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SAMSTAG, 22. AUGUST 2020 – TANZ – THEATER – PERFORMANCE – MUSIK – LITERATUR – ANZEIGEN-SONDERVERÖFFENTLICHUNG

Ode an die Weniger Form, Keine Angst vor der Schräge Bilder, Differenz mehr Energie! Unwahrscheinlichkeit falsche Freunde Die kanadische Choreografin Dana Michel Doris Uhlich steht im Fokus des diesjährigen Das Festival „Implantieren“ Ein Museum für Schwarze Unter- fällt völlig aus dem Rahmen S. 3 Tanzfestivals Rhein-Main S. 5 sucht nach Walen im Main S. 6 haltung und Black Music S. 8 Internationale Solidarität? Verrückte Zeiten: während die Grenzen dicht waren und alle internationalen Gastspiele abgesagt, erkämpften sich Mousonturm, Schauspiel und Museum Ange- wandte Kunst die Ausrichtung des Festivals „Theater der Welt“ für das Jahr 2023 in Offenbach und Frankfurt. Klingt übermütig, ist aber gut so – auch weil mehr denn je neue, andere, viele Perspektiven gebraucht werden: aus aller Welt.

VON MATTHIAS PEES Oktober wieder nach Frankfurt reisen dürfen. Ob das auch dem kongolesischen Aus dem Lockdown in New York City Nationalballett gelingen wird für ihre sandten Kelly Copper und Pavol Liska Aufführungen im Frankfurt LAB An- im Juni eine Videobotschaft in die Pro- fang ­Dezember (S. 4), Akira Takayama grammpressekonferenz des Mouson- aus ­Japan (S. 8) oder eben dem Nature turms. Ihre Gruppe „Nature Theater of ­Theater of Oklahoma wird sich zeigen. Oklahoma“ werde die für Ende Januar Nur nicht aufgeben! 2020 verabredete Uraufführung von „Burt Turrido. An Opera“ im Bockenhei- Freilich waren die Grenzen der Welt mer Depot schon hinbekommen. Das auch vor Corona nur für wenige offen, ­Virus habe man überstanden, zur Bau- für Privilegierte wie uns. Dennoch ist probe im August könne ja ersatzweise beängstigend zu sehen, wie leicht unse- der Bühnenbildner aus Schweden anrei- re (relativ) offene Welt geschlossen wer- sen, und wenn Amerikas Probebühnen den konnte, und wie selbstverständlich auch im Herbst geschlossen blieben, wir das hingenommen haben. Nicht nur müsse man eben im eigenen Wohnzim- mit Blick auf die Einschränkung eige- mer arbeiten, mit Panorama-Blick auf ner Reisefreiheiten – viel besorgnis­ Manhattan immerhin. Zu den End­ erregender ist die recht umstandslose probenwochen nach Neujahr werde man Infragestellung internationaler Solida- So sieht die Erfindung eines Theaters aus – nach Entwürfen des Architekturkollektivs „raumlaborberlin“ hat das Team um Lehmbauer Karl-Heinz Pritzl aus Otterberg den Bühnen-Raum vom es schon irgendwie nach Frankfurt rität. Sie musste den größtenteils rena- ­Mousonturm neu gestaltet. Das Gerüst der Höhle ist ganz aus Holz, das sich organisch verbindet mit dem Lehm der Wände. Zu zweit wird das Publikum in Höhlen-Suiten sitzen und durch offene, schaffen, und wenn nicht, sich eben tionalisierten, bestenfalls auf die gesam- augenartige Fenster schauen; natürlich ohne Schutzfolien. Und womöglich atmet es ein bisschen anders. Denn Holz und Lehm atmen mit. Fotos: Christian Schuller was anderes ausdenken: „We‘ll figure te EU ausgeweiteten Sorgen um Gesund- something out. ‘Cause we will not give heit, Hygiene und Konjunktur, Einnah- up until we absolutely have to.“ me- und Verdienstausfälle weichen. ­Natürlich sind die umfangreichen und In der gleichen Juniwoche erreich- pragmatischen Hilfspakete für in te uns in Frankfurt die Nachricht von Deutschland ansässige Künstlerinnen Wir Höhlenmenschen der Entscheidung des Internationalen und Künstler notwendig und wichtig. Alles wird sein wie immer: von außen. Aber innen werden selbst treue Freundinnen und Freunde „ihren“ Mousonturm Theaterinstituts, die Ausrichtung von Aber all die benefits und Bereicherun- „Theater der Welt“ – eines der größten gen, die wir – auch und gerade im Kul- vermutlich kaum wieder erkennen. Nach Entwürfen des Architektur-Kollektivs „raumlaborberlin“ ist in den vergange- und renommiertesten internationalen turbetrieb – aus dem internationalen nen Wochen ein Theater ins Theater gebaut worden, das strenge Hygiene-Konzepte und amtliche Beschränkungen des Theaterfestivals, das alle zwei bis drei Austausch ziehen, all die gesellschaft­ Jahre in einer anderen deutschen Stadt lichen Erweiterungen, notwendigen Per- Bühnenbetriebs anders beantworten will als sonst üblich – nicht, indem Sitze oder ganze Reihen blockiert oder heraus veranstaltet wird – für 2023 nach spektiv- und Paradigmenwechsel, mul- geschraubt werden aus dem Theaterboden, sondern mit einer künstlerischen Idee, die sich zum Ziel setzt, Beschrän- Frankfurt und Offenbach zu vergeben. tiperspektivischen Ansätze und Einsich- Wir hatten uns gemeinsam mit Offen- ten: all das hängt auch materiell maß- kung und Zwang zum Ereignis zu verwandeln. Womöglich wird das sogar befreiend wirken – willkommen im Bau! bach als eine Stadt beworben, als zu- geblich ab von unserer solidarischen Be- sammenhängender urbaner Raum, un- reitschaft, selber Beiträge zu leisten für VON MICHAEL LAAGES stürzen, welchen Jammer werden Ak- jetzt, um überhaupt spielen zu können, sich auch in Fachwerkbauten, die Jahr- trennbar miteinander verwoben und ihre Urheber, Impulsgeberinnen und teurinnen und Akteure empfinden, dann muss halt konsequenterweise hunderte überlebt haben – und wird von aufeinander angewiesen. Eine Welt. Kraftzentren, seien es Künstlerinnen Die traurigsten Bilder vom Theater ste- wenn sie jeden Abend wieder in einen auch das gemeinschaftliche Erleben von aktuellen Studien (etwa an der Univer- Und viele Welten, mit Menschen aus 177 und Künstler, kollektive Organismen, hen ja noch aus. Wer jetzt so stolz ist Saal hinein spielen, dessen partielle Kunst im Raum neu definiert werden. sität in Göttingen) als eins der wichtigs- Nationen, wo Deutschland am internati- zivilgesellschaftliche Initiativen oder darauf, die eigenen Häuser, Bühnen und Leere sie angähnt? Geht’s nicht auch Und zwar so, dass Beschränkung und ten Konstruktionsmaterialen der Zu- onalsten ist und am diversesten, am zu- einfach nur Individuen, Menschen. Spielorte unterschiedlichster Art fit ge- anders?