Guck Mal, Wer Da Spielt Christine Renken

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Guck Mal, Wer Da Spielt Christine Renken Guck mal, wer da spielt Christine Renken Bei unserer ersten Begegnung war sie Hebamme, bei der zweiten Engel und später Bestatter. Christine Renken wech- selt die Identitäten wie andere Menschen den Telefonanbie- ter. Sie spricht als Esel der Bremer Stadtmusikanten mit Kindern, als Nachtwächter mit Stadtbummlern und über ihre Bauchrednerpuppe Fridolin zu jungen Krankenhauspati- enten. Wenn es der Anlass verlangt, wirft sie sich in einen Frack, spuckt sie Feuer, klebt sie sich falsche Kapitänsbärte an oder lässt auf magische Weise Butterkekse verschwinden. Als eins von mehreren himmlischen Wesen nahm sie es bei den Gröpelinger „Feuerspuren“ mit Teufeln auf. Auch dem Tod schaut sie beruflich ins Gesicht. In Bremen war Christine Renken, die im Frühjahr 1991 die Schauspielschule des Waldau-Theaters abgeschlossen hatte, eine der ersten, die Stadtteiltouren als Straßentheater insze- nierten. Ihre Hebamme Ernestine Wilhelmine Meyer aus der Gründerzeit kannte alle und jeden in Gröpelingen, viele sogar von Geburt an, und ihr Bestatter Bergmann von Hurrel- berg macht Bremerinnen und Bremer unsterblich. Auf fast allen Friedhöfen in Bremen hat Christine Renken Besucher- gruppen zu Gräbern von Menschen geführt, die man nicht leichtfertig vergessen sollte: Menschen wie Albert Kalthoff, den Pastor von St. Martini, der die erste Frau in Deutschland predigen ließ, in militaristischer Zeit Pazifist war und den Antisemiten im Kaiserreich Paroli bot. Menschen wie Erika Riemer-Noltenius, die den Bremer Beginenhof gegründet hat, die Varietébesitzer Emil und Elisabeth Fritz, den Autofabri- kanten Carl F. Borgward und Harry Frohman alias Frommer- mann, den Gründer der „Comedian Harmonists“. Auch auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg und auf einem Friedhof 129 in Hannover hat man die Dienste eines Bergmann von Hurrelberg schon in Anspruch genommen. „Guck mal, wer da liegt“, heißt ihr Programm - ein anderes, das sie in Beerdi- gungsinstituten und Fitnesscentern gespielt hat, „Turne bis zur Urne“. Mit Ernestine Wilhelmine Meyer hat alles angefangen. Die Gröpelingerin muss eine couragierte Frau gewesen sein, davon war Christine Renken überzeugt, als sie im Alter von 32 Jahren die dunkle Kleidung einer Hebamme überzog. „Ihr Vater wollte sie wohl sogar studieren lassen, aber die Liebe kam dazwischen, sie hat einen Bauernjungen geheiratet und 14 Kinder bekommen. Und als ihr Mann mit 47 Jahren verstorben ist, hat sie den Bauernhof in der Waltjenstraße gehalten.“ Über zwölf Jahre arbeitet Christine Renken damals schon beim Waldau-Theater, in der Dramaturgie, als Regieassisten- tin, als Souffleuse, als Stückeschreiberin und als Müller im Stück über die Bremer Stadtmusikanten. Manchmal auch als Hahn Lorenzo, „wenn der Haupthahn ausfällt“. Die Rolle der Gröpelinger Hebamme ist eine Herausforderung für sich. Über vier Jahrzehnte, bis 1914, stand Ernestine werdenden Müttern bei und nahm schwangere Dienstmädchen bei sich auf. Ihre Spuren sind verwischt, Aufzeichnungen gibt es kaum. „Ihr Hof ist weg, aber drei Reihenhäuser stehen noch, die sie für ihre Kinder hat bauen lassen“, weiß Christine