Geboren Am 17.November
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Geboren am 17.November Dimitris Koufontinas 2021-03-12T20:53:19Z Geboren am 17.November Wien Athen Dimitris Koufontinas Geboren am 17. November Eine Geschichte der griechischen Stadtguerilla bahoe books politics Titel der Originalausgabe: Tevvnianka 17 Nogußpn Erschienen 2014 bei Livanis Athen. Aus dem Griechischen von Fee Meyer. Coverillustration: Paul Busk. ISBN 978-3-903022-89-8 bahoe books | Wien 2019 INHALT Grußworte —5 Der Zufall —6 Die Geburt —9 Politische Pubertät —17 Von der Massenbewegung zur Vielfalt —30 Die ersten Schritte in die Illegalität —38 Der Dünger der Illegalität —43 Der erste Tote —51 Das Ende der Metapolitefsi und der 1 ersten Phase des bewaffneten Kampfes —58 Aufrüstung. Unsere Initiative —67 Partisanenwurzeln —77 Die Anfänge des 17N —90 Die Einheit. Kouponia — 102 Von der vielfältigen zu einer bewaffneten Bewegung — 116 Einheitlichkeit durch Beschneidung —127 Der Beginn der Aktionen 1983-1992 — 134 In das Land der Illegalität — 148 Die schnelle Aktionsserie —152 Ein Wechsel in der politischen Landschaft — 178 Eine notwendige Bilanz —219 Die Flamme erhalten —226 Die Lakaien des Protektorats — 245 Das Ende einer Guerillaepoche — 248 Die Wunde — 254 Wölfe und Hunde Seite an Seite — 259 Die Entscheidung. Das Ende meines bewaffneten Weges —265 Epilog und Prolog zugleich— 270 Schlusswort vor Gericht — 275 Nachwort zur deutschsprachigen Ausgabe — 283 Chronologie der Aktionen des 17N — 285 Glossar — 288 Grußworte Dimitris, Genosse, sie konnten Deine Gedanken nicht bändigen, Deine Überzeu- gungen nicht brechen und Dich nicht daran hindern, Deine Kraft weiterzugeben. Die revolutionäre Botschaft, auch die dieses Buches, entflieht der Zelle und erreicht die Ohren all jener, die hören wollen. Das ist die Niederlage der Folterer, mein Bruder. Sie werden mit uns nicht fertig! 2 Gegen Entfremdung und Hegemonie erobern die Sklaven und Sklavinnen ihr Bewusstsein zurück und der Moment, in dem sie die Herrscher der Welt von neuem überraschen werden, ist nicht weit. Die Haare werden wieder im Wind wehen und wir werden die Straßen und Plätze erneut besetzen. Dann wird es nur noch ein Schritt sein, bis das bewaffnete organisierte Volk seine Macht zurückerlangt, revoltiert und zur sozialen Revolution schreitet. Sie werden die Arbeiterinnen und Arbeiter nicht besiegen können, mein Bruder! Von der anderen Seite des Ozeans, aber aus derselben Klasse, schicke ich Dir meinen brüderlichen Gruß im Namen der Tupamaros, die weiter ohne Reue für die Revolution und den Sozialismus kämpfen. Jorge Zabalza* Montevideo im Jänner 2014 • Die mit einem Sternchen versehenen Namen und Begriffe werden im Glossar ausgewiesen. Der Zufall Sechs Schritte. Dann drei. Noch einmal sechs. Ich zählte die Schritte. Ging langsam, ohne Eile. Langsam ging auch die Aktion in Piräus voran. Wir hatten zwei kleine Bomben. Der Anschlag sollte zwei Konzerne der unnachgiebigsten Reeder treffen. Symbolisch. Aus Solidarität mit den streikenden Hafenarbeitern. Zunächst hatten wir an einen großen Anschlag gedacht: Mächtige Bomben, die ihre Zentralen treffen sollten. Wir hatten sie viele Nächte lang immer zu der Zeit beobachtet, zu der die Aktion