­ Irgendwie? Zwang nicht mehr schmerzhaft spürbar kunft ausgewiesen. künftigsten vielleicht, in jedem Fall sehr macht zu haben für die Zeit der Locke- sind – sondern im besten Fall Teil des gegenwärtig und damit idealer Reso- Der Mousonturm schiebt derzeit auf- rungen und darum wieder öffnen zu Mit dieser Frage hat der Plan für neuen Abenteuers sind, das immer noch Vorbilder gab es für ein Theater im nanzraum zeitgenössischer Kunst. grund der Corona-Pandemie ein eigent- dürfen, wird nach den monströsen ­eine Frankfurter Alternative begonnen, „Theater“ und „Mousonturm“ heißt, sich Theater wie dieses; unübertroffen blieb ­Mühen seit Beginn der Pandemie jetzt das Mousonturm-Team trat mit ihr an aber ganz anders anfühlt. der Nachbau eines Globe-Theaters aus womöglich mit Schrecken den allabend- Barbara Ehnes heran, eine der gefrag- ­elisabethanischer Shakespeare-Zeit, lichen Blick in nur extrem dürftig ge- testen Ausstatterinnen an deutschen So kam „Günter“ in die Wald- den der stilprägende Bühnenbildner füllte Theatersäle fürchten lernen. Und Theatern und Bühnenbild-Professorin schmidtstraße. Bert Neumann um die Jahrtausendwen- der Stolz auf die errungene Corona- in . Sie brachte das raumlabor­ de in den „Prater“ stellte, die Außen- Tauglichkeit könnte fürchterlich verha- ins Spiel, das für Experimente Die Techniker des Hauses hatten den spielstätte der Volksbühne am Rosa-­ gelt werden; für alle Beteiligten. Erste zwischen Natur- und Kunst-Raum be- Bau zu Beginn der Entwürfe auf diesen Luxemburg-Platz in Berlin. Hier kletter- Erlebnisse waren ja schon vor der Spiel- kannt ist und bereits faszinierende Namen getauft, warum auch immer … te das Publikum an den Außenseiten zeitpause zu erleiden – im Großen Haus Spiel-Orte für die Künste im öffent­ geplant wurde ein arena-artiger Rund- des Rundbaus bis in obere Ränge em- vom Staatstheater in Wiesbaden etwa, lichen Raum etabliert hat, etwa bei der Raum, der das dunkle Rechteck des por, und jede Loge hatte sogar einen ei- wo das Premieren-Publikum einer am- Ruhr-Triennale. Normalerweise, sagt Theater­saales im Mousonturm in maxi- genen kleinen Vorhang. Im ebenerdigen bitionierten Beckett-Trilogie quasi mit Benjamin Förster-Baldenius vom raum- maler Weite ausfüllt; von außen sehr Rund-Raum inszenierten derweil Frank der Lupe gesucht werden musste; oder laborberlin, bevorzugten die neun entfernt an das Colosseum in Rom erin- ­Castorf und viele Kollegen Shakes- im Kleinen Haus des Theaters in Frei- ­Architektur-Kolleginnen und Kollegen nernd, von innen eher einer Höhle peares Stücke aus der Sequenz der burg, wo Besucherin und Besucher vom den Weg „aus dem Theater hinaus in die ­ähnelnd, wie sie sich Fuchs und Dachs ­„Rosenkriege“. Abenddienst an die jeweils ganz spezi- Stadt“, diesmal führe der Weg umge- und Termiten bauen. Und wer im Zoo elle Sitz-Insel im Saal geleitet wurde, al- kehrt von außen ins Theater hinein. Das schon mal den Erdmännchen begegnet In Frankfurt nun lauern also nicht lein, zu zweit, sogar zu dritt; aber im- Ergebnis dieser Bewegung wird das In- ist, die immer wieder hie und da, hin Richard der Dritte und Heinrich der mer unter strenger Aufsicht, auch hin- nenleben vom Mousonturm fundamen- und her und völlig unvorhersehbar die Vierte bis Sechste in der Fantasie vom terher beim Verlassen des Saals. Der tal verändern; zunächst für ein halbes Schnauzen hervor strecken aus einem Bau im Bau, sondern Dachs und Fuchs, wirkte entkernt – und genau so mag Jahr. Denn wenn das Theater nicht mehr lehmfarbenen Erd-Haufen, der mag sich Termiten und Erdmännchen … Anna sich auch das Publikum gefühlt haben. wie gewohnt funktionieren darf auf ein wenig­ erinnert fühlen an „Günter“ – Wagner fühlt sich prompt an einen Auch das Tanzfestival Rhein-Main (30. 10. – 15. 11., siehe Seite 5) traut sich wieder internatio- Grund der Hygiene-Regeln im Kampf nur dass nun wir Höhlenmenschen die- Haus-Schnack aus früheren Zeiten erin- nale Gastspiele zu: mit „Tentatives d’approches d’un point de suspension“ vom französischen Das wird nun so bleiben auf un­ ­gegen das Virus, wenn das Verhältnis sen Bau besiedeln können und eher hi- nert. Unter Mitarbeiterinnen und Mit­ Choreografen Yoann Bourgeois im Staatstheater Darmstadt. Foto: Géraldine Aresteanu bestimmte Zeit. In welche Depression zwischen Raum und Publikum derart nein als hinaus schauen, jeden Abend arbeitern galt der Mousonturm gern werden Zuschauerinnen und Zuschauer grundsätzlich gestört werden muss wie von neuem. auch als „Mäuseturm“ – weil das Haus Auch wenn die Theater theoretisch lich für 2020 fest verabredetes Pro- eigentlich sehr klein ist für das Ausmaß und unter strengen Auflagen schon Mit- gramm aus internationalen Koprodukti- Die strukturstiftenden Materialen an nationaler und internationaler Pro- te Mai wieder hatten öffnen dürfen, onen und Gastspielen vor sich her (und sind Holz und Lehm – Holz für das Ge- duktion, das es leistet. Hier, sagt Wag- blieb der Mousonturm bis zur Sommer- ins Jahr 2021 weiter), größtenteils ent- rüst, Lehm für alles dazwischen. Ein­ ner, hätten die Mäuse schon immer ei- pause geschlossen. Denn just für diesen standen im auch kulturlandschaftlich gelassen in die Rundung des Baus sind ne Art Kunst-Nest gebaut; und jetzt eben Zeitraum waren beinahe nur internati- strukturschwachen Weltsüden, dessen Logen, immer für zwei Personen und in ganz real: „Wir sind klein – und nun onale Koproduktionen und Gastspiele Kosten sich auf mehrere hunderttau- verschiedener Höhe zugänglich durch machen wir den Raum noch kleiner. Das programmiert gewesen, oder Stücke, send Euro summieren. Wenn im nächs- Treppen von außen; wer drin sitzt, das ist wie Homöopathie: Gleiches mit Glei- ­deren Mitwirkende aus außereuro­ ten Jahr keine zusätzlichen Fördermit- ist wichtig für die Strategie vom raum- chem bekämpfen.“­ Und wenn alles gut päischen Ländern schlicht nicht hätten tel zur Verfügung gestellt werden, um laborberlin, erlebt zum einen das Spiel geht, sagt sie, bestehe sogar die Chan- einreisen können ins abgeschottete dieses Programm nachträglich realisie- in der Mitte der „Höhle“, sieht aber zu- ce, „die Beschränkung als Befreiung“ Deutschland, oder später in die EU. ren zu können, muss es abgesagt wer- gleich auch viele Logen-Paare überall zu empfinden. Marcus Droß, Wagners ­Kanada zählte zu den ersten Ländern, den – zum existenzbedrohenden Scha- gegenüber. Nie sind wir hier allein. Und Dramaturgie-Kollege, verweist zudem für die Europas Grenzen im Sommer den der daran beteiligten internationa- der Raum wird „atmen“, meint Drama- auf den Ort des Experiments, die alte wieder geöffnet wurden, sodass mittler- len Künstlerinnen und Künstler, die ja turgin Anna Wagner; was am Lehm Seifen- und Hygiene-Fabrik mit dem weile begründete Hoffnung besteht, leider auch von deutschen Coronakri- liegt, der – wie trocken auch immer er weltweit bekannten Namen – wenn die dass Künstlerinnen und Künstler wie sen-Hilfstöpfen nicht profitieren dürfen. mit der Zeit wird – stets einen Rest an nicht ­prädestiniert sei für ein Hygiene- Dana Michel und Darren O’Donnell aus Verputzen mal anders – mit Lehm. Dem seit alters her bekannten Baustoff wird viel Zukunft Feuchtigkeit vermittelt. Lehm ist einer Montréal (siehe Seite 3) für ihre Projek- Das wäre dann sicher keine inter- voraus gesagt: etwa beim Bau von Passiv- und Niedrig-Energie-Häusern. der ältesten Baustoffe der Welt, findet weiter auf Seite 2 te und Aufführungen im September und nationale Solidarität. SAMSTAG, 22. AUGUST 2020 KÜNSTLERHAUS MOUSONTURM ANZEIGEN-SONDERVERÖFFENTLICHUNG TICKETS: MOUSONTURM.DE – IM BAU – SEITE 2

Der Guru und der Bollerwagen Drinnen, draußen und „Moondog“ hieß eigentlich Louis Thomas Hardin. Der Sohn eines Wanderpredigers aus Kansas erblindete, als er 16 war – und ist zur nicht nur musikalischen Legende gewor- den. Der Musiker Thies Mynther, der Theatermacher Veit Sprenger und der bildende dazwischen Künstler Tobias Euler ehren und beschwören den wie aus aller Zeit gefallenen Einzel- Ein Verwechselspiel des Theaters: Mit „Show Me A Good Time“ eröffnen Gob Squad gänger mit der „Moon Machine“. Und diese Maschine kommt im November auch nach den Lehmbau im Mousonturm. Frankfurt gerollt.

