10.3726/92121_331

331

FLORIAN KAPPELER Versuche, ein Mann zu werden. Psychotechnik, Psychiatrie und Männlichkeit in Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“

Zwischen wieviel Vorstellungen schwankt und schwebt nicht schon ein so einfacher Begriff wie der von der Männlichkeit! (MoE, 574)

Hat Wissen ein Geschlecht? Was haben Wissen, Geschlecht und Literatur miteinander zu tun? Wie kann dieser Zusammenhang analysiert werden? Das Verhältnis von Wis- sen und Literatur anhand von Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften (MoE) zu diskutieren, ist nichts Neues: Der MoE wurde bereits des Öfteren als Diskursenzyklo- 1 pädie (Walter Moser) historischer Formen von Wissen gelesen. Dagegen ist der Ro- man erstaunlicherweise selten explizit geschlechtertheoretisch analysiert worden. Die wenigen genderorientierten Untersuchungen beziehen sich allerdings kaum auf den 2 Zusammenhang von Wissen und Geschlecht. Dabei postuliert etwa der Historiker Wolfgang Schmale, der MoE könne geradezu als „Emblem [zeitgenössischer] Debatten über die Krise der Männlichkeit firmieren“3, ohne dies näher auszuführen. Michael Titzmann geht sogar davon aus, das grundlegende diskursübergreifende und -verbin- 4 dende Objekt sei Geschlecht. Inspiriert durch diese Thesen soll im Folgenden exemp- larisch der Zusammenhang psychotechnischen bzw. psychiatrischen Wissens und männ- licher Vergeschlechtlichung diskutiert werden.

1 Walter Moser: Diskursexperimente im Romantext. Zu Musils DMoE. In: U. Baur, E. Castex (Hrsg.): . Untersuchungen, Königstein/ Ts. 1980, S. 170–197; Gerhard Meisel: Liebe im Zeitalter der Wissen- schaften vom Menschen: das Prosawerk Robert Musils, Opladen 1991; Christoph Hoffmann: „Der Dichter am Apparat“. Medientechnik, Experimentalpsychologie und Texte Robert Musils 1899–1942, München 1997; Christian Kassung: EntropieGeschichten. Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ im Diskurs der modernen Physik, München 2001; Albert Kümmel: Das MoE-Programm: eine Studie über geistige Organisation, München 2001; Bernd Blaschke: Der homo oeconomicus und sein Kredit bei Musil, Joyce, Svevo, Unamuno und Céline, München 2004. 2 Die vorliegenden geschlechtertheoretischen Studien thematisieren fast ausschließlich die geschlechtliche Darstellung einzelner, zumeist weiblicher Figuren, vgl. Ina Hartwig: Sexuelle Poetik. Proust. Musil. Genet. Jelinek, a. M. 1998; Marja Rauch: Vereinigungen. Frauenfiguren und Identität in Robert Musils Prosawerk, Würzburg 2000; eine Ausnahme ist Roger Kingerlee: Psychological Models of Masculinity in Döblin, Musil, and Jahnn. Männliches, Allzumännliches, Lampeter 2001. Ansonsten wird die Vergeschlecht- lichung von Wissen nur in Einzelfällen kurz angesprochen. Kümmel sowie Blaschke (wie Anm. 1) kommen aber m. E. nicht über die allgemeine Feststellung heraus, die Diskurse im Roman seien eher männlich geprägt. Gunther Martens (Beobachtungen der Moderne in Hermann Brochs Die Schlafwandler und Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Rhetorische und narratologische Aspekte von Interdiskursivität, Mün- chen 2006) stellt zumindest die Frage, wie Wissen und Geschlecht zusammenhängen, ohne sie ausführlich zu beantworten. 3 Wolfgang Schmale: Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450–2000), Köln u. a. 2003, S. 231. 4 Michael Titzmann: Revolutionärer Wandel in Literatur und Wissenschaften. In: K. Richter, J. Schönert, M. Titzmann (Hrsg.): Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930, Stuttgart 1997, S. 318. 332 Florian Kappeler

I. Im Kontext der Debatten um die gesellschaftliche Produktion, Verteilung und An- eignung von Wissen wird zunehmend auch das Verhältnis von Wissen und Literatur erforscht. Dabei wird Wissen in literarischen Texten ebenso thematisiert wie die 5 Literarizität oder Poetizität von Wissen. Inzwischen wird des Öfteren auch die Frage nach dem zugrunde zu legenden Begriff des ,Wissens‘ aufgeworfen. Einige Ansätze sowie der Großteil der diesbezüglichen Musil-Forschung beziehen sich auf die Dis- kursanalysen von Michel Foucault. Dieser versteht in seiner methodologischen Schrift 6 Archäologie des Wissens Wissen bzw. Diskurse als Serien historisch geregelter Objekt- konstruktionen, Subjektpositionen, Begriffssysteme und Themen. In anderen Worten:

Seine Diskursanalyse untersucht, was von wem über was auf welche Weise wo und wann wirklich gesagt werden konnte. Wissen ist demzufolge nicht das Produkt der Forschung gegebener Subjekte an gegebenen Objekten, es ist vielmehr durch eine spezifische Form der Konstituierung von Objekten und Subjekten gekennzeichnet. Dabei muss es sich nicht um wahres, gerechtfertigtes (wissenschaftliches) Wissen handeln.

Foucaults Diskursanalyse untersucht weniger die Verifikationsnormen als die Produk- 7 tionsformen von Wissen. Für literaturtheoretische Untersuchungen erscheint es einerseits sinnvoll, sich an diesen Wissensbegriff anzulehnen. Da er extensiver ist als der meist verifikationszen- trierte Begriff der , Wissenschaft‘ ermöglicht er es, auch nicht im strengen Sinne wis- senschaftliches Wissen zu analysieren, welches gleichwohl Regelmäßigkeiten und Re- geln aufweist. Andererseits interpretiert die Diskursanalyse zumeist keine Einzeltexte, sondern untersucht die Häufungen, Rekurrenzen und Persistenzen von Diskursele- menten, die in verschiedenen Texten auffindbar sind. Literatur kommt aus diskursana- lytischer Perspektive keine Eigenlogik zu. Dagegen postuliert eine an Foucault an- knüpfende neuere Forschungsrichtung, die Poetologie des Wissens, dass Wissensproduktion poetische Verfahren impliziert, die Literatur und Wissen gemeinsam sind. Ihr Ziel ist demnach, „das Wissenssubstrat poetischer Gattungen und die poetische Durchdrin- 8 gung von Wissensformen aufeinander zu beziehen“.

5 Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, München 2002; Christine Maillard, Michael Titzmann (Hrsg.): Literatur und Wissen(schaften) 1890–1935, Stuttgart, Weimar 2002; Bernhard Dotzler, Sigrid Weigel (Hrsg.): „fülle der combination“. Literaturforschung und Wissenschafts- geschichte, München 2005; Nicolas Pethes: Literatur- und Wissenschaftsgeschichte. In: I ASL 28/2003, S. 181–231. 6 Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M. 1981, bes. S. 49 f., 110, 258. 7 Tilmann Köppe hat in dieser Zeitschrift gegen einen solchen Begriff von Wissen argumentiert. Im An- schluss an die Kritik von Roland Borgards wäre zu fragen, ob eine rein verifikationstheoretische Definition von Wissen nicht reduktiv ist, da sie die Produktion von Wissen nicht in den Blick bekommt: Wissen konstituiert sich nicht exklusiv durch Wahrheit, sondern auch durch gesellschaftliche Regeln, die z. B. definieren, was als Wissensobjekt gelten kann, wer berechtigt ist, darüber zu sprechen etc. – und diese Aspekte von Wissensproduktion können sehr wohl auch anhand literarischer Texte untersucht werden. Es ist dagegen unscharf, von Meinungen oder Auffassungen zu sprechen (so Köppes Vorschlag), wenn es sich um Aussagen handelt, die institutionell verbindlich geregelt sowie zeitlich und materiell persistent sind. Zur Debatte in der Z. f. Germ. vgl. Tilmann Köppe: Vom Wissen in Literatur (2/2007; ders.: Fiktionalität, Wissen, Wissenschaft (3/2007); Roland Borgards: Wissen und Literatur (2/2007); Andreas Dittrich: Zum Konflikt zwischen Erkenntnistheorie und Wissensgeschichte (3/2007). 8 Vogl (wie Anm. 5), S. 14; vgl. Arne Höcker, Jeannie Moser, Philippe Weber (Hrsg.): Wissen. Erzählen. Narrative der Humanwissenschaften, Bielefeld 2006. Es geht nicht um den Nachweis, literarische Texte Psychotechnik, Psychiatrie und Männlichkeit in R. Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ 333

Eine solche Perspektive ermöglicht es, das Verhältnis von Wissen, das in nicht als literarisch geltenden Texten repräsentiert ist, und dessen Darstellung im literarischen

Text zu bestimmen. Dieses Verhältnis muss keineswegs komplementär sein. So geht

Robert Musil in seinem poetologischen Essay Ansätze zu neuer Ästhetik (1925) davon aus, dass die Kunst „die Aufgabe unaufhörlicher Umformung und Erneuerung des Bildes von der Welt und des Verhaltens in ihr [hat], indem sie durch ihre Erlebnisse die Formel der Erfahrung sprengt“.9 Mit „Formel der Erfahrung“ ist die gesellschaftliche Regelung der

Verwendungsweise von Worten gemeint, die jeder Äußerung vorausgesetzt ist: die Dis- kurse. Aber „die Zwischentöne [. . .], in der Dichtung der irrationale Simultaneffekt sich gegenseitig bestrahlender Worte [. . .], sprengen [. . .] das stumpfe, eingeschlagene Bild 10 und die Formelhaftigkeit des Daseins“. Insofern kann der literarische Text als spezi- fischer Interventionsversuch in diskursive Konstellationen gelesen werden.

II. Diese Intervention bezieht sich bei Musil nicht allein auf die Regelungen bestimm- ter Wissensformen, sondern auch auf deren Vergeschlechtlichung. Darunter soll eine interdiskursive Praxis verstanden werden, die sich in Formen von Wissen und in Lite- ratur einschreiben kann. Wird Wissen im Anschluss an Foucaults Diskursanalyse defi- niert, so liegt es nahe, z. B. nach der Vergeschlechtlichung von Subjektpositionen, Ob- jektkonstitutionen und Begriffen bestimmter Formen von Wissen zu fragen: Wer hat

Zugang zu Wissensproduktionen, (wie) werden Subjekte, Objekte oder Begriffe als weiblich, männlich oder in anderer Weise geschlechtlich dargestellt? Das Wort „Dar- stellung“ verweist dabei bereits auf eine narrative und rhetorische Komponente von

Genderkategorien. Die Produktion von Geschlecht impliziert ebenso wie die von Wissen 11 poetische Verfahren.

produzierten Wissen, das von literaturexternen Wissensformen ununterscheidbar sei. In Frage steht die Beziehung von literarischem Text und Wissen, nicht ihre vorausgesetzte Identität. Natürlich gibt es institu- tionelle Normen, die anleiten, wie Texte gelesen werden sollen (vgl. Köppe, 3/2007, wie Anm. 7). Damit erfassen diese Lektüren aber noch nicht alle relevanten und interessanten Aspekte von Texten – eine theoretisch angeleitete Lektüre muss sich deshalb nicht an solche Normen halten. 9 Robert Musil: Gesammelte Werke II. Essays und Reden. Kritik, hrsg. v. Adolf Frisé, Reinbek 1983, 1152o. Zu den Diskursen vgl. 1148o.: „Die Möglichkeit, uns auszudrücken, [bedingt] im voraus schon die Gedan- ken und Gefühle, die wir ausdrücken werden“. 10 Ebenda, S. 1147. 11 Dabei folge ich den Diskussionen im Anschluss an die Thesen von Judith Butler und den queer studies, vgl. dies.: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M. 1991; Elahe Haschemi Yekani, Beatrice Michaelis (Hrsg.): Quer durch die Geisteswissenschaften. Perspektiven der Queer Theory, Berlin 2005. Diese haben gezeigt, dass Texte Geschlecht immer auch performativ und produktiv herstellen. Speziell zum Zusammen- hang von Genderforschung und Narratologie vgl. Vera u. Ansgar Nünning (Hrsg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, Stuttgart, Weimar 2004; Sigrid Nieberle, Elisabeth Strowick (Hrsg.): Narration und Ge- schlecht. Texte – Medien – Episteme, Köln 2006. Im MoE werden vergeschlechtlichte Körper als durch Körperdisziplin und Kleidung geschaffene Masken und verkörperte Träume verstanden; sie erscheinen als „Gebilde der Massenseele körperlich, dramatisch“, quasi „ideoplastisch“. Es gibt keine positive, wissen- schaftliche Anthropologie des Körpers als Ganzes, nur „Modevorbilder“. Vgl. R. M.: Der Mann ohne Eigenschaften, I. 1. u. 2. Buch, Reinbek 2001, S. 285 f. (fortan zitiert: MoE). Vgl. Musils Aufsatz Die Frau gestern und morgen (1929). In: Musil (wie Anm. 9), 1198u. 334 Florian Kappeler

Was bedeutet das für die Kategorie Männlichkeit? Evelyn Fox Keller geht davon aus, die Institution Wissenschaft präge Wissenssubjekte im Sinne eines Männlichkeitsideals.

Umgekehrt hat Robert W. Connell die These vertreten, spezifisch moderne Männ- lichkeit sei nicht mehr so sehr durch die personale Herrschaft von Männern über Frau und Familie gekennzeichnet. In einer kapitalistischen Gesellschaft lasse sich vielmehr eine Expertisierung von Wissen, Technik und Rationalität beobachten, welche mit einem neuen Männerbild zusammenhängen, dessen Dominanz gerade auf Fachwissen 12 und technischem Know-how beruhe. Allerdings muss Männlichkeit nicht immer explizit in Texten thematisiert werden, um von einem Zusammenhang von Männlich- keit und Wissen zu sprechen. Geschlechtlichkeit kann sowohl auf spezifische Weise in

Formen von Wissen eingeschrieben wie auch aus ihnen ausgeschlossen sein. Gerade Wissen, das in der gesellschaftlichen Praxis männlich codiert ist, wird oft als geschlechtslos dargestellt: Der Mann erscheint dann nur als Mensch oder neutrales Erkenntnissubjekt, explizite Geschlechtlichkeit dagegen als weiblich.13

Die Frage nach dem Zusammenhang von Wissen und poetischer Darstellung kann damit zur Frage zugespitzt werden: Wie werden diese Wissensformen – Subjektposi- tionen, Objektformen, Begriffe – explizit als männlich oder in auffälliger Weise als neutral dargestellt? Welches Verhältnis besteht zwischen der geschlechtlichen Darstel- lung von Wissen, das zum MoE in Beziehung steht, und dessen geschlechtlicher

Recodierung im literarischen Text? Wissen und Literatur sind dann auf ihre jeweiligen

Poetiken und (männlichen) Vergeschlechtlichungen hin zu untersuchen.

III. Nun weist der MoE eine große Vielfalt von Beziehungen zu zeitgenössischem

Wissen auf, von denen die meisten mit der Kategorie Geschlecht in Verbindung ste- hen. Dennoch lassen sich einige quantitativ und qualitativ besonders relevante Kom- plexe hervorheben. Einen ersten Schwerpunkt stellt sozialwissenschaftliches Wissen dar, das um die Begriffe der Organisation und Ordnung moderner Gesellschaften kreist.

Dies betrifft besonders Soziologien und ökonomisches Wissen, aber auch Kulturpsy- chologien. Zweitens kommt naturwissenschaftliches Wissen insbesondere der Physik

12 Evelyn Fox Keller: Liebe, Macht und Erkenntnis. Männliche oder weibliche Wissenschaft?, Frankfurt a. M. 1998; Robert W. Connell: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Opladen 2000. Walter Erhart untersucht den Zusammenhang von Familie und Männlichkeit im 19 Jh. und weist darauf hin, dass die Untersuchung dieses Komplexes im 20. Jh. ein Forschungsdesiderat darstellt (Familienmänner. Über den literarischen Ursprung moderner Männlichkeit, München 2001, S. 403). Zur institutionellen Habitualisierung von Männlichkeit vgl. auch Klaus Theweleit: Männliche Geburtsweisen. In: Th. Steffen (Hrsg.): Masculinities – Maskulinitäten. Mythos – Realität – Repräsentation – Rollendruck, Stuttgart, Wei- mar 2002. Da Geschlecht eine relationale Bestimmung ist, bleibt der Bezug zum Nicht-Männlichen allerdings immer relevant, nicht zu vergessen die zahlreichen uneindeutigen Formen von Geschlechtlichkeit, die – wie die queer studies gezeigt haben – eine Reduktion auf diese binären Kategorien in Frage stellen, vgl. Annamarie Jagose: Queer Theory. Eine Einführung, Berlin 2001; Haschemi Yekani, Michaelis (wie Anm. 11). 13 Zum Einschluss/ Ausschluss vgl. Christina von Braun, Inge Stephan (Hrsg.): Gender@ Wissen. Ein Hand- buch der Gender-Theorien, Köln 2005, S. 9 ff. Dies hat Ute Frietsch anhand ihrer Analyse von Foucaults Epistemologie für Einschreibungen von Weiblichkeit gezeigt: Obwohl Wissensproduktionen vergeschlecht- licht sind, tendiert die Wissenschaftstheorie dazu, dies auszublenden (Die Abwesenheit des Weiblichen. Epistemologie und Geschlecht von Michel Foucault zu Evelyn Fox Keller, Frankfurt a. M. 2002, S. 214 ff.). Psychotechnik, Psychiatrie und Männlichkeit in R. Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ 335

und Physiologie zur Sprache. Von großer Relevanz sind schließlich bestimmte Formen der Psychologie, namentlich psychiatrisches, sexualpsychologisches und psychotechni- 14 sches Wissen.

Als einschlägige Referenztexte wurden in der Forschung für das psychiatrische Wis- sen zumeist Eugen Bleulers Lehrbuch der Psychiatrie (1916) und Ernst Kretschmers Lehr- buch Medizinische Psychologie (1922), für die Psychotechnik Hugo Münsterbergs pro- grammatische Schrift Grundzüge der Psychotechnik (1914) hervorgehoben. Dabei handelt es sich um Texte, zu denen der MoE selbst oder poetologisch relevante Exzerpte in 15 Musils Tagebüchern in expliziten intertextuellen Beziehungen stehen. Obwohl das

Feld psychologischen Wissens, das für die wissenspoetologische Diskussion von Musils

Roman relevant ist, damit keinesfalls erschöpft ist, wird sich die Analyse im Folgenden auf diese Texte konzentrieren. Die Fokussierung auf explizite Textbezüge erscheint dabei geeignet, dem methodischen Problem zu begegnen, welches Wissen selektiert und zur Untersuchung herangezogen werden soll. Zudem sind gerade diese Texte für eine Diskussion von Männlichkeit im MoE zentral, während etwa sexualwissenschaft- liches Wissen stärker im Kontext der Darstellungen von Weiblichkeit zur Sprache kommt.

