Protokoll-Nr. 18/80

18. Wahlperiode Ausschuss für Gesundheit

Wortprotokoll der 80. Sitzung

Ausschuss für Gesundheit Berlin, den 8. Juni 2016, 16.30 Uhr Jakob-Kaiser-Haus, Saal 1 302

Vorsitz: Dr. , MdB

Tagesordnung - Öffentliche Anhörung

Einziger Tagesordnungspunkt Seite 4 a) Antrag der Abgeordneten , Ulla Federführend: Ausschuss für Gesundheit Jelpke, Sabine Zimmermann (Zwickau), weiterer Mitberatend: Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. Innenausschuss Medizinische Versorgung für Geflüchtete und Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe

Asylsuchende diskriminierungsfrei sichern

BT-Drucksache 18/7413

b) Antrag der Abgeordneten Maria Klein-Schmeink, Federführend: Ausschuss für Gesundheit , Kordula Schulz-Asche, weiterer Mitberatend: Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Innenausschuss GRÜNEN Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Psychotherapeutische und psychosoziale Versor- Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe gung von Asylsuchenden und Flüchtlingen verbes- sern BT-Drucksache 18/6067

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Mitglieder des Ausschusses Ordentliche Mitglieder Stellvertretende Mitglieder CDU/CSU Bertram, Ute Albani, Stephan Henke, Rudolf Brehmer, Heike Hennrich, Michael Dinges-Dierig, Alexandra Hüppe, Hubert Eckenbach, Jutta Irlstorfer, Erich Lorenz, Wilfried Kippels, Dr. Georg Manderla, Gisela Kühne, Dr. Roy Nüßlein, Dr. Georg Leikert, Dr. Katja Pantel, Sylvia Maag, Karin Rupprecht, Albert Meier, Reiner Schmidt (Ühlingen), Gabriele Michalk, Maria Schwarzer, Christina Monstadt, Dietrich Steineke, Sebastian Riebsamen, Lothar Steiniger, Johannes Rüddel, Erwin Stockhofe, Rita Schmelzle, Heiko Stracke, Stephan Sorge, Tino Timmermann-Fechter, Astrid Stritzl, Thomas Wiese (Ehingen), Heinz Zeulner, Emmi Zimmer, Dr. Matthias SPD Baehrens, Heike Bahr, Ulrike Blienert, Burkhard Bas, Bärbel Dittmar, Sabine Freese, Ulrich Franke, Dr. Edgar Henn, Heidtrud Heidenblut, Dirk Hinz (Essen), Petra Kermer, Marina Katzmarek, Gabriele Kühn-Mengel, Helga Lauterbach, Dr. Karl Mattheis, Hilde Tack, Kerstin Müller, Bettina Thissen, Dr. Karin Rawert, Mechthild Westphal, Bernd Stamm-Fibich, Martina Ziegler, Dagmar DIE LINKE. Vogler, Kathrin Höger, Inge Weinberg, Harald Lutze, Thomas Wöllert, Birgit Tempel, Frank Zimmermann, Pia Zimmermann (Zwickau), Sabine BÜNDNIS 90/DIE Klein-Schmeink, Maria Kurth, Markus GRÜNEN Scharfenberg, Elisabeth Pothmer, Brigitte Schulz-Asche, Kordula Rüffer, Corinna Terpe, Dr. Harald Strengmann-Kuhn, Dr. Wolfgang

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Beginn der Sitzung: 16.30 Uhr dieser Anhörung an, so dass jeweils die Namens- nennung nötig ist. Ich bitte Sie, die Antworten kurz Der Vorsitzende, Abg. Dr. Edgar Franke (SPD): Gu- zu halten, damit in der zur Verfügung stehenden ten Tag, meine sehr verehrten Damen und Herren, Zeit viele Fragen gestellt und beantwortet werden liebe Sachverständige, liebe Zuschauerinnen und können. Des Weiteren bitte ich wie immer, die Mo- Zuschauer, lieben Medien. Ich darf Sie heute Nach- biltelefone auszuschalten. Das Wortprotokoll der mittag herzlich zur öffentlichen Anhörung des Aus- Anhörung kann ebenfalls auf der Homepage des schusses für Gesundheit begrüßen. Wir sind mo- Deutschen Bundestages eingesehen werden. Meine mentan in einer ungewohnten Umgebung, aber un- sehr verehrten Damen und Herren, wir beginnen ser traditioneller Anhörungssaal war leider belegt, jetzt nach den Formalien wie immer mit der so dass wir die heutige Anhörung in diesem Saal CDU/CSU. Die erste Fragestellerin ist Frau Mi- im Jakob-Kaiser-Haus vornehmen müssen. Sie sit- chalk. zen zum Teil mit dem Rücken zu den Fragestelle- rinnen und Fragestellern, vielleicht müssen Sie Abg. (CDU/CSU): Meine erste Frage sich ein bisschen seitlich drehen, so dass trotzdem richtet sich an Prof. Neuner. Liegen Ihnen valide ein Sichtkontakt möglich ist. Dafür sitzen Sie in Zahlen zu den Flüchtlingen vor, die letztes Jahr den schicken orangenen Stühlen, das kompensiert nach Deutschland gekommen sind und vor allen das mit Sicherheit. In der heutigen öffentlichen An- Dingen wie viele davon sind wegen psychischer Er- hörung beschäftigen wir uns mit dem Antrag der krankungen akut behandlungsbedürftig? Fraktion DIE LINKE. „Medizinische Versorgung für Geflüchtete und Asylsuchende diskriminierungs- ESV Prof. Dr. Frank Neuner: Es gibt keine verläss- frei sichern“ auf Drucksache 18/7413 und dem An- liche Prävalenzstudie, die im letzten Jahr durchge- trag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN „Psy- führt worden wäre und die Flüchtlinge untersucht chotherapeutische und psychosoziale Versorgung hätte. Allerdings erlaubt uns die Zusammenschau von Asylsuchenden und Flüchtlingen verbessern“ von unterschiedlichen Studien eine relativ solide auf Drucksache 18/6067. Diese Themen sind breit Abschätzung der Größenordnung von psychischen in der Öffentlichkeit diskutiert worden und Sie Störungen, die behandlungsbedürftig sind. Behand- wissen alle, ein Anspruch auf ärztliche Behandlung lungsbedürftig ist eine psychische Störung dann, von Asylbewerbern besteht grundsätzlich nur bei wenn sie das Vollbild einer psychischen Erkran- akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen. Ich kung nach diagnostischen Kriterien erfüllt. Das ist möchte zunächst wie immer einige Erläuterungen relativ klar festgelegt. Zusammenschau von Studien zum Ablauf der Anhörung machen. Uns stehen bedeutet die Gesamtbetrachtung von methodisch 60 Minuten für Fragen und Antworten zur Verfü- sauberen, kleineren Studien, die in Deutschland gung. In dieser Zeit werden die Fraktionen ihre durchgeführt worden sind. Wir haben aber vor al- Fragen abwechselnd stellen. In der Fragerunde ist lem große internationale Studien mit Kriegspopula- die CDU/CSU zunächst dran, dann die SPD, dann tionen und Flüchtlingen in anderen Ländern, die wieder die CDU/CSU, dann die Fraktion DIE uns relativ klar machen, dass es einen Dosiseffekt LINKE. Die erste Fragerunde beendet die Fraktion gibt. Je schwerer also ein Land vom Krieg betroffen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Es gibt eine zweite ist, umso höher ist der Prävalenzanteil der post- Fragerunde, in der die SPD im Gegensatz zur ersten traumatischen Belastungsstörung und der Depressi- Fragerunde zweimal drankommt, sonst ist es genau onen. Wenn man sich diese Daten insgesamt über- wie in der ersten Fragerunde. Jeder und jede Fra- greifend anschaut, dann müssen wir tatsächlich gende stellte eine Frage an einen Sachverständigen. von 20 bis 40 Prozent posttraumatischer Belas- Nach genau 60 Minuten werden wir die Anhörung tungsstörung im Vollbild ausgehen. Das gilt über beenden. Ich bitte wie immer die Sachverständi- Altersgruppen hinweg für Kinder, Jugendliche und gen, bei der Beantwortung der Frage nicht nur die Erwachsene. Dazu kommen die psychischen Stö- Mikrophone zu benutzen, sondern sich immer mit rungen, Depressionen und bereits bestehende psy- dem Namen und Verband vorzustellen. Die Anhö- chische Störungen, die in der Regel durch traumati- rung wird digital aufgezeichnet und viele Zuschau- sche Erfahrungen erschwert werden. erinnen und Zuschauer schauen sich nur ein Teil

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Abg. (SPD): Ich habe eine Frage an Wir sind jetzt an dem Punkt, dass wir diese Versor- den Praktiker hier, den ich besonders gut aus Det- gung in eine Regelversorgung überführen möchten. mold kenne. Bitte stellen Sie dar, wie Sie in Det- Wir sind im Konsens mit unseren lokalen KV-Ver- mold pragmatisch und sehr unbürokratisch die Ge- tretern und Ärztekammern. Wir treten nicht in sundheitsversorgung für Menschen, die bei uns Konkurrenz zur Versorgung durch Vertragsärzte, Schutz gesucht haben, organisiert haben und wie sondern wir bieten eine zentrale Flüchtlingsambu- die Versorgungsstrukturen vor Ort sind. lanz als Ergänzung an. Wir haben im Krankenhaus alle Sprachen sprechende männliche und weibli- ESV Dr. Helmut Middeke: Ich kann Ihnen darstel- che Ärzte und können je nach Bedarf eine vernünf- len, wie wir im Kreis Lippe, einer Region mit tige Datenerfassungen machen, die wir mit anderen 350.000 Einwohnern, die medizinische Versorgung Institutionen zusammen bearbeiten können. Mein von Flüchtlingen pragmatisch und qualitativ sehr Wunsch ist, dass Sie bei der bisherigen Versorgung gut gesichert haben. Wir haben im September 2014 nicht die Rolle der Krankenhäuser unterschätzen. sehr früh begonnen, als wir erkannt haben, dass Das gilt für den stationären Bereich, aber auch in große Probleme auf uns zurollen. Wir haben gese- den Notfallambulanzen und insbesondere für das hen, dass der öffentliche Gesundheitsdienst heillos Potenzial, zusammen mit den niedergelassenen überfordert ist. Wir haben die Initiative ergriffen Ärzten eine vernünftige, gut strukturierte Versor- und gesagt, dass wir die Erstuntersuchungen in gung der Flüchtlinge aufzubauen. Das ist auf an- Aufnahmeeinrichtungen übernehmen. Wir haben dere Kreise übertragbar und kein Sondermodell dann Strukturen aufgebaut und in unseren Ambu- Lippe. lanzen improvisiert und es mit freiwilligen Mitar- beitern, die aber bezahlt wurden, geschafft, im Jahr Abg. (CDU/CSU): Ich habe eine Frage 2015 annähernd 100 Prozent Erstuntersuchungen an den Einzelsachverständigen Prof. Razum. Im im Kreis Lippe durchzuführen. Wir haben 9.000 Asylbewerberleistungsgesetz sind die gesetzlichen Menschen untersucht, Daten erhoben und gut do- Vorgaben in Bezug auf die gesundheitliche Versor- kumentiert, so dass wir diese jetzt auch der Ge- gung von Asylbewerbern in Generalklauseln festge- sundheitsberichterstattung zur Verfügung stellen legt und die Leistungsgewährung erfolgt durch die können. Wir haben, weil wir das schon sehr lange Kommunen. Wie sieht der Ermessensspielraum für machen, eine hohe Expertise was spezifische die Kommunen aus, ist die Therapiefreiheit der Krankheiten, aber auch was spezifische Probleme Ärzte gesichert und welche Rolle spielen hierbei dieser Personengruppe mit unserem deutschen Ge- die Bundesländer? sundheitswesen angeht. Wir sind in der Lage zu überlegen, wie wir die Dinge in Zukunft weiter ge- ESV Prof. Dr. Oliver Razum: Das ist eine sehr lange stalten können. Wir haben eine enge Verbindung Frage. Ich zerlege sie in ihre vier Komponenten. mit unserer Psychiatrie, deren Chefarzt arabisch- Erstens, die Generalklauseln legen oft eine Ein- stämmig ist. Wir haben nicht systematisch auf psy- schränkung des Zugangs zur Gesundheitsversor- chische Traumatisierungen gescannt, aber bei eini- gung fest. Man braucht einen Behandlungsschein, gen war schon bei der Erstuntersuchung eindeutig, der von Mitarbeitern des Sozialamtes, die keine dass eine Traumatisierung vorliegt, dass wir diese medizinische Ausbildung haben, ausgestellt wird, Personen sofort einer Psychotherapie zuführen sofern nicht eine elektronische Gesundheitskarte konnten. Wir haben dann im letzten November ge- ausgegeben wird. Zweitens, § 4 Asylbewerberleis- sagt, wir können nicht weiter improvisieren und tungsgesetz beinhaltet eine derzeit auf 15 Monate angefangen, vernünftige Strukturen aufzubauen, festgelegte Einschränkung des Anspruchs auf Ge- und zwar dauerhafte Strukturen mit einer Flücht- sundheitsversorgung auf akute Erkrankungen und lingsambulanz mit eigenen Räumlichkeiten. Das Schmerzzustände, Schutzimpfungen, werdende hat dazu geführt, dass unsere Notfallambulanzen, Mütter und Wöchnerinnen. Nach § 6 Asylbewer- die stark in Anspruch genommen waren, entlastet berleistungsgesetz können zusätzlich über eine Ein- wurden. Die niedergelassenen Ärzte, die auch viel zelfallprüfung unerlässliche Leistungen gewährt o- geklagt haben, wurden entlastet und wir haben ins- der besondere Bedürfnisse berücksichtigt werden. gesamt die Qualität durch die kontinuierlichere Die Leistungsgewährung erfolgt durch die Kommu- Versorgung steigern können. nen. Wie sieht der Ermessensspielraum für die

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Kommunen aus? Die genannten Einschränkungen des Patienten in den Vordergrund rücken lässt. des Zugangs und des Anspruchs auf Gesundheits- Vierter und letzter Teil der Frage war, welche Rolle versorgung werden oft als nicht sachgerecht ange- die einzelnen Bundesländer spielen. Die einzelnen sehen und die Länder Bremen und Hamburg haben Bundesländer regeln den Anspruch auf und den daher schon vor Jahren eine elektronische Gesund- Zugang zur Gesundheitsversorgung für Asylsu- heitskarte eingeführt, die das Einholen eines Be- chende unterschiedlich. Bremen und Hamburg wie handlungsscheines überflüssig macht und damit gesagt mit einer elektronischen Gesundheitskarte, ein Zugangshindernis beseitigt. Mit der Karte wer- die Leistungen gewährt, die auch gesetzlich Versi- den in Bremen und Hamburg zudem ähnliche Leis- cherten zustehen. Sachsen dagegen hat sich ent- tungen wie für GKV-Mitglieder, außer für Psycho- schieden, den Leistungsumfang einzuschränken therapie, Zahnersatz und Disease-Management-Pro- und keine Gesundheitskarte auszugeben. Andere gramme gewährt. De facto werden also die Ein- Länder führen sie ein, allerdings mit einer Kenn- schränkungen des Anspruchs auf Gesundheitsver- zeichnung, so dass der Leistungsumfang einge- sorgung aufgehoben. Vier Länder ziehen jetzt nach, schränkt ist. Entsprechend ist auch die Therapie- das sind u. a. Nordrhein-Westfalen und Rheinland- freiheit eingeschränkt. Im Ergebnis hängt damit Pfalz. Trotz alledem bleibt der Ermessensspielraum also die gesundheitliche Versorgung in dreifacher der Kommunen erheblich, obwohl Vereinbarungen Hinsicht vom Zufall der Zuweisung ab: vom Bun- auf Landesebene bestehen. Kommunen erteilen o- desland, der Kommune und den einzelnen Ärztin- der verwehren Kostenzusagen in ganz unterschied- nen und Ärzten. Das scheint mir unvereinbar mit licher Weise. In Nordrhein-Westfalen und Rhein- den normativen und fachlichen Standards der ärzt- land-Pfalz entscheiden die Kommunen eigenstän- lichen Profession. dig über die Einführung einer Gesundheitskarte, mit eingeschränktem Leistungsanspruch nach §§ 4 Abg. Birgit Wöllert (DIE LINKE.): Meine Frage geht und 6 Asylbewerberleistungsgesetz. Die eigentlich an einen Praktiker mit einer anderen Perspektive, anzustrebende bundeseinheitliche Versorgung von Herrn Classen vom Flüchtlingsrat. Wie ist der Asylsuchenden ist somit nicht gewährleistet. Aus Stand der Einführung der Gesundheitskarte in den Sicht der Betroffenen hängen Anspruch auf und Ländern nach dem Asylbeschleunigungsverfahren Zugang zur gesundheitlichen Versorgung letztend- und welche Folgen ergeben sich daraus, dass es lich von Zufälligkeiten, d. h. der Zuweisung in eine nun keine einheitliche bundesweite Regelung für bestimmte Kommune ab. Dritter Teil der Frage war, die elektronische Gesundheitskarte für Asylbewer- ob die Therapiefreiheit der Ärzte gesichert ist. Hier berinnen und Asylbewerber gibt? Vielleicht könn- ist die Antwort ein klares Nein. Wird die Kosten- ten Sie dabei auf das Argument der Bundesländer, übernahme einer Behandlung verwehrt, obwohl sie die diese Karte mit der Begründung nicht einführen evidenzbasiert ist und die behandelnde Ärztin bzw. wollen, dass Mehrkosten entstehen würden, einge- der behandelnde Arzt sie als notwendig und sinn- hen. voll erachten, ist die Therapiefreiheit eindeutig ein- geschränkt. Es ist nicht immer eindeutig, ob eine ESV Ulrich Classen: Es haben bereits Bremen und Leistung gewährt wird und wann eine Kostenzu- Hamburg seit 2005 bzw. 2012 die Karte. Berlin hat sage eingeholt werden muss. Die konkrete Behand- sie seit dem 1. Januar, dafür hätten wir die Geset- lung von Geflüchteten hängt dann von dem behan- zesänderung aber nicht gebraucht. Schleswig-Hol- delnden Arzt oder von der behandelnden Ärztin stein ist das einzige Bundesland, das sie real zum ab. Ein Geflüchteter mag auf eine Ärztin treffen, die 1. Januar wirklich flächendeckend eingeführt hat. die Öffnungsklausel in § 6 gut kennt und weit aus- Dort wurden die Kommunen von der Landesregie- legt, obwohl sie Regressionsforderungen riskiert. rung angewiesen. Es gibt außerdem drei Länder, wo Genauso gut hätte er oder sie jedoch auf eine Ärztin ein Rahmenvertrag vorliegt, die Umsetzung aber treffen können, die bei der Behandlung aus Unsi- stockt. Dazu gehört Nordrhein-Westfalen. Nur 20 cherheit oder in einer Art von vorauseilendem Ge- von 400 Kommunen, allerdings die großen, haben horsam eine Leistung verwehrt, obwohl vielleicht ihn umgesetzt. In Rheinland-Pfalz und Niedersach- bei Nachfragen eine Finanzierung möglich gewesen sen hat ihn keine einzige Kommune umgesetzt. Es wäre. Diese Unklarheit in der Regelung führt zu gibt massiven Widerstand der kommunalen Spit- Unsicherheit, die andere Maßstäbe als das Wohl zenverbände, die das für zu teuer halten. Deswegen

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funktioniert es dort nicht. In Brandenburg und eine Transplantation kostet, abgesehen davon, dass Thüringen sind die Verträge noch in Verhandlung. sie menschenwürdiger ist, 30.000 Euro. Die Dialyse In Thüringen ist nicht so ganz sicher, ob die Ver- kostet 60.000 Euro pro Jahr. Da fragt man sich, wie handlungen überhaupt zu Ergebnissen führen. In das mit den Menschenrechten aussieht. Brandenburg sieht das ganz gut aus. In Hessen sind noch nicht mal die Vertragsverhandlungen begon- Abg. Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE nen worden. Hessen ist bereits auf der Negativseite. GRÜNEN): Bemerkenswert ist, dass bis auf eine Von vornherein lehnen Bayern und Sachsen die Stellungnahme bei der Finanzierung und bei der Karte ab. Das Saarland und Mecklenburg-Vorpom- Absicherung mit der elektronischen Gesundheits- mern hatten sich dafür ausgesprochen, sich aber in- karte für die Ausgestaltung der Versorgung Hand- zwischen dagegen entschieden. Überraschend hat lungsbedarf gesehen wird. Meine Frage richtet sich sich jetzt auch die neue Koalition in Baden-Würt- an Frau Morales. Der GKV-Spitzenverband hat sich temberg gegen die Karte entschieden und fordert in seiner schriftlichen Stellungnahme kritisch zur eine bundesrechtliche Änderung. Sachsen-Anhalt der Psychotherapie mit Hilfe von Sprach- und In- hat ein anderes Modell. Das Land will eine tegrationsmittlern ausgesprochen. Dahinter steckt Asylcard einführen, die aber nicht auf den Lesege- die Annahme, dass bei jeder Übersetzung eine Ver- räten der Ärzte läuft, sondern völlig eigenständig änderung des Inhalts erfolgt und gleichzeitig kultu- ist und die Ärzte sollen direkt mit den Sozialäm- relle Unterschiede durch die Unkenntnis der Spra- tern abrechnen. Der Grund für den Widerstand der chen nur schlecht aufgelöst werden können. Wie Kommunen ist in der Regel die Verwaltungspau- sehen Sie diese Einschätzung vor dem Hintergrund schale, die in den Flächenstaaten teilweise auf 8 Ihrer Erfahrung mit den dolmetschergestützten psy- Prozent hoch verhandelt wurde. Das ist relativ ab- chosozialen Unterstützungssystemen? surd, weil § 264 Absatz 7 SGB V für die Asylbewer- ber, die länger als 15 Monate hier sind, schon seit ESVe Varinia Fernanda Morales: Ich bin geschäfts- über zehn Jahren eine Verwaltungspauschale von 5 führende Gesellschafterin von BIKO gemeinnützige Prozent vorsieht und das auch funktioniert. Berlin GmbH in Köln. Die Frage ist sehr berechtigt und hat 6 Prozent, mindestens aber 10 Euro und Nord- fundiert, weil die Personen, die sich seit längerem rhein-Westfalen 8 Prozent festgesetzt. Es stellt sich mit professioneller Sprachmittlung beschäftigen, die Frage, ob man Menschenrechte gegen 1 oder 2 dieser Frage schon nachgegangen sind. Wir haben Prozent Mehrkosten verhandeln kann. Wir haben tatsächlich das Problem, dass seit Jahrzehnten viele neben den Verwaltungskosten auch die Frage der Laiendolmetscher, Begleitpersonen oder geringqua- Krankheitskosten. Dazu hat die Universität Biele- lifizierte Sprachmittler diese Tätigkeit ausüben. Da- feld gemeinsam mit der Universität Heidelberg eine bei entsteht tatsächlich die Problematik, dass eben Untersuchung durchgeführt und festgestellt, dass Inhalte nicht vollständig wiedergeben, Sätze ausge- die Minimalmedizin mit 40 Prozent Mehrkosten er- lassen und Inhalte interpretiert werden. Daher sa- heblich teurer ist. Ich habe die Daten auch ausge- gen wir, das ist in einer Arzt-Patienten-, Therapeu- wertet und bin auf erhebliche Mehrkosten gekom- ten-Patientenkommunikation unverantwortlich. men. Hamburg hat vorher und nachher ausgewer- Deswegen existiert schon seit Anfang 2000 die Ent- tet. Da waren die Kosten gleich oder 3 Euro niedri- wicklung eines neues Berufsbildes „Sprach- und ger. Die Frage ist, woher kommt es, dass die Mini- Integrations-Mittler“, das mittlerweile seit 2009 flä- malmedizin, die doch eigentlich billiger sein chendeckend in Deutschland mit klar definierten müsste, teurer ist. Wir vermuten, dass viele gehäuft bundesweit einheitlichen Ausbildungskriterien Rettungswagen und Notärzte in Anspruch nehmen. und Qualitätsstandards angeboten wird. Dort wer- Vor dem LAGESO fuhren im Herbst die Kranken- den Menschen mit Migrationserfahrung oder Mig- wagen vor, wie man das sonst am Flughafen mit rationshintergrund qualifiziert, damit sie in die den Taxen sieht, einer nach dem anderen, weil die Lage versetzt werden, professionell zu dolmetschen Asylbewerber keine Krankenscheine hatten. Wir und das heißt, vollständig, allparteilich und kor- hatten auch jetzt die Anfrage nach der Dialyse für rekt. Das Besondere an diesem Berufsbild ist, dass Kinder oder Nierentransplantationen aus einem dieses soziokulturelle Wissen auch vermittelt wird, großen Transplantationszentrum, wo Verwandten- wenn ein bestimmter Bedarf existiert. Kommunika- spenden bereitstanden. Das Zentrum sagte uns, tion basiert nicht nur auf Sprache, sondern auch

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auf Verständigung und das bedeutet, dass man so- diese anschließend über die Steuerzuschüsse aus ziokulturelles Wissen wie zum Beispiel das kon- dem Gesundheitsfonds erstattet bekommt. Durch krete Verständnis von Scham- und Ehrgefühlen, re- klare Vorgaben könne unnötige Bürokratie vermie- ligiösen Fragestellungen oder auch unterschiedli- den werden. che Erwartungen des Gesundheitswesens mitbringt. Das bedeutet, der Einsatz erfolgt über das Dolmet- Abg. Reiner Meier (CDU/CSU): Meine Frage richtet schen und wenn Missverständnisse auftreten, geht sich an die Bundespsychotherapeutenkammer. Las- der Sprachenintegrations-Mittler auf das Gespräch sen sich die posttraumatischen Belastungsstörun- ein und informiert und vermittelt. Das bedeutet, er gen und Depressionen bei den Menschen, die zu berät nicht, er interpretiert nicht, sondern bietet uns geflüchtet sind, nach Geschlecht, Alter, Natio- eine Wissensvermittlung, wodurch die Fachkraft nalität bzw. Herkunftsstaat und Ausgangspunkt entscheiden kann, was sie mit dieser Information der Flucht, zum Beispiel Flüchtlingslager oder macht. Mittlerweile gibt es in Deutschland ein Ein- Flüchtlingswege differenzieren? vernehmen darüber, dass der Einsatz von diesen Profis nicht nur die Diagnose erleichtert, sondern SVe Dr. Christina Tophoven (Bundespsychothera- dass es tatsächlich auf allen Ebenen zu einer Kos- peutenkammer (BPtK)): Die Differenzierungen las- tenreduzierung kommt, weil das Risiko einer Über-, sen sich ganz grob treffen. Für wirklich detaillierte Unter- oder Fehlversorgung minimiert wird. In der Analysen fehlen uns noch die Daten. Wenn Men- Psychotherapie ist das Bilden von Vertrauen die schen aus Herkunftsländern kommen, die Kriegs- Grundlage, um überhaupt eine Beziehung herzu- oder Krisenregionen sind, haben sie, wie Professor stellen und wir haben konkrete Beispiele. Seit 2013 Neuner schon sagte, ein erheblich erhöhtes Risiko setzt der Landschaftsverband Rheinland mit seinen an posttraumatischen Belastungsstörungen oder zehn rheinischen Kliniken flächendeckend Sprach- Depressionen zu erkranken. Das liegt bei Erwachse- und Integrationsmittler ein. Es werden tatsächlich nen bei 50 Prozent. Es liegt niedriger bei Kindern, 90 Prozent der Einsätze ausschließlich über diese und zwar bei ungefähr 30 Prozent. Das war aber Profis vermittelt. Nun zu den Handlungsempfeh- auch ein bisschen zu erwarten angesichts der Daten lungen. Es geht darum, wie eine Finanzierung ge- über die deutsche Wohnbevölkerung und den re- staltet werden kann. Dafür braucht es eine klare Re- präsentativen Daten vom Robert-Koch-Institut. Wir gelung hinsichtlich der Kostenübernahme von vermuten, dass es auch Unterschiede zwischen GKV- und Sozialleistungsträgern. Wie die GKV ge- Männern und Frauen gibt. Dazu gibt es aber keine sagt hat, ist es tatsächlich eine gesamtgesellschaftli- validen Daten. Es ist noch viel Forschung notwen- che Aufgabe, der wir uns zu stellen haben. Es geht dig, um Ihre Frage wirklich differenziert zu beant- darum verbindlich zu definieren, in welchen Fäl- worten. Für die Einschätzung der Problemdimen- len der Einsatz von qualifizierten Sprach- und In- sion ist wichtig zu wissen, dass Menschen, die aus tegrationsmittlern tatsächlich notwendig ist. Dies Kriegs- und Krisenregionen kommen, ein großes Ri- kann zum Beispiel durch ein Expertengremium be- siko haben, psychisch krank zu sein. Hierauf muss stehend aus der Selbstverwaltung oder aus unab- man reagieren. Die Menschen sind nicht alle be- hängigen Sachverständigen oder durch eine Richt- handlungsbedürftig. Manche werden von alleine linie des Gemeinsamen Bundesausschusses gesche- gesund, wenn sie sichere Lebensbedingungen ha- hen. Es müsste klar definiert werden, an welchen ben. Viele brauchen Beratung und Unterstützung Krankheitsbildern man sich orientiert und welche durch die psycho - sozialen Zentren, um einen Weg Konstellation das beinhaltet. Auf dieser Basis soll- in unsere Gesellschaft zu finden. 10 bis 20 Prozent ten dann für gesetzlich krankenversicherte Flücht- dieser Menschen brauchen dringend eine Behand- linge die GKV oder die Sozialleistungsträger die lung. Die Behandlungsvoraussetzung dafür ist, dass Kosten übernehmen. Die Leistungen könnten über sie die Anstrengungen einer Integration überhaupt die Gesundheitskarte erbracht und diese wird dann leisten, Deutsch lernen und Angebote wahrnehmen im Anschluss von den Krankenkassen mit den So- können, die diese Gesellschaft ihnen macht. Die zialleistungsträgern verrechnet oder einheitlich Therapie und die Sprachmittlungen sind die Vo- über das GKV-System erbracht und abgerechnet raussetzungen dafür, dass die Menschen Deutsch werden. Es bietet sich an, gesetzlich festzulegen, lernen und sich integrieren können. Das ist wich- dass die GKV die Kosten zunächst übernimmt und

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tig, wenn man über die Finanzierung von Sprach- Diskrepanz bewerten. mittlung nachdenkt. Sie ist eine Voraussetzung für Integration für diejenigen, die behandlungsbedürf- SV Dr. Bernhard Gibis (Kassenärztliche Bundes- tig sind. vereinigung (KBV)): Was den Anteil der Flücht- linge angeht, die diesen Krankheitsstörungen unter- Abg. (SPD): Meine Frage geht an liegen oder die auch psychotherapeutisch behan- Herrn Sebastian Jung. Sie leiten im Auftrag der delt werden müssen, haben auch wir keine verläss- Stadt Berlin den Medical Point an einer der größten lichen Daten vorliegen. Wir haben die publizierten Erstaufnahmeeinrichtungen am Berliner Flughafen. Studien miteinander verglichen und stellen eben- Ich würde Sie bitten, aus Ihren Erfahrungen heraus falls diese erhebliche Spannweite bei den Ergebnis- zu sagen, wie sich die Entwicklung im Hinblick auf sen fest, die die Autoren identifizieren. Unseres Er- den Gesundheitszustand und die Notwendigkeit achtens muss zwischen psychosozialem und psy- von entsprechender Versorgung darstellt. Bitte ge- chotherapeutischen Betreuungsbedarf im engeren hen Sie besonders auf das Impfen und die Impfbe- Sinne differenziert werden, so dass wir davon aus- reitschaft ein. gehen, dass an dieser Stelle ein erheblicher For- schungsbedarf besteht. Ohne eine vernünftige Ver- ESV Sebastian Jung: Grundsätzlich ist zu sagen, sorgungsforschung an dieser Stelle, die auch dass wir den Gesundheitszustand unserer Bewoh- schnell auf den Weg gebrachten werden sollte, las- ner in Tempelhof im Durchschnitt mit dem Ge- sen sich auch schwer Bedarfsschätzungen ableiten. sundheitszustand der Berliner Bevölkerung verglei- Das heißt, die ganzen Kalkulationen und Hochrech- chen können. Hier sind natürlich psychische Er- nungen stehen unserer Auffassung nach nicht auf krankungen und Erkrankungen, die durch die Un- einem soliden Boden. Forschung tut hier Not und terbringung in so einer Notunterkunft bedingt sind, sollte prioritär auch auf den Weg gebracht werden. hervorzuheben. Hinzukommt, dass die Leute auf Grund der langen Anreise und der schlechten hygi- Abg. Bettina Müller (SPD): Ich habe eine Frage an enischen Bedingungen während dieser Reise ent- Frau Manuela Rothöft von der AOK Nordwest. Sie sprechende Krankheitsbilder mitbringen. Die er- waren die treibende Kraft bei dem Zustandekom- höhte Vulnerabilität ist nach wie vor durch die Un- men des Rahmenvertrages zu eGK für Flüchtlinge terbringung in einer Notunterkunft und durch die im Flächenland Schleswig-Holstein, der aus unse- Masse an Menschen auf engem Raum gegeben. Das rer Sicht für eine sogenannte Zuordnungslösung für ist besorgniserregend, wenn man an infektiöse die abrechnenden Kassensätze beispielhaft ist. Bitte Krankheiten denkt. Deshalb spielt das Impfen eine skizzieren Sie uns die Beweggründe der Verhand- wichtige Rolle. Die Impfbereitschaft ist sehr hoch lungspartner vor Ort für diese Lösung. bei den Bewohnern und wir haben bereits große der Teile der Bewohner geimpft. Das wird regelmä- ESVe Manuela Rothöft: Wie bereits gesagt, war ich ßig weiter geführt, weil wir eine hohe Fluktuation konzeptionell mitbeteiligt an der Entwicklung der bei den Bewohnern haben. Es gibt Leute, die sind Rahmenvereinbarungen und Umsetzung in Nord- lange Zeit bei uns. Dann wechselt wieder ein biss- rhein-Westfalen und auch in Schleswig-Holstein. chen die Bewohnerschaft. Wir bleiben am Ball, um Für uns war es wichtig, dass wir uns im Rahmen die Leute dementsprechend zu impfen. unserer Möglichkeiten an der Umsetzung der Rah- menvereinbarung beteiligen, um die gesamtgesell- Abg. Ute Bertram (CDU/CSU): Ich habe eine Frage schaftlichen Herausforderungen zu bewältigen. Ziel an die KBV. Die Bundespsychotherapeutenkammer war es, Städte und Gemeinden verwaltungsökono- hatte im September 2015 erklärt, dass 40 bis 50 misch zu entlasten. In Schleswig-Holstein hat die Prozent der Flüchtlinge unter posttraumatischen Landesregierung, wie Herr Classen bereits darge- Belastungsstörungen litten und ebenso viele unter stellt hat, per Entscheid geregelt, dass sich alle Depressionen. Wir haben vom Einzelsachverständi- Kreise und kreisfreien Städte an der Einführung der gen, Professor Neuner gehört, dass 20 bis 40 Pro- elektronischen Gesundheitskarte beteiligen. In zent betroffen sind. Ich würde gerne Ihre Einschät- Nordrhein-Westfalen ist dies den Gemeinden optio- zung wissen, ob diese Größenordnung nach heuti- nal überlassen. Das Verfahren und der Schlüssel gem Stand überhaupt richtig ist und wie Sie diese

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zur Verteilung der Asylbewerber und Asylbewerbe- Nothilfesystem, welches wir verkörpern, nicht. In rinnen auf die beteiligten Kassen wurde bereits in den Städten haben wir sehr, sehr viele Beispiele. In Nordrhein-Westfalen mit den Vertretern der Lan- Berlin sind die Sprechstunden zweimal die Woche desregierung, teilweise unter Beteiligung der Kom- mit mehr als 200 Menschen gefüllt. Das sind nicht munen und kommunalen Spitzenverbände beraten. nur Menschen, die einen Anspruch haben, sondern Dabei wurde der Wunsch der Kommunen berück- auch Menschen ohne Papiere. Das ist aber eine an- sichtigt, dass eine Zuordnung von Kreisen und dere Fragestellung. Viele Beispiele sind auch in der kreisfreien Städten zu einzelnen Kassen doch not- Stellungnahme von Georg Classen aufgeführt. Be- wendig ist und aus verwaltungstechnischen Ver- sonders prekär ist die Situation bei denjenigen, die einfachungsgründen haben wir auch diese Zusam- eigentlich einen Zugang haben, dann von Verwal- menarbeit in Betracht gezogen, dass eine Kommune tungsmitarbeiterinnen abgewiesen werden. Das einer Krankenkasse zugeordnet wird. Gleichzeitig kommt sehr häufig vor. Wir versuchen dann zu ver- sollte eine gleichmäßige Belastung zur Verteilung mitteln, rufen an. Meistens sind diejenigen auch der gesamtwirtschaftlichen Aufgabe Ziel sein. Die nicht zu erreichen. Es ist auf jeden Fall in der Um- Verteilung der Kreise wurde nach Marktanteilen setzung sehr problematisch und vor allem ist es der Kassen vorgenommen. Aber nicht nur allein problematisch, dass es flächendeckend sehr unter- der Marktanteil war ausschlaggebend, sondern schiedlich gehandhabt wird. Selbst in den Ländern, auch die regionale Präsenz und die Niederlassung wo es die Karte gibt, haben wir schon gehört, dass der einzelnen Krankenkassen sollten mit im Fokus es teilweise nicht funktioniert, weil die Kommunen stehen. Zusätzlich haben wir dann den Zuwei- nicht mitmachen. In den Ländern, wo es nur die sungsschlüssel gemäß § 7 Absatz 1 der Auslän- Krankenscheine gibt, ist es von dem einzelnen deraufnahmeverordnung Schleswig-Holstein für Sachbearbeiter abhängig. Es kann in einem Amt Asylbewerberinnen und Asylbewerber für die ein- sehr unterschiedlich gehandhabt werden. Es gibt zelnen kreisfreien Städte und Kreise berücksichtigt dazu eine kleine Studie aus Heidelberg, eine Mas- und sind so zu einer unseres Erachtens gerechten terarbeit. Interessant ist, dass es zwei Strategien der Verteilung auf alle beteiligten Krankenkassen ge- Mitarbeiter gibt. Erstmal sind alle überfordert. Das kommen, so dass jede Krankenkasse ein Kreis oder haben in einem Experteninterview alle gesagt. Ent- eine kreisfreie Stadt betreut. weder reagieren sie darauf, indem sie die Leistun- gen entsprechend des GKV-Kataloges vergeben, o- Abg. Harald Weinberg (DIE LINKE.): Die Frage geht der einfach alles abwenden. Gute Beispiele sind an Frau Schülle vom Medinetz. Wie wirkt sich der Bremen und Hamburg. Eine noch bessere Lösung eingeschränkte Behandlungsunfall nach dem Asyl- ist die Überführung in die gesetzlichen Sozialbü- bewerberleistungsgesetz auf die Ärztinnen und cher. Ärzte und andere Leistungserbringer aus und wie bewerten Sie dies? In Ihrer Stellungnahme ist ein Abg. Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE Beispiel aufgeführt, da geht es um die Zahnbehand- GRÜNEN): Welche Folgen hat der eingeschränkte lung eines Kindes. Zugang zur Gesundheitsversorgung nach dem Asyl- bewerberleistungsgesetz für die Versorgung psy- SVe Mirjam Schülle (Deutsche Medibüros): Ich er- chisch Kranker und traumatisierter Flüchtlinge? läutere, was Medibüros/Medinetze sind. Medibüros Die Frage geht an die BPtK. und Medinetze sind selbstorganisierte Netzwerke, die eingreifen, wenn die Menschen keine Versor- SVe Dr. Christina Tophoven (Bundespsychothera- gung bekommen. Wir vermitteln die Betroffenen peutenkammer (BPtK)): Man muss davon ausgehen, unentgeltlich an die Akteure im Gesundheitswe- dass 10 bis 20 Prozent der psychisch kranken sen, die dann wiederum unentgeltlich oder zu ei- Flüchtlinge, die aus Krisen- und Kriegsgebieten zu nem sehr geringen Kostensatz die Behandlung uns kommen, behandlungsbedürftig sind. Die brau- übernehmen. Bei uns schlagen diejenigen auf, bei chen eine Psychotherapie und die benötigen, wenn denen die Versorgung definitiv nicht funktioniert. sie in die Erstunterbringung kommen, einen An- Darauf zielt ja Ihre Frage. Wir haben insgesamt 34 sprechpartner, weil die unter einer schweren Aus- Standorte in Deutschland. Das heißt, auf dem Land prägung einer posttraumatischen Belastungsstörung sind wir nicht vertreten und da gibt es dieses letzte leidende Menschen sich zurückziehen und Schlaf-

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und Konzentrationsstörungen haben. Es ist ihnen notwendigerweise die Fälle sind, bei den man sich nicht möglich, sich ihrer Umwelt zu stellen. Des- zurücklehnen kann und kein Handlungsbedarf be- halb wäre der erste Anspruch, den man erfüllen steht. Es gibt einen erheblichen Anteil, das zeigen müsste, um dem Versorgungsbedarf gerecht zu wer- Längsschnittstudien von Flüchtlingen, die erst im den, dass bereits in der Erstunterbringung die dort Laufe der Zeit das Vollbild einer posttraumatischen tätigen ehren- und hauptamtlichen Helfer dafür Belastungsstörung entwickeln. Es gibt bei allen sensibilisiert werden, solche Störungen zu erken- Trauma-Populationen das Phänomen des Delayed nen. In der Erstunterbringung sollte es Sprechstun- Onset, also des verzögerten Einsatzes der posttrau- den von Ärzten oder Psychotherapeuten geben. matischen Belastungsstörung. Das müssen wir auch Wenn Behandlungsbedarf besteht, sollte auch in bei Flüchtlingen erwarten. Das heißt, es ist unmit- den ersten 15 Monate der Zugang zu einer Psycho- telbar nach der Ankunft feststellbar, ob jemand das therapie unbedingt möglich sein. Es besteht eine zu diesem Zeitpunkt hat. Das bedeutet aber nicht, akute Behandlungsbedürftigkeit. Posttraumatische dass wir nicht zu späteren Zeitpunkten auch noch Belastungsstörung und Depression sind mit Suizi- darauf gefasst sein müssen. Der Zeitpunkt der Er- dalität verbunden. Da kann niemand warten, da fassung ist einer der wichtigen Faktoren bei den muss man behandeln. Solang die Flüchtlinge unter Prävalenzraten, die eine wesentliche Rolle spielen. das Asylbewerberleistungsgesetz fallen, ist es Das gibt mir die Gelegenheit, etwas zum For- schwierig, den Zugang zur Psychotherapie zu fin- schungsbedarf zu sagen. Wir können uns nicht zu- den. Es ist schwierig, aber etwas leichter, eine Fi- rücklehnen und sagen, wir müssen erst forschen, nanzierung für eine Sprachmittlung zu erhalten. damit wir wissen, wie häufig das ist, um dann zu Nach 15 Monaten wird es etwas besser mit dem Zu- erkennen, ob wir Handlungsbedarf haben. Das wäre gang zur Psychotherapie, weil dann das Leistungs- eine fast schon zynische Argumentation. Ich gehe spektrum der GKV gilt. Leider wird es schwerer bei davon aus, dass keiner sie so führen wird. Der der Finanzierung der Sprachmittlung, weil die Fi- Punkt ist, dass wir die Daten nicht bekommen wer- nanzierung nicht mehr gesichert ist und sich die den. Prävalenzstudien sind relativ aufwendige, Probleme kreuzen. Der Zugang bleibt nach 15 Mo- lang dauernde Studien. Wenn wir dieses Jahr be- naten weiter schwierig, wenn jemand akut behand- reits eine Studie machen, dann haben wir in zwei lungsbedürftig ist. Wenn er psychisch krank und Jahren die Ergebnisse. Da sind die Ergebnisse schon eine Psychotherapie indiziert ist, braucht der Pati- nicht mehr gültig, weil neue Flüchtlinge gekom- ent einen Zugang zu einem Psychotherapeuten und men und andere gegangen sind. Es gibt nicht die die Finanzierung der Sprachmittlung. Prävalenzzahlen der posttraumatischen Belastungs- störung bei Flüchtlingen. Daran müssen wir uns ge- Abg. (CDU/CSU): Können Sie wöhnen. Es wird immer nur Größenordnungen ge- uns darlegen, ob eine posttraumatische Belastungs- ben und wenn wir bei Größenordnungen von 20 bis störung bei Geflüchteten sofort diagnostiziert wer- 40 oder 50 Prozent sind, also bei 200 000 bis den kann? 400 000, 500 000. Die Politik muss sich entschei- den, ob bei dieser Anzahl von Menschen ein Hand- ESV Prof. Dr. Frank Neuner: Eine posttraumatische lungsbedarf besteht. Genauer werden wir es nicht Belastungsstörung ist grundsätzlich vier Wochen bekommen. nach einem traumatischen Ereignis diagnostizier- bar. Das heißt nicht vier Wochen nach der Flucht, Abg. (SPD): Meine Frage richtet sondern vier Wochen nach dem traumatischen Er- sich an den GKV-Spitzenverband. Es wurde mehr- eignis und wir müssen davon ausgehen, dass es bei fach von den Sprachbarrieren gesprochen und die Flüchtlingen nicht das zentrale Ereignis gibt, son- Forderung erhoben, die Gemeinschaft der Versi- dern regelhaft eine ganze Serie, eine ganze Kette cherten sollte die Leistung bei anerkannten Flücht- von traumatischen Ereignissen über die Lebensge- lingen aus Beitragsmitteln finanzieren, um zum schichte hinweg, so dass problemlos auch unmit- Beispiel eine angemessene psychotherapeutische telbar nach der Ankunft eine posttraumatische Be- Versorgung zu gewährleisten. Wie bewerten sie lastungsstörung diagnostizierbar wäre. Das heißt diese Forderung und welcher Umfang an Mitteln aber nicht, dass die Fälle, in denen keine posttrau- müsste von den Beitragszahlerinnen und zahlern in matische Belastungsstörung diagnostiziert wird, der GKV bereitgestellt werden? Interessant wäre

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auch der Vergleich zwischen muttersprachlicher den Abrechnungsdaten und des Aufwandes in psy- Psychotherapie und Psychotherapie mit Sprach- chotherapeutischer Behandlung keine Kenntnisse mittlern. hinsichtlich der Häufigkeit hervorgehen. Es ist in der Diskussion der verschiedenen Sachverständi- SV Gernot Kiefer (GKV-Spitzenverband): Bezogen gen schon deutlich geworden, wir haben eine große auf die GKV haben wir mindestens eine höchstrich- Unsicherheit hinsichtlich des tatsächlichen Be- terliche Rechtsprechung im Bundessozialgericht, in handlungsbedarfs. Frau Dr. Tophoven sprach von der eindeutig feststellt worden ist, dass die Aufgabe einem Risiko von 50 Prozent. Uns ist allen klar, das der Sprachmittlung, da wo sie notwendig ist, eine Risiko manifestiert sich nicht immer im tatsächli- gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, die dann auch chen Behandlungsbedarf. Insofern gibt es hier ei- bitte aus Mitteln der Gesamtgesellschaft aufge- nen großen Unsicherheitsfaktor. bracht und nicht durch ein Versichertenkollektiv zu finanzieren wäre. Das kann der Deutsche Bun- Abg. Birgit Wöllert (DIE LINKE.): Meine Frage geht destag ändern, im Moment haben wir aber hier eine an Herrn Kiefer vom GKV-Spitzenverband. Die ge- entsprechende höchstrichterliche Auffassung bezo- setzlichen Krankenversicherungen finanzieren gen auf die Frage der Finanzierung durch die GKV. nach dem Wirtschaftlichkeitsgebot, das heißt, das Es ist relativ schwierig, halbwegs seriös zu berech- Notwendige darf nicht überschritten werden, da nen, welcher wirtschaftliche Aufwand entstehen die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsge- würde. Wir hatten in den letzten Wochen Versu- setz erheblich weniger umfassend sind als die che, eine solche Norm zu formulieren. Diese war GKV-Leistungen. Ergibt sich daraus, dass das Maß extrem unpräzise gefasst in einer Art Vorstufe eines des Notwendigen durchaus auch unterschritten Referentenentwurfs mit der Folge, dass nahezu bei werden kann? Sehen Sie das auch so und inwiefern jedem Kontakt mit dem medizinischen Versor- kann man die notwendigen Leistungen ohne Scha- gungssystem eine Sprachmittlung notwendig ge- den für die Betroffenen kürzen? worden wäre. Das hätte mit Sicherheit einen erheb- lichen Finanzaufwand verursacht und wäre auch SV Gernot Kiefer (GKV-Spitzenverband): Die Ent- mit Blick auf die notwendigen Qualifikationen der scheidung des Gesetzgebers als oberstem Souverän Sprachmittler überhaupt nicht darstellbar. Wir ge- für Asylbewerberinnen und Asylbewerber in der hen bei einer relativ konservativen Schätzung da- sogenannten Wartephase einen eingeschränkten von aus, dass es mit 150 und 200 Millionen Euro Leistungskatalog nach dem § 4 und nach dem § 6 zu Lasten der Versichertengemeinschaft gehen SGB V zu definieren, muss man zur Kenntnis neh- würde. Ich will noch einmal erinnern, dass es sich men. Aber es ist mit entsprechenden Problemen nach bisheriger höchstrichterlicher Auffassung um verbunden. Was ist eine notwendige medizinische eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe handelt. Behandlung, insbesondere im Bereich der vertrags- ärztlichen Versorgung, die sich von dem inhaltli- Abg. Heiko Schmelzle (CDU/CSU): Meine Frage chen Anspruch der Versorgung, die wir im Bereich richtet sich auch an den GKV-Spitzenverband. Wel- der GKV insgesamt haben, unterscheidet? Es ist es che Erkenntnisse hat die GKV aus den bisherigen eine Konstruktion, die zu erheblichen inhaltlichen Abrechnungen psychotherapeutischer Behandlun- Problemen führt. Dies wird von vielen behandeln- gen gewonnen? Welchen Schluss würden Sie zie- den Ärztinnen und Ärzten beschrieben, weil unklar hen? ist, was abgedeckt ist und was nicht. In Bremen und in Hamburg hat man im Wesentlichen den SV Gernot Kiefer (GKV-Spitzenverband): Wir ha- GKV-Leistungsumfang gewählt und bestimmte ben bezüglich der Abrechnungen in den ersten 15 planbare und nicht unmittelbar notwendige Leis- Monaten eine andere Situation. Teilweise ist die tungen ausgeschlossen. Dies geht aus den Daten GKV beteiligt, das wurde vorhin bereits gesagt. In hervor, die uns zur Verfügung stehen. Mit dem Vor- Bremen und Hamburg gibt es seit vielen Jahren behalt, dass keine nennenswerten Kostensteigerun- eine Versorgung durch die GKV im Auftrag der gen festzustellen sind. Das heißt, die zur Verfügung Kommunen. In vielen Bundesländern gibt es die stehenden Daten stützen nicht die Befürchtung, Beteiligung entweder überhaupt nicht oder aber dieses Vorgehen würde zu einer unkontrollierbaren erst seit kurzem. Insofern muss ich sagen, dass aus

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Kostenexplosion führen. Der Gesetzgeber als Sou- nicht weitergeführt werden. Das macht therapeu- verän, der einen eingeschränkten Leistungskatalog tisch, da würde mir die Kollegin von der Bundes- will, sollte den durchführenden verantwortlichen psychotherapeutenkammer sicher Recht geben, Ländern und Kommunen mindestens sagen, was überhaupt keinen Sinn. Außerdem haben wir in ei- davon abgedeckt ist. Sind beispielsweise Kuren, ner eigenen Umfrage für Berlin festgestellt, dass Zahnersatz, bestimmte planbare und aufschiebbare diejenigen, die ermächtigt wurden, in der Regel Leistungen nicht gemeint? So führt es in der Breite sehr wenig Erfahrung haben und nicht wissen, wie dazu, dass ein extremer Ermessensspielraum exis- die Flüchtlinge zu ihnen kommen beziehungsweise tiert und damit für die Flüchtenden entscheidend wie sie mit Dolmetschern arbeiten sollen. Sie be- ist, wo sie zunächst ihren Wohnsitz nehmen müs- nutzen die 32 psychosozialen Behandlungszentren sen. Dies führt zu einer unterschiedlichen medizi- in Deutschland als Koordinierungsstellen, was wie- nischen Versorgung. derum unsere Kapazität belastet. Es müsste also zu- sätzlich eine Kontakt- und Beratungsstelle geben, Abg. Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE damit die Leute auch unkompliziert an die richtige GRÜNEN): Die Frage geht an Frau Bittenbinder. Es Stelle vermittelt werden. wurde im Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz eine Veränderung eingeführt, die zur Behandlung Abg. (CDU/CSU): Ich würde gerne von traumatisierten Flüchtlingen mit einem be- etwas mit dem Professor Neuner zusammen überle- stimmten Status eine Ermächtigungsregelung für gen. Die ärztlichen Psychotherapeuten werden im- die Zentren vorgesehen hat. Wie hat sich diese Re- mer sehr gut angeben können, zu welcher Leistung gelung bewährt und führt sie dazu, dass behand- sie selbst besonders gut in der Lage sind. Da stoßen lungsbedürftige Geflüchtete tatsächlich ihre Ange- wir jetzt auf bestimmte Kapazitätsprobleme, die bote nutzen können? möglicherweise größer sind als in der somatischen Versorgung. Die erste Frage wäre also, ist das über- SVe Elise Bittenbinder (Arbeitsgemeinschaft der haupt möglich, dass sich andere Personen als ärzt- psycho – sozialen Zentren für Flüchtlinge und Fol- liche und psychologische Psychotherapeuten um teropfer (BAfF)): Die Ermächtigungsregelung gilt die Bewältigung von Psychotraumata kümmern nicht speziell für die Zentren. Die Ermächtigungs- können? Kann der Mensch, der dem Flüchtling be- regelung gilt für niedergelassene Psychotherapeu- gegnet etwas tun? Kann die Öffentlichkeit etwas ten und dort gibt es inzwischen bestimmte Erfah- tun? Können andere, die in der Therapie unterwegs rungen. Es gibt ein Problem mit der unterschiedli- sind, etwas tun? Oder muss das immer ein ärztli- chen Ermächtigungspraxis der KVen und es gibt cher oder psychologischer Psychotherapeut sein? eine bundesweite Umfrage der Kassenärztlichen Können sie uns ein pragmatisches Stufenkonzept Vereinigung. Mit Ausnahme Berlins, Bayerns und empfehlen? Sachsens haben alle Länder teilgenommen. Die Umfrage kam mit Stand 15. Mai 2016 zu dem Er- ESV Prof. Dr. Frank Neuner: Ich würde mir gerne gebnis, dass 59 Anträge auf Ermächtigung gestellt zwei Stunden Zeit nehmen, um das zu beantwor- und insgesamt 26 Ermächtigungen erteilt werden ten. Ich versuch es in zwei Minuten. Es ist selbst- sollten. Dabei gibt es unterschiedliche Vorgehens- verständlich, dass der Umgang mit traumatisierten weisen in den Ländern. In vier Bundesländern gilt Flüchtlingen eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe die Ermächtigung ausschließlich für die Weiterbe- ist, die alleine im Gesundheitswesen nicht gelöst handlung. Das heißt, wenn jemand schon vorher in werden kann. Es ist tatsächlich so, dass die Flücht- psychotherapeutischer Behandlung war, darf er linge auf eine grenzwertig überforderte psychothe- nach den 15 Monaten weiterbehandelt werden. In rapeutische Versorgungslandschaft treffen. Jeder fünf Bundesländern gilt es allgemein, aber es gibt Psychotherapeut, der irgendwie halbwegs gute Ar- insgesamt die Einschränkung nach § 2 des Asylbe- beit macht, hat ohnehin bisher elend lange Warte- werberleistungsgesetzes. Das heißt, es gibt Psycho- listen. Es gibt schon in der gewöhnlichen psycho- therapie nur innerhalb einer bestimmten Frist. therapeutischen Versorgung ordentliche Herausfor- Wenn jemand anerkannt wird oder zum Beispiel derungen, so dass ich davon ausgehe und stark da- das Job-Center zuständig ist, darf diese Therapie für plädieren würde, dass das, was wir im Moment

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an Versorgungssystemen haben, in der Regelversor- SV Dr. Bernhard Gibis (Kassenärztliche Bundes- gung gestärkt werden sollte. Es sollte ausgenutzt vereinigung (KBV)): Das sind grundsätzliche Fra- werden, was wir an Möglichkeiten haben. Es soll- gen, für die wir weder Studien noch Abrechnungs- ten Fortbildungen in dem Bereich erbracht und erkenntnisse haben. Ich will etwas zur Versor- Psychotherapeuten ermuntert werden, diese auch gungsforschung klarstellen. Mein Plädoyer dafür wahrzunehmen. Das Gleiche gilt für die Behand- heißt nicht, die Hände in den Schoß zu legen und lungszentren, die in der Behandlung von Flüchtlin- andere wichtige Dinge zu unterlassen. Trotzdem gen und Folteropfern eine zentrale Aufgabe über- will ich betonen, ohne eine vernünftige Erkenntnis- nehmen und oft eine jahrelange Erfahrung haben. basis kann ich schlecht Maßnahmen ergreifen, die Wir haben aber, das müssen wir uns bewusst ma- bevölkerungswirksam und flächendeckend umge- chen, spätestens seit 2015 so etwas wie eine psy- setzt werden. Wir stehen bei wichtigen Fragestel- chotherapeutische Notfallsituation in Deutschland. lungen noch ganz am Anfang, überhaupt beurteilen Diese hohe Anzahl von Personen ist im Regelsys- zu können, wie die Belastung ist und wie wir das tem nicht vollständig zu bewältigen. Es gibt inter- behandeln können. Ich möchte abschließend noch nationale Modelle, die für solche Situationen von einmal aufgreifen, was die Bundesärztekammer der WHO entwickelt wurden. Diese Modelle muss und die Bundespsychotherapeutenkammer vorge- man sich genau angucken. Da geht es um genau schlagen haben, dass man Modellprojekte gezielt diese Frage, wie kann ich Nichtprofis in einem ge- für bestimmte Fragestellungen auf den Weg bringt, stuften Behandlungsmodell einsetzen, um zum Bei- um auch Ihre Frage beantworten zu können. spiel im Gesundheitssystem eine Brückenfunktion zu übernehmen, um möglicherweise einzelne dele- Der Vorsitzende: Ich darf mich herzlich bedanken, gierbare Leistungen selbst zu übernehmen. Wir ste- dass Sie heute bei unserer Anhörung dabei waren hen vor der Aufgabe, uns kreative Gedanken ma- und wünsche Ihnen einen schönen Abend. chen zu müssen, wie wir dieser Notfallsituation au- Schluss der Sitzung: 17.34 Uhr ßerhalb des Regelversorgungssystems mit massiver

Integration in das Regelsystem gerecht werden kön- nen. Da braucht man schnell kreative Lösungsmög- lichkeiten.

Abg. Hilde Mattheis (SPD): Meine Frage geht noch- mal an Herrn Professor Neuner. Wäre zur Unter- stützung so etwas wie ein E-Learning-Programm denkbar? Wie würden Sie das bewerten? Dr. Edgar Franke, MdB Vorsitzender ESV Prof. Dr. Frank Neuner: Wir brauchen kreative Lösungsmöglichkeiten und internetbasierte Verfah- ren. Es gibt gute Erfahrungen und es gibt auch gute Evidenz dafür, dass man tatsächlich mit internetba- sierten Informationen, aber auch Behandlungsange- boten, die im Moment in dieser Form in Deutsch- land so nicht zulässig sind, hervorragende Ergeb- nisse erzielen kann. Wir müssen auch in diesem Bereich neue Lösungswege gehen und uns fragen, welche evidenzbasierten Möglichkeiten haben sich international bewährt und sind hier und jetzt zum Wohl der Flüchtlinge.

Abg. Ute Bertram (CDU/CSU): Nochmal eine Frage an die KBV. Wie viele Flüchtlinge zeigen Resilienz und Selbstheilungskompetenz und welche Rele- vanz haben Selbsthilfe von Patienten und Peer to Peer-Ansätze?

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Deutscher Drucksache 18/7413

18. Wahlperiode 28.01.2016

Antrag der Abgeordneten Harald Weinberg, , Sabine Zimmermann (Zwickau), Frank Tempel, , , Matthias W. Birkwald, , Eva Bulling-Schröter, , , Dr. André Hahn, , , , , , Dr. Gesine Lötzsch, , Birgit Menz, , Dr. , Dr. , Azize Tank, , Birgit Wöllert, , Pia Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Medizinische Versorgung für Geflüchtete und Asylsuchende diskriminierungsfrei sichern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Leistungsberechtigte nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) erhalten eine medizinische Versorgung grundsätzlich nur bei akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen sowie bei Schwangerschaft und Mutterschaft. Diese weitrei- chende Beschränkung der Gesundheitsversorgung verletzt das Menschenrecht auf Gesundheit, das über die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und andere in- ternationale Abkommen garantiert ist. Sie widerspricht auch dem Grundrecht der Menschenwürde sowie dem Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes. Denn diese Grundsätze gelten für alle hier lebenden Menschen, ungeachtet der Nationalität oder des Aufenthaltsstatus. Mit dem Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz wurde diese Verletzung von Men- schenrechten verschärft. Obwohl es im Gesetzgebungsverfahren von Wohlfahrtsver- bänden, Hilfsorganisationen und Verfassungsrechtlerinnen und -rechtlern bemängelt wurde, hat die Bundesregierung an den weitgehenden Einschränkungen der Gesund- heitsversorgung nach dem AsylbLG festgehalten. Das Asylverfahrensbeschleuni- gungsgesetz führt zu weiteren Verschlechterungen und zur Stigmatisierung in der gesundheitlichen Versorgung der Asylsuchenden. Beeinträchtigt wird die gesundheitliche Versorgung von Asylsuchenden zusätzlich durch ein oft extrem zeit- und personalaufwändiges Antrags- und Prüfverfahren bei den Sozialämtern, wenn Asylsuchende oder Geduldete einen Krankenschein, eine Facharztüberweisung oder eine Krankenhausbehandlung benötigen. Selbst Heilmit- tel, wie etwa Physiotherapie, müssen trotz Vorliegens einer ärztlichen Verordnung in den meisten Bundesländern zusätzlich beim Sozialamt beantragt werden. Wenn Leistungsberechtigte nicht rechtzeitig Termine bei den zuständigen Sozialämtern er- halten, kann dies dazu führen, dass der Leistungsanspruch de facto ins Leere läuft. Die Folge können medizinisch nicht vertretbare Verzögerungen der Behandlung Drucksache 18/7413 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

sein. Es besteht die Gefahr, dass selbst unaufschiebbare Behandlungen unter Gefahr für Leib und Leben verschleppt werden. Todesfälle, gesundheitliche Schädigungen sowie schwerste Behinderungen und Menschenrechtverletzungen, die auf willkürli- che oder zu späte Entscheidungen der Behörden oder des Personals zurückzuführen sind, sind dokumentiert (vgl. ausführlich www.fluechtlingsinfo-ber- lin.de/fr/asylblg/Classen_AsylbLG_2014_AS-Ausschuss.pdf, Seite 39 – 54). Die behördlichen Hemmnisse, das Menschenrecht auf medizinische Versorgung in Anspruch zu nehmen, wurden mit dem Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz nicht aus dem Weg geräumt. Den Ländern wurde lediglich erleichtert, die menschenver- achtende Praxis durch ein Verfahren über die Krankenkassen zu ersetzen, die dann Gesundheitskarten an die Asylsuchenden ausgeben. Eine Verpflichtung der Länder, diese Möglichkeit tatsächlich zu nutzen, gibt es nicht. Einzelne Bundesländer haben bereits angekündigt, diese Vereinfachungen für Verwaltungen und Asylsuchende nicht einführen zu wollen, obwohl die Erfahrung mit der Ausgabe von gesundheits- karten in Bremen und Hamburg zeigt, dass die Versorgung über eine Gesetzliche Krankenkasse im administrativen Bereich wesentlich effektiver und kostengünstiger als bei den Sozialämtern durchgeführt werden kann (www.zeit.de/feature/kranken- versicherung-fluechtlinge-hamburg). In Bremen und Hamburg, den Ländern, die als erste eine Gesundheitskarte für Asyl- suchende eingeführt hatten, waren die Leistungen de facto aus pragmatischen Grün- den auf diejenigen Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung begrenzt, die auch andere Versicherte ohne Antrag bei der Kasse in Anspruch nehmen können. Eine ähnliche Lösung befindet sich im Land Brandenburg im Gesetzgebungsverfah- ren. Nordrhein-Westfalen und Berlin haben die Voraussetzungen bereits geschaffen. Die Neuregelung durch das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz sieht dagegen vor, in Zukunft ein Merkmal „Asyl“ auf den Gesundheitskarten zu speichern. Dies soll anzeigen, dass lediglich Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, d. h. entsprechend eingeschränkte medizinische Maßnahmen, abrechenbar sind. Da- mit findet sich zukünftig die Ärztin/der Arzt in einer Doppelrolle wieder: Einerseits muss und will sie/er Leistungen nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft erbringen. Andererseits sind die Leistungen auf ein Maß unterhalb des medizinisch Notwendigen begrenzt. Sie/er muss zusätzlich die Entscheidung treffen, inwieweit ein Krankheitsfall als akut oder schmerzhaft zu betrachten ist und dementsprechend nach dem Asylbewerberleistungsgesetz vergütet wird. Wenn dies nicht der Fall ist, muss der Arzt oder die Ärztin entscheiden, ob er/sie die Leistung dennoch erbringen will und sich damit entsprechenden Abrechnungsschwierigkeiten aussetzt. Ärzteverbände hatten in der Vergangenheit immer wieder kritisiert, dass Asylsu- chenden benötigte medizinische Leistungen vorenthalten werden und den gleichen Leistungsanspruch für alle Menschen gefordert. Es ist absurd, gerade den Ärztinnen und Ärzten, die den ethischen Auftrag zur bestmöglichen Behandlung haben, die Funktion desjenigen zu übertragen, der über das Recht von Menschen entscheidet, eine medizinisch notwendige Behandlung in Anspruch nehmen zu dürfen oder nicht. Medizinethisch ist die diskriminierende eingeschränkte Gesundheitsversorgung nach dem AsylbLG nicht zu vertreten. Auch in Zukunft werden in den Bundeslän- dern, die keine Gesundheitskarten ausgeben, medizinische Laien in den Sozialäm- tern entscheiden, ob ein nach dem Asylbewerberleistungsgesetz anzuerkennender Behandlungsbedarf besteht oder nicht und ob bzw. welche amtsärztlichen Prüfungen zur Klärung eines etwaigen Behandlungsbedarfs eingeleitet werden sollen. Dabei ist die Unterscheidung zwischen akuten und chronischen Krankheitszuständen medizi- nisch keineswegs eindeutig definiert und der Zugang zur erforderlichen Behandlung insoweit oft eine auf Willkür beruhende Entscheidung. Die Ausgabe einer Gesundheitskarte an Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG bedeutet nicht, dass diese reguläre Mitglieder der Krankenkasse werden. Die Kran- kenkasse übernimmt zwar die Krankenbehandlung, doch die Betroffenen verbleiben im Status „nicht versichert“. Eine reguläre Pflichtmitgliedschaft würde bedeuten, Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/7413

dass sie Vorversicherungszeiten für eine spätere freiwillige Mitgliedschaft in der GKV erwerben könnten, also ein weiterer Diskriminierungstatbestand entfallen würde. Die Bundesregierung plant trotz der bekannten Defizite keine grundlegenden Ver- besserungen bei der Gesundheitsversorgung und dem Gesundheitsschutz im Rah- men des AsylbLG. Bei der anstehenden Umsetzung der EU-Aufnahme-Richtlinie 2013/33/EU soll vor allem die spezielle Situation von besonders schutzbedürftigen Asylsuchenden Berücksichtigung finden. Darüber hinaus ist die Bundesregierung der Auffassung, dass AsylbLG erlaube bereits eine „angemessene gesundheitliche Versorgung“ (vgl. Antwort auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE., Bun- destagsdrucksache 18/4758). Eine menschenrechtskonforme und medizinethisch nicht zu beanstandende Gesundheitsversorgung erfordert jedoch die gleichberech- tigte Versicherungspflicht aller Menschen, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus, ihrer Herkunft oder ihrem Vermögen. Durch die Ausgabe von Gesundheitskarten und das in § 264 Absatz 2 SGB V gere- gelte Erstattungsverfahren würde ein weniger Bürokratie verursachendes, einheitli- ches System der Krankenversicherung für alle AsylbLG-Berechtigten gleicherma- ßen geschaffen. Die im Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz derzeit vorgesehenen Krankenkassenverträge auf Landesebene würden überflüssig. Das seit 2004 für §-2- AsylbLG-Berechtigte geltende Kostenerstattungssystem nach § 264 Absatz 2 bis 7 SGB V würde dann bundesweit gleichermaßen den Zugang für alle AsylbLG-Be- rechtigten zu einer gesetzlichen Krankenversicherung nach Wahl sicherstellen (vgl. dazu auch den Antrag Hamburgs, Bundesratsdrucksache 392/2/14 (neu) vom 10. Oktober 2014).

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, geeignete Maßnah- men zu ergreifen und einen Gesetzentwurf auf den Weg zu bringen, um sicher- zustellen, dass

1) alle Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG in die Versicherungspflicht nach § 5 Absatz 1 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) und den §§ 20 ff. des Elften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XI) einbezogen werden. Die in § 5 Absatz 8a Satz 2 und 3 SGB V und in § 5 Absatz 11 SGB V für Empfängerinnen und Empfänger von Leistungen nach dem AsylbLG und dem SGB XII vorgesehenen Ausschlüsse von der GKV sind zu streichen. Die für Ausländerinnen und Ausländer in § 5 Absatz 11 SGB V vorgesehe- nen Ausschlüsse sind ebenfalls zu streichen, soweit der erlaubte Aufenthalt über einen dreimonatigen Kurzaufenthalt hinausgeht. Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG sind von Zuzahlungen gemäß den §§ 61, 62 SGB V zu befreien. Der Beitrag ist entsprechend der Regelung für Arbeitslosengeld- II-Bezieherinnen und -Bezieher festzusetzen (§ 246 SGB V). Die Beiträge für die Krankenversicherung von Asylsuchenden trägt der Bund; 2) übergangsweise und kurzfristig die seit 2004 für Leistungsberechtigte nach § 2 AsylbLG geltende Ausgabe von Gesundheitskarten nach § 264 Ab- satz 2 bis 7 SGB V auf alle Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG aus- geweitet wird. Die Leistungsbeschränkungen in § 4 Absatz 1 AsylbLG auf die Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände sind ersatzlos zu streichen. Die Einführung entsprechender Merkmale auf der Gesund- heitskarte oder anderen Anspruchsnachweisen nach § 264 SGB V ist rück- gängig zu machen.

Berlin, den 28. Januar 2016

Dr. , Dr. Drucksache 18/7413 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

Begründung

Grundsätzlich ist die Abschaffung des AsylbLG als diskriminierendes Sondergesetz und die Überführung der bislang von diesem Gesetz umfassten Personen in das allgemeine System der sozialen Sicherung nach den So- zialgesetzbüchern einschließlich der Gesundheitsversorgung geboten, um einen menschenrechtskonformen Zu- gang zur sozialen Sicherung zu schaffen. Einen diesbezüglichen Antrag der Fraktion DIE LINKE. (Bundestags- drucksache 18/2871) hat der Deutsche Bundestag am 6.11.2014 allerdings abgelehnt. Das Grund- und Menschenrecht auf Gesundheit ist in Art. 25 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (A- EMR), Art. 12 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (WSK-Pakt), Art. 6 In- ternationaler Pakt über politische und bürgerliche Rechte, Art. 11 Europäische Sozialcharta sowie Art. 35 Eu- ropäische Grundrechtecharta garantiert. In der Präambel zur 1946 verabschiedeten WHO-Erklärung heißt es: „Sich des bestmöglichen Gesundheitszustandes zu erfreuen, ist eines der Grundrechte jedes Menschen.“ Art. 25 AEMR bestimmt: „Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der ihm und seiner Familie Gesundheit und Wohlergehen ausreichend sichert, insbesondere Nahrung, Kleidung, Unterkunft und medizinische Versorgung sowie die erforderlichen Sozialleistungen.“ In Art. 12 des von Deutschland 1973 ratifizierten WSK-Pakts heißt es: „Die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines jeden auf das für ihn erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit an.“ Nach den Hinweisen des WSK-Ausschusses (General Comment Nr. 20) gilt dies „für alle Menschen, einschließlich Nicht- staatenangehöriger, beispielsweise Flüchtlinge, Asylsuchende, Staatenlose, ungeachtet dessen, welche Recht- stellung sie besitzen.“ Jegliche Diskriminierung bei der Gesundheitsfürsorge und den Gesundheitsdiensten ist nach dem WSK-Pakt verboten. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ist das Recht auf Gesundheit Teil des auch für ausländische Staatsangehörige, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, anerkannten Grund- rechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 und 20 Abs. 1 GG, vgl. Urteil vom 18.07.2012, AZ: 1 BvL 10/10. Das Urteil hält die gesetzliche Festlegung eines gruppenspezifi- schen Minderbedarfs bei dem auch die physische Existenz umfassenden menschenwürdigen Existenzminimum nur für zulässig, wenn ein solcher Minderbedarf empirisch ermittelt und objektiv belegbar ist. Die in §§ 4 und 6 AsylbLG enthaltenen Einschränkungen der medizinischen Versorgung gegenüber der den notwendigen Be- darf an medizinischer Versorgung abdeckenden Gesetzlichen Krankenversicherung (§ 12 Abs. 1 SGB V) wären demnach nur gerechtfertigt, wenn empirisch erwiesen wäre, dass die Beschränkung des Behandlungsbedarfs auf Symptombehandlungen und Akuterkrankungen aus den besonderen Eigenheiten der im AsylbLG erfassten Personengruppe zu erklären ist. Es ist aber gerade nicht belegt, dass Asylsuchende in geringerem Maße der ärztlichen Hilfe bedürfen als andere Menschen. Trotz der vergleichsweise großzügigen Auslegung der in §§ 4 und 6 AsylbLG definierten, mit Ausnahme des Zahnersatzes weitgehend dem GKV-Standard entsprechenden Leistungsumfangs waren in Hamburg die Ge- sundheitsausgaben nach §§ 4 und 6 AsylbLG nach Einführung der GKV-Karte gleichbleibend. Aufgrund der wesentlich geringeren Administrations- und Personalkosten waren im Ergebnis deutliche Einsparungen zu ver- zeichnen. Die Hamburger Sozialbehörde beziffert die Einsparungen auf 1,6 Millionen Euro jährlich. (Vgl. dazu Burmester, Medizinische Versorgung der Leistungsberechtigten nach §§ 4 und 6 AsylbLG über eine Kranken- kasse, NDV 2015, 109). Studien belegen, dass die Leistungsausschlüsse durch Folgekosten verschleppter Be- handlungen sogar zusätzliche Gesundheitskosten verursachen (FRA – European Union Agency for Fundamen- tal Rights, 2015). Eine Studie des Universitätsklinikums Heidelberg und der Universität Bielefeld stellt fest, dass die jährlichen Pro-Kopf Ausgaben für medizinische Versorgung bei Asylsuchenden mit beschränktem Zu- gang zur medizinischen Versorgung in den letzten 20 Jahren um rund 40 Prozent und damit um 376 Euro im Jahr höher lagen als bei Asylsuchenden, die bereits Anspruch auf die Leistungen der gesetzlichen Krankenver- sicherung hatten (http://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0131483).

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Antrag der Abgeordneten Maria Klein-Schmeink, Luise Amtsberg, Kordula Schulz- Asche, Dr. Harald Terpe, Elisabeth Scharfenberg, Dr. Wolfgang Strengmann- Kuhn, Dr. , Katja Dörner, , , Tabea Rößner, Doris Wagner, Beate Walter-Rosenheimer, , , (Köln), Ekin Deligöz, , Britta Haßelmann, , Sven-Christian Kindler, Markus Kurth, Dr. , , Beate Müller-Gemmeke, Özcan Mutlu, Dr. , , Brigitte Pothmer, (Augsburg), Corinna Rüffer, Dr. , Dr. und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Psychotherapeutische und psychosoziale Versorgung von Asylsuchenden und Flüchtlingen verbessern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Menschen, die in Deutschland Schutz vor Krieg und Verfolgung suchen, leiden in- folge der Erlebnisse im Herkunftsland und auf der Flucht häufig unter schwerwie- genden körperlichen und vor allem psychischen Belastungen. Rund 40 % aller Flüchtlinge entwickeln infolge ihrer Erlebnisse, wie politischer Verfolgung, Folter, sexualisierter Gewalt oder des Zwangs, die Heimat zu verlassen, eine Traumafolge- störung (Gäbel, Ruf, Schauer, Odenwald, & Neuner, 2006), die häufig von Depres- sionen und Angststörungen begleitet wird (Heeren, Wittmann, Ehlert, Schnyder, Meier & Müller, 2014). Besonders gefährdet sind Frauen und Kinder. Sie alle erle- ben Todesängste, oft monatelangen Hunger und Durst. Insbesondere Kinder können häufig nicht verstehen, was um sie herum passiert, und sie können sich erst Recht nicht für oder gegen das vollbeladene Flüchtlingsschiff oder die Überfahrt im LKW entscheiden, sondern sind einfach dabei. Eine Studie des kbo-Kinderzentrums (Mall & Henningsen 2015) kommt zu dem Ergebnis, dass ein Drittel der syrischen Flücht- lingskinder psychisch belastet ist. Zu den im Herkunftsland verursachten und flucht- bedingten Traumata kommen anhaltende krankheitsfördernde Belastungen in den Erstaufnahmeeinrichtungen hinzu. Die Mehrzahl der Kinder leidet unter sozialer Isolation, der Trennung von Bezugspersonen und dem unklaren Aufenthaltsstatus. Frauen müssen im Bürgerkrieg und auf der Flucht sexuelle Übergriffe fürchten und sind zudem häufig mit ihren Kindern allein unterwegs. Bei unterbliebener oder ver- späteter Behandlung können sich die psychischen Leiden besonders häufig chroni- fizieren (Falk, Hersen & Van Hasselt, 1994; Kessler et al., 1995). Gerade Flüchtlinge benötigen jedoch Schutz, Sicherheit und medizinische wie psychotherapeutische Drucksache 18/6067 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

Versorgung, damit sie das Erlebte verarbeiten und sich ein neues Leben aufbauen können. Die dringend benötigte Behandlung erhalten traumatisierte oder psychisch kranke Flüchtlinge in Deutschland jedoch nur im Einzelfall. Grund hierfür ist zunächst die Minimalversorgung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG), das Asyl- suchende und Geduldete in der Regel von einer psychotherapeutischen Versorgung ausschließt. Die Versorgung bei psychischen Erkrankungen verbessert sich jedoch kaum mit dem Zugang zu Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), da die Krankenkassen keine Dolmetschereinsätze finanzieren, die bei Flüchtlingen aber fast immer notwendig sind, weil muttersprachliche Therapieangebote kaum zur Verfügung stehen. Einen besonders wirksamen Ansatz verfolgen die spezialisierten und niedrigschwel- ligen Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (PSZ). Sie tragen dem speziellen Versorgungsbedarf traumatisierter und schutzbedürftiger Flüchtlinge durch multiprofessionelle Teams Rechnung. Neben Psychotherapie bieten die PSZ auch psychosoziale Beratung sowie komplementäre kreative und soziale Aktivitäten unter Mitwirkung von Dolmetscherinnen und Dolmetschern an und berücksichtigen die Kultur, die krankmachenden Erfahrungen, den rechtlichen Status und die aktuel- len Lebensbedingungen der Flüchtlinge. Aufgrund der instabilen und unzureichen- den Mischfinanzierung, nichtexistierender Refinanzierung durch die GKV und das Wegbrechen der Finanzierung durch die Projektfördermittel aus dem Asyl-, Migra- tions- und Integrationsfonds (AMIF) können die PSZ aber nur 10 % bis 20 % des Versorgungsbedarfs abdecken, müssen die allermeisten Behandlungsbedürftigen aus Kapazitätsgründen abweisen oder können sie erst nach monatelangen Wartezeiten betreuen. Ein PSZ musste seine Arbeit bereits einstellen, andere sind dazu gezwun- gen, ihr Angebot einzuschränken und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu entlassen. Das Bundesverfassungsgericht hat klargestellt, dass die Menschenwürde nicht mig- rationspolitisch relativierbar ist. Es ist längst an der Zeit, allen Menschen in Deutsch- land, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus, die notwendigen medizinischen und psychosozialen Leistungen zu gewähren. Zu einer besseren medizinischen, psycho- therapeutischen und psychosozialen Versorgung verpflichtet auch die neugefasste Richtlinie 2013/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationa- len Schutz beantragen (Aufnahmerichtlinie). Neben der Aufnahmerichtlinie, die für Kinder, als besonders schutzbedürftige Personen, den Zugang zu besonderen Ge- sundheitsleistungen und eine adäquate psychosoziale Beratung und Betreuung vor- sieht, ist Deutschland auch der UN-Kinderrechtskonvention verpflichtet. Artikel 24 entsprechend steht jedem Kind ein Höchstmaß an gesundheitlicher Versorgung zu. Neben den in diesem Antrag geforderten Verbesserungen der psychotherapeutischen und psychosozialen Versorgung gilt es, durch stabile Lebensverhältnisse psychoso- ziale Risiken abzubauen. Bund und Länder sind gefragt, zügig für einen sicheren Aufenthaltsstatus zu sorgen, Asylsuchenden und Geduldeten einen Rechtsanspruch auf Teilnahme an den Integrationskursen zu gewähren und sie bei der Arbeitsauf- nahme zu unterstützen, die Wohndauer in Gemeinschaftsunterkünften zu reduzieren sowie Kindern einen Alltag in Schule und Kita zu ermöglichen. Einen besonderen Schutz brauchen Menschen mit Behinderungen, Frauen und Kinder sowie Lesben, Schwule, trans*-, bi- und intersexuelle Menschen. Für sie muss gesichert sein, dass sie ohne Diskriminierung, Bedrohung oder Gewalt in Deutschland leben können.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. gesetzliche Änderungen mit dem Ziel vorzuschlagen, bundesweit allen Leis- tungsberechtigten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz einen Anspruch auf sämtliche Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung einzuräumen und Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/6067

ihnen hierfür eine Gesundheitskarte zur Verfügung zu stellen; 2. unter Beteiligung von Fachleuten (z. B. der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer – BAfF) geeignete Strukturen und Instrumente zu entwickeln und anzuwenden, die eine frühzei- tige Identifizierung, Bedarfsermittlung und Versorgung Schutzbedürftiger, ins- besondere traumatisierter Asylsuchender, ermöglichen. Dabei ist der Situation von Kindern und Frauen besonders Rechnung zu tragen; 3. sicherzustellen, dass Schutzsuchende innerhalb von höchstens 15 Tagen nach Antragstellung in einer ihnen verständlichen Sprache umfassende Information und Beratung über ihre Ansprüche nach der Aufnahmerichtlinie erhalten und hierbei insbesondere über ihr Recht auf angemessene medizinische, psychothe- rapeutische und psychosoziale Versorgung informiert werden sowie über die Dienste, die ihnen in medizinischen, psychotherapeutischen und -sozialen An- gelegenheiten weiterhelfen können; 4. gemeinsam mit den Bundesländern die kurz- und langfristige Finanzierung so- wie Erreichbarkeit der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer sicherzustellen und deren Ausbau zu fördern. Hierfür sind u. a. die spezialisier- ten Zentren zur ambulanten psychosozialen und -therapeutischen Versorgung traumatisierter oder schutzbedürftiger Flüchtlinge zu ermächtigen; 5. zur Förderung der Versorgung traumatisierter und psychisch kranker Asylsu- chender und Flüchtlinge: a. gemeinsam mit der Selbstverwaltung zu prüfen, ob interdisziplinäre Ko- operationen zu fördern sind, bei denen neben ärztlichen und psychothera- peutischen Leistungen insbesondere auch eine psychosoziale Unterstüt- zung von den Krankenkassen im Rahmen einer Gesamtbehandlung über- nommen wird (in Anlehnung an das Modell der Sozialpsychiatrie-Verein- barung); b. Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, die nicht zur Behandlung gesetzlich Versicherter zugelassen sind, zur Versorgung von traumatisier- ten Flüchtlingen zu ermächtigen; c. Sonderbedarfszulassungen für fremdsprachige Psychotherapeutinnen und -therapeuten zu ermöglichen, um das Angebot an muttersprachlichen psy- chotherapeutischen Behandlungen zu erweitern; d. eine Änderung des SGB V vorzuschlagen, mit der die gesetzlichen Kran- kenkassen verpflichtet werden, die Kosten für qualifizierte Sprach- und Integrationsmittlerinnen und -mittler im Rahmen medizinischer und psy- chotherapeutischer Behandlungen zu übernehmen; e. gemeinsam mit der Selbstverwaltung sowie Traumaexpertinnen und -experten zu prüfen, mit welchen geeigneten Therapie- und Behandlungs- formen möglichst viele Personen erreicht werden können; 6. dafür Sorge zu tragen, dass in den Erstaufnahmeeinrichtungen gesonderte Spiel- und Freizeitbereiche für Kinder geschaffen werden. Diese sollten von Pädagoginnen und Pädagogen betreut werden, die in der Arbeit mit traumati- sierten Kindern geschult sind, psychotherapeutischen Bedarf identifizieren und medizinische, psychotherapeutische oder psychosoziale Versorgung vermitteln können; 7. ein Programm zur Erfassung, Analyse und Weiterentwicklung der psychothe- rapeutischen und psychosozialen Versorgung von Flüchtlingen aufzulegen.

Berlin, den 22. September 2015

Katrin Göring-Eckardt, Dr. und Fraktion Drucksache 18/6067 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

Begründung

1. Anspruch auf Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung Das Leiden aller in Deutschland lebenden Menschen ist unabhängig von der Entscheidung über Asyl oder Flüchtlingsschutz zu erkennen, anzuerkennen und zu lindern. Zu diesem Zweck sollen alle vom AsylbLG be- troffenen Personen das gesamte Leistungsspektrum der gesetzlichen Krankenversicherung erhalten und unter Verwendung einer Versichertenkarte im Krankheitsfall direkt eine Ärztin oder einen Arzt aufsuchen können. Es muss insbesondere sichergestellt werden, dass ausschließlich qualifizierte Gutachterinnen und Gutachter zeitnah über Anträge auf Psychotherapie entscheiden. Die Minimalversorgung nach dem AsylbLG für Asylsuchende und Geduldete ist rechtlich und ethisch nicht hinnehmbar. Insbesondere wird behandlungsbedürftigen psychisch kranken Asylsuchenden und Geduldeten aufgrund der restriktiven und unklaren Regelungen im Regelfall die notwendige psychotherapeutische Behand- lung versagt. Nicht zuletzt, weil die Entscheidungen über die Gewährung einer Psychotherapie häufig von Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeitern sowie Amtsärztinnen und Amtsärzten getroffen werden, die nicht ausreichend qualifiziert sind, um einen psychotherapeutischen Behandlungsbedarf zu erkennen. Darüber hin- aus sind die Bearbeitungszeiten der Anträge auf Psychotherapie in den Behörden meist unzumutbar lang, so- dass die psychischen Störungen chronifizieren oder kostenintensive stationäre Behandlungen notwendig wer- den können. Wenn überhaupt, werden psychisch kranke Flüchtlinge deshalb entgegen den Leitlinien meist ausschließlich medikamentös behandelt.

2. Identifizierung, Bedarfsermittlung und Versorgung In Deutschland gibt es noch kein Verfahren zur Ermittlung besonders schutzbedürftiger Personen. Somit blei- ben viele psychische Erkrankungen bei Flüchtlingen unerkannt. Dieser Zustand ist unhaltbar, weil ohne eine Identifizierung schutzbedürftiger psychisch kranker Flüchtlinge, alle – die besondere Behandlung dieser Men- schen betreffenden – Bestimmungen der Aufnahmerichtlinie drohen, ins Leere zu laufen. Die Bundesregierung ist daher gefordert, sicherzustellen, dass die Ermittlung der besonderen Schutzbedürftigkeit von Asylsuchenden so früh wie möglich erfolgt, aber auch zu jedem späteren Zeitpunkt im Asylverfahren erfolgen kann. Mit Un- terstützung der Fachberatungsstellen sind geeignete Verfahren und Instrumente zur Identifizierung, Bedarfser- mittlung und Versorgung Schutzbedürftiger, insbesondere traumatisierter Asylsuchender, zu entwickeln und anzuwenden (vgl. Stellungnahme der BAfF „Forderungen zur gesundheitlichen Versorgung Geflüchteter in der Bundesrepublik Deutschland“ vom 17.07.2015). Ziel ist es, eine qualifizierte Diagnostik und Ermittlung des Hilfs- und Behandlungsbedarfs und daran anschließend die Vermittlung eines qualifizierten Behandlungsan- gebotes oder entsprechender psychosozialer Unterstützung sicherzustellen. Für eine angemessene Versorgung bedarf es auch einer niedrigschwelligen medizinischen Basisversorgung in den Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften der Länder. Als Best Practice haben sich das Gesundheitsprogramm in Bremen sowie das Medeus-Programm in Rheinland-Pfalz erwiesen, die in den Erst- aufnahmeeinrichtungen hausärztliche Sprechstunden, eine Abklärung psychischer Erkrankungen, Kriseninter- ventionen sowie Beratungen vorsehen und Personen bei Bedarf an Fachärztinnen und Fachärzte, Psychothera- peutinnen und Psychotherapeuten, Beratungsstellen und Fachkliniken verweisen.

3. Anspruch auf Information und Beratung Flüchtlinge müssen ihre Rechte auf medizinische sowie psychotherapeutische und -soziale Versorgung kennen, um sie wahrnehmen zu können. Heute versperren jedoch fehlende, unzutreffende oder unverständliche Infor- mationen oftmals den Weg zu notwendigen Unterstützungsangeboten und Behandlungen. Damit die in der Aufnahmerichtlinie garantierten Rechte in der Praxis Wirkung entfalten, verpflichtet Art. 5 der Aufnahmericht- linie die Mitgliedstaaten, Asylsuchende innerhalb von 15 Tagen nach Antragstellung in einer ihnen verständ- lichen Sprache zumindest über die vorgesehenen Leistungen und die Verpflichtungen zu unterrichten, die mit den im Rahmen der Aufnahmebedingungen gewährten Vorteilen verbunden sind, sowie über entsprechende Hilfsorganisationen. Die Information und Beratung sollten im Rahmen des Verfahrens zur Feststellung der Schutzbedürftigkeit stattfinden und alle Fragen und Informationen zu medizinischen, sozialen und rechtlichen Lebensbedingungen (u. a. Regelsysteme der sozialen Sicherung und gesundheitlichen Versorgung, Sprach- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/6067

kurse, Wohnformen, Bildungsangebote, Arbeitsmarktzugang, Beratungsangebote für Alleinerziehende, Bean- tragung von Schwerbehindertenausweisen etc.) umfassen.

4. Finanzierung und Ausbau der PSZ Die PSZ übernehmen aufgrund der massiven Versorgungslücken im Regelsystem im Wesentlichen allein die Beratung und psychotherapeutische Behandlung traumatisierter Asylsuchender und Flüchtlinge. Ihre struktu- relle und dauerhafte Finanzierung ist daher unverzichtbar und darf nicht, wie bisher, von unregelmäßigen Spen- den, Stiftungsgeldern, der Unterstützung durch Kirchen und von befristeten Projektmitteln aus dem AMIF ab- hängen. Um der wachsenden Zahl traumatisierter Flüchtlinge mit Behandlungsbedarf angemessen begegnen zu können, stehen Bund und Länder in der Pflicht, die Finanzierung der PSZ sowie deren Ausbau sicherzustel- len. Zu berücksichtigen ist, dass die PSZ neben der Beratungs- und Behandlungsarbeit auch Qualifizierungsmaß- nahmen innerhalb und außerhalb der Beratungseinrichtungen organisieren und damit für eine erhöhte interkul- turelle Kompetenz sowie umfangreiche Kenntnisse über die Versorgung traumatisierter Flüchtlinge bei Mitar- beiterinnen und Mitarbeitern in der medizinischen und psychotherapeutischen Regelversorgung, in der Betreu- ungsarbeit vor Ort und bei den zuständigen Verwaltungseinrichtungen sorgen. Diese wichtige und notwendige Fort- und Weiterbildungsarbeit ist ebenfalls ausreichend zu finanzieren. Ebenso muss sichergestellt werden, dass Behandlungen nicht daran scheitern, dass Flüchtlinge geeignete Therapieangebote nicht erreichen können, weil der Anreiseweg zu lang oder kostenintensiv ist. Die PSZ zu ermächtigen, ist sinnvoll, weil dadurch das wünschenswerte interdisziplinäre und multiprofessio- nelle Behandlungs- und Beratungsangebot für traumatisierte Flüchtlinge in besonderem Maße unterstützt wird. Außerdem muss sichergestellt werden, dass die Krankenkassen ihrer Verpflichtung nachkommen, die Kosten für Psychotherapie im Rahmen der Kostenerstattung gemäß § 13 Abs. 3 SGB V zu übernehmen, wenn für die Behandlung Psychotherapeutinnen und -therapeuten mit Kassenzulassung nicht verfügbar sind.

5. Förderung der Versorgung traumatisierter und psychisch kranker Asylsuchender und Flüchtlinge a. Interdisziplinäre Kooperationen fördern Als weiteres Instrument zur Förderung der ganzheitlichen ambulanten Versorgung traumatisierter Asylsuchen- der und Flüchtlinge sollen interdisziplinäre Kooperationen gefördert werden, indem neben ärztlichen Leistun- gen (z. B. Psychiater) auch insbesondere psychologisch-psychotherapeutische und psychosoziale Unterstüt- zung von den Krankenkassen im Rahmen einer Gesamtbehandlung übernommen wird. Ziel ist es, Asylsuchen- den und Flüchtlingen durch die vielfältigen Kooperationen ein besonders qualifiziertes, umfassendes und kon- tinuierliches Behandlungsangebot bereitzustellen. Als Vorbild kann das Modell der Sozialpsychiatrie-Verein- barung zur ganzheitlichen Versorgung von Kindern und Jugendlichen dienen. Diese Vereinbarung ermöglicht es niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiatern sowie Kinderärzten, Nervenärzten und Psychiatern mit mindestens zweijähriger Weiterbildung im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie, in enger Kooperation mit komplementären Berufen, mindestens in einem Praxisteam aus Heilpädagoginnen und Heilpädagogen so- wie Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern interdisziplinär zusammenzuarbeiten. Die Evaluation durch das ZI-Institut hat ergeben, dass die hohen Erwartungen an die ambulante Versorgung nach der Sozialpsychiatrie- Vereinbarung mehr als erfüllt wurden (vgl. ZI-Institut, Evaluation der Sozialpsychiatrie-Vereinbarung, Ab- schlussbericht 2014). b. Ermächtigung von Psychotherapeuten Um das Versorgungsangebot für die große Anzahl an zu erwartenden Flüchtlingen auszubauen, sollten psy- chologische Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sowie Kinder- und Jugendpsychotherapeutinnen und -psychotherapeuten ohne Kassenzulassung zur Versorgung von traumatisierten Flüchtlingen ermächtigt werden. c. Sonderbedarfszulassung bei lokalem Versorgungsbedarf Psychotherapie ist im Vergleich zu anderen medizinischen Leistungen besonders stark darauf angewiesen, per- sönliche Empfindungen und Erfahrungen, scham- und angstbesetzte Erinnerungen, Gedanken und Wünsche Drucksache 18/6067 – 6 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

mit der Psychotherapeutin oder dem Psychotherapeuten besprechen zu können. Hierfür braucht es eine ver- trauensvolle, sprachliche Verständigung zwischen Patientin oder Patient und Psychotherapeutin oder Psycho- therapeut. Daher sollte das muttersprachliche psychotherapeutische Angebot bei entsprechender regionaler Konzentration von Menschen mit gleicher Muttersprache über Sonderbedarfszulassungen ausgeweitet werden. Zu diesem Zweck ist bei der Selbstverwaltung darauf hinzuwirken, dass die Prüfung des zusätzlichen lokalen Versorgungsbedarfs um das Kriterium der Verfügbarkeit muttersprachlicher Angebote ergänzt wird. d. Kostenübernahme von Dolmetschereinsätzen durch die GKV Menschen können nur dann adäquat aufgeklärt, diagnostiziert und behandelt werden, wenn sie sich mit der Ärztin bzw. dem Arzt oder der Psychotherapeutin bzw. dem Psychotherapeuten sprachlich verständigen kön- nen. Dies trifft im besonderen Maße für die Psychotherapie zu, gilt aber auch für andere Bereiche der Gesund- heitsversorgung. Da für die große Mehrheit der Flüchtlingsgruppen in Deutschland keine bzw. nicht ausrei- chend muttersprachliche Therapieplätze verfügbar sind und absehbar nicht sein werden, sind die Kosten für die Sprachmittlung durch qualifizierte Dolmetscherinnen und Dolmetscher als Teil der Krankenbehandlung von den gesetzlichen Krankenkassen zu übernehmen. Für die Sprachmittlung bei Psychotherapien sollten die Dol- metscherinnen und Dolmetscher speziell für die sensible Situation geschult sein. Eine professionelle Sprach- mittlung entlastet zugleich Kinder von Flüchtlingen, die häufig für ihre Eltern dolmetschen, weil sie die Einzi- gen oder Ersten in einer Familie sind, die durch die Schulpflicht Deutsch lernen. e. Geeignete Therapie- und Behandlungsformen für möglichst viele Personen Angesichts der zu erwartenden steigenden Zahl behandlungsbedürftiger Flüchtlinge ist die Bundesregierung gefragt gemeinsam mit der Selbstverwaltung und Traumaexperten zu prüfen, mit welchen geeigneten Therapie- und Behandlungsformen möglichst viele Personen erreicht werden können (u. a. Gruppentherapien), und hier- für Modellvorhaben durchzuführen. Gerade die SPZ greifen häufig auf bestimmte Therapien jenseits der Richt- linienverfahren zurück (insb. Systemische Therapie).

6. Betreute Spiel- und Freizeitbereiche für Kinder in Erstaufnahmeeinrichtungen Eine Studie des kbo-Kinderzentrums (Mall & Henningsen 2015) kommt zu dem Ergebnis, dass zusätzlich zu den im Herkunftsland verursachten und fluchtbedingten gesundheitlichen Beeinträchtigungen auch die Situa- tion in den Erstaufnahmeeinrichtungen zu einer Verschlechterung des psychischen Gesundheitszustandes der Kinder führt. Pädagogisch betreute Spiel- und Freizeitbereiche für Kinder und Jugendliche durchbrechen die soziale Isolation, fördern die Teilhabe und ermöglichen es den Fachkräften, psychosoziale Warnsignale zu erkennen und Hilfe zu vermitteln.

7. Forschung und Weiterentwicklung Bislang existieren kaum Studien zur Versorgungssituation von Flüchtlingen. Die empirische Datenlage in Deutschland muss daher verbessert werden, um den Versorgungsbedarf zu erfassen und aus den Ergebnissen sinnvolle Maßnahmen zur psychosozialen und psychotherapeutischen Versorgung zu planen, zu evaluieren und weiterzuentwickeln.