VON MICHAEL LAAGES

Gemeinhin – und nicht nur in der Kir- che – gilt die Orgel unter Musikerinnen und Musikern als die „Königin“ der In- strumente: weil mit ihr in vortechnolo- gischen Zeiten dank ausgefeilter Mecha- nik und ganz viel hin und her bewegter Luft klanglich alles spielbar war und hörbar wurde, was Menschen-Fantasie sich damals vorstellen konnte. Als dann später, in moderneren Epochen, unge- zählte räudige Schwestern dieser Köni- gin landauf landab die Rummelplätze oder gar (mit einem Leierkastenmann an der Kurbel) die Straßen, Marktplät- ze und Hinterhöfe bedudelten, mag das der fundamentalistischen Orgel-Ge- meinde als Zeichen des Verfalls gegol- ten haben. Aber das war immer noch besser, als eine Orgel in all ihre Pfeifen zerfallen zu sehen.

Jetzt bilden die hölzernen und me- tallenen Reste einer zerfallenen „Köni- gin“ das skelettierte Material für eine klingende Ausstellung samt einiger Die Welt gibt’s nur als Fantasie – während Berit Stumpf vom Gob Squad-Kollektiv im Theater mit Globus und Kostümen, Mikrofon und ­Handy-Kamera Konzerte, die überaus gut passen zu ei- Predigen auf Rädern: Die „Moon Machine“ von Thies Mynther, Tobias Euler und Veit Sprenger agiert, liefert der Rest vom Team die „wirklichen“ Frankfurter Bilder von außen zu. Foto: Dorothea Tuch nem Musiker, der sich zwar nie als „Kö- beschwört das Sound-Erbe vom großen Einzelgänger „Moondog“. Foto: Hubertus Huvermann nig“ empfunden haben wird, aber sozu- Was kann das zukünftig heißen: „Show im Theater müht sich je ein Ensemble- der dem (oder der) drinnen zuschaut, sagen zum „Unikum des Jahrhunderts“ mer sie angehalten haben, legte prompt schließlich zum Impulsgeber oder Im- Me A Good Time“? Und was ist „eine mitglied ganz allein, Stunde um Stunde, zuhört oder applaudiert. Mit sehr prä- wurde: Moondog, der blinde Magier. Ge- die Maschine los: sang und klang, ließ pulsgeberin? Ich denke, diese Wahrneh- ­gute Zeit“ heute, wo doch das Virus die mal am Klavier, mal mit zis getaktetem Stundenplan boren wurde Thomas Hardin 1916 in kuriose Aufbauten wie Sonnenschirme, mungsverschiebungen haben immer auf Fundamente von Theater und Perfor- Kostüm und Requisite; der- wird dieses Verwechsel- Marysville / Kansas, gestorben ist er Abstandswarner samt kuriosem Geklin- der Basis der Weitergabe von Spezial- mance zu zerstören droht … Das eng- weil sendet das übrige Gob Gob Squad spiel im und mit dem Thea- 1999 in Münster, wo Mynther, Schubert gel und Geklöppel ertönen, ließ Pauken wissen gefußt – im Sinne eines ‚Guck lisch-deutsche Kollektiv Gob Squad, Squad-Team per Video-­ Show Me ter in Frankfurt verteilt auf und Euler ihre bespielte Installation und Trompeten von der Leine. Mitten- mal, was ich hier entdeckt habe‘.“ spezialisiert auf Sehnsuchts- und Me- Kamera Bilder von außen – vier Tage zu je drei Stun- auch erstmals in der Kunsthalle zeig- drin agierten Mynther und Sprenger sel- lancholie-Bewältigung, will sich nicht Bilder der Hoffnung wie der A Good Time den; und sozusagen im ten. Mittendrin im atmenden Gewimmel ber, ausstaffiert als wunderliche Schra- Auf fast allen musikalischen Gen- einschüchtern lassen – und startet eine Verlorenheit: Einer pflanzt 3. – 6. 9. 2020 Rückwärtsgang entsteht die und Gewirr der überall im Raum hän- te in langen schwarzen Mönchskutten: re-Feldern ist Moondog auf diese Weise Suchaktion, eine­ Großfahndung im ge- ein Blümchen vom Balkon Simulation eines ganzen genden Orgelpfeifen steht die Maschine, Wikinger wie Moondog eben, nur nicht zum Ereignis geworden, magisch-rätsel- samten Stadtgebiet; mit dem Bau im in die Betonwüste der Stadt, Mousonturm ­Tages: Fortsetzung folgt, die auf trickreiche Weise Moondogs auf der 6th Avenue, sondern in der Fuß- haft umwabert von der einzigartigen Mousonturm als Schaltzentrale. Wer aber eine driftet deprimiert und aber immer ein bisschen ­Leben vergegenwärtigt: ein bunter Bol- gängerzone von Münster. ­Lebensgeschichte, die ja immer mit- zeigt sie hier wem: die gute Zeit? Vor ziellos im Auto durch die Straßen … früher … im magischen „Dazwischen“ lerwagen für den bärtigen Guru. schwang, auch wenn er etwa beim New hygienekonformem Publikum drinnen Manchmal suchen die draußen jemand, von Publikum und Performance. ML Wie ein Wanderprediger hatte Jazz Festival in Moers auftrat. Was er So hat ihn der 2015 verstorbene Moondog an Straßenecken, auf Brücken ausstrahlte, musikalisch und als Künst- Ernst Fuchs porträtiert mit dem Grab- und Plätzen über Jahre hin den Lebens- ler, hatte immer mehrere Gesichter: mal auf dem Zentralfriedhof in Müns- unterhalt verdient: als „Hit and Run“- ­forcierte klangliche Vielfalt in struk­ bekannt als Popgruppe Stereo Total, ver- ter – dort hatte Moondog, der 1974 nach Stratege. So beschreibt auch Sprenger tureller Einfachheit auf trickreichen Kampf mit Gespenstern bindet Augst „eine essenzielle Mixtur der Einladung zu zwei Konzerten beim jetzt das Prinzip der Maschine, die ­metrischen Mustern. Wer wollte, moch- von Freundschaft und Zusammenar- Hessischen Rundfunk nicht in die USA Mynther und er erfunden haben: „Hin- te das „minimal music“ nennen – aber Ende der 1970er gab der US-Musiker Lou Reed ein legen- beit“, gemeinsam haben sie schon meh- zurückgekehrt war, die stellen, Musik machen, immer war da mehr im Spiel. Vielleicht däres Konzert in Offenbach – für den Künstler Oliver rere Hörspielprojekte umgesetzt. Be- letzten Lebensjahre ver- abhauen – so kamen wir war Moondog ja der letzte Schamane geistert von der alten Geschichte um den bracht. Legendär war er Tobias Euler/ auf die Konstruktion der seiner­ Zeit. Augst ein einschneidendes Erlebnis. Und die Inspiration 2013 verstorbenen Musiker, machte sich auch schon daheim in den Thies Mynther/ Moon Machine; und zu einer gemeinsamen Konzertperformance mit Brezel das Trio an die Arbeit zu „Lou Reed in USA gewesen; seit 1943 Veit Sprenger Moondog war aus zwei Im Überraschungs- und Entdecker- Göring und Françoise Cactus. Offenbach“. Von Brezel Göring stammen zog Moondog mit wallen- Gründen ein guter An- Modus hätten auch sie den „American imaginierte Zeitzeugentexte aus der dem Rauschebart und ge- Moon Machine ker dabei. Zum einen hat in Oer-Erckenschwick“ kennen gelernt, Sicht von Lou Reeds Mutter, seines Tour- hörntem Helm, Speer und er selbst als Straßenmu- bekennen Sprenger und Mynther. Mitte Managers, der Polizei sowie eines Jour- langem Umhang durch 19. – 22. 