren len, darf im digitalen Zeitalter kein Ge- Lage. Grund ist die nicht sachgerech- gengrund sein. Laufende Betriebskosten, te Entscheidung, sämtliche Kosten für zu denen Erhebungskosten, Kosten für die Erstellung von bevölkerungsweiten Harmonisierung und Standardisierung, Längsschnittdaten als Betriebs- anstatt Qualitätssicherung, Zertifizierung für Er- als Konstruktionskosten einzustufen. hebungspersonal, Aufbau des Datenma- Was sich zunächst wie eine buchhalteri- nagements und der Datensicherheit zäh- sche Spitzfindigkeit anhört, ist tatsäch- len, sind daher vielfach eine Mischung aus lich eine schwere Belastung für bevöl- Betriebs- und Konstruktionskosten. Sie kerungsweite Längsschnittstudien. Sie schaffen beim Aufbau von bevölkerungs- führt dazu, dass die Hauptkosten solcher weiten Längsschnittstudien ebenso Ar- Studien entweder von den Institutionen beitsplätze wie beim Bau der Großgeräte der Studienleiterinnen und -leiter (oft- in den Naturwissenschaften. mals Universitäten) oder ministeriellen Fachreferaten getragen werden müssen. Die Heimatinstitutionen der Studienlei- ter sind jedoch mit Ausnahme der HGF Aktuelle Herausforderungen in Deutschland 59

d) Koordinierungsprobleme zwischen der Beispiel in diesem Sinne ist die Transfer- nationalen und der europäischen Ebene stelle des Forschungsverbundes Commu- Eine bessere Koordinierung ist auch zwi- nity Medicine der Universität Greifswald. schen der europäischen und der deut- schen Roadmap für Forschungsinfra- e) Hindernisse für die Interdisziplinarität strukturen notwendig. Wie bereits am von Längsschnittstudien Beispiel SHARE geschildert, zieht eine Interdisziplinäre Projekte haben es be- Zustimmung Deutschlands zu einer For- sonders schwer, sich langfristig zu fi- schungsinfrastruktur auf europäischer nanzieren, da sich wegen der Aufteilung Ebene nicht automatisch auch die Bereit- in Fachdisziplinen in fast allen Wissen- stellung eines Finanzierungsmechanis- schaftsinstitutionen die Protagonistin- mus nach sich, der garantiert, dass diese nen und Protagonisten der Einzelfächer Forschungsinfrastruktur dann auch in immer wieder relativ leicht durchset- Deutschland auf- bzw. weitergebaut wer- zen können. Darunter leiden die über- den kann. wiegend interdisziplinär aufgestellten Projekte zu bevölkerungsbezogenen Die Tatsache, dass bevölkerungs- Längsschnittstudien besonders oft. Die weite Längsschnittstudien nationale Begutachtung solcher Initiativen und Forschungsinfrastrukturen sind, und Forschungsinfrastrukturen ist innerhalb die Verantwortung für Forschungsin- der DFG immer noch stark „siloisiert“. frastrukturen, denen Deutschland auf Eine Eingliederung eines zu begutach- der europäischen Roadmap zugestimmt tenden Projekts in zwei gleichrangige hat, implizieren, dass es an zentraler Fachgebiete ist bei der DFG nicht mög- Stelle auch finanzielle Mittel für diese lich. Stattdessen muss sich die/der An- nationalen Aufgaben geben muss. Diese tragstellerin/Antragsteller für die eine fehlen jedoch im Fall länderübergrei- Fachrichtung (z.B. biomedizinisch) oder fender Längsschnittstudien. Stattdessen die andere (z.B. ökonomisch) entschei- müssen die dementsprechenden Kosten den. Es obliegt dann dem Geschick der derzeit von den Fachreferaten im BMBF jeweiligen Fachreferentinnen und -refe- getragen werden, was mit den Ausgaben renten, eine interdisziplinäre Gutacht- für die laufende analytische Forschung ergruppe zusammenzusetzen, die auch konkurriert. Es sollte daher ein zentrales Gutachterinnen und Gutachter des je- Budget für europäische Forschungsinfra- weils anderen Fachs einschließt, was strukturen auf nationaler Ebene geschaf- nicht immer gelingt. fen werden. Zudem ist die disziplinäre Breite Schließlich ist auch unter rein wis- der nächsthöheren Ebene im DFG-Be- senschaftlichen Gesichtspunkten die Ko- gutachtungsprozess ebenfalls recht eng, ordinierung zwischen der europäischen denn der DFG-Querschnittsfachaus- und der deutschen Ebene verbesserungs- schuss für Langzeitvorhaben hat dank würdig. So sind die bestehenden natio- seiner historischen Wurzeln eine starke nalen Längsschnittstudien (Bsp. SOEP Ausrichtung auf geisteswissenschaftliche und NAKO) zunächst rein national aus- Akademievorhaben. Dies ist gut begrün- gerichtet, obwohl ein wissenschaftlicher det, wenn es sich bei der zur Entschei- Mehrwert durch eine stärkere Vernet- dung stehenden Forschungsinfrastruktur zung und Harmonisierung mit anderen um bspw. ein literaturwissenschaft­liches prospektiven Kohortenstudien über die Langzeitvorhaben handelt. Dies ist je- Landesgrenzen hinaus erreicht und der doch nicht sachgerecht, wenn es um Datentransfer über die Landesgrenzen bevölkerungsweite­ Längsschnittstudien erleichtert werden könnte. Ein positives geht, für die auch auf dieser Ebene Epi- 60 Aktuelle Herausforderungen in Deutschland

demiologinnen und Epidemiologen sowie Auf der Basis der Expertenanhö- Sozial- bzw. Wirtschaftswissenschaftle- rungen hält die Arbeitsgruppe beide Nor- rinnen und -wissenschaftler eingeschaltet men aus zwei Gründen für dysfunktional. werden müssten. Bei bevölkerungsweiten Längsschnittstudien können erstens ihre Längsschnittstudien kann von einer pro- Avantgarde-Funktion in der Forschung portionalen Repräsentation der Fachge- nur entwickeln und erhalten, wenn sich die biete, welche die jeweilige Forschungsin- unmittelbar Beteiligten am internationa- frastruktur bedient, in diesem Gremium len Forschungsaustausch aktiv beteiligen jedoch derzeit keine Rede sein. und nicht nur als Datengeber fungieren. Ihre Forschungsbeiträge sind insbeson- Das Zusammenwachsen von biome- dere für methodische Fragen von hoher dizinischen und sozioökonomischen For- Bedeutung, sollten sich aber nicht darauf schungen wird auch dadurch erschwert, beschränken. Zweitens sind solche Zent- dass es in Deutschland keine gezielte ren für Kooperationen mit den besten ex- Ausschreibung von biomedizinisch-sozio- ternen Forscherinnen und Forschern nur ökonomischen Forschungskooperationen dann attraktiv, wenn deren Mitarbeiterin- nach dem Beispiel des US-amerikanischen nen und Mitarbeiter selbst international NIA oder der engen Kooperation zwischen als Forscherinnen und Forscher anerkannt MRC und ESRC in Großbritannien gibt sind. Es besteht eine enge Verknüpfung (vgl. Abschnitt 4.5). zwischen der Qualität der bevölkerungsbe- zogenen Längsschnittstudien und der wis- f) Spannungsfeld zwischen Forschungs- senschaftlichen Qualität ihrer Mitarbeiter. und Service-Aufgaben Sozialwissenschaftliche Längsschnitt- g) Datenqualität und -dokumentation studien bedürfen immer sehr aufwändi- Die Qualität und Reliabilität der Daten ein- ger Infrastrukturleistungen für die Ent- schließlich der Stichprobenqualität werden wicklung der Erhebungsinstrumente, die in der Regel von den externen (kommerzi- Durchführung der Erhebungen sowie die ellen) Erhebungsinstituten (bei sozialwis- Aufbereitung, Dokumentation und Ver- senschaftlichen Panelstudien), von den breitung der Daten. Darüber hinaus sollen beteiligten Studienzentren (bei biomedizi- und müssen Längsschnittdaten möglichst nischen Panels) und/oder von den mit der unmittelbar auch externen Datennutze- Durchführung der Panels betrauten Ein- rinnen und -nutzern zur Verfügung ge- richtungen überprüft und dokumentiert. stellt werden. Sie erbringen also in einem Andererseits ist die Tendenz zu beobach- hohen Maße Dienstleistungen. Es liegt ten, dass sich die Nutzerinnen und Nutzer daher nahe, ihr Mandat und ihren insti- von Sekundärdaten immer weniger um tutionellen Kontext als wissenschaftliche Fragen der Datenqualität kümmern und Service-Einrichtungen zu verstehen und die Daten in diesem Sinne naiv nutzen. Da zu entwickeln. es sich hier jedoch durchweg um „Interes- sierte“ handelt, die weniger positive Aspek- Dies hat mitunter zu informellen te der Datenerhebung tendenziell ungern Normen bzw. Auflagen durch die Zuwen- öffentlich machen, sollten Analysen zur dungsgeber geführt, nach denen zum ei- Datenqualität von externen Wissenschaft- nen die eigene und rasche Verwendung lern durchgeführt und entsprechend geför- der Daten durch die „Erzeuger“ und/oder dert werden.25 ihre Kooperationspartner beschränkt wird, zum andern keine oder weniger 25 Vgl. dazu die methodischen Untersuchungen von Solga inhaltliche Forschungsbeiträge von den (2001) und von Manzoni et al. (2011) zum SOEP und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern er- zur GLHS sowie von Reimer (2005) zur Zuverlässigkeit von Retrospektivdaten im Vergleich zu administrativen wartet werden. Registerdaten. Aktuelle Herausforderungen in Deutschland 61

Es hat sich in der jüngsten Vergan- Hand geschieht derzeit ebenfalls ad hoc. genheit im Großen und Ganzen bewährt, Es gibt einzelne Initiativen, die entweder dass die Datendokumentation und Daten- ein stochastisches Matching (z.B. SOEP; weitergabe bei den meisten Längsschnitt- hier werden ähnliche Haushalte anhand studien dezentral bei den jeweiligen Ein- von Haushaltsmerkmalen miteinander richtungen der „Datenproduzenten“ liegt. verknüpft) oder ein record linkage (zuerst Allerdings macht diese Dezentralität es für bei GLHS und SHARE, später auch beim die Nutzerinnen und Nutzer nicht einfa- SOEP; hier werden identische Haushalte cher, laufende und abgeschlossene Längs- anhand der Sozialversicherungsnummer schnittstudien zu finden und deren Eigen- verknüpft) mit Daten der Sozialversiche- schaften zu studieren. Im Übrigen sind z.T. rungsträger unternommen haben. Hier auch die öffentlich zugänglichen Datendo- fehlt eine informationelle, juristische und kumentationen bei laufenden Studien de- technische Infrastruktur, die das Potenzi- fizitär (so z.B. bei der NAKO, für die der- al solcher Verknüpfungen auch für andere zeit noch keine Variablenkataloge im Netz Längsschnittstudien wie die NAKO leich- verfügbar sind). Wo dies nicht von den ter erschließen lässt. Studien selbst in angemessener Weise ge- leistet werden kann, sollte bspw. GESIS die i) Finanzierungsmodelle im Ausland Aufgabe übernehmen, abgeschlossene und Die Arbeitsgruppe hat im Rahmen von laufende Längsschnittstudien angemessen Anhörungen mit internationalen Ex- zu dokumentieren und über die jeweiligen pertinnen und Experten sowie anhand Zugangsbedingungen zu informieren. eigener Recherchen eine Reihe wichti- ger Anregungen erhalten, welche für die Auch die Zusammenarbeit mit den Gestaltung der weiteren Entwicklung in in Deutschland vorhandenen Datenarchi- Deutschland von Interesse sind. Dabei ven könnte verbessert werden, um die Da- erwies sich jedoch, dass auch im Ausland tenarchivierung und den langfristigen Da- die Erfahrungen mit den gegenwärtigen tenzugang, auch zu Meta- und Paradaten, Finanzierungsstrukturen auf Entwick- effizienter zu gestalten. lungspotenzial verweisen. h) Unausgenutztes Potenzial von In den Niederlanden ist trotz einer Datenverknüpfungen hervorragenden Infrastruktur für die epi- Das Potenzial von Längsschnittstudien demiologische Forschung die Förderung kann z.T. erheblich gesteigert werden, sozialwissenschaftlicher und interdiszip- wenn diese miteinander und mit anderen linär biomedizinisch-sozialwissenschaft- Datenquellen verknüpft werden. Dies gilt licher Längsschnittstudien komplett z.B. für die Verknüpfung der Kohortenstu- eingestellt worden. Daran sind das nie- dien der GLHS und dem NEPS (Blossfeld derländische Pendant zum deutschen et al., 2015). Da es wenig sinnvoll ist, dass SOEP sowie der niederländische Zweig jede/jeder Einzelnutzerin/Einzelnutzer von SHARE gescheitert. Deren hohe An- solche Verknüpfungen vornimmt, sollten fangsinvestitionen in den ersten Wellen solche Infrastrukturleistungen besonders, sind daher verloren. z.B. über die DFG, gefördert werden. Es gibt hierzu bereits international erfolgrei- Die Schwierigkeiten, im Rah- che Modelle, so beispielsweise die schwe- men disziplinär ausgerichteter Research dische Linnäus Datenbank. Councils interdisziplinäre Forschungs- infrastrukturen aufzubauen (vgl. Ab- Die Koordination der wissenschafts- schnitt 5.1e), haben sich auch in Däne- gesteuerten Längsschnittstudien mit pro- mark und Schweden gezeigt. In Schweden zessgenerierten Daten der öffentlichen hat es mehrere Jahre gedauert, um einen 62 Aktuelle Herausforderungen in Deutschland

