Die Rezeption der Literaturnobelpreisvergabe an 2004 in Deutschland 1

Gerlinde Steininger, Universität Wien

1. Einleitung

Am 7. Oktober 2004 verkündete die Schwedische Akademie die Vergabe des Literaturnobelpreises an die österreichische Schriftstellerin Elfriede Jelinek „für den musikalischen Fluß von Stimmen und Gegenstimmen in Romanen und Dramen, die mit einzigartiger sprachlicher Leidenschaft die Absurdität und zwingende Macht der sozialen Klischees enthüllen.“2 Die Vergabe löste weltweit heftige positive wie negative Reaktionen aus und, wie Pia Janke in dem von ihr herausgegebenen Buch Literaturnobelpreis Elfriede Jelinek schreibt, kulminierten „[d]ie Polarisierungen, die es in Zusammenhang mit Jelinek seit Jahrzehnten gegeben hatte, […] durch die Zuerkennung des wichtigsten Literaturpreises an sie in einem medialen Hype.“ 3 Dieser Hype hielt drei Monate bis zur persönlichen Übergabe des Literaturnobelpreises an Jelinek in der schwedischen Botschaft in Wien am 17. Dezember an und flaute dann plötzlich wieder ab. 4 Die internationale Rezeption habe laut Janke eine „hochgradige Emotionalität“ 5 gezeigt und sich weniger mit dem Werk Jelinks als mehr mit ihrer Person, ihrer politischen Haltung und ihrem Schreibort Österreich auseinander gesetzt. 6 Während in Österreich die jahrzehntelang als ‚Nestbeschmutzerin‘ verunglimpfte Autorin 7 euphorisch gefeiert wurde, schlug die Rezeption in Deutschland um. 8 Obwohl Jelineks literarische Tätigkeit von Beginn an mit Preisen ausgezeichnet worden war und sie alle wichtigen Literaturpreise des deutschsprachigen Raumes bereits erhalten hatte, 9 wurde ihr zum Beispiel von Iris Radisch

1 Formal überarbeitete Fassung (2013) einer Proseminararbeit gleichen Titels, verfasst an der Universität Wien am Institut für Germanistik im SS 2010 unter der Leitung von Daniela Strigl. 2 http://nobelprize.org/nobel_prizes/literature/laureates/2004/press-d.html am 19.7.2010. 3 Pia Janke: „Vorwort“. In: Literaturnobelpreis Elfriede Jelinek . Hrsg. v. Pia Janke unter Mitarb. v. Peter Clar, Ute Huber, Stefanie Kaplan u.a. Wien: Praesens 2005 (= Diskurse. Kontexte. Impulse. Publikationen des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums. Bd. 1). S. 7-14. Hier S. 7. 4 Vgl. ebenda. 5 Ebd. S. 9. 6 Vgl. ebd. S. 8. 7 Siehe vor allem: Pia Janke: Die Nestbeschmutzerin. Jelinek & Österreich . Salzburg, Wien: Jung und Jung 2002. 8 Vgl. siehe Anm. 3. S. 9. 9 Vgl. http://www.univie.ac.at/jelinetz/index.php?title=Elfriede_Jelinek_-_Preise_und_Auszeichnungen am 4.8.2010. die Würde des Literaturnobelpreises abgesprochen 10 oder von Marcel Reich-Ranicki mangelndes Talent bescheinigt. 11 Die Aufgabe dieser Arbeit ist, auf der Grundlage von Jankes Materialsammlung in Literaturnobelpreis Elfriede Jelinek die Rezeption in Deutschland genauer zu untersuchen. Herrschen Meinungen wie die von Radisch und Reich-Ranicki vor oder entsteht dieser Eindruck nur aufgrund der Bekanntheit der beiden? Zeigt sich eine einheitliche Beurteilung in der deutschen Literaturkritik oder finden sich Unterschiede? Neben der Beantwortung dieser Fragen werden ausgehend von den dominierenden Inhalten der Artikel beziehungsweise den Fragen, die sich im Lauf der Lektüre derselben aufdrängen, einige – aber bei weitem nicht alle – Aspekte der Darstellung Jelineks und ihres Werks in der Literaturkritik erörtert. Um die andere Seite nicht auszuschließen, wird abschließend Jelineks Reaktion auf diese Kritiken kurz dargestellt.

2. Anmerkungen zur Auswahl der Artikel

Aufgrund des umfangreichen Materials, das vom Jelinek-Forschungszentrum gesammelt wurde, beschränkt sich die Untersuchung auf Artikel in Tageszeitungen und Wochenzeitungen/-magazinen, die in den ersten Tagen nach der Bekanntgabe der Verleihung des Nobelpreises veröffentlicht wurden. Ausgehend von der kommentierten Bibliographie in Literaturnobelpreis Elfriede Jelinek 12 wurden die für diese Arbeit relevanten Artikel ausgewählt. Primäres Kriterium war eine gewisse Länge, da eine bloße Kurzmeldung nicht ausreichend verwertbare Informationen enthält, und zudem wurden jene Artikel, die sich kaum mit der Schriftstellerin oder der Nobelpreisvergabe auseinandersetzen beziehungsweise reine Kommentare sind, ausgeschlossen. Von Janke erfasste Interviews wurden nur herangezogen, wenn sie Kommentare Jelineks zur Rezeption enthielten. Zur Untersuchung kamen durch die oben genannten Einschränkungen insgesamt 46 Artikel 13 aus 17 Tageszeitungen 14 und acht Wochenzeitungen/-magazinen.15 Darunter befinden sich

10 Vgl. Iris Radisch: „Die Heilige der Schlachthöfe“. In: (14.10.2004). 11 Vgl. Marcel Reich-Ranicki: „‘Die missbrauchte Frau‘“. In: Der Spiegel (11.10.2004). S. 180. 12 Literaturnobelpreis Elfriede Jelinek . S. 35-49 (Allgemeine Beiträge – Deutschland) und S. 140-144 (Reaktionen – Kommentare – Deutschland). 13 Siehe Literaturverzeichnis. Die für diese Arbeit verwendeten Artikel wurden der Verfasserin vom Jelinek- Forschungszentrum der Universität Wien zur Verfügung gestellt. Da die kopierten Artikel überwiegend sowie die Angaben in Jankes Buch generell mangelnde bibliographische Informationen (vor allem fehlende Seitenzahlen und Ausgabennummern bei Wochenschriften) aufweisen, wurde – falls rekonstruierbar – die fehlende Information in der Bibliographie ergänzt. Allerdings können aufgrund der fehlenden Seitenzahlen bei Zitierungen aus längeren Artikeln diese nicht immer konkret angegeben werden. 14 Abendzeitung, Berliner Morgenpost, Berliner Zeitung, Bild, , Frankfurter Allgemeine Zeitung, Hamburger Abendblatt, Hamburger Morgenpost, Handelsblatt, Neues Deutschland, Nürnberger Nachrichten, Stuttgarter Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Der Tagesspiegel, die tageszeitung, tz, Welt . 2 sowohl Boulevardblätter als auch durchschnittliche bis anspruchsvolle oder meinungsbildende Zeitungen/Zeitschriften von regionaler und überregionaler Verbreitung. Die politischen Ausrichtungen der Zeitungen/Zeitschriften, die nicht immer erkennbar oder vorhanden sind, bilden einen großen Teil des möglichen Spektrums ab. Zu beachten ist dies, weil Jelinek aufgrund ihrer langjährigen KPÖ-Mitgliedschaft (1974-1991) und ihrer gesellschaftskritischen und antifaschistischen Texte und Äußerungen vor allem in Österreich von politischer Seite angegriffen worden ist. So stellt sich die Frage, ob die politische Ausrichtung einer deutschen Zeitung/Zeitschrift Auswirkung auf die Ablehnung oder Anerkennung von Jelinek und/oder ihres literarischen Werkes hat.

3. Pro oder contra?

Die Polarisierungen, die Jelinek und ihr Werk auslösen, wurden bereits in der Einleitung angesprochen. Jeder, der sich näher mit der Autorin beschäftigt, wird sich dessen bewusst, weshalb die offensichtliche Nichtthematisierung in den untersuchten Artikeln umso mehr überrascht. Bianca Geist glaubt in ihrem unreflektierten Artikel diesen Sachverhalt ganz einfach erklären zu können: „Manche lieben sie. Die meisten hassen sie. Weil sie obszön schreibt.“ 16 Tim Schleider führt die Polarisierungen einerseits auf Jelineks Themen (Gewalt, Sex und Macht) zurück, weil diese generell die Meinungen spalten, und andererseits würden Werke wie Die Klavierspielerin (1983) mit ihrer „ironisch-lakonischen Oberfläche“ oft abstoßend wirken, weshalb es wichtig für das Verständnis sei, die unter der Oberfläche wirkende moralische Traurigkeit zu erkennen.17 Für Rose-Maria Gropp liegt der Grund darin, dass sich Jelinek die männliche Sprache antrainiert habe, dabei aber „stets als Frau spricht“,18 und Hans-Joachim Neubauer sieht ihn in ihrem Anschreiben gegen „brave Realisten“ und die „Popliteratur“.19 Eckhard Fuhr indessen schreibt, schon durch die Grundsatzdebatte, die Jelineks Literatur auslöst, wachse ihr Bedeutung zu. 20 Dass Jelinek und ihr Werk provozieren, wird von vielen erwähnt und ist für Henry Nutt in seinem Artikel „Ikone der Provokation“ 21 sogar titelgebend. Womit sie provoziert und in der Folge polarisiert, ergibt eine lange Liste: sie selbst als Person, die sich inszeniert, sich politisch engagiert und psychische Probleme hat; ihre Schreibweise; ihre unkonventionell

15 Bunte, Focus, Junge Freiheit, Neue Revue, Rheinischer Merkur, Spiegel, Stern, Die Zeit. 16 Bianca Geist: „Ausgerechnet Elfriede Jelinek. Nobelpreis für ein Herz voll Hass“. In: Neue Revue 43 (19.10.2004). S. 30f. Hier S. 30. 17 Vgl. Tim Schleider: „Gewalt, Sex und Macht“. In: Stuttgarter Zeitung (8.10.2004). 18 Rose-Maria Gropp: „Dunkles Herz Europas“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (8.10.2004). 19 Hans-Joachim Neubauer: „Preisen und hassen: Elfriede Jelinek“. In: Rheinischer Merkur (14.10.2004). 20 Vgl. Eckhard Fuhr: „Mürzzuschlag“. In: Welt (9.10.2004). 21 Harry Nutt: „Ikone der Provokation“. In: Frankfurter Rundschau (8.10.2004). 3 angelegten Theaterstücke; ihre Negativität und „Ästhetik der Hässlichkeit“;22 ihre Darstellung von Sexualität, Gewalt und Macht; ihre Kritik an Österreich und dessen Verhältnis zur faschistischen Vergangenheit; ihre Kritik des Rechtsradikalismus; ihre Gesellschafts- und Kulturkritik; ihre Kritik an patriarchalischen Machtstrukturen; ihr Feminismus 23 und so weiter. Die Artikel geben jedoch nur spärliche Antworten auf die Frage nach der Funktion dieser Provokation in Jelineks Schaffen. Kerstin Schneider sieht den Skandal und die Provokation als Handwerkszeug Jelineks. 24 Peter Michalzik spricht von „eine[r] Literatur aus der Lust an der Provokation“,25 deren Ziel es sei, ohne jeglichen Filter falsches Bewusstsein sowie gesellschaftliche Widersprüche aufzudecken. 26 Jelinek wolle den Skandal, behauptet Thomas Steinfeld und kritisiert die Schwedische Akademie, die das Skandalöse mit ästhetischer Fortschrittlichkeit gleichsetze; diese Verbindung hätte es in der klassischen Moderne gegeben, aber heutzutage sei der Skandal längst zur Konvention geworden. 27 Klaus Nüchtern schließlich sieht Jelinek ständig „die Rolle der Provokateurin, die ihr von der Öffentlichkeit zugeschrieben wird“, aufgreifen und „durch den Fleischwolf ihrer Textproduktion“ 28 drehen. Mehrere AutorInnen der untersuchten Artikel scheinen selbst Opfer der Polarisierung und Provokation geworden zu sein. Von den 46 Artikeln sind 15 eindeutig pro Jelinek und ihr literarisches Schaffen, neun contra und 22 unentschieden. Ein Großteil der ablehnenden Artikel ist polemisch bis untergriffig,29 während nur zwei euphorisch über sie schreiben.30 Von den unentschiedenen Artikeln, in denen nicht explizit eine Meinung geäußert wird, lässt sich bei mehr als der Hälfte ein neutral-sachlicher Inhalt feststellen, während nur acht einen eher negativen oder diffamierenden Inhalt 31 aufweisen. Hinsichtlich der politischen

22 Ina Hartwig: „Die Klavierspielerin lächelt“. In: Frankfurter Rundschau (8.10.2004). 23 Selbst dieser Punkt spaltet die Kritik nochmals: Viele sehen Jelinek als radikale Feministin an, was abgelehnt oder angenommen wird, während manche eine solche Zuordnung scheuen oder in Frage stellen. Aber außer der Erwähnung der Differenz zum ‚üblichen‘ Feminismus setzt sich fast niemand näher damit auseinander. Tiefer in diese Materie taucht eigentlich nur A. Altmann ein, der schreibt, Jelinek zeige in ihren Werken auch, „dass nicht der Mann an sich böse ist, sondern die brutalen patriarchalischen Strukturen nur das Symptom einer brutalen Gesellschaftsordnung sind“ (A. Altmann: „Der Triumph der Mahnerin“. In: tz (8.10.2004)). 24 Vgl. Kerstin Schneider: „Kassandra, Dame, Nestbeschmutzerin“. In: Handelsblatt (8./9./10.10.2004). 25 Peter Michalzik: „Arbeit für und gegen uns“. In: Frankfurter Rundschau (8.10.2004). 26 Vgl. ebenda. 27 Vgl. Thomas Steinfeld: „Schwarze Kolloratur“. In: Süddeutsche Zeitung (8.10.2004). 28 Klaus Nüchtern: „Das Racheengerl“. In: Berliner Zeitung (8.10.2004). 29 Geist: „Ausgerechnet Elfriede Jelinek“; Ellen Kositza: „Allein gegen alles“. In: Junge Freiheit (15.10.2004); Tilman Krause: „Nun kuschen sie wieder“. In: Welt (12.10.2004); Matthias Matussek: „Alle Macht den Wortequirlen!“. In: Spiegel 42 (11.10.2004). S. 178f. u. S. 181f; Radisch: „Die Heilige der Schlachthöfe“; Gerhard Stadelmaier: „Bambis Tollwut“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (8.10.2004). 30 Gropp: „Dunkles Herz Europas“; Ulrich Weinzierl: „Verzweifelte Wortspielerin“. In: Welt (8.10.2004). S. 27. 31 Gemeint sind solche Inhalte, die implizit auf eine Ablehnung des Autors oder der Autorin hinweisen und/oder die eine Unkenntnis von Jelineks Werk zeigen, wie der übermäßige Hinweis auf die psychischen Probleme der Autorin, eine autobiographische Lesart Der Klavierspielerin , die alleinige oder vorrangige Erwähnung von Die 4

Ausrichtungen der Zeitungen/Zeitschriften lässt sich feststellen, dass diese auf das pro oder contra der AutorInnen wenig Einfluss haben. Dies zeigt sich schon dadurch, dass jene Zeitungen, die mehrere Artikel zu diesem Thema enthalten, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung , die Welt, die Frankfurter Rundschau und die Süddeutsche Zeitung, sowohl pro, contra als auch unentschieden abbilden. Eine ähnliche Pluralität findet sich in den Boulevardblättern sowie in Zeitungen/Zeitschriften mit zwei Artikeln, wobei der Spiegel hier eindeutig mit dem polemischen Artikel Matusseks und dem ambivalenten Artikel Reich- Ranickis 32 herausfällt. Man ist sich generell einig, dass die Verleihung des Literaturnobelpreises an Jelinek eine Überraschung war, das einzig Erwartete sei die Nominierung einer Frau gewesen. In vielen Artikel wird die Nobelpreisbegründung der Schwedischen Akademie wiedergegeben, womit sich die AutorInnen manchmal einer eigenen Meinung oder Analyse enthalten. Für Paul von Becker ist die Wahl eine „Sensation“,33 für Tim Schleider „[e]ine hervorragende Wahl“ 34 und für Hans-Dieter Schütt gar eine „[g]elungene Rache an Österreich.“ 35 Armgard Seegers sieht sie als „gut und richtig“ 36 an, Ina Hartwig erscheint sie „so unerwartet wie mutig und angemessen“ und als ein „[s]päter Ruhm der Avantgarde.“37 Einige der AutorInnen kritisieren die Schwedische Akademie, Ellen Kositza zum Beispiel spricht von „Farce“ 38 und FINIS von „mörderischen Proporzzwängen“,39 für Matthias Matussek ist es eine „ziemlich kuriose Entscheidung“ 40 und Iris Radisch sieht es als „Schock“ und als eine unkonventionelle Ehrung für eine „kleine, schlecht ausgestattete Avantgardebühne“ 41 an.

4. Kritik des Oeuvres

In der Nobelpreisbegründung wird konkret auf Jelineks Romane und Dramen hingewiesen. 42 Erst in der biobibliographischen Notiz werden die weiteren Genres von Jelineks Oeuvre angesprochen. Die Kritik folgt hier der Vorgabe: Die meisten Artikel, insgesamt weniger als die Hälfte, erwähnen Dramen und Romane Jelineks, nur in sechs wird versucht, das

Klavierspielerin und/oder Lust oder zum Beispiel auch der Hinweis auf ihre Nestbeschmutzerin-Position in Österreich ohne weitere Klärung derselben. 32 Jelinek habe wenig Talent, ihre Romane seien oberflächlich, aber ihre Gesellschaftskritik sei lobenswert (Vgl. Reich-Ranicki: „‘Die missbrauchte Frau‘“). 33 Paul von Becker: „Die Opfertäterin“. In: Der Tagesspiegel (8.10.2004). 34 Schleider: „Gewalt, Sex und Macht“. 35 Hans-Dieter Schütt: „Jetzt jubeln Schleefs Chöre“. In: Neues Deutschland (8.10.2004). 36 Armgard Seegers: „Jelinek hat, was man früher Ethos nannte“. In: Hamburger Abendblatt (8.10.2004). 37 Hartwig: „Die Klavierspielerin lächelt“. 38 Kositza: „Allein gegen alles“. 39 FINIS: „Das Letzte“. In: Die Zeit 43 (14.10.2004). S. 49. 40 Matussek: „Alle Macht den Wortequirlen!“ S. 179. 41 Radisch: „Die Heilige der Schlachthöfe“. 42 Vgl. http://nobelprize.org/nobel_prizes/literature/laureates/2004/press-d.html am 19.7.2010. 5

Gesamtoeuvre zumindest durch Gattungsnennungen abzudecken. Weitere sechs konzentrieren sich nur auf die Romane und sieben nur auf die Theaterstücke. Insgesamt gesehen wird Die Klavierspielerin (1983) am öftesten erwähnt, wobei die Hinweise auf die Verfilmung von Michael Haneke (2001) sowie auf eine autobiographische Lesart selten fehlen. Danach folgt in der Rangliste Lust (1989), das gerne verwendet wird, um einerseits die ‚Obszönität‘ der Jelinekschen Schreibweise 43 oder ihre Darstellung des Geschlechtsaktes als unterdrückender Gewaltakt zu konstatieren.44 Dem folgt, noch weit vor den anderen, Ein Sportstück , das von Einar Schleef 1998 am Wiener Burgtheater uraufgeführt wurde und die Verbindung von Sport und Krieg thematisiert. Demnach lässt sich feststellen, dass Jelineks Gesamtwerk für die Kritik nicht zur Debatte steht, wobei hier möglicherweise die Nobelpreisbegründung Vorarbeit geleistet haben könnte. Ihr Werk als Ganzes, ihre Tätigkeit in verschiedenen Gattungen und mehreren Medien scheint die Autorin nicht auszuzeichnen. Selbst Jelineks Homepage, die seit 1998 online ist und die sie als Veröffentlichungsmedium nutzt, 45 was auch das Nobelpreiskomitee zur Kenntnis nimmt – „auf ihrer Homepage ständig bereit ist, brennendheiße Themen zu kommentieren“ 46 –, wurde nur von einem einzelnen Kritiker, nämlich von Paul Sahner bemerkt. 47

5. Kritik der Schreibweise

Jelineks Schreibstil wird in den untersuchten Artikeln wenig Raum gegeben. Oft fehlt eine genauere Analyse und es herrschen Schlagwörter vor, die Jelineks spezifische Schreibweise kaum fassen können. In den negativen Kritiken liest man zum Beispiel von „im vorgestanzten Sprachmüll wühlenden Kalauer“, „irrlichternden Sprachmusikalität“ und „durchideologisierte[n] Schrottplatz der Gemeinplätze und Gewaltanwendungen.“48 Ihre Texte seien „hermetisch und abwechslungsarm“, es würden darin „[s]elbstbezogene Bandwurmsätze […] neben dümmlichen Kalauern“ dominieren und die Sprache sei der „‚Dreckhaufen‘ aus dem sie reichlich schöpft.“ 49 Matussek schreibt in seiner ausführlichen aber nichtssagenden und unwissenschaftlichen Kritik von „ästhetischen Schocks“,

43 Siehe zum Beispiel: Kositza: „Allein gegen alles“; Ulla Bohn: „Literatur Nobelpreis für die obszöne Frau Jelinek“. In: Bild (8.10.2004); Birgit Lahann: „Die wüste Moralistin“. In: Stern 43 (15.10.2004). S. 229-231. Hier S. 229; Radisch: „Die Heilige der Schlachthöfe“. 44 Siehe zum Beispiel: Reich-Ranicki: „‘Die missbrauchte Frau‘“; Krause: „Nun kuschen sie wieder“; Andres Müry: „Die Geißel Österreichs“. In: Focus 42 (11.10.2004). 45 http://www.elfriedejelinek.com. 46 http://nobelprize.org/nobel_prizes/literature/laureates/2004/bio-bibl-d.html am 4.8.2010. 47 Vgl. Paul Sahner: „Mit Wut & Zorn in den Olymp“. In: Bunte (14.10.2004). 48 Radisch: „Die Heilige der Schlachthöfe“. 49 Kositza: „Allein gegen alles“. 6

„pornografischen Edelschocker“ oder „Jelineks Toiletten-Drama“.50 Laut Nutt habe sie in ihrer „radikale[n] Ästhetik […] keine Zeile zu Papier gebracht […], auf die der Begriff Gefälligkeit anzuwenden wäre.“ 51 Jelinek sei eine „sprachgewaltige Autorin“,52 eine „radikale[] Sprachfantastin“ 53 und eine „kongeniale Sprachartistin“,54 ihre Texte seien allerdings schwierig, hermeneutisch, sperrig und künstlich. 55 Nur wenige der AutorInnen versuchen Vorbilder ihres Stils auszumachen. So stünde sie laut Nüchtern „in der sprachskeptischen Tradition österreichischer Nachkriegsavantgarde“ 56 während Steinfeld sie als „ein spätes, schwächeres Glied in der langen Literaturgeschichte an österreichischen Missvergnügen, Polemiken, Schmähreden und Zerrspiegelvorhalten“,57 wie sie Karl Kraus und Helmut Qualtinger vertreten, einordnet. In ihrem Sprachwitz ähnle sie Franz Kafka, Johann Nestroy und 58 und in der Verlegung der Gewalt in die Sprache selbst sei sie mit Arno Schmidt vergleichbar.59 Hartwig stellt sie in die Tradition eines Marquis de Sade, während sie als Vorbilder neben Bachmann Robert Walser, Peter Handke und Thomas Bernhard identifiziert. 60 Letzterer wird in vielen Artikeln erwähnt, aber weniger in Bezug auf das Werk als mehr auf seine ähnliche provokative Rolle in und seine problematische Beziehung mit Österreich. Häufig wird die Musikalität 61 und Virtuosität 62 von Jelineks Sprache angesprochen, wobei der Hinweis auf ihre musikalische Ausbildung nicht immer beigefügt wird und man nach einer Erwähnung zum Beispiel ihrer Libretti oder frühen Kompositionen auf eigene Gedichte vergeblich sucht. Der für Jelinek so wichtige Franz Schubert und seine Winterreise (1827) werden gar nur von Weinzierl genannt. 63 Einigkeit im Feuilleton herrscht bezüglich Jelineks kritischer Spracharbeit, die auch in der Nobelpreisbegründung angesprochen wird. Wie diese Spracharbeit im Detail aussieht, wird in verschiedensten Variationen beschrieben. In den Nürnberger Nachrichten liest man von der

50 Matussek: „Alle Macht den Wortequirlen!“ S. 182. 51 Nutt: „Ikone der Provokation“. 52 Schleider: „Gewalt, Sex und Macht“. 53 Lahann: „Die wüste Moralistin“. S. 229. 54 Seegers: „Jelinek hat, was man früher Ethos nannte“. 55 Vgl. zum Beispiel: Altmann: „Der Triumph der Mahnerin“; Neubauer: „Preisen und hassen“; Schneider: „Kassandra, Dame, Nestbeschmutzerin“; Seegers: „Jelinek hat, was man früher Ethos nannte“; Inge Treichel: „Den ganzen Schrecken mit Humor nehmen“. In: Hamburger Morgenpost (8.10.2004). 56 Nüchtern: „Das Racheengerl“. 57 Steinfeld: „Schwarze Kolloratur“. 58 Vgl. Gropp: „Dunkles Herz Europas“. 59 Vgl. Becker: „Die Opfertäterin“. 60 Vgl. Hartwig: „Die Klavierspielerin lächelt“. 61 Vgl. zum Beispiel: Altmann: „Der Triumph der Mahnerin“; Gropp: „Dunkles Herz Europas“; Hartwig: „Die Klavierspielerin lächelt“; igl: „Beschimpft und gefeiert“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (8.10.2004). 62 Vgl. zum Beispiel: Seegers: „Jelinek hat, was man früher Ethos nannte“; Steinfeld: „Schwarze Kolloratur“. 63 Vgl. Weinzierl: „Verzweifelte Wortspielerin“. 7

„einzigartige[n], analytische[n] Gabe der Entlarvung durch Phrasen, Sprach- und damit Denkklischees.“64 Man finde bei ihr die „Kritik an einer vorgefertigten Sprache, an der Fremdbestimmung durch die Klischees der Bewusstseins- und Unterhaltungsindustrie.“ 65 Sie unterlaufe „jegliche Souveränität der Rede“,66 verstehe es, „mit Sprache zu jonglieren, von Sprichwörtern über Werbeslogans bis Heidegger-Zitaten alles miteinander zu verknüpfen“,67 und erfinde „Wendungen, Sätze, ja eine poetische Grammatik der schaurigen, kältesten Gier, in der eben noch jeder vermeintliche harmloseste Hügel, jede Muschel, jede Spitze, Spritze und jeder Stab mehrdeutig wird und der Subtext sich mit dem Haupttext in eins verdichtet.“ 68 Über Entwicklungen oder Veränderungen in ihren Prosatexten oder ihrem Stil liest man nichts, nur einmal heißt es, dass sie mit Die Kinder der Toten (1995) die Romanform gesprengt habe.69 Ähnlich ist dies bei ihren Theatertexten, die Entwicklung vom Rollentheater hin zu den ‚Textflächen‘ – das am häufigsten gebrauchte Schlagwort – ihrer Stücke ab Wolken.Heim. (1988) wird nur selten erwähnt. 70 Die fehlende Handlung dieser Theaterstücke sowie die Notwendigkeit eines Regietheaters – „Erst die Spielvögte lenken, leiten und kanalisieren den Wortfluß, stauen ihn oder planschen in ihm herum.“ 71 – stoßen bei einigen Kritikern auf direkte Ablehnung.72 Für Tilman Krause gehört Jelinek zu den „Propheten des Unheils“, ihr Ausdruck sei „holzhammerhaft[]“, sie „demaskiert und entmythologisiert.“73 Und für Gerhard Stadelmaier ist „dies alles, dramatisch besehen, ein Riesenscharrn – aber einer mit Sprachbitterschlagsahne drauf.“ 74 Von den KritikerInnen, die sich mit Jelineks Theatertexten auseinandersetzen, sticht besonders Bernd Sucher mit seiner ausführlichen Analyse heraus, er geht auf ihre Entwicklung ein und vergleicht Jelinek mit Samuel Beckett. 75 Als besten ihrer „Sprachflächen-Texte“, die er mehr als ihre frühen ‚konventionellen‘ Stücke schätzt, sieht er Wolken.Heim., „eine[] Collage aus Prosatexten“, in dem das „deutsche Wir, das in diesem Monolog spricht, […] ein Wir [ist], das von vielen gebildet wird.“ 76 Während es scheint, als

64 N.N.: „Intellektuelle von radikaler Eleganz“. In: Nürnberger Nachrichten (8.10.2004). 65 Altmann: „Der Triumph der Mahnerin“. 66 Nüchtern: „Das Racheengerl“. 67 Volker Corsten: „Die große Depressive“. In: Welt am Sonntag (10.10.2004). 68 Becker: „Die Opfertäterin“. 69 Vgl. N.N.: „Intellektuelle von radikaler Eleganz“. 70 Vgl. zum Beispiel: C. Bernd Sucher: „Textflächenfrau“. In: Süddeutsche Zeitung (8.10.2004); Weinzierl: „Verzweifelte Wortspielerin“. 71 Stadelmaier: „Bambis Tollwut“. 72 Vgl. zum Beispiel: Krause: „Nun kuschen sie wieder“; Matussek: „Alle Macht den Wortequirlen!“ S. 182; Stadelmaier: „Bambis Tollwut“. 73 Krause: „Nun kuschen sie wieder“. 74 Siehe Anm. 71. 75 Vgl. Sucher: „Textflächenfrau“. 76 Ebenda. 8 spräche dieses Wir einen Monolog, sei es doch „ein Dialog, den intelligente Theatermacher entdecken“, und es seien die „Brüche in den Sprachebenen“, die das „Zwiegespräch“ 77 erzeugen. Ihre Stücke entsprächen generell in ihrem Aufbau Musikstücken, sie seien „Kompositionen ohne Musik, aber mit Dissonanzen, mit Harmonien, mit Leitmotiven und strahlenden Akkorden.“ 78 Diese zwingen die RezipientInnen sich „mit den toten Texten, derer sie sich bedient, auseinander zu setzen und sie in dem neuen Kontext zu bedenken.“ 79

6. Der Kontext Österreich

In der biobibliographischen Notiz der Schwedischen Akademie heißt es: „Jelinek hat mit leidenschaftlicher Wut Österreich gegeisselt [sic], das sie in dem phantasmagorischen Roman Die Kinder der Toten (1995) als Totenreich darstellt.“80 Nicht die Schreibweise, nicht die verschiedenen Themen sind es, die die KritikerInnen am meisten beschäftigen, sondern eindeutig Österreich:81 Jelineks Verhältnis zu Österreich, die Österreichkritik in ihrem Werk, wobei hier besonders der Burgtheater -Skandal von 1985 erwähnt wird, der ihr die Nestbeschmutzerin-Rolle eingebracht hat, ihre Auseinandersetzungen mit der Haider-FPÖ und deren Plakataktion von 1995 („Lieben Sie Scholten, Jelinek, Häupl, Peymann, Pasterk … oder Kunst und Kultur?“ 82 ) und die Feindschaft mit der Kronen Zeitung . Hinweise darauf gibt es schon in zahlreichen Titeln oder Untertiteln der Artikel: „In herzlichem Hass“,83 „Preisen und hassen: Elfriede Jelinek“,84 „Die Geißel Österreichs“,85 „Kassandra, Dame, Nestbeschmutzerin“,86 „Nestbeschmutzerin: Österreichs Haßliebe zu Elfriede Jelinek“,87 „Elfriede Jelineks Nobelpreis: Gelungene Rache an Österreich.“88 Jelineks Äußerung, dass sie den Literaturnobelpreis „nicht als Blume im Knopfloch für

77 Sucher: „Textflächenfrau“. 78 Ebenda. 79 Ebd. 80 http://nobelprize.org/nobel_prizes/literature/laureates/2004/bio-bibl-d.html am 4.8.2010. 81 Nur fünf schließen das komplett aus: HB / hast / mos / hps: „Literaturnobelpreis geht an Elfriede Jelinek“. In: Handelsblatt (8./9./10.10.2004). S. 1; FINIS: „Das Letzte“; N.N.: „Intellektuelle von radikaler Eleganz“; Reich- Ranicki: „‘Die missbrauchte Frau‘“; Stadelmaier: „Bambis Tollwut“. 82 Verena Mayer u. Roland Koberg: Elfriede Jelinek. Ein Porträt . Reinbek bei : Rowohlt 2006. S. 291. 83 Ralf Leonhard: „In herzlichem Hass“. In: die tageszeitung (8.10.2004). 84 Neubauer: „Preisen und hassen“. 85 Müry: „Die Geißel Österreichs“. 86 Schneider: „Kassandra, Dame, Nestbeschmutzerin“. 87 Eva Menasse: „Kassandras Feuer“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (8.10.2004). 88 Schütt: „Jetzt jubeln Schleefs Chöre“. 9

Österreich“ 89 sehe, wird von vielen zitiert und ist sogar zweimal titelgebend: „Keine Blume im Knopfloch Austrias“ 90 und „Blume im Knopfloch?“ 91 Einige der AutorInnen sprechen von der Beziehung zwischen Österreich und Jelinek als „Hassliebe“,92 mehrere diagnostizieren einen „Österreichhass“ 93 der Autorin, für Matthias Matussek hat Jelinek die „Österreich-Hass-Planstelle“,94 die früher Thomas Bernhard gehörte, eingenommen und er stellt die rhetorische Frage „Wer hasst Österreich nicht?!“ 95 Iris Radisch stellt sie schließlich in eine lange Tradition der „österreichischen Menschenhasser.“96 Nur in zwei Artikeln wird eine solche Beurteilung in Frage gestellt. So ist Maike Schiller der Meinung, in Jelinek personifiziere „sich Österreichs schlechtes Gewissen“, weswegen sie nicht geliebt, „[a]ber ernst genommen“ werde, „[w]enn auch oft in einer Verkleidung aus Arroganz und Spott.“ 97 Ulrich Weinzierl spricht gar von Liebe, die Jelinek dazu gebracht habe, gegen den „schlampige[n] Umgang der Österreicher mit der NS-Vergangenheit“ und „das gemütliche Klischee […], die schon von Karl Kraus verdammte Mentalität des ‚Mir san Mir‘ und die Devise ‚Fremde raus. Touristen rein‘, anzukämpfen.“98 Die Autorin brauche Österreich „als Projektionsfläche, als Zielscheibe, als Reibebaum, als Weltmodell im kleinsten Maßstab.“ 99 Durchaus nicht selten erhält man als LeserIn dieser Artikel den Eindruck einer Häme gegenüber Österreich (wobei Österreich zumeist verallgemeinert betrachtet wird), manchmal wird eigens betont, dass Jelinek zuerst in Deutschland anerkannt worden sei.100 Einher mit dem Kontext Österreich geht die Einschätzung Jelineks als gesellschaftskritische und politisch engagierte Autorin, was nicht unwesentlich für die Verleihung des Literaturnobelpreises gewesen sein soll 101 und bereits in der Nobelpreisbegründung anklingt. Alleine Ina Hartwig bezeichnet es als „eine Wahl ohne weltpolitischen Hintergedanken“, als

89 Altmann: „Der Triumph der Mahnerin“. 90 Maike Schiller: „Keine Blume im Knopfloch Austrias“. In: Hamburger Abendblatt (8.10.2004). 91 Hatzius Martin: „Blume im Knopfloch?“ In: Neues Deutschland (8.10.2004). 92 Corsten: „Die große Depressive“; Gert Gliewe: „Elfriede Jelinek: Mehr Verzweiflung als Freude“. In: Abendzeitung (8.10.2004); Menasse: „Kassandras Feuer“; Schleider: „Gewalt, Sex und Macht“. 93 Hartwig: „Die Klavierspielerin lächelt“; igl: „Beschimpft und gefeiert“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (8.10.2004); Krause: „Nun kuschen sie wieder“; Müry: „Die Geißel Österreichs“. 94 Matussek: „Alle Macht den Wortequirlen!“ S. 181. 95 Ebenda. S. 179. 96 Radisch: „Die Heilige der Schlachthöfe“. 97 Siehe Anm. 90. 98 Weinzierl: „Verzweifelte Wortspielerin“. 99 Ebenda. 100 Vgl. zum Beispiel: Gliewe: „Elfriede Jelinek“; Schleider: „Gewalt, Sex und Macht“. 101 Vgl. zum Beispiel: Becker: „Die Opfertäterin“; Tilman Krause: „Späte Anerkennung“. In: Welt (9.10.2004); Matussek: „Alle Macht den Wortequirlen!“ S. 179; Müry: „Die Geißel Österreichs“; N.N.: „Intellektuelle von radikaler Eleganz“; Nutt: „Ikone der Provokation“; Steinfeld: „Schwarze Kolloratur“; Birgit Warnhold: „Kritisches Europa“. In: Berliner Morgenpost (8.10.2004). 10 einen „Triumpf des poetischen über das politische Prinzip.“ 102 Für Ulrich Weinzierl liegt ihre große Leistung darin, dass sie „den Anspruch der Poesie an ideologische Forderungen des Tages“ nie verraten habe und „je stärker sie sich engagierte, desto ausgeklügelter, raffinierter wurden ihre ästhetischen Mittel.“ 103

7. Jelineks Reaktionen auf die Kritiken

Jelinek stand, wie bereits mehrmals erwähnt, schon vor der Vergabe des Nobelpreises im Schussfeld der Kritik, besonders der österreichischen, was Pia Janke in dem von ihr herausgegebenen Buch Die Nestbeschmutzerin ausführlich festgehalten hat. In Deutschland gab es bereits anlässlich der Verleihung des wichtigen Georg-Büchner-Preises 1998 negative Stimmen. 104 Die Schriftstellerin merkt in einem Interview an, dass sie durch die lange Geschichte der Medienkritiken und -skandale gelernt habe, sich zu schützen, das heißt auf den Konsum bestimmter Zeitungen/Zeitschriften wie des Spiegel oder Die Zeit zu verzichten.105 Diese Methode funktioniere allerdings nur bedingt, „denn in Zitaten werden sie mir ja ein paar Tage später doch um die Ohren gehauen. Dann erschrecke ich immer.“ 106 Während Ulrich Weinzierl die Negativität einiger deutscher KritikerInnen Jelinek und ihrem Werk gegenüber mit einer möglichen narzisstischen (und männlichen) Gekränktheit zu erklären versucht, will die Autorin selbst eine solche nicht unterstellen. 107 Ihr am häufigsten erwähntes Argument für die problematische Rezeption ist, dass die Deutschen ihren Witz und ihre Ironie nicht verstehen und alles zu ernst nehmen würden.108 Das erscheint jedoch hinsichtlich der untersuchten Artikel als unzulässige Verallgemeinerung, da einige ihren Humor durchaus ansprechen. 109 Weitere Argumente sind, dass es viele Vorurteile gegen ihre Werke gäbe – was sich in dieser Arbeit wiederum bestätigt – und „immer irgendein

102 Hartwig: „Die Klavierspielerin lächelt“. 103 Weinzierl: „Verzweifelte Wortspielerin“. 104 Vgl. Ulrich Weinzierl: „‘Sprachschöpfung ist eine Art Lustkotzen‘“. In: Welt (8.12.2004). S. 34. 105 Vgl. Heinz Sichrovsky: „Das Bilanz-Interview. Jelinek über Platzangst, Hasstiraden, den Vatikan und ihr Stück über die Folter im Irak“. In: News 45 (4.11.2004). S. 20 u. S. 161-165. Hier S. 165. 106 Dagmar Kaindl u. S. Schmid: „Literatur ist weiblich“. In: News (22.12.2004). Zitiert nach: Literaturnobelpreis Elfriede Jelinek . S. 213. 107 Vgl. Weinzierl: „‘Sprachschöpfung ist eine Art Lustkotzen‘“. 108 Siehe zum Beispiel: André Müller: „‘Ich bin nicht die Liebesmüllabfuhr‘“. In: Profil 49 (29.11.2004). S. 131- 137. Hier S. 134; Wolfgang Huber-Lang: „‘Ich habe das Gefühl mich gibt es gar nicht‘“. In: Kleine Zeitung (2.12.2004). S. 2f. Hier S. 2; N.N.:„‘Für die Versöhnung mit Österreich ist es zu spät‘“. In: News 42 (14.10.2004). S. 137f. Hier S. 137. 109 Vgl. zum Beispiel: Corsten: „Die große Depressive“; Gliewe: „Elfriede Jelinek“; Gropp: „Dunkles Herz Europas“; Seegers: „Jelinek hat, was man früher Ethos nannte“; Steinfeld: „Schwarze Kolloratur“; Weinzierl: „Verzweifelte Wortspielerin“. 11 politischer Blödsinn“ 110 von ihr rezipiert werde. Eine Teilschuld sieht Jelinek bei sich selbst, denn sie habe zu oft und meist zu vordergründig über ihre eigenen Arbeiten gesprochen. 111 In den untersuchten Artikeln zeigt sich, dass häufig Zitate der Autorin verwendet werden, zum Teil ohne Kommentar aber oft werden sie gegen sie oder für sie verwendet. Es ist vor allem die erste Reaktion Jelineks auf die Nobelpreisvergabe, die ständig zitiert wird und die beim Leser/der Leserin den Eindruck hinterlässt beziehungsweise hinterlassen soll, dass Jelinek den Literaturnobelpreis mit einem gewissen Widerwillen entgegennimmt. Im folgenden Zitat der ersten Reaktion wurden jene Teile grau markiert, die in den Artikeln meist weggelassen werden:

Natürlich freue ich mich auch, da hat es keinen Sinn zu heucheln, aber ich verspüre eigentlich mehr Verzweiflung als Freude . Ich eigne mich nicht dafür, als Person an die Öffentlichkeit gezerrt zu werden. Da fühle ich mich bedroht […]. Wenn man den Preis als Frau bekommt, dann kriegt man ihn auch als Frau, und kann sich nicht uneingeschränkt freuen. Wenn Peter Handke, der den Preis viel mehr verdienen würde als ich, den Preis erhalten würde, dann bekommt er ihn eben nur als Peter Handke. […] Ich wünsche mir nicht, dass der Preis für Österreich eine Bedeutung hat. Ich bin zu dieser Regierung auf völliger Distanz. […] Ich habe böse Ahnungen, dass der Nobelpreis eine Belastung bedeuten wird, denn man wird zur öffentlichen Person. 112

Des Weiteren sind es Jelineks Aussagen über Österreich, die fortwährend als Ausgangspunkt für die Thematisierung ihrer (literarischen) Beziehung zu ihrem Heimatland verwendet werden. Dahingegen kommen Äußerungen über ihr Werk kaum vor. Ein weiteres Argument Jelineks für die fehlgeschlagene Rezeption in Deutschland ist das des „Irrglaube[ns] an einen platten Erzähl-Realismus“,113 dem dort viele anhängen würden, und des Unverständnisses gegenüber ihrer sprachkritischen und -dekonstruierenden Schreibweise. 114 Diese Kritik Jelineks ist vor allem gegen Iris Radischs negativen und untergriffigen Artikel in Die Zeit gerichtet. Von Marcel Reich-Ranickis ambivalentem Artikel im Spiegel fühlt sich Jelinek gedemütigt und spricht von „Verachtung“.115 Jelinek meint zudem, die Rezeption sei so festgefahren, dass sie sich nicht mehr ändern werde.116 „Ich kriege die vernichtenden Kritiken und dann die großen Literaturpreise. Wie das sein kann, hat mir noch niemand erklären können.“ 117 Allerdings spricht sie davon, dass sich „in diesen Produkten ja auch nur allgemeine gesellschaftliche Mechanismen wider[spiegeln]“,

110 Huber-Lang: „‘Ich habe das Gefühl mich gibt es gar nicht‘“. S. 2. 111 Vgl. N.N.: „‘Für die Versöhnung mit Österreich ist es zu spät‘“. S. 137. 112 N.N.: „Elfriede Jelineks erste Reaktion“. In: Süddeutsche Zeitung (8.10.2004). 113 Sigrid Löffler: „Herrin der Unholde und der Gespenster“. In: Literaturen 12 (2004). S. 7-15. Hier S. 12. 114 Vgl. Müller: „‘Ich bin nicht die Liebesmüllabfuhr‘“. S. 134. 115 Ebenda. S. 131. 116 Vgl. siehe Anm. 111. S. 2. 117 Ebenda. 12 die sie ständig beschreibe, und daher könne sie sich „nicht darüber beklagen, wenn mir bestätigt wird, dass ich Recht habe.“ 118

8. Zusammenfassung

Im dieser Arbeit wurde gezeigt, dass die Rezeption in Deutschland breit gefächert war. Überwiegend wurde die Vergabe des Literaturnobelpreises an Elfriede Jelinek 2004 mit positiver oder neutraler Stimme aufgenommen. Dennoch gab es auch etliche Negativkritiken, die zum Teil von wichtigen KritikerInnen stammen, in weit verbreiteten Zeitschriften veröffentlicht wurden und von denen manche durch ihre extreme Polemik und Unsachlichkeit auffallen. Wie generell in der Rezeption Jelineks scheint die Kritik ein Opfer der Polarisierungen geworden zu sein; nur wenige versuchten, einer solchen überhaupt auf den Grund zu gehen. Bezüglich ihres Oeuvres dominierten eindeutig die Romane und Theaterstücke, während ihre Tätigkeit in anderen Gattungen und Medien kaum wahrgenommen wurde. Ausführliche Analysen zu Jelineks Schreibweise sucht man vergeblich, oft herrschten ungenügende Schlagwörter vor. Es ist eher der Stil ihrer Theatertexte, der zu genaueren Untersuchungen geführt hat. Als wichtigstes Thema für die deutsche Kritik hat sich der Kontext Österreich herausgestellt. Jelineks Verhältnis zu Österreich, ihre österreichspezifischen Themen und die Anfeindungen durch österreichische Medien oder politische Parteien wurden in fast allen Artikeln erwähnt, wobei man nicht selten das Gefühl erhält, als sei der/die Kritiker/in schadenfroh darüber, dass eine in ‚Österreich‘ geschmähte Autorin (wohl ist die Meinung der Kronen Zeitung und der FPÖ nicht gleichsetzbar mit Österreich) den Literaturnobelpreis erhalten hat.

118 Sichrovsky: „Das Bilanz-Interview“. S. 165. 13

Literaturverzeichnis

Analysierte Artikel

ALTMANN, A.: „Der Triumph der Mahnerin“. In: tz (8.10.2004).

BECKER, Paul von: „Die Opfertäterin“. In: Der Tagesspiegel (8.10.2004).

BOHN, Ulla: „Literatur Nobelpreis für die obszöne Frau Jelinek“. In: Bild (8.10.2004).

CORSTEN, Volker: „Die große Depressive“. In: Welt am Sonntag (10.10.2004).

DW: „Literatur-Nobelpreis an Elfriede Jelinek“. In: Welt (8.10.2004).

FINIS: „Das Letzte“. In: Die Zeit 43 (14.10.2004). S. 49.

FUHR, Eckhard: „Mürzzuschlag“. In: Welt (9.10.2004).

GEIST, Bianca: „Ausgerechnet Elfriede Jelinek. Nobelpreis für ein Herz voll Hass“. In: Neue Revue 43 (19.10.2004). S. 30f.

GLIEWE, Gert: „Elfriede Jelinek: Mehr Verzweiflung als Freude“. In: Abendzeitung (8.10.2004).

GROPP, Rose-Maria: „Dunkles Herz Europas“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (8.10.2004).

HARTWIG, Ina: „Die Klavierspielerin lächelt“. In: Frankfurter Rundschau (8.10.2004).

HATZIUS, Martin: „Blume im Knopfloch?“ In: Neues Deutschland (8.10.2004).

HB / hast / mos / hps: „Literaturnobelpreis geht an Elfriede Jelinek“. In: Handelsblatt (8./9./10.10.2004). S. 1.

IGL: „Beschimpft und gefeiert“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (8.10.2004).

KOSITZA, Ellen: „Allein gegen alles“. In: Junge Freiheit (15.10.2004).

KRAUSE, Tilman: „Nun kuschen sie wieder“. In: Welt (12.10.2004).

KRAUSE, Tilman: „Späte Anerkennung“. In: Welt (9.10.2004).

LAHANN, Birgit: „Die wüste Moralistin“. In: Stern 43 (15.10.2004). S. 229-231.

LEONHARD, Ralf: „In herzlichem Hass“. In: die tageszeitung (8.10.2004).

MATUSSEK, Matthias: „Alle Macht den Wortequirlen!“ In: Spiege l 42 (11.10.2004). S. 178f. u. S. 181f.

MAYER, Verena: „Irritationen des Selbstgefälligen“. In: Frankfurter Rundschau (8.10.2004).

14

MENASSE, Eva: „Kassandras Feuer“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (8.10.2004).

MICHALZIK, Peter: „Arbeit für und gegen uns“. In: Frankfurter Rundschau (8.10.2004).

MÜRY, Andres: „Die Geißel Österreichs“. In: Focus 42 (11.10.2004).

N.N.: „Intellektuelle von radikaler Eleganz“. In: Nürnberger Nachrichten (8.10.2004).

N.N.: „Literatur-Nobelpreis für Elfriede Jelinek“. In: Süddeutsche Zeitung (8.10.2004).

N.N.: „Nobelpreis für Elfriede Jelinek“. In: Frankfurter Rundschau (8.10.2004). S.1.

N.N.: „Nobelpreis wider Willen“. In: Berliner Morgenpost (8.10.2004).

NEUBAUER, Hans-Joachim: „Preisen und hassen: Elfriede Jelinek“. In: Rheinischer Merkur (14.10.2004).

NÜCHTERN, Klaus: „Das Racheengerl“. In: Berliner Zeitung (8.10.2004).

NUTT, Harry: „Ikone der Provokation“. In: Frankfurter Rundschau (8.10.2004).

RADISCH, Iris: „Die Heilige der Schlachthöfe“. In: Die Zeit (14.10.2004).

REICH-RANICKI, Marcel: „‘Die missbrauchte Frau‘“. In: Spiegel 42 (11.10.2004). S. 180.

RIK: „Elfriede Jelinek erhält den Literaturnobelpreis“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (8.10.2004). S. 1.

SAHNER, Paul: „Mit Wut & Zorn in den Olymp“. In: Bunte (14.10.2004).

SCHILLER, Maike: „Keine Blume im Knopfloch Austrias“. In: Hamburger Abendblatt (8.10.2004).

SCHLEIDER, Tim: „Gewalt, Sex und Macht“. In: Stuttgarter Zeitung (8.10.2004).

SCHNEIDER, Kerstin: „Kassandra, Dame, Nestbeschmutzerin“. In: Handelsblatt (8./9./10.10.2004).

SEEGERS, Armgard: „Jelinek hat, was man früher Ethos nannte“. In : Hamburger Abendblatt (8.10.2004).

STADELMAIER, Gerhard: „Bambis Tollwut“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (8.10.2004).

STEINFELD, Thomas: „Schwarze Kolloratur“. In: Süddeutsche Zeitung (8.10.2004).

SCHÜTT, Hans-Dieter: „Jetzt jubeln Schleefs Chöre“. In: Neues Deutschland (8.10.2004).

SUCHER, C. Bernd: „Textflächenfrau“. In: Süddeutsche Zeitung (8.10.2004).

15

TREICHEL, Inge: „Den ganzen Schrecken mit Humor nehmen“. In: Hamburger Morgenpost (8.10.2004).

WARNHOLD, Birgit: „Kritisches Europa“. In: Berliner Morgenpost (8.10.2004).

WEINZIERL, Ulrich: „Verzweifelte Wortspielerin“. In: Welt (8.10.2004). S. 27. 119

Interviews und weitere hinzugezogene Artikel

HUBER-LANG, Wolfgang: „‘Ich habe das Gefühl mich gibt es gar nicht‘“. In: Kleine Zeitung (2.12.2004). S. 2f.

LÖFFLER, Sigrid: „Herrin der Unholde und der Gespenster“. In: Literaturen 12 (2004). S. 7- 15.

MÜLLER, André: „‘Ich bin nicht die Liebesmüllabfuhr‘“. In: Profil 49 (29.11.2004). S. 131- 137.

N.N.: „Elfriede Jelineks erste Reaktion“. In: Süddeutsche Zeitung (8.10.2004).

N.N.: „‘Für die Versöhnung mit Österreich ist es zu spät‘“. In: News 42 (14.10.2004). S. 137f.

SICHROVSKY, Heinz: „Das Bilanz-Interview. Jelinek über Platzangst, Hasstiraden, den Vatikan und ihr Stück über die Folter im Irak“. In: News 45 (4.11.2004). S. 20 u. S. 161-165.

WEINZIERL, Ulrich: „‘Sprachschöpfung ist eine Art Lustkotzen‘“. In: Welt (8.12.2004). S. 34.

Sekundärliteratur

JANKE, Pia: „Vorwort“. In: Literaturnobelpreis Elfriede Jelinek . Hrsg. v. Pia Janke unter Mitarb. v. Peter Clar, Ute Huber, Stefanie Kaplan u.a. Wien: Praesens 2005 (= Diskurse. Kontexte. Impulse. Publikationen des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums. Bd. 1). S. 7-14.

MAYER, Verena u. Roland Koberg: Elfriede Jelinek. Ein Porträt . Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006.

Internetquellen

Homepage Elfriede Jelinek http://www.elfriedejelinek.com/ [zuletzt eingesehen am: 4.8.2010]

Offizielle Homepage Nobelpreis http://nobelprize.org/nobel_prizes/literature/laureates/2004/bio-bibl-d.html http://nobelprize.org/nobel_prizes/literature/laureates/2004/press-d.html [zuletzt eingesehen am: 4.8.2010]

119 Derselbe fast wörtlich wiedergegebene Artikel findet sich ohne Verfasserangabe mit dem Titel „Die Wortspielerin“ in der Berliner Morgenpost (8.10.2004). 16

JeliNetz des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums http://www.univie.ac.at/jelinetz/index.php?title=Elfriede_Jelinek_- _Preise_und_Auszeichnungen [zuletzt eingesehen am: 4.8.2010]

17