11. 2020 siker angefangen und der 1970er Jahre hatte die Familie der nalisten. Und Françoise Cactus verfass- New York – als „Viking of Mousonturm nach ähnlichen Prinzipi- damaligen Studentin Ilona Goebel te Songtexte, darunter eine Coverversi- the 6th Avenue“. Warum en gearbeitet, zum ande- Moondog in der kleinen Stadt am nörd- on von Reeds 1972er-Hit „Perfect Day“. das alles? „Ich hatte be- ren war auch er ein lichen Ruhrpott-Rand ein Domizil auf Bereits im Sommer 2018 nahmen die gonnen, in der Edda zu lesen“, hat er sei- Künstler, für den Musik, Text, Objekt, Dauer geboten, nachdem der blinde Mu- drei eine LP auf und wechselten sich mit nen Biografen erzählt. „Ich war auf der Aktion und Leben untrennbar mitein- siker die ersten Jahre des Exils in Ham- allem einfach ab: Gesang, Komposition, Suche nach meiner Identität, und in den ander verbunden waren. Das ist ein burg, Hannover und Recklinghausen Arrangement oder Instrumentalbeglei- Sagen fand ich sie.“ performativer Ansatz, der mich inter- verbracht hatte. Tobias Euler, der um die tung. Zwölf Songs füllen die beim Label essiert.“ Thies Mynther ergänzt: „Mich eigentliche „Moon Machine“ herum jetzt „unbreakmyheart“ erschienene Platte. In New York hat Moondog den Diri- fasziniert sein idiosynkratisches Ver- die Materialien der Installation entwor- genten der Philharmoniker genauso ständnis von Kontrapunkt, Rhythmik fen hat, spricht derweil über „die Wech- Im Gespräch mit Oliver Augst wird kennen gelernt wie Charlie Parker – und Textpoetik, das sich vielleicht auch selwirkung von der Maschine und den spürbar, wie sehr ihn seine künstle­ und die eigene Vorstellung von Musik aus der merkwürdigen Spannung sei- vielen Objekten im Raum mit der Mu- rischen Vorhaben persönlich angehen aus dem Kopf direkt in Blindenschrift ner Lebenspraxis gefüttert hat. Er sik – sie steht für das, was mich an der und berühren. Als Jugendlicher aus der übertragen. Über die Zeiten hinweg hat musste ja Jahrzehnte, bevor er als Kom- Verbindung von Musik, Theater und hessischen Provinz sei Reed für ihn im- nicht nur der Maler und Bildhauer ponist wirklich wahrgenommen wur- ­bildender Kunst fasziniert: der mehr­ mer ein Idol gewesen. Auch Augsts spä- Fuchs, einer der Wiener Meister des de, mit dieser durchaus eigenartigen dimensionale dynamische Prozess, in teres künstlerisches Werk, das Musik Phantastischen Realismus, in diesem Kunst die Passanten auf der Straße so- dem aus dem Moment der Interaktion und Medientheater, Performance, Hör- Sonderling und Einzelgänger wohl ei- weit interessieren, dass sie ihm mit ih- neue Ausdrucksräume wachsen.“ spiel und Klanginstallationen umfasst, nen Verwandten im Geiste gesehen; es ren Pennies seinen Lebensunterhalt Das Wohnzimmer reicht – für die skurrile musikalische Erinnerung an ein Konzert, das ein ­Leben hat einen autobiografischen Ausgangs- steht zu vermuten, dass das dem Musi- ­finanzierten.“ Klingt theoretisch, zeigt aber ganz geprägt hat, auch wenn es nie stattfand. Foto: Oliver Augst punkt: „Es ist immer die Position des ker Thies Mynther und dem Theaterma- praktische Wirkung – denn wer um ­Eigenen im Spiegel mit Deutschland.“ cher Veit Sprenger ähnlich gegangen ist. Den dafür nötigen musikalischen die Maschine selbst herum oder an und VON EUGEN EL ere gewesen. Erst nach langer Wartezeit Prinzipien aber blieb Moondog überra- unter den ungezählten klingenden sei er auf die Bühne gekommen und ha- So realisierte Augst 2018 in Zusam- Mit der „Moon Machine“, einem Ge- schenderweise treu; was (so noch ein- ­Objekten im Raum entlang wandert und Die Uraufführung war angesetzt für den be schon den ersten Song abgebrochen; menarbeit mit Stereo Total im Mouson- fährt, dessen Basis vielleicht der Grund- mal Thies Mynther) die Frage aufwirft: dabei mitten im Klang die Position oder 13. März: der Tag, an dem die Frankfur- nach Provokationen aus dem Publikum turm das Musical und Hörspiel „Kurt aufbau eines Gabelstaplers ist, sind sie „Wie entsteht Relevanz? Durch Brillanz auch nur Hör-Richtung wechselt, wird ter Theater virusbedingt schließen und ersten Gewalttätigkeiten habe er die Weill jagt Fantômas“, bei dem das Pari- zu Moondogs Todestag durch die Innen- oder Hartnäckigkeit? Wie wird jemand prompt erfasst vom Sog, der „made by mussten. Augst, Göring und Cactus wi- Bühne verlassen. ser Exil des berühmten stadt von Münster karriolt; und wo im- vom Kuriosum zum Faszinosum und Moondog“ ist. chen mit ihrer Performance aus Musik Komponisten von 1933 bis und Live-Hörspiel ins Internet aus, prä- Der Rest ist Offenba- Oliver Augst / 35 im Fokus stand. Eben- sentierten die erste gestreamte Premie- cher Lokalgeschichte: Im Brezel Göring / falls im ­Mousonturm sang re des Mousonturms, ohne Publikum, Saal brach Tumult aus, Françoise Cactus er Lieder des deutschen weiter von Seite 1 ­allerdings nicht – er bleibt nach oben Auch bei den Preisen für den Be- als Geisterspiel. Ein Konzert, das eigent- Stühle flogen, irgend- Unterhaltungsmusikers offen, und oberhalb der Logen im wei- such im Bau wird große Flexibilität herr- lich nicht stattfindet, über ein Konzert, wann schritt die Polizei Lou Reed Ernst Neger (1909 – 89) Konzept der besonderen Art: „Und wir ten Lehmbau-Rund sind nur die tech- schen – mindestens fünf Euro sollten dass nicht stattfand: die Geschichte hat- ein und nahm Reed fest. in Offenbach aus Mainz: etwa das „Hei- schmeißen eben nicht einfach nur Sitze nischen Apparaturen platziert, die das pro Gast in die Kasse kommen, aber in te ordentlich Ironie. Im Dezember wird Seine Tournee musste un- le, heile Gänsje“ mit der raus, wir bitten Künstlerinnen und Spiel im Inneren der Höhle dann ja den Mischungen für die Loge ist der das Programm nun nachgeholt, im terbrochen werden. „Das 16. – 20. 12. 2020 Zeile „Du warst doch gar Künstler, das Problem für uns zu lösen!“ doch noch braucht. Auf die Wirkung Preis nach oben offen; wie der Lehmbau Rundbau aus Lehm, der den Theatersaal war die Schule des Le- Mousonturm ned schuld.