Verbund ähnlich der Zusammenarbeit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.27 Das von MRC und ESRC im Falle CLOSER Anforderungsprofil gerade an erfahrenere (vgl. Abschnitt 4.5) aufzubauen, der dann leitende Mitarbeiter in bevölkerungswei- schließlich SHARE in Schweden finanzie- ten Längsschnittstudien ist jedoch beson- ren konnte. In Dänemark ist die Finanzie- ders anspruchsvoll und spezifisch, so dass rung von SHARE über ein oder mehrere insgesamt ein Unterangebot vorherrscht Research Councils jedoch gescheitert. (vgl. die Erfahrungen bei pairfam und der Nationalen Kohorte, Abschnitt 4.4).28 Der US-amerikanische Vorgänger Dies wird dadurch verstärkt, dass es weni- des SOEP, die PSID (vgl. Abschnitt 4.4), ge geeignete Weiterbildungsangebote für muss durch immer neue Anträge im „Nor- Mitarbeiter von Längsschnittstudien gibt, malverfahren“ der US National Science sowohl im Hinblick auf wissenschaftlich- Foundation finanziert werden. Auch die methodische als auch im Hinblick auf Ma- Finanzierung des neuen Understanding- nagement-Kompetenzen: Es besteht zwar Society-Panels in Großbritannien bedarf bereits gegenwärtig ein umfangreiches regelmäßig neuer Anträge. Das wissen- Angebot an postgradualen Zusatzqualifi- schaftliche Potenzial der PSID ist nicht kationen sowie an nationalen und inter- zuletzt wegen der schwierigen Finan- nationalen Trainingskursen, jedoch fehlt zierungssituation und den dadurch hin- eine wissenschaftliche Qualifizierung zur ausgeschobenen Innovationen deutlich Bearbeitung der spezifischen inhaltli- hinter Understanding Society und SOEP chen und methodischen Anforderungen, zurückgefallen. die sich im Rahmen bevölkerungsweiter Längsschnittstudien ergeben, insbeson- Ein positives Beispiel bietet hin- dere, wenn sozialwissenschaftliche und gegen die US-amerikanische HRS, dem biomedizinische Aspekte verbunden wer- Pendant zu SHARE. Die HRS wird im den sollen. Ebenso gibt es zahlreiche Wei- Wesentlichen vom NIA, einem Institut terbildungsprogramme für allgemeines der National Institutes of Health (NIH), Forschungs- und Projektmanagement, je- durch eine jeweils sechsjährige Zuwen- doch nicht für derart komplexe, umfang- dung finanziert.26 Dies beinhaltet jeweils reiche und langfristige Projekte wie bevöl- drei Wellen im Abstand von zwei Jah- kerungsweite Längsschnittstudien. ren. Bemerkenswert ist, dass das NIA den üblichen Förderzyklus von fünf Jah- Projektmitarbeiter, auch solche ren speziell für die HRS auf sechs Jahre mit z.T. weitreichenden Managementauf- verlängert hat, dass die Fortführung der gaben, wie sie im Kontext bevölkerungs- bestehenden Studie nicht als Neuprojekt weiter Längsschnittstudien anfallen, „verkleidet“ werden muss und dass der werden typischerweise nicht nur als Wis- Finanzumfang jedes 6-Jahre-Abschnitts senschaftler eingestellt. Sie entstammen beträchtlich ist (derzeit etwa 90 Millionen US-Dollar). 27 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit beschränken wir uns bei Personenbezeichnungen in diesem Abschnitt 5.2 im Weiteren auf die männliche Form. Wann immer z.B. von Mitarbeitern gesprochen wird, sind gleichberechtigt 5.2 Mitarbeiterqualifizierung und Frauen und Männer gemeint. 28 Mit dem Ausbildungsberuf „Fachangestellte/r für Karrierewege Markt- und Sozialforschung“ (vgl. http://www.gofams. de/, Abruf 17.3.2016) steht inzwischen für nicht-wissen- schaftliches Fachpersonal eine spezifische Berufsausbil- a) Mitarbeiterqualifizierung dung zur Verfügung, die von Forschungseinrichtungen so gestaltet werden kann, dass wissenschaftliche Deutschland hat ein großes Potenzial Qualitätsstandards eingehalten werden können. Da die Erfahrung lehrt, dass sich nach Abschluss der Aus- an gut ausgebildeten wissenschaftlichen bildung einige der Ausgebildeten für ein einschlägiges Studium entscheiden, können dann noch eine Zeit lang einschlägig gut qualifizierte studentische Hilfskräfte zur 26 In der amerikanischen Amtssprache „R01“ genannt. Verfügung stehen. Aktuelle Herausforderungen in Deutschland 63

häufig tatsächlich der Disziplin (oder ver- sismodul Empirische Methodik im Wis- wandten Disziplinen), der das Projekt ent- senschaftsmanagement zwar explizit die sprungen ist, in der Regel also mit einem zentrale Schnittstelle zwischen Inhalt und sozialwissenschaftlichen oder biomedi- Managementaspekten empirischer For- zinischen Hintergrund, nicht jedoch mit schungsprojekte. Insgesamt setzen sol- einem betriebswirtschaftlichen oder ver- che Weiterbildungsmaßnahmen für lei- waltungswissenschaftlichen Hintergrund tende Mitarbeiter in Längsschnittstudien oder gar als professionelle Manager mit aber ein entsprechendes Vorwissen der entsprechender Ausbildung und Berufs- wissenschaftlich relevanten Aspekte ih- erfahrung. Hieraus lässt sich unmittelbar rer Arbeit bereits voraus. Sie eignen sich ein Weiterbildungsbedarf der (leitenden) daher grundsätzlich für eine Weiterqua- Mitarbeiter von Längsschnittstudien auf lifikation des mit Managementaufgaben mehreren Dimensionen ableiten, nämlich betrauten wissenschaftlichen Personals, im Bereich Projekt- bzw. Wissenschafts- jedoch ohne spezifischen Bezug. Darüber management, hinsichtlich der Fähigkeit hinaus stellt sich die Frage, ob eine tat- zu interdisziplinärer Arbeitsweise sowie sächlich berufsbegleitende Weiterbildung hinsichtlich der für Längsschnittstudien nach diesem Modell möglich und sinnvoll erforderlichen methodischen Kompeten- ist, da sie Mitarbeiter über 3–6 Semester zen in ausreichender Tiefe. Eine solche z.T. stark bindet. Beides steht in Wider- Weiterbildung muss das „Learning by Do- spruch zu zwei zentralen Punkten, die ing“ und „Training on the Job“ ergänzen, im Rahmen des dritten Fachgesprächs um ein professionelles Management der aufkamen: dass formale Weiterbildung Längsschnittstudien zu garantieren. jeder Art häufig unvereinbar ist mit der Zeit, die zur Verfügung steht, das Erlernte In Bezug auf eine solche Weiter- unmittelbar anzuwenden und die erwor- bildung in Projekt- bzw. Wissenschafts- benen Erkenntnisse zu vertiefen, und dass management gibt es bisher ein gewisses formale Weiterbildung oft keinen ausrei- Maß an Angeboten, das aber nur bedingt chenden Bezug zur eigenen Situation her- geeignet ist, die spezifischen Qualifi- stellt und so zu abstrakt bleibt.33 Das Glei- kationserfordernisse für Mitarbeiter in che gilt im Prinzip auch schon für weniger Längsschnittstudien abzudecken. Zu umfangreiche Fortbildungskurse, wie sie nennen sind hier z.B. die berufsbeglei- z.T. von Universitäten34, aber auch priva- tenden Studiengänge Hochschul- und ten Dienstleistern angeboten werden. Wissenschaftsmanagement (MBA) an der Hochschule Osnabrück29, Bildungs- Weiterbildungsangebote in sozi- und Wissenschaftsmanagement (MBA) alwissenschaftlichen Methoden, auch zu der Universität Oldenburg30, Innova- Längsschnittdaten, entwickeln sich dyna- tions- und Wissenschaftsmanagement misch. Je spezieller jedoch die Verfahren, (M.Sc.) an der Universität Ulm31 und desto schwieriger ist es für Wissenschaft- der Studiengang Wissenschaftsmanage- ler, ein passendes Weiterbildungsangebot ment (MPA) an der Universität Speyer32. zu finden, da in solchen Bereichen weni- Letzterer berücksichtigt mit einem Ba- ge Angebote existieren. Das liegt einer- seits daran, dass potenzielle Anbieter den Bedarf nicht leicht einschätzen können 29 Vgl. https://www.wiso.hs-osnabrueck.de/berufsbeglei- tendes-studium.html (Abruf 9.7.2015). und begrenzte Kapazitäten haben. Auch 30 Vgl. http://www.mba.uni-oldenburg.de (Abruf sind geeignete Dozenten nicht einfach zu 9.7.2015). 31 Vgl. https://www.uni-ulm.de/einrichtungen/saps/ studiengaenge/innovations-und-wissenschaftsmanage- 33 S. Protokoll des dritten Fachgesprächs, 4.11.2014. ment.html (Abruf 9.7.2015). 34 Z.B. an der TU München, vgl. https://www.rm.wi.tum. 32 Vgl. http://www.wissenschaftsmanagement-speyer.de/ de/wissenschafts-management/aktuelles-kursangebot/ (Abruf 9.7.2015). (Abruf 9.7.2015). 64 Aktuelle Herausforderungen in Deutschland

identifizieren oder verfügbar. Sehr spe- durchzuführen (vgl. Wagner, 2010; Rich- zifische Angebote lassen sich daher am ter & Wagner, 2015). Vorrangig zu nennen besten dort entwickeln, wo sie möglichst ist hier eine stark erschwerte Vereinbar- nah an der Spitze der aktuellen Forschung keit der (leitenden) Mitarbeit in bevölke- sind, z.B. bei entsprechenden Fachgesell- rungsweiten Längsschnittstudien mit der schaften, Forschungsinstituten oder In- weiteren Karriereplanung. Dies wurde frastruktureinrichtungen. Es gibt bisher bereits vom Wissenschaftsrat (2014) für keine integrierte Datenbank für sozial- die Universitäten im Allgemeinen be- wissenschaftliche Trainingsangebote in mängelt. Die erfolgreiche Durchführung Deutschland oder international, die man von Längsschnittstudien ist davon aber konsultieren könnte.35 Die thematische noch stärker als kurzfristiger angelegte Breite von Methoden, für die man sich ein wissenschaftliche Projekte betroffen, weil Angebot wünschen würde, ist zu groß, als sie stark von einer langfristigen Bindung dass ein einziger Anbieter wie GESIS alles der Mitarbeiter profitieren. Aus Sicht der abdecken könnte. Hier sind eine bessere Karriereplanung qualifizierter Mitarbeiter Vernetzung, strategische Kooperationen erscheint eine längerfristige Bindung an und neue Lehr- und Lernformate gefragt: eine solche Infrastruktur jedoch nicht im- Z.B. könnten asynchron angebotene On- mer sinnvoll. Denn während Studienleiter line-Lehrmaterialien einen wichtigen Bei- zumeist feste Stellen als Professoren oder trag leisten. Ein solches Angebot ist der Institutsdirektoren innehaben, gibt es für Arbeitsgruppe bislang für Deutschland die leitenden Mitarbeiter auf der zweiten nicht bekannt. Hierarchieebene keine Karrierepfade, die über die größtenteils zeitlich befristeten Im Aufbau ist derzeit ein von der Stellen des akademischen Mittelbaus hi- Europäischen Kommission gefördertes nausgehen. Diesen Widerspruch gilt es Projekt RItrain (mit Sitz in Österreich, durch die Schaffung von planbaren Kar- auch unter Beteiligung von SHARE), das rierewegen zu überwinden, die entspre- spezielle Kompetenzen für das profes­ chend dem Tenure-Track-Prinzip in einer sionelle Management von Forschungs­ dauerhaften Beschäftigung münden. infrastrukturen aufbauen will. Prioritär soll zunächst das vorhandene Personal v.a. Hierbei kann zwischen drei ver- biomedizinischer Forschungsinfrastruk- schiedenen Mitarbeitertypen unterschie- turen geschult werden; langfristig ist auch den werden: erstens Mitarbeiter mit Am- die Kapazitätsausweitung einschließlich bitionen hinsichtlich einer akademischen eines „Master in Research Infrastructure Karriere, was unter den gegenwärtigen Management“ geplant.36 Bedingungen gleichbedeutend ist mit der Orientierung hin auf die Berufung auf b) Karrierewege eine Professur (insbesondere Post-Docs); Das zur Verfügung stehende Potenzial an zweitens Mitarbeiter, deren Karriereori- qualifizierten Mitarbeitern kann zudem entierung eher im Projektmanagement- nicht genügend zur Geltung kommen, bereich anzusiedeln ist, ohne Ambitionen weil die verfügbare finanzielle, organisa- hinsichtlich einer akademische Karriere, torische und z.T. auch wissenschaftliche jedoch ggf. verbunden mit einem Inte- Infrastruktur Widersprüche und Mängel resse an wissenschaftsnahem Arbeiten; aufweist, die es erschweren, bevölkerungs- sowie drittens Mitarbeiter, die sich nicht weite Längsschnittstudien nachhaltig klar einordnen lassen bzw. sich zwischen diesen oder außerhalb dieser Kategorien 35 Vgl. aber beispielhaft für Großbritannien: http://www. bewegen, etwa weil sie sich noch nicht ncrm.ac.uk/training (Abruf 17.3.2016). entschieden haben. Diese drei Mitarbei- 36 Persönliche Kommunikation von Markus Pasterk, BBMRI-ERIC, Graz. tertypen sehen sich jeweils spezifischen Aktuelle Herausforderungen in Deutschland 65

Herausforderungen bei der Karrierepla- ist es daher typisch, dass diese Mitarbeiter nung ausgesetzt, was wiederum Konse- nur relativ kurz am Projekt arbeiten, um quenzen für den Erfolg der Forschungsin- dann eine Professur anzutreten bzw. eine frastruktur nach sich ziehen kann. Stelle, die sie diesem Ziel näherbringt. Ein Höchstmaß an inhaltlichen und me- Für den ersten Typ kann die mit thodischen Kompetenzen und entspre- der Anstellung verbundene Infrastruktur- chenden Motiven und Orientierungen ist arbeit, insbesondere wenn damit weitrei- für Längsschnittstudien aber essentiell, chende Managementaufgaben verbunden da die Zusammenarbeit mit den Daten- sind, in Konflikt stehen mit dem eigenen abnehmern und die Sicherung eines wis- Interesse an der akademischen Weiter- senschaftsorientierten Klimas im Pro- qualifikation. Diese ist typischerweise auf jektteam solche Kompetenzen zwingend die Berufung auf eine Professur hin aus- voraussetzt. Es sollte daher möglich sein, gerichtet, die derzeit gleichzeitig auch die dass wissenschaftliche Qualifizierungen praktisch einzige Möglichkeit einer unbe- und Anstellungen zumindest für mittlere fristeten und selbständigen wissenschaft- Zeitfristen auch im Längsschnittprojekt lichen Beschäftigung bietet. Gegenwärtig möglich sind, so z.B. Teilzeitprofessuren geschieht dies im Wesentlichen durch das in Kooperation mit Hochschulen. Verfassen und Veröffentlichen wissen- schaftlicher Arbeiten und dem Einwerben Während die Arbeit für eine For- von Drittmitteln. Längsschnittstudien schungsinfrastruktur mit einer akademi- bieten aber, aufgrund größerer Komplexi- schen Laufbahn in Konflikt stehen kann, tät, längerer Laufzeit und stärkerem Kol- so gibt es derzeit überhaupt keine Lauf- lektivgutcharakter, ein größeres Potenzial bahn für den zweiten Mitarbeitertyp, der gegenläufiger Interessen von Infrastruk- eine Studie „nur“ gut managen möchte, tur und an einer wissenschaftlichen Kar- über die Dauer eines Projekts hinaus. In riere orientierter Mitarbeiter als dies etwa der Praxis werden erfahrene leitende Mit- kürzere Forschungsprojekte in der Re- arbeiter, die hauptsächlich oder vollstän- gel aufweisen. Längsschnittstudien, die dig Managementaufgaben wahrnehmen, stark auf Mitarbeiter dieses Typs setzen, in der Regel als Wissenschaftler einge- laufen somit Gefahr, dass wichtige Inf- stellt, damit sie entsprechend bezahlt wer- rastrukturarbeit zugunsten des eigenen den können. In einigen Fällen haben die- wissenschaftlichen Vorankommens zu se Mitarbeiter aber weder die Möglichkeit kurz kommt, sei es zu Lasten des gesam- noch das Interesse an einer wissenschaft- ten Projekts oder zu Lasten von anderen lichen Karriere mit dem Endziel Profes- Mitarbeitern, die dies kompensieren. Die- sur. Gleichzeitig besitzen diese Mitarbei- ses Dilemma wird sich nicht lösen lassen, ter ein unabdingbares Erfahrungskapital solange sich nicht eine größere förmliche für die jeweilige Forschungsinfrastruktur, Anerkennung von anderen Faktoren als das man binden möchte. Strukturen zu gut platzierte Fachartikel und eingewor- schaffen, die eine langfristige Finanzie- bene Drittmittel bis hin in die Berufungs- rung und Aufstiegsmöglichkeiten dieser kommissionen durchsetzt. Eine Tendenz Mitarbeiter bieten, ist wichtig, weil die in diese Richtung mag sich in aktuellen Durchführung von bevölkerungsweiten Entwicklungen, wie etwa der Zitierfähig- Längsschnittstudien ein zeitaufwändi- keit von Daten über DOIs, abzeichnen. ges, umfangreiche Ressourcen binden- Dies setzt aber sowohl ein Zitierverhalten, des Unterfangen ist. Solange dies nicht welches nicht nur die Studienleiter be- gewährleistet werden kann, gefährdet die rücksichtigt, als auch eine Gleichbehand- mangelnde Perspektive der Mitarbeiter, lung von Artikel- und Datenzitationen sowohl hinsichtlich des zeitlichen Hori- voraus. Für den vorgesehen Karrierepfad zonts als auch der weiteren Entwicklung 66 Aktuelle Herausforderungen in Deutschland

der Verdienstmöglichkeiten, die Nachhal- Einbindung in ein strukturiertes Gradu- tigkeit von Längsschnittstudien. Der Vor- iertenprogramm oder universitäre Lehre teil, in der Leitung auf Mitarbeiter dieses fehlen. Die Schwierigkeit in Bezug auf die- Typs zu setzen, liegt auf der Hand: eine se Gruppe besteht darin, bei der Zumes- stärkere Professionalisierung im Projekt- sung der Beschäftigungsdauer die Balance management. Aber auch in diesem Fall ist zwischen mittelfristiger Planungssicher- u.U. mit einem vorzeitigen Ausscheiden heit der Mitarbeiter, Infrastrukturarbeit zu rechnen, insoweit der außerakademi- und Anreizen zur wissenschaftlichen Wei- sche Arbeitsmarkt unbefristete und bes- terqualifikation zu wahren. Hierbei ist in ser dotierte Positionen zu bieten hat und jedem Fall zu berücksichtigen, dass in der dem in der Regel nichts entgegengesetzt Regel mit längeren Promotionszeiten zu werden kann. rechnen ist.

Insgesamt scheint daher die Schaf- Für den zweiten Mitarbeitertyp des fung von Karrierepfaden geboten, die es leitenden Personals müssten Universi- ermöglichen, dass leitende Mitarbeiter täten und Forschungsinstitute, an denen als „Laborleiter“ Dauerstellen innehaben Längsschnittstudien institutionell ange- können. Für Universitätsmitarbeiter hat siedelt sind, unbefristete Stellen bzw. auf der Wissenschaftsrat empfohlen, zwei eine spätere Entfristung ausgerichtete Karriereoptionen auszugestalten: erstens Karrierepfade schaffen. Insofern es sich den Karriereweg zur Professur über den bei den projektbezogenen Aufgaben um Tenure-Track, zweitens den Zugang zu keine Daueraufgaben handelt, stellt sich einer unbefristeten Position als wissen- für die Einrichtungen, an denen entspre- schaftlicher Mitarbeiter oder Lehrkraft chende Längsschnittstudien angesiedelt für besondere Aufgaben.37 In Anlehnung sind, die Frage nach der Weiterverwen- an den Tenure-Track bei einer Professur dung der unbefristet angestellten Mitar- könnten entsprechend unbefristete Stel- beiter nach Projektende. Dies mag ein ge- len für leitende Mitarbeiter bis zu einer ringeres Problem für Forschungsinstitute Vergütung nach W2 geschaffen werden, als für Universitäten darstellen, da sie, zu- die dann von den Arbeitgebern auch nach mindest zum Teil, bereits entsprechende Projektende übernommen werden müss- Positionen vorsehen.38 ten. Naheliegend erscheint zunächst ein Der dritte Mitarbeitertypus schließ- Wechsel zwischen Infrastrukturen. Auch lich stellt gewissermaßen eine – mitunter um dies zu begünstigen, ist eine stärkere lange – Übergangsphase in einen der bei- Harmonisierung der Prozesse (z.B. Stich- den anderen Typen oder ganz aus dem proben-Management, Feldsteuerung, Da- Wissenschaftssystem heraus dar. Sys- tenaufbereitung, Dokumentation) – auch tembedingt wird aber häufig implizit eine disziplinübergreifend bzw. -verschrän- akademische Orientierung unterstellt. kend – geboten. Dies würde nicht nur das Gerade dann besteht eine Gefahr für stark Risiko für die befristet Beschäftigten sen- mit infrastruktureller Arbeit beschäftigte ken, nach Ablauf eines Projekts arbeitslos Mitarbeiter, dass die wissenschaftliche Involviertheit zu kurz kommt. Dies mag 38 Hier kann auf den unterschiedlich hohen Anteil unbe- in stärkerem Maß für externe Dokto- fristet Beschäftigter am gesamten wissenschaftlichen randen außeruniversitärer Forschungs- Personal in außeruniversitären Einrichtungen (im Mittel 46 Prozent) im Vergleich zu Hochschulen (im einrichtungen gelten, denen etwa eine Mittel 31 Prozent) verwiesen werden. Dabei ist jedoch gleichzeitig eine erhebliche Variation zwischen verschie- denen Forschungseinrichtungen gegeben, zwischen im 37 Vgl.Wissenschaftsrat (2014): http://www.wissen- Mittel 30 Prozent an den Einrichtungen der MPG und schaftsrat.de/download/archiv/4009-14.pdf (Abruf im Mittel 55 Prozent an den Einrichtungen der HGF 17.3.2016). (vgl. Wissenschaftsrat (2014)). Aktuelle Herausforderungen in Deutschland 67

zu werden. Es würde auch das Risiko des sicherter Weiterfinanzierung die Verträge Instituts senken, einen unbefristet Be- der Mitarbeiter verlängert werden. Eine schäftigten anschließend ohne passendes Abkehr von dieser Möglichkeit würde mit Betätigungsfeld weiterbeschäftigen zu erheblichen Nachteilen für die erfolgrei- müssen. che Durchführung von Längsschnittstu- dien einhergehen, da selbst Projekte mit Eine weitere Verwendungsmöglich- langem Förderhorizont oder Verlänge- keit wäre die Einbindung der Mitarbeiter rung der Förderdauer nach erfolgreicher in die universitäre Lehre, wo sie insbe- Evaluation keinen stabilen Mitarbeiter- sondere für die auszubauende Ausbildung stamm aufbauen könnten. für den wissenschaftlichen Nachwuchs an Längsschnittstudien eingesetzt werden Eine ebensolche Situation herrscht können. Der Aufbau entsprechender Pro- gegenwärtig etwa in Frankreich, wo be- gramme an den Universitäten sowie eine fristet beschäftigte Mitarbeiter nach spä- frühzeitige Einbindung leitender Mitar- testens drei Jahren entlassen werden beiter an angesiedelten Längsschnittstu- müssen, wenn keine unbefristete Stelle dien in die Lehre würde es erleichtern, angeboten werden kann.40 Dies gefährdet unbefristete Stellen zu vergeben, da durch derzeit die Weiterführung von SHARE deren Inhaber Daueraufgaben erfüllt wür- in Frankreich. Im Rahmen der ersten den. Für diesen Fall kann im Hinblick auf Expertenanhörung wurde die damit ver- Modelle guter Praxis zum einen auf die bundene Unmöglichkeit zur dauerhaf- Empfehlungen des Wissenschaftsrats ver- ten Personalbeschäftigung als das größte wiesen werden, unbefristete Dauerstel- strukturelle Problem für Langzeitstudien len auszubauen. Zum anderen kann auf benannt; gleichzeitig wurde die prinzipi- das „angelsächsische Modell“ mit einem elle Möglichkeit einer sachlich begründe- weitaus höheren Anteil an unbefristet be- ten wiederholten Befristung, wie dies z.B. schäftigten Wissenschaftlern verwiesen in Großbritannien und gegenwärtig in werden.39 Deutschland gilt, als wichtige Vorausset- zung der erfolgreichen Durchführung von Solange eine Längsschnittstudie Längsschnittstudien betont.41 Nur bedingt nicht als Daueraufgabe an einem For- und nur auf der internationalen Ebene schungsinstitut angesiedelt ist, sondern könnte die neu geschaffene Rechtsform sich aus Drittmitteln finanziert, wird aber der ERICs hier hilfreich sein, da sie vom ein Großteil der Mitarbeiter befristet ein- nationalen Arbeitsrecht abgekoppelt sind. gestellt werden müssen. Für diese Mitar- beiter sollte zumindest die Möglichkeit bestehen, sowohl längerfristige als auch aufeinanderfolgende befristete Verträ- ge abzuschließen. Gegenwärtig liefert in Deutschland das Wissenschaftszeit- vertragsgesetz (§ 2 Abs. 2 WissZeitVG) 40 Die gesetzliche Grundlage hierfür soll dem Arbeitneh- merschutz dienen. Nach den Vorgaben der Richtlinie hierfür eine Grundlage. Langfristige Fi- 1999/70/EG des Rates der Europäischen Union vom 28. Juni 1999 zur Umsetzung der EGB-UNICE-CEEP- nanzierung vorausgesetzt können so län- Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge gerfristige Verträge ausgestellt werden. sind die Mitgliedsstaaten angehalten, eine oder mehrere der folgenden Maßnahmen zu ergreifen, um Missbrauch Gleichermaßen können bei rechtzeitig ge- durch aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge oder -verhältnisse zu vermeiden: a) sachliche Gründe, die die Verlängerung solcher Verträge oder Verhältnisse 39 So waren der Higher Education Statistics Agency rechtfertigen; b) die insgesamt maximal zulässige Dauer (HESA) zufolge im akademischen Jahr 2011/2012 gut aufeinanderfolgender Arbeitsverträge oder -verhält- ein Drittel des wissenschaftlichen Personals an briti- nisse; c) die zulässige Zahl der Verlängerungen solcher schen Hochschulen bzw. ein Viertel der vollzeitbeschäf- Verträge oder Verhältnisse (§ 5 Abs. 1 der Rahmenver- tigten Wissenschaftler befristet angestellt (vgl. https:// einbarung). www.hesa.ac.uk/sfr185, Abruf 17.3.2016). 41 Vgl. Protokoll des ersten Fachgesprächs vom 12.5.2014. 68 Aktuelle Herausforderungen in Deutschland

5.3 Studentische Ausbildung und a) Universitäre Ausbildungsprogramme Kapazitätsentwicklung (Bachelor, Master, Diplom, Staatsexamen): Während eine 2-stufige Ausbildung Bevölkerungsweite Längsschnittstudien zu (Grundstudium, Aufbaustudium) grund- den in Kapitel 3 genannten inhaltlich zen- sätzlich sinnvoll erscheint, wird im Allge- tralen Bereichen der menschlichen Ent- meinen im Grundstudium weder das Be- wicklung, der Gesundheit, der Bildung, wusstsein für interdisziplinäres Arbeiten Ausbildung und Erwerbsbeteiligung sowie noch für die Wichtigkeit des Aufbaus von des erfolgreichen Alterns erfordern sowohl Datensätzen geweckt. Dies gilt sowohl für eine spezifische methodische Expertise die medizinische als auch sozioökonomi- wie auch die Fähigkeit, Wissensbestände sche Ausbildung im Grundstudium. Am aus verschiedenen Disziplinen zur Bear- ehesten funktioniert noch die statistische beitung innovativer Fragestellungen zu- Ausbildung für die Analyse von Daten in sammenzuführen. Zu den methodischen den Sozial- und Wirtschaftswissenschaf- Kompetenzen zählen bspw. Kenntnisse zur ten. Vor allem in der Ökonomie hat sich Entwicklung von Studiendesigns und von die moderne Ökonometrie durchgesetzt. Messverfahren – speziell in den Gebieten Hier sollte der Bezug auf konkrete Da- der Sozial- und Verhaltenswissenschaften tensätze jedoch gestärkt werden, um den sowie der Wirtschaftswissenschaften (z.B. Studierenden die praktische Anwendung computergestützte Erhebungsinstrumente) anschaulich vor Augen zu führen. – und zur qualitätsgesicherten Durchfüh- rung von bevölkerungsweiten Erhebungen. Medizin Zentrale Bedeutung besitzen Kenntnisse Durch bundeseinheitliche Prüfungsord- zu erforderlichen statistischen Methoden nungen sind die Ausbildungsinhalte im der Datenanalyse (v.a. Analyse von Längs- Medizinstudium stark reglementiert. schnittdaten, Mehrebenen-Analyse), zu Kenntnisse und Kompetenzen in den Be- meta-analytischen Techniken und zur Be- reichen Epidemiologie, Medizinsoziolo- arbeitung umfangreicher Datenmengen gie, Ökonomie, Biostatistik u.Ä. werden einschließlich der zentralen Aspekte der lediglich in marginalem Umfang vermit- Datensicherheit und des Datenschutzes. telt. Ausnahmen bieten einzelne Modell- Interdisziplinäres Arbeiten in diesem For- studiengänge: gegenwärtig ist das Mann- schungsbereich erfordert in erster Linie die heimer Curriculum der am weitesten Entwicklung von Fähigkeiten, sozial- und fortgeschrittene Versuch, Kompetenzen verhaltenswissenschaftliche Wissensbe- im Bereich Gesundheitsökonomie, Be- stände und Methoden mit biomedizini- triebswirtschaftslehre und Public Health schen Inhalten und Verfahren zu verbinden. bereits im Rahmen des Medizinstudiums Dies ist besonders evident in den Gebieten zu entwickeln. Generell gilt jedoch nach Epidemiologie und Demographie. wie vor, dass für wissenschaftlichen Nach- wuchs in der Bevölkerungsforschung eine Diese Erfordernisse werden in der postgraduale Zusatzqualifikation erfor- Regel weder in den etablierten universitä- derlich ist (s.u.). ren Ausbildungsprogrammen noch in der Förderung des wissenschaftlichen Nach- Sozial- und Wirtschaftswissenschaf- wuchses durch Graduiertenschulen und ten postgraduale Qualifizierungsprogramme In der Soziologie und den Wirtschaftswis- ausreichend berücksichtigt. Sie bilden senschaften ist die datenanalytische Aus- jedoch einen essentiellen Bestandteil bildung im Allgemeinen gut. Auf beide postgradualer Programme zu verstärkter Studienrichtungen trifft jedoch zu, dass Kapazitätsbildung auf dem Gebiet bevöl- oft nicht die für Längsschnittstudien er- kerungsweiter Längsschnittstudien. forderlichen methodischen Kompetenzen Aktuelle Herausforderungen in Deutschland 69

in ausreichender Tiefe vermittelt und die Dresden, Düsseldorf, Medizinische Hoch- Fähigkeiten zu interdisziplinärer Arbeits- schule Hannover, Ludwig-Maximilians- weise (z.B. mit der klinischen Medizin) Universität München). Eine vergleichbare hinreichend gefördert werden. Die Öko- Aktivität lässt sich bei Weiterbildungsstu- nometrie findet oft ohne einen Bezug auf diengängen in Epidemiologie erkennen. konkrete Daten und deren Schwierigkei- Diese werden, weitgehend koordiniert, ten statt; Datenerhebung und Survey-Me- an den Universitäten Bielefeld (in Zusam- thodologie fehlen in der Regel völlig: Da- menarbeit mit Duisburg-Essen, Münster ten kommen aus der Ethernet-Steckdose. und Düsseldorf), Mainz und an der LMU In der Soziologie und Demographie bie- München durchgeführt. München bietet ten z.B. nur wenige Standorte (Bremen, zusätzlich einen Master in Clinical and Mannheim, Humboldt-Universität Berlin, Genetic Epidemiology an, Heidelberg ei- Rostock, Bamberg, Duisburg-Essen) spe- nen Master in Biometry/Biostatistics, zialisierte Kurse zu Survey-Methodologie Leipzig einen Master in Clinical Research oder longitudinaler Datenanalyse an. Ein and Translational Medicine sowie einen Masterstudiengang in Survey-Manage- Master in Health Informatics, Greifswald ment ist in Mannheim in Kooperation mit einen Master in Community Medicine GESIS in Vorbereitung. and Epidemiologic Research, und Halle (Saale) einen Master in Health and Nur- Gesundheitswissenschaften sing. Geht man davon aus, dass jedes Mit der Bologna-Reform sind in mehre- Programm im Schnitt 20 Studienplätze ren Ländern Bachelor- und Masterstu- anbietet, sollte eine ausreichende Anzahl diengänge in einem interdisziplinären, von Nachwuchskräften für den hier zur inhaltlich und methodisch jedoch wenig Diskussion stehenden Forschungsbedarf konsistenten Gebiet „Gesundheitswis- vorhanden sein. Es muss sodann geprüft senschaften“ eingerichtet worden, deren werden, ob die Absolventinnen und Ab- Inhalte sich am ehesten mit jenen der vor- solventen für den spezifischen Bedarf aus- mals ausschließlich postgradual angebo- reichend qualifiziert sind. tenen „Master in Public Health“-Ausbil- dung vergleichen lassen. In Deutschland Zusätzlich bieten einige der ge- sind diese Studiengänge überwiegend an nannten Universitäten, teilweise koordi- Fachhochschulen angesiedelt, lediglich niert durch die entsprechende Fachgesell- die Universitäten Bielefeld, Charité Ber- schaft, Sommer- oder Winterkurse an, die lin und Bremen bieten Public Health als spezielle Kenntnisse in den Gebieten Epi- Grundstudium an. Die dabei vermittel- demiologie und Biostatistik vermitteln. ten Kenntnisse reichen jedoch als einzige Qualifikation für einen Einstieg in die hier Auch im Bereich der Sozialwissen- diskutierte Forschung in der Regel nicht schaften besteht ein reichhaltiges Ange- aus. bot an Sommer- bzw. Winterkursen und themenspezifischen Workshops, das bun- b) Postgraduale Studienprogramme desweit von GESIS entwickelt und durch- (Masterstudiengänge Public Health, geführt wird. Epidemiologie und verwandte Gebiete) In diesem Bereich hat sich in den ver- Die Vorgängerinstitute von GE- gangenen zwei Jahrzehnten eine überaus SIS, insbesondere das Zentralarchiv für dynamische Entwicklung ereignet. So bie- empirische Sozialforschung (ZA) in Köln ten mindestens sieben Universitäten ak- und das Zentrum für Umfragen, Metho- kreditierte Weiterbildungsstudiengänge den und Analysen (ZUMA) in Mannheim, in Public Health an (Charité Berlin, Bie- haben bereits seit den 1970er Jahren wis- lefeld, Bremen, Technische Universität senschaftliche Methodentrainings ange- 70 Aktuelle Herausforderungen in Deutschland

boten. GESIS führt diese nicht nur weiter, und Vorhersagen vermittelt. Die Lehre sondern hat das Programm in den ver- übernehmen führende internationale Ex- gangenen Jahren substantiell ausgewei- pertinnen und Experten für ihr jeweiliges tet, z.B. durch die neue GESIS Summer Fachgebiet. Ein Schwerpunkt liegt dabei School in Survey Methodology (seit 2012) auf der Survey-Methodologie und den und die Ausweitung der GESIS Work- statistischen Methoden zur Panelanalyse. shops. Im Jahr 2014 haben erstmalig über 1 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, Am MPI für demografische For- davon gut 50 Prozent Promovierende und schung in Rostock in Kollaboration mit 25 Prozent aus dem Ausland, die Ange- der Universität Rostock ist das Trainings- bote wahrgenommen. Die 50–60 Kurse programm International advanced stu- jährlich haben zwar sozialwissenschaft- dies in DEMography angesiedelt. Auch liche Methoden zum Inhalt, wenden sich hier liegt ein Schwerpunkt auf der Analyse jedoch nicht nur an Sozialwissenschaftle- von Survey-Daten. rinnen und -wissenschaftler, sondern an alle, die die entsprechenden Methoden er- Das SOEP bietet eine gezielte Wei- lernen und anwenden möchten. Interdis- terbildung (SOEP@campus) an. Diese ziplinarität und Internationalität der Teil- beinhaltet über ein Dutzend Weiterbil- nehmerschaft sind explizit gewollt. Durch dungsveranstaltungen pro Jahr und hat Kooperationen mit Universitäten werden dafür einen ausschließlich dafür zustän- für die Teilnahme an Kursen zunehmend digen mit der Universität Bielefeld ge- ECTS-Punkte vergeben. Allerdings wer- meinsam berufenen Juniorprofessor ein- den Methoden von Längsschnittanalysen gestellt. bisher nur vereinzelt und ausschnitthaft angeboten. Insbesondere die systemati- d) Förderprogramme für Qualität und sche Einführung sowohl in algorithmische Kontinuität (z.B. Sequenzanalysen) als auch probabi- Obwohl in der universitären Lehre und listische Methoden (Ereignisanalysen, Forschung international eine Reihe ent- Latent-growth-Modelle) fehlt vollständig. sprechender Modelle vorliegt, bedarf es Es ist dringend erforderlich, das Angebot in der Regel spezieller Förderprogramme, im Bereich Methoden der Erhebung und um deren Qualität und Kontinuität an- Analyse längsschnittlicher Daten rasch hand zusätzlich verfügbarer Mittel zu si- auszuweiten. chern. Zwei Beispiele aus Großbritannien sollen dies belegen. c) Doktorandenschulen Im Bereich der Demographie hat sich im Erstens hat der britische ESRC ein letzten Jahrzehnt mit der „European Doc- mehrjähriges Förderprogramm zur Stär- toral School of Demography“ (EDSD)42 kung von Kenntnissen und Kompetenzen ein 11-monatiges Ausbildungsprogramm im Schnittfeld sozial- und wirtschaftswis- etabliert, das sich an Studierende mit ei- senschaftlicher sowie epidemiologischer nem Masterabschluss richtet, die sich im Methoden aufgelegt. Es wird vom Natio- ersten Jahr ihrer Promotion befinden. In nalen Zentrum für Forschungsmethoden der Doktorandenschule wird den Studie- in Southampton landesweit koordiniert, renden ein solides Basiswissen über die wobei Kooperationen mit den Universi- Ursachen und Konsequenzen des demo- täten Essex, Manchester und Edinburgh graphischen Wandels, über Populations- entwickelt wurden. Das Förderprogramm daten, statistische und mathematische enthält insgesamt drei Qualifizierungs- Demographie, Modellierung, Simulation stufen in Grund- und Aufbaustudium sowie in Promotions- und postgradualen 42 Vgl. www.eds-demography.org (Abruf 21.3.2016). Programmen, wobei im Kontext dieser Aktuelle Herausforderungen in Deutschland 71

Stellungnahme insbesondere die dritte zuführen und diesen Prozess dem wissen- Förderstufe von Interesse ist.43 schaftlichen Nachwuchs zu vermitteln. Am ISER besteht ferner die Möglichkeit, Ein zweites Beispiel stellt das be- in den Gebieten Health Research und reits erwähnte Projekt CLOSER dar (vgl. Survey Methodology zu promovieren, mit Abschnitt 4.5). Zu den zentralen Aufgaben speziellem Bezug zu laufenden Kohorten- von CLOSER gehört die Entwicklung und studien.45 CLOSER wird bis 2017 geför- Durchführung von Trainingskursen, die dert. Zurzeit wird über eine internationale auf drei Ebenen angeboten werden. Die Ausweitung des Programms nachgedacht erste Ebene betrifft Einführungskurse, – eine Initiative, von der auch Deutsch- speziell für Nachwuchskräfte. Hier wer- land profitieren könnte (vgl. Kapitel 6) –, den bspw. die erforderlichen Software- umso mehr, als Investitionen in qualitativ Programme eingeführt, und es werden un- hochstehende Sekundärdatenanalysen, ter Anleitung Übungen zu Datenanalysen Verknüpfung von Primärdaten mit admi- anhand eines eigens zu Trainingszwecken nistrativen Daten sowie studienübergrei- zusammengestellten Datensatzes durch- fende Datenanalysen durch wissenschaft- geführt. Auf der zweiten Ebene werden liche Netzwerke deutlich kostengünstiger für Fortgeschrittene Vertiefungskurse zu sind als die Initiierung neuer Studien. In zentralen methodischen und inhaltlichen diesem Prozess internationaler Koopera- Fragestellungen aus den laufenden Studi- tion spielen länderübergreifende Fachge- en angeboten. Bisher wurden Workshops sellschaften eine wichtige Rolle. In erster zu folgenden Themen durchgeführt: Fort- Linie betrifft dies die Society for Longitu- schritte bei Verfahren der Datenharmo- dinal and Lifecourse Studies (SLLS), die nisierung; Integration biologischer und European Society of Epidemiology, die soziologischer Daten; Verknüpfung von European Public Health Association (EU- Primärdaten und administrativen Daten. PHA) und die European Society of Health Die dritte Ebene enthält spezialisiertes and Medical Sociology (ESHMS). Wissen zu Problemstellungen, die sich während der Forschungsarbeit ergeben. Hier werden bspw. von Expertinnen und Experten neue statistische Verfahren der Analyse von Längsschnittdaten dargestellt und theoretische Modelle der Lebenslauf- forschung diskutiert. Besondere Priorität wird den Verfahrensweisen bei studien- übergreifenden vergleichenden Analysen eingeräumt.44 Eine prägende Rolle kommt hierbei dem ISER der Universität Essex zu, in dem das Studienzentrum der Längs- schnittuntersuchung Understanding So- ciety beheimatet ist. Dort ist bspw. eine eigene Professur für Biologische und So- ziale Epidemiologie eingerichtet worden, deren Aufgabe darin besteht, die sozial- wissenschaftlichen und biomedizinischen Untersuchungskomponenten zusammen-

43 Zu Einzelheiten vgl. http://www.ncrm.ac.uk (Abruf 17.3.2016). 44 Vgl. http://www.closer.ac.uk (Abruf 17.3.2016). 45 Vgl. http://www.iser.essex.ac.uk (Abruf 17.3.2016). 72 Empfehlungen

6 Empfehlungen

Die in Kapitel 5 aufgezeigten aktuellen strukturen bereitstellen können, so- Herausforderungen in Deutschland füh- lange das wissenschaftliche Interesse ren zu den folgenden Empfehlungen der an ihnen weiterbesteht und die Qua- Arbeitsgruppe: lität nachgewiesen wird. Dafür sollte der Ausbau von Leibniz-Instituten als Empfehlung 1: Nationale Förderinitiative Infrastruktureinrichtungen für Längs- für interdisziplinäre Längsschnittstudien schnittstudien bei der laufenden Pla- 1.1 Bevölkerungsweite Längsschnittstu- nung für Neuaufnahmen in die Leib- dien sind nationale Forschungs­infra­ niz-Gemeinschaft vorgesehen werden. strukturen, die – vielfach im interna- Dabei sollten die neuen Möglichkeiten tionalen Kontext – eine essentielle genutzt werden, die die Änderung von Grundlage für demographische, biome- Art. 91b Abs. 1 GG für die Einrichtung dizinische, sozioökonomische und ver- von Leibniz-Instituten als universitäre haltenswissenschaftliche Forschungs- Leibniz-Forschungszentren bietet. projekte bilden. Ihre finanzielle und 2.2 Da die Etablierung und Bund-Länder- organisatorische Unterstützung sollte finanzierte Neugründung eines mit daher eine nationale Aufgabe sein. einer Universität verbundenen oder 1.2 Die Arbeitsgruppe empfiehlt eine nati- außeruniversitären Instituts jedoch onale Förderinitiative zur Stärkung der nicht immer sinnvoll ist, empfiehlt die interdisziplinären Zusammenarbeit bei Arbeitsgruppe daher zum anderen, als der Durchführung bevölkerungsweiter alternative Form der Institutionalisie- Längsschnittstudien, insbesondere rung auf Zeit, eine Aufhebung der Be- zwischen den biomedizinischen und grenzung der DFG-Langzeitvorhaben sozioökonomischen Wissenschaften. auf zwölf Jahre, da diese Zeitspanne Sie empfiehlt eine gezielte Ausschrei- für die hier im Interesse stehenden bung von biomedizinisch-sozioöko- Längsschnittstudien nicht sachge- nomischen Forschungskooperationen recht ist. Zudem ist der dreijährige nach dem Beispiel des US-amerikani- Begutachtungszeitraum zu kurzfristig schen National Institute on Aging bzw. und kollidiert mit den Wiederbefra- der engen Kooperation zwischen dem gungszyklen vieler Längsschnittstu- Medical Research Council und dem dien. Er sollte dem Vorgehen der US Economic and Social Research Council National Institutes of Health entspre- in Großbritannien. chend auf 5–6 Jahre erhöht werden. 2.3 Innerhalb der DFG sollte die Be- Empfehlung 2: Langfristige gutachtung solcher Initiativen und Förderinstrumente Forschungsinfrastrukturen „entsiloi­ 2.1 Die Arbeitsgruppe empfiehlt den Aus- siert“ werden und die spezifische bau und die Schaffung von Förder- Vernetzung des Gesamtsystems der instrumenten, die eine auf der Basis Wissenschaft in Deutschland genutzt periodischer Begutachtungen im Prin- werden. Bei Langzeitvorhaben sollte zip unbeschränkt oft verlängerbare der entsprechende Querschnittsfach- Finanzierung von Forschungsinfra- ausschuss proportional aus Wissen- Empfehlungen 73

schaftlerinnen und Wissenschaftlern Forschungsinfrastruktur dann auch derjenigen Fachgebiete zusammen- auf- bzw. weitergebaut werden kann. gesetzt werden, welche die jeweilige Im Zusammenhang mit Empfeh- Forschungsinfrastruktur entwickeln lung 2.4 ist hier insbesondere ein eige- oder bedienen und von Expertinnen ner Etat für Forschungsinfrastruktu- und Experten aus bestehenden Infra- ren der ESFRI-Roadmap zu nennen. strukturen ergänzt werden. 3.2 Ferner sollten die bestehenden nati- 2.4 Ebenfalls nicht sachgerecht ist die onalen Längsschnittstudien (bspw. bisher gültige Entscheidung, sämt- Nationale Kohorte in Deutschland liche Kosten für die Erstellung von und CONSTANCES-Studie in Frank- bevölkerungsweiten Längsschnittstu- reich; HLS-Studie in Großbritannien, dien ausschließlich als Betriebskos- SOEP und mehrere assoziierte und ten einzustufen. Vielmehr entspricht kooperierende prospektive Kohorten- der Aufbau solcher nationalen For- studien) über die Landesgrenzen hin- schungsinfrastrukturen sowohl in- aus stärker harmonisiert und daten- haltlich als auch organisatorisch der schutzrechtlich geregelte Formen des Erstellung physikalischer Großgeräte. Datentransfers über die Landesgren- Erhebungskosten, Kosten für Har- zen erleichtert werden (Bsp. Trans- monisierung und Standardisierung, ferstelle des Forschungsverbundes Qualitätssicherung, Zertifizierung Community Medicine der Universität für Erhebungspersonal sowie Auf- Greifswald). bau des Datenmanagements und der Datensicherheit sind daher sowohl Empfehlung 4: Ressourcen für als Betriebs- als auch Konstruktions- Datenharmonisierung, -dokumentation kosten anzuerkennen, zumal sowohl und -verknüpfung der Aufbau und auch der laufen- 4.1 Um die disziplinenübergreifende Nut- de Betrieb von bevölkerungsweiten zung von Längsschnittstudien zu in- Längsschnittstudien ebenso Arbeits- tensivieren, sollten Möglichkeiten der plätze schaffen wie z.B. die Herstel- Harmonisierung zwischen den einzel- lung physikalischer Großgeräte. Die nen Studien überprüft und bis zum Arbeitsgruppe empfiehlt daher, im Pooling von Daten ausgebaut werden. Forschungsetat des Bundes einen 4.2 Im Sinne verstärkter Nutzerfreund- Posten für biomedizinisch-sozioöko- lichkeit sollten die Informationen zu nomische Forschungsinfrastrukturen Design und Dateninhalten von Sur- zu schaffen, u.U. unter Ausnutzung veys einheitlicher aufbereitet und zen- von Art. 91b GG, der bis zu 90 Prozent tral verfügbar gemacht werden. Dazu Bundesfinanzierung ermöglicht. sollten standardisierte Verfahren ei- ner nutzerfreundlichen längsschnitt- Empfehlung 3: Bessere Koordinierung lichen Metadatenbereitstellung ange- mit der europäischen Ebene wendet werden. 3.1 Die Arbeitsgruppe empfiehlt eine bes- 4.3 Der Datenzugriff sollte durch ein sur- sere Koordinierung zwischen der eu- veyübergreifendes Internet-basiertes ropäischen und der deutschen Road- Portal erleichtert werden. map für Forschungsinfrastrukturen. 4.4 Juristische und technische Möglich- Dies erfordert insbesondere, dass eine keiten zur Verlinkung von Survey und Zustimmung Deutschlands auf euro- administrativen Daten sollten ausge- päischer Ebene zu einer Forschungs- baut werden („data matching and lin- infrastruktur auch die Bereitstellung kage“), ebenso die Verknüpfung der eines Finanzierungsmechanismus bevölkerungsbezogenen Daten mit impliziert, der sicherstellt, dass diese georeferenzierten Umweltdaten sowie 74 Empfehlungen

die Sicherstellung von Datenschutz bildungsprogramme für allgemeines und Probandenethik. All dies erfor- Forschungs- und Projektmanage- dert zusätzliche Ressourcen, die Teil ment, jedoch nicht für derart kom- der Studienfinanzierung sein sollten. plexe, umfangreiche und langfristi- ge Projekte wie bevölkerungsweite Empfehlung 5: Karrierepfade für Längsschnittstudien. Entsprechende leitende Studienmitarbeiterinnen Kurse sollten in die Strukturen einge- und -mitarbeiter bettet werden, die laut Empfehlung 8 5.1 Während Studienleiter zumeist feste geschaffen werden sollten. Stellen als vielfach gemeinsam be- 6.2 Die Arbeitsgruppe empfiehlt ­ferner, rufene Professoren oder Institutsdi- die leitenden Studienmitarbeite- rektoren innehaben, gibt es für die rinnen und -mitarbeiter v.a. der leitenden Mitarbeiter auf der zweiten außeruniversitären­ Forschungsein- Hierarchieebene derzeit keine Kar- richtungen auch wissenschaftlich wei- rierepfade, die über die größtenteils terzubilden, indem sie besser in die zeitlich befristeten Stellen des aka- jeweiligen Universitäten und Gradu- demischen Mittelbaus hinausgehen. iertenschulen eingebunden werden, Selbst in außeruniversitären Insti- mit dem Ziel, selbst künftige Promo- tuten, die grundsätzlich Entfristun- vierende mit empirischem Schwer- gen erlauben, sind bislang keine re- punkt betreuen zu können. Dies erfor- gelhaften Karrierepfade für leitende dert eine Studienfinanzierung, welche Mitarbeiter von Längsschnittstudien der zusätzlich erforderlichen Zeit für entwickelt worden. Da diese Mitarbei- Weiterbildung Rechnung trägt. ter ein für bevölkerungsweite Längs- schnittstudien unabdingbares Erfah- Empfehlung 7: Ausbildung an rungspotenzial besitzen, empfiehlt Universitäten die Arbeitsgruppe, hier in Analogie 7.1 Um dem steigenden Qualifizierungs- zu Tenure-Track-Professuren Karri- bedarf Rechnung zu tragen und einen erepfade zu schaffen, die es ermög- qualitativ hochwertigen, langfristig lichen, dass leitende Mitarbeiterin- kompetitiven Stand der Forschung nen und Mitarbeiter als „Laborleiter“ auf dem Gebiet bevölkerungsweiter Dauerstellen innehaben können mit Längsschnittstudien in Deutschland einer Vergütung, welche die von W2- zu erreichen, sollte bereits in der Professuren erreichen kann. universitären Grundausbildung der 5.2 Die entsprechende Anfangs- und Wei- entsprechenden Kerndisziplinen eine terqualifizierung sollte entsprechend gezielte Wissens- und Kompetenzent- den nachfolgenden Empfehlungen ge- wicklung erfolgen. sichert werden. 7.2 In der Soziologie und den Wirtschafts- wissenschaften ist die datenanalyti- Empfehlung 6: Weiterbildungsprogram- sche Ausbildung im Allgemeinen gut, me für leitende Studienmitarbeiterinnen jedoch mangelt es an der datengene- und -mitarbeiter rierenden Ausbildung. Daher soll- 6.1 Leitende Studienmitarbeiterinnen ten im Rahmen von Masterstudien- und -mitarbeiter sollten eine struktu- gängen auch spezialisierte Kurse zu rierte Weiterbildung in Forschungs- Survey-Methodologie und Datener- und Projektmanagement erhalten. hebung angeboten werden. Dies gilt Diese sollte Voraussetzung für den auch für die Politikwissenschaft und Aufstieg im Rahmen der in Empfeh- die Psychologie. An einzelnen Uni- lung 5 vorgeschlagenen Karrierepfade versitäten sollten darüber hinaus ent- sein. Zwar gibt es zahlreiche Weiter- sprechende Masterstudiengänge mit Empfehlungen 75

einem inhaltlichen und methodischen 8.2 Entsprechend maßgeschneiderte Qua- Schwerpunkt auf dem Gebiet der Ge- lifizierungsangebote sollten teils stand- sundheits- und Medizinsoziologie ortgebunden, teils standortübergrei- entwickelt werden. fend entwickelt werden, entweder im 7.3 Im Medizinstudium sollten innerhalb Rahmen der Weiterbildungsangebote der bestehenden Curricula in Epide- von GESIS oder an von der DFG geför- miologie und Public Health metho- derten Graduiertenschulen oder – im dische Kompetenzen der Datener- Verbund kooperierender Studienzen- hebung und -auswertung vermittelt tren – als nationale Förderinitiative, werden. Zusätzlich sollten Modellstu- welche bspw. in Analogie zum briti- diengänge gefördert werden, in denen schen CLOSER-Projekt realisiert wer- Medizinstudierende eine Zusatzqua- den könnte. lifikation in einem für die bevölke- 8.3 Zentrales Ziel einer entsprechenden rungsweite Gesundheitsforschung re- nationalen Förderinitiative sollte levanten Gebiet erwerben können. neben der wissenschaftlichen Kapa- 7.4 Forschungsinteressierten Ärztinnen zitätsbildung die Stärkung disziplin- und Ärzten sollte nach Abschluss des übergreifender Forschungskooperati- Medizinstudiums der Zugang zu post- onen sein. gradualen berufsbegleitenden Aus- bildungsprogrammen (v.a. Master of Science in Epidemiologie, Master of Science in Public Health) erleichtert werden. Die bereits bestehenden post- gradualen Studiengänge sollten ge- zielt weiterentwickelt werden, um den Anschluss an führende internationale Ausbildungsprogramme zu erreichen.

Empfehlung 8: Kapazitätsentwicklung durch wissenschaftliche Nachwuchsför- derung 8.1 Die Kapazität an wissenschaftlichen Nachwuchskräften für bevölkerungs- weite Längsschnittstudien sollte deutlich erhöht und durch überre- gionale Promotionsprogramme und Post-Doc-Ausbildung besser geför- dert werden. Zwar besteht bereits ge- genwärtig ein Angebot an postgradu- alen Zusatzqualifikationen sowie an nationalen und internationalen Trai- ningskursen, jedoch fehlt eine wissen- schaftliche Qualifizierung zur Bear- beitung der spezifischen inhaltlichen und methodischen Anforderungen, die sich im Rahmen bevölkerungswei- ter Längsschnittstudien ergeben, ins- besondere, wenn sozialwissenschaft- liche und biomedizinische Aspekte verbunden werden sollen. 76 Literaturverzeichnis

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8 Abkürzungsverzeichnis

ALLBUS Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften BA Bundesanstalt für Arbeit BASE Berliner Altersstudie BBMRI-ERIC Biobanking and BioMolecular Resources Research Infrastructure BCS70 British Cohort Study BHPS British Household Panel Survey BIP Bonn Intervention Study BLK Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung BMBF Bundesministerium für Bildung und Forschung BMFSFJ Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend CAPI Computer Assisted Personal Interview CEEP European Centre of Enterprises with Public Participation and of Enterprises of General Economic Interest CiLL Competencies in Later Life CILS4EU Children of Immigrants Longitudinal Survey in Four European Countries CLOSER Cohort and Longitudinal Studies Enhancement Resources-Projekt CONOR Cohort of Norway CONSTANCES Epidemologische Kohortenstudie des Centre de recherche en épidémiologie et santé des populations (CESP) DAAD Deutscher Akademischer Austauschdienst DBS Dried Blood Spot DEAS Deutscher Alterssurvey DEGS Studie zur Gesundheit von Erwachsenen in Deutschland DemoDiff Demographic Differences in Life Course Dynamics in Eastern and Western Germany DFG Deutsche Forschungsgemeinschaft DIW Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung DOI Digital Object Identifier DZA Deutsches Zentrum für Altersfragen EATRIS European Infrastructure for Translational Medicine ECHP European Community Household Panel ECTS European Credit Transfer and Accumulation System EDSD European Doctoral School of Demography EGB Europäischer Gewerkschaftsbund ELIXIR European Life-sciences Infrastructure for Biological Information ELSA English Longitudinal Study of Ageing 84 Abkürzungsverzeichnis

EMBL-EBI European Bioinformatics Institute am European Molecular Biology Laboratory ERIC European Research Infrastructure Consortium ESFRI European Strategy Forum for Research Infrastructures ESHMS European Society of Health and Medical Sociology ESRC Economic and Social Research Council ESS European Social Survey EUPHA European Public Health Association EU-SILC European Union Statistics on Income and Living Conditions FFS Family and Fertility Survey FiD Familien in Deutschland GESIS Gesellschaft Sozialwissenschaftlicher Infrastruktureinrichtungen, heute Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften GGS Generations and Gender Survey GHS Gutenberg-Gesundheitsstudie GLHS German Life History Study, Deutsche Lebensverlaufsstudie GWK Gemeinsame Wissenschaftskonferenz HAPIEE Health, Alcohol and Psychosocial Factors in Eastern Europe HGF Helmholtz-Gemeinschaft HRS Health and Retirement Study, Studie zu Gesundheit und Berentung HSE Health Study of England IAB Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung INSERM Institut national de la santé et de la recherche médicale INSERM-UMS 011 Forschungsgruppe „Population-Based Epidemiological Cohorts“ am INSERM und der Versailles Saint Quantin University ISCED International Standard Classification of Education ISCO International Standard Classification of Occupations ISER Institute for Social and Economic Research KiGGS Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland KORA Kooperative Gesundheitsforschung in der Region Augsburg LIfBi Leibniz-Institut für Bildungsverläufe MONICA Multinational Monitoring of Trends and Determinants in Cardiovascular Disease Morbi-RSA Morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich MPG Max-Planck-Gesellschaft MPI Max-Planck-Institut MRC Medical Research Council NAKO Nationale Kohorte NEPS National Educational Panel Study, Nationales Bildungspanel NIA National Institute on Aging NIH National Institutes of Health NCDS National Child Development Study NORFACE New Opportunities for Research Funding Agency Co-operation in Europe NSHD National Survey of Health and Development Abkürzungsverzeichnis 85

pairfam Panel Analysis of Intimate Relationships and Family Dynamics, Beziehungs- und Familienpanel PASS Panel Arbeitsmarkt und soziale Sicherung PHF Panel on Household Finances PIAAC Programme for the International Assessment of Adult Competencies PIAAC-L PIAAC-Langzeitstudie deutschlandweit PISA-Studie Internationale Schulleistungsstudie der OECD PROCAM-Studie Prospective Cardiovascular Münster Study PSID Panel Study of Income Dynamics Recall Heinz Nixdorf Recall Studie und MehrGenerationenStudie RItrain Research Infrastructure Training Programme SAVE Sparen und Altersversorgung in Deutschland SCORE-Projekt Systematic Coronary Risk Evaluation-Projekt der European Society of Cardiology SHARE Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe, Survey zu Gesundheit, Altern und Berentung in Europa SHIP Study of Health in Pomerania (ab 1997) SHIP-Trend neue Kohorte der Study of Health in Pomerania (ab 2008) SLLS Society for Longitudinal and Lifecourse Studies SOEP Sozio-oekonomisches Panel SOEP Core ein Format des Sozio-oekonomischen Panels über Lebensbedingungen in privaten Haushalten SOEP-FiD SOEP „Familien in Deutschland“ SOEP-IS SOEP Innovationsstudie SUF Scientific-Use-File UCL University College London UNICE Union of Industrial and Employers’ Confederation of Europe VZÄ Vollzeitäquivalent WGL Wissenschaftsgemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibniz e. V., Leibniz-Gemeinschaft ZA Zentralarchiv für empirische Sozialforschung ZUMA Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen 86 Glossar

9 Glossar

Ätiologie bei erkrankten Personen im Vergleich zu demje- Ursache einer Erkrankung oder Störung bzw. nigen bei gesunden Kontrollpersonen untersucht Faktoren, die mit deren Entstehung zusammen- wird. hängen. Genotypisch Aggregatdaten Eine durch das individuelle Erbgut bestimmte Daten, welche zwar Personenmerkmale (z.B. Eigenschaft. Schulabschluss) enthalten, diese jedoch als An- teile, Summen oder Mittelwerte auf ein Perso- Gen×Umwelt-Interaktion nenkollektiv beziehen (z.B. der Anteil von Perso- Man spricht von Gen×Umwelt-Interaktionen, nen mit Abitur in einem Wohnviertel oder deren wenn die Auswirkung von Umwelteinflüssen Durchschnittseinkommen). abhängig von der individuellen genetischen Vo- raussetzung ist. B-Zellen Sie gehören zur Zellgruppe der Lymphozyten Granger-Kausalität und sind die einzigen Zellen, die Antikörper bil- Eine von Clive Granger vorgeschlagene Definiti- den können. Daher spielen sie eine entschei- on der Kausalität, die auf dem „post hoc, ergo dende Rolle für das Immunsystem. propter hoc“-Prinzip basiert. Eine Variable X ist für eine Variable Y „Granger-kausal“, wenn die Bias Erklärung von Y zum Zeitpunkt t nach Berück- In der Statistik wird damit ein systematischer sichtigung einer bestimmten Anzahl von Werten Fehler bzw. eine systematische Abweichung von der Variable Y vor dem Zeitpunkt t durch Hinzu- einem unbekannten wahren Wert bezeichnet. fügen von Werten von X, die ebenfalls vor dem Vgl. z.B. Recall-Bias. Bias-Kontrolle, etwa bei Be- Zeitpunkt t liegen, verbessert werden kann. fragungsergebnissen, ist eine wichtige Aufgabe qualitätsbewusster Forschung (z.B. durch Ran- Individualdaten domisierung). Im Gegensatz zu Aggregatdaten beziehen sie sich stets auf die einzelne Person, d.h., sie wur- Demographie den von bzw. an Personen erhoben. Bevölkerungslehre, wissenschaftliche Analyse des Aufbaus und der Entwicklung von Bevölke- Interventionsstudie rungen. Studie, in welcher durch gezielte Veränderung eines wichtigen Einflusses (z.B. des Risikofak- Epidemiologie tors einer Krankheit) dessen Auswirkung auf die Wissenschaftszweig, der sich mit der Verteilung Zielgröße untersucht wird (z.B. Senkung des Lun- von Krankheiten (deskriptive E.), deren Deter- genkrebsrisikos durch Verzicht auf Zigarettenrau- minanten (analytische E.) und deren Prävention chen). Eine besonders beweiskräftige Form der I. (interventionelle E.) befasst. stellt die randomisierte kontrollierte Studie dar.

Fall-Kontroll-Studie Inzidenz In der Epidemiologie verwendetes Studiendesign, Die Häufigkeit des neuen Auftretens einer in dem retrospektiv das Ausmaß der Exposition Krankheit in einem definierten Zeitraum. Glossar 87

Killerzellen Metadaten Zellen des Immunsystems, die veränderte, ab- Daten, die Informationen über Merkmale ande- normale Körperzellen, z.B. Tumorzellen, erken- rer Daten enthalten. Beispiele sind Antwortraten nen und abtöten können. (der Anteil der Stichprobe, der an der Befragung letztendlich teilgenommen hat) oder Daten zur Kohorte methodischen Durchführung einer Studie. In der Demographie definiert eine Kohorte eine Gruppe von Menschen, die im gleichen Zeit- Millenium-Kohorte raum geboren sind und die damit gleichen so- Große Geburtskohortenstudie, die in Großbri- zioökonomischen und historischen Konstellatio- tannien im Jahr 2000 initiiert wurde. nen unterliegen. In der Epidemiologie definiert eine Kohorte eine Bevölkerungsgruppe, die von Mitogeninduzierte Zellproliferation einem gleichen Zeitpunkt an prospektiv unter- Durch ein Protein, welches die Zellteilung an- sucht wird (vgl. Kohortenstudie). regt, induziertes schnelles Wachstum bzw. Ver- mehrung von Gewebe. Kohortenstudie Längsschnittstudie an einer Bevölkerungs- Morbidität gruppe, die von einem gleichen Zeitpunkt an Maß der Häufigkeit einer bestimmten Krankheit, prospektiv verfolgt, d.h. untersucht wird (z.B. im Unterschied zu Mortalität, welche die Häu- Geburtskohortenstudie: Stichprobe Neugebo- figkeit von Sterbefällen in einer Population in rener, die im gleichen Jahr bzw. am gleichen einem definierten Zeitraum bezeichnet. Tag geboren wurden). Kohortenstudien eignen sich zur Entdeckung neuer Risikofaktoren einer Odds Ratio Zielkrankheit bei Bevölkerungsgruppen, die bei (auch Quoten- oder Chancenverhältnis) Untersuchungsbeginn frei von dieser Zielkrank- In der Epidemiologie ist die O. eine Maßzahl, die heit sind. ausdrückt, um wie viel höher die Wahrscheinlich- keit einer exponierten Person ist, eine mit der Längsschnittstudie Exposition assoziierte Krankheit zu erleiden, im Beobachtungsstudie an einer Population über Vergleich zur Erkrankungswahrscheinlichkeit ei- einen längeren Zeitraum, in der die gleichen In- ner nicht-exponierten Person (deren Risiko als 1.0 dividuen immer wieder befragt werden, so dass festgesetzt wird). Zwischen der O. und dem rela- die individuellen Veränderungen ihrer Merkma- tivem Risiko besteht ein enger Zusammenhang. le über die Zeit gemessen werden können. Oversampling Latenzmodell In einer Stichprobenauswahl ist eine Teilpopula- Ein Modell, welches besagt, dass sich soziale tion stärker vertreten, als es ihrem Anteil in der Benachteiligung der Eltern v.a. in einem ungüns- Gesamtpopulation entspricht. tigen Schwangerschaftsverlauf (fötale Program- mierung) und in prekären materiellen und sozioe- Panelstudie motionalen Bedingungen sensitiver postnataler Studie, die wiederholt über einen definierten Entwicklungsphasen des Kindes manifestiert. Zeitraum mit gleichen Inhalten an der gleichen Bevölkerungsgruppe durchgeführt wird. Wenn Longitudinalstudie bzw. longitudinale unterschiedliche Ziele mit einem solchen De- Datenanalyse sign verbunden werden, spricht man von Mehr- Siehe Längsschnittstudie. zweckpanel.

Paradaten Daten, die bei einer Befragung neben den Daten, die man eigentlich gewinnen wollte, entstehen. 88 Glossar

Phänotypisch Randomisierte Experimente Die Menge aller Merkmale eines Organismus Versuche, bei denen die Versuchspersonen betreffend (z.B. Größe, Gewicht etc.). Neuer- durch einen Zufallsmechanismus unterschiedli- dings werden auch sozioökonomische Merkma- chen Gruppen zugeordnet werden. le dazugerechnet. Randomisierte kontrollierte Studie (RCT) Prävalenz Ein v.a. in der klinischen Medizin angewandtes Eine Kennzahl für die Krankheitshäufigkeit in- experimentelles Studiendesign, in welchem die/ nerhalb einer Bevölkerung zu einem bestimm- der Untersucherin/Untersucher den Studienteil- ten Zeitpunkt. nehmerinnen und -teilnehmern eine Interventi- on nach Zufallsprinzip zuteilt. Die R. gilt als Gold- Primärdaten standard für die Bewertung der Wirksamkeit Zum Zweck der Beantwortung einer wissen- von Interventionen/Therapien, da sie mögliches schaftlichen Untersuchungsfrage neu gesam- Bias besser als Beobachtungsstudien kontrollie- melte Daten (vgl. auch Sekundärdaten). ren kann (vgl. auch Bias).

Primärprävention Recall-Bias Die Gesamtheit aller Maßnahmen, die den Er- Eine Fehlerquelle in retrospektiven Studien halt der Gesundheit von einzelnen Individuen, durch Erinnerungsfehler bzw. kognitive Verzer- Personengruppen oder einer Population zum rung. Ziel haben, eine Krankheit verhindern oder de- ren Entstehung verlangsamen. Register Eine in der Regel amtliche und die gesamte Be- Prospektive Studie völkerung umfassende Datensammlung, welche Eine Längsschnittstudie, die sich zur Überprü- Daten (Registerdaten) zu unterschiedlichen The- fung von Hypothesen über Ursache-Wirkungs- men nach einheitlichen Kriterien dokumentiert Beziehungen eignet, soweit dies im Rahmen von (z.B. Melderegister, Steuerregister, Krankheits- Beobachtungsstudien möglich ist (vgl. auch Ko- register). hortenstudie). Repräsentative Stichprobe Psychische Resilienz Ein aus einer Grundgesamtheit ausgewählter Die Fähigkeit, Krisen zu bewältigen und durch Personenkreis, wobei das Auswahlverfahren si- den Umgang mit diesen eine persönliche Wei- cherstellt, dass der ausgewählte Personenkreis terentwicklung zu vollziehen. die Grundgesamtheit in zentralen Merkmalen repräsentiert. Public Health Wissenschaftliches Programm zur Erforschung Retrospektivdaten und Verbesserung des Gesundheitszustands Daten, die durch die Befragung zu vergangenen ganzer Bevölkerungen P. gliedert sich in einen Ereignissen gewonnen werden bzw. die bei der Populationsbezug (Epidemiologie) und einen Untersuchung der Vergangenheit entstehen. Systembezug (Gesundheitssystem- bzw. Versor- gungsforschung). Sample Siehe Stichprobe, repräsentative. Querschnittstudie Die empirische Untersuchung eines Kollektivs, welche lediglich zu einem Zeitpunkt durchge- führt wird. Somit sind belastbare Aussagen über Veränderungen oder Ursache-Wirkungs-Bezie- hungen nicht möglich. Glossar 89

Set-Point-Theorie Zytotoxizität Die Hypothese, nach der das menschliche Kör- Die Eigenschaft einer Chemikalie, eines Virus pergewicht genetisch weitgehend programmiert oder einer spezifischen Immunzelle, lebende Zel- ist und nicht willentlich geändert werden kann. len und Gewebe zu schädigen oder zu zerstören. Die meisten Menschen besitzen dieser Theorie zufolge einen relativ stabilen „set point“, auf den das Gewicht bei Abweichungen nach oben oder unten automatisch wieder zusteuert. Man spricht auch vom Sollwertbereich (engl.: sett- ling point) des Körpergewichts in Anerkennung der Tatsache, dass das Körpergewicht kurzfristig kleineren Schwankungen unterliegen kann.

Sekundärdaten Daten, die nicht durch eine direkte Erhebung gewonnen wurden, sondern durch bestimmte Verarbeitungsschritte aus Primärdaten hervor- gehen.

Sekundärprävention Die Gesamtheit aller Maßnahmen, die der Früh- erkennung und damit der Möglichkeit einer rechtzeitigen Behandlung von Erkrankungen dienen.

Survey Wissenschaftliche Studie, die Befragungsdaten erhebt.

Survey Bias Jeglicher Fehler bei der korrekten Erfassung der wahren Werte interessierender Merkmale in ei- ner Stichprobe aufgrund des Studiendesign ei- ner Umfrage.

Trajektorien Entwicklungsverläufe, die durch bestimmte Rahmenbedingungen ermöglicht werden, und deren Ausgang offen ist.

T-Zellen Weiße Blutzellen, die in der Immunabwehr eine bedeutende Rolle spielen. Zusammen mit den B-Zellen sind sie für die erworbene Immunant- wort des Körpers verantwortlich.

Zytokin IL-6 Ein Protein, welches die Entzündungsreaktion im Körper reguliert. 90 Anhänge

10 Anhänge Anhänge 91

Anhang 1: Derzeit laufende bevölkerungsweite Längsschnittstudien in Deutschland Link http://surveys. dji.de/index. php?m=msg,0&fID=20 https://www.base2. mpg.de/de http://www.best-up. eu/bestup.html http://www.uni- bamberg.de/index. php?id=2713 http://www.dza.de/ forschung/deas.html - http://www.degs-stu die.de/deutsch/studie. html - http://www.ernaeh rungsepidemiologie. uni-bonn.de/forschung/ donald-1 - - - Schwerpunkte Alters- und Familien Alters- konstellation Gesundheit, soziale Gesundheit, soziale Bedingungen Übergang von Schu von Übergang Ausbildung,le zu Studium und Beruf Lernentwicklung, Einflussfaktoren, - Bildungsentschei dungen Demographie, Demographie, Arbeit, Gesundheit, und Normen Werte Gesundheit, Le bensbedingungen, Gesundheitssystem Ernährung und Gesundheit - Alters gruppen 0–55 20–35, 60–80 Schüler 3–18 ab 40 ab 18 0–25 - Regionale Abdeckung Deutschland Berlin Berlin Bayern, Bayern, Hessen Deutschland Deutschland Region Dort Region mund - Verfüg bare Wellen 1 5 (für - Teilstich proben 3 4 2 n.a.

­ Wellen dynamik 3-jährlich mindestens mindestens jährlich halbjährlich/ jährlich 3-jährlich (seit 2008) ca. alle ca. 10 Jahre variierend Beginn 2009 2009 2013 2005 1996 1997 1985 - - Studien ­ leiterin/- leiter Walter Bien Walter Heike Solga, Solga, Heike Katharina Spieß bach, Sabine Weinert Cordula Cordula Artelt, Hans-Peter Blossfeld, Gabriele Hans- Faust, Roß Günter Katharina Katharina Mahne Bärbel-Maria Kurth Ute Nöth - Ute lings, Tho mas Remer - - Veröffentli in chungen Fachzeit schriften 40 30 – 60 80 110 80 - - (Erwei 000 Anzahl Beobachtun gen 25 337 2 200 1 600 2 400 4 000 + 6 2014) terung 8 152 1 400 - - - Name II AID:A/AID:A Aufwachsen in - Deutschland: Alltags welten BASE-II II Berliner Altersstudie Best Up Best - Berliner-Studienbe rechtigten-Panel BiKS Bildungsprozesse, Kompetenzentwick - lung und Selekti onsentscheidungen und im Vorschul- Schulalter DEAS Deutscher Alterssur vey DEGS Gesundheit Studie zur in Erwachsenen von Deutschland DONALD Dortmund Nutritional and Anthropometric Longitudinally Desi gned 92 Anhänge - Link http://ec.europa.eu/eurostat/ web/microdata/european-union- statistics-on-income-and-living- conditions http://www.gesis.org/unser- angebot/daten-erheben/gesis- panel/ http://www.bib-demografie.de/ DE/Forschung/Surveys/GGS/ ggs_node.html http://www.gutenberg-gesund heitsstudie.de/ http://reforms.uni-mannheim.de/ internet_panel/home/ http://gles.eu/wordpress/design/ lfp/ - - Schwerpunkte Einkommen, Armut, Einkommen, Exklu Deprivation, sion, Lebensbedin gungen Open Omnibus Access Panel Lebensformen, Lebensformen, Ge - Demographie, schlecht Gesundheit und Psyche Gesellschaft im Gesellschaft Wandel Wahlforschung - Alters gruppen ab 16 18–70 18–79 35–74 16–75 ab 16 Regionale Abdeckung Deutschland Deutschland Deutschland Rhein-Main- Region Deutschland Deutschland - - - Verfüg bare Wellen 6 7 2 n.a. 12 2 (plus - 3 Zwi schener hebun gen) - ­ Wellen dynamik jährlich 2-monatlich 3-jährlich n.a. 2-monatlich - bei Wah len, mit Zwischener hebungen Beginn 2005 2014 2005 2007 2012 2009 - - - Studien ­ leiterin/- leiter Klaus-Jürgen Klaus-Jürgen Duschek, Christian Prinz Michael Bosnjak, Wolfgang Bandilla Robert Robert Naderi Philipp Wild Annelies G. Blom Harald Scho Harald en, Sigrid Roßteut Rüdi scher, Schmitt- ger Beck, Bernhard Weßels, Christopf Wolf - - Veröffentli in chungen Fachzeit schriften k.A. k.A. 40 120 k.A. k.A. - - Anzahl Beobachtun gen 23 587 4 900 10 000 15 000 1 603 + 4 034 (Er weiterung 2014/15) 2 700 - 7 Name EU-SILC/ Leben in Europa über EU-Statistik und Le - Einkommen bensbedingungen GESIS Panel GESIS GGS Generations and Gen - der Survey GHS - Gutenberg-Gesund heitsstudie GIP German Internet Panel GLES German Longitudi nal Election Study; - Kom Langfrist-Panel, ponente Anhänge 93 - Link http://www.kiggs-studie.de/ http://www.helmholtz-muen chen.de/kora/ueber-kora/index. html - https://www.lifbi.de/de-de/wei terestudien/lap.aspx http://mobilitaetspanel.ifv.kit. edu/ http://www.nako.de https://www.neps-data.de/ - - - Schwerpunkte Gesundheit von Gesundheit von - Kindern und Jugend lichen Gesundheit Lehramtsstudie andere vs. rende Studierende Verkehrsverhalten Volkskrankheiten, Volkskrankheiten, Lebensgewohnhei ten Bildungsprozesse, Bildungsprozesse, Kompetenzentwick lung - - - - - Alters gruppen ab Ge - burt 25–74 Studen ten ab 10 20–69 borene 5 Start kohor ab ten Neuge Regionale Abdeckung Deutschland Augsburg Augsburg Augs - Stadt, Land, burg LK Aichach- Friedberg Deutschland Deutschland Deutschland Deutschland - Verfüg bare Wellen 2 4 1 18 0 1–5 (je nach Kohorte) ­ Wellen dynamik 5-jährig 5-jährig jährlich jährlich 5-jährig mindestens mindestens jährlich Beginn 2003 1984 2014 1994 2014 2009 - Studien ­ leiterin/- leiter Bärbel-Maria Kurth Annette Annette Peters Hildegard Hildegard Schaeper Karl-Heinz Karl-Heinz Wolf Jöckel, Ahrens, gang Wolfgang Hoffmann, Rudolf Kaaks Hans- Günther Roßbach - - Veröffentli in chungen Fachzeit schriften 260 (alle - Publikatio nen) 600 (alle - Publikatio nen) k.A. k.A. k.A. 20

-

-

Anzahl Beobachtun gen 17 641 20 000 5 500 3 000 200 000 (geplant) SC1: 3 481 SC2: 2 949 SC3: 5 778 SC4: 15 629 SC5: 18 252 SC6: 11 649; Auf teilw. stockungen in w3 Name KiGGS Gesund - Studie zur Kindern heit von und Jugendlichen in Deutschland KORA Gesund - Kooperative in der heitsforschung Augsburg Region LAP - Lehramtsstudieren den-Panel MOP - Deutsches Mobilitäts panel NAKO Kohorte Nationale NEPS Educational National Study Panel 94 Anhänge - - - - - Link http://www.pairfam.de/ http://www.palea.uni-kiel.de/ http://fdz.iab.de/de/FDZ_Indivi dual_Data/PASS.aspx https://www.bundesbank.de/ - Navigation/EN/Bundesbank/Re search/Panel_on_household_fi nances/panel_on_household_fi nances.html http://www.gesis.org/forschung/ drittmittelprojekte/projektueber sicht-drittmittel/piaac/ https://www.uni-due.de/recall- studie/ http://www.dzne.de/wissen schaft-gesellschaft/rheinland- studie.html - Schwerpunkte Entwicklung von von Entwicklung und Partnerschafts- - Generationenbezie hungen - Entwicklungsverläu Studierender fe Arbeitsmarkt, Ar Arbeitsmarkt, mut, Sozialpolitik - finanzielle Situati on und Wohlstand deutscher Haushalte Kompetenzen im Kompetenzen Erwachsenenalter und Bedeutung im Lebenslauf Herz-Kreislauf- Erkrankungen Wohlbefinden, Le - Wohlbefinden, Gehirn benswandel, - - Alters gruppen 15–37 Studen ten ab 16 ab 17 18–67 45–75 ab 30

- Regionale Abdeckung Deutschland 13 Univer in sitäten Deutschland Deutschland Deutschland Deutschland Bochum, Essen und Mülheim/ Ruhr Rheinland - Verfüg bare Wellen 5 16 6 1 0 0 ­ Wellen dynamik jährlich 3-monatlich jährlich 3-jährlich jährlich jährlich 3–4-jährlich Beginn 2008 2009 2006 2010 2013 2000 2015 - - - - Studien ­ leiterin/- leiter Josef Brü - Josef derl, Karsten Hank, Johan nes Huinink, Bernhard Nauck, Franz Sabi Neyer, ne Walper Olaf Köller, Köller, Olaf Jens Möller, Manfred Prenzel mann Mark Trapp Beatrice Beatrice Rammstedt, von Jutta Maurice, Jür Schupp gen Monique Breteler - - Veröffentli in chungen Fachzeit schriften 100 10 k.A. k.A. k.A. 100 (nur - peer-revie wed) – -

Anzahl Beobachtun gen 12 400 6 380 18 954 3 565 (w1), 4 500 (w2); Haushalte k.A. 4 814 30 000 Name pairfam Analysis of Panel Relationships Intimate Dynamics and Family PaLea - Lehramts zum Panel studium PASS und Arbeitsmarkt Sicherung soziale PHF on Household Panel Finances PIAAC-L Programme for the International of Adult Assessment Competencies Recall Recall Heinz Nixdorf Studie Rheinland Studie Anhänge 95 Link http://www.share-project.org/ - http://www.medizin.uni-greifs wald.de/cm/fv/ship.html - http://www.medizin.uni-greifs wald.de/cm/fv/ship.html http://www.wiedervereinigung. de/sls/index.html http://www.leibniz-soep.de http://www.twin-life.de - - - Schwerpunkte Demographie und Demographie Gesundheit Gesundheit Gesundheit, Psyche, Gesundheit, Psyche, Demo - Lebensstil, graphie Übergang vom DDR- vom Übergang Bundesbürger, zum Gesundheit (phy sisch und psychisch) Persönlichkeit, Ein Persönlichkeit, - Erwerbs kommen, Bildung tätigkeit, und Gesundheit, und Präferenzen Zufriedenheit Bildung, Karriere, Bildung, Karriere, gesellschaftliche Lebens Teilhabe, Gesundheit, qualität, Verhalten deviantes - - Alters gruppen ab 50 20–79 20–79 Geburts - jahrgang 1973 ab Ge - burt (seit 2002, ab zuvor Einschu lung) 5–23 Regionale Abdeckung Deutschland Stralsund, Stralsund, Greifswald, Anklam (inkl. Landkreise) Stralsund, Stralsund, Greifswald, Anklam (inkl. Landkreise) DDR (2 Bezirke) Deutschland Deutschland - Verfüg bare Wellen 5 4 1 27 30 0 ­ Wellen dynamik 2-jährlich variierend ca. 5 Jahre ca. jährlich jährlich jährlich Beginn 2004 1997 2008 1987 1984 2014 - Studien ­ leiterin/- leiter Axel Börsch- Axel Supan Dietrich Alte Dietrich Henry Völzke Hendrik Berth, Elmar Pe Brähler, Förster, ter Stöbel- Yve Richter Jürgen Jürgen Schupp Martin Die - Rainer wald, Riemann, M. Frank Spinath - - Veröffentli in chungen Fachzeit schriften 500 660 k.A. 50 2 700 –

-

-

Anzahl Beobachtun gen 3 000 (w1), 900 (w2), 4 500 (w5) 4 308 4 420 1 407 12 290 (w1), 13 972 (w7), 51 028 (w30) 2 009 (Zwil - lingsfami lien) - - Name SHARE Survey of Health, Ageing and Retire in Europe ment SHIP Study of Health in Pomerania SHIP-TREND Study of Health in Pomerania SL Sächsische Längs schnittstudie SOEP Sozio-oekonomisches (SOEP Core und Panel SOEP IS) TwinLife 96 Anhänge

Anhang 2: Stichpunkte zu einem Curriculum für die Aus- und Weiterbildung im ­Management großer Forschungsinfrastrukturen

Projekt- und Finanzmanagement: • Internationale Standard-Kodierungen • Gesamt-Projekt-Controlling: Überwa- in Zusammenarbeit mit internationa- chung eines standardisierten Projekt- len Expertinnen und Experten (ISCO, zeitplans ISCED) • Finanzmanagement • nicht-invasive Biomarkertechniken • öffentliche und private Finanzierungs- (z.B. DBS) wege in Deutschland und Europa • Verlinkungstechniken mit administ- • Vertragsvorlagen und Abrechnungen rativen Daten (z.B. Rentenversiche- mit Umfrageinstituten rungsdaten) • datenschutzrechtliche Fragen, Ethik- Kommissionen Management der Datenbereitstellung • Kommunikation mit wissenschaftli- und der Nutzerkommunikation chen Teams und Befragungsinstituten • Datenbank- und Release-Techniken für die Veröffentlichung der Daten für Operatives Management: die wissenschaftliche Forschung und • Design und die Kontrolle der zugrun- deren Dokumentation (Release Guide, deliegenden Stichproben Fragebögen, Innovationen/Verände- • Konzeption und Durchführung von rungen zwischen den Wellen) Interviewer-Schulungen • Berechnung von Gewichten und multip- • Kontrolle und Dokumentation des Da- len Imputationen, Sensitivitätsanalysen tenerhebungsprozesses (Interviewzahl • externe Kommunikation (z.B. für und -länge, Kontaktversuche, Intervie- Website, Broschüren) wer-Aktivität, Monitoring Reports) • Nutzerstrategien, Nutzerschulungen • Überwachung der laufenden Feld­ arbeit • Testprozeduren für die Testung der Software und des Fragebogens

Management des Fragebogendesigns: • Entwicklung komplexer Software- Tools: computergestützte Erhebungs- instrumente (CAPI), elektronische Kontaktprotokolle, Software zum Ma- nagement des Erhebungssamples • konzeptuelle Überarbeitung und ­Weiterentwicklung der Fragebogenin- halte • generelles Fragebogendesign: Routing und Filter, Grammatik und Recht- schreibung, Logik und Verständlich- keit, Programmierfehler, Fragebogen- Enzyklopädie, ggf. Übersetzungen • Konzipierung der Inhalte und Formate von Preload-Variablen für longitudi- nale und Auffrischer-Stichproben Anhänge 97

Anhang 3: Stichpunkte zu einem Curriculum für die Methodenexpertise in der universitären Aus- und Weiterbildung

Epidemiologische und sozialwissen- Zentrale epidemiologische und soziolo- schaftliche Methoden: gische Inhalte: • Maßzahlen (Häufigkeitsmaße für Ex- • epidemiologische Transition (Infekti- positionen und Outcomes; Assoziati- onskrankheiten, chronische Krankhei- onsmaße für Expositionen und Out- ten) comes, (relative, attributable Risiken, • Krankheitslast (burden of disease) in Odds Ratios)); Standardisierung armen und reichen Ländern • epidemiologische Studientypen (Quer- • vermeidbare Morbidität und Mortali- schnitt-, Kohorten-, Fall-Kontrollstu- tät dien, klinische Studien, randomisierte, • demographisches Altern und Krank- kontrollierte Studien) heitsspektrum; Kompression der Mor- • Beurteilung von Ursache-Wirkungs- bidität Beziehungen (Bradford-Hill-Kriterien) • Umwelteinflüsse und Erkrankungsri- • Fehlerquellen (Selection-Bias, Recall- siken (einschließlich Urbanisierung, Bias, Information-Bias, missing valu- Klimawandel) es, confounding) • soziale und ökonomische Determi- • Testkriterien (Validität, Reliabilität, nanten von Gesundheit und Krankheit Sensitivität, Spezifität, Vorhersagewert) (Makro-, Meso-, Mikro-Ebene); sozia- • systematische Reviews, Meta-Analy- ler Gradient und Erklärungsansätze sen, Scoping-Studien • Lebenslauf-Epidemiologie (Latenz-, • Stichprobenverfahren, Fallzahlkalku- Kumulations-, Pfad-Modell) lation • zentrale soziale Rollen und Erkran- • sozialwissenschaftliche Methoden (Be- kungsrisiken (Arbeit, Familie, soziales fragungsmethoden (quantitative, qua- Netzwerk; soziologische Modelle) litative Interviews), Fragebögen, Tests, • Einflüsse von sozioökonomischem Experimente, nicht-reaktive Verfah- und soziokulturellem Wandel auf Ge- ren, systematische und teilnehmende sundheit und Krankheit (Migration, Beobachtung; aggregierte bzw. ökolo- Globalisierung) gische Daten) • gesundheitspolitische Strategien der • Mixed-methods-Ansätze; Triangulation Prävention und Gesundheitsförderung • statistische Analyseverfahren – deskriptive Statistik – Netzwerkanalyse, latent class analy- sis, ANOVA u.Ä. – Regressionsanalysen, Mehrebenen- Analysen, Strukturgleichungsmo- delle – Kausalanalyse mit Paneldaten, Sur- vival- und Ereignisanalyse, Zeitrei- henanalyse • ethische Aspekte epidemiologischer und sozialwissenschaftlicher Bevölke- rungsforschung 98 Beteiligte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler

Beteiligte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler

Sprecher der Arbeitsgruppe

Prof. Dr. Axel Börsch-Supan Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik, München Prof. Dr. Johannes Siegrist Institut für Medizinische Soziologie, Universität Düsseldorf

Mitglieder der Arbeitsgruppe

Prof. Dr. Hans-Peter Blossfeld Department of Political and Social Sciences (SPS), European University Institute, Florenz Prof. Dr. Monique Breteler Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE), Bonn Prof. Dr. Josef Brüderl Institut für Soziologie, Ludwig-Maximilians-Universität München Prof. Dr. Gabriele Institut für Soziologie und Demographie, Universität Rostock Doblhammer-Reiter Prof. Dr. Wolfgang Hoffmann Institut für Community Medicine, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald Prof. Dr. Karl-Ulrich Mayer Wissenschaftsgemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibniz, Berlin Prof. Dr. Beatrice Rammstedt Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften (GESIS), Mannheim Prof. Dr. Gert G. Wagner Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Berlin

Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Fachgesprächen Erstes Fachgespräch zum Thema Finanzierungsmodelle: John Hobcraft Department of Social Policy, University of York Denny Vågerö Centre for Health Equity Studies, Stockholm Dorly Deeg VU University Medical Center, Amsterdam Marie Zins und Quest Medical School, Paris Marcel Goldberg Eckard Kämper DFG, Bonn

Zweites Fachgespräch zum Thema studentische Ausbildung: Maria Chiara Corti Health Care and Resource Planning Unit – Veneto Region, Venedig Heather Joshi Center for Longitudinal Studies, London Patrick Sturgis ESRC National Centre for Research Methods, University of Southampton Janet Valentine Medical Research Council (MRC), London

Drittes Fachgespräch zum Thema Weiterbildung in Forschungsinfrastrukturen: Niklas Blomberg ELIXIR, EMBL-EBI, Hinxton Cath Brooksbank EMBL-EBI, Hinxton Markus Pasterk BBMRI-ERIC, Graz Rebecca Ludwig EATRIS, Amsterdam Beteiligte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler 99

Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Arbeitsgruppe Dr. Thorsten Kneip Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik, München

Wissenschaftliche Referentinnen der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina Dr. Constanze Breuer Anna-Maria Gramatté Dr. Alexandra Schulz

Externe Gutachterinnen und Gutachter Regina Riphahn Universität Nürnberg-Erlangen Markus Gangl Universität Frankfurt am Main Ulrich Keil Universität Münster Reinhold Schnabel Universität Duisburg-Essen

Ausgewählte Publikationen der Schriftenreihe zur wissenschaftsbasierten Politikberatung

Mit Energieszenarien gut beraten – Anforderungen an wissenschaftliche Politikberatung (2015)

Flexibilitätskonzepte für die Stromversorgung 2050 (2015)

Zur Gesundheitsversorgung von Asylsuchenden (2015)

Chancen und Grenzen des genome editing (2015)

Medizinische Versorgung im Alter – Welche Evidenz brauchen wir? (2015)

Public Health in Deutschland: Strukturen, Entwicklungen und globale Herausforderungen (2015)

Perspektiven der Quantentechnologien (2015)

Akademien nehmen Stellung zu Fortschritten der molekularen Züchtung und zum erwogenen nationalen Anbauverbot gentechnisch veränderter Pflanzen (2015)

Die Energiewende europäisch integrieren – Neue Gestaltungsmöglichkeiten für die­ gemeinsame Energie- und Klimapolitik (2015)

Palliativversorgung in Deutschland – Perspektiven für Praxis und Forschung (2015)

Individualisierte Medizin – Voraussetzungen und Konsequenzen (2014)

Akademien fordern Konsequenzen aus der Ebolavirus-Epidemie (2014)

Frühkindliche Sozialisation – Biologische, psychologische, linguistische, soziologische und ökonomische Perspektiven (2014)

Zur Gestaltung der Kommunikation zwischen Wissenschaft, Öffentlichkeit und den Medien – Empfehlungen vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen (2014)

Klinische Prüfungen mit Arzneimitteln am Menschen – Ad-hoc-Stellungnahme zum „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/20/EG“ (2014)

Tierversuche in der Forschung – Empfehlungen zur Umsetzung der EU-Richtlinie 2010/63/EU in deutsches Recht (2012)

Präimplantationsdiagnostik (PID) – Auswirkungen einer begrenzten Zulassung in Deutschland (2011)

Alle Publikationen der Schriftenreihe sind auf den Internetseiten der Akademien als kostenfreies pdf-Dokument verfügbar. Deutsche Akademie der Naturforscher acatech – Deutsche Akademie Union der deutschen Akademien Leopoldina e.V. der Technikwissenschaften e.V. der Wissenschaften e.V. Nationale Akademie der Wissenschaften

Jägerberg 1 Residenz München, Hofgartenstraße 2 Geschwister-Scholl-Straße 2 06108 Halle (Saale) 80539 München 55131 Mainz Tel.: (0345) 472 39-867 Tel.: (089) 5 20 30 9-0 Tel.: (06131) 218528-10 Fax: (0345) 472 39-839 Fax: (089) 5 20 30 9-9 Fax: (06131) 218528-11 E-Mail: [email protected] E-Mail: [email protected] E-Mail: [email protected]

Berliner Büro: Hauptstadtbüro: Berliner Büro: Reinhardtstraße 14 Pariser Platz 4a Jägerstraße 22/23 10117 Berlin 10117 Berlin 10117 Berlin

Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften und die Union der deutschen Akademien der Wissenschaften unterstützen Politik und Gesellschaft unabhängig und wissen- schaftsbasiert bei der Beantwortung von Zukunftsfragen zu aktuellen Themen. Die Akademiemitglieder und weitere Experten sind hervorragende Wissenschaftle- rinnen und Wissenschaftler aus dem In- und Ausland. In interdisziplinären Arbeits- gruppen erarbeiten sie Stellungnahmen, die nach externer Begutachtung vom Ständigen Ausschuss der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina verabschiedet und anschließend in der Schriftenreihe zur wissenschaftsbasierten Politikberatung veröffentlicht werden.

Schriftenreihe zur wissenschaftsbasierten Politikberatung

ISBN: 978-3-8047-3552-1 Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- abschätzung

Ausschussdrucksache 18(18)232 c

21.06.2016

Deutsche Hochschulmedizin e. V., Berlin

Unangeforderte Stellungnahme

Öffentliches Fachgespräch

zum Thema

„Förderung von Forschungsinfrastrukturen“

am Mittwoch, 22. Juni 2016

STELLUNGNAHME

Unangeforderte Stellungnahme zum Thema "Förderung von Forschungsinfrastrukturen" anlässlich des Öffentlichen Fachgespräches am 22. Juni 2016 im Bundestagsausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

20. Juni 2016

Forschen. Lehren. Heilen.

© Deutsche Hochschulmedizin e.V.

Kontakt Medizinischer Fakultätentag e.V. (MFT) Alt-Moabit 96 10559 Berlin [email protected] www.mft-online.de

Seite 2/4 < Stellungnahme zum Fachgespräch Förderung von Forschungsinfrastruktur > Die Deutsche Hochschulmedizin e.V. steht national wie international für her- ausragende Lehre, Forschung und Krankenversorgung. Zahlreiche Teams mit Wissenschaftlern aus dem In- und Ausland forschen an den Universitätsklinika und in den Medizinischen Fakultäten an medizinischen Innovationen mit welt- weiter Bedeutung.

Viele anspruchsvolle Fragestellungen können in der medizinischen For- schung, wie in anderen Wissenschaftsdisziplinen auch, nur durch Großfor- schungsinfrastrukturen bearbeitet werden. Neben Großgeräten, an denen me- dizinische Untersuchungen nur einen Teil der Forschung ausmachen, handelt es sich bei den primär medizinischen Forschungsinfrastrukturen meist um pa- tientennahe, gut vernetzte und integrierte Daten- und Probensammlungen, Beispiele sind Biobanken und Datenmanagementsysteme epidemiologischer Längsschnittstudien. Neben der Erhebung werden in diesen Strukturen die Daten und Biomaterialien aufgearbeitet, analysiert und gelagert. Die bevölke- rungsbasierten bzw. patientennahen Sammlungen sind meist vernetzt aufge- baut und somit auf verschiedene Standorte, zum Beispiel an Universitäten, verteilt. Der Nutzerkreis ist vielfältig, insbesondere die an den Universitäten angesiedelten Strukturen spielen eine wichtige Rolle in der Lehre und Weiter- bildung. Merkmal dieser Sammlungen ist außerdem, dass ihre Bedeutung auf der Basis wiederholter Erhebungen und Erfassungen mit der Zeit erheblich zunimmt.

Im Vergleich zu den Naturwissenschaften sind die medizinischen Forschungs- infrastrukturen in der Bauphase wenig kostenintensiv. Die meisten finanziellen Ressourcen werden hingegen für Betrieb und regelmäßige Erneuerung der Sammlungen erforderlich. Dabei ist schwer zwischen Konstruktionskosten und Betriebskosten zu trennen, da Erhebung und Auswertung Teil der Erstellung der Struktur sind. Auch die Beschaffung von zum Beispiel neuen IT-Kompo- nenten setzt fast automatisch die konstante Betreuung von Fachpersonal vo- raus, weshalb eine klare Trennung zwischen Aufbau- und Betriebskosten ebenfalls schwierig ist. Innerhalb des oft Jahrzehnte langen Lebenszyklus der Strukturen fallen somit für die Betreiber dieser medizinischen Forschungsinf- rastrukturen hohe Kosten an. So kommt zum Beispiel für die Längsschnittstu- dien der „Study of Health in Pomerania“ (SHIP) mit ca. 8700 Teilnehmern (zum Vergleich, in der Nationalen Kohorte (NAKO) sollen ca. 200.000 Menschen erfasst werden) auf die Universitätsmedizin Greifswald als Betreiber jährliche „Betriebskosten“ von ca. 2 Millionen Euro zu. Solche Kosten sind für viele Uni- versitäten nur schwer zu tragen und werden durch Bundes- bzw. Landesför- derungen nicht in dem nötigen Maße abgedeckt. Diese kleineren und spezifi- scheren Studien werden aber benötigt, um bestimmte Aspekte mit größerer Tiefe abdecken zu können als dies z. B. die NAKO gewährleisten kann.

Unter anderem die DFG, Leopoldina und TMF hat in den letzten Jahren darauf hingewiesen, dass die medizinische Forschungsinfrastruktur nur durch einen

Seite 3/4 < Stellungnahme zum Fachgespräch Förderung von Forschungsinfrastruktur > strategischen Aufbau wettbewerbsfähig bleiben kann. Das BMBF wie auch die DFG haben durch Förderungen hierfür bereits erste wichtige Schritte geleistet. Der bestehende Investitionsstau kann damit aber nicht behoben werden. Auch gilt es, die Infrastrukturen für klinische Studien, wie Kompetenzzentren für Kli- nische Studien, oder Einrichtung für die fachgerechte, aufwändige Herstellung innovativer Therapeutika (z.B. GMP-Einrichtungen) bzw. neuer diagnostischer Methoden (z.B. die sogenannten –omics-Technologien) weiter auszubauen. Um all dies zusammenzuführen, ist außerdem eine moderne IT-Ausstattung erforderlich.

Sehr zu begrüßen ist deshalb das vom BMBF aufgelegte Förderkonzept Me- dizininformatik. Hiermit soll der Aufbau projektunabhängiger, leistungsfähiger und standortübergreifender IT-Strukturen in der Universitätsmedizin angesto- ßen werden. Denn allen medizinischen Forschungsstrukturen ist gemein, dass eine ausgezeichnete und auf die Aufgabe abgestimmte IT-Infrastruktur unab- dingbar ist. In diesem Bereich besteht enormer Handlungsbedarf. Die Förder- initiative des BMBF setzt hier einen Impuls.

Das im November 2015 beim BMBF gegründete „Forum Gesundheitsfor- schung“, an dem Mitglieder der Deutschen Hochschulmedizin e.V. beteiligt sind, erarbeitet neben anderen Themen aktuell auch an einem Konzept zur koordinierten Weiterentwicklung von Forschungsinfrastrukturen in den Le- benswissenschaften. Hieraus erhofft sich die Deutsche Hochschulmedizin e.V. entsprechende Strategien und Förderkonzepte.

Zur Verbesserung der medizinischen Forschungsinfrastruktur in Deutschland bedarf es:

• einer langfristigen und koordinierten Strategie zum Ausbau der ver- schiedenen medizinischen Forschungsinfrastrukturen; • eines weiteren Ausbaus von spezifischen Infrastrukturen für Klinische Studien; • eines strategischen Aufbaus von IT-Infrastruktur, speziell für die medi- zinische Forschung; • der Abdeckung der funktionserhaltenden Sach- und Personalkosten, die beim langjährigen Aufbau von medizinischen Forschungsstruktu- ren anfallen, in den entsprechenden Förderprogrammen.

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