IV. Der Begriff ,Psychotechnik‘, verstanden als instrumentelle Optimierung von Men- schen, wurde 1903 im Aufsatz Angewandte Psychologie von William Stern geprägt und durch Hugo Münsterberg popularisiert; die Psychotechnik kann als eine Grundlage der 16 heutigen Arbeits- und Organisationspsychologie verstanden werden. Sie lehnt sich einerseits an die von den experimentellen Naturwissenschaften geprägten Richtungen der Psychologie an, die sich im Anschluss an Wilhelm Wundt Ende des 19. Jahrhun- derts konstituierten. Andererseits hängt sie eng mit der Entwicklung der tayloristischen

Betriebsführung zusammen. Münsterberg erkannte Taylors diesbezügliche praktische

14 Vgl. neben den Studien von Hoffmann, Kümmel, Kassung und Blaschke (alle wie Anm. 1) zur Sozialwissen- schaft etwas verkürzt Helmut Kuzmics, Gerald Mozetic&: Literatur als Soziologie. Zum Verhältnis von Literatur und gesellschaftlicher Wirklichkeit, Konstanz 2003, S. 225–258; zur Psychiatrie Erhard von Büren: Zur Bedeutung der Psychologie im Werk Robert Musils, Zürich 1970; zu Sexualwissenschaft und Kulturpsycho- logie Barbara Neymeyr: Psychologie als Kulturdiagnose: Musils Epochenroman „Der Mann ohne Eigenschaf- ten“, Heidelberg 2005. Das psychologische Wissen ist u. a. über den Organisationsbegriff mit dem sozialwis- senschaftlichen und über naturwissenschaftliche Methodologien mit dem naturwissenschaftlichen Wissen interdiskursiv verbunden. Eine Untersuchung dieser Bezüge kann hier nicht geleistet werden. 15 Vgl. die Exzerpte in Musils Tagbüchern: Tagebücher, 2 Bde., hrsg. v. Adolf Frisé, Reinbek 1983 (fortan zitiert: Tgb): Zu Münsterberg Tgb I, S. 521 ff., zu Kretschmer Tgb I, S. 785, II, S. 565 ff., 600 ff., zu Bleuler befindet sich ein zweiseitiges Exzerpt im Nachlass, vgl. Tgb II, S. 409. Vgl. auch Musils Aufsatz Psychotechnik und ihre Anwendungsmöglichkeit im Bundesheere. In: Robert Musil: Beitrag zur Beurteilung der Lehren Ernst Machs. Studien zur Technik und Psychotechnik, Reinbek 1980, S. 179–200, dazu Hoffmann (wie Anm. 1). Unter expliziter Intertextualität verstehe ich markierte Bezugnahmen von Texten auf Texte, vgl. Ulrich Broich, Manfred Pfister (Hrsg.): Intertextualität. Formen. Funktionen. Anglistische Fallstudien, Tübingen 1985; Peter Stocker: Theorie der intertextuellen Lektüre. Modelle und Fallstudien, Paderborn u. a. 1998. 16 Vgl. affirmativ Walter Bungards, Helmut E. Lücks Einführung. In: Dies. (Hrsg.): Hugo Münsterberg: Psycho- logie und Wirtschaftsleben, Weinheim 1997, S. XV und z. B. die Stellungnahme der Fachgruppe Arbeits- und Organisationspsychologie der Deutschen Gesellschaft für Psychologie < http://www.aodgps.de/wiees.html> (7.8.2007). 336 Florian Kappeler

Maßnahmen in seinen Vorlesungen zur Wirtschaftspsychologie an der Harvard

University ausdrücklich als wissenschaftliche Experimente an. Die militärische An- wendung von Psychotechnik im Ersten Weltkrieg und die ökonomische Rationalisie- rung in den Jahren danach führten in Deutschland zu einer vorübergehenden Kon- junktur der Psychotechnik: 1926 wurde sie in 110 deutschen Industrieunternehmen praktiziert.17 In den Grundzügen der Psychotechnik definiert Münsterberg Psychotechnik als ange- wandte Psychologie im Dienste der bestehenden gesellschaftlichen Praxis. Als sozial- technologische Handlungsanleitung18 etwa für Personalabteilungen von Unternehmen, Lehrer, Ärzte und Juristen behandelt sie die Frage, wie menschliche Eigenschaften ge- sellschaftlichen Anforderungen angepasst werden können. Diese übernimmt die Psycho- technik von der bestehenden Gesellschaft, ihr Interesse gilt nur den Mitteln, sie zu erreichen. Dazu ist eine Erkenntnis der Eigenschaften von Individuen im Hinblick auf deren gesellschaftlich nutzbare Optimierung nötig.19 Ziel der Psychotechnik ist es dann, das Verhalten so zu programmieren, dass es „durch Gewöhnung und Übung in reflektionslosen instinktartigen Ablauf übergeht“ (GdP, 37o.). Das Individuum soll an bestimmte Aufgaben dermaßen angepasst werden, dass körperliche ebenso wie intel- lektuelle Fähigkeiten zu Reflexen werden.20 Individualität wird dabei durch die Unter- schiede in den Empfindungen, Wahrnehmungen und Erinnerungsvermögen der Sub- jekte definiert. Unterscheidungskriterium ist meist die zu optimierende Geschwindigkeit und Präzision der Auffassung (GdP, 106 f.).

Psychotechnische Wissensobjekte werden gebildet, indem die psychischen „Erleb- nisse [. . .] von Individuen“ (GdP, 11) getrennt von jedem intentionalen Akt, jeder Teleologie und jeder Ethik als rein empirische Objekte konstruiert werden. Erleben wird somit gleichgesetzt mit „Reize[n] und Reflexbahnen, Einbahnung von Gewohn- heiten und Geschicklichkeiten“ – so wird es Ulrich in den Mund gelegt (MoE, 378).

Entsprechend sollen Wissenssubjekte als „bloße Zuschauer [dem] Erleben gegenüberste- hen“ (GdP, 12). Analogien zu naturwissenschaftlichen Verfahren sind bei Münsterberg zugleich programmatisches Prinzip für die Methodologie und erläuterndes poetisches 21 Stilmittel. Es ist allerdings zweifelhaft, ob damit die psychotechnische Wissenspraxis

überzeugend beschrieben wird. Denn deren Verfahren weisen aufgrund ihrer sozial-

17 Bungard, Lücke (wie Anm. 16), S. XX. 18 Hugo Münsterberg: Grundzüge der Psychotechnik, 2., mit erg. Literaturverzeichnis vers. Aufl., 1920, S. 10 (fortan zitiert: GdP). Unter Sozialtechnologie verstehe ich von Wissen organisierte und autori- sierte Herrschaftsverfahren, vgl. Urs Lindner: Alles Macht, oder was? Foucault, Althusser und kritische Gesellschaftstheorie. In: Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 4/2006, S. 583–609. 19 GdP, S. 6 ff., 39. 20 Wie neutral gegenüber Zielen sie sich gerieren mag, erklärtes psychotechnisches Ziel ist es, „die Seele umzugestalten und zu beeinflussen und so Gewalt über die psychische Lage zu gewinnen“ (GdP, 136). Psychotechnik ist also auch nichts anderes als Herrschaftswissen. Dass sie nicht zwischen körperlichen und intellektuellen Fähigkeiten unterscheidet, folgt nicht unbedingt nur aus ihrer Verbindung mit dem militäri- schen Komplex, sondern ebenso aus dem monistisch-deterministischen Erkenntnismodell, an das sie sich anlehnt. 21 Zum Beispiel GdP, S. 5. Münsterberg greift auch zu poetischen Mitteln wie dem Vergleich: Bezogen auf „unser inneres Erlebnis“ sei eine Muskelbewegung „in der Tat nicht anders, [als] wenn unser Wille den Mond verschieben würde“ (GdP, 169). Psychotechnik, Psychiatrie und Männlichkeit in R. Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ 337 technologischen Zielsetzung keineswegs nur kausale, sondern auch finale und – inso- fern sie anleitet, „was wir tun sollen“ (GdP, 6) – ethische Züge auf. Methoden der Psychotechnik sind Beobachtungs- und Befragungstechniken sowie statistische Verfahren. Dem so konstituierten Wissen wird prognostischer Wert zuge- schrieben; es soll somit sozialtechnologische Eingriffe ermöglichen. Auch die Selbstbe- obachtung und -veränderung wird unter kontrollierten Bedingungen ausdrücklich als wissenschaftliches Verfahren begriffen. Dabei sind Techniken wie die Autosuggestion von entscheidender Bedeutung, die sich durch die analytische „Zerlegung unserer Wil- lenshandlung“ und „Erweckung klarer Bilder früherer Teilhandlungen“ (GdP, 172) auszeichnet. Diese ist auf eine Vorstellung des antizipierten Zwecks angewiesen. „Die gegenwärtige Endvorstellung erzeugt [. . .] eine psychophysische Umschaltung, durch die wir für die zukünftige Ausführung einer bestimmten Handlungskette so vorberei- tet sind“, dass sie „mit reflexartiger Unmittelbarkeit erfolgt“ (GdP, 176). Menschen in ihrer Unberechenbarkeit bleiben für die Psychotechnik eine wesentliche Störungs- quelle. Für Münsterberg liegt das an ihrer unzureichenden Schulung. Darum ist die geistige und körperliche Gesundheit der Versuchspersonen zentral:

Das System der psychophysischen Vorgänge muß der wahrnehmbaren Situation angepasst

werden, die Gefühlslage muß den glatten Ablauf des automatischen Prozesses begünstigen, das Nervensystem muß unermüdet sein (GdP, 177).

Eine Voraussetzung für das Gelingen psychotechnischer Versuche ist das Training der Versuchspersonen. Das mag theoretisch zirkulär sein, ist aber für die psychotechnische Wissensproduktion konstitutiv. Die Kategorie Geschlecht wird dagegen bei Münster- berg auf der Ebene der Methoden, Begriffe und Subjekte der Wissensproduktion kon- sequent ausgeschlossen. Diese werden geradezu ostentativ als neutral aufgefasst und scheinen von gesellschaftlichen Interessen und Kontexten völlig unbeeinflusst zu sein (etwa GdP, 202). Dennoch sind geschlechterdifferente Eigenschaften und Erlebnisse ausgesprochen häufig Objekt psychotechnischer Wissensproduktion, so besonders im

Rahmen der Produktion prognostischen Wissens, das die gesellschaftliche Positionierung der Geschlechter, etwa in bestimmten Berufsfeldern, mit anleiten soll (GdP, 48, 201 f.). Zudem reproduziert die Psychotechnik mittels Statistik und Prognostik bestimmte Ge- 22 schlechterbilder und verleiht diesen den Status der Wissenschaftlichkeit. So autorisieren aktuell bestehende Interessensunterschiede von Jugendlichen ver- schiedenen Geschlechts die Zuordnung von Berufsgruppen zu bestimmten Geschlech- 23 tern. Sachlichkeit, Differenzierungs- und Abstraktionsvermögen sowie Zielorientie-

22 Zwar hebt die Psychotechnik gegenüber der „Popularpsychologie“ hervor, bestimmte Eigenschaften wie Sachlichkeit und Originalität seien nicht in jedem Falle männlich, da es dazu widersprüchliche Studien gebe und individuelle Fähigkeiten der statistischen Wahrscheinlichkeit im Einzelfall immer widersprechen könnten (GdP, 203). Im statistischen Durchschnitt sind die Zuschreibungen gleichwohl eindeutig. 23 GdP, S. 205 f. Zur bis heute andauernden Bedeutung statistischen Wissens für die Reproduktion von Ge- schlechterbildern genügt ein Blick in beliebige Zeitungen, Zeitschriften oder ins Internet. Wissens- und geschlechterkritisch betrachtet ist jegliche Prognostik höchst fragwürdig, da sie die Dynamik gesellschaft- licher Verhältnisse nicht denken kann und somit immer konservativen Charakter besitzt. Auch bei Musil sind Berufsgruppen z. T. selbstverständlich Geschlechtern zugeordnet (vgl. MoE, 247, 251). 338 Florian Kappeler

rung werden Männern zugeschrieben, z. T. ex negativo: „Die Frauen sind [. . .] aller Abstraktion und allem mathematischen Denken abgeneigt, starken Gemütsbewegun- gen unterworfen und impulsiv“ (GdP, 206o.), kurz: Störfaktoren jeder psychotechni- schen Programmierung. Denn diese fordert, dass Subjekte bestimmte Eigenschaften besitzen oder erwerben, die sie für die angestrebten Manipulationen tauglich machen.

Diese sind aber zum Großteil identisch mit den im Kontext konkreter Versuche als geschlechterdifferent aufgefassten Eigenschaften. Das ideale psychotechnische Subjekt und Objekt ist somit der zielorientierte, sachliche, gesunde, leistungs- und anpassungs- fähige Mann, der es schafft, seine Affekte komplett zu objektivieren.

V. Das Forschen nach dem Normalen, Durchschnittlichen bringt quasi automatisch das

Abweichende und Anormale hervor. Und wer psychotechnische Optimierung fordert, muss mit dem Problem umgehen, was mit den Menschen geschieht, die nicht optimiert 24 werden können. Dies übernimmt z. B. die Psychiatrie. Das Lehrbuch der Psychiatrie von

Eugen Bleuler betrachtet das Wissensobjekt Psyche bzw. Erleben wie die Psychotechnik als kausal erklärbares Reiz-Reaktions-System. Dieses Objekt wird methodisch durch Beobachtungen innerhalb der psychiatrischen Institution sowie durch die Interpretation mündlicher und besonders schriftlicher Dokumente objektiviert und analysiert. Fallbe- richte werden dabei symptomatologisch verallgemeinert. Die Berufung auf die Autorität der Naturwissenschaften kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Affektforschung nur durch Sprache vermittelt möglich ist, des nach Ernst Kretschmers Medizinischer Psycholo- 25 gie „objektivsten und vollständigsten Dokuments des Gesamtseelenlebens“ (MP, 15). Aus- geblendet bleibt bei diesem Objektivitätspostulat die Tatsache, dass sprachliche Dokumente Interpretationen erfordern und die Deutungshoheit im psychiatrischen Kontext nur einem ganz bestimmten Wissenssubjekt zugesprochen wird: dem (männlichen) Psychiater.

Die Selektion von Fallberichten und die symptomatologische Verallgemeinerung ist Aufgabe einer Hermeneutik, die wie die Psychotechnik zusätzlich Mittel der Statistik heranzieht. Diese erlauben es auch zu bestimmen, welche Krankheiten im Normalfall welchen Geschlechtern zugeordnet werden können. Paranoia wird z. B. als männlich definiert, Schizophrenie eher als weiblich, und am männlichsten erscheint der für psy- chische Krankheiten als eminent wichtig angesehene Alkoholismus (LdP, 441). Mit Hannelore Bublitz kann als Gemeinsamkeit psychotechnischen und psychiatrischen

Wissens formuliert werden: „Biographische und wissenschaftliche ,Fälle‘ bilden den Anreiz zur Erfassung ihrer statistischen Häufigkeit; es entstehen statistische Erscheinungsformen geschlechtlicher Typen“, wobei der Begriff ,Typ‘, sofern er distinkte Entitäten bezeichnen soll, eigentlich in einem Konflikt zur statistischen Herangehensweise steht.26 Der statistische

24 Eugen Bleuler: Lehrbuch der Psychiatrie, Berlin 41923 (fortan zitiert: LdP). 25 Ernst Kretschmer: Medizinische Psychologie: ein Leitfaden für Studium und Praxis, Stuttgart 1922 (fortan zitiert: MP). 26 Hannelore Bublitz: Wahr-Zeichen des Geschlechts. Das Geschlecht als Ort diskursiver Technologien (2.8.2007). Zum Zusammenhang von festen moralischen Normen und flexiblen statistischen Normalitäten vgl. Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen 1997. In der Psychiatrie neigt Ernst Kretschmer eher zu Typenbildungen, vgl. auch Körperbau und Charakter. Unter- suchungen zum Konstitutionsproblem und zur Lehre von den Temperamenten, Berlin 1921. Psychotechnik, Psychiatrie und Männlichkeit in R. Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ 339

Zugang ermöglicht vielmehr gerade die Abgrenzung von der Bildung von Typen, etwa

„des Homosexuellen“ (LdP, 440 ff.). Die Kategorie des Durchschnitts bildet ein Kon- strukt von Normalität mit breiten Übergangszonen zum davon Abweichenden. So wird im LdP der vorübergehende Autismus als möglicher Normalzustand verstanden, der eine

Nähe zu Religion, Mythologie, Metaphysik und Poetik aufweisen soll (LdP, 34 ff.). Auch bei Kretschmer wird die Übergangszone zwischen Krankheit und Gesundheit hervor- 27 gehoben. Auf der anderen Seite wird in den Lehrbüchern betont, dass Symptome oft mehreren Krankheiten zugeordnet werden könnten. Eine Logik der Übergänge bestimmt sowohl die Definition von Krankheit überhaupt als auch die Diagnostik der einzelnen psychischen Krankheiten und ihre Zuordnung zu Geschlechtern. Die psychiatrische Hermeneutik der Symptome ist eng mit poetischen Kategorien verbunden. So werden als zentrale Symptome für die Schizophrenie die Neigung zu sprachlichen Verdichtungen und Verschiebungen angeführt (LdP, 286 ff.). Kretschmer expliziert diese Symptome direkt anhand erotisch gefärbter Lyrik und insbesondere expressionistischer Kunst. Krankheit wie Kunst zeichnen sich demnach durch eine Er- setzung kausalen Denkens durch „zauberhafte [. . .] Ausnahmezustände“ aus (MP, 70). Entscheidend ist, dass Schizophrene Symbole als kausal wirksame Realitäten auffassen. Wenn eine Frau „Angst vor hörnchenförmigen Suppeneinlagen zeigt“, so ist sie als verrückt anzusehen, weil sie wirklich Angst vor den Hörnchen hat, während jeder „gesunde Kulturmensch sagen würde: das Horn ist das Symbol der Männlichkeit, wo- bei das Konkretum Horn das Abstraktum Männlichkeit bedeutet“. Oder, jenseits der psychiatrischen Deutungskunst geschlechtlicher Symbole ausgedrückt: „Ein Schizo- phrener sieht wirklich Feuer und wird leibhaftig gebrannt“ (MP, 78). Wahnideen und Halluzinationen werden als weitere konstitutive Symptome der Schi- zophrenie wie auch der Paranoia bezeichnet. Sie sind angeblich oft erotisch codiert, beziehen sich besonders auf sexuelle Körperregionen und können gar zum imaginier- ten Geschlechtswechsel führen (LdP, 299). Ein weiteres Symptom ist der projektive

Verfolgungswahn, in dem das begehrte Objekt als Verfolger(in) halluziniert wird. Die angeblich der Schizophrenie verwandte Epilepsie soll dagegen die Bildung von Neolo- gismen und Tautologien befördern (LdP, 341, 62). „Die Grenzen der Begriffe und

Ideen verschwimmen“, der Epileptiker (LdP, 349 f.) hat Probleme mit Unterscheidun- gen: „Ein Eichhorn ,ist jetzt ein Hase und eine Katze oder ein Fuchs‘. Sogar in der Mathematik ist 16 + 16 ,so ungefähr 32 bis 34‘“ (LdP, 3420).28

27 „Die Psychologie der Neurosen ist die Psychologie des menschlichen Herzens“ (MP, 3), so Kretschmers poetische Definition (vgl. GdP, 16); dazu bereits von Büren (wie Anm. 14, S. 110 ff.). Die in den Lehrbüchern abgebildeten Photographien von angeblichen Krankheitstypen widersprechen allerdings der von Bleuler ansonsten postulierten Logik der Übergänge, insofern sie bestimmte körperliche Merkmale im statischen Bild festhalten und damit wie durch Bild typisierend festschreiben. Diese Frage kann hier nicht diskutiert werden. 28 Diese Stelle ist in der Musil-Literatur als fast wörtliche intertextuelle Beziehung des LdP zum MoE mehr- fach angeführt worden, zuerst m. W. von von Büren (wie Anm. 14, S. 121). Auch die psychiatrischen Lehrbücher verwenden poetische Mittel, die der Unschärfe von Begriffen z. B. durch metaphorische Defi- nitionen abhelfen sollen: So spricht Kretschmer von Trieben als Dampfmaschinen (MP, 111) und bezeich- net Gefühlsausbrüche als „Ventile“ (MP, 190), während Bleuler den zögernden schizophrenen Gedanken- gang mit dem Vergleich „wie wenn Harz in einer Maschine wäre“ belegt (LdP, 63o.). Maschinenmetaphern sorgen somit für die nötige naturwissenschaftliche Glaubwürdigkeit. 340 Florian Kappeler

VI. Das Verhältnis von Psychotechnik und MoE ist in der Forschung besonders anhand der Figur des Ulrich von Christoph Hoffmann ausführlich thematisiert worden – allerdings 29 nicht gendertheoretisch. Gerade Ulrich stellt den Paradefall einer Verbindung von

Psychotechnik und Männlichkeit dar. Wesentliche Beispiele hierfür sind die drei Ver- suche, ein bedeutender Mann zu werden (Kap. 9–11, 13) sowie die Utopie des Essayismus

(Kap. 61 f.). Bereits der erste dieser Versuche endet mit der Erkenntnis, dass der militärisch geprägte männliche Codex „des Herrentums, der Gewalt und des Stolzes“ (MoE, 36) in

Zeiten der Herrschaft von Bürokratie und Kapitalismus in Auflösung begriffen ist. So wechselt Ulrich „von der Kavallerie zur Technik“ (MoE, 36u.), einem Modell, das der kapitalistischen Rationalisierung und ihrem funktionalistischen Denken besser Rech- nung trägt.30 Zentral ist für ihn jedoch das psychotechnische Leitbild, „die Kühnheit [der] Gedanken statt [die] Maschinen auf sich selbst anzuwenden“ (MoE, 38, vgl. GdP, 5).