“ – „So bin ich Auch weil deren Fantasie einfach stär- des Raum-Konzepts beim Publikum selbst. Niemand, verspricht Intendant nicht nur coronatauglich, sondern sogar bens, was Rockmusik sein auch aufgewachsen“, sagt ker sei, fügt Droß hinzu: „Lehm! Sowas sind naturgemäß alle gespannt – wird und Geschäftsführer Matthias Pees, besonders macht. kann“, sagt Oliver Augst der 1962 geborene Augst. wäre uns doch nie eingefallen!“ In-den-Mousonturm-Gehen zum In- wird darauf hin überprüft werden, wie beim Treffen im Mannheimer „Café Die Großeltern behaupteten damals, sie der-Lehmbau-Höhle-Sitzen? Das Aben- viel er oder sie tatsächlich bezahlt hat; Am 6. April 1979 besuchte der Prag“ an einem sonnigen Vormittag. hätten nichts gewusst von dem, was im Der Lehmbau selbst wird immer teuer nimmt noch zu durch die Be- die üblichen Melde-Regeln (wie beim Re- 17-jährige Oliver Augst mit seiner da- Von dem Gewaltausbruch sei damals er, Nationalsozialismus geschehen sei. „Die- kenntlich bleiben als Skulptur im suchsregeln – es gibt nur Zweier-Lo- staurant-Besuch) reichen völlig aus. maligen Freundin ein Konzert des US- ein Vorstadtkind wie Reed, schockiert se ganze Verlogenheit hat schon in mei- Raum – er ist von allen Seiten zugäng- gen. Entweder gönnt sich Königin und Musikers Lou Reed in der Offenbacher gewesen. ner Jugend in mir gebohrt und geglüht“, lich, Logen-Treppchen um Logen-Trepp- König Kunde also einen Zweisitzer Ja – vieles wird anders sein, und Stadthalle. „Das war mein erstes Rock- erinnert er sich. „Man muss das Alte erst chen. Und dieser Bau, sagt Marcus ganz für sich allein, oder er und sie der Mousonturm innen drin kaum wie- konzert“, erinnert sich Augst, der heu- Vor knapp drei Jahren berichtete mal wie ein Gespenst loswerden.“ Droß, „muss im Grunde das ganze The- kommen eh in Begleitung – möglich ist der zu erkennen. Aber das Abenteuer, te als Komponist, Sänger und Hörspiel- Augst der Berliner Musikerin Françoise ater ersetzen“; als stehe er irgendwo aber auch die (erlaubte!) Logen-Begeg- das „Theater“, das „Tanz“ und das autor in Ludwigshafen lebt. Reed sei da- Cactus und dem Musiker Brezel Göring Und mitten in diesem Prozess: Lou draußen unter freiem Himmel. Völlig nung mit dem oder der völlig Unbe- „Kunst“ heißt, wird zu retten sein; auch mals auf dem Höhepunkt seiner Karri- von diesem Jugenderlebnis.­ Mit beiden, Reed, halb Gespenst, halb Geisterjäger. „höhlig“, sagt Anna Wagner, ist er kannten. durch alle pandemischen Wirren. ­ ANZEIGEN-SONDERVERÖFFENTLICHUNG KÜNSTLERHAUS MOUSONTURM SAMSTAG, 22. AUGUST 2020 SEITE 3 – FOKUS KANADA – TICKETS: MOUSONTURM.DE Ode an die Differenz Die brillante Kakofonie der Dana Michel: Seit sie vor fünf Jahren auf die Bühnen der Welt trat, fällt die Choreografin aus Montréal im zeitgenössischen Tanzgeschehen völlig aus dem Rahmen. Mit ihrem jüngsten Werk „CUTLASS SPRING“ ist sie nun erstmals in Frankfurt zu erleben – einer Arbeit, die gerade für den Mousonturm ­geschaffen scheint.

VON ELSA PÉPIN York Times zu einer der wichtigsten Realen und Imaginären, des zutiefst Choreografinnen des Jahres 2014 ge- Persönlichen und Allgemeinen. Mit ihrer Verbindung von Tanz, Theater kürt wurde, ging ihre Karriere durch und Kunstperformance hat Dana Michel die Decke. In „Yellow Towel“ spielt sie 2016 folgte beim Festival Trans­ eine eigenwillige Handschrift entwi- mit Klischees, um diese gleich darauf Amériques in Montréal ein weiteres ckelt, für die sie 2017 auf der Biennale besser auseinandernehmen zu können, Stück, das von der Kritik gefeiert wur- von Venedig mit dem Silbernen Löwen und entfaltet eine seltsam zeitentrück- de: „Mercurial George“. Auch hier er- für Tanz und 2019 als eine von bislang te Wechselwirkung mit den Dingen. Wie kundet die Choreografin ihre durch­ nur sechs Künstlerinnen und Künstlern zuvor entzündet sich auch hier ihr Ein- lässige, wandelbare Identität. Bekleidet mit dem begehrten europäischen ANTI fallsreichtum an Alltagsgegenständen. mit nichts als einer weißen Strumpfho- Festival International Prize for Live Art Im Spiel mit einem Handtuch, einer se und Sportschuhen, barbusig und mit ausgezeichnet wurde. Michel ist eine Turnhose oder einem Küchenutensil holt Katzenbuckel, entführt sie uns in eine Bilderstürmerin unter den Choreogra- sie aus den Tiefen ihres Gedächtnisses grimmige Welt, in der ihr Körper tau- finnen und Tänzerinnen. Sie macht ih- Erinnerungen hervor und erschließt die- melnd nach Halt sucht. In dem Unbeha- ren Körper auf der Bühne zur Metapher se wie eine Archäologin, die sich selbst gen, das dieser Anblick auslöst, äußert für eine Öffnung zur Welt und schürft freilegt, als Schichten des eigenen sich zugleich unser eigenes tiefes Be- tief in ihrer Identität, um aus dem, was Selbst. fremden angesichts all dessen, was an- sie findet, eine hochgradig artifizielle ders ist, als wir es kennen. und stilisierte Welt zu schaffen, wo In „Yellow Towel“ beginnt Michel Der eigene Körper wird bei Dana Michel zum Spielball der Choreografie – die kanadische Künstlerin kreiert ein völlig unvorhersehbares Mit- ­Objekte ein Eigenleben finden. mit einem gelben Handtuch aus ihrer Mit Unmengen von Requisiten, und Neben-, Durch- und Gegeneinander der Dinge; und stürzt sich selber ins grenzenlose Chaos. Foto: Jocelyn Michel Schulzeit, das sie nutzte um die wei- stimmlicher Variation, abgehackten Be- Dana Michel lebt in Montréal und ßen Mädchen nachzumachen, und er- wegungen und einer Aneinanderrei- Erbe und von den gesellschaftlichen delnden Körper über die eigenen Gren- ser ist, seinen inneren Eingebungen zu verfolgte zunächst eine Karriere im zeugt daraus ein Geschöpf mit einer ab- hung von Tollpatschigkeiten veran- Konditionierungen, die auf ihre ge- zen. In Cowboykostüm, Boxershorts vertrauen als den Diktaten der Gesell- Leistungssport, vor allem als Läuferin strakten Sprache – eine Art unschul- schaulicht Michel das Ausgegrenztsein schlechtliche Identität Einfluss genom- oder mit Goldkette um den Hals gibt die- schaft. und Fußballerin, bevor sie fünfund- digen Clown, der in seiner Tollpatschig- anhand eines Körpers, der wie in Ket- men haben. Deren verleugnete Teile will ses Chamäleon einer Künstlerin in ei- zwanzigjährig ihre ersten, noch stark keit ein unterdrücktes, am Leben ge- ten gelegt und doch nie zu fassen ist. sie in diesem Stück zum Vorschein zu nem Moment den Macho und schon im Als Ode an die Differenz und eben- von Mode und Videoclips, von queerer hindertes, hilfloses Geschöpf vorstellt. „Mercurial George“ bestätigt Michels bringen und unsere allzu eng gefasste nächsten die grazile Geschmeidigkeit so tiefgründiges wie vergebliches Stre- Kultur und Comedy ge- Hürden und Hinder- darstellerisches Vermögen, aus äußers- Vorstellung von Sexualität gründlich der Frau. Wie ein Kind entdeckt sie die ben, die vielen einander durchdringen- prägten Auftritte als nisse, andauernder ter Verletzlichkeit eine tiefe Empathie auf den Kopf zu stellen. Möglichkeiten des eigenen Körpers und den Schichten und Lagen ihrer Lebens- Tänzerin hatte. Damals Dana Michel Kampf des Körpers für die Unterdrückten zu enthüllen. der Welt, spielt sie mit erotischer Auf­ geschichte halbwegs auf einen Nenner wie heute arbeitete sie CUTLASS SPRING um die eigene Exis- ­Ihrer präzisen Gesten wegen wurde sie Ob sie sich mit dem Becken auf ladung und ihrer Umlenkung. zu bringen, entfaltet „CUTLASS mit einem Sammelsuri- tenz inmitten chaoti- mit Chaplin verglichen, ihr Humor er- ­einer Matratze auf Rädern reibt, Eiswür- SPRING“ eine großartige Kakofonie und um von Requisiten, 12. – 16. 9. 2020 schen Getriebes, Ver- innerte manche an den afroamerikani- fel verstreut oder einfach nur von der Als Zuschauerin ist man beim Ent- bekräftigt eindrücklich Dana Michels Gesten und Bewe- Mousonturm renkungen der Stim- schen Schauspieler und Komiker Dave Bühne geht: „CUTLASS SPRING“ spielt schlüsseln dieses so komplizierten Ver- Kampf gegen jede Form von Normie- gungsmaterial und ver- me und absurde Dialo- Chappelle. Und doch ist längst klar, dass mit der Distanz und Nähe zum Publi- hältnisses einer Frau zu ihrem eigenen rung. Ihre Werke sind zerbrechliche, band dieses zu einer ge – all das vermittelt wir es bei Dana Michel mit nichts und kum und hält sich auf dem schmalen Körper und zu den anderen oft hin- und fortwährend umgebaute Plastiken. einzigartigen Formensprache. Daraus die Haltung der Ausgegrenzten. Die niemandem so sehr zu tun haben wie Grat zwischen gewagter Intimität und hergerissen zwischen Beklemmung und Oder es sind Sittenbilder, in denen die entstanden großartige, von Michel mit conditio nigra ist bei alldem nie weit mit einer Verkörperung ihrer selbst in Exhibitionismus. Michel tanzt dabei so Lachen. Indem Michel sich mit stocken- Geschlechterfrage direkt in die nach viel Eigensinn und Humor beseelte und weg, wird aber auch nie vordergründig all ihrer unabweisbaren Originalität. gut wie nicht und spricht kaum, bringt den oder scheiternden Gesten wie auf dem Wesen des Menschseins überleitet. verkörperte Assemblagen. bemüht. In einer Abfolge von Szenen aber dennoch ihren Körper voll ein, um einem Magmastrom mal vergeblich ver- Allein indem sie uns wild entschlossen eindringlicher Körperlichkeit, die Mi- Noch während sie mit ihren ersten verschiedene Gegenstände zu erfor- steckter, mal einverleibter Dinge müh- mit der Freiheit begegnet, ihren eigenen Nachdem „Yellow Towel“ 2013 beim chel selbst „postkulturelle Bastelei“ beiden Solostücken unterwegs war, zeig- schen. Ob Gabel, Telefon oder Kochplat- sam vorankämpft, schafft sie daraus Weg zu gehen, hinterfragt Dana Michel Festival TransAmériques herauskam, nennt, paaren sich Objekte mit Episo- te Dana Michel im 2019 ihre nächste te – alle treibt Michel über den Gel- Symbole, Codes und Stereotypen, die die allzu engen Grenzen auch unserer beim Wiener ImPulsTanz-Festival einen den aus ihrer Lebensgeschichte. Ihr Produktion: „CUTLASS SPRING“. Das tungsbereich ihrer Funktionen hinaus, aus ihr etwas machen, das sie zuvor Freiheit. Preis erhielt und Michel von der New Körper wird zum Kreuzungspunkt des Stück handelt von Michels kulturellem ebenso wie ihren unablässig sich wan- nicht war. Sie führt uns vor, dass es bes- DEUTSCH VON HERWIG ENGELMANN

werfen, wenn es nicht so viel Mühe kos- Doch ich habe bei der Arbeit an die- Weisheit wird heutzutage gern mit tete, eine zu finden, die auch wirklich sem Projekt in zwanzig Städten und Sach- und Fachkunde verwechselt, mit hoch genug ist. Einmal fragte meine vierzehn Ländern auch noch eine vier- Auskennerei oder dämlichen Praxis- Mutter, ob ich ihr nicht eine Selbstmord- te Tendenz festgestellt: Man lernt mit tipps zur Steigerung der Produktivität. methode empfehlen könne. Ich drohte der Zeit immer besser, Liebe, Leiden- Doch die Weisheit, die ich hier meine, ihr, sie mit meinem Lieblingsteddy zu schaft und Sex ganz bleiben zu lassen. lässt sich eigentlich nur auf dem Lei- erwürgen, falls sie mir diese Frage noch Nur die Sehnsucht danach hört nicht densweg erwerben. Leidend lernen wir, einmal stellte. auf. dass das Leiden immer irgendwann auf- hört und immer wiederkommt, um im- Was Mama angeht, war dieses gan- Schlechte Nachrichten, ich weiß. mer wieder aufzuhören. Damit meine ze Pandemie-Ding mehr eine Wohltat Wir glaubten ja, dass bei älteren Men- ich noch nicht einmal die echten Liebes- für Seele und Geist. Sie fühlt sich jetzt schen die Lust abflaut und ihr Interes- tragödien, sondern einfach nur das in der Einsamkeit des Alters nicht mehr se an allem, was damit zusammen- ­miese, nie abreißende Alltagsleid, das so allein. Seit ihr mein Bruder mehrere hängt, einfach so verschwindet. jeder von uns ab 65 Jahren Lebens­ anonyme Nutzerkonten eingerichtet hat, erfahrung von Tag zu Tag mitmacht. folgt sie Trumps widerwärtiger Dumm- Leider alles Lug und Trug. Tatsäch- So ist das Leben! heit auf den sozialen Kanälen wie ein lich verhält es sich wohl eher so, dass jugendliches Groupie. Sie hat ihre einem von Mal zu Mal immer klarer Die gute Nachricht: Komödie = Tra- Kenntnisse der amerikanischen Ge- wird, wie sehr man die Nase voll hat gödie + Zeit. Vermutlich gilt diese Glei- schichte aufgefrischt und versucht ernst- von den Qualen, die einem die Liebe mit chung nirgendwo so sehr wie auf dem haft, in den Kommentaren Amerikane- absoluter Sicherheit beschert, und sich Gebiet des Geschlechtslebens, wo man rinnen und Amerikaner in Gespräche stattdessen einen anderen, fast ebenso sie nur noch wenig anpassen müsste: zu verwickeln, um sie vor dem Abglei- aufregenden Zeitvertreib sucht. Eine Sextragödie + Zeit = Komödie hoch 2. ten in den Faschismus zu bewahren. 