laufen sollte. Letztlich hatten wir diesen Plan verworfen, weil Unbeteiligte hätten verletzt werden können. Ich ging langsam, Savvas war hinter mir. Wir bewegten uns im Rhythmus des städtischen Verkehrs. Wir kannten Piräus gut, die Innenstadt und die Viertel der einfachen Leute. Die breiten Straßen, die sich zwischen den hohen Gebäuden hindurch schlängelten, die Gassen zwischen den niedrigen Häusern der Arbeiter. Wir kannten die Geschichte der Stadt, ihre vergangenen Kämpfe, ihre heutigen Menschen. Wir spürten ihren Charakter, die Farbe, den Geruch, der sich so sehr von dem Athens unterschied. Seit Jahren hatten wir hier zwei Häuser. An diesem Samstagabend, dem 29. Juni 2002, waren wir von dem Haus in Pagrati im Süden Athens aus aufgebrochen. Das Taxi hatten wir auf halber Strecke gewechselt. Ich beobachtete den Aktionsort - alles war ruhig, so, wie wir es kannten. An einer bereits ausgewählten Stelle machten wir die beiden Zünder der ersten Bombe scharf. Doppelter Stromkreis, zwei Uhren - zur Sicherheit. Ich beobachtete die Umgebung und erriet Savvas’ ruhige Bewegungen ohne sie zu sehen. Wir starteten. Ich ging vor. Sich wiederholende Bewegungen nach Plan, wie immer in den letzten Jahren. Veteranen — jedoch immer mit der Beklemmung des Anfängers. 3 In solchen Stunden darf man nur an den laufenden Anschlag denken. Aber ein Teil meines Gehirns beschäftigte sich schon mit der nächsten geplanten Aktion, bei der es um die griechische Schifffahrtsbehörde gehen sollte, die leichtfertig Zertifikate für marode Schiffe ausstellte. Über Jahre hinweg war ich nach Schiffsunglücken immer wieder auf ihre Spuren gestoßen. Ich verjagte diese Gedanken aus meinem Gehirn und konzentrierte mich. Ich beobachtete die Umgebung, drehte meinen Kopf nur ganz wenig. Bewegungen ohne Hast die mit der Zeit automatisch, natürlich geworden waren. Wenige Passanten, ein paar Autos. Meine Schritte waren mit den Ampelschaltungen synchronisiert. Jahre zuvor hatten alte Genossen mich deswegen auf den Arm genommen: «Ampelspezialist» hatten sie mich genannt. Wir kamen näher. Die Ampel schaltete für die Autos auf Grün. Ich lenkte meinen Blick in Richtung Savvas. Nach all den Jahren brauchten wir die speziellen Handzeichen der Organisation nicht mehr. Der Eine verstand die Bewegungen und die Gedanken des Anderen. Er bog ab in den Weg zwischen den Büschen. Sechs meiner Schritte, bis er sie durchquert hatte. Drei Schritte, bis er die blaue Tasche abstellte. Nochmals sechs, bis er zurückging und auf den Gehsteig zurückkam - genau dann, wenn die Ampel für die Fußgänger grün würde. Zwei Stunden zuvor, als ich mit einem Honda Starlet zum Haus der Organisation in Pagrati fuhr, hatte ich erneut gedacht, dass mir dieser Anschlag nicht gefiel. Er musste mit Zeitzündern durchgeführt werden, die anders waren als die für die Organisation typischen. Ohne diese großen chinesischen Wecker, die die Sicherheit des Altbekannten vermittelten. Ich ging ins Haus, in das geschlossene Hinterzimmer. Das Fenster zum Hof war von innen mit dicken Metallplatten verriegelt, die Glasscheibe gestrichen. Der Heizkörper war von den Rohrleitungen getrennt worden. Die Zimmertür wurde mit einer versteckten Konstruktion von einem anderen Zimmer aus geöffnet. Dort stand der moderne Computer, auf dessen zwei Festplatten Informationen lagen, die zu sammeln und zu bearbeiten Tausende Stunden gekostet hatte. Dezember 2013, heute. Ich habe diese Bilder wieder und wieder Revue passieren lassen. Und doch wird der Stift schwer in dieser unterirdischen Zelle. Ich stehe auf dem weißen Plastikstuhl, mache das Fenster hoch oben auf. Die kalte Luft reinigt das Gehirn. Der Wärter geht über den Gang, schaut kurz durch die Essensklappe. Vor ein paar Tagen habe ich durchs Gitter für einen kurzen Moment Savvas auf der Krankenstation gesehen. Körperlich gebrochen, aber wie immer optimistisch grinsend. An jenem Tag in Pagrati hatten wir alles gemeinsam kontrolliert. Die Zünder, das Dynamit, das Kontrolllämpchen, die Waffen. Pech. Er hatte zuerst aus diesen deutschen Plastikuhren die Zeitzänder montiert. Jetzt verpackte er das Dynamit. Verdammte Allergie! Ich reagierte auf den Staub des Dynamits, verließ das Zimmer, fiel auf das Feldbett. Der Puls schlug mir bis zum Hals, der Magen verkrampfte sich, die Nerven lagen blank. Schon 4 bei der ersten Dynamitkiste, die wir auf der Insel Euböa gestohlen hatten, hatte ich ein Gefühl, als ob meine Kräfte mich verließen. Mit der Zeit sollte diese Allergie stärker werden. «Alles fertig. Lass uns gehen. Ist bei dir alles okay?» Ich verließ das Haus als erster. Die Straße hieß uns zur letzten gemeinsamen Fahrt willkommen. Das letzte Mal sah ich ihn körperlich unversehrt als er in die Büsche abbog, in dieser Nacht, in Piräus. Savvas letzte sichere Schritte. Wir konnten uns in diesem Moment nicht vorstellen, dass eine ganze Epoche zu Ende ging, dass wir uns dem Ende Schritt für Schritt näherten, dass es ein Ende geben würde. Sechs meiner Schritte. Ein Krankenwagen drehte ein kurzes Stück entfernt auf dem Promenadenplatz um. Er stoppte. Von dort, wo er hielt, konnte er uns nicht sehen. Noch drei Schritte. Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, warteten ein paar Passanten auf Grün. Sie konnten uns nicht sehen. Noch einmal sechs. Nun müsste er herauskommen. Nichts. Die Füße wurden schwer, das Herz presste sich zusammen. Ich ging weiter, immer langsamer, als könnte ich so die Zeit verlangsamen, den Lauf des Schicksals aufhalten. Die Explosion war klein, gedämpft. Ein kurzer Lichtblitz, eine Wolke aus Qualm und Staub stieg in die Luft. Viele, viele Jahre, immer, wenn wir eine Bombe scharf machten, stellten wir uns einen Knall, einen Blitz, eine Druckwelle einer vorzeitigen Explosion vor, die uns treffen würde. Dieses Risiko hatten wir in Kauf genommen, aber versucht zu minimieren. Wir hatten damit gerechnet, wir hätten uns nicht beklagt. «Lass die Explosion wenigstens stark sein», hatte Savvas immer gelacht. Nun hatte ihn eine Explosion auf das Straßenpflaster geworfen. Das Gesicht übersäht mit roten und schwarzen Verbrennungen, die Haare blutgetränkt, sein Hemd in Luft aufgelöst, verschwunden. Die ganze Haut war rot, aber blutete nicht, er hatte keine sichtbare Wunde. Nur an der Hand waren keine Finger mehr zu sehen. Er hatte eine kleine Tasche über der Schulter gehabt, auch sie war bis auf den Trageriemen verschwunden. Mit einer sinnlosen Bewegung entfernte ich ihn sanft - er soll ihn nicht einengen, habe