Renken. Wo alles endete, am Familiengrab der Meyers auf dem Gröpelinger Friedhof, begannen die Stadtteilführungen des Vereins Kultur vor Ort, für den Christine Renken in die historische Rolle schlüpfte. In den nächsten anderthalb Stun- den hatte dann Ernestine das Wort. Leutselig erzählte die Tochter eines Hafenbauingenieurs vom Leben der Gröpelin- ger. Was hat sich nicht alles getan! Christine Renken ließ die alte Frau staunen. „Wenn eine Straßenbahn vorbeifährt, spricht sie natürlich von der Elektrischen. Und Autos sind für sie Benzinmobile.“ Von der Zeitreise kehrte Christine Renken 130 immer rasch ins Hier und Jetzt zurück, zu ihrer 60-Stunden- Woche und dem Theater. In einer Epoche leben, in der Frauen kaum Rechte hatten, die Not groß und die Hausarbeit Plackerei war? „Nee“, sagte die damals 32-Jährige, die privat lieber Käppi als Haube trug, und zog die Brauen hoch. „Höchstens für zwei Wochen, um zu sehen, wie gut es einem geht mit all dem Luxus, fließend Wasser, Heizung, Kühl- schrank..“ Auf Telefon und Uhr hätte sie dagegen gern mal wieder verzichtet, im Tausch gegen Sonne, Ru- he, Krimis und Märchen. Gut zu Fuß scheint Ernes- tine gewesen zu sein, aber wäre sie wohl beim City-Lauf gestartet wie Christine Renken? Wahr- scheinlich hätte sie sich gewundert: „City?“ Und vielleicht auch keine Zeit gehabt. Die nahm sich Christine Renken fast 100 Jahre später, wenn Hams- ter „Harry“ noch schlief und ihr Stadtteil gerade erst erwachte. In den USA, dem Land der Jogger, hat- Christine Renken. te die Bremerin mit ihren Eltern einige Zeit ver- bracht. Ihr Vater verpackte in Florida Experimente für die Astronauten und brachte den Weltraumfliegern bei, wie sie die Teile in der Schwerelosigkeit wieder zusammensetzen konnten. Christine Renken experimentiert noch heute, wenn auch mit Bodenhaftung, und sie hat ihre eigenen Rekorde aufgestellt. 1998 feierten sie, Inga Kristina Resseguier und Wiegand 131 Haar die 100. Ausgabe der Stadtmusikanten, und das Stück läuft immer noch, im Sommer auf dem Domshof, im Winter auf dem Weihnachtsmarkt, mit Zugaben zum Freimarkt. Die Weihnachtsmärchen im Waldau-Theater waren ein anderer Belastungstest. Allein im Advent 1996 haben Christine Ren- ken, Uwe Pekau, Horst Arenthold, Judica Albrecht, Bernhard Wessels, Antje Klattenhoff, Nadine Panjas und Martin Dorr 122 mal die Geschichte von Peter Pan gespielt. „Johooo! So leben wir“, rief Horst Arenthold als Käptn Hook den Kindern zu. Johoo! Christine Renken war im Nimmerland Piratin. Wenn es im echten Leben mal wieder hart auf hart kommt, geht es ihr als Schauspielerin nicht viel anders als der berühmten Tochter eines Piratenkapitäns. „Man muss sich viel anhören, bevor einem die Ohren abfallen“, hat Astrid Lindgren ihre Pippi Langstrumpf sagen lassen. Kommt ihr bei Stadtführungen jemand dumm, dann wehrt sich auch Chris- tine Renken mit trockenem Humor, manchmal Marke Extra brut. Wenn man ihr heute begegnet, dann fast immer zwischen zwei Engagements. Bei einer anderen hieße das, sie wäre arbeitslos, bei ihr das krasse Gegenteil. Als Freiberuflerin mit eigenem Ensemble, dem Theater Interaktiwo, muss sie sich um ihre Aufträge und Auftritte selbst kümmern, manchmal mehrfach am Tag berufsbedingt die Identität wechseln, und für vieles, was sie macht, gibt