73-jährige Frau Lee in Singapur verzich- Unser Liebesleben war vom ersten Tag tete auf Liebe und Sex, weil sie stattdes- an nichts als eine himmelsschreiend ko- Ich selbst lese keine Schlagzeilen sen lieber Zaubern lernen wollte. Zum mische Farce. Genau darum geht es in mehr, daher wüsste ich nicht zu sagen, Beweis zog sie mir den Erlebnissen, ob sie damit irgendetwas erreicht hat. einen Tischtennis- von denen „All the Ich vermute ja, eher nicht. Aber sie ball aus der Nase. Mammalian Diving Reflex Sex I‘ve Ever Had“ Auf der Suche nach den Masken des Alters – Darren O’Donnells Projekt sucht nach den intimsten Erfahrungen des Lebens; und wer sich einlässt, kriegt von mir eine Eins für ehrliches erzählt: Lieben, erlebt womöglich eine Befreiung besonderer Art. Und die ist gar nicht peinlich! Foto: Lucia Eggenhoffer Bemühen. Und noch eine All the Sex Bumsen, Weinen fünfte Erkenntnis I’ve Ever Had und Lachen. Das Der Umgang meines 78-jährigen habe ich gewonnen. war’s auch schon. Vaters mit der Kontaktsperre lässt Wie es scheint, gilt 13. – 24. 10. 2020 Moos hat kein Geschlecht sich in wenigen Worten beschreiben: sie ohne Ausnahme Mousonturm Begleiten wird Was denn bitte für eine Kontaktsperre? für die vielen ver- uns auf dieser Seit acht Jahren ist das Projekt „All the Sex I‘ve Ever Had“ der kanadischen Gruppe Der einzige Unterschied zwischen vor- schiedenen Men- wunderbar witzi- her und nachher besteht für ihn darin, schen und Kulturen, die bisher an dem gen, so tragischen wie erbaulichen Mammalian Diving Reflex mittlerweile auf Tour. In dieser Zeit hat Darren O’Donnell dass meine Stiefmutter jetzt die Ein­ Projekt beteiligt waren: All das grauen- ­Reise ein Rat der alten Weisinnen und akribisch mehr als hundert ältere Menschen interviewt: und wollte aus jedem einzelnen käufe mit dem Feuchttuch abwischt. Für volle Liebesleid, das 65-Jährige im Ver- Weisen: Menschen, die länger als die ohnehin schon ziemlich einsamen lauf ihrer ungefähr 569.400 Lebens- 2.049.840.000 Sekunden gelebt haben, ihrer Lebensjahre alles wissen, was ihnen im Zusammenhang mit Sex noch in Erinne- Alten halten sich diese Einschnitte sehr stunden durchgestanden haben, ist un- die Millionen Mal Sex hatten, deren rung war. Jetzt befragt er für sein Theaterstück im Oktober auch Frankfurterinnen und in Grenzen. wichtig. Eigentlich muss man sich kei- Herzen in Milliarden Scherben zer- ne großen Sorgen machen. Es wird sprangen und von denen viele mit ­einer Frankfurter. Hier zur Einstimmung sein Erfahrungsbericht. Als Folge langer Recherchen bin ich schon wieder. Das Leben geht danach Vereinsamung fertig werden müssen, mittlerweile einigermaßen im Bilde und einfach weiter. Bis es aufhört, und wenn an der kein Virus schuld ist, weil sie VON DARREN O’DONNELL und als Moosfleck wiederauferstanden und muss täglich Medikamente neh- kann mir ein paar statistisch signifikan- es einmal so weit ist, muss man sich sich meist einfach mit fortschreitendem sein wird, eine Hauptrolle übernehmen men. Außerdem ist sie durch Demenz- te Verallgemeinerungen über die erst recht keine großen Sorgen mehr Alter einstellt. Menschen, die gelernt Während ich das hier schreibe, erlebe soll. Mit Mund- und Nasenschutz er- fälle in der Familie erblich vorbelastet. Menschheit erlauben. Erstens: Monoga- machen. haben, auch das mit allergrößter Unbe- ich in Melbourne gerade eine zweite kundigten wir uns in Blumenläden und Große Sorgen macht sie sich deswegen mie existiert so gut wie nicht. Aber das schwertheit zu nehmen. Welle der Kontaktsperren. Die kurze Gärtnereien, wie man einen Moosgar- nicht, denn sie hat sich mit ihrem Arzt wussten wir ja. Zweitens: Wer lange ge- Darin liegt für mich die höchste Zeit zwischen den Quarantänen nutzte ten anlegt, in dem Gabriella später ein- stillschweigend darauf geeinigt, dass nug lebt, erleidet Höllenqualen. Drit- Weisheit über Liebe und Leidenschaft, Und so werden diese Alten sich vol- ich, um eine unserer Darstellerinnen mal von jenseits der ­Urne aus herum- sie einfach ihre Medikamente absetzen tens: Die meisten Menschen verharren die wir von den Alten lernen können. ler Verständnis und mit etwas Humor in der Melbourner Fassung von „All spuken kann. Nach fast einem Jahrhun- wird, sobald ihr Verstand allzu sehr im Wesentlichen ihr ganzes Leben lang Es ist ihnen einfach alles schnurz- und auch an ein Publikum wenden, dessen the Sex I‘ve Ever Had“ zu treffen: die dert als Mensch hält Gabi­ ein Weiterle- versagt. Was dann passiert, ist ebenso im Entwicklungsstadium verwirrter piep- und hinten- wie vornherum egal. Alltag gerade von einem mickrigen und 84-jährige Gabriella. Nicht lange nach ben als Moos für die beste aller mögli- sicher wie schmerzlos. Vorpubertärer, was übertragbares Er- Gar so viel Lüsternheit haben sie nicht erbärmlichen Virus durcheinanderge- dem Treffen schrieb ich mich in ihren chen Daseinsformen. Denn Moose ver- fahrungswissen in der hohen Kunst von mehr zu verschenken. Sie haben ein- bracht wird. Denn die Auswirkungen Tai-Chi-Kurs ein, und wir besprachen fügen über die beneidenswerte Fähig- Gabis entspannter Umgang mit ih- Liebe, Leidenschaft und Sex angeht. fach vor geraumer Zeit gelernt, sich ­eines Virus’ sind nichts gegen die Aus- nach jeder Stunde beim Kaffee Ein­fälle keit, sich ungeschlechtlich fortzupflan- rem eigenen Tod erinnert mich an mei- Der Preis, den Achtzigjährige für die ­wegen dem Fummelkram nicht länger wirkungen der Zeit. Vom Virus erholen für ein Theaterstück, in dem Gabriella zen. Uns Menschen ist das leider nicht ne Mutter. Die würde sich nämlich, scho- Schmetterlinge im Bauch bezahlen, ist aufzureiben. Das ist doch mal echte sich schließlich die allermeisten. dereinst, wenn sie einmal gestorben vergönnt. Gabi­ hat einen Herzfehler nungslos betrachtet, von einer Brücke nicht geringer als bei Vierzehnjährigen. Weisheit! DEUTSCH VON HERWIG ENGELMANN SAMSTAG, 22. AUGUST 2020 KÜNSTLERHAUS MOUSONTURM ANZEIGEN-SONDERVERÖFFENTLICHUNG TICKETS: MOUSONTURM.DE – TANZ & PERFORMANCE – SEITE 4 Chronik von Hoffnung und Zerfall Der Mousonturm hofft, dass im Herbst auch internationale Gastspiele wieder nach Frank- furt kommen können. Aus Kinshasa wird schon seit längerem Faustin Linyekulas spannen- des Tanztheaterstück über das kongolesische Nationalballett erwartet. In diesem Frühjahr musste es coronabedingt verschoben werden, doch schon ein Jahr zuvor hatten europäische Behörden den afrikanischen Künstlerinnen und Künstlern die Einreise verweigert.

