„Kleinbürgerin“ und „Kleinbürger“ im Drama um die Jahrhundertwende. Studie zu den Dramen männlicher und weiblicher Autoren

Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultäten der Albert-Ludwigs-Universität zu Freiburg i. Br.

vorgelegt von

Shu-Mei Shieh aus Kaohsiung, Taiwan, R. O. C.

Erstgutachter: Prof. Dr. Carl Pietzcker Zweitgutachterin: Prof. Dr. Irmgard Roebling

Vorsitzender des Promotionsausschusses Des Gemeinsamen Ausschusses der Philosophischen Fakultäten I-IV: Prof. Dr. Ulrich Rebstock

Datum der Fachprüfung im Promotionsfach: 21. Juni 2002

Danksagung

Die Fertigstellung dieser Arbeit war ein langer Prozess. Auf diesem mühsamen Weg haben mich viele Menschen begleitet. Bedanken möchte ich mich bei Frau Professor Dr. Irmgard Roebling für ihre Anregung zu diesem Thema, für ihre Ratschläge und Begleitung. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Carl Pietzcker, für seine wissenschaftliche Betreuung, seine Geduld und sein kritisches Interesse. Ohne seine fachliche und menschliche Unterstützung wäre die vorliegende Arbeit nie zustande gekommen.

Wichtige Impulse gaben mir die anregenden Diskussionen im Graduiertenkolloquium mit Martina Groß, Youn Sin Kim, Kirstin Meier und Günter Thimm. Meinen Freundinnen Hsin Chou, Anna Kao, Hsin-Yi Lin, Eva Ottmer, Vera Schick, Dominique Schirmer und Su-Yun Yu möchte ich herzlich für ihre Ratschläge und ihr Engagement danken

Abschließend möchte ich mich bei Chien-Tzung und meiner Familie sehr dafür be- danken, dass sie mir mit viel Fürsorge und Ermutigung beigestanden haben.

Inhalt

I. Einleitung ...... 6

II. Sozialgeschichte und Sozialpsychologie des Kleinbürgertums um die Jahrhundertwende (1890-1914) ...... 15

1. Das Problem, den Begriff „Kleinbürgertum“ zu bestimmen...... 16 1.1. Die am ständischen Denken und an der sozialen Stellung orientierten Definitionen ...... 18 1.2. Die am Widerspruch zwischen ökonomischer Existenz und „ideologischem Überbau“ orientierten Definitionen ...... 21

2. Wirtschaftliche Lage des Kleinbürgertums ...... 23 2.1. Wirtschaftliche Lage der Handwerker ...... 24 2.2. Wirtschaftliche Lage der Kleinhändler ...... 26 2.3. Wirtschaftliche Lage der Angestellten ...... 27

3. Soziale Stellung des Kleinbürgertums zwischen Bürgertum und Proletariat ...... 30 3.1. Das alte Kleinbürgertum im Verhältnis zum Bürgertum ...... 30 3.2. Das alte Kleinbürgertum im Verhältnis zum Proletariat ...... 31 3.3. Soziale Stellung des neuen Kleinbürgertums ...... 32

4. Kleinbürgerliche Familie ...... 33 4.1. Enge Verbindung von Geschäfts- und Privatsphäre ...... 34 4.2. Die Sozialisation in der kleinbürgerlichen Familie ...... 36

5. Sozialpsychologie des Kleinbürgertums ...... 37 5.1. Autorität als Kompensation ...... 37 5.2. Widerspruch zwischen Normen und Wirklichkeit ...... 38 5.3. Überanpassung an bürgerliche Normen ...... 40 5.4. Das Streben nach Besitz und Bildung ...... 41

III. Textanalyse ...... 44

1. Dramen von männlichen Autoren ...... 44

1.1. „Der Biberpelz.“ von Gerhart Hauptmann...... 44

1.1.1. Die kleinbürgerliche Familie Wolff ...... 45 1.1.2. Aufbau des Dramas "Der Biberpelz" ...... 47 1.1.3. Die Kleinbürgerin Wolff als komische Figur ...... 48 1.1.3.1. Die Kluft zwischen Aufstiegsstreben und realer Klassenlage ...... 48 1.1.3.2. Widerspruch zwischen Normen und Wirklichkeit ...... 51 1.1.3.3. Die Komik der Überlegenheit in der Figur der Mutter Wolff ...... 52 1.1.4. Die Überlegenheit der Kleinbürgerin als Satire auf die Untertanenmentalität der Polizeibeamten und den Obrigkeitsstaat ...... 58

1.2. „Die Ratten“ von Gerhart Hauptmann ...... 62

1.2.1. Die Kleinbürgerin John als Demonstrationsobjekt der Tragödie ...... 64 1.2.1.1. Hauptmanns Überlegungen zu einer Tragödientheorie ...... 65 1.2.1.2. Die Kleinbürgerin John als eine der Tragödie würdige Figur ...... 73 1.2.2. Das Psychopathologische als tragisches Moment - Frau John ...... 75 1.2.2.1. Hauptmanns Beschäftigung mit Psychoanalyse und Psychopathologie ..... 76 1.2.2.2. Das "hysterische" Verhalten der Kleinbürgerin John ...... 79

1.3. „Die Hose“ von Carl Sternheim ...... 87

1.3.1. Der Kleinbürger Theobald Maske als komische Figur ...... 88 1.3.2. Der Kleinbürger als satirisch eingesetzte Kontrastfigur des Bildungsbürgers . 95 1.3.3. Der Verfremdungseffekt im widersprüchlichen Bild des Kleinbürgers ...... 96 1.3.4. Die Kleinbürgerin Luise als gezähmte Hausfrau ...... 97 1.3.5. Die Kleinbürgerin als Weiblichkeitskonstruktion der Männer ...... 99

2. Dramen von weiblichen Autoren ...... 105

2.1. „D’ Schand’“ von Juliane Déry...... 105

2.1.1. Die Entwertung der Mutter-Tochter-Beziehung ...... 107 2.1.2. Die Aufwertung der Mutter-Tochter-Beziehung ...... 109 2.1.2.1. Die weibliche Genealogie ...... 110 2.1.2.2. Mutter-Tochter-Beziehung zwischen Marie und ihrer Tante ...... 112 2.1.3. Das Wanken der väterlichen Ordnung im Kleinbürgertum ...... 115 2.1.4. Das widersprüchliche Bild der Kleinbürgerin Marie – Der Weg vom Ausbruch zur Rückkehr in die Unterwerfung ...... 119 2.1.4.1. Selbstbestimmung statt Selbstzerstörung – Das Verhältnis zwischen Marie und Louis ...... 119 2.1.4.2. Unterwerfung statt Ausbruch – Das Verhältnis zwischen Marie und Urban ...... 123

2.2. „Die Meisterin“ von Johanna Wolff ...... 128

2.2.1. Die patriarchalische Mutter und die rebellische Tochter ...... 130 2.2.1.1. Die Kleinbürgerin Frau Winkler als patriarchalische Mutter ...... 132 2.2.1.2. Die Kleinbürgerin Toni als rebellische Tochter ...... 134 2.2.1.3. Tonis Tod als Rechtfertigung der patriarchalen Ordnung? ...... 138 2.2.2. Der Konflikt in der Mutter-Sohn-Dyade ...... 140 2.2.2.1. Die enge Bindung der Mutter an den Sohn ...... 140 2.2.2.2. Die emotionale Abhängigkeit des Sohnes von der Mutter ...... 142 2.2.2.3. Die Ablösungskrise des Sohnes ...... 143 2.2.2.4. Die autoritäre Mutter und der sich anpassende Sohn ...... 145

2.3. „Fräulein Freschbolzen“ von Clara Viebig...... 149

2.3.1. Die komische und groteske Darstellung der Kleinbürgerin Freschbolzen ..... 150 2.3.1.1. Widerspruch der Kleinbürgerin zwischen Selbständigkeit und Abhängigkeit ...... 150 2.3.1.2. Die komische Darstellung der Kleinbürgerin ...... 152 2.3.1.3. Die groteske Darstellung der Kleinbürgerin ...... 155 2.3.2. Der Kleinbürger Gustav als komische Figur ...... 158 2.3.3. Die Darstellung der Kleinbürgerin als Satire auf bürgerliche Frauen ...... 161

IV. Vergleich ...... 167

1. Darstellung der Kleinbürgerin und des Kleinbürgers ...... 167

1.1. „Die imaginierte Weiblichkeit“ – Das Bild der Kleinbürgerin aus der Perspektive männlicher Autoren ...... 167 1.1.1. „Große Mutter“ – Mutter Wolff in „Der Biberpelz“ ...... 169 1.1.2. Das Fatale im Weiblichen – Frau John in „Die Ratten“ ...... 170 1.1.3. Das Weibliche als "gezähmte Hausfrau" und als Wunschprojektion der Männerfiguren - Luise in „Die Hose“ ...... 173

1.2. Weiblichkeit in der „Doppelexistenz“ – Das widersprüchliche Bild der Kleinbürgerin in den Werken von Frauen ...... 175 1.2.1. Widerspruch zwischen „Ausbruch“ und Anpassung – Marie in „D’ Schand’“ ...... 176 1.2.2. Diskrepanz zwischen Entsagung und Lebenslust – Frau Winkler im Drama „Die Meisterin“ ...... 177 1.2.3. Paradoxie zwischen Emanzipation und Unterwerfung – Fräulein Freschbolzen im Drama „Fräulein Freschbolzen“ ...... 178

1.3. Das Bild des Kleinbürgers in den Dramen männlicher Autoren ...... 178 1.3.1. Das Bild des überlegenen Mannes - Theobald Maske in „Die Hose“ ...... 180 1.3.2. Ehre und Rechtschaffenheit als Männerideale - Paul John in „Die Ratten“ ... 181

1.3.3. Entidealisierung der Männlichkeit - Julius Wolff in „Der Biberpelz“ ...... 182

1.4. Das Männerbild aus der Perspektive der Frauen ...... 183 1.4.1. Das Männerbild vom „Erlöser“ – Josef Urban in „D’ Schand’“ ...... 184 1.4.2. Das Muttersöhnchen – die männliche Abhängigkeit – Garlieb Winkler in „Die Meisterin“ ...... 185 1.4.3. Männliche Gleichgültigkeit und Unverbindlichkeit – Gustav in „Fräulein Freschbolzen“ ...... 185

2. Die Funktion des Motivs des Kleinbürgertums ...... 186

3. Zusammenfassung ...... 188

Bibliographie ...... 190

Anhang ...... 204

I. Einleitung

Das Motiv „Kleinbürgerin und Kleinbürger“ wird in der Literaturwissenschaft nur marginal behandelt. Die Forschung zu diesem Thema beschränkt sich auf die Untersuchung von einzelnen Texten. 1 Die einzige ausführliche Studie liegt mit Elisabeth Tworek-Müllers Dissertation „Kleinbürgertum und Literatur. Zum Bild des Kleinbürgers im bayerischen Roman der Weimar Republik“ vor; diese Arbeit konzentriert sich auf die Romane von Autorinnen und Autoren der Weimarer Republik. Die Verfasserin geht davon aus, dass Schriftsteller in ihren literarischen Werken individuelle und gesellschaftliche Problematik auf besonderen Erkenntnis- und Erfahrungswegen entwickeln, „welche wiederum auf bestimmte gesellschaftlich bereitgestellte Erfahrungs-, Wissens- und Bildungsmöglichkeiten rekurrieren. [...]“2. Sie versucht, die Mentalitätsmuster, Denk- und Verhaltensweisen des Kleinbürgers in Texten männlicher und weiblicher Autoren zu rekonstruieren. Eine an der Geschlechtsspezifik orientierte Untersuchung des Motivs findet nicht statt. Das Thema der vorliegenden Arbeit, „'Kleinbürgerin' und 'Kleinbürger' im Drama um die Jahrhundertwende. Studie zu den Dramen männlicher und weiblicher Autoren“ benennt eine Lücke in der Dramenforschung. Der Grund für das Fehlen

1 Zum Thema des Kleinbürgertums in „Der Biberpelz“ gibt es folgende Forschungen: Weber, Richard: Gerhart Hauptmann: „Biberpelz“. In: Von Lessing bis Kroetz. Einführung in die Dramenanalyse. Kursmodelle und sozialgeschichtliche Materialien für den Unterricht. Hg. von Reinhard Dithmar. Kronberg 1975, S. 68-103 und S. 237; Oberembt, Gert: Gerhart Hauptmann. Der Biberpelz. Eine naturalistische Komödie. Paderborn 1987 und Oberembt, Gert: Jenseits der Moral. Gerhart Hauptmann: „Der Biberpelz“. In: Deutsche Komödie. Vom Barock bis zur Gegenwart. Hg. von Winfried Freund. München 1988, S. 146-166; Roh, Yeong-Don: Gerhart Hauptmann und die Frauen: Studien zum naturalistischen Werk. Siegen 1998, S. 127-138. Über das Thema des Kleinbürgers in „Die Hose“ gibt es folgende Arbeiten: Alt, Peter-André: Die soziale Botschaft der Komödie. Konzeption des Lustspiels bei Hofmannsthal und Sternheim. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 68/2 (1994), S. 278- 306; Reiss, H.S.: Sternheim – ein Satiriker!“? In: Deutsche Vierteljahrsschrift. Für Literatur- wissenschaft und Geistesgeschichte 57/2 (1983), S. 321-343; Schwerte, Hans: Carl Sternheim „Die Hose“. In: Der Deutschunterricht 15/6 (1963), S. 59-80; Freund, Winfried: Die Parodie in den Vorkriegskomödien Carl Sternheims. In: Text + Kritik 87 (1985), S. 25-34; Jahn, Wolfgang: Sternheims Bürger in der ständischen Gesellschaft. Zu „Bürger Schippel und anderen Komödien. In: Wissenschaft als Dialog. Studien zur Literatur und Kunst seit der Jahrhundertwende. Hg. von Renate von Heydebrand und Klaus Günther Just. Stuttgart 1969, S. 249-270. Zur Problematik der Mutterschaft in der kleinbürgerlichen Familie in „Die Ratten“ gibt es folgende Aufsätze: Sprengel, Peter: Gerhart Hauptmann: Die Ratten. Vom Gegensatz der Welten in einer Mietskaserne. In: Dramen des Naturalismus. Stuttgart 1988, S. 243-282; Kaiser, Gerhard: Die Tragikomödien Gerhart Hauptmanns. In: Gerhart Hauptmann. Hg. von Joachim Schrimpf. Darmstadt 1976, S. 360-384; Müller, Joachim: Zur dichterischen Pathographie im Drama des 19. Jahrhunderts. In: Ders.: Verwirrung des Gefühls. Berlin 1974, S. 35-38; Schneilin, Gérard: Zur Entwicklung des Tragikomischen in der Berliner Dramaturgie: Gerhart Hauptmanns „Ratten und Sternheims “Bürger Schippel“. In: Revue’d Allemagne 14/2 (1982), S. 297-312. 2 Tworek-Müller, Elisabeth: Kleinbürgertum und Literatur. Zum Bild des Kleinbürgers im bayeri- schen Roman der Weimarer Republik. München 1985, S. 11.

6 genderspezifischer Untersuchungen besonders in der Gattung Drama liegt in der „Abwesenheit“ von Dramatikerinnen, oder besser gesagt: Die Dramenautorinnen sind nicht im Bewusstsein der Literaturgeschichte vorhanden. Martina Beck hat in ihrer Magisterarbeit herausgearbeitet, dass es drei Stufen in diesem Vergessens- prozess gab: Zuerst wurden die Dramen von Frauen als minderwertig, also als nicht „angemessen“ behandelt. Dann behauptete man, es habe keine Dramenautorinnen gegeben. Dies führte zur „Abwesenheit“ von Dramatikerinnen in der Literatur- geschichte.3 Helga Kraft hat in ihrem Buch „Ein Haus aus Sprache. Dramatikerinnen und das andere Theater“ darauf hingewiesen, dass geschlechtsspezifische Urteile über die Künstlerin dem Vergessen vorangingen. Selbst die beim zeitgenössischen Publikum beliebten Stücke wurden nach Kraft in der Literaturgeschichte nicht gewürdigt. Sie nimmt die Dramatikerin Charlotte Birch-Pfeiffer (1800-1868) als Beispiel, die zwar populäre Stücke schrieb, von den Literaturgeschichtswerken jedoch nicht angenommen wurde und letztendlich in Vergessenheit geriet.4 Diese Ausgrenzung der Frau aus der Gattung Drama und das abwertende Urteil gegenüber weiblicher Dramenproduktion zeigen sich auch in Schriften um die Jahrhundert- wende: Georg Simmel schrieb 1911, dass die Frau „[...] mit ihren künstlerischen Leistungen gerade da versagt, wo die strenge Geschlossenheit der Form prävaliert: im Drama, [...].“5 Ella Mensch hob 1911 hervor, dass es für Frauen unmöglich sei, mit der Dramenproduktion umzugehen. Es sei nicht „Natur“ der Frau, Dramen zu schreiben, während die männliche „Natur“ gestattet, Dramen zu schaffen.6 1913 behauptete Heinrich Spiero: „[...] daß die deutsche Frau nun auf allen Gebieten der Dichtung gleichmäßig und gleich kräftig zu Hause ist – außer auf dem dramati- schen.“7 Diesen zeitgenössischen Aussagen lagen gewisse Wertvorstellungen zugrunde: Die Frauen um diese Zeit hatten keine gesellschaftliche Position außerhalb der Familie; deshalb galt das Drama als spezifisch männliche Domäne, die der Welt des weib-

3 Vgl. Beck, Martina: Interpretation zweier Dramen von Autorinnen des ausgehenden 18. Jahrhun- derts unter besonderer Berücksichtigung der weiblichen Titelfiguren: Sophie Albrecht: „Theres- gen“ und Emilie von Berlepsch: „Eginhard und Emma“. Unveröffentlichte Magisterarbeit. Freiburg 1999, S. 8. 4 Vgl. Kraft, Helga: Ein Haus aus Sprache: Dramatikerinnen und das andere Theater. Stuttgart 1996, S. 60. 5 Simmel, Georg: Gesamtausgabe. Hg. von Otthein Rammstedt. Frankfurt/ Main 1996, S. 451. 6 Vgl. Beck, 1999, S. 6. 7 Spiero, Heinrich: Geschichte der deutschen Frauendichtung seit 1800. Leipzig 1913, S.123.

7 lichen Erlebnisses nicht entspreche. 8 Da diese Wertvorstellungen wiederum in engem Zusammenhang mit der zeitgenössischen Geschlechterbeziehung im Bürger- tum standen, halte ich es für wichtig, kurz die historische Entwicklung des Ge- schlechterverhältnisses im Bürgertum um die Jahrhundertwende zu referieren; denn die meisten männlichen und weiblichen Dramatikerinnen kamen um diese Zeit aus dem Bürgertum. Die geschlechtsspezifische Rollenzuschreibung wurde durch den raschen Industriali- sierungs- und Modernisierungsprozess besonders scharf polarisiert9: Differente Ge- schlechteraufgaben und „Geschlechtscharaktere“ wurden festgeschrieben: Die Frau war für die private Sphäre (Familie) zuständig, der Mann verantwortlich für das öffentliche Leben (Erwerbsleben); die Frau wird als passiv und emotional, der Mann als aktiv und rational charakterisiert. Diese Unterschiedlichkeit zeigt, wie der Mann selbstverständlich Autonomie erlangen kann, die Frau aber ausgegrenzt wird aus der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. In diesem Modell der bürgerlichen Familie spielt der Mann die Rolle des „Kulturträgers“ in der Gesellschaft, während der Frau die Rollen Hausfrau, Gattin und Mutter zugewiesen werden; ihr Aktionsspielraum beschränkt sich auf die Privatsphäre. Diese traditionelle Frauenrolle Mutter wurde durch den gemäßigten Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung propagiert und ideologisiert. Indem die gemäßigten Frauen die Aufgabe der Frau als Mutter ideali- sierten und das Modell der „geistigen Mutterschaft“10 als Beitrag kinderloser bürger- licher Frauen zur Kultur propagierten, wollten sie die tradierte weibliche Rolle aufwerten. 11 Vor diesem Hintergrund präsentierte sich der Mann als „Kulturträger“ in der Öffentlichkeit und hatte Freiraum, sich als Dramatiker zu versuchen. 12 Die Frau wurde aus diesem Bereich verdrängt und ausgegrenzt, schließlich als „unzulänglich“ und „abwesend“ beurteilt.

8 Vgl. Hoff, Dagmar von: Zwischen Einfluß und Befreiung. Das weibliche Drama um 1800 am Bei- spiel der Dramatikerin und Schauspielerin Elise Bürger (1769-1833). In: Der Menschheit Hälfte blieb ohne Recht. Frauen und die Französische Revolution. Hg. von Helga Brandes. Wiesbaden 1991, S. 75. 9 Vgl. Hausen, Karin: Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“. Eine Spiegelung der Disso- ziation von Erwerbs- und Familienleben. In: Seminar: Familie und Gesellschaftsstruktur. Materia- lien zu den sozioökonomischen Bedingungen von Familienformen. Hg. von Heidi Rosenbaum. Frankfurt/ Main 4 1988, S. 161-191. 10 Kliewer, Annette: Geistesfrucht und Leibesfrucht: Mütterlichkeit und „weibliches Schreiben“ im Kontext der ersten bürgerlichen Frauenbewegung. Pfaffenweiler 1993, S. 27. 11 Vgl. Dehning, Sonja: Tanz der Feder. Künstlerische Produktivität in Romanen von Autorinnen um 1900. Würzburg 2000, S. 36. 12 Vgl. Hoff, 1991, S. 75.

8 Bis ins 20. Jahrhundert wurden Dramen von Frauen wegen dieses beschränkten Erlebnisraums abgewertet und so auch nicht veröffentlicht. Aus diesem Grund ist der Versuch, die vergessenen Dramatikerinnen wieder zu entdecken, äußerst schwierig. Durch Forschungen von Michaela Giesing, Dagmar von Hoff, Karin Wurst, Susanne Kord und Helga Kraft wurde die Behauptung, dass die Frau als Dramatikerin „abwesend“ sei, inzwischen widerlegt.13

Zu Beginn dieser Arbeit untersuche ich Dramen männlicher Autoren; ich konzentriere mich auf die Frage, wie sie die gesellschaftliche Realität, insbesondere den Kleinbürger in ihren Dramen rekonstruieren und mit welchem gesellschaftlichen Widerspruch des Kleinbürgertums sie arbeiten. Je mehr ich mich dann den Dramen von Frauen nähere, desto stärker erweitert sich das Forschungsspektrum: Mein Interesse an geschlechtsspezifische Erforschung des Motivs "Kleinbürgerin und Kleinbürger" treibt die vorliegende Arbeit an; es bringt mich zur Entwicklung der These, dass Frauen das Motiv des Kleinbürgertums anders darstellen, andere Sujets und andere Personenkonstellationen in den Dramen konstruieren als männliche Autoren. Hierbei frage ich:

• Wie kommt das Motiv „Kleinbürgerin“ und „Kleinbürger“ zur Darstellung? Wie in der Komödie? Wie in Tragödie oder Groteske? • Wie setzen Autorinnen und Autoren die widersprüchliche soziale Stellung des Kleinbürgertums in ihren Dramen ein? Inwiefern sind es Widersprüche, die Lachen oder Mitleid hervorrufen? • Gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede in der Weise der Darstellung der Kleinbürgerin und des Kleinbürgers? • Auf welche gesellschaftliche Struktur und welches ideologische Interesse rea- gieren männliche Autoren mit der Darstellung ihrer Kleinbürgerinnen und Kleinbürger?

13 Giesing, Michaela: Theater als verweigerter Raum. Dramatikerinnen der Jahrhundertwende in deutschsprachigen Ländern. In: Frauen-Literatur-Geschichte: Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. von Hiltrud Gnüg und Renate Möhrmann. Stuttgart 1985, S. 240-259; Hoff, Dagmar von: Dramen des Weiblichen. Deutsche Dramatikerinnen um 1800. Opladen 1989; Frauen und Drama im 18. Jahrhundert. Hg. von Karin Wurst. Köln 1991; Kord, Susanne: Ein Blick hinter die Kulissen. Deutschsprachige Dramatikerinnen im 18. und 19. Jahrhundert. Stuttgart 1992; Kraft, Helga: Ein Haus aus Sprache: Dramatikerinnen und das andere Theater. Stuttgart 1996.

9 • Entwickeln Frauen eine ihren Wünschen und Erfahrungen angemessene Schreibweise? Oder reproduzieren sie die Klischees der von Männern ent- worfenen Bilder der Kleinbürgerin? • Bezwecken männliche und weibliche Autoren Unterschiedliches mit dem Motiv Kleinbürgertum?

Für die vorliegende Arbeit wurden folgende Dramen ausgewählt:

Dramen von männlichen Autoren

- Gerhart Hauptmann: „Der Biberpelz. Eine Diebskomödie“ (1893) - Gerhart Hauptmann: „Die Ratten. Berliner Tragikomödie“ (1911) - Carl Sternheim: „Die Hose. Ein bürgerliches Lustspiel“ (1911)

Dramen von weiblichen Autoren

- Juliane Déry: „D’ Schand’. Volksstück in sechs Bildern.“ (1894) - Clara Viebig: „Fräulein Freschbolzen. Komödie in einem Akt” (1905) - Johanna Wolff: „Die Meisterin. Schauspiel in vier Akten“ (1906)

Die Dramen von männlichen Autoren sind in jedem Bibliotheksbestand, die der Frauen nur an einigen Bibliotheken in Deutschland vorhanden.14 Die Dramenaus- wahl wurde nach folgenden Kriterien getroffen: 1) Die Dramen sind zeitlich beschränkt auf den Zeitraum um die Jahrhundertwende (zwischen 1890-1914). 2) Die Dramen thematisieren die Problematik des Kleinbürgertums in seinem sozialen Milieu.

14 „Die Meisterin“ von Johanna Wolff befindet sich nur in der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe; „D’ Schand’“ von Juliane Déry findet man in der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main und im Deutschen Seminar der Freiburger Universität; „Fräulein Freschbolzen“ ist in der Deutschen Staatsbibliothek, Berlin, der Freien Universität Berlin, der Humboldt-Universität Berlin, der Theatersammlung der Universität Hamburg und der Karl-Marx- Universität Leipzig zugänglich. (Vgl. Kord, 1992, S. 442ff..)

10 Bei der Untersuchung meines Themas „'Kleinbürgerin' und 'Kleinbürger' im Drama um die Jahrhundertwende“ möchte ich folgenden Ansätzen mehr Raum verschaffen:

1) Sozialhistorischer und sozialpsychologischer Ansatz:

Als einer „Klasse zwischen den Klassen“15 werden dem Kleinbürgertum Aufstiegs- streben, Besitzgier und Abstiegsängste zugeschrieben. Es wird vom Widerspruch zwischen sozialer Lage und sozialem Bewusstsein, von Opportunismus bzw. von der Neigung zur Anpassung gesprochen. Vielfältige Aspekte dieser Kleinbürgerpro- blematik werden in den Dramen auf unterschiedliche Weise thematisiert. Um eine Vorstellung vom Kleinbürger zu entwickeln, die ihm in seiner Vielfalt und Kompliziertheit gerecht wird, beziehe ich mich auf Ansätze in der Soziologie und der Sozialpsychologie. Sie erbringen Material, das es erlaubt, bei der Analyse der Dar- stellung des Kleinbürgertums in den Dramen Kategorien zu gewinnen und Begrün- dungen zu geben, die die Dramen selbst nicht bieten. So kann ich die Mentalitäten des Kleinbürgers mit Hilfe sozialpsychologischer Analysen verdeutlichen. Ängste, Hoffnungen, Konflikte und Handlungsweisen stehen im Mittelpunkt der Betrachtung. Die Aufarbeitung der sozialhistorischen und sozialpsychologischen Ansätze ist meiner Meinung nach nötig, um in der Textanalyse beurteilen zu können, ob sich die Autorinnen und Autoren in ihren Phantasien von kleinbürgerlichen Verhältnissen an der Realität orientieren oder ob sie – die meistens aus dem Bürgertum stammen – eine verstellte Sicht auf diese Gruppe und ihre Probleme haben. Zu fragen ist auch, ob Männer mit der ambivalenten Lage des Kleinbürgertums anders als Frauen umgehen und ob sie diesen Widerspruch im Drama unterschiedlich umsetzen.

2) Geschlechtsspezifisch orientierter Ansatz:

Zu Beginn der feministischen Wissenschaft beschäftigten sich Frauen mit der Erforschung von Frauenbildern in Werken männlicher Autoren; danach konzen- trierten sie sich auch auf die Eigentümlichkeiten weiblicher literarischer Kunstpro- duktion. Silvia Bovenschen setzte mit der Frage „Gibt es eine weibliche

15 Leppert-Fögen, Annette: Die deklassierte Klasse. Frankfurt/ Main 1974, S. 65.

11 Ästhetik?“ (1976) einen philosophischen Diskurs in Gang.16 Eine Antwort auf die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Geschlecht und Kreativität wurde zwar in dieser Untersuchung nicht gegeben, aber der Versuch, eine weibliche ästhetische Tradition wieder zu entdecken, war anregend.17 Der Grund dafür, dass Frauen aus der Kunstproduktion ausgegrenzt wurden, liegt laut Bovenschen darin, dass Frauen dieses von Männern beherrschte Gebiet fremd sei, nicht aber weil sie „unfähig“ dazu seien. Sie hebt hervor, dass Frauen in gleicher historischer Wirklichkeit anders dachten, empfanden und wahrnahmen als Männer. 18 Sie setzt eine geschlechts- bedingte Differenz in der Wahrnehmung voraus: „das Bewusstsein der Geschlechts- zugehörigkeit geht allem voran.“19 Da Frauen anders dächten als Männer, schrieben sie auch anders, so Bovenschens These. Da sie in der patriarchalischen Gesellschaft aus dem öffentlichen Aktionsraum ausgeschlossen seien, hätten sie Schwierigkeit, diese „andere“ Schreibweise zu praktizieren. Es verwundere nicht, dass Weiblichkeitsentwürfe von Frauen mehr oder weniger in den Klischees der von Männern dargestellten Frauenbilder befangen seien.20 Vor diesem Hintergrund stellt Sigrid Weigel eine interessante These auf: Sie schlägt vor, die weibliche literarische Tradition mit dem „schielenden Blick“21 zu rekon- struieren. Sie rät, Stilbrüche und Widersprüche, also „Doppelexistenz“22 in den Sub- texten von Frauen zu suchen. Solange Frauen in der patriarchalischen Gesellschaft lebten, würden ihre Texte niemals „nur das herrschende Frauenbild oder nur die ‚neue Frau’ imaginieren“23. Irmgard Roebling schließt sich dieser These in ihrem Aufsatz „Lilith oder die Umwertung aller Werte“24 an und weist darauf hin, dass sich die Kategorie der „Doppelexistenz“ besonders gut für die Schilderung der Situation

16 Vgl. Bovenschen, Silvia: Über die Frage: Gibt es eine ‚weibliche’ Ästhetik? In: Ästhetik und Kommunikation 7/25 (1976), S. 60-75. 17 Vgl. Frei-Gerlach, Franziska. Schrift und Geschlecht: Feministische Entwürfe und Lektüren von Marlen Haushofer, Ingeborg Bachmann und Anne Duden. Berlin 1998, S. 39f.. 18 Vgl. auch Cixous, Hélène: Weiblichkeit in der Schrift. Berlin 1980. 19 Bovenschen, 1976, S. 66. 20 Vgl. Frei-Gerlach, 1998, S. 39f.. 21 Vgl. Weigel, Sigrid: Der schielende Blick. Thesen zur Geschichte weiblicher Schreibpraxis. In: Die verborgene Frau. 6 Beiträge. zu einer feministischen Literaturwissenschaft. Hg. von Inge Stephan und Sigrid Weigel. Berlin 3 1988, S. 83-137, hier S. 83. 22 Ebd., S. 104. 23 Ebd., S. 88. 24 Vgl. Roebling, Irmgard: Lilith oder die Umwertung aller Werte. Eine Untersuchung zum literari- schen Frauen-Bilder-Sturz um die Jahrhundertwende am Beispiel von Isolde Kurz’ Versepos ‚Die Kinder der Lilith’. In: Lulu, Lilith, Mona Lisa.… Frauenbilder um die Jahrhundertwende. Hg. von Irmgard Roebling. Pfaffenweiler 1988, S. 157-198.

12 schreibender Frauen um die Jahrhundertwende eignet.25 Dem stimme ich zu und will mit Hilfe des genderspezifischen Ansatzes die These entwickeln, dass die Autorinnen (Déry, Viebig und Wolff) mit der Darstellung der Motive "Kleinbürgerin" und "Kleinbürger" anders als die Autoren (Hauptmann und Sternheim) umgehen und mit ihnen andere Zwecke verfolgen. Um dies nachzuweisen, beziehe ich folgende Ansätze in die Untersuchung ein: die Kategorie „Männerphantasie“ von Klaus Theweleit26, nach dem Männer in die von ihnen imaginierte Weiblichkeit auch ihre psychischen Mechanismen wie Verdrängen, Angst und Abwehr eingehen ließen. Der ideologiekritische Ansatz von Silvia Bovenschen hebt auf die Differenz zwi- schen den von Männern entworfenen Frauenbildern und den realen Frauen ab. Es wird untersucht, wie diese imaginierte Weiblichkeit in männlichen Texten auf reale Frauen wirkte und ob mit diesen Bildern ideologische Muster vermittelt wurden.27 Christa Rohde-Dachser geht davon aus, dass diese von Männern konstruierten Bilder Abwehr- und Kompromissphantasien zwischen Wunsch und Angst sind.28 Soweit es um die Theorie weiblichen Schreibens geht, beziehe ich mich auf Elisabeth Links Aufsatz „Die sich selbst verdoppelnde Frau“ 29 , Sigrid Weigels Aufsätze: „Das Schreiben des Mangels als Produktion von Utopie. Reflexionen“30 und „Der schie- lende Blick. Thesen zur Geschichte weiblicher Schreibpraxis“31. Beide Autorinnen versuchen in ihren Studien die Thesen zur Existenz der Verdopplung und der Wider- sprüche in weiblichen Schreibstrategien herauszuarbeiten. Diese eignen sich sehr gut für meine Analyse der Stücke weiblicher Autoren. Ich werde diese Thesen in dem Kapitel „Vergleich“32 genauer ausführen.

Die folgende Arbeit soll einerseits einen Beitrag zur Erforschung von Frauen- und Männerbildern in der Darstellung des Kleinbürgertums in den Dramen männlicher Autoren um die Jahrhundertwende leisten, andererseits die „vergessenen“ Dramen

25 Vgl. ebd., S. 158. 26 Vgl. Theweleit, Klaus: Männerphantasien. 2 Bde. Frankfurt/ Main 1977. 27 Vgl. Bovenschen, Silvia: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kultur- geschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt/ Main 1979. 28 Vgl. Rohde-Dachser, Christa: Expedition in den dunklen Kontinent. Weiblichkeit im Diskurs der Psychoanalyse. Berlin 1990, S. 95-107. 29 Vgl. Link, Elisabeth: Die sich selbst verdoppelnde Frau. In: Frauen – Kunst – Kulturgeschichte. Ästhetik und Kommunikation 15 (1976), S. 84-87. 30 Vgl. Weigel, Sigrid: Das Schreiben des Mangels als Produktion von Utopie. Reflexionen. In: Die Frauen mit Flügeln, die Männer mit Blei? Notizen zu weiblicher Ästhetik, Alltag und männlichem Befinden. Hg. von Friederike Hassauer und Peter Roos. Siegen 1986, S. 123-128. 31 Weigel, 1988, S. 83-137. 32 Siehe Seite 167-189 dieser Arbeit.

13 von Frauen um diese Epoche wieder aufspüren und ihnen die „Sprache“ zurück geben, so dass sich ihr Begehren und ihre Wünsche in der Darstellung des klein- bürgerlichen Motivs verstehen lassen.

Ich baue meine Arbeit folgendermaßen auf: Zunächst werde ich den Begriff des Kleinbürgertums, dessen sozialhistorische Situation sowie die aus seiner sozialen Stellung entwickelte Sozialpsychologie erschließen, um Kriterien und Kategorien zu gewinnen, mit denen die von den männlichen und weiblichen Autoren dargestellten Kleinbürgertypen und ihre Mentalität erfasst werden können (Kapitel II). Im zwei- ten Teil werde ich das Motiv des Kleinbürgertums in literarischen Texten interpre- tieren. Ich werde drei Dramen von Männern (Kapitel III. 1; „Der Biberpelz“, „Die Ratten“ von Gerhart Hauptmann und „Die Hose“ von Sternheim) und drei Dramen von Frauen (Kapitel III. 2; „D’ Schand’“ von Juliane Déry, „Die Meisterin“ von Johanna Wolff und „Fräulein Freschbolzen“ von Clara Viebig) untersuchen. Die Textanalyse bildet den Schwerpunkt; sie gliedert sich in zwei Durchgänge, erstens werde ich herausarbeiten, wie die Männer und die Frauen die Bilder der Kleinbür- gerin und des Kleinbürgers darstellen, ob sie die Widersprüche des Kleinbürgertums dramatisch umsetzen, ob sie mit Mitteln des Komischen, Tragischen oder Grotesken die Ambivalenz des Kleinbürgertums zum Ausdruck bringen und ob sie die ambi- valente Situation der Kleinbürgerin als Zentralthema des Dramas konstruieren. Im zweiten Durchgang geht es darum, welche Funktion das Motiv des Kleinbürgertums in Dramen männlicher und weiblicher Autoren erhält. Im letzten Kapitel versuche ich, die Bilder der Kleinbürgerin und des Kleinbürgers von Männern und Frauen einem Vergleich zu unterziehen und deren verschiedene Zielsetzungen beim Umgang mit dem Motiv zu analysieren (Kapitel IV).

14 II. Sozialgeschichte und Sozialpsychologie des Kleinbürgertums um die Jahrhundertwende (1890-1914)1

Anhand verschiedener Themen wird im 19. und besonders im 20. Jahrhundert das Motiv des Kleinbürgertums als literarisches Sujet von Dramen und Romanen aufge- griffen: Friedrich Hebbel stellt z. B. in „Maria Magdalena“ (1846) einerseits einen Generationskonflikt dar, andererseits die Identitätskrise des Handwerkers Meister Anton, der rigoros auf kleinbürgerlichen Wertvorstellungen beharrt und im Gefäng- nis seines Weltbildes gefangen bleibt. Im Roman „Meister Timpe“ (1880) beschreibt Max Kretzer den verzweifelten Kampf eines Berliner Handwerkermeisters gegen die kapitalistische Konkurrenz und den im Gang der Industrialisierung erfolgenden Verfall der menschlichen Beziehungen. Johannes Schlaf erzählt in „Die Familie Selicke“ (1890) von einem alkoholsüchtigen Buchhalter und dessen Familien- mitgliedern, die fatal unter seiner Abhängigkeit leiden. Theodor Fontane schildert in „Frau Jenny Treibel“ (1892) den sozialen Aufstieg der Tochter eines Kleinhändlers, die als Kind im Laden ihres Vaters „kleine und große Tüten geklebt“2 hat, später einen Kommerzienrat heiratet und nicht mehr hinter dem Ladentisch zu stehen braucht.3 In diesen Werken beschäftigen sich die Autoren mehr oder weniger mit den sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen im Kleinbürgertum und reflektieren bewusst oder unbewusst die historische Entwicklung dieser Schicht und deren Verhaltens- muster. Da die vorliegende Arbeit die Motive "Kleinbürgerin" und "Kleinbürger" in Dramen von männlichen und weiblichen Autoren um die Jahrhundertwende untersucht, - eine Epoche, in der sich die soziale Lage der Mittelschicht wegen des

1 Werner Conze nennt die Epoche von 1890 bis 1914 das Zeitalter Kaiser Wilhelms II.. Bis 1914 wurde das „persönliche Regiment“ Wilhelms II. zum Kennzeichen der Epoche. (Vgl. Conze, Werner: In der Epoche des Imperialismus. Ereignisse und Entwicklungen 1890-1918. Das Zeitalter Kaiser Wilhelms II. (1890-1914). In: Ploetz. Deutsche Geschichte. Epoche und Daten. Hg. von Werner Conze. Würzburg 1979, S. 225-238.) In der Literaturgeschichte wurde das Wilhelminische Zeitalter auch als literarhistorische Epoche betrachtet. In dieser Epoche ent- wickelten sich unterschiedliche literarische Strömungen: Naturalismus, Symbolismus, Impres- sionismus, Heimatkunst und Expressionismus. Dieser Zeitraum (1890-1914) entspricht sowohl der sozialgeschichtlichen als auch der literaturgeschichtlichen Epoche der Jahrhundertwende. (Vgl. Werner, Renate: Das Wilhelminische Zeitalter als literarhistorische Epoche. In: Wege der Literaturwissenschaft. Hg. von Jutta Kolkenbrock-Netz. Bonn 1985, S. 211-231.) 2 Fontane, Theodor: Frau Jenny Treibel. Frankfurt/ Main 2 1996, S. 8. 3 Vgl. Frevert, Ute: „Wo du hingehst...“ – Aufbrüche im Verhältnis der Geschlechter. Rollentausch anno 1908. In: Jahrhundertwende. Der Aufbruch in die Moderne. 1880-1930. Bd. 2. Reinbek b. Hamburg 1990, S. 94.

15 Modernisierungsprozesses rapide verwandelt -, ist es sinnvoll, vor der Textanalyse die sozialhistorische Entwicklung und sozialpsychologische Veränderung des Klein- bürgertums zu dieser Zeit herauszuarbeiten. Dadurch gewinne ich Kategorien, mit denen ich Verhalten und Äußerungen der kleinbürgerlichen Figuren in den Dramen besser verstehen und rekonstruieren kann. In diesem Kapitel werden folgende Schwerpunkte untersucht: 1) Zunächst wird versucht, den Begriff „Kleinbürgertum“ zu bestimmen. Die Versuche der Forschung, die Begriffe: „Kleinbürger“, „Mittelstand“ oder „Spießbürger“ zu definieren, sind zahlreich und umstritten. Ich verfolge hier nicht die Absicht, eine neue Definition des Kleinbürgertums zu entwickeln, sondern will durch eine grobe Übersicht den Begriff für die Untersuchung erschließen. 2) Die ökonomische Lage des Klein- bürgertums und sein soziales Verhältnis zu Bürgertum und Proletariat werden aus- führlich dargestellt. 3) Die Familienstruktur, die Stellung der Frau und der Soziali- sationsprozess in der kleinbürgerlichen Familie sind ebenfalls zentrale Themen der vorliegenden Arbeit. 4) Zuletzt wird auf die Sozialpsychologie des Kleinbürgertums eingegangen. Es wird untersucht, wie sich soziale und wirtschaftliche Verände- rungen sowie die spezifische Art der Sozialisation auf die Psyche der Kleinbürger auswirken.

1. Das Problem, den Begriff „Kleinbürgertum“ zu bestimmen

Im Vergleich zu andere Gesellschaftsklassen betreffenden Begriffen wie Proletariat oder Bürgertum ist der Begriff „Kleinbürgertum“ kaum bestimmbar. Gehört es zum Bürgertum? Ist es ein Bürgertum zweiter Klasse? Kann man den Begriff „Klein- bürgertum“ und den Begriff „Mittelstand“ gleichbedeutend verwenden oder nicht? Um wen geht es hier? Um den Nicht-Arbeiter, den Nicht-Kapitalisten? Genauer betrachtet, um den kleinen Produzenten, den unproduktiven Arbeiter? Oder um die Händler, Handwerker, Kleineigentümer, Angestellten? Wie kann man sie unter einen Begriff bringen?

16 1977 versuchten Gerhart A. Ritter und Jürgen Kocka in „Deutsche Sozialge- schichte“4 die gesellschaftlichen Schichten mit Hilfe des Kriteriums der Berufstätig- keit zu unterteilen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts umfasste der Begriff „Bürger- tum“ Ritter und Kocka zufolge noch eine breite Sozialgruppe: Finanzkapitalisten und Großunternehmer sowie die bürgerlichen Beamten in den Zentral- und Lokal- behörden bis hin zum Handwerker, Einzelhändler und Bauern. Durch die Industrialisierung wandelte sich jedoch die Zusammensetzung der Gesellschaft. Einem Teil des ehemaligen Bürgertums (Kapitalisten, Unternehmer) gelang es, ökonomisch und sozial aufzusteigen; der andere große Teil - die Kleingewerbe- treibenden, Kleinkaufleute, kleineren Beamten und kleineren Bauern - nahmen an dem wirtschaftlichen und sozialen Aufschwung kaum teil. In den 1850er Jahren wurde der Begriff „Bürgertum“ verengt und zunehmend verdrängt durch den immer stärker dominierenden gesellschaftlichen Gegensatz zwischen Wirtschaftsbürgertum (Bourgeoisie) und Proletariat. Der Begriff „Bürgertum“ wurde als Gegenbegriff zu „Arbeiterschaft“ und „Proletariat“ gebraucht. Was weder in den sich verengenden Bürgerbegriff hineinpasste noch zum Proletariat gezählt werden konnte, fasste man unter den Begriff „Kleinbürgertum“. Die Zeitgenossen verwendeten jedoch immer häufiger den Begriff „Mittelstand“. Ritter und Kocka heben hervor, dass sich das Kleinbürgertum durch den Begriff „Mittelstand“ an eine angeblich bessere, „ständische“ Vergangenheit zu erinnern versuchte.5 Seit den 1880er Jahren schloß der Begriff „Kleinbürgertum“ zudem untere und mittlere Beamte, Handlungsgehilfen und Privatangestellte im Handel und in den öffentlichen Dienstleistungen mit ein.

Diese Verteilung der sozialen Schichten erscheint zwar plausibel, jedoch halte ich sie für zu vereinfacht. Elisabeth Tworek-Müller hat in ihrer Dissertation einen ausführlichen Überblick über die Forschung zum Kleinbürgertum gegeben;6 da ihre Definitionsversuche sowohl ökonomische, sozialpsychologische als auch kulturelle Eigenschaften des Kleinbürgertums mit einbeziehen, halte ich ihren systematischen Definitionsversuch für aufschlussreich und werde ihn im folgenden in den zwei wichtigsten Aspekten kurz zusammen fassen: die am ständischen Denken und an der

4 Deutsche Sozialgeschichte: Dokumente und Skizzen. Hg. von Gerhard A. Ritter. Bd. 2: 1870-1914. München 1977. 5 Vgl. ebd., S. 288. 6 Tworek-Müller, Elisabeth: Kleinbürgertum und Literatur: Zum Bild des Kleinbürgers im baye- rischen Roman der Weimarer Republik. München 1985.

17 Sozialstellung orientierten Definitionen sowie die am Widerspruch zwischen ökono- mischer Existenz und „ideologischem Überbau“7 orientierten Definitionen.

1.1 Die am ständischen Denken und an der sozialen Stellung orientierten Definitionen

Ende der zwanziger Jahre gab es immer mehr sozialwissenschaftliche Diskussionen über die Begriffe „Mittelstand“ und „Kleinbürgertum“. Die Soziologie stellte die These von Marx und Engels in Frage, dass der Mittelstand zwischen den anderen Klassen, nämlich dem „Bürgertum“ und dem „Proletariat“ zerrieben werde.8 Der Mittelstand sei zwar ökonomisch verelendet, aber keineswegs verschwunden. Vielmehr bildeten der wirtschaftlich gesunkene alte Mittelstand und die neu entstandene Angestelltenschaft eine breite „Zwischenschicht im Zweiklassen- system“.9 Diese Diskussion wurde vor allem von den Sozialforschern Emil Lederer, Jakob Marschak und Theodor Geiger in den zwanziger Jahren geführt.

Seit Ende des 19. Jahrhunderts ergaben sich innerhalb des Mittelstandes durch ökonomische Umstrukturierungen soziale Veränderungen. Durch die Konzentration der wirtschaftlichen Unternehmen und die Rationalisierung der industriellen Produktion wurden Handwerk, Bauerntum und Kleinhandel in ihren Lebensgrund- lagen bedroht.10 Sie waren nun zum Teil ökonomisch erheblich schlechter gestellt. Aber mit der Technisierung, Rationalisierung und Ausbreitung des Dienstleistungs- sektors entwickelte sich die neue Berufsgruppe der Angestellten.

1926 versuchten Lederer/Marschak, diesen „neuen Mittelstand“ zu definieren:

7 Diesen Begriff übernehme ich von Leppert-Fögen, Annette: Die deklassierte Klasse. Studien zur Geschichte und Ideologie des Kleinbürgertums. Frankfurt/ Main 1974, S. 20. 8 1848 hatten Marx und Engels im „Manifest der Kommunistischen Partei“ vorausgesagt, dass das alte Kleinbürgertum durch die Konkurrenz der Industrie und der Kaufhäuser nicht werde überleben können. (Vgl. Marx, Karl/ Engels, Friedrich: Manifest der Kommunistischen Partei. In: Dies.: Ausgewählte Schriften in zwei Bänden. Bd. 1. Berlin 18 1970, S. 33.) 9 Vgl. Geiger, Theodor: Panik im Mittelstand. In: Die Arbeiter 10 (1930), S. 638. 10 Vgl. Tworek-Müller, Elisabeth: Kleinbürgertum und Literatur: Zum Bild des Kleinbürgers im bay- erischen Roman der Weimarer Republik. München 1985, S. 88.

18 „Die Sammelbezeichnung „neuer Mittelstand“ entstammt der Zeit vor dem Kriege. Sie will eine große Reihe ganz verschiedener Berufsgruppen mit einem Schlagwort charakterisieren, das zugleich eine Entwicklungshypothese andeutet. Diese geht dahin, daß der Kapitalismus zwar durch die ihm immanenten Tendenzen unaufhaltsam zur Konzentration der wirtschaftlichen Unternehmun- gen, damit zur Verminderung der selbständig Berufstätigen, zur Auflösung und Zurückdrängung des alten Mittelstandes führe, daß jedoch auf der anderen Seite eine rapid wachsende Schicht unselbständig Berufstätiger in Bildung begriffen sei, welche keine Arbeiter umfasse, den Fortgang des Proletarisierungspro- zesses aufhalte, sich als Puffer zwischen das Großkapital und das Proletariat schiebe und alle die sozialen Funktionen übernehme, für welche der „alte Mittelstand“ numerisch, zum Teil auch sozial und kulturell, nicht mehr aus- reiche.“11

Der „neue Mittelstand“, die Angestelltenschaft, hatte wegen seiner kurzen Entwick- lung noch keine eigene Ideologie herausgebildet. Seine Berufstätigkeit als Büroan- gestellte und seine Ähnlichkeit mit dem Beamtentum führte zu der Bezeichnung „Stehkragenproletariat“; es identifizierte sich einerseits mit dem gebildeten Be- amtenstand, war aber andererseits von Finanznot bedroht. Dieser in sich wider- sprüchliche Komplex deutet auf die Zwischenstellung des Kleinbürgertums hin. Die neue Schicht orientierte sich in Schichtzugehörigkeit und Bildung klar nach oben und versuchte, das Bürgertum zu imitieren.12 Lederer/ Marschak schreiben: „Teilen auch die kapitalistischen Zwischenschichten heute bereits das Schicksal des Proletariats, so hat ihre Mehrheit doch noch nicht ihre bürgerliche Ideologie aufgegeben.“13

Aus der Marxschen Drei-Lagen-Gliederung (kapitalistische, mittlere und prole- tarische Lage) entwickelte Theodor Geiger 1932 eine Fünf-Stufen-„Tiefengliede- rung“, welche mit dem Drei-Lagen-Modell in Zusammenhang stand14:

11 Lederer, Emil/ Marschak, Jakob: Der neue Mittelstand. In: Grundriß der Sozialökonomik. IX. Abteilung. Das soziale System des Kapitalismus. 1. Teil. Die Gesellschaftliche Schichtung im Kapitalismus. Tübingen 1926, S. 121f.. 12 Vgl. ebd., S. 85. 13 Ebd., S. 128. 14 Geiger, Theodor: Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Soziographischer Versuch auf sta- tistischer Grundlage. Stuttgart 1967, S. 24.

19 A. Rohgliederung B. Tiefengliederung (von Marx) (von Geiger) 1. Kapitalistische Lage 1. Kapitalisten 2. Mittlere Lage 2. Mittlere und kleinere Unternehmer 3. Proletarische Lage 3. Tagewerker für eigene Rechnung 4. Lohn- und Gehaltsbezieher höherer Qualifikation 5. Lohn- und Gehaltsbezieher minderer Qualifikation

Mit diesem Modell der gesellschaftlichen Schichtung bezog Geiger einerseits die objektiven Kennzeichen der sozialen Stellung (z.B. Beruf, Einkommen, Ausbildung) mit ein, andererseits aber auch die subjektiven Kennzeichen, die auf individuellen Mentalitätsmustern beruhen.15 In Bezug auf den Begriff „alten Mittelstand“ kam er zu folgendem Resultat:

„So wirken im alten Mittelstand die ständischen Schichtungen der frühkapitalis- tischen Epoche als Querdifferenzierungen nach: ständische Sitte und Lebens- auffassung haben sich bewährt und leisten der Durchsetzung des hochkapitalis- tischen Klassenprinzips zähen Widerstand. Das gilt vom Bauern und Hand- werker in höherem Grade als vom Händler.“16

Die Forschungen von Lederer/ Marschak und Geiger zur sozialwirtschaftlichen Lage des Mittelstands wurden in den 70er Jahren aufgegriffen und verändert. 1974 beschäftigte sich Annette Leppert-Fögen mit dem Kleinbürgertum im Kapitalismus; sie beschränkte ihre Untersuchung jedoch nur auf den alten Mittelstand. Nach Leppert-Fögen war der Mittelstand soziologisch und klassentheoretisch jene soziale Gruppe,

„die ‘ständisch’ nicht nur im Hinblick auf ihre Ideologie, sondern auch auf ihre tatsächliche Position als ‘Überbleibsel einer vergangenen Produktionsweise’ genannt werden kann und ökonomisch insofern in der ‘Mitte’ steht, als sie weder der Bourgeoisie noch dem Proletariat zu subsumieren ist - während sie umgekehrt mit beiden jeweils entscheidende Eigenschaften teilt: mit jener das

15 Vgl. Tworek-Müller, 1985, S. 89. 16 Geiger, 1967, S. 85.

20 Merkmal des Eigentums an den Produktionsmitteln, mit diesem die Stellung der unmittelbaren Produzenten.“17

Der alte Mittelstand reicht Leppert-Fögen zufolge als „vorkapitalistisches Relikt“18 ins 20. Jahrhundert hinein, hatte aber einen historischen Funktionswandel durch- laufen. Sie erklärte, „wie sich das Kleinbürgertum als ein Phänomen der gleich- zeitigen Ungleichzeitigkeit zwischen den Klassen bewegt, erhält und rekrutiert“19: Es orientiere sich an den Werten der Großkapitalisten, wolle aber gleichzeitig seine Verdrängung vom Markt durch den Monopolkapitalismus vermeiden. Es kämpfe um so heftiger gegen den Abstieg ins Proletariat, je mehr es sich ihm nähere. Je unsicherer die Identität des Kleinbürgers sozioökonomisch sei, um so starrer würde er auf das Alte, das scheinbar Verlässliche, Gesunde und Starke, auf „law and order“, bestehen.20

1.2 Die am Widerspruch zwischen ökonomischer Existenz und „ideologischem Überbau“ orientierten Definitionen

Siegfried Kracauer verwies 1929 in seiner Studie „Die Angestellten“ auf folgendes Merkmal des Kleinbürgertums: die Diskrepanz des Kleinbürgertums zwischen realer ökonomischer Lage und ideologischer Einstellung. Der Kleinbürger habe seiner Meinung nach ein „falsches Bewußtsein“21, d.h. eine seiner Soziallage nicht entspre- chende Ideologie; seine soziale Haltung gehöre weder ganz zum Proletariat noch ganz zum Bürgertum. Kracauer schrieb:

„Die Masse der Angestellten unterscheidet sich vom Arbeiter-Proletariat darin, daß sie geistig obdachlos ist. Zu den Genossen kann sie vorläufig nicht hin- finden, und das Haus der bürgerlichen Begriffe und Gefühle, das sie bewohnt hat, ist eingestürzt, weil ihm durch die wirtschaftliche Entwicklung die Funda-

17 Leppert-Fögen, 1974, S. 20f.. 18 Den Begriff übernehme ich von Tworek-Müller,1985, S. 91. 19 Janke, Hans: Rezension zu Leppert-Fögens „Die deklassierte Klasse“. In: Jahrbuch der Arbeiter- bewegung 3. Frankfurt/ Main. 1975, S. 337. 20 Vgl. ebd., S. 337. 21 Kracauer, Siegfried: Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland. Allensbach 1959, S. 76.

21 mente entzogen worden sind.“22

Wilhelm Reich erklärte 1933 in seiner Studie „Die Massenpsychologie des Faschismus“ dieses „falsche Bewußtsein“ aus der Sexualunterdrückung in der klein- bürgerlichen Familie, deren psychische Strukturen unter bestimmten ökonomischen und historischen Verhältnissen entstehen.23 Er wies auf die Kluft zwischen sozial- wirtschaftlicher Lage und ideologischer Struktur des Kleinbürgertums hin, indem er die Skala der gesellschaftlichen Struktur in Bezug auf ihre sozialökonomischen Verhältnisse mit der der ideologischen Struktur verglich. Er kam zu folgendem Ergebnis: 1925 gehörten in Deutschland bei 35,262 Mill. Berufstätigen 12,755 Mill. sozialwirtschaftlich zum Kleinbürgertum; der ideologischen Struktur nach waren 20, 111 Mill. kleinbürgerlich.24 Die Stellung des Kleinbürgertums zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft ist Reich zufolge für seinen Charakter bestimmend: Einerseits blickt es ideologisch nach oben, um sich vom Arbeiter zu unterscheiden, andererseits ist es durch seine verelendete wirtschaftliche Situation eher im unteren Bereich der Gesellschaft lokalisiert:

„Ständig den Blick nach oben gerichtet, bildet der Kleinbürger eine Schere aus zwischen seiner wirtschaftlichen Lage und seiner Ideologie. Er lebt in kleinen Verhältnissen, aber er tritt nach außen repräsentativ auf, dies oft bis zur Lächer- lichkeit übertreibend. Er isst schlecht und ungenügend, aber er legt großen Wert auf ‚anständige Kleidung’.“ 25

Leo Kofler untersuchte 1970 das „Wesen des Kleinbürgertums“ in Bezug auf dessen ökonomische, ideologische und psychologische Entwicklung und hob die zwiespäl- tige Stellung des Kleinbürgertums zwischen den Klassen hervor:

„Oft ist die Zwischenstellung des Kleinbürgertums zwischen dem Proletariat und dem Bürgertum herausgestellt worden. Die primäre Widersprüchlichkeit in der gesellschaftlichen Situation des Kleinbürgers lässt sich bei einem Versuch ihrer genaueren Bestimmung dahingehend einsehen, daß er ökonomisch dem

22 Kracauer, 1959, S. 85. 23 Reich, Wilhelm: Die Massenpsychologie des Faschismus. Köln 2 1972, S. 50. 24 Ebd., S. 39. 25 Ebd., S. 71.

22 Proletariat zugehört, dem er widerstrebt, ideologisch dem Bürgertum zuneigt, das ihm widerstrebt, sich von ihm sichtbar als dem ‚Tieferstehenden’ dis- tanziert.“26

Diese Ambivalenz der gesellschaftlichen Lage des Kleinbürgers verursacht Kofler zufolge die Minderwertigkeitsgefühle dieser Schicht; diese spiegelten sich wiederum in seinen Charaktereigenschaften, nämlich der kleinbürgerlichen Utopie, dem starken Streben nach Bildung und latentem Unbehagen wider. 27 Kofler beschrieb das Dilemma des Kleinbürgers folgendermaßen:

„Nichts ist daher für den Kleinbürger bezeichnender als der Zug ins Sentimen- tale und Philiströse als Ergebnis der verkrampften Versuche, den Widerspruch zwischen der subjektiv vergorenen und verschwommenen Traumwelt, der utopischen Tendenz, und der Unbedingtheit der entfremdeten Realität, der der Kleinbürger nicht zu entfliehen, sondern sich anzupassen bestrebt ist, sie hinzunehmen wie sie ist, durch ‚Bildung’ zu überwinden.“28

Nach diesem Überblick über die Definitionsversuche des Begriffs „Kleinbürger“ gehen wir im folgenden auf die wirtschaftliche Lage des Kleinbürgers um die Jahrhundertwende ein.

2. Wirtschaftliche Lage des Kleinbürgertums

1848 prophezeiten Marx und Engels im „Kommunistischen Manifest“, dass das alte Kleinbürgertum, die Handwerker und die Kleinhändler, verschwinden würde, weil es nicht fähig sei, mit der Industrie und den Kaufhäusern zu konkurrieren.29 Die großen Unternehmer und Kaufleute könnten billiger ein- und verkaufen, rascher und mehr produzieren. 30 Sie investierten viel Kapital und besäßen neueste technische Er- rungenschaften im Betrieb. Nach Marx' und Engels' Prognose stiegen die meisten

26 Kofler, Leo: Das Wesen des Kleinbürgertums. In: Ders.: Staat, Gesellschaft und Elite zwischen Humanismus und Nihilismus. Frankfurt/ Main 1970, S. 257. 27 Vgl. ebd., S. 260, 261, und 267. 28 Ebd., S. 262. 29 Vgl. Marx, Karl/ Engels, Friedrich: Manifest der Kommunistischen Partei, 1970, S. 33. 30 Vgl. Bolte, Karl Martin/ Kappe, Dieter: Soziale Ungleichheit. Opladen 1974, S. 18.

23 Kleinbetriebe ins Proletariat ab:

„Die bisherigen kleinen Mittelstände, die kleinen Industriellen, Kaufleute und Rentiers, die Handwerker und Bauern, alle diese Klassen fallen ins Proletariat hinab, teils dadurch, daß ihr kleines Kapital für den Betrieb der großen Industrie nicht ausreicht und der Konkurrenz mit den größeren Kapitalisten erliegt, teils dadurch, daß ihre Geschicklichkeit von neuen Produktionsweisen entwertet wird.“31

Diese Thesen von Karl Marx und Friedrich Engels schienen sich im Verlauf der Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu bestätigen, als der Mittelstand zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat durch beständige Kon- kurrenz zerrieben wurde. Im folgenden wird die wirtschaftliche Lage der Hand- werker und der Kleinhändler untersucht, um die ambivalente Situation des Klein- bürgertums in der wirtschaftlichen Entwicklung darzustellen.

2.1 Wirtschaftliche Lage der Handwerker

Durch die beschleunigte Industrialisierung und die Durchsetzung der Arbeitsteilung wurde die Struktur des Handwerks allmählich geändert. Die meisten Handwerker beschäftigten sich nun mit Dienstleistungstätigkeiten wie z.B. Reparatur, Instand- haltung und Zulieferung für industrielle Großbetriebe. Durch die Zuliefereraufgaben waren die Handwerker zwar wirtschaftlich einigermaßen gesichert, aber sie verloren ihre bisherige Unabhängigkeit. Denn die Industrie trat nicht nur als überlegener Konkurrent des Handwerks sondern auch als Auftraggeber in Erscheinung.32 Nur eine kleine Zahl der Handwerker erlebte noch geschäftlichen Erfolg. So wandelten sich z.B. Maurer und Schlosser erfolgreich zu Bauunternehmern. Viele Handwerker waren allerdings auf die Mithilfe der Familienangehörigen und eines zusätzlichen Gehilfen angewiesen. Ihre wirtschaftliche Situation war nicht so gut wie die der Bauunternehmer. Äußerst schwierig war die Lage der tatsächlich verarmten „Allein-

31 Marx/ Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, 1970, S. 33. 32 Vgl. Bolte, 1974, S. 16-18.

24 meister“33. 1895 arbeiteten fünfzig Prozent der Handwerker in allen Gewerben allein. Um zu überleben, mussten viele Handwerker ihre Unabhängigkeit aufgeben. So nähten die Schuhmacher die Sohlen der Fabrikschuhe an, die Zimmerleute fertigten Schränke für die Möbelgeschäfte an. In einer wirtschaftlichen Krisensituation, z.B. bei Erhöhung der Ladenmieten, verschärfte sich der Druck der Konkurrenz.34 Die wirtschaftliche Entwicklung durch die Industrialisierung hatte ihren Preis. Die aus der Produktion ausgeschlossenen Handwerker wurden abhängig von Großbe- trieben.35

Die Situation der im Handwerk beschäftigten Frauen war wegen mangelnder Ausbildung und niedriger Bezahlung noch schwieriger als die der Männer. Bis zur Auflösung des Zunftwesens36 war eine Betätigung im Handwerk für Frauen nur be- schränkt möglich. Da die Zünfte neben gewerblichen Funktionen auch politische, militärische und administrative Pflichten hatten, schränkten sie den Anteil der Frauen am Handwerk ein. Als spezifisch weibliche Handwerkstätigkeiten galten Schnei- derei, Putzmacherei, Wäschemaßschneiderei, Näherei und Frisieren.37 Erst nach dem Verfall des Zunftwesens traten Frauen mehr und mehr ins Handwerk ein.38 Nach den statistischen Ermittlungen von 1907 war die Zahl der Handwerkerinnen nur sehr gering. Dies lag u.a. daran, dass Frauen z.B. in Preußen erst 1911 offiziell zur Meisterprüfung zugelassen wurden. 39 Die Handwerkerinnen konnten zwar

33 Heidi Rosenbaum hat die schwierige Lage des Alleinmeisters im 19. Jahrhundert ausführlich be- schrieben. Vgl. Rosenbaum, Heidi: Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 6 1993, S. 187f.. 34 Vgl. Blackbourn, David: Handwerker im Kaiserreich: Gewinner oder Verlierer? In: Prekäre Selbständigkeit: Zur Standortbestimmung von Handwerk, Hausindustrie und Kleingewerbe im Industrialisierungsprozess. Hg. von Ulrich Wengenroth. Stuttgart 1989, S. 13f.. Über „proleta- roide“ Meister siehe Geiger, Theodor: Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Stuttgart 1967. 35 Vgl. Blackbourn, David: Handwerker im Kaiserreich: Gewinner oder Verlierer?, S. 14. 36 Zu Beginn des 19.Jahrhunderts schafften Preußen und andere deutsche Staaten die deutschen Zünfte ab. Aber im Jahre 1848 bildeten sich neue Selbsthilfeorganisationen, wie die im wesent- lichen freiwilligen Innungen, die versuchten, die Zünfte wieder zu beleben. In den ersten Jahren des neuen deutschen Kaiserreichs kam es zu einer Renaissance der Zunftforderungen durch die wiedererstarkende Handwerkerbewegung. (Genauere Information über Gewerbefreiheit, Zunft und gesellschaftlichen Wandel und Innungen in Deutschland: Siehe Haupt, Heinz-Gerhard: Die Kleinbürger: Eine europäische Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts. München 1998, S. 29-56.) 37 Vgl. Meister-Trescher, Hildegard: Frauenarbeit und Frauenfrage. In: Handwörterbuch der Staats- wissenschaften. Hg. von Ludwig Elster. Jena 1927, S. 310. 38 Vgl. Die radikale Mitte. Lebensweise und Politik von Handwerkern und Kleinhändlern in Deutschland seit 1848. Hg. von Heinz-Gerhard Haupt. München 1985, S. 57. 39 Vgl. Meister-Trescher, 1927, S. 311.

25 selbständig Gewerbe ausüben, aber sie hatten nicht das Recht, eigene Innungen zu bilden, d.h. sie waren nicht in der Lage, ihre Berufsinteressen selbst zu vertreten, Tarife abzuschließen oder vor allem die Ausbildung des weiblichen Nachwuchses entscheidend zu beeinflussen. Die Mädchen wurden auf einzelnen Gebieten des Handwerks nur in kurzfristigen Kursen ausgebildet. Erst im Jahr 1922 wurden weibliche Innungen offiziell gegründet.40 Unter diesen Bedingungen konnten die Frauen im Handwerk nicht mit den Männern konkurrieren. Außerdem waren die Löhne der Handwerkerinnen allgemein niedriger als die der Männer, in der Damenschneiderei z.B. verdienten die Frauen trotz gleicher Ausbildung und gleicher Leistung weniger als die Männer.41

2.2 Wirtschaftliche Lage der Kleinhändler

Im Laufe der Industrialisierung stieg die Ausdehnung des kleinen Handels an. Durch Urbanisierung und neue Formen des Transports nahm der Umsatz zu. Dies ver- stärkte das Wachstum des Handelsmarkts. Zwischen 1860-1890 war die Zahl der Ladenbesitzer gleich hoch wie die der Kunden. Von 1895 bis 1907 nahm die Zahl der Läden um zweiundvierzig Prozent zu, während die Bevölkerung nur um vierund- dreißig Prozent stieg. Die Ladeninhaber wurden zunächst nicht als Opfer der Industrialisierung angesehen. Danach aber gerieten sie in Konkurrenz mit Ketten- läden und Kaufhäusern, die seit 1890 in großer Schnelligkeit entstanden. 1900 gab es bereits über zweihundert Kaufhäuser in Deutschland. Der Ausbau des Eisenbahn- netzes beschleunigte die Lieferzeit der Waren.42 Die Kleinhändler waren gezwungen, sich markt- und gewinnorientiert zu verhalten. Nur einer Minderheit der Einzel- händler gelang es jedoch, ihre Geschäfte erfolgreich und marktorientiert weiter zu führen.43 Die finanzielle Lage der meisten Ladenbesitzer verschlechterte sich erheb-

40 Vgl. Brodmeier, Beate: Die Frau im Handwerk in historischer und moderner Sicht. Münster 1963, S. 65-67. 41 Vgl. Meister-Trescher, 1927, S. 311. 42 Vgl. Blackbourn, David: Between Resignation and Volatility: The German Petite Bourgeoisie in the Nineteenth Century. In: Shopkeepers and Master Artisans in Nineteenth-Century Europe. Hg. von Geoffrey Crossick. London 1984, S. 40f.. 43 Diese Ladenbesitzer mussten sich sehr anstrengen, um ihre Läden zu modernisieren. Karl Scheffler stellte den geizigen Krämer dar, der sein altes familiäres Geschäft zu erweitern versucht. Er vermietete die Stockwerke über dem Laden, um mehr Kapital investieren zu können. Er machte Reklame und baute Fenster aus Scheibenglas ein, bis er seinen Eckladen in einen

26 lich. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden fast alle Läden zum Ein-Mann- Geschäft bzw. zum Ein-Frau-Geschäft. Denn meist betrieb die Ehefrau eines Hand- werkers das Ladengeschäft, während die Männer gezwungen waren, außerhalb des Ladens eine Arbeit zu suchen.44 In Bremen überlebte 1907 ein Drittel aller Einzel- handelsgeschäfte, die im Firmenverzeichnis eingetragen waren, nicht mehr als sechs Jahre.45 Die Kleinhändler besaßen nur wenig Kapital, mussten jedoch die Kredite der Kunden wegen der Konkurrenz mit anderen Einzelhändlern verlängern. Allmählich wurden die Einzelhändler abhängig von Kreditgebern. Hier zeigte sich auch im Einzelhandel eine steigende Verringerung der Selbständigkeit. Am Anfang des 20. Jahrhunderts gab es einerseits eine Tendenz zur Kapitalkonzentration, andererseits verarmten viele Ladenbesitzer.46 In der Arbeit von Charlotte Niermann „Die Bedeutung und sozioökonomische Lage Bremer Kleinhändlerinnen zwischen 1890 und 1914“ wurde der Situation der Kleinhändlerinnen Aufmerksamkeit gewidmet. Am Ende der Studie fasst Niermann die soziale Lage der Kleinhändlerinnen in Bremen zusammen: Als Frauen wurden die Geschäftsinhaberinnen nicht nur rechtlich, kulturell und moralisch diskriminiert, sondern auch ökonomisch, z.B. ließen die Rabattsparvereine die verarmten, mobilen und kleinen - von Frauen geführten - Geschäfte nicht als Mitglieder zu. Sie wurden vor 1914 zunehmend von Männern aus der Branche gedrängt. Es gab keine langfristige Versorgung mehr für die Frauen im Kleinhandel. Der Platz im Klein- handel wurde auch ideologisch und organisatorisch für Männer festgeschrieben.47

2.3 Wirtschaftliche Lage der Angestellten

Durch den Strukturwandel und die moderne Technik in den Industriebetrieben entstand um die Jahrhundertwende eine neue soziale Gruppe: die Angestelltenschaft.

ansehnlichen Laden verwandelt hatte. (Vgl. Scheffler, Karl: Der junge Tobias. Eine Jugend und ihre Umwelt. Leipzig 1927, S. 112f..) 44 Vgl. Blackbourn, David: The Mittelstand in German Society and Politics. 1871-1914. In: Social History 4 (1977), S. 416-422. Vgl. Haupt, Heinz-Gerhard: Der Bremer Kleinhandel zwischen 1890 und 1914. Binnenstruktur, Einfluß und Politik. In: Beiträge zur Sozialgeschichte Bremens 4 (1982), S. 7-40. Niermann, Charlotte: Die Bedeutung und sozioökonomische Lage Bremer Klein- händlerinnen zwischen 1890-1914. In: ebd., S. 85-110. 45 Vgl. Haupt, Heinz-Gerhard: Kleinhändler und Arbeiter in Bremen zwischen 1890 und 1914. In: Archiv für Sozialgeschichte 22 (1982), S. 108-110. 46 Vgl. Blackbourn, 1984, S. 40-43. 47 Vgl. Niermann, 1982, S. 85-109.

27 Diese neue Gruppe vermehrte sich mit der raschen Zunahme von Büroarbeiten in der Industrie, in den vielen Kaufhäusern sowie mit ihrer Teilnahme am öffentlichen Dienst. Es gab eine große Zahl von gering qualifizierten Angestellten, die sich mit Routinebüroarbeit beschäftigten, sowie eine starke Zunahme der weiblichen Ange- stellten, die als Schreibkräfte arbeiteten. Nach der Untersuchung des deutschnationalen Handlungsgehilfenverbandes (D.H.V.) erreichte die jährliche Besoldung der technischen Angestellten 1910 durchschnittlich keine 2500 Mark, auch in den Großstädten und in den großen Betrieben nicht.48 Das durchschnittliche Jahreseinkommen der Privatangestellten im Handel betrug 1947,70 Mark. Das jährliche Einkommen des kaufmännischen Angestellten (Handlungsgehilfen) betrug im Durchschnitt 1533,20 Mark. Die wirtschaftliche Lage der technischen Angestellten war so schwierig, daß sie ihren Kindern nicht mehr dieselbe Bildung zukommen lassen konnten, die sie selbst genossen hatten. Viele Angestellten klagten, daß ihre Einkommen gleich oder geringer als die Löhne der Arbeiter ausfielen und sie so mit den wachsenden Lebenshaltungskosten nicht Schritt halten konnten (Siehe Anhang 1). Nach den Gehaltsverhältnissen gehörten sehr große Teile der Angestellten zum Proletariat (besonders Handelsangestellte). Die meisten Handlungsgehilfen empfanden eine Proletarisierung - also eine soziale Gleichstellung mit dem Proletariat - als Deklassierung.49

Aufgrund der Quellenlage lassen sich die erzielten Einkommen der weiblichen Angestellten vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland nicht exakt feststellen. Denn die Gehaltsstatistiken der Angestelltenvereine bezogen sich nur auf das männliche Geschlecht. Nach einer Untersuchung des Berliner Frauenverbandes verdienten 1898 siebzig Prozent der Frauen im Kontorpersonal in Berlin mehr als 720 Mark im Jahr. Ihr Gehalt entsprach dem der Berliner Konfektionsarbeiterinnen.50 Insgesamt stiegen die Einkommen sowohl des Verkaufs- wie des Expeditions-, Lager- und Büropersonals vor dem ersten Weltkrieg langsam an; durchschnittlich stieg das Ein- kommen um zwölf Prozent. Aber gleichzeitig verteuerten sich die Lebenshaltungs-

48 Vgl. Die wirtschaftliche Lage der deutschen Handlungsgehilfen. Hamburg 1910, S. 61-63. In: Deutsche Sozialgeschichte. Hg. von Gerhard A. Ritter, 1977, S. 318-320. 49 Emil Lederers Analyse des Angestelltenproblems von 1912 gehört immer noch zu den bedeu- tendsten Beiträgen zu diesem Thema. Vgl. Lederer, Emil: Die Privatangestellten in der modernen Wirtschaftsentwicklung. Tübingen 1912, S. 63-67, 75-83, 96-99. 50 Vgl. Mitteilungen für weibliche Angestellte 34, 1.9. 1899, S. 273. Zitiert nach Nienhaus, Ursula: Berufsstand weiblich. Die ersten weiblichen Angestellten. Berlin 1982, S. 76.

28 kosten. Nach Berechnungen der Handelskammer Essen stiegen die Lebensmittel- preise von 1900 bis 1909 um zwölf Prozent. So erreichten um 1912 schätzungsweise 40% der kaufmännischen weiblichen Angestellten Gehälter, die unter dem Existenz- minimum lagen.51 Im Vergleich mit den männlichen Angestellten verdienten die weiblichen Ange- stellten schlechter. Im Jahrbuch der Verbündeten Weiblichen Vereine kamen 1917 die statistischen Daten für Frauenlöhne so zustande, daß viele weibliche Angestellte wegen fehlender oder kurzer Ausbildung in den ersten drei Jahren ihrer Berufstätigkeit den Gehilfinnen zugerechnet wurden, während die jungen Männer, die nach zwei oder dreijähriger Lehre als Gehilfen bezahlt wurden, mehr verdienten als die Frauen. Die meisten männlichen Angestellten auch unter zwanzig Jahren verdienten erheblich mehr als gleichaltrige Frauen. Im Alter von fünfundfünfzig bis sechzig Jahren verdienten die männlichen Angestellten sogar doppelt so viel wie die Frauen52 (Siehe Anhang 2). Die Gründe für die schlechtere Bezahlung der weib- lichen Angestellten waren die familienorientierte Sozialisation und eine fehlende ordnungsgemäße Berufsausbildung. Die Frauen wurden so erzogen, daß ihr Haupt- beruf Hausfrau und Mutter war. Die vorübergehende Erwerbstätigkeit war die Phase zwischen Schule und Ehe. Dabei konnten sie mit einem geringen Zuverdienst zum Familieneinkommen beitragen. So verzichteten viele Frauen aus Zeit- und Kosten- gründen auf eine kaufmännische Ausbildung. Viele Eltern wollten die Kosten der Ausbildung für ihre Töchter nicht bezahlen, während sie für die fachliche Aus- bildung ihrer Söhne Mittel investierten. Die fehlende fachliche Ausbildung war jedoch nur scheinbar der Grund für die ungleiche Entlohnung. Einerseits wurden die weiblichen Angestellten durch Erziehung und gesellschaftliche Vorurteile auf das bürgerliche Familienideal ausgerichtet und in ihren beruflichen Interessen nicht gefördert, so dass sie schlechter qualifiziert waren, andererseits wurden die schlechte Qualifikation und die kurze Berufstätigkeit der Frau von den Arbeitsgebern als Argument benutzt, um Frauen weniger zu zahlen.53

Die wirtschaftliche Situation des Kleinbürgertums entsprach so nur wenig seinem

51 Vgl. Nienhaus, 1982, S. 78. 52 Vgl. Jahrbuch der Verbündeten Weiblichen Vereine 1917, S. 75. Zitiert nach Nienhaus, 1982, S. 89. 53 Vgl. ebd., S. 90-93.

29 Selbstverständnis, eine gesellschaftliche Mittelposition einzunehmen. Zu fragen ist, welche sozialen Folgen dieser ökonomische Widerspruch innerhalb des Kleinbürger- tums hatte.

3. Soziale Stellung des Kleinbürgertums zwischen Bürgertum und Proletariat 3.1 Das alte Kleinbürgertum im Verhältnis zum Bürgertum

Bis 1850 gab es keinen großen Unterschied zwischen dem Kleinbürgertum und dem Bürgertum, denn sie bildeten gemeinsam die produktive Mitte der Gesellschaft. Nach 1850 wurde die Kluft zwischen der sozio-ökonomischen Lage des Klein- bürgertums und der des Bürgertums immer größer. 54 Immer weniger klein- bürgerliche Familien konnten sich ein Dienstmädchen leisten, das als Standard im bürgerlichen Haushalt betrachtet wurde. Durch die verschlechterte materielle Lage beteiligten sich die Kleinbürger allmählich nicht mehr in den freiwilligen Vereinen, z.B. Feuerwehr, Handelsverein und historischer Verein. So kritisierte der Buchbinder Paul Adam Ehrenämter im Verein: „[sie] kosten nur und bringen nichts ein.“55 Allmählich entstand beim Kleinbürgertum eine widersprüchliche Verhaltens- weise gegenüber dem Bürgertum. Die tugendbewussten und rechtschaffenen Kleinbürger lehnten die spekulativen Neigungen des Großbürgertums ab. Auf der anderen Seite stand diese ablehnende Haltung im Widerspruch zum Wunsch der Kleinbürger, in das gehobene Bürgertum aufzusteigen und sich dessen Verhaltens- weisen anzueignen. Wenn sie ins Bürgertum aufsteigen wollten, bedeutete das somit, ihrer Moral und ihren Werten untreu zu werden. Beschäftigte man sich z. B. mit finanziellen Spekulationen, so widersprach das dem kleinbürgerlichen Gebot, Umsicht und Ehrlichkeit als erste Tugenden zu achten. Die Kleinbürger gaben ihre eigene Unabhängigkeit auf, um Kredite aufzunehmen und so den sozialen Aufstieg zu erreichen. Oft mussten sie sich fragen, welchen Werten sie folgen sollten, wenn sie ihre Geschäfte betrieben. Das Verhältnis des Kleinbürgertums zum Bürgertum zeigte sich deshalb als gemischtes Gefühl von Anziehung und Abneigung.56

54 Vgl. Winkler, Heinrich August: Mittelstand, Demokratie und Nationalsozialismus. Köln 1972, S. 21-39. 55 Adam, Paul: Lebenserinnerungen eines alten Kunstbuchbinders. Stuttgart 3 1951, S. 95. 56 Vgl. Blackbourn, 1984, S. 46f..

30 3.2 Das alte Kleinbürgertum im Verhältnis zum Proletariat

Das soziale Verhältnis des alten Kleinbürgertums zum Proletariat war ebenso kompliziert wie das zum Bürgertum. Einerseits teilte das Kleinbürgertum das Schick- sal des Proletariats, z.B. die Armut, andererseits grenzte es sich verzweifelt von ihm ab. Das alte Kleinbürgertum verarmte um die Jahrhundertwende wirtschaftlich durch den Industrialisierungsprozess. Viele Handwerker arbeiteten als Alleinmeister. Viele Einzelhändler waren gezwungen, in der Fabrik oder allein im Laden zu arbeiten. Es gab viele Bereiche des Lebens, die das Kleinbürgertum mit dem Arbeiter teilte, z.B. vermieteten die Einzelhändler den Arbeitern Zimmer.57 Es war kein Wunder, dass die Kinder der Kleinbürger mehr mit den Kindern des Proletariats als mit denen der Bourgeoisie aufwuchsen. Das Verhältnis der Ladenbesitzer zu den Kunden der Arbeiterklasse oder den Mietern könnte zwar als ein Zeichen der sozialen Überlegenheit betrachtet werden, gleichzeitig waren die Ladenbesitzer aber abhängig von den Mieten der Arbeiter.58 Diese soziale Bindung zwischen Kleinbürgertum und Proletariat lässt nicht unbedingt auf eine notwendig positive Beziehung schließen. Es gab beim alten Kleinbürgertum immer noch eine Kluft zwischen der objektiven ökonomischen Lage und dem Klassenbewusstsein, d.h. in der Realität war die materielle und soziale Lage des alten Kleinbürgertums ähnlich wie die des Proletariats. Aber im Bewusstsein identifizierte sich das Kleinbürgertum nicht mit dem Proletariat.59 Das alte Klein- bürgertum betonte die Unterschiede zum Proletariat, wie Hausbesitz und Nichtange- stelltsein. In Wirklichkeit verdienten die Arbeiter in weniger Stunden mehr als die Einzelhändler. Obwohl die Arbeiter bei den Kleinbürgern Zimmer mieteten, entstand keine Verwandtschaft. Die Kleinbürger akzeptierten zwar diese gegenseitige Abhängigkeit, aber nach außen versuchten sie die proletarische Welt zu verneinen, sie glaubten, dieses Milieu hinter sich gelassen zu haben.

57 Vgl. Haupt, Heinz-Gerhard: Kleinhändler und Arbeiter in Bremen zwischen 1890 und 1914. In: Archiv für Sozialgeschichte 22 (1982), S. 128f.. 58 Vgl. Blackbourn, 1984, S. 47f.. 59 Vgl. ebd., S. 48.

31 3.3 Soziale Stellung des neuen Kleinbürgertums

Um 1900 wuchs die Zahl der Privatangestellten in Handel, Dienstleistungsgewerbe und Industrie rasch an. Nach marxistischem Klassenbegriff war die Klassenlage der Angestellten als unselbständige Arbeitnehmer nicht verschieden von der der Lohnar- beiter, d.h. „die Angestellten waren vom Eigentum an den Produktionsmitteln ausgeschlossen und mussten ihre Arbeitskraft verkaufen.“60 Aber die Angestellten betonten die andere Art der Bezahlung (Gehalt statt Lohn), die Natur ihrer Arbeit (nicht-manuell), ihre Funktionen und ihre Stellung im Betrieb, um sich von der Arbeiterschaft zu unterscheiden. In Wirklichkeit war der Angestellte ebenso „Unter- tan“ wie der Fabrikarbeiter gegenüber dem Unternehmer. Häufig stand er unter Druck wegen der Abhängigkeit der Einnahmen von Leistungs- und Marktkriterien und der Konkurrenz gegenüber den Kollegen;61 im Grunde verdiente er nicht viel besser als die Arbeiter.62 Die Angestellten glaubten aber, dem Bürger nahe zu stehen und neigten dazu, die „bürgerliche“ Lebensweise nachzuahmen. Dies wirkte oft lächerlich, da ihnen ihre wirtschaftliche Lage eine beengte Art zu leben aufzwang. Sie definierten sich als Nicht-Arbeiter, als „neuer Mittelstand“. In dieser Ungleich- heit zwischen ihrer „objektiven Klassenlage“63 und ihrem mittelständischen Ver- halten bzw. Bewußtsein zeigte sich gerade die Besonderheit dieser sozialen Gruppe, nämlich die Zwischenstellung, ihr Weder-Noch-Status in der Gesellschaft. Wilhelm Reich beschrieb diese widersprüchliche Lage des Angestellten treffend: „Nach oben Untergebener ist er nach unten Vertreter dieser Obrigkeit und genießt als solcher eine besondere moralische (nicht materielle) Schutzstellung“. 64 Das alte und neue Kleinbürgertum hatte für diese ambivalente Soziallage teuer bezahlt. Die Familie der Kleinbürger wurde der Schauplatz des aus ihr folgenden Konflikts. Die Selbstausbeutung der Familiengehilfen war Basis aller Geschäfte der Handwerker und Ladenbesitzer. Wenn die Bedürfnisse der familiären Geschäfte mit dem sozialen Streben der Kinder in Konflikt standen, wuchsen die Probleme. Was ökonomisch bei dem einfachen Beamten oder dem privaten Angestellten nicht besser

60 Bolte, 1974, S. 45. 61 Vgl. Kocka, Jürgen: Die Angestellten in der deutschen Geschichte: 1850-1980. Vom Privatbe- amten zum angestellten Arbeitnehmer. Göttingen 1981, S. 122 und 130. 62 Vgl. Deutsche Sozialgeschichte, 1977, S. 290f.. 63 Ebd., S. 291. 64 Vgl. Reich, 1972, S. 70.

32 als bei der Arbeiterschaft war, sollte durch familiäre Lebensform und eine strikte Sexualmoral ausgeglichen werden.65 Die Familie spielte eine bedeutende Rolle für die wirtschaftliche und soziale Stellung des Kleinbürgertums.

4. Kleinbürgerliche Familie66

„Ein kleines Geschäft zu betreiben... zerstört nicht den Familiensinn, nimmt doch die ganze Familie daran Teil: Alle Familienmitglieder haben ihre Rolle und machen sich nützlich [...] Die Frau führt die Bücher, der Mann verkauft und die Kinder beliefern die Wohnungen der Kunden. Keine Arbeitsteilung ist natürlicher und moralbildender, keine Genossenschaft ist so harmonisch. Nir- gendwo wird so wenig Energie vergeudet und nirgends ist die Organisation so einfach und flexibel. Vor allem ist keine Vereinigung demokratischer, denn die Familie, vollkommen wie sie von Natur her ist, bildet die grundlegendste aller Institutionen.“67

Diese Beschreibung eines belgischen Christsozialen zum Ende des 19. Jahrhunderts stellt zwar eine Idealisierung des kleinbürgerlichen Familienunternehmens dar, aber sie zeigt, dass die Familie eng mit dem Geschäft in der Welt des Kleinunternehmens verbunden war. Seit dem Mittelalter war die grundlegende Handwerkerinstitution die Zunft. Sie überwachte die Ausbildung der Lehrlinge und Gesellen, schützte die Rechte der Witwen und stand Familie und Haushalt bei. Durch die systematische Praxis der Zunft wurde der lokale Arbeitsmarkt entlastet, die Spannungen wegen des Erbes der Werkstatt verringert. Mit der Gewerbefreiheit verloren die Zünfte allmählich ihre Funktion. Die Welt der Handwerksproduktion entwickelte sich heterogener. Im Kleinunternehmen wurde die Rolle der Familie immer wichtiger. Dies betraf sowohl

65 Vgl. Reich, 1972, S. 74f.. 66 Die folgende Untersuchung beschränkt sich nur auf die Familie des alten Mittelstands (Kleinhänd- ler und Handwerker). 67 Goodyn, A.: Le mouvement coopératif. Gand 1896, S. 14f.. Zitiert nach Haupt, Heinz-Gerhard: Die Kleinbürger: Eine europäische Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts. München 1998, S. 120.

33 die familiäre Organisation der Arbeit als auch das Vererben des Betriebs an die Söhne.68 Außerdem wurde die Kleinunternehmerfamilie durch den Rückgang der Zahl im Haushalt lebender Lehrlinge und Gesellen, durch die kleineren Haushalte wegen der Verschlechterung des Handwerksbetriebs und durch ein verändertes Verhältnis der Ehepaare umgestaltet. Der Familienbetrieb sollte Ressourcen für die Aufzucht der Kinder schaffen. In diesem Zusammenhang spielten die Ehefrauen eine immer wichtigere Rolle für das Geschäft. Außer der Vater-Sohn-Beziehung wurde das Ehe- paar eines der Kernelemente des Familienunternehmens.69

4.1 Enge Verbindung von Geschäfts- und Privatsphäre

Im Gegensatz zu den bürgerlichen Haushalten war der Haushalt der Kleinunter- nehmer dadurch gekennzeichnet, dass Produktions- und Reproduktionsbereich auf das engste verbunden waren. Dies bedeutete das Zusammenfallen von häuslichem und Arbeitsleben in den Familien.70 Bei den Handwerkern waren Werkstatt und Wohnung normalerweise kombiniert. In der Stadt Esslingen z. B. wohnten die meisten Handwerker in zweistöckigen Gebäuden. Im Erdgeschoss lag die Werkstatt. Im zweiten Stock befanden sich Wohnunterkünfte für eine oder mehrere Familien.71 Die Familien der Einzelhändler wohnten normalerweise über dem Laden oder daneben. Es gab zwar allmählich eine Tendenz zur Trennung von Geschäfts- und Privatsphäre, doch wegen der langen Öffnungszeiten und dem Dienst am Kunden mussten die Ladeninhaber fast ständig zur Verfügung stehen. Das entwickelte sich allmählich zu einem Zwang. Die meisten Einzelhändler pendelten ständig zwischen Wohnraum und Geschäft. Diese räumliche Überschneidung wurde durch die Ähn-

68 Eine Erbschaft konnte jedoch verschiedene Bedeutungen haben: Bei gut vorankommenden Ge- schäften bedeutete die Erbschaft des Betriebs einen sozialen Erfolg, wie eine Studie über die Metallarbeiter in Esslingen zeigt. Wenn aber die Gewerbe nieder gingen, bedeutete sie eine Ent- sagung für den Sohn. Eine solche Erbschaft anzutreten, bedeutete, dass der Sohn nicht mehr fähig war, ausreichende Mittel aufzubringen, um einen anderen Beruf auszuüben, wie z.B. bei den Textilarbeitern in Esslingen. (Vgl. Schraut, S.: Sozialer Wandel in Industrialisierungsprozeß: Esslingen 1800-1870. Sigmaringen 1989, S. 238-240.) 69 Vgl. ebd., S. 121-123. 70 Vgl. ebd., S. 124. 71 Ebd., S. 253-255.

34 lichkeit der Beschäftigungen verstärkt, und zwar insbesondere in Wirtshäusern, Cafés und Lebensmittelläden. Dort wurden die Verkaufswaren in den Familien- küchen gekocht. Es war noch schwerer für die Ladeninhaber, Familien- und Ge- schäftsphäre voneinander zu trennen. In der Buchführung vieler Kleinunternehmen waren die Ausgaben für Haushalt und Geschäft verflochten. Der Grund dafür lag in der Einstellung, das Geschäft eher als eine Selbstversorgungsinstitution zu betrachten denn als ein Unternehmen, das einen kalkulierbaren Gewinn abwerfen sollte. Die Verschmelzung der Ausgaben für Haushalt und Geschäft spiegelte die soziale Realität wider: Es war schwer, zwischen Haushalts- und Geschäftsausgaben zu trennen, denn die Familienmitglieder waren sowohl in die Produktion als auch in den Verkauf eingebunden. Hinter dem Ringen um die Verteidigung des Kleinunter- nehmens und der Familie sowie der Vorstellung von Unabhängigkeit verbarg sich ein hoher Grad an Selbstausbeutung.72

Die Teilnahme der Ehefrauen am Familienbetrieb war aber nicht gleichbedeutend mit Gleichberechtigung der Geschlechter innerhalb der kleinbürgerlichen Familie. Die patriarchalische Machtstruktur galt weiterhin auch für die enge Verbindung von Privat- und Geschäftsraum im Betrieb, wie sie in Deutschland schon seit der frühen Neuzeit gegeben war: Die Autorität des Ehemanns war unumstritten, während den Ehefrauen eine untergeordnete Rolle zugewiesen war. Heinz-Gerhard Haupt be- schrieb diese Hierarchie in der kleinbürgerlichen Familie: „’Die dominante Rolle des Hausvaters, die bereitwillig akzeptierte Ordnung des Hauses und die gegenseitige Abhängigkeit der verschiedenen Angehörigen des Haushalts’ [...] bildeten die auf- fälligsten Kennzeichen der Kleinbürgerfamilie.“73 Durch ihre Beteiligung am Fami- lienunternehmen erbten die Kleinbürgerwitwen häufiger die Geschäfte als die Wit- wen des Großbürgertums. In Bremen wurden viele Läden von Frauen und Witwen geführt. Die Witwen leiteten die Geschäfte, bis die Söhne erwachsen und in der Lage waren, diese zu übernehmen.74 Jedoch bedeutete das nicht, dass die Witwen die Macht ganz übernahmen, sondern sie richteten sich weiterhin streng nach der patriarchalischen Ordnung, indem sie das Geschäft wieder an den erwachsenen Sohn übergaben. Das Einbezogensein der Ehefrauen in den Familienbetrieb brachte die

72 Vgl. Haupt, 1998, S. 127f.. 73 Ebd., S. 132. 74 Vgl. Niermann, 1982, S. 98f..

35 aufsteigenden Kleinbürger oft in Gewissenskonflikte, denn nach der bürgerlichen Ideologie sollten Frauen zu Hause bleiben und sich „von der korrumpierenden Geschäftswelt“75 entfernen. Dieses bürgerliche Ideal war durch Literatur, Erziehung und Religion allmählich in ganz Europa verbreitet. Der Anspruch der Trennung von Geschäft und Familie, die wichtige Grundlage der bürgerlichen Kultur wurde, war schwer in den kleinen Familienunternehmen durchzusetzen. Diese Spannung zwi- schen Ideal und Realität lässt verstehen, warum die Kleinbürger um die Jahrhundert- wende soviel Wert auf einen angesehenen Lebensstil und auf auf gesellschaftlichen Normen beruhendes Verhalten legten.76

4.2 Die Sozialisation in der kleinbürgerlichen Familie

Vor dem Hintergrund der wirtschaftlich engen Verbindung zwischen Familie und Geschäft konnte der Patriarchalismus weiterhin in der kleinbürgerlichen Familien- struktur praktiziert werden: Die Läden wurden vom Vater geführt und weiterhin von ihm auf den Sohn vererbt. Die väterliche Autorität war unangefochten. Die patriar- chalische Hierarchie und Machtstruktur spiegelte die Situation der zwangsmäßigen Unterdrückung im kleinbürgerlichen Sozialisationsprozess wider: Die Familien- struktur des Kleinbetriebs erforderte ein enges Zusammenleben, das „[...] weit- gehende sexuelle Unterdrückung und Sexualverdrängung voraus [setzte]“.77 Der Zwang zur Triebunterdrückung, der einen wesentlichen Teil des Sozialisations- prozesses in der bürgerlichen Familie darstellte, war beim Kleinbürgertum am bedeutendsten ausgeprägt. Mit Hilfe von Religion und sittlichen Wertvorstellungen wurden sexuelle Regungen verdrängt, was wiederum zu heftigen Schuldgefühlen führte.78 Die Unterdrückung des sexuellen Strebens des Kindes wurde innerhalb der kleinbürgerlichen Familie nicht verarbeitet; sie verwandelte sich in Angst und Unsicherheit und wurde so zur Grundlage der autoritären Struktur der Familie. Außer Triebunterdrückung und Repression wurden Wertvorstellungen wie Pflicht,

75 Haupt, 1998, S. 133. 76 Ebd., S. 134. 77 Reich, 1972, S. 72. 78 Ebd., S. 77.

36 Ehre, Ordnung und Sparsamkeit als Über-Ich von den Kleinbürgern an ihre Kinder in der Sozialisation vermittelt. Die Eltern übertrugen der nächsten Generation diesen Moralkodex und versuchten ihren Kindern mittels der Verinnerlichung dieser Zwänge die oben genannten Normen früh und fest an zu erziehen. Dieser moralische Zwang mittels ideologischer Vorstellungen wirkte Reich zufolge als eine Art der Kompensation der wirtschaftlichen Unzulänglichkeit des Kleinbürgertums. 79 Im Sinne der Ideologie garantierte ihm dieser Moralkodex moralische und psychische Sicherheit. In der Praxis erschien die Erfüllung dieser Werte jedoch zwiespältig: Die Kinder erlebten in der Realität, dass Aufrichtigkeit und Moral den geschäftlichen Erfolg nicht gewährleisteten. Trotzdem spielten diese moralischen Vorstellungen eine entscheidende Rolle in der Erziehung des Kleinbürgers. Auf diese ambivalente Situation werde ich im folgenden ausführlicher eingehen.

5. Sozialpsychologie des Kleinbürgertums

Vor dem Hintergrund der ökonomischen und sozialen Lage sowie der Mechanismen der Triebverdrängung und Diskrepanz in der Sozialisation des Kleinbürgertums entwickelte sich eine spezifische psychische Disposition. Im folgenden konzentriere ich mich auf vier Schwerpunkte: Autorität als Kompensation, Überanpassung an die bürgerlichen Normen, Streben nach Besitz und Streben nach Bildung. Die ersten beiden beziehen sich mehr auf das alte Kleinbürgertum, in den letzten beiden geht es um das neue Kleinbürgertum. Manchmal decken sie sich.

5.1 Autorität als Kompensation

Seit dem 19. Jahrhundert verloren die kleinen Familienunternehmen in der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung an Einfluss. Ihre ökonomische Existenz war in Gefahr. Dem Vater, der das Geschäft leitete, fehlte eine Zukunftsperspektive. Die Autorität, die er gegenüber seinem Kind ausübte, wurde zum Ersatz für seine soziale Autorität, den sozialen Einfluß. Der Vater übertrug seine Aggressionen, die außerhalb des

79 Reich, 1972, S. 75.

37 familiären Bereichs entstanden, auf das Kind. So konnte er gesellschaftliche Ohn- macht kompensieren. Die herrschende Konkurrenz in der kleinen Warenproduktion und die inneren Interessengegensätze hinderten das Kleinbürgertum, seine Aggres- sion wie das Proletariat durch den gesellschaftlichen Weg gewerkschaftlicher und politischer Vereinigung zu sublimieren. „Der einfache Mann hat noch Objekte zur Verfügung, die schwächer sind als er und die zu Objekten seines Sadismus werden. Frauen, Kinder und Tiere spielten in dieser Hinsicht eine äußerst wichtige sozialpsychologische Rolle.“80 Ziel der kleinbürgerlichen Erziehung war nicht die Ich-Entwicklung des Kindes, sondern Aufrichtung der gestörten Identität des Vaters.81

5.2 Widerspruch zwischen Normen und Wirklichkeit

In der vorindustriellen Zeit hatten die Normen von Pflicht, Ehre, Sparsamkeit, Ordnungsliebe und Sauberkeit noch ihren ökonomischen Sinn. Die individuellen Beschränkungen des Konsums und der Sparsamkeit wirkten sich noch auf das Betriebskapital aus. Der Ordnungssinn, z.B. Buchführung im Kleinunternehmen, wurde aufgrund der Einheit von Unternehmens- und Haushaltsvorstand zu einer Norm des Privatlebens. Ehre wurde von dem frühen Kleinbürgertum als positiver Wert wahrgenommen.82 Aber in der Entwicklung des Kapitalismus verloren diese Normen allmählich ihre Funktion. Sie wurden irrational, d.h. sie konnten weder die Funktion der Anpassung an die industrialisierte Gesellschaft noch die eines Widerstands gegen sie leisten. Sie boten den Kindern der kleinbürgerlichen Familie keine Garantie von Sicherheit an. Sie schwächten nur das Individuum.83 In der tatsächlichen sozialen Situation des Kleinbürgertums waren diese Normen von Aufrichtigkeit und Ehrenhaftigkeit aufgrund des Wandels, den die Industrialisierung verursachte, nicht mehr funktionsfähig:

80 Fromm, Erich: Theoretische Entwürfe über Autorität und Familie. In: Studien über Autorität und Familie. Schriften des Instituts für Sozialforschung. Hg. von Max Horkheimer. Bd. 5. Paris 1936, S 117. 81 Vgl. Leppert-Fögen, 1974, S. 230-233. 82 Vgl. ebd., S. 228. 83 Vgl. ebd., S. 229.

38 „Die Summe dieser moralischen Haltungen, die sich um die Stellung zum Sexuellen gruppieren und gemeinhin als „Spießertum“ bezeichnet werden, gipfelt in den Vorstellungen - wir sagen Vorstellungen, nicht Taten - von Ehre und Pflicht. [...] Praktisch und wirklich zwingen ja gerade die kleinbürgerliche Daseinsweise und der kleinbürgerliche Warenverkehr vielfach das gerade gegenteilige Verhalten auf. In der privaten Warenwirtschaft gehört ein Stück Unehrenhaftigkeit sogar zur Existenz. [...] Die eigene Ware wird immer die beste sein, die fremde immer die schlechtere. Auftreten und Benehmen der kleinen Geschäftsleute zeugen in ihrer Überhöflichkeit und in ihrer Unterwer- fung unter den Kunden von dem grausamen Zwang der wirtschaftlichen Da- seinsweise, die den besten Charakter auf die Dauer verbiegen muß. Trotzdem spielt der Begriff der Ehre und Pflicht im Kleinbürgertum eine so entscheidende Rolle.“84

Dieses Verhalten verweist auf den Zwang, sich gegenüber der Konkurrenz der großen Warenhäuser zu behaupten. 1872 stellte Engels fest, daß die „Prellerei des Käufers durch den Verkäufer [...] im Kleinhandel, namentlich in den großen Städten, jetzt eine vollständige Lebensbedingung für den Verkäufer geworden“85 sei. Dieser innere Widerspruch zwischen den beharrenden Normen des Sozialisationsprozesses und der gesellschaftlichen Realität war so groß, daß das Kind „kognitive“86 Un- stimmigkeit und Unklarheit von Norm und Wirklichkeit erfuhr. Sobald das Kind die Geschäfte vom Vater übernahm, fand es mit der Zeit heraus, dass Moral und Ge- schäft zweierlei Dinge waren. Der Vater drängte zwar den Sohn, den Normen nach- zukommen, doch er selbst konnte die Normen im täglichen Geschäftsverhalten nicht erfüllen. Paul Parin interpretiert dieses widersprüchliche Verhalten des Kleinbürgers zutreffend:

„Immer wenn eine soziale Schicht unter einer ökonomischen Bedrohung lebt, bei der Sicherung und Aufstieg als Sicherung nötig sind, erfolgen typische und tiefgreifende Eingriffe in den Sozialisationsprozeß. Diese wirken sich im scheinbar widersprüchlichen, obligat irrationalen Verhalten des Kleinbürgers

84 Reich, 1972, S. 75. 85 Engels, Friedrich: Zur Wohnungsfrage. In: Marx, Karl/ Engels, Friedrich: Ausgewählte Schriften. Bd.1. Berlin 18 1970, S. 527. 86 Leppert-Fögen, 1974, S. 230.

39 aus, der stets das vertritt, was gegen seine „objektiven Interessen“ gerichtet ist. Die Widersprüche, welche seine objektiven Interessen enthalten, sind so groß, daß sie nicht überwunden werden können. Statt dessen werden sie verinnerlicht und müssen fortdauern.“87

5.3 Überanpassung an bürgerliche Normen

Die Werte der Pflicht, Ehre, Sparsamkeit, Ordnungsliebe und Sauberkeit hatten im kapitalistischen Betriebsystem ihre positive Funktion verloren. Aber die Kleinbürger verteidigten noch beharrlich diese Normen. Nach Leppert-Fögen ergab sich dies aus ihrer Abwehrhaltung gegenüber dem Proletariat. Diese Abgrenzung nach unten erfolgte durch Identifikation nach oben:

„In seinem Bestreben, sich vom Proletariat abzugrenzen, kann das städtische Kleinbürgertum, da es wirtschaftlich nicht besser gestellt ist als das Industrie- proletariat, nur auf seine familiären und sexuellen Lebensformen sich stützen, die es dann in bestimmter Weise ausbaut. Was wirtschaftlich unzulänglich ist, muß moralisch kompensiert werden. [...] Da man nicht so gestellt ist wie die Großbourgeoisie, gleichzeitig aber mit ihr identifiziert ist, müssen die kulturellen Ideologien wettmachen, was die wirtschaftliche Lage nimmt. Die sexuellen und die von ihnen abhängigen sonstigen kulturellen Lebensformen dienen im wesentlichen der Abgrenzung gegen unten.“88

Wenn sich ein Individuum in seinem Sozialverhalten an einer Schicht orientiert, in der es nicht aufgewachsen ist, sondern in die es hineinwachsen, als deren Mitglied es gelten möchte, wird es sich dieser Schicht durch die Übernahme ihrer Normen nicht nur anpassen, sondern normalerweise „überanpassen“. 89 Es missversteht diese Normen gewissermaßen. Es ist ihm zunächst unmöglich, die Normen in der flexi- blen Weise zu benutzen wie diejenigen, die in der betreffenden Schicht aufgewach- sen sind.90

87 Parin, Paul: Die hoffnungsvolle Kindheit und das gefährliche Leben des Kleinbürgers. Frankfurt/ Main 1978, S. 134. 88 Reich, 1972, S. 74f.. 89 Leppert-Fögen, 1974, S. 232. 90 Vgl. ebd., S. 232.

40 Nach Annette Leppert-Fögen übernahm das Kleinbürgertum die bürgerlichen Normen und passte sich an sie an, ohne sie richtig zu verstehen. Es orientierte sich nicht nur an ihnen, sondern vertrat sie gleichsam distanzlos und in einer Starrheit, die mit einer wirklich gefestigten bürgerlichen Sozialposition unvereinbar wäre. Die Folge dieses Prozesses war, dass bereits das Kleinkind zum Opfer der elterlichen Statusängste wurde. Es wurde mit den „unechten“ Normen konfrontiert; diese schufen die Grundlage für seinen späteren, extremen „Konventionalismus“. Konven- tionalismus ist - samt seinen Begleiterscheinungen – gekennzeichnet durch Denken in Stereotypen, Mangel an Spontaneität und Phantasie und durch den autoritären Charaktertypus.91

„Die Ziele, die solche Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder verfolgen, sind gewöhnlich in hohem Maße konventionell. Die Statusangst, die man so häufig in Familien vorurteilsvoller Individuen antrifft, spiegelt sich in der Übernahme eines rigiden und äußerlichen Normenkodex: Was gesellschaftlich akzeptiert und hilfreich beim Aufstieg in der gesellschaftlichen Hierarchie ist, wird als ‘gut’ angesehen; was abweicht, was anders ist und gesellschaftlich unten steht, hält man für ‘schlecht’.“92

5.4 Das Streben nach Besitz und Bildung

Aufgrund der Zwischenstellung in der gesellschaftlichen Situation bildeten die Kleinbürger eine ihnen eigene Mentalität und ein der sozialen Lage entsprechendes Denkmuster aus: Sie waren enttäuscht, sich dem Bürgertum nicht zuzählen zu dürfen und es dem Bürger nicht gleichtun zu können. Daraus entstanden ihre Min- derwertigkeitsgefühle, die sie nie überwinden konnten. In der Verleugnung ihrer ökonomischen Proletarisierung und ihrer Zugehörigkeit zu den unteren Klassen zeigte sich ihre latente Unzufriedenheit.93 Das Streben nach materiellen Gütern ebenso wie das zwanghafte Streben nach Bildung weisen laut Kofler auf die

91 Vgl. Leppert-Fögen, 1974, S. 233. 92 Frenkel-Brunswik, Else/ Theodor Adorno: The Authoritarian Personality. New York 1950, S. 385. Zitiert nach Leppert-Fögen, 1974, S. 233. 93 Vgl. Leppert-Fögen, 1974, S. 267.

41 Kompensation des Unbehagens im Kleinbürgertum hin: auf seinen Minderwertig- keitskomplex und seine Unzufriedenheit.

Besitz bestimmt weitgehend die Soziallage, die sich im gesellschaftlichen System der Über- und Unterordnung zeigt. Das System beruht auf dem Besitz von Produktions- mitteln (wie Marx es sah) und - nach Max Weber - auf dem von administrativer Macht und sozialem Prestige.94 Die Kleinbürger zeichneten sich idealtypischerweise dadurch aus, dass sie vor allem nach einem bescheidenen Besitz strebten. Besitz, sei er noch so klein, vermittelte ihnen das Gefühl, etwas zu haben, und zugleich das Bewusstsein, etwas zu sein.95 Kofler schreibt:

„Weil der Kleinbürger seine gesellschaftlich bedingte Minderwertigkeit nicht zugeben will, sie auf das rein subjektive Versagen schiebt, bemüht er sich um eine ebenso subjektive Erlösung, abseits von aller gesellschaftlichen Bedingt- heit. Auch hierin unterscheidet er sich grundlegend vom Arbeiter. Vor allem soll ein gewisser Besitz zu einem gesteigerten gesellschaftlichen Ansehen ver- helfen, woraus sich das starke Bemühen des Kleinbürgers nach Steigerung seines Wohlstandes, der natürlich auch eine gesteigerte Sicherheit gewährleisten soll, erklärt.“96

Ihr materielles Bemühen mit dem Ziel, eine Identifikation mit dem Bürgertum zu erreichen, gelang den Kleinbürgern jedoch nur halb. Ein unbehagliches Gefühl wegen gesellschaftlicher Unterlegenheit blieb zurück. So sehnten sich die Klein- bürger laut Kofler „utopisch“ nach einer vollkommenen gesellschaftlichen Lebens- weise, die sich nicht nur durch ökonomische Verbesserung auszeichnen sollte, sondern auch durch Bildung, bzw. Bildungs- und Kulturbetätigung.97

Das Bildungsstreben sollte dem Kleinbürgertum zu einer besseren Position als der ursprünglich vorhandenen verhelfen und bedeutete für es nicht nur eine soziale und ökonomische Aufwertung, sondern auch eine Erhöhung seines Selbstwertgefühls. Die Kleinbürger machten Bildung zum Selbstzweck und setzten den Menschen mit

94 Vgl. Jung, Dirk: Vom Kleinbürgertum zur deutschen Mittelschicht. Analyse einer Sozialmentalität. Saarbrücken 1982, S. 44. 95 Vgl. Tworek-Müller, 1985, S. 187. 96 Kofler, 1970, S. 259. 97 Ebd., S. 259.

42 der formalen Bildung gleich. Sie dachten, wenn sie eine gewisse oder höhere Bildung hätten, stiege ihr Ansehen im Vergleich zu anderen Menschen; damit glaubten sie, sich von ihren Minderwertigkeitsgefühlen befreien zu können. In Wirklichkeit blieb diese Vorstellung illusionär.98 Indem der Kleinbürger mit äußeren Mitteln z.B. Bildung nach Selbstwertgefühl strebte, „um aus sich etwas zu machen“99, führte er „einen ständigen Kampf gegen sich selbst, gegen sein eigenes Wesen, sowohl gegen das, was er ist, als auch gegen das, was er scheint [...] “.100 Schließlich blieb er einer Vorstellung von „Scheinbildung“ verhaftet, weil diese rein zweckbezogen war. Die Hauptfiguren in Balzacs Roman „Die Kleinbürger“ streben mit korrupten Mitteln nach oben. Sie versuchen die herrschende Klasse nicht nur mit ihrem materiellen Wohlstand, sondern auch mit ihrer Pseudobildung zu imitieren. Sie „waren ohne eigene Gedanken, ohne Bildung, aus den unteren Ständen hervorge- gangen, waren komische Typen des Kleinbürgertums.“101

Nach dieser Skizze der Definitionsversuche, der ökonomischen Lage und der sozialen Verhältnisse, der Sozialisation und der Sozialpsyche des Kleinbürgertums wenden wir uns nun den literarischen Portraits der Kleinbürgerin und des Klein- bürger im Drama von Autoren und Autorinnen zu. Im Folgenden versuche ich herauszuarbeiten, wie männliche und weibliche Autoren mit dieser komplexen ge- sellschaftlichen Schicht umgingen, ob und wie sie die Widersprüchlichkeit von klein- bürgerlichen Verhältnissen in ihren Texten rekonstruierten und welche Bilder des Kleinbürgertums sie zum Ausdruck brachten.

98 Kofler, 1970, 261-263. 99 Ebd., S. 263. 100 Ebd., S. 263. 101 Balzac, Honoré de: Die Kleinbürger. Hamburg 1961, S. 53; Originaltitel: „Les petits bourgeois“, 1854.

43 III. Textanalyse

1. Dramen von männlichen Autoren 1.1. "Der Biberpelz" von Gerhart Hauptmann

Am 21.9.1893 wurde das Stück "Der Biberpelz" am "Deutschen Theater" in Berlin uraufgeführt; es sorgte für Aufregung wegen seines unkonventionellen Komödien- modells (vier Akte), besonders durch den offenen Schluss, der die Zuschauer in Erstaunen versetzte. Die Forschung konzentrierte sich bisher auf die Diskussion der dramatischen Bauformen des Stücks und die Abweichung von der traditionellen Komödiendramaturgie 1 sowie auf die komische Konstellation zwischen Mutter Wolff und Amtsvorsteher Wehrhahn.2 Der Untersuchung der Thematik des Klein- bürgertums widmeten sich bisher nur Richard Weber und Yeong-Don Roh in ihren Studien,3 in denen sie auf die familiäre Struktur der kleinbürgerlichen Familie Wolff, deren Aufstiegswunsch und Angst vor Deklassierung eingehen. Richard Weber ar- beitet außerdem heraus, wie Hauptmann den Widerspruch der Kleinbürgerin Wolff zwischen Aufstiegsideologie und objektiver Klassenlage mit Mitteln der Komik gestaltet. Ich schließe mich diesen beiden Ansätzen an und werde im folgenden drei Thesen ausführen: 1) Die Kluft zwischen Aufstiegsstreben und realer sozialer Stellung sowie der Widerspruch zwischen Normen und Wirklichkeit im Kleinbürgertum werden im Drama mit Hilfe komischer Mittel entlarvt. 2) Die Komik der Figur Mutter Wolff wird nicht nur anhand ihres widersprüchlichen Verhaltens, sondern auch in ihrer Überlegenheit und Vitalität ihren Gegenspielern gegenüber - Wehrhahn und den anderen Figuren - entwickelt. 3) Die komische Konstellation zwischen der über-

1 Vgl. Grimm, Reinhold: Pyramide und Karussell. Zum Strukturwandel im Drama. In: Ders.: Nach dem Naturalismus: Essays zur modernen Dramatik. Kronberg 1978, S. 3-27. Haida, Peter: Komödie um 1900. Wandlungen des Gattungsschemas von Hauptmann bis Sternheim. München 1973, S. 28-39. Vandenrath, J.: Der Aufbau des Biberpelz. In: Revue des Langues vivantes 26 (1960), S. 210-237. 2 Martini, Fritz: Gerhart Hauptmanns "Der Biberpelz". Gedanken zum Bautypus einer naturalis- tischen Komödie. In: Wissenschaft als Dialog. Studien zur Literatur und Kunst seit der Jahrhun- dertwende. Hg. von Renate von Heydebrand. Stuttgart 1969, S. 83-111. Oberembt, Gert: Chamäleon und Scharlatan. Nietzsches "Vom Probleme des Schauspielers" und Hauptmanns "Biberpelz". In: Literatur für Leser 5/2 (1982), S. 69-94. 3 Vgl. Weber, Richard: Gerhart Hauptmann: "Biberpelz". In: Von Lessing bis Kroetz. Einführung in die Dramenanalyse. Kursmodelle und sozialgeschichtliche Materialien für den Unterricht. Kronberg 1975, S. 68-103 und Roh, Yeong-Don: Gerhart Hauptmann und die Frauen: Studien zum naturalistischen Werk. Siegen 1998, S. 127-138.

44 legenen Mutter Wolff und dem engstirnigen Amtsvorsteher Wehrhahn dient der satirischen Kritik an der beschränkten Untertanenmentalität von Polizeibeamten und an dem System, dem sie in blindem Gehorsam folgen.

1.1.1. Die kleinbürgerliche Familie Wolff

Anders als in seinen sozialen Dramen "Vor Sonnenaufgang" (1889) und "Rose Bernd" (1903), die die Frauenproblematik im kleinbürgerlichen Milieu behandeln, stellt Hauptmann in "Der Biberpelz" das Streben einer Kleinbürgerin nach sozialem Aufstieg dar. Der Ehemann Julius Wolff, ein Schiffszimmermann, hat seit längerer Zeit keine geregelte Arbeit mehr. Gelegentlich arbeitet er als Fährmann und Wilderer. Die ökonomische Verschlechterung erfordert, wie bei vielen Handwerkern der kleinbürgerlichen Schicht, dass seine Frau mitarbeitet, um den Lebensunterhalt der Familie zu bestreiten. Mutter Wolff gibt sich jedoch mit der schlechten wirtschaftlichen Lage nicht zufrieden und hat vor, sie zu verbessern. Um dies zu erreichen, entwirft sie verschiedene Pläne: Ihre Töchter sollen zuerst bei reichen Leuten (Rentier Krüger) oder gebildeten Bürgern wie Dr. Fleischer als Dienst- mädchen arbeiten, um dem bürgerlichen Leben nahezukommen. Danach plant sie, ihre Töchter beim Theater als Schauspielerinnen einstellen zu lassen; sie sollen dort Karriere machen.4 Sie beabsichtigt, endgültig Haus und Grundstück abzuzahlen, um dann einen gewinnbringenden Pensionsbetrieb leiten zu können. Als Waschfrau geht Frau Wolff in der bürgerlichen Gesellschaft ein und aus und hat die geheime Moral der Gesellschaft begriffen: Man gelangt durch Anwendung krimineller Mittel, die aber verborgen bleiben müssen, zum Erfolg. Sie erkennt auch, dass ihr Ziel nicht allein durch den Verkauf von Arbeitskraft zu erreichen ist:

„Frau Wolff. Mit dem bissel Arbeiten wirschte weit komm. Julius. Ick kann doch nich stehlen. Ick soll woll all rinfallen. Frau Wolff. Du bist eben tumm und mußt ooch tumm bleiben. Hier hat kee Mensch von stehl´n geredt. Wer halt nicht wagt, der gewinnt ooch nicht. Und

4 Der versteckte Hinweis auf das Theater als Möglichkeit zum Aufstieg ist vom sozialhistorischen Hintergrund her leicht zu verstehen: Damals lockte das Theater viele junge Leute an, die aus dem verelendeten Mittelstand stammten und Arbeit suchten. Da sie keine Berufsausbildung hatten, um sich hoch zu arbeiten, hofften sie am Theater einen sozialen Aufstieg zu erreichen. (Vgl. Chabbert, Jean: Gerhart Hauptmanns "Biberpelz": Ein Lustspiel über den Naturalismus? In: Wissenschaft-

45 wenn de erscht reich bist, Julian, und kannst in der Eklipage sitzen, da fragt dich kee Mensch nich, wo de´s her hast [...]“.5

So entscheidet sie sich für den illegalen Weg und versucht, durch den Diebstahl von Holz und schließlich eines Biberpelzes, das für ihre Zwecke notwendige Geld zu be- kommen. Es geht ihr darum, den Besitz der Familie zu vermehren:

„Frau Wolff. „So füfzig - sechzig Taler uff eemal, wenn ma die uff eemal so hinleg'n kennte. Da wär doch d'r Grund und Boden bezahlt. Da kennt ma so hundert bis zwee wieder uffnehmen und vielleicht a paar hibsche Stub'n uffbaun. An Sommergast kenn m'r doch so nich uffnehmen: und Sommergäste, die bringen's hauptsächlich“ (CA I 500)

Wenn das Ziel erreicht würde, das Haus abzuzahlen und es anschließend um eine Sommerferienwohnung zu erweitern, könnten Frau Wolff und ihr Mann von den Mieteinnahmen leben. Hier stellt Hauptmann eine Kleinbürgerin dar, die talentiert mit Geld und "Kapitalakkumulation"6 umgehen kann. Es handelt sich hier nicht darum, dass eine Kleinbürgerin aus sozialer Not stiehlt, so wie die Figuren in den anderen naturalistischen Dramen von Hauptmann zum Diebstahl gezwungen sind: So nehmen z.B. die Mägde in "Vor Sonnenaufgang" die Milch weg oder die Kinder von Baumert stehlen in "Die Weber" Holz. Vielmehr geht hier es um eine kleinbürgerliche Familie, die ihren Besitz vermehren und damit ihren sozialen Status verbessern will.7 Mit vollem Recht schreibt Fritz Martini:

„Der Biberpelz“ ist hingegen in der Figur der Waschfrau nicht zu einer sozialen Anklage geworden. Denn Frau Wolff ist keine notleidende Proletarierin, die ein von der Gesellschaft verschuldetes Elend zwingt, zu Mitteln des Unrechts zu

liche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Gesellschaft und Sprach- wissenschaft 34/2 (1985), S. 122. 5 Zitiert wird nach: Hauptmann, Gerhart: „Der Biberpelz. Eine Diebskomödie“. In: Ders. Sämtliche Werke. Centenar-Ausgabe. Hg. von Hans Egon Hass. Bd. 1. Darmstadt 1966, S. 501. Seitenan- gabe künftig in fortlaufendem Text. 6 Die Verwendung des Begriffs übernehme ich in diesem Zusammenhang von Trautwein, Wolfgang: Gerhart Hauptmann: Der Biberpelz. Eine Komödie im Naturalismus. In: Dramen des Naturalismus. Hg. von Reclam und Universal-Bibliothek Stuttgart 1988, S. 207. 7 Vgl. Roh, 1998, S. 129.

46 greifen, wo ihr ein Recht verweigert wird. Es geht ihr um anderes: um ein Streben hinauf und höher hinaus [...]“.8

Frau Wolff spart, rechnet, und plant im Hinblick auf die Zukunft. Sie erträgt den Gedanken nicht, dass die Familie in eine niedere Klasse absinken könnte und versucht mit allen Mitteln, den Aufstieg ins Bürgertum zu erreichen. Hierbei zeigt sie keinerlei moralische Skrupel. So lässt Hauptmann Mutter Wolff in der Fortsetzung der Diebskomödie "Der rote Hahn" (1901) als besitzende Kleinbürgerin auftreten (Ehe- frau eines Schusters) und weiterhin deutlich von Profitgier getrieben agieren. In "Der rote Hahn" greift sie zur Erhöhung ihres Gewinns sogar zum Mittel der Brand- stiftung, ohne Rücksicht auf das Leben anderer Menschen zu nehmen. 9

1.1.2. Aufbau des Dramas "Der Biberpelz"

1898 beschrieb Paul Schlenther die Reaktion der Zuschauer nach der Uraufführung von "Der Biberpelz":

"Wenn aber das gesamte Publikum der ersten Aufführung über das unerwartete Ende verblüfft war, so ist doch auch der Dichter nicht ganz schuldlos. Schuld daran ist ein Vorzug und ein Mangel seiner Arbeit. Der Vorzug liegt in der Charakteristik, der Mangel in der Composition. [...] Hinter der boshaften Ironie, mit der der Dummkopf im Amte belassen wird, verlangt man noch vom Dichter ein moralisches Endurteil über Mama Wolff."10

Viele Zuschauer erwarteten, dass das Stück fortgesetzt werde; ein fünfter Akt sollte dem vierten Akt folgen und eine Auflösung des Konflikts bringen. Statt dessen bietet Hauptmann im Stück keine Wiederherstellung der verletzten Normen, sondern einen offenen Schluss an und weicht mit seiner unorthodoxen Bauform, vier statt drei oder fünf Akten von dem pyramidenförmigen Schema ab, das Gustav Freytag abgeleitet hatte - Exposition, Verwicklung, Höhepunkt, Retardation und Katastrophe

8 Martini, 1969, S. 106. 9 Vgl. Schrimpf, Hans Joachim: Das unerreichte Soziale: Die Komödien Gerhart Hauptmanns „Der Biberpelz“ und „Der rote Hahn“. In: Das deutsche Lustspiel. Zweiter Teil. Hg. von Hans Steffen. Göttingen 1969, S. 46. 10 Schlenther, Paul: Gerhart Hauptmann: Sein Lebensgang und seine Dichtung. Berlin 3 1898, S. 169.

47 bzw. Lösung.11 Der I. und III. Akt des Stücks spielen in der Küche der Wolffs; der II. und IV. Akt finden im Amtszimmer bei Amtsvorsteher Wehrhahn statt. Das dramatische Prinzip folgt dem Wiederholungseffekt, d.h. zwei Episoden, die sich wiederholen, strukturieren die Handlung: Im I. und III. Akt werden die Diebstähle von Frau Wolff geplant, vorbereitet und ausgeführt, im II. und IV. Akt finden die Polizeiuntersuchungen statt, die jedoch zu keinem Ergebnis führen. 12 Reinhold Grimm weist in seiner Untersuchung darauf hin, dass diese Technik der Wiederholung einen wichtigen Übergang in der Entwicklung der Dramenstruktur, nämlich vom "Pyramidenprinzip" zum "Reihungsprinzip", darstelle. Er bezieht sich dabei auf Volker Klotz' Unterscheidung von offener und geschlossener Form und geht davon aus, dass das Stück den Weg zur Episierung des Theaters im 20. Jahr- hundert bereitete.13

Dass das Drama mit seinem späteren Bühnenerfolg als eine der bis heute noch beliebtesten Komödien des Naturalismus gilt, deutet darauf hin, dass die zeitgenös- sischen Kritiker nicht unbedingt Recht behalten haben.14 Durch die Untersuchung der Komik des Stücks können wir verstehen, warum Mutter Wolff, die Hauptfigur, noch bis heute für den Zuschauer so sympathisch ist.

1.1.3. Die Kleinbürgerin Wolff als komische Figur

Die Komik von Frau Wolff kommt in ihrem widersprüchlichen Verhalten zum Ausdruck. Hauptmann gestaltet in ihr eine Diskrepanz zwischen Schein und Sein. Unter zwei Aspekten werde ich diese Widersprüche untersuchen: die Kluft zwischen Aufstiegsstreben und realer Klassenlage und der Widerspruch zwischen Normen und Wirklichkeit.

1.1.3.1. Die Kluft zwischen Aufstiegsstreben und realer Klassenlage

Im Hinblick auf die Komödientradition konzipiert Hauptmann den komischen Charakter der Mutter Wolff aus einem sozial unteren Milieu, dem Kleinbürgertum;

11 Vgl. "Drama" In: Sachwörterbuch der Literatur. Hg. Gero von Wilpert. Stuttgart 6 1979, S. 190. 12 Vgl. Weber, 1975, S. 82. 13 Vgl. Grimm, 1978, S. 8-12. 14 Vgl. Sprengel, Peter: Gehrart Hauptmann: Epoche - Werk - Wirkung. München 1984, S. 118.

48 dessen Widerspruch zwischen ideologischer Einstellung und realer sozialer Lage gestaltet er mit Mitteln der Komik, z. B. durch falsche Verwendung eines bürger- lichen gebildeten Vokabulars und Mutter Wolffs selbstverständliche Überzeugung, dass ihre Töchter Leontine und Adelheid talentiert als Schauspielerinnen sind, obwohl sie in Wirklichkeit nicht die Anlage hierzu haben.15

Mutter Wolffs Ziel ist es, nach oben ins Bürgertum aufzusteigen, und zwar nicht nur durch Besitz, sondern auch durch Bildung. Beflissen legt sie großen Wert auf "Bildung"; sie verhöhnt ihren Mann: „Du hast keene Bildung, Julian, von Bildung hast du ooch keene Spur.“ (CA I 488). Immer wieder betont sie die entscheidende Rolle, die Bildung für die Zukunft ihrer Töchter spielen soll: „Wenn ich ne gewest wär, Julian! Was wär ock aus da Mädeln geworden? Ich hab se gebild’t erzogen, verstehste. De Bildung ist heutzutage de Hauptsache.“ (CA I 488) Diese Äußerungen, die den Bildungsanspruch von Frau Wolff zeigen, wirken besonders komisch bei ihrer Anwendung verdrehter Fremdwörter: „Awasemang“ (CA I 487) statt französisch „avancement“, „Farure machen“ (CA I 488) anstelle italienisch „far furore“, „a pee, a pee“. (CA I 488) statt französisch. “peu à peu”, “Audiat" (CA I 489) statt lateinisch "Auditor", "Tenuntiat" (CA I 489) statt lateinisch denuntiare, und Eklipage (CA I 501) statt französisch. “Equipage”. Zwei der amüsantesten Stellen von Sprachent- stellung sind folgende: Frau Wolff erklärt ihrem Mann, dass die Erziehung der Töchter ihre Aufgabe sei. Statt lateinisch „Kompetenz“ sagt sie Konferenz: „Laß du mich bloß fer die Mädel sorgen. Das schlägt nich in deine Konferenz. In meine Konferenz geheert das. Bei Jungen wär’ das ganz was andersch. Da wer ich dir ooch niemals nischt reinreden. A jedes hat seine Konferenz!“ (CA I 488) An einer anderen Stelle kritisiert sie ihren Mann wegen seiner Schwerfälligkeit. Anstelle des lateinischen „Temperament“, spricht sie „Temperatur“:

„Du bist a langsamer Mensch, Julian. Hätt’st du woll das Grundstick gekooft, hä? Nu? Und wenn mersch jetzt wieder wollten verkoffen, da könnt mer schon’s Doppelte kriegen. Ich hab’ ne ganz andere Temperatur. Wenn du bloß meine Temperatur hätt’st...“ (CA I 501)

15 Vgl. Weber, 1975, S. 84.

49 Hier entsteht die Komik auf den ersten Blick aus Frau Wolffs unzulänglicher Kenntnis von Fremdwörtern. Aber genauer betrachtet, wird der komische Effekt durch den Kontrast zwischen Frau Wolffs eigener Sicherheit (sie denkt, sie habe Bildung) und ihrem missglückten Versuch, "Bildung" zu imitieren, geschaffen. Für Frau Wolff bedeutet gebildet zu sein, einer äußeren Erscheinung zu entsprechen, also eine Reihe formaler Verhaltens- und Ausdrucksweisen zu imitieren, an denen sich die Mitglieder des gebildeten Bürgertums erkennen. Als Waschfrau hat sie Gelegen- heit, die bürgerliche Gesellschaft kennen zu lernen, und weiß, dass Bildung eines der wichtigsten Mittel zum Aufstieg nach oben darstellt, ohne zu fragen, was „Bildung“ eigentlich bedeutet. Sie versucht, „gebildet“ zu sprechen; jedoch ist sie nicht in der Lage dazu. Die Übertreibung der Sprachentstellung macht diese Figur komisch. Ihre Sprache gehört so weder zum Bürgertum noch zum Proletariat.

Außer der Nachahmung bürgerlicher Sprache macht Mutter Wolff auch Pläne für ihre Töchter, die ihren Aufstiegswunsch erfüllen sollen. Sie erklärt dem Privatge- lehrten Dr. Fleischer, bei dem oft Literaten zu Besuch sind, wie groß Adelheids künstlerisches Talent ist:

"Frau Wolff. Lassen Sie die bloß a eenziges Mal was uffsagen - a Getichte, oder was grade is. Da kann ich Ihn aber sagen, Herr Dokter, da komm Se aus der Gänsehaut gar nich raus. Se könn se ja amal reinruffen lassen, wenn Se wieder amal Berliner Besuch hab'n. Zu Ihn kommen doch immer so allerhand Tichter. Die is Ihn treiste, die legt glei los. Se deklamiert Ihn zu wundernscheene! " (CA I 523)

Das Verhalten ihrer Töchter widerspricht jedoch dieser Aufstiegserwartung: Leon- tine will in einer Fabrik arbeiten, wo keine individuellen Aufstiegschancen bestehen. (CA I 487). Auch Adelheid handelt Mutter Wolffs Aufstiegswünschen entgegen. Ihre sexuelle Aufgeschlossenheit entspricht nicht den moralischen Normen einer bürgerlichen Frau: So besagt eine Regieanweisung in "Der Biberpelz": „Der Ausdruck ihrer Augen aber verrät frühe Verderbnis." (CA I 489) Später in der Fortsetzung "Der rote Hahn" entschließt sie sich, als Prostituierte zu arbeiten: Im Stück heißt es von ihr: "Det is doch 'ne jroße Jräfin, Frau Meestern, und hat doch ooch rotseidene Strümpfe jehabt." (CA II S. 67)

50

Die Selbsttäuschung der Kleinbürgerin, die sich durch "Pseudobildung" in der Nähe zum Bürgertum fühlt, gehört zur Mentalität des Kleinbürgertums, wie sie in Kapitel II dieser Arbeit analysiert wurde: Das Streben nach Bildung ist laut Leo Kofler eine Kompensation der Unzufriedenheit des Kleinbürgertums aufgrund seiner realen öko- nomischen Lage, die vom Proletariat kaum unterschieden ist. Die große Bedeutung der vermeintlichen Tatsache, "gebildet" zu sein oder zumindest etwas "Bildung" zu haben, deutet auf den Ausgleich der Bedrohung hin, ins Proletariat abzusinken.16

1.1.3.2. Widerspruch zwischen Normen und Wirklichkeit

Ehrlichkeit war immer eine wichtige Norm des Kleinbürgertums. Hauptmann baut aber einen Widerspruch im Drama ein, indem er Frau Wolff normwidrig handeln und sie dadurch in ein komisch wirkendes Missverhältnis zur Norm treten lässt. Als Adelheid das vom Ehepaar Wolff gewilderte Reh sieht, fragt sie ihre Mutter:

„Adelheid, auf das Reh blickend. „Wat is’n det, Mama? Frau Wolff: A Klappperstorch! Beide Mädchen lachen. Adelheid. 'n Klapperstorch? Hat der ooch Hörner? Det weeß ick schon, 'n Rehbock is det! Frau Wolff. Na, wenn de’s weeßt, warum frägst’n da erscht? Leontine. Hat den Papa jeschoss’n, Mama? Frau Wolff. Nu rennt ock und schreit durchs ganz Dorf. Papa hat’n Rehbock geschossen, ja!? [...] Frau Wolff. [...] Mir tun nischt Beeses. Wenn a Reh ‚n Schuß hat und ‚s is am Verenden und’s findt’s kee Mensch, da fressen’s de Raben. Ob mirsch nu fressen oder de Raben, gefressen wird’s doch.“ (CA I 490)

Die komische Wirkung in diesem Dialog entsteht daraus, dass die Kinder durchschauen, dass die Eltern wildern, während Mutter Wolff durch geschickte Argumentation versucht, die kriminelle Tat zu rechtfertigen. Diese Diskrepanz zwischen Moral und Unehrenhaftigkeit bringt die peinliche Situation des Kleinbürgertums zum Ausdruck,

16 Vgl. Seite 41-43 in dieser Arbeit.

51 das wegen des ökonomischen Abstiegs gezwungen ist zu stehlen und sich selbst gleichzeitig darüber hinweg zu täuschen, dass es gegen die Norm verstößt. Die Komik wird durch die Selbstverständlichkeit hervorgebracht, mit der Mutter Wolff hier argumentiert.

Beim Feilschen mit dem Schiffer Wulkow stachelt Frau Wolff ihre Tochter Adelheid zum Lügen an, um einen höheren Preis zu erreichen:

„Frau Wolff, das Reh anfassend. Das Reh hier, das hat seine dreißig Fund. Aber gutt un gerne, kann ich Ihn sagen. Na, Adelheid! Du warscht doch dabei! Mir konnten’s doch kaum uff a Nagel heben. Adelheid, welche ja nicht dabei war. Ick habe mir richtig wat ausjerenkt.“ (CA I 492f)

Diese Diskrepanz zwischen Norm und Wirklichkeit spiegelt den Zwiespalt in der kleinbürgerlichen Mentalität: Um sich schnell materiell zu verbessern und aufzusteigen, muss man von der Norm (Ehrlichkeit) abweichen. Dieser Kontrast zwischen den star- ren Normen des Sozialisationsprozesses und der gesellschaftlichen Realität ist im Drama so groß, dass die Kinder erleben müssen, wie Norm und Wirklichkeit ausein- ander klaffen. Die Inkonsequenz der Erziehung bei Frau Wolff entsteht aus dem ge- sellschaftlichen Zustand, dass nur Leistung und Erfolg zählen, gleich wie man diese erreicht. So folgt Frau Wolff der Regel: „Du darfst alles, nur musst du es ver- schleiern.“17

1.1.3.3. Die Komik der Überlegenheit in der Figur der Mutter Wolff

Neben der komischen Wirkung des unzulänglich erfüllten Bildungsanspruchs und des widersprüchlichen Verhaltens zu gesellschaftlichen Normen konstruiert Haupt- mann eine andere Art der Komik Mutter Wolffs, nämlich die der Überlegenheit.18 In

17 Oberembt, Gert: Gerhart Hauptmann, Der Biberpelz: eine naturalistische Komödie. Paderborn 1987, S. 94. 18 Nach Otto Rommel lassen sich zwei Formen der Komik unterscheiden: die „Unzulänglichkeits- komik“ und die Überlegenheitskomik. Die Unzulänglichkeitskomik entstehe, wenn „ein Mensch gegenüber einer allgemeingültigen, auch vom Beobachter anerkannten Anforderung auffällig und überraschend versagt“ (Rommel, Otto: Komik und Lustspieltheorie. In: Deutsche Vierteljahrs-

52 dieser Figur gestaltet Hauptmann einen traditionellen Komödientypus, die Schelmen- figur. Ihre Überlegenheit gründet sich einerseits auf ihre Missachtung der gesell- schaftlichen Normen, ihre Vitalität und Schlauheit, wo es sich um Gewinn und sozialen Aufstieg handelt, andererseits auf ihre gewandte Anpassungsfähigkeit und das Scheinbild der Rechtschaffenheit.19 In diesem Stück resultiert die komische Handlung aus den Beziehungen, die Frau Wolff mit den männlichen Figuren eingeht. Die Figuren (Mutter Wolff) und die Gegenfiguren (Julius, Mitteldorf, Krüger und Wehrhahn) reiben sich im Drama aneinander. J. Vandenrath weist auf die komische Konstellation zwischen der starken, vitalen Mutter Wolff und den schwachen Männern hin: "In einer diesmal komischen Variante ist auch im "Biberpelz" eines der Grundthemen des H.schen Lebenswerkes gegeben: Wie das urwüchsige Weib siegt über den Mann."20

Die komische Wirkung entsteht vor allem in sich wiederholenden Situationen, in denen die anderen Figuren auf das Täuschungsspiel der Frau Wolff hereinfallen. Hauptmann stellt nicht nur die wiederholten Handlungen im Drama dar, sondern er setzt auch die Wiederholung komischer Situationen ein: Am Ende jedes Akts siegt die vitale und überlegene Frau Wolff über die Männer, die in ihrer Vertrotteltheit komisch auf der Bühne stehen. In der letzten Szene des ersten Akts hilft der Amts- diener Mitteldorf ahnungslos beim Anlegen der Schlitten für den Holzdiebstahl (Frau Wolff zu Mitteldorf. „Sie kenn uns a bissel leichten d’rzu!“) (CA I 503) Der Rentier Krüger greift am Schluss des dritten Akts vor dem Kochherd der Waschfrau einen der Holzknüppel auf, die ihm gestohlen wurden. Er ficht zornig mit dem Holz vor der eigenen Nase in der Luft herum und klagt Frau Wolff seine Wut: „Zwei Meter Knüppel, wie Sie dort haben.[...] So chutes, teures Holz, Frau Wolff.“ (CA I 528) Ohne die geringste Ahnung und völlig blind gegen die Tatsache steht er vor der

schrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 21 (1943) S. 252-286. Zitiert nach: Wesen und Formen des Komischen im Drama. Hg. von Reinhold Grimm. Darmstadt 1975, S. 49). In der Überlegenheitskomik entstehe das Komische, weil jemand vor lauter Lebensfreude und Vitalität sich die Freiheit nehmen könne, die Fesseln der Notwendigkeit und den Druck des zweckge- richteten Handelns im Alltag abzuschütteln. Man sei frei vom sozial Erlaubten, frei zum Regel- und Gesetzwidrigen und fühle sich nicht eingeschränkt durch die Möglichkeiten der herrschenden Kultur und der Gesellschaft.(Vgl. Horn, András: Das Komische im Spiegel der Literatur. Versuch einer systematischen Einführung. Würzburg 1988, S. 131.) Mit Recht schreibt Otto Rommel: „[Di]ese Komik bringt Entspannung: wir überfliegen sozusagen die Hemmnisse.“ (Rommel, 1975, S. 53) 19 Martini, 1969, S. 104. 20 Vandenrath, 1960, S. 231.

53 Diebin, die erregt erklärt: „Was hier fer ane Bande sitzt... Pfui Teifel! Nee so was! äh! Laßt mich zufriede!”(CA I 528) In unserer Erwartung hätte der Amtsdiener Mitteldorf die Diebin aufspüren müssen, und Krüger hätte gewusst, dass der Holz- knüppel in der Stube von Frau Wolff eigentlich ihm gehört. Im Gegensatz dazu aber handeln diese Figuren zu Gunsten der Diebin. Das Komische rührt von diesen uner- warteten Handlungen her.

Umkehrung der Geschlechterrolle

Eine der überlegenen Positionen von Mutter Wolff besteht in der Beziehung zwischen ihr und ihrem Mann Julius; Hauptmann lässt den Charakter seiner Hauptfigur gegenüber dem ihres Mannes triumphieren: Im Gegensatz zu den Vorstellungen, nach denen Frauen eine untergeordnete Stellung innerhalb der kleinbürgerlichen Familie innehaben, beherrscht Frau Wolff ihren Mann. Sie überragt ihren Mann an handlungstragender Potenz und handelt aktiv, während sich ihr Mann durch Langsamkeit und Passivität auszeichnet. Das kann man an Einzelheiten der Handlung oder an der Interaktion des Ehepaares erkennen. Fangen wir mit der Reihefolge der dramatis personae (Personen des Dramas) an: Auf der Liste steht Frau Wolff in der Mitte mit Beruf „Waschfrau“. Dann folgt „Julius Wolff, ihr Mann“. Hier bestimmt die Frau den Familienstand des Mannes: Dies deutet darauf hin, dass der Mann wegen seiner Bedeutungslosigkeit in der dramatischen Handlung hinter der Ehefrau rangiert. 21 In der Regieanweisung beschreibt Hauptmann die Waschfrau: „Frau Wolff war bemüht, ein Stück Rehwild aus dem Sack hervorzuziehen“, während der Mann untätig daneben steht. (CA I 486) Sie ist prompt und tüchtig, während Julius Wolff „mit blöden Augen und trägen Bewegungen“ dargestellt wird (CA I 487). Hier werden zwei gegensätzliche Charaktere gezeichnet: Die eine ist vital, der andere schwerfällig. Diese äußerlichen Indizien beweisen, dass Frau Wolff die dominante Figur in dieser kleinbürgerlichen Familie darstellt, während ihr Mann ein „Harlekins- kostüm“ 22 trägt. Fritz Martini beschreibt den komischen Charakter von Julius zu- treffend:

21 Vgl. Seidlin, Oskar: Urmythos irgendwo um Berlin. Zu Gerhart Hauptmanns Doppeldrama der Mutter Wolffen. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. 43 (1969), S. 131f.. 22 Ebd., S. 131.

54 "Der Dümmlingstypus kehrt, gemischt mit dem Typus des senex iratus [...], in dem Schiffszimmermann Wolff, dessen Verhältnis zu seiner Frau und seinen Töchtern wieder. Es charakterisiert diesen Typus, daß er leicht aufbraust, ebenso leicht zu besänftigen, zu lenken und leicht zu betrügen ist. Er erhält zugleich die komischen Typenzüge des Ungehobelten, Bäurisch-Klotzigen, des dumpfen, schwerfälligen Phlegmatikers."23

In der Interaktion des Ehepaares wird dieser Kontrast noch deutlicher: Frau Wolff besitzt Eigeninitiative, ist durchsetzungsfähig und dominant zu Hause, während Julius passiv ist und träge reagiert. Im ersten Akt fragt Frau Wolff ihren Mann nach dem Schiffer Emil:

„Frau Wolff. Haste a Schiffer-Emil getroffen? Julius brummt. Frau Wolff. Kannste nich reden? Ja oder nein? Wird a rumkomm, hä? Julius, unwirsch. Immerzu doch! Schrei du man noch mehr! Frau Wolff. Du bist schon a kuraschierter Kerl. Dabei da vergißte de Tiere zuzumachen. Julius schließt die Tür. Was is’n das wieder mit Leontinen? Frau Wolff. I, gar nischt! – Was hat’n der Emil gelad’t? Julius. All widder Klinkern. Wat soll er jelad’t hebben? – Wat is det nu widder mit det Mädel? Frau Wolff. De halbe Zielle oder de ganze? Julius, jähzornig aufwallend. Wat mit det Weibsstück all widder los is! Frau Wolff, ihn überbietend. Was Emil gelad’t hat, will ich wissen. A halben oder a ganzen Kahn? Julius. I, immerzu doch, de janze Zille. (CA I 487f.) Frau Wolff. Pst, Julian. Sie erschrickt und riegelt den Laden zu. Julius, sie erschrocken anglotzend, schweigt. Nach einigen Sekunden, leise. 's is all 'n junger Förster in Rixdorf. Frau Wolff. Geh, krich untersch Bette, Julian. Nach einer Pause. Wenn du bloß nich aso schrecklich tumm wärscht. (CA I 487f.) [...] Juluis. Ick spüre de Knochen schon jar nich mehr. Mag jehn wer will, det is mich eejal!

23 Martini, 1969, S. 100.

55 Frau Wolff. Ihr Männer habt immer a großes Maul, und wenn's derzu kommt, da kennt er nischt leisten. Ich arbeit' euch dreimal in a Sack un wieder raus, euch alle mitnander.“ (CA I 499)

Durch die Integration Mutter Wolffs in den Arbeitsprozess verliert die männliche und väterliche Autorität in dieser Familie immer mehr an Bedeutung. Hauptmann arbeitet mit Mitteln der Komik, um diese Veränderung des Geschlechterverhältnisses im Dialog zum Ausdruck zu bringen. Trotz seiner launischen und wütenden Reaktion hat Julius zu Hause nicht mehr alleinige Autorität. Die Dominanz der Frau Wolff über ihren Mann steht im Widerspruch zu der in der damaligen Zeit vorausgesetzten und erwar- teten Zartheit und Nachgiebigkeit einer kleinbürgerlichen Frau. Die Komik entsteht hier dadurch, dass die Gesellschaft davon ausgeht, dass der Mann die Autorität darstellt, aktiv und initiativ ist und die Frau sich ihm beugt. Die dominante Darstellung der Figur der Frau Wolff bedeutet eine Umkehrung des „normalen“ Geschlechtsverhältnisses. Hier zeigt sich eine Komödientradition, in der es um die Zähmung des Mannes durch eine starke Frau geht. Diese Abweichung von der Norm bringt den Zuschauer zum Lachen. Frau Wolff spielt zwar die beherrschende Rolle in der Familie, aber nach außen betont sie immer die Autorität ihres Mannes. Sie will einerseits die bürgerliche Norm nicht verletzen, andererseits hilft ihr diese Behauptung, ihren Vorteil durchzu- setzen, z.B. als sie mit Wulkow feilscht oder in der Szene, in der im Polizeiamt ermittelt wird. Ihr Mann ist im Grunde das Mittel, das sie einsetzt, um ihren Willen durchzusetzen, er ist bloßes Objekt im Spiel seiner Frau. Die Komik in dieser Konstel- lation entsteht aus dem Kontrast, in dem die Frau dirigiert und antreibt, während sich der Mann ihrer Intelligenz und Vitalität unterwirft, sie nach außen aber vorgibt, sich nach ihm zu richten.24

Die komische Konstellation zwischen Mutter Wolff und Wehrhahn

Die reizvollsten komischen Situationen im Drama sind die Szenen, die Frau Wolff mit ihrem „Gegenspieler“, dem Polizeibeamten Wehrhahn, konfrontieren. Hauptmann gestaltet wiederholt den Kontrast zwischen der Überlegenheit der

24 Vgl. Martini, 1969, S. 100.

56 schlauen Waschfrau und der Unwissenheit ihres Gegenspielers Wehrhahn. Er lässt seine Hauptfigur ohne Rücksicht auf moralische und gesellschaftliche Normen und mit Willenskraft und Übermut in ihren Listen und ihrem Betrugspiel triumphieren, während ihr Gegenspieler aufgrund seiner Engstirnigkeit dies nicht durchschaut. Fängt man mit der wörtlichen Bedeutung des Namens an, so zeigt sich der Kontrast schon sehr deutlich: Wehrhahn ist der militante Gockel (kämpferische Hahn) „auf dem Hühnerhof der Untertanengesellschaft“. 25 Die stehlende Waschfrau ist der Wolf(f) im Schafspelz, der heimlich im Dunkeln umgeht. Der stolzierende Wehrhahn fühlt sich, als sei er als Autorität über den Hühnerhof eingesetzt. Mit hochnäsigem Selbstbewusstsein sagt der Polizeibeamte „hier bin ich auch König“ (CA I 516). Aber er ist bei allem wehrhaften „Gekräh“26 machtlos gegen die schlaue und vorwärtsdrängende Wölfin. Die Wölf[f]in bewegt sich heimlich, während der domestizierte Hahn (Hof-Vorsteher), die Ordnung verteidigend, aber erfolglos mit ausgebreiteten Flügeln in die Luft schlägt.27 Auf ihrem heimlichen Umweg ist die schlaue Frau Wolff erfolgreich, während die hinterlistige Planung des bornierten Wehrhahn, Oppositionelle zu verfolgen, am Ende zu nichts führt. Die vitale Waschfrau ergreift mit Eigeninitiative und Durchsetzungskraft die Gelegenheit, die soziale Lage ihrer Familie zu verbessern. Ihre Taten sind spontan und erfolgreich.

Bei der Ermittlung der Diebstähle im dritten Akt fragt der ahnungslose Wehrhahn Frau Wolff, die eigentlich die Normverstöße begangen hat: „Sie sind ja im Dorf herum bekannt. Wem trauen Sie so einen Diebstahl zu? Wer könnte das Holz wohl gestohlen haben?“ (CA I 515) Am Schluss des Dramas zeigt sich abermals seine Unfähigkeit als Polizeibeamter, die Situation zu durchschauen:

„Wehrhahn. „Das ist nämlich hier unsre fleißige Waschfrau. Die denkt, alle Menschen sind so wie sie. Zu Frau Wolff. So ist’s aber leider nicht in de Welt. Sie sehen die Menschen von außen an. Unsereins blickt nun schon etwas tiefer. Er geht einige Schritte, bleibt dann vor ihr stehen und legt ihr die Hand auf die Schultern. Und so wahr es ist, wenn ich hier sage: die Wolffen ist eine ehrliche Haut, so sage ich Ihnen mit gleicher Bestimmtheit: Ihr Dr. Fleischer, von dem wir da sprachen, das ist ein lebensgefährlicher Kerl!

25 Schrimpf, 1969, S. 39. 26 Seidlin, 1969, S. 139. 27 Vgl. ebd., S. 139.

57 Frau Wolff, resigniert den Kopf schüttelnd. Da weeß ich nu nich...“(CA I 542)

Mit ihrer Tatkraft hat Frau Wolff die Freiheit, Normwidrigkeit und Tabubruch zu begehen. Sie durchschaut die Situation und täuscht den beschränkten Polizeibeamten, während Wehrhahn aus Voreingenommenheit die eigentlichen Anforderungen nicht erfüllt oder aus Unwissenheit versagt: Als Amtsvorsteher müsste er den Diebstählen nachspüren, statt dessen befreundet er sich mit der Diebin. Aus einer Selbsttäuschung heraus fasst er sein Amt zwar als "heiligen Beruf" auf und sieht sich als Kämpfer für "die höchsten Güter der Nation" (CA I 517), wird den Anforderungen seines Berufs realiter jedoch nicht gerecht. Statt die kriminellen Taten im Dorf zu ermitteln, spioniert er lieber dem liberalen Denker Dr. Fleischer hinterher. Diese Unzulänglichkeit und Selbstverkennung sind komische Momente, die den Zuschauer zum Lachen bringen.

1.1.4. Die Überlegenheit der Kleinbürgerin als Satire auf die Untertanenmenta- lität der Polizeibeamten und den Obrigkeitsstaat

Die besondere Wirkung der Komik in "Der Biberpelz" entsteht Mauser zufolge nicht nur durch den neuen unkonventionellen Aufbau der Komödie, sondern erstreckt sich auch auf eine politische und soziale Dimension.28 Zu fragen ist, welche Funktion diese neue Dimension der Komödie erfüllt, warum der Autor die vitale Mutter Wolff in einen Gegensatz zu dem pedantischen Polizeibeamten Wehrhahn stellt und welche Wirkung sich aus dieser komischen Konstellation ergibt.

Die komische Konstellation zwischen Mutter Wolff und Wehrhahn besteht im Wesentlichen aus dem "wachen Sinn"29 der Frau Wolff und der Blindheit Wehrhahns für die Situation.30 Die schlaue Kleinbürgerin hat einen Blick für die Realität und erkennt, dass man mit ehrlicher Arbeit keine schnelle materielle und soziale Verbesserung erreichen kann. So greift sie auf eigene Initiative zu Diebstählen: „Wer halt nich wagt, der gewinnt ooch nich." (CA I 501) Vor dem ahnungslosen

28 Vgl. ebd., S. 228. 29 Ebd., S. 223. 30 Vgl. ebd., S. 220-223.

58 Polizeibeamten braucht sie sich nicht zu verstecken:

“[...] Der Mann is Ihn aber tumm...nee, horndumm. Ich seh’ durch mei Hiehnerooge mehr wie der durch sei Glasooge, könn Se mer glooben.[...] Das kann ich Ihn sagen, wenn’s druff ankommt: dem stehl’ ich a Stuhl unterm Hintern weg.“ (CA I 526)

Im Gegensatz zur lebenserfahrenen Mutter Wolff fehlt dem aufgeblasenen Wehrhahn jede Beziehung zu den Dingen. Anstatt sich mit dem vorliegenden Fall, dem Diebstahl in seinem Dorf, zu befassen, verfolgt er die Demokraten. Bei der Untersuchung fragt er ahnungslos den Schiffer Wulkow, den Anstifter zum Pelzdiebstahl, ob die Spreeschiffer öfter Pelze trügen, ohne dessen ängstliches Zucken zu bemerken. (CA I 537) Die Unfähigkeit zu begreifen, was um ihn herum passiert, weist auf Beschränktheit, ängstliche Gehorsamkeit und Starrheit der Beamtenmentalität hin.31 Diese Blindheit gegenüber der Realität deutet nach Peter Haida darauf, dass Wehrhahn in seinem Machtrausch an seine "Vollkommenheit und Unfehlbarkeit"32 glaubt. Außerdem ist er durch eine "ideologische Fixierung"33 auf den Staat gekennzeichnet, dem er dient und für den er kämpft. Diese Untertanen- mentalität und die notwendige Identifikation mit der Staatsautorität äußern sich darin, dass er sich einerseits nach unten als Vertreter der Obrigkeit fühlt, andererseits nach oben der Autorität der Obrigkeit starr folgt. Für Mauser ist diese Blindheit nicht nur eine persönliche Schwäche des Beamten Wehrhahn, sondern:

„[...]seine Blindheit ist gesellschaftlich spezifischer. Sie ist Ausdruck seines blinden Gehorsams. Dieser blinde und blindmachende Gehorsam ist nicht nur ein persönlicher Mangel, sondern erscheint als Folge eines Systems, das aus Angst vor liberalen Bestrebungen (Fleischer) das Prinzip der Verhältnismäßig- keit staatlicher Sanktionen aufgegeben hat. In einer Art Hysterie konzentrierte

31 Vgl. ebd., S. 221. 32 Haida, Peter: Komödie um 1900. Wandlungen des Gattungsschemas von Hauptmann bis Stern- heim. München 1973, S. 30. 33 Ebd., S. 30

59 die Gesellschaft mit Hilfe jener staatlichen Institutionen, die eigentlich für Recht und Sicherheit zu sorgen hätten, ihre Aktionen darauf, alle freiheitlichen Regungen zu unterdrücken, ohne zu bemerken, dass dabei Recht und Sicherheit Schaden nehmen.“34

In den Regieanweisungen (Zeit: „Septennatskampf gegen Ende der achtziger Jahre“35) wird der zeitgeschichtlich-politische Hintergrund deutlich. Dies war die Zeit, in der gegen die Sozialdemokratie gekämpft wurde. Die preußischen militärischen Polizei- beamten wurden stärker im politischen als im kriminellen Bereich eingesetzt. Sie sollten Gesinnungsdelikte verfolgen, politisch vor Ort „mustern und [...] säubern“ (CA I 507), also „[d]unkle Existenzen, politisch verfemte, reichs- und königsfeindliche Elemente“ (CA I 508) beseitigen helfen. Wehrhahn ist solch ein Beamter. Im Drama wird nicht nur der blinde Gehorsam eines einzelnen Poli- zeibeamten dargestellt, sondern auch die Widersprüchlichkeit des preußischen Ge- sellschaftssystems.36 Hier stellt Hauptmann nicht nur die Schwäche der Polizeibe- amten dar, er will auch die versteckte Intention der herrschenden Gesellschaft entlarven. Dies System verlangt von den Beamten, mehr auf politisch unliebsame Meinungen und Verhaltensweisen zu achten als auf den Bereich der Kriminalität und des Strafrechts.37

Als Zuschauer lachen wir einerseits über das widersprüchliche Verhalten der Kleinbürgerin, das durch ihr unzulängliches Bildungsstreben, das nicht zu ihrer Klas- senlage passt, und die Diskrepanz zwischen Normen und Realität zum Ausdruck gebracht wird. Andererseits gewinnt diese Figur durch ihre Überlegenheit den anderen

34 Mauser, Wolfram: Gerhart Hauptmanns Biberpelz: Eine Komödie der Opposition? In: Michigan Germanic Studies 1 (1975), S. 220. 35 Der Handlungsort im „Biberpelz“ ist „irgendwo um Berlin“, die Handlungszeit des dramatischen Geschehens ist mit einem politischen Schlagwort genauer angegeben: „Septennatskampf gegen Ende der achtziger Jahre“, also 1887. Mit diesem Zeitpunkt ist ein kurzes Zwischenspiel aus der Geschichte des Kaiserreichs gemeint, insbesondere die Monate Januar und Februar 1887. Der Begriff Septennat verweist auf die Bewilligung der Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres für ein hohes Militärbudget von sieben Jahren. Am 14. Januar 1887 löste der Kanzler Bismarck den Reichstag auf, weil dieser in zweiter Lesung statt des Septennats nur ein Triennat (3 Jahre) genehmigte. Die Neuwahlen wurden kurzfristig auf den 21. Februar festgelegt. Um die parlamen- tarische Mehrheit zu gewinnen, hatten sich die konservativen Parteien (die Nationalliberalen) zu einem Wahlkampfkartell zusammengeschlossen. Im Wahlkampf wurde der Bevölkerung durch Propaganda eine „Kriegsgefahr“ durch Frankreich suggeriert. Die aus den Wahlen hervorge- gangene regierungstreue Mehrheit nahm am 11. März 1887 die Militärvorlage an. Der Septennats- kampf setzte somit die Erhöhung der Heeresstärke gegen den vereinten linksliberalen und sozialistischen Widerstand durch. (Vgl. Machatzke, Martin/ Requardt, Walter: Gerhart Hauptmann und Erkner. Studien zum Berliner Frühwerk. Berlin 1980, S. 179f..) 36 Vgl. Mauser, 1975, S. 220f.. 37 Vgl. ebd., S. 221.

60 Figuren (besonders den Männern) gegenüber unsere Sympathie. Im Kontrast zur tüchtigen und schlauen Mutter Wolff erscheint der Polizeibeamte Wehrhahn beschränkt und pedantisch. In der karikierten Figur des Wehrhahn spiegelt sich die Mentalität der Beamtenschaft: beschränkte Verwaltungswillkür, lächerlicher Gehorsam und starre Obrigkeitsgläubigkeit. Das Stück verweist zum einen auf die soziale Dimension des Wunsches nach Aufstieg und sozialer Verbesserung des Kleinbürgertums, zum anderen auf die politische Dimension der Satire auf die Unter- tanenmentalität der Polizeibeamten und das System, in dem man unbeliebte Freidenker verfolgt, die gegen die staatlichen Institutionen ihre Meinung äußern.

61 1.2. „Die Ratten“ von Gerhart Hauptmann

„Die modernen Tragödien-Stoffe suchen, heißt die modern-tragischen Charaktere suchen.“1 (29. Sept. 1908, Gerhart Hauptmann)

1909 begann Gerhart Hauptmann mit der Ausarbeitung des Dramas "Die Ratten". Die einzelnen Motive hatte er jedoch zum Teil schon lange vorher notiert oder probeweise literarisch gestaltet: Das Thema zu "Heßlers Maskenverleihanstalt", das später im Stück als Hassenreuter-Spitta-Handlung inszeniert wurde, stand auf der Liste der literarischen Vorhaben Hauptmanns von 1887. Er hatte von 1884-1886 Schauspielunterricht bei Alexander Heßler, einem früheren Straßburger Theater- direktor, genommen. Im gleichen Jahr 1887 schrieb Hauptmann die Erzählung "Der Buchstabe tötet", die vom Konflikt zwischen den Pflegeeltern eines siebenjährigen Kindes und dessen leiblicher Mutter handelt; das kürzlich verheiratete Dienst- mädchen gibt das Pflegegeld zurück und will ihr Recht auf das Kind wieder geltend machen. Diese Szene wurde später im zweiten Akt von "Die Ratten" (CA II 769) ausgestaltet. Bei der konkreten Ausarbeitung des Motivs von Kindertausch in diesem Stück bezog sich der Autor auf den Prozessbericht des Berliner Lokalan- zeigers vom 13. 2. 1907.2 "Die Ratten" enthält zwei Handlungsstränge, die miteinander verflochten sind: Der eine spielt in der bürgerlichen Familie des Theaterdirektors Hassenreuter und im Kreis seiner Schüler, der andere in der kleinbürgerlich-proletarischen Familie des Maurerpoliers John. In die Hassenreuter-Handlung ist eine Kontroverse über Thea- terkunst eingebettet zwischen Hassenreuter, der die Dramaturgie der Klassik vertritt, und seinem Schüler Spitta, der das naturalistische Konzept verteidigt. In der John- Handlung beschreibt Hauptmann in Akt II mit einer detaillierten Regieanweisung "die kleinbürgerliche Idylle"3:

"Es ist gegen fünf Uhr am Nachmittag, Ende Mai. Die warme Sonne scheint durch die Fenster. Maurerpolier John, ein vierzigjähriger, bärtiger, gutmütig aussehender Mann, steht behaglich am vorderen Fenstertisch und macht sich

1 Hauptmann, Gerhart: Tagebücher 1906 bis 1913. Hg. von Peter Sprengel. Frankfurt/ Main 1994, S. 216. 2 Ich werde in 1.2.2 dieses Kapitels genauer darauf eingehen. 3 Sprengel, Peter: Gerhart Hauptmann: Epoche-Werk-Wirkung. München 1984, S. 143.

62 Notizen aus den Bauplänen. Frau John sitzt mit einer Näharbeit auf dem Fenstertritt des anderen Fensters. [...] An ihrer Seite steht ein Kinderwagen - sauber, neu und nett -, darin ein Säugling gebettet ist."4

Es erscheint hier ein kleinbürgerliches Glück: eine zufriedene Hausfrau und ein Kind, das ihre Ehe mit dem fleißigen Maurerpolier zur Erfüllung bringen soll. 5 Die Schilderung der Werkzeuge von John deutet auf die Eigenschaften kleinbürgerlicher Tüchtigkeit und Pflichtbewusstseins: "Am vorderen Fenster ist ein saubergehobeltes Brett als eine Art Arbeitstisch angebracht. Hier liegen zusammengerollte Kartons (Baupläne), Pausen, Zollstock, Zirkel, Winkelmaß usw." (CA II 754f.) Die Ordnung dieser kleinbürgerlichen Idylle gründet sich darauf, dass sie sich von entgegen- stehenden Elementen abgrenzt, z.B. darf Bruno, Frau Johns krimineller Bruder, die Wohnung nicht betreten, und die kranken Kinder der drogensüchtigen Nachbarin Frau Knobbe sind nicht willkommen. Im Verlauf der Handlung zeigt sich jedoch, dass es unmöglich ist, diese Ordnung von den anderen Vorgängen des Stücks abzugrenzen; im Gegenteil sie wird durch die Ereignisse des anderen Schauplatzes verdrängt und zerstört.6

In der folgenden Untersuchung soll herausgearbeitet werden, wie die beiden Hand- lungsstränge im Verhältnis zueinander verlaufen, wie die Kleinbürgerin dargestellt wird und welche Funktion sie im Stück hat. Die Analyse konzentriert sich auf zwei Aspekte: 1. Hauptmann verwendet die Kleinbürgerin Frau John als Demonstrations- gegenstand für seine Konzeption der Tragödie; für Hauptmann ist die Figur der Frau John, die aus der unteren Schicht, hier aus dem kleinbürgerlichen Milieu stammt, eine der Tragödie würdige Figur. 2. Zum anderen geht es um die Darstellung der Tragik im Leben dieser Kleinbürgerin. Meiner Ansicht nach hat Hauptmann das Psychopathologische zum Thema der Tragödie gemacht, indem er das "hysterische"7 Verhalten der durch ihren übersteigerten Kinderwunsch verwirrten Frau John darstellt.

4 Zitiert wird nach: Hauptmann, Gerhart: „Die Ratten. Berliner Tragikomödie“. In: Ders.: Sämtliche Werke. Centenar-Ausgabe. Hg. von Hans Egon Hass. Bd. 2. Darmstadt 1966, S. 755. Seitenan- gabe künftig in fortlaufendem Text. 5 Vgl. Sprengel, 1984, S. 147. 6 Vgl. ebd., S. 143. 7 Ich beziehe mich in dieser Analyse auf die theoretischen Überlegungen zur "Hysterie" von Freud. Die neue theoretische Literatur zu diesem Thema wird im folgenden nicht berücksichtigt.

63

1.2.1. Die Kleinbürgerin John als Demonstrationsobjekt der Tragödie

Die kritischen Beiträge zum Strukturprinzip dieses Stücks verweisen meist entweder auf die Kontraststruktur der beiden Handlungen,8 nämlich die Komik in der Hassen- reuter-Handlung und die Tragik in der John-Handlung, oder auf die dramatische Form der Tragikomödie, in der auch komische Elemente der John-Handlung und tragische der Hassenreuter-Handlung aufgezeigt werden.9 Meine These geht davon aus, dass die John-Handlung zur Beweisführung für Hauptmanns dramatische Theorie eingesetzt wird, die er in der Hassenreuter-Handlung reflektiert. Es geht Hauptmann darum zu zeigen, dass es auch im Kleinbürgertum ein der Tragödie würdiges Personal gibt. Bevor ich diese These vorstelle, versuche ich zu zeigen, was der junge Hauptmann unter einer Tragödie verstand und welche dramaturgischen Überlegungen er hatte. Ich beziehe mich dabei auf die Debatte über Kunst zwischen Hassenreuter und Spitta im Drama sowie auf die Bemerkungen zum Tragischen in Hauptmanns Tagebuch- auszügen und seinem Notizkalender, die mit der Hassenreuter-Spitta Episode eng verbunden sind. 10 Aus diesen Quellen ergeben sich vier wichtige Aspekte der Tragödientheorie Hauptmanns: a) die Ablehnung der Ständeklausel, b) die Dar- stellung von Charakteren mit inneren Konflikten statt äußerer Handlung, c) die Negierung der poetischen Gerechtigkeit und d) die Anpassung der Kunst an Leben und Natur.

8 Vgl. Kaiser, Gerhard: Die Tragikomödien Gerhart Hauptmanns. In: Gerhart Hauptmann. Hg. von Hans Joachim Schrimpf. Darmstadt 1976, S. 360-384. Vgl. auch Sprengel, Peter: Gerhart Haupt- mann: Die Ratten. Vom Gegensatz der Welten in einer Mietskaserne. In: Dramen des Naturalismus. Hg. von Reclam und Universal-Bibliothek. Stuttgart 1988, S. 243, vor allem S. 262-266. 9 Vgl. Guthke, Karl S.: Gerhart Hauptmann und die Kunstform der Tragikomödie. In: Germanisch- Romanische Monatsschrift 38 (1957), S. 349-369. 10 Das Buch „Gerhart Hauptmann. Die Kunst des Dramas“, das aus Hauptmanns Reden, Tagebuch- auszügen und dem Nachlass entstand und von Martin Machatzke zusammengestellt wurde, ist eine der wichtigsten Quellen für mich. (Gerhart Hauptmann. Die Kunst des Dramas über Schauspiel und Theater. Zusammengestellt von Martin Machatzke. Frankfurt/ Main 1963.) Eine andere Quelle ist „Gerhart Hauptmann: ‚Die Ratten’“, in der die wichtigen Einflüsse auf Hauptmanns dramatische Kreativität ausführlich angeführt werden. (Gerhart Hauptmann: „Die Ratten“. Hg. von Werner Bellmann. Stuttgart 1990.)

64 1.2.1.1. Hauptmanns Überlegungen zu einer Tragödientheorie

Die Ablehnung der Ständeklausel

1909 beschäftigte sich Hauptmann mit dem Buch „Die Technik des Dramas“ von Gustav Freytag. In seinem Exemplar korrigierte er Freytags Satz „Die Muse der Kunst ist keine barmherzige Schwester“, indem er „keine“ durch „eine“ ersetzte. Am Rand notierte er „[i]mmer überall muß sie es sein.“11 Mit solchen Aussagen negierte Hauptmann Freytags Vorstellung vom Trauerspiel. Laut Freytag kann

„die Wichtigkeit und Größe des Kampfes nur dadurch eindringlich gemacht werden [...], daß der Held die Fähigkeit besitzt, sein Inneres in großartiger Weise mit einer gewissen Reichlichkeit der Worte auszudrücken [...] Deshalb sind solche Klassen der Gesellschaft, welche bis in unsere Zeit unter dem Zwang epischer Verhältnisse stehen, deren Leben vorzugsweise durch die Gewohnheiten ihres Kreises gerichtet wird, welche noch unter dem Druck solcher Zustände dahinsiechen, [...] welche nicht vorzugsweise befähigt sind, Empfindungen und Gedanken schöpferisch in Rede umzusetzen, zu Helden des Dramas nicht gut verwendbar.“12

Für Freytag ist die Darstellung der gesellschaftlichen Probleme des wirklichen Lebens, „Gewaltherrschaft der Reichen, die gequälte Lage Gedrückter, die Stellung der Armen“13, nicht kunstgerecht. Durch sie werde die Kunst entwürdigt: „Die Schilderung der Gemüthsvorgänge eines gemeinen Verbrechers gehört in den Saal des Schwurgerichts, die Sorge um Besserung der armen und gedrückten Klassen soll ein wichtiger Theil unserer Arbeit im wirklichen Leben sein, die Muse der Kunst ist keine barmherzige Schwester.“14 Dieser Äußerung traditioneller Dramaturgie hielt Hauptmann entgegen, dass Menschen aus der unteren und mittleren Schicht der Tragödie genauso würdig seien wie Reiche oder Adlige. Ihm geht es in der Tragödie um innere Konflikte des Menschen im alltäglichen Leben. So notierte er in einem

11 Vgl. Sprengel, Peter: Die Wirklichkeit der Mythen: Untersuchungen zum Werk Gerhart Haupt- manns aufgrund des handschriftlichen Nachlasses. Berlin 1982, S. 102. 12 Freytag, Gustav: Die Technik des Dramas. Leipzig 12 1912, S. 58f.. 13 Ebd., S. 59. 14 Ebd., S. 59.

65 Manuskript von 1898: „Vor der Kunst wie vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich!“15 Auch in der Dramaturgie drückte Hauptmann diesen Gedanken aus:

„Man muß, um wahrhaft produktiv zu sein, den dramatischen Stoff, also Menschen und ihre inneren und äußeren Beziehungen und Kämpfe, ganz unabhängig davon sehen, daß die Menschen Menschen, Männer, Weiber, Aristokraten, Bürger, Arbeiter oder regierende Fürsten, daß sie alt, jung, arm oder reich sind.“16

Und weiter:

„Man hört Worte wie diese immer aufs neue: Niederungen des Lebens! Alltägliche Misere! Arme-Leute-Geruch! – Man trenne von einem Fürsten das, was des Titels ist, von dem, was des Menschen ist: was ist wichtiger? Nie und nirgends hat es die Kunst mit Titeln zu tun! Auch nicht mit Kleidern!“17

Mit diesen Äußerungen nimmt Hauptmann deutlich Stellung gegen die Ständeklausel, eine der traditionellen Regeln der Tragödie, die schon der Sturm und Drang für sich außer Kraft gesetzt hatte. Als Sprachrohr Hauptmanns 18 debattiert der Schauspielschüler Spitta in „Die Ratten“ heftig mit dem Theaterdirektor Hassenreuter, der noch an die Ständezuge- hörigkeit des Tragödienpersonals glaubt. Empört spricht dieser zu Spitta: „Von den Höhen der Menschheit wissen Sie nichts. Sie haben neulich behauptet, dass unter Umständen ein Barbier oder eine Reinmachefrau aus der Mulackstraße ebensogut ein Objekt der Tragödie sein könnte als Lady Macbeth und König Lear.“ (CA II 778) Ganz ruhig erwidert Spitta: „Vor der Kunst wie vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich, Herr Direktor.“ (CA II 778). Hier vertritt Spitta die ästhetische Position des jungen Hauptmann gegen die traditionelle Ständeklausel, mit der die Poetiken im 16. und 17. Jahrhundert (Renaissance und Barock) festlegten, dass nur die Schicksale der Könige, Fürsten und anderer hoher Standespersonen tragikfähig seien. Die Tragik

15 Hauptmanns Tagebücher 1897-1905. Hg. von Martin Machatzke. Frankfurt/ Main 1987, S. 225. 16 Gerhart Hauptmann. Dramaturgie. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Hans-Egon Hass. Bd. 6. Darmstadt 1962-1974, S. 1038. Die folgenden Belegstellen aus der Centanar-Ausgabe sind durch die Abkürzung CA vor der Bandzahl und Seitenangabe gekennzeichnet. 17 Ebd., S. 1041. 18 Vgl. Sprengel, Peter: Gerhart Hauptmann: Die Ratten. Vom Gegensatz der Welten in einer Miets- kaserne. In: Dramen des Naturalismus. Stuttgart 1988, S. 260.

66 bei Personen aus höherem Stand sollte auf den Zuschauer eine stärkere Wirkung ausüben, weil die "Fallhöhe" größer sei, während es bei den bürgerlichen Figuren galt, die Schwächen zum Gegenstand der Komödie zu machen.19 Durch Spittas Argumentation fühlt man sich an die Hauptfigur der sozialen Tragödie „Woyzeck“ von Büchner erinnert, 20 deren Schicksal es war, als besitzloser und unterdrückter Soldat von den Herrschenden missbraucht zu werden.

Vorbild und Vorläufer Hauptmanns war Büchner, der ebenfalls gesellschaftliche Probleme öffentlich machen wollte und dessen Hauptanliegen die Darstellung von Menschlichkeit war. Zwei andere Autoren, die Hauptmanns Auffassungen über das Tragödienpersonal beeinflussten, waren Lessing und Diderot. Mit seinem bürger- lichen Trauerspiel sprach sich auch Lessing für die Abschaffung der Ständeklausel aus. Im 14. Stück der Hamburgischen Dramaturgie schrieb er:

„Die Namen von Fürsten und Helden können einem Stücke Pomp und Majestät geben; aber zur Rührung tragen sie nichts bei. Das Unglück derjenigen, deren Umstände den unsrigen am nächsten kommen, muß natürlicher Weise am tiefsten in unsere Seele dringen; und wenn wir mit Königen Mitleiden haben, so haben wir es mit ihnen als mit Menschen, und nicht als mit Königen.“21

Im 75. Stück formulierte er, dass ein tragischer Held "mit uns von gleichem Schrot und Korne"22 sein sollte. Einer seiner wichtigsten Beiträge für das deutsche Theater war die Übersetzung „Das Theater des Herrn Diderot“. Eine zentrale Äußerung Diderots handelt von der Tragikfähigkeit der Stände: „Man sagt manchmal, es hat sich bei Hofe ein sehr lustiges Abenteuer, es hat sich in der Stadt eine sehr tragische Begebenheit ereignet. Hieraus folgt also, dass die Komödie und Tragödie für alle Stände gehöret; nur mit diesem Unterschiede, dass Schmerz und Tränen weit öfter unter den Dächern der Untertanen als Munterkeit und Freude in den Palästen der

19 Vgl. Asmuth, Bernhard: Einführung in die Dramenanalyse. Stuttgart 3 1990, S. 25, 27-29. Vgl. auch Wilpert, Gero von: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart 6 1979, S. 262, 782f.. 20 Hauptmann äußerte sich über den starken Einfluss Büchners auf ihn selbst in seiner Autobiogra- phie „Das Abenteuer meiner Jugend": „Georg Büchners Werke, über die ich im Verein „Durch!“ einen Vortrag gehalten habe, hatten mir gewaltigen Eindruck gemacht. Das unvergleichliche Denkmal, das er nach nur dreiundzwanzig Lebensjahren hinterlassen hat, die Novelle „Lenz“, das Woyzeck-Fragment hatten für mich die Bedeutung von großen Entdeckungen.“ (Vgl. Hauptmann, Gerhart: Das Abenteuer meiner Jugend. In: Ders.: Sämtliche Werke. Centenar-Ausgabe. Hg. Von Hans Egon Hass. Bd. 7. Darmstadt 1974, S. 1061.) 21 Lessing, Gotthold Ephraim: Hamburgische Dramaturgie. Hg. von Kurt Wölfel. Frankfurt/ Main 1986, S. 73. 22 Ebd., S. 356.

67 Könige wohnen.“23 Diese drei Dramatiker hatten großen Einfluss auf Hauptmann und bekräftigten seine Ansicht zur klassizistischen Regelpoetik.

Die Darstellung von Charakteren mit inneren Konflikten statt äußerer Hand- lung

Ein weiterer Aspekt in Hauptmanns Dramaturgie24 ist, dass die inneren Konflikte der Charaktere wichtiger sind als die äußere Handlung. Im dritten Akt des Stücks „Die Ratten“ greift Hassenreuter Spittas moderne Ansichten an: „Sie leugnen die Handlung im Drama und behaupten, dass sie ein wertloses Akzidens, eine Sache für Gründlinge ist.“ (CA II 778) Eine ähnliche Position wie bei Spitta findet man auch bei Hauptmann. Im Jahr 1890 stellte er ein Zitat aus Lessings Abhandlung „Vom Wesen der Fabel“ als Leitspruch an den Anfang seines Dramas „Friedensfest“25: „Sie finden in keinem Trauerspiel Handlung, als wo der Liebhaber zu Füßen fällt [...] Es hat ihnen nie beifallen wollen, daß auch jeder innere Kampf von Leidenschaften, jede Folge von verschiedenen Gedanken, wo eine die andere aufhebt, eine Handlung sei“.26 Eine weitere Notiz lautet: „Im Drama bilden die Charaktere die Handlungen; wo die Handlung ohne die Charaktere fixiert wird, zieht sie diesen nicht nur das Hemd vom Leib, sondern das Fell über die Ohren.“(CA XI 813) Für Hauptmann ist „Handlung im Drama: das Unwichtigste! Das Gleichgiltigste! Das Undarstell- bare!“. 27 Die Handlung bedeute nur „die menschliche Erscheinungsform des Lebens“.28 Hauptmann fordert, dass es im Drama entweder eine innere Handlung oder überhaupt keine geben solle. 29 Am schärfsten argumentiert er gegen „die Handlung“ in der Dramaturgie:

„Wo du auch immer dem begegnest, was dramaturgische Schädlinge immer vermissen, immer suchen und niemals erkennen, wo es vorhanden ist, eben das, was sie auch mit dem Namen „Handlung“ bezeichnen – nimm, was du findest, wenn dir die „Handlung“ begegnen sollte, Axt, Knüppel oder den ersten besten

23 Lessing, Gotthold Ephraim: Das Theater des Herrn Diderot. Stuttgart 1986, S. 146. 24 Ich beziehe mich hier hauptsächlich auf die dramatischen Überlegungen des jungen Hauptmann, der sich mit dem Konzept des Naturalismus beschäftigte. 25 Gerhart Hauptmann: „Die Ratten“. Hg. von Werner Bellmann, 1990, S. 29. 26 Lessing, Gotthold Ephraim: Werke. Bd. 3. Vermischte Schriften. München 1972, S. 442f.. 27 Hauptmann, Gerhart: Tagebücher 1906 bis 1913, 1994, S. 180. 28 Ebd., S. 180. 29 Vgl. ebd., S. 180.

68 Stein, der dir gerade zur Hand ist, und schlage sie tot.“ (CA VI 1041)

Seit dem 18. Jahrhundert zeigten immer mehr Dramatiker Interesse für Psychologie und stellten auch unter- oder unbewusste Vorgänge im Stück (z.B. Traumszenen) dar.30 Schon Lessing wies auf die Beschränktheit von Batteux' (ein französischer Literaturtheorektiker) Definition der Handlung hin, der betonte, dass eine Handlung eine Begebenheit sei, die mit Wahl und Absicht geschehe.31 Im Sinne Lessings galten ein Irrtum und Gefühle (Leidenschaft) auch als Handlung. Man bezeichnete seit dem 18. Jahrhundert diese inneren Vorgänge, nicht zielgerichtete und unbe- wusste menschliche Taten, als "innere Handlung".32 Die sozialkritischen Dramatiker wie die Naturalisten gestalteten auch ziel- und willenlose Handlungen auf der Bühne; so hob auch der junge Hauptmann den inneren psychischen Verlauf vor der äußeren Handlung hervor. Mit den oben zitierten Äußerungen distanzierte er sich vom „Handlungsdrama“ und der dramatischen Richtung des auf Aristoteles zurück- gehenden Dogmas, dass die Handlung über den Charakteren steht.33

Die Negierung der poetischen Gerechtigkeit

Eine weiterführende Kritik an der klassizistischen Dramaturgie durch Hauptmann bildete seine Negierung der „poetischen Gerechtigkeit“ (CA II 778), einer „sittlichen Weltordnung“ (CA II 778) im Drama. In der damaligen dramaturgischen Debatte herrschte immer noch der alte Gewohnheitsanspruch der Klassik: Am Ende des Dramas sollten ein moralisches Urteil oder poetische Gerechtigkeit stehen. Auch Hassenreuter vertritt diese Position, wenn er Spitta attackiert: „Sie negieren die poetische Gerechtigkeit, Schuld und Sühne, die Sie als pöbelhafte Erfindung bezeichnen, eine Tatsache, wodurch die sittliche Weltordnung durch Euer Hoch- wohlgeboren gelehrten und verkehrten Verstand aufgehoben ist.“(CA II 778) Diese Kategorien der poetischen Gerechtigkeit, von "Schuld und Sühne", wurden von den Naturalisten in Frage gestellt. Die naturalistische Dichtung verlangte Wirklichkeits- treue, die Figuren waren nicht länger starke Helden. Für sie waren die Charaktere im

30 Vgl. Asmuth, 1990, S. 6. 31 Vgl. Lessing, Gotthold Ephraim: Werke. Bd. 5. Hg. von Herbert G. Göpfert. München 1973, S. 372. 32 Vgl. Asmuth, 1990, S. 6. 33 Gerhart Hauptmann: „Die Ratten“. Hg. von Werner Bellmann, 1990, S. 29.

69 Drama determinierte Wesen im „Kampf ums Dasein“, die in ihrer Handlungfreiheit beschränkt waren.34 Eine solche Ablehnung der poetischen Gerechtigkeit findet man in Hauptmanns frühen Werken deutlich: Im Drama „Einsame Menschen“ (1891) kämpft die Hauptfigur Johannes Vockerat hart um ihr Ideal und gerät dennoch von Anfang an in eine unterlegene Position. Die Unschuldigen im Drama „Die Weber“ (1893) werden entweder ins Verderben gerissen oder getötet.35 Die fleißige Mutter Wolff in „Der Biberpelz“ (1893) verbessert auf illegalem Wege den Lebensstandard ihrer Familie. Bis zum Ende bleibt sie unentdeckt. Der Zeitgenosse Paul Schlenther kritisierte den Mangel an moralischer Beurteilung am Ende: „Hinter der boshaften Ironie, mit der der Dummkopf im Amte belassen wird, verlangt man noch vom Dichter ein moralisches Endurteil über Mama Wolff. Sie war von je ein Bösewicht, drum treff’ sie, wenn schon nicht Wehrhahns, so doch Gottes Straf- gericht.“ 36 Offensichtlich gilt diese poetische Gerechtigkeit im Drama für Hauptmann nicht mehr. Für ihn ist die Auseinandersetzung der Figuren mit ihren sozialen Umständen und ihren inneren Konflikten wichtiger als die moralische Weltordnung. Die Gerechtigkeit lässt sich in einer Welt, in der man hart ums Dasein kämpfen muss, nicht verordnen.

Die Anpassung der Kunst an Leben und Natur

Einer der Streitpunkte zwischen Hassenreuter und Spitta ist die Darstellungsform in der Tragödie. Hassenreuter vertritt klassizistische Ideale und glaubt fest daran, dass die Schauspieler den strengen Vorschriften der "Schiller-Goethisch-Weimarischen Schule" folgen sollten: rhythmische Deklamation, rhetorische Rezitation und edle Haltung durch Fußschemata am Theaterboden, um die Würde der tragischen heroischen Helden zeigen und so die „Höhe der Menschheit“ (CA II 778) erreichen zu können. Das ästhetische Bekenntnis Spittas ist die naturalistische Theaterauffassung. Er fordert, dass sich die Kunst am Leben ausrichten soll, also eine lebensnahe Darstellung der tragischen Figuren. 37 Dieselbe poetologische Position nimmt Hauptmann ein, wenn er schreibt: „In Fällen, wo wir das Leben der

34 Ebd., S. 30. 35 Vgl. Cowen, Roy C.: Der Naturalismus. München 2 1977, S. 27. 36 Schlenther, Paul: Gerhart Hauptmann. Sein Lebensgang und seine Dichtung. Berlin 3 1898, S. 168f.. 37 Vgl. Sprengel, Peter: Gerhart Hauptmann: Epoche – Werk – Wirkung. München 1984, S. 149f..

70 dramatischen Kunstform nicht anpassen können: - sollen wir nicht diese Kunstform dem Leben anpassen?“ (CA VI 1044) Es war kein Zufall, dass Hauptmann seinen Hassenreuter Schillers Tragödie „Die Braut von Messina“ (3. Akt) proben ließ. Denn dieses Drama galt als eines der strengsten idealistisch stilisierten Dramen Schillers und als Musterbeispiel einer klassizistischen Theaterpraxis.38 In der Vorrede schrieb Schiller, die Anwendung des Chors in der Tragödie sei „der entscheidende Schritt – und wenn derselbe auch nur dazu diente, dem Naturalism in der Kunst offen und ehrlich den Krieg zu erklären“39. Die Einführung des Chors sollte nach Schiller „eine lebendige Mauer sein, die die Tragödie um sich herumzieht, um sich von der wirklichen Welt rein abzuschließen, und sich ihren idealen Boden, ihre poetische Freiheit zu bewahren.“ 40 Es ist offensichtlich, dass sich eine solche Kunst vom realen Leben entfernt. Hassenreuter tritt für diese literarische Richtung ein, wenn er seinen Schülern die Haltung, pathetisch rhetorische Deklamation und Fußschemata auf dem Dachboden energisch beibringen will. (Vgl. CA II 724f.) Für Hassenreuter sind die "Goethischen Schauspielregeln" ein wichtiges Lehrbuch des Theaters: „Ich bin ein ergrauter Praktiker, und ich sage Ihnen, dass der Goethesche Schauspielerkatechismus A und O meiner künstlerischen Überzeugung ist.“ (CA II 779) Gegen diese idealistische Schauspieltechnik der Tragödie ist Spittas ästhetische Anschauung gerichtet: „alles Gestelzte, alles Rhetorische liegt mir nicht. [...] Ich liebe überhaupt den ganzen sonoren Bombast der ‘Braut von Messina’ nicht.“ (CA II 777) Hier muss eine Anmerkung zur "Unterrichtsszene" und zur Debatte zwischen Hassenreuter und Spitta gemacht werden. Dieter Borchmeyer weist darauf hin, dass Hauptmann die Zitate der "Goetheschen Schauspielregeln" von Carl Wilhelm Reinhold in einem Aufsatz von Richard Moses Meyer über "Goethes Regeln für Schauspieler"41 erhielt. Diese Lektüre, die Spitta als die Goetheschen Schauspiel- regeln zitiert (CA II 779), stammte eigentlich nicht aus Formulierungen Goethes, sondern aus einer Parodie des Schauspielers Carl Wilhelm Reinhold, der ein Jahr an der Weimarer Bühne engagiert und 1807 entlassen worden war. Aus Rache übte er satirisch Kritik an Goethe und seinem Weimarer Bühnenstil in der von ihm ver-

38 Vgl. Meyer, Richard Moses: Goethes “Regeln für Schauspieler”. In: Goethe Jahrbuch 31 (1910), S. 123. 39 Friedrich Schiller. Sämtliche Werke. Bd. 2. München 1968, S. 249. 40 Ebd., S. 249. 41 Meyer, 1910, S. 117-135.

71 öffentlichen Schrift "Saat von Göthe gesäet dem Tage der Garben zu reifen. Ein Handbuch für Ästhetiker und junge Schauspieler". Es ist offensichtlich, dass Hauptmann den Originaltext der von Eckermann zusammengestellten "Goetheschen Schauspielregeln" nicht gelesen hat.42

Wie die Naturalisten fordert Spitta dazu auf, den natürlichen Sprachton, also die Sprache des Lebens, im Drama vorzuführen. Offensichtlich waren die Einflüsse der "Schiller-Goethisch-Weimarischen Schule" auf die Hof- und Stadttheater des späten 19. Jahrhunderts noch zu spüren. 43 Mit dem Versuch, die „Sprache des Le- bens“ gegen das konventionelle Bühnenpathos einzusetzen, wollten die Naturalisten ihr Ideal des Theaters durchsetzen. Spittas Verlangen: „Wenn es im Leben solche Käuze gibt wie mich, warum solle es nicht auch auf der Bühne solche Käuze geben?“ (CA II 752) drückt das naturalistische Bekenntnis zur dramatischen Kunst aus: die Kunst dem Leben gleichzusetzen. Die Berufung Spittas auf die realistische und "natürliche" Theaterauffassung Lessings, des jungen Schiller und des jungen Goethe reflektiert Aufgabe und Hoffnung des Naturalismus: „Und wenn sich das deutsche Theater erholen wird, so muss es auf den jungen Schiller, den jungen Goethe des „Götz“ und immer wieder auf Gotthold Ephraim Lessing zurückgreifen: dort stehen Sätze, die der Fülle der Kunst und dem Reichtum des Lebens angepasst, die der Natur gewachsen sind.“ (CA II 778f.) Auch Hauptmann setzte sich für eine „natürliche“ Poetik ein, mit der er sich Lessings Theateranschauung anschloss, dessen Einfluss auf das neue deutsche Drama er so überaus schätzte: „Das Drama Lessings war nur bürgerlich und darum nicht eigentlich volkstümlich, aber es stand der Volkstümlichkeit nahe durch sein Bekenntnis zur schlichten Natur. Überhaupt fallen die unüberschätzbaren Verdienste Lessings um das neue deutsche Drama unter das Gleichnis des Baumes von Gallowayshire.“ (CA VI 789). Indem Hauptmann die Figur Spittas auf die Bühne stellte, wollte er den Idealismus der zeitgenössischen Theaterpraxis überwinden.

Die Hassenreuter-Spitta Episode und Hauptmanns frühere dramaturgische Be- kenntnisse (besonders zum Naturalismus) 44 bieten uns einen Überblick über die

42 Vgl. Borchmeyer, Dieter: Weimarer Klassik. Portrait einer Epoche. Weinheim 1994, S. 379-381. 43 Vgl. Sprengel, 1988, S. 259. 44 Der Angriff auf Drama und Dramaturgie der Klassik deutet auf eine Position des Naturalismus,

72 dramatische Tragödienkonzeption Hauptmanns zu jener Zeit. Sie dienen als Bezugs- rahmen, innerhalb dessen nun die These, dass Frau John als Demonstrationsobjekt der Tragödientheorie Hauptmanns fungiert, untersucht wird.

1.2.1.2. Die Kleinbürgerin John als eine der Tragödie würdige Figur

Nach der heftigen Kunstdiskussion zwischen Hassenreuter und Spitta taucht Frau John auf der Bühne auf. Hassenreuter verspottet Spitta: „Da kommt Ihre tragische Muse [.]“ (CA II 780) Er besteht darauf, dass seine einfache Reinmachefrau, die die Ehefrau eines Mauerpoliers mit kleinbürgerlicher Tendenz ist, nicht tragödienwürdig sei: „Alles Gute und Schöne, beste Frau John! Danken Sie Gott, wenn Ihr stilles, eingezogenes, friedliches Leben Sie zur tragischen Heldin ungeeignet macht.“ (CA II 780) Hauptmann arrangierte aber eine Antithese zu Hassenreuters Position in einer parallelen Handlung, der Handlung der Familie John. Als Zuschauer erfahren wir, dass das Leben der „einfachen“ Kleinbürgerin Frau John eigentlich gar nicht so unkompliziert ist, wie es oberflächlich betrachtet erscheint. Ihre inneren Konflikte, wie die ständige Sorge um ihren Bruder, die Angst vor Einsamkeit und der Wunsch, Mutter zu werden, werden in der Entwicklung der Handlung dargestellt. Hauptmann nahm eine einfache Person aus dem realen Leben und gestaltete die Auseinander- setzung dieser Figur mit ihren Problemen. Die Tragik dieser Frau liegt im Grunde in ihren inneren, fast krankhaften Kämpfen mit ihrem Schicksal und deren Ausweg- losigkeit. Die äußere Handlung spielt im Stück kaum eine Rolle. Für Hauptmann hieß Tragödie: „Feindschaft, Verfolgung, Hass und Liebe als Lebenswut! Tragödie heißt: Angst, Not, Gefahr, Pein, Qual, Marter, heißt Tücke, Verbrechen, Niedertracht, heißt Mord, Blutgier, Blutschande, Schlächterei – wobei die Blutschande nur gewaltsam in das Bereich des Grausens gesteigert ist.“ (CA VII 80) [„das Bereich“ im Original; Anm. S. Sh.] Entsprechend drückt Frau John vor ihrem Mann ihre Hilflosigkeit und Angst aus: „Paul, ick konnte nich anders, ick musste det tun. Ick war selber betrochen, denn hatt’ ick dir in Brief nach Hamburg Bescheid jesacht. Denn warste vajnügt, und denn mocht’ ick nich mehr zurick, und denn dacht’ ick, et muss sind! Et kann ooch uff andere Weise sind, und denn...“ (CA II 828) Ohne

wie sie auch der junge Hauptmann selbst vertreten hat. (Vgl. Gerhart Hauptmann: „Die Ratten“. Hg. von Werner Bellmann, 1990, S. 29.)

73 Pathos, in der „Sprache des Lebens“ – im alltäglichen Berliner Dialekt äußert sie sich über ihre zwiespältige Lage. Hier stellt Hauptmann keine Handlung einer großen tragischen Heldin dar, wie es Gustav Freytag verlangt hat:

„Die Handlung des ernsten Dramas muss Wichtigkeit und Größe haben. Die Kämpfe der einzelnen Menschen sollen ihr innerstes Leben ergreifen, der Gegenstand des Kampfes soll nach allgemeiner Auffassung ein hoher sein, die Behandlung eine würdige. [...] Aber auch die Umgebung, der Lebenskreis des Helden beeinflusst die Würde und Größe der Handlung. Wir fordern mit Recht, dass der Held, dessen Schicksal uns fesseln soll, einen starken, über das gewöhnliche Maß menschlicher Kraft hinausreichenden Inhalt habe. Dieser Inhalt seines Wesens liegt aber nicht nur in der Energie seines Wollens und der Wucht seiner Leidenschaft, sondern nicht weniger in einem reichlichen Anteil an der Bildung, Sitte, der geistigen Tüchtigkeit seiner Zeit.“45

Im Gegensatz zu dieser Anforderung stellt Hauptmann eine Frau dar, die aus einer kleinbäuerlichen Familie einer dörflichen Vorortgemeinde Niederschlesiens kommt und in einem gemischten, tendenziell proletarischen Viertel Berlins wohnt. Aber es gibt in dieser Familie keine Spur eines Verelendungsprozesses der proletarischen Massen. Wie Frau Wolff im Drama „Der Biberpelz“ strebt Frau John ihre Ver- bürgerlichung an. Ihr Mann, ein Maurerpolier, verdient gut und hat vor, aus diesem Viertel in ein besseres bürgerliches Wohngebiet umzuziehen; er denkt auch über eine Auswanderung nach Amerika nach. Ökonomisch ist die Familie noch nicht so weit wie das Bürgertum; jedoch legt sie viel Wert auf bürgerliche Wertvorstellungen: Sicherheit, Ehre, Sauberkeit und Anständigkeit. Es ist eine Familie auf dem Weg ins Bürgertum. So stellt Hauptmann eine bescheidene kleinbürgerliche Familie dar. Von Würde und Größe der Handlung ist hier nicht die Rede. Auch ein starker Held wird nicht vorgeführt. Es geht Hauptmann um den Kinderwunsch einer Kleinbür- gerin, die verzweifelt um ein einfaches glückliches kleinbürgerliches Familienleben kämpft. Auf das psychopathologische Verhalten von Frau John werde ich später noch genauer eingehen. In einer früheren Fassung zeigt Frau Direktor Hassenreuter ihr Mitleid mit der wahnsinnigen Frau John: „Das hab’ ich gewusst. Das konnte man sehen, dass diese Frau keinen anderen Ausweg hatte als einen Sprung in das Nichts

45 Freytag, 1912, S. 56f..

74 zu tun.“46 Poetische Gerechtigkeit findet man auch in diesem Stück nicht. Die am Ende durch den Kindertausch in Kriminalität geratene Frau John stellt die von ihrem Mann stets geforderte Gerechtigkeit in Frage: „Mach du Rotznäsen wat wees von Jerechtigkeet. Jerechtigkeet is noch nich ma oben in Himmel. Keen Mensch nich war hier!“ (CA II 822) Auch Hassenreuter, der anfangs als Verteidiger der klassischen poetischen Gerechtigkeit dargestellt wird, erklärt schließlich: „Aber Kohlhaas von Kohlhaasenbrück konnte da mit seinem Gerechtigkeitswahnsinn auch nicht durchkommen.“ (CA II 831) Mit dem Tod der bis zum Wahnsinn getriebenen Frau John wollte Hauptmann seine Anschauung zur Tragik zum Ausdruck bringen: Auch wenn es in der Handlung um kein hohes, wichtiges Leben geht, also um das Leben einer Fürstin oder einer Königin, auch wenn die Heldin nicht über einen reichen Wortschatz verfügt, um ihr innerstes Leid auszudrücken, so erwecken Frau Johns innerer Kampf mit ihrem Schicksal und der Druck ihrer sozialen Situation trotzdem das Mitleid der Zuschauer. Ganz am Ende bekräftigt Spitta noch einmal seine Anschauung über die Tragödie: „Finden Sie nicht, dass hier ein wahrhaft tragisches Verhängnis wirksam gewesen ist?“ (CA II 831) Hassenreuter muss gestehen, „daß in diesen verkrochenen Kämpfen und Schicksalen manches heroisch und manches verborgen Verdienstliche ist. [...] Die Tragik ist nicht an Stände gebunden. Ich habe Ihnen das stets gesagt.“ (CA II 831) Von diesem Standpunkt aus führte Hauptmann den Zuschauern das tragische Leben Frau Johns vor, das nicht mehr einfach in der äußeren Handlung liegt, sondern in der inneren Tiefe des Psychischen.

1.2.2. Das Psychopathologische als tragisches Moment - Frau John

Die Entstehung des Dramas „Die Ratten“ wurde angeregt von einem Gerichtsbericht im „Berliner Lokal-Anzeiger“ vom 13. Feb. 1907. Es ging um den doppelten Kinderraub einer Frau M., die selbst kein Kind hatte und ein Verbrechen beging, um in den Besitz eines Kindes zu kommen.47 Aus einem sachlichen Gerichtsbericht

46 Zensurexemplar: Landesarchiv Berlin. PR. Br. Rep. 30 C, Nr. 4961b. Regiebuch: Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin. Libri impr. C. Not mass. 4 0 260. (Titelblatt: Die Ratten. Berliner Tragikomödie von Gerhart Hauptmann. Berlin 2 1911. Zitiert nach: Gerhart Hauptmann: „Die Ratten“. Hg. von Werner Bellmann, 1990, S. 58.) 47 Die Frau des Garderobiers M. holte das Kind eines Dienstmädchens B. und gab es als ihr eigenes

75 konzipierte Hauptmann phantasievoll eine Tragödie, in der die Kleinbürgerin John durch übersteigerten Kinderwunsch verwirrt wird und schließlich hilflos Selbstmord begeht. In der Forschung gibt es genügend Analysen der Tragik der Hauptfigur Frau John. Doch Hauptmanns Verknüpfung des Tragischen mit dem psychopatholo- gischen Verhalten von Frau John wurde bis jetzt vernachlässigt. Nach Joachim Müllers Ansicht kann man sie nicht als psychopathologischen Charakter betrachten. Er schreibt:

„Nachdem sich der mütterliche Trieb verkrampft hat, ist sie ihm verfallen und sieht sich plötzlich in grauenhafte Delikte verwickelt: Kindsraub und Mord. Doch kann man sie auch nicht als hysterisch diagnostizieren. Das zweifelhafte, von Ratten und Elend angenagte, brüchige Milieu bietet soviel Zufallsgele- genheiten, einen an sich verständlichen Wunsch auf überstürzte Weise zu be- friedigen.“48

Im Gegensatz zu dieser These will die vorliegende Arbeit zeigen, dass Hauptmann das Psychopathologische als Mittel nutzt, um seine Form der Tragödie durchzusetzen. Bevor näher hier eingegangen wird, erscheint es sinnvoll, eine kurze Einführung vorauszuschicken, die über Hauptmanns Bekenntnis zur menschlichen Psyche im Drama und über seine Beziehung zu Psychoanalyse und Pathologie informiert.

1.2.2.1. Hauptmanns Beschäftigung mit Psychoanalyse und Psychopathologie

Schon 1888 hatte Gerhart Hauptmann einen ersten Kontakt mit der Psychiatrie, als er seinen Bruder Carl Hauptmann in Zürich besuchte. In der Autobiographie „Das

aus. Sie wusste nicht, dass das Kind von B. schon in dem Lehrer Murda einen Vormund erhalten hatte. Nachdem Frau M. dies erfahren hatte, raubte sie ein Kind von einer Frau Engel, mit der sie sich anfreundete. Dann gab Frau M. das Kind in der Wohnung des Lehrers ab. Als Frau Engel Frau M. anklagte, diese hätte ihr Kind geraubt, zeigte ihr die Angeklagte das Kind des Dienstmädchens und erklärte, sie habe ihr eigenes Kind. An dem selben Tag wurde der Fall des Kinderaustauschs noch von der Berliner Kriminalpolizei aufgeklärt. Vor Gericht gestand die An- geklagte weinerlich, sie habe nichts Schlimmes gewollt. Zum Schluss lautete das Urteil auf eine Woche Gefängnis. (Vgl. Berliner Lokal-Anzeiger. Nr. 79. Morgenausgabe. 13. Feb. 1907. Vgl. Gerhart Hauptmann: „Die Ratten“. Hg. von Werner Bellmann, 1990, S. 63f..) 48 Müller, Joachim: Zur dichterischen Pathographie im Drama des 19. Jahrhunderts. In: Ders.: Ver- wirrung des Gefühls. Berlin 1974, S. 37.

76 Abenteuer meiner Jugend“ erinnert er sich, wie fleißig er, mit dem Notizbuch in der Hand, während seiner Studien im Züricher Irrenhaus Burghölzli „den psychischen Sonderbarkeiten der Menschen“ (CA VII 1059) nachging: „Im Burghölzli sah ich und unterschied nach und nach alle hauptsächlichsten Formen des Irreseins. Grausige Bilder waren darunter. An alle knüpfte ich wieder, nach meiner schlechten oder guten Gewohnheit, eigene Gedanken an.“ (CA VII 1063.) Durch August Forel, den Direktor der Irrenanstalt, hatte Hauptmann Gelegenheit, das Gebiet der Hypnose kennen zu lernen. Der Einfluss von Forel auf Hauptmann ist kaum zu überschätzen. Dieser habe ihm, so Hauptmann, „ein unverlierbares Kapital von Wissen um die menschliche Psyche vermittelt.“ (CA II 1057) Außer diesen pathologischen Studien las Hauptmann auch die Werke Freuds; eine Notiz in seinem Exemplar der 'Traumdeutung' (1911, dritte Auflage) lautet: „Eine alte Traumtante, die darum nicht zu verachten ist.“49. Das Verhältnis Hauptmanns zu Freuds Psychoanalyse war ambivalent, d.h. er stimmte Freud zum Teil zu, wehrte ihn aber auch stark ab.50 Eines ist unbestreitbar: Hauptmann kannte die Freudschen Werke und die Psycho- analyse. Seine Studien zu Psychiatrie und Psychoanalyse bereicherten Hauptmanns dramaturgische Anschauung. In seinen Tagebuchauszügen und in der Dramaturgie betonte er immer wieder, wie wichtig die Psyche des Menschen für das Drama sei: „Sucht euch die Elemente der Dramaturgie in der menschlichen Psyche zusammen! Dort stecken sie.“ (CA VI 1036) Das Urdrama suchte er „in der menschlichen Psyche“. (CA VI 932) Statt Handlung sollte der Dramatiker die Seele der Figuren darstellen: „So ist es bei Shakespeare. Die Handlung im „Hamlet“: wen interessiert sie? Das Seelendrama allein ist es, was tief ergreift.“51 Die Aufgabe des Drama- tikers ist nach Hauptmann, „einen psychischen Akt“ zu inszenieren, ansonsten sei der Dramatiker nur „Kostümschneider“. (CA VI 1038) Hauptmann interessierte sich auch für das affektive Verfahren im Drama: „Das Bereich dessen, was man gesund und normal nennt, wird im Affekt verlassen. Ein Drama ohne Affekt ist undenkbar, daher es immer einigermaßen ins Pathologische übergreifen muß.“ (CA VI 1042) In einer Tagebuchnotiz setzte sich Hauptmann mit dem Neu-Idealisten Paul Ernst

49 Hauptmanns vier Freud-Bücher stehen jetzt in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin. (Vgl. Guthke, Karl S.: Hauptmann und Freud. In: Neue deutsche Hefte 26/161 (1979), S. 38.) 50 Karl S. Guthke hat sich in seinem Aufsatz ausführlich mit diesem Thema beschäftigt. Ebd., S. 21- 44. 51 Hauptmann, Gerhart: Hauptmanns Tagebücher 1897-1905, 1987, S. 119.

77 auseinander; er hielt es für eine neue Chance der Dramaturgie, wenn sich das Drama auf das Pathologische bezieht:

„Der Dichter der zum Patologischen seine Zuflucht nimmt habe schlecht componiert, sagt Paul Ernst in seinem „Sophokles“. Darf der Dichter Menschen nicht universell betrachten? Muss er die Ärztliche Unterscheidung von ‚krank’ und ‚gesund’ machen und dann das ‚Krank’ ausschalten. Wieviel ärztliches Fachwissen würde aber allein dieser Process voraussetzen und – was bliebe üb- rig? – Ein menschlicher Rest – Würde dieser, in seiner notwendigen Existenz- unfähigkeit noch ein Object der Kunst sein können? – warum nicht ebensogut der ‚Vollkommene’ Mensch? – ein ebensolches Unding und ein von den Salbaderern ebenso gesuchter Artikel! [...]“ 52 [Rechtschreibung nach dem Original; Anm. S. Sh.]

Hauptmann brachte diese Auffassung auch in seinen Dramen zur Wirkung. Ein zeitgenössischer Kritiker ordnete die Darstellung der Halluzination im Drama „Hanneles Himmelfahrt“ (1893) „ohne jeden Zwang der wissenschaftlichen Psychologie und Psychiatrie“ zu.53 Einen typischen Fall von Neurasthenie in der Hauptfigur von „Einsame Menschen“ (1891) sah auch Dr. med. Arthur Schnitzler.54 Für Erich Wulffen sind Hauptmanns frühe Dramen „psychologische Studien auf naturwissenschaftlicher Grundlage“.55 Er findet auch, dass das Tragische in den psychologisch inspirierten Dramen „einen etwas anderen Inhalt“56 hat. Das Interesse der folgenden Untersuchung liegt ebenfalls darin, herauszufinden,, inwieweit Haupt- mann die tragische Verblendung der Kleinbürgerin John auf psychopathologischer Ebene darstellt.

52 Hauptmann, Gerhart: Tagebücher 1906 bis 1913, 1994, S. 11. 53 Wulffen, Erich: Gerhart Hauptmann vor dem Forum der Kriminalpsychologie und Psychiatrie. Ort unbekannt 1908, S. 127. Zitiert nach Guthke, 1979, S. 29. 54 Vgl. Guthke, ebd., S. 29. 55 Wulffen, 1908, S. 10. Zitiert nach Guthke, 1979, S. 28f.. 56 Wulffen, Erich, 1908, S. 141. Zitiert nach Guthke, 1979, S. 29.

78 1.2.2.2. Das "hysterische"57 Verhalten der Kleinbürgerin John

Als Mauerpolier arbeitet Paul John außerhalb Berlins und hat einen guten Verdienst. Frau John arbeitet als Putzfrau bei einem Bildungsbürger, dem Theaterdirektor Hassenreuter. Im Grunde herrscht in dieser kleinbürgerlich-proletarischen Familie noch eine patriarchalische Form der Ehe: Der Mann findet berufliche Anerkennung durch die Kollegen (CA II 810) und kann sich erlauben, auch im familiären Rahmen nach einer Doppelmoral zu leben. Er verrät seine Einstellung im Bezug auf sein Sexualleben durch folgende Äußerung: „und denn ooch: jinger wird eener nich! De Mächens wolln ooch all nich mehr recht mehr so anbeißen... Nee nee, et is jut so, det ma et ewije Wanderleben zu Ende is.“ (CA II 797). Seine Frau wird dagegen als sozial isoliert dargestellt. Hauptmann konstruiert in dieser Figur eine "femme malade": Die ständige Sorge um ihren Bruder, ihre Angst vor dem Verlassenwerden und quälende Einsamkeit drängen Frau John Schritt für Schritt in einen labilen psychischen Zustand. Ihrem Mann gegenüber drückt sie ihre Hilflosigkeit aus:

„Na, wenn de mir hier in meine Berliner Wohnung sitzen lässt und liechst det janze jeschlagene Jahr in Altona, kommst heechstens ma monatlich mir besuchen: wat wiste denn wissen, wat in diene Behausung vorjehn dut. (CA II 755) [...] Wat lässte mir jahrelang alleene, Paul? Wo ick in mein Käfije sitzen muss und keeen Mensch nich is, mir ma auszusprechen.“ (CA II 810)

So vergräbt sich Frau John in ihre Arbeit, in "Müllstoob und Mottenpulver", (CA II 743) und sieht wie „ein Geist“ (CA II 742) aus. Es gelingt ihr weniger, die Einsamkeit durch die Arbeit zu verdrängen, seitdem ihr Sohn, der nach zehn Jahren Ehe geboren wurde, acht Tage nach der Geburt stirbt. Ihr Kinderwunsch, der anfangs ihre unterlegene Position in der Gesellschaft kompensieren und zu einer Bezugsperson führen sollte, 58 entwickelt sich allmählich zum Zwang. Mit dem Wunsch, unbedingt Mutter zu sein, arbeitet Hauptmann an der Tragik der Kleinbürgerin. Er baut, so meine These, diesen zwanghaften Kinderwunsch stärker aus, indem er den psychischen Zustand von Frau John tendenziell pathologisiert. Ich

57 Durch die obige Darstellung des Verhältnisses Hauptmanns zur Psychoanalyse wird deutlich, dass seine Vorstellung von Hysterie von Freuds Theorie beeinflusst war. Im folgenden beziehe ich mich deshalb nur auf Freuds Darlegungen. 58 Vgl. Berninghausen, Jutta: Der Traum vom Kind - Geburt eines Klischees. Mutterschaft: Ideologie, Wunsch und Wirklichkeit. Frankfurt/ Main 1980, S. 68.

79 konzentriere mich im folgenden darauf, wie Hauptmann das "hysterische" Verhalten von Frau John im Drama darstellt. Es ist nicht meine Absicht, zu prüfen, ob Hauptmann die hysterischen Anfälle wissenschaftlich korrekt schildert, sondern mich interessiert, wie er die Tendenz des hysterischen Verhaltens dieser Figur beschreibt, um ein tragisches Schicksal darzustellen.

Nach dem traumatischen Verlust ihres geliebten Sohnes wird Frau John psychisch instabil; Hausmeister Quaquaro schildert ihren Zustand: „Schon wo se det erste Kindeken hatte, nu jar nachdem, wie et jestorben is, wa eene Schraube los bei die John. Seit se nu jar det zweete hat, wackeln zweee. [...]“ (CA II 781) Die Be- sessenheit von ihrem Kinderwunsch treibt Frau John fast in die Krankheit. Müdig- keit und Erschöpfung zeigen sich in ihrem Gesicht; ihr nervöser Blick verrät eine Spur von Wahnsinn und Zerbrechlichkeit. Alles das spiegelt die Lebensangst und Melancholie dieser Figur wider. So begegnet Walburga Frau John, die wie ein Gespenst in den „muffigen Kammern“ aussieht, im Dachgeschoss. (CA II 742) Hauptmanns Beschreibung dieser Figur deutet auf das Frauenbild „femme malade“ hin: „Sie ist sehr bleich, hat etwas Weiches und Leidendes an sich, zugleich aber einen Ausdruck tiefer Zufriedenheit, der nur zuweilen von einem flüchtigen Blick der Unruhe und der lauernden Angst unterbrochen wird.“ (CA II 755) Nach Freud unterblieb in einem von ihm untersuchten Fall die Reaktion auf einen unersetzlichen Verlust einer geliebten Person, weil die sozialen Zustände eine Reaktion nicht zuließen, oder weil es um Dinge ging, die die Kranke vergessen wollte und so aus ihrem bewussten Denken verdrängte. Aber die Traumatisierung dauerte noch viele Jahre an.59 Die "Hysterische" leidet Freud zufolge meistens an Reminiszenzen, also an Erinnerungen, die nicht bewusst sind oder nicht „abreagiert“60 werden. Infolgedessen neigt sie zur Spaltung des Bewusstseins und bildet eine Kontrastvorstellung als Gegenmittel in „hypnoiden Zuständen“61, die im oder im Dämmerzustand entstehen. Eine weitere Folge kann das Auftreten eines Affektes sein (z.B. Schreck).62 Im Drama begleitet das psychische Trauma Frau John in das reale Leben und bricht nicht aus, solange das Trauma nicht

59 Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. In : Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 1. Frankfurt/ Main 3 1969, S. 88f.. 60 Ebd., S. 89. 61 Ebd., S. 91. 62 Vgl. Laplance, J.: Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt/ Main 1972, S. 178.

80 wiederbelebt wird. Nach Freud gehen der hysterische Zustand und das normale Le- ben nebeneinander her, ohne einander zu beeinflussen. Aber dieses hysterische Phänomen kann wieder aktiviert werden, wenn das traumatische Erlebnis erneut hervorgerufen wird:

„Der Anfall kommt dann spontan, wie auch bei uns die Erinnerungen zu kommen pflegen, er kann aber auch provoziert werden, wie jede Erinnerung nach den Gesetzen der Assoziation zu erwecken ist. Die Provokation des Anfalles erfolgt entweder durch die Reizung einer hysterogenen Zone oder durch ein neues Erlebnis, welches durch Ähnlichkeit an das pathogene Erlebnis anklingt. [...] In anderen Fällen ist dieses Gleichgewicht ein sehr labiles, der Anfall erscheint als Äußerung des hypnoiden Bewusstseinsrestes, so oft die normale Person erschöpft und leistungsunfähig wird.“63

Als Frau John für Spitta einen Schlips in der Schublade sucht, findet sie zufällig ein Bündelchen Kinderhaar ihres verstorbenen Sohnes Adelbert. Ihr Verhalten verändert sich: „Da hab’ ick ja’n Büschelschen Haar jefunden, wo mein Jungeken, wo mein Adelbertchen schon in Sarch mit Vaters Papierschere abjeschnitten is. Tiefe, kummervolle Traurigkeit zieht plötzlich über ihr Gesicht, das sich aber ebenso plötzlich wieder aufhellt. Un nu liecht et doch wieder in Kinderwachen!“ (CA II 765) Das unterdrückte traumatische Erlebnis taucht wieder auf. Sie hält das „geraubte“ Kind im Kinderwagen für ihren verstorbenen Sohn. Einem abwehrenden psychischen Mechanismus folgend verdrängt sie die Wahrheit: den Tod ihres Sohnes. Das hysterische Phänomen zeigt sich bei Frau John erst, als Piperkarcka droht, ihr Kind wiederhaben zu wollen. Zuerst reagiert Frau John ängstlich und abwehrend. Man kann die Änderung ihrer Affekte in der Regieanweisung beobachten, die ihre körperlichen Bewegungen immer mehr in den Mittelpunkt stellt:

„Frau John, deren fast kriechende Freundlichkeiten von angstvoll bebenden Lippen gekommen sind, erbleicht auf eine unheilverkündende Weise und schweigt. Sie geht nach dem Küchenschrank, reißt die Kaffeemühle heraus und schüttet heftig Kaffeebohnen hinein. Sie setzt sich, quetscht die Kaffeemühle energisch zwischen die Knie, fasst die Kurbel und starrt mit einem verzehren- den Ausdruck namenlosen Hasses zur Piperkarcka hinüber. [...] Sie springt auf,

63 Freud, 1969, S. 96.

81 läuft umher und nimmt bald diesen, bald jenen Gegenstand in die Hand, um ihn sogleich wieder wegzuwerfen.“ (CA II 769ff.)

Durch die Provokation und Bedrohung Piperkarckas, die sich wegen der Vormund- schaft ihres Kindes an den Staatsbeamten wendet, wird Frau John wieder mit ihrem Trauma konfrontiert: dem Verlust ihres Sohnes. Sie gerät allmählich in eine Situa- tion der Geistesabwesenheit und zieht sich ganz in ihr Inneres zurück:

„Frau John ist einen Augenblick auf den Flur hinausgetreten und kommt ohne die Piperkarcka wieder herein. Sie ist seltsam verändert und geistesabwesend. Sie tut einige hastige Schritte gegen die Verschlagstür, steht jedoch plötzlich wieder still mit einem Gesichtsausdruck vergeblichen Nachsinnens. Dieses Grübeln unterbricht sie, heftig gegen das Fenster zu eilend. Hier wendet sie sich, und wieder erscheint der hilflose Ausdruck schwerer Bewusstlosigkeit. Langsam, wie eine Nachtwandlerin, tritt sie an den Tisch und lässt sich daran nieder, das Kinn in die Hand stützend. [...] Frau John erhebt sich mechanisch und schneidet ein Stück von einem Laib Brot, wie unter dem Einfluss einer Suggestion. Selma, der die Verfassung der Frau auffällt. Ick bin’s – Wat is denn? Schneiden sich man bloß nich etwa mit Brotmesser. Frau John, mit trockenem Röcheln, das sie mehr und mehr überwältigt, indem sie Brot und Brotmesser willenlos auf den Tisch gleiten lässt. Angst! – Sorje“ – Da wißt ihr nischt von! Sie zittert und sucht einen Halt, um nicht umzusinken.“ (CA II 773)

Wie eine Hypnotisierte befindet sich Frau John im Dämmerzustand des Tagtraums. In solch einem „abnormen Zustand des Bewusstseins“64 erinnert sich der Kranke laut Freud an das psychische Trauma, aus dem sich hysterische Phänomene entwickeln:

„Je mehr wir uns nun mit diesen Phänomenen beschäftigten, desto sicherer wurde unsere Überzeugung, jene Spaltung des Bewußtseins, die bei den bekannten klassischen Fällen als double conscience so auffällig ist, bestehe in rudimentärer Weise bei jeder Hysterie, die Neigung zu dieser Dissoziation und damit zum Auftreten abnormer Bewußtseinszustände, die wir als „hyp- noide“ zusammenfassen wollen, sei das Grundphänomen dieser Neurose.“65

64 Ebd., S. 90. 65 Ebd., S. 91.

82 Auch bei Frau John findet eine Abspaltung vom Bewusstsein statt. Ihre übrigen Bewusstseinsinhalte werden in der hypnoiden Suggestion abgeschlossen, in der sie sich intensiv mit ihren Affekten Angst und Sorge beschäftigt. Laut Freud sind wir im Traum ähnlich entfremdet, wie es der Hysteriker im hypnoiden Zustand ist. Aber unsere „Traumpsychosen“ 66 beeinflussen den Wachzustand nicht, während die Vorstellungen der hypnoiden Zustände als hysterische Phänomene ins wache Leben eintreten.67 Mit diesem psychischen Mechanismus der Hysterie arbeitet Hauptmann Schritt für Schritt am tragischen Schicksal von Frau John, das nicht von Willen und Bewusstsein bestimmt ist. Mit Recht schreibt Wilhelm Emrich über das Tragische von Gerhart Hauptmanns Dramenfiguren: „Die Dialektik des Schicksals, der schuldlosen Schuld, kann überhaupt nicht vom wachen Verstand begriffen werden. Sie offenbart sich nur in der Bewusstlosigkeit, im Wahnsinn oder in einem schlafwandlerischen, traumartigen Zustand.“68 Die Darstellung des Psychopathologischen der Figur Frau John erreicht ihren Höhepunkt, als Hauptmann die auf den Mutterwunsch fixierte Kleinbürgerin in eine Halluzination geraten lässt. Im Halbschlaf erzählt sie von der Wiederbelebung eines toten Kindes:

„Un wissen Se wat: ick habe die Frau kurz vorher noch jesprochen, wo nachher von Blitze erschlachen is. Die hat jesacht – nu heern Si ma zu, Herr Spitta... een dotet Kindeken, det man in Kinderwachen legt und raus in die warme Sonne rickt – det muss aber Sommersonne und Mittagssonne sind, Herr Spitta! -, det zieht Atem! Det schreit! Det is wieder lebendig![...] Sie geht in eigen- tümlicher Weise im Kreise herum, ohne scheinbar mehr etwas von der Gegenwart der beiden jungen Leute zu wissen.“ (CA II 806)

Frau John befindet sich in einem Zustand, in dem sie nicht mehr zwischen Wach- und Schlafzustand unterscheiden kann. Wie eine Schlafwanderin bleibt sie in ihren Trauerphantasien und Tagträumen befangen, die sie fast wie reale Ereignisse erlebt. In ihrer „visionären Halluzination“69 phantasiert Frau John die Wiederbelebung eines toten Kindes. Nach Charcot erscheinen in den halluzinatorischen Erlebnissen die

66 Ebd., S. 92. 67 Vgl. ebd., S. 92. 68 Emrich, Wilhelm: Der Tragödientypus Gerhart Hauptmanns. In: Gerhart Hauptmann. Hg. von Hans Joachim Schrimpf. Darmstadt 1976, S. 152. 69 Schaps, Regina: Hysterie und Weiblichkeit. Frankfurt/ Main 1982, S. 59.

83 leidenschaftlichen Affekte Furcht, Zorn oder wollüstiges Vergnügen.70 So befindet sich Frau John in einer Phantasie, in der ihre Wünsche und Hoffnungen realisiert werden. Diese scheinbare Aussöhnung zwischen dem Reich der Tagträume und der traumatischen Erinnerung des realen Lebens ist der psychische Mechanismus der Hysterie: Sie richtet sich in einer Kontrastvorstellung, einem hypnoiden Zustand ein.

Ein weiteres hysterisches Phänomen findet man in dem Schlaf- und halbhypno- tischen Dämmerzustand von Frau John im fünften Akt:

„Frau John liegt schlafend auf dem Sofa. [...] Die John spricht im Schlaf. Spitta. Große Schweißtropfen stehen ihr auf der Stirn. Komm mal, sieh mal das alte rostige Hufeisen, das sie mit beiden Händen umklammert hat. (CA II 816) [...] Frau John hat sich mit einem Ruck emporgerichtet. [...] Frau John. Ham Se jesehn, Herr Spitta, wo Jungs in Hof...ham Se jesehn, wo Jungs in Hof Adelbertchen sein Jräbken jesteenicht ham? Aber ick war zwischen, wat? Und ha rechts und links jar nich schlecht Maulschellen ausjeteilt. Frau Direktor Hassenreuter. Demnach haben Sie also von Ihrem ersten, verstorbenen Kindchen geträumt, Frau John? Frau John. Nee nee, det war wahr, ick ha nich jetraumt, Frau Direkter. Un denn jing ick mit Adelbertchen, jing ick bein Standesbeamten hin. Frau Direktor Hassenreuter. Aber wenn Adelbertchen nicht mehr am Leben ist... wie könne Sie denn... Frau John. I, wenn een Kindchen meinswejen jeboren is, denn is et jedennoch noch in de Mutter, und wenn es meinswejen jestorben is, denn is et immer noch in de Mutter. [...] Frau Direktor Hassenreuter rüttelt Frau John. Wachen Sie auf, gute Frau! Frau John! Frau John! Sie sind krank! Ihr Mann soll mit Ihnen zum Arzte gehen.“ (CA II 818f.)

Es sei hier an die Erklärung von Freud erinnert71, dass der Unterschied zwischen normalen Menschen und dem Kranken, der an der Hysterie leidet, darin liegt, dass

70 Vgl. Charcot, Jean-Martin: Poliklinische Vorträge. Übers. von Sigmund Freud. Bd. 1. Leipzig 1894, S. 134-137. Vgl. auch Charcot, Jean-Martin: Neue Vorlesungen über die Krankheiten des Nervensystems, insbesondere über Hysterie. Übers. von Sigmund Freud. Leipzig 1886, S. 12. Hier Vgl. ebenfalls Schaps, 1982, S. 59. 71 Siehe Seite 82-84 in diesem Kapitel.

84 die Traumpsychosen nicht das Wachleben des normalen Menschen beeinflussen, während die halluzinatorische Reproduktion der Erinnerung als hysterisches Phäno- men in den Wachzustand des Kranken eintritt.72 Die Wahrnehmung von Frau John bleibt beim Tagtraum stehen, in dem die Erinnerung an den Tod ihres Sohnes wieder erweckt wird. Da sie in einem sozialen Milieu lebt, in dem sie einsam ist und niemanden hat, der ihr zuhört, werden die Affekte des psychischen Traumas nicht richtig abreagiert. So bleibt die Erinnerung aktiv im zweiten Bewusstseinzustand (Halbschlaf und halbwacher, hypnoiden Zustand). Im Traum spielt Frau John die Rolle einer kämpferischen Mutter, sie hält dies für das Drama ihres realen Lebens. In phantastischer Halluzination identifiziert sie sich mit ihrer Rolle als Mutter, was ihr in der realen Welt versagt ist. Auffällig ist ihr Abwehrmechanismus im Traum, dass sie den Tod ihres Sohnes nicht akzeptiert und halluziniert, dass ihr Sohn noch lebt: „Un denn jing ick mit Adelbertchen, jing ick bein Standesbeamten hin.“ Ihr Muttergefühl taucht wieder auf: „I, wenn een Kindchen meinswejen jeboren is, denn is et jedennoch noch in de Mutter, und wenn es meinswejen jestorben is, denn is et immer noch in de Mutter.“

Bei der Beobachtung eines paranoiden Falles schildert Hauptmann, wie schwierig die Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit zu ziehen ist: „Diese Frau also hatte ihre fixe Idee und war in der Tat sonst völlig gesund. Sie konnte mit ihrer fixen Idee neunzig Jahre und darüber alt werden.“ (CA VII 1063) Frau John leidet zwar nicht an Paranoia, aber in ihrem hysterischen Verhalten tritt die fixe Idee der Mutterschaft immer wieder auf. Auch die Zwangsvorstellung, nach der ihr Sohn noch lebt und sie unbedingt Mutter sein muss, begleitet Frau John bis sie eines Tages ausbricht. Hauptmann beschreibt den Zusammenbruch Frau Johns in der letzten Szene; ihren Ehemann Paul John lässt er den pathologischen Zustand seiner Frau quasi unterstüt- zen. Sein pedantischer kleinbürgerlicher Ehrsinn und starrsinniger Gerechtigkeits- sinn veranlassen Paul John fast gefühllos dazu, seine Frau zu verfolgen. Die vielen Fragen nach dem Kinderraub und die Demütigung durch die Enthüllung der vorgetäuschten Schwangerschaft vor allen Leuten (CA II 828f.) drängen Frau John in die Ausweglosigkeit. Allmählich entsteht in ihr ein Verfolgungswahn. Zu ihrem Mann sagt sie: „als wenn det ick ringsum von hungrige Welfe umjeben bin. (CA II

72 Freud, Bd.1, 1969, S. 92.

85 825) [...] Du bist eener, wo Jift in de Oochen und Hauer wie Welfe hat!“ (CA II 829) In der frühen Fassung des Stücks „Die Ratten“ ist Frau John wahnsinnig geworden: „Sie [Frau John] geht singend ab, von einigen Beamten begleitet und gefolgt von John, der vollständig gebrochen ist, abwechselnd „Jette“ und „Mutter“ sagt und von Quaquaro mühsam auf den Beinen gehalten wird.“(CA IX 1200) In der Endfassung begeht Frau John Selbstmord.

Die Tragik der Heldin John ist eine andere als die der Protagonistinnen in „Antigone“ oder „Die Jungfrau von Orleans“, die bewusst in den Tod gehen und mit heroischer Entschlossenheit bis zum Ende kämpfen. In „Die Ratten“ geht es um das psychische Leid einer Kleinbürgerin. Diese ist von der Zwangsvorstellung der Mutterschaft, die zum Teil auch aus den sozialen Umständen hervorgeht, gefesselt und handelt unbewusst. Es gibt keine heroische Figur mit starkem Willen mehr wie noch in der Antike. Von Schuld und Gerechtigkeit ist nicht mehr die Rede. Statt- dessen wird der psychische Konflikt der Figur dargestellt, der zu einer ausweglosen Situation führt. Was beim Zuschauer Mitleid erweckt, ist das tragische Verhängnis auf der Ebene des Psychopathologischen der Frau John. Das Motiv der Kleinbür- gerin fungiert im Stück als Beweisführung für Hauptmanns Konzept der Tragödie, mit der er betont, dass auch die Leute aus der unteren Schicht (hier aus dem Klein- bürgertum) tragikfähig sind. Indem die handelnden Figuren in einer anderen Schicht angesiedelt werden, wird auch der Schwerpunkt der Thematik weg von hohen moralischen Werten hin ins Psychologische und Soziale verlagert.

86 1.3. „Die Hose“ von Carl Sternheim

In seiner Vorrede zum Zweitdruck von „Die Hose“ schrieb Sternheim 1918 im Rück- blick:

"Als ich neunzehnhundertundacht ein bürgerliches Lustspiel veröffentlichte, kannte die deutsche Bühne nach Gerhart Hauptmanns Naturalismus nur die Maskerade vom alten Fabelkönig, der jungen Königin, dem famosen Pagen, die unter mannigfaltigen Verkleidungen neuromantisch auftraten; reich kostümiert von Wirklichkeit fort Glanz sprachen, Erhabenheit handelten. In meinem Stück verlor ein Bürgerweib die Hose, von nichts als der banalen Sache sprach in kahlem Deutsch man auf der Szene. Ob solcher Einfalt fällte Welt das Urteil: wie war das Dichtung? Eine bürger- liche Hose und fünf Spießer, die von ihr räsonierten? Wo blieb gewohnter Glanz (ersatz) wo (Pseudo) Naturalismus? In einer Sprache redeten dazu von der Albernheit die Leute, die in keinem Buch, keiner Zeitung stand, und die kein besserer Bekannter sprach. [...] Von durchschnittlichen Dingen sprach man weiter, behandelte Beiläufiges mit Emsigkeit und einem Nachdruck, der vorher nicht an bürgerliche Welt gewandt war. [...] Erlaubt sei von zurück- gebliebenen Edelleuten und modernen Proletariern (als nicht „zur Welt“ gehörig) Darstellung"1

Sternheim kritisiert das Theater der Jahrhundertwende, das nach dem Ende des Natu- ralismus das Bürgertum auf der Bühne weder dargestellt noch kritisiert habe. Er siedelt die Handlung von "Die Hose" im Kleinbürgertum an. Seine Figuren stellt er durch die Selbstverständlichkeit ihres Handelns und Denkens bloß. Mit der sati- rischen Darstellung der Spießbürger übt er soziale Kritik an der Vorkriegsepoche. So führte bereits die Uraufführung des Stücks am 15. 2. 1911 in den Berliner Kam- merspielen des Deutschen Theaters zu einem Skandal. Aufgrund ihrer "Unsittlich- keit" wurde die Aufführung bis zur letzten Minute von der Zensurbehörde verboten; der ursprüngliche Titel "Der Riese" musste wegen des Einspruchs der Aufsichts- behörde in den Ersatztitel "Die Hose" verändert werden; doch auch er erschien der

1 Sternheim, Carl: Carl Sternheim Gesamtwerk. Bd. 1: Dramen I. Hg. von Wilhelm Emrich. Neu- wied 1963, S. 23.

87 Behörde anstößig.2 Jedoch begründete Sternheim gerade mit diesem provokanten Titel und seiner Thematik seinen Ruhm in der deutschen Theatergeschichte.

Im folgenden werde ich die Rolle der Kleinbürger in der Komödie „Die Hose“ untersuchen. Die erste These lautet, dass die Komik des subalternen Beamten Theobald Maske am Anfang aus seiner Unfähigkeit, die Absichten der anderen einzuschätzen, entsteht. In einer Umkehrung der Lage triumphiert der anfangs beinahe betrogene Betrüger jedoch am Ende siegreich über seine Gegenspieler. Die zweite These bezieht sich auf die Funktionen des Kleinbürgers Theobald im Drama. Sternheim setzt Theobald ein, um den Bildungsbürger Scarron satirisch zu kritisieren. Durch seine radikale kleinbürgerliche Pragmatik demaskiert Theobald die Realitäts- fremdheit des vermeintlichen Nietzschekenners Scarron. Indem er die Widersprüch- lichkeit des Kleinbürgers zwischen Anständigkeit und Biederkeit einerseits und egoistischem und skrupellosem Ausleben andererseits bewusst inszeniert, verfolgt Sternheim neben einem satirischen Zweck die Irritation des Zuschauers. Die dritte These zielt darauf, dass Sternheim die Kleinbürgerin Luise als gezähmte Ehefrau gestaltet, die anfangs versucht, aus der Beschränktheit des kleinbürgerlichen Milieus auszubrechen, am Ende jedoch wieder die traditionelle Rolle der Hausfrau spielen muss. In dieser Figur dekonstruiert der Autor auch das Bild der Frau als Naturwesen, Sexualobjekt, Muse oder Engel. Diese "imaginierten Weiblichkeiten" 3 werden gezeigt als Projektionen der Männerfiguren; sie dienen diesen dazu, deren Wunsch- und Angstphantasien zum Ausdruck zu bringen.

1.3.1. Der Kleinbürger Theobald Maske als komische Figur

An den Beginn des Stücks setzt Sternheim eine "Prügelszene", eine der Komödien- tradition entnommene klassische Szeneform, die normalerweise der unteren Schicht des Dramenpersonals vorbehalten ist. Hier betritt Theobald, der zornige Haustyrann und einfache Beamte, dessen Frau ihre Hose in der Öffentlichkeit fallen gelassen hat,

2 Vgl. Carl Sternheims Dramen. Zur Textanalyse, Ideologiekritik und Rezeptionsgeschichte. Hg. von Jörg Schönert. Heidelberg 1975, S. 191. 3 Diesen Begriff entlehne ich von Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt/ Main 1979. Siehe auch Seite 167-169 in dieser Arbeit.

88 die Bühne. Die Inkongruenz zwischen der Erregung des Ehemanns, dem Verprügeln seiner Frau und dem Anspruch seines Berufs als Beamter (Vernunft und Anstand) reizen den Zuschauer zu Schmunzeln und Gelächter.4

„Theobald: Dass ich nicht närrisch werde! Luise: Tu den Stock fort! Theobald schlägt sie: Geschändet im Maul der Nachbarn, des ganzen Viertels. Frau Maske verliert die Hose! Luise: Au! Ach! Theobald: Auf offener Straße, vor den Augen des Königs sozusagen. Ich, ein einfacher Beamter!“5

Als kleiner Beamter bemüht sich Theobald, seine Pflicht diszipliniert zu erfüllen. Dies gibt ihm ein Gefühl von Sicherheit und Ordnung. Es ist gleichzeitig eine An- passungsstrategie des Kleinbürgers, der Anständigkeit als Fassade zu bewahren sucht.6 Der kleinbürgerliche Schein wird durch den banalen Zwischenfall mit seiner Frau gestört; das versetzt ihn in Unsicherheit und Panik. Die kleinbürgerliche Idylle verkehrt sich ins Gegenteil.7 Die Diskrepanz, die der Kleinbürger zwischen Sein und Sollen erfährt, d.h. zwischen seiner realen, durch den Skandal beeinträchtigten Existenz und dem Ideal des Beamten, eignet sich für Sternheim besonders gut als Sujet der Komik. Der Skandal von Luises "Hosenfall" führt in den folgen Auftritten des ersten Akts zwei Männer in Maskes Wohnung, die ausgeschriebene Zimmer mieten wollen, um Luise nahe zu sein. Theobald scheint von der Intention der Untermieter nichts zu ahnen und zeigt sich zufrieden, dass der peinliche Zwischenfall keine schlimmen Folgen verursacht hat; stattdessen bringt er ihm überraschenden materiellen Gewinn durch zusätzliche Miete. Hier folgt Sternheim dem traditionellen Schema der Ehe- bruchskomödie: Er stellt einen Ehemann dar, der betrogen werden soll. Die poten- tiellen Liebhaber Scarron, ein Bildungsbürger, und Mandelstam, ein Friseurgeselle,

4 Vgl. Vietta, Silvio: Expressionismus. München 5 1994, S. 310. 5 Zitiert wird nach: Sternheim, Carl: „Die Hose. Ein bürgerliches Lustspiel“. In: Ders.: Carl Sternheim Gesamtwerk. Bd. 1: Dramen I. Hg. von Wilhelm Emrich. Neuwied 1963, S. 28. Seitenangabe künftig in fortlaufendem Text. 6 Vgl. Freund, Winfried: Carl Sternheim: Die Hose. Komödie ohne Happy-End. In: Dramen des 20. Jahrhunderts. Bd. 1. Stuttgart 1996, S. 111. 7 Vgl. Kemper, Hans-Georg: Gestörtes Vergnügen. Carl Sternheim: „Die Hose“. In: Vietta, Silvio/ Kemper, Hans-Georg: Expressionismus. München 5 1994, S. 310.

89 suchen um Luise zu werben. Als Scarron, der Zeuge jenes peinlichen "Hosenfalls" war und Luise den Hof macht, bei Theobald wegen des Zimmers auftaucht, schwärmt Theobald ihm von seiner Frau vor: „Meine Frau, werter Herr, besitzt die Geschicklichkeit, das Zartgefühl und die Zuvorkommenheit einer Person aus besserem Bürgerstand, und Gewissheit tüchtiger Herkunft gibt uns wohl einen gewissen Stolz, trotzdem scheuen wir, meine Frau besonders, nicht leicht eine Gefälligkeit.“ (GW I. 57) Ohne zu ahnen, dass es Scarron ist, der ihm Hörner auf- setzen will, bietet Theobald dem Verehrer seiner Frau ganz eifrig ihre Gefälligkeit und Zärtlichkeit an. Gerade die führen jedoch den vornehmen Herrn an diesen Ort. Diese Doppeldeutigkeit der komischen Situation bringt den Zuschauer zum Lachen. Die Komik steigt, als Theobald den Verführer Scarron fragt: „[...] Herr Scarron, [...] trägt die Arbeit, die Sie bei uns vorhaben, keinen staatsgefährlichen oder sonst die Ordnung der Dinge aufhebenden Charakter? Ich bin Beamter.“ (GW I. 58) Stern- heim bringt Theobald in eine traditionelle Possensituation, indem er ihn unwissent- lich seine eigene zukünftige Situation als Betrogener aussprechen lässt. Im zweiten Akt deutet Mandelstam, der andere Mieter, Theobald den Verführungsversuch von Scarron und das Vorhaben seiner Frau an. Der Ehemann verkennt die Situation wiederum in komischer Weise und sagt zu Mandelstam: „Sie sind ein Haupthahn, Mirakel, Geld wert! Sind Sie am Ende gar nicht Barbier? Ein verkleideter Baron, Liebhaber meiner Frau, der sich einschlich?“ (GW I. 64f.) Durch Zufall hat Theo- bald die Absicht Mandelstams entlarvt, deren jener sich gar nicht bewusst ist. Als Beamter betont Theobald immer wieder die Bedeutung von Moral; diese ist in seinem bürgerlichen Alltag jedoch gefährdet, da die Absichten der anderen seinen Vorstellungen zuwiderlaufen. Seine zufällige Entdeckung steigert die komische Spannung für den Zuschauer. Theobald glaubt fest, dass bei ihm zu Hause alles in Ordnung ist: „So sicher Sie den Leuten den Bart abnehmen, nicht ganz sattelfest sind, so bestimmt ich an nichts denke, als dass meine Kolumnen stimmen, Herr Scarron Liebesgeschichten dichtet, meine Frau zu mir gehört, so sicher ist, was meine Augen sehen, und so bestimmt ist Lüge nur, was Sie träumen.“(GW I. 65) Der Zuschauer muss über die Selbstsicherheit und Selbstverkennung des Kleinbürgers lachen, den man so leicht übertölpeln kann. Das Publikum dagegen kann, aufgrund des Zusammenhangs der Handlung, die Diskrepanz zwischen Vermeintlichem und Wirklichem erfahren.

90 Die Komik der Unzulänglichkeit Theobalds erhöht sich am Ende des zweiten Akts. Als Luise sich entschließt, Scarron zu ihrem Liebhaber zu machen, flüchtet der schwärmerische, aber impotente Bildungsbürger in sein Zimmer. Kurz danach taucht Mandelstam auf und gesteht Luise seine Liebe. Luise wird immer mehr verwirrt. In der ganzen Wohnung herrscht Durcheinander. Schließlich kommt der ahnungslose Ehemann herein und sagt zu den Verführern seiner Frau: „Mahlzeit, meine Herren!“ (GW I. 82) Hier erscheinen zwei nicht zusammengehörige "Fak- toren", die überraschend aufeinander stoßen: Auf der einen Seite handelt es sich um den chaotischen Versuch eines außerehelichen Techtelmechtels. Das Liebesaben- teuer zwischen Scarron und Luise läuft den Erwartungen des Zuschauers zuwider; die erwartete Liebesszene kommt nicht zustande. Stattdessen erfährt der Zuschauer von der Liebe des "ohnmächtigen" Mandelstam zu Luise, mit dem sie aber in diesem Moment gar keine Affäre haben will. Auf der anderen Seite kehrt der Ehemann überraschend heim, der Ordnung und Anständigkeit erwartet. Mit diesem Kontrast bietet Sternheim dem Zuschauer eine höchst amüsante Turbulenz in der komischen Situation.

Faszinierend an der Figur Theobalds ist nicht nur seine Unfähigkeit, sich einen Überblick über die Zusammenhänge zu verschaffen, sondern auch seine Fähigkeit, die eigene Rolle umzukehren: Der beinahe betrogene Ehemann wechselt in eine überlegene Rolle und geht aus der Situation als Sieger hervor.

Der einfache Beamte Theobald versteht zwar am Anfang des Stücks die Beziehungen der anderen Figuren zueinander nicht, ist aber auf keinen Fall eine schwache und so auch komische Figur. Im Gegenteil, er ist körperlich stärker als der schwindsüchtige Friseurgeselle Mandelstam und durchsetzungsfähiger als der Wortschwärmer und Bildungsbürger Scarron und durchschaut die Schwächen seiner beiden Rivalen:

„Und was ererbte Gesundheit gilt, muss dir vor der Jammerfigur dieses hohl- wangigen Friseurs aufgedämmert sein. Aber auch wenn du den untadelhaft ge- kleideten, gut gebürsteten Mann mittlerer Jahre scharf ins Auge fasst, kann dir nicht entgehen, wie sich hinter einer vorgetäuschten Zielsicherheit ein unter- grabener Wille nur schlecht verbirgt.“(GW I. 59)

91 Im dritten Akt zeigt Theobald den anderen seine Vitalität und seine Stärke: Als Scarron über Nietzsches Theorie des Übermenschen philosophiert und behauptet: „Er [Nietzsche; Anm. S. Sh.] lehrt das Evangelium der Zeit. Durch das mit Energien begnadete Individuum, kommt Ziel in die unübersehbare Masse der Menschen. Kraft ist höchstes Glück“ (GW I. 87), zeigt Theobald zwar ein oberflächliches Unverständnis von Nietzsches Philosophie, aber dadurch, dass er sie auf sich selbst anwenden kann, auch eine praktische Übereinstimmung. So legt er Nietzsches Gedanken auf seine eigene Art aus: „Kraft ist freilich Glück. Das wusste ich auf der Schule, hatten die andern unter mir zu leiden.“(S. 87) Amüsant ist nicht seine Ignoranz, sondern die Unbefangenheit, mit der er über die Philosophie spricht, die von dem „Nietzschekenner“ Scarron so euphorisch präsentiert wird. Die von Scarron gepredigte Philosophie, auf diesen selbst angewandt, erscheint hohl und komisch. Der satirische Sprachwitz besteht darin, dass der ungeistige Spießer besser als der vermeintliche Nietzschekenner zu verstehen scheint, wie man Nietzsches Gedanken in der Realität praktisch umsetzt. Durch seine geistig beschränkte Bieder- keit und Durchsetzungsfähigkeit entlarvt Theobald den Nietzscheenthusiasten Scarron. Der Bildungsbürger kann die Ideen Nietzsches zwar predigen, im wirk- lichen Leben aber nicht umsetzen. Er bleibt ein Wortschwärmer.8

In einer Diskussion über ihre Lebensauffassungen streiten Scarron und Theobald sich heftig. Scarron hält an der Theorie der Veränderbarkeit der Menschheit fest und versucht Theobald davon zu überzeugen. Als „gebildeter“ Bürger kann Scarron nicht glauben, dass Theobald keine Bildung hat. Aber Theobald fühlt sich nicht unterlegen und erwidert Scarron: „Sie nehmen das zu tragisch.“ (GW I. 89) Er schlägt einen Besuch bei einer Giraffe im Zoologischen Garten vor, um seinen Horizont zu erweitern: „Da mir aber Herr Scarron so zusetzt, will ich etwas für meine Bildung tun.“(GW I. 95) Die Komik besteht darin, dass Theobald mit harmloser Frechheit den scheinbar geistreichen Bildungsbürger blamiert, dessen Idee ihm nicht realistisch erscheint. Die nach Ansicht des Bildungsbürgers höhere Kultur wird dadurch in Frage gestellt, dass der subalterne Beamte sie verspottet. Die komische Pointe in diesem Stück liegt darin, dass sich der beinahe betrogene Ehemann allmählich zum Herrn der Lage wandelt. Theobald versteht es in seiner

8 Vgl. Reiss, H. S.: „Sternheim - ein Satiriker!“? In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwis- senschaft und Geistesgeschichte 57/2 (1983), S. 328.

92 kleinbürgerlichen Beschränktheit, Chancen für sich zu nutzen. Er setzt sich mit seinem Egoismus rücksichtslos und schlau kalkulierend durch. Der Spießer ist der einzige in diesem Stück, der weiß, was er will, und dies schließlich auch erreicht: Listig erringt er eine Mieterhöhung von Mandelstam und kassiert von Scarron eine ganze Jahresmiete. Er durchschaut die Einsamkeit seiner Nachbarin und nutzt die Gelegenheit, sie als Geliebte zu gewinnen, um so Abwechselung in sein Sexualleben zu bringen. Nach der Liebesstunde (GW I. 124) reagiert Theobald kühl auf die Liebesoffenbarung der Deuter: "Wir wollen nichts übertreiben." (GW I. 124) Er stellt sofort seine Forderungen auf und legt einen Zeitplan fest. Hier entsteht die doppelte Komik, in der der Spießer die Unregelmäßigkeit seines Lebens mit einer gewissen Regelmäßigkeit zu führen versucht.9 Obwohl Luise eigentlich Theobald betrügen will, bleibt sie passives Opfer der Situation, während er durch seine Tatkraft vom Betrogenen zum Betrüger wird. Der zu Beginn fast mit "Blindheit" geschlagene Ehemann avanciert am Ende zur überlegenen Figur. Es bleibt Theobald schließlich auch genug Geld, um die klein- bürgerliche Idylle mit einem Kind zu vervollkommnen. Er ist der einzige Gewinner in dem Stück, „weil er rücksichtslos zu seiner ‚Eigenart’ gewillt ist und ebenso rücksichtslos die anderen zu ‚Geld und Geile’ nutzt, Frönung ‚innerster Natur’“.10 Der Widerspruch, in dem sich der Kleinbürger zwischen der äußerlichen Maske der Anständigkeit und dem heimlichen egoistischen Ausleben seiner Bedürfnisse bewegt, führt zu erschreckender Komik, die der Zuschauer als "Groteske" erlebt. Dies ist ein Verhältnis der Diskrepanz zwischen Erwartung und Enttäuschung des Zuschauers: "Sie verfremdet, um das Subjekt aus der Unmittelbarkeit zum bisher Vertrauten zu lösen."11 Der Effekt des Grotesken gestattet es dem Zuschauer (dem Leser) zwar, sich in die Darstellung der Figur hineinzuversetzen, zugleich lässt er ihn sich davon aber distanzieren. Der Zuschauer hat einerseits Sympathie mit Theobalds realistischer kleinbürgerlicher Pragmatik, andererseits fühlt er sich betroffen wegen seines abstoßenden egoistischen Verhaltens. Mit dem Mittel des Grotesken enthüllt Sternheim satirisch die "Maskenmoral"; eine positive oder negative Bewertung dieser Moral bleibt jedoch offen. Auf die satirische Wirkung dieser widersprüch- lichen Inszenierung des Kleinbürgers werde ich zurückkommen.

9 Schwerte, Hans: Carl Sternheim "Die Hose". In: Der Deutschunterricht 15/6 (1963), S. 70. 10 Ebd., S. 71. 11 Pietzcker, Carl: Das Groteske. In: Das Groteske in der Dichtung. Hg. von Otto F. Best. Darmstadt 1980, S. 96.

93

Ist der Sieg des vitalen, aber gleichzeitig egoistischen Beamten Theobald der Triumph eines Helden? Und welche Funktion hat der kleinbürgerliche Stand in diesem Stück? Diese Fragen werden in der Sternheim-Forschung kontrovers diskutiert. Die Interpretationen folgen zwei Richtungen: Die einen gehen davon aus, dass Sternheim „den Widerspruch zwischen gesellschaftlichem Zwang und perso- naler Freiheit“12 durchschaut hat und deshalb die Protagonisten seiner Komödien wie Theobald Maske gestalten muss, weil sie ihre Selbstverwirklichung nur auf radikale und rücksichtslose Weise erreichen können.13 Vertreter dieser Argumentation sind Wilhelm Emrich und Wolfgang Wendler.14 Die anderen hingegen betonen die sati- rische Funktion der Figuren in Sternheims Komödien. Zu nennen sind hier Winfried Freund15, Winfried Georg Sebald16 und Karl Deiritz17.

Ich schließe mich dem Ansatz an, der die satirische Funktion betont, und gehe in der folgenden Analyse zum einen davon aus, dass der Kleinbürger hier dazu dient, satirische Kritik an Scarron, dem Bildungsbürger, auszuüben, und dass zum anderen die widersprüchliche Darstellung des Kleinbürgers zwischen nach außen gelebter kleinbürgerlichen Biederkeit und nach innen gewandtem Egoismus einen Verfrem- dungseffekt bewirkt, durch den das Publikum keine Identifikation mit dem Helden Theobald herstellen kann.18

12 Emrich, Wilhelm: Vorwort. In: Carl Sternheim. Gesamtwerk. Hg. von Wilhelm Emrich. Bd. 1. Neuwied 1963, S. 5. 13 Vgl. dazu Emrich, Wilhelm: Vorwort: „Carl Sternheim. Gesamtwerk, 1963, S. 5-19. Siehe auch die Neufassung des Vorworts: “Carl Sternheims ‘Kampf der Metapher’ und für die „eigene Nuance“. In: Emrich, Wilhelm: Geist und Widergeist. Wahrheit und Lüge der Literatur. Frankfurt/ Main. 1965, S. 163-184. Ders. auch: Die Komödie Carl Sternheims. In: Der deutsche Expres- sionismus. Formen und Gestalten. Hg. von Hans Steffen. Göttingen 1965, S.115-137. 14 Wendler, Wolfgang: Carl Sternheim. In: Literaturlexikon 20. Jahrhundert. Hg. von Helmut Olles. Bd.3. Reinbeck bei Hamburg 1971, S.749. Vgl. auch ders.: Carl Sternheim. Weltvorstellungen und Kunstprinzipien. Frankfurt/ Main 1966, S. 7f.. 15 Freund, Winfried: Die Parodie in den Vorkriegskomödien Carl Sternheims. In: Text + Kritik 87 (1985), S. 25-34. 16 Sebald, Winfried Georg: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der Wilhelminischen Ära. Stuttgart 1969. 17 Deiritz, Karl: Geschichtsbewusstsein, Satire, Zensur. Eine Studie zu Carl Sternheim. Meisenheim 1979. 18 Rainer Rumold hat diese Verfremdungstendenz im Drama „Die Hose“ erkannt. Vgl. Rumold, Rai- ner: Carl Sternheims Komödie “Die Hose”: Sprachkritik, Sprachsatire und der Verfremdungs- effekt vor Brecht. In: Michigan German Studies 4/1 (1978), S. 6.

94 1.3.2. Der Kleinbürger als satirisch eingesetzte Kontrastfigur des Bildungs- bürgers

Eine Funktion der Figur Theobald ist es, das Missverständnis von Nietzsches Lehre durch Scarron satirisch zu beleuchten und so dessen hohle geistige Existenz zu entlarven. Die satirische Intention des Stückes wird in der Szene besonders deutlich, in welcher Scarron Theobald eine Nacht mit einer Dirne beschreibt. Scarron schildert Theobald, dass durch dieses Erlebnis sein Glaube an die Menschlichkeit wiederhergestellt wurde:

„Scarron: Leibhaftige Sorge um Brot und Gott. Die ersten Minuten waren hin- reißende Aussprache nur mit dem Blick der Augen. Mehr als ein Sakrament vertraute sie mir an, Leib und Seele goss sie in mich, machte mich zum Mit- wisser ihrer Schanden; [...... ] Scarron: Ich folgte ihr in ein elendes Heim, und was ich beim Schein einer qualmenden Lampe ihrer verriegelten Brust entriss, war Wort für Wort Ge- ständnis einer so hohen, neuen, nie erklommenen Menschengröße, [...] Scarron: Gebete tat voll schauerlicher Kraft der Demut.“ [...] Scarron: Zu jeder Stunde bot sie ihren Leib der Gemeinheit der Männer, und mit jedem Tag hob sie sich kraft ihres Leides näher dem Allwissenden. Theobald: Die Mädchen haben alle ein gutes Herz. Scarron: Als uns die Morgensonne traf, fand sie mich ihrer nicht ebenbürtig. Theobald: Was zahlten Sie?“ (GW I. 126f.)

Während Scarron euphorisch von der Nacht mit der Prostituierten in metaphorisch überhöhten Worten erzählt, fragt Theobald realistisch, wie viel Scarron für sie bezahlt und ob er zwischendurch geschlafen hat (GW I. 128). Wiederum enthüllt der kleine Beamte durch seine kleinbürgerliche Pragmatik die Realitätsfremdheit des Bildungsbürgers. Hinzu kommt, dass Scarron hinter den abstrakten Metaphern sein sexuelles Versagen verbirgt.19 Die Satire auf die missverstandene Evolutionslehre, Nietzsches „Übermensch“-Theorie oder „Evangelium der Stärke“, zeigt sich darin, dass Scarron vergeblich versucht, Aufklärung über die Tiefen und Abgründe des

19 Vgl. Schwerte, 1963, S. 74.

95 menschlichen Leidens einer Hure zu bekommen.20 Das von Sternheim an dieser Stelle angewandte satirische Mittel besteht darin, Theobalds kleinbürgerliche Realität mit der Realitätsfremdheit des Bildungsbürgers Scarron zu konfrontieren. Mit Recht schreibt Schwerte: „Das zeitgenössische Stärke-Evangelium à la Nietzsche wird absurd in Maskes Brutalität bürgerlicher Selbstbestätigung.“21

1.3.3. Der Verfremdungseffekt im widersprüchlichen Bild des Kleinbürgers

In der Darstellung des überlegenen Kleinbürgers Theobald konstruiert Sternheim zwei Provokationen: Zum einen lässt er den Spießer sein Lebensprinzip offen aus- sprechen. Unter der Maske des biederen Beamten lebt er skrupellos seine Lust und seinen Geiz aus; zum anderen lässt er Theobald am Ende triumphieren, während seine Gegenspieler lächerlich gemacht werden. Scarron und Mandelstam werden finanziell wegen der Miete benachteiligt; die Nachbarin Deuter wird zu seiner Liebesdienerin gemacht. Das Begehren seiner deprimierten Frau Luise wird unter seiner Kontrolle beherrscht. Mit dieser Provokation will Sternheim die Erwartung des Publikums wecken und zugleich enttäuschen.22 Rainer Rumold hat die Funktion der Entfremdung von Drama und Zuschauer erkannt: „Mit Theobald Maske führt Sternheim also ganz bewusst einen ‚Helden’ ein, der die vom idealistischen Theater geprägten Erwartungen des Publikums enttäuschen muss und soll.“23 Auch Winfried Freund verweist hierauf: „Die Figuren werden zu überlebensgroßen Abbildern des entfremdeten Menschen, zu negativen Schreckbildern für die Zeitgenossen. Nur wenn der Zuschauer das ganze Ausmaß ihrer verlogenen Unwirklichkeit erkennt, gibt es für ihn eine Chance, aus der eigenen Entfremdung herauszufinden.“24 Sternheim selbst weist auf die Provokation der Figur Theobald hin:

„ein kleiner Beamter in plüschener Welt weiß, Peinlichkeiten von außen zu entgehen, genügt es, Plüsch unter Plüsch zu scheinen. Das begreift er mit aller Welt. Neu aber, für sich allein weiß er als unerhörtes Geheimnis, dass, führt

20 Vgl. ebd., S. 74. 21 Ebd., S. 74. 22 Vgl. Meyer, Michael: Zur Rezeptionsgeschichte von Sternheims Komödie "Die Hose" 1911-1926. In: Carl Sternheims Dramen. Hg. von Jörg Schönert. Heidelberg 1975, S. 191-206. 23 Rumold, 1978, S. 6. 24 Freund, 1985, S. 27.

96 man sich nach außen hinreichend mitbürgerlich auf, man innerlich brutal, bronzen, ja ein cyklopischer Viechskerl sein und Leben zu eigenstem Nutz und Frommen radikal abweiden darf.“25

Im Stück drückt der Spießbürger Theobald „grinsend“ seine Lebensphilosophie aus: „Meine Freiheit ist mir verloren, achtet die Welt auf mich in besonderer Weise. Meine Unscheinbarkeit ist die Tarnkappe, unter der ich meinen Neigungen, meiner innersten Natur frönen darf.“ (GW I. 96) Nach außen verhält er sich als biederer Kleinbürger, im Privaten versteht er es, sich seine Wünsche zu erfüllen: Geld und Lust.26 Sternheim inszeniert im Drama diese Widersprüchlichkeit; sie ruft die Irrita- tion des Publikums hervor und macht eine Identifizierung mit dem „Helden“ unmöglich. Der Zuschauer fühlt sich abgestoßen, wenn er mit dieser äußerlich anständigen und durchsetzungsfähigen Figur gleichzeitig einen heuchlerischen und berechnenden „Viechskerl“ bejahen soll. Mit diesem Verfremdungseffekt zwingt Sternheim den Zuschauer, die gesellschaftliche Wirklichkeit (hier die kleinbürgerliche Spießbürgermoral) kritisch zu betrachten.

1.3.4. Die Kleinbürgerin Luise als gezähmte Hausfrau

In der Darstellung der Kleinbürgerin Luise erschafft Sternheim einen traditionellen weiblichen Typus: die Hausfrau. Im ersten Akt muss Luise den Haushalt gut im Griff haben: “Unten, im Kochtopf, auf dem mit Staub bedeckten Boden deiner Stube, nicht im Himmel, hörst du? Ist dieser Stuhl blank? Nein – Dreck! Hat diese Tasse einen Henkel? (GW I. 29) [...] Und denke daran, die Tulpen wollen Wasser.“ (GW I. 33) Am Ende des Stücks äußert Theobald den Wunsch, dass Luise ihm ein Kind gebären soll. Mutterschaft und Haushalt sind die wichtigen „Weibersachen“ für Theobald. In dieser kleinbürgerlichen Familie ist die Geschlechterzuschreibung sehr deutlich zu erkennen. Die Frau wird als Hausfrau und Mutter domestiziert. Als subalterner Beamte versucht Theobald nach außen sein Streben nach Anstand und Sicherheit zu zeigen und zu erfüllen. In seinem kleinbürgerlichen Milieu ist er

25 Sternheim, Carl: Lebenslauf (1921). In: Carl Sternheim Gesamtwerk. Hg. von Wilhelm Emrich. Bd. 6. Neuwied 1963, S. 218; (auch in Privatkurage [1924], GW. Bd. 6, S. 311, wo „scheinen“ kursiv gesetzt ist). 26 Vgl. Greiner, Bernhard: Die Komödie. Tübingen 1992, S. 340.

97 der Herrscher;27 seine Frau unterwirft sich seiner Macht. In diesem Herr-Knecht Verhältnis kalkuliert der Spießbürger jeden Pfennig und fordert Sauberkeit, Ordnung und Maß. Dazu gehört auch die sexuelle Unterdrückung seiner Frau, während er selbst alle Freiheiten für sich in Anspruch nimmt und seine Affäre mit der Nachbarin weiterführt. Diese Ansprüche deuten auf die Angst des bedrohten kleinen Beamten vor ökonomischer Unsicherheit. Im Gespräch mit der Nachbarin Deuter erklärt Luise, dass ihr Mann sich ihr bisher sexuell verweigert hat, weil er Angst vor möglichen Folgen im Hinblick auf seine begrenzten finanziellen Verhältnisse hat. (GW I. 44) So ist Luises Skandal auf der Königsparade kein Zufall; ihre unter- drückten Triebe drücken sich in einer Fehlleistung aus. Dieser peinliche Verstoß gefährdet jedoch die kleinbürgerliche Idylle, die der ehrgeizige Theobald emsig aufbaut. Es entsteht eine existenzielle Bedrohung für ihn; so muss Luise gezähmt werden. Der Haustyrann droht Luise: „Im übrigen, meine gute Luise, verhältst du dich heut und die nächsten Tage noch still und bleibst mit deinem Maulwerk fort, sonst haue ich dir den Hintern so gründlich voll, dass dir die Sprache für eine Zeit überhaupt vergeht.“ (GW I. 59) Auch die Sinnlichkeit der Frau wirkt bedrohlich und wird aus dem kleinbürgerlichen Eheleben verdrängt: „[...] [w]eil dein niedliches Gesicht viel zu pochend für meine bescheidene Stellung ist, [...]. Könnte ich dir doch begreiflich machen, jedes Ärgernis der Welt stammt aus dem Nichtzusammen- gehen zweier ein Ding bildenden Faktoren. [...] Mein Amt, dein Aussehen gehen nicht zusammen “ (GW I. 30).28

Luise verleiht im Gespräch mit Deuter ihren sexuellen Wünschen Ausdruck. 29 Durch die kupplerischen Dienste und die Hilfe Frau Deuters ermutigt, entscheidet sich Luise für den Ausbruchsversuch. Eine Emanzipation Luises scheint sich anzu- bahnen: „aus diesem Dienst, diesen Zügeln und Banden, von diesem aufgehobenen Finger zur Freiheit fort!“ (GW I. 46) Mit Mitteln der Komik und des Grotesken stellt Sternheim den Versuch des Seitensprungs der frustrierten Ehefrau dar. In der Szene, wo Scarron und Luise allein in der Wohnung sind (4. Auftritt, II. Akt) umwirbt Scarron anfangs mit wortreicher Prahlerei die verwirrte Luise, die bereit ist, auf ihre

27 Vgl. Leffers, Maike: Die Maske als Ausdruck der Herrschaftskrise. Carl Sternheim. Die Hose, Der Snob, 1913. In: Expressionismus und Kulturkrise. Hg. von Bernd Hüppauf. Heidelberg 1983, S. 136. 28 Vgl. Greiner, 1992, S. 341. 29 Vgl. Leffers, 1983, S. 134.

98 eheliche Treue zu verzichten, und mehrere Male wie im Traum ihre Liebe zu Scarron gesteht: "Ich bin Dein. [...] Laß mich dein sein! [...] Dein." (GW I. 79) In diesem Moment läuft der erhoffte Liebhaber hastig in sein Zimmer und lässt die fassungslose Luise vor der Tür stehen. Die Erwartung des Zuschauers, ein Liebesabenteuer mitzuerleben, wird enttäuscht; er muss über Luises wortlose und hilflose Betroffenheit und die Parodie auf die poetischen Worte Scarrons lachen. Am Ende des dritten Akts wartet Luise vergebens auf ihre erotische Romanze mit Scarron, während dieser sich mit Theobald in einer Kneipe betrinkt. Als Luise sich an Mandelstam wendet und bei ihm eine Liebschaft sucht, hört sie Schnarchen aus seinem Zimmer. Schließlich steht Luise verlassen auf der Bühne "in Hemd und Hose, sich langsam in ewiger Wiederholung das offene Haar kämmend [...] " (GW I. 107). Die durch Worte hervorgerufene Erwartung erotischer Lust geht nicht in Erfüllung. Die Darstellung der Lustverwirrung von Luise wirkt grotesk und zugleich tragisch.30 Ihr Versuch, aus der kleinbürgerlichen Ehe auszubrechen, scheitert an dem Versagen der beiden angeblichen Liebhaber. Die Solidarität der Helferin verwandelt sich am Ende in Konkurrenz zwischen Ehefrau und Geliebter. Während Luise wegen der Enttäuschung ihrer erotischen Träume ihre Ruhe in der Kirche sucht, betrügt ihr Ehemann sie mit der Nachbarin. Schließlich kehrt der kleinbürgerliche Alltag, allerdings nur für Luise, wieder ein: Emsig bereitet sie den Schweinebraten. Von ihrem Wunsch nach Selbstverwirklichung bleibt keine Spur zurück. Der von Sternheim inszenierte emanzipatorische Versuch Luises endet mit ihrer totalen Anpassung an die kleinbürgerliche Familie.31

1.3.5. Die Kleinbürgerin als Weiblichkeitskonstruktion der Männer

In der Figur der Kleinbürgerin Luise dekonstruiert Sternheim die Weiblichkeits- mythen, die von den Männerfiguren (Scarron und Mandelstam) imaginiert werden. Scarron betrachtet Luise als Muse und als Verkörperung von Natur und Sexualität. Mandelstam hingegen phantasiert eine Vorstellung engelhafter Weiblichkeit. Um die Bilder von Luise zu rekonstruieren, konzentriere ich mich bei der Analyse darauf,

30 Vgl. Schwerte, 1963, S. 77. 31 Vgl. Hinck, Walter: Anmut und Geist. Kleine Komödien-Chronik zur Emanzipation der Frau. In: Zwischen Satire und Utopie. Zur Komiktheorie und zur Geschichte der europäischen Komödie. Hg. von Reinhold Grimm. Frankfurt/ Main 1982, S. 208.

99 wie Sternheim Weiblichkeitsmythen32 durch die Aussagen der Männer in diesem Stück gestaltet und wie er damit umgeht. Es geht hier nicht um die historisch reale Darstellung einer Kleinbürgerin, sondern um das kleinbürgerliche Frauenbild in der Phantasie von Männern, hinter der auch die Autorphantasie steckt. Mit Recht schreibt Jutta Osinski: „Wer literarische Texte untersucht, kann nur über Bilder, Imaginationen und Zuschreibungen reflektieren, nicht über „authentische" Ge- schlechtlichkeit, und die Wirkmächtigkeit von Imaginationen kann nur an histo- rischen Verschiebungen und Umdeutungen abgelesen werden, nicht an einer Wirk- lichkeit, die es unabhängig von Imaginiertem gäbe.“33

In der Verführungsszene schildert Scarron Luise schwärmerisch seine Liebe:

„Dir mehr als zwei Ozeane entfernt, bin ich an diese Bergwand gelagert. Vom Leben in zwei blauen Sonnen ausruhend. Sie entsenden Willensströme, ver- sengen das Nächste, entzünden Ferneres mit freudiger Wärme. Deine zusam- mengerollte Hand hat gegriffen, genießt den hinschmelzenden Gedanken. Der Busen wallt schon auf. Ich sehe den Musselin sich schieben. Und jetzt ent- blätterst du von der Krone zur Wurzel, Luise, bist vom Schicksal hingeschla- gen!“ (GW I. 77) Luise hat, wie eine Schlafende, den Kopf in die Arme auf den Tisch vergraben. Scarron: „Ganz etwas anderes muss ich dir sagen: Herrliche Frauen gibt’s auf der Welt, Luise. Blonde, mit blassroten Malen, wo man sie entblößt, dunkle, die wie junge Adler einen Flaum haben, denen im Rücken eine Welle spielt, reizt man sie. Manche tragen rauschendes Zeug und Steine, die wie ihre Flüssigkeiten schimmern. Andere sind knapp geschürzt, kühl wie ihre Haut. Es gibt Blonde, die einen Flaum haben, dunkle mit blassen Malen. Demütige Brünetten, stolze Flachsige. Der Himmel ist voller Sterne, die Nächte voller Frauen. Sublim schön ist die Welt – aber!“ (GW I. 78)

Scarron beschreibt seine sexuellen Phantasien in zwei Phasen: Zuerst phantasiert er ihre Begegnung in einer grandiosen Naturlandschaft: „Dir mehr als zwei Ozeane entfernt, bin ich an diese Bergwand gelagert. Vom Leben in zwei blauen Sonnen ausruhend. Sie entsenden Willensströme, versengen das Nächste, entzünden Fer-

32 Vgl. Lindhoff, Lena: Einführung in die feministische Literaturtheorie. Stuttgart 1995, S.1-29. 33 Osinski, Jutta: Einführung in die feministische Literaturwissenschaft. Berlin 1998, S. 77.

100 neres mit freudiger Wärme.“ (GW I. 78) Nach diesen schwärmerischen Worten, die hinter der Naturmetaphorik ein distanziertes Verhältnis zu seiner Geliebten vermuten lassen, wird die Ambivalenz der sexuellen Vorstellungen Scarrons zu Luise ange- deutet. Er erträumt einerseits, Luise zu verführen und andererseits, von Luise ver- führt zu werden: „Deine zusammengerollte Hand hat gegriffen, genießt den hin- schmelzenden Gedanken. Der Busen wallt schon auf. Ich sehe den Musselin sich schieben. Und jetzt entblätterst du von der Krone zur Wurzel, Luise, bist vom Schicksal hingeschlagen!" Luise fungiert hier als ein Lustobjekt für Scarron, das sein Begehren anreizt und mit dem er seine schwache Männlichkeit kompensieren will: „Ich bin eine Kirchenglocke. Mein Strang hängt gelähmt. Schlagen Sie mich an, läute ich Ihrer Kehle helle Schreie.“ (GW I. 41) Im Anschluss an die Verführungsszene vergleicht Scarron in einer Metapher Frauen mit Tieren. Frauen werden von ihm als Naturwesen beschrieben und kategorisiert: „die wie junge Adler einen Flaum haben, denen im Rücken eine Welle spielt, reizt man sie. [...] Andere sind knapp geschürzt, kühl wie ihre Haut.“ Wie ein Tierexperte geriert sich Scarron und beobachtet Frauen, als seien sie Vögel oder Raubtiere, also Naturobjekte. Dadurch wird die Frau als Fremde, als „das andere Geschlecht“ vom Mann abgegrenzt. Simone de Beauvoir schreibt, dass „das Subjekt sich nur (setzt), in dem es sich entgegensetzt: es hat das Bedürfnis, sich als das Wesentliche zu bejahen und das Andere als das Unwesentliche, als Objekt zu setzen“34. So sieht Beauvoir die Herr-Knecht-Beziehung35 auch in der gesellschaftlichen Geschlechter- zuschreibung verwirklicht. Das männliche Subjekt setzt die Frau mit der Natur gleich. Die Frau wird als naturhaftes, in sich ruhendes Wesen, betrachtet. Diese Gleichsetzung dient dem Mann zur Projektion seiner Wünsche und Ängste.36 In der Schilderung Scarrons weist die Tiermetapher auch auf diese traditionelle Ge- schlechtszuschreibung von Weiblichkeit hin: Frauen als Naturwesen und Sexual- objekte. Silvia Bovenschen weist in ihrer Untersuchung darauf hin, dass es sich oft um eine Verschiebung handelt, wenn das gedachte Weibliche als Natur imaginiert wird: Die Sehnsucht des Mannes nach Versöhnung mit der Natur wird auf das Weibliche projiziert: „Die weibliche ‚Natur’ wird so einerseits zur Trägerin der

34 Beauvoir, Simone de: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Hamburg 1968, S.10f.. 35 Beauvoir verwendet Hegels dialektisches Modell von Herr und Knecht aus der „Phänomenologie des Geistes“, um ihre Theorie zu entwickeln. 36 Vgl. Lindhoff, 1995, S. 5f..

101 ideellen männlichen Harmonie- und Einheitssehnsüchte stilisiert, andererseits schließt ihre Definition das Gebot der Unterwerfung und des Stillhaltens ein.“37

Eine andere Weiblichkeits-Imagination stellt Scarron her, indem er Luise zur Muse stilisiert: „Welche Menschlichkeit! Gelänge es, sie im Buch festzuhalten – neben den Größten müsste ich gelten. [...] Tisch, Feder an dein Wesen heran; schlichter Natur angenähert, muss das Kunstwerk gelingen. [...] Dir auf Knien zugewendet, will ich der Menschheit dein Bild festhalten, und es dir aufzeigend, den ganzen Lohn deiner Gnade fordern.“ (GW I. 79) Scarron funktionalisiert Luises Weiblichkeit für die Kunst. Die imaginierte Weiblichkeit verkörpert die Einheit der Natur, die Scarron in seinem Kunstwerk wiederherzustellen versucht. Er betrachtet Luise in seiner Kunst als etwas Natürlich-Weibliches. Karl Scheffler weist auf diesen Zusammenhang hin:

„Zu solchen Symbolen werden ihm [dem Mann, Silvia Bovenschen] das Kunstwerk und die Frau. Das Kunstwerk ist ihm symbolisch für die ideale, bewusst erstrebte Harmonie, weil darin die jeweiligen Ergebnisse der Kulturarbeit anschaulich niedergelegt sind, [...] die Frau wird dem Mann symbolisch, weil sie ihm die Natureinheit verkörpert, so wendet er sich rückwärts der schönen Ruhe zu, woraus er hervorgegangen ist und worin er ein Gegenbild [...] des allgemeinen Endziels erblickt.“38

Für den Dichter ist das symbolische Weibliche der Kunst nahe, die reale Frau ist jedoch von der Kunst ausgeschlossen. Es ist kein Zufall, dass der Künstler schnell in sein Zimmer hastet, als Luise sich ihm liebevoll hingeben möchte, denn sobald das Weibliche real wird, zerstört es die „männliche“ Phantasie und die Kunstvorstellung. Nur die projektive und symbolische Frau – das Weibliche als Muse – bietet dem Bildungsbürger Scarron gutes Material für das Kunstwerk. Das Streben nach Har- monie durch die Verbindung der symbolischen Frau mit der Kunst erweist sich als Sehnsucht und Ausdruck von Regressions- und Verschmelzungsphantasien.

37 Bovenschen, Silvia: Die imaginierte Weiblichkeit. Frankfurt/ Main 1979, S. 32. 38 Scheffler, Karl: Die Frau und die Kunst. Berlin 1908, S. 22. Zitiert nach Bovenschen, 1979, S. 37.

102 Der Friseur Mandelstam sieht in Luise ein träumerisches Bild einer Frau. Er ver- gleicht sie mit Senta, der weiblichen Hauptfigur der Oper „Der Fliegende Holländer“. Die Frauengestalt Senta ist ein träumerisches Mädchen und schwört ihrem Verlobten Treue bis in den Tod. Als der verfluchte Seemann ihre Treue bezweifelt, stürzt sie sich ins Meer. Die imaginierte Weiblichkeit der Figur Senta ist ebenfalls ein von Männern produziertes Wunschbild: ein unschuldiges Naturwesen und gleichzeitig Retterin, „Engel“ (GW I. 20), des Mannes. Mandelstam identifiziert sich mit dem Fliegenden Holländer und wünscht, dass die Kleinbürgerin ihn (als Juden) aus der quälenden Welt erlöst. So liest der schwache Friseurgeselle Luise schwärmerisch aus dem „Fliegenden Holländer“ vor:

„Wird Sie mein Engel sein? Wenn aus der Qualen Schreckgewalten Die Sehnsucht nach dem Heil mich treibt. Der Qualen, die mein Haupt umnachten, Ersehntes Ziel hätt’ ich erreicht.“ (GW I. 70)

Das gleiche engelhafte Frauenbild konstruiert Mandelstam in Luise, von der er die ihm seit Kindheit fehlende mütterliche Wärme erhalten will. Luise gegenüber drückt er sein Bedürfnis nach Geborgenheit aus: „Meine Mutter war zart (GW I. 51)[...]. Wer keine Mutter hatte, dessen einziger Wunsch ist es doch.“ (GW I. 68). Die Männerfiguren projizieren auf Luise ihre Sehnsuchtsphantasien, sei es als Muse, Naturwesen oder Spenderin mütterlicher Geborgenheit. Mit diesen Projektionen re- produzieren die männlichen Figuren ein patriarchales Verständnis von Weiblichkeit: die Frau als „anderes Wesen“.

Sternheim stellt den Kleinbürger Theobald Maske als komische aber auch hand- lungsfähige Figur dar. Die Komik entsteht zunächst aus seiner Unfähigkeit, die Situation der anderen zu durchschauen, dann aber aus seiner kleinbürgerlichen Doppelmoral und rücksichtslosen Pragmatik, die ihn den anderen Figuren überlegen sein lässt. Die Darstellung des Kleinbürgers fungiert einerseits als satirisches Mittel, um den Bildungsbürger Scarron lächerlich zu machen. Andererseits wirkt sich das widersprüchliche Bild des Kleinbürgers als Entfremdungstendenz aus, welche die

103 Identifikation des Zuschauers mit dem Helden des Stücks unmöglich macht. Die Kleinbürgerin Luise wird als Projektionsobjekt von den Männerfiguren im Stück konstruiert, die ihre Wunschbilder aussprechen und damit ihre Sehnsüchte befrie- digen. Die Weiblichkeitsmythen wie z.B. Verkörperung der Natur, Sexualobjekt, Ideal von Harmonie und Geborgenheit dienen dazu zu zeigen, dass sich die Männer nach dem Ursprung der Mütterlichkeit zurücksehnen und sich Verschmelzungsphan- tasien hingeben.39 Die Inszenierung der weiblichen Bilder in der Figur der Klein- bürgerin Luise ergibt sich aus der traditionellen Zuschreibung von Geschlecht: Die Frau wird mit der Natur gleichgesetzt und in die Passivität verwiesen. Das Scheitern von Luises Emanzipationsversuchen wird einerseits als komisch und grotesk darge- stellt, andererseits erweist es sich als ideologische Form, mit der Männer Frauen in die Position der Unterwerfung drängen.

39 Vgl. Lindhoff, 1995, S. 18.

104 2. Dramen von weiblichen Autoren 2.1. „D’ Schand’“1 von Juliane Déry

Das Motiv der Kleinbürgerin als verführte Unschuld ist seit dem 18. Jahrhundert häufiger Gegenstand des bürgerlichen Trauerspiels. Es geht immer darum, dass eine Frau aus kleinbürgerlichem Milieu durch Schmeicheleien und Versprechungen eines Mannes ihre Jungfräulichkeit verliert. Diese Männer kommen meistens aus höherem Stand. Das Mädchen wird schwanger und von dem sittlichen strengen Vater aus dem Haus verstoßen oder flieht wegen der Schande von zu Hause. Das Schicksal der Frauenfiguren endet in Ausweglosigkeit. In Wahnsinn und Verwirrung töten sie ihr neugeborenes Kind, werden zum Tode verurteilt oder begehen Selbstmord.2 Es sind von Männern imaginierte Frauenbilder: Evchen (Wagners „Die Kindermörderin“ (1776)) und ihre Schwester Marie in Lenz’ „Die Soldaten“ (1776), Gretchen in Goethes „Faust“ (1808) und Klara in Hebbels „Maria Magdalena“ (1846). Man muss sich nach dem Subtext hinter diesem Weiblichkeitsmuster fragen. Ein Strukturmodell, das in verschiedenen Motiven, Bildern und Typen in Werken von Männern konstruiert wird3, findet man auch hier: Der Mann wird als Subjekt dargestellt; er verfolgt eigene Ziele und beherrscht sein Umfeld. Er ist Herrscher in dieser patriarchalischen Gesellschaft, während die Frau instrumentalisiert und der männlichen Ordnung unterworfen wird. Ihre Unschuld dient als Objekt männlicher Begierde und Aggression (sexueller Anspruch des Verführers oder Besitzanspruch des Vaters). Mit Recht schreibt Barbara Becker- Cantarino: „Als 'verführte Unschuld' dient sie als Sinnbild männlicher Macht und

1 Da das Stück bis jetzt weitgehend unbekannt ist, ist eine kurze Inhaltsangabe nötig für die Leser: Marie, die Tochter des Schlossermeisters Ott, hat heimlich in der Wohnung ihrer Tante eine un- eheliche Tochter zur Welt gebracht. Ihr Vater hat wegen „Der Schand“ jegliche Beziehung zu ihr abgebrochen, denn nichts ist ihm wichtiger, als ein „Ehrenmann“ zu sein. Maries „Verführer“ sollte eigentlich für seinen besten Freund Urban um ihre Hand anhalten. Stattdessen verführt er Marie, nimmt sie als „Geliebte“ und denkt gar nicht an Heirat. Als Urban, der Kunstschlosser und betrogene Freund, von der Schande erfährt, will auch er zunächst nichts von Marie wissen. Denn er liebt sie wie „die heilige Maria“. Nachdem das Kind gestorben ist, erlebt er Maries tiefen Schmerz um das Kind und will sie doch noch heiraten. (Siehe Déry, Juliane: „D’ Schand’. Volksstück in sechs Bildern“. München 1894.) 2 Eine Ausnahme bildet Marie in „Die Soldaten“. Sie endet als Bettlerin auf der Straße und wird vom Vater wieder aufgenommen. 3 Vgl. Weigel, Sigrid: Frau und „Weiblichkeit“. Theoretische Überlegungen zur feministischen Lite- raturkritik. In: Feministische Literaturwissenschaft. Dokumentation der Tagung in Hamburg vom Mai 1983. Hg. von Inge Stephan. Berlin 1984, S. 103-113.

105 Vorherrschaft über den weiblichen Körper“.4 Wir begegnen einer hierarchischen Konstruktion des Geschlechterverhältnisses; sie ist durch „asymmetrische Beziehungen“5 zwischen Frau und Mann gekennzeichnet: ehrgeiziges Streben des Männlichen und hingebende Unterwerfung des Weiblichen, sexuelle Gier und Stolz des Mannes versus masochistische Passivität der Frau. Die Frauenfiguren werden als kindliche, unschuldige und naive Wesen charakterisiert. Der wohlhabende Gelehrte Faust nennt Gretchen „mein Kind“ 6 (3418), „liebe Puppe“ (3476) und „kleiner Engel“ (3163). Der adelige Offizier von Gröningseck redet Evchen mit „Närrchen“7 und „Engelkind“8 an. Die Frau wird „mit dem metaphysisch verklärten Prinzip der „Natur“ in eins gesetzt; sie wird zugleich erhoben und erniedrigt, und zwar so hoch und so tief, dass sie in den gesellschaftlichen Lebenszusammenhängen keinen Platz mehr findet.“9 Auf ihre Tugendhaftigkeit geprüft, verfällt die schöne Unschuld der Sünde und wird als sprachlose, wahnsinnige Kindsmörderin ausgegrenzt. Die soziale Isolation und der innere Konflikt der unehelichen Mutter und die Verantwortung des Vaters werden thematisiert. Der abwesende Liebhaber wird zwar an seine Schuld erinnert, aber nicht als Vater des Kindes zur Verantwortung gezogen.10 Moralische Schuldgefühle der Frau aufgrund der unehelichen sexuellen Beziehung und die Strafe der Verdammung der Frau als Kindermörderin sind die zentralen Themen dieser Dramen. Die hier entworfenen Frauenbilder gehen an der Realität von Frauen vorbei und berücksichtigen weder ihre Lebenserfahrung noch ihre Probleme. Vielmehr fungieren sie als Projektionsfläche für Wünsche, Ängste und Ideologien ihrer männlichen Autoren.11 Nachdem ich dargelegt habe, welche traditionellen Weiblichkeitsmuster die Männer in ihren literarischen Werken konstruieren, kann nun untersucht werden, wie eine Frau, die Autorin Juliane Déry, eben dieses Motiv der Kleinbürgerin als verführter

4 Becker-Cantarino, Barbara: "Meine Mutter, die Hur, die mich umgebracht hat...". Die Kindsmör- derin als literarisches Sujet. In: Verklärt, verkitscht, vergessen. Die Mutter als ästhetische Figur. Hg. von Renate Möhrmann. Stuttgart 1996, S. 116. 5 Ebd., S. 112. 6 Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Der Tragödie erster Teil. Stuttgart 1986, S. 100. 7 Wagner, Heinrich Leopold: Die Kindermörderin. Ein Trauerspiel. Hg. von Jörg-Ulrich Fechner. Stuttgart 1999, S. 16. 8 Ebd., S. 18. 9 Bovenschen, Silvia: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturge- schichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt/ Main 1979, S. 31f.. 10 Vgl. Becker-Cantarino, 1996, S. 124. 11 Vgl. Weigel, Sigrid: Die geopferte Heldin und das Opfer als Heldin. Zum Entwurf weiblicher Hel- den in der Literatur von Männern und Frauen. In: Die verborgene Frau. 6 Beiträge zu einer femi- nistischen Literaturwissenschaft. Hg. von Inge Stephan und Sigrid Weigel. Berlin 3 1988, S. 141.

106 Unschuld in dem Drama „D’ Schand’“ bearbeitet. Ich möchte mich in der folgenden Analyse der Frage zuwenden, inwieweit Déry männliche Muster, also Frauenbilder und Schreibmuster, in der Darstellung der Kleinbürgerin nachahmt oder dekon- struiert, ob sie eigene, weiblichen Erfahrungen entsprechende Ausdrucksmöglichkei- ten entwickelt und ob ihr Drama den Entwurf einer anderen, befreiten Kleinbürgerin enthält.

2.1.1 Die Entwertung der Mutter-Tochter-Beziehung

An den Dramen der männlichen Autoren, die von der Problematik der verführten Unschuld im Kleinbürgertum handeln, fällt auf, dass die Figur der Mutter meist fehlt, sei es, dass sie einfach abwesend ist oder auf mysteriöse Weise verschwunden. Von einer näheren Mutter-Tochter-Beziehung ist kaum die Rede.12 Die Mutterfigur – falls vorhanden - wird in diesen Dramen negativ dargestellt; sie ist entweder zu schwach, ihrer verwirrten oder hilflosen Tochter zur Seite zu stehen oder sie ist mitschuldig an dem tragischen Schicksal ihrer Tochter, also eine naive und leichtgläubige Kupplerin.13 Bengt Algot Sörensen hat schon darauf hingewiesen, dass der Grund für die fehlende Mutter-Tochter-Beziehung im Drama des 18. Jahrhundert darin liegt, dass der Mutter in der realen sozialen Struktur eine Unterwerfungshaltung zugeschrieben wird. Sowohl Mutter als auch Tochter sind unmündig und stehen unter Kontrolle des patriarchalischen Hausvaters. 14 Unter diesen Umständen haben sie keine Chance, sich zu solidarisieren und ihr Leben selbst zu bestimmen. Das Mutterbild wird in den Hintergrund gedrängt.

Um dieses Phänomen zu erklären, erscheint es sinnvoll, psychoanalytische Ansätze hinzuziehen, die sich mit der Grundstruktur der Kleinfamilie, mit der in der Literatur typischen Figurenkonstellation Vater, Mutter und Tochter beschäftigen.15 Laut der

12 Vgl. Kaarberg-Wallach, Martha: Mit dem Blick des Mannes. Die Polarisierung der Frau im 18. und 19. Jahrhundert. In: Mütter – Töchter – Frauen: Weiblichkeitsbilder in der Literatur. Hg. von Helga Kraft. Stuttgart 1993, S. 53. 13 Ebd., S. 54. 14 Vgl. Cocalis, Susan L.: Der Vormund will Vormund sein: Zur Problematik der weiblichen Unmündigkeit im 18. Jahrhundert. In: Gestaltet und gestaltend. Frauen in der deutschen Literatur. Hg. von Marianne Burkhard. Amsterdam 1980, S. 33-55. 15 Rohde-Dachser, Christa: Weiblichkeitsparadigmen in der Psychoanalyse. In: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 44/1 (1996), S. 47f..

107 traditionellen Psychoanalyse, also dem Freudschen Modell 16 , hat das Mädchen Schwierigkeiten mit seiner psychosexuellen Identität, nachdem es den Geschlechts- unterschied entdeckt hat. Das Mädchen fühlt sich enttäuscht von der Entdeckung seiner "organischen Minderwertigkeit" als „penislosem Geschöpf“17. Von nun an empfindet es sich als wertlos, unvollständig, und „kastriert“. Es wendet sich enttäuscht von der Mutter ab und dem Vater zu. Es legt der Mutter seinen Mangel zur Last. Nach Freud ist diese enttäuschende und feindselige Ablösung der Tochter von der Mutter für die psychische weibliche Sexualentwicklung notwendig. Der Hauptgrund liege „in Ähnlichkeit von Mutter und Tochter, die ein symbiotisches Beziehungsmuster begünstige und deshalb die Individuation der Tochter erschwere. Die Töchter lasteten diese Schwierigkeiten der Mutter an; ihr Hass diene gleichzeitig der Abgrenzung von der Mutter und sei eine notwendige Durchgangsstufe zur Individuation.“18 Rohde-Dachser stellt die Notwendigkeit dieser zugeschriebenen Aggression in der Mutter-Tochter-Beziehung in Frage: „Daß Töchter ihre Mütter hassen und auch hassen müssen, wird immer wieder betont, so als handle es sich dabei um eine Naturnotwendigkeit.“ 19 Nach Rohde-Dachser wird eine soziale Perspektive in diesem Abwendungsprozess nicht berücksichtigt: „daß es vor allem soziale Modernisierungsprozesse sind (also eine spezifische historische Situation), die der Tochter eine Individuationsleistung abfordern, der sie allein aufgrund ihrer traditionellen (ebenfalls gesellschaftskonformen) Sozialisation oft nicht gewachsen ist und auch gar nicht sein kann. Ihr so vorprogrammiertes Scheitern in diesem Prozess wird jedoch der Mutter angelastet.“20 Folgt man Rohde-Dachser, dann trägt die traditionelle Psychoanalyse zu einem hierarchischen Verhältnis zwischen den Geschlechtern bei, wie es für eine patriar- chalische Gesellschaft typisch ist. Es entsteht eine Polarisierung der Geschlechter: Idealisierung des Mannes, Entwertung der Frau, Herrschaft des Mannes, Unter- werfung der Frau. Auch der psychoanalytische Diskurs weise auf eine ähnliche

16 Vgl. Freud, Sigmund: Über die weibliche Sexualität. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 5. Frank- furt/ Main 4 1972, S. 274-292. Siehe auch Freud, Sigmund: Einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschiedes. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd.14. Frankfurt/ Main 5 1976, S. 19-30; Freud, Sigmund: Die Weiblichkeit. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 15. Frankfurt/ Main 7 1979, S. 119-145. 17 Freud, 1972, S. 283. 18 Rohde-Dachser, 1996, S. 47. 19 Ebd., S. 47. 20 Ebd., S. 47.

108 Herrschaftsordnung hin. In der „Vergiftung der Mutter-Tochter-Beziehung“21 erlebe die Tochter den Spaltungsvorgang in der psychosexuellen Entwicklung: sie ideali- siere den Vater und wende sich enttäuscht von der Mutter ab. Rohde-Dachser zieht daraus den Schluss, „ [d]er Phallozentrismus der Psychoanalyse diene vor allem der Abwehr dieser 'allmächtigen' Mutter-Imago, die durch die 'Macht des Phallus' in Schach gehalten werden müsse (und zwar nach der unbewußten Überzeugung beider Geschlechter).“ 22 Dieser Gedanke des Abwehrmechanismus ist folgender: Das kleine Kind erfährt die Mutter als mächtig. Es muss sich von ihr im Individuations- prozess lösen und entwickelt dabei ihr gegenüber eine aggressive Haltung. Die Mutter wird als allmächtig erfahren. Es entsteht somit Projektion einer allmächtigen und aggressiven Mutter. Die Knaben (die Männer) schützen sich vor ihm, indem sie sich von der Mutter entfernen, hinausgehen in die Welt. Sie berufen sich auf den Besitz des Phallus; damit haben sie etwas, was sie der weiblichen Macht entgegen- halten können. Aus dieser Perspektive spiegelt die Entwertung der Mutter-Tochter- Beziehung die Abwehrphantasien des Mannes, in denen das „furchtbare“ Mutterbild beherrscht und kontrolliert werden muss.23 Solche Bilder der bösen Mutter-Imago und einer gescheiterten (oder einfach verschwiegenen) Mutter-Tochter-Beziehung werden von männlichen Autoren auch in ihren literarischen Texten reproduziert.

2.1.2 Die Aufwertung der Mutter-Tochter-Beziehung

Im Gegensatz zu dieser abgewerteten Beziehung zwischen Mutter und Tochter eröffnet die Autorin Juliane Déry meiner Meinung nach in dem Drama „D’ Schand’“ eine neue Möglichkeit, indem sie das Mutter-Tochter Verhältnis aufwertet. Bei dessen Interpretation beziehe ich mich auf den Ansatz der „weiblichen Genealogie“ von Luce Irigaray und den italienischen Differenztheoretikerinnen. Ich versuche, die Mutter-Tochter-Beziehung aus dieser Perspektive zu betrachten.

21 Rohde-Dachser, 1996, S. 47. 22 Ebd., S. 38. 23 Ebd., S. 46.

109 2.1.2.1 Die weibliche Genealogie

Der Gedanke der „weiblichen Genealogie“ entstand aus der Theorie der Geschlech- terdifferenz von Luce Irigaray, die die gesamte abendländische Philosophiegeschich- te24 und die Psychoanalyse als rein männlichen Diskurs kritisiert.25 Der Grund- gedanke der „weiblichen Genealogie“ ist, dass Frauen, statt sich gegenseitig zu hassen und miteinander zu konkurrieren, eine neue Beziehung zueinander aufbauen sollten. Die Frauen müssten eine neue Verbindungslinie zu ihren Vorfahren, zu ihrem Ursprung finden; das Mutter-Tochter Verhältnis müsse stärker zur Befreiung der Frauen beitragen.26 Nach Irigaray wäre es ein weiterer Schritt für Frauen, die patriarchalische Struktur zu dekonstruieren, indem die Tochter anfängt, eine weib- liche Genealogie zu etablieren, statt die männliche Genealogie ihres Ehemann-Vaters weiter zu führen:

„Ich halte es auch für notwendig – um nicht Komplizinnen am Mord an der Mutter zu werden – eine Genealogie, eine Verwandtschaftsfolge von Frauen aufzuzeigen: schließlich haben wir eine Mutter, eine Großmutter, eine Urgroß- mutter, Tochter. Aber da wir in die Familie des Vater-Mannes verbannt wer- den (wenn ich das so sagen darf), vergessen wir diese weibliche Linie allzu häufig; wir werden sogar dazugebracht, sie zu verleugnen. Versuchen wir, unsere Position so zu bestimmen, daß wir unsere Identität in dieser weiblichen Genealogie wiederfinden und bewahren.“27

Die italienischen Differenztheoretikerinnen lehnen sich an Irigarays These an und fordern dazu auf, dass Frauen „neben der horizontalen Beziehung der Gemein- samkeit und Schwesterlichkeit auch wieder vertikale Beziehungen von der Tochter zu Mutter und von der Mutter zur Tochter einführen.“28 Die italienischen Feminis- tinnen abstrahieren von der Konstellation zwischen Tochter und leiblicher Mutter, wie sie von Irigaray aufgestellt wird, und plädieren für eine ideale Beziehung

24 Irigarary untersucht im zweiten Teil des Buches "Speculum" kürzere philosophische Texte, in denen ihrer Ansicht nach über Jahrtausende die Voraussetzungen dafür geschaffen wurden, die Herrschaft des einen Geschlechts über das andere zu stabilisieren. Sie bezieht sich auf die Philo- sophie von Aristoteles, Platon, Descartes und Hegel. (Vgl. Kroker, Britta: Sexuelle Differenz. Einführung in ein feministisches Theorem. Pfaffenweiler 1994, S. 19f..) 25 Irigaray, Luce: Das Geschlecht, das nicht eins ist. Berlin 1979. 26 Vgl. Kroker, 1994, S. 29. 27 Irigaray, Luce: Zur Geschlechterdifferenz. Interviews und Vorträge. Wien 1987, S. 111f.. 28 Vgl. Muraro, Luisa: Der Begriff der weiblichen Genealogie. In: Vorträge von Luisa Muraro. Hg. von der Frankfurter Frauenschule. Materialienband 5. Frankfurt/ Main 1989, S. 12.

110 „zwischen einer Frau, die sich in freier Entscheidung einer anderen Frau als „symbolische Mutter“ anvertraut“. 29 Dieser symbolische Bezugsrahmen zu der Mutter oder einer anderen Frau soll eine positive Existenz für das Weibliche anbieten; sie sei „die soziale Ordnung, die aus der Beziehung von Frau zu Frau das Fundament der weiblichen Freiheit macht.“30 Nach Luisa Muraro, einer der zentralen Figuren unter den italienischen Feministinnen, ist unsere Gesellschaft

„vom Denken und dem Willen eines einzigen Geschlechts dominiert, da die männliche Autorität sich zwischen die Mutter-Tochter Beziehung stellt, der Mutter die Tochter ‚raubt’, sie unter seine Autorität stellt, sie der Verpflichtung enthebt, ihre Freiheit mit ihr selbst oder mit anderen Frauen auszuhandeln. [...] Es ist notwendig, in unseren Strukturen sowie in der gesamten Gesellschaft jene symbolische Struktur der Vertikalität zu instituieren, die die Einmischung der männlichen Autorität auszulöschen tendiert.“31

Es ist Muraro zufolge schwierig, eine Mutter-Tochter-Beziehung in der patriarcha- lischen Gesellschaft zu entwickeln, weil die Mutter entwertet wird. Deshalb setzt Muraro sich für die Anerkennung von Mutterersatzfiguren ein, um einen symbo- lischen Bezugsrahmen für das Weibliche zu ermöglichen. Diese Mutterersatzfiguren können „die Mutter in der Gegenwart zurückgeben: sie vergegenwärtigen sie uns, sie repräsentieren die Mutter, in der vollen Bedeutung von re-(wieder)präsentieren.“32 Mutterersatzfiguren findet frau in Beziehungen zu Freundinnen oder einer älteren Frau. 33 Die Identifikation mit dem Weiblichen kann über sehr unterschiedliche Beziehungen zwischen (symbolischen) ‚Müttern’ und ‚Töchtern’ oder auch ‚Schwes- tern’ erfolgen.

29 Kroker, 1994, S. 67. 30 Muraro, Luisa: Die symbolische Ordnung der Mutter. In: Vorträge von Luisa Muraro. Frankfurt/ Main 1989, S. 38f.. 31 Muraro, Luisa: Tre domande. In: Donna Women Femme 2 (1986). Zitiert und übers. in: Kroker, Britta: Sexuelle Differenz. Einführung in ein feministisches Theorem. Pfaffenweiler 1994, S. 69f.. 32 Muraro, Luisa: Die symbolische Ordnung der Mutter. Frankfurt/ Main 1993, S. 68f.. 33 Veronika Mariaux hat in ihrer Forschung über „ Sophie La Roches Roman Geschichte des Fräu- leins von Sternheim“ auf die Mutterersatzfiguren als Vermittlerin der weiblichen Ordnung hingewiesen. (Vgl. Mariaux, Veronika: Sophie von La Roche. In: Papierne Mädchen – dichtende Mütter. Leben in der weiblichen Genealogie. Hg. von Andrea Günter. Frankfurt/ Main 1994, S. 147.

111 2.1.2.2 Mutter-Tochter-Beziehung zwischen Marie und ihrer Tante

Eine solche soziale Praxis der symbolischen Ordnung der Mutter findet man auch bei Juliane Déry in „D’ Schand’“. Die Autorin hat in der Struktur des Dramas einen Ort für die Mutter bzw. Ersatzmutter eingerichtet. Die Hälfte der Handlung spielt in der Wohnung von Maries Tante Frau Lang (zweites, viertes und sechstes Bild). Nur das erste Bild wird im Haus des Vaters, des Schlossermeisters Ott vorgeführt. Das dritte und fünfte Bild sind jeweils in der Kirche bei der Hochzeit der Hermine Huttar (Schwester des Verführers von Marie) und im Haus der Huttars, die das neureiche Großbürgertum repräsentieren. Nicht zufällig baut die Autorin diese Struktur auf, in der die Hauptfigur Marie immer wieder Unterstützung von dem Mutterersatz, ihrer Tante, bekommt und zu ihr kommen kann, wenn sie Enttäuschungen durch Vater oder Geliebten erfährt oder sich mit schwierigen Situationen auseinandersetzen muss. Im Kontrast zum Ort des Vaters, wo männliche Aggressionen herrschen, stellt Déry einen Ort der Mutter dar, wo die Tochter eine positive Existenz begründen kann: durch Eingebundensein und gegenseitige Anerkennung.

Die "Mutter-Tochter-Beziehung" zwischen Frau Lang und Marie lebt von einer intensiven emotionalen Nähe. Die beiden Frauen entwickeln die Fähigkeit, sich in- einander einzufühlen und füreinander da zu sein. Dadurch entsteht zwischen ihnen eine starke Bindung. Frau Lang war als Dienstmädchen bei einer Baronin34 angestellt und hat in ihrer Jugend selbst viel durchgemacht. Als sie ihren hartnäckigen Schwager Ott überredet, sich mit seiner Tochter zu versöhnen, äußert sie ihr Mitgefühl mit Marie: „Weiß der liebe Gott, ich hab’ g’wiß auch g’than, was man net soll, und erlitten, was man net mag, aber ohne so viel G’ferres!“35 Nachdem das Kind von Marie krank geworden und gestorben ist, halluziniert die verwirrte Marie: „Tant’ Resi, hören S’ nix? Mir kommt’s alleweil vor, als thäten tausend Totenglocken läuten. Das Kommen und Geh’n der Leut’, d’ Aufbahrung, d’ Rüstungen zur Leichenfeier – wie all das wohl thut!“ (S. 82) Die erfahrene Tante zeigt ihr Verständnis mit dieser Art von Trauerarbeit: „Ja, das thut ungemein wohl. Ich weiß, hab’ ja auch meine zwei Kinder begraben. Hör’, Maritscherl, jetzt koch’ ich Dir schnell ein Lackerl Kaffee,

34 Vgl. Déry, Juliane: „D’ Schand’. Volksstück in sechs Bildern“. München 1894, S. 80. 35 Zitiert nach ebd., S. 20. Seitenangabe künftig in fortlaufendem Text.

112 und nachher mußt’ Dich ein wengerl hinlegen.“(S. 82) Das füreinander Dasein hilft Marie, einen schwierigen Moment in ihrem Lebens auszuhalten:

"Marie. Tant’ Resi! Sie haben mich von der Straße aufgelesen, an mein’ Kind sein’ Krankenbett g’stand’n und mich mit Wohlthaten überhäuft! Aber daß Sie jetzt das Spitzentuch da meinem Kind ins Grab mitgeben, das soll Ihnen Gott vergelten! - Ja, daß S’ jetzt das thun, daß Sie das Spitzentuch da – Thränen ersticken ihre Stimme. Fr. Lang. sie aufhebend. Meiner Seel’, sie weint vor Freud’, weil ihr Kind im Sarg so viel schön herausg’putzt is!“ (S. 80)

Es ist ein Bündnis zwischen Mutter und Tochter, oder zwischen Frauen, das dem entspricht, wofür das die italienischen Feministinnen plädieren. An diesem Ort der Mutter wendet eine Frau sich nicht an einen Mann als Vermittlungsinstanz zwischen sich und der Welt, sondern an eine ältere Frau, die mehr Erfahrung hat und die kon- krete Hilfestellung und Unterstützung gewähren kann.36

In dieser Bündnisstruktur bietet die Mutter-Tochter-Beziehung ein neues Identitäts- muster an, in dem Frauen die weibliche Fähigkeit, sich aufeinander zu beziehen, anerkennen und aufwerten. Die Verbindung mit der Mutter oder einer vertrauten Frau bildet einen möglichen Bezugsrahmen, von dem aus ein Aufbruch möglich ist, der aber auch Rückkehr erlaubt. Er entsteht durch gegenseitige Anerkennung zwi- schen Frauen. Dies zeigt sich auch im Verhalten von Frau Lang gegenüber Maries Liebesbeziehung: Frau Lang hält den Verführer Louis Huttar für einen „Schurk’“ (S. 27) und fordert Rechenschaft von ihm als Kindesvater, also die Verantwortung des Vaters, die in der männlichen Tradition des bürgerlichen Trauerspiels ausgespart bleibt: „Vielleicht is er [Louis Huttar] schon g’storben’n. In acht Monaten kann man kommod sterb’n. Hab ich net recht? Denn am End’, ein jed’s Tier interessiert sich für sein Fleisch und Blut, warum soll just der Mensch so viel niederträchtig sein? Nein, neugierig is er net, das kann man net sag’n, denn sonst fraget er sich g’wi´ß: Hat ihr mein’ Lieb’ den Tod geb’n oder nur ein’ Wund’ versetzt, um daran zeitlebens zu bluten?“ (S. 28) Aber als Marie sich entschieden hat, mit Louis durch die Welt zu ziehen, noch bevor sie erfährt, dass Louis sie und seinen Freund Urban betrügt,

36 Vgl. Kroker, 1994, S. 67.

113 akzeptiert Frau Lang auch diese Entscheidung; sie unterstützt Marie seelisch und materiell. (S. 29) Am Ort der symbolischen Mutter werden Freiheit und Begehren der Frau gefördert. Das Einanderbeistehen zeigt sich besonders, als Marie sich entschließt, aus den hiesigen Konventionen aufzubrechen, also nach Amerika auszuwandern.

Marie. Was meinen S’, Tant’ Resi, könnt’ ich mit dem Geld, das ich jetzt hab’, nit nach Amerika? Fr. Lang. Bist g’scheit? Amerika liegt ja auf ein’ ganz ein’andern Weltteil! Marie. Ich will mein’ Schand’ in ein’andern Weltteil tragen, und sie dort wie ein’ Schatz Tag und Nacht hüten! Ja, mögen s’ Alle über mich kommen, mich in Stücke reißen – Himmlischer, bewahr’ mich nur vor dem Einen, an den ich so viel schwer g’sündigt! Fr. Lang. Arm’s Hascherl! Du willst in die Welt mutterseelenallein, das Kreuz von ein’ kummervollen Leben auf Deine schwachen Schultern laden? Marie. Mit tausend Freuden, wenn nur der Urban nur nix erfahrt. Nein, nein, nur nit dieses Todes sterben! Fr. Lang. Aber nachher Dein Vater! Aber nachher d’Heimat? Marie. Ach was Vater, ach was Heimat! (S. 56) [...] Fr. Lang. [...] Ja, Marie, leider Gottes, muß Du fort! Keinem g’schieht’s härter als wie mir; Dein’ selige Mutter war meine Lieblingsschwester g’wesen, ich hab’ mir viel ausg’standen mit Dir und mich schon so viel dran g’wöhnt. Doch was sein muß, muß sein. (S. 57 f.)

Maries ambivalentes Verhalten weist einerseits darauf hin, dass sie Angst hat, dass ihr Verehrer Urban von ihrer Schande erfährt; sie schämt sich und fühlt sich belastet von Schuldgefühlen. Andererseits will sie ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen und wählt einen neuen Anfang außerhalb der männlichen Dramenkonvention, wo die weiblichen Hauptfiguren ihr Schicksal mit Selbstzerstörung und Kindsmord beenden. Durch die Unterstützung von Frau Lang, die Marie gehen und sich frei entwickeln lässt, schafft es Marie, sich durch den Willen zur Veränderung und zur eigenen Ent- scheidung von der ihr zugeschriebenen Geschlechterrolle der Unterwerfung zu befreien. In dieser mütterlichen Ordnung findet sie wechselseitige Anerkennung und

114 lernt, sich als Frau wertzuschätzen; von hier aus kann sie aufbrechen, aber auch immer wieder zurückkehren. Mit Recht schreiben Dörte Fuchs und Andrea Günter:

„Den Ort der Mutter zu finden ermöglicht, das eigene Begehren wahrzunehmen und zum Ausdruck zu bringen, als Frau sein zu können und der Welt die Form der weiblichen Genealogie zu geben. Die Verwurzelung in der weiblichen Genealogie befreit die Frau nicht nur davon, als Objekt in der männlichen Genealogie zu zirkulieren und männlichen Festschreibungen unterworfen zu sein; die weibliche Genealogie kann der Ort werden, woher und wohin sich die Frau bewegt, indem sie denkt, spricht und handelt.“37

2.1.3 Das Wanken der väterlichen Ordnung im Kleinbürgertum

Nach dem traditionellen Vaterbild des bürgerlichen Trauerspiels verwaltet der kleinbürgerliche Hausvater sein Amt (die Familie) mit Stärke, Eifer und unnach- giebiger Strenge. Die Prinzipien der kleinbürgerlichen Standesethik Ehre, Tugend, Ordnung und Arbeit sind die Leitbegriffe der Väter, die mit eiserner Rigorosität diese Wertmaßstäbe und Verhaltensregeln durchsetzen wollen. Indem sie sich im Rahmen des festgeschriebenen Normensystems bewegen, haben sie einen Orientierungspunkt, an dem sich ihr Selbstwertgefühl ausrichten kann; so ist auch ihre soziale Aner- kennung garantiert. So kennen wir den Meister Anton im Drama „Maria Magda- lena“, dessen gesamte Existenz auf dem Ehrgriff aufgebaut ist. Jedoch gerät er zum Schluss des Dramas in Verzweiflung.38 „Tugend und Ordnung“ sind beim Metzger Humbrecht in „Die Kindermörderin“ die höchsten Wertvorstellungen, die aber am Ende des Dramas in Frage gestellt werden.39 Im Stück "D' Schand' " stellt Déry die im Wanken begriffene väterliche Autorität in der kleinbürgerlichen Familie Ott dar. In der väterlichen Ordnung herrscht eine Identitätskrise des Oberhaupts; der Moralkodex des Kleinbürgertums löst sich auf: der patriarchalische Hausvater weist Züge von Faulheit, Dummheit und Aggressivität auf. Satirisch beschreibt Déry

37 Fuchs, Dörte und Günter, Andrea: Charlotte Birch-Pfeiffer. „...denn die Liebe zu meiner vortreff- lichen Mutter war, wie die Quelle meines Lebens...“. In: Papierne Mädchen – Dichtende Mütter: Lesen in der weiblichen Genealogie. Hg. von Andrea Günter. Frankfurt/ Main 1994, S. 185f.. 38 Vgl. Pilz, Georg: Deutsche Kindesmordtragödien: Wagner, Goethe, Hebbel, Hauptmann. Mün- chen 1982, S. 77. 39 Vgl. Sörensen, Bengt Algot:, Herrschaft und Zärtlichkeit. Der Patriarchalismus und das Drama im 18. Jahrhundert. München 1984, S. 136.

115 diesen moralisch und finanziell heruntergekommenen Handwerker, der in einen lächerlichen und komischen Zustand geraten ist. Hier gibt es keinen Raum für das Bild des starken kleinbürgerlichen Vaters; stattdessen weist die Autorin auf die Schwächung der väterlichen Ordnung im Kleinbürgertum hin. Der Schlossermeister Ott tritt als jähzorniger, verschrobener Handwerker auf die Bühne. Die bedrohlichen Wutanfälle in seinem „Reich“, dem Laden, und seine Sau- ferei zerbrechen das Bild vom fleißigen und rechtschaffenen Handwerker. Frau Lang kritisiert sein Verhalten: „[...] Weil sein’ Tochter in Unehr’ g’raten is, wird er zum Trunkenbold. Wo der Herr Schlossermeister nur plötzlich die Prinzipien her hat?“ (S. 25) Vor seinen Freunden Denk und Heinzl, die Bauschlosser sind, redet er euphorisch über die Ehre und seine Bereitschaft zum Opfer für die Genossenschaft:

„ [...] Auf dera Hundewelt hat man ja eh’ nix als sein’ Ehr’, notabene, wenn man sie überhaupt noch hat. Laßt uns von unserer Ehr’ profitier’n! [...] Eurer Ehr’ is mein’ Ehr! Die G’nossenschaft is mein’ Familie, ihr Wohl mein’ schwerste Sorg’. Weib und Kind hab’ mir von jeher können g’stohl’n werd’n. Mein Ehrgeiz hat ein’ größeren Magen! Brennt mir mein Haus ab – [...] was interessiert mich mein Haus? Für d’ G’nossenschaft begeh’ ich ein Kriminal- verbrechen! Ja d’ G’nossenschaft – paßt gut auf, ich mach’ kein’ Spaß – sie, ja sie soll die Erbin sein von mein’ bissel sauer erworbenen Vermögen! (S. 8f.) [...] Euk sagt ’s Herz: Der Ott is ein Ehrenmann! Was macht Ös für Federlesens aus mein’ wengerl Verdiensten? Ös überhäuft mich mit Achtungsbeweisen! Was fallt Euk ein, mich so zu verehren? Bin ich denn wirklich ’s Muster von ein’ Bürger, ein so ein ausgezeichneter, großartiger Kerl, daß Ös mich im Triumph auf euker Schultern hebt?“ (S. 9f.)

Die prahlende Rede verrät, dass Ott in eine Identitätskrise geraten ist. Er hat von der Schande seiner Tochter erfahren und muss dauernd Angst haben, entlarvt zu werden. Je fester er an die sozialen Normen glaubt, desto größere Angst hat er, mit sozialem und moralischem Ruin konfrontiert zu werden. Um Selbstwertgefühl und soziale Anerkennung zu retten, braucht er eine höhere Instanz, die ihn schützen soll, die Genossenschaft. Seine Behauptung, ein Ehrenmann zu sein, folgt einem Abwehrme- chanismus, um nicht in der Orientierungslosigkeit zu landen. So schreit er Frau Lang an:

116 „[...] Tochter oder Ehr’? hat d’ Losung g’heißen. Der Mensch is ein Egoist, ich bin ein Ehrenmann g’blieben. (S.16) Mein’ Tochter wär’ mir egal, würd’ ich nur net ihr Vater sein! Und d’ Leut’ haben immer recht! Der Ruf is alles! Und wenn d’ Leut sagen, daß ich ein Ehrenmann bin, als dann bin ich ein Ehrenmann. Und wenn d’ Leut’ sagen, daß ich ein Schuft bin, als dann bin ich ein Schuft, dann freilich! Ehnder aber net! Die Leut’ sein mir Alles!“(S. 21f.)

Diese auf das Urteil anderer fixierte Ehrauffassung treibt Ott zu zwanghaftem Verhalten; er verdächtigt jeden Junggesellen, Verführer seiner Tochter zu sein. Schließlich bricht seine Aggressivität unverhohlen hervor. Er ohrfeigt den Arzt, der Marie untersucht und von der Schande erfährt (S. 19). Vor der Kirche bei der Hoch- zeit von Familie Huttar streitet Ott ohne Grund mit einem Herrn, der nach seiner Tochter fragt (S. 45f.). Von der Anständigkeit eines ehrenwerten Handwerkers ist Ott weit entfernt. Diese Spaltung des kleinbürgerlichen Moralverhaltens spitzt sich zu im Dialog von Otts Freunden Denk und Heinzl:

„Heinzl (zu Denk). Weißt, wie kommt eigentlich der Ott zu der fixen Idee, ein Ehrenmann zu sein? Denk (zu Heinzl). Ich weiß net, er is ja ein ehrlicher Kerl, nur möcht’ ich sein’ Schulden net hab’n. Heinzl. Weißt, ’s is wahr, daß er ein ehrlicher Kerl is, aber daß er sein Weib zu Tod geprügelt hat, is auch wahr. Denk. Ich weiß net, aber das passirt dem ehrlichsten Kerl, nur so stinkfaul braucht er net zu sein. Heinzl. Weißt, er is halt ein Saufbold. Denk. Ich weiß net, aber ein Raufbold is er noch mehr. Heinzl. Weißt, dabei is er doch ein ganzer Kerl, und das is eben d’ Kunst! (S. 40f)

Im Grunde steht der Schlossermeister Ott kurz vor dem wirtschaftlichen Abstieg; sein ökonomischer und sozialer Ehrgeiz, der ihn als Hausvater dazugebracht hat, die Tugend seiner Tochter zum Spekulationsobjekt für den sozialen Aufstieg zu machen, wird durch die Verführung zunichte. Frau Lang wirft ihm vor, dass er mitschuldig an der Schande seiner Tochter sei: „Wenn S’ nur net gar so hoch hinauswolleten!“ (S. 19) Sein unterwürfiges Verhalten gegenüber dem erfolgreichen Kunstschlosser Urban und Louis, dem Sohn eines neureichen Unternehmers, spiegelt sein wirtschaftliches

117 und soziales Minderwertigkeitsgefühl. (S. 10-16, 7f., 76f.) Die Widersprüche zwischen Faulheit und Arbeitsethik, Moralkodex des Kleinbürgers und negativ bewerteten Eigenschaften, Misshandlung in der Ehe, Alkoholsucht und Brutalität deuten auf den moralischen und sozialen Niedergang des Kleinbürgers. Mit satirischer Schärfe arbeitet Déry das Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit des Kleinbürgers heraus, indem sie ihn zur komischen Figur macht. Ohne zu wissen, dass Louis der Verführer seiner Tochter ist, hält der alte überspannte Schlossermeister prahlend eine Rede im Haus des neureichen Unternehmers Huttar, und zwar vor dem Verführer Louis und allen Kollegen:

„Ott von rechts, geht schnurstracks auf den alten Huttar zu, feierlich. Geehrter Herr Bauunternehmer! Unser Stolz! Unser Schutz! Sie sein net bloß ein Mann aus dem Volk, sondern auch ein Mann des Volks, und das Volk kann ruhig schlafen – Urban sich in die Hände klatschend. Bravo, Alter, bravo! Ott immer selbstbewusster. Das Volk und sein’ Ehr’ und die Ehr’ und das Volk – Und der Volksehr’ ihr Hüter, und die Ehr’, die Ehr’ – Urban. Alter Schafskopf! Dem Sohn halt’ ein’ Red’. Dein’ Tochter hat ein Kind von ihm! Ott. Fallot! Jetzt bin ich entlarvt! (S. 75f.)

Die Diskrepanz zwischen seinem Ideal als Handwerker, das in seiner Ehre als höchster Wertvorstellung besteht, und seiner realen, durch den Skandal bedrohten Existenz, bringt den Zuschauer unwillkürlich zum Schmunzeln und Lachen. Als „ehrlicher“ Handwerker predigt Ott schwärmerisch die Ehre vor dem Verführer seiner Tochter, der seinen Ruf als „Ehrenmann“ bedroht und sein kleinbürgerliches Glück gefährdet. Die unerwartete Entlarvung durch Urban steigert die komische Spannung für den Zuschauer. Im bitteren Gelächter wird das Orientierungsmuster des kleinbürgerlichen Normensystems in Frage gestellt. Damit wird die Autorität der väterlichen Ordnung des Kleinbürgertums demontiert und gerät ins Wanken.

118 2.1.4 Das widersprüchliche Bild der Kleinbürgerin Marie Der Weg vom Ausbruch zur Rückkehr in die Unterwerfung

Bisher haben wir den Versuch der Autorin, durch die Darstellung der Beziehung zwischen Marie und ihrer Tante symbolisch das Mutter-Tochter-Verhältnis aufzu- werten, analysiert. Damit einher geht die ins Wanken geratene väterliche Ordnung in der kleinbürgerlichen Familie. Im folgenden werde ich zeigen, dass es im Stück zu einem Bruch der Konzeption kommt. Déry eröffnet im Verlauf der Handlung zwar Möglichkeiten des Aufbruchs (besonders im Verhältnis zwischen Marie und Louis), geht aber nicht soweit, ihre Figur den Weg der Emanzipation ernsthaft und kon- sequent gehen zu lassen. Zum Schluss des Stücks muss Marie sich wieder einem Mann (Urban) unterwerfen, der als ihr Erlöser erscheint, um wieder in die Gesellschaft aufgenommen zu werden.

2.1.4.1 Selbstbestimmung statt Selbstzerstörung – Das Verhältnis zwischen Marie und Louis

Wie im traditionellen Muster des bürgerlichen Trauerspiels stellt die Autorin Déry am Anfang des Dramas das Verhältnis zwischen Louis und Marie als asymmetrische Konstellation dar; es herrscht eine Dynamik zwischen Herrschaft und Unterwerfung: Der Mann übernimmt die dominante Rolle und die Frau unterwirft sich der männlichen Autorität. In dieser Herr-Knecht-Beziehung betrachtet sich der Mann, ganz wie Simone de Beauvoir es beschreibt, als herrschendes Subjekt; der Frau wird der Status der „Anderen“ zugewiesen.40 Beauvoir geht davon aus, „daß der Mensch nichts als ‚Eines’ bestimmen kann, ohne ihm ein ‚Anderes’ entgegenzusetzen; daß Bedeutungszuschreibungen nur mittels binärer, hierarchischer Gegensätze erfolgen können.“41 Die Zuschreibung der Frau als „Andere“ dient Beauvoir zufolge in der patriarchalischen Gesellschaft dazu, das Herrschaftsverhältnis zu legitimieren: Kindlichkeit, physische oder moralische Minderwertigkeit gehören zur Charakteri- sierung der Unterdrückten und so auch der Frauen. 42 Diese von den Männern fremdbestimmte Weiblichkeit und der Status der „Anderen“ und Unterdrückten sind

40 Lindhoff, Lena: Einführung in die feministische Literaturtheorie. Stuttgart 1995, S. 2f.. 41 Ebd., S. 2. 42 Ebd., S. 4.

119 für Beauvoir soziale Konstruktionen: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“.43

Im Drama „D’ Schand’“ betrachtet Louis Huttar Marie, die verführte Unschuld, als Objekt seines Begehrens. Er ist unfähig, Marie als selbständiges Individuum wahr- zunehmen. Marie gilt ihm als Gestalt der Anderen, als das Unwesentliche, als Objekt: „Das Bild der Anderen, wie es im westlichen Denken vorherrscht, ist nicht das Bild einer lebendigen, realen Person, sondern das eines kognitiv wahrgenomme- nen Objekts.“44 Marie fungiert für ihn nur als Geliebte, mit der er seine sexuelle Gier ausleben kann. Aus einer dominanten Position heraus äußert er seinen Plan und Wunsch, den Skandal zu verheimlichen:

„Wir sind ja keine Kinder mehr, sondern erwachsene, reifdenkende Menschen und müssen das Leben nehmen, wie es nun einmal ist. Jawohl, ich komm’ mit einem Plan. Ja, ja, ich hab’ mit Dir was vor! Und Du wirst vernünftig sein. (S. 31) [...] Und wenn Du mir jetzt hübsch folgst – Ja, Marie, Alles, Alles wird wieder gut! (S. 32) [...] Nur mußt Du fort von hier! Unbedingt! Und sobald als möglich! Das bist Du mir schuldig! Und das ist das Beste für Dich! (S. 33) [...] „Aber hab’ Mitleid mit mir! Zieh’ von hier fort, ich verlange ja nur das eine! Ja, folg’ meinem Rat,“ (S. 36)

Der selbstsüchtige Louis versucht, Marie zu verdrängen, und weigert sich, seine Verantwortung als Vater zu übernehmen. Immer wieder beharrt er auf seiner Macht- position gegenüber Marie: Sie soll seinem Vorschlag folgen, er entscheidet, wie ihr Schicksal weitergeht. Er versetzt sich nicht in Maries Lage, die als Frau mit unehe- lichem Kind Schwierigkeiten in der Gesellschaft hat. Außerdem will Louis Marie auf Grund des Klassenunterschieds nicht heiraten: „Ich muß ja auf meine Schwester Rücksicht nehmen. [...] Ich kann doch meine Geliebte nicht heiraten. [...] Nie und nimmer! Sie [Marie] ist nun einmal keine Frau für mich. (S. 35) [...] Nein, ich kann meiner Schwester keine solche Schwägerin geben! (S. 78)“ Als Sohn eines Handwerkers, der durch Lottogewinn Millionär geworden ist, also als Sohn eines Neureichen, muss Louis auf seine Klasse achten. Marie zu heiraten, würde sein

43 Beauvoir, Simone de: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Hamburg 1968, S. 265. 44 Benjamin, Jessica: Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht. Frankfurt/ Main 1996, S. 78.

120 soziales Prestige im Großbürgertum gefährden. Für ihn, wie für die Adligen, ist Marie nur Mätresse, Liebesobjekt und Beherrschte. Die Kleinbürgerin Marie wird anfangs einem stereotypisierten weiblichen Ver- haltensmusters entsprechend dargestellt. Sie verhält sich emotional, angstvoll und voll Scham angesichts ihres „Fehltritts“ im Rahmen der väterlichen Ordnung: Die Scham der Frau wegen ihres außerehelichen Kindes wird in den Vordergrund gestellt. Sie wird für ihre Sexualität bestraft; ihre Rolle als Mutter, als Reproduzierende ist nur im Rahmen der patriarchalischen Familie geschützt. Dort kann sie kontrolliert werden. Aus Schuldgefühl gerät Marie in eine schwierige Situation: acht Monate lang hat sie sich in der Wohnung bei ihrer Tante eingesperrt. (S. 25) Sie ist sozial isoliert und verleugnet sich selbst. Ihr Vorhaben, sich durch Heirat mit dem wohlhabenden Louis aus der Beschränkung des kleinbürgerlichen Milieus zu befreien und in der gesellschaftlichen Hierarchie ins Großbürgertum aufzusteigen, muss scheitern. Denn Louis akzeptiert sie nur als Geliebte. Louis’ Weigerung, Marie zu heiraten, bedeutet für Marie moralischen und sozialen Ruin:

„Dies Kind is mein und Dein. Was soll ich ihm sagen? Was soll ich den Leuten sagen? Ich kann in Schand’ nit leben. Ich hab’ nit d’ Natur dazu. Seit acht Monaten war ich nit vor der Thür’. Wie trauet ich mich unter d’Leut’? Ich kann Dir nit helfen, ich bin nun einmal so. Und mein Vater will nix von mir wissen! Er kommt nit, verstößt mich für immer und schämt sich d’Augen aus’m Kopf! (S. 33) [...] Dein’ Lieb’ hat mich zu Grund’ gericht’, Dein’ Ehrenhaftigkeit soll mich retten! Bist ja ein lediger Mann! Daß Du ledig bist, vergrößert noch mein’ Schand’! Und wenn’s wer erfahret – Mariand Josef! (S. 34)“

Die Scham über ihre sexuelle Hingabe und Begierde sowie der Stolz des Mannes grenzen Marie wie schicksalhaft aus; sie treiben sie fast zum Selbstmord und zum Kindsmord als Verzweiflungstat:

Marie zu Frau Lang. „Ich hab’ ja in d’Donau springen woll’n, Gott is mein Zeuge! Wenn wer’s erfahret, hab’ ich mir ’denkt, drum in den Tod! In den Tod! Aber da hab’ ich pfeifen g’hört, die Dampftramway is heran’braust kommen, und der Kondukteur hat g’schrien: Weiter oben is d’ Haltstell’! Schnell! Tummeln S’ Ihnen! Und vor laute Schreck’ bin ich wieder z’rückg’fahr’n in d’ Stadt. (S. 27)

121 [...] Marie zu Louis. „Gib mir mein’ Ehr’ wieder, für Dein’ Lieb’ dank’ ich! Gib mir mein’ Ehr’ wieder, und ich brau’ nix weiter mehr auf dera Welt. Die Lieb’ is aus, das Glück vorbei, ich will wieder g’achtet sein! [...] Aber wannst D’ nit gleich schwörst, daß Du mich heiraten thust, alsdann hat Dein Kind ausg’lebt! [...] Ich will kein Kind von Dir, hab’ grad’ g’nug g’habt von diesem großartigen Vergnügen! Frisch und d’ Schand’ aus der Welt g’schaft! Fahr’ zur Höll’, Engerl! Ich will wieder rein und makellos dasteh’n – stirb!“ (S. 35f.)

Wenn man diese Handlung sieht, glaubt man fast, dass die Autorin Déry die Klischees der männlichen Tradition des bürgerlichen Trauerspiels kopiert und die gleichen Konfliktlösungen anbietet: Selbstzerstörung der Hauptfigur und Kindsmord. Der bürgerliche Tugendkanon scheint unangetastet. Doch im Gegensatz zum männ- lichen Muster weist Déry auf eine neue Möglichkeit für die Lösung des weiblichen Dilemmas hin: Marie ist zwar sozial isoliert, doch sie bekommt emotionale Unter- stützung von ihrer Tante; und sie ist ökonomisch selbständig, sie näht für ein Geschäft. In der symbolischen mütterlichen Ordnung, auf die ich in meiner letzten These ausführlich eingegangen bin, kann Marie sich über ihre Konflikte, mit denen sie sich als Frau mit einem unehelichen Kind konfrontiert sieht, aussprechen. Sie kann über ihr eigenes Schicksal reflektieren und darüber nachsinnen, wie sie handeln sollte, und somit auch bewusst Entscheidungen treffen. In der Szene vor der Kirche bei der Hochzeit von Louis’ Schwester drückt Marie ihren festen Willen aus, Rechenschaft abzulegen, um ihre Ehre und ihr Kind zu retten:

„Marie. [...] Die Welt wird heut’ noch was erleb’n! Ja, der Mensch muß sich z’ helfen wissen. Ich hab’ ja g’wiß zu Grund geh’n woll’n, aber es fallt mir nit ein. Es macht mir kein’ Spaß. Denken S’ Ihnen, es hätt’ Ihnen wer in’s Fegfeuer g’stoßen und könnt’ Ihnen erlösen, thut’s aber nit! Wären S’ da auch nit außer Rand und Band? Noch dazu, wenn es sich nit um Ihnen allein handelt, sondern um Ihner Teuerstes auf der Welt! (S. 39) [...] (Sie [Marie; Anm. S.Sh.] drängt sich vor Hermine [die Braut, Schwester von Louis; Anm. S. Sh.], mit aufgehobenen Händen. Fräulein! Hermine bleibt verdutzt steh’n.) Sie sein sein’ Schwester, sein’ Freud’ und sein Stolz! Sie sein jung wie ich und glücklich wie ich’s g’wesen – Sie, ja sie sollen d’ Schiedsrichterin sein zwischen mir und ihm. [...] Ich fürcht’ mich nit! Ich schäm’ mich nit! Ich

122 schrei’s heraus, meinen armen Vater von der Schand’ zu erlösen und weil ich nit zu Grund geh’n will!“ (S. 47)

Mit der Figur Marie zeigt Déry zwar die Probleme der Frauenrealität; aber sie lässt Marie nicht als wahnsinnige Kindsmörderin und sprachloses Opfer zu Grunde gehen, sondern Selbständigkeit entwickeln. Sie befreit sich aus ihrer Passivität; sie handelt selbstbewusst. Nach dem Tod ihrer schwerkranken Tochter lehnt Marie den Heirats- antrag von Louis ab, der von seinem besten und betrogenen Freund Urban zu diesem Schritt gezwungen wird. Marie spricht nun als Subjekt: (Marie zu Louis): „Glaubst, ich könnt’ Dich heiraten jetzt, wo ich ein Jahr lang über Dich nachg’dacht hab’?“ (S. 84) Jetzt will sie ihre eigene Herrin sein; und sie entscheidet sich für ihre Zukunft. Louis bittet Marie aus Angst vor seinem Freund Urban: „Muß ich Dich noch bitten und bereden? Marie, es hilft nicht weder Dir noch mir, wir müssen ein Paar werden noch in dieser Stunde. Er will’s!“(S. 84) Marie antwortet ihm: „Wer hat da zu wollen, wenn ich nicht will?“ (S. 84) Marie beansprucht autonome Subjektivität; damit entgeht sie den Fesseln der Liebe zu Louis und der Abhängigkeit von ihm.

2.1.4.2 Unterwerfung statt Ausbruch - Das Verhältnis zwischen Marie und Urban

Von Urban wird Marie als idealisierte Gestalt imaginiert: Madonna, Engel und Heilige. Sie dient wieder als „Andere“, als vom Mann entworfener Mythos. Vor der Kirche trifft Urban unerwartet auf Marie, die seit Monaten verschwunden ist. In seiner Freude verehrt er Marie wie die Heilige Maria:

„D’ Fräul’n Marie is wieder da! D’ Fräul’n Marie! Das is ja großartig! Aber ich denk’ mir noch, das Madonneng’sichtl da is doch net d’ heilige Muttergottes, sondern d’ Fräul’n Marie in eigener Person! (S. 48) [...] So viel fesch und lustig war’n S’ alleweil, doch hab’ ich mir immer denkt: Sie is ein’ Heilige. Sie scheinen net mehr d’ Alte, nein! Sie seh’n net gut aus, Fräul’n Marie, und als ob S’ was durchg’macht hätten, seh’n S’, aber mir kommen S’ erst recht schön und erst recht als wie ein’ Heilige vor! (S. 49) [...] Und hab’ ich Ihnen als ein’ Engel verehrt, so müssen S’ auch ein Engel sein und bleib’n bis in aller Ewigkeit! (S. 50) [...] Man kommt sich ja neben Ihnen rein wie ein Unwürdiger

123 vor! Wenn S’ nur net gar so vollkommen wär’n! Ach ja, es is ein Unglück, ein höheres Wesen zu lieben!“ (S. 52)

Rohde-Dachser versteht solche Weiblichkeitskonstruktionen – sowohl in der Verherrlichung des ‚Ewigweiblichen’ als auch in der Entwertung zur Verderberin – als Abwehrmechanismus von Seiten des männlichen Subjekts, als Versuch, einen Ausgleich herzustellen zwischen Wunschdenken und Angst: „Das ‚Weibliche’ [...] besitzt dabei eine Art Containerfunktion, [...]: In einem imaginären, als weiblich deklarierten und damit gleichzeitig scharf von der Welt des Mannes geschiedenen Raum deponiert der Mann seine Ängste, Wünsche, Sehnsüchte und Begierden – sein Nichtgelebtes, könnte man auch sagen, um es auf diese Weise erhalten und immer wieder aufsuchen zu können.“45 Dem ‚Ewigweiblichen’ wird das aus der männlichen Selbstdefinition Ausgegrenzte zugewiesen: „Diese Erhöhung aber ist für das weibliche Selbstbewusstsein fatal. In ihrem Allgemeinheitsanspruch etabliert und zementiert sie das Weibliche als das ‚Andere Geschlecht’“. 46 Die Verklärung des Weiblichen hindert Urban bis kurz vor Ende des Stückes daran, Marie als eigenständiges Subjekt anzuerkennen; Marie wird instrumentalisiert als Symbolfigur für Reinheit, Mütterlichkeit, Trost und Erlösung. Da diese Liebe ideali- siert und narzisstisch ist, kippt sie schnell um, wenn es zur großen Enttäuschung kommt. Als Urban von Maries Schande erfährt, verliert er jede Achtung vor ihr: „Ich hab’ ’glaubt, ein’ Heilige zu lieben, derweil war’s ein’ so Eine! (S. 65) [...] Ich will den Leuten zeig’n, was ein’ Heil’ge is! (Am Fenster). Halt, Leut’! Still ge’standen! Reißt Augen und Ohren auf! Seht her, da steht ein Engel, ein’ Heilige, die mir hätt’ in den Himmel helfen soll’n, der ich treu g’wesen bin wie ein Bräutigam seiner Braut!“ (S. 66)

Maries Beziehung zu Urban wird als ambivalent dargestellt. Auf der einen Seite verhält sie sich distanziert ihm gegenüber; sie nennt ihn immer "Herrn von Urban" und zweifelt an seiner Liebe zu ihr, die leidenschaftlich und zugleich zurückgezogen erscheint; sie äußert ihre Verwirrung gegenüber ihrer Tante: „Sagen S’ alsdann, ja

45 Rohde-Dachser, Christa: Expedition in den dunklen Kontinent. Weiblichkeit im Diskurs der Psychoanalyse. Berlin 2 1992, S. 100. 46 Goetzinger, Germaine: Männerphantasie und Frauenwirklichkeit. Kindermörderinnen in der Lite- ratur des Sturm und Drang. In: Frauen, Literatur, Politik; Dokumentation der Tagung in Hamburg im Mai 1986. Hg. von Annegret Pelz. Hamburg 1988, S. 274.

124 schau’n S’, wenn d’ Herr von Urban kommen is, um zu plauschen oder sein’ Freund, sein’ Freund bis in’ Himmel zu lob’n, und nachher ’gangen is, ’gangen wie ge- kommen – heißt denn das lieben?“ (S. 27) Auf der anderen Seite lässt die Autorin ihre Protagonistin leidenschaftlich ihr Begehren Urbans, als ihres Geliebten, zum Ausdruck bringen: „Tante Resi, wenn S’ ihn kennen würden! Was is Ihnen das für ein Mann! So viel herzig, so viel süß! Fast wär’ ich vor ihm niedergekniet.“ (S. 58) Die Hoffnung auf Vereinigung mit Urban wird jedoch wegen des Schuldgefühls ob ihrer Schande überschattet. Beim überraschenden Treffen vor der Kirche erscheint Marie unterwürfig und unterlegen gegenüber Urban und betrachtet ihn als „der Sauberste“ (S. 49). Je mehr Urban sie als unschuldigen „Engel“ verehrt, desto mehr steigt ihre Furcht, seine ideale Vorstellung von ihr könne zerstört werden. Aus Scham und Angst verlässt sie ihn eilig vor der Kirche. Was Urban für Vollkommenheit hält, wird zerstört; nachdem er erfährt, dass sein bester Freund Louis seine Braut verführt hat, fühlt er sich gekränkt und will sich nur noch rächen. Ein Duell zwischen Urban und Louis gibt es in der weiteren Handlung jedoch nicht, statt dessen zwingt Urban Louis, Marie zu heiraten. Doch Marie lehnt dieses Angebot ab und wünscht sich aus tiefer Trauer um ihr Kind den Tod: "Marie. Ehr'! Mein' Schand' is hin! Mein Schand' will ich wieder! - O mein Linerl, morgen tragen s' Dich hinaus! Ich weiß, was ich thu'! Ich spring' Dir nach und laß mich mit Dir begrab'n!" (S. 87) Hier greift die Autorin die Tradition des bürgerlichen Trauer- spiels auf: Die Kleinbürgerin empfindet Schuldgefühle und ist bereit, mit ihrem Tod die Strafe auf sich zu nehmen, die von der Gesellschaft festgelegt ist. Zum Schluss des Stücks erkennt sie sich als Sünderin und hofft, dass Urban, der sich inzwischen als mitleidig und empathisch gezeigt hat, sie erlöst. Von einer handelnden Frau verwandelt Marie sich am Ende wieder in eine traditionelle Frau, die sich dem Mann unterordnet:

„Urban ergriffen. So tief unglücklich sein S’ nacher? [...] mit sich kämpfend. Als dann heiraten S’ ihn net von mir aus! Thun S’, was wollen! Was geht’s mich an? Ich hab’ eh’ g’nug zu trag. – Weinen S’ net, Fräul’n Marie! Wenn ich Ihnen so weinen seh’, meiner Seel’, als dann is mir grad’, als wär’ ich selber der Schuldige. Weinen S’ net, sag’ ich Ihnen! Sie sein ja noch so viel jung und schlechter sind S’ am End’ auch net worden. Schluchzend. Mir g’schieht ja so viel hart um Ihnen!

125 Marie. Erhebt sich, strahlenden Auges. Alsdann verzeihen S’ mir? Urban. Ich hab’ Sie halt gern! Marie. Is wahr? Sie verzeihen mir? Lieben mich noch? - - O, das Leben geben S’ mir wieder – die Hoffnung auf ein neues Leben - -! Urban. Ein neues Leben wär’ schon gut! (S. 88) Marie. Aber kann von Liebe und Hoffnung die Red' sein in diesem Moment? Wie ein Heiland stehen S' vor mir da, Herr von Urban, wie ein Heiland, der mich von der Sünd' erlöst. O mein Heiland, o Herr von Urban! können S' auch Wunder thun? So erhören S' mein' Herz' sein einziges Flehen - Sinkt ihm zu Füßen. Urban erschüttert. Marie! Marie! Marie. - und machen S' mein totes Lintschel wieder lebendig! Urban sie aufhebend. Meine arme Marie!" (S. 88)

Der Schluss des Dramas macht deutlich, dass die Autorin es vorgezogen hat, die traditionellen Rollen positiv darzustellen. Sie stellt eine Gemeinschaft her zwischen Mann und Frau und bleibt nicht bei ihrem anfänglichen neuen Versuch, der Aus- bruchsphantasie, die Figuren sich selbst entwickeln zu lassen. Stattdessen bietet sie eine Versöhnung von "Sünderin" und Gesellschaft an. Diese wird jedoch nicht als gleichberechtigte Beziehung, sondern als Unterwerfung inszeniert. Allerdings setzt Maries Rückkehr in die bürgerliche Gesellschaft ein Hinterfragen von deren moralischen Normen bei Urban voraus. Er steht zu seiner Liebe zu ihr trotz ihrer „Schande“. Indem die Autorin so ein Happy-End für die „Sünderin“ inszeniert, stellt sie den bürgerlichen Moralkodex in Frage. Die Utopie, die das Drama entwirft, beschränkt sich jedoch auf eine Wiederaufnahme der Frau in die Gesellschaft, entwickelt aber keine eigenständige weibliche Perspektive. Die Inszenierung des Happy-Ends als Unterwerfung, weist einerseits darauf hin, dass auch Déry im sozialem Normsystem gefangen blieb, kann aber andererseits auch als Zugeständnis an das zeitgenössische (Lese-)Publikum verstanden werden.47

Die vorangegangene Analyse führt zu folgendem Ergebnis: In der Darstellung der Kleinbürger wendet die Autorin Déry zwar zum Teil das bestehende männliche

47 Das Stück ist bisher jedoch noch nicht aufgeführt worden. (Vgl. Giesing, Michaela: Theater als verweigerter Raum. Dramatikerinnen der Jahrhundertwende in deutschsprachigen Ländern. In: Frauen-Literatur-Geschichte: Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. von Hiltrud Gnüg und Renate Möhrmann. Stuttgart 1985, S. 258f..

126 Muster des bürgerlichen Trauerspiels an, bricht aber mit „schielendem Blick“48 diese Tradition und entwickelt zumindest am Anfang eine neue Identität und Existenzmög- lichkeit der Frau. In der symbolischen Mutterordnung wird die Beziehung zwischen Mutter und Tochter aufgewertet. Die traditionelle väterliche Autorität im Klein- bürgertum wird durch ihre Zwiespältigkeit abgeschwächt. Die Darstellung der Kleinbürgerin dient der Autorin dazu, ihre Ausbruchsphantasie zum Ausdruck zu bringen. Dieser neue Versuch bleibt jedoch nicht konstant. Zum Schluss des Stücks lässt sie die Kleinbürgerin wieder im alten Klischee erscheinen: ihre Selbstmord- phantasie und ihr Erlösungswunsch führen zu Selbstverleugnung und Unterwerfung unter den Mann. Die bürgerliche Moralvorstellung der Jungfräulichkeit als eines wesentlichen weiblichen Attributs wird jedoch durch die Versöhnung von Marie und Urban in Frage gestellt und eine tolerantere Perspektive entworfen.

48 Für Sigrid Weigel bedeutet der schielende Blick: “die Widersprüche zum Sprechen bringen, sie sehen, begreifen und in ihnen, mit ihnen leben – und Kraft schöpfen aus der Rebellion gegen das Gestern und aus der Antizipation des Morgen.” Siehe Weigel, Sigrid: Der schielende Blick. Thesen zur Geschichte weiblicher Schreibpraxis. In: Die verborgene Frau, 1988, S. 83-137, hier S. 105.

127 2.2. „Die Meisterin“1 von Johanna Wolff

Die Diskussion über Mütterlichkeit galt einem der wichtigsten Themen der bürger- lichen Frauenbewegung um die Jahrhundertwende. Es entstanden zur selben Zeit mehrere Konzeptionen von Mütterlichkeit, die oft widersprüchlich zueinander wa- ren.2 Einer der Diskurse verherrlichte die traditionelle Mütterlichkeitsideologie, die davon ausging, dass Mutterliebe angeboren sei; die Frauen sollten sich für die Familie aufopfern. Ellen Key und Laura Marholm waren wichtige Vertreterinnen dieser Position.3 Die Thesen von Ellen Key und Laura Marholm wurden wegen ihrer stereotypen Einschränkung der Frauen und ihres Ausklammerns weiblicher Berufs- tätigkeit jedoch auch scharf angegriffen.4 Der gemäßigte Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung forderte, dass Frauen die Werte von Mütterlichkeit nicht nur in den ihnen zugeschriebenen Raum der Familie tragen, sondern in die männliche Öffent- lichkeit hinein ausdehnen. Gemeint war, dass Frauen in bestimmten Arbeitsberei- chen ihre Tätigkeit als Mutter einbringen, z.B. in den neuen Berufen der Wohl- fahrtspflegerin oder der Sozialarbeiterin. Dieser Teil der Frauenbewegung vertrat die Politik, die Welt zu „vermütterlichen“. Helene Lange war Vertreterin dieser Position des gemäßigten Flügels.5 Ulrike Prokop versteht diese Erhöhung der „natürlichen Mütterlichkeit“ durch die gemäßigten Frauen als Unterdrückung eigener Sinnlichkeit

1 Die Geschichte handelt von der kleinbürgerlichen Familie Winkler. Frau Winkler hat nach dem Tod ihres Mannes das Uhrmachergeschäft seit vielen Jahren ehrlich geführt. Ihr Sohn, ebenfalls Uhrmacher, hat die Tochter eines alkoholsüchtigen Musikanten geheiratet. Diese betrügt ihren Mann mit dem Gesellen und kümmert sich weder um den Laden noch um ihre Kinder; sie nimmt für sich, ihren Vater und ihren Geliebten Geld aus der Kasse. Nach und nach kommen der Laden und der Sohn – vor allem in den Augen der ihren Normen verpflichteten Mutter - immer mehr herunter. Da der Sohn blind vor Liebe für seine Frau ist, arrangiert sich die Mutter mit dieser unhaltbaren Situation, um den guten Ruf der Familie nicht noch mehr zu gefährden. Nachdem die Schwiegertochter im Kindbett gestorben ist, muss die Meisterin, Frau Winkler, einsehen, dass Arbeit und Moral allein nicht glücklich machen. (Siehe Wolff, Johanna: „Die Meisterin. Schauspiel in vier Akten“. Berlin 2 1912.) 2 Annette Kliewer hat in ihrer Dissertation die verschiedenen Diskurse über Mütterlichkeit in der bürgerlichen Frauenbewegung ausführlich herausgearbeitet. (Vgl. Kliewer, Annette: Geistesfrucht und Leibesfrucht. Mütterlichkeit und „weibliches Schreiben“ im Kontext der ersten bürgerlichen Frauenbewegung. Pfaffenweiler 1993, S. 19-59.) 3 Vgl. ebd., S. 22-24. 4 Ria Claaßen kritisierte heftig Laura Marholms Konzept in der Zeitschrift “Die neue Zeit”: Mar- holm sei “auf Grund der sonst nur männlicherseits so plump mißdeuteten Selbsthingabe in der Art der weiblichen Liebe, gerade auf ungezählten Seiten zu beweisen bemüht gewesen […] , daß die Eigenart der Frau darin bestehe, keine zu haben.” (Claassen, Ria: Nochmals mißbrauchte Frauen- kraft. In: Die neue Zeit 16 (1897/8), S. 598. Anna Schapire kommentiert das Buch von Ellen Key als “alte Philistermoral mit neumodischem Anstrich”. (Schapire, Anna: Mißbrauchte Frauenkraft. In: Die neue Zeit 16 (1897/8), S. 535). 5 Vgl. Kliewer, 1993, S. 26-31.

128 und Autonomie: „Das Heilmittel gegen die Wünsche ist für die bürgerlichen Frauen die entschlossene Fixierung auf die normativen Regeln, die als ‚Rationalität’ auftritt. Die Lösung heißt Verzicht, Opfer.“6 Eine der radikalen Gegnerinnen des gemäßigten Flügels war Helene Stöcker. Sie reduzierte Mütterlichkeit auf reale Mutterschaft und griff die Moralisierung von Mütterlichkeit an.7 Mütterlichkeit war für Stöcker keine angeborene Besonderheit der Frau, sondern individuelles Erlebnis einer einzelnen Frau. Sie wies aufopferndes Verhalten als Wesensmerkmal des weiblichen Charak- ters zurück.8 Hedwig Dohm, eine Vertreterin der radikalen Richtung in der bür- gerlichen Frauenbewegung, kritisierte die Verherrlichung von Mütterlichkeit eben- falls heftig.9 Für sie war der Instinkt „Mutterliebe“ ein männliches Konstrukt: „Nicht der Naturinstinkt scheint mir der Grundpfeiler der menschlichen Mutterliebe, eher ist es das Schaffen und Wirken an dem Kinde.“ 10 In ihrem Aufsatz „Die neue Mutter“ stellte sie eine neue Konzeption von Mutterschaft vor, die der Kameradschaft ähneln sollte. Sie attackierte die Mütter, die versuchten, sich durch ihre Kinder selbst zu verwirklichen:

„Ein Grundirrtum der Eltern ist, daß sie ihre Kinder als ihr Eigentum, ihr Leib- und Seeleneigentum betrachten, von dem und an dem zu zehren ihr Recht ist. Jede herrschsüchtige, vorurtheilvolle, beschränkte Mutter kann ihren Kindern – trotz aller Mutterliebe – Steine auf den Lebensweg werfen. Und je willenstärker, prinzipienfester diese Frau ist, um so verhängnißvoller wird ihr Eingreifen in das Leben ihrer Kinder – trotz aller Mutterliebe – sich erweisen.“11

Kliewer hat in ihrer Dissertation herausgearbeitet, wie diese Diskurse der Frauenbe- wegung die literarischen Texte der Frauen um die Jahrhundertwende beeinflussten. Sie geht davon aus, dass die Autorinnen sich mehr oder weniger auf die Frauenbe-

6 Prokop, Ulrike: Die Sehnsucht nach der Volkseinheit. Zum Konservatismus der bürgerlichen Frau- enbewegung vor 1933. In: Die Überwindung der Sprachlosigkeit. Texte aus der neuen Frauenbe- wegung. Hg. von Gabriele Dietze. Darmstadt 2 1979, S. 197. 7 Kliewer, 1993, S. 33. 8 Vgl. Stöcker, Helene: Mutterschaft und geistige Arbeit (Originaltitel: „Jugend“ 1902). In: Dies.: Die Liebe und die Frauen. Minden in Westf. 1906, S. 84-88. 9 Vgl., ebd., S. 37. 10 Dohm, Hedwig: Die Mutter und die Babies. In: Dies.: Die Mütter. Beitrag zur Erziehungsfrage. Berlin 1903, S. 5. 11 Dohm, Hedwig: Die neue Mutter. In : Die Zukunft 31 (1900), S. 515.

129 wegung bezogen, wenn sie sich mit den Motiven Mütterlichkeit, Mutterbild oder Mutter-Kind-Beziehung in ihren Werken auseinander setzten.12 Auch Johanna Wolff beschäftigt sich in ihrem Drama „Die Meisterin“ mit der Pro- blematik der Mutter-Kind-Beziehung, der Mutter-Tochter-, aber auch der Mutter- Sohn-Beziehung. Mein Erkenntnisinteresse richtet sich auf die Frage, wie die Auto- rin den Konflikt um die Mutter-Kind-Dyade darstellt, ob sie die traditionelle Kon- zeption von Mütterlichkeit in der kleinbürgerlichen Familie literarisch zum Ausdruck bringt oder ob sie ein neues, ein freundschaftliches Verhältnis zwischen Mutter und Kind bereitstellt.

2.2.1. Die patriarchalische Mutter und die rebellische Tochter

In der damaligen Auseinandersetzung mit der konventionellen Mutterideologie griffen die radikalen Vertreterinnen der Frauenbewegung die „alten Mütter“ an, die ihrer Ansicht nach die Selbstverwirklichung der Töchter behinderten, indem sie eine Anpassung der Töchter an die mütterliche Autorität verlangten. So kritisiert Hedwig Dohm in ihrem Essay über „Die neue Mutter“ die „alten Mütter“, die schuld an der mangelnden freien Entfaltung ihrer Töchter seien:

„In der Tochter will die Mutter eine zweite Auflage ihres Selbst erleben, ihren Lebensauffassungen, ihren Werturteilen soll das erwachsene Mädchen sich anpassen und ist es nicht willig, so braucht sie die Gewalt der mütterlichen Autorität, eine erzieherische Aufdringlichkeit, die fast auf Hypnotismus hinausläuft und gegen welche die Tochter im tagwachen Zustand sich auflehnt, freilich nur dann, wenn sie selbstdenkend, selbstwollend, wenn sie eine eigene ist.“13

Auch übten viele Schriftstellerinnen um die Jahrhundertwende scharfe Kritik an den Fesseln der traditionellen Form von Mütterlichkeit. Dies liegt Kliewer zufolge daran, dass sich die jungen Autorinnen mit ihren Müttern und der älteren Generation auseinander setzen mussten, wollten sie eine neue weibliche Identität erlangen. Oft

12 Vgl. Kliewer, Annette: Geistesfrucht und Leibesfrucht: Mütterlichkeit und „weibliches Schreiben“ im Kontext der ersten bürgerlichen Frauenbewegung. Pfaffenweiler 1993. 13 Dohm, 1900, S. 513.

130 gestalteten die Autorinnen in ihren fiktionalen Werken den Widerstand der Tochter gegen ihre Mutter.14

Die Darstellung eines negativen Verhältnisses zwischen Mutter und Tochter finden wir auch im Drama „Die Meisterin“ von Johanna Wolff. Statt die „alten Mütter“ unmittelbar anzuklagen, konstruiert die Autorin, so meine These, einen extremen Gegensatz zwischen Mutter und Tochter: Die Mutter, Frau Winkler, tritt als Vertreterin der patriarchalischen Moral auf und versucht die väterlichen Normen aufrechtzuerhalten; sie hat die traditionelle Mutterideologie als selbstlose und liebende Mutter verinnerlicht, während die Schwiegertochter Toni gegen diese mütterliche Autorität rebelliert und sich den Normen des Kleinbürgertums entgegenstellt. Sie will ihr Leben in Freiheit genießen. Der Konflikt zwischen Mutter und Tochter resultiert aus dem Unterschied zwischen den Wertvorstellungen der beiden. Am Ende des Stücks scheint es, dass die ungehorsame Tochter „besiegt“ wird, während die Mutter dem alten Mutterbild verhaftet bleibt. Im Drama hat Wolff die Mutter-Tochter-Beziehung auf eine nicht „natürliche“ Beziehung reduziert, und zwar auf ein Verhältnis zwischen Schwiegermutter und Schwiegertochter: Toni ist mit Frau Winklers Sohn Garlieb verheiratet. Auf diese Art und Weise gewinnt die Autorin Distanz und kann besser mit der Problematik zwischen Mutter und Tochter umgehen. Außerdem können hier Aggression und Hass leichter zum Ausdruck gebracht werden. Die Mutter-Tochter-Beziehung wird mit Mitteln der Phantasie auf eine Beziehung zwischen Schwiegermutter und Schwiegertochter verlagert, um die Aggressionen besser darstellen zu können. Es handelt sich um einen Mechanismus, der es erlaubt, etwas, das sich schwierig benennen lässt, dennoch zu äußern, z.B. den Hass auf die Mutter, der als Hass auf die Schwiegermutter verschoben dargestellt wird. Im Märchen ist es ein übliches Verfahren, solche Verschiebungen auf der Phantasieebene vorzunehmen. Ich gehe bei der Analyse davon aus, dass die Psycho-Dynamik zwischen Schwiegermutter und Schwiegertochter als stellvertretend für die zwischen Mutter und Tochter interpretiert werden kann.

14 Kliewer, 1993, S. 183.

131 2.2.1.1. Die Kleinbürgerin Frau Winkler als patriarchalische Mutter

Im Drama „Die Meisterin“ führt die Witwe Frau Winkler das Uhrmachergeschäft ihres Mannes nach dessen Tod weiter, welches die einzige Existenzgrundlage dieser kleinbürgerlichen Familie bleibt. Sie nimmt die Mehrfachbelastung als Mutter, Versorgerin der Familie und Geschäftsfrau auf sich, um den Unterhalt der Familie zu sichern. Frau Winkler erzählt ihrer Schwiegertochter Toni von ihrer vormaligen bitteren finanziellen Not: „Als Vater mich so mitten drin allein ließ – ich sag Dir, ich hab zu kratzen gehabt.“15 Durch Fleiß und Engagement ist es ihr gelungen, die finanzielle Lage der Familie zu sichern und den Laden in guten Ruf zu bringen: Sie führt das Geschäft mit Rechtschaffenheit und verdient zusätzlich noch Geld, indem sie in ihrem Haus Zimmer vermietet. Ihre Mieterin Frau Poschman lobt sie, weil sie der Familie Stabilität garantiert: „Bei Ihn’ kann man die Katz schmeißen, wie man will, sie fällt doch auf die Beine.“ (S. 14) Beilchen, ein Pensionär, der ebenfalls bei Frau Winkler wohnt, preist den guten Namen des Geschäfts und ihren Arbeitseifer: „Nu, die Madam Winkler hat aufgezogen die Uhren dreißig Jahr und hat bekommen ein gutes Renomee.“ (S. 19) Auch Jansen, Reisender einer Uhrenfabrik, respektiert die Meisterin: „Reell waren Sie! Immer korrekt, Winklern.“ (S. 45) Eine Meinungs- verschiedenheit zwischen Frau Winkler und Toni über den Wert des Gartens zeigt noch deutlicher, dass Frau Winkler sich an den Wertmaßstäben des Kleinbürgertums orientiert: Für sie symbolisiert die Gartenarbeit Streben nach sozialem Prestige und Anerkennung:

„Toni. [...] Der Garten, der kostete doch bloß Geld. Fr. Winkler. (hart) So - - ! Das ist Deine Ansicht. Toni. Ist doch wahr! Und dann die Arbeit! Die Hände, die man kriegt! Fr. Winkler (mit einem Leuchten in den Zügen sich wendend) Der Garten kostet Geld und macht Arbeit. Aber es ist der schönste Garten in der Stadt. Jeden Morgen bleibt der Herr Bürgermeister davor stehn und der alte Pastor Fröhlich kommt herein zu mir und fragt mich um Rat – so war’s auch bei Vater. Toni (schnippisch) Was haben wir davon! Die paar Kirschen und Äpfel kauft man billiger auf der Straße herum, da können sie Dir wenigstens nicht Deine Beete zu Schanden machen --- [...]“ (S. 32)

15 Wolff, Johanna: „Die Meisterin. Schauspiel in vier Akten“. Berlin 2 1912, S. 31. Seitenangabe künftig in fortlaufendem Text.

132

In Frau Winklers ordentlicher Welt zählt nur die Arbeit. Sinnlichkeit und Genuss da- gegen sind tabu für sie. Als ihr Sohn Garlieb von ihrem strengen Lebensstil spricht, verteidigt sie sich:

„Garlieb (etwas unsicher) Ich mein – sehr vergnügt sind doch wir Winklers grade nicht. Du hast zu wenig gelacht, Mutter! Fr. Winkler. Gelacht?! Ich hab gearbeitet, mein Jung. (S. 26) [...] Garlieb. Drüben im alten Rathausturm. Ich will das alte Glockenspiel wieder in Ordnung bringen. [...] Es interessiert mich kolossal – wie gesagt, ganz kolossal, Mamachen. Erinnerst Du Dich noch, eigentlich hab ich schon als Junge dafür geschwärmt. Fr. Winkler. Ich bin nicht für’s Schwärmen, ich bin für’s Geschäft.“ (S. 26f.)

Die Figur Frau Winkler verkörpert fast alle Tugenden des Kleinbürgertums: Aufrich- tigkeit, Anstand, Ordnung und Fleiß. Sie ist Vertreterin des Patriarchats und Über- Ich-Instanz der Familie. Als das Uhrengeschäft unter der Führung ihres Sohnes in eine finanzielle Krise gerät, tritt sie sofort wieder als Oberhaupt des Hauses auf; zu Jansen sagt sie: „Noch bin ich Renommee! Ich werde bezahlen!“ (S. 44). Obwohl sie den Uhrmacherladen dem Sohn überlässt, verteidigt sie immer wieder den guten Ruf der Familie. Sie rettet das „gut[e], alt[e] Diplom“ ihres Mannes, das von Toni in den Müll geworfen worden ist. Sie kann nicht verstehen, dass Toni so leichtsinnig mit dem Ruf der Familie umgeht: „Fr. Winkler (streicht krampfhaft über das Diplom) Das bekam mein guter Mann für sein Meisterstück. Und das soll die Toni verhunzt haben? (S. 15) [...] So lang ich lebe kommt das nicht auf den Misthaufen.“ (S. 16) Wenn sie den guten Namen und die patriarchalische Autorität aufrechterhält, so zeigt dies, dass sie die sozialen Normen des Kleinbürgertums internalisiert hat und sich zur Gehilfin der patriarchalischen Ordnung macht.16

16 Die Sozialgeschichte des Kleinbürgertums war von der patriarchalischen Hierarchie zwischen Frau und Mann geprägt, besonders deutlich wird dies an Handwerkbetrieb: Die Autorität des Eheman- nes und Vaters war unangefochten. Die Ehefrau spielte eine untergeordnete Rolle in der Familie. Die Kleinbürgerwitwen erbten und leiteten die Geschäfte als Stellvertreterinnen, bis die Söhne er- wachsen waren. Sie befolgten streng die Ordnung des Hauses. (Vgl. das II. Kapitel dieser Arbeit S. 35f.. Vgl. auch Haupt, Heinz-Gerhart: Die Kleinbürger. Eine europäische Sozialgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts. München 1998, S. 132f..)

133 Frau Winkler tritt nicht nur für die patriarchalische Moral ein, sie verkörpert auch die traditionelle, von Männern propagierte Mutterideologie. Sie opfert sich für ihren Sohn auf, der schon als Kind ständig krank und schwach war. Gegenüber Toni drückt sie ihre Bereitschaft zur Hingabe an die Kinder aus: „Mein Haus und mein Garten; ich hab immer gedacht, das sei das Beste, was man seinen Kindern hinterlassen könnte.“ (S. 32) Der Geselle setzt sich für Frau Winkler ein, als Toni sie kritisiert: „Flitzer (sie abwehrend) Ich begreif net, was Du gegen die Madam Winkler hast; die tut a Wohltat um die andere an Dir, die gibt, die verschenkt.“ (S. 39) Auch die Enkelkinder wenden sich oft an die Großmutter, wenn ihnen etwas zugestoßen ist: Sie sorgt für ihre Enkelin Lieschen, als diese Fieber hat. (S. 29f.) Die Figur der Frau Winkler verbindet sich mit der herrschenden Konzeption von selbstloser Mütterlichkeit, sie opfert sich für ihre Kinder auf und sorgt für Stabilität und Harmonie in der Familie. Im Gegensatz zu diesem Bild der hingebungsvollen und aufrichtigen Mutter tritt die rebellische Tochter Toni als Außenseiterin in die kleinbürgerliche Ordnung ein.

2.2.1.2. Die Kleinbürgerin Toni als rebellische Tochter

Die Figur der Toni - sie ist die Tochter eines Straßenmusikanten - symbolisiert den freien Umgang mit Zügellosigkeit und künstlerischer Kreativität, die der moralisch strikten Frau Winkler völlig fremd sind. Gegen alle Konventionen des Kleinbürger- tums lebt Toni ihren Egoismus aus. Die Vernachlässigung ihrer Kinder, ihre Affäre, ihre Vorliebe für Tanzen und Lachen zeigen, dass sie sich als Außenstehende über die herrschende Vorstellung weiblicher Anständigkeit innerhalb der patriarchalen Nor- men hinwegsetzt, um ihre Sinnlichkeit frei zu genießen. Ihren Kindern gegenüber nimmt sie nicht die traditionelle Rolle der aufopfernden Mutter ein, die sich ständig Sorgen um sie macht. In der Interaktion zwischen Toni und ihren Töchtern zeigt sich ihr unkonventionelles Verhalten als Mutter:

„Emmy (von dem kleineren Lieschen gefolgt) Kuck, Mammi, Lieschen is in’n Puhl gefallen. Toni (knüpft eine Hutschachtel auf, die abseits stand) Die fällt immer in’n Puhl. Emmy. Sie is aber naß.

134 Toni. Wird schon wieder trocken werden! Rat mal, was da drin ist? Emmy (in die Schachtel kuckend) Schöne Hüte, nich, Mammi? Lieschen. Ssöne Hüte. (will auch einsehn.) Emmy (sie wegziehend) Du nich - - die hat Dreckpoten, Mammi. Toni (hat die Hüte aus der Schachtel geholt und setzt sie den Kleinen aufs wirre Haar.) Da werden die Bäckerskinder Augen machen – zu niedlich! Emmy (an dem Schwesterchen zupfend) Sie hat man bloß ein Schuh, Mammi, den andern konnt ich nicht finden – un kuck mal, mein Strumpf hat’n Loch – soll Ohma das Stopfen – Ohma hat uns Kaffee gegeben. Lieschen. Taffee deben –dute Ohma!“ (S. 23)

Die Autorin konstruiert hier das Bild einer egoistischen Mutter; Toni betrachtet ihre Kinder als ihren Besitz und nutzt sie für die Konkurrenz mit anderen Leuten aus, um ihre Eitelkeit zu befriedigen. In dieser Figur wird keine empfindsame Mutter darge- stellt, die nach dem Rousseauschen Idealbild17 immer hingebend und fürsorglich nur zum Wohl ihrer Kinder lebt. Toni wird als Mutterfigur provozierend gegen Frau Winkler gesetzt, die durch ihre Gartenarbeit und ihre Selbstlosigkeit gegenüber ihrem Sohn und der Familie die traditionellen Mutterideale demonstriert. Die Mütterlichkeit steht nicht im Zentrum des Lebenskonzepts von Toni; es geht ihr um die Rolle und die Freiheit der Frau. Als Ehefrau eines kranken Mannes lebt Toni ihr sexuelles Begehren mit dem Gesellen aus. Im Gegensatz zur asketischen Lebensform der Witwe Winkler will sie sich der freien Liebe hingeben. Sie nimmt die patriarchalischen Normen als soziales Kontrollinstrument nicht wahr; dadurch bewegt sie sich frei in ihrer eigenen gesetz- losen Welt. Sie lehnt den Masochismus ab, der der traditionellen Weiblichkeitsrolle zugeschrieben ist. Die Rebellion der Tochter gegen die Mutter bezieht sich darauf, dass sie ihre Unterdrückung durch die Mutter zurückweist. Gegenüber der „alten Mutter“ will die rebellierende Tochter ihre Interessen durchsetzen.

Die Tanzszene (III. Akt, S. 59) weist auf Tonis euphorisches Vergnügen und freien Lebensstil hin:

17 Nach dem auf Rousseau zurückgehenden Verständnis des 19. Jahrhunderts war Mutterschaft ein heiliges Amt und eine glückliche Erfahrung. Es wurde stets darauf verwiesen, wie vollkommen die Natur der Frau und die Funktion der Mutter einander entsprechen. (Vgl. Badinter, Elisabeth: Die Mutterliebe. München 5 1992, S. 213-216.)

135 „Toni. Die Geige! (wirft trotzig den Kopf zurück.) Ja!! (sie holt hastig mehrere Gläser aus dem Schrank und schenkt aus der Flasche ein.) Stoß an, Vater! (sie trinkt hastig aus.) Spiel – spiel und ich will tanzen. [...] Toni (beginnt zu tanzen, erst mit zuckendem Gesicht, dann vergessen hingegeben. Flitzer am Fenster macht unwillkürlich die Bewegungen mit.) Garlieb (kommt herein, stutzt erst und lächelt dann, zieht sacht den Rock aus.) Ah! Ah! (er setzt sich leise an den Tisch, besieht die Flasche und schenkt sich ein, indem er das Glas gegen Toni hebt.) Du! Schön! Ich hab nicht gewußt, daß Du so schön bist! (trinkt, schenkt zwei Gläser ein, geht zu Flitzer, stößt mit ihm an und trinkt wieder aus.)“ (S. 59)

Die Bewegung ihres Körpers drückt ein Gefühl der Befreiung aus; sie befindet sich in rauschhafter Selbstvergessenheit. Übermut und Ausschweifung des Tanzes wei- sen auf die sinnliche Existenzform einer entfesselten Kleinbürgerin hin, die sich einem befreiten künstlerischen Leben nähert.18 Diese Selbstbefreiung im Tanz sym- bolisiert auch die Abweichung von den moralisierenden Verhaltensregeln des Kleinbürgertums; Toni bricht die Tabus jener gesellschaftlichen Konventionen, mit denen Frau Winkler sich identifiziert. Garlieb verteidigt Toni vor seiner Mutter, indem er darauf verweist, dass sie diese ausgelassene Lebensform braucht: „Garlieb. Ich wüßt auch nicht, was man über Dich hätte reden sollen. Aber Toni – die muß tanzen, wirklich, Mamachen, und lachen muß sie auch, sonst drückts ihr das Herz ab, so bei uns.“ (S. 25f.)

Auch das Lachen gehört zur Existenz Tonis, die anders ist als die der sittenstrengen Frau Winkler. Ihren Geliebten Flitzer weiht sie in ihre Lebensphilosophie ein: „Eins muß der Mensch, weinen oder lachen. Ich lach! [...]“ (S. 39) Bis zu ihrem Tod folgt sie konsequent ihrer Lebensanschauung: in halluzinatorischem Zustand spricht sie:

„Der Tod? Sterben? Ich? (sie erhebt sich und fasst ihr Kleid wie zum Tanz.) Ich tanz! (leuchtendes Entzücken in ihrem Gesicht, sie fällt zurück) ha – ha – ha – ha! Ich - tanz – [...] Fr. Winkler (flüstert scheu wie unter einem Bann) Wie Kinder lachen vorm Einschlafen - - (nähert sich Schritt für Schritt; nachdem sie ihr eine zeitlang ins Gesicht gestarrt.) Die lacht noch.“ (S. 75)

18 Vgl. Dehning, Sonja: Tanz der Feder. Künstlerische Produktivität in Romanen von Autorinnen um 1900. Würzburg 2000, S. 212.

136

In der Todesszene verzichtet Toni immer noch nicht auf die Lebensfreude durch Tanzen und Lachen; sie stellen ihre Lebenskräfte dar. Das Motiv des Lachens hat auch subversive Funktion. Dietmar Kamper und Christoph Wulf schreiben:

„Lachen ist gefährlich; es hat eine subversive Potenz. Wer lacht, glaubt nicht an die Unterscheidung zwischen Richtig und Falsch, zwischen Wahr und Unwahr, zwischen Gut und Böse und gefährdet die Wahrheit. Lachen ‚kritisiert’ die Distanz und Rationalität verlangende Ordnung der Vernunft. In ihm kehrt das Ausgeschlossene, das ‚Andere’ der Vernunft wieder. Unten und oben, rechts und links, richtig und falsch geraten in Bewegung.“19

Lachen bedeutet eine Art Angriff auf die Herrschaft der Vernunft; es ist Ausdrucks- mittel des Un-Sinns und der Lust am Irrationalen.20 Für Toni ist Lachen eine Attacke gegen die Autorität der Mutter; gleichzeitig ist es eine Strategie des Angriffs auf die rigide patriarchalische Moral des Kleinbürgertums und eine Abwehr des Zwangs, sich der väterlichen Ordnung anzupassen. Im ersten Akt lobt Beilchen Frau Winklers Fleiß und ihr hohes soziales Prestige; Toni reagiert ungerührt auf den guten Ruf der Schwiegermutter: „Beilchen (im Abschlurfen) Nu, die Madam Winkler hat aufgezogen die Uhren dreißig Jahr und hat bekommen ein gutes Renomee. Toni (lacht) Pah, das Renomee. Beilchen. Sie lacht übers Renomee, sie wird nicht lachen, wenn sie wird erben das schöne Haus, das liegt am Marktplatz.“ (S. 19f.) Diese Gleichgültigkeit im Lachen erweist sich als Widerstand gegen die Macht der „alten Mutter“; mit ihrem subversiven Verhalten unterläuft Toni die Anstrengungen dieser Mutter, die sich der geltenden Ordnung unterwirft.

In der Auseinandersetzung Tonis mit Frau Winkler wegen ihres Verhältnisses mit dem Gesellen greift Toni die patriarchalische Moral mit der Strategie des Lächelns an: „Fr. Winkler (läßt sich auf einen Stuhl fallen und beschattet ihr Gesicht.) Ich kann nicht in Dich hinein sehn – ich kann nicht wissen, was in Dir vorgeht - - ich war nie so! Toni (leicht) Ich war immer so.

19 Kamper, Dietmar/ Wulf, Christoph: Der unerschöpfliche Ausdruck. In: Lachen – Gelächter – Lä- cheln. Reflexionen in drei Spiegeln. Hg. von Dies.. Frankfurt/ Main 1986, S. 8. 20 Weigel, Sigrid: Die Stimme der Medusa. Schreibweisen in der Gegenwartsliteratur von Frauen. Dülmen-Hiddingsel 1987, S. 170f..

137 Fr. Winkler. Warum bist Du dann in eine anständige Familie gegangen? Toni (seltsam lächelnd) Ich kannte Eure Anständigkeit nicht – jetzt kenn ich sie, aber ich mag sie nicht.“ (S. 42)

Leichtsinnig geht Toni mit den Wertvorstellungen um, die Frau Winkler verinner- licht hat. Durch diese provozierende Haltung will sie sich aus der moralischen Enge der kleinbürgerlichen Familie befreien. Ihre Gleichgültigkeit und ihr sarkastisches Verhalten bringen außerdem ihre Distanz zu den Anstandsregeln zum Ausdruck. Ihr Lachen erscheint einerseits wie eine Maskerade des Protests, mit der Toni der bestehenden Herrschaft widersteht, andererseits bringt es die bestehenden Wertungen und ihre Autorität ins Wanken.21

2.2.1.3. Tonis Tod als Rechtfertigung der patriarchalen Ordnung?

In dieser polarisierten Situation entwickelt die Autorin die spannungsreiche Beziehung zwischen Mutter und Tochter: Die rebellische Tochter steht der „patriar- chalen“ Mutter feindselig gegenüber. Während Toni gegen die mütterliche Macht rebelliert, um ihre eigene Unabhängigkeit und Freiheit zu bewahren, passt sich die Mutter der herrschenden Ordnung an. Während die Tochter die Werte, die die Mutter verinnerlicht hat, verwirft, macht die Mutter sich zur „Helferin“ der patriarchalischen Ordnung und versucht die geltenden Normen beizubehalten. 22 Nachdem Frau Winkler erfahren hat, dass Toni ein uneheliches Kind des Gesellen zur Welt gebracht hat, das kurz nach der Geburt gestorben ist, grenzt sie sich von ihr ab und weist sie zurück:

„Fr. Winkler (machtvoll) Dann – Gott straf mich wenn ich je in diesem Leben einen Finger an Dich lege! (sie geht ins Wohnzimmer und setzt sich schwer an den Tisch) Eine Hure hab ich im Haus gehabt! (Auf Tonis Gesicht erlischt der Ausdruck, sie rückt wie in großer Pein.) [Pause] Toni (bittend) Mutter! Fr. Winkler (unbeweglich.)

21 Vgl. ebd., S. 173f.. 22 Vgl. Kliewer, 1993, S. 181f..

138 Toni. Es kommt wieder, Mutter; gib mir die Tropfen. Komm. Fr. Winkler (rührt sich nicht.) Toni. Du willst mir nicht helfen? Fr. Winkler (an den Tisch gekrampft, während es sie wie im Fieber schüttelt) Ich will nicht! Will Dir nicht helfen. Nein. Toni. Wenn ich aber doch stürbe, Mutter? Fr. Winkler (aufspringend) Dann stirb! Toni. Und der Garlieb? Fr. Winkler. Für den würd’s ein Segen sein. Aus dem Weg musst Du, wenn von den Winklers noch was übrig bleiben soll. Toni (matt) Mir – wird - schlecht – Fr. Winkler. Das ist der Tod! [...] Fr. Winkler. [...] Reines Haus – reine Luft! (ein Windstoß fährt herein, sie steht im fliegenden Zuge, ihr Kleid weht auf.)“ (S. 74f.)

Im Konflikt zwischen Mutter und Tochter scheint es, als ob die Position der tradierten Moral die der Tochter besiegt. Die Unanständigkeit der Tochter gefährdet das von der Mutter vertretene patriarchale Prinzip; deshalb kann Toni nicht überleben. Die „alte Mutter“ entscheidet sich dafür, sich gegen die rebellische Tochter zu wehren. Die kleinbürgerliche Ordnung erscheint legitimiert und wiederhergestellt. Interessant ist zu fragen, ob die tradierte Moral wirklich siegt. Zum Schluss des Stücks äußert Frau Winkler, dass sie etwas von Toni gelernt hat, was im Kleinbür- gertum fehlt, nämlich die fröhliche Seite des Lebens zu erleben und diesem auch Freiheiten abzuverlangen. Sie hat eingesehen, dass die Tugend allein nicht glücklich macht: „Fr. Winkler (schwer) Ich hab nicht gewußt, daß auch Lachen notwendig ist zum Leben und zum Sterben. Das hab ich nicht gewußt, mein Jung.“ (S. 78) Sie verhält sich jedoch widersprüchlich. Am Ende zeigt sie, dass sie sich wieder in der Mutterrolle verfangen hat. Sie hält ihren Sohn und lässt ihn nicht frei: „Fr. Winkler (ihn an sich haltend) Für mich ist es mit dem Lachen zu spät, aber Du, mein Sohn, Du kannst es noch lernen. (richtet ihn auf und hält ihn aufrecht, während das Glockenspiel: ‚Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren’ spielt“. (S. 78) Das Stück lässt letztlich offen, ob die Mutter wirklich triumphiert und die Tochter besiegt; eher bringt die Autorin die ambivalente Position von Frau Winkler zum Ausdruck. Die Wirkungsstrategie des Stücks lässt den Zuschauer doch wohl vor

139 ihrer Grausamkeit zurückschrecken.

2.2.2. Der Konflikt in der Mutter-Sohn-Dyade

Auch die Mutter-Sohn-Beziehung erweist sich als ambivalent; die Spannungen allerdings sind anders gelagert. Ich vertrete die These, dass der Konflikt zwischen Mutter und Sohn aus einer Ablösungskrise entspringt, in der die Mutter eine domi- nante Über-Ich-Instanz verkörpert: Es handelt sich um eine Dynamik zwischen regressivem und progressivem Streben. Der Sohn wünscht, von der Mutter umsorgt und geliebt zu werden, hat aber gleichzeitig den Wunsch, sich der mütterlichen Kontrolle zu entziehen. Die Mutter betrachtetet ihren Sohn als Ersatz für ihren Ehe- mann, will ihn nicht loslassen und ihm kein eigenes Leben zugestehen. Die Mutter ist auf die autoritäre Rolle fixiert, so dass der Sohn unglücklich zwischen der Über- Ich-Instanz und seinem Lebenstrieb hin und her pendelt. Am Ende des Dramas ist es für den Sohn quälend, sich der patriarchalen Autorität, die die Mutter vertritt, an- passen zu müssen.

2.2.2.1. Die enge Bindung der Mutter an den Sohn

Christiane Olivier beschreibt den Konflikt zwischen Mutter und Sohn in der Ab- lösungsphase:

„Es ist keine leichte Arbeit für den Mann, sich von der Person, die er am meisten geliebt hat und von der er am meisten geliebt wurde, abzulösen (keine Mutter wird mir widersprechen, wenn ich sage, daß der Junge sehr viel liebevoller ist als das Mädchen). All dies ist wohl das Ergebnis der Begegnung der Geschlechter innerhalb der Familie, in der die Frau allein die Rolle der Erzieherin ausfüllt und in der sie in größter Nähe mit ihrem Sohn leben muß. Früher gab es den Großvater, den Onkel, den Cousin, Mengen von Männerbildern, geeignet, dieses gefährliche Tete-à-tete zu unterbrechen. Heute lebt die allmächtige ‚Mutter’ allein mit ihrem Sohn, der sie für all ihre Entbehrungen von früher entschädigen

140 muß, für die durch den abwesenden Vater entstandene Leere wie für das Weggehen des Mannes.“23

Die verwitwete Frau Winkler hat ihren Sohn allein aufgezogen. Zwischen ihnen besteht eine enge Bindung. Frau Winkler äußert ihre Verbundenheit mit dem Sohn indirekt gegenüber der Nachbarin Frau Poschman: „[...] Ich hab nichts mehr zu verlangen; was ich tu, tu ich um meinen Jungen. [...] Der Garlieb – auch wenn er die [Toni, S. Sh.] genommen hat - - Meine Art!“ (S. 14f.) Der Sohn dient nicht nur dazu, die Abwesenheit des Ehemanns zu kompensieren, er gibt dem Leben der allein- stehenden Frau auch einen Sinn. Es entwickelt sich allmählich eine Ambivalenz im Mutter-Sohn-Verhältnis: auf der einen Seite weiß Frau Winkler, dass sie ihren Sohn eigene Wege gehen lassen muss. So hat sie ihm den Laden überlassen, d.h. er trägt jetzt die Verantwortung für die Familie; auf der anderen Seite hofft sie darauf, die alten familiären Bindungen zu bewahren: Sie will dauernd für sein Wohl, die Stabilität der Familie, die Finanzierung des Ladens und den guten Ruf der Familie sorgen. Als Jansen Frau Winkler von dem finanziellen Problem ihres Sohns erzählt und rät, der ganzen Angelegenheit aus dem Wege zu gehen, reagiert sie aufgeregt: „Jansen. Meisterin, ich bin zu Ihnen gekommen, damit Sie die Wahrheit wissen, aber ich rat Ihnen – machen Sie’n Bogen um die Geschichte. Fr. Winkler. Um meinen Jungen, um unsern guten ehrlichen Namen? [...] Ich zahle, Jansen! [...] Gehn Sie runter, schnell. Er soll sich nicht ängsten, so lang er ’ne Mutter hat!“ (S. 44f.) Frau Winkler kann nicht zusehen, wie dem Sohn im Erwachsenenleben (Beruf) et- was zustößt; wie früher reagiert sie auf die Bedürfnisse und Erwartungen ihres Kin- des. Sie lässt ihren Sohn nicht lernen, selbständig mit seinem Leben umzugehen und Verantwortung für sich zu übernehmen. Ihre emotionale Verbundenheit hindert ihn, sich als Individuum selbst herauszubilden, und bringt ihn in dieser Phase der Ab- lösung in eine ambivalente Situation.

23 Olivier, Christiane: Jokastes Kinder: Die Psyche der Frau im Schatten der Mutter. Düsseldorf 6 1988, S. 77.

141 2.2.2.2. Die emotionale Abhängigkeit des Sohnes von der Mutter

Im Drama fehlt Garlieb der Vater, welcher in der Triangulierung der ödipalen Situa- tion eine wichtige Rolle für Individuation und Identitätsbildung eines Sohns spielt. Nach der psychoanalytischen Theorie löst der Vater das Kind aus der ursprünglichen Mutter-Kind-Dyade und führt es in das Symbolsystem der Kultur ein.24 Im Verlauf der Handlung zeigt Garlieb, dass er besondere Schwierigkeiten mit seiner männ- lichen Identität hat; die Autorin betont dies, indem sie ihn im Drama ohne Vater auf- wachsen lässt. So gestaltet sie Garlieb als schwache männliche Figur: Krankheits- bedingt muss er in seinem alltäglichen Leben auf viele Vergnügungen verzichten (S. 14). Auch sein sexuelles Leben ist durch seine Erkrankung eingeschränkt, so dass sich seine Frau Toni bei ihm über seine körperliche Schwäche beklagt:

„Toni. (geht ihm nach) Komm, ich koch Dir heut ein Leibgericht. (sie schiebt sich an ihm hinauf.) Sei doch einmal vergnügt, Du. Garlieb. Du drückst mich. Es tut mir weh in der Brust (befühlt sich) Bist immer so stürmisch. Toni. Da geh. (geht abgewandt) Laß Dich in Watte wickeln.“ (S. 25)

Gerüchte über Affären seiner Frau mit anderen Männern fügen Garlieb eine narzisstische Kränkung zu; als Ehemann fühlt er sich als Versager. Vor seiner Mutter drückt er sein Minderwertigkeitsgefühl und seine Frustration aus: „Körper muß es sein! Ich habe zu wenig - - Körper. [...] Doch! Die weiß, wie sie einem im Blute liegt. Und dann zusehen müssen, wie sie alle hinter ihr her sind. [...] wenn’s um die Toni geht, weißt Du – da kenn ich mich selbst nicht. [...] “ (S. 48f.) Garliebs Liebesunfähigkeit und sein körperlicher Mangel mindern sein Selbstwertgefühl: Sein Versagen als Mann empfindet er als Erniedrigung. Außer diesem inneren Konflikt hat er auch finanzielle Schwierigkeiten mit seinem Uhrmachergeschäft. Sein beruflicher Misserfolg verstärkt sein Gefühl zu versagen; er fühlt sich als untaug- licher Nachfolger seines Vaters, da er den guten Ruf des Ladens nicht erhalten kann. Vor der Mutter äußert er sein Gefühl der Unfähigkeit: „Ich hab mich ja so geschämt, Mamachen – ganz schauderhaft geschämt [...] Ich bin’n Lump, Mutter! Da hast Du

24 Rohde-Dachser, Christa: Expedition in den dunklen Kontinent. Weiblichkeit im Diskurs der Psy- choanalyse. Berlin 2 1992, S. 190.

142 nach des Vaters Tode gedarbt und geschafft, hast das Geschäft durch die schweren Jahre gehalten, hast mich auf die besten Schulen geschickt - jetzt versau ich großer Mensch Dir die ganze Geschichte.“ (S. 47f.) Die Autorin lässt den enttäuschten Garlieb in einem regressiven Impuls versuchen, die frühe symbiotische Verbundenheit mit seiner Mutter wieder herzustellen; diese gibt ihm Trost und Liebe und bewahrt ihn vor Gefahr und Angst:

„Garlieb [...] (fällt erschöpft auf den Stuhl zurück, sein Atem geht kurz und scharf.) Fr. Winkler (angstvoll) Wie kannst Du nur Dich so aufregen, mein geliebter Junge. Es – ist – gar nichts! (hält seinen Kopf an sich gedrückt.) Garlieb. Garnichts, Mutter, nichts?! (umfasst sie zutraulich.) Fr. Winkler. Wie Dein Herz wieder arbeitet – Garlieb. Man muß sich nichts aus dem Gerede machen, nicht Mamachen? Fr. Winkler (lächelt ihm zu mit unsagbarer Zärtlichkeit.) Wenn ich nur nicht rede, wart, bis Deine Mutter spricht – Ist’s nun gut? Garlieb. Ja, ja! Du würdest sprechen! (schaut sie kindlich an.) Reden.“ (S. 49f.)

Diese emotionale Abhängigkeit von der Mutter bereitet ihm bei der Ablösung be- sondere Schwierigkeiten. Er befindet sich im Zwiespalt zwischen Autonomiebedürf- nis auf der einen Seite und Schuldgefühlen der Mutter gegenüber, die ihm Geborgen- heit und Liebe gibt, auf der anderen Seite.

2.2.2.3. Die Ablösungskrise des Sohnes

Oft wird das Kind, wenn es sich von den Eltern abwendet, mit widersprüchlichen Gefühlen konfrontiert. Es gerät in eine Lebenssituation zwischen „Ablehnung und Annäherung, Respekt und Missachtung und Anklagen und Verständnis“25. Einerseits möchte es Autonomie erreichen und strebt Selbstverantwortung an, andererseits hat es Schuldgefühle und Angst, die Eltern zu enttäuschen und ihnen Treue und Gehorsam zu verweigern. 26 Auch Garlieb hat dieses ambivalente Gefühl seiner

25 Wittstruck, Wilfried: Ablösung in der Mutter-Sohn-Beziehung: Ein Adoleszenzproblem in Rainer Maria Rilkes Erzählung „Leise Begleitung“. In: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychia- trie 44/6 (1995), S. 224. 26 Vgl. ebd., S. 224.

143 Mutter gegenüber; er fühlt sich schwankend und verwirrt zwischen Unabhängigkeits- anspruch und emotionaler Bindung an die Mutter. In der Szene, wo Toni, ihr Vater und Garlieb in Frohsinn und Übermut feiern, taucht die sittenstrenge Frau Winkler wütend in der Wohnung auf. Es kommt zur Spannung zwischen Mutter und Sohn:

„Fr. Winkler (hoch aufgerichtet in der Tür.) Garlieb!! (ihre Stimme übertönt die Fiedel; der Alte bricht mit schrillem Laut ab. Garlieb steht außer Atem, während der Alte die Geige unterm Mantel verbirgt.) Stille. Garlieb. Wir sind’n bischen lustig, Mutter, Ja. (Toni hüstelt und sieht ihn spöttisch an.) Fr. Winkler. Mein Haus ist kein Jahrmarkt.[...] Garlieb. (den Arm um Toni legend) Das ist meine Wohnung, Mutter! Und dies ist meine Frau. Ja. Fr. Winkler (gütig) Du vergisst Dich, mein Sohn! Garlieb. Tut mir leid – aber in meiner Wohnung kann ich tun, was mir beliebt – Ja Wenn wir hier so vergnügt sind – Ja! [...] Fr. Winkler (tritt auf ihn zu und sieht ihm ins Gesicht.) Du hast getrunken. [...] (Garlieb wendet sich schweigend ab.) Fr. Winkler (tritt auf Toni zu) Ich will nicht, daß mein Sohn mit Euch verludert, hörst Du’s. Er soll nicht verludern – er soll nicht (steht dicht vor ihr.) Toni (drängt sich an Garlieb) Männer, Schatzi. Garlieb (lallend) Mutter, Verludern oder nicht das ist meine Sache, jawohl – meine Sache. Und dies ist meine Frau und Dich - Dich brauchen wir gar nicht. (zieht Toni an sich.) Fr. Winkler (starrt ihn fassungslos an, mit Handbewegung auf das Werkzeug.) Du wolltest Deinen Vater überbieten – so tust Du das? [...]“ (S. 59-61)

In dieser Auseinandersetzung kommt der Protest gegen die autoritäre Kontrolle der Mutter zum Ausdruck; dies ist gleichzeitig ein Versuch, eigene Privatheit, eigenen Freiraum und Unabhängigkeit einzufordern. „Das ist meine Wohnung, Mutter. [...] aber in meiner Wohnung kann ich tun, was mir beliebt -“ Der Distanzierungswunsch deutet auch auf den Versuch hin, sich von der kleinbürgerlichen patriarchalen Ord- nung und der mütterlichen Obhut zu entfernen. Der Sohn äußert Unzufriedenheit mit

144 seiner Lebenssituation und den Wunsch, sich von der Mutter zu lösen: „Mein ganzes Leben hab ich’s hören müssen, das mit dem Namen – [i]ch mags nicht mehr hören – ich wills nicht mehr hören! Ich habs satt bekommen. [...] Und dies ist meine Frau und Dich – Dich brauchen wir gar nicht.“ (S. 60f.) Garlieb macht deutlich, dass er mit eigenen Gefühlen und Wünschen leben will und sexuelle Autonomie erlangen möchte. Die Liebe zu einer anderen Frau, die nicht die Mutter ist, weist auf die Ab- wendung von der mütterlichen und familiären Bindung hin sowie auf den Wunsch, erwachsen zu werden. Aber diese Trennungsanstrengung dauert nur einen Moment. Kurz danach bekommt der Sohn Schuldgefühle und Angst, die enge Bindung an die Mutter zu gefährden:

„Garlieb (schließt ernüchtert den Sekretär auf.) [...] Laß nur, Mutter ist ‚ne alte Frau, die nimmt Alles so tragisch. (setzt sich an die Arbeit zu den Figuren.) Arbeiten - - [...] Garlieb (hört nach einer kleinen, stillen Pause zu arbeiten auf.) ’S geht nicht – ich - ich bin so unruhig – so – als wär irgendwo ein großes Loch in mir – ich bin das nicht gewohnt – so mit Mutter bös zu sein.“ (S. 61)

Er pendelt zwischen Wut und Reue, zwischen Protest und Rückzug. Schließlich übernimmt er doch wieder die gewohnte Rolle des abhängigen Sohns und unterwirft sich der patriarchalischen Instanz: Er verleugnet seinen Autonomieanspruch, tut, was die Mutter von ihm fordert, und stellt den guten Namen der kleinbürgerlichen Fami- lie wieder her.

2.2.2.4. Die autoritäre Mutter und der sich anpassende Sohn

Freud erklärt, dass die Über-Ich-Instanz (oder Elterninstanz) nicht unbedingt von der Identifizierung mit Personen her verstanden werden muss:

„So wird das Über-Ich des Kindes eigentlich nicht nach dem Vorbild der Eltern, sondern des elterlichen Über-Ichs aufgebaut; es erfüllt sich mit dem gleichen

145 Inhalt, es wird zum Träger der Tradition, all der zeitbeständigen Wertungen, die sich auf diesem Wege über Generationen fortgepflanzt haben.“27

Entsprechend vermittelt Frau Winkler ihrem Sohn die väterlichen Wertmaßstäbe und verlangt von ihm, diese Tradition fortzuführen. Er bemüht sich dann auch, sich diesen Wertvorstellungen anzupassen, und arbeitet z. B. emsig an der Reparatur des Glockenspiels im alten Rathausturm, das nicht einmal sein Vater hatte in Ordnung bringen können. Hierfür will er sein Diplom bekommen. (S. 26) Der Druck des Ichideals, wie der Vater sein zu müssen, verdrängt seinen Lebenstrieb. Die Heirat mit Toni, die ein freies Leben führt, deutet auf Garliebs Wunsch, die Spannung zwischen Über-Ich-Instanz und Es auszugleichen. Doch die Mutter übernimmt die Aufgabe der Kontrolle und warnt den Sohn ständig vor der Vernachlässigung des Anstands und vor der Missbilligung der Nachbarn, deren Urteil ihr viel bedeutet:

„Die Leute reden darüber. [...] Früher haben sie es nicht getan. (S. 25) [...] Hast Du gesehen, wie der Alte [Garliebs alkoholsüchtiger Schwiegervater; Anm. S. Sh.] durch die Straßen getorkelt kam? Vor unsern Fenstern stehn sie und horchen und lukern durch die Ritzen. [...] Denkst Du denn nicht an Deinen Namen – unsern guten, reinen Namen, mein Sohn.“ (S. 60)

Eine Zeit lang gelingt es seinem durch die Mutter gestützten Über-Ich, seinen Lebenstrieb zu verdrängen. Als der Druck durch die autoritäre Mutter zu groß wird, brechen Unzufriedenheit und Zweifel an der elterlichen Ordnung jedoch wieder durch. Er schreit seine Mutter an: „Verdammt, wenn man nicht mal sein Pläsier da- bei halten soll! (schlägt mit der Hand auf) ’S ist doch auch wahr. Mein ganzes Leben hab ich’s hören müssen, das mit dem Namen – [i]ch mags nicht mehr hören – ich wills nicht mehr hören ! Ich habs satt bekommen.“ (S. 60) Er flieht vor der Mutter und ihren Normen und findet einen Ort der Lebenslust und Sinnlichkeit. Das Vergnügen und die Leichtlebigkeit in seiner Wohnung verweisen auf seinen Wunsch, sich von der patriarchalischen Autorität und deren Normen zu befreien. Doch dieser Aufbruch dauert nicht lange. Die Über-Ich-Instanz, die Funktion des Richters in seinem Innern, zwingt ihn, dem mütterlichen Auftrag und dem verinnerlichten Zwang gehorsam zu folgen. Am Ende wird der Sohn in die bestehende Gesell-

27 Freud, Sigmund: Gesammelte Werke. Hg. von Anna Freud. Bd. 15. Frankfurt/ Main 7 1979, S. 73.

146 schaftsnorm reintegriert: Er bringt das Glockenspiel wieder in Ordnung. Doch sein Hass auf die mütterliche Autorität und das mit seiner Gefügigkeit verbundene Gefühl der Verdrossenheit scheinen nicht mehr auflösbar. Der Tod von Toni bedeutet für ihn, dass er die Sinnlichkeit zugunsten der Vernunft noch weiter verdrängen muss: „Garlieb. Aber ich werd sie vermissen, Mutter! Blos arbeiten, immer arbeiten und nichts Helles ist da und nicht, was überflüssig ist. (ruft laut) Das kann ich nicht aushalten! Grau, schiwwerig kriechts wieder aus allen Ecken - -“ (S. 77)

Zum Schluss des Dramas gesteht Frau Winkler zwar ein, dass außer Arbeit und Moral auch Lust und Frohsinn zum Leben gehören, ihr Verhalten erscheint aber gegensätzlich zu dieser Äußerung: Sie greift immer wieder in ihrer Funktion als Mutter in das Familienleben des Sohnes ein. Nach dem Tod von Toni plant sie, ihre Enkelkinder zu sich zu nehmen und für sie zu sorgen. Sie spricht zu ihrer Pflege- tochter Wieschen: „[...] Geh zu den Kindern, Wieschen, die Kleinen sollen es jetzt gut haben bei mir.“ (S. 76) In der letzten Szene richtet sie den schwachen Sohn empor, hält ihn gerade und sagt: „Für mich ist es mit dem Lachen zu spät, aber Du, mein Sohn, Du kannst es noch lernen.“ (S. 78) Sie entwirft wiederum einen Lebens- plan für den Sohn und gestattet ihm nicht, sich frei zu entwickeln. Hier stellt die Autorin eine geläuterte Mutter dar, die aber das alte Muster des dominanten Mutter- bilds beibehalten hat.

Im Drama greift Wolff ein wesentliches Motiv des bürgerlichen Trauerspiels auf, den Familienkonflikt. Schon seit der Aufklärung und dem Sturm und Drang werden in Dramen wie: „Miß Sara Sampson“ (1755), „Emilia Galotti“ (1772) und „Die Räu- ber“ (1781) Generationenkonflikte behandelt, wobei diese Konflikte durch Themati- sierung und Politisierung gesellschaftlicher Probleme relativiert werden. In „Maria Magdalena“ (1846) verzichtet Hebbel dann auf eine Politisierung, wie z. B. die Dar- stellung des Ständekonflikts. Zentrale Figur in diesen Dramen ist der Vater; es geht entweder um die Beziehung zwischen Vater und Sohn oder Vater und Tochter. Die Mutter ist meistens abwesend oder wird als Kupplerin dargestellt. Wolff hat diese zentrale Figurenkonstellation auf die Mutter-Tochter- und die Mutter-Sohn-Be- ziehung verlagert. Der Mutter-Kind Konflikt wird nur im Binnenraum der kleinbür- gerlichen Handwerkerfamilie dargestellt, so dass gesellschaftliche und politische

147 Probleme nicht thematisiert werden. Das Drama bewegt sich im Umfeld der Dis- kussion von Mütterlichkeit, wie sie z. B. von der bürgerlichen Frauenbewegung geführt wurde; es setzt sich mit Hedwig Dohm auseinander, die darauf verweist, wie eine Mutter ihre Kinder erziehen sollte. Im Verlauf der Analyse hat sich gezeigt, dass Wolff keine deutliche Position innerhalb der Diskussion um die Mutterideologie bezieht. Es geht ihr eher darum, die Konflikte im Verhältnis zwischen der Mutter und ihren Kindern darzustellen: Die Werte des traditionellen Mutterbildes werden im Drama zwar gelobt, aber die Autorin zeigt gleichzeitig, dass die Figur der Mutter der Mutterideologie verhaftet ist. Die Anstrengung der Mutter, die patriarchalische Ord- nung aufrechtzuerhalten, hat auch ihren Preis. Sie gelingt auf Kosten der Kinder, die unter ihr leiden müssen. Die Tiefenstruktur des Dramas beschäftigt sich mit dem Leben von Frauen. Die Autorin entwirft zwei Bilder von Frauen im Kleinbürgertum: Toni wird als freiheit- liche Frau, die sich nicht in die traditionelle Mutterrolle fügt und statt dessen egois- tisch ihre Freiheit genießen will, dargestellt. In der Figur Frau Winkler wird die am- bivalente Situation der Frau sichtbar: Einerseits hat sie sich eingestanden, dass es auch eine andere Möglichkeit des Lebensentwurfes für Frauen gibt. So äußert sie, dass sie etwas von Toni gelernt hat. Andererseits bleibt sie in der den Frauen zuge- schriebenen Geschlechterrolle als ich-lose und fürsorgliche Mutter gefesselt.

148 2.3. „Fräulein Freschbolzen“ von Clara Viebig

Am 14. Juni 1905 wurde der Einakterzyklus „Der Kampf um den Mann“ von Clara Viebig im Nürnberger Apollo Theater aufgeführt. Er bestand aus vier Einaktern: „Die Bäuerin“, „Eine Zuflucht“, „Fräulein Freschbolzen“ und „Mutter“. In allen vier Stücken geht es um das gleiche Thema - der Titel des Einakterzyklus besagt es - , den Wettkampf um den Mann, mit dem sich weibliche Figuren aus der unteren und der mittleren Schicht auseinandersetzen. Das Drama „Fräulein Freschbolzen“ han- delt von einer Schneiderin, die in Konflikte mit ihrem Beruf und ihrem Geliebten gerät.1 Interessant ist der Untertitel dieses Stücks. Im Inhaltsverzeichnis des Dra- menzyklus lesen wir: „Die Bäuerin. Drama“, „Eine Zuflucht. Drama“, „Fräulein Freschbolzen. Komödie“ und „Mutter. Volksstück“. Offensichtlich hat Viebig den Untertitel „Komödie“ für das Drama „Fräulein Freschbolzen“ bewusst gewählt. In der folgenden Analyse werde ich zeigen, inwiefern dieser Untertitel gerechtfertigt ist. Ich stelle drei Thesen auf: 1) Die Autorin hat den inneren Widerspruch dieser Kleinbürgerin zwischen Unabhängigkeit und Unterwerfung und die Ambivalenz ihrer sozialen Stellung auf komische und groteske Weise dargestellt. 2) Ihr Liebhaber wird als komischer Betrüger gestaltet, also als eine typische traditionelle Komödienfigur. Seine Komik liegt in der Paradoxie, dass er sich einerseits gegen- über seiner Geliebten dominant zeigt und versucht, sie zu unterjochen, andererseits jedoch finanziell in einem parasitären Verhältnis zu ihr lebt. 3) Um das unterwürfige Verhalten bürgerlicher Frauen zu kritisieren, verschiebt Viebig die Szenerie auf eine untere Schicht, das Kleinbürgertum. Mit komischen und grotesken Ausdrucksmitteln kann sie satirisch Kritik an einem Problem ihrer eigenen Schicht üben und dabei Dis- tanz gewinnen.

1 In diesem Stück geht es um Fräulein Freschbolzen, die nicht mehr ganz junge Besitzerin einer Schneiderstube. Von dem Geld eines früheren Verehrers konnte sie sich ein Atelier leisten. Jetzt lässt sie sich von dem Versicherungsangestellten Gustav Rundke ausnutzen. Besonders peinlich wird es, als alle bei ihr angestellten Näherinnen merken, dass Gustav Geld, das er bei einer Baronin holen sollte, für sich behalten hat. Als ihn die Freschbolzen beschimpft, verlässt Gustav sie. (Siehe Viebig, Clara: „Fräulein Freschbolzen. Komödie“. In: Dies.: „Der Kampf um den Mann“. Dramenzyklus. Berlin 1905.)

149 2.3.1. Die komische und groteske Darstellung der Kleinbürgerin Freschbolzen

Bei der Analyse von Kleinbürgerinnen männlicher Autoren sind wir bereits zwei komischen Frauenfiguren begegnet: Mutter Wolff in „Der Biberpelz“ und Luise in „Die Hose“. Vital und durchsetzungsfähig erreicht die proletarisch-kleinbürgerliche Mutter Wolff ihr Ziel und kann nach oben aufsteigen; dabei setzt sie eine typische Eigenschaft der weiblichen Rolle in der Komödie ein: die List.2 Der Emanzipations- versuch von Luise, der Frau eines kleinen Beamten, scheitert. Der Plan, ihren Mann zu betrügen, endet in komischer Verkehrtheit: Statt des Ehemanns wird die Ehefrau hintergangen. 3 Das Komische dieser Figur entsteht aus ihrer Unwissenheit und Verwirrung. Im Drama „Fräulein Freschbolzen“ stellt Viebig das widersprüchliche Bild der Schneiderin ebenfalls mit komischen und grotesken Mitteln dar: sowohl ihren inneren Konflikt zwischen Emanzipation und Unterordnung als auch den Wi- derspruch in der sozialen Stellung dieser Figur, die einerseits nach oben blickt und sich andererseits nach unten abgrenzt. Der Zuschauer lacht zwar anfangs noch über die komische Situation, in der sich die Figur befindet, doch ihm muss dieses Lachen zunehmend vergehen, indem ihm das Bedrohliche ihrer Lage immer mehr bewusst wird.

2.3.1.1. Widerspruch der Kleinbürgerin zwischen Selbständigkeit und Abhän- gigkeit

Durch die Handlung des Dramas versucht Viebig, das widersprüchliche Verhalten der Hauptfigur Fräulein Freschbolzen anschaulich zu machen: Sie gestaltet einerseits eine Kleinbürgerin, die finanziell selbständig ist, sich beruflich ihren Näherinnen ge- genüber als disziplinierte und herrische Chefin verhält und viel Wert auf Arbeitsethik und einen guten Ruf legt. Auch im privaten Leben gilt sie als emanzipierte Frau: Sie unterwirft sich nicht dem Moralkodex des Kleinbürgertums und lebt entgegen der Konvention mit einem jüngeren Geliebten zusammen, ohne ihn zu heiraten. Es gibt zwar Gerede unter den Näherinnen, die ihre Haltung kritisieren, doch sie besteht

2 Vgl. Hinck, Walter: Anmut und Geist. Kleine Komödien-Chronik zur Emanzipation der Frau. In: Ders.: Zwischen Satire und Utopie. Zur Komiktheorie und zur Geschichte der europäischen Ko- mödie. Frankfurt/ Main 1982, S. 206f.. 3 Vgl. ebd., S. 207.

150 darauf, eine Beziehung nach ihren Vorstellungen zu führen. Die ältere Näherin Hober unterstützt ihr Verhalten, während die Näherin Ratzler sie sarkastisch kom- mentiert:

„Ratzler. Die raisonnieren drinne – au weh! Hihi! Sie jammert, er macht Krach. Das kommt davon. Muß die sich auch ’nen Bräutigam anschaffen – so’ne Alte! Hober. Das Herz verlangt nach Liebe, auch wenn’s nich mehr ’s jüngste ist. Was wollt ihr denn? Alle Jubeljahr mal ’raus nach dem Grunewald, sonst im- mer nähen.“4

Insgesamt führt Viebig dem Zuschauer eine selbstbestimmte Frau vor, die Verant- wortung trägt und Macht über ihre Arbeiterinnen hat. Es scheint auch zunächst, als ob sie mit ihrem privaten Leben selbstbewusst umgehen kann. Im Gegensatz zu diesem emanzipatorischen Frauenbild stellt die Autorin jedoch eine Figur dar, die sich ihrem Geliebten völlig unterwirft. In der Liebesbeziehung zeigt Fräulein Freschbolzen die Bereitschaft, dem Geliebten Anerkennung zu gewähren, ohne selbst Anerkennung zu erwarten. Ihre mütterliche Haltung und Anpassung weisen darauf hin, dass sie doch noch die traditionelle Geschlechterrolle spielt. Sie bedient Gustav im alltäglichen Leben, wie etwa dieser Dialog deutlich macht:

„Rundkes Stimme. [Gustav spricht zu Freschbolzen, Anm. S. Sh.]. Du kannst mir ja den Kaffee an’s Bett bringen! (S. 81) [...... ] Rundke (von innen) Julie, wo ist denn der Schuhknöpfer? Donnerwetter, wo ist denn der nu wieder hin? Jule! Freschbolzen. Ich werde ihn ja gleich suchen kommen! (Ab.)“ (S. 98)

Außerdem lässt sie sich von ihm ausnehmen: Als sie herausfindet, dass er Geld beim Skat verspielt, reagiert sie verwirrt, während er sich gleichgültig verhält und seine dominante Position zeigt:

„Freschbolzen (fast weinend) Gott, wo hast du denn all das Geld gelassen? Bei deinem Geschäftsfreund doch nicht, da warst du doch eingeladen zum Abend- brot. Lieber Gott – dreißig Mark, das ist keine Kleinigkeit! Der verdammte Skat! Gewiß habt ihr wieder Skat gespielt?

4 Zitiert wird nach Viebig, Clara: „Fräulein Freschbolzen. Komödie“. In: dies.: „Der Kampf um den Mann“. Dramenzyklus. Berlin 1905, S. 100. Seitenangabe künftig in fortlaufendem Text.

151 Rundke (Kopf herausstreckend). Du sagst es – sehr richtig – Skat! Nu laß mich aber zufrieden, hörst du? Sonst werd’ ich grob. (Schlägt zu.)“ (S. 95)

Bei fehlender gegenseitiger Anerkennung hat sich ein unausgeglichenes Verhältnis zwischen den beiden entwickelt: Der Mann ergreift die Herrschaft über die Frau und macht sie zum Knecht, während sie ihm gehorsam folgt und sich selbst verleugnet. Grund ihrer unterwürfigen Haltung ist, dass sie Angst vor einer Trennung hat; totale Unterwerfung und Gehorsam erscheinen ihr als Weg, schmerzhaftes Verlassenwer- den zu vermeiden und sich Geborgenheit zu sichern. Statt sich gegen die Aus- nutzung durch ihren Geliebten zu wehren, ordnet sie sich unter und bleibt durch ihre Liebe gefesselt. Die Näherin Hober durchschaut das Dilemma ihrer Chefin: „[...] Wahrhaftig, die hat’s auch schwer – [...] nu hat sie ’n paar Groschen, aber nu ist sie in die Jahre. Nu muß sie immer angst haben, daß er eines schönen Tages sagt: „Adieu Sie!“ (S. 89)

2.3.1.2. Die komische Darstellung der Kleinbürgerin

Viebig inszeniert den oben dargestellten Widerspruch der Kleinbürgerin mit Mitteln der Komik, vor allem durch die Darstellung ihres inkonsequenten Verhaltens. Schon zu Beginn des Dramas führt Viebig die Protagonistin in ihrer Widersprüchlichkeit vor: Die ältere Schneiderin tritt als komische Erscheinung auf, „in Nachtjacke und Unterrock, Brennschere in der Hand“ (S. 81), und wird von ihrem jüngeren Geliebten Gustav Rundke in die Rolle eines Dienstmädchens gedrängt:

„Rundkes Stimme. Du kannst mir ja den Kaffee an’s Bett bringen! (Gähnt) [...] Sag mal der Aufwartefrau, sie soll hier einheizen, dass es warm ist, wenn ich aufstehe! Freschbolzen. Die ist noch nich da. Ich werd’ aber selber einheizen. Sei man gut – einen Augenblick! Rundkes Stimme. Julie – Jule! Zum Donnerwetter, Jule!“ (S. 81f.)

Andererseits erscheint sie als selbstbewusste Geschäftsfrau, die stolz auf ihren Beruf ist: „Freschbolzen. [...] (Geht an den Schneidertisch, zieht Balltaille unterm Laken vor.) Hm, wirklich chick! Die Eisener wird zufrieden sein. Wenn sie im ersten

152 Atelier arbeiten ließe, könnte sie’s nich chicker kriegen.“ (S. 81) Im Nebeneinander entgegengesetzter Haltungen, einerseits als untertäniges Dienstmädchen, andererseits als tüchtige Karrierefrau, stellt sich eine komische Inkongruenz ein; dieser Wider- spruch erhält absurde Züge. Der Zuschauer gerät in vorübergehende Ratlosigkeit; nach Helmut Plessner reizt diese zum Lachen. Lachen (nicht nur Lachen über etwas Komisches) bedeutet nach ihm, dass wir mit etwas „nicht fertig werden“.5

Eine andere komische Situation baut Viebig mit Hilfe der widersprüchlichen sozialen Haltung der Kleinbürgerin auf. Im ersten Kapitel habe ich schon die sich widerspre- chende soziale Stellung des Kleinbürgertums herausgearbeitet, seine Position des „Dazwischens“, in der es sich einerseits nach oben anpasst, andererseits aber nach unten distanziert. Hier im Stück verhält sich die selbständige Schneiderin am Anfang als herrische Chefin und handelt manchmal ihren Arbeiterinnen gegenüber unbarmherzig: sie duldet nicht, dass sich die Näherinnen während der Arbeit unter- halten: „Nanu, zahle ich dafür den hohen Arbeitslohn, daß hier geschwatzt wird, statt gearbeitet?! - - - Fräulein Hober, wenn’s Ihnen nicht mehr passt, können Sie sich anderweitig nach Beschäftigung umsehn.“ (S. 90) Sie zeigt auch kein Mitleid mit der alleinstehenden Näherin Friedrich und droht sie zu entlassen, während die ältere Näherin Lehmann für sie spricht:

„Lehmann (begütigend). Na, Sie wissen doch, die hat was Kleines! Freschbolzen. Was geht mich das an? Sie soll ihre Arbeitsstunden innehalten – spätestens halb neun soll sie hier sein, jetzt ist’s bald halb zehn – [...]. (S. 91) [...] Freschbolzen zu Friedrich. Wenn das noch mal vorkommt, entlasse ich Sie, ich kann genug Arbeiterinnen kriegen, besonders jetzt, wo die Saison schon zu Ende geht.“ (S. 92)

Im Gegensatz zu dieser dominanten Haltung gegenüber Angehörigen der unteren Schicht benimmt sie sich ihrem Geliebten gegenüber nachgiebig und unterwürfig. Man kann dies Geschlechterverhältnis auf das Herrschaftsverhältnis in der patriar- chalischen Gesellschaft übertragen: die Frau, die durch die gesellschaftliche Hierar-

5 Vgl. Plessner, Helmuth: Lachen und Weinen. In: Ders.: Philosophische Anthropologie. Hg. von Günter Dux. Frankfurt/ Main, S. 88.

153 chie als niedrigere „Klasse“ oder als untergeordnetes Geschlecht betrachtet wird,6 blickt schmeichelnd nach oben, also nach der höheren „Klasse“ der Männer, und unterwirft sich ihrer Macht. Dieses Geschlechterverhältnis, in dem sich die Frau einerseits ihrem Partner unterordnet, andererseits die herrische Chefin herauskehrt, die die Arbeiterinnen unter sich hat, ist strukturentsprechend zu der sozialen Stellung des Kleinbürgertums. Deshalb eignet sich die Kleinbürgerin besonders gut zur Dar- stellung „weiblichen“ Verhaltens sowie zur Äußerung von Kritik an ihm. Viebig gestaltet dieses widersprüchliche Verhalten, indem sie eine altbekannte komische Technik verwendet, deren Struktur auf den Kontrast zwischen Erwartung und Er- füllung aufbaut. Hier im Text wird zunächst die Erwartung von Dominanz aufgebaut, die dann durch die Erfahrung von Unterordnung enttäuscht wird. Über diese Struktur der Komik schrieb bereits Kant in der „Kritik der Urteilskraft“ (§ 54): „Das Lachen ist ein Affekt aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts.“7 Theodor Lipps entwickelte einen ähnlichen Gedanken und betonte den Vorstellungskontrast zwischen etwas Großem und etwas Kleinem8: „Ein Wert, etwas Ernsthaftes entpuppt sich plötzlich als etwas Minderes, Wertloses.“9 Zu Beginn des Stücks führt Viebig dem Zuschauer eine gestrenge und starke Chefin vor, die ihren Beruf gut im Griff hat und sich den Näherinnen gegenüber intolerant verhält. Als sie aber kein Geld für das Material für eine Kundin auslegen kann, wendet sie sich zuerst an ihren Geliebten. Sie hat keinen Erfolg bei ihm; die Näherinnen helfen ihr jedoch solidarisch und legen das Geld zusammen. Ihnen fehlen nur noch zehn Pfennige. In der Szene, wo sich Fräulein Freschbolzen wegen zehn Pfennigen von ihrem Geliebten schikanieren lässt, verwandelt sie sich dann von einer selbstbewuss- ten Geschäftsfrau in eine untergeordnete Frau:

„Freschbolzen (an der Tapetentür). Gustav, gieb mir doch mal die zehn Pfennige! (Horcht.) Was sagst du – nein? Ach, Gustav, ich geb’ sie dir ja wieder, sei schon gut – bitte – laß mich doch nich so warten ! Bitte, gieb sie mir! (Türritze geht auf, Zehnpfennigstück fliegt in die Stube.)

6 Vgl. Becker-Schmidt, Regina: Frauen und Deklassierung. Geschlecht und Klasse. In: Klasse Ge- schlecht. Feministische Gesellschaftsanalyse und Wissenschaftskritik. Hg. von Ursula Beer. Biele- feld 2 1989, S. 187-235. 7 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. In: Ders.: Werke. Bd. 10. Hg. von W. Weischedel. Frank- furt/ Main 1970, S. 437. 8 Vgl. Lipps, Theodor: Ästhetik. Psychologie des Schönen und der Komik. 1. Teil: Grundlegung der Ästhetik. Hamburg 1903. 9 Hinck, Walter: Einführung in die Theorie des Komischen und der Komödie. In: Die deutsche Ko- mödie. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. von Walter Hinck. Düsseldorf 1977, S. 15.

154 Freschbolzen. Danke, danke! Ach, wo ist es nu hin? (Sucht am Boden, alle rut- schen auf den Knieen. Die Meyer kneift Frida in die Wade. Fridas schreit auf.) Freschbolzen. Haben Sie’s, haben Sie’s? Lehmann. ’ne blinde Henne findet auch mal ein Korn – ich hab’s!“ (S. 98)

Die Erwartung, weiterhin einer kompetenten Arbeitgeberin zu begegnen, löst sich plötzlich in nichts auf. Überraschend fällt die Figur aus der Rolle und zeigt sich hilf- los. Diese Diskrepanz zwischen Erwartung und tatsächlichem Geschehen, zwischen starker Karrierefrau und unterwürfiger Frau, ist so groß, dass der Zuschauer schmun- zelt.

2.3.1.3. Die groteske Darstellung der Kleinbürgerin

In einer zeitgenössischen Rezension (1905) schrieb Theodor Hampe:

„Der dritte Einakter ‚Fräulein Freschbolzen’ giebt sich als Komödie und verträgt als solche eher den Stich ins Karikierte, der sich auch in diesem Stücke bemerkbar macht. Am stärksten haftet er der Titelheldin an, der ältlichen und liebebedürftigen Inhaberin eines Schneiderateliers, die von ihrem „Verlob- ten“ nach allen Richtungen auf das schmählichste betrogen wird und ihm trotz- dem, da er sie schließlich auch noch verlässt, auf das bitterlichste nachtrauert.“10

Ich schließe mich dem an und gehe davon aus, dass das Stück durch karikierende Übertreibung der Charakterzüge der Hauptfigur komisch-grotesk wirkt. Ich nehme den letzten Auftritt des Dramas als Analysebeispiel und stelle die These auf, dass Viebig in der Protagonistin einen „unerträglichen Widerspruch“11 inszeniert; der Zu- schauer findet einerseits ihr Verhalten lächerlich, andererseits ist er entsetzt und empfindet das Grauenhafte ihrer Situation. Bevor ich die Szene analysiere, gehe ich zuerst auf den Versuch ein, den Begriff des Grotesken zu definieren. Ich beziehe mich auf die Überlegungen von Arnold Heidsieck und Carl Pietzcker. In seiner Untersuchung „Das Groteske und das Absurde im modernen Drama“ schreibt Heidsieck:

10 Hampe, Theodor: Echo der Bühnen. In: Das Literarische Echo 7 (1905), Spalte 1585. 11 Heidsieck, Arnold: Das Groteske und das Absurde im modernen Drama. Stuttgart 1969, S. 17.

155 „¸Grotesk’ ist zunächst nicht ein Begriff der Ästhetik, sondern des Erkennens, der über eine bestimmte Beschaffenheit von Wirklichkeit aussagt. Und zwar bezeichnet er spezifisch deren Entstellung – von einer Art, die den Betrachter entsetzt und zugleich lachen macht, die grauenvoll und lächerlich in eins ist.“12

Das Wesen des Grotesken ist nach Heidsieck, das Lächerliche und das Grauenhafte auf widersprüchliche Weise zu verbinden. Dass die Konfrontation mit dem Grauen zugleich zum Lachen reizt, liegt an der Unvereinbarkeit zweier Vorstellungen, die auf überraschende Weise nebeneinander gestellt und in Zusammenhang gebracht werden.13 Über das Groteske schreibt Carl Pietzcker:

„Im Grotesken versagt ein als selbstverständlich geltender Sinn- bzw. Er- wartungshorizont vor etwas, das ihm nicht entspricht und deshalb widersteht; die Spannung zwischen beiden ist unabdingbar. Grotesk ist nicht die Ver- mischung von Stilen, Ordnungen, Bereichen, das bloße Nebeneinander des Heterogenen [...]; das Groteske verlangt vielmehr, daß erstens eine bestimmte Weise, wie die Welt oder der Mensch ist, erwartet wird, und daß zweitens diese Erwartung scheitert, so daß die Weltorientierung versagt und die Welt unheim- lich wird.“14

Das Groteske entsteht also aus der Verbindung zweier Elemente: der Erwartung des Lesers einerseits und dem tatsächlichen Geschehen, das sich dieser Erwartung wider- setzt auf der anderen Seite. Entsprechendes konstruiert Viebig auch in der Schluss- szene des Stücks. Nachdem Fräulein Freschbolzen herausgefunden hat, dass Gustav Geld, das er bei einer Baronin holen sollte, für sich behalten hat, beschimpft sie ihn vor den Näherinnen:

„Freschbolzen. Die Rechnung – die Rechnung bei der Baronin! Ach, ich zittre, ach, die Schande! Du Mensch, (rüttelt ihn) du bist hingegangen, du hast das Geld gekriegt, du hast das Geld eingesteckt, vertan – (wie mit einem plötzlichen Freudenstrahl) verloren -?! - - Nein, nicht verloren, das lügst du! Vertan, vertrunken, mit Frauenzimmern verjuxt – mit andern! (Schmerzlich.) mit ’ner andren! Und ich – ich sitze und nähe und nähe und warte drauf – und du lässt

12 Heidsieck, 1969, S. 17. 13 Vgl. ebd., S.17. 14 Pietzcker, Carl: Das Groteske. In: Das Groteske in der Dichtung. Hg. von Otto F. Best. Darmstadt 1980, S. 86f..

156 mich warten – du siehst meine Angst, du siehst meine Not – du o du Kerl! (Fällt weinend auf einen Stuhl.)“ (S. 119)

In dieser Szene zeigt die Autorin dem Zuschauer eine Phase des Selbsterkennens der Hauptfigur; sie erzeugt die Erwartung, dass diese die Realität endlich bewusst wahr- nimmt, aus der Geschichte lernt und ihr Leben wieder selbst bestimmt. Viebig setzt dieser Erwartung jedoch sofort die Enttäuschung entgegen: Der entlarvte Betrüger befreit sich aus der ihm unangenehmen Situation, indem er sie in die einer ihm aufgedrängten Abhängigkeit uminterpretiert:

„Rundke (Hände in den Hosentaschen). [...] Meinst du, zum Spaß sitz’ ich hier? Hab’ ich mich dazu gedrängt? Ne, du hast mich gedrängelt - - - „Gustav, mein lieber Gustav! Mein süßer Gustav!“ - - Gustav hin, Gustav her! Alte Schrau- ben halten am festesten. Ich mag nich mehr. Ich hab’ es satt. Leben Sie wohl, meine Damen!“ (S. 119)

Als er sie verlässt, ruft sie ihm laut nach: „Freschbolzen (aufschreiend). Gustav, Gustav! Frida (wirft sich auf die Kniee vor der Freschbolzen, birgt schluchzend ihr Gesicht in deren Schoß). Ach, Fräulein Freschbolzen, Fräulein Freschbolzen, was ist das alles so traurig!“ (S. 120) In dieser Schlussszene konstruiert Viebig eine ambiva- lente Haltung der beiden Frauen, die sich als Opfer und Betrogene verblenden lassen: Diese zeigt sich auf der einen Seite in ihrer Ausweglosigkeit und Abhängigkeit und darin, dass sie vom Mann verstoßen werden, auf der anderen Seite reflektiert die Autorin hier eine Art von Frauensolidarität, in der die Frauen gemeinsam das schwe- re Schicksal erleben und zusammen trauern. Mit Mitteln des Grotesken setzt Viebig den Erkenntnisprozess des Zuschauers in Gang: Die Hoffnung auf einen neuen An- fang der Kleinbürgerin und die Erwartung der Selbständigkeit dieser Figur wird in diesem Moment enttäuscht; der Schrei deutet darauf hin, dass sie ihn wieder zurückwünscht und bereit ist, sich ihm dafür vollständig anzupassen. Ihr Ausruf, ein Zeichen ihrer erneuten völligen Unterwerfung unter den Mann, widerspricht der zuvor geweckten Erwartung. Durch diesen unvereinbaren Kontrast zwischen Erwar- tung und sich ihr widersetzendem Geschehen entwickelt sich das Groteske in dieser Szene: Der Zuschauer findet einerseits die Abhängigkeit der Schneiderin lächerlich, andererseits spürt er das Bedrohliche dieser Situation; wenn der „unerträgliche Widerspruch“ zum Lachen reizt, dann ist es ein Lachen, das im Halse stecken bleibt.

157 Es ist eine Situation, die dem Zuschauer die Ausweglosigkeit von Freschbolzens Lage vor Augen hält, ihm das Gefühl eigener Ohnmacht vermittelt und ihn betroffen macht.15

2.3.2. Der Kleinbürger Gustav als komische Figur

Auch Gustav Rundke, der Geliebte Fräulein Freschbolzens, ist eine komische Figur. In ihm gestaltet Viebig ebenfalls eine widersprüchliche Haltung: Einerseits benimmt er sich der Protagonistin gegenüber als dominanter Herrscher, andererseits ist er finanziell von ihr abhängig. Zwar kommt er mit dieser parasitären Lebensform zu- recht, doch nach außen täuscht er einen rechtschaffenen und finanziell selbständigen Mann vor. Er verhält sich gegenüber den Näherinnen als Chef und spielt seinen männlichen Charme bei ihnen aus; da er der Freund ihrer Chefin ist, nutzt er die Situation und versucht mit jeder Näherin ein Techtelmechtel. Er verführt die unerfahrene Frida und geht mit der hübschen Trude auf einen Ball. (S. 82-83, 103) Diese Mischung von erotischem Gehabe und Männlichkeit symbolisiert die Macht der Männer in dieser kleinbürgerlichen Gesellschaft, besonders in Situationen, in denen Frauen als Unterdrückte erscheinen. Gustav zeigt sich als aufgeblasener, herumstolzierender Herr, der versucht, sich seine Geliebte und die Arbeiterinnen unterzuordnen. Im Beruf steht er jedoch seinen Kunden als unterwürfiger Versicherungsangestellter gegenüber. Vor den Näherinnen und seiner Geliebten klagt er:

„Rundke. [...] Wissen Sie, meine Damen, Sie führen ein Leben wie Gott in Frankreich gegen mich! Da rennt man nu Tag für Tag zu Herrschaften und Por- tiers: wollen Sie sich nicht gegen Unfall versichern? - fünf Treppen hoch und bis in’s Allerunterste. Jetzt habe ich so ’nen alten fetten Rollmops von Rentier auf dem Kieker, sechsmal hat er mich schon angegrunzt: „Bin versichert“ – aber ich gehe doch noch mal hin.“ (S. 108)

Diese dauernde Unselbständigkeit und die Abhängigkeit von Leistungs- und Markt- kriterien machen die Mentalität des Angestellten aus, der sich unterordnen muss.16

15 Vgl. Sandig, Holger: Deutsche Dramaturgie des Grotesken um die Jahrhundertwende. München 1980, S. 76f.. 16 Vgl. Kocka, Jürgen: Die Angestellten in der deutschen Geschichte: 1850-1980. Vom Privatbe- amten zum angestellten Arbeitnehmer. Göttingen 1981, S. 122 und 130.

158 Mit Ausdrucksmitteln des Komischen konstruiert die Autorin Gustav als eine typisch komische Figur: der Betrüger, in dessen Täuschungsspiel seine Paradoxie zum Aus- druck gebracht wird.

Der Kleinbürger als komischer Betrüger

Zur Komik der Verstellung gehören immer ein Täuschender und ein Getäuschter; der Betrüger versucht, über Wirklichkeit und Wahrheit hinwegzutäuschen, während der Betrogene sich selbst verkennt oder aus Unwissenheit und Schwäche das, was ihm vorgemacht wird, nicht durchschauen kann.17 In der Szene, wo eine Näherin sich über Gustav lustig macht, verteidigt die getäuschte Chefin ihren Geliebten stolz vor allen Angestellten:

„Meyer (lacht belustigt auf). Ja, Sie – Sie werden sich gerade so abrappeln. Freschbolzen (mit strafendem Blick). Herr Rundke ist enorm tüchtig! [...] Lie- ber Gustav, geh doch noch mal hin, du hast ja so viel Pli, sieh doch zu auf feine Weise, daß du was ’rauskriegst – wenn’s ja auch nur erst die Hälfte wäre! Rundke. Das verlangst du von mir?! Ist das deine Liebe?! Nein, ich bin kein Speichelecker, kein Schwanzwedler, kein Sklave, kein Schmarotzer – ich bin ein aufrechter Mann! Ich werde doch nicht in den Vorzimmern dieser Reichen wie ein Bittsteller antichambrieren?!“ (S. 109)

Im Geschäft gerät die Schneiderin in finanzielle Schwierigkeiten und braucht drin- gend die Hilfe ihres Geliebten, um die Schulden der Baronin einzutreiben. Sie zeigt ihm Vertrauen und Anerkennung und hofft auf seine Solidarität; er aber nutzt ihr Zutrauen und versucht sie abzulenken. Mit einer Übertreibung, die komisch wirkt, will Gustav seine parasitäre Lebensweise verstecken, während der Zuschauer seine Verstellung durchschaut. Aus dem Gespräch unter den Näherinnen hat er schon vor- her erfahren, dass Gustav finanziell abhängig ist von Fräulein Freschbolzen:

„Ratzler. Ein Skandal, es ist ein Skandal! Ob er ihr heiratet!? Ob er sie wirk- lich gut ist, oder nur von wegen die Moneten? (S. 89) [...] Ratzler. Na, die sitzt schön drinne! Der teure Bräutigam!

17 Vgl. Martini, Fritz: Lustspiele und das Lustspiel. Stuttgart 2 1979, S. 23.

159 Hober. Wie kann man da nu lachen?! Wahrhaftig traurig: sie schind’t sich und er schmeißt’s raus!“ (S. 95f.)

Je übersteigerter er von Ehre, Ehrlichkeit und finanzieller Selbständigkeit spricht, desto komischer wirkt sein Täuschungsmanöver; diese Verstellung reizt den Zu- schauer zum Lachen. Was in dieser Szene (S. 109) die Lächerlichkeit noch erhöht, ist die Protagonistin, die sich selbst etwas vormacht und sich sicher ist, dass er ein ehrlicher Mann ist. Gerade deshalb verkennt sie die Situation. Als Gustav sie immer wieder unter Druck setzt und davon abhalten will, die Schulden einzutreiben, gibt sie nach und sucht ihn wieder zu gewinnen.

„Freschbolzen. Gustav, lieber Gustav, na ja, sei nur nicht böse! Nein, nein, du sollst ja auch gar nicht hingehn – nein, du hast ganz recht, das kannst du auch nicht! (Seufzend.) Ja, da werde ich Frida’n nachher noch mal hinschicken! Was kann da weiter sein! Ich verliere eben die Kundin. Das Geld muß ich ha- ben. Rundke (einen Augenblick betroffen). Na – höre mal, das würde ich dir denn doch nicht raten. Die Baronin war ’ne vortreffliche Kundin, so eine kriegst du so bald nicht wieder. Immer noble Sachen und – ’ne Baronin! Was nutzt das deinem Renommee! Glaubst du, die Goldstein ließe sonst hier arbeiten? Na ja, schicke nur hin, schick’ nur hin, wenn du die auch gleich mit quitt sein willst! Ueberhaupt wenn du so bist – na, denn: gute Nacht! Freschbolzen. Was soll ich tun, was soll ich tun? Ach Gott, ich bin in einer schrecklichen Lage!“ (S. 109f.)

Wegen ihrer Unfähigkeit, die Sache zu durchschauen, wird sie allmählich zum Werk- zeug in den Händen des Betrügers. Es ist eine komische Situation, in der sie etwas will und nicht dafür arbeitet; sie ist ohnmächtig, verwirrt und nicht mehr handlungs- fähig. Dem Betrüger ist es gelungen, sie über die Wahrheit hinwegzutäuschen. Doch dies Ablenkungsmanöver gelingt nur für einen Moment; kurz danach scheitert es, denn die Näherinnen, die die Rolle von Beobachterinnen einnehmen, entlarven seine Lüge: Ironisch fragt ihn die Näherin Lehmann, als er sich aufgeregt zeigt, während Fräulein Freschbolzen mit der Baronin im anderen Raum über die Schulden spricht:

„Lehmann. Ach, Herr Rundke, sind Sie noch da? Ich denke, Sie sind Roll- möpse angeln gegangen?

160 Rundke. Ich muß doch mal hören – ich muß doch mal sehen – (Schleicht an die linke Tür, horcht, prallt zurück.) Donnerwetter! Na, das wird nett werden. Lehmann (Brille putzend, ihn dann scharf fixierend). Was wird nett wer- den?“ (S. 114)

Das Misslingen seines Verdeckungsversuches bringt den Zuschauer zum Lachen, denn er erkennt den Betrug. Vor allem mit dieser Dialektik von Täuschung und Ent- hüllung, von Verstellung und Aufdecken der Wahrheit erreicht das Stück seine komi- sche Wirkung.

2.3.3. Die Darstellung der Kleinbürgerin als Satire auf bürgerliche Frauen

Traditionelle Komödien führen nach aristotelischer Dramaturgie normalerweise zu einem Happy End, in dem die Ordnung des gestörten Gesellschaftszustandes wieder hergestellt wird und die Probleme gelöst werden.18 Fritz Martini schreibt in „Über- legungen zur Poetik des Lustspiels“: „Der Konflikt enthält in Komödie und Lustspiel dialektisch bereits in sich die Perspektive auf eine glückliche Auflösung.“19 Dieses Grundmuster ändert sich um die Jahrhundertwende radikal; die Komödien folgen nicht mehr den traditionellen Regeln. Sie bieten statt eines versöhnenden ein proble- matisches Ende; die ungelösten Konflikte bleiben bis zum Schluss offen.20 In dem Einakter „Fräulein Freschbolzen“ setzt Viebig kein harmonisches Ende, sondern stellt die völlige Abhängigkeit der Kleinbürgerin vom Mann auf groteske Weise dar. Aber welche Funktion hat die Kleinbürgerin in der letzten Szene für die Autorin? Ich vertrete die These, dass die Autorin die Kleinbürgerin als satirische Figur einge- setzt hat, um mit Hilfe des Grotesken das abhängige Verhalten bürgerlicher Frauen zu kritisieren. Sie projiziert es auf eine untere Schicht, das Kleinbürgertum, um sich so von ihm zu distanzieren. Ich möchte diese These aus zwei Blickwinkeln betrach- ten: Zum einen werde ich die sozialhistorische Stellung der bürgerlichen Frauen um die Jahrhundertwende untersuchen, zum anderen werde ich auf den biographischen Hintergrund von Viebig eingehen. Beides weist darauf hin, dass Viebig das ab-

18 Vgl. Haida, Peter: Komödie um 1900. Wandlungen des Gattungsschemas von Hauptmann bis Sternheim. München 1973, S. 19. 19 Martini, Fritz: Überlegungen zur Poetik des Lustspiels. In: Ders.: Lustspiele und das Lustspiel. Stuttgart 2 1979, S. 33. 20 Vgl. Haida, 1973, S. 14.

161 hängige Verhalten bürgerlicher Frauen durchschaut und auch selbst, in eigener Per- son, hart dagegen gekämpft hat. Sie bringt diese Problematik im Drama aber durch das Dilemma einer Kleinbürgerin nur mittelbar zum Ausdruck.

Der Unterschied zwischen den Geschlechtern wurde schon um die Wende zum 19. Jahrhundert im Bildungsbürgertum stärker polarisiert; zum bürgerlichen Modell gehörte der Kontrast der Geschlechtercharaktere: Der Mann ist für die Öffentlichkeit zuständig, die Frau sorgt für Familie und Haushalt. Er übernimmt die Aufgabe gesellschaftlicher Produktion; sie wird auf das Feld privater Reproduktion verwiesen. Das Bild der bürgerlichen Frau ist durch Passivität, Emotionalität und Aufopferungs- bereitschaft gekennzeichnet. Die Merkmale des idealen Mannes sind Aktivität, Mut und Rationalität. Diese Vorstellung vom Wesen der Geschlechter und die ge- schlechtsspezifische Arbeitsteilung wurden im zwanzigsten Jahrhundert weiterhin als Maßstab für die bürgerliche Familie genommen.21 Entsprechend wurden im Bürger- tum die Frauen sozialisiert. Die guten Umgangsformen und der Benimm-Kanon un- terstützten das Weiblichkeitsbild vom schutzbedürftigen hilflosen Mädchen. Schul- bildung bedeutete für Mädchen Vorbereitung auf ihre zukünftige Rolle als Hausfrau, Mutter und Gattin. Nach Abschluss der Schule blieb ihnen nichts anderes übrig, als auf eine gute Partie zu warten.22 Erziehungsbücher, Mädchen- und Frauenromane prägten diesen Gedanken ein: Die Familienromane in der Familienzeitschrift „Die Gartenlaube“, die 1853 von Ernst Keil in Leipzig gegründet wurde und bis um 1900 noch sehr bekannt war, vermittelten ihren Millionen Leserinnen die Vorstellung, dass selbst ein Mädchen aus ärmlicher bürgerlicher Familie durch Bescheidenheit, Frömmigkeit und hauswirtschaftliche Tüchtigkeit einen erfolgreichen Heiratspartner finden kann.23 Unter diesen gesellschaftlichen Normen wurden viele Frauen zur Ehe gedrängt; Heirat wurde das Lebensziel einer bürgerlichen Frau; es galt, einen passenden Lebensversorger zu finden. Die soziale Stellung einer bürgerlichen Frau

21 Vgl. Hausen, Karin: Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“. Eine Spiegelung der Dissozia- tion von Erwerbs- und Familienleben. In: Seminar: Familie und Gesellschaftsstruktur. Materialien zu den sozioökonomischen Bedingungen von Familienformen. Hg. von Heidi Rosenbaum. Frank- furt/ Main 4 1988, S. 161-191. 22 Vgl. Frevert, Ute: „Wo du hingehst...“ – Aufbrüche im Verhältnis der Geschlechter. Rollentausch anno 1908. In: Jahrhundertwende. Der Aufbruch in die Moderne. 1880-1930 Bd. II. Hg. von August Nitschke. Reinbek b. Hamburg 1990, S. 91. Vgl. auch Weber-Kellermann, Ingeborg: Frauenleben im 19. Jahrhundert: Empire und Romantik, Biedermeier, Gründerzeit. München 2 1988, S. 108-118. 23 Vgl. ebd., S. 139f..

162 wurde quasi durch ihren Gatten bestimmt. So schlug sich die Rollenteilung der Ge- schlechter nieder: Der Mann legitimierte sich als der einzige „Ernährer“ der Familie; der Frau wurden die Funktionen von Gattin, Hausfrau und Mutter zugewiesen. „Sie führte ‚sein’ Haus, erzog ‚seine’ Kinder und gab ‚sein’ Geld aus.“24 Dieses Bild selbstlosen Dienens deutet einerseits auf ihre völlige Abhängigkeit vom Mann, an- dererseits darauf, wie die Männer die Welt beherrschen.25 Die bürgerliche Frauen- bewegung seit den 1860er Jahren hat zwar gegen die ungleichen Bildungschancen und die Unmöglichkeit gekämpft, dass bürgerliche Frauen einen Beruf ausüben, doch sie teilte bis um die Jahrhundertwende die Vorstellung von der Polarität der Ge- schlechter und die Idee, dass sie sich gegenseitig ergänzen. Aufgabe der Frau war es ihren Forderungen zufolge, „in der inhumanen Männerwelt durch Weiblichkeit mehr Humanität zu verwirklichen.“26 Fast ohne Ausnahme hielt der gemäßigte Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung daran fest, dass die Frau zur Mutterschaft bestimmt und selbstlose liebevolle Mütterlichkeit ihre wichtigste Aufgabe sei.27 Die Politik der Mütterlichkeit sollte die einseitige Männerwelt durch ihre weiblichen Ideen harmonisieren und verbessern.28 Betrachtet man die gesellschaftliche Wirklichkeit, so hatte das politische Engagement in der bürgerlichen Frauenbewegung zunächst nicht für verheiratete, sondern für unverheiratete Frauen Folgen: Der Zugang zu Ausbildungschancen und zum Berufsleben wurde für Frauen erleichtert. Trotzdem waren bürgerliche Frauen gezwungen, zwischen Beruf und Ehe und so auch Mutterschaft zu wählen.29 Insgesamt wurde den bürgerlichen Frauen sowohl gesell- schaftlich als auch in der Familie eine untergeordnete und abhängige Position zugewiesen.

Unter diesen gesellschaftlichen Umständen wuchs auch die begabte Clara Viebig auf. Sie kam aus dem Bildungsbürgertum. Als Tochter eines hohen Beamten wurde sie streng erzogen: Die Mutter hielt sich treu an das protestantische Pflicht- und Ar- beitsethos und die bürgerlichen Normen; Clara fühlte die Unbeweglichkeit der rigiden und konventionellen Erziehung ihrer Mutter. Sie schreibt:

24 Frevert, 1990, S. 93. 25 Weber-Kellermann, 1988, S. 140. 26 Hausen, Karin, 1988, S. 172. 27 Vgl. Frevert, 1990, S. 97, vgl. auch Kapitel III 2.2. dieser Arbeit, S. 128f.. 28 Vgl. Lange, Helene: Die Frauenbewegung in ihren modernen Problemen. Berlin 1907, S.118. 29 Vgl. Weber-Kellermann, 1988, S. 146f..

163 „Sie, eine Pastorentochter, sehr jung an den viel älteren hohen Beamten verheiratet, war nie aus dem engen Kreis herausgekommen, den Herkunft und Lebensstellung um sie gezogen hatten. Wir waren oft uneins; sie gehörte noch ganz zum alten Schlag. [...] Für sie gab es noch kein Recht der Kinder, nur ein Recht der Eltern; das Recht, ihre Kinder ganz dem eignen Geschmack, den eig- nen Ideen nach zu erziehen. Es kam mir hart an, meine Wünsche und mein Wollen über Bord zu werfen; die Mutter war die Stärkere. [...] In [...] [ihr] steckte eine Kraft, eine Unbeugsamkeit, deren eiserner Disziplin die große Tochter sich einfach fügen mußte.“30

Der Vater war Oberregierungsrat; er war ständig krank. Als „ein ernster und stiller Mann“31 erschien er der Tochter. Durch den frühen Tod des Vaters geriet die Fami- lie in finanzielle Schwierigkeiten; Clara wollte der Familie helfen; doch ihr Plan, Konzertsängerin zu werden, scheiterte. Ab 1894 schrieb sie kleinere Novellen und Skizzen in der „Volkszeitung“; möglicherweise wurde sie von der Familie unter Druck gesetzt und musste deshalb anfangs unter einem Pseudonym (C. Anders) veröffentlichen, um der sozialen Konvention Genüge zu tun.32 Bis 1917 verwendete sie die Abkürzung des Vornamens C. Viebig, um ihre weibliche Identität zu ver- bergen.33 Denn es bedeutete damals einen Skandal, wenn die Tochter eines hohen Beamten Schriftstellerin oder Schauspielerin wurde. In ihrem autobiographischen Aufsatz schreibt sie: „Allerdings dachte ich damals noch nicht daran, daß ich Schrift- stellerin werden könnte, ein Beruf, der so unbürgerlich für die Beamtentochter war, genau so unmöglich wie das Schauspielerinwerden.“34 Als die Familie herausfand, dass sie für Zeitungen schrieb, reagierte sie ausgesprochen negativ: „Was war das für

30 Viebig, Clara: Wie ich Schriftstellerin wurde. In: Almanach von Velhagen & Klasings Monats- heften. Berlin 1908, S. 32. 31 Clara Viebig beschrieb ihren Vater in dem Aufsatz „Wie ich Schriftstellerin wurde“: „Ich erinnere mich meines Vaters nur als eines kranken Mannes; den hageren Körper ein wenig vorgeneigt, hatte er in den tiefliegenden blauen Augen unter der hohen Stirn ein Leuchten, das nicht mehr von dieser Welt war. Ein stiller und ernster Mann. Einen fröhlichen Vater habe ich nie gekannt, und doch hat dieser ernste Mann mit dem schneeweißen Haar sein junges Kind so gut verstanden.“ Hier zeigt sich die Idealisierung des Vaterbildes infolge des früh erlittenen Verlusts des Vaters. (Ebd., S. 28). 32 Barbara Krauß-Theim hat den Nachlass von Viebig (Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kul- turbesitz, Nachlass 127, Kasten 1, Faszikel 3, Blatt 125) recherchiert und ein Exemplar (undatiert und ohne Angabe des Veröffentlichungsorts) der „Novelette von C. Anders. Auferstanden“ gefun- den, in dem das Pseudonym in der Handschrift Viebigs durchgestrichen und durch „Viebig“ er- setzt worden ist. (Vgl. Krauß-Theim, Barbara: Naturalismus und Heimatkunst bei Clara Viebig. Darwinistisch-evolutionäre Naturvorstellungen und ihre ästhetischen Reaktionsformen. Frankfurt/ Main 1992, S. 112). 33 Vgl. ebd., S. 112. 34 Viebig, Clara: Aus meinem Leben. In: Dies.: Heimat. Novellen von Clara Viebig mit einer auto- biographischen Skizze. Stuttgart 1914, S. 10.

164 ein Entsetzen bei Mutter, Bruder und Verwandten, als sie meinen Namen unter allen möglichen Geschichten in den Zeitungen entdeckten! Ihr Entsetzen hat mich nicht gehindert, dem einmal betretenen Weg zu folgen.“35 Doch sie kämpfte gegen diese bürgerlichen Normen um ihre Unabhängigkeit und ließ sich nicht erschüttern. In ihrem Roman „Rheinlandstöchter“ (1897) projiziert sie den Kampf um die Selbstän- digkeit der Höheren Tochter auf die Hauptfigur „Nelda Dallmer“; sie schreibt in der autobiographischen Skizze:

„Schon in meinen „Rheinlandstöchtern“, [...] habe ich unbewusst in der Figur der Nelda Dallmer ein Selbstporträt gezeichnet. [...] [D]er Kampf, den Nelda kämpft, [ist] noch nicht ausgekämpft. Ja, es will mir scheinen, daß das unbe- wusste Streben meiner Nelda, fort aus den Banden der Konvention, unabhängig von Heiratsaussichten, auf eignen Füßen zu stehn, sich, ihres Eigenwertes be- wusst, freiwillig nur dem zu geben, den sie ihrer für wert hält, [...]“36

Dieser Wunsch, ihr Schicksal selbst zu bestimmen und sich nicht vom Mann völlig abhängig zu machen, spiegelt sich oft in ihren Werken.37 Am Schluss des Stücks „Fräulein Freschbolzen“ stellt sie das völlig unterwürfige Verhalten einer Kleinbür- gerin gegenüber einem Mann dar, das die Frauen in ihrer eigenen Schicht tendenziell auch haben. Die Verschiebung des eigenen Problems auf eine untere Schicht dient der Autorin dazu, sich leichter über ihren eigenen Konflikt zu äußern. Mit Mitteln des Grotesken führt sie den bürgerlichen Zuschauerinnen Fehler und Schwächen einer Kleinbürgerin vor. So können sie sich von dem eigenen Problem distanzieren und ein Stück weit über sich selbst lachen; es entsteht freilich ein bitteres Lachen, das sowohl Betroffenheit als auch Grauen weckt.

Wie in der traditionellen Komödie hat Viebig auch in diesem Stück eine untere Schicht, das Kleinbürgertum, als Sujet der Komödie ausgewählt. Die Komik des Versicherungsangestellten Gustav entsteht aus seinem als übertrieben durchschau- baren Täuschungsspiel, in dem das Paradoxe seiner Haltung zum Ausdruck kommt. Mit komischen und grotesken Mitteln zeigt die Autorin das widersprüchliche

35 Ebd., S. 11. 36 Ebd., S. 10. 37 Stein, B[ernhard]: Klara Viebig. In: Die Bücherwelt 4/1 (1906/1907), S. 10.

165 Verhalten der Schneiderin: sowohl ihren inneren Konflikt zwischen Selbständigkeit und Unterwerfung als auch den ihrer ambivalenten sozialen Stellung. Die komische Darstellung der Kleinbürgerin verweist nicht nur darauf, dass Viebig eine Komödie schreiben wollte, um den Zuschauer zum Lachen zu bringen, sie übt mit dieser Figur auch Kritik an der Abhängigkeit bürgerlicher Frauen. Indem sie das Problem auf eine Kleinbürgerin verlagert und sich der Gattung Komödie bedient, schafft sie die nötige Distanz, ihr Anliegen zu vermitteln.

166 IV. Vergleich

Nach der Analyse der Motive der Kleinbürgerin und des Kleinbürgers im Drama im Einzelnen komme ich in diesem Kapitel zum Vergleich der verschiedenen Stücke und Motive. Ich möchte den Fragen nachgehen, 1) wie die Kleinbürgerinnen und Kleinbürger im Drama dargestellt werden und 2) ob Autorinnen und Autoren hierbei unterschiedlich mit dem Kleinbürgertum umgehen bzw. unterschiedliche Zwecke verfolgen.

1. Darstellung der Kleinbürgerin und des Kleinbürgers 1.1. „Die imaginierte Weiblichkeit“1 – Das Bild der Kleinbürgerin aus der Perspektive männlicher Autoren

„Ein höchst seltsames, gemischtes Wesen entsteht vor unserem Auge. Im Reich der Phantasie ist sie von höchster Bedeutung; praktisch ist sie völlig unbe- deutend. Sie durchdringt die Dichtung von Buchdeckel zu Buchdeckel; sie ist alles andere als historisch abwesend. Sie beherrscht das Leben der Könige und Eroberer in der Fiction; in der Wirklichkeit war sie der Sklave eines jeden belie- bigen Jungen, dessen Eltern ihr einen Ehering auf den Finger zwangen. Einige der inspiriertesten Worte, einige der tiefgründigsten Gedanken der Literatur kommen ihr über die Lippen; im wirklichen Leben konnte sie kaum lesen, kaum buchstabieren und war das Eigentum ihres Ehemannes.“2

Bei der Forschung über die Diskrepanz zwischen realen Frauen und den von Männern projizierten Frauenbildern in der Literatur, auf die Virginia Woolf hier hinweist, ergeben sich zwei wichtige Ansätze: Der eine geht davon aus, dass die Frauenbilder sich als bewusste Ideologiemuster erweisen; der andere geht eher von unbewussten Wunschbildern der Männer aus. Silvia Bovenschen weist in ihrer Arbeit „Die imaginierte Weiblichkeit“ auf die „Schattenexistenz“3 realer Frauen in

1 Den Begriff übernehmen ich von Bovenschen, Silvia: Die imaginierte Weiblichkeit. Exempla- rische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weib- lichen. Frankfurt/ Main 1979. 2 Woolf, Virginia: Ein Zimmer für sich allein. Frankfurt/ Main 1981, S. 51. 3 Bovenschen, 1979, S. 17.

167 der Geschichte und im Gegensatz dazu auf den „Bilderreichtum“4 in der Literatur hin. Die Produktion von Frauenbildern betrachtet sie als Formung ideologischer Muster, die über das wirkliche Machtverhältnis zwischen den Geschlechtern hinwegtäuscht.5 Mit diesen Ideologien identifizierten sich, so Inge Stephan, reale Frauen und erfüllten damit ein Verständnis von Weiblichkeit, das letztendlich nur eine Projektion von Männern sei.6 Das Grundverständnis von Weiblichkeit, das im philosophischen und kultursoziologischen Diskurs vermittelt wird, verbindet sich laut Bovenschen immer mit dem Begriff der „Natur“: „Die Frau ist als Verkörperung der Natureinheit das, was der Mann im Kunstwerk erst wiederherzustellen sucht.“ 7 So würden die Frauenbilder in der männlichen Literatur „zugleich erhoben und erniedrigt, und zwar so hoch und so tief, daß sie [die Frau; Anm. S. Sh.] in den gesellschaftlichen Lebenszusammenhängen keinen Platz mehr findet."8 Einem dualisierenden Prinzip folgend unterteilten sie laut Lena Lindhoff das Weibliche in das Ideal auf der einen Seite und das Dämonische auf der anderen. 9 Die Frauenfigur sei entweder „Ewigweibliches“ 10 oder „Verderberin“ 11 , Madonna oder Hure, Unschuld oder Verführerin, liebende Mutter oder femme fatale. Klaus Theweleit versteht die Weiblichkeitsmuster als Wunschbilder, in denen Männer ihre Phantasien über das Wesen der Frau zum Ausdruck bringen. 12 In diese „Männerphantasie“ gingen Abwehrmechanismen ein wie Verdrängung, Projektion, Sexualisierung und Entsexualisierung, durch die Männer ihr Verständnis von der Beziehung zwischen den Geschlechtern bewusst oder unbewusst ausdrückten; sie seien, so Inge Stephan, keine Darstellungen der realen Geschlechterverhältnisse, sondern Phantasieprodukte von Männern.13 Diese Position vertritt auch die Psychoanalytikerin Christa Rohde- Dachser, für sie sind „Weiblichkeitsmythen“ Abwehr- und Wunschphantasien des Mannes, eine Art Ausgleichsbildungen zwischen Wunsch und Angst.14 Sie dienten

4 Bovenschen, 1979, S. 17. 5 Vgl. Stephan, Inge: „Bilder und immer wieder Bilder...“. Überlegungen zur Untersuchung von Frauenbildern in männlicher Literatur. In: Die verborgene Frau. 6 Beiträge zu einer feministischen Literaturwissenschaft. Hg. von Inge Stephan und Sigrid Weigel. Berlin 3 1988, S. 18. 6 Vgl. ebd., S. 19. 7 Bovenschen, 1979, S. 37. 8 Ebd., S. 31. 9 Vgl. Lindhoff, Lena: Einführung in die feministische Literaturtheorie. Stuttgart 1995, S. 17. 10 Ebd., S. 17. 11 Ebd., S. 17. 12 Vgl. Theweleit, Klaus: Männerphantasien. 2 Bde. Frankfurt/ Main 1977. 13 Vgl. Stephan, 1988, S. 20f.. 14 Vgl. Rohde-Dachser, Christa: Expedition in den dunklen Kontinent. Weiblichkeit im Diskurs der Psychoanalyse. Berlin 1990, S. 100.

168 dazu, das Verdrängte der Männer in eine kulturell akzeptable Form zu bringen, es zu beherrschen. Die Frau in der Literatur spiele „dem Mann in all [ihrer] täuschenden Andersartigkeit letztlich sein Echo zurück“.15 So werde laut Lena Lindhoff das Weibliche einerseits zum Bild des mütterlich-naturhaften Ursprungs, wo sich der Mann nach Lust, Unschuld, Verlockung und Vergebung sehne; andererseits werde es zum gefährlichen Bild des Unbehagens und des Todes.16 Im ersten Teil dieser Arbeit habe ich das Motiv der Kleinbürgerin in den Dramen männlicher Autoren untersucht. Ich werde im folgenden die drei Hauptfiguren: Frau Wolff, Frau John und Luise untersuchen und herausarbeiten, wie die Autoren ihre Wunschphantasien und Projektionen von Frauenbildern umsetzen und fragen, ob in den Werken ein ideologisches Muster erkennbar wird.

1.1.1. „Große Mutter“ – Mutter Wolff in „Der Biberpelz“

Mit der proletarisch-kleinbürgerlichen Figur der Mutter Wolff hat Hauptmann einen Komödientyp konstruiert, der mit seiner Durchsetzungsfähigkeit und Überlegenheit seinen Aufstiegsplan zur Erfüllung bringen will. Hier werden die Widersprüche innerhalb der kleinbürgerlichen Gesellschaft und deren Bildungsstreben durch komische Elemente wie z.B. falsch angewendete Fremdwörter deutlich gemacht. Stärke und Vitalität dieses Mutterbilds interpretiert Oskar Seidlin als Momente des Urmythos von der „Großen Mutter".17 Er geht davon aus, dass Hauptmann mit dieser Figur ein Urbild der anarchistischen Mutter proklamieren wollte, die gegen alles ist, was die Zivilisation repräsentiert: Vorschriften, Institutionen und staatliche Ordnungen. Er vergleicht die drei Diebstähle des Rehbocks, des Holzes und des Biberpelzes mit den Gaben der „Mutter Natur“18, die zur Kategorie des mythisch erlebten Ursprünglichen gehörten. 19 In dieser präzivilisatorischen Mutterwelt seien Gesetz und Regeln außer Kraft gesetzt. Ich schließe mich dieser These an und behaupte, dass die Phantasie der „Großen Mutter“ auf ein Weiblichkeitsmuster hin-

15 Ebd., S. 97. 16 Vgl. Lindhoff, 1995, S. 18. 17 Vgl. Seidlin, Oskar: Urmythos irgendwo um Berlin. Zu Gerhart Hauptmanns Doppeldrama der Mutter Wolffen. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. 43 (1969), S. 126-146. 18 Ebd., S. 131. 19 Vgl. ebd., S. 131.

169 weist, in dem „mütterliche“ Charaktereigenschaften wie unter anderem „Schützen, Wärmen und Nähren“ dem Naturwesen der Frau zugewiesen werden. In dieser Projektion drückt sich die Sehnsucht aus, zu einem naturhaften Ursprung und einer Harmonie zurückzukehren, die aufgrund der Anforderungen der Zivili- sation unterdrückt werden müssen.20 Die Frau in der bürgerlichen Gesellschaft wird nach Adorno/ Horkheimer „zur Verkörperung der biologischen Funktion, zum Bild der Natur [...]“21. Mit diesem Urbild der Mutter kann sich der Autor in seinem literarischen Werk an den durch den Prozess der Zivilisation verlorenen naturhaften Ursprung erinnern und den Verlust kompensieren. Die Gedanken des Autors werden durch seine Sehnsüchte nach dem ursprünglich „Weiblich-Mütterlichen“ angetrieben und gestaltet. So konstruiert Hauptmann meiner Meinung nach, bewusst oder unbe- wusst, eine „Große Mutter“ in der Kleinbürgerin Mutter Wolff; dieses Weib- lichkeitsmuster ist eine Wunschbildung, welche die Frau als mütterliches und naturhaftes Urbild festschreibt. Offensichtlich ist diese Imagination des Weiblichen für Hauptmann ein beliebtes Sujet; zweiunddreißig Jahre nach dem Drama „Der Biberpelz“ greift er das Thema der „Großen Mutter“ noch einmal auf und schreibt den Roman „Die Insel der großen Mutter oder das Wunder von Ile des Dames“ (1925). Es geht um „die Geschichte der Gründung, Blüte und Zerstörung eines Matriarchats auf dem „utopischen Archipelargus [...]“22.

1.1.2. Das Fatale im Weiblichen - Frau John in „Die Ratten“

Ein weiteres Mutterbild hat Hauptmann mit der Hauptfigur Frau John in „Die Ratten" gestaltet. Als Ehefrau eines Mauerpoliers, der jahraus, jahrein außerhalb von Berlin arbeitet, strebt sie danach, sich wirtschaftlich und sozial an bürgerliche Werte anzupassen. Es fehlt jedoch in dieser kleinbürgerlichen Familie ein Kind, das zum bürgerlichen Idealbild gehört. Hauptmann inszeniert die Erfüllung dieses Wunsches nach Mutterschaft als psychopathologische. Frau John begeht eine kriminelle Tat und wird letztendlich ins Verhängnis getrieben. Klaus Dieter Post interpretiert das Mutterbild der Frau John als Glorifizierung der Muttermythologie. Er schreibt:

20 Vgl. Stephan, 1988, S. 18. 21 Adorno, Theodor W./ Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung. Amsterdam 1947, S. 298. 22 Seidlin, 1969, S. 146.

170

„Hauptmann läßt die charakteristischen Merkmale dieser Mutterschaft an anderer Stelle Bild werden. Frau John berichtet dort, scheinbar zusammen- hanglos, von ‚een dotet Kindeken, det man in Kinderwachen legt und raus in die warme Sonne rickt... – det zieht Atem! Det schreit! Det is wieder lebendig!... Denn kann Mutter kommen und nehmen. Denn muß et jleich Brust kriejen’ (CAII, 806) Das sind keine Phantasien einer Besessenen, hier erscheint, in verschlüsselter Form wiederum jener Mythos der Urmutter Sonne, [...] Dieser Mythos der mütterlichen Kraft, des Lichts und der Wärme erscheint in den dumpfen, lichtlosen Räumen des alten Mietshauses in der Gestalt der Mutter John. Es ist nur stimmig, wenn in diesem Zusammenhange, trotz der mit- schwingenden Ironie, vom Jesuskind die Rede ist. Denn was trotz aller Unzu- länglichkeit, trotz des Abstandes zwischen der Berliner Mietskaserne und dem Stall von Bethlehem vor dem Hintergrund einer durch Ratten gefährdeten Welt auftaucht, ist ein Funke der Hoffnung in Gestalt einer Mutter und eines Kindes.“23

Durch den Vergleich mit dem Bild der Madonna baut Post eine Verherrlichung des Urbilds der Mutter auf. Meiner Ansicht nach rekonstruiert Hauptmann in dieser Figur bewusst und aus Distanz einen fatalen Zug des Weiblichen: Frau Johns zwanghaftes Mutterbedürfnis und ihre Anpassung an die bürgerliche Mütterlichkeits- ideologie. Dies Mutterideal des Bürgertums wurde seit dem 18. Jahrhundert propagiert. Besonders starken Einfluss auf das Frauenbild und Idealbild der Mutter in Deutschland hatte Rousseaus „Emile“ (1762), in dem die neuen Ideen der bürgerlichen Mütterlichkeit angepriesen wurden. Es entstand eine Mystifizierung der Frau als Mutter: Mutterschaft sei ein heiliges Amt und eine glückliche Erfahrung der Frau. Stets wurde darauf verwiesen, wie vollkommen Natur der Frau und Funktion der Mutter einander entsprächen.24 Mutterschaft wurde als natürliches Bedürfnis der Frau angesehen. Liebe zum Kind galt als Teil der weiblichen Natur. Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis ins 19. Jahrhundert entwickelte sich eine neue Lebensweise des Bürgertums, in der sich die bürgerliche Familie um die Mutter bildete und auf sie als das „Innere“ ausgerichtet war, das die familiären Gefühlsbin-

23 Post, Klaus Dieter: Das Urbild der Mutter in Hauptmanns naturalistischem Frühwerk. In: Mythos und Mythologie in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Hg. von Helmut Koopmann. Frankfurt/ Main 1979, S. 362f.. 24 Vgl. Badinter, Elisabeth: Die Mutterliebe. München 5 1992, S. 213-216.

171 dungen aufrechterhält. Diese Ideologie der Mütterlichkeit zieht sich bis zur Jahr- hundertwende durch. Elisabeth Badinter stellt diesen „Mutterinstinkt“ in Frage. Für sie ist

„die Mutterliebe nur ein menschliches Gefühl. Sie ist, wie jedes Gefühl, ungewiß, vergänglich und unvollkommen. Sie ist möglicherweise - im Gegen- satz zur verbreiteten Auffassung - kein Grundbestandteil der weiblichen Natur. Wenn man verfolgt, wie sich die Einstellungen von Müttern gewandelt haben, stellt man fest, daß das Interesse und die Hingabe für das Kind da sind oder auch nicht da sind. Mal gibt es Zärtlichkeit, mal nicht. Die Mutterliebe drückt sich in unterschiedlichster Weise aus - mal stärker, mal schwächer, mal gar nicht oder fast nicht.“25

Verfolgt man die historische Entwicklung der Mutterschaftsideologie bis in das 19. Jahrhundert, so kann man nachvollziehen, dass dieser „Mutterinstinkt“ ein soziales Konstrukt unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen ist. Hauptmann stellt im Drama eine Kleinbürgerin dar, die der bürgerlichen Ideologie der Mutterschaft in fataler Weise folgt, sozial isoliert wird und so in einen Zustand krankhafter Verwirrung stürzt. Damit verlagert er dieses Ideologiemuster von der bürgerlichen Frau auf eine untere Schicht, auf eine Kleinbürgerin. Der Autor, der aus dem Bürgertum kommt, hat das Muttergefühl seiner Ehefrau, die ihren Sohn am 9. Mai 1910 kurz nach der Geburt verlor, selbst erlebt. Diese leidvolle persönliche Erfahrung führte im Sommer 1910 zur nochmaligen Veränderung der Konzeption des Dramas "Die Ratten".26 Unter dem 10. Mai 1910 notiert er im Tagebuch:

„Die Seele selbst der vollkommen glücklich liebenden Frau wird auf die Dauer nicht erfüllt durch den Mann. Auch nicht durch das erwachsene Kind. Ganz erfüllt, ganz reich, wird sie nur durch neue Mutterschaft und durch den Säugling, der zum baby heranwächst und so fort. Das erst macht ihre Seele voll lebensfähig: sonst ist sie gewissermaßen verarmt. [...] In manchen Frauen schläft die Mutter. Sie müsste in allen erwacht sein. Die Mutteraufgabe ist furchtbar, ist gefahrvoll und reich! Die Mutter ist mit Seele und Leib immer um

25 Ebd, S.12. 26 Vgl. Gerhart Hauptmann. Die Ratten. Hg. von Werner Bellmann. Stuttgart 1990, S. 72.

172 den Quellpunkt des Lebens beschäftigt. Um ein Eingangstor und ein Ausgangs- tor.“ (CA V 1910)

Hauptmann erwähnt hier mit keinem Wort seine eigene Betroffenheit vom Tod seines Sohnes und weist aus Distanz auf die ambivalente Position der Frau als Mutter. Die Aufgabe der Mutter wird auf eine gesellschaftliche Ebene projiziert. Daraus ergibt sich, dass Hauptmann einerseits dies bürgerliche Mutterideal im Drama "Die Ratten" einsetzt, um eine tragische Situation zu schaffen, andererseits damit offensichtlich auf seine eigene Phantasie von Mutterschaft zurückgreift. Die Konstruktion der tragischen Figur John zeigt sich als eine Art der Verarbeitung seiner psychischen Situation.

1.1.3. Das Weibliche als "gezähmte Hausfrau" und als Wunschprojektion der Männerfiguren - Luise in „Die Hose“

In der Figur der Luise, der Hausfrau eines einfachen Beamten, stellt Carl Sternheim eine "gezähmte" Frau dar, die anfangs versucht, aus ihrem deprimierenden und lang- weiligen Eheleben auszubrechen und zum Schluss aufgrund des Versagens ihrer Liebhaber und ihrer eigenen Abhängigkeit und Unwissenheit wieder in die tradi- tionelle Rolle zurückkehrt. Sie wird von ihrem Mann als Hausmütterchen und Sexualobjekt behandelt. Die Ehebrecherin wird letztendlich als komische und gro- teske Figur, als "Betrogene", gezeichnet. Sternheim dekonstruiert in Luise bewusst eine Reihe von Weiblichkeitsmustern, die von den Männerfiguren imaginiert werden. Sie fungiert für den Bildungsbürger Scarron einerseits als Lustobjekt, andererseits wird sie von ihm zur „femme fatale“ stilisiert. Wie ein Tierexperte betrachtet Scarron seine Beute als „Naturobjekt“, als das das Weibliche von ihm verstanden wird. Außerdem stellt sie für ihn eine Muse dar; sie soll ihn als Verkörperung der Natur künstlerisch inspirieren. Der Barbier Mandelstam hingegen betrachtet sie als „unschuldiges Wesen“ und Retterin, als „Engel“. In diesem Bild des „Ewig- weiblichen“ hofft er jene mütterliche Wärme und Geborgenheit wiederzuerlangen, die er seit seiner Kindheit verloren hat. Der Autor führt seine Phantasie der Frauenfigur Luise aus Distanz vor, und zwar durch das Medium der Männerfiguren. Luise wird einerseits als Spiegelung der männlichen Wunschprojektionen von

173 Sexualobjekt, Muse, Engel und liebender Mutter dargestellt, andererseits wirkt sie als Bedrohung des Mannes und muss folglich am Ende gezähmt werden. Hier deutet sich eine männliche Wunschphantasie an, die an der Figur des Theobald abgelesen werden kann: Nach dem männlichen Selbstbild ist der Mann potent, setzt sich durch und verehrt die Frau nicht; die Frau hingegen wird durch Passivität und Unterdrücktsein charakterisiert und durch ihre Sexualität bestimmt.

Hildegrad Nabbe hat in ihrem Aufsatz „Parodie und literarische Satire in Carl Sternheims Die Hose“ darauf hingewiesen, dass Sternheim die von Otto Weininger aufgestellten weiblichen Charakterzüge in Luise reproduziert, allerdings auf satirische und parodistische Weise.27 Nach Otto Weininger kann die Frau nicht aktiv handeln und denken und ist unfähig, mit Logik, Gedächtnis und ethischem Verantwortungsbewusstsein umzugehen.28 Die Beziehung der Frau zum Mann ist durch Passivität gekennzeichnet: „Es ist das Verhältnis von Mann und Weib kein anderes als das von Subjekt und Objekt (S. 391) [...] Das Weib aber hat keine Möglichkeit einer Entwicklung, außer durch den Mann (S. 395)“ 29 . Nachdem Sternheim das Buch von Otto Weininger gelesen hatte, nahm er 1906 in einem Brief Stellung zu Weiningers Ideen: „Aber Du vergisst, daß das Weib sich zum Menschen entwickeln kann, wie der Mann in derselben Welt denselben Gesetzen der Wahrheit unterthan und ihnen begeisternd gehorchend [...] so kann ein Weib genau so ethisch, so muß ein Weib ebenso ethisch werden, ebenso menschlich wie der Mann. Sie wird es nur – o süßestes Wunder, durch ihn.“30 Dieser Brief verweist darauf, dass sich Sternheim mit den Ideen Weiningers beschäftigt hat; er bearbeitete sie satirisch in seinem Drama.31

27 Vgl. Nabbe, Hildegard: Parodie und literarische Satire in Carl Sternheims "Die Hose". In: Neophi- lologus. 68 (1984), S. 426f.. 28 Vgl. Weininger, Otto: Geschlecht und Charakter. Photomechanischer Nachdruck der 1. Auflage der Wiener Ausgabe von 1903. München 1980, S. 84. 29 Vgl. ebd., S. 391 und 395. 30 Sternheim, Carl: Briefe I. Briefwechsel mit Thea Sternheim 1904-1906. Hg. von Wolfgang Wendler. Darmstadt 1988, S. 630. 31 Nabbe, 1984, S. 426.

174 1.2. Weiblichkeit in der „Doppelexistenz“32 Das widersprüchliche Bild der Kleinbürgerin in den Werken von Frauen

Elisabeth Link weist in ihrem Aufsatz „Die sich selbst verdoppelnde Frau“33 auf die Verdoppelung in der weiblichen Ästhetik hin:

„Die neue Frau hat zwei völlig verschiedene Gesichter. Das eine der Männer- welt zugewandte Gesicht kann gar nicht neutral und sachlich genug sein, denn nach wie vor müssen die Frauen täglich um die elementarste Gerechtigkeit kämpfen; [...] Das andere, den Frauen zugewandte Gesicht ist gar kein Gesicht, sondern eben die Bewegung, [...] Im neuen Verhältnis der Frau zu sich ist sie Viele, oder vielmehr: sie löst sich augenblicksweise auf in reine Bewegung. [...] Die Frau kann das neue Verhältnis zu sich nur über andere Frauen entwickeln. Die Frau wird der Frau zum lebendigen Spiegel, in dem sie sich verliert und wiederfindet.“34

Diese Theorie der verdoppelten Existenz versteht Sigrid Weigel als Grundlage einer feministischen Herangehensweise, das auf Schreiben, Lesen und Interpretation der Literatur von Frauen angewandt werden sollte:

„Kein Text, den eine Frau, die im Patriarchat lebt, geschrieben hat, ist Ausdruck bloßer Projektion, noch kann darin der reine Entwurf von Befreiung entwickelt sein, vielmehr enthält die Literatur von Frauen jeweils unterschiedliche Schreibweisen der Doppelexistenz, d.h. des Lebens im Muster der herrschenden Frauenbilder und in der Antizipation der befreiten Frau.“35

Um Ängste, Wunsch- und Aufbruchsphantasien aufzudecken, die durch eine solche Doppelexistenz im Werk von Autorinnen zum Ausdruck gebracht werden, muss man Sigrid Weigel zufolge den Subtext dieser Werke untersuchen, die häufig die Erzähl- struktur und die poetologischen Regeln der Männer nachahmen: Im Stilbruch, in der Diskrepanz zwischen der Struktur weiblicher Erfahrung und der Struktur männlicher

32 Weigel, Sigrid: Der schielende Blick. Thesen zur Geschichte weiblicher Schreibpraxis. In: Die verborgene Frau. Hg. von Inge Stephan und Sigrid Weigel. Berlin 3 1988, S. 104. 33 Link, Elisabeth: Die sich selbst verdoppelnde Frau. In: Frauen – Kunst – Kulturgeschichte. Ästhetik und Kommunikation 15 (1976), S. 84-87. 34 Ebd., S. 84, 85, 87. 35 Weigel, Sigrid: Das Schreiben des Mangels als Produktion von Utopie. Reflexionen. In: Die Frauen mit Flügeln, die Männer mit Blei? Notizen zu weiblicher Ästhetik, Alltag und männlichem Befinden. Hg. von Friederike Hassauer und Peter Roos. Siegen 1986, S. 124.

175 Poesie, in der Darstellung des gespaltenen Frauenbildes finde man Spuren der ver- borgenen Phantasie.36 Schon Hélène Cixous hat in ihrem Buch „Weiblichkeit in der Schrift“37 darauf verwiesen, dass Ambivalenz in der weiblichen Schreibweise unver- meidbar sei: „[Z]unächst ist immer etwas Phallisches dabei, erst später treten unter- schiedliche Vorgehensweisen auf; und wenn es eine Frau ist, die schreibt, dann gibt es Konflikte, Widersprüche, Aufregung, Bewegung zwischen dem, ich würde sagen ‚Autor’ und der Schrift.“38 Ich schließe mich dieser These an und versuche im folgenden herauszuarbeiten, ob und wie die Autorinnen diese „Doppelexistenz“ in den Bildern der Kleinbürgerin zum Sprechen bringen.

1.2.1. Widerspruch zwischen „Ausbruch“39 und Anpassung - Marie in „D’ Schand’“

Juliane Déry beschäftigt sich in ihrem Stück mit einem beliebten Thema des bürgerlichen Trauerspiels, mit der verführten Unschuld. Sie verschiebt dieses Pro- blem ins kleinbürgerliche Milieu, wie in der Tradition vorgegeben, 40 konstruiert jedoch eine neue Möglichkeit im Verhältnis zwischen Mutter und Tochter: eine weibliche Genealogie. Mit diesem neuen Modell zeigt die Autorin Frauen einen Ausweg aus dem alten Klischee männlich geprägter Frauenbilder. Doch sie stellt am Ende des Dramas eine Rückkehr zu einer traditionellen Rollenverteilung dar: Marie verzichtet auf ihren Plan, selbständig zu leben; sie unterwirft sich wieder einem Mann, den sie als ihren Erlöser betrachtet und der sie durch eine Versöhnung wieder in die Gesellschaft aufnimmt. Hier kommt eine ambivalente Haltung der Autorin zum Ausdruck; einerseits phantasiert sie den Aufbruch einer Frau, andererseits wird ihre Gestaltung der Frauenfigur wieder von patriarchalen Mustern gefangen. Die Phantasie der Autorin wird durch die herrschende Ordnung domestiziert; eine konkrete Utopie des Weiblichen entwickelt das Stück nicht.41 Trotz allem versucht die Autorin hinter dieser Diskrepanz zwischen Ausweg und Verzicht den Frauen eine

36 Vgl. Weigel, 1986, S. 125. 37 Cixous, Hélène: Weiblichkeit in der Schrift. Berlin 1980, S. 76. 38 Ebd., S. 76. 39 Weigel, 1988, S. 103. 40 Vergleiche auch Schillers "Kabale und Liebe" und Hebbels "Maria Magdalena". 41 Weigel, 1986, S. 126.

176 neue Chance zu vermitteln, z.B. durch die Darstellung der Frauensolidarität zwischen Marie und ihrer Tante und dadurch, dass sie mit der Versöhnung von Marie und Urban für den Wegfall der Unterscheidung von "gefallener" und "ehrbarer" Frau appelliert.

1.2.2. Diskrepanz zwischen Entsagung und Lebenslust - Frau Winkler im Drama „Die Meisterin“

In der Figur der Frau Winkler reproduziert Johanna Wolff ein Weiblichkeitsmuster aus der männlichen Literatur: eine sich aufopfernde Mutter, die um jeden Preis die Normen der patriarchalischen Ordnung aufrechterhalten will. Es scheint, dass sich die Autorin das männliche Klischee von der „Bestimmung des Weiblichen“ auferlegt und damit den Wunsch der Frauen nach Hingabe und Entsagung reproduziert hat. Doch wenn man die Figurenkonstellation genauer betrachtet, erkennt man, dass die Autorin einen Widerspruch in dieser Figur darstellt: Durch Toni, das Gegenbild, eine Figur, die ein befreites Leben führt, stellt die Autorin die Werte der bürgerlichen Ordnung in Frage: Frau Winkler sieht kurz vor Ende des Dramas ein, dass Pflicht, Arbeit und Verantwortung allein nicht glücklich machen und dass Lebensfreude ein wichtiger Bestandteil des Lebens ist. Mit diesem Bruch stellt Wolff das gespaltene Bild einer Frau dar, die in den Widerspruch zwischen Mütterlichkeitsideologie und Freiheitssehnsucht gerät, letztendlich jedoch einer „Entsagungsideologie“42 unterliegt, die Mutterrolle wieder aufnimmt und den Sohn nicht frei gibt. In „Durchquerung“43 dieses traditionellen Bildes der aufopfernden Mutter übt die Autorin Kritik an weiblicher Beschränkung und entlarvt die bürgerliche Ideologie des Ideals von der mütterlichen Frau. Wolff führt hier keine positive Heldin vor, die nach einem Emanzipationskonzept und neuer weiblicher Identität strebt, sondern kritisiert Fesseln, die die Möglichkeiten der Frau behindern, wenn sie sich männlichen Werten anpasst.

42 Weigel, 1988, S. 103. 43 Ebd., S. 108.

177 1.2.3. Paradoxie zwischen Emanzipation und Unterwerfung - Fräulein Freschbolzen im Drama „Fräulein Freschbolzen“

In „Fräulein Freschbolzen“ stellt Viebig die widersprüchliche Haltung einer Schnei- derin dar, die einerseits ökonomisch nach Unabhängigkeit strebt, sich andererseits ihrem Geliebten gegenüber hingebend und unterwürfig verhält und sich von ihm ausnutzen lässt. Die beruflich autonome Kleinbürgerin erlebt im Privatleben emo- tionale Abhängigkeit;44 Zuwendung erhält sie nur, wenn sie sich dem Mann unter- ordnet. Ihr Wunsch nach Selbständigkeit gerät in Konflikt mit ihrer Sehnsucht nach Geborgenheit; dies wird hier in besonderer Weise zum Problem, weil der Geliebte sich als rücksichtsloser Charakter entpuppt. Die Autorin inszeniert eine Diskrepanz zwischen Gewinn und Verlust im emanzipatorischen Streben der Frau. Fresch- bolzens regressives Verhalten, das am Ende des Dramas Abhängigkeit und totale Anpassung zeigt, lässt erkennen, dass die Autorin einerseits Selbstkritik an der emotionalen Abhängigkeit der bürgerlichen Frau übt, die im „Gefängnis“ der von Männern zugeschriebenen weiblichen Rolle bleibt, und dass sie andererseits in dieser „Durchquerung“ des Frauenbilds auf den Zwiespalt zwischen weiblichem Wunsch und Trugbild stößt und die von Männern projizierten Bilder ins Wanken bringt. Eine kleine Bemerkung zur Darstellung dieses Paradoxons in diesem Stück sei angefügt: Wichtig ist hier die Frauensolidarität zwischen der Kleinbürgerin und ihren Arbeite- rinnen. Die Näherinnen sehen die Notlage ihrer Chefin und helfen ihr, ihre Schwie- rigkeiten zu überwinden. Doch wenn es um den Mann geht, sind sie nicht solida- risch. Sie kämpfen gegeneinander, jedenfalls eine Zeit lang. Die Autorin stellt das Weibliche in dem Widerspruch zwischen Wunsch nach einem neuen weiblichen Lebenszusammenhang (Frauensolidarität) und regressivem Weiblichkeitsmuster (weiblicher Konkurrenz) dar.

1.3. Das Bild des Kleinbürgers in den Dramen männlicher Autoren

Oben habe ich das Bild der Kleinbürgerin im männlichen literarischen Diskurs skizziert. In ihm haben die Frauen einen Objektstatus inne. Im Folgenden geht es

44 Vgl. ebd., S. 100.

178 um das Bild des Kleinbürgers, also des Mannes, in den Dramen männlicher Autoren. Klaus Michael Bogdal hat verschiedene Ansätze zur Behandlung des Themas „Männerbilder“ herausgearbeitet.45 Zwei dieser Ansätze, der diskursanalytische und der psychoanalytische, erscheinen mir am aufschlussreichsten. In seiner Diskursana- lyse bezieht sich Bogdal auf die These von der Geschlechterdifferenz in den gender studies. Sie geht davon aus, dass die symbolischen „Repräsentationsformen“, die wir als „Männerbilder“ gekennzeichnet haben, durch soziale Machtstrukturen entstanden sind.46 Judith Butler, die die Problematik der Geschlechtsidentität untersucht, lehnt sich an den Ansatz der „Genealogie“ Foucaults an, welche eine ursprüngliche Geschlechtsidentität, also eine angeborene Geschlechtlichkeit ablehnt.47 Für Butler sind die symbolischen Repräsentationsformen von „Männlichkeit“ und „Weiblich- keit“ Produkt sozialhistorischer Entwicklung und spiegeln Machtstrukturen wider. Geschlechtidentität ist ihr zufolge sozial konstruiert.48 Diese These erweist sich als fruchtbar für die Interpretation von Literatur, besonders in Bezug auf die Darstellung von Männern. Die Bilder „starker“ oder „schwacher“ Männer sind Konstruktionen männlicher Autoren. In diesen Phantasieproduktionen spiegeln sich historisch-ge- sellschaftliche Machtbeziehungen wider. Der psychoanalytische Ansatz geht davon aus, dass Männlichkeit ein geprägtes Bild der Ich-Identität des Mannes ist.49 Ob der Junge erwachsen wird oder nicht, hängt davon ab, ob er sich von der symbiotischen Einheit mit der Mutter ablöst. Individuation und Unabhängigkeit erreicht der Junge durch „Männlichkeitspro- ben“.50 In seiner Entwicklung wehrt er ständig „regressive“ Wünsche ab, um die Wiederherstellung einer Symbiose zu vermeiden. So interpretiert Theweleit die gewalttätigen Phantasien des Verhaltens von Soldaten in Texten von Männern als "Abwehr infantiler Wiederverschlingungsängste und -sehnsüchte“.51 Die Männer- bilder, die er analysiert, versteht er als Resultat von „Erhaltungs-, Verdrängungs- und Projektionsmechanismen ich-schwacher Männer". 52 Auch nach Aufsätzen der

45 Bogdal, Klaus-Michael: Männerbilder: Skizze zu einem Unterrichtsthema und Forschungsgegen- stand. In: Der Deutschunterricht 47/2 (1995), S. 7-17. 46 Vgl. ebd., S. 13. 47 Vgl. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/ Main 5 1995, S. 9. 48 Vgl. ebd., S. 9 und Bogdal, 1995, S. 14. 49 Klaus Theweleit bezieht sich in seiner Arbeit „Männerphantasien“ auf den psychoanalytischen Ansatz von Margaret Mahler. (Vgl. Theweleit, 2 Bde., 1977.) 50 Bogdal, 1995, S. 10. 51 Ebd., S. 11. 52 Vgl. ebd., S. 11.

179 Zeitschrift „psychosozial“53 gründen Phantasien von Gewalt und Gewissenlosigkeit männlicher Helden in Literatur und Medien auf einer „Regression auf Omnipotenz- phantasien der frühesten Kindheit“. 54 Heldenverehrung und Identifikation mit Helden seien als Ausdruck der Angst vor Ich-Auflösung in der Adoleszenzphase zu verstehen.55 Beide Ansätze lassen sich kombinieren: Literarische Bilder von Männlichkeit sind Ausdrucksformen von Angst-, Wunsch- und Abwehrphantasien von Individuen; geschaffen wurden sie im Prozess gesellschaftlicher Entwicklung. Lutz-W. Wolff hat historische literarische „MannsBilder. Von Männern“56 gesammelt und Schritte in der Entwicklung von Männlichkeit zusammengefasst. Auch Bogdal hat Stich- wörter zu literarischen ‚Männerbildern’ von der Antike bis zur Gegenwart herausge- arbeitet. In unserem Zusammenhang interessiert, was sie über die Männerbilder um die Jahrhundertwende festgestellt haben. Beide kommen zum gleichen Ergebnis: Durch die schnelle Modernisierung um die Jahrhundertwende wurde die männliche Identität bedroht, besonders weil Frauen am industriellen Produktionsprozess teil- nahmen. Wolff behauptet: „Geistig war das Patriarchat also schon um die Jahrhun- dertwende gestorben“.57 Die bisher stabile Konstruktion von Männlichkeit geriet ins Wanken. Ich werde in der folgenden Analyse der Frage nachgehen, wie sich die Autoren mit dem Bild des Kleinbürgers in ihren Dramen auseinander setzten. Haben sie die Machtstruktur der Männlichkeit im Kleinbürgertum („idealisierte“ oder „ent- idealisierte“ Männlichkeit) in Hinsicht auf die gesellschaftliche Entwicklung zum Ausdruck gebracht?

1.3.1. Das Bild des überlegenen Mannes - Theobald Maske in „Die Hose“

Theobald Maske, der Held in Sternheims Dramenzyklus "Aus dem bürgerlichen Heldenleben", ist eine gebrochene Figur. Sternheim stellt den Kleinbürger auf widersprüchliche Weise dar, einerseits als durchsetzungsfähig und zielstrebig,

53 Die Zeitschrift „psychosozial“ hat ein Heft mit dem Thema „Helden“ herausgegeben. Siehe: psychosozial. 10/31 (1987). 54 Adorno, Theodor W.(1950): Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt/ Main 1973, S. 329. 55 Wirth, Hans-Dieter: Die Sehnsucht nach Vollkommenheit. Zur Psychoanalyse der Heldenvereh- rung. In: psychosozial, 1987, S. 99. 56 MannsBilder. Von Männern. Gesammelt von Lutz-W. Wolff. München 1993. 57 Wolff, Lutz-W.: Männerbilder oder: This could be the beginning of a wonderful friendship. In: ebd., S. 478.

180 andererseits aber auch in seiner Beschränktheit. Durch dessen Vitalität gelingt es dem Autor jedoch, das Bild eines spießigen, aber überlegenen Mannes zu zeichnen. Zu Hause spielt der einfache Beamte Theobald die traditionelle Rolle des Mannes als „Erzeuger-Beschützer-Versorger“. 58 Sein aggressives und dominantes Verhalten seiner Frau gegenüber verweist auf die phallozentrische Machtstruktur der kleinbürgerlichen Familie. Sein sexuelles Abenteuer mit der einsamen Nachbarin Deuter entspricht dem typischen Leitbild des „Helden“ – sexueller Erfolg und körperliche Stärke. Das Bild vom schwachen Mann findet Ausdruck in den anderen Figuren: Scarron kontrastiert als Schwärmer, der Friseur Mandelstam als Träumer Theobalds Überlegenheit. Der Autor stellt das Ideal eines starken und idealisierten, wenn auch einfachen und praktischen Mannes dar, das im Gegensatz zur bedrohten und brüchigen männlichen Identität um die Jahrhundertwende steht.

1.3.2. Ehre und Rechtschaffenheit als Männerideale - Paul John in „Die Ratten“

Als erfolgreicher Mauerpolier ist Paul John Versorger der Familie; er ist bemüht, sich an die Wertvorstellungen des Bürgertums anzupassen. Er hat vor, in eine bessere Umgebung umzuziehen. Diese Figur verkörpert die Moral des Kleinbürger- tums: Ehrlichkeit, Ordnung und Rechtschaffenheit. Im Streben nach diesen Idealen erwirbt er Selbstwertgefühl, Autorität und soziale Anerkennung. Da er sich diesen Lebensidealen pedantisch und starrsinnig unterwirft, wird er selbst in die Rolle des kalten, harten und verstoßenden Mannes gedrängt. Am Ende treibt er in seiner Borniertheit seine verzweifelte Frau in den Selbstmord. In dieser Figur stellt Hauptmann einen Mann dar, der sich dem verkümmerten Ideal der „ständischen“ (kleinbürgerlichen) Ehre und dem männlichen Ehreprinzip fügt und hierbei in einen Gerechtigkeitswahn gerät. Der Autor greift einerseits die eigensinnige Fixierung des Mannes auf einen Ehrenkodex an, andererseits weist er darauf hin, wie John bis zum Schluss im Gefängnis seines männlichen Leitbilds gefangen bleibt.

58 Bogdal, 1995, S. 14.

181 1.3.3. Entidealisierung der Männlichkeit - Julius Wolff in „Der Biberpelz“

Im Vergleich zu den bisher analysierten Männerbildern gestaltet Hauptmann mit der Figur des Julius Wolff eine „brüchige“ Form von Männlichkeit. Dieser hat als ge- lernter Schiffzimmermann keine feste Stelle, neben Gelegenheitstätigkeiten arbeitet er als Fährmann und Waldarbeiter. Durch seinen wirtschaftlichen und gesellschaft- lichen Abstieg wird seine Frau in den Produktionsprozess miteinbezogen; dies wirkt sich auf ihr Verhältnis aus: Sie verwaltet das Geld und macht Aufstiegspläne für die Familie, während ihm der Autoritätsanspruch zu Hause entzogen wird.59 Sein An- spruch auf väterliche Autorität muss nun auch durch die Mutter an die Kinder ver- mittelt werden. Sein schwachsinniges und tölpelhaftes Verhalten steht im Kontrast zu Durchsetzungsfähigkeit und Spontaneität der Mutter Wolff:

„Julius. I, morjen früh is all ooch noch’n Dach. Frau Wolff. Nu nee! Da mach der ock keene Gedanken! Mit so was woll’n m’r bei uns nich erscht anfangen [...] (CA I 490) Julius. Schrei du man noch mehr! Frau Wolff. Da muß man ooch schreien, wenn du aso tumm bis. Da red ni so tumm, da brauch ich ni schreien [...] (CA I 519)“ Frau Wolff. Dreck betrifft’s dich! Das geht dich nischt an. Das sind meine Sachen, nich deine Sachen. Du bist gar kee Mann, du bist a alt Weib. [...] (CA I 521)“

Seidlin deutet auf Mutter Wolffs dominante Position ihrem Mann gegenüber hin: „Julius, der Mutter Wolffen ‚ihr Mann’, von ihr kujoniert und herumgeschoben wie ein lästiges Stück Möbel, mit ‚blöden Augen und trägen Bewegungen’, wird, obwohl erst 43, das nächste Jahrzehnt nicht überleben.“60 Hauptmann konstruiert in dieser Figur ein Bild des entidealisierten Mannes, das oft in der Komödientradition als lächerliche Figur gestaltet wird.

59 Vgl. Weber, Richard: Gerhart Hauptmann: "Biberpelz". In: Von Lessing bis Kroetz. Einführung in die Dramenanalyse. Kursmodelle und sozialgeschichtliche Materialien für den Unterricht. Kron- berg 1975, S. 72f.. 60 Seidlin, 1969, S. 135.

182 1.4. Das Männerbild aus der Perspektive der Frauen

„Warum sind Frauen, nach diesen Katalog zu urteilen, so viel interessanter für Männer, als Männer es für Frauen sind?“61

Ulrike Buergel-Goodwin hat im Nachwort der Sammlung „MannsBilder. Von Frauen.“ darauf hingewiesen, dass es schwierig sei, eine historische Entwicklung der von Frauen entworfenen Männerbilder zu verfolgen. Der Grund liege darin, dass schreibende Frauen zur Minderheit in der von Männern beherrschten Literaturge- schichte gehörten. Erst im 20. Jahrhundert hätten Frauen selbstverständlich zur Feder gegriffen und sie gewandt geführt. 62 Mit diesem Dilemma schreibender Frauen setzte sich Virginia Woolf schon in ihrem Essay „Ein Zimmer für sich allein“ auseinander. Wegen der Ausgrenzung von Frauen aus der Literatur sei es nicht verwunderlich, dass es erst nach der Achtundsechziger-Frauenbewegung eine größere Zahl von Texten von Frauen über Männer gibt.63 Auch die Forschung über von Frauen erschriebene Männerbilder wird im Vergleich zu der über Frauenbilder von Männern und Weiblichkeitsentwürfen von Frauen kaum beachtet. Wie schrei- ben Frauen über Männer? Regula Venske stellt die These auf: „Die Frau schreibt über den Mann als Objekt über das Subjekt, als uneigentliches Geschlecht über das eigentliche, als ‚andere’ über den Mann als Menschen.“64 Es ist nicht meine Absicht, in der folgenden Analyse den historischen Stand der Männerbilder in den Texten von Frauen um die Jahrhundertwende umfassend darzustellen. Ich will lediglich ver- suchen, einigen Spuren in der Literatur von Frauen nachzugehen und das von Frauen entworfene Bild des Kleinbürgers zu rekonstruieren. Zu fragen ist, wie und ob Frauen bei der Konstruktion ihrer Männerbilder von der geschichtlichen, vorfind- baren Männlichkeit beeinflusst wurden, die von Männern erschaffen war, ob sie den männlichen Mythos bzw. „ihre eigene Abhängigkeit und die Überlegenheit des Mannes“65 reproduzierten, und wie sie Wut, Erstaunen, Begehren und Angst gegen- über dem männlichen Geschlecht beim Schreiben zum Ausdruck brachten.

61 Woolf, 1981, S. 33. 62 Vgl. MannsBilder. Von Frauen. Hg. von Ulrike Buergel-Goodwin. München 1993, S. 368. 63 Vgl. ebd., S. 367f.. 64 Venske, Regula: Das Verschwinden des Mannes in der weiblichen Schreibmaschine. Hamburg 1991, S. 14. 65 Ebd., S. 14.

183

1.4.1. Das Männerbild vom „Erlöser“ - Josef Urban in „D’ Schand’“

In der Figur des Josef Urban konstruiert Juliane Déry ein widersprüchliches Männer- bild: Zu Anfang wird der Mann so dargestellt, dass er Schwierigkeiten hat, mit seinen Gefühlen seiner Geliebten gegenüber umzugehen. Er projiziert auf Marie das Bild der „Heiligen“, des „Ewigweiblichen“ und weigert sich, sie als Frau, als Subjekt anzuerkennen; er liebt sie als Besitz und als imaginiertes Bild, das er sich von ihr gemacht hat; deshalb ist er nicht fähig, sie als „Mensch“ zu lieben. Es überrascht nicht, dass er seinen besten Freund zu Marie schickt, damit dieser für ihn den Heiratsantrag macht. Am Schluss führt die Autorin dem Zuschauer einen mit- fühlenden und empathischen Mann vor, den Marie zum Schluss des Stücks als „Erlöser“, „Heiland“ und Rechtfertiger ihrer verlorenen Ehre betrachtet. Die Schlussszene zeigt wiederum die Reproduktion eines männlichen Mythos: Der Mann übernimmt die Funktion als Retter der Frau. Dafür deutet die Autorin eine Wand- lung Urbans an: Um Marie zu akzeptieren, muss er die gesellschaftliche Vorstellung von der "gefallenen" Frau hinterfragen. Nur so kann Déry ein „positives“ Ende und die Wiederaufnahme Maries in die Gesellschaft inszenieren.

Die väterliche Autorität im Wanken - Schlossermeister Otto in „D’ Schand’“

Auch das Bild des Vaters steht in einem inneren Widerspruch: Marie wird wegen des Skandals von zu Hause fortgejagt. Sie nimmt Zuflucht bei der Tante und baut eine symbolische Mutter-Tochter-Beziehung auf, die auf eine Frauensolidarität hinweist. Der Vater wird einerseits als Betrunkener, Jährzorniger und Tyrann, andererseits als einschmeichelnder Streber dargestellt, dem es um den Aufstieg ins Bürgertum geht. Schließlich erleben wir ihn auch noch in der Rolle des weinenden Vaters. Die Ab- wesenheit des Vaters in der weiblichen „symbolischen Ordnung“ und die ambi- valente Haltung des Vaters verweisen darauf, dass die väterliche Autorität in der kleinbürgerlichen Familie in Frage gestellt wird.

184 1.4.2. Das Muttersöhnchen – die männliche Abhängigkeit - Garlieb Winkler in „Die Meisterin“

Statt sich mit dem typischen Generationsproblem des bürgerlichen Trauerspiels auseinander zu setzen, in dem es um die Figurenkonstellation zwischen Vater und Sohn oder Vater und Tochter geht, führt Johanna Wolff einen Mutter-Sohn-Konflikt vor. In der vaterlosen Familie wird Garlieb in einer männlichen Identitätskrise dar- gestellt, die von der Autorin mit seiner dauernden Krankheit symbolisch zum Ausdruck gebracht wird. In seiner körperlichen sexuellen Unfähigkeit zeigt sich eine bedrohte und brüchige Männlichkeit. Sein Hin-und-her-Pendeln zwischen der Ab- hängigkeit von der Mutter einerseits und dem Wunsch, sich von ihr zu lösen, ande- rerseits und die letztendliche Unterwerfung unter die mütterliche Macht weisen auf eine „dephallozentrische“ Männlichkeit hin, eine Entwertung des traditionellen Ideals vom superstarken Mann sowohl in der Sexualität als auch allgemein bezüglich der Körperlichkeit.

1.4.3. Männliche Gleichgültigkeit und Unverbindlichkeit - Gustav in „Fräulein Freschbolzen“

In diesem Drama entwirft Viebig eine Art „Amazonenland“, einen Ort, an dem nur Frauen leben und arbeiten. Gleich einem „Amazonenstaat“ hat hier eine Frau die (wirtschaftliche) Macht: Fräulein Freschbolzen ist die Chefin in einer Schneiderstube. Was macht aber der einzige Mann in diesem „Land“? Er lebt zwar finanziell in einem parasitären Verhältnis zu seiner Geliebten; dennoch ist er der alleinige Herrscher in diesem „Frauenland“. Er ist der dominante „Herr“ der Chefin gegen- über; er ist der schmeichelnde Verführer und charmante Mann gegenüber den Arbei- terinnen. Er kommt gut zurecht mit seinen Betrügereien, stört sich aber auch nicht daran, dass er schließlich entlarvt wird. Als er geht, vergisst er nicht, die „dumme“, „alte“ Chefin noch einmal zu schikanieren. Mit dieser Darstellung übt Viebig m. E. sowohl Kritik am Verhalten der Frauen, die sich unterordnen, als auch an der Gleichgültigkeit und Unverbindlichkeit des Mannes. Je unverschämter und auch „überlegener“ seine Männlichkeit erscheint, desto stärker hebt die Autorin die weibliche Unterwerfung hervor. Damit bringt sie Kritik gegenüber den Männern zum Ausdruck.

185 2. Die Funktion des Motivs des Kleinbürgertums

„[...] was geschehen wäre, wenn Shakespeare eine wunderbar begabte Schwester gehabt hätte, sagen wir, mit Namen Judith.“66

Dadurch, dass Männer die Tradition des Dramas in der Literatur etabliert haben, haben männliche Autoren, in unserem Fall Hauptmann und Sternheim, mehr Kompe- tenz, mit der dramatischen Gattung, auch bei der Darstellung des Kleinbürgertums, umzugehen. Hauptmann hat den Untertitel “Eine Diebskomödie“ für „Der Biber- pelz“ ausgewählt und mit der Mutter Wolff eine gelungene komische Figur konstruiert, mit deren Überlegenheit und Tatkraft er die Zuschauer zum Lachen bringt. Mit der Handlung der Familie John in „Die Ratten. Berliner Tragikomödie“ inszeniert er eine tragische Figur aus dem Kleinbürgertum, die von der fixen Idee, unbedingt Mutter zu werden, verblendet wird. Carl Sternheim führt mit Theobald Maske eine andere zielstrebige und willensstarke komische Figur in „Die Hose. Ein bürgerliches Lustspiel“ ein. Im Vergleich zu den von Männern etablierten dramatischen Normen scheinen die Autorinnen in dem für sie „verweigerten Raum“ viel bescheidener.67 Sie versehen ihre Stücke mit moderaten Gattungsbezeichnungen, um sich gewissermaßen aus der Schusslinie der Kritik zu nehmen, d.h. sie wissen, dass eine lange männliche Tradition hinter der Geschichte des Dramas steht. Es ist eine Strategie der Dramatikerinnen, Gattungsnamen zu finden, die nicht so anspruchsvoll sind. Damit vermeiden sie, angegriffen oder mit großen Dramatikern wie z. B. Shakespeare verglichen zu werden. So lautetet der Untertitel von „D’ Schand’“ bei Juliane Déry „Volksstück in sechs Bildern“. Johanna Wolff ist noch zurückhaltender: In „Die Meisterin“ lautet der Untertitel „Schauspiel in vier Akten“. Nur Clara Viebig verfährt mutig mit der dramatischen Gattungsbezeichnung: Der Untertitel des Dramas „Fräulein Freschbolzen“ lautet „Komödie in einem Akt“; dabei darf man nicht vergessen, dass Viebig um die Jahrhundertwende eine der wenigen bekannten und berühmten Schriftstellerinnen war. So konnte sie es wagen, selbstbewusster mit der von Männern beherrschten dramatischen Gattungsbezeichnung umzugehen.

66 Woolf, 1981, S. 54. 67 Giesing, Michaela: Theater als verweigerter Raum. Dramatikerinnen der Jahrhundertwende in deutschsprachigen Ländern. In: Frauen-Literatur-Geschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. von Hiltrud Gnüg und Renate Möhrmann. Stuttgart 1985, S. 240-259.

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Auch in den Figurenkonstellationen besteht ein Unterschied zwischen Autorinnen und Autoren. Besonders auffallend ist in den Dramen von Frauen, dass fast immer eine Frau im Mittelpunkt steht: In „D’ Schand’“ geht es um das Schicksal der ver- führten Kleinbürgin Marie. Die symbolische Mutter-Tochter-Beziehung zwischen Marie und ihrer Tante wird als Schwerpunkt hervorgehoben, während das Verhältnis zwischen Vater und Tochter eher in der Nebenhandlung dargestellt wird. Auch in „Die Meisterin“ steht die Problematik einer Frau im Vordergrund. Es handelt sich um die ambivalente Haltung der Frau als Mutter und den Generationskonflikt zwischen Mutter und Tochter und Mutter und Sohn. Das Thema „der Autonomie“, das schon lange von Männern inszeniert wird, kommt erst nach 150 Jahren bei den Frauen an. In „Fräulein Freschbolzen“ beschäftigt sich Viebig mit dem Dilemma der Schneiderin und ihren Arbeiterinnen; die Frauen stehen auch hier im Zentrum der Handlung. Die Figurenkonstellation in „Der Biberpelz“ besteht aus der Hauptfigur Mutter Wolff und ihrem Gegenspieler, dem Amtsvorsteher Wehrhahn. Seine pedantische Haltung als Polizeibeamter, seine beschränkte Verwaltungswillkür und starre Obrigkeits- hörigkeit hebt die Schlauheit und Flexibilität von Mutter Wolff hervor. Die Mutter- Tochter-Beziehung wird als Nebenhandlung zur Seite gestellt; sie wird hier auf die Frage der Erziehung beschränkt, in der (klein-) bürgerliche Werte vermittelt werden. Die Probleme in diesem Verhältnis werden nicht thematisiert. In „Die Hose“ spielt der spießige Subbeamte Theobald Maske die Hauptrolle. Die Unzufriedenheit der Frauen mit ihrem Leben und ihrer Sexualität wird zwar gezeigt, aber der Emanzipationsversuch und die Frauensolidarität zwischen Luise und ihrer Nachbarin Deuter bleiben unbeachtet im Vergleich zur Überlegenheit von Theobald; sie führen am Ende ins Nichts. Neben dem „starken“ und „triumphierenden“ Ehemann bleibt die Haufrau Luise schweigsam und untergeordnet. Mit der Figur der Frau John in „Die Ratten“ gestaltet Hauptmann das Problem einer Frau: den unerfüllten Wunsch, Mutter zu werden. Neben dieser tragischen Handlung steht noch eine andere Haupthandlung, nämlich die Diskussion über die Theorie der Tragödie (Spitta-Hassenreuter-Handlung)68, die in paralleler Weise die Handlung um Frau John ergänzt.

68 Siehe Seite 65-73 in dieser Arbeit.

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Mit dem Motiv des Kleinbürgertums haben Autorinnen und Autoren Unterschied- liches bezweckt. In „Der Biberpelz“ will Hauptmann mit Mutter Wolff eine komische vitale Figur darstellen und eine Komödie schreiben. Nebenbei übt er Kritik am preußischen Gesellschaftssystem, dem die Polizeibeamten in blindem Gehorsam starrsinnig folgen. Die Figur der Frau John stellt Inspiration und Muse für Hauptmann dar, durch die er seine Tragödienkonzeption zum Ausdruck bringen will; er will beweisen, dass auch Figuren aus der unteren Schicht, dem Kleinbürgertum, tragikfähig sind. Durch die brillante Konstruktion des Theobald wird Sternheims "Die Hose" zu einer hervorragenden Komödie; dieser übt außerdem durch die Figur des kleinbürgerlichen Pragmatikers satirisch Kritik an der Schwärmerei und der Realitätsfremdheit des Bildungsbürgers Scarron. Die Autorinnen beschäftigen sich in den drei Dramen direkt oder indirekt mit dem Schicksal von Frauen: In „D’ Schand’“ geht es um den Wunsch nach einer weib- lichen Genealogie, in „Die Meisterin“ um den Widerspruch zwischen Aufopferung und Lebensfreude und in „Fräulein Freschbolzen“ um den Kampf der Frau zwischen Selbständigkeit und Unterwerfung. Das Kleinbürgertum eignet sich besonders gut zur Darstellungen widersprüchlichen „weiblichen“ Verhaltens. Durch ihr Schreiben aus einer "Doppelexistenz" heraus, d.h. der gleichzeitigen Anpassung und Antizi- pation von Freiheit, versuchen die Autorinnen, trotz des privaten Rahmens, auf den sie gesellschaftlich festgelegt sind, sich über ihre Phantasien, Konflikte und Ängste öffentlich zu äußern, durch ihr Schreiben ihre eigenen Probleme darzustellen und sie damit zu überwinden.

3. Zusammenfassung

In der Darstellung der Kleinbürgerin haben die männlichen Autoren ihre Imagination des Weiblichen reproduziert: Es sind die männlichen Phantasien der „Großen Mutter“ (Mutter Wolff), der „Fatalität des Weiblichen“ (Frau John) und der Projek- tion des Weiblichen als Natur- und Lustobjekt sowie des „Ewigweiblichen“. Die Autorinnen bringen mit der „Doppelexistenz“ der Kleinbürgerin ihr Begehren, ihre Wünsche und Ängste zum Ausdruck. Es sind dies die Widersprüche von Aufbruchs- versuch und Anpassung (Marie), Entsagung und Lebenslust (Frau Winkler) und

188 Emanzipationsversuch und Unterwerfung (Fräulein Freschbolzen). In der Repräsen- tation des Kleinbürgers bei den Autoren werden entweder ein idealisiertes Bild des Mannes (Überlegenheit bei Theobald, Ehrprinzip bei Paul John) oder brüchige Männlichkeit entworfen, während die Autorinnen männliche Abhängigkeit oder Gleichgültigkeit darstellen; sie reproduzieren auch männliche Mythen z.B. den des Mannes als „Erlöser“ oder „dominanter Herr“. Die Zielsetzungen bei der Wahl des Motivs des Kleinbürgertums sind bei Autorinnen und Autoren unterschiedlich. Für die Autoren eignet sich das Kleinbürgertum be- sonders gut, um eine Komödie oder Tragödie zu schreiben. Außerdem üben sie mit diesem Motiv satirisch politische und soziale Kritik, während die Autorinnen ihre privaten Angelegenheiten, Erfahrungen und Probleme in der ambivalenten Haltung der Kleinbürgerin zum Ausdruck bringen. Indem die Autorinnen die Problematik auf eine untere Schicht, das Kleinbürgertum verlagern, schaffen sie zudem Distanz und können eigene Erfahrungen besser reflektieren.

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203 Anhang

Anhang 1

Gehalt 1901 1902 1903 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 (Durchschnitt) i. J. Verheiratete 2125 2108 2092 2110 2069 2098 2210 2194 2168 2293 Kontoristen 1349 1359 1334 1340 1344 1351 1402 1419 1412 1484 Reisende 1626 1601 1615 1619 1631 1717 1724 1681 1725 1809 Verkäufer 1307 1286 1249 1246 1245 1261 1320 1309 1304 1393 o. fr. Station Verkäufer 472 473 473 480 471 490 498 516 529 529 m. fr. Station Bergarbeiter 1447 1314 1411 1415 1370 1664 1871 1766 1556 1589 Ausgaben 1069 1077 1099 1106 1142 1196 1177 1186 1209 1254 f. Lebensmittel

(P. S. : fr. Station = freie Station = Kost und Unterkunft frei haben) (Walter Mehl: Die historische Entwicklung und die sozialen Ziele des Verbandes Deutscher Hand- lungsgehilfen. Greifswald 1928, S. 55. Zitiert aus Nienhaus, Ursula: Berufsstand weiblich. Die ersten weiblichen Angestellten. Berlin 1982, S. 85.)

Anhang 2

Angestellte Gehalt, Männer Gehalt, Frauen im Jahr im Jahr 16-20 Jahre 915,73 656,84 20-25 1461,56 987,03 25-30 1988,68 1200,74 30-35 2321,79 1321,06 35-40 2413,64 1345,06 40-45 2431,04 1342,61 45-50 2413,81 1317,87 50-55 2377,01 1261,71 55-60 2310,03 1198,27

(Jahrbuch der Verbündeten Weiblichen Vereine 1917, S. 75. Zitiert aus Nienhaus, Ursula: Berufsstand weiblich. Die ersten weiblichen Angestellten. Berlin 1982, S. 89.)

204