es keine B-Besetzung. Christine Renken arbeitet mit der Touristik Zentrale zusammen und mit einem Bestattungsunternehmen. Gemeinsam mit Karoline Lentz entwickelt sie immer neue Themenrundgänge durch die Stadtteile, maritime, morbide und bremische Shows. Mal probt sie mit der generationsübergreifenden Amateur- theatergruppe „Die Stiftler“ aus den Reihen der Bremer Heim- stiftung, dann wieder lädt sie Zeitzeugen ins Gröpelinger Helene-Kaisen-Nachbarschaftshaus ein und sendet die Ge- spräche auf Radio Weser TV. Ingeborg Kiehn, eine ehemalige „Miss Astoria“, saß bei ihr 2008 im Studio. Die beiden ver- 132 standen einander auf Anhieb. Bei späteren Gelegenheiten erzählte Ingeborg Kiehn dann von den Engagements ihres Lebens. Balletttänzerin war sie gewesen, Nummerngirl, Gar- derobiere, Barfrau, Wirtin, in der Jugend Mannequin und später noch einmal Fotomodell, Ehefrau, dann alleinerzie- hende Mutter und Hilfskran- kenschwester in der Psychiatrie. Ein Prinz hat ihr den Hof gemacht. Seine Lie- besbriefe hat sie aufgeho- ben, ihn auch auf seinem Schloss besucht, erhört aber hat sie ihn nicht, denn er sprach mit schwäbischem Akzent - „und er züchtete Hühner“. Als die Stiftler im Landhaus Horn ihr „Astoria“- Ingeborg Kiehn mit Karoline Lentz Stück „Schön war die Zeit“ und Christine Renken. aufführten, saß Ingeborg Kiehn in der ersten Reihe. Sie applaudierte Britta Schlipf, der singenden Geisha („Mitsu, Mitsu, Mitsu, mein ganzes Glück bist du“), und Christa Walter als Trude Herr und kam auch selbst auf die Bühne. Ein Jahr später ist sie gestorben. Christine Renken und Karoline Lentz sorgen dafür, dass auch sie nicht vergessen wird. In dem Stück „Schön war die Zeit“ hat Christine Renken Tango getanzt und als Magier „David Klapperfeld“ besagte Butterkekse verschwinden lassen. Es war ein einfacher Trick, kinderleicht zu durchschauen, aber schwer nachzumachen, denn Christine Renken alias Hein Looper alias Esel alias Ernestine Wilhelmine Meyer alias Bergmann von Hurrelberg ist auf ihre Art einmalig. Und längst ein Bremer Original. 133 Künstlerleben - Lebenskünstler Die zweite Gesprächsrunde: Die Showgeschäftsführer In der zweiten Gesprächsrunde „Künstlerleben - Lebens- künstler“ kommen drei Männer zu Wort, die die geschäft- liche Seite der Show im Blick haben müssen oder mussten: Lothar Gräbs, der 120. Geschäftsführer des „Astoria“, in Bremen besser bekannt unter dem Künstlernamen Madame Lothár und als Leiter des gleichnamigen Travestietheaters im Schnoor bis zu dessen Konkurs, Timm Kulke und Chris- topher Kotoucek, die Gründer des Bremer Comedy-Clubs und des Weihnachtsvarietés „Fritz“ am Brill, die im Novem- ber 2010, knapp ein Jahr nach dem Gespräch im Bürger- haus Weserterrassen, ihr eigenes Kellervarieté eröffnen sollten, das „Fritz“ am Herdentorsteinweg. Regina Dietzold (von links) im Gespräch mit Lothar Gräbs, Timm Kulke und Christopher Kotoucek. 134 Regina Dietzold: Ich dachte vorhin gerade: Da kommt Madame Lothár. Der richtige Name ist mir zuerst nicht eingefallen. Begrüßen möchte ich auch Timm Kuhlke und Christopher Kotoucek, der aus Wien kommt und ganz viel in Sachen Unterhaltung unterwegs gewesen ist. Fangen wir einfach mal eben mit Lothar Gräbs an. (Applaus)
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