VON EBERHARD SPRENG sich das Land in der internationalen jungen Körper auf den Filmbildern von ­Öffentlichkeit profilieren wollte. früher. Er hat nichts von dem ursprüng- Ein kleines Bühnenpodest auf einer lichen Gestus verloren, er ist im Gegen- leeren Bühne, ein scharfes Streiflicht Mobutu folgte mit seiner Ballett- teil freier geworden, unbelastet von den und der schwarze Schauspieler Papy gründung übrigens Guineas Unabhän- Erwartungen der Politik, verspielter im Maurice Mbwiti, der eine große Glocke gigkeitspräsident Sékou Touré. Er war Ausdruck. und ein kleines Wägelchen mit lauter der erste afrikanische Machthaber mit Plunder mit sich führt. „Ich bin ein repräsentativen Kulturambitionen. Un- Berührend ist auch, wenn Wawina ­afrikanischer Schauspieler und ver­ ter den unabhängigen afrikanischen Lifeteke von ihrer Familie erzählt, und kaufe exotische Geschichten“, erzählt Ländern hatte sich auch auf symboli- davon, wie diese ihr Engagement in dem Mbwiti: „Ich verkaufe Theatergeschich- scher Ebene ein Überbietungswettbe- Ensemble damals ablehnte; oder wenn ten, Alteisen, kaputte Straßen, Diktatu- werb entwickelt. Auch beim Prestige- Marie-Jeanne Ndjoku Masula daran er- ren, zerstörte Länder, Kalaschnikows, projekt Mobutu Sese Sekos wurde ent- innert, wie sie sich dereinst bewarb und Krankheiten.“ Mit diesem Auftritt sprechend geklotzt: Nach Sezessionskri- wie sie in eine Truppe aufgenommen ­beginnt „Histoire(s) du se und Militärputsch wurde, deren kurze Glanzzeit zehn Jah- Théâtre II“: Ein humor- sollten achtzig gut re und vier Produktionen später schon volles Spiel mit den Faustin Linyekula ­bezahlte Sängerinnen wieder in einer großen Wirtschafts­krise Erwartungshaltungen­ Histoire(s) und Sänger, Musike- endete. eines weißen Publi- rinnen und Musiker kums gegenüber Ge- du Théâtre II die über 400 Stämme Aufführungen des Nationalballetts schichten vom Schwar- 2. – 4. 12. 2020 des Kongo einen, de- hat Faustin Linyekula nicht erlebt. Er zen Kontinent. ren unterschiedliche sah als Kind die Fernsehaufzeichnun- Frankfurt LAB Legenden verbinden, gen: Schwarz-Weißbilder des Ensemb- Faustin Linyekula, ihre Tanzstile fusio- les, dessen bizarre Masken ihm Angst der kongolesische Choreograf, Musiker nieren: rund um den Gründungsmythos machten. Sie sind zum Inventar einer und Geschichten­erzähler, erinnert in „Lianja“, die erste Arbeit des Balletts. Erfahrungswelt geworden, die er nun dieser Arbeit an die Gründung des im Rahmen von „Histoire(s) du Théâtre „Ballet National du Zaïre“ im Jahr 1974. Faustin Linyekula hat die Geschich- II“ zu einer berührenden tanz-geschicht- Das war das Jahr, in dem er geboren te des später dann „Ballet National de lichen Dokumentartheaterarbeit ausge- wurde und das Jahr, in dem Diktator la Compagnie du Théâtre National Con- staltet – als humorvolle Hommage an Über Generationen hinweg erzählt Faustin Linyekula vom kongolesischen Nationalballett – und die Erinnerung wird (im Rahmen von Linyekulas Mobutu Sese Seko das Nationalballett golais“ genannten Ensembles erforscht die Tanzgeschichte seiner Heimat, an persönlicher Theatergeschichte) zum Abgesang auf ein Prestigeprojekt postkolonialer Politik. Foto: Agathe Poupeney ins Leben rief, um das in Zaire umbe- und in Kinshasa nach ehemaligen An- seine Sozialgeschichte; aber auch als nannte Land mit einer nationalkultu- gehörigen der Truppe gesucht. Zwei der ­Dokument der dramatischen Chronik aufgeführte Koproduktion von ­Linyekulas Wie bei Godard geht es darum, die des Postkolonialismus. Und er stellt sich rellen Kulturinitiative zu einen – und nunmehr betagten Tänzerinnen und des Zerfalls im Kongo, vom Ende einer „Studios Kabako“ im nordkongolesischen Tauglichkeit des Mediums in der Wech- in diesem Zusammenhang folgende Fra- um sich zudem ein Propagandainstru- ­einen Musiker lässt er auftreten und großen nationalen Hoffnung. Kisangani mit dem belgischen Theater selwirkung mit der großen Weltge- ge: Wenn Mobutu den weißen Belgier­ ment mit Außenwirkung zu verschaf- ­ihre Lebensgeschichten erzählen. Film- versteht sich als die zweite Folge der von schichte zu befragen. Milo Rau hatte das innen und Belgiern im Kongo die Mög- fen. Im selben Jahr ver­anstaltete das ausschnitte von damals zeigen ihre Tän- Schon im Februar 2019 hätte Milo Rau initiierten und vom Mouson- im ersten Teil der Reihe mit der viel dis- lichkeit gegeben hätte, Kongolesinnen Land außerdem ein legendäres sport­ ze, und gleichzeitig tanzen sie auf der „Histoire(s) du Théâtre II“ am flämischen turm koproduzierten Reihe „Histoire(s) kutierten „La Reprise“ („Die Wiederho- und Kongolesen zu werden, wenn es liches Großereignis: „Rumble in the Theaterbühne nach, was ihr junger Kör- NTGent uraufgeführt werden sollen, aber du Théâtre“. Ihr Titel, aber auch einige lung“) getan: mit der Frage nach der ­flä­mische Tänzerinnen und Tänzer im Jungle“, der Boxkampf zwischen per damals performte. Der nunmehr ­alte die Behörden hatten damals die notwen- konzeptionelle Züge sind an den Essay- Tauglichkeit des Theaters in Bezug auf ­Ensemble des Ballet National gegeben ­Muhammad Ali und George Foreman, Körper tritt auf der Bühne in einen digen Visa für die kongolesischen Künst- filmzyklus „Histoire(s) du ­Cinéma“ von sexualisierte Gewalt. Faustin Linyeku- hätte – was wäre aus dem Verhältnis gehörte zu den Initiativen, mit denen spannenden Bewegungsdialog mit dem ler nicht erteilt. Die dann in Avignon ur- Jean-Luc Godard angelehnt. la erinnert nun an ein Kulturphänomen der beiden Länder geworden?

Präzision und Imagination sind eine gute Mischung Eselsohren schauen dich an Doch dabei bloß nicht die eigene Jugend und ihre explosive Energie vergessen: Ein Text nicht über, sondern mit Warhol, ein Buch und im Taxi von der Bar zur Party: Billinger & Schulz, die eine neue Produktion für den verwandelten Mousonturm vorbereiten. Fabrice Mazliah choreografiert das fünfte Mensch-Objekt- Duett seiner „Manufactured Series“ im Mousonturm- an schreiben, von der ausführlichen nicht der Clou, sondern bereits Voraus- Auseinandersetzung mit Körperbildern setzