APuZAus Politik und Zeitgeschichte 63. Jahrgang · 21–23/2013 · 21. Mai 2013

Richard Wagner

Martin Geck Lassen sich Werk und Künstler trennen?

Udo Bermbach Wagners politisch-ästhetische Utopie und ihre Interpretation

Sven Oliver Müller als politisches und emotionales Problem

Dieter Borchmeyer Richard Wagners Antisemitismus

Eberhard Straub Wagner und Verdi – Nationalkomponisten oder Europäer?

Anno Mungen Wagner-User: Aneignungen und Weiterführungen

Hanns-Werner Heister Zu den politischen Dimensionen von Musik Editorial Auch 200 Jahre nach seiner Geburt gehört Richard Wagner zu den kontroversesten deutschen Künstlergestalten. Einerseits gilt er vielen als musikalisches Genie, das sich nicht nur mit dem Zyklus Ring des Nibelungen und anderen Opern, sondern auch mit dem Festspielhaus auf dem „Grünen Hügel“ in ei- nen Platz in der Musikgeschichte sicherte. Andererseits – und das unterscheidet ihn von anderen Größen der Musikhistorie – hinterließ er allerlei programmatische Schriften, die ihn nur „schwer verdaulich“, für manchen gar ungenießbar machen.

Berüchtigt ist vor allem sein Aufsatz über „Das Judenthum in der Musik“, den er gleich zwei Mal veröffentlichte: 1850 un- ter dem Pseudonym K. Freigedank sowie in leicht abgewandelter Form 1869 unter vollem Namen. Sein unzweideutig manifestier- ter Antisemitismus sowie der Umstand, dass er erklärter Lieb- lingskomponist Adolf Hitlers war, führten dazu, dass er mitunter als „Prophet“ des Diktators gedeutet wird, dieser wiederum als Wagners „Vollstrecker“. Die unverhohlene Sympathie von Wag- ners Bayreuther Erbwaltern mit den Machthabern zur Zeit des Nationalsozialismus trug zu dieser Sichtweise erheblich bei.

Inwiefern auch Wagners musikdramatisches Werk antisemitisch belastet ist, ist bis heute umstritten. Politisch lässt sich sein Opus in verschiedene Richtungen deuten – ihn eindeutig zu vereinnah- men, fällt schwer. Wagners Opern können höchsten ästhetischen Genuss bereiten, sind jedoch kaum von der philosophisch-politi- schen Gedankenwelt ihres Schöpfers zu trennen. Sowohl Wagner selbst als auch die Geschichte seiner Rezeption eignen sich somit als aussagekräftige historische Quellen – nicht nur für die musi- kalische, sondern auch für die politische und historische Bildung.

Johannes Piepenbrink Martin Geck von diesem Tage an; und natürlich nahm ich volle Partei für die Revolution, die sich mir nun unter der Form eines mutigen und sieg- reichen Volkskampfes, frei von allen den Fle- Lassen sich Werk cken der schrecklichen Auswüchse der ersten französischen Revolution, darstellte.“

und Künstler Als junger Komponist schließt er sich der Bewegung „Junges Deutschland“ an, um sich in diesem Kontext für den von der staatlichen trennen? Zensur verfolgten und inhaftierten Jour- nalisten Heinrich Laube einzusetzen. Kein Wunder, dass er sich knapp zwei Jahrzehn- Essay te später, inzwischen zum Dresdner Hof- kapellmeister avanciert, mit der bürgerli- er will, mag es für prägend halten, dass chen Revolution von 1848/1849 identifiziert WRichard Wagner im Frühjahr 1813, vor und am Dresdner Aufstand teilnimmt, in- nunmehr 200 Jahren, in die Befreiungskriege dem er Flugblätter verteilt und – aller Wahr- hineingeboren wurde: scheinlichkeit nach – bei der Beschaffung von Martin Geck Als er am 22. Mai im Handgranaten hilft. Dr. phil., geb. 1936; Professor Gebäude des Leipzi- em. für Musikwissenschaft an ger Gasthauses „Zum Nach gescheiterter Erhebung findet er der Technischen Universität roten und weißen Lö- sich als steckbrieflich gesuchter Aufrührer Dortmund; Gründungsheraus- wen“ zur Welt kommt, im Schweizer Exil wieder. Nachdem er an- geber der Richard-Wagner- hallt dort noch der fänglich versucht hat, dem gepanzerten Sys- Gesamtausgabe (1966); Autor Lärm der Schlacht bei tem nunmehr mit den feurigen Pfeilen seiner des Buches „Richard Wagner. Bautzen nach, die für Schriften – unter ihnen „Die Kunst und die Biographie“ (2012); TU Dort- Napoleon Bona­parte Revolution“ (1849) – gefährlich zu werden, mund, Emil-Figge-Straße 50, die Wendung zum verabschiedet er sich zunehmend von der in 44227 Dortmund. Schlechteren einleite- den Dresdner Tagen beschworenen „Göttin [email protected] te; schon bald darauf Revolution“, um stattdessen auf die natio- muss er sich von deut- nale Karte zu setzen. In diesem Sinne sieht schem Territorium zurückziehen. Wie auch er es nicht als Verrat an, sich seit 1864 vom immer: Der junge Wagner wächst – wie der bayerischen König Ludwig II. mäzenieren zu gleichaltrige Schriftsteller Georg Büchner – lassen: Er gibt sich der Illusion hin, als po- als politischer Mensch heran. Als Pennäler litischer Berater zu einer in seinen Augen verdient er sich bei seinem Schwager Fried- gesünderen Verfasstheit von Staat und Ge- rich Brockhaus – dem Lexikon-Brockhaus – sellschaft beitragen zu können. Auf realpoli- acht Groschen pro Bogen mit der Korrek- tischer Ebene muss er zwar bald resignieren; tur der neu bearbeiteten Beckerschen Welt- jedoch gelingt es ihm, für seine ersten Bay- geschichte: „Nun lernte ich zum ersten Male reuther Festspiele von 1876 breite Kreise von das Mittelalter und die französische Revolu- Adel und Bürgertum zu interessieren, wenn tion genauer kennen, da in die Zeit meiner nicht gar zu begeistern. In „Villa Wahnfried“ Korrekturarbeiten gerade der Druck derjeni- äußerlich zur Ruhe gekommen, zeigt der gen beiden Bände fiel, welche diese verschie- Bayreuther Wagner eine politisch ambivalen- denen Geschichtsperioden enthielten.“ te Haltung: Einerseits setzt er sich derart kri- tisch mit den Größen „Staat“ und „Kapital“ Von den Korrekturen zur Lektüre der auseinander, dass er Michail Bakunin, den „Leipziger Extrablätter“ überwechselnd, ist anarchistischen Weggefährten aus Dresd- Wagner mit der Pariser Juli-Revolution von ner Tagen, unverändert als einen „wilden 1830 befasst. In „Mein Leben“ erinnert er und noblen Kerl“ rühmen kann. Anderer- sich: „Mit Bewußtsein plötzlich in einer Zeit seits neigt er in seinen kulturphilosophischen zu leben, in welcher solche Dinge vorfielen, Spätschriften zu reaktionären und chauvi- mußte natürlich auf den siebzehnjährigen nistischen, gelegentlich gar verschrobenen Jüngling von außerordentlichem Eindruck Statements. Zudem beharrt er bis zuletzt auf sein. Die geschichtliche Welt begann für mich seinem antisemitischem Ressentiment. Was

APuZ 21–23/2013 3 bedeutet das alles für unsere Gegenwart? Be- chenden Faschismus: Was ein „distanzierter schädigt es auch das Bild des Künstlers und Beobachter“ an „Kulturgütern überblickt, das Komponisten Wagner? ist ihm samt und sonders von einer Herkunft, die er nicht ohne Grauen bedenken kann“. Wer möchte leugnen, dass unter diesem Gesichts- Wagner – Kind seiner Zeit winkel speziell das Werk Wagners in den Blick gerät! Jedoch ist an diesem Punkt Nachdenk- Als kürzlich ein japanischer Kollege bei mir lichkeit geboten; das Beharren auf Extrempo- zu Besuch war, fiel sein Blick auf das Titel- sitionen führt nicht weiter: Ebenso wenig, wie bild der gerade aktuellen „Spiegel“-Ausga- man Wagner hier aus der Schusslinie nehmen be (14/2013). Es zeigt Richard Wagner mit kann, indem man das – ja durchaus vorhande- einem kleinen, feuerspeienden Drachen im ne – Unpolitische an seiner Kunst ins Zentrum Arm. Sein Kommentar: „Bei uns in Japan ist der Betrachtung rückt, kann man ihn zum der Drache ein Glücksbringer und ein Hel- Vorläufer Hitlers machen. Tendenziell gese- fer der Menschen.“ Der Drache des „Spiegel“- hen, war er einer von Hitlers Stichwortgebern; Titels wirkt zwar nicht gerade unsympa- doch von solchen gab es ein ganzes Heer. thisch, doch als Glücksbringer wird man ihn sicher nicht deuten. Und das soll man auch Nehmen wir als Beispiel das Phänomen des nicht. Die intendierte Zielrichtung verrät der Chauvinismus und militanten Nationalismus. Hefttitel: „200 Jahre Richard Wagner. Das Dieses triumphierte ganz allgemein in der Zeit wahnsinnige Genie“. Damit ist man schnell zwischen dem deutsch-französischen Krieg – und das entspricht dann auch einem Haupt- von 1870/1871 und dem Ersten Weltkrieg auch strang der Titelgeschichte – bei Adolf Hitler: in England und Frankreich – freilich extrem Der wird dann gleich mit in die Schublade im wilhelminischen Kaiserreich. Doch aus- mit dem Etikett „wahnsinniges Genie“ oder gerechnet an diesem Punkt ist Wagners Hal- „Drachenzüchter“ gesteckt – was zwar nicht tung ambivalent. Natürlich gibt es bei ihm Intention der Autoren ist, den Lesern gleich- nationalistische Töne – zum Beispiel im Lo- wohl unterschwellig suggeriert wird. hengrin. Heinrich Mann hat in seinem kurz vor dem Ersten Weltkrieg geschriebenen Ro- Wenn ich mich der Parallelsetzung Wag- man „Der Untertan“ satirisch dargestellt, wie ner–Hitler verweigere, so nicht deshalb, weil der Titelheld Diederich Heßling anlässlich ei- ich Wagner in Schutz nehmen, sondern weil nes Besuchs dieser Oper sich ausschließlich ich Hitler nicht verharmlosen will. An Hit- an diesen nationalistischen Tönen erfreut: ler denken, heißt an die Tötungsmaschine- „Diederich hielt sich (im Gegensatz zu seiner rie denken, die er als „Führer“ in Gang ge- Braut Guste, M. G.) mehr an den König unter setzt und zu verantworten hat. Das hat zwar der Eiche, der sichtlich die prominenteste Per- irrwitzige Züge, ist deshalb aber nicht zurei- sönlichkeit war. Sein Auftreten wirkte nicht chend als das Werk eines einzelnen Wahn- besonders schneidig; (…) aber was er äußer- sinnigen zu erklären. Wenn wir schon von te, war vom nationalen Standpunkt aus zu be- Hitlers „Wahnsinn“ sprechen, müssen wir grüßen. ‚Des Reiches Ehr zu wahren, ob Ost, von dem alltäglichen „Wahnsinn“ von Mil- ob West.‘ Bravo! So oft er das Wort ‚deutsch‘ lionen Deutschen sprechen. Und davon ab- sang, reckte er die Hand hinauf, und die Mu- gesehen: Hitler war bei allem „Wahnsinn“ sik bekräftigte es ihrerseits. Auch sonst unter- ein ausgepichter und gerissen kalkulierender strich sie einem markig, was man hören sollte. Machtpolitiker; und diejenigen, die ihm folg- Markig, das war das Wort.“ ten, waren verblendet, aber nicht wahnsin- nig, denn sie hatten immer wieder die Wahl. An der Darstellerin der Elsa bewundert Wenn es einen Wahnsinn gab, so war es vor Diederich den „ausgesprochen germanischen allem der Wahnsinn des Systems. Typ, ihr wallendes blondes Haar, ihr gutras- siges Benehmen“, muss sich aber von Guste Es waren viele Kräfte gesellschaftlicher, darüber aufklären lassen, dass er eine „ausge- politischer und ökonomischer Art, die die- mergelte Jüdin“ vor sich hat. Lohengrin ver- ses System ermöglicht und unterstützt haben. körpert für Heßling „die allerhöchste Macht, Und „Kultur“ war gewiss ein wesentlicher zauberhaft blitzend. (…) Nicht umsonst gab Faktor. Nicht von ungefähr schrieb der Philo- es höhere Mächte.“ „Die Geschichte mit dem soph Walter Benjamin im Zeichen des anbre- Gral“, so erklärt er der Braut schließlich, „das

4 APuZ 21–23/2013 soll heißen, der Allerhöchste Herr ist nächst nem ersten Auftreten ungebrochen pompös Gott nur seinem Gewissen verantwortlich.“ und heldenhaft; wo es im weiteren Verlauf des Rings erscheint, wirkt es verdüstert, manch- Und nicht nur hirnlose Spießer, wie sie mal regelrecht verzerrt. Damit will Wagner Heinrich Mann in der Figur Heßlings schil- sagen: Wotans Glaube, er könne als unum- dert, waren im Kaiserreich mit derlei Gedan- schränkter Herrscher in Walhall einziehen kengut beschäftigt. Vielmehr schrieb auch der und als solcher dort bleiben, ist von Anfang an Wagnerianer Max Koch, Professor für neuere eine Illusion, die sich zunehmend auch als sol- deutsche Literaturgeschichte, in seinen Erin- che entpuppt. Was das Helden-Thema betrifft, nerungen an den Ausbruch des Ersten Welt- gibt es in Wagners Werk viele solcher Ambiva- kriegs: „Wie eine tröstende Wahrsagung, die lenzen. Jedenfalls hatte Hitler für seine „Hel- sich dann (in der Schlacht, M. G.) bei Tannen- dentaten“ andere Stich­wort­geber als Wagner. berg glücklich erfüllen sollte, empfanden wir bei Kriegsausbruch König Heinrichs Ver- 2010 wurde in Berlin eine Rienzi-Inszenie- sprechen, des Reiches Feind solle ‚aus seinem rung aus der Taufe gehoben, welche die Oper öden Ost daher sich nimmer wagen mehr‘ von Anfang bis Ende in einer Art NS-Mili- und jubelten seinen Aufrufen zu ‚Für deut- eu spielen ließ – allein deshalb, weil Hitler in sches Land das deutsche Schwert! So sei des „Mein Kampf“ schrieb, der frühe Besuch ei- Reiches Kraft bewährt!‘“ ner Rienzi-Vorstellung sei für ihn von prägen- der Bedeutung gewesen. Ein solches Regie- Gleichwohl gibt es bereits an diesem eindeu- konzept ist in meinen Augen kurzschlüssig. tig erscheinenden Punkt Ambivalenzen. Zum Zum einen hat der Volkstribun Rien­zi, den einen hat Wagner Lohengrin im Vorfeld der Wagner auf die Bühne stellt, wenig mit dem bürgerlichen Revolution von 1848/1849 ge- gemein, was Hitler sich unter einem Volks- schrieben, als der Mythos von einer starken, tribunen vorgestellt haben mag. Zum anderen gemeinsamen Idealen verpflichteten deutschen war die Sympathie Hitlers für Wagner und die ­Nation noch einen anderen, in vielem progres- Bayreuther Festspiele keineswegs sympto- siven Sinn hatte: Im Zeichen dieses Mythos matisch für ganz Deutschland. Die musikin- kämpfte man gegen Repression, Fürstenwill- teressierte Bevölkerung teilte ihre Neigung kür und Partikularismus. Zum anderen kann zwischen Bach, Händel, Mozart, Beethoven, von „Heldentum“ in Wagners Bühnenwerken Schubert, Schumann Brahms, Bruckner und nur sehr bedingt die Rede sein. Das gilt bereits Wagner: Deren aller Musik galt als gutes na- für Lohengrin: Eigentlicher Protagonist ist ja tionales Erbe. In Funktionärskreisen wurde nicht König Heinrich, sondern der Gralsritter Hitlers Wagner-Schwärmerei ohnehin nicht Lohengrin und damit ein höchst zweifelhafter vollständig geteilt. So erwies Alfred Rosen- Held. Kein Wunder, dass ausgerechnet König berg, der führende nationalsozialistische Ludwig II. von Bayern, der beständig aus sei- Kulturideologe, in seinem millionenfach ver- ner Herrscherrolle zu flüchten versuchte, sich breiteten Buch „Der Mythus des 20. Jahrhun- gern mit dieser Figur Wagners identifizierte. derts“ Wagner und Bayreuth zwar seine Re- ferenz, äußerte jedoch auch Kritik: Er nennt Man versteht die ärgerliche Reaktion von Wagners musikalische Dramen „nicht immer Thomas Mann, einem durchaus zweifleri- restlos gelungen“ und konstatiert „eine Ab- schen Wagnerianer, angesichts des „Mach- kehr von der Grundlehre Wagners, als müß- werks“ des Bruders: Da schreibt in sei- ten Tanz, Musik und Dichtkunst auf immer nen Augen einer, der offensichtlich für den und in der von ihm gelösten Weise verbun- Klangzauberer Wagner kein Ohr hat und das den werden; als sei Bayreuth tatsächlich die Kunstgenie Wagner mit dem ideologischen nicht mehr wandelbare ‚Vollendung des ari- Bad ausschüttet. schen Mysteriums‘.“

Überhaupt ist es so eine Sache mit Wag- Mit dem Stichwort „arisch“ kommt das The- ners „Helden“: Kaum einer, der nicht gebro- ma „Antisemitismus“ ins Spiel. Die Tatsache, chen wäre – das gegenwärtige Regietheater dass zu Wagners Zeiten ein aggressiver Anti- thematisiert diese Gebrochenheit fast schon semitismus nicht nur in Deutschland, sondern zum Überdruss. Und sie gilt nicht nur für die auch in Frankreich und England herrschte, Dichtung, sondern auch für die Musik: Das dass dieser innerhalb von Kunst und Literatur berühmte Walhall-Thema klingt nur bei sei- auch durch Wilhelm Buschs Bildergeschichten

APuZ 21–23/2013 5 oder Gustav Freytags Romane millionenfach Rhein und die Rheintöchter als Repräsentan- verbreitet wurde, macht Wagners Antisemitis- ten der Natur, sondern laut Regiebemerkung mus nicht besser, kann aber dabei helfen, men- auch „die Männer und Frauen“, die „dem talitätsgeschichtlich richtig zu wägen. Nicht Vorgange und der Erscheinung (…) in sprach- allein Wagners Äußerungen sind monströs, loser Erschütterung (…) zusehen“. sondern auch ungezählte seiner Zeitgenossen und Nachfolger. Und manches bei Wagner ist „Untergang“ war ein Topos, den Wagner so- bei näherer Betrachtung weniger monströs, als wohl als philosophischen Terminus von He- es von übereifrigen Autoren präsentiert wird. gel als auch aus dem ihm sicherlich bekannten Das gilt zum Beispiel für den Topos „Erlösung lutherischen Katechismus entnehmen konnte, durch Untergang“, den Wagner in seinem ab- wo ausdrücklich vom „Untergang des alten“ stoßenden Pamphlet „Das Judenthum in der zugunsten des „neuen“ Menschen die Rede ist. Musik“ (1850) zur Sprache bringt. Der Terminus stand in seinem Denken nicht für die Auslöschung von Menschen, sondern „Erlösung durch Untergang“ ist ein Mo- für den Untergang von Systemen und Gesell- tiv, das Wagners Schaffen wie ein roter Faden schaften. Das sollte man sich auch dort vor durchzieht. Ganz nackt zeigt es sich in der Augen halten, wo es um die Schlusssätze der Urfassung des Fliegenden Holländers. Dort Schrift „Das Judenthum in der Musik“ geht. kann Senta den fluchbeladenen Holländer Wenn es dort – an die Juden gerichtet – heißt: nur dadurch erlösen, dass sie mit ihm gemein- „Aber bedenkt, daß nur Eines eure Erlösung sam in die Wogen des Ozeans springt und von dem auf euch lastenden Fluch sein kann: mit ihm untergeht. In einer späteren Fassung die Erlösung Ahasver’s, – der Untergang!“, so sowie in den nachfolgenden musikalischen meint das nicht den Untergang einzelner jüdi- Dramen wird der letztendliche Untergang – scher Menschen, sondern den Untergang des- einmal mehr, einmal weniger – ins Metaphy- sen, was seinerzeit als „Judentum“ bezeichnet sische gehoben und vor allem durch die Mu- wurde. Und zugleich malt Wagner den Unter- sik utopisch verklärt. Das enthebt uns nicht gang der ganzen modernen, dem Besitzdenken der – vermeintlich naiven, jedoch gerade im verfallenen Gesellschaft, die er sich als von Kontext des Antisemitismus nicht unwichti- diesem Judentum „verseucht“ zurechtfanta- gen – Frage, was Wagner unter „Untergang“ siert, an die Wand. genau verstanden haben könnte. Die Tagebü- cher seiner Gattin Cosima geben dazu wich- Wagner dachte nicht in den Kategorien tige Auskünfte. Am 22. März 1882 heißt es: physischer Vernichtung. Vielmehr stellte er „Untergehen werden wir, das ist gewiß; nur sich – wie vage auch immer – den Untergang kommt es darauf an, ob wir mit dem Abend- der alten zugunsten einer neuen Gesellschaft mahl enden oder in der Gosse verrecken.“ vor – wobei er von der „neuen“ Gesellschaft kein höheres Wissen hatte als das, was sein Fünf Tage später spricht Wagner von der eigener Mythos davon zu künden wusste: Zeit „nach dem Untergang des Bestehenden“, also eine vage Utopie, die sein musste, weil in der sich hoffentlich „eine Gemeinde (…) sie eben sein musste. Realität war sie letztlich bilden würde und mit inniger Auffassung des nur im Medium der Musik. christlichen Gedankens und der Verehrung der Tiere zu besseren Regionen hinwandern würde“. Am 16. September 1882 ist – in cha- Beschädigtes Werk? rakteristischer Präzisierung – vom „vollstän- digen Untergang des Besitzes“ die Rede. Das führt zu der heftig diskutierten Frage, ob Wagners Antisemitismus sein Werk, speziell Solche Äußerungen belegen, dass es hier die Wahrnehmung seiner Musik beschädige. nicht um das physische Ende der Mensch- Will man an diesem Punkt als Historiker wei- heit oder der Welt geht, sondern um den Un- terkommen, so muss man zwischen der Re- tergang der bestehenden Gesellschaft. Dazu zeption dieses Werk und Wagners eigenen In- passend zeigt auch das Ende der Götterdäm- tentionen unterscheiden. Bemerkenswert ist merung keinen Weltuntergang, sondern – wie in diesem Zusammenhang eine Eintragung der Titel es deutlich ausspricht – den Unter- Cosima Wagners in ihren Tagebüchern vom gang der Götter beziehungsweise der Göt- März 1870 anlässlich einer Aufführung der tergesellschaft. Übrig bleiben nicht nur der Meistersinger in Wien: „Unter anderem hät-

6 APuZ 21–23/2013 ten die J(uden) dort verbreitet, das Lied von Verkörperung jener animalisch-kindlich-vi- Beckmesser sei ein altes jüdisches Lied, wel- talen Komponente, die dem Parsifal ansons- ches Richard habe persiflieren wollen. Hie- ten in erschreckendem Maße abgeht. rauf Zischen im 2ten Akt und die Rufe, wir wollen es nicht weiter hören, jedoch voll- Es ist nicht zu übersehen, dass diese Ambi- ständiger Sieg der Deutschen. R. sagt: ‚Das valenzen, die sicher schon vielen Bayreuth-Be- bemerkt keiner unsrer Herren Kulturhisto- suchern der ersten Stunde entgangen sind, im riker, daß es jetzt so weit ist, daß die Juden Zeichen der Festspielleitung von Cosima Wag- im kaiserlichen Theater zu sagen wagen: Das ner und ihrem Sohn Siegfried kaum mehr zur wollen wir nicht hören‘.“ Geltung gekommen sind: Cosima war eine noch glühendere Antisemitin als ihr Mann; Wagners Äußerung lässt zwar an Deutlich- Siegfried, ihr gemeinsamer Sohn, war in ho- keit nichts zu wünschen übrig, geht jedoch hem Grade völkisch gesonnen und einer der nicht auf den Vorwurf ein, er habe ein altes wenigen Duzfreunde Hitlers. Zwischen Hit- jüdisches Lied persiflieren wollen; auch gibt ler und Siegfrieds Gattin Winifred, welche die es unter seinen vielen Äußerungen zur Rol- Festspiele nach seinem Tod bis 1944 leitete, be- le Beckmessers keine einzige antisemitisch stand bekanntlich gleichfalls große Sympathie. gefärbte. Das hat seinen guten Grund: Zwar mag man nicht ausschließen, dass Wagner bei Wer Wagner heute deuten oder inszenieren Beckmessers Gehudel auch jenen Synagogal- will, tut gut daran, das Kind nicht mit dem gesang im Ohr gehabt hat, über den er sich in Bad auszuschütten – weder in die eine noch seiner Schrift „Das Judenthum in der Musik“ in die andere Richtung. Es ist weder produk- so abfällig äußert. Jedoch hätte es weder in die tiv, Wagners Bühnengestalten gegen jeder- Meistersinger-Handlung gepasst, einen in sei- art antisemitische Konnotationen verteidigen nem Amt hochangesehenen Nürnberger Stadt- zu wollen, noch ergibt es Sinn, beständig auf schreiber als Juden zu deklarieren, noch wäre diesem Punkt patzig zu beharren. dies Wagners Anspruch gerecht geworden, sei- ner Botschaft Allgemeingültigkeit zu verlei- In dieser Hinsicht sind Wieland und Wolf- hen. Man verengt die Rolle Beckmessers, wenn gang Wagner (die Enkel Richard Wagners) man sie auf antisemitisches Ressentiment fest- mit dem „Neuen Bayreuth“, wie man die Ära legt. Als Kritikaster und Hagestolz steht Beck- der Bayreuther Festspiele seit 1951 zu nennen messer in einer langen Tradition von Lustspiel- pflegt, einen sinnvollen Weg gegangen. Ohne figuren, die am Ende den Schaden haben und dass sie anfänglich schon den Mut hatten, alle für den Spott nicht zu sorgen brauchen. personellen Verstrickungen der Familie in den Nationalsozialismus offenzulegen, pflegten sie Wagner war auf die Allgemeingültigkeit einen Inszenierungsstil, der des Völkischen seiner Bühnengestalten aus, und seine Kunst oder gar Antisemitismus vollkommen unver- bestand darin, sie in vielen Facetten zu zei- dächtig war. Vor allem aber luden sie auswär- gen. Mit allzu grober Schwarz-Weiß-Male- tige Regisseure ein, die Wagners Werk auf un- rei kommt man da nicht weiter: In Wotan ist belastete und unbefangene Weise zu deuten viel von Alberich – einem weiteren Kandida- und zu inszenieren wussten. Diese Haltung ten für antisemitische Konnotationen; und in ist auf die Halbschwestern Eva Wagner-Pas- Alberich ist viel von Wotan. Dass Wagner den quier und (die Urenkelin- Brief an einen Freund mit „Dein Alberich“ nen Richard Wagners) als derzeitige künstle- unterzeichnete, kann man nicht nur als situ- rische Leiterinnen der Bayreuther Festspiele ationsbedingten Scherz abtun. Er zeigte näm- übergegangen: Man mag über die Einfälle des lich auch ansonsten viel Sympathie für diese modernen Regietheaters, das definitiv auch in Rolle und gab damit zu verstehen, dass er von Bayreuth Einzug gehalten hat, entzückt oder Engführungen aller Art nichts hielt. Selbst erbost sein – eine ideologische Verhärtung ist Kundry, die via Textbuch expressis verbis eine jedenfalls nicht festzustellen. Anderenfalls „Jüdin“ ist, geht in dieser Funktion nicht auf. würde nicht Frank Castorf im Jubiläumsjahr Vielmehr ist sie Wagners mythologisch reich- den Bayreuther Ring inszenieren – als „Para- haltigste und vielleicht fesselndste Bühnen- bel auf Ölrausch und Globalisierung“, wie er gestalt: nicht nur Doppelwesen aus Verderbt- verlauten ließ. heit und büßender Maria Magdalena, sondern auch – auf verzerrte, aber kenntliche Art –

APuZ 21–23/2013 7 Udo Bermbach ich will zerbrechen die Gewalt der Mächti- gen, des Gesetzes und des Eigentums. Der ei- gene Wille sei der Herr des Menschen, die ei- „Die große Mensch- gene Lust sein einzig Gesetz, die eigene Kraft sein ganzes Eigentum, denn das Heilige ist al- lein der Freie Mensch, und nichts Höheres ist heitsrevolution“. denn Er.“ ❙2 In diesem provokant-aufrühreri- schen Stil endet das Pamphlet schließlich mit Wagners politisch-­ der Gewissheit, es werde der „ganzen Welt das neue Evangelium des Glücks“ ❙3 verkündet.

ästhetische Utopie Niemals zuvor und auch niemals später hat Wagner radikaler gegen Gesellschaft und Po- litik formuliert, niemals mehr hat es von ihm und ihre Interpretation eine schärfere Absage an die Zustände der ei- genen Zeit gegeben als in dieser Revolutions- veröffentlichte Richard Wagner schrift. Zwar verwerfen auch die übrigen re- 1849 ei­nen Text über die Revolution. volutionären Texte, die er während der Jahre Fast in Parallele zum berühmten ersten Satz 1848/1849 geschrieben und veröffentlicht hat, des Kommunistischen den Status quo und formulieren kompromiss- Udo Bermbach Manifests von Karl los, aber in keiner gibt es diese unerbittliche Dr. phil. Dr. h. c., geb. 1938; Marx und Friedrich Schärfe. Am Kern seiner Aussagen hat Wag- Professor em. für Politische Engels, „Ein Gespenst ner ein Leben lang festgehalten. Die Absage Wissenschaft an der Universität geht um in Europa, es an eine Politik, deren Ergebnis – wie er mein- Hamburg mit dem Schwerpunkt ist das Gespenst des te – in falschen, mit Marx zu reden „entfrem- Politische Theorie und Ideenge- Kommunismus“, be- deten“ gesellschaftlichen, politischen und schichte; Autor des Buches „My- ginnt er mit dem Satz, kulturellen Strukturen bestand, findet sich in thos Wagner“ (2013); Schwarz- „durch ganz Europa vielen Schriften, Briefen und Äußerungen bis pappelweg 7, 22391 Hamburg. (gehe) das Gähren ei- an sein Lebensende. Und es ist nicht übertrie- [email protected] ner gewaltigen Bewe- ben zu sagen, dass sein Kunstkonzept, die Vi- gung“, die über alles sion eines musikdramatischen Gesamtkunst- hereinzubrechen drohe und „alles zerstörend werks, auf dieser revolutionären Haltung sich ins Tal hinabwälze“. ❙1 Es sei, so fuhr er aufbaut und als Gegenentwurf gedacht war – fort, die „erhabene Göttin Revolution“, die für eine Welt, in der die Kunst an Stelle der „ewig verjüngende Mutter der Menschheit, Politik das entscheidende Medium einer neu- vernichtend und beseeligend“ zugleich, die da en Vergemeinschaftung sein sollte. heranbrause und alles zerstöre, um den Men- schen Gerechtigkeit und Glück zu bringen, begrüßt von den „Jubelgesängen einer befrei- Probleme der nationalen Identität ten Menschheit“. Die kurze Schrift endet mit einem „Gruß an die Revolution“, in dem es Eine so weitgreifende Konzeption, wie Wag- unter anderem heißt: „Ich bin das ewig ver- ner sie in seinen großen politisch-ästheti- jüngende, das ewig schaffende Leben! Wo ich schen Schriften während der ersten Jahre nicht bin, da ist der Tod! Ich bin der Traum, seines Schweizer Exils 1849 bis 1851 formu- der Trost, die Hoffnung der Leidenden! Ich liert hat – es geht um „Die Kunst und die Re- vernichte, was besteht, und wohin ich wandle, volution“, „Das Kunstwerk der Zukunft“, da entquillt neues Leben dem toten Gestein. „Oper und Drama“ –, ist allerdings nicht vo- (…) Ich will zerstören von Grund aus die Ord- raussetzungslos. Sie schließt an Traditionen nung der Dinge, in der ihr lebt, denn sie ist an, die entscheidend die deutsche Geschich- entsprossen der Sünde, ihre Blüte ist das Elend te geprägt haben, lange vor Wagner und weit und ihre Frucht das Verbrechen; die Saat aber ist gereift, und der Schnitter bin ich. Ich will ❙1 zerstören jeden Wahn, der Gewalt hat über die Richard Wagner, Die Revolution, in: ders., Gesam- melte Schriften und Dichtungen (GSD), Bd. 12, Leip- Menschen. Ich will zerstören die Herrschaft zig 1907, S. 243. des Einen über den Andern, der Toten über ❙2 Ebd., S. 246 f. die Lebendigen, des Stoffes über den Geist; ❙3 Ebd., S. 249.

8 APuZ 21–23/2013 über ihn hinaus, bis in die erste Hälfte des und Musik – ganz allgemein auf ihre Kultur. 20. Jahrhunderts. Das schuf einen Gegensatz zu jenen west- lichen „Staatsnationen“, die, wie etwa die Man muss weit zurückgehen, um an die Franzosen, sich primär über Politik definier- Anfänge dieser Entwicklung zu gelangen, ten. „Kulturnation“ versus „Staatsnation“ – im Zweifelsfalle bis zum Westfälischen Frie- der Historiker Friedrich Meinecke hat noch den von 1648 mit dem Ergebnis der Bildung 1907 das gespannte Verhältnis des Deutschen einer Vielzahl deutscher Länder. Wichtig für Kaiserreiches zu seinen Nachbarn mit diesem die Neuzeit waren die fehlgeschlagenen Hoff- Begriffsantagonismus beschrieben und da- nungen deutscher Intellektueller, im Zeitalter mit etwas charakterisiert, das deutsche Ge- der sich bildenden Nationalstaaten nach dem schichte vor allem seit dem 18. Jahrhundert Sieg über Napoleon ein gemeinsames Deut- entscheidend ­mitbestimmte. ❙4 sches Reich aufzurichten, dessen Realisierung am Machtkalkül europäischer Mächte schei- Unter allen kulturellen Leistungen kam der terte. Noch einmal richteten sich solche Hoff- Musik noch einmal eine besondere Stellung nungen, die nationale Einheit politisch zu zu. Sie galt als übernationale Sprache, die erreichen, 1848/1849 auf die Frankfurter Na- von allen Völkern verstanden werden konn- tionalversammlung, die eine in Ansätzen de- te. Und sie war in der Moderne eine deutsche mokratisch-konstitutionelle Verfassung unter Domäne. Vor allem die Instrumentalmusik, der Führung eines deutschen Kaisers preu- die Sinfonik, die Kammermusik, die instru- ßischer Herkunft durchsetzen wollte, dabei mentalen Solokonzerte seit dem Ausgang des aber scheiterte. Ihr Ende trieb die beteiligten 18. Jahrhunderts gaben der deutschen Musik sozialistischen, demokratischen und liberalen in Europa eine einzigartige Bedeutung. Mit Politiker in resignierende Verzweiflung und, Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Schu- soweit sie überlebten, ins Exil, wo beispiels- mann, Mendelssohn Bartholdy oder auch weise Richard Wagner in Zürich noch einige Liszt, Brahms und Bruckner – um nur die von ihnen in seinem engsten Freundeskreis wichtigsten Komponisten zu nennen – ge- erlebte. Westfälischer Friede, Befreiungskrie- wann die deutsche Musik in Europa eine un- ge und Paulskirchenversammlung sind hier bestrittene und allgemein anerkannte Vor- nur beispielhaft genannt als drei Wegmarken rangstellung. Der Stolz darauf legte nahe, die für lang wirkende und folgenreiche politische immer wieder enttäuschten politischen Hoff- Enttäuschungs­erfahrungen. nungen durch diese kulturelle Sonderstellung zu kompensieren. Es war kein Zufall, son- Vor diesem Hintergrund kann es kaum dern Folge dieser Entwicklung und ihrer eu- verwundern, dass die Deutschen – worun- ropäischen Anerkennung, dass Musiker und ter im 19. Jahrhundert selbstredend auch Komponisten aus aller Welt an das von Felix die Österreicher und deutsche Minderhei- Mendelssohn Bartholdy 1843 in Leipzig ge- ten in Nachbarländern, gelegentlich sogar gründete Konservatorium kamen, um hier die die deutschsprachigen Schweizer verstan- deutsche Musik an ihrer Quelle zu studieren. den wurden – die versagte politische Einheit Auch darin drückte sich aus, dass die Musik durch ihr kulturelles Selbstverständnis zu um die Mitte des 19. Jahrhunderts zum Leit- kompensieren suchten. Was die Politik nicht medium des deutschen kulturellen Selbstver- erbringen konnte, das spielte die Kultur of- ständnisses avanciert war. Der ästhetische fenbar leicht ein: Die Dichter der Weima- Diskurs über Literatur, über bildende Kunst, rer Klassik, allen voran Goethe und Schiller, vor allem aber über Musik, war im 19. Jahr- wurden über die deutschen Grenzen hinaus hundert in Deutschland – und dies weit bis in verehrt; die Philosophie des deutschen Idea- das 20. Jahrhundert hinein – deshalb nie nur lismus, die Philosophie eines Kant, Hegel und ein rein ästhetischer, sondern stets auch, ver- deren Nachfolger weit über die deutschen deckt oder offen, entschieden politisch kon- Sprachgrenzen hinaus als Vorbild und Ori- notiert. ❙5 Damit aber wuchsen der Kultur Er- entierung gewertet. Die Deutschen verstan- den sich, nicht zu Unrecht und aus trotzig ❙4 wie stolz akzeptierter Notwendigkeit heraus, Vgl. Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Na- tionalstaat, Stuttgart 1962. primär als eine Kulturnation, und sie gründe- ❙5 Vgl. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte ten ihre nationale Identität zwangsläufig auf 1866–1918, Bd. I: Arbeitswelt und Bürgergeist, Mün- die gemeinsame Sprache, auf ihre Literatur chen 1993, S. 741 ff.

APuZ 21–23/2013 9 wartungen zu, die sie nicht erfüllen konnte. nen sei jenes Medium, das die Nation be- Will man vom „deutschen Sonderweg“ reden, gründe. Hatte Kant – und mit ihm Schil- dann liegt er in diesem komplexen und au- ler – gemeint, die Suche nach Schönheit sei ßerordentlich eigenen Verhältnis von Kunst, in jedem Menschen angelegt, so gab dies die Kultur und Politik begründet. Basis für eine zwanglose Vergesellschaftung ab: „Das Schöne allein genießen wir als Indi- viduum und Gattung zugleich, das heißt als Schillers ästhetischer Diskurs Repräsentant der Gattung“, ❙10 schrieb Schil- ler, und er meinte dann, dass dieser Genuss Schon Friedrich Schiller hatte mit seinen eben potenziell allen Menschen gleicher- Briefen „Über die ästhetische Erziehung des maßen zukomme. Das aber hieß auch, dass Menschen“ die Kunst gegen die Politik aus- der „ästhetische Staat“ alle weltanschauli- gespielt und davon gesprochen, die Kunst chen und sozialen Differenzierungen in der müsse „die Wirklichkeit verlassen und sich Teilhabe aller Menschen an der ästhetischen mit anständiger Kühnheit über die Bedürf- Erfahrung überwinden könne. Politische nisse erheben; denn die Kunst ist die Toch- Konfliktlösung also durch ästhetischen Dis- ter der Freiheit“. ❙6 Man müsse, um politische kurs – eine sehr deutsche Überzeugung, am Probleme zu lösen, „durch das Ästhetische Ende auch eine verhängnisvolle, wie die Ge- den Weg nehmen“, „weil es die Schönheit ist, schichte dann zeigen sollte. durch welche man zu der Freiheit wandert“ ❙7 – ein Gedanke, der sich später bei Wagner – Schillers Überlegungen, die hier nur an- in „Heldenthum und Christenthum“ – in sei- deutend, aber beispielhaft zitiert werden, nem Wunsch nach einer „ästhetischen Welt- stießen auf eine breite Rezeptionsbereit- ordnung“ ❙8 wiederfindet. Dies hieß auch, schaft: Die Vorstellung einer durch die Kunst dass Politik und Freiheit nicht a priori mit- sich harmonisierenden Gesellschaft war den einander verbunden waren, sondern persön- deutschen Bildungsschichten sympathisch. liche wie nationale Freiheit aus ästhetischer „Im Kunstwerk werden wir Eins sein“, ❙11 Erfahrung resultierte. Freiheit war gleichsam schrieb Wagner ein halbes Jahrhundert spä- jenseits der Politik durch ästhetische Erfah- ter in seinem „Kunstwerk der Zukunft“ und rung außerhalb der konkreten Realität ver- brachte damit die tiefe Sehnsucht nach natio- ortet. Wer so dachte, verließ sich nicht auf naler Einheit auf eine prägnante Formel, die Politik, sondern zog sich auf die Ebene des Schillers ästhetische Einheitsutopie auf eige- Ästhetischen zurück. Wie hier Sozialität ent- ne, und, wie sich zeigen sollte, musikdrama- stehen sollte, glaubte Schiller bei Kant in tisch höchst wirkungsvolle Weise aufnahm. dessen Theorie des Erhabenen nachlesen zu können: Gemeinsam geteilte ästhetische Ein- drücke sollten kommuniziert werden und Wagner: Kunst versus Politik dadurch Gesellschaft herstellen. Für Schil- ler war deshalb die ästhetische Erziehung des Die Kompensation versagter politischer Menschen entscheidend, sie sollte zu einem Einheit durch Kunst und Kultur ist freilich „ästhetischen Staat“ führen, „dem die Schön- nur ein, wenn auch ein entscheidendes Mo- heit allein geselligen Charakter verleiht“. ❙9 tiv, die Kultur zum Leitmedium des deut- schen Selbstverständnisses zu machen. Der Diese Grundüberzeugung wurde für die im 19. Jahrhundert einsetzende Prozess ei- politische Entwicklung Deutschlands im 19. nes tief greifenden gesellschaftlichen Wan- und in Teilen des 20. Jahrhunderts folgen- dels löste weithin Verunsicherung und Äng- reich. Denn sie implizierte die These, nicht ste aus. Modernisierungsschübe, die durch die Politik, sondern die Erfahrung des Schö- die beginnende Industrialisierung zu Säku- larisierungstendenzen, zur Stärkung ratio- ❙6 Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung naler Wissenschaft, zu sozialen Umbrüchen des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: ders., und Verwerfungen und damit zur Pluralisie- Sämtliche Werke, hrsg. von Gerhard Fricke/Herbert rung und Individualisierung der Gesellschaft Göpfert, München 1980, Bd. V., S. 573. ❙7 Ebd., S. 667. ❙8 Richard Wagner, Heldenthum und Christenthum, ❙10 Ebd., S. 668. in: GSD, Bd. 10, S. 284. ❙11 Richard Wagner, Das Kunstwerk der Zukunft, in: ❙9 F. Schiller (Anm. 6), S. 667. GSD, Bd. 3, S. 50.

10 APuZ 21–23/2013 führten, rissen viele Menschen aus sicher ge- taphysische Realität“, ❙14 der „wirklichen Re- glaubten Verhältnissen. Solche Friktionen alität“ weit überlegen, zugleich aber Medium schafften existenzielle Unsicherheit und er- der Aufklärung über das, was wünschens- laubten es immer weniger, die Gesellschaft wert erschien. Das alles wurde zugespitzt als Einheit zu denken. und gesteigert durch Arthur Schopenhauers Willensmetaphysik, die ihre direkte Einlö- Die großen philosophischen Entwürfe eines sung in der Musik findet: In der Musik kom- Kant und Hegel schienen zwar noch einmal me die Welt gleichsam rein und unverfälscht eine Antwort auf diese verstörenden Erfah- zum Klingen, sie antizipiere das „Ganze“ ei- rungen geben zu können, wurden sie doch als ner besseren Welt; bei ihrem Anhören „be- umfassende „Systeme“ konzipiert, die es er- gehrt man nichts weiter, man hat Alles, man lauben sollten, die Gesamtheit der heraufzie- ist am Ziel: allgenugsam ist diese Kunst, und henden Vielheit als harmonisches „Ganzes“ die Welt ist vollständig wiederholt und aus- zu denken. Und auch die Romantiker begeg- gesprochen in ihr“. ❙15 neten der Moderne mit Gegenutopien: No- valis hoffte auf die Universalität der katholi- Die Reihe derer, die in diese Richtung dach- schen Kirche, Wilhelm von Humboldt feierte ten und auf diese Weise faktisch Flucht aus der die Sprache als Universalie, und in der Kunst, Wirklichkeit betrieben, ließe sich lange fort- auch bei Wagner, wurde das „Ganze“ religi- setzen; und natürlich gehört Richard Wag- ös verklärt. Doch gerade die Disziplin, die ner dazu, dessen Vorstellungen vom Gesamt- für das „Ganze“ eigentlich zuständig war, die kunstwerk mit seinen antipolitisch-politischen Theologie, setzte mit der historischen Bibel- Intentionen den einsamen Höhepunkt dieser kritik die Subjektivierung des Protestantis- Denk- und Fluchtbewegungen abgibt. Sein mus in Gang und ermöglichte jenes „arische ästhetisches Konzept einer Integration aller Christentum“, das auch Bayreuth propagier- Künste und deren Realisierung im Bayreuther te. Wo die Religion künstlich werde, bemerkte Festspielhaus war dezidiert als Gegenentwurf Richard Wagner, sei es der Kunst vorbehalten, zur Politik gedacht, der er unterstellte, sie „den Kern der Religion zu retten“. ❙12 habe versagt und nur Elend über die Mensch- heit gebracht. Die Theorie des Gesamtkunst- Was als Modernisierung auftrat und in werks zog kompromisslos die Konsequenzen Pluralisierung und Individualisierung mün- aus jenen oben erwähnten politischen Ent- dete, wurde von vielen – nicht nur konser- täuschungserfahrungen und propagierte eine vativen – Intellektuellen und Künstlern als qualitativ neue Vergemeinschaftung, zunächst Zerfall, als Auflösung und Dekadenz begrif- der Deutschen, später der Menschheit insge- fen, wogegen Widerstand geboten schien. samt, und zwar im Modus der Kunst. Damit Die Flucht in die einheitsstiftende Kunst setzte Wagner ein spezifisch deutsches Kultur- erschien als ein solcher Weg, und die deut- paradigma gegen ein in Europa ansonsten vor- sche Kulturnation beschritt ihn freudig. Der herrschendes Politikparadigma. Er tat dies mit Romantiker Wilhelm Heinrich Wackenro- einer Radikalität, die auf die vollständige Ab- der ist hier nur eine Referenz, aber ein wir- schaffung aller Politik abzielte. kungsmächtiger Beginn; er sang das Lob der Musik, weil durch sie die Einheit des Lebens Die „große Menschheitsrevolution“, ❙16 von neu erfahren werden könne, weil ihr Erklin- der Wagner träumte, sollte den Raum schaf- gen die desaströse Realität verschwinden las- fen für eine völlig neue Kunst, für seine se, die Menschen in jene Sphären hebe, in de- Kunst natürlich, die den durch die Revolu- nen sich durch „manche wunderbare neue tion gegangenen Menschen den Weg in eine Wendung und Verwandlung der Empfin- ästhetische Zukunft bahnen sollte. „Wir se- dung“ ein neuer „Zusammenhang der Ge- hen die Zukunft immer nur mit dem Auge fühle mit der wirklichen Welt“ ❙13 ergebe. Für E.. T A. Hoffmann war die Musik eine „me- ❙14 .E T A Hoffmann, Ludwig van Beethoven, 5. Sin- fonie, in: Schriften zur Musik. Aufsätze und Rezen- sionen, München 1977, S. 34. ❙12 Richard Wagner, Religion und Kunst, in: GSD, ❙15 Arthur Schopenhauer, Handschriftlicher Nach- Bd. 10, S. 211. lass; zit. nach: Carl Dahlhaus, Klassische und roman- ❙13 Wilhelm Heinrich Wackenroder, Herzensergie- tische Musikästhetik, Laaber 1988, S. 19. ßungen eines kunstliebenden Klosterbruders, in: ❙16 Richard Wagner, Die Kunst und die Revolution, Werke und Briefe, Heidelberg 1967, S. 218. in: GSD, Bd. 3, S. 29.

APuZ 21–23/2013 11 der Gegenwart, mit dem Auge, (…) das es, Die literarische Strategie zielte darauf ab, als Maaß der gegenwärtigen Menschen, zum den „Urquell“ deutscher Existenz und deut- allgemein menschlichen Maaß überhaupt schen Selbstverständnisses aus der Verges- macht“, ❙17 schrieb er und fuhr fort, es komme senheit zu holen und bewusstseinsformie- aber darauf an, einschränkungslos das Neue rend einzusetzen. So suchte etwa Hans von zu denken, sich also jene „ästhetische Welt- Wolzogen, von 1878 bis 1938 Redakteur und ordnung“ zu imaginieren, von der schon die Herausgeber der „Bayreuther Blätter“, mit Rede war. Und sofern er darüber nachdachte, einer breit angelegten Kritik an dem angeb- was denn deutsch sei, kam er zu keiner an- lich um sich greifenden Verfall der deut- deren Antwort als eben der, „daß das Schö- schen Sprache den Verfall des „Deutschtums“ ne und Edle nicht um des Vortheils, je selbst schlechthin zu demonstrieren: Wagners Kla- nicht um des Ruhmes und der Anerkennung ge über die „Verhunzung der Sprache“ ❙19 willen in die Welt tritt“, sondern nur um sei- wurde hier verschärft zur sprachlichen „Ver- ner selbst willen, und nur dieses Prinzip „zur rottung“ ❙20 durch die vor allem „jüdisch“ ge- Größe Deutschlands führen“ ❙18 könne. prägte, publizistische „Schlamperei“, die ih- rerseits Indikator wäre für den moralischen, Doch Wagner übersah die Dialektik des sittlichen und intellektuellen Niedergang der von ihm geforderten Prozesses: Die Überbie- Deutschen. Sprache war für die Bayreuther tung der Politik durch die Kunst musste der nicht nur ein Verständigungs- und Kommu- Kunst zwangsläufig jene Aufgaben aufbür- nikationsmedium, sondern sie tradierte Ide- den, die in der Regel Sache der Politik waren. ale, Werte und den „hohen Sinn“ eines in Die Kunst wurde damit politisiert. Das – wie seiner „Art“, das heißt „rassisch“ verbunde- Wagner es formulierte – „Reinmenschliche“ nen Volkes. Daher wäre sie etwas „Heiliges“, über die Kunst wieder zur Geltung bringen und das Deutsche stünde – wie der nach Bay- zu wollen, war selbst eine durch und durch reuth übergesiedelte, rassenideologisch argu- politische Zielsetzung, auch wenn die Mittel mentierende Publizist und Wagner-Verehrer scheinbar ästhetischer Art waren. Houston Stewart Chamberlain meinte – un- ter den lebenden Sprachen „einzig da, in ei- ner Majorität und Lebensfülle, die jeden Ver- Bayreuther Interpretationen gleich ausschließt“. ❙21

Wagners Hoffnungen auf ein ­Zurücktreten des Von der Sprache war es für Bayreuth ein Politischen vor einem kulturalistischen Identi- kurzer Weg zur Kultur insgesamt. Dass die täts- und Nationalverständnis der Deutschen Kultur in Deutschland sich mehr und mehr wurde von seinen Erbwaltern zwar prinzipi- dem Einfluss der westlichen Zivilisation ge- ell übernommen, zugleich aber inhaltlich ver- öffnet hatte, vor allem aus Frankreich, ver- ändert. In der von Bayreuth ausgehenden Po- stand man als entscheidende Ursache für den litik-, Gesellschafts- und Kulturkritik nach vermeintlichen Niedergang hochkultureller Wagners Tod verengte sich die Interpretation deutscher Institutionen wie Oper und The- seines Denkens zunächst auf ein ausschließ- ater. Vorgeblich alte germanische Tugenden lich national verstandenes „Deutschtum“, wie wurden einem, wie man glaubte, zutiefst un- es das Bismarck-Reich politisch gebracht hat- deutschen „Internationalismus“ geopfert. te, später auf ein arisch verstandenes. Wagner Dass der um und um gewendete „Germanen- wurde rassistisch eingefärbt. In den Publika- mythos“ eine Konstruktion war, kümmerte tionen der Mitglieder des „Bayreuther Krei- dabei niemanden. ❙22 Man nahm ihn für his- ses“ und vor allem in den „Bayreuther Heften“ torisch wahr und leitete daraus ab, dass das entfaltete sich ein Weltbild, in dem die durch moderne Deutschland seine „grosse weltge- zivilisatorische Überfremdung verschütteten „echt-deutschen Werte“, wie es hieß, beschwo- ❙19 Richard Wagner, Über die Benennung „Musik- ren wurden. drama“, in: GSD, Bd. 9, S. 303. ❙20 Vgl. Udo Bermbach, Richard Wagner in Deutsch- land, Stuttgart–Weimar 2011, S. 79 ff. ❙17 Ders., Das Kunstwerk der Zukunft, in: GSD, ❙21 Houston Stewart Chamberlain, Die deutsche Bd. 3., S. 172. Sprache, in: Bayreuther Blätter, 37 (1914), S. 249 ff. ❙18 Ders., Was ist Deutsch?, in: GSD, Bd. 10, S. 48. ❙22 Vgl. Ingo Wiwjorra, Der Germanenmythos. Kon- Vgl. Udo Bermbach, Der Wahn des Gesamtkunst- struktion einer Weltanschauung in der Altertumsfor- werks, Stuttgart–Weimar 2004, S. 337 ff. schung des 19. Jahrhunderts, Darmstadt 2006.

12 APuZ 21–23/2013 schichtliche Kulturprobe (…) nicht beste- die Wagner am Ende seines „Kunstwerks der hen“ und die „grosse Barbarei“, die an Stel- Zukunft“ angedacht hatte. le der deutschen Kultur aufwachse, alles in den Untergang ziehen werde. ❙23 Was immer Drittens: Diese christliche Basis verband die Bayreuther Autoren ins Visier nahmen, sich mit der Vorstellung einer zur „Kunst- überall sahen sie „Entsittlichung“, „Entgeis- religion“ überhöhten Kunst, durch die man tigung“, „Verfall seelischer Kräfte“, Tenden- die „wahre“ christliche Religion wiederge- zen, denen sich ihrer Überzeugung nach ein- winnen werde: „Denn ist die Mitwirkung der zig und allein mit Wagners Weltanschauung Kunst für den Wiedergewinn einer wahrhaf- und Werken entgegentreten ließ: „Im Wider- ten Religion unentbehrlich, so ist anderer- streit der Völker auf Leben und Tod ist Wag- seits wahrhafte Kunst nur als Emanation der ner recht eigentlich zum Erkennungszeichen Religion denkbar“ – so Chamberlain. ❙25 des Echtdeutschen geworden; und soweit es dies Echtdeutsche ist, dessen Sieg der Welt die Viertens: Für Religion wie Kunst ließen sich Erhaltung und Ausbildung einer edlen Men- „arische“ Wurzeln ausmachen, die im deut- schenkultur verheißt, ist auch der Wagner- schen Volk noch vorhanden wären. Deren Re- Geist das mächtige Lebenszeichen unserer vitalisierung würde, so die Hoffnung, zu einem Zukunft“, ❙24 schrieb Wolzogen 1917. erneuerten „arischen Mythos“ ❙26 führen, der in der Kunst seinen ästhetischen Ausdruck, in der Aus einer systematischen Verfälschung Wag- Religion seinen „tieferen“ Sinn finden konnte. ners heraus wurde so das Bild eines Volkes ge- zeichnet, das durch Aufgabe seiner ureigensten Fünftens: Das Verschmelzen von Religion Werte, Traditionen und Formen unvermeidbar und Kunst sollte jene Kraft gegen eine fal- dem Untergang geweiht schien. Zu wenden sche Moderne hervortreiben, durch welche wäre solches Schicksal nur durch einen radi- die „Regeneration“ der Deutschen bewirkt kalen und fundamentalen Wandel der politi- werden könnte. Das „lebendige Gebilde ei- schen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturel- ner tiefreligiösen Kunst (…) ist es, woraus al- len Entwicklung, durch eine „Regeneration“, lein der Antrieb und die ermöglichende Kraft die vor allem Chamberlain – im Anschluss an zur Ausführung der Regeneration erfolgen Stichworte Wagners – eingehender umschrieb. kann“, schrieb Chamberlain, die „menschli- Fasst man zusammen, was diese bedeuten soll- che Gesellschaft muss gründlich umgestal- te, so lassen sich folgende Punkte ausmachen: tet werden, was aber nur mit Hilfe der Kunst (die, wie wir wissen, von Religion nicht ge- Erstens: „Regeneration“ wurde als eine trennt zu denken ist), geschehen kann“. ❙27 weitreichende und die Revolution an Ein- griffstiefe übertreffende Forderung verstan- Sechstens: Im Hintergrund solcher Vorstel- den, die auf die grundlegende Veränderung lungen war stets auch die „Rasse“ als ein be- aller Lebensbereiche – nicht nur der poli- stimmendes Moment präsent. Im Bayreuther tischen und sozialen – zielte. Durch „Rege- und völkischen Umfeld setzte man implizit, neration“ sollte die „echte“ deutsche Kultur aber stets prinzipiell voraus, dass alle Erneu- zum eigentlichen Medium einer neuen Verge- erung der Kultur nur durch den bewussten meinschaftung werden. Rückbezug auf die „eigene Rasse“ erfolgen könne. Allerdings war unklar, wie der Be- Zweitens: Eine entscheidende Grundlage griff der „Rasse“ eigentlich präzise zu ver- dieser „Regeneration“ wäre ein erneuertes, stehen war, was er genau meinte. Klar war, gleichsam verschlanktes, auf wenige Grund- dass er nicht eindeutig im biologischen Sinne gehalte reduziertes Christentum, ohne kirch- verwandt wurde, ❙28 jedenfalls nicht von den liche Organisation und Hierarchien. Die Vordenker Bayreuths plädierten für eine ❙25 Houston Stewart Chamberlain, Richard Wagner, christliche Netzwerkorganisation, ähnlich München 19369, S. 246. jenen „künstlerischen Genossenschaften“, ❙26 Felix Gross, Die Kultur der Zukunft, in: Bay- reuther Blätter, 30 (1907), S. 10 ff. ❙27 . H S. Chamberlain (Anm. 25), S. 246 f.; S. 252. ❙23 Hans von Wolzogen zit. nach: U. Bermbach ❙28 Vgl. den Begriff der „Geist-Rasse“ bei Uwe (Anm. 20), S. 88. Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelmini- ❙24 Ders., Deutsche Eroberung, in: Bayreuther Blät- schen Kaiserreich. Sprache-Rasse-Religion, Darm- ter, 40 (1917), S. 2. stadt 2001, S. 71 ff.

APuZ 21–23/2013 13 führenden Bayreuther Ideologen, auch wenn schworen – schienen sie doch einen Weg zu immer wieder von Natur und Blut die Rede weisen zwischen der „dekadenten westlichen war und das „Arische und Germanische“ als Modernisierung“ einerseits und dem „sozi- dem „unserem lebendigen Blute Eigenthüm- alistischen Internationalismus“ andererseits. liche“ ❙29 bezeichnet wurde. „Rasse“ wurde Zutiefst waren die Bayreuther davon über- eher als eine mentale und kulturelle Eigen- zeugt, dass dieser von Kultur und kulturel- schaft aufgefasst, weil man überzeugt war, es ler Überlegenheit vorgezeichnete Weg nicht gebe keine „wirklich reine Rasse“ mehr, wohl nur die einzige Chance für Deutschland sei, aber einen „sicheren Rassegeist“: Der sei, wie sondern auch Vorbild für die übrigen europä- Wolzogen meinte, jener „Stempel der Rasse, ischen Völker, sobald diese den wahren Wert den jeder trägt“, sei „also von geistiger Prä- der Kultur erkannt hätten. gung“. ❙30 „Rasse“ erschien als das Fundament für die Entwicklung jedes Einzelnen, auf ihr Der deutsche Mythos von der Kultur als entwickle sich Individualität, sie bestimme der Basis nationaler Identität und vom Vor- auch die Aneignung der Welt, die Religion, rang der Kunst vor aller Politik hatte sich hier die Wissenschaft und vor allem die Kunst ei- zum Äußersten verdichtet, zum Mythos der nes Volkes. Rettung der Deutschen durch „arteigene“, das heißt „arische“ Kultur. War die Überzeu- In Bayreuth war man überzeugt, dass sich gung von der deutschen „Kulturnation“ har- im „Rassegeist“ der Deutschen auch die ter narrativer Kern dieses Mythos, so lagerten edelsten Anlagen der „arischen Rasse“ erhal- sich die Thesen einer protestantisch inspirier- ten hätten, jene Substanz, die für die „Rege- ten Innerlichkeit, einer rassischen Fundierung neration“ entscheidend sei: hoher Idealismus, deutscher Kunst und Art – verbunden mit ei- Verweigerung einer materialistischen Le- nem ständig schärfer werdenden Antisemitis- benshaltung (was antijüdisch gemeint war), mus – wie variierende Ringe um diesen herum Vergeistigung der eigenen Lebensführung, und formten das kulturalistische Paradigma, Streben nach innerer Freiheit (was antiwest- von dem die nationalistische und völkische lich gemeint war), Heldentum der Seele, Tat- Rechte die Rettung Deutschlands erhoffte. kraft und Willensstärke. In Wagners Kunst waren für die Bayreuther Verwalter seines Erbes solche Werte aufbewahrt, doch müss- Bayreuth und Hitler ten sie erst wieder neu belebt werden: „Ari- sche“ Kunst und Religion wären verschüttet, Die Machtübernahme der Nationalsozialis- es gelte, wie einst bei den germanischen Vor- ten 1933 erschien Bayreuth als Einlösung des fahren, die „Freiheit der idealen Kulturbil- eigenen Kulturverständnisses. Über die Jahr- dung“ ❙31 wieder zu erreichen. zehnte habe man – so hieß es in einem Bei- trag der „Bayreuther Blätter“ – als „Kultur- Was hier unter dem speziellen Bayreuther insel“ das Ideal einer echten deutschen Kunst Blickwinkel aus einer langen historischen gegen den Zeitgeist verfochten, dieses zum Tradition zusammengefasst, semantisch um- „Lebensinhalt des arischen Menschen“ ge- interpretiert und politisch neu positioniert macht, in der „Verbindung von Deutschtum wurde, war die „mythische Erzählung“ von und Christentum“ die Grundlage einer deut- der Rettung der Deutschen in eine auch poli- schen Kunst bewahrt, und jetzt gehe man tisch wirkungsmächtige Nation mithilfe der „noch einen Schritt weiter, einen entschei- Kunst. Dabei wurden Elemente von Wag- denden Schritt!“ Denn die von Bayreuth ver- ners Ästhetik und Weltanschauung mit zeit- tretene Kunst und Kunstvorstellung könne genössischen Vorstellungen von einer über- sich nur dann „rein in einem Volk auswir- legenen „arischen Rasse“ verschmolzen. Die ken“, wenn eine entscheidungsstarke Regie- vermeintlichen Leistungen dieser „Rasse“ rung sich selbst „wieder bewußt zu diesen wurden als Vorbild für die Gegenwart be- höchsten Gütern der Nation“ bekenne und sie auch durchzusetzen suche. ❙32 Bayreuth glaubte allen Ernstes, in Hitler einen „Wag- ❙29 Hans von Wolzogen, Zum Deutschen Glauben. Die Religion des Mitleids und dreizehn andere Vor- träge, Leipzig 1913, S. 75. ❙32 Robert Boßhart, Bayreuth in entscheidender ❙30 Nachweise bei: U. Bermbach (Anm. 20), S. 282. Stunde deutscher Geschichte, in: Bayreuther Blätter, ❙31 Ebd., S. 281. 56 (1933), S. 116.

14 APuZ 21–23/2013 nerianer“ zu haben, der Wagners Vision einer Willen, der die menschlichen Gemeinschaf- „ästhetischen Weltordnung“ nunmehr auf ten geschaffen und geführt hat. Der autori- arischer Grundlage und im nationalen Rah- täre Wille ist zu allen Zeiten der größte Auf- men bedingungslos realisieren werde. traggeber für die Kunst gewesen“. ❙35

Das war ein Irrtum ums Ganze – und die Hitlers einschlägige Reden zur Kunst ver- Kontamination der Werke Wagners wie sei- deutlichen: Kunst sollte im Rahmen der na- nes Denkens ist bis heute spürbar. Gewiss tionalsozialistischen Weltanschauung das war Hitler ein glühender Wagner-Verehrer, „rassische Bewusstsein“ der Deutschen kräf- aber er war mitnichten ein „Bayreuthianer“ tigen, sie sollte dem Volk das Bild eines neuen im Sinne Chamberlains, der mit diesem Be- Menschen, einer neuen Ordnung vermitteln griff einen Typus charakterisiert hatte, in und diese als „Ewigkeitswerte“ vorstellen, dem die Verehrung Wagners mit der kultur- für ein Reich, das sich selbst als ein tausend- missionarischen Sendung Bayreuths eine un- jähriges plante. „Nordische Kunst“, so Alfred auflösbare Verbindung eingeht. Hitler woll- Rosenberg, sollte mithelfen, „die Grundlage te und konnte Wagners zentraler Vision von einer neuen Weltanschauung, eines neu-alten der Dominanz der Kunst und Kultur über Staatsgedankens“ zu schaffen, „Mythus ei- alle Politik unter keiner Bedingung folgen, so nes neuen Lebensgefühls, das allein uns die sehr er die Künste auch schätzte. Auch wenn Kraft geben wird zur Niederwerfung der an- er immer wieder betonte, dass die künstleri- gemaßten Herrschaft des Untermenschen schen Leistungen eines Volkes dessen Stel- und zur Erschaffung einer alle Lebensgebie- lung in der Geschichte entscheidend mitbe- te durchdringenden arteigenen Gesittung“. ❙36 stimmten, wenn er darauf verwies, dass am Solche Auffassung machte alle Kunst – allen Ende nur diese Leistungen von einem Volk hochschätzenden Beteuerungen Hitlers zum übrig bleiben würden und seinen Rang be- Trotz – zum Instrument des politischen Wil- stimmten, so hieß dies nicht, dass sein Ziel lens einer Bewegung und ihres Führers, zum in der Aufhebung der Politik zugunsten von Teil einer totalitären politischen Strategie, in Kunst und Kultur bestand. ❙33 der sie alle Autonomie verlor, auf die Wagner für eine nachrevolutionäre Zeit gesetzt hatte. Im Gegenteil: In seinen kulturpolitischen Reden betonte Hitler immer wieder, dass Der Nationalsozialismus knüpfte einer- nur die Politik die Voraussetzungen schaffen seits an die lange Tradition der deutschen könne, „echte“, im Volk verwurzelte Kunst „Kulturnation“ an – und zielte damit auf die entstehen zu lassen. Eine solche Kunst, in bildungsbürgerlichen Führungseliten – , um der die „unverdorbenste und unmittelbars- sich zugleich diese Tradition einzuverleiben te Wiedergabe des Seelenlebens“ ❙34 des deut- und in ihrem Verhältnis von Kunst, Kultur schen Volkes ihren Ausdruck finden sollte, und Politik ins Gegenteil zu verkehren. Ei- müsste sich auf die noch vorhandenen „ari- nem oberflächlichen Blick mag der Beginn schen Rassekerne“ gründen, deren Qualität der Herrschaft Hitlers die Einlösung jener über „wertvollere oder weniger wertvollere“ Kulturhoffnungen sein, die tief in der deut- Kunst entschied. Solche „rassisch“ beding- schen kollektiven Mentalität verankert wa- te, „arteigene“ Kunst könnte sich nur in ei- ren; bei genauerem Hinsehen aber wird klar, nem entsprechenden Umfeld entfalten, und dass es nicht um die Einlösung, sondern um so wäre es die Aufgabe des „Führers“, die die Abschaffung dieser Hoffnung ging – und „rassischen Eigenschaften“ des Volkes zu um das Ende der deutschen Nation als einer fördern. „Die größten kulturellen Leistungen Kulturnation. der Menschheit“, erklärte Hitler 1936, „ver- danken ihren Auftrieb, ihren Antrieb und ihre Erfüllung immer nur jenem autoritären

❙35 Ders., Rede zum 11. September 1936, in: ebd., ❙33 Vgl. zum Folgenden: U. Bermbach (Anm. 20), S. 108. S. 445 ff. ❙36 Alfred Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhun- ❙34 Adolf Hitler, Kein Volk lebt länger als die Doku- derts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestalten- mente seiner Kultur, 13. 9. 1935, in: Robert Eikmeyer kämpfe unserer Zeit, München 1935, S. 115. (Hrsg.), Adolf Hitler. Reden zur Kunst- und Kultur- politik 1933–1939, Frank­furt/M. 2004, S. 86.

APuZ 21–23/2013 15 Sven Oliver Müller deutschen Öffentlichkeit bis in die Gegenwart hinein ist erstaunlich und letztlich rätselhaft: Warum veränderten sich die Interpretationen Richard Wagner von Richard Wagners künstlerischem Werk so häufig, aber seine politische und emotiona- le Präsenz so wenig in der an Umbrüchen rei- als politisches chen Zeit zwischen 1883 und 2013? Die Aneignung seines Werkes stand in einem und emotionales Wechselverhältnis von affirmativen Wieder- holungen und kontroversen Neuschöpfungen. Vielleicht lag genau in diesem Spannungsver- Problem­ hältnis eine der Ursachen des Erfolgs. Der Wagner-Mythos hielt keine unverrückbaren ur der Mensch Richard Wagner starb Deutungen bereit, sondern funktionierte of- N1883 an einem Herzinfarkt – nicht das fenbar stets durch seine Vieldeutigkeit. Das Phänomen und das Problem Wagner. Seine Werk ließ sich nicht nur leicht weitererzählen, Faszination hat mehr sondern auch den Veränderungen der deut- Sven Oliver Müller Menschen in Deutsch- schen Gesellschaft anpassen. Die historischen Dr. phil., geb. 1968; Leiter der land angezogen als Versuche, den Rang Wagners und die Bot- Forschungsgruppe „Gefühlte seine Fragwürdigkeit schaft seiner Kunst trennscharf zu bestimmen Gemeinschaften? Emotionen abgeschreckt. Sicher und mithin für eine bestimmte Deutung zu um Musikleben Europas“ scheint, dass die wi- vereinnahmen, sind jedoch allesamt geschei- am Max-Planck-Institut für dersprüchliche Rezep- tert. Die Wagner zugeteilten öffentlichen Rol- Bildungsforschung; Autor des tion Wagner am Leben len folgten größtenteils dem Wandel der deut- Buches „Richard Wagner und hält. Er ist vielleicht schen Gesellschaft – und triumphierten und die Deutschen. Eine ­Geschichte der einzige Kompo- scheiterten mit ihr. Die Wagner-Rezeption von Hass und Hingabe“ nist, über den die deut- kann als eine Suche nach Gewissheit gegen Be- (2013); Max-Planck-Institut für sche Gesellschaft bis drohungen, Ängste und Unsicherheit gedeutet Bildungs­forschung, heute nicht zur Ruhe werden. In Wagners Werk lassen sich zentrale Lentze­allee 94, 14195 Berlin. gekommen ist. Um Merkmale des gesellschaftlichen Wandels er- [email protected] Wagner gab es keinen kennen, der nicht nur das 19., sondern auch das Frieden, weil zahl- 20. Jahrhundert prägte: Herrschaft und Ge- reiche Musikfreunde, darunter große Teile walt, Politik und Migration, soziales Wachs- der Elite in der deutschen Gesellschaft, kei- tum und neue Unübersichtlichkeit. ❙2 ne Ruhe vor ihm haben wollten. Aus kultur- historischer Perspektive gewann Wagner seine Bedeutung nicht nur durch die Reproduktion Wer besitzt den „wahren Wagner“? seines Werkes, sondern auch durch die einzig- artige Figur des Komponisten – genauer: im Verlässt man die Position der Werkimmanenz öffentlichen Umgang mit dieser durch Regie- und blickt auf das Nachleben der Musikdra- rungen, Institutionen, Medien und Publikum. men in den Inszenierungen und beim Publi- Seine Aneignung lässt sich als eine Form der Politik mit kulturellen Mitteln verstehen. ❙1 Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner. Ein Musi- kanten-Problem, Leipzig 1889. Vgl. Joachim Fest, Ri- Die „postume Karriere“ Wagners im chard Wagner – Das Werk neben dem Werk, in: Saul 20. Jahrhundert ist ein Ausdruck der gesell- Friedländer/Jörn Rüsen (Hrsg.), Wagner im Drit- ten Reich. Ein Schloß Elmau-Symposium, München schaftlichen Entwicklungen in Deutschland. 2000, S. 24–39; Peter Wapnewski, Richard Wagner. Friedrich Nietzsche nannte das zu seiner Die Szene und ihr Meister, München 1983. Zeit den „Fall Wagner“. ❙1 Seit dem ausgehen- ❙2 Vgl. Hartmut Zelinsky, Richard Wagner – ein deut- den 19. Jahrhundert ist Wagners Werk fester sches Thema. Eine Dokumentation zur Wirkungsge- Bestandteil des musikalischen Repertoires in schichte Richard Wagners 1876–1976, Frank­furt/M. Deutschland. Monarchen und Politiker, Hörer 1976. Abwägender und analytisch treffender ist die Ar- beit von Udo Bermbach, Richard Wagner in Deutsch- und Intendanten, Künstler und Journalisten – land. Rezeption – Verfälschungen, Stuttgart 2011. sie alle ließen in ihrem Interesse für Wagners Wichtig ist auch Hannu Salmi, Imagined Germany. Musikdramen nie nach. Seine Präsenz in der Richard Wagner’s National Utopia, New York 1999.

16 APuZ 21–23/2013 kum, wird eines deutlich: Wagners Werk ist äs- In der Rezeptionsgeschichte Wagners wird thetisch und politisch eine Herausforderung. deutlicher als wohl bei jedem anderen Kompo- Das spezifisch Politische an seinen Bühnen- nisten, dass Emotionen im Musikleben auch als werken ist, wenn nicht im Notentext und der Strategien der Macht eingesetzt werden kön- Handlung, dann im interessengeleiteten Um- nen. Sie oszillieren dann oft zwischen spon- gang damit zu erkennen. Diese Handlungs- taner Reaktion und ausgeklügelter Absicht. macht des Publikums hat schon Friedrich Die in der Öffentlichkeit agierenden „Wagne- Nietzsche erkannt und geurteilt, es sei „der rianer“ waren oft versierte Experten mit einer Wagnerianer Herr über Wagner geworden“. ❙3 großen Sensibilität für emotionale Interpreta- tionen und die zu erwartenden Reaktionen des Wagners Werk vermittelt keine verbind- Publikums. Die Emotionen ihrer Gegner wa- liche Weltsicht. Seine Botschaft bleibt deu- ren ihnen nicht nur nicht fremd, sie nutzten tungsoffen und unbestimmt. Genau das diese auch, um die Wünsche und die Ängste aber ermöglicht einen Blick auf die zahlrei- der Gegner zu treffen, ja um die musikalisch chen, oft widersprüchlichen Rezeptions- „Ungebildeten“ persönlich zu verletzen. weisen. Die Frage nach der „richtigen“ oder „falschen“ Rezeption eines Wagner-Stückes Man kann die Wagner-Rezeption zwischen führt nicht weit. Es gibt keinen abschließend dem Kaiserreich und der Bundesrepublik als zu bewertenden Wagner, keinen „wahren“ eine Erregungsspirale bezeichnen. Damit ist Wagner, keine Deutung, der nicht wider- nicht nur gemeint, dass sich die emotionalen sprochen werden kann. Der Regisseur Heinz Reaktionen auf die Musik, die Hörgewohn- Tietjen hatte mit seiner Bayreuther Lohen- heiten und der Geschmack veränderten. Das grin-Inszenierung 1936 ebenso „recht“ wie Bild der Spirale kann auch das Phänomen Christoph Schlingensief mit seinem Parsifal beschreiben, dass die emotionale Bewer- von 2004. Beide realisierten ein authentisches tung Wagners in Deutschland mit der Zeit so Stück originären Wagnertums. wirkmächtig wurde, dass es leichter schien, sie immer weiter zu drehen, als sie zu durch- Im Zusammenhang mit Richard Wagner brechen. Die Benennung von Emotionen hat- haben Emotionen stets eine soziale Dimen- te immer neue Erregungen zur Folge. sion, die einerseits dem individuellen Emp- finden eine besondere Relevanz verleiht und Der Weg der emotionalen Deutungen und andererseits immer wieder auf Wagner zu- Umdeutungen Richard Wagners ist ein Weg rückstrahlt. Die Musik, die Sprache, die voller Hindernisse und Fallen. Der Politik- Handlung und die Bilder der einzelnen Mu- wissenschaftler Udo Bermbach stellt ganz sikdramen bewirken damals wie heute inten- zu Recht die Frage, ob es nicht angemessen sive und konfliktträchtige Gefühle. Auf Hass wäre, von einer „schiefgelaufenen Rezeption“ und Hingabe in der Wagner-Rezeption zu bli- zu sprechen. ❙5 Das bezieht sich nicht nur auf cken, ist deshalb aufschlussreich, weil beide die nationalsozialistische Instrumentalisie- einerseits von einem Kontrollverlust zeugen, rung Wagners. Wahrscheinlich beging auch andererseits aber auch willentlich herbeige- die demokratische Linke einen Fehler, indem führte Reaktionen waren, durch die sich be- sie bis in die 1960er Jahre hinein Wagner be- stimmte Interessen befriedigen ließen. Positi- reitwillig dem nationalistischen und rechts- ven Emotionen wie Stolz, Glück oder Rausch konservativen Lager „überließ“, ihn dann standen in der Wagner-Rezeption negative aber umso engagierter für sich beanspruchte. wie Wut, Scham oder das Gefühl des Verrats Was immer durch die Wagner-Rezeption des gegenüber. Wagners Werk bietet offenbar zu viel, als dass es emotional eindeutig begrif- kussion über das Verhältnis von Musik und Emotion fen werden könnte. Auch deshalb enthält es bieten Patrik N. Juslin/John A. Sloboda (eds.), Music 4 so zahlreiche Identifikations­möglichkeiten. ❙ and Emotion: Theory and Research, Oxford 2001. ❙5 Udo Bermbach, Opernsplitter. Aufsätze, Essays, Würzburg 2005, S. 224. Vgl. Dietrich Mack (Hrsg.), ❙3 Vgl. Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzu- Richard Wagner. Das Betroffensein der Nachwelt. menschliches. Kritische Studienausgabe, hrsg. von Beiträge zur Wirkungsgeschichte, Darmstadt 1984; Giorgio Colli, Berlin 1967, S. 323. Sven Friedrich, „Der Prophet seines Volkes“. Der ❙4 Vgl. Sven Oliver Müller, Richard Wagner und die Wagner-Mythos um 1900, in: Laurenz Lütteken Deutschen. Eine Geschichte von Hass und Hinga- (Hrsg.), Musik und Mythos – Mythos Musik um be, München 2013. Einen guten Überblick zur Dis- 1900, Kassel 2009, S. 14–71.

APuZ 21–23/2013 17 radikalen Nationalismus bis 1945 angerichtet zur offiziellen Festoper des nationalsozialis- worden war – nun spielte man unter grundle- tischen Deutschlands, etwa auf dem Parteitag gend gewandelten politischen Strukturen in der NSDAP 1935 in Nürnberg und bei den der Bundesrepublik und in der DDR diesel- „Kriegsfestspielen“ in Bayreuth 1943 und 1944. ben Opern mit neuen ästhetischen und ge- sellschaftlichen Deutungen. Dabei wäre es falsch, in diesem Werk rei- ne nationalistische oder gar nationalsozialis- Die Uneinheitlichkeit der Wagner-Deutun- tische Propaganda zu erkennen. Wagner ent- gen, die konkurrierenden Begründungen und warf vielmehr einen idealen deutschen Staat, die unterschiedlichen Praktiken derjenigen, der durch die „heilige deutsche Kunst“ legi- die sich allesamt auf einen „wahren Wagner“ timiert werden sollte. ❙6 Er hielt den „Volks- beriefen, sind das bestechende Merkmal der geist“ für das Medium, durch das die Kunst Wagner-Rezeption. Wagners Erfolg liegt wo- das Nationalbewusstsein forme. Einiges möglich darin, dass sich die verschiedenen Er- spricht dafür, dass auch auf die Meistersin- wartungen, Interessen, Verhaltensmuster und ger vieles jenseits der Komposition Liegende Konsumgewohnheiten im Umgang mit sei- projiziert wurde. In den 1920er Jahren ver- nem Werk und Wirken trotz oder wegen ih- achteten viele Musikexperten die neue demo- rer Diversität immer wieder auf gemeinsame kratische Gesellschaft und beriefen sich in Nenner bringen ließen: auf Mythen, Nationa- ihren Schriften auf die Schlussansprache von lismen, Gefühle und nicht zuletzt auf das zum Hans Sachs, weil ihnen die Kunst Wagner- Guten oder Schlechten verklärte Genie. Im scher Bauart eine problembefreite Zukunft Konflikt lag immer auch eine Angleichung. in Aussicht stellte. Die Rezeptionsgeschichte der Meistersinger im 20. Jahrhundert ist Be- Diese Überlegungen sollen anhand von standteil des eigentlichen historischen Pro- zwei Themenfeldern verdeutlicht werden, blems: der Frage nach einem möglichen Zu- die den politischen und emotionalen Um- sammenhalt zwischen den Rezeptionen vom gang mit Richard Wagner skizzieren: Zu- Kaiserreich über die Weimarer Republik hin nächst wird auf die nationalistische Deutung zum Nationalsozialismus. ❙7 Wagners bei der Bayreuther Aufführung der Meistersinger von Nürnberg 1924 verwiesen. 1924 wurden die Bayreuther Festspiele Anschließend richtet sich der Blick auf den nach einer durch den Ersten Weltkrieg be- emotionalen Streit um die Bayreuther Ring- dingten zehnjährigen Pause wieder eröffnet. Inszenierung 1976 und auf den Kampf zwi- Endlich verfügte man wieder über die not- schen konservativen und politisch links ste- wendigen finanziellen Mittel und das Per- henden Deutungen des Werkes. sonal. Im Zuschauerraum saß nun ein an- ders zusammengesetztes Publikum als in der Vorkriegszeit: Der Anteil der ausländischen „Die Meistersinger“ Festspielgäste war zurückgegangen, stattdes- als nationaler Fluchtpunkt sen kamen mehr deutsche Beamte, Lehrer, Ärzte und Studenten. Außerdem zogen die Den Meistersingern kommt eine besonde- rechtskonservativen Bekenntnisse des „Bay- re Rolle in der deutschen Wagner-Rezeption reuther Kreises“ neue Besucher an. Das Fest- zu. Denn man kann von einer symbiotischen spielpublikum wurde sozial betrachtet im- Beziehung zwischen der Geschichte der Auf- mer kleinbürgerlicher und politisch gesehen führungen und der politischen und kulturel- immer rechtskonservativer. ❙8 len Entwicklung in Deutschland reden. Diese Oper versinnbildlicht die Suche nach einer ❙6 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Udo Bermbach in durch kulturellen Zusammenhalt ermöglichten dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). politischen Einheit. In der Weimarer Republik ❙7 Vgl. Nicholas Vazsonyi, Introduction, in: ders., reagierte das Publikum vor dem Hintergrund Wagner’s Meistersinger. Performance, History, Re- des verlorenen Krieges und der französischen presentation, Rochester, NY 2004, S. 1–20; Herfried Besatzung des Rheinlands gerade auf die an- Münkler, Kunst und Kultur als Stifter politischer tifranzösischen Schlussverse des Protago- Identität. Webers Freischütz und Wagners Meistersin- ger, in: Hermann Danuser/Herfried Münkler (Hrsg.), nisten Hans Sachs gegen „welschen Dunst Deutsche Meister – böse Geister? Nationale Selbstfin- mit welschem Tand“ mit Zustimmung. Nach dung in der Musik, Schliengen 2001, S. 45–60. 1933 avancierten die Meistersinger schließlich ❙8 Vgl. U. Bermbach (Anm. 5), S. 307–322.

18 APuZ 21–23/2013 Der offizielle Festspielführer demonstrier- le Entstellung der Kunst Richard Wagners, te seine Affinität zu Militarismus und Na- ausgelöst durch die emotionale Verwirrung tionalismus des konservativen Lagers und nach der Niederlage des Krieges: „Wenn dann erkannte in Bayreuth „eine deutsche Waffen- nach dem ergreifenden Schauspiel, das dem schmiede“. Das Titelbild zeigt ein erhobenes wirklich Hörenden die Rede verschlägt, das Schwert vor dem Hintergrund des Festspiel- Deutschlandlied mehrstrophig abgesungen hauses. Die gerahmte Inschrift verkündet: wird, weicht Begeisterung einem gelinden Er- „Nothung!, Nothung, Neu und Verjüngt! staunen. Die anschließenden, auch bei späteren Zum Leben weckt ich Dich wieder!“ Der Aufführungen immer wiederholten oder doch Kulturhistoriker Adolf Rapp steuerte einen versuchten Heilrufe aber öffnen (…) dem kriti- Essay mit dem Titel „Wagner als Führer zu schen Beobachter vollends die Augen. Das also deutscher Art“ bei. Der Leiter der Bayreuther hat man aus dem Erbe des Länder und Herzen Festspiele, Richard Wagners Sohn Siegfried, umspannenden Genies gemacht! Dies die ge- entschied sich dafür, das Haus mit den Meis- sinnungsmäßige Umstellung, die Bayreuth seit tersingern von Nürnberg neu zu eröffnen. 1914 an sich vorgenommen hat.“ Zudem ärger- Das Dirigat übernahm Fritz Busch. Zum te sich Holl darüber, dass „auch von den Deut- Auftakt der Festspiele war der Hügel de- schen die geistig Freiheitsbedürftigen aus dem monstrativ schwarz-weiß-rot geflaggt, vom Wagnertempel fast gänzlich verschwunden Dach des Hauses bis zum Restaurant. Diese sind. Das gesellschaftliche Bild zeigt eine brei- Farben versinnbildlichten die Sehnsucht nach te Bürgerlichkeit, in der Vertreter der Großin- dem verlorenen Deutschen Kaiserreich und dustrie und des Feudalismus den Ton angeben waren ein Affront gegen die junge Republik. und das Bayreuth hörige engere Akademiker- Auch in den folgenden Jahren wurde auf dem tum als kulturelles Bindeglied erscheint. Dazu Grünen Hügel nicht die neue Nationalfahne ein paar ehemalige Herrscher und (in den Pro- gehisst, und die Spitzenpolitiker der Weima- ben) der ehemalige Feldherr Ludendorff“. ❙11 rer Republik blieben Bayreuth fern. Am Ende ging diese öffentliche Selbstin- Siegfried Wagner polemisierte gegen den szenierung der deutschen Nation wohl auch Niedergang der Kunstproduktion nach dem Siegfried Wagner zu weit, und in der fol- Ersten Weltkrieg: „Fanatisches Auge, aber genden Festspielzeit erklärte er per Aus- keine Liebeskraft darin wie bei Hitler und hang: „Das Publikum wird herzlich gebeten, Ludendorff. Romane und Germane! (…) Fa- nach Schluß der Meistersinger nicht zu sin- mose echte Rasse (…). Es ist schon trostlos, gen. Hier gilt’s der Kunst!“ Eine wiederkeh- wie Deutschland herabgekommen ist!“ ❙9 So rende Begründung: 1933 stand auf dem Pro- dachte wohl auch ein großer Teil der Festspiel- grammzettel, dass der Reichskanzler Adolf besucher, denn bei der Premiere der Meister- Hitler im Interesse der Kunst Wagners keine singer am 22. Juli 1924 kam es zu einem nati- Hochrufe im Haus wünsche; und 1951 wähl- onalistischen Ausbruch: Bereits während des ten die Wagner-Enkel Wieland und Wolfgang Schlussmonologs des Hans Sachs habe sich, dasselbe Motto der Meistersinger, um als er- so berichtet eine Freundin Siegfried Wag- neuerte Demokraten die Festspiele von jedem ners, „das ganze Haus wie Ein Mann“ erho- Geruch des Politischen zu befreien. Im Bay- ben „und hörte stehend den Schluß an, und reuther Kontext wirkten Leitmotive nicht zuletzt, nach endlosen brausenden Jubelstür- nur ästhetisch, sondern auch politisch. men, wurde noch das Deutschlandlied von allen gesungen“. ❙10 Viele beendeten die Vor- stellung mit „Heil“-Rufen. Skandal um den „Jahrhundert-Ring“

Der Kritiker der „Frankfurter Zeitung“, Am 24. Juli 1976 hob sich der Vorhang zum Karl Holl, war sich nicht sicher, ob er die nati- Vorspiel des Rheingolds als Auftakt zu einer onale Begeisterung des Publikums als sponta- Neuinszenierung des Ring des Nibelungen. ne Tat positiv werten sollte oder als eine dunk-

❙11 Frankfurter Zeitung vom 3. 8. 1924. Vgl. Dietrich ❙9 Zit. nach: Hans Mayer, Richard Wagner, Frank­ Mack, Die Bayreuther Inszenierungen der „Meis- furt/M. 1998, S. 311. tersinger“, in: Attila Csampai (Hrsg.), Die Meister- ❙10 Rosa Eidam, Bayreuther Festspielzeiten 1883– singer. Texte – Materialien – Kommentare, Reinbek 1924. Persönliche Erinnerungen, Ansbach 1925, S. 31. 1981, S. 158–185.

APuZ 21–23/2013 19 Es sollte der „Jahrhundert-Ring“ zur Feier Wagner erhielt Ankündigungen von Mitglie- des hundertjährigen Bestehens der Bayreuther dern der „Gesellschaft der Freunde von Bay- Festspiele werden – wurde aber zunächst der reuth“ und anderen Wagner-Verbänden, ihre Opernskandal des Jahrhunderts. Buhs und Spenden zurückzuhalten, und Aufforderun- Bravos war das Haus mittlerweile gewöhnt, gen, das Amt niederzulegen; dem Regisseur doch der Unmut, der sich in der ersten Fest- wurde nahegelegt, sich „hinter den Vorhang“ spielwoche des Sommers 1976 Bahn brach, zurückzuziehen und sich „eine Kugel durch war bis dato einzigartig. Mit Rufen und Pfif- den Kopf“ zu jagen. ❙14 Das Ziel der sich als fen, Geschrei und Gelächter protestierten Tei- „Mehrheit der Wagner-Kenner“ präsentie- le des Publikums anhaltend gegen die Insze- renden Gruppe der Gegner dieser Inszenie- nierung des jungen französischen Regisseurs rung wurde rasch deutlich: Die sofortige Ab- Patrice Chérau; mitgebrachte Trillerpfeifen, setzung der Neuproduktion. die wahrlich nicht zur Standardausrüstung der Festspielbesucher gehörten, demonstrier- Was ist dort auf der Bühne zu sehen und ten die emotionale Erwartungshaltung und zu hören gewesen, das einen solchen Tu- den organisierten Charakter dieses Protests. mult auszulösen vermochte? Chéreau, der auf Am letzten Abend schließlich, zu Beginn Empfehlung des bereits engagierten Dirigen- des dritten Aufzugs der Götterdämmerung, ten Pierre Boulez mitsamt seinem Bühnen- schien es sogar, als müsse die Vorstellung ab- bildner Richard Peduzzi und dem Kostüm- gebrochen werden, so ausladend und lärmend bildner Jacques Schmidt berufen wurde, war waren die Krawalle im Zuschauersaal. Der ein Theaterregisseur von 31 Jahren, der erst Kritiker Joachim Kaiser warnte die Zuhörer zwei Regiearbeiten in der Oper vorzuweisen an den Radios angesichts der Lärmkulisse iro- hatte. Auf der Pressekonferenz der Festspiele nisch vor Fehlschlüssen: „Der letzte Akt der bekannte er, sich mit Wagners Ring noch nie Götterdämmerung beginnt keineswegs mit zuvor beschäftigt, ja, ihn noch nicht einmal Wutgeheul, sondern in F-Dur.“ ❙12 auf der Bühne gesehen zu haben. Was die Zu- schauer von diesem Team zu sehen bekamen, Glaubt man der durchaus sensationslüs- folgte nicht der verbürgten Bayreuther Tradi- ternen Berichterstattung, setzte sich der Tu- tion der „Originalität“ von Wagner. Stattdes- mult in den Pausen fort und fand in hitzigen sen öffnete sich der Vorhang über einer rea- Diskussionen voller Schmähungen und Be- len Welt voller menschlicher Schicksale. Der geisterung (von „grandios“ bis „Schweine- Rhein wogte nicht im Urzustand, sondern rei“) seinen Ausdruck. Ein Gast schrieb, er wurde durch den riesigen Staudamm eines habe „in den Pausen (…) viele Äußerungen Wasserkraftwerks als gezähmte Natur des aufgeschnappt von Festspielbesuchern, was industriellen Zeitalters gedeutet. Statt Fellen mit Herrn Chéreau und seinen Genossen zu und Hörnern oder stilisierten Tuniken be- geschehen hätte. Die Herren gehören aufge- stimmten Gehrock, Uniform und Smoking, hängt, an die Wand gestellt, abgeknallt, um- Biedermeierkleid und Jugendstil-Interieur gelegt, gelyncht usw.“ Vor dem Festspielhaus die Optik. Die Götter dieses Rings waren kündeten Schilder und Plakate vom Protest: scheiternde Machthaber der Gründerzeit, die „Haltet Wagner rein“ war darauf zu lesen, sich im Rheingold ihr in den Tiefen der Erde „Disneyland auf dem Grünen Hügel?“ und von Sklaven und Arbeitern geschaffenes Ka- „Verflucht sei dieser Ring“. ❙13 pital erst hatten erobern müssen. ❙15

Im Nachgang der Premierenwoche wurden Der Protest der selbsternannten Retter Flugblätter und Schmähschriften gedruckt; Wagners hatte zwei Stoßrichtungen: zum ei- ein Aktionsbündnis wurde gegründet; die nen die politische Diffamierung der „Geg- Festspielleitung in Person von Wolfgang ner“, zum anderen die auf emotionaler Krän- kung basierende Selbstdarstellung. Der ❙12 Chéreau-Dämmerung am Grünen Hügel. Die Chéreau-Ring war nicht nur die vielleicht po- Götterdämmerung verendete als Hafen-Zeremonie, litischste Deutung, die es je in Bayreuth gege- Richard Wagner Nationalarchiv, Bayreuth, A2525. ❙13 Private Äußerungen an verschiedene Adressa- ten. Beschwerden über die Chéreau-Inszenierung, ❙14 Private Äußerungen an verschiedene Adressaten Richard Wagner Nationalarchiv Bayreuth, A2678-1 (Anm. 13), S. 2 ff. a–f, e), S. 3 ff.; Aus dem Geiste der Musik? Bayreuther ❙15 Vgl. Pierre Boulez et al., Der „Ring“ – Bayreuth Notizen, in: Neue Zürcher Zeitung vom 14. 8. 1976. 1976–1980, Berlin 1980.

20 APuZ 21–23/2013 ben hatte, der Skandal um die Inszenierung ganz bestimmtes Gefühl, es werden ganz be- machte Richard Wagner und seine Festspiele stimmte Schwingungen des Nervensystems wieder zu einem handfesten Politikum. Ek- oder sagen wir auch der Seele hervorgeru- latant wie nie zuvor klaffte der für den „Fall fen“, erklärte der sich als Sprachrohr der Pro- Wagner“ so charakteristische Widerspruch testler produzierende Walter Just der Pres- zwischen politischer Polemik und Anrufung se. Für diese „echten Kenner“ erwies sich politischer Autorität für die eigene Sache ei- schon der Begriff der „Deutung“ als abwe- nerseits versus Negation jedweder politischen gig, da „die Musik deutlich und ausschließ- Bedeutung der Festspiele oder der Musikdra- lich sagt, was zu empfinden und zu fühlen men Wagners andererseits. Diesen Ring kön- ist“. ❙19 Gefühle wurden zu einem Besitz, sie ne man allenfalls als „sozialpolitisches Ten- waren gerade nicht mehr fluide, wechselhaft denztheater bezeichnen“, hieß es. Die für und subjektiv, sondern etwas von realer Sub- diese Produktion Verantwortlichen könnten stanz, über das nur die „echten Wagnerianer“ „aufgrund ihrer politischen Einstellung gar wachten. Ekel und Neid standen als emotio- nicht anders (…) als aus jeder Inszenierung nale Negative den erhabenen eigenen Gefüh- eine politische Demonstration zu machen“. ❙16 len des Genusses und der Freude gegenüber. Dem Regieteam wurde jedwede künstlerische Dass diese empfindsame Gemeinschaft auch Intention abgesprochen: „Wer sich zum Mar- sehr emotional auf die durch die Ring-Insze- xismus bekennt, ist und bleibt Ideologe.“ Wei- nierung erlebte Verletzung ihrer Gefühle re- ter hieß es daher auch: „Chéreau demonstriert agierte, schien da nur konsequent: Die in den hier allzu deutlich, daß es ihm ausschließlich Schmähbriefen und -schriften zum Ausdruck um die Verunglimpfung unserer Welt geht, gebrachte Stimmung war auch die von gede- wobei ihm die Verfälschungen großer Kunst- mütigten Opfern einer gezielten Provokation. werke doppelt nützlich sind.“ ❙17 Die ironische Empfehlung, Pierre Boulez „hätte – vielleicht Die Auseinandersetzungen und Skandale zusammen mit den Herren Stockhausen und um bestimmte Wagner-Produktionen offen- Henze – eine eigene Musik dazu schreiben baren die Grenzen zwischen verschiedenen sollen“, ❙18 zielten nicht auf eine gemeinsame Wertesystemen, die zu den jeweiligen Zei- musikalische Sprache –, sondern gruppierte ten durch die deutsche Gesellschaft verliefen sie politisch „links“. Die politische „Reinheit“ und in expressiven Auseinandersetzungen um der Inszenierung (die auch auf den Postern die Interpretationen des Wagnerschen Wer- vor dem Festspielhaus gefordert worden war) kes ausgetragen und mitunter neu verhandelt erschien den Anhängern erstrebenswerter als werden konnten. Die emotional aufgeladenen eine kritische Auseinandersetzung mit der Diskurse um Ehrerhalt und Ehrverletzungen, politischen Dimension von Wagners Werk. Schmach und Schande folgten zwei Deutungs- mustern, in denen die Exegese der Interpreta- Eine weitere Argumentationslinie schloss tion gegenüberstand, das Wort der Vergangen- hier unmittelbar an, die politische Färbung heit den Bildern und Gefühlen der Gegenwart. wurde jedoch durch eine emotionale abgelöst. Die Konflikte, die sich um diese Differenzen Das Verständnis Wagners könne nicht allein drehten, sind Kämpfe um eine Deutungsho- durch gründliches Studium erworben wer- heit des Werkes und seiner Geschichte – und den, sondern erst durch „richtiges“ Empfin- vor allem, wer sie beanspruchen darf. den. Die sich gegen den Chéreau-Ring erhe- benden „Wagnerianer“ verstanden sich auch als eine Gefühlsgemeinschaft: „Echte Wag- Wagner wird „normal“ nerianer haben eine bestimmte Antenne, ein Die Geschichte der Wirkung Richard Wagners ❙16 Hans Zeller, Rückmeldung zum Rundschreiben, in Deutschland kann helfen, wichtige Probleme Bamberg Anfang Dezember 1976, S. 1, Richard Wag- der politischen und kulturellen Ordnung zu ner Nationalarchiv Bayreuth, A2525 1976 II. verdeutlichen. Vielleicht nirgendwo sonst ste- ❙17 Richard Wagner Blätter, 1 (1977) 2+3, Richard hen persönliches Musikempfinden und ge- Wagner Nationalarchiv Bayreuth, A 2324–2+3 1977, sellschaftliche Deutungen von Kunstwerken S. 91. in einem so engen Verhältnis. Daher lohnt es ❙18 Helmut Trommer, „Der Ring des Nibelungen“, Rückblick auf die Aufführung Bayreuth 1976. Feststel- lung und Forderung (Brief ohne Adressaten), Richard ❙19 Private Äußerungen an verschiedene Adressaten Wagner Nationalarchiv Bayreuth, A2525 1976 II. (Anm. 13), S. 2 ff.

APuZ 21–23/2013 21 Abbildung: CD-Cover „Walking mit Wagner“ innerhalb der Gesellschaft. Die Rezeption Ri- chard Wagners in Deutschland steht für die Macht nationaler Traditionen, für die kritische Neubewertung des Musiklebens und für des- sen Verwandlung durch eine plurale, offene Gesellschaft. Beobachten lassen sich in diesem Aushandlungsprozess Konservatismus, zag- hafte Erneuerungsversuche und rapide Brü- che. Wagner hat nicht die Deutschen gemacht – es ist umgekehrt: Es sind die Hörer und Zu- schauer, die Politiker und Journalisten, die aus Wagner das gemacht haben, was er wurde und was er heute ist. Richard Wagner ist all das, als was er angesehen wurde, sein Werk alles, was über 150 Jahre darauf projiziert wurde.

Auf der anderen Seite dieser Entwicklung ist zwar keine Entpolitisierung, aber doch ein wachsender Musikkonsum und eine neue Medialisierung zu erkennen. Seit etwa 25 Jahren beginnt Wagner in Deutschland „normal“ zu werden. Denn mit der Plura- Quelle: Delta Music, Frechen. lisierung der Deutungsangebote und der gleichzeitigen Fragmentierung der bürgerli- sich, bei der Betrachtung dieser Rezeptionsge- chen Kultur schwand zwar nicht die politi- schichte über die künstlerischen Entwicklun- sche Brisanz der Musik insgesamt, wohl aber gen hinauszugehen und die Figur „Wagner“ die politische Brisanz der Kunstmusik. ❙21 So- als ein Element der Geschichte der deutschen gar in die Welt des Breitensports findet sei- Gesellschaft zu begreifen. Vielleicht liegt auch ne Musik inzwischen Eingang. Eine CD mit darin der Erfolg Richard Wagners begründet, dem Titel „Walking mit Wagner“ (Abbildung) dass der Umgang mit ihm ein Bestandteil der gibt dem sportlichen Zeitgenossen Ratschlä- Wandlungen, auch der sich wandelnden Selbst- ge, wie das Anhören bestimmter Stücke des deutungen der Deutschen im 20. Jahrhundert „Meisters“ beim schnellen Gehen die Ge- war. Die Geschichte der Wagner-Rezeption sundheit und die Lebensqualität verbessert. lässt sich daher schreiben als eine „musikali- Der Bogen auf dieser CD reicht vom „Warm sche deutsche Gesellschaftsgeschichte“. Up“ (Walkürenritt) bis hin zur „Relaxation“ (Isoldes Liebestod). Auf der Hülle ist zu le- Richard Wagner wurde auch an der Wen- sen: „Die wunderschönen Stücke auf die- de zum 21. Jahrhundert nicht zu einem Kom- ser CD entstammen dem Werk des genialen ponisten wie alle anderen. Bis heute besteht Komponisten Richard Wagner (1813–1883). eine hohe politische Sensibilität bei seiner Be- Wer den energiegeladenen und wohltuenden wertung. In öffentlichen Zeremonien, in Pro- Klängen beim Walken in freier Natur lauscht, grammheften, im Feuilleton oder in Schulbü- wird erstaunt sein, wie leicht der Boden un- chern kritisiert man die Wagner-Rezeption ter den Laufschuhen wird.“ Vielleicht ist auch bis 1945 als eine nationalistische Fehlentwick- das ein Ergebnis der sich über die Jahrzehn- lung. ❙20 Sich mit Wagners Werk und Welt zu be- te als gelungen erweisenden „Vergangenheits- schäftigen, war und bleibt daher immer mehr bewältigung“ der Deutschen. als ein unpolitischer Genuss und eine emoti- onale Laune. Es ist ein Aushandlungsprozess

❙21 Vgl. Herbert Rosendorfer, Bayreuth für Anfänger, ❙20 Bermbach meint, dass Bayreuth „spätestens mit Be- München 19996, S. 47 f.; Neil Lerner, Reading Wag- ginn der achtziger Jahre in der Demokratie der Bundes- ner in Bugs Bunny Nips the Nips (1944), in: Jeong- republik Deutschland angekommen“ sei. U. Bermbach won Joe/Sander L. Gilman (eds.), Wagner & Cinema, (Anm. 2), S. 496. Vgl. Jan Ingo Grüner, Die Rezeption Bloomington, IN 2010, S. 210–224. Richard Wagners in der Bundesrepublik Deutschland. Rettung eines schwierigen Erbes, Saarbrücken 2008.

22 APuZ 21–23/2013 Dieter Borchmeyer nirgends deutlicher aus als in Wagners Brief an König Ludwig II. vom 22. November 1881, in dem er bekennt: „dass ich die jüdische Race für den geborenen Feind der reinen Mensch- Richard Wagners heit und alles Edlen in ihr halte: dass nament- lich wir Deutschen an ihnen zu Grunde ge- hen werden, ist gewiss, und vielleicht bin ich Antisemitismus der letzte Deutsche, der sich gegen den bereits alles beherrschenden Judaismus als künstleri- n einem Aufsatz über Hitler und Wagner scher Mensch aufrecht zu erhalten wusste“. ❙3 Ihat der Historiker Saul Friedländer 2000 auf das merkwürdige Faktum aufmerksam Die ablehnende Haltung Wagners gegen- gemacht, dass es kei- über dem Judentum taucht in seinen schrift- Dieter Borchmeyer ne einzige schriftliche lichen Äußerungen erst um 1850 auf. Weder Dr. phil., Dr. h. c., geb. 1941; oder verbürgte münd- seine früheren Beziehungen zu jüdischen Be- Professor em. für Neuere Deut- liche Mitteilung Hit- kannten wie dem Philologen Samuel Lehrs sche Literatur und Theaterwis- lers gibt, in der er sich (dem Gefährten der Pariser Elendsjahre), senschaft an der Universität auf Wagners Antise- dem Dirigenten Ferdinand Hiller oder dem Heidelberg; Präsident der Baye- mitismus beruft. ❙1 Be- Schriftsteller Berthold Auerbach scheint rischen Akademie der Schönen kanntlich war Wagner durch antijüdische Affekte getrübt gewesen Künste, Max-Joseph-Platz 3, Hitlers Lieblingskom- zu sein, noch gehen vereinzelte antijüdische 80539 München. ponist und eine Kul- Affektäußerungen, wie sie sich auch bei jü- [email protected] turgröße ersten Ran- dischen Autoren finden, über das Zeitübli- ges, ja eine ideologi- che hinaus. Verächtliche Bemerkungen über sche Projektionsfigur. In diesem Prospekt Juden gehörten im 19. und frühen 20. Jahr- spielt aber der Antisemitismus keine sichtba- hundert Jean-Paul Sartres „Réflexions sur la re Rolle. Hitler suchte Wagner offensichtlich question juive“ (1946) zufolge fast zum „Ge- als eine über alle politische Tendenz und al- sellschaftsspiel“ unter Gebildeten. Von der len Tageskampf erhabene reine Kulturerschei- Jahrhundertmitte an artikuliert sich Wagners nung zu mythisieren. Für die Judenverfolgung antijüdische Haltung freilich umso drasti- brauchte er andere Gewährsleute, ja er konnte scher, beginnend mit seinem pseudonym ver- Wagner hier nicht brauchen, da es ihm nicht öffentlichten Aufsatz „Das Judenthum in der verborgen bleiben konnte, dass jener nicht nur Musik“. ❙4 über einen beträchtlichen jüdischen Freun- des- und Anhängerkreis verfügte, sondern dass sein Antisemitismus ein anderer war als „Das Judenthum in der Musik“ der nationalsozialistische, da er nicht auf die Ausmerzung der Juden, sondern, in welch ver- Wagners Pamphlet schaltete sich 1850 in eine schwiemelter Form auch immer, auf ihre letzt- von seinem Freund Theodor Uhlig angefach- endliche Integration zielte. te, insbesondere gegen den Komponisten Gia- como Meyerbeer (1791–1864) gerichtete Kam- Das ändert natürlich nichts an der Tatsache, pagne ein, wobei er Argumente versammelte, dass sein Verhältnis zum Judentum zu den die quer durch das gesamte politische Spek- prekärsten Seiten seines Charakters gehört. In einem Brief an Franz Liszt vom 18. April 1851 1 hat er gestanden, sein „groll gegen diese Juden- ❙ Vgl. Saul Friedländer, Hitler und Wagner, in: wirthschaft“ sei seiner Natur „so nothwendig ders./Jörn Rüsen (Hrsg.), Richard Wagner im Drit- ten Reich, München 2000, S. 165–179. ❙2 wie galle dem blute“. Dieser Groll nimmt im ❙2 Richard Wagner, Sämtliche Briefe, hrsg. v. Gertrud Laufe der Jahre immer mehr Züge eines Ver- Strobel/Werner Wolf, Leipzig 1967 ff., Bd. III, S. 544. folgungswahns an, der durch keinerlei Fakten ❙3 König Ludwig II. und Richard Wagner, Briefwech- gedeckt ist (seine Hauptwidersacher waren so sel, bearb. v. Otto Strobel, Karlsruhe 1936, Bd. III, gut wie niemals Juden, umgekehrt hat er aber S. 230. ❙4 von jüdischen Freunden, Mentoren und An- Der Aufsatz erschien 1850 in der Leipziger „Neu- en Zeitschrift für Musik“. Als selbstständige Publi- hängern immer wieder bedeutende Unterstüt- kation wurde er – nun nicht mehr pseudonym – 1869 zung erfahren), so dass man von einer regel- neu aufgelegt, partiell revidiert und mit einleitenden rechten Obsession reden kann. Sie drückt sich „Aufklärungen“ versehen.

APuZ 21–23/2013 23 trum der Zeit verbreitet waren und zumal im ale Gleichstellung der Juden voraus. Der Umkreis der Revolution von 1848 Konjunktur Abschluss dieses Emanzipationsprozesses hatten. Auch die sogenannten Jungdeutschen, ist in Deutschland durch die Verfassung des die linkshegelianische und sozialistische Be- Norddeutschen Bundes vom 3. Juli 1869 mar- wegung waren von antijüdischen Vorurtei- kiert, die zwei Jahre später zum Reichsgesetz len nicht frei. Den „eigentlichen Sündenfall“ erklärt wird. Erst im Jahr der Reichsgrün- Wagners sieht der Kulturwissenschaftler Jens dung werden die letzten Ghettos geschlossen. Malte Fischer erst in der von Verfolgungs- Die antisemitische Bewegung seit den 1870er wahn und Verschwörungsphobie gekenn- Jahren, die im nun geeinten deutschen Reich zeichneten Zweitpublikation der Schrift 1869. Ausfluss des neuen nationalen Identitäts- Sie sei mutwillig in eine Situation relativ fried- gefühls und der aus ihm resultierenden Ab- licher Entwicklung in Deutschland hineinge- wehr von „Fremdgruppen“ ist, sucht den his- platzt und habe – im Gegensatz zu der fast torischen Prozess der jüdischen Assimilation wirkungslosen Erstpublikation – üble Fol- rückgängig zu machen, strebt die Juden wie- gen gehabt. Fischer rechnet sie der Phase ei- der in eben die Separation zurückzudrängen, nes „Frühantisemitismus“ zu, der noch nicht welche gerade der Erklärungsgrund für die von einer ausgeformten rassistischen Voraus- traditionelle Judenfeindschaft gewesen ist. setzung her argumentiert, aber bereits mit un- veränderlichen Wesensbestimmungen „des Wagners Aufsatz von 1850 steht auf der Jüdischen“ operiert. ❙5 Grenze zwischen „traditionellem“ Antijuda- ismus und modernem Antisemitismus. Unter Der Begriff des Antisemitismus, der seit dem vermeintlich aufklärerischen Vorwand, den späten 1860er Jahren vereinzelt auf- das Abstoßende der „jüdischen Erscheinung“ ❙7 taucht, ist erst 1879 durch das Pamphlet „Der aufdecken zu müssen, um zu einer Befreiung Sieg des Judenthums über das Germanen­ von „Selbsttäuschung“ gelangen zu können, thum“ von Wilhelm Marr als Kampfbegriff beschreibt Wagner nun die Merkmale dieser zum Schlagwort geworden und hat sich dann Erscheinung, welche im Nichtjuden die „ins- rasch auch in anderen europäischen Sprachen tinktmäßige Abneigung“ auslösen. Verräteri- verbreitet. Die Prägung dieses Begriffs mar- scher Weise gibt Wagner in ein und demselben kiert äußerlich den trotz vielfacher Über- Satz zunächst vor, die Antipathie gegen Juden schneidungen deutlichen Unterschied zwi- „erklären“ zu wollen, um dann zuzugestehen, schen der „traditionellen“ Judenfeindschaft die Erklärung diene dazu, „diese instinktmä- und ihrer modernen Metamorphose, welche ßige Abneigung zu rechtfertigen, von welcher erst aus der politischen, sozialen und öko- wir doch deutlich erkennen, daß sie stärker nomischen Entwicklung der 1870er Jahre er- und überwiegender ist, als unser bewußter Ei- klärbar ist. Erst jetzt verschmolzen Rassen- fer, dieser Abneigung uns zu entledigen“. ❙8 Die theorien (wie diejenige des französischen vorgeblich aufklärerische Methode dient also Diplomaten und Schriftstellers Arthur de einem durch und durch antiaufklärerischen Gobineau, der zwar die Ungleichheit der Ziel: der Rechtfertigung, nicht der Überwin- „Rassen“ zum Thema seines Hauptwerks dung der ins Bewusstsein gehobenen Aversion machte, aber von Antisemitismus noch ent- gegen alles (vermeintlich) Jüdische. Letztere fernt war) mit der bisher religiös oder sozio- erhält von Wagner gewissermaßen eine mora- kulturell motivierten Judenfeindschaft zum lische Unbedenklichkeitsbescheinigung. eigentlichen ­Rassenantisemitismus. Der Schriftsteller Berthold Auerbach hat in Der moderne Antisemitismus setzt his- einer Aufzeichnung vom 2. Mai 1881 Wagner torisch die grundsätzliche Lösung der „Ju- als den ersten bezeichnet, der „die Stirn hatte, denfrage“ ❙6 durch die politische und sozi- in den Sphären der Bildungswelt offen und ge-

❙5 Jens Malte Fischer, Richard Wagners „Das Juden- schaften vielfach als Problem wahrgenommen wur- tum in der Musik“. Eine kritische Dokumentation als de (vgl. Karl Marx’ „Zur Judenfrage“, 1843). Mit dem Beitrag zur Geschichte des Antisemitismus, Frank­ Begriff „Endlösung der Judenfrage“ tarnten die Na- furt/M.–Leipzig 2000, S. 89, S. 36. tionalsozialisten schließlich ihre Absicht zur Ver- ❙6 Unter dem Schlagwort „Judenfrage“ wurde im nichtung des Judentums. 19. Jahrhundert in Europa über die rechtliche und ge- ❙7 Richard Wagner, Sämtliche Schriften und Dich- sellschaftliche (Gleich-)Stellung bzw. Emanzipation tungen, Leipzig 1911, Bd. V, S. 69. der Juden diskutiert, die von den Mehrheitsgesell- ❙8 Ebd., Bd. V, S. 67.

24 APuZ 21–23/2013 radezu auszusprechen, er empfinde eine Idio- sieren. Diesem Prozess könne nach der Über- synkrasie (Abscheu, d. Red.) gegen die Juden“, zeugung des politischen Antisemitismus nur und ihnen „das Recht und die Fähigkeit ab- durch Aufhebung der Gleichberechtigung der sprach“, sich in der Kunst „schaffend zu erwei- Juden entgegengewirkt werden. sen“. Wagner „begann den kühnen Frevel an der Bildung und Humanität. Nach seinem Vor- gange legten andere die sittliche Scham ab, sich Erlösungsfantasien offen zu Vorurteil, zu Haß und Verfolgung zu bekennen“. Nie zuvor habe „ein Künstler sei- Wagners Angriff gilt vornehmlich der Rolle nen Namen mit absolutem Judenhaß befleckt, der Juden in der Musik, deren Einfluss an dem und so gewiß Richard Wagner in der Geschich- verächtlich abgefertigten und nicht einmal te der Kunst stehen wird (…), so gewiß wird mit Namen genannten Meyerbeer (seinem sich mit seinem Namen die traurige Kunst ver- großmütigen Mentor, den er mit Undank- binden, die dazu gehört, der Vernunft und der barkeit straft) und an der weit differenzier- Humanität ins Gesicht zu schlagen“. ❙9 ter gewürdigten „tragischen“ Gestalt Felix Mendelssohn Bartholdys demonstriert wird. Wagner entwickelt in seinem Pamphlet ein Bei aller musikalischen Begabung sei Letzte- durch und durch negatives Klischeebild: von rer etwa nie über einen epigonalen Formalis- der angeblich abstoßenden äußeren Erschei- mus hinausgekommen, da ihm die volkstüm- nung „des Juden“, über seine in Artikulation liche Basis gefehlt habe, aus dem allein das und Syntax vermeintlich hässliche Sprache, schöpferische, „Herz und Seele ergreifende“ seine vorgeblich leidenschaftslose Rationali- Kunstwerk hervorgehe. ❙11 tät, bis zum unterstellten Mangel an genialer künstlerischer Produktivität und der „Fratze“ Dass erst nach dem Tod Ludwig van Beetho- des jüdischen Gottesdienstes, insbesondere vens (1827) jüdische Komponisten so starken des Synagogengesanges. ❙10 Sein Argumenta- Einfluss auf das musikalische Leben ausüben tionsziel ist es, das Scheitern, ja die Unmög- konnten, erklärt Wagner – der nicht wahrha- lichkeit der echten Assimilation der Juden he- ben will, dass das mit der rasch fortschrei- rauszustellen. Damit weist er unwiderleglich tenden Emanzipation der Juden zusammen- über die Grenzen des „traditionellen“ Anti- hängt – durch die „innere Lebensunfähigkeit“ judaismus auf den modernen Antisemitismus der zeitgenössischen Musik im Allgemeinen, voraus – von dem ihn andererseits das Feh- in der sich nun fremde Elemente einnisten len einer ausgeprägt rassenideologischen Per- könnten wie – eine wiederholt für die Juden spektive, die ausdrückliche Beschränkung verwendete Metapher – Würmer in einer Lei- auf die Betrachtung der Rolle des Judentums che. ❙12 Die zunehmende Bedeutung der Juden im modernen Kunstbetrieb und der Verzicht demonstriere die „Unfähigkeit unserer musi- auf politisch-rechtliche Forderungen, welche kalischen Kunstepoche“, ❙13 ja den unkünstle- der Emanzipation der Juden entgegenwirken rischen Charakter der modernen Zivilisation würden, noch trennen. überhaupt, deren „übles Gewissen“ das Juden- tum bilde. ❙14 Das „Judenthum in der Musik“ Es lässt sich jedoch nicht leugnen, dass die ist für Wagner also das Paradigma einer ver- Kardinalthese des modernen Antisemitismus dorbenen, kunstfernen, bloß noch von Markt- in Wagners Judentum-Aufsatz im Kern bereits gesetzen bestimmten Zivilisation. enthalten ist: Die Emanzipation habe nicht zur Aufgabe der Sonderstellung der Juden ge- Scheint Wagner bis zum vorletzten Absatz führt, so die Argumentation des politischen seines Pamphlets den Juden keine Chance zu Antisemitismus, sondern die Unterdrückung lassen, in irgendein positives Verhältnis zur sei in Herrschaft umgeschlagen. Die Juden gegenwärtigen Menschheit treten zu können, hätten sich (aufgrund ihrer rassischen Fremd- so eröffnet er am Ende eine nur von der ver- heit) nicht wirklich assimiliert, sondern such- borgenen Idee des „Kunstwerks der Zukunft“ ten als gleichbleibend geschlossene Gruppe her erklärbare Perspektive. Aus ihr ergibt sich Kultur, Wirtschaft und Politik zu monopoli- ❙11 Ebd., S. 79. ❙9 Berthold Auerbach zit. nach: J. M. Fischer (Anm. 5), ❙12 Ebd., S. 84. S.. 353 f ❙13 Ebd., S. 83. ❙10 R. Wagner (Anm. 7), Bd. V, S. 76. ❙14 Ebd., S. 85.

APuZ 21–23/2013 25 nun ein spürbarer Gegensatz zum Antisemi- von dem auf euch lastenden Fluch sein kann: tismus der nächsten Jahrzehnte – wenn auch die Erlösung Ahasver’s, – der Untergang!“ ❙16 gerade aus den letzten Sätzen des Aufsatzes Nicht nur von Selbstvernichtung (deren Frei- in der Wagner-Literatur unzulässig eine Brü- willigkeit bereits den Gedanken an eine phy- cke zum Genozid-Antisemitismus geschlagen sische Liquidation ausschließt) ist die Rede, worden ist. Wagner erinnert an den Publizis- sondern von Wiedergebärung, von Erlösung ten Ludwig Börne: „Aus seiner Sonderstel- durch diese (Selbst-)Vernichtung – welche lung als Jude trat er Erlösung suchend unter selbstverständlich nur ein symbolischer Akt uns: er fand sie nicht und mußte sich bewußt ist, der eine mystische Umwandlung des gan- werden, daß er sie nur mit auch unserer Er- zen menschlichen Wesens zur Folge haben lösung zu wahrhaften Menschen finden kön- soll. Durch sie werde der Jude erst zum wahr- nen würde. Gemeinschaftlich mit uns Mensch haften Menschen – was der assimilierte Jude werden, heißt für den Juden aber zu aller- nicht sein könne, weil derjenige, an den er sich nächst so viel als: aufhören, Jude zu sein.“ ❙15 assimiliert, vom wahrhaften Menschen nicht weniger weit entfernt sei als er. Aus Wagners Diese Formel vom „Aufhören, Jude zu Sicht kann allein das ungenannte „Kunstwerk sein“ verbindet Wagner mit den Traktaten zur der Zukunft“ diese Verwandlung bewirken: „Judenfrage“ auch aus dem liberalen und so- Allein dieses könne den Juden „erlösen“, so- zialistischen Lager (etwa Karl Marx’ Schrift fern er sich bedingungslos dem Selbstver- „Zur Judenfrage“, 1843), die allesamt auf die nichtungsprozess unterwirft, der aus der de- These hinauslaufen, die vollständige Eman- pravierten Zivilisation zum utopischen Ideal zipation der Juden sei erst möglich, wenn sie jenes Kunstwerks hinführen soll. ihre Sonderexistenz als Juden aufgäben. Wol- le der Antisemit, so Jean-Paul Sartre, den Ju- Von daher erklärt sich auch Wagners son- den „als Menschen vernichten, um nur den derbare Attraktion von Juden in seinem weite- Juden, den Paria, den Unberührbaren beste- ren und engeren Wirkungs- und Lebenskreis, hen zu lassen“, so strebe der Liberale „ihn als das zwischen Demütigung und Heilsangebot Juden zu vernichten, um ihn als Menschen zu fluktuierende Ritual seines Umgangs mit sei- erhalten, als allgemeines abstraktes Subjekt nen jüdischen Freunden, zumal mit seinem der Menschen- und Bürgerrechte“. Parsifal-Dirigenten Hermann Levi. Der Pia- nist Joseph Rubinstein zum Beispiel hat den Diese menschen- und bürgerrechtliche An- Schluss von Wagners Aufsatz über das Juden- sicht verwandelt Wagner in eine Erlösungs- tum genau in dem hier erörterten Sinne ver- ideologie. Aufhören, Jude zu sein, könne man standen, wenn er in einem Brief vom Februar nicht durch die bequeme äußerliche Assimila- 1872 den Zugang zu Wagner sucht und die tion an den Menschen der bestehenden Gesell- Bereitschaft, sich vollständig dem Bayreuther schaft, sondern nur durch die Teilnahme der Unternehmen zu widmen, damit begründet, Juden am revolutionären Selbstvernichtungs- „daß die Juden untergehen müssen“. Der ma- und Erlösungsprozess des gegenwärtigen, terialistische Philosoph und radikale Antise- seiner wahrhaften Menschheit entfremdeten mit Eugen Dührung hat in seinem Buch „Die Menschen. Nun folgt in der ursprünglichen Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfra- Fassung der Schrift der Appell an die Juden: ge“ (1881) Wagners Erlösungsattitude ge- „Nehmt rückhaltlos an diesem selbstvernich- genüber den Juden einer höhnischen Kritik tenden blutigen Kampfe theil, so sind wir ei- unterzogen. Sie sei ein Zeichen dafür, „daß nig und untrennbar!“ In der Neuauflage von Herr Wagner sich selbst nicht hat von den Ju- 1869 – eben dem Jahr, in dem die bürgerli- den erlösen können“; gerade sie stünden „im che Gleichstellung der Juden durch die Ver- Gefolge der Leier des Bayreuther Orpheus“, fassung des Norddeutschen Bundes formell da sein Aufsatz sie zu der Hoffnung berech- verankert wird – hat Wagner diesen Satz be- tige, durch Anschluss an sein Werk „in eine zeichnend verändert: „Nehmt rückhaltlos an höhere Geistessphäre erhoben“ zu werden diesem, durch Selbstvernichtung wiedergebä- „und daß auf diese Weise der Gegensatz aus- renden Erlösungswerke theil, so sind wir ei- geglichen würde. Die zur Bayreuther Orphik nig und ununterschieden.“ Und er fährt fort: beisteuernden Leute vom Judenstamme wer- „Aber bedenkt, daß nur eines eure Erlösung den also hiermit von ihren Judeneigenschaf-

❙15 Ebd. (Hervorhebung im Original). ❙16 Ebd. (Hervorhebungen im Original).

26 APuZ 21–23/2013 ten losgesprochen. Das ist mehr als Ablaß.“ „Der Streit über das Juden­thum in der Mu- Doch „was nicht einmal Christus erreicht“ sik“ (1869), was er am jüdischen Künstlertum habe, werde Wagner erst recht nicht gelingen: tadle. „Im Sinne seiner Broschüre erscheint er „die Juden von sich selbst zu erlösen“. ❙17 selbst als der größte Jude.“ ❙22

In seinen „Aufklärungen über das Juden­ thum in der Musik“ von 1869 hat sich Wag- Wagner und die ner, nicht ohne scheinheiligen Gestus, dage- antisemitische Bewegung gen gewehrt, dass man ihm eine „für unsere aufgeklärten Zeiten so schmachvolle, mit- Wagners Judenfeindschaft ist offenbar die telalterliche Judenhaß-Tendenz“ unterstellt Nachwirkung seiner Pariser Notjahre 1839 habe. ❙18 Die „Schlußapostrophe des Auf- bis 1841. Der stark von Juden geprägte Pariser satzes“ zeuge doch von einer für die Juden Kunstbetrieb, in dem er nicht reüssierte, die „hoffnungsreichen Annahme“: „Wie nämlich Demütigung durch ständige Misserfolge, die von humanen Freunden der Kirche eine heil- Konkurrenz zu Meyerbeer, die Verquickung same Reform derselben (…) als möglich ge- eines tiefsitzenden Neidkomplexes mit frisch dacht worden ist, so faßte auch ich die großen angelesener Ideologie, zumal dem von antijü- Begabungen des Herzens wie des Geistes in dischen Akzenten nicht freien Gedankengut das Auge, die aus dem Kreise der jüdischen des französischen Frühsozialismus – all dies Sozietät mir selbst zu wahrer Erquickung erklärt zu einem guten Teil die aufkeimende entgegengekommen sind.“ ❙19 Abneigung Wagners gegen alles Jüdische.

Wagner beschließt seine „Aufklärungen“ In Wagners Schriften nach 1850 spielt die mit der Feststellung: Solle das Judentum „Judenfrage“ (abgesehen von der Neuauflage „uns in der Weise assimilirt werden, daß es des Judentum-Aufsatzes) nur noch eine Ne- mit uns gemeinschaftlich der höheren Aus- benrolle – ganz zu schweigen von seinem mu- bildung unserer edleren menschlichen An- sikdramatischen Werk, in dem trotz gegentei- lagen zureife“, so sei es freilich „ersichtlich, liger Spekulationen keine philologisch dingfest daß nicht die Verdeckung der Schwierigkei- zu machenden jüdischen Figuren oder antise- ten dieser Assimilation, sondern nur die of- mitischen Anspielungen auftauchen, weder in fenste Aufdeckung derselben hierzu förder- seinen romantischen Opern vor seiner antijü- lich sein kann“. ❙20 dischen „Wende“ um 1850 noch in Ring, Tris- tan, Meistersingern und Parsifal. ❙23 Wagners „Judenthum in der Musik“ ist nach der Wiederveröffentlichung 1869 immer Erst in seinen letzten Lebensjahren ge- wieder vorgehalten worden, er greife mit dem winnt die „Judenfrage“ wieder an Bedeutung Judentum seine eigenen intellektuellen und in Wagners Schriften, und das hängt zweifel- künstlerischen Grundlagen an. „Denn ge- los mit der seit Wilhelm Marrs Pamphlet „Der stehen wir’s nur, mit dem Aufsatze Das Ju- Sieg des Judenthums über das Germanent- denthum in der Musik hat der humoristische hum“ (1879) heftig um sich greifenden anti- Mensch nur eine genaue Charakteristik sei- semitischen Agitation zusammen. Obwohl ner selbst gegeben“, heißt es in einem Artikel Wagner den Begriff des Antisemitismus nur des „Beobachters an der Spree“ vom 24. Mai in Anführungszeichen gebraucht und in ei- 1869, ❙21 in Übereinstimmung mit zahllosen nem Brief vom 23. Februar 1881 an den Berli- anderen Polemiken gegen Wagner. Die „Ei- ner Theaterdirektor Angelo Neumann, einen gentümlichkeiten und Schwächen“ seines ei- seiner zahlreichen jüdischen Freunde, bekun- genen Künstlercharakters entsprächen genau det, der „gegenwärtigen ‚antisemitischen‘ Be- dem, so Gustav Freytag in seinem Aufsatz wegung“ stehe er „vollständig fern“, zeigen

❙17 Eugen Dühring, Die Judenfrage, Karlsruhe–Leip- ❙22 Gustav Freytag, Gesammelte Werke. Erste Se- zig 1881, S. 74. rie, Bd. VIII, Leipzig–Berlin o. J. (Grenzbote Nr. 22, ❙18 R. Wagner (Anm. 7), Bd. VIII, S. 241. 1869), S. 325–330, hier: S. 329 f. ❙19 Ebd., S. 258. ❙23 Vgl. Hermann Danuser, Universalität oder Parti- ❙20 Ebd., S. 260. kularität? Zur Frage antisemitischer Charakterzeich- ❙21 Wilhelm Tappert (Hrsg.), Hurenaquarium und an- nung in Wagners Werk, in: Dieter Borchmeyer/Ami dere Unhöflichkeiten. Richard Wagner im Spiegel der Maayani/Susanne Vill (Hrsg.), Richard Wagner und zeitgenössischen Kritik, München 1968 (1876), S. 56 f. die Juden, Stuttgart–Weimar 2000, S. 79–102.

APuZ 21–23/2013 27 die Tagebücher seiner Frau Cosima doch, dass tion von ironischer Anerkennung bis zu un- er die Anfänge der antisemitischen Agitation verhohlener Bewunderung reicht. Das be- um 1880 nicht nur mit Aufmerksamkeit ver- trifft zumal das antike Judentum, mit dem er folgt, sondern sich immer wieder, wenn auch durch August Friedrich Gfrörers mehrbändi- nicht immer mit ihren Zielen, so doch mit ih- ge „Geschichte des Urchristenthums“ (1838) ren ideologischen Prämissen identifiziert hat. bekannt wurde, die er in der Parsifal-Zeit Die genannte Schrift von Wilhelm Marr hat er eingehend studierte. Die Juden allein hätten sofort nach ihrem Erscheinen gelesen. Cosi- „den Sinn für das Ächte sich bewahrt (…) den ma vermerkt im Februar 1879 über diese Bro- die Deutschen so ganz verloren hätten“, be- schüre, sie enthalte „Ansichten (…), die, ach! merkt er einmal, weshalb „manche sich an Richards Meinung sehr nahe stehen“. ❙24 ihn klammerten“. ❙26 Als die Repräsentanten der ältesten Religion seien sie „doch die aller- Wagner hat nahezu alle entscheidenden an- vornehmsten“ ❙27 – ein Gedanke, der auch in tisemitischen Publikationen gelesen, die um einem Gespräch über Joseph Rubinstein an- 1880 erschienen sind, ob es sich um die ein- klingt: „So ein Jude benimmt sich doch ganz schlägigen Schriften von Constantin Frantz, anders wie wir Deutschen, sie wissen, ihnen Paul de Lagarde, Wilhelm Marr oder Eugen gehört die Welt, wir sind dés hérités!“ ❙28 Dühring handelt. Trotz mancher Skepsis hat er dem antisemitischen Schrifttum im Prin- Eine Anschauung, die in den Gesprächen zip, seinen privaten Äußerungen zufolge, sei- mit Cosima ständig wiederkehrt, ist die, „daß ne Zustimmung nicht versagt. Auch mit dem die Juden mindestens 50 Jahre zu früh uns einflussreichsten politischen Repräsentanten amalgamiert worden sind“: „Wir mußten erst der Bewegung, dem preußischen Hofprediger etwas sein“, das heißt, die Deutschen hätten Adolf Stöcker, hat er unverhohlen sympathi- erst selbst – nach so langer Abhängigkeit vom siert. Stöcker gründete 1878 die „Christliche- romanischen Vorbild – kulturell emanzipiert soziale Bewegung“, aus der 1880 die „Berli- sein müssen. ❙29 So aber hätten die Juden „zu ner Bewegung“ hervorging, die Keimzelle der früh in unsere Kulturzustände eingegriffen“ in den nächsten Jahrzehnten aus dem Boden und verhindert, „daß das allgemein Mensch- schießenden antisemitischen Parteien bis hin liche, welches aus dem deutschen Wesen sich zur „Nationalsozialistischen Deutschen Ar- hätte entwickeln sollen, (…) auch dem Jüdi- beiterpartei“ (seit 1919). Stöcker entfachte eine schen zugute“ gekommen wäre. ❙30 „Wenn ich fanatische Agitation gegen die „jüdische Vor- noch einmal über die Juden schriebe, würde herrschaft“ in Wirtschaft, Politik und Pres- ich sagen, es sei nichts gegen sie einzuwen- se mit dem Ziel der Aufhebung der politi- den, nur seien sie zu früh zu uns Deutschen schen Rechte der Juden. In seinen Gesprächen getreten, wir seien nicht fest genug gewesen, mit Cosima nimmt Wagner wiederholt posi- um dieses Element in uns aufnehmen zu kön- tiv Stellung zu Stöckers Programm. „Ich lese nen.“ ❙31 Wagner hat aus seiner theoretischen eine sehr gute Rede des Pfarrers Stöcker über Judenfeindschaft im Übrigen kaum Konse- das Judenthum“, schreibt Cosima am 11. Ok- quenzen für seinen persönlichen Umgang ge- tober 1879 in ihr Tagebuch. „R(ichard) ist für zogen, wie sein jüdischer Freundeskreis zeigt völlige Ausweisung. Wir lachen darüber, daß (zu dem neben den genannten Joseph Rubin- wirklich, wie es scheint, sein Aufsatz über die stein, Hermann Levi und Angelo Neumann Juden den Anfang dieses Kampfes gemacht der Pianist Karl Tausig, der Dirigent Hein- hat.“ ❙25 Hier wird also von Wagner selbst sein rich Porges und weitere gehörten). Aufsatz über das musikalische Judentum als Initialzündung der antisemitischen Agitation Trotz seiner vielfach privat geäußerten Sym- ausgegeben. pathie mit der antisemitischen Bewegung hat Wagner eine offizielle Verteidigung ihrer Ziele In den Tagebüchern Cosimas finden sich konsequent vermieden, ja sich in dem erwähn- freilich auch viele positive Worte Wagners über die Juden, wobei die Skala der Affirma- ❙26 Ebd., S. 829 (22. 11. 1881). ❙27 Ebd., S. 129 (2. 7. 1878). ❙24 , Die Tagebücher 1869–1883, hrsg. ❙28 Ebd., S. 94 (15. 5. 1878). v. Martin Gregor-Dellin/Dietrich Mack, München ❙29 Ebd., S. 247 (1. 12. 1878). 1976 f., Bd. II, S. 309 (27. 2. 1879). ❙30 Ebd., S. 290 (13. 1. 1879). ❙25 Ebd., S. 424 (11. 10. 1879). ❙31 Ebd., S. 236 f. (22. 11. 1878).

28 APuZ 21–23/2013 ten Brief an Angelo Neumann vom 23. Fe- bekannt wurde –, wisse man, „daß es auf et- bruar 1881 ausdrücklich von ihr distanziert. was andres ankommt als auf Racenstärke“. ❙37 Als Bernhard Förster, einer der rüdesten Ver- Trotz aller persönlichen Sympathie und Be- treter des politischen Antisemitismus zu dieser wunderung für Gobineau protestiert er in Zeit, 1880 eine Massenpetition gegen das ver- den Gesprächen mit Cosima immer wieder meintliche Überhandnehmen des Judentums gegen dessen fatalistischen Rassengedanken. initiiert, lehnt Wagner eine Unterschrift sei- So merkwürdig es heute klingen mag: Wag- nerseits ab. ❙32 ner war zwar Antisemit, aber kein Rassist, Gobineau hingegen Rassist, aber kein Anti- Neumann gegenüber nennt Wagner auch ei- semit. „Bei Tisch explodiert er förmlich zu nen theoretischen Grund für seine Ablehnung Gunsten des Christlichen gegenüber dem der antisemitischen Bewegung: „Ein nächs- Racengedanken“, schreibt Cosima am 2. Juni tens in den ‚Bayreuther Blättern‘ erscheinen- 1881. ❙38 Seine eigene Musik, sein Tristan ist in der Aufsatz von mir wird dies in einer Weise seinen Augen „die Musik für die Aufhebung bekunden, daß Geistvollen es sogar unmög- aller Schranken, also auch der Racen“. ❙39 lich werden dürfte, mich mit jener Bewegung in Beziehung zu bringen.“ Es handelt sich hier Das „Blut des Heilandes“ könne als „gött- um den Aufsatz „Heldenthum und Chris- liches Sublimat“ der „ganzen leidenden tenthum“ (1881), in dessen Mittelpunkt der menschlichen Gattung (…) nicht für das In- Gedanke einer Überwindung der „Rassen- teresse einer noch so bevorzugten Race flie- gegensätze“ steht. Man könne sich nicht da- ßen; vielmehr spendet es sich dem ganzen vor verschließen, „daß das menschliche Ge- menschlichen Geschlechte“, schreibt Wagner schlecht aus unausgleichbar ungleichen Racen in „Heldenthum und Christenthum“. ❙40 Im besteht“, ❙33 heißt es zunächst unter Berufung Geiste Jesu solle sich die Verwandlung der auf Gobineaus „Essai sur l’inégalité des races Menschheit von einem „natürlichen“, durch humaines“ (1853–1855). Und doch sei „beim den Antagonismus der „Rassen“ bestimmten Überblick aller Racen die Einheit der mensch- Zustand zu einem „moralischen“ vollziehen, lichen Gattung unmöglich zu verkennen“; der die allgemeine Übereinstimmung der in dem sie konstituierenden Moment sei „die menschlichen Gattung verwirkliche. ❙41 Anlage zur höchsten moralischen Entwick- lung“ zu erfassen. ❙34 Gegen die Ungleichheit Vor diesem Hintergrund ist die wider- der „Rassen“ gibt es für Wagner ein „Antidot“, sprüchliche Haltung zum Judentum beim dessen Genuss gerade den „niedrigsten Racen“ späten Wagner zu sehen. Einerseits kann er – im Abendmahl als „dem einzigen ächten sich nicht von seiner grundlosen neuroti- Sakramente der christlichen Religion“ – zur schen Zwangsvorstellung einer Verfolgung Gleichheit mit den höheren verhilft: das „Blut seiner Person und seines Werks von jüdischer Jesu“. ❙35 „Das Blut des Heilandes, von seinem Seite befreien, sieht sich vielmehr in ihr durch Haupte, aus seinen Wunden am Kreuze flie- die neue antisemitische Bewegung bestätigt, ßend, – wer wollte frevelnd fragen, ob es der anderseits widerspricht diese Bewegung sei- weißen, oder welcher Race sonst angehörte? ner Überzeugung von der Einheit des Men- Wenn wir es göttlich nennen, so dürfte seinem schengeschlechts und der bloßen „Vorläu- Quelle ahnungsvoll einzig in Dem, was wir als figkeit“ des „Rassengegensatzes“. In dieser die Einheit der menschlichen Gattung ausma- Überzeugung aber sieht Richard Wagner chend bezeichneten, zu nahen sein, nämlich in die Grundlage seines eigenen musikdramati- der Fähigkeit zu bewußtem Leiden.“ ❙36 schen Werks, das sich dergestalt über die an- tisemitische Obsession seines Autors erhebt. Das ist indirekt gegen Arthur de Gobineau gerichtet. „Gedenkt man des Evangeliums“, ❙37 C. Wagner (Anm. 24), S. 690 (14. 2. 1881). bemerkte Wagner bereits am 14. Februar 1881 ❙38 Ebd., S. 744 (2. 6. 1881). – einen Tag, nachdem er mit Gobineaus Essay ❙39 Ebd., S. 751 (19. 6. 1881). ❙40 R. Wagner (Anm. 7), Bd. X, S. 282 f. ❙41 Ebd., S. 284 f. Diese Zusammenhänge sind am vor- ❙32 Vgl. ebd., S. 546 (16. 6. 1880). züglichsten dargestellt bei Wolf-Daniel Hartwich, Re- ❙33 R. Wagner (Anm. 7), Bd. X, S. 275. ligion und Kunst beim späten Wagner, in: Jahrbuch der ❙34 Ebd., S. 276 f. (Hervorhebung im Original). deutschen Schillergesellschaft, 40 (1996), S. 297–323. ❙35 Ebd., S. 283. ❙36 Ebd., S. 280 f.

APuZ 21–23/2013 29 Eberhard Straub begründete Erwartungen auf eine nationale Einheit, von der weder Italiener noch Deut- sche klare Vorstellungen besaßen, weil sie nie politisch vereint in einem Staat zusammenge- Wagner und lebt hatten. Die Italia oder Germania meinte nicht unbedingt das Vaterland oder die Nati- on, sondern beides bezog sich meist auf klei- Verdi – National- nere politische Verbindungen. Man konnte mühelos von der toscanischen oder venezi- anischen wie von der sächsischen oder bay- komponisten erischen Nation reden. Verdi blieb immer seiner Heimat, dem Herzogtum Parma, eng verbunden. Wagner hatte keinen Grund, seit oder Europäer? sein König ihn als sozialen Revolutionär ab Mai 1849 verfolgte, in seinem Gemüt Sach- ein Zweifel, daß neben vielen hohen Zu- sen weiterhin einen bevorzugten Platz zu be- Ksammenfassungen auch der Begriff ‚Eu- wahren. Er sprach mit wachsender Ungeduld ropa‘ fragwürdig geworden ist“, bemerkte 1925 von seinen sächsischen Nationalverwandten, Hugo von Hofmanns- vor allem von Leipzigern und Dresdnern, von Eberhard Straub thal. Er hielt eine an- deren Enge und ihrem Dünkel. Italienisch Dr. phil. habil., geb. 1940; freier gespannte Bemühung und deutsch gebrauchten Verdi und Wagner Journalist; zuvor Redakteur im für erforderlich, um in Verbindung mit der jeweiligen, den Regi- Feuilleton verschiedener Zeitun- geistig so ungesicher- onen übergeordneten Kunst, Literatur und gen; Autor des Buches „Wagner te Vorstellungen wie Musik. Es war die gemeinsame Kultur und und Verdi. Zwei Europäer im „Europäer“ und „eu- Sprache, die Italienern und Deutschen eine 19. Jahrhundert“ (2012). ropäisch“ abermals zu Vorstellung von ihrer geistgeprägten Zusam- [email protected] sichern. ❙1 Trotz man- mengehörigkeit vermittelte. Aber auch die www.eberhard-straub.de cher Einigungen in „Kulturnation“ war erheblichen Spannungen Europa gelang diese ausgesetzt. „schöpferische Restauration“ nicht mehr. Denn es fehlten die dafür notwendigen Reprä- sentanten eines geistigen Europa, die trotz par- Herkunft und Bildungswege teilicher und ideologischer Unterschiede all- gemein als solche anerkannt wurden. Ab den Sachsens Herrscher waren trotz der Reforma- 1990er Jahren flüchtete Europa in den gemein- tion immer gut kaiserlich gewesen. Es fiel ih- samen Markt, es schrumpfte auf den Euro, und nen sehr schwer – und mit ihnen ihren Unter- die Europäer entwickelten sich zu Europayern. tanen – in Brandenburgern und Preußen nicht Sie bedürfen keiner geistig-kulturellen Recht- den Feind und Barbaren zu vermuten. Sie hat- fertigungen ihrer handfesten Wertegemein- ten zu oft schlechte Erfahrungen mit Preußen schaft. Deshalb fällt es ihnen ziemlich schwer, als Besatzungsmacht gemacht, zuletzt nach in Gestalten aus der Vergangenheit deren un- der Völkerschlacht bei Leipzig im Oktober mittelbar europäischen Charakter wahrzuneh- 1813. Wagner zeigte zeit seines Lebens eine men, etwa bei Richard Wagner und ­Giuseppe unverhohlene Abneigung gegen „die Preu- Verdi, die beide 1813 geboren wurden. Selbst- ßen“ und das öde Berlin mit seinen Kulturbe- verständlich begriffen sich diese beiden größ- amten, die auch den Geist möglichst diszipli- ten Dramatiker des 19. Jahrhunderts als Deut- nieren und auf den Staatszweck verpflichten scher oder Italiener, doch damit eben als Erben wollten. Seine Abscheu vor dem Fabrik- und und im Zusammenhang einer gemeinsamen Kasernenstaat Preußen hielt seine zweite Frau Welt, die damals mit gesteigertem Pathos Eu- Cosima in ihrem Tagebuch fest und damit für ropa genannt wurde. „Große Menschen haben eine vorerst noch recht unbestimmte Nach- die eigene Nation zum Schicksal, Europa zum welt. Seine ersten Reisen noch als Schüler Erlebnis“, um noch einmal auf Hofmannsthal führten ihn nach Prag und Wien. Ein wichti- zurück zu kommen. ❙2 ❙1 Hugo von Hofmannsthal, Gesammelte Werke. Verdi und Wagner wuchsen noch nicht im Prosa IV, Frank­furt/M. 1966, S. 75. Nationalstaat auf. Es gab ganz verschieden ❙2 Ebd., S. 242.

30 APuZ 21–23/2013 ges Element seiner Bildung blieb von da an die Romanist, der freilich die Universitäten als Anteilnahme am Wiener Volkstheater, das so geistesferne Dressuranstalten ablehnte und viele Anregungen aus der italienischen Com- deshalb als Privatgelehrter mit seinem univer- media dell’Arte empfing, auf die auch er spä- salen Wissen wucherte. Er machte Richard mit ter gerne zurückgriff. Dante vertraut, mit Bojardo, Ariost und Tasso, mit den Italienern bis hin zu den dramatischen Verdi war in der Nähe des 1813 noch franzö- Venezianern des späten 18. Jahrhunderts, Car- sischen Parma geboren, das ab 1815 wieder ein lo Gozzi und Goldoni. Dantes Göttliche Ko- selbstständiges Herzogtum wurde. Er stand – mödie bewunderte Wagner und las immer wie- wie Wagner – von Jugend an im Einflussbe- der in ihr. Übrigens gehörte König Johann von reich Österreichs. Seine Eltern tauften ihn auf Sachsen, der dem Revolutionär Wagner 1862 die Namen Giuseppe und Francesco, was ihn nur widerstrebend verzieh, zu den gründlichs- zum Namensvetter seines zeitweiligen Kö- ten Kennern Dantes zu seiner Zeit. Der Viel- nigs und Kaisers Franz Joseph machte. Dieser leser Wagner eignete sich die zeitgenössische war ihm immer ein gnädiger König, der auch deutsche Literatur an, entdeckte Shakespeare nach dem Verlust Lombardo-Venetiens seinen und die Spanier. Calderon und Cervantes be- ehemaligen Untertan und Mitbürger ehrte gleiteten ihn sein Leben lang. und auszeichnete. Der Name Joseph erinnerte auch an den Reformkaiser Joseph II., der vor Die literarische Bildung Verdis und Wag- allem unter mailändischen Aufklärern sehr ners entsprach den Ansprüchen der Zeit im populär war. „Josephinismus“ resümierte für gesamten Europa. Beide lernten Französisch Norditaliener wie für die intellektuellen Ös- und erschlossen sich darüber die französische terreicher den rationalen Verwaltungs-, Ge- Literatur, zu der auch die Libretti der franzö- setzes- und Rechtsstaat. Verdi kam aus dem sischen Opern gehörten. Wagner lernte auch Kleinbürgertum, sein Vater entsprach einem Englisch, um sich Shakespeare besser annä- heutigen Betreiber einer Bar mit etwas Land- hern zu können, und Italienisch anhand der wirtschaft. Er besuchte das Gymnasium und Opernbücher. Wie Verdi war er ein leiden- lernte neben Latein auch Hochitalienisch, die schaftlicher Leser von Zeitschriften, und das Literatursprache, und damit auch die Sprache hieß vor allem von französischen, weil sie am der Opern. Er wurde mit den antiken Klassi- ausführlichsten über Europa unterrichteten. kern vertraut und mit den italienischen Dich- Für Wagner kam hinzu, dass er ab 1849 als tern von Petrarca bis Manzoni, dem zu Ehren Flüchtling im Ausland lebte und auch nach Verdi später seine Messa da Requiem schrieb. 1862, als er sich wieder überall in Deutsch- Er las viel, auch französische Bücher in itali- land aufhalten durfte, erhebliche Zeit weiter- enischer Übersetzung, vor allem aber Shakes- hin im Ausland verbrachte und überhaupt nie peare. Sein bevorzugter epischer Dichter, den wieder recht heimisch in Deutschland wur- er noch über Homer und Vergil stellte, blieb de. Im Ausland sprach er auch vorzugsweise stets Dante. Dem heroischen Tasso zog er den Französisch und, wie Franzosen beteuerten, verspielteren Ariost vor. durchaus manierlich und flüssig.

Wagners Vater, der im Herbst 1813 starb, Für Verdi wurde Lesen und Reden auf Fran- war Akademiker, ein höherer Polizeibeamter zösisch zur unvermeidlichen Gewohnheit, mit literarischen Neigungen, sein Stiefvater al- da er ab 1847 bis zu einem Tod 37 Mal nach lerdings Maler und Schauspieler. So wuchsen Paris reiste und oft für lange Zeiträume dort der junge Richard und seine Schwestern in ei- verweilte. Deutsche Literatur in italienischer nem für Bürger noch recht zweifelhaftem Mi- Übersetzung lernte Verdi in Mailand kennen, lieu auf, das sie kaum vom „fahrenden Volk“ seit er dort ab 1834 studierte. Nach und nach unterscheiden wollten. Goethe schilderte diese eignete er sich die Werke Schillers und Goe- Welt in seinem Wilhelm Meister. Richard Wag- thes an und kannte die Theorien der Gebrü- ner besuchte wie Verdi das klassische Gymna- der Schlegel zum europäischen Theater. sium, begeisterte sich mehr für Griechisch als für Latein und überraschte seine Lehrer mit seinen philologischen Neigungen. Die grie- Politische (Zurück-)Haltung chischen Tragiker wurden ihm zum Bildungs- erlebnis und über sie die alten Mythen. Sein In Mailand, der Hauptstadt des Königreiches Leipziger Onkel Adolf war ein bedeutender Lombardo-Venetiens, das zum Kaiserreich

APuZ 21–23/2013 31 Österreich gehörte, war das geistige Ambi- des Papstes und des Kirchenstaates. Manche ente, die „Luft zwischen den Dingen“, kräf- konnten sich einen italienischen Bund mit tig mit deutschen Aromen gewürzt. Einen der dem Papst vorstellen, was allerdings kaum mit besten Freunde für sein ganzes Leben gewann dem Status der Weltkirche zu vereinbaren war. Verdi im Dichter Andrea Maffei. Die Maffei Wie unter den Deutschen gab es sehr verschie- kamen ursprünglich aus Verona und vermisch- dene Vorstellungen von einem wünschens- ten sich mit den freiherrlichen Geschlechtern werten einigen und gemeinsamen Vaterland. in Welsch-Tirol, dem heutigen Trentino. Ein Onkel Maffeis lehrte in München italienische Der junge Verdi aus der Provinz schwärm- Literatur, wo Andrea auch studierte. ❙3 Er be- te für die Republik und ließ sich einen Bart mühte sich anschließend, die Italiener mit der wachsen. Seine beiden Kinder aus der ersten deutschen Dichtung bekannt zu machen. Mit Ehe, die früh starben, nannte er Virginia und seiner Begeisterung für Schiller steckte er bald Icilio nach einer republikanischen Tragödie den jungen Verdi an – eine Begeisterung, die Vittorio Alfieris. Den Bart nahm er zwar nie ihn mit Wagner, wie so vieles, verbunden hät- ab, doch unter höflichen Aristokraten lernte te, wenn sie sich je begegnet wären. er, in politischen Angelegenheiten großzügi- ger zu denken und die Weltklugheit unter ele- Die Mailänder Aristokratie, die dort die so- ganten Kindern der Welt nicht allzu energisch ziale Rolle spielte, die in den deutschen Staa- herauszufordern. Im Gegenteil: Der soziale ten das Bildungsbürgertum einnahm, hatte Aufsteiger brauchte Freunde und Gönner, er keine Scheu vor deutschen Beamten, Offizie- besaß Ehrgeiz, eben auch gesellschaftlichen, ren oder Künstlern, vor allem nicht vor bay- was hieß, die liebenswürdigen Lebensformen erisch-österreichischen Standesgenossen, mit der Aristokratie anzunehmen. Verdi wuchs denen sie sich verschwägerte. Mailand, auch in sie hinein und trat, trotz vieler schlechter Venedig oder Verona waren keine antikaiser- Launen, zunehmend wie ein lässiger Adliger lichen, schroff antideutschen Städte. Die Ös- auf, der sich später, wie es sich gehörte, gerne terreicher galten noch als tedeschi, als Deut- auf seine ländliche Villa zurückzog, um dort sche, die sie damals ja auch sein und bleiben mit Frau und Freunden adeliges Landleben wollten. In Norditalien wurde die kaiserliche bei gutem Essen, lebhafter Konversation und Verwaltung geschätzt. Es waren auch genug Spaziergängen im Park zu führen. Erinnerungen an Maria Theresia lebendig ge- blieben, die als Herzogin von Mailand viel Für einen sozialen Aufsteiger und Künstler, Rücksicht auf die herkömmlichen Rechtsge- der Erfolg haben wollte, empfahl sich politi- wohnheiten genommen hatte. Erst nach der sche Zurückhaltung, um in Mailand, Venedig Einigung Italiens 1860 kam die Legende vom und Triest aufgeführt werden zu können, um dauernden Unmut geknechteter Mailänder sich von dort aus in Wien bekannt zu machen oder Venezianer auf. Die kaiserlich-könig- und so die deutschen Bühnen zu erreichen. lichen Beamten vermissten zwar eine über- Verdi fiel den Behörden in keiner Weise als po- zeugte Partei, die mit gewissem Enthusias- litisch aufgeregt auf. Seine Opern sind sofort mus für die Dynastie und das Reich warb, und unter kräftigem Beifall in Wien und dann fürchteten aber die meisten liberalen Kritiker in anderen deutschen Hoftheatern gespielt in ihren Kaffeehäusern nicht sonderlich. ❙4 worden. Es ist eine nachträglich erdachte Le- gende, dass etwa Nabucco, I Lombardi oder Tatsächlich waren sich die Eiferer für ein Ernani Dramen gewesen wären, die mit Chö- freies Italien gar nicht einig, was für ein Itali- ren oder Ensembles nationale Leidenschaften en sie wünschten, ein geeintes Norditalien, ein erregen sollten. ❙5 Nabucco war schon 1838 zur gesamtes Italien, ob nun als Föderation von Freude des Kaisers Ferdinand und seiner Frau Monarchien verfasst oder als zentralisieren- (allerdings als Ballett) in Mailand aufgeführt de Republik. Völlig ungewiss war die Zukunft worden. Verdi griff auf diese Erfolgsnummer zurück, um ganz sicher zu gehen, indem er ein von der Zensur und höchsten Herrschaften 3 ❙ Vgl. Marta Marri Tonrelli, Andrea Maffei e il gio- gebilligtes Sujet bearbeitete. Das ist ihm voll- vane Verdi, Riva 1999. ❙4 Vgl. Denis Mack Smith, The making of Italy. 1796– 1870, London 1968; Franco della Peruta, Milano nel ❙5 Vgl. Birgit Pauls, Giuseppe Verdi und das Risorgi- rosorgimento: dall’ età napoleonica alle cinque gior- mento. Ein politischer Mythos im Prozeß der Natio- nate, Milano 1998. nalbildung, Berlin 1996.

32 APuZ 21–23/2013 auf gelungen. Wird hier die patria beschwo- Kunst als Mittel zur inneren Freiheit ren, ist das kein eindringlicher Hinweis auf eine mögliche italienische Nation. Wie die meisten Künstler mussten auch Verdi und Wagner eine Antwort auf die Herausfor- In Rossinis Guilleaume Tell (nach Schillers derung finden, der Kunst eine soziale Funkti- Drama) wird ununterbrochen patrie und liber- on unter neuen Bedingungen zu sichern, eine té gerufen, beides immer nur mit Rücksicht auf sittliche Bestimmung zu erhalten, um sie da- die drei Urkantone, noch nicht einmal auf die vor zu bewahren, Teil des Amüsierimpressio- spätere Schweiz. Freiheit und Vaterland gehö- nismus zu werden, den eine mächtig anwach- ren zum Repertoire bürgerlicher Rührstücke, sende Kulturindustrie in Europa unterhielt. weil der pflichtbewusste Familienvater und Sowohl Wagner wie Verdi bekämpften den rechtschaffende Erwerbsmann ans teure Va- Kulturbetrieb und die Theaterroutine, die terland denken soll, an das Gemeinwohl und auf den Verbrauch leicht verkäuflicher, unter- den Nutzen und Schutz, den er daraus zieht. haltender Ware bedacht waren für ein Publi- kum, das in der Freizeit von seiner Arbeits- Übrigens weilte Verdi 1848 in Paris, als die welt, von der Wirklichkeit abgelenkt sein Mailänder wie so viele Europäer revolutionä- wollte. Doch wenn die Würde der Mensch- re Experimente wagten. Mit der Kraft seines heit in des Künstlers Händen liege, dann Herzens stand er den Mailändern aus der Fer- ­dürfe er seine Aufgabe nicht darin erkennen, ne bei, vor allem aber war er damit beschäf- zahlende Kundschaft durch bloßen Zeitver- tigt, im unruhigen Paris seine Wertpapiere in treib vor Langeweile zu bewahren. Vielmehr Sicherheit zu bringen. Angeboten, Hymnen müsse er den Menschen von der Bühne aus auf das Volk und patriotische Kampflieder zu mit sich selbst konfrontieren, mit seiner Be- schreiben, wich er aus. Dem Dramatiker Ver- stimmung zur Freiheit, die allein seine Wür- di ging es um Menschen und beziehungsreiche de ausmache. Davon sprach der humanitäre Situationen, aber nicht um vertonte Leitarti- Sozialist Giuseppe Mazzini, den sowohl Ver- kel und plakative Slogans. Darin unterschied di als auch Wagner schätzten. er sich nicht von Wagner, der das „Allgemein- menschliche“ in mythischen oder histori- Mazzini war ein italienischer Sozialästhet, schen Stoffen freilegen wollte. Denn Künst- der von der „Musik der Zukunft“ und dem ler mögen einer Nation angehören – ihr Werk, „Kunstwerk der Zukunft“ erhoffte, den sich die Kunst, wendet sich der Menschheit zu, de- selbst entfremdeten Menschen mit sich selbst ren Würde in ihre Hand gegeben ist: „Bewah- und seiner Geschichte innig vertraut zu ma- ret sie!/Sie sinkt mich euch! Mit Euch wird sie chen und ihm dabei zu helfen, sich von allen sich heben“ – auf diese Weise bestimmte Schil- äußeren Zwängen zu befreien und Herr sei- ler, auf den Verdi und Wagner unbedingt hör- ner selbst zu werden. Über die Vertreter des ten, den sittlichen und befreienden Auftrag „Jungen Deutschlands“ gelangte Wagner un- des Künstlers. Wagner wie Verdi schrieben ter den Einfluss der revolutionären Samm- deshalb keine nationalen Opern. lungsbewegung „Junges Europa“, das Maz- zini mit seinen Erwartungen verband. Durch Wagner, obschon im Gegensatz zu Verdi als eine europäische Musik, in der sich die nati- Teilnehmer am Dresdner Maiaufstand 1849 onalen Schulen ausgleichen, und ein europä- ein praktischer Revolutionär, verweigerte sich isches Musikdrama, das italienische Melodie, ebenfalls unmittelbarer Agitation, die dem deutschen Orchestersatz und französischen Theater als moralischer Anstalt widersprach. Sinn für bühnenwirksame Handlung vereint, Es ging Verdi und Wagner in ihren Opern um sollte sich der Kontinent verjüngen. Im mu- die innere Freiheit des mit sich selbst einigen sikalischen Gesamtkunstwerk, das geschwis- Menschen, der überhaupt die Voraussetzung terlich alle Künste vereint, sah Mazzini eine ist für eine auch im äußeren Sinne vereinigte Vorbereitung auf das künftige Gesamtkunst- Gemeinschaft der Freien. In diesem Sinne ist werk einer neuen Gesellschaft, in der der Ge- die innere Freiheit eine sehr politische Kraft, gensatz von Geist und Leben, Bürger und weil eine Freiheit ohne sittliches Fundament Mensch, Individuum und Gesellschaft aufge- bloße Laune und unverbindliche Spielerei ist. ❙6 hoben ist. ❙7

❙6 Vgl. Alberto Signorini, Individualità e libertà in ❙7 Vgl. Giuseppe Mazzini, Filosofia della musica, Ri- Vittorio Alfieri, Milano 1872. mini 1977.

APuZ 21–23/2013 33 In der künftigen Einheit der Künste und übrigens auch bei Wagner, der nach 1849, als er nationalen Schulen feierte Mazzini die Seele vom deutschen Musikbetrieb ausgeschlossen der kommenden gesellschaftlichen Eintracht wurde ohne im gesamteuropäischen eine Ni- in einer Europäischen Union, die den ratlo- sche oder gar einen bevorzugten Platz zu fin- sen Bürgern und Menschen Halt gewährt und den, in die Kultursoziologie auswich. zur Ordnung ruft. Auf ihrer Grundlage wer- de die Kunst wieder wie im klassischen Athen zum Gesetzgeber und Stifter eines gemein- Grenzübergreifende Wechselwirkungen samen gesellschaftlichen Glaubens, dem das mit der Macht der Musik verstärkte Wort auf Es war gar nicht so sehr Wagners Musik, die auf der Bühne Überzeugungskraft verleiht. Vor- ihn neugierig machte – schließlich hatten die erst sei die Musik noch machtlos und sprach- wenigsten Gelegenheit, sie zu hören. Vielmehr los. Sie spiele mechanisch mit Gezwitscher, waren es seine theoretischen Ansätze, die dazu Trillern und Koloraturen, nur bemüht um führten, dass er zu einem europäischen Avant- plötzliche Knalleffekte. Im selbstverliebten gardisten erhoben wurde, zu einem Künst- Virtuosen verurteilte Mazzini den verantwor- ler, dem die Gegenwart nicht genügt, der das tungslosen Künstler, der die Kunst und ihre Vergangene vergangen sein lässt und nur da- Zwecke verrate und nur um Beifall für seine ran denkt, in der Zukunft, für die er schreibt, Fertigkeiten bemüht sei, statt dramatischen anerkannt zu werden. Wie Verdi wollte auch Zusammenhängen und einer inneren Wahr- Wagner jetzt und heute wirken, sonst wäre er heit zu folgen, die über den wahren Menschen kein Dramatiker gewesen. Die Leser und Deu- und seine Möglichkeiten unterrichtet. ter seiner Schriften, vorzugsweise erst einmal Franzosen, sahen in ihm einen der ihren wegen Das Theater der Zukunft werde ein totales seiner Anlehnung an Saint-Simon und Proud- Theater sein, in dem alles seinen Platz findet, hon, die so viel über die soziale Funktion der auch das Groteske, Unheimliche oder Ver- Kunst in einer neuen Gesellschaft lieben- krüppelte. Das forderte zur gleichen Zeit auch der Solidarität geschrieben hatten. Es waren der französische Dramatiker Victor Hugo, den Franzosen, die Richard Wagner zum europäi- Verdi und Wagner gründlich beachtet hatten. schen Ereignis machten. Ihnen verdankt er sei- Denn des Bild auf der Bühne solle, wie Mazzi- nen Ruhm zu Zeiten, als Verdi überall gespielt ni und Hugo erwarteten, von der Wahrheit des wurde und Wagner nur ein intellektuelles Ge- vollständigen Lebens künden, so wie es sich in rücht war, von dem Deutsche am allerwenigs- der Welt als Geschichte in Geschichten dar- ten wussten. Unter ihnen blieb Wagner, der stellt, die vom immer gleichen Menschen han- Emigrant, wie man schon damals solche nann- deln, dem betrügenden, liebenden, geschän- te, die gezwungen wurden, Deutschland zu deten oder über sich und seine Schwächen verlassen, immer ein Missverständnis, weil er triumphierenden. Solche Überlegungen stan- zu international geworden war. Er lebte in der den im Zusammenhang mit allen möglichen Schweiz und fuhr von dort aus kreuz und quer sozialästhetischen Entwürfen von Schiller bis durch Europa, von Paris und London bis Mos- hin zu den französischen Frühsozialisten. kau. Er brauchte die deutsche Provinz nicht, um berühmt zu werden, nicht einmal Wien Die Kunst als Mittel zur inneren Freiheit, um und Berlin. Wagners Ruhm ist nicht von Deut- mit ihr gerüstet auch eine äußere durchzuset- schen gemacht worden. ❙8 zen, brauchte aber nicht nur die Theorie. Sol- che Vorstellungen ließen sich durchaus aus den Verdi – kein politisch Verfolgter – wur- Werken der großen Dramatiker gewinnen, ob de in Italien, auch in Deutschland vom Pu- nun Shakespeare, Calderon oder Schiller. Wag- blikum begeistert aufgenommen, blieb aber ner, ein erster Musiksoziologe mit viel Neugier unter den Kritikern umstritten. Von Paris auf Theorien, zog seine besten Erkenntnis- aus machte er seinen Weg ebenfalls bis nach se aus der Lektüre der von ihm bewunderten Russland, das damals ein selbstverständlicher europäischen Dichter. Darin war er wiederum Teil Europas war. Sein internationaler Ruhm Verdi ähnlich, der wohl der beste Kenner der machte ihn aber für die leidenschaftlichen Pa- dramatischen Literatur Europas war, aber es trioten, die italianissimi, verdächtig, franzö- vermied, sich selbst als Theoretiker ins Spiel zu bringen. Doch das überzeugendste Argument ❙8 Vgl. David C. Large/William Weber, Wagnerism eines Dramatikers sind ohnehin seine Werke, in european culture and politics, Ithaca, NY 1984.

34 APuZ 21–23/2013 sischen, gar deutschen Einflüssen erlegen und Langeweile, die eine rein ästhetische Exis- ein internationaler Künstler geworden zu tenz bereithält. Überall gibt es Zwerge und sein, der statt aus der Italianità und Latini- Riesen, Ringe, die manche Macht verheißen, tà Licht und Selbstgewissheit zu saugen, im- und schreckliche Feuer, die ein siegreicher mer dunkler, ungeselliger und fremder wur- und unverletzbarer Held wie Rinaldo mühe- de und den Geist Rossinis – des vermeintlich und furchtlos durchschreitet. letzten wahrhaften Italieners in der Musik – endlich verriet. Dieser allerdings suchte mit Verdi wie Wagner organisierten ihren seinen letzten Werken eine Versöhnung mit Ruhm von Paris aus, der Welthauptstadt im dem französischen Geschmack und damit weiten Reich der Musik. Dort wurden sie als mit der Entwicklung zum Musiktheater wie Antipoden wahrgenommen und gegeneinan- sie die Italiener Cherubini und Spontini in der ausgespielt. Von Paris aus wurde Verdi, Paris vorbereiteten. der sich französischen Einflüssen nicht ver- weigerte, zum europäischen Ereignis. Pariser Richard Wagner machte nie ein Hehl da- Dichter und Journalisten, Maler, Soziologen, raus, was er Spontini verdankte, Cherubi- auch Politiker steckten mit ihrem wagnerism ni und Franzosen wie Aubert oder Halévy. die übrige Welt an. Erstaunlicherweise waren Sie alle lösten sich von nationalen Schulen, sie es spätestens ab 1913 die Deutschen, die Wag- strebten auch mit der Musik nach dramati- ner entzauberten und sich auf den Europäer scher Wahrheit, wie einst Gluck und Mozart, Mozart besannen oder auf Verdi, in dem sie auf die sich sämtliche neuere Musikdrama- bei seinem Tod 1901 den letzten großen Eu- tiker und damit Internationalisten beriefen. ropäer des 19. Jahrhunderts würdigten. In Für Mazzini war Mozarts Don Giovanni den 1920er Jahren ging von Dresden eine Ver- eine Vorahnung europäischer Musik, eine di-Renaissance aus, die allmählich die gesam- Versöhnung deutscher Wissenschaftlichkeit te Welt ergriff. und Strenge mit italienischer Lebenszuge- wandtheit, wie sie sich in den sprudelnden Nach 1945, den mannigfachen Zusammen- Melodien erweist. Wagner wie Verdi hatten brüchen, verlangten viele Italiener nach Wag- Mozart, den sie beide verehrten, gründlich ner, um verstehen zu können, warum die Göt- studiert. Überhaupt war ihre musikalische ter, die bürgerliche Welt des 19. Jahrhunderts Bildung gar nicht national, sondern gesamt- ihrem Ende entgegeneilten. Die Götterdäm- europäisch, von Palestrina und Montever- merung war gerade erlebt worden in einem di bis hin zu Haydn, Mozart und Beethoven schrecklichen Bürgerkrieg seit Herbst 1943. aber auch zu Bellini. Die größte Huldigung Italien veranstaltete danach eine Wagner-Re- an diesen großen Komponisten, der Mozart naissance, die bis heute andauert. Schließlich genau kannte, ist das Liebesduett zwischen ist Wagner – wie Verdi – Ehrenbürger von Tristan und Isolde, das leider auch in Italien Bologna, also Italiener honoris causa. Aber nicht mehr italienisch gesungen wird. auch Venedig, wo er starb, oder Palermo, wo er so gerne lebte und den Parsifal vollendete, Verdi würdigte im „göttlichen Schiller“ ne- verstehen sich heute als „Wagnerstädte“, wie ben Shakespeare ein verpflichtendes Vorbild. Wien, München, Dresden und Berlin als die Darin war er mit Wagner einer Meinung. Selt- Mittelpunkte entschiedener Rückbesinnung samerweise erkannte er aber in Wagners Dra- auf Verdi. men, mit denen er sich nach dessen Tod nur lustlos beschäftigte (schließlich war Wagner Wagner und Verdi sind keine Gegensätze, zu einem zunehmend lästigen Konkurrenten vor allem keine nationalen, sie sind die letz- geworden), gar nicht die italienischen Motive, ten großen Europäer, die der Welt noch ein- ohne die Wagner dramatisch nicht ausgekom- mal versicherten: „Wo ein großer Gedanke men wäre. Bei den italienischen Dramatikern wird, ist Europa“, wie Hugo von Hofmanns- Ariost und Tasso gibt es kämpfende, liebende thal hoffen machen wollte – mitten in der Kriegerinnen, Brünnhilden als Amazonen. Krise Europas nach 1918, die bis heute nicht Rinaldo, eine Hauptfigur in Tassos La Ge- überwunden ist. rusalemme Liberata (Das befreite Jerusalem), erlebt mit Armida alle Wonnen, die Wagners Tannhäuser bei Venus fand. Er befreit sich als christlicher Ritter von ihr, verzweifelt in der

APuZ 21–23/2013 35 Anno Mungen zwar um aktuelle Themen wie der Sehnsucht nach Macht, der Gier nach Geld, der Sexuali- tät und dem Verhältnis der Geschlechter küm- mert, aber doch auch als Kommunikationsform Wagner-User: recht veraltet daherkommt? Was bedeutet das Phänomen Wagner für die Gesellschaft heute, jenseits seines Werks und der Überlegungen, Aneignungen und die sich an die Allgemeinplätze der immer wie- der repetierten Wagner-Aufregung knüpfen, dass er politisch kontrovers einzuschätzen sei, Weiterführungen dass er Antisemit war, ❙1 dass er soziale Utopien verfolgte? Wagner-Aufführungen finden 2013 iner Generation, die mit Google, mobilen in noch vermehrter Weise statt. Aber es sind ETelefonen, Chats im Netz, Videospielen im Jubiläumsjahr überraschend wenig Ansätze und E-Book-Readern aufwächst, wird man zu finden, die daran anknüpfen, dass Wagner als Lehrender anders ein Neuerer war und die Frage „Warum Wag- Anno Mungen begegnen als damalige ner?“ ❙2 ernst nehmen. Das Werk der Opern Dr. phil., geb. 1961; Professor Lehrer, deren Schü- steht im Zentrum des Jubiläums und nicht das für Musikwissenschaft, Leiter lerinnen und Schü- ideengeschichtliche Potenzial. des Forschungsinstituts für ler mit festen Telefo- Musiktheater und Inhaber des nen, Radio, Fernse- In dem Sinne, dass das Phänomen Wagner Lehrstuhls für Theaterwissen- hen, Kino, Schallplat- mehr ermöglichen könnte, als es das Jubilä- schaft unter besonderer Berück- ten und Büchern groß umsjahr bislang zeigt, stellt dieser Beitrag zu sichtigung des Musiktheaters wurden. Die Informa- „Wagner-Usern“ aktuelle Rezeptionsmodelle an der Universität Bayreuth, tionen aus dem Inter- in den Mittelpunkt. Die zusammengestellten 95349 Schloss Thurnau. net, die Clips aus You- Beispiele einer Wagner-Rezeption sind einer- [email protected] tube, die Kurznach- seits sehr unterschiedlich, stehen aber ande- richten auf Smartpho- rerseits alle im Kontext von Konzepten, die nes und Twitter sind wie Schnipsel eines nicht sich um Bildung bemühen. Sie sind zudem – enden wollenden Patchworks. Ein Ganzes uns dies ist sowohl bei Wagner als auch bei existiert nicht. Unterbrechung und Diskonti- Bildung naheliegend – mit den medialen Ge- nuität sind die eigentlich prägenden Faktoren gebenheiten von Ort und Zeit befasst: Wag- unserer Zeit: von Informationen, Bildern und nerarbeit ist Medienarbeit. ❙3 Eine studentische Sounds. Die Oper mit ihrem Repertoire wirkt Arbeitsgruppe der Universität Bayreuth wird demgegenüber wie ein Museum und erscheint zu Usern dieses Wagners ebenso wie Chris- als Repräsentant einer anderen Zeit, die künst- toph Schlingensief oder Bertha von Suttner. lerisch einen Anspruch nach Ganzheit einfor- derte und formulierte. Richard Wagner, seine Festspiele und die Idee vom Gesamtkunstwerk Vernetzungsvisionen ohne Wagner sind Zeugen dieser Zeit. Die Opernklassiker von Mozart über Verdi, von Wagner bis Puc- Die Oper war vom 17. bis 20. Jahrhundert cini und Strauß umfassen lange Zeitspannen, wichtiger Spiegel der Gesellschaft, in der diese von denen Wagner die längsten überbrückt: bis sich repräsentierte und sich – spätestens seit zu viereinhalb Stunden (oder sogar 16 Stunden Giacomo Meyerbeer – auch kritisch mit sich im Ring des Nibelungen). Der Zuschauer „ein- selbst auseinandersetzte. Höhepunkt der kriti- geschlossen“ im Innenraum des Theaters – schen Haltung von Oper im 19. Jahrhundert ist ohne Handy und Kontakt nach außen –, seine Wagners Ring des Nibelungen. Das immense Nervosität vor der Aufführung, das Handy in Interesse an der Oper bröckelt erst mit der Ver- der Hand und letzte Nachrichten „checkend“, breitung des Films ab Anfang des 20. Jahrhun- ist im Übergang von der Welt des Disparaten in die museale Welt des Ganzen angesiedelt. ❙1 Vgl. Dirk Kurbjuweit, Wagners Schatten, in: Der Spiegel, Nr. 14 vom 20. 3. 2013, S. 112–120. ❙2 Ist Wagners Erbe, das auf einem Werk be- Die Deutsche Bühne, 84 (2013), mit dem Schwer- punkt „Warum Wagner?“ ruht, das einst medial und ästhetisch weit in ❙3 Vgl. Johanna Dombois/Richard Klein, Richard eine unbestimmte Zeit verwies, heute mehr als Wagner und seine Medien. Für eine kritische Praxis nur museales Drama, das sich – wie im Ring – des Musiktheaters, Stuttgart 2012.

36 APuZ 21–23/2013 derts. Der Paradigmenwechsel – weg vom alten Abbildung: Fernseh-Vision 1910 (Ernst Lübbert) Medium Oper hin zu neuen Medien – ließ sich in einer 1910 vom Journalisten Arthur Brehmer herausgegebenen Publikation, welche die „Welt in 100 Jahren“ in den Blick nahm, bereits erah- nen. ❙4 Wagners Musik- und Kunstverständnis ist theoretisch wie pragmatisch ebenso an der Zukunft orientiert, wie Wagner zugleich die Gattung Oper als veraltet erkennt, sie weitbli- ckend reformiert und in den Kontext von Ge- samtkunst- und Festspielidee stellt. Den Film mit Kino hat er als demokratische und massen- taugliche Kunstform antizipiert. Blickt man in die Publikation von Brehmer, in der eine Rei- he von damals sehr prominenten Autoren und Autorinnen sich Visionen für das Jahr 2009 – also in etwa unsere Gegenwart – erdachten, so stellt man fest, dass der Oper hier keine Bedeu- tung beigemessen wird. Zwar taucht der Name Wagner an einigen Stellen auf. Die Gattung Oper selbst aber, die ja zu Beginn des 20. Jahr- hunderts durchaus noch mit vielen Neukom- positionen bedient wurde, wird nicht als zu- kunftsträchtig angesehen: weder im Aufsatz von Wilhelm Kienzl „Die Musik in 100 Jahren. Eine überflüssige Betrachtung“ noch in Max Burckhardts „Das Theater in 100 Jahren“. Quelle: Arthur Brehmer (Hrsg.), Die Welt in 100 Jahren, Berlin 1910, S. 21. Die Zukunftsforscher des beginnenden 20. Jahrhunderts interessierten mediale Ver- breitungsoptionen, die einhergingen mit Vor- ‚(…) von Redfers, dem Wagner unserer Zeit? stellungen von neuer kommunikativer Vernet- Das trifft sich famos.‘ Und nun saßen die bei- zung mittels „drahtlosem Telephon“ oder der den Männer und lauschten – hier im ewigen Erwartung, dass sich der Verkehr vor allem in Eise der Polarregion den Klängen und Stim- die Luft verlagern würde. So lautet die Bild- men der New­yorker Oper.“ ❙7 Tatsächlich unterschrift zur Vision der Opernliveübertra- weitet und demokratisiert die mediale Über- gung (Abbildung) entsprechend: „Die Stücke, tragungsoption von Wagner- und anderen die in London gespielt werden, werden selbst Opern den Anspruch des Gesamtkunstwerks, im ewigen Eis der Arktis oder Antarktis mit- wie Wagner es vorschwebte: auch im Kino telst Fernseher und Fernsprecher auf einen unserer Zeit mit Liveübertragungen aus der Schirm reproduziert werden.“ ❙5 Die „große Metropolitan Opera in New York von Lepa- Oper am Südpol“ ermöglicht es, sich zur New ges Ring etwa, zu dem wir heute Vorträge auf Yorker „Theaterzeit“ dazu zu schalten: „Wie Youtube ­finden. ❙8 wär’s, wenn wir uns auch ein klein wenig Mu- sik gönnten und uns die Oper ein Stündchen anhörten?“ ❙6 Wagners Name erscheint hierbei Suttners Bildungsfestspiele am Rand als Leitbild einer zeitgenössischen Oper des Jahres 2009: „‚Wissen Sie schon, was Der Text mit dem Titel „Der Frieden in gegeben wird?‘ ‚Jawohl. Der Held der Lüfte.‘ 100 Jahren“ wurde von Bertha von Suttner

❙4 Vgl. Arthur Brehmer (Hrsg.), Die Welt in 100 Jahren, ❙7 1Ebd. S. 3 f. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1910, Hildesheim 2012. ❙8 Zum Beispiel: Gundula Kreuzer, Performance, ❙5 Hudson Maxim, Das 1000jährige Reich der Ma- Media, Authenticity: Technologies of (Re)Production schinen, in: A. Brehmer (Anm. 4), S. 21. and the Metropolitan Opera’s New Ring, 30.11.2011, ❙6 Robert Sloss, Das drahtlose Jahrhundert, in: online: www.youtube.com/watch?v=nhQDqy8oJmY A. Brehmer (Anm. 4), S. 31. (6. 5. ​2013).

APuZ 21–23/2013 37 beigesteuert, die 1905 mit dem Friedensno- Festspiele im Jahr 2009 aus der Perspek- belpreis ausgezeichnet worden war. Für den tive des Jahres 1909 noch eine Zukunft hat- Zusammenhang hier ist der Einstieg in ihre ten, ist zwar nicht Suttners Thema. Der Satz, Thematik von großem Interesse, welche die der die Bayreuther Festspiele nennt, scheint Ereignishaftigkeit und Unmittelbarkeit der aber eher die Prophezeiung zu enthalten, dass Festspielidee mit einem Friedensappell so- diese Geschichte zu Beginn des 21. Jahrhun- wie der Bedeutung von Bildung allgemein derts ein Ende gefunden haben könnte. zusammenträgt. Sie skizziert zu Beginn ih- res Beitrags eine Bildungseinrichtung, die Ein eigentliches Konzept lässt sich aus den den Ideen von Kommunikation durch me- wenigen Zeilen Suttners, in denen sie so et- diale Vernetzung und Telefonie, wie sie der was wie europäische Bildungsfestspiele in der Band von Brehmer sonst durchzieht, genau Schweiz skizziert, nicht herauslesen. Sie ver- entgegensteht: Ihr schwebt eine neue Art der weist aber mit ihrer Idee auf etwas Zentrales: Universität vor, die in der Landschaft und Wagners großes Potenzial zeigt sich an Ent- jenseits der Metropolen, dennoch als für Eu- würfen und Projekten, die sein Opernwerk ropa zentrale Einrichtung in der Schweiz mit hinter sich lassen. Dass die Festspiele eine globalem Anspruch zwischen den Gipfeln Entwicklung hätten nehmen können, in der der Alpen beheimatet ist: „In der ‚Sorbonne nicht mehr die Kunst, sondern die Bildung im von Europa‘ war für den 1. März 2009 ein Mittelpunkt steht, ist ein kreativer Gedanke. Vortrag des berühmten brasilianischen Ge- schichtsprofessors, Dr. Pedro Diaz, angesagt. Allwöchentlich las an dieser Universität ein Operndorf ohne Oper Gelehrter aus einer anderen Metropole des Globus. Nicht nur die Vortragenden, auch Einem der großen Visionäre der Kunst unse- die Zuhörer rekrutierten sich aus allen Welt- rer Zeit, Christoph Schlingensief, war Wag- gegenden.“ ❙9 Suttner führt ihr Friedensthe- ners Kunst wichtig für sein eigenes Schaffen, ma mit einer Bildungsallegorie ein. Ihre Uto- das auf gesellschaftliche Veränderung dräng- pie sieht eine Weltuniversität vor, die sich den te. Schlingensief war in den Spielzeiten 2004 wichtigen Themen der Zeit annimmt. Das bis 2007 Regisseur der Bayreuther Festspie- Modell für diese Universität sind nun aus- le, der konservativen Institution, die bis heu- gerechnet Festspiele, die sich der Kunst und te den Wagnermythos zelebriert. Er hat sich Oper widmen: „Wie man hundert Jahre frü- mit seinem Parsifal ❙11 diesem Bayreuth unter- her von allen Ländern zu den Bayreuther geordnet und zugleich eine der innovativsten Festspielen pilgerte, so kann man jetzt aus Wagnerproduktionen vorgelegt. ❙12 Ihn hat den übrigen Kontinenten nach der auf einem am Phänomen Wagner, wie er schreibt, zu- Schweizer Hochplateau als Prachtbau errich- nächst die Musik interessiert, wobei für ihn teten Sorbonne geflogen, um den Zelebritä- die „Frage nach dem Metaphysischen und der ten zu lauschen, die dort dozierten.“ ❙10 Transzendenz zentral“ war. Er suchte nach den „Kräften, die zwischen den Menschen Der Vergleich mit den Bayreuther Fest- walten und die uns entweder auf- oder entla- spielen des Jahres 1909 ist aufschlussreich. den“. ❙13 Als ihm aufgetragen wurde, den Par- Die äußeren Bedingungen der Universität in sifal zu inszenieren, begab er sich mit Enthu- den Alpen sind an den Wagnerfestspielen in siasmus in das System Bayreuth. Oberfranken orientiert. In der Abgeschie- denheit bestimmen die Landschaft sowie die ❙11 Vgl. Ulrike Hartung, Das „multimediale Frag- dort jeweils speziell errichtete Architektur mentkunstwerk“: Christoph Schlingensiefs „Par- die Haltung des Publikums zum Dargebo- sifal“, in: Anno Mungen (Hrsg.), Mitten im Leben. Musiktheater von der Oper zur Everyday Perfor- tenen. Ebenfalls vergleichbar ist der politi- mance, Würzburg 2011, S. 317–336. sche beziehungsweise gesellschaftliche An- ❙12 Zur anderen Wagner-Inszenierung Schlingen- spruch. Die Vorlesung wird zum Event, und siefs, dem Fliegenden Holländer für Manaus, vgl. die Kunstfestspiele werden zu Bildungsfest- Anna-Catharina Gebbers, Der Fliegende Holländer spielen weitergedacht. Ob die Bayreuther in der Inszenierung von Christoph Schlingensief, in: Act. Zeitschrift für Musik & Performance, (2012) 3, online: www.act.uni-bayreuth.de/de/archiv/​201203/​ ❙9 Bertha von Suttner, Der Frieden in 100 Jahren, in: 04_Gebbers_Schlingensief/index.html (6. 5. 2013). A. Brehmer (Anm. 4), S. 79–87, hier: S. 79. ❙13 Christoph Schlingensief, Ich weiß, ich war’s, hrsg. ❙10 Ebd. von Aino Laberenz, Köln 2012, S. 138 f.

38 APuZ 21–23/2013 Der Bericht, den Schlingensief hierzu ver- sche Haltung zu „unserem“, einem tradierten fasste, ist weniger von Enttäuschung an- und konservierenden „Kunstbegriff“. ❙18 Zu- gesichts vieler Probleme geprägt, sondern gleich sind die Begriffe „Festspielhaus“ und vielmehr von seiner Freude über die eigen- „Oper“, wie sie das Afrika-Projekt verwen- tümliche Versöhnung mit dem damaligen det, um entsprechende Assoziationen auszu- Festspielleiter am Ende lösen, auch Marketinginstrumente. Sie sollen der vier Jahre. Rezeptionsästhetisch ge- die wohlhabende Schicht Europas zu Spen- bührt seinem Parsifal eine gleiche Stellung den anregen. Das Operndorf Afrika wird wie diejenige, die der berühmte Chéreau- sich also nicht um den Export einer Opern- Ring von 1976 erzielt hat. ❙14 Schlingensief kultur Europas nach Afrika kümmern, son- selbst verdeutlicht insbesondere den Sprung dern es geht von den dortigen kulturellen Be- seines Ansatzes zum Regietheater, wenn er dürfnissen aus. schreibt, dass es ihm nicht um „billige Ak- tualisierungsbilder“ ❙15 gegangen sei. Lassen Der Standort des Operndorfes in Burki- sich solche Aktualisierungen des Regiethe- na Faso ist in der Nähe der Hauptstadt Oua- aters semantisch und symbolisch (im bes- gadougou. Im Jahr 2010 hat die Festspielhaus ten Falle) „auflösen“, so war Schlingensiefs Afrika GmbH mit dem Errichten der Bau- Parsifal-Lektüre in diesem Sinne gerade ten begonnen, die von dem in Berlin leben- nicht angelegt: weder zu „verstehen“, noch den afrikanischen Architekten Francis Kéré im Hinblick auf die Narration zu überset- entworfen wurden. Aino Laberenz, langjäh- zen. Die Forderung nach semantischer Auf- rige Mitarbeiterin und Partnerin Schlingen- lösung drängte die Festspielleitung anzu- siefs, setzt das Projekt nach dem Tod ihres fragen, was er etwa „mit dem mehrmaligen Mannes (2010) fort. Das Operndorf ist pri- Auftritt der dicken Frau“ bewirken wolle: mär Bildungseinrichtung. Es will vieles bie- „Die dicke Urmutter spielt nicht, sie singt ten, nur eben keine Oper: eine Schule mit nicht, steht nur herum und ist überdies fast Film- und Musikklassen, Werkstätten und unbekleidet, wenn nicht sogar nackt. Das Lager, Wohn- und Gästehäuser, Kantine, Bü- kann und darf nicht Ihr werter Ernst sein, ros, Café, Siedlungen, Fußballplatz, Agrar- Herr Schlingensief.“ ❙16 flächen, Restaurant, Krankenstation und eine Theaterbühne mit Festsaal und Proberäumen. Schlingensiefs Freiheit im Parsifal war we- Es ist ein work in progress und entwickelt sich sentlich von seiner Beschäftigung mit Afrika gemeinsam mit den dort lebenden Menschen. geprägt. Sein offener Opernbegriff schärf- te sich an seiner Arbeit in Bayreuth – einer- seits; und er ist andererseits zielgerichtet an Bayreuth 2013 „Irre!?“ mit Wagner einer Utopie orientiert: dem Operndorfpro- jekt. Wagners Konzeption seiner Vision für Das Projekt der Universität Bayreuth zum seine Festspiele einschließlich des finanziel- Wagnerjahr mit dem Titel „WagnerWorldWi- len Meisterstücks der tatsächlichen Realisie- de2013“ (www2013:) regt digitale Optionen rung hat Schlingensief den Weg für sein eige- von Kommunikation in Wissenschaft und nes Projekt vorgegeben. „Oper“ ist hier keine Bildung an. Die Referate und Vorlesungen Gattung, für die man ein Haus bräuchte, um der Veranstaltungen sind auf einem eigenen sie aufzuführen, sondern eine Idee, die ei- Youtube-Kanal zu verfolgen. ❙19 Digitale Er- nen Ort hierfür benötigt. Oper könne nicht gänzung erfährt das Projekt durch ein Face- „ohne Leben, ohne Improvisationskunst, book-Profil ❙20 und einen Conference Blog. ❙21 ohne Spiritualität“ vonstattengehen. Sie habe Der globale Anspruch, der sich in der Ko- zudem eine politische Dimension und hei- operation mit Universitäten in der Schweiz, lende Fähigkeiten. ❙17 Das Opernkonzept von Schlingensief impliziert auch eine kriti- ❙18 Ebd., S. 166. ❙19 www.youtube.com/wagnerworldwide (6. 5. 2013). ❙14 Zum „Jahrhundert-Ring“ von Patrice Chérau sie- Vgl. hier die erste Veranstaltung der Ringvorlesung he auch den Beitrag von Sven Oliver Müller in dieser im Oktober 2011, bei der die Idee und das Prinzip des Ausgabe (Anm. d. Red.). Projekts ausführlich erläutert wurde. ❙15 C. Schlingensief (Anm. 13), S. 138. ❙20 www.facebook.com/pages/WagnerWorldWide-​ ❙16 Wolfgang und Gudrun Wagner, zit. nach: ebd., 2013/ ​185151968180314 (6. 5. 2013). S. 143. ❙21 http://annomungen.blogspot.de/​2013/​02/when-i- ❙17 Ebd., S. 165. came-up-with-my-idea-of.html (6. 5. 2013).

APuZ 21–23/2013 39 den USA und China zeigt, entspricht der nomen wie Wagner. Die „Wagnerstadt“ Bay- Bedeutung, die Wagner heute weltweit hat. reuth und ihr Verhältnis zur Wahrnehmung Schon Brehmers Publikation von 1910 führ- dieser Stadt an vielen anderen Orten in der te im Kontext der – wie er postulierte voll- Welt ist Ausgangspunkt der Ausstellung, der ständigen – Mediatisierung von Oper einen die Studierenden den Titel „Irre?! Richard entsprechenden Begriff ein: „Die Patti je- Wagner. Eine Würdigung des Wahnsinns“ ga- ner Zeit wird nicht nötig haben, erst weite ben. Sie blicken dabei auf „ihre“ Stadt, in die Konzertreisen zu machen, denn jedes Thea- sie gekommen sind, um zu studieren, die aber ter der ganzen Welt wird sich das Weltreper- auch in anderer Hinsicht viele Spuren in ihrer toire gleichzeitig zu eigen machen.“ ❙22 Das Biografie hinterlässt. Der Umstand, dass es „Weltrepertoire“ steht für die Entwertung sich bei Bayreuth um eine Festspielstadt han- des Regionalen und des Nationalen. Wag- delt, ist für niemanden, der zum ersten Mal ners Opern sind heute Teil dieses Weltreper- dorthin kommt, zu übersehen. Wagner hat toires ebenso wie die Musicals eines Andrew somit ohnehin in das Leben der Bayreuther Lloyd Webber oder die Filme aus Holly- oder Studierenden eingegriffen. Und sie reagieren ­Bollywood. darauf: Sie sind zu Wagner-Usern geworden.

Jenseits der klassischen Formate des aka- Wir begegnen unseren Studierenden heu- demischen Lernens wie der Vorlesung oder te selbstverständlich anders, als unsere eige- dem Seminar rückt www2013: ein seit Ok- nen Lehrer uns begegneten. Das ist aus vielen tober 2012 vorbereitetes Ausstellungspro- Gründen so. Die Rahmenbedingungen von jekt als eine neue Art des Lehrformats in den Bildung (Bologna-Prozess) und die Medien Mittelpunkt der universitären Bildungsar- der Bildung haben sich sehr gewandelt. Das beit. Kuratiert wird die Ausstellung von acht Format der Ausstellung als Lehrformat ist Master-Studierenden der Studiengänge Ge- ein Beispiel, wie man auf diesen Wandel kon- schichte sowie Musik und Performance, er- struktiv reagieren kann. Es bietet ein Forum, öffnet wird sie zum Beginn der Bayreuther zu diskutieren und zu erproben, wie die The- Festspiele im Juli 2013. Vorstellbar ist ein men Medialität und kulturelle Erfassung von solches Projekt aber auch mit weniger Vor- Welt heute zusammenwirken. Bei den Vor- lauf. Das zugrunde gelegte Prinzip ist die bereitungen der Wagner-Ausstellung spiel- Machbarkeit im (jeweils) gegebenen Rah- te der Umstand, dass Wagners Musik heute men, den im Falle der Bayreuther Ausstel- in medialer Form in extremer Weise Verbrei- lung die universitäre Lehre vorgab. Dabei tung gefunden hat, eine große Rolle. Das Bei- war von vorneherein klar, dass keine große spiel der Musik zum Walkürenritt als Han- Institution wie ein Museum zur Verfügung dy- oder Filmmusik ist jedem geläufig, auch stand, die mit Erfahrung, Geld und Perso- wenn er oder sie den Zusammenhang mit nal hätte zur Seite stehen können. Alle Ide- Wagner nicht herstellt. Die Ausstellung aber en und Konzeptvorschläge mussten sich an wird (wohl) das Thema technische Mediali- dem orientieren, was realisierbar war: ent- tät – vom Computer über das Handy zu Wag- weder mit einem Minibudget oder, wenn ners Youtube-Vielfalt – im heute tatsächlich die entsprechenden Förderanträge durchge- vernetzten Alltag nur am Rande einbringen. hen, mit gewissen finanziellen Mitteln. Wie Vielleicht ist dies als eine Reaktion auf die im „armen Theater“ drängt ein als tragender Bilder- und Soundfluten zu werten, der sich oder als wichtig erachteter Gedanke nicht die Ausstellungsmacher gewissermaßen ent- immer nach einer Umsetzung, der die große ziehen. Musik wird in der Vielfalt der Bild- Bühnenmaschinerie – oder hier ein etablier- eindrücke der Ausstellung zwar als Fernseh- tes Museum – auf den Plan ruft. ton an einer Stelle hörbar und ist hier – wohl eher scheppernd – als ironischer Kommentar Das Konzept, das die Studierenden entwi- auf die ineinander verflochtenen Klang- und ckelten, stellt unter anderem die Frage nach Bildgefüge des Festspielhauses zu verstehen. der Identifizierung der Bewohner Bayreuths Die drei Ausstellungsräume aber wollen eine mit einem für die Stadt so bedeutenden Phä- eigene Atmosphäre herstellen, die an diesem Ort (im Haus der Bayreuther Klaviermanu- ❙22 H. Maxim (Anm. 5), S. 20. Adelina Patti war in faktur Steingraeber & Söhne) Erlebnisse er- der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine gefeierte möglicht. Die Ausstellung wird so gesehen Opernsängerin. selbst zum Medium.

40 APuZ 21–23/2013 Wagner als Anreger kung in der Art einer „Sozialen Plastik“ nach Joseph Beuys entfalten. ❙23 Schlingensief ist Welche Rahmenbedingungen in welcher Wagner-User, weil er weiterdachte, was Wag- örtlichen und historischen Situation man ners Festspielkonzept heute sein und bedeu- herstellt, um Bildung zu ermöglichen, ist ein ten könnte. Suttners Idee von Globalität und Aspekt, der die drei geschilderten Beispie- kommunikativer Vernetzung über Wissen- le verbindet. Unter ihnen gibt die „kleine“ schaft im Bildungsfestival erhält Aktualität Bayreuther Ausstellung den vielleicht klars- durch die heutigen Optionen des Onlinestu- ten Rahmen vor. Das Operndorfprojekt als diums, durch die manche Vorlesungen bis- „große“ Konzeption ist langfristig angelegt weilen über 150 000 Menschen erreichen. ❙24 und muss sich entwickeln. Es basiert auf ei- Geisteswissenschaftliche Vorlesungen bil- ner innovativen Auslegung der zentralen den hier zwar noch die Ausnahme. Bertha Begrifflichkeit „Oper“, die der Querdenker von Suttner aber hätte ihrem Friedenspro- Schlingensief an Wagners Festspielkonzept fessor Diaz wohl gerne diese Möglichkeiten historisch anschließt. Die Festspieluniversi- eingerichtet, die sich die heutigen Eliteuni- tät Suttners ist nicht mehr als ein nur skiz- versitäten Stanford, Harvard und Co. nicht zenhaft dahingeworfener Gedanke, bei dem nehmen lassen, um ausgerechnet die Massen es vielleicht nie darum ging, diesen zu ent- zu ­gewinnen. wickeln. Der Festspieluniversität ist somit das Improvisatorische gleichsam im Zustand Das Projekt der Geschichts- und Musik- ihres flüchtigen Entwurfs inhärent, wäh- theater-Studierenden in Bayreuth weist im rend die anderen Projekte die Improvisati- Gegenzug zu digitalen Formen der Beschäf- on zum Prinzip erheben: bei Schlingensief tigung mit Wissenschaft und Kultur auf als work in progress auf eine lange und unbe- Handfestes hin, auf konkrete Arbeit, die sich stimmte Zeit ohne sichere Finanzierung und vor Ort – hier dem genius loci – an Wagner bei der Ausstellung in einem viel kürzeren 2013 abarbeitet. Es wäre schön, wenn die- Zeitraum angesichts der Tatsache, dass die ses Projekt andere Arbeitsgruppen, Semina- Beteiligten weder erfahrene Kustoden sind, re oder Klassenverbände in Schulen, Univer- noch das Budget feststeht. So gesehen findet sitäten oder anderen Bildungseinrichtungen, sich hier ein weiteres gemeinsames Merk- die Musik, Kunst und Kultur im Zentrum mal der drei Fallstudien einer besonderen der Gesellschaft ansiedeln, anregen könn- ­Wagner-Rezeption. te und nach diesem Prinzip noch weitere Wagner-Ausstellungen entstehen: improvi- Improvisation spielte auch bei Wagners sierend, kreativ, die eigene Wahrnehmung weitgreifender Festspielidee eine Rolle, nicht in den Mittelpunkt rückend. Wagner, selbst zuletzt wegen der unsicheren finanziellen überaus kreativ – das lernen wir im Ausstel- Ausgangslage. Mit der Etablierung der Fest- lungsprojekt ebenso wie im Rahmenprojekt spiele als Institution heben sie sich dann aber www2013: – ist ein guter Anreger für andere von den drei hier vorgestellten Fällen deut- Kreative: für Wagner-User heute. lich ab, und die ursprüngliche Idee verliert zudem von der Freiheit des Beginns. Sutt- ner und Schlingensief denken das Institutio- nelle aber auch. Ihre Vorstellung entwickeln sie aus der Festspielidee Wagners, während die Studierenden aus der aktuellen Situation der Festspielstadt Bayreuth einen Kommen- tar auf dieses Format geben, das sich heute nach außen hin jeglicher Improvisation ent- zieht und eher davon geprägt ist, dass es Ab- ❙23 Beuys zufolge sollte „das kreative Handeln jedes läufe und Inhalte seit weit über hundert Jah- Menschen (…) Kunst schaffen, und die Kunst sollte ren gleichförmig wiederholt. die Gesellschaft verändern“. Cara Schweitzer, „Das erweiterte Bewusstsein ist die Intuition“, 6. 6. 2008, Das Operndorfprojekt Schlingensiefs, das www.bpb.de/​51800 (6. 5. 2013). ❙24 Vgl. Christoph Drösser/Uwe Jean Heuser, Har- sich von der Festspielidee Wagners hat ins- vard für alle Welt, in: Die Zeit vom 14. 3. 2013. pirieren lassen, stellt den Bildungsgedanken in den Mittelpunkt und könnte seine Wir-

APuZ 21–23/2013 41 Hanns-Werner Heister Gesellschaft wie etwa die, dass die Brüsseler Aufführung von Daniel-François-Esprit Au- bers Oper Die Stumme von Portici, die einen Eigenständigkeit Aufstand gegen Fremdherrschaft darstellt, ih- rerseits zum Auslöser der belgischen Revo- lution von 1830 wurde. Dabei herrscht in der und Engagement. Regel eine Asymmetrie dahin gehend, dass die Wirkungen der Musik auf die Politik schwä- cher sind als in der umgekehrten Richtung. Zu den politischen Hier wie im Folgenden steht Musik häufig für Kunst überhaupt. Ihre Besonderheit liegt vor allem in ihrem Material und ihren Techniken, Dimensionen in jenen von Franz von Schober und Franz Schubert in An die Musik besungenen „süßen Akkorden“, also der Verbindung von Geräu- von Musik schen und Tönen in der Gleichzeitigkeit wie Essay im Nacheinander. Politik und Musik erührungspunkte, Verbindungen und Bwechselseitige Durchdringungen von Die Fügung „Musik und Politik“ trügt etwas: Musik und Politik gibt es viele. Musik ent- Als wären es zwei gleichberechtigte, gleich steht und wirkt im umfangreiche, gleichgewichtige Bereiche, die Hanns-Werner Heister Zusammenhang von durch ein schlichtes „Und“ zu verbinden sind, Dr. phil., geb. 1946; Professor Macht und Magie, demzufolge aber auch getrennt werden könn- i. R. für Musikwissenschaft an von Manipulation und ten. Wenn hier Politik vorangestellt wird, deu- der Hochschule für Musik und Gewalt, von Staat und tet die Reihenfolge eine Rangfolge und etwas Theater Hamburg, Harvestehu- Kirche, Religion und von den Größen- und Abhängigkeitsbezie- der Weg 12, 20148 Hamburg. Rationalität, Rebelli- hungen an. Musik unterliegt einerseits den Be- [email protected] on und Zensur, Pazi- dingungen und Zwängen der Politik wie der www.hanns-werner-heister.de fismus und Militaris- Gesellschaft überhaupt: Orchester werden ge- mus, Markt und Mo- gründet, erhalten, fusioniert oder aufgelöst, nopolen. Guiseppe Verdi protestierte mit der Musiker und Musikerinnen werden verfolgt feierlichen Ketzerverbrennung im Don Car- oder gefördert, bestimmte Musikarten wer- los gegen geheiligte Unterdrückung, der Wal- den je nach den Umständen verherrlicht oder kürenritt von Richard Wagner wurde pros­ verboten, musikalische Bildung für alle wird tiu ­t ­iert für reale Stuka-Angriffe auf polni- vernachlässigt oder weiterentwickelt. Ande- sche Städte oder einen imaginär-realen Hub- rerseits aber steht Musik auch insofern über schrauber-Angriff auf ein vietnamesisches der Politik, als sie, wie andere Künste, be- Dorf wie im Film Apocalypse Now, und der freiend wirken kann. Das muss nicht immer im Vergleich zu Verdi und Wagner weniger die große Entrückung werden, sondern mag bekannte Komponist Karl Amadeus Hart- auch klein, bescheiden, alltäglich sein, indem mann reagierte mit dem ausführlichen Zitat Musik manche „grauen Stunden“ des Lebens des Hussitenchorals zu Beginn seines Violin- bunter färbt. Da kommt freilich sofort Illusio- konzerts Concerto funebre musikalisch-poli- näres, Ablenkendes mit ins Spiel, die rosarote tisch auf den Münchner Vertrag von 1938, der akustische Brille sozusagen, die zu verändern- die Tschechoslowakei den Nazis auslieferte. des Negatives mit hübschen Klängen maskiert und verhüllt. So oder so ist Musik schon auf Die vielfältigen und vielgestaltigen Bezie- dieser Ebene politisch relevant und hat eine hungen zwischen Macht, Herrschaft, Politik politische Dimension. und Musik, die Einflüsse politischer Instan- zen, staatlicher oder staatsförmiger Mächte Die Beziehungen und Wechselwirkungen auf Musik oder Eingriffe in Musik wie Mu- gehen aber weiter und tiefer. Richard Wag- sikkultur sind ein weites Feld. Dazu kom- ner glaubte an einen politischen Gehalt sei- men die Rückwirkungen von Musik auf die ner Musik und eine daraus folgende politische

42 APuZ 21–23/2013 Wirkung. In seinem Fall war im Zusammen- und Gemeinsamkeit sorgt. „Siebel: Zur Thür hang mit der Revolution von 1848 sogar eine hinaus wer sich entzweyt!/Mit offner Brust grundstürzende Änderung der gesellschaftli- singt Runda, sauft und schreit!/Auf! Holla! chen Verhältnisse gemeint: die „Götterdäm- Ho!“ Die akustisch-physiologische Gewalt merung“, der Untergang der alten bürgerlich- der Musik, die heutzutage oft für Lärmfolter kapitalistischen Welt im blutigroten Schein eingesetzt wird, führt freilich hier sofort zu eines „reinigenden Feuers“ und das Herauf- einer Entzweiung: „Altmayer: Weh mir, ich dämmern einer neuen, jungen Welt. Auch bin verloren!/Baumwolle her! der Kerl sprengt Verdi komponierte zwar etwas weniger ra- mir die Ohren.“ Die im Weinkeller herrschen- dikal, aber dennoch mit politischen Absich- de Meinung bekräftigt aber das Einverständ- ten, Werken und Wirkungen, nämlich für eine nis mit solcher musikalischer Gewalt, und neue staatliche Ordnung Italiens als einheit- der dergestalt entstehende Zusammenschluss lichen nationalen Staat, als Risorgimento, als schließt sofort auch aus. „Siebel: Wenn das Wiederauferstehung einer „bessren Welt“ und Gewölbe wiederschallt,/Fühlt man erst recht „bessrer Zeiten“ (An die Musik), und prakti- des Basses Grundgewalt./Frosch: So recht, hi- zierte während dieses Prozesses wie danach naus mit dem der etwas übel nimmt!/A! tara subtile musikalisch-theatralische Sozialkritik. lara da!/Altmayer: A! tara lara da!“

Karl Amadeus Hartmann schließlich, des- Schließlich aber entstehen Widersprü- sen Tod sich 2013 zum fünfzigsten Mal jährt, che beim Politischen der Musik und in der entwickelte sein musikalisches Werk im Wi- Musik. „Frosch: Die Kehlen sind gestimmt. derstand gegen die Nazi-Barbarei und für Singt./Das liebe, heil’ge Röm’sche Reich,/Wie eine neue, humane Gesellschaftsordnung. Be- hält’s nur noch zusammen?/Brander: Ein gars- zeichnend für Hartmanns Werke ist eine offe- tig Lied! Pfuy! ein politisch Lied!/Ein leidig ne oder unausgesprochene Programmatik, die Lied! Dankt Gott mit jedem Morgen/Daß ihr in und mit der Musik auf die Welt verweist – nicht braucht für’s Röm’sche Reich zu sorgen!“ und zwar auf die bestehende Wirklichkeit im Diese un-, ja antipolitische Haltung wurde Lichte ihrer Verbesserbarkeit: „Hält man der zwar für die deutsche Ideologie und speziell Welt den Spiegel vor, so dass sie ihr gräßliches für die Musikauffassung nach Französischer Gesicht erkennt, wird sie sich vielleicht doch Revolution, Weimarer und Wiener Klassik einmal eines Besseren besinnen.“ So schrieb er charakteristisch. Sie ist aber nicht Goethes ei- 1955 anlässlich der Aufführung einer Neufas- gene Haltung. Dass sie hier von betrunkenen sung seiner während der NS-Zeit entstande- Studenten artikuliert wird, schränkt Wert und nen Oper Simplicius Simplicissimus. Reichweite dieser Aussage doch erheblich ein.

Musik dient bei allen diesen drei Kompo- nisten, wie auch sonst, als Ausdruck wie als Musik – Gestalt und Gehalt Instrument von Ideen, Ideologien, Utopien – einer anarchistisch-frühsozialistischen bei Im April 1838 schrieb Robert Schumann an Wagner, einer nationalen und humanistisch- seine spätere Ehefrau Clara Wieck: „Es af- liberalen bei Verdi, einer humanistisch-links- ficiert (berührt und betrifft, H.-W. H.) mich sozialistischen bei Hartmann. Alles, was in der Welt vorgeht, Politik, Litera- tur, Menschen – über Alles denke ich nach mei- Oft aber wird die Frage nach den Beziehun- ner Weise nach, was sich dann durch die Musik gen zwischen Gesellschaft, Politik und Mu- Luft machen, einen Ausweg suchen will. Des- sik in der erwähnten Entgegensetzung „Mu- halb sind auch viele meiner Compositionen so sik oder Politik“ diskutiert. Ein klassischer schwer zu verstehen, weil sie sich an entfern- deutscher Bezugspunkt dafür ist die Szene mit te Interessen anknüpfen, oft auch bedeutend, zechenden Studenten in Auerbachs Keller aus weil mich alles Merkwürdige der Zeit ergreift Goethes Faust mit dem viel und oft falsch zi- und ich es dann musikalisch wieder ausspre- tierten „Ein garstig Lied! Pfuy! ein politisch chen muss.“ Der Zusammenhang zwischen Po- Lied!“ Was hier im kleinen Rahmen einer litik und Musik, den Schumann hier erkennt, Gastwirtschaft geschieht, lässt sich auf größe- wird häufig schlicht geleugnet. Ein zentraler re politische Kontexte übertragen. Zunächst Ausgangspunkt und Bezugspunkt dafür ist geht es darum, dass Musik Harmonie her- die Ideologie der „absoluten“ Musik. Sie ent- stellt, gegen „Entzweiung“ für Vereinigung stand vor allem im deutschsprachigen Raum

APuZ 21–23/2013 43 im Gefolge der romantischen Reaktion gegen sen wie der Geist in der Flasche. Ebenso we- die Französische Revolution und steigerte sich nig ist es auf die äußerliche Seite von Text­bot­ dann nach der nur halb geglückten 1848er-Re- schaf­ten zu reduzieren, die vertont werden. volution bis zu der bewusst paradoxen Formel Texte können zwar die politische Funktion des Wiener Musikpublizisten Eduard Hans- von Musik konkretisieren, doch Musik ist lick in seiner kleinen, aber bis heute einflussrei- kein neutrales Transportmittel für politische chen Kampfschrift „Vom Musikalisch-Schö- Botschaften. Der „rotangestrichene Schla- nen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der ger“ (so Hanns Eisler Ende der 1920er Jahre) Tonkunst“ (1854). Darin schrieb er, der Inhalt ist noch kein gesellschaftskritisches „Kampf- der Musik sei nur „tönend bewegte Formen“. lied“. Die Borniertheit, hierbei zu unterstel- Er war nicht zuletzt ein Gegner von Wagner; len, nur der Wort-Text könne das Politische dieser hat ihn später in Die Meistersinger von sein, ist der anderen symmetrisch, jeder Ton Nürnberg durch die Figur des unkünstleri- müsse es schon ausdrücken. Jazz oder Zwölf- schen Kritikers Beckmesser karikiert. tontechnik zum Beispiel wurden, ohne es „an sich“ zu sein, ein Politikum, da die Nazis sie Eine reale Grundlage für diese Ideologie ist als „jüdisch“, „kulturbolschewistisch“ oder die Autonomie der Kunst. Entgegen verbrei- „entartet“ verfemten – und Komponisten sie teten Missverständnissen bedeutet diese nicht in der Musik des antifaschistischen Wider- Freiheit von Zwecken überhaupt oder gar Frei- stands entsprechend verwendeten. heit von Inhalten, sondern die Eigenständigkeit der Musik als Freiheit von partikularen Zwe- Bei „fortschrittlicher“ politischer Musik cken wie der Indienstnahme von Musik in reli- geht es darum, möglichst sämtliche Dimen- giöser Liturgie oder staatlichen Ritualen. Diese sionen der Musik beziehungsweise des Mu- Eigenständigkeit steht einem Engagement für sikprozesses politisch sprechend zu machen, allgemeine, humane Zwecke nicht entgegen, also nicht nur Elemente des Tonsatzes, son- sondern fördert sie im Gegenteil sogar. Unter dern auch den Einsatz in sozialen Kontex- diesen Bedingungen erscheinen das autonome ten. Dazu gehören Widmung und Vokabel- Kunstwerk und seine Zweckbestimmung als bildung, Melodiezitat und Motto, Chiffren Vergegenständlichung einer höheren, eigentli- und Topoi, Texte und Vortragsbezeichnun- chen Wirklichkeit. In dieser können die Ideale, gen, Genre- und Strukturzitate, Tonsatz- deren volle Verwirklichung die materielle Re- und Formtypen – in der Verwendung von alität versperrt, als wirklich erfahren werden. Fugen- oder Choralsatz, Tanz- oder Liedges- So gesehen enthält sogar das Konzept der „ab- tus schwingen jeweils verschiedene sozia- soluten“ Musik mit ihrer Vorstellung einer fast le Anspielungen mit. Musik wird dergestalt totalen Freiheit von Realitätsbezügen eine min- eine spezifische, konkrete Sprache und ist destens indirekt politisch-kritische Dimension. nicht bloß abstrakte Verschönerung von Wei- hespiel, Aufmarschplatz oder Fronteinsatz Demgegenüber ist politische Musik bewusst oder gebrauchsmusikalisches Spiel. Verdeut- auf die gesellschaftlichen Bedingungen bezo- lichend wirken schließlich auch Ausdrucks- gen. Eine solche Bewusstheit sowohl vonsei- und Klanggesten, Tonfälle, synästhetische ten der Produzierenden wie der Rezipieren- Kombinationen mit Bildern, Film oder The- den ist eine entscheidende Voraussetzung, um ater. Kunstlos-simple oder kunstvolle Agita- mit Musik Politisches sagen und bewirken zu tion und sublime musiksprachliche Semantik können – im Sinne von Aufklärung, Gesell- sind generell zwei Pole. schaftskritik, Unterstützung beim Kampf um wirklichkeitsverbessernde Macht, aber auch Robert Schumann, der auf Welthaltigkeit im Sinne von Gegenaufklärung, Manipula- seiner Musik großen Wert legte, zeigt eine tion, Verdeckung von Ausbeutung und Re- der vielen Möglichkeiten, in Musik engagiert pression. Durch entsprechende Positionierun- und kritisch Stellung zu nehmen: Im aufrüh- gen in den politischen Auseinandersetzungen rerischen Faschingsschwank aus Wien. Fan- kann sich die politische Dimension von Musik tasiebilder für das Pianoforte (1839) zitiert er in einem gesellschaftlichen Kraftfeld wider- verschlüsselt die revolutionäre und im Metter- streitender Interessen entfalten. nich-Regime verbotene Marseillaise im Drei- vierteltakt. Er tarnte sie damit als Walzer und Das Politische ist nämlich keine immanente protestierte so raffiniert gegen die Zensur wie Eigenschaft der Musik, im Klang eingeschlos- gegen die restaurativen politischen Zustände.

44 APuZ 21–23/2013 Politik – Herrschaft und Staat der Musik und damit der Menschheit zurück. Psychische Voraussetzungen und Wirkungs- Das „Politische“ in der Musik ist eine konzen- mechanismen sind Lockerung der Ich-Gren- trierte Form des Gesellschaftlichen in der Mu- zen und Verminderung allzu starker, trennen- sik. Eine auch im Hinblick auf Politik wesent- der Selbst-Gefühle. Das führt zu verstärkter liche Grundfunktion von Musik ist es, Mängel und gesellschaftlich unerlässlicher Kooperati- der Wirklichkeit, unbefriedigte Bedürfnisse, onsbereitschaft. unerfüllbare Sehnsüchte zu kompensieren und so weit wie möglich Harmonie herzustellen oder doch zu imaginieren, zwischen den Men- Politische Musik – schen, zwischen widerstreitenden Interessen, Unterdrückung und Befreiung sogar zwischen Gesellschaft und Natur. Politik gibt es zwar seit Langem, aber nicht seit jeher, Der Begriff der „politischen Musik“ hat eine und es wird sie wohl auch nicht immer geben, merkwürdige Mehrdeutigkeit. Er wird einer- jedenfalls dann nicht in der bisherigen Form. seits zu eng und überspezifisch, andererseits zu weit und unspezifisch gefasst. Politische Alle Musik hat seither eine latent politische Musik wird oft fast automatisch mit gesell- Dimension. Diese Dimension wird aber nur schaftskritisch, mit „links“ im weitesten Sin- manifest und dadurch gesellschaftlich relevant, ne assoziiert. Hier kommt ein positiver Be- wenn Musik in den Bereich der Politik einbe- griff des Politischen herein, der dieses im zogen ist beziehungsweise wird, in die Sphä- Sinn der Harmonie- und Polis-Idee fasst als ren von Staat, organisierter Auseinanderset- etwas, das das Gemeinwohl, das Gemeinwe- zung zwischen sozialen Gruppen, Kämpfen sen und das Allgemeine fördere. Ein weiter um Macht, öffentlicher Artikulation kollektiver Begriff von politischer Musik schließt dem- Interessen. In politischen und sozialen Ausein- gegenüber auch konformistische und konser- andersetzungen sind oft nationale eingeschlos- vative bis reaktionäre Musik ein. sen – ebenso Klassen- und Parteikämpfe, religi- öse und „rassische“ und in neuerer Zeit explizit Politische Musik unterscheidet sich gerade auch Geschlechterkonflikte. Das Politisch-Mu- als politische Musik durch Stellungnahme für sikalische umfasst also ein weites Spektrum oder gegen etwas, für die Oberen oder die Un- zwischen Nationalem und Internationalem, teren, ist engagiert auf Seiten der Herrschaft Staat und Massenbewegung, Wirtschaftsver- oder der ihr Opponierenden, wirkt für Unter- bänden und Gewerkschaften, parlamentari- drückung oder Befreiung oder stellt sich neu- schen Parteien und sozialen Strömungen. tral im Sinne jener These des NS-Propagan- daministers Goebbels, dass Propaganda desto Die soziale Spaltung in Klassengesellschaf- wirksamer sei, je unmerklicher sie wirke. Das ten führt dazu, dass sich einerseits Sonder- Entscheidende ist hier also nicht wiederum interessen geltend machen, andererseits aber abstrakt die Stellung zur Herrschaft an sich, auch Allgemeingültiges, alle sozialen Wider- sondern die qualitative Bestimmtheit im Hin- sprüche Überwölbendes nötig ist, wofür sich blick auf Fortschritt, Befreiung, ­Humanität. Musik durch ihre Ich-Wir-Dialektik beim Musizieren besonders eignet. Da Musik auf- Damit zeigen sich also in politischer Mu- grund ihrer Entstehungsbedingungen und sik unterschiedliche bis entgegengesetzte Stel- dem Spektrum ihrer Grundfunktionen eher lungnahmen zum jeweiligen Gesellschafts- jenes Allgemeine repräsentiert, erscheinen zustand und zum historischen Prozess und schon von daher ihre Funktionen für Sonder- Progress: Einerseits stimmen die Komponie- interessen als politischer Missbrauch. renden und Musizierenden überhaupt mit ih- ren Produkten dem herrschenden Zustand zu Eine Grundfunktion von Musik ist es, Har- und loben ihn. Andererseits aber kritisieren monie, Übereinstimmung, „Versöhnung“ zu sie den „Jammer der Erde“ (so Gustav Mah- bewirken. Diese entsteht in einer musikspezi- ler im Lied von der Erde), opponieren offener fischen Dialektik von Ich und Wir beim Mu- oder verdeckter, und visieren Veränderungen sizieren, von Betätigung und Bestätigung der in der Perspektive eines humanen Fortschritts Individualität wie der Kollektivität vermittels an, versuchen, wie es Wagner forderte, eine der gemeinsamen Tätigkeit. Diese Zweckbe- neue, erst ahnbare und „noch ungestaltete stimmung von Musik reicht in die Anfänge Welt“ vor Ohren und Augen zu stellen.

APuZ 21–23/2013 45 Progressiv Politisches in der Musik Krieg gefallenen Soldaten, das Wachstum der Waffenindustrie und andere mehr. ❙2 Trotz der Vielfalt der politischen Musik bil- det aber jene Musik einen Kernbereich, die Ebenfalls in politischer Absicht schrieb der sich für das Neue, Andere, Humane, für ei- 1953 geborene österreichische Komponist nen nicht technizistisch verkürzten gesell- ­Georg Friedrich Haas sein 7. Streichquartett schaftlichen Fortschritt engagiert: Musik als (2011), bei dem er elektroakustische Mittel er- Ausdruck und Vermittlung von grundlegen- gänzend heranzog. Das Werk bezieht sich auf den menschlichen Wünschen und Bedürfnis- die Tsunami- und Atomkatastrophe in Japan sen. Es gibt durchaus heutige Musik als eine im März 2011. Haas entfaltet dafür avancierte in Material und Technik progressive, avan- Klänge. Er komponiert mit Mikrotönen, also cierte Kunst, die auf Verbesserung der Welt Tönen kleiner als die Halbtöne unseres ge- bedacht ist – sie braucht es, nicht nur irgend- bräuchlichen temperierten Tonsystems. Die welche Veränderung. Wirkung beschrieb ein Kritiker wie folgt: „Ein Tsunami aus Klangsplittern bricht über Sozusagen „klassische, politisch progres- die Musiker herein, die ihn erzeugten, hinter- sive“ Musik ist etwa Hermann Kellers Werk lässt lähmende Ruhe, vorübergehend. Bis der Mehr als 4' 33" tacet für Sprecher und Kla- große Sturm beginnt. Wer nach der Urauf- vier (2003). Das Werk bezieht sich auf John führung (…) ins Freie tritt, traut seinen Au- Cages viel zitiertes, tonloses Stück 4'33" gen nicht mehr. Über dem Himmelblau am (Four Minutes, thirty-three seconds, 1952). Vierwaldstätter See ahnt man eine Schwär- Keller funktioniert das rein ästhetische ze. Aber sie bedrückt einen nicht, man blickt Schweigen bedeutsam in „Schweigeminu- weit in ihr. (…) Und es gibt, nach dem elek- ten für die Opfer in der Welt“ um. Strikt im tronischen Tsunami und vor dem großen Zeitrahmen von 4 Minuten und 33 Sekunden Sturm am Schluss, das regelmäßige, tonlose ordnet er, interpunktiert von clusternahen Rascheln der Bögen wie leise Brandung auf Klavierakkorden oder Einzeltönen, Opfern bleiernem Meer. Unendlich traurig, trostlos. verschiedener Kriege jeweils proportional Zum ersten Mal glaubt man zu sehen, zu be- Abschnitte mit Schweigesekunden zu. Die greifen, was eigentlich geschehen ist.“ ❙3 Opferzahlen trägt der Pianist vor. Elegant rückt Keller damit historisch-politische Pro- Es gibt also nicht nur eine Alternative, son- portionen zurecht. dern viele zu den eher einfältigen Alternativen „Musik oder Politik“ und „Musik statt Poli- Einen anderen, virtuos die aktuellen me- tik“ – nämlich eine vielfältige politische Musik, dialen Möglichkeiten nutzenden Typ po- die, durchaus auch im Sinne Wagners, Zukünf- litischer Musik produziert der 1980 gebo- tiges und Zukunftsträchtiges in der Gegen- rene Komponist Johannes Kreidler. Einige wart aufspürt, konkret und sinnfällig gestaltet, seiner Werke sind ausschließlich fürs Inter- und der Wahrnehmung und dem Verstehen net konzipiert. Kreidlers über Youtube ver- von Vielen öffnet. „Der Künstler vermag es, breitetes „Musikstück mit Visualisierung“ eine noch ungestaltete Welt im voraus gestal- Charts Music (2009) etwa reagiert auf die tet zu sehen, eine noch ungewordene aus der Wirtschaftskrise, indem mittels der Kom- Kraft seines Werdeverlangens im voraus zu ge- poniersoftware „Songsmith“ abstürzen- nießen.“ ❙4 Ein besseres Leben, eine andere Welt de Aktienkurse zu trotz allem lustigen und sind möglich. Eine andere Kunst ist zu ihrer aufmunternden Melodien gemacht werden sinnenhaft-geistigen Vorbereitung nötig. („Krisenzeiten sind immer gute Zeiten für die Kunst“). ❙1 Der traditionellen musikali- ❙2 Ich folge hier den Beschreibungen der Werke in: schen Figur der Katabasis als Ausdruck ei- Michael Kunkel, Gibt es neue Typen des Engage- ner Wendung ins Negative, Traurige, also ments in der neuesten Musik? Positionen und Nega- der absteigenden Melodielinie dieses „Billi- tionen, in: Thomas Phleps et al. (Hrsg.), Musik-Kon- texte. Festschrift für Hanns-Werner Heister, Bd. 1, on-Dollar-Songs zur Wirtschaftskrise“, wie Münster 2011, S. 472–486. Kreidler ihn selbst nennt, stehen aufstreben- ❙3 Volker Hagedorn, Kernschmelze in Zeitlupe, in: de Melodien auf Grundlage anderer Statisti- Die Zeit vom 15. 9. 2011. ken gegenüber – wie die Zahlen der im Irak- ❙4 Richard Wagner am Ende des dritten Teils seiner pro- grammatischen Schrift „Oper und Drama“ (1850/1851). ❙1 www.kreidler-net.de/charts.html (19. 4. 2013).

46 APuZ 21–23/2013 Herausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung „APuZ aktuell“, der Newsletter von Adenauerallee 86 53113 Bonn Aus Politik und Zeitgeschichte Redaktion Wir informieren Sie regelmäßig und kostenlos per E-Mail über die neuen Ausgaben. Dr. Asiye Öztürk Johannes Piepenbrink Online anmelden unter: www.bpb.de/apuz-aktuell (verantwortlich für diese Ausgabe) Anne Seibring Sarah Laukamp (Volontärin) Telefon: (02 28) 9 95 15-0 www.bpb.de/apuz [email protected]

Redaktionsschluss dieses Heftes: APuZ 10. Mai 2013 Druck Nächste Ausgabe 24/2013 · 10. Juni 2013 Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH Kurhessenstraße 4–6 64546 Mörfelden-Walldorf Religion und Moderne Satz le-tex publishing services GmbH Nikolaus Schneider · Robert Misik Weißenfelser Straße 84 04229 Leipzig Plädoyers für (k)eine Religion Abonnementservice Anja Hennig Aus Politik und Zeitgeschichte wird Religion und Politik in Europa mit der Wochenzeitung Das Parlament ­ausgeliefert. Wilfried Hinsch · Ariane Sadjed Jahresabonnement 25,80 Euro; für Schüle- Moderne und Säkularisierung. Zwei Akzente rinnen und Schüler, Studierende, Auszubil- dende (Nachweis erforderlich) 13,80 Euro. Geert Hendrich Im Ausland zzgl. Versandkosten. Religiosität in (post-)modernen Gesellschaft Frankfurter Societäts-Medien GmbH Vertriebsabteilung Das Parlament Rolf Schieder Frankenallee 71–81 Ökonomie, Gesellschaft, Religion und (politische) Moral 60327 Frankfurt am Main Telefon (069) 7501 4253 Sabine Demel Telefax (069) 7501 4502 [email protected] Individuum und Kirche Nachbestellungen Birgit Heller IBRo Frauen und Religion Kastanienweg 1 18184 Roggentin Stefan Mückl Telefax (038204) 66 273 Staatskirchenrecht in Deutschland [email protected] Nachbestellungen werden bis 20 kg mit Frieder Otto Wolf · Nilden Vardar · Christoph Strack · 4,60 Euro berechnet. Stephan J. Kramer Ist Religion (un-)antastbar? Vier Stimmen Die Veröffentlichungen in Aus Politik und Zeitgeschichte stellen keine Meinungsäußerung Die Texte dieser Ausgabe stehen unter einer Creative Commons der Herausgeberin dar; sie dienen Lizenz vom Typ Namensnennung-NichtKommerziell-Keine- der Unterrichtung und Urteilsbildung. Bearbeitung 3.0 Deutschland. ISSN 0479-611 X Richard Wagner APuZ 21–23/2013

Martin Geck 3–7 Lassen sich Werk und Künstler trennen? Wer Wagner deuten will, tut gut daran, das Kind nicht mit dem Bad auszuschütten. Es ist weder produktiv, Wagners Figuren gegen jederart antisemitische Konnota- tionen verteidigen zu wollen, noch ergibt es Sinn, auf diesem Punkt zu beharren.

Udo Bermbach 8–15 Wagners politisch-ästhetische Utopie und ihre Interpretation Wagners Absage an die Politik und sein Entwurf einer „ästhetischen Weltordnung“ sind Kulminationspunkte einer längeren ideengeschichtlichen Entwicklung. Die Bayreuther Verwalter seines Erbes konstruierten daraus eine eigene Weltanschauung.

Sven Oliver Müller 16–22 Richard Wagner als politisches und emotionales Problem Die erstaunliche „postume Karriere“ Wagners ist ein Spiegel gesellschaftlicher Ent- wicklungen. Sich mit seinem Werk zu beschäftigen, war und bleibt immer mehr als ein unpolitischer Genuss. Es ist ein Aushandlungsprozess innerhalb der Gesellschaft.

Dieter Borchmeyer 23–29 Richard Wagners Antisemitismus Richard Wagners Verhältnis zum Judentum gehört zu den prekärsten Seiten seines Charakters. Sein Pamphlet „Das Judenthum in der Musik“ von 1850 steht auf der Grenze zwischen „traditionellem“ Antijudaismus und modernem Antisemitismus.

Eberhard Straub 30–35 Wagner und Verdi – Nationalkomponisten oder Europäer? Wagner und Verdi werden häufig als Gegensätze behandelt. Doch beide sind als Zeit- genossen, die in der gleichen europäischen Kultur lebten, unvermeidlich miteinander verwandt. Wagner ist viel italienischer und Verdi viel deutscher als vermutet wird.

Anno Mungen 36–41 Wagner-User: Aneignungen und Weiterführungen Bertha von Suttner, Christoph Schlingensief und eine studentische Gruppe der Universität Bayreuth: Sie alle sind „Wagner-User“, indem sie Ideen und Konzepte Richard Wagners aufgreifen, zeitgemäß weiterdenken und kreativ fortentwickeln.

Hanns-Werner Heister 42–46 Zu den politischen Dimensionen von Musik Die Beziehungen zwischen Macht, Herrschaft, Politik und Musik sind vielgestal- tig. Musik dient als Ausdruck von Ideen, Ideologien, Utopien. Sie lenkt ab und maskiert mit süßen Klängen, kann aber auch erhellend und befreiend wirken.