Sollte man einen großen Geist und einen Boxlandesmeister psychotechnisch analysieren, so

würden in der Tat ihre Schlauheit, ihr Mut, ihre Genauigkeit und Kombinatorik sowie die Geschwindigkeit der Reaktionen auf dem Gebiet, das ihnen wichtig ist, wahrscheinlich die gleichen sein (MoE, 45).

Andere oder sich selbst dermaßen zu objektivieren, dass Geschwindigkeit, Genauigkeit etc. zu Reflexen automatisiert werden, umschreibt präzise das psychotechnische Pro- gramm. Im Gegensatz zu älteren Männlichkeitsmodellen, die eher auf Würde und Tugend abzielten,31 ist dieses dem MoE zufolge zugleich konstitutiv für ein neues „Bild der Männlichkeit“ (MoE, 45). „Glatt rasiert, groß, durchgebildet und biegsam musku- lös“ (MoE, 93), zudem intellektuell brillant, ist die Ulrich-Figur die perfekte Verkörpe- rung des neuen, psychotechnisch angeleiteten Männlichkeitsideals. Dieses wird objek- tiviert, indem Ulrich „diesen Körper mit athletischen Übungen pflegte und ihm die

Gestalt, den Ausdruck, die Handlungsbereitschaft gab, deren Wirkung nach innen nicht zu gering ist“ und so „den Frauen eine gangbare Männlichkeit vorspiegelte“ (MoE,

285). Auf die gleiche Weise schult er seine intellektuellen Fähigkeiten. „Denn gerade in der Art, bei der man seinen Rekord [. . .] um einen Zentimeter [. . .] vermehrt, hatte er die Wissenschaft betrieben“ (MoE, 45u.). Ulrich ist somit die optimal geschulte psycho- technische Versuchsperson.

29 Zudem diskutiert Hoffmann psychotechnische Verfahren weitgehend im Kontext des Militärs. Es wäre vielleicht ergiebig, auch die Ökonomie, die Organisationssoziologie und Fragen des Wissensmanagements in den Blick zu nehmen; im Ansatz Kümmel (wie Anm. 1). 30 An dieser Stelle wird der Begriff ,Psychotechnik‘ zum ersten Mal zitiert und in einen Zusammenhang zu Männlichkeit gestellt. Die Psychotechnik „bilde[te] den Rahmen eines reizvollen zukünftigen Selbstbild- nisses, das einen Mann mit entschlossenen Zügen zeigte, der eine Shagpfeife zwischen den Zähnen hält, eine Sportmütze aufhat und in herrlichen Reitstiefeln zwischen Kapstadt und Kanada unterwegs ist, um gewal- tige Entwürfe für sein Geschäftshaus zu verwirklichen“ (MoE, 37 f.). Dieses Bild eines Mannes, der mit beiden Beinen im mobilen Kapitalismus steht, ist für Ulrich kein Vorbild, da die altmodische Kleidung für ihn anzeigt, dass dieser nur in beruflichen Fragen auf der Höhe der Zeit ist. 31 Der mit ihrer Betonung einer würdevollen Persönlichkeit, weniger aber bereits gelebter Ehrencodices im Roman Männer wie Tuzzi oder Leinsdorf entsprechen, der Erste eher in der bürgerlichen, Letzterer in der feudalen Variante, vgl. MoE, S. 89 f., 103 ff., 416 f. Zur Einheit von Körper und Geist in Männlichkeitskon- zepten Schmale (wie Anm. 3), S. 174. Psychotechnik, Psychiatrie und Männlichkeit in R. Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ 341

Der MoE reflektiert anhand von Ulrichs Selbstversuchen die geschichtliche Ergän- zung klassisch-patriarchaler Männlichkeit durch eine männliche „Praxis, die auf Fach- wissen oder technischem Know-how beruht“32 – was allerdings überhaupt nicht bedeu- tet, dass diese Männlichkeitskonzeption, wie sie inzwischen ihren Siegeszug zumindest in den Metropolen des sog. Westens angetreten hat, den Herrschaftscharakter von Männ- lichkeit überwindet. Die Vereinheitlichung von intellektuellen und physischen Fähig- keiten – im Fall Ulrichs: Körperkult, Wissenschaft und Leistungsorientierung – sind dabei für historische Männlichkeitsideale nichts Neues. Spezifisch für den MoE ist, dass dieses Modell nicht nur – wie zeittypisch – durch Sport,33 sondern durch Psychotechnik spezifiziert wird. Menschenoptimierung mittels (Selbst-) Beeinflussung menschlicher Re- flexe schafft „kalt[e] und klug[e]“ Männerseelen (MoE, 45), „muskuläre Reaktionsgebilde 34 ohne Gefühle“, so könnte man mit Klaus Theweleit sagen. Diese sollen mit einer „harten, nüchternen geistigen Kraft [. . .] eine Rasse geistiger Eroberer“ konstituieren (MoE, 46). Psychotechnik wird von Ulrich nicht nur auf sich selbst angewendet, sondern auch auf das Schreiben, das Leben und schließlich auf die Welt. Die Utopie bzw. das Experi- ment des exakten Lebens und schließlich des Essayismus sind dadurch gekennzeichnet, dass in ihnen die „Leistungsfähigkeit bis aufs Äußerste gesteigert ist“ und die Moral im Normalfall der „Normung von Bleistiften oder Schrauben“ gleicht (MoE, 246). Der „Mensch im Menschen“, der dieses sozialtechnologische Modell verkörpern soll, ist ein 35 Mann: Wissenschaftler, Techniker, Organisator, Ökonom, Sportler (MoE, 247), der sich ansonsten dadurch auszeichnen soll, mit Worten, Taten und Gefühlen zu kargen – eine Eigenschaft, die er zumindest bezüglich der Worte Münsterberg und Musil wie auch Ulrich voraus hat. „Bewußter menschlicher Essayismus [versucht den] fahrlässigen

Bewusstseinszustand der Welt in einen Willen zu verwandeln“ (MoE, 251) und ist damit zumindest Christoph Hoffmann zufolge nichts anderes als gesellschaftlich ange- wandte Psychotechnik.36

Der Essay – zu deutsch bekanntlich: Versuch – ist im MoE zugleich eine zentrale Darstellungsform von Psychotechnik wie Männlichkeit. Und auch Münsterbergs Grund- zügen der Psychotechnik sind Essay-Form wie programmatischer Gestus über weite Stre- cken eigen. Die Rolle des Essays als Darstellungstechnik kann hier nur angedeutet werden; Birgit Nübels Definition, der Essayismus in den Essays von Robert Musil sei zugleich „Methode der Darstellung“ und „Modus (selbst-)kritischer Reflexion“ etwa 37 von Wissen, scheint auf den MoE übertragbar zu sein. Zwar ist auch in den Essay als

32 Connell (wie Anm. 12), S. 214. 33 Kuzmics, Mozetic& (wie Anm. 14), S. 244 ff. 34 Theweleit (wie Anm. 12), S. 40. 35 Daneben wird auch die „Gehilfin in einem Krankenhaus“ erwähnt, die allerdings nur „Kot [. . .] verreibt“ (MoE, 251u.). 36 GdP, S. 189ff.; vgl. Hoffmann (wie Anm. 1), S. 261 f. 37 Birgit Nübel: Robert Musil. Essayismus als Selbstreflexion der Moderne, Berlin 2006, S. 1 ff. Eine poetische Technik solcher Reflexivität ist z. B. der gleitende Übergang zwischen Erzähler- und Figurenperspektive, vgl. Phillan Joung: Passion der Indifferenz: Essayismus und essayistisches Verfahren in Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“, Münster 1997, S. 93. Einen interessanten Vorschlag zu einer Untersuchung der Ge- schichte des Versuchs, die den Zusammenhang von Essay und Experiment in den Blick nimmt, macht Michael Gamper: Dichtung als ,Versuch‘. Literatur zwischen Experiment und Essay. In: Z. f. Germ. 3/2007, S. 593–611. 342 Florian Kappeler

poetische Form Männlichkeit eingeschrieben; seine Vorform, das „hypothetische Le- ben“, wird mit der Suche nach einer „mögliche[n] Geliebten“ verglichen und hält – wie Ulrich – Distanz zur Welt wie „ein Forscher Tatsachen gegenüber [. . .], die ihn verführen wollen“ (MoE, 250o.); das ungenannte männliche Subjekt begehrt und fürchtet 38 das Eindringen in sein mit Weiblichkeit assoziiertes Objekt. Der programmatische und männlich codierte Essayismus wird allerdings wiederum durch essayistische Re- flexionen relativiert: So sei er die „Stimmung [. . .] eines Zeitalters“ und „für das Ganze

[. . .] blind“ (MoE, 245). Auch die psychotechnische Prägung Ulrichs und das dazuge- hörige Männlichkeitsmodell werden zumindest historisiert (und vielleicht zugleich hyper- bolisch relativiert), wenn es heißt, sie hätten „wohl gewiß zeitlich [ihre] Berechtigung“ (MoE, 44u.). So ist der Essayismus zwar durch Psychotechnik und Männlichkeitsmo- delle bestimmt. Die Reflexivität und Offenheit des Essays als Form überschreiten und relativieren aber diese Prägung.

Solche Relativierungen betreffen auch die Frage der Anwendung psychotechni- schen Wissens. Anders als für Münsterberg ist es im MoE keineswegs selbstverständ- lich, sondern ein Problem, die Anforderungen der bestehenden Gesellschaft einfach zu übernehmen. Ohne ein vernünftiges Ziel ist psychotechnische Männerproduktion sinnlos

(MoE, 47). Schon autosuggestive Verfahren funktionieren nicht, wenn es beim psycho- technischen Objekt keine Vorstellung eines Ziels gibt. Und genau das ist bei Ulrich der

Fall. Gerade das, was Münsterbergs Psychotechnik erreichen will, die Anpassung von

Menschen an gesellschaftlich vorausgesetzte Anforderungen, gelingt bei ihm nicht. An- hand des psychotechnischen Objekts Ulrich stellt der MoE das Scheitern psychotech- nischer Praktiken dar. So wird deutlich, dass dessen psychotechnisch modellierter Kör- per und Geist keineswegs, wie es Münsterberg fordert, Reflexionen vollständig zu Reflexen werden lässt. Statt dessen fühlt sich Ulrich „in dem von ihm geschaffenen Körper nicht zu Hause“ (MoE, 286o.). Körpergestalt und Individualität, Habitus und

Handlung widersprechen sich. Zudem werden das psychotechnische Wissen und der Essayismus im zunehmend in Richtung weniger männlich codierter Sprachen über- schritten, etwa durch „Sätze, die ihn [Ulrich] mit einem Hauch von Geschwisterlichkeit ansprachen [. . .], die entgegengesetzt war dem befehlshaberischen Ton der mathemati- schen und wissenschaftlichen Sprache“ (MoE, 122). Solche Erlebnisse, die in der For- schung meist unter dem Schlagwort Anderer Zustand diskutiert wurden, können möglicherweise mit gestaltpsychologischem Wissen und gewiss mit Kretschmers Aus- nahmezuständen in Zusammenhang gebracht werden – jedoch sicher nicht mit Psycho- technik.39

38 Historisch sind seit den Anfängen europäischer Philosophie epistemologische Subjekt-Objekt-Relationen oft als sexuelle Beziehungen metaphorisiert worden, vgl. Keller (wie Anm. 12), S. 26. 39 Zu Gestaltpsychologie und AZ im Anschluss an Hoffmann (wie Anm. 1, S. 174 ff.) zusätzlich zu Kretsch- mer Renate von Heydebrand: Die Reflexionen Ulrichs in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigen- schaften, Münster 1966, S. 124 f. Vgl. auch Musils Exzerpte zu Kretschmer (wie Anm. 15), bes. Tgb II, 1101. Auffällig ist zudem, dass auch heterosexuelle Männlichkeitsnormen in diesem Zusammenhang fragwürdig werden, vgl. nur MoE, S. 123o., deutlicher noch S. 290u., 939o. Psychotechnik, Psychiatrie und Männlichkeit in R. Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ 343

VII. Im Kontext der essayistischen Reflexionen Ulrichs erscheint diesem „die riesige Gestalt Moosbruggers“ (MoE, 257), jener psychotechnisch nicht optimierbaren Figur, die den Normen des Wissens ebenso widerspricht wie denen der neuen Männlichkeit.

Christian Moosbrugger ist Insasse von Gefängnissen und psychiatrischen Anstalten. Wie bei Ulrich widerspricht seine Erscheinung seinen Handlungen. Das gutmütige, lächelnde Gesicht und die männliche Haltung – „breitbeinig und militärisch“ – sind für die bürgerliche Öffentlichkeit Elemente einer „redlichen Erscheinung“ (MoE, 68). Im

Kontrast zu dieser Zuschreibung steht jedoch die Tatsache, dass Moosbrugger einige 40 Frauen brutal ermordet hat. Der widersprüchlichen Wahrnehmung entspricht ein psychiatrisches Diagnoseproblem: „Er hatte als Paralytiker, Paranoiker, Epileptiker und zirkulär Irrer gegolten, ehe ihm [. . .] zwei besonders gewissenhafte Gerichtsärzte seine Gesundheit wieder zurückgaben“ (MoE, 243).

Moosbrugger lässt sich nicht eindeutig als Objekt psychiatrischen Wissens konstituie- ren. Er repräsentiert somit die statistisch grundierte Logik der Übergänge zwischen Krank- heit und Gesundheit im Allgemeinen sowie zwischen den einzelnen Krankheitsbildern im Speziellen. Der MoE überbietet diese gleitende Hermeneutik der Psychiatrie noch, indem sie überhaupt nicht mehr fähig erscheint, Symptome zu lesen. Die Konstituierung psychiatrischen Wissens wird anhand der Figur des Moosbrugger nicht nur veran- schaulicht, sondern auch problematisiert.41 Gleichwohl werden bestimmte Symptome aus dem Fundus psychiatrischen Wissens zitiert; Moosbrugger ist somit selbst ein Pro- dukt psychiatrischen Wissens. Geschlechtertheoretisch betrachtet sind dabei neben der unvermeidlichen Schizophrenie besonders die Symptomkomplexe Paranoia und Epi- lepsie von Relevanz.42

40 Anhand Moosbruggers wird im MoE das Problem der juristischen Zurechnungsfähigkeit verhandelt. We- der die Frage der (Nicht-)Identität von Körperbau und Charakter noch das juristische Problem können an dieser Stelle thematisiert werden. Dabei steht bezüglich des ersten Problems in Frage, ob in Zeiten statisti- schen Wissens noch sinnvoll Typen gebildet werden können. Der MoE scheint sich hier klar von Kretsch- mers Typenlehre abzugrenzen. Zum Problem der Zurechnungsfähigkeit im MoE vgl. Wolfgang Schäffner: Die Ordnung des Wahns: zur Poetologie psychiatrischen Wissens bei Alfred Döblin, München 1995, S. 144. Heinz Müller-Dietz (Moosbrugger, ein Mann mit Eigenschaften oder: Strafrecht und Psychiatrie in Musils „Mann ohne Eigenschaften“. In: H. Weber [Hrsg.]: Reale und fiktive Kriminalfälle als Gegenstand der Literatur, Berlin 2003, S. 121–144) betont die Anlehnung an ,reale‘ Fallgeschichten auch außerhalb psychiatrischer Lehrbücher bei der Konzeption der Figur des Moosbrugger. 41 Zur Logik der Übergänge Ekkehard Schreiter: Verkehr bei Robert Musil: Identität der Form und Formen der Identität im „Mann ohne Eigenschaften“, Opladen 1994; zur Konstituierung Moosbruggers als Wis- sensobjekt Meisel (wie Anm. 1), bes. S. 160 ff.; zur poetischen Gestaltung der Figur im Verhältnis zu psych- iatrischem Wissen von Büren (wie Anm. 14), bes. S. 121u. 42 Anklänge an Bleuler und Kretschmer finden sich zuhauf, so neben der allgegenwärtigen Schizophreniezita- te der bei ihnen als das zentrale Symptom männlicher Psychiatrisierter gehandelte Alkoholismus (vgl. bes. MoE, 73). Hier wird angedeutet, dass Moosbrugger den Mord in stark alkoholisiertem Zustand begangen hat sowie der sog. Wandertrieb hervorgehoben: Moosbrugger ist Wanderarbeiter. Stefan Howald betont das laut Bleuler epileptische Symptom der temporären „ Triebüberflutung“, vgl. ders.: Ästhetizismus und ästhe- tische Ideologiekritik. Untersuchungen zum Romanwerk Robert Musils, München 1984, S. 211. Daneben ist es wahrscheinlich nicht allzu kühn, bezüglich des projektiven Charakters der Paranoia Anleihen bei Freud zu unterstellen. Interessant ist zudem, dass die in den psychotechnischen, aber auch in den psychiatri- schen Texten sehr verbreiteten eugenischen Postulate im MoE kaum Erwähnung finden. 344 Florian Kappeler

So ist Moosbruggers Verhältnis zu Männern und Frauen durch geschlechtlich co- dierte Paranoia geprägt. Er fühlt sich durch die Frauen, die er verfolgt und mitunter tötet, seinerseits verfolgt. Zugleich gilt sein Hass jedoch den Männern: „Immer steckt ja hinter den Weibern der andere Mann, der einen verhöhnt. Überhaupt, kam sie ihm nicht wie ein verkleideter Mann vor?“ (MoE, 73). Die paranoiden Wahnideen führen 43 zur projizierten Geschlechter-Maskerade. Die gleichzeitige Auflösung von Unter- scheidungen, laut Bleuler ein Symptom der Epilepsie, betrifft auch den Geschlechtsun- terschied. Warum, so fragen die Psychiater, hasst Moosbrugger Frauen? „ Also konnte man antworten: Frauen sind Frauen und Männer.“ (MoE, 396) Sein Hass richtet sich auf die Frau wie auf den Mann, der sich seiner Wahnidee zufolge hinter ihr verbirgt, indem er sich als Frau verkleidet. Damit versucht Moosbrugger zugleich, der eigenen geschlechtlichen Uneindeutigkeit zu entkommen. Denn er verfügt zwar über „langsa- me männliche Bedächtigkeit“, ist aber erregbar, „wie es einer Frau geschieht, wenn ihr die Milch in den Brüsten steht“ (MoE, 240o.). In dieser Perspektive können seine

Morde als vergebliche Versuche der Rekonstituierung sog. normaler, heterosexueller Männlichkeit gelesen werden: Mit einem als phallisch beschriebenen Messer trennt

Moosbrugger die Frau wie den halluzinierten Transvestiten von sich ab, indem er sie real tötet (MoE, 74).

Die psychiatrische Wissenspraxis wird mittels innerer Monologe und erlebter Rede mit der Perspektive und Sprache des Wissensobjekts selbst konfrontiert. Davor versagt die Hermeneutik der Psychiater, da sie mit Begriffen, Kausalität und Unterscheidun- gen arbeitet, die in Moosbruggers Sprache, welche die Unterschiede von Symbol und Realität, zwischen Dingen, Begriffen und Geschlechtern auflöst, nicht existieren:

Hinter jedem Ding oder Geschöpf [. . .] ist ein Gummiband [. . .]. Sonst könnten ja auch am

Ende die Dinge durch einander hindurchgehen. [. . .] Diese Gummibänder waren nun mit

einemmal fort. [. . .] Das kann man wohl nicht so genau unterscheiden? „Zum Beispiel, Frauen halten ihre Strümpfe mit Gummibändern. Da hat man’s!“ (MoE, 395)

Die psychiatrische Fragetechnik (die ebenso in der Psychotechnik Verwendung findet) wird z. B. anhand des von Bleuler übernommenen Eichhörnchen-Beispiels desavouiert.

Wenn Moosbrugger das Bild eines Eichhörnchens gezeigt wird, so beschreibt er es als einen Fuchs, einen Hasen oder eine Katze. Das liegt nicht zuletzt daran, dass er die dialektalen Varianten „Baumfuchs“ und „Eichkatzl“ kennt (MoE, 240). Die psychiatri- sche Hermeneutik setzt linguistische Normen, die vor Sprachvarianten versagen. Die Unterscheidungen der Psychiatrie lösen sich damit genauso auf wie ihr Objekt. Moosbrugger erscheint nun selbst als „,ein Eichhörnchen, ein Hase oder ein Fuchs‘

[. . .], die genauere Unterscheidung hatte ihren Wert verloren“ (MoE, 532). Die Psychia- trie weiß nichts von ihrem Objekt Moosbrugger; doch sogar dieses weiß, dass die Sprechposition im Diskurs, „daß es der Besitz dieser Sprachen war, was den Herrschen-

43 Vgl. Claudia Benthien: Das Maskerade-Konzept in der psychoanalytischen und kulturwissenschaftlichen Theoriebildung. In: Dies., I. Stephan (Hrsg.): Männlichkeit als Maskerade. Kulturelle Inszenierungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln 2003, S. 36–60. Psychotechnik, Psychiatrie und Männlichkeit in R. Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ 345

den das Recht gab, über sein Schicksal zu ,befinden‘“ (MoE, 72o., vgl. 235u.). Auch wenn psychiatrisches Wissen genau wie das psychotechnische ein ziemlich erfolgloses soziales Konstrukt ist,44 verhindert das nicht seine realen und mitunter auch verge- schlechtlichenden Wirkungen in der gesellschaftlichen Praxis.

Der Staat musste sie [die Irren und Verbrecher] nähren, baden, kleiden [. . .]. Moosbrugger

genoss diese Achtsamkeit, wenn sie auch streng war, wie ein Kind, dem es gelungen ist, seine Mutter zu zwingen, sich zornig mit ihm zu beschäftigen (MoE, 236).

So infantilisieren Psychiatrie und Gefängnis ihr Objekt. Aus dem Paranoiker, der gegen

Frauen und halluzinierte Transgender-Männer erfolglos eine gewalttätige Form von Männlichkeit zu konstituieren versuchte, wird das geschlechtslose, von der als „Mutter“ metaphorisierten staatlich-institutionellen Macht abhängige Kind.

VIII. Moosbrugger wird von Ulrich als „Gleichnis der Ordnung“ bezeichnet (MoE, 45 653). Die poetische Form des Gleichnisses wird in einem Tagebucheintrag von Musil als ein für real gehaltenes Symbol beschrieben. In gleicher Weise definiert Kretschmer das schizophrene Symptom. So erscheint Moosbrugger als ein Bild der realen Ordnung

– etwa der des Wissens und des Geschlechts –, aufgrund einer poetischen Logik, die dem fragwürdigen Fundus psychiatrischen Wissens entspringt und somit die Grenze der Ordnung des Realen markiert. Wie in der psychiatrischen Logik der Übergänge diffundiert in der Poetik des MoE, was Ordnung, was irre, was real und was symbolisch ist. Ein Forschungsdesiderat ist es, dieser Problematik en detail nachzugehen und dabei die Facetten der Konstruktion psychiatrischer Wissensobjekte mit den poetischen Funk- 46 tionen der psychiatrischen Hermeneutik in Verbindung zu setzen. Ähnliches ließe sich über das Verhältnis von Essayismus und Psychotechnik sagen, die im MoE pro- grammatisch wie poetisch zusammenhängen. Wie verhält sich nun die diskursive und poetische Einschreibung von Geschlecht- lichkeit in psychiatrisches und psychotechnisches Wissen zur Geschlechterpoetik die- ses Wissens im MoE? Fordert die Psychotechnik ein nur implizit rekonstruierbares Männlichkeitsideal, so wird dieses expliziert, historisiert und reflexiv relativiert. Es wird hinsichtlich seines Zweckes sozial kontextualisiert, und am Beispiel Ulrichs wird sein Scheitern dargestellt: Der psychotechnisch trainierte männliche Körper ist gesellschaft- lich unnütz und strebt nach emotionaler Entgrenzung in Anderen Zuständen. Dieses Scheitern der psychotechnisch angeleiteten neuen Männlichkeit wird am Beispiel

Moosbruggers manifest: Die Gesellschaft ermöglicht es nur Angehörigen bestimmter

44 Vgl. MoE, S. 70 ff., 237; zur sozialen Konstruktion von Geisteskrankheiten auch Musil (wie Anm. 15) in Tgb II, S. 978: „ Aber was 1913 zur Geisteskrankheit wird, kann 13. . . [. . ., Auslassung im Original] eine bloße Exzentrizität gewesen sein. Gewisse Geisteskrankheiten sind (bzw. die Krankheitsbilder) nicht indivi- duelle, sondern auch soziale Erscheinungen“. 45 Musil (wie Anm. 15) Tgb II, S. 600. 46 Zur psychiatrischen Hermeneutik im Anschluss an Schäffner (wie Anm. 40), eher knapp Kümmel (wie Anm. 1), S. 286, ausführlicher ders. zum Verhältnis von Psychotechnik und Poetologie, S. 265 ff., Ansätze zur Poetik der Statistik bei Meisel (wie Anm. 1). 346 Florian Kappeler

Klassen, neue leistungsfähige Männlichkeitsmodelle hervorzubringen. Mit Ulrich, der sich – letztlich erfolglos – im psychotechnischen Selbstexperiment zum reinen Objekt zu machen und als neuer Mann zu optimieren versucht, korrespondiert Moosbrugger, den die Psychiatrie erfolglos zum Objekt machen will, dabei aber erfolgreich infantilisiert, wobei ihre begrifflichen Unterscheidungen genauso scheitern wie Moosbruggers ge- walttätiger Versuch, sich als Mann zu rekonstituieren.

Die Wissens- und Geschlechtertheoretikerin Donna Haraway hat gefordert, den diskursiven und soziohistorischen Kontext von Wissen – in ihren Begriffen: seine

Situierung – zum Teil von Wissensproduktionen selbst zu machen. Dies sei zu einer Überschreitung und Infragestellung von Grenzen und strengen Unterscheidungen von Wissensordnungen, dem queering, zuzuspitzen.47 Kann nicht die poetische Praxis des MoE als Element einer solchen Situierung begriffen werden? Performiert der Roman 48 zudem ein queering von Wissens- und Geschlechterordnungen? Und beansprucht der MoE zugleich, indem er nicht nur die Grenzen und Kontexte psychologischer Wissensproduktion aufzeigt, sondern selbst sogar das Innere psychiatrisierter Figuren darstellt, ein besseres Wissen über sie zu besitzen als die psychiatrische Praxis? Festzu- halten bleibt, dass es dem Roman durch seine spezifische Poetik zumindest gelingt, die unsichtbare Männlichkeit psychotechnischen und psychiatrischen Wissens lesbar zu machen.

Anschrift des Verfassers: Florian Kappeler, Sanderstr. 6, D–12047 Berlin

47 Donna Haraway: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt a. M. 1995, S. 84 ff.; dies.: Modest_ Witness@Second_Millennium. FemaleMan_Meets_ OncoMouse: Feminism and Technoscience, New York 1997, S. 36, 267 f., vgl. im Ansatz bereits Sandra Harding: Das Geschlecht des Wissens. Frauen denken die Wissenschaft neu, Frankfurt a. M. 1994, S. 158 ff. 48 Martens (wie Anm. 2, S. 157 f.) tendiert dagegen zur These, zumindest die „Naturalisierung von Frauen“ im MoE falle hinter dessen „um Flexibilität und Kontextabhängigkeit kreisende[s]“ epistemologisches Pro- gramm zurück. 347

LEVKE HARDERS

* Wissens- und Geschlechterordnung in den American Studies

Der in die US A emigrierte Germanist Werner Richter stellte kurz nach Kriegsende fest: „Die geistige Krise hat nicht nur die deutsche Literaturforschung erfaßt. Das unter

Führung des Anglisten Norman Foerster geschriebene Buch Literary Scholarship setzt mit der Feststellung ein, die gegenwärtige Lage der amerikanischen Literaturwissen- 1 schaft befriedige keineswegs.“ Der Amerikanist Leo Marx spricht gar von der „chronic identity crisis“ seines Faches.2 Disziplingeschichtsschreibung erscheint auf beiden Sei- ten des Atlantiks als Krisenphänomen, währenddessen die Sinnfragen Wer sind wir?

Was leisten wir? Wie arbeiten wir? fortwährend neu gestellt und beantwortet werden

(sollen). Trotz der ungleichen politisch-gesellschaftlichen Situation in den 1940er Jah- ren weist die Selbstbeschäftigung der American Studies in den US A und der Germa- nistik3 im deutschsprachigen Raum aufschlussreiche Parallelen auf. Beide Fächer dis- kutierten ihre Theorieansätze, ihre Methoden, ihren Kanon und insbesondere den gesellschaftlichen „Beitrag der Literaturwissenschaft zu unserer Zeit“.4

Die zeitgenössischen Texte zur disziplinären (Re-)Definition der Germanistik und der American Studies dienten der Abgrenzung ihres Forschungsgebietes. Sie verweisen implizit aber auch auf die Interdependenzen von Disziplin/ierung und Geschlecht. Zum einen birgt der Diskurs symbolische Repräsentation von Geschlecht im Rahmen der fachlichen Imaginationen von ,Nationalkultur‘ und im disziplinären Selbstverständnis; zum anderen wirken diese Repräsentationen auf die Geschlechterordnung der Diszi- 5 plinen selbst zurück: Wissensproduktion und -reproduktion haben (ein) Geschlecht. Diese Zusammenhänge werden besonders durch die Leerstellen in der Disziplinge- schichte und ihrer Historiographie deutlich, so auch im Textkorpus zur Geschichte der

* Dieser Beitrag geht aus dem Forschungsprojekt Geschlecht – Disziplin – Geschichte: Akademikerinnen in der Germanistik und den American Studies hervor, das im Rahmen des DFG-Schwerpunktprogramms Wissen- schaft, Politik und Gesellschaft von 2004–2007 gefördert wurde. Ich danke Rüdiger vom Bruch, Gregor Ohlerich und Dorit Schneider für ihre Anregungen. 1 Werner Richter: Strömungen und Stimmungen in den Literaturwissenschaften von heute. In: Germanic Review 21 (1946), H. 2, S. 81–113, hier S. 81. Norman Foerster gehörte zu den einflussreichen Amerikanis- ten und gab mit Kollegen den erwähnten Sammelband heraus: ders. u. a. (Hrsg.): Literary Scholarship, its Aims and Methods, Chapel Hill 1941. 2 Leo Marx: Believing in America: An Intellectual Project and a National Ideal. In: Boston Review 28 (2003), H. 6; (13.3.2007). 3 Ich benutze den Begriff ,Germanistik‘ als Bezeichnung für die Gebiete deutsche Philologie, Literatur- und Sprachwissenschaften, Literaturgeschichte, Dichtungswissenschaft u. ä. m. Gerade in der Nachkriegszeit wird über diese Teilfächer und ihre Abgrenzungen intensiv diskutiert. 4 So der Titel eines germanistischen Selbstverständigungstextes von Paul Böckmann: Der Beitrag der Litera- turwissenschaft zu unserer Zeit. In: Die Sammlung 7 (1952), S. 180–191. 5 Vgl. für die Germanistik Walter Erhart: The Gender of Philology. A Genealogy of Germanistik. In: M. Kauko, S. Mieszkowski, A. Tischel (Hrsg.): Gendered Academia. Wissenschaft und Geschlechterdiffe- renz 1890–1945, Göttingen 2005, S. 41–64. 348 Levke Harders

American Studies.6 Neben einigen wenigen fachgeschichtlichen Studien7 bestehen die disziplinhistorischen Beiträge hauptsächlich aus autobiographischen und häufig apolo- getischen Essays der Protagonisten. Die Erinnerungen an die Disziplin-Werdung und -ausdifferenzierung des eigenen Faches zeichnen meist folgendes Bild: „The Roots“8 lägen in der frühen US-amerikanischen Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhun- derts. „The Birth“ des Faches sei dann im American Studies Movement zu sehen, das in den 1920er Jahren interdisziplinäre Forschungen forderte und publizierte, v. a. aus den Bereichen Literatur- und Geschichtswissenschaft. Mit den ersten Studiengängen be- gann sich die Disziplin zu institutionalisieren, sie wuchs heran („Growth“). Mündig seien die American Studies während des Zweiten Weltkrieges geworden; mit den 1950er Jahren beginne ihre eigentliche Karriere. In diesem Entwicklungsroman kommen Frauen nicht vor, sondern die selbst ernannten Gründungsväter schreiben eine patrilineare Erfolgsgeschichte.9

Wie die Germanistik und andere Nationalphilologien sehen sich die American Studies an eine bestimmte sprachliche und geographische Identität gebunden, so dass der Bezug auf die „national culture of the United States“10 zentrales Element des disziplinären

Diskurses ist. Die Definition des Faches sowie die Konstruktion ,des Amerikanisten‘, die zwischen den 1930er und 1950er Jahren von eminenter Bedeutung für die Disziplinge- nese ist, stehen dabei im Zusammenhang mit der markanten Abwesenheit von Frauen, die sich auch in den Quellenbeständen widerspiegelt.11 Der vorliegende Beitrag skizziert am Beispiel der Repräsentation des scholars in American Studies die Entstehung und

Verfestigung einer epistemologischen Ordnung, in die Geschlecht eingeschrieben ist.

I. Tremaine McDowell, der Initiator des einflussreichen Studiengangs an der University of Minnesota, definierte die American Studies 1948 als „a program directed toward the ultimate goals of charting, evaluating, and perpetuating the pattern [. . .] of action, thought,

6 Die Frage, ob die American Studies eine akademische Disziplin sind oder sein sollen, beschäftigt die Fachvertreter(innen) bis heute. Vgl. u. a. Murray G. Murphey: American Civilization As A Discipline? In: American Studies 40 (1999), H. 2, S. 5–21; Roy Harvey Pearce: American Studies as a Discipline. In: College English 18 (1957) H. 4, S. 179–186. 7 Vgl. David R. Shumway: Creating American Civilization. A Genealogy of American Literature as an Academic Discipline, Minneapolis, London 1994; Kermit Vanderbilt: American Literature and the Academy: The Roots, Growth, and Maturity of a Profession, Philadelphia 1986. 8 Dieser und die folgenden Begriffe beziehen sich auf die Metaphern von Josephine M. Ober: History of the American Studies Association. MA thesis, Bryn Mawr 1971; Vanderbilt (wie Anm. 7). 9 Für die Germanistik wies Walter Erhart auf die „Bedeutung der Zeugungs- und Geburtsmetaphorik als eines Ehrenachweises literaturwissenschaftlicher Tätigkeit“ hin; vgl. ders.: Der Germanist, die Dichtung und die „nicht mehr zeugungsfähigen Mächte“. Wissenschaftshistorische Anmerkungen zum paternalen Selbstwertgefühl der deutschen Literaturwissenschaft. In: Ch. Begemann, D. E. Wellbery (Hrsg.): Kunst – Zeugung – Geburt. Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit, Freiburg i. Br. 2002, S. 353–379, hier S. 378. 10 Richard H. Shyrock u. a.: American Studies: A Statement by the Committee on American Civilization of the American Council of Learned Societies. In: American Quarterly 2 (1950), H. 3, S. 286–288, hier S. 286. 11 Die universitären Bestände zu Akademikerinnen sind oft dürftig, so am Brooklyn College oder an der University of Minnesota. In den Beständen der American Studies Association gibt es bis in die frühen 1970er Jahre kaum Hinweise auf Amerikanistinnen. Nachlässe bedeutender Amerikanistinnen fehlen größtenteils. Wissens- und Geschlechterordnung in den American Studies 349 and imagination in the United States“.12 Die Entstehung des Faches wird unterschied- lich festgesetzt: Josephine Ober siedelt „ The Birth of American Studies“ um die Jahr- 13 hundertwende an, Kermit Vanderbilt nennt das Jahr 1917 mit der Publikation des 14 ersten Bandes der Cambridge History of American Literature, Robert Spiller das Jahr

1921 mit der Gründung der American Literature Group in der Modern Language 15 Association. Von anderen Fachvertreter(inne)n werden die sozialen und kulturellen 16 Kämpfe der 1930er Jahre als Ursprung stilisiert. Die American Studies bemühten sich – wie diese Datierungen zeigen – schon früh um die diskursive Fixierung eines markanten Ausgangspunktes.

Unbestritten ging mit dem Ende des Ersten Weltkrieges ein neues Interesse an US- amerikanischer Geschichte und Kultur einher. In den 1930er Jahren konnte sich das

American Studies Movement, wie es seitens der Akteur(inn)e genannt wurde, einerseits innerwissenschaftlich durch die Popularisierung eines anthropologischen Kulturkon- zepts, andererseits gesellschaftlich-öffentlich durch die (Kultur-)Politik des New Deal festigen. Mit der Ablehnung totalitärer Systeme wurden die vorhandenen Tendenzen zunehmend ideologisch untermauert: Die ersten Programme in den American Studies wurden, so George Taylor 1957, gestärkt „by the rapid growth of totalitarianism abroad and the appearance in American society itself of elements sympathetic to either Nazism or Communism“.17 Neben Schwerpunktkursen über US-amerikanische Literatur und Geschichte, die nun an vielen Hochschulen angeboten wurden, eröffneten in den spä- ten 1930er Jahren die ersten Studiengänge unter der Bezeichnung American Civilization, u. a. an den Universitäten George Washington (Washington, DC), Western Reserve (Cleveland, Ohio), Harvard (Cambridge, Massachusetts) und der University of Pennsylvania (in Philadelphia). Die neuen Kurse und Studienabschlüsse erfreuten sich bald großer Beliebtheit bei den Studierenden: Die einführenden Überblickskurse wur- den in den späten 1930er Jahren von durchschnittlich 150 Studierenden besucht;18 im Jahr 1946 sollten 245 Studierende einen Masterabschluss und 88 einen Doktortitel in amerikanischer Literatur erwerben.19

12 „[. . .] ein Programm, das auf das Entwerfen, Auswerten und Bewahren [. . .] der Handlungs-, Denk- und Vorstellungsmuster in den Vereinigten Staaten abzielt.“ Tremaine McDowell: American Studies, Minneapolis 1948, S. 34. 13 Ober (wie Anm. 8), S. 1 f. 14 Vanderbilt (wie Anm. 7), S. 3. 15 Robert E. Spiller: Those Early Days. A Personal Memoir. In: R. E. Spiller (Hrsg.): The Oblique Light, New York 1968, S. 257–267, hier S. 257. 16 George Lipsitz: American Studies in a Moment of Danger, Minneapolis, London 2001, S. XIV; Elaine Tyler May: The Radical Roots of American Studies: Presidential Address to the American Studies Association, November 9, 1995. In: American Quarterly 48 (1996), H. 2, S. 179–200, hier S. 180. 17 „[. . .] durch das schnelle Wachstum des Totalitarismus im Ausland sowie innerhalb der amerikanischen Gesellschaft durch das Auftreten von Elementen, die entweder dem Nazismus oder dem Kommunismus gegenüber wohlgesinnt waren.“ George R. Taylor: Undergraduate Programs in American Studies. In: South Atlantic Bulletin 23 (1957), H. 1, S. 1–4, hier S. 1. 18 John T. Flanagan: American Literature in American Colleges. In: College English 1 (1940), H. 6, S. 513 bis 519, hier S. 518. 19 William G. Crane: American Literature in the College Curriculum, Chicago 1948, S. 31. 350 Levke Harders

Der Zweite Weltkrieg brachte einen weiteren wesentlichen Impuls zum Auf- und

Ausbau des Faches. Außerdem stand die Entwicklung der American Studies in den

1940er und frühen 1950er Jahren im Zusammenhang mit dem Ausbau der area studies und der general education als Reaktion auf die zunehmende Spezialisierung der geistes- wissenschaftlichen Fächer. Eine wichtige Rolle für die Fachentwicklung spielte weiterhin die Ausdifferenzierung der Hochschullandschaft durch den Aufbau der research universities, die Zunahme an Forschungsförderung und die erstmalige Möglichkeit einer Hoch- schulbildung für weite Teile der Bevölkerung (insbesondere für Kriegsveteranen).

Der Historiker Philip Gleason benennt mehrere Auswirkungen der Kriegs- und direkten Nachkriegszeit auf die Fachgeschichte: Mit der Abgrenzung zum National- sozialismus, so die zeitgenössische Meinung, ging die Verteidigung der Demokratie und der westlichen Zivilisation einher. Es gab im Land eine breite Übereinstimmung darüber, dass die US A bestimmte Werte und Ideen vertreten würden und sich dieser 20 Nationalcharakter in der Kultur widerspiegele. Wie Spiller 1960 schrieb, sollte der

Nationalcharakter und seine Manifestationen in Ideen(-geschichte), Artefakten und Institutionen erforscht werden.21 Mit diesem auf die Nation bezogenen Kulturbegriff ging innerdisziplinär die Ausgrenzung von bestimmten ethnischen und konfessionel- 22 len Gruppen sowie von Frauen einher (vgl. Abschnitt II).

Die Geschlechterordnung des Faches stand in engem Zusammenhang mit Verände- rungen der US-amerikanischen Hochschullandschaft ab den 1930er Jahren. Bis zum

Zweiten Weltkrieg unterschied sich die gesellschaftliche Geltung von Wissenschaft und Lehre in den US A erheblich von der der angesehenen deutschen Universitäten.

Struktur und Organisation des Hochschulwesens in den US A führten zu einem diver- sifizierten System akademischer Ausbildung, das Frauen nicht nur als Studentinnen zuließ, sondern auch zu akademischen Berufen qualifizierte. So machten Frauen bis in die 1940er Jahre fast ein Drittel des Lehrpersonals an den Hochschulen aus, während dieser Anteil in den 1920er Jahren im Deutschen Reich nur rund ein Prozent betrug.

Allerdings war der Großteil der Akademikerinnen in den US A an Colleges oder staat- lichen Hochschulen beschäftigt, weil Frauen an den meisten privaten (und angesehe- nen) Universitäten weder studieren noch lehren durften.23 Da aber die ersten und renommiertesten American Studies-Programme häufig an eben diesen Universitäten gegründet wurden, waren Amerikanistinnen an der Disziplingenese zwar beteiligt, aber weder überregional sichtbar noch in der fachhistorischen Erinnerung präsent. Das 1945 eröffnete Programm an der staatlichen und koedukativen University of Minnesota ist daher eine wichtige Ausnahme, nahm es doch bis in die 1960er Jahre hinein eine

20 Philip Gleason: World War II and the Development of American Studies. In: American Quarterly 36 (1984), H. 3, S. 343–358, hier S. 351 ff. 21 Robert E. Spiller: American Studies, Past, Present, and Future. In: J. J. Kwiat, M. C. Turpie (Hrsg.): Studies in American Culture: Dominant Ideas and Images, Minneapolis 1960, S. 207–220, hier S. 214. 22 Es gab in den ersten Jahrzehnten nur wenige schwarze, jüdische und katholische Amerikanisten in den USA; vgl. dazu auch Shumway (wie Anm. 7), S. 9. 23 Der Großteil der privaten Universitäten ließ erst nach dem Zweiten Weltkrieg Studentinnen zu; die Uni- versitäten Princeton, Yale, Harvard, Columbia ab Ende der 1960er Jahre. In geringer Zahl haben Frauen an diesen Institutionen vor der formalen Zulassung promoviert und gelehrt. Wissens- und Geschlechterordnung in den American Studies 351

zentrale Stellung innerhalb der American Studies ein und wurde zudem über Jahr- zehnte hinweg von Mary C. Turpie geprägt, eine der wenigen bekannten Amerikanis- tinnen in der frühen Fachgeschichte.

Meine Datenauswertung ergab, dass viele Amerikanistinnen nicht direkt im wissen- schaftlichen, sondern im pädagogischen Bereich arbeiteten, d. h. an Museen, Bibliothe- ken, lokalen Geschichtsvereinen oder als Lehrerinnen an Schulen und Pädagogischen 24 Hochschulen (teachers’ colleges). Von denjenigen Amerikanistinnen, die an den Uni- versitäten im engeren Sinne lehrten, waren die meisten an Colleges beschäftigt. Staat- liche Hochschulen und Frauencolleges waren die nächstwichtigen Arbeitgeber; nur eine geringe Zahl war an privaten Universitäten angestellt. Geographisch arbeitete der ganz überwiegende Teil der Amerikanistinnen an der Ostküste, einige außerdem im

Mittleren Westen, wenige in den südlichen Bundesstaaten, eine Handvoll an der West- küste. Diese imaginäre Landkarte dokumentiert, dass bis in die 1960er Jahre hinein

Einrichtungen an der Westküste und im Süden weder als Arbeitgeber von Akademi- kerinnen noch für das Fach American Studies eine größere Rolle spielten.

Nachdem die USA aus dem Zweiten Weltkrieg als Weltmacht hervorgegangen wa- ren und sich die American Studies im In- und Ausland schnell verbreiteten, befand sich das Fach in einer Situation der disziplinären Ausdifferenzierung und Professiona- lisierung. In der direkten Nachkriegszeit wurden einflussreiche Werke der American Studies publiziert25 sowie neue Studiengänge und Studienprogramme in den USA, Asien und Europa eröffnet. Das Fach präsentierte sich 1948 mit der mehrbändigen

Literary History of the United States sowie mit den ausführlichen Beschreibungen American 26 27 Studies und American Literature and the College Curriculum . Diese Schwungkraft eines beschleunigten Disziplinierungsprozesses führte 1951 zur Gründung des Fachverban- des American Studies Association (AS A). 1949 wurde an der University of Minnesota die Zeitschrift American Quarterly begründet, die ab 1951 als Publikationsorgan der ASA von der University of Pennsylvania herausgegeben wurde. Gleichzeitig erhielten einzelne Programme, Forschungsvorhaben und nicht zuletzt die AS A selbst erhebliche finanzielle Förderungen.

II. Der Wissenschaftshistoriker Hubert Laitko beschreibt die Disziplinen als „langfris- tig stabile Segmentierungen in der Wissenschaft, die über die Ausbildung von Rän- dern zu fremddisziplinären und außerwissenschaftlichen Milieus ihre Selbstidentität 28 definieren und erhalten“. Dieser Aspekt ist in Zeiten der Disziplingenese sowie in

24 Aus zeitgenössischer Fachliteratur, Dissertationsverzeichnissen, Memoiren und Nachrufen sowie universitä- ren Quellen habe ich bisher 300 Amerikanistinnen erfasst, die zwischen den 1920er und 1960er Jahren tätig waren, wovon ich für 200 recherchieren konnte, dass sie unterrichteten, publizierten oder auf andere Weise beruflich mit den American Studies verbunden waren. 25 Vgl. u. a. Howard Mumford Jones: The Theory of American Literature, Ithaca 1948; Henry Nash Smith: Virgin Land. The American West as Symbol and Myth, Cambridge 1950. 26 McDowell (wie Anm. 12). 27 Crane (wie Anm. 19). 28 Hubert Laitko: Diziplingeschichte und Disziplinverständnis. In: V. Peckhaus, Ch. Thiel (Hrsg.): Disziplinen im Kontext. Perspektiven der Disziplingeschichtsschreibung, München 1999, S. 21–60, hier S. 31. 352 Levke Harders krisenhaften Situationen von besonderer Bedeutung, denn um die disziplinäre Perma- nenz zu sichern, muss sich der eigene Erkenntnisgegenstand von anderen unterschei- den. Allerdings: „Der Gegenstandsbezug einer Disziplin existiert nur als aktive Erkennt- 29 nisintention ihrer Akteure, also durch ihr disziplinäres Selbstbewußtsein [. . .].“ Teil und gleichzeitig Voraussetzung dieses Selbstbewusstseins sind Texte über das eigene Forschungsgebiet. Germanistische Beiträge zur Disziplinbegründung im 19. und ihrer Entwicklung im 20. Jahrhundert sind bereits vielfach interpretiert.30 Georg Bollenbeck hat für die Ger- manistik eine „besondere Resonanzbedürftigkeit“ ausgemacht, d. h. das Fach sah sich vor und nach dem Nationalsozialismus delegitimiert und reagierte deshalb auf die po- litischen Systemwechsel besonders empfindlich.31 Der semantische Umbau der Ger- manistik wird deutlich in den an „Redeweisen ablesbare[n] Strategien“, die die wissen- schaftliche Praxis bestimmen und die sowohl wissenschaftsintern als auch -extern 32 ausgerichtet sind. Diese Redeweisen beinhalten Handlungsbewusstsein, Theorien,

Methoden und Themenwahl des Faches und verweisen auf „veränderte Forschungs- und Resonanzbedingungen“.33 Ähnlich wie für die Germanistik in Deutschland vor und nach 1945 lässt sich dies für das Fach American Studies in den US A konstatieren, dessen Disziplingenese mit relevanten hochschul- und gesellschaftspolitischen Verän- derungen zusammenfällt. In den American Studies dominierte bis zum Ende der 1940er

Jahre v. a. Überblicksliteratur zu neueren Forschungsarbeiten und zu den Angeboten in 34 der Lehre. Zunehmend begannen sich Amerikanisten jedoch auch mit Fragen der genaueren inhaltlichen Ausgestaltung des Faches und seiner Methode zu beschäftigen.

Hierbei werden die American Studies als quasi natürliches Ergebnis einer endlich ent- deckten Nationalkultur propagiert. Auf politisch-gesellschaftlicher Ebene sollte zum einen die Bedeutung der eigenen Kultur in Abgrenzung zur vorherrschenden Rezep- tion europäischer, insbesondere britischer, hervorgehoben werden:

Politically this country ceased to be an English colony over a century and a half ago, but you

never could tell that from an American university catalogue. [. . .] The only solution is to start

an American department. Once it exists, the deed will be done. Students will awaken to the

existence of an American culture. Men of ability will specialize in phases of it, just as they specialize in Shakespeare now.35

29 Ebenda, S. 36 f. 30 Vgl. Petra Boden, Holger Dainat (Hrsg.): Atta Troll tanzt noch. Selbstbesichtigungen der literaturwissen- schaftlichen Germanistik im 20. Jahrhundert, Berlin 1997; Pier Carlo Bontempelli: Knowledge, Power, and Discipline: German Studies and National Identity, Minneapolis 2004; Jürgen Fohrmann, Wilhelm Voßkamp (Hrsg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart, Weimar 1994. 31 Georg Bollenbeck: Das neue Interesse an der Wissenschaftshistoriographie und das Forschungsprojekt „se- mantischer Umbau der Geisteswissenschaften“. In: G. Bollenbeck, C. Knobloch (Hrsg.): Semantischer Um- bau der Geisteswissenschaften nach 1933 und 1945, Heidelberg 2001, S. 9–40, hier S. 15. 32 Ebenda, S. 16. 33 Ebenda. 34 Es befindet sich keine Autorin unter der Vielzahl der zwischen den 1930er und 1960er Jahren publizierten Texte über das Fach American Studies. 35 „Auf politischer Ebene hörte dieses Land vor mehr als eineinhalb Jahrhunderten auf, eine englische Kolonie zu sein. Dies konnte man jedoch einem amerikanischen Universitätsverzeichnis nicht entnehmen. [. . .] Die Wissens- und Geschlechterordnung in den American Studies 353

Zum anderen kamen viele Amerikanisten aus der Anglistik und mussten auch inner- halb ihres Faches für Anerkennung werben. Nicht nur das Forschungsobjekt musste sich als würdig erweisen, sondern auch die Forschungsarbeit selbst. In diesem Diskurs ging es ganz wesentlich darum, die American Studies gegenüber anderen Disziplinen abzugrenzen, als ein ernstzunehmendes wissenschaftliches Arbeitsgebiet zu etablieren und den scholar in American Studies zu konstituieren. Die Konstruktion des Amerikanis- ten beinhaltete zugleich die Ausgrenzung des Anderen, spezifisch des Weiblichen. Er- nest E. Leisy, früher Protagonist und Chronist der American Studies-Bewegung, be- schrieb das Fach 1940 mit aufschlussreichen Analogien:

American literature has proved to be the last big bonanza of literary scholarship. The harvest is ripe, and the workers are not few. Until recently the student of our literature was without honor, not alone abroad, but in his own country. His field lay fallow while scholars threshed the 36 thinning straw of the eighteenth century [. . .].

In den USA sei bisher v. a. sentimentale Literatur wahrgenommen worden und diese Haltung

[. . .] extended to our scholars, who spoke sneeringly of the ,kind of person who undertakes

research in American literature.‘ Obtuse as this condescension was, I do not complain of it. It 37 was helpful. It made us careful. And it gave us the thrill of pioneers working in a new area.

Leisy verknüpft drei wichtige Figuren der US-amerikanischen Geschichte mit American Studies: Goldgräber, Pioniere der frontier, Landwirte. Die Metaphorik, in denen sich die Disziplin hier artikuliert, hat auf drei Ebenen epistemologische Funktionen. Erstens dient sie nationalen Vorstellungen und Repräsentationen: „Within fields like American studies, the nation-state has served as the logical – and seemingly inevitable – object of inquiry. Even within the state, physical places have taken center stage as sites of struggle

– the frontier, the farm, the factory, and the city. In American studies, this approach emerged in part because of the centrality of the national landscape to the national

einzige Lösung ist, eine amerikanische Abteilung einzurichten. Sobald diese besteht, wird die [entscheiden- de] Tat getan sein. Studenten werden sich dem Vorhandensein amerikanischer Kultur bewusst werden. Fähige Männer werden sich auf Epochen [amerikanischer Kultur] spezialisieren, genauso, wie sie sich jetzt auf Shakespeare spezialisieren.“ Leonard Koester: Where is the American Department? Courses in Natio- nal and Regional Cultures Are Missing from American College Curriculums. In: Journal of Higher Education 11 (1940), H. 3, S. 135–137, hier S. 135. 36 „ Amerikanische Literatur hat sich als die letzte große Goldgrube der Literaturwissenschaft erwiesen. Die Ernte ist reif, und der Arbeiter sind es nicht wenige. Bis vor kurzem wurde der Forscher unserer Literatur nicht anerkannt, nicht nur im Ausland, sondern auch in seiner eigenen Heimat. Sein Land lag brach, wäh- rend Gelehrte das dünner werdende Stroh des achtzehnten Jahrhunderts droschen [. . .].“ Ernest E. Leisy: The Significance of Recent Scholarship in American Literature. In: College English 2 (1940), H. 2, S. 115 bis 124, hier S. 115. 37 „[. . .] dehnte sich auf unsere Gelehrten aus, die spöttisch von der , Art von Person sprachen, die amerikanische Literatur erforscht’. Wie geistlos diese Herablassung auch war, beschwere ich mich ich nicht darüber. Sie war nützlich. Sie machte uns vorsichtig. Und sie verhalf uns zum Nervenkitzel von Pionieren, die in einem neuen Bereich arbeiten.“ Ebenda, S. 116. 354 Levke Harders imagination.“38 Zweitens wird das Fach in Zusammenhang mit der – aus dieser Per- spektive – erfolgreichen europäischen Besiedlung des Kontinents gesetzt. Der Verweis auf den Mythos des Grenzlandes als zentrale US-amerikanische Erfahrung von Freiheit konstruiert die American Studies nicht nur als Ergebnis, sondern auch als Teil dieses ,Zivilisierungsprozesses‘. Mit dieser Strategie wird das entstehende Fach sowohl inner- halb der universitären Wissenschaften als auch in und für die Gesellschaft legitimiert. Drittens handelt es sich bei den aufgerufenen Stereotypen um männliche Berufsrollen, die sich über körperliche und produktive Tätigkeiten definieren sowie als Pioniere und Landwirte das Land ,kultivieren‘. Gleichzeitig grenzt Leisy das Fach von der englischen Literaturwissenschaft ab und mokiert sich über diejenigen Kollegen, die den American Studies mit Herablassung begegnen, aber selbst nur abgedroschene (threshed) Themen wiederholen würden. Im Gegensatz dazu werde die US-amerikanische Kultur von ,echten Männern‘ erforscht, von Pionieren und Goldgräbern, die Neues entdeckten, wie es ein Jahrzehnt später auch Arthur E. Bestor beschreibt: „To the study of American civilization we can bring the minds of antiquarians and annalists, or we can bring the disciplined imagination of men who can see in a blade of grass chemistry and biology and poetry, and in the 39 smallest human event sociology and ethics and history.“ Amerikanisten, so der Tenor, forschen innovativ und über die Disziplingrenzen hinaus, sind dabei aber gleichzeitig disziplinierte Arbeiter, die Brachland fruchtbar machen (Leisy). Getragen werden sie von der Begeisterung für das eigene Fach: „That they have an enthusiasm for things American is obvious but this is of the sort that any specialist feels for his own field.“40 Es gehe nicht um die Glorifizierung, sondern um die Erforschung amerikanischer

Kultur. Die Wissenschaftler dieses Feldes seien, im Gegensatz zu den Antiquaren und

Chronisten in ihren Elfenbeintürmen, fest in allen Zeitformen verankert. Die American

Studies, so Tremaine McDowell, beziehen sich nämlich immer auf die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft.41 Der Beitrag des Faches zu seiner Zeit, wie es Böckmann fast zeitgleich für die Germanistik formulierte, läge in den gesellschaftspo- litischen Aufgaben der American Studies. Daher könne der Amerikanist „remain a

38 „Der Nationalstaat diente in Bereichen wie American Studies als der logische – und scheinbar unvermeid- liche – Forschungsgegenstand. Sogar innerhalb des Staates standen materielle Orte – das Grenzland, der Bauernhof, die Fabrik und die Stadt – als Kampfplätze im Mittelpunkt. Dieser Ansatz bildete sich in American Studies auch wegen der zentralen Bedeutung der nationalen Landschaft für die nationale Phan- tasie heraus.“ Lipsitz (wie Anm. 16), S. 4. 39 „Wir können die amerikanische Zivilisation im Geiste von Antiquaren und Chronisten untersuchen oder mit der disziplinierten Vorstellungskraft von Männern, die in einem Grashalm Chemie und Biologie und Poesie sowie in der kleinsten menschlichen Begebenheit Soziologie und Ethik und Geschichte erkennen können.“ Arthur E. Bestor, Jr.: The Study of American Civilization: Jingoism or Scholarship? In: The William and Mary Quarterly 9 (1952), H. 1, S. 3–9, hier S. 9. Die Verwendung von men ist an dieser Stelle besonders aussagekräftig, weil Bestor im Hinblick auf die Studierenden von men and women spricht. 40 „Dass sie sich für Amerikanisches begeistern, liegt auf der Hand. Aber dieser Enthusiasmus ist von der Art, die jeder Fachgelehrte für sein eigenes Feld empfindet.“ Richard H. Shyrock: The Nature and Implications of Programs in American Civilization. In: American Heritage 3 (1949), H. 2, S. 36–43, hier S. 37. 41 McDowell (wie Anm. 12), S. 2. Wissens- und Geschlechterordnung in den American Studies 355

42 citizen while he is a scholar“. Als Staatsbürger würden sich Amerikanisten an der demokratischen Erziehung beteiligen, indem sie „balancing education in facts with 43 education in values“. Die Parallelisierung des Amerikanisten mit dem Staatsbürger verweist ferner auf die (historische) Trennung von öffentlicher und privater Sphäre als konstitutiv für das Geschlechterverhältnis, so dass diese Konstruktion der Disziplin und 44 ihrer Akteure Frauen auf symbolischer Ebene aus der Wissensproduktion ausschließt.

Ein Amerikanist sei, so die Protagonisten des American Studies Movement, ein begeisterter Spezialist für US-amerikanische Kultur – als solcher wird sein Platz in der Wissenschaft behauptet. Durch die interdisziplinäre Herangehensweise und das neu abzusteckende Themengebiet leisteten Amerikanisten innovative Pionierarbeit, was die

Institutionalisierung als akademische Disziplin legitimiert. Als engagierter Staatsbürger beteilige sich der scholar in American Studies innerhalb der Nation an der demokratischen

Erziehung der Studierenden und zugleich an der Abwehr totalitärer Systeme nach außen. In diesem Diskurs sind verschiedene Strategien der Disziplingenese komplex miteinander verworben, geht es doch sowohl um die Abgrenzung gegenüber anderen Fächern als auch um die Professionalisierung der Disziplin. American Studies (re-)produzierten in diesen disziplinären Prozessen strukturelle und epistemologische Hierarchien:

The constitution of American literature as a field served the interests of particular factions

within the profession and those of the dominant class, race, and gender within American

society. As a result, class, race, and gender bias were structural to the object the discipline 45 constituted in the 1920s, and remained so as the object was reconstituted after World War II.

III. Es wird deutlich, dass in dem Jahrzehnt des Zweiten Weltkrieges und beginnenden

Kalten Krieges Amerikanisten als men of ability (Koester) ausschließlich als fähige Wis- senschaftler männlichen Geschlechts (und weißer Hautfarbe) imaginiert wurden.46 Dieses

Idealbild stimmte mit der Vorstellung des Wissenschaftlers als rationaler, männlicher Gelehrter überein, wie sie in westlichen Ländern seit der Neuzeit konzipiert wurde.

Das Spezifische ,des Amerikanisten‘ ist darüber hinaus die symbolische Verknüpfung des Faches mit einer immer wieder betonten Nationalkultur.

42 Ebenda, S. 32. 43 Ebenda, S. 28. 44 Gleichzeitig grenzt die philosophisch-politische Definition des Staatsbürgers einer Nation bestimmte eth- nische Gruppen aus, wie z. B. in den Kämpfen um die für die USA so grundlegende Doktrin all men are created equal sichtbar wurde; vgl. dazu auch Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London, New York 2006; Ann McClintock: „No Longer in a Future Heaven“: Nationalism, Gender, and Race. In: G. Eley, R. G. Suny (Hrsg.): Becoming National. A Reader, New York, Oxford 1996, S. 260–284. 45 „Die Beschaffenheit des [Forschungs-]Gebietes amerikanische Literatur diente den Interessen bestimmter Fraktionen innerhalb der Berufsgruppe und denen der herrschenden Klasse, Rasse und des herrschenden Geschlechts innerhalb der amerikanischen Gesellschaft. Folglich strukturierten klassen-, rassen- und ge- schlechtsspezifische Einseitigkeiten den Gegenstand der Disziplin, als sie diesen in den zwanziger Jahren festlegte. Diese Voreingenommenheit blieb strukturierend, als der Forschungsgegenstand nach dem Zwei- ten Weltkrieg wieder hergestellt wurde.“ Shumway (wie Anm. 7), S. 9. 46 Vgl. Erika Greber: Theoretische Grundüberlegungen zur Wissenschaftsgeschichtsschreibung und -forschung unter der Perspektive der Geschlechterdifferenz. In: M. Kauko u. a. (wie Anm. 5), S. 11–40. 356 Levke Harders

Die beschriebene Wissen(schaft)sordnung der American Studies formte die inner- disziplinäre Geschlechterordnung. Akademikerinnen partizipierten zwar frühzeitig an 47 den American Studies, indem sie an den neuen Fachzeitschriften mitwirkten und Kurse unterrichteten. In diesem Rahmen spielten sie eine gewichtige Rolle für die Institutionalisierung, indem sie, zusammen mit ihren Kollegen, beharrlich versuchten, die American Studies neben der Anglistik und Geschichtswissenschaft als Schwerpunkt 48 oder Studiengang an ihrer jeweiligen Hochschule zu etablieren. Als (Hochschul-)

Lehrerinnen waren Amerikanistinnen somit wie ihre Kollegen in der ,nationalen‘ Er- ziehung aktiv. Wie Ute Planert für das Deutsche Reich dokumentierte, wurde Frauen in dieser Funktion durchaus Bedeutung als nationale Kulturträgerinnen zugewiesen.49

Trotz des großen Anteils von Frauen in den American Studies sind sie jedoch weder an der Definition noch am Kanon zentraler Werke des Faches beteiligt. Neben dem diskutierten disziplinären Selbstverständnis führten v. a. die diskriminierende Zulas- sungspolitik der privaten Universitäten, die geringeren Aufstiegschancen von Akade- mikerinnen mit den damit einhergehenden knapperen finanziellen und symbolischen Ressourcen und nicht zuletzt das ungleiche Prestige von Forschung und Lehre dazu, dass Amerikanistinnen in diesem Diskurs keinen Ort zum Sprechen fanden. Die Kri- senwahrnehmung der Literaturwissenschaften um die Mitte des 20. Jahrhunderts machte die Stabilisierung des eigenen Faches umso dringlicher. Die American Studies bedien- ten sich dabei mehrerer Strategien, nicht zuletzt einer politischen Legitimierung: „At two points, then, American Studies can contribute largely to the creation of the world order: first, through exploration and exposition of this unique American pattern of region, nation, world and, second, through the education of America for critical self- knowledge.“50 Durch die Definition des Forschungsgegenstands und seines ,Erforschers‘ sicherten die American Studies ihre Stellung in der Gesellschaft sowie im wissenschaft- lichen Feld und realisierten zugleich eine geschlechtsspezifische Ordnung des disziplinären Wissens und seiner Produktion.

Anschrift der Verfasserin: Levke Harders, Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Geschichtswissenschaften, Unter den Linden 6, D–10099 Berlin

47 Mary E. Cunningham z. B. begründete 1947 American Heritage, aber ab 1949 gab Earle Newton - schrift heraus und ab 1951 wurde Cunningham nicht mehr als associate editor genannt. Ich vermute, dass mit dem Erfolg und der Professionalisierung der Zeitschrift die American Association for State and Local History, die American Heritage veröffentlichte, eine national einflussreiche Publikation nicht von einer Herausgeberin geleitet sehen wollte. 48 Am Brooklyn College wurden schon in den 1930er Jahren Kurse zur US-amerikanischen Literatur unter- richtet, u. a. von Louie M. Miner. Die American Studies wurden 1941 ein eigenständiger Bereich innerhalb des English Departments im Brooklyn College. 49 Ute Planert: Vater Staat und Mutter Germania: Zur Politisierung des weiblichen Geschlechts im 19. und 20. Jahrhundert. In: Dies. (Hrsg.): Nation, Politik und Geschlecht. Frauenbewegungen und Nationalismus in der Moderne, Frankfurt a. M. 2000, S. 15–65, hier S. 31; Charlotte Tacke: Nation und Geschlechtscharakte- re. In: Frauen und Geschichte Baden-Württemberg (Hrsg.): Frauen und Nation, Tübingen 1996, S. 35–48. 50 „An zwei Punkten also können die American Studies in hohem Maße zur Schaffung der Weltordnung beitragen: Erstens durch die Erforschung und Darstellung dieses einmaligen amerikanischen Modells der Region, Nation, Welt und zweitens durch die Erziehung Amerikas zur kritischen Selbsterkenntnis.“ McDowell (wie Anm. 12), S. 93. 357

ULRIKE AUGA Sexuelle Rechte und Menschenrechte. Probleme der interkulturellen Debatte

I. Falsche Frage: Universalität der Menschenrechte oder Recht auf kulturelle Differenz? Als der berühmte Menschenrechtsanwalt und Leiter der Wahrheits- und Versöhnungskommis- sion Südafrikas Bischof Desmond Tutu 1998 in den US A nach der Ungerechtigkeit gefragt wurde, die er am schnellsten abschaffen wolle, erwiderte er: „Darf ich zwei Ungerechtigkeiten nennen?“ Zum einen rief er erwartungsgemäß dazu auf, den Entwick- lungsländern ihre Schulden zu erlassen. Mit dem zweiten Teil der Antwort hatten die

Zuhörenden jedoch nicht gerechnet: Tutu forderte nicht nur das Ende der Diskriminie- rung von sexuellen Minderheiten, die er als ebenso ungerecht wie die Apartheid bezeich- nete, sondern kennzeichnete sexuelle Orientierung als Grundrecht: „Sexual orientation is just like race. People do not decide to be gay any more than they decide to be black or 1 white. For me it’s a matter of human rights [. . .].“ Mit dieser Aussage stellt sich Tutu in Spannung zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die sexuelle Rechte bisher nicht 2 als fundamentales Menschenrecht anerkannt hat. Außerdem widerspricht er der in weiten Teilen der Welt geltenden Rechtspraxis, die sexuelle Minderheiten nicht nur benachteiligt, sondern auch kriminalisiert. Amnesty International weist seit Jahren da- rauf hin, dass Homosexualität häufig mit Illegalität, Haftstrafen und sogar der Todes- strafe belegt ist.3 Menschenrechtsdefinitionen sind allerdings umstritten. Sie werden zunächst als „in- dividuell“, „angeboren“, „unverlierbar“, „vorstaatlich“, „rechtlich vorrangig“, „mora- lisch“, „egalitär“, „fundamental“ und „universal“ gekennzeichnet. Die Entwicklung der Menschenrechte verläuft jedoch international sehr ungleichmäßig. Einige Staaten be- sitzen keinen angemessenen Grundrechtschutz, während andere darüber diskutieren, welche neuen Rechte als Menschenrechte anerkannt werden sollen. Es zeigt sich, dass das menschenrechtliche Modell Individuum – Nationalstaat im Zuge der Globalisie- rung stärker auf Verhältnisse zwischen Individuum und neuen Gemeinschaften bzw. Bewegungen sowie der Individuen untereinander reagieren muss. Gleichzeitig erstar- ken nationalistische und rassistische, fundamentalistische und religiöse Bewegungen, die die proklamierte gleiche Menschenwürde ablehnen.4

1 Desmond Tutu: Desmond Tutu. Queer Planet. E-Mail Network, 17.11.1998. 2 Vgl. Vereinte Nationen: Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Vereinte Nationen, Genf 10.12.1948. Die Benutzung des Begriffes ,sexuelle Rechte‘ ist umstritten. In fast allen Streitfällen steht eine unter- schiedliche Auffassung des Gegenstandes der Sexualität im Hintergrund. Auf den ersten Blick geht es im „westlichen“ und europäischen Kontext um Fragen der sexuellen Orientierung und Inszenierung, während in der so genannten Dritten Welt Gesundheitsprobleme im Vordergrund stehen. Bei genauerem Hinsehen überschneiden sich die Probleme. 3 Vgl. Amnesty International (Hrsg.): Breaking the Silence. Human Rights Violations on Sexual Orientation. Amnesty International, London 1997. 4 Vgl. Peter K. Fritzsche: Menschenrechte, Paderborn 2004, S. 39–41. Die Anerkennung eines Rechts als funda- mental und die Aufnahme eines neuen Rechts als Menschenrecht, ist ein konfliktreicher politischer Prozess. 358 Ulrike Auga

Die Bilanz fehlender Rechte ist erschreckend und hat einen Boom an Menschen- rechtsforderungen ausgelöst. Dennoch plädiere ich im Folgenden nicht für eine Erwei- terung des Rechtskatalogs, sondern vielmehr dafür, die Widersprüchlichkeit des Rechts angemessen zu berücksichtigen.

Ich möchte folgende These aufstellen: Erst wenn die Fundamente des Demokratie- defizits der Menschenrechte offen gelegt sind, die über eine historische und konstrukti- vistische Dimension hinausgreifen, scheint eine „interkulturelle“ Verständigung mög- lich zu sein. Die Funktionsweise des Rechts, das auf Ausschluss und Naturalisierung von „Identitäten“ basiert, muss einer Kritik unterzogen werden. Die Durchsetzung der Menschenrechte sowie die Erweiterung ihres Grundrechtskatalogs reichen für die Schaf- fung einer demokratischen, emanzipierten und solidarischen (Welt-)Gesellschaft nicht aus. Es kann jedoch gefragt werden, ob der Rechtsdiskurs nicht doch auch ein radikales gesellschaftliches Imaginäres enthält, welches unabdingbar für die (Selbst-)Imagination einer libertären, demokratischen Gesellschaft ist. Darüber hinaus ist zu prüfen, ob ein geöffneter Universalitätsgedanke zu einer Schnittstelle der Verständigung werden kann.

II. Hegemonien und Menschenrechte. Die Menschenrechte basieren auf dem Rechtsverständnis des traditionellen Verfassungsstaats mit repräsentativer Demokratie, dessen Begrenzthei- ten in Bezug auf das „reale Demokratiepotential“ bereits beschrieben wurden.5 Es basiert

– vereinfacht gesprochen – auf der Vorstellung von individuellen Rechten des Einzelnen. Dieses liberale Rechtsverständnis verteidigt das Subjekt gegen den Staat. Es unterstellt, dass mittels des Rechtes Gerechtigkeit für alle Rechtssubjekte geschaffen werden kann, eine gleichsam „universale Emanzipation“, die eine Illusion bleibt. Das Subjekt wird in dieser Vorstellung als autonom und vernünftig angesehen und ist mit Grundrechten ausgestattet, die universal gültig sind. Diese Vorstellung impliziert eine vor-etablierte, a- historische und a-kontextuelle Universalität, von der angenommen wird, dass sie zum rationalen Merkmal des Menschen gehört. Die Annahme ist, dass das Universale dem Partikularen vorgeordnet ist und zwischen beiden eine logische Unvereinbarkeit herrscht.6

Diese liberale Verortung von Subjekt, Recht und Universalität wurde verschiedentlich kritisiert. In der interkulturellen Debatte erregt besonders der Geltungsanspruch der

Menschenrechte als universal Anstoß. Der Universalitätsanspruch würde postulieren, dass es einen traditions- und kulturunabhängigen Kern schutzwürdiger Werte gäbe. Dagegen stehen die Stimmen der Partikularist(inn)en, die die Menschenrechte ledig- lich als Konzept westlicher Werte ansehen, welches mit anderen Moralvorstellungen und kollektivistischen Anschauungen nicht vereinbar wäre. Es scheint ein Dilemma zwischen der beanspruchten Universalität der Menschenrechte und dem Recht auf kulturelle Differenz zu geben.7 Eine andere Richtung der Kritik unterstreicht einen

Hierfür haben sich anerkannte Verfahren in ausdifferenzierten Institutionen, z. B. die Menschenrechtskommis- sion, herausgebildet. Vgl. David P. Forseythe: The Internationalization of Human Rights, Lexington 1991, S. 1. 5 Vgl. Claude Lefort: The Political Forms of Modern Society. Bureaucracy, Democracy, Totalitarianism, Cam- bridge. Mass. 1986. 6 Vgl. Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a. M. 1996. 7 Vgl. Renata Salecl: Universalismus und kulturelle Differenz. In: Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften 234.1 (2000), S. 33–38. Sexuelle Rechte und Menschenrechte 359

(sprachlich) konstruierten Subjektcharakter und die Schaffung des Subjekts durch das Recht.8

Andererseits wird die Vorstellung der Subjektformation durch disziplinierende Mächte unterstrichen. Ausgangspunkt der Betrachtung ist die ungleiche Gesellschaft. Es wird angenommen, dass politische Ordnungen durch Ausschlüsse konstituiert werden. Zur

Verschleierung der hegemonialen Verhältnisse würde der liberale Verfassungsstaat einen

Trick anwenden. Ein spezifischer Mechanismus des Ausschlusses stellt das Universale als leeren formalen Oberbegriff dar. Dieses Generische ist jedoch das, was das Dominante privilegiert. Das liberale Recht könne keine Gerechtigkeit schaffen, weil es von einem autonomen Subjekt und a-kontextueller Universalität ausgehe. Ernesto Laclau unterstreicht:

Eine Theorie der Hegemonie ist nicht eine neutrale Beschreibung dessen, was in der Welt geschieht, sondern eine Beschreibung, wessen Bedingung der Möglichkeit von einem norma-

tiven Element regiert wird, und zwar von Anfang an, welches Begreifen von „Fakten“ es auch immer geben könnte.9 Bereits in der viel beachteten Schrift Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes Hegemonie und Sozialistische Strategie geht es nicht nur um eine Korrektur der liberalen, sondern auch der marxistischen Zugänge. Sie unterstreichen deren letztlich totalitären Charak- ter und universalen Anspruch, der sich aus ihren Prämissen – Staatsgläubigkeit, Öko- nomismus, Privilegierung von Revolution und Arbeiterklasse – ergeben hätte. Ziel sei eine plurale radikale freiheitliche Demokratie, die die Fehler der liberalen Demokra- tie – nämlich Glaube an das völlig autonome Subjekt und Marktselbstregulierung wie

Nachteile des bürokratischen, totalisierenden Sozialismus – überwindet. Weder die kon- krete idealisierte Vorstellung der traditionellen Linken noch das fehlende gesellschaft- liche Projekt der Liberalen seien hilfreich.10 Für ein radikal demokratisches Projekt und zur Vermeidung totalitärer Tendenzen sei daher ein radikales gesellschaftliches Imaginäres unerlässlich, ein gleichsam poetischer Überschuss, der gewalttätige Struktu- 11 ren durch Ausschluss konstituierender Gemeinschaftlichkeit übersteigt. Schließlich meldet sich eine Kritik an der Kritik, die die Vorstellung der radikalen Demokratie bewahrt, aber dem Universalitätsgedanken wieder eine zentrale Rolle einräumen will.12 Wie im Folgenden gezeigt werden kann, existieren diese vereinfacht dargestellten

Zugänge zum Rechtsverständnis heute in den Diskussionen um die Aufnahme sexuel- ler Rechte in den Menschenrechtskatalog nebeneinander und in Mischformen. Es wird in dieser Untersuchung nicht vordergründig um den Begriff der Sexualität gehen. Es soll vielmehr anhand von drei verschiedenen Perspektiven auf sexuelle Rechte disku- tiert werden, welchen emanzipatorischen Wert die Menschenrechte besitzen. Zunächst möchte ich jedoch die Begriffsgeschichte der sexuellen Rechte skizzieren.

8 Vgl. Catherine A. MacKinnon: Toward a Feminist Theory of the State, Cambridge, Harvard 1989. 9 Judith Butler, Ernesto Laclau, Slavoj Z&iz&ek: Contingency, Hegemony, Universality, London 2000, S. 80. 10 Vgl. Ernesto Laclau, Chantal Mouffe: Hegemony & Socialist Strategy. Towards a Radical Democratic Poli- tics, London, New York 1985. Hier liegt die Einführung des Hegemoniebegriffs bei Antonio Gramsci zu Grunde, der das Verhältnis Basis – Überbau durch Staat, Apparate und Zivilgesellschaft ersetzt. Laclau und Mouffe ersetzen den Kampf der Arbeiterklasse durch die Pluralität der unterdrückten Bewegungen. 11 Zentral ist ein Begriff der Gleichwertigkeit, der Gleichheit mit Autonomie verbindet. & 12 Vgl. Butler, Laclau, Ziz&ek (wie Anm. 9). 360 Ulrike Auga

III. Sexuelle Rechte. Rosalind Petchesky erklärt, dass der Terminus der sexuellen Rechte „the newest kid on the block“ sei – also „das jüngste Kind in den internationalen De- batten über die Bedeutung und Praxis von Menschenrechten“, das als neue Kategorie in den Menschenrechtskatalog aufgenommen werden will.13 Dass die Menschenrechts- dokumente nichts über sexuelle Rechte im engeren Sinne aussagen, ist erstaunlich, denn der Kampf für einige dieser Rechte besitzt eine lange internationale Geschichte.

Viele frühe Feministinnen und Sexualwissenschaftler verstanden seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts sexuelle Rechte als politische Rechte und wollten Reformen durch- setzen. Beispielsweise wurde 1911 in Dresden der Internationale Bund für Mutterschutz und Sexualreform gegründet, der die volle Gleichberechtigung unehelicher Kinder, die

Abschaffung der Diskriminierung gegen ihre Mütter, Ehereformen und sexuelle Auf- klärung in öffentlichen Schulen forderte. Seit 1897 war das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee tätig, die weltweit erste Organisation für die Rechte der Homosexuellen, deren jeweilige Vorstände Helene Stöcker und Magnus Hirschfeld zu engen Verbündeten wurden. Hirschfeld bahnte der Eheberatung den Weg und Stöcker setzte sich mit ihm 14 gegen die Ausweitung des § 175 auf Frauen ein. Die Weltliga für Sozialreform – 1928 gegründet – wartete mit einer Magna Charta der sexuellen Grundrechte auf. Rudolf Gold- scheid entwarf 1930/31 die Deklaration der Sexuellen und Generativen Grundrechte. Im 15 Zuge des Triumphes der Nazis in Europa wurde die Arbeit jedoch unmöglich.

Ungeachtet theoretischer und aktivistischer Hegemoniekritik setzten der Völker- bund wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte christliche Moralvorstellungen weltweit durch. Das geschah auf dem Wege der Beitrittsbedingungen, der Zustimmung zu bestimmten Protokollen und der Einführung westlich ausgerichteter Sexualstrafge- setze.16 Bereits 1951 wurde explizit die Menschenrechtserklärung von dem Rechtsphi- losophen René Guyon in seiner Schrift Human Rights and the Denial of Sexual Freedom scharf attackiert. Er bemängelte das Fehlen der Schutzwürdigkeit und die Diskriminie- rung ethischer und politischer Gruppen, die nicht unter die Moralvorstellungen der Puritaner fielen, denn deren oppressiver Moralvorstellung würde universaler Charakter zugesprochen. Guyon forderte erfolglos die Einführung verantwortlicher sexueller Frei- heit als „positives Prinzip“ in die Menschenrechte.17

Ein Wendepunkt ereignete sich 1993 mit der Weltkonferenz für Menschenrechte in Wien. Davor erwähnte keines der relevanten internationalen Menschenrechtsinstrumente „Sexualität“ bzw. „sexuelle Rechte“. Sexuelles Leben wurde als in die private Sphäre gehörend ausgeblendet und nur implizit innerhalb des Rahmens der heterosexuellen

13 Rosalind P. Petchesky: Sexual Rights. Inventing a Concept, Mapping an International Practice. In: R. Parker, R. M. Barbosa, P. Aggleton (Hrsg.): Framing the Sexual Subject. The Politics of Gender, Sexuality, and Power, Berkeley u. a. 2000, S. 81–103. 14 Vgl. Erwin J. Haeberle: Human Rights and Sexual Rights. The Legacy of René Guyon. In: Medcine and Law 2 (1983), S. 159–172. 15 Ebenda. 16 Ebenda. 17 Vgl. René Guyon: Human Rights and the Denial of Sexual Freedom, hrsg. v. Kinsey-Instutute, self-publish- ed, Bangkok 1951; René Guyon: La Société des Nations aux mains des Puritains (unv. Ms.), Bloomington. In: Kinsey-Institute, Indiana University, Kopie Magnus-Hirschfeld-Archiv, Berlin 1940. Sexuelle Rechte und Menschenrechte 361

Ehe und Reproduktion vorgestellt.18 Die entstandene Deklaration der Eliminierung der

Gewalt gegen Frauen wurde auch von der Vollversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet. Sie war wichtig, weil sie die Anerkennung sexueller Gewalt als Menschen- rechtsverletzung erreichte und den Begriff „Sexualität“ in die Menschenrechtssprache einführte.19 Auf der Internationalen Konferenz für Bevölkerung und Entwicklung in Kairo von 1994 wurden erstmals Sexualität und sexuelle Gesundheit nicht mehr nur in Bezug auf ihre Verletzung, sondern positiv gefasst. Beispielsweise übernimmt die Definition der

Weltgesundheitsorganisation sexuelle Gesundheit als Teil der reproduktiven Gesundheit. Die Deklaration beschreibt Sexual Health als: „the enhancement of life and personal relations, and not merely counselling and care related to reproduction and sexually transmitted diseases“ (§ 7.1). Das Aktionsprogramm der Kairo-Konferenz war das erste internationale Dokument, das „reproduktive Rechte“ und „sexuelle Gesundheit“ aufnahm, die von Hilfsprogrammen geschützt werden sollten. Sexuelle Gesundheit konnte nun in ein internationales Dokument gelangen, weil die Konsequenzen von HIV/AIDS besonders in der Sub-Sahara Region in Afrika unübersehbar geworden waren. Diskriminierung auf der Basis sexueller Orientierung wird zwar nicht erwähnt, aber die Formulierungen richten sich auch nicht ausschließlich an heterosexuelle Eheleute. Insgesamt erreichte das 20 Kairo-Dokument eine erstaunliche Anerkennung von affirmativer Sexualität.

In Vorbereitung auf die Vierte Weltfrauenkonferenz, die 1995 in Peking stattfand, initiierte der Vatikan, unterstützt von einer fundamentalistischen multi-religiösen Basis, eine Kampagne. In dieser wurde die Forderung „reproduktiver und sexueller Rechte“ durch eine Verbindung zu Pädophilie, Prostitution sowie Inzest und Ehebruch dis- kreditiert. Gegen diese Entwicklung wendete sich eine Petition, die von tausenden Frauen aus über 60 Ländern unterzeichnet wurde. Sie forderte: „the right to determine one’s sexual identity; the right to control one’s own body [. . .] and the right to choose if, when, and with whom to bear or raise children as fundamental components of the 21 human rights of all women regardless of sexual orientation“. Die Aktionsplattform

18 Vgl. R. Cook: Human Rights and Reproductive Self-Determination. American University Law Review 44 (1995), S. 975–1475; R. Copelan, B. E. Hernandez: Sexual and Reproductive Rights and Health as Human Rights. Concepts and Strategies. In: New York: International Women’s Human Rights Law Clinic, City University of New York 1994. 19 Eine starke Frauenrechtslobby hatte dazu aufgerufen, auf Geschlecht basierende Gewalt, sexuelle Übergriffe und Ausbeutung, inklusive Frauenhandel, systematische Vergewaltigung, sexuelle Sklaverei und erzwunge- ne Schwangerschaft (§ 18, 38) zu eliminieren. Rechtswissenschaftlerinnen beriefen sich auf Prinzipien des internationalen Menschenrechts wie das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person (Menschen- rechtsdeklaration Art. 3, Europäische Konvention der Menschenrechte, Art. 2; die Unverletzlichkeit der Person und der physischen und mentalen Integrität [ African Charter on Human and People’s Rights, Art. 4, 6] American Convention on HR, Art. 5) zur Freiheit von Folter. Vgl. Cook (wie Anm. 18), S. 975–1475. 20 Vgl. Y. Tambiah: Sexuality and Human Rights. From Basic Needs to Basic Rights. Women’s Claim to Human Rights. In: M. A. Schuler (Hrsg.): Woman, Law, and Development International, Washington, DC 1995, S. 369–390. 21 Vgl. Catholics for a Free Choice. The Vatican and the Fourth World Conference on Women. Washington, DC 1995; Vatikan: Evangelium Vitae. Pope’s Letter. A Sinister World Has Led to ‘Crimes against Life’. New York Times, 1995, S. 31–33, A12– A13. 362 Ulrike Auga

der Vierten Weltfrauenkonferenz in Peking konnte sich nach langwierigen Auseinan- dersetzungen nicht auf die Übernahme des Inhaltes der Petition einigen. Trotz sozialer, religiöser und kultureller Vorbehalte gegen „sexuelle Orientierung“ konnte der Begriff mit der Peking-Konferenz zentral werden, weil viele nicht-europäische Gruppen die Sprachregelung unterstützten. Der Gebrauch des Begriffes der „sexuellen Rechte“ entfachte aber auch unter den pro-Rechts-Einführungs-Gruppen heftigen Streit. Zugrunde lag eine unterschiedliche Auffassung des Gegenstandes der Sexualität vor: Ging es im „westlichen“ Kontext schein- bar um Fragen der sexuellen Orientierung, erschienen in der so genannten ,Dritten

Welt‘ Gesundheitsprobleme (HIV/AIDS, Genitalverstümmelung, Virginale Tests) rele- vanter.22 Entsprechend konnte sich der Begriff der sexuellen Rechte nicht durchsetzen.

Die Vierte Weltfrauenkonferenz stimmte lediglich darin überein, dass Menschenrechte das Recht der Frau einschließen, über ihre eigene Sexualität zu bestimmen. In § 96 heißt es: „ The human rights of women include their right to have control over and decide freely and responsibly on matters related to their sexuality, including sexual and 23 reproductive health [. . .]“. Frauen wurden als sexuelle Personen anerkannt, der Be- griff „sexuelle Rechte“ der anfänglichen Diskussion wurde durch „Menschenrechte“ ersetzt. Schließlich sei noch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union von 2000 erwähnt, die zwar die Diskriminierung wegen der „sexuellen Ausrichtung“ verbietet, jedoch nicht einmal von allen EU Mitgliedsländern anerkannt wird (§ 21.1).24

Aus diesen Ausführungen ergibt sich folgendes Fazit: Der Kampf um die Aufnahme der sexuellen Rechte als Menschenrechte ist eine nur scheinbar erfolgreiche Geschich- te, die in dreifacher Weise kritisch zu betrachten ist. Erstens: ist die Aufnahme bisher nicht geglückt. Zweitens: führte die Trennung in Gesundheitsrechte und Rechte sexueller

Orientierung zu einer Spaltung des Aktivismus und der Forschung. Drittens: ein Ver- ständnis sexueller Rechte als Gruppenrecht, das sich anhand sexueller Orientierung formiert, kommt zu einer „Identitätsfestschreibung“, die die Marginalisierung wieder- holt.25 Diesen Punkt werde ich später detaillierter betrachten. In Folgendem möchte ich die Rechtsauffassung der Zugänge genauer betrachten, die eine Inklusion eines Begriffes der sexuellen Rechte in den Menschenrechtskatalog fordern. Auf dieser Grundlage kann bewertet werden, welchen emanzipatorischen Wer t die Menschenrechte bei genauerem Hinsehen besitzen.

22 Barbara Klugmann: Sexual Rights in Southern Africa. A Beijing Discourse or a Strategic Necessity, Johan- nesburg 2000, S. 6. Bei der Frage von reproduktiven Rechten bildete Europa mit Afrika eine Allianz gegen den Vatikan und einige radikal muslimische und katholische Länder. 23 Vgl. Geeta Rao Gupta: Strengthening Alliances for Sexual Health and Rights. Health and Human Rights 12.3 (1997), S. 55–63; United Nations: Platform for Action of the Fourth World Conference on Women. Bejing September 1995, UN Doc. A/CONF.177/20, 17.10.1995. 24 Susanne Baer weist allerdings nach, dass die EU Charter trotz ihres emanzipatorischen Anspruchs Gender durch die Gesetzgebung konstruiert. Vgl. Susanne Baer: Citizenship in Europe and the Construction of Gender by Law. In: K. Knop (Hrsg.): Gender and Human Rights, Oxford 2004, S. 83–112. 25 Vgl. Petchesky (wie Anm. 13), S. 91–98. Sexuelle Rechte und Menschenrechte 363

IV. Uneingeschränkter Glaube an die Kraft des liberalen Rechts: Zugang 1. Die internationale

Rechtsargumentation sexueller Minderheiten-Bewegungen basiert in weiten Teilen auf einem „vertrauensvollen“ Menschenrechtsdiskurs, wie Nico Beger kritisiert.26 Man nimmt an, gesellschaftliche Zugehörigkeit, körperliche und sexuelle Grenzen sowie

Autonomie und generative Unabhängigkeit rechtlich verhandeln zu können. Die In- ternational Lesbian and Gay Association postuliert daher: „Lesbian and Gay Rights are 27 Human Rights.“ Sexuelle Orientierung müsse als Teil menschlicher Identität ähn- 28 lich wie Ethnizität und Gender anerkannt werden (vgl. Tutus Argument). Sexuelle Rechte werden als universal erklärt. Dem kulturellen Relativismus wird das empirisch in der ganzen Welt nachweisliche Vorhandensein von Geschlechtertransgression und homosexueller Praxis entgegengehalten.29 Gleichheit und Schutz durch das Recht sei- en ein Grundrecht, das durch die Menschenrechtsinstrumente – wie Gerichte, Men- schenrechtskonventionen und Regierungen – durchgesetzt werden müsse.30 Eine tref- fende Zusammenfassung der Sicht der „Recht-Gläubigen“ lautet: „das Problem mit dem Rechtsdiskurs ist nicht, dass der Diskurs selber beschränkend ist, sondern dass er in einem beschränkten referentiellen Universum existiert“.31 Gegen diese vereinfachende

Verteidigung des Rechts meldet sich Kritik.

V. Aufdecken der historischen und konstruktivistischen „Mängel“ des Rechts und „ Verbesserung“ des Rechts: Zugang 2. Spike Petersons und Laura Parisis Statement kann als Überschrift für den folgenden Zugang gelten: „Human rights are in actuality men’s rights.“32 Das Hindernis, Rechte sexueller Minderheiten als Menschenrechte zu verstehen, liege da- rin, dass sich Menschenrechte auf einer Basis eurozentrischer, androzentrischer, hetero- normativer und rassisierter Konstellationen entwickelt hätten.33 Der politische Men- schenrechtsdiskurs sei stark verwurzelt in einem liberalen, humanistischen Rahmen.34

Diese Vorstellung geht davon aus, dass jedes Subjekt einen Kern habe, der sozialer oder linguistischer Kodierung vorausgehe. Dieser Kern sei der Boden für das Personsein, das

26 Barbara Klugmann: Sexual Rights in Southern Africa. A Beijing Discourse or a Strategic Necessity, Johan- nesburg 2000, S. 6. Bei der Frage von reproduktiven Rechten bildete Europa mit Afrika eine Allianz gegen den Vatikan und einige radikal muslimische und katholische Länder. 27 Vgl. International Lesbian and Gay Association. Homosexual Human Rights, 2005; . 28 Vgl. Robert Wintemute: Sexual Orientation and Human Rights, Oxford 1995, S. 17. 29 Vgl. Baden Offord: The Burden of (Homo)sexual Identity in Singapore. In: Social Semiotics 9.3 (1999), S. 301–316. 30 Einige argumentieren, dass die vorhandenen Menschenrechtsinstrumente sexuelle Orientierung bereits ein- schließen. Am 31.3.1994 entschied das United Nations Human Rights Committee im Fall Toonen gegen Australien, dass die Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung bereits in der Diskriminierung we- gen des Geschlechts (Art. 26 des Abkommens) eingeschlossen sei (UNHCR Committee Doc.no.CCPR/ C/50/D/488/1992), § 8.1. Andere fordern, dass sexuelle Orientierung ausdrücklich in alle neuen recht- lichen Zusätze aufgenommen werden sollte. Vgl. Eric Heinze: Sexual Orientation. A Human Right, Ams- terdam 1995; Robert Wintemute: Sexual Orientation and Human Rights, Oxford 1995, S. 17. 31 Patricia Williams: The Alchemy of Race and Rights, Cambridge 1991, S. 159. 32 Spike V. Peterson, Laura Parisi: Are Women Human? It’s not an Academic Question. In: T. Evans (Hrsg): Human Rights Fifty Years On, New York 1998, S. 132–160. 33 Vgl. ebenda, S. 133, 141. 34 Vgl. ebenda. 364 Ulrike Auga

auf der Fähigkeit zur Vernunft, zu moralischen Urteilen und Handlungsfähigkeit be- ruhe. Mary Poovey argumentierte jedoch, dass Frauen nicht in diese Konstruktion der Person, die mit Rechten ausgestattet ist, eingeschlossen sind.35 Frauen und sexuellen Minderheiten würde nur dann Menschensein zugeschrieben, wenn sie sich als autono- me und kohärente Personen darstellten, die Männern gleich sind, von deren Norm sie 36 die Abweichung bildeten. Menschenrechte implizierten eine sexualisierte Konzeption der Person, verbunden mit Begehren als primärem Motor für Identifikation und Rechte. Catherine MacKinnon möchte nachweisen, dass das Recht nicht „Gender neutral“ ist. Sie will „Gender Gleichheit“ zuerst im Recht und anschließend mittels des geläu- terten Rechts erreichen. Sie will gleichsam das Recht dazu bewegen, seinen Maskulin- ismus anzuerkennen und zu reformieren. Das will sie dadurch erreichen, indem sie eine Perspektive, die in der speziellen Erfahrung von Frauen wurzelt, etabliert.37 MacKin- non versucht, den universellen Anspruch der liberalen Gleichheit nicht dadurch zu realisieren, dass sie – wie „Zugang 1“ – die Menge der rechtlichen Neuzugänge aus- dehnt, sondern dadurch, dass sie innerhalb des Rechts die Fähigkeit einbaut, stratifizie- rende soziale Macht zu erkennen. Hier wiederholt sich jedoch das Dilemma der Frauenkonferenz von Peking. Biolo- gisches Geschlecht und Sexualität werden als zwei unterschiedliche Basen der Diskri- minierung behandelt. Zum ersten gehören z. B. reproduktive Freiheiten, zum zweiten zählt sexuelle Präferenz. Die Belange von sexuellen Minderheiten werden als separat von der Sicherung von Frauenrechten verstanden. Dadurch wird Heterosexualität weiterhin naturalisiert, während „andere“ Sexualitäten marginalisiert werden. Darüber hinaus wird das Ausmaß, durch das die Kategorie „Frau“ durch heterosexuelle Nor- men reproduziert wird, in diesem Zugang ausgeblendet.38 MacKinnon gibt die univer- sale Formulierung von Gerechtigkeit, wie sie vom liberalen Recht behauptet wird, nicht auf, 39 möchte aber gleichzeitig eine historische Analyse der Subordinierten einfügen. So endet sie in einer Sackgasse, denn der Versuch, substantielle Gleichheit durch Rechte 40 herbeizuführen, wiederholt den Widerspruch zwischen beiden. Diesen paradoxen Charakter des Rechts thematisiert „Zugang 3“.

VI. Das Paradox des Rechts: Zugang 3. Bei einer Bestandsaufnahme der scheinbar eman- zipatorischen liberalen Ansätze und der Rechte, die die Subordinierten den Systemen der Unfreiheit abgerungen hätten, resümiert Gayatri Spivak ironisch, dass diese „Errun- genschaften“ etwas sind „that which we cannot not want“, also etwas, das wir, die

35 Mary Poovey: The Abortion Question and the Death of Man. In: J. Butler, J. Scott (Hrsg.): Feminists Theorize the Political, New York 1992, S. 239–256, bes. S. 241. 36 Peterson, Parisi (wie Anm. 32), S. 132. 37 MacKinnon (wie Anm. 8), S. 238. Es lässt sich jedoch einwenden, dass die Absicht, „Erfahrungen von Frauen“ in das Recht einzuschreiben, an der Repräsentationsfrage scheitert. 38 Wendy Brown: Suffering the Paradoxes of Rights. In: W. Brown, J. Halley (Hrsg.). Left Legalism. Left Critique, Durham, London 2002, S. 420–434, bes. S. 425. 39 Vgl. Brown: States of Injury. Power and Freedom in Late Modernity, Princeton 1995, S. 131. 40 Vgl. ebenda, S. 133. Sexuelle Rechte und Menschenrechte 365

Subordinierten, nicht nicht haben wollen können.41 Damit spielt sie darauf an, dass Rechte eine große Bedeutung in der Legitimierung einer humanistischen Dimension des libe- ralen Diskurses besitzen. Der Kampf von politisch, ökonomisch und sozial Stigmatisier- ten für Rechte trete in einem Rechtsdiskurs auf, der ein ontologisch autonomes und unbelastetes Subjekt voraussetze. Sie benötigten Zugang zu diesem fiktionalen Subjekt, seien jedoch systematisch von ihm ausgeschlossen. Der Einsatz des Rechts sei daher für marginalisierte Gruppen paradox. In jüngerer Zeit setzt Wendy Brown sich mit dem zentralen Paradox des Rechts auseinander: Die Frage der emanzipierenden Kraft des Rechts sei immer historisch und kulturell beschrieben. Rechte hätten keine inhärente

Fähigkeit, radikale, demokratische Ideale zu befördern oder zu verhindern. Während ihre politische Wirksamkeit ein hohes Maß an historischer und sozialer Spezialisiert- heit erfordere, operierten Rechte in einem Diskurs des Allgemeinen, Generischen und 42 Universalen. Andererseits wurde darauf hingewiesen, dass in nicht-egalitären Ord- nungen Rechte unterschiedliche soziale Gruppen verschieden unterstützten. Rechte, die neutral und universal erscheinen, heben die Macht der Machthabenden an.43

Wie wir sahen, werden gegenwärtig die politische Anerkennung von Gruppenrechten, das Recht der Differenz sowie die Rechte kultureller Gruppen oder sexueller Minderheiten stärker gefordert. Das Paradox zwischen universal und partikular entsteht, weil Rechts- forderungen eingesetzt werden, um historisch und kontextuell zufällige Gruppenkon- stellationen zu schützen. „Die Verbindung der universalen Sprache des Rechts mit der Zufälligkeit der geschützten Gruppen bewirkt, dass das, was die Rechtssprache durch ihre 44 Artikulation schützen sollte, durch eine Re-Naturalisierung wieder untergeordnet wird.“ Die Sicht auf das emanzipatorische Potential des Rechts verändert sich, wenn die Sub- jekt-Position nach Foucault anders gedacht wird.45 Disziplinierende Mächte produzieren 46 Subjekte. Wenn wir die politisierte Identität als eine regulative Produktion einer diszipli- nierten Gesellschaft verstehen, dann funktionieren Rechte zweifach: Einerseits bekräftigen sie individuelle Autonomie, andererseits artikulieren Rechte Identität durch das Aus- blenden der sozialen Normen und regulativen Diskurse, die die Identität konstituieren und sperren daher in die Subjekt Positionen ein, die sie schützen wollen.47

41 Vgl. Gayatri Chakravorty Spivak: Can the Subaltern Speak? In: C. Nelson, L. Grossberg (Hrsg.): Marxism and the Interpretation of Culture, Urbana, Chicago 1988, S. 271–313; Gayatri Chakravorty Spivak: Outside in the Teaching Machine, New York 1993, S. 45 f. 42 Vgl. Brown (wie Anm. 39), S. 97. 43 Vgl. ebenda, S. 97. 44 Vgl. ebenda, S. 98 f. 45 Vgl. zu Foucaults Subversion moderner Subjektphilosophie: Ders.: Das Subjekt und die Macht. In: H. L. Dreyfus, P. Rabinown (Hrsg.): Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1987, S. 243–261. Vgl. bereits Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M. 1974. Während Foucault noch annahm, dass die disziplinierenden Diskurse historisch durch Rechtsdiskurse ersetzt würden oder mit Rechtsdiskursen zusammenlaufen, geht Brown davon aus, dass Rechte von Beginn an eine potentiell disziplinierende Praxis haben; vgl. Brown (wie Anm. 39), S. 99, Anm. 8. 46 Statt der Unterordnung des Subjektes wird nun eine Subjekt-Formation im Zusammenhang mit einer zirkulierenden Macht vorgestellt. Subjekte werden nicht nur als durch Macht positioniert betrachtet, son- dern als Effekte von Macht, als produziert von Macht, als gleichzeitig Macht erfahrend und ausübend. 47 Brown (wie Anm. 39), S. 119 f. 366 Ulrike Auga

Wie funktioniert diese Identitätspolitik des Rechts? Das Dilemma des Rechts be- steht nach Foucault darin, dass wir als Frauen oder als sexuelle Minderheiten angerufen werden, wenn wir eingeforderte Rechte ausüben und zwar nicht vom Recht allein, sondern von allen politischen Diskursen, Kliniken, Massenmedien und anderen. Die regulierende Dimension von auf Identität basierenden Rechten tritt auf, weil Rechte niemals frei, sondern immer innerhalb eines diskursiven, also normativen Kontextes auftre- ten. Brown zeigt darüber hinaus, dass der Rechtsdiskurs die sozialen Verbindungen von Klasse, Sexualität, Rasse und Geschlecht individualisiert und entpolitisiert. Diesen Dis- kurs nimmt sie nicht als soziale Wirkung war, sondern schreibt sie Personen als Attri- bute zu. Rechte setzen folglich die sozialen Mächte wieder ein, für deren Abschaffung sie kreiert wurden.48 Rechte fungieren, um einen Bedarf auszudrücken, der jedoch mit ihrer Hilfe nicht völlig verändert oder überwunden werden kann. Rechte, die von politisierten Gruppen gefordert werden, wirken mehrfach. Sie naturalisieren Identität, selbst wenn sie Elemente des Stigmas reduzieren. Sie entpolitisieren, selbst wenn sie soeben produzierte politische Subjekte schützen.49

VII. Die Neuordnung der Universalität für ein (globales) radikal demokratisches Projekt. Brown bringt es auf den Punkt: „Rechte dürfen nicht mit Gleichheit verwechselt werden und 50 rechtliche Anerkennung nicht mit Emanzipation.“ Hat der Rechtsdiskurs also gar keinen Wert für ein globales radikal demokratisches Projekt? Brown beobachtet, dass Rechtskämpfe Momente radikaler Demokratie bergen, wenn Marginalisierte ihr Person- sein erklären. Der Rechtsdiskurs enthalte die Fähigkeit, das Ideal einer Gleichheit zwi- schen Personen qua Personsein vorzustellen. Die politische Potenz der Rechte liege aber nicht in ihrer Konkretion (Zugang 1, 2), sondern höchstens in ihrer idealisierten Vorstellungs- möglichkeit einer egalitären politischen Gemeinschaft. Der Begriff der Gleichheit bleibt problematisch. Eine radikal demokratische Verständigung bedarf folglich eines radikalen gesellschaftlichen Imaginären, das sich jenseits des Rechtsdiskurses ausmachen lässt. Mit Cornelius Castoriadis wurde eindrücklich deutlich, wie gesellschaftliche Imagi- nation apriorisch verstanden werden muss. Castoriadis versteht gesellschaftliche Imagi- nation als das Verhältnis, das eine Gesellschaft zu den Prinzipien ihrer Formierung besitzt.51 Judith Butler will einen neuen, beweglichen Begriff der Universalität heraus- arbeiten, der gesellschaftliche Projekte (und gesellschaftliches Imaginäres) von Bewe- gungen nicht gegeneinander ausspielt und die Ausschließlichkeit von Partikularität und Universalität überwindet.52 Universalität solle als ein Prozess verstanden werden, 53 der nicht auf irgendwelche bestimmenden Erscheinungsweisen reduzierbar ist. Auch

48 Ebenda, S. 115. 49 Ebenda, S. 121. 50 Ebenda, S. 133. 51 Cornelius Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie, Frank- furt a. M. 1997. 52 Da der Universalismus die liberalen Machtverhältnisse verschleiere, wurde ihm von strukturalistischen und poststrukturalistischen Ansätzen politischer Theorie ihr grundlegender Status abgesprochen. 53 Diese Verfolgung wird politisch effektiv dadurch, dass die Rückkehr der ausgeschlossenen Kräfte eine Ausdehnung und Re-Artikulation der grundlegenden Voraussetzungen der Demokratie forciert; vgl. But- & ler, Laclau, Ziz&ek (wie Anm. 9), S. 11. Sexuelle Rechte und Menschenrechte 367

Butler geht davon aus, dass politische Ordnungen durch Ausschlüsse konstituiert wer- den. Die Universalität ist jedoch nicht leer, sondern trägt die „Fußspur“ der Ausge- schlossenen. Die Universalität hat sowohl eine historische, partikulare als auch univer- sale, offene Seite. Diese Offenheit ist essentiell für die radikale Demokratisierung.54 Butler stellt die Behauptung auf, dass gesellschaftliche Bewegungen oder soziale Sek- toren nicht notwendigerweise vor dem Moment, in dem sie ihre Forderungen als An- liegen der allgemeinen Gemeinschaft artikulieren, partikular sein müssen. Das heißt, es gibt Gemeinschaftsbildung jenseits von Gruppenidentität! Entsprechend können Bewe- gungen Gemeinschaften bilden, die mit Vorstellungen von Universalität agieren, die nur sehr entfernt anderen Vorstellungen von Universalität entsprechen. In diesem Fall ist das Problem nicht, das Partikulare als Repräsentant eines Universalen zu beschrei- ben, sondern es gilt zwischen den verschiedenen Definitionen von Universalität zu vermitteln.55

Die Frage ist, wie ein Konsens zwischen den verschiedenen Versionen von Universalität zu erreichen ist. Butler schlägt vor, zwischen dem Prozess der Universalisierung (universa- lisation) und dem Begriff der Universalität zu unterscheiden. Reserviere man den Begriff

Universalisierung für den aktiven Prozess, durch den die Auseinandersetzung stattfindet und setze Universalitäten für verschiedene Angebote von Universalität, die von Bewegun- gen eingebracht werden, ergäbe sich eine neue Verständigungsmöglichkeit. Der Begriff der Universalisierung sei davon befreit, im Besitz irgendwelcher Kämpfenden zu sein. 56 So biete er einen Rahmen, in dem alle Streitpunkte gedacht werden können. Aufgabe sei es, „Praktiken der Übersetzung“ zwischen konkurrierenden Vorstellungen von Uni- versalität zu etablieren. Diese mögen trotz scheinbarer logischer Nichtvereinbarkeit eine Schnittmenge von gesellschaftlichen Zielen zu teilen.57

Zurück zu meiner Ausgangsthese: Wir haben gesehen, dass eine globale und eman- zipatorische „interkulturelle“ Verständigung nur dann möglich ist, wenn die Funda- mente des Demokratiedefizits der Menschenrechte offen gelegt sind, die über eine historische und konstruktivistische Dimension hinausgreifen. Die Funktionsweise des

Rechts, das auf Ausschluss und Naturalisierung von „Identitäten“ basiert, ist kritisch zu betrachten. Die Durchsetzung der Menschenrechte sowie die Erweiterung ihres Grund- rechtskatalogs reichen für die Schaffung einer demokratischen, emanzipierten und solida- rischen (Welt-)Gesellschaft nicht aus. Darüber hinaus öffnet die Vorstellung verschiedener

54 Universal heißt jedoch nicht transzendent. Im Anschluss an Laclau wurde deutlich, dass die Artikulation der Universalität sich über die Zeit verändert. Universalität sollte nicht völlig a-historisch verstanden wer- den. Laclau im Anschluss an Gramsci: „the only universality society can achieve is a hegemonic universality – a universality contaminated by particularity“. In: Ebenda, S. 51. 55 Vgl. ebenda, S. 161. Die Vorstellung von alternativen Versionen von Universalität wird noch deutlicher, wenn man konsequent aus der Sicht der Ausgeschlossenen denkt. Sie sind nicht nur am Rande, sondern fungieren als das Außen, ohne welches das Universale nicht formuliert werden könnte (vgl. S. 163). Die Aufgabe ist nicht, die Ausgeschlossenen in das Innen zu assimilieren, um sie mit den existierenden Normen der Dominanz zu verwalten, noch ihre Position in Identitätskämpfen zu wiederholen. Wenn man auf das Subjekt schaut, dem das Vorrecht, Subjekt zu sein, nicht gegeben ist, muss Universalität neu gedacht wer- den; vgl. ebenda S. 178 f. 56 Vgl. ebenda, S. 164. 57 Ebenda, S. 167. Diese Basis ist jedoch ohne Bezug auf transzendentale Forderungen vorgestellt. 368 Ulrike Auga

Universalitäten und die Verständigung über diese die Möglichkeit, Universalität zugleich historisch und kontextuell wie a-historisch und offen zu verstehen. Damit würde der hegemoniale Charakter der alten Universalitätsvorstellung außer Kraft gesetzt. Auch der Begriff der ,Interkulturalität‘ beinhaltet die Spannung zwischen Partikulari- tät und Universalität. Diese muss letztlich überwunden werden, um eine Verständigung zu ermöglichen. Wie dies gelingen könnte, verdeutlicht die Betrachtung des Streits um das Multikulturalismuskonzept zwischen Slavoj Z&iz&ek und Judith Butler. Z&iz&ek wirft Butler vor, dass sie an ein untragbares Multikulturalismuskonzept anknüpft.58 Für Z&iz&ek ist der Multikulturalismus eine partikularistische, verschleiernde Ideologie des globalen Kapitals.59 Butler leugnet den hegemonialen Charakter des Multikulturalismuskonzepts nicht, sieht aber eine andere Form der Auseinandersetzung mit diesem als notwendig an. Der Multikulturalismus müsse gerade aus der Ecke der Partikularität herausgeholt werden. Die Vielheit solle im Dienst von Beurteilung und Zusammensetzung einer Bewegung von konkurrierenden und überlappenden Universalitäten verstanden werden, zwischen de- nen übersetzt werden könne. Insofern ist es sinnvoll, im globalen Kontext nicht von essentialisierten „Kulturen“ auszugehen, sondern von einer Vielheit temporärer Bewegun- gen und deren veränderlichen Universalitäten.60 Möglicherweise ließe sich Butlers phi- losophisches Konzept der verschiedenen Universalitäten mit einem epistemologischen

Ansatz verbinden. Es wäre lohnenswert, der Frage nachzugehen, wie, mit welchem

Wissen und welchen Mechanismen in Bewegungen verschiedener Kontexte radikales gesellschaftliches Imaginäres vorgestellt wird und wie ein Austausch zwischen ihnen möglich ist.

Für meine These ergeben sich für eine weiterführende Forschungsagenda folgende

Punkte: Zum einen müsste das Auftreten neuer Bewegungen verfolgt und dabei be- sonders die Allianzen gezeigt werden, die sich der Identitätspolitik entziehen. Dieses müsste innerhalb einer nicht-progressiven, nicht entwicklungsorientierten Geschichts- 61 schreibung geschehen, die bereits Walter Benjamin forderte. So könnten nicht lineare

Strategien der Verschiebung und Brüche reflektiert werden, wie sie Michel Foucault herausarbeitete.62 Darüber hinaus muss es auch darum gehen, verstärkt Repräsentatio- nen beweglicher Versionen von Universalität aufzuzeigen. Hier sehe ich eine besonde- re Herausforderung nicht nur für die Kunst- und Literaturwissenschaften, sondern auch für eine kritische Theologie und Religionswissenschaft.

58 Ebenda. & 59 Ziz&ek unterstreicht, dass die Homogenisierung der Welt, die sich trotz allen augenscheinlichen Multikultu- ralismus vollziehe, nicht nach westlichen Werten, sondern nach der Logik des Kapitals funktioniere. Der Multikulturalismus sei die Ideologie des globalen Kapitals. Er respektiere die Eigenart des Anderen, zu welcher er in einem Abstand steht. Diesen Abstand allerdings bewahre der Multikulturalismus von einer privilegierten universalen Position aus. Daher ist der Multikulturalismus nach Z&iz&ek ein „racism with a distance“, der seine eigene Position von allem Inhalt entleert, während er andere partikulare Kulturen bewertet. Der Respekt der Multikulturalisten für die Partikularität der Anderen ist daher genau die Art, & durch die er seine Superiorität erhält. Vgl. Slavoj Ziz&ek: Multiculturalism, or, the Cultural Logic of Multi- national Capitalism. In: New Left Review 225.9–10 (1997), S. 28–51. & 60 Butler, Laclau, Ziz&ek (wie Anm. 9), S. 168 f. 61 Vgl. Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: W. B.: Gesammelte Schriften, hrsg. v. R. Tie- demann, H. Schweppenhäuser, Bd. 1.2., Frankfurt a. M. 1971, S. 691–703 (fortan zitiert: GS). 62 Vgl. Foucault (wie Anm. 45). Sexuelle Rechte und Menschenrechte 369

Die Unterstellung des liberalen Rechtsverständnisses, dass mittels des Rechtes Gerech- tigkeit für alle Rechtssubjekte geschaffen werden kann, wurde hier vielfach kritisiert. Für meine Zuspitzung möchte ich noch einmal Benjamin heranziehen, der in Zur Kritik der Gewalt – die Ausgangspunkt für viele der gegenwärtigen Souveränitätsdebatten ist – unterstreicht, dass die Rechtsgewalt grundsätzlich problematisch ist, weil sie zugleich Machtsetzung und Machtspruch darstellt. Gewalt ist Recht setzend und Recht erhal- tend, ethisch legitim wäre nur eine Gewalt, die keinem Zweck dient. Damit bleibt das Recht „verwerflich“.63 Gewaltfrei hingegen ist für Benjamin die Beilegung aller Kon- flikte, die jenseits des Rechts und ohne vertragliche Kodifizierung stattfindet.64 Es wird daher grundsätzlich zu fragen sein, wie Geschlecht mit dem Setzen unserer politischen Gemeinwesen und ihrer (vertraglichen) Ordnungen entsteht und ob die Idee des her- kömmlichen Gesellschaftsvertrages im Kontext einer Geschlechterkritik zu retten ist?

Die Menschenrechtsbildung und der politische Aktivismus sind darauf angewiesen anzuerkennen, dass radikale Demokratie durch ein radikales gesellschaftliches Imaginäres möglich wird, das sich jenseits des Rechts und der Konstruktion von kollektiven Zuge- hörigkeiten – als „kollektive Identitäten“ missverstanden – abspielt. Insofern ist es auch für diejenige Geschlechterforschung, die auf eine wirksame emanzipatorische Interven- tion nicht verzichten möchte zentral, über zwei Postulate nachzudenken. Verlangt der

Zugang auf ein radikal demokratisches Projekt nicht entlang dem Verzicht auf ein bloß rechtlich konstruiertes Gleichheitspostulat die daran gebundene Kategorie „Gender“, mit dem Begriff „Geschlecht“ zu ersetzen, der das biologische Geschlecht – gerade auch im Ernstnehmen der biopolitischen Diskussion – nicht ausblendet? Wenn das Geschöpf des Rechtsdiskurses, „Gender Mainstreaming“, nicht ersetzt werden kann, sollte eine „Interventionsphase 2“ eingeleitet werden, die über die Gleichstellungsforderung hin- ausgreift. Die Ausarbeitung dieser Punkte könnte einen Beitrag leisten, einen emanzi- patorischen Kontext zu reflektieren, der umfangreicher ist, als „das, was wir nicht nicht haben wollen können“.

Anschrift der Verfasserin: Prof. Dr. Ulrike Auga, Theologische Fakultät, Humboldt- Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, D–10099 Berlin

63 Vgl. Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt. In: GS, Bd. II.1, S. 179–202. 64 So z. B. die diplomatische Aussprache. „Gewaltlose Beilegung von Konflikten kann nicht auf einen Rechts- vertrag hinauslaufen.“ Zur Kritik der Gewalt. In: GS, Bd. II.1, S. 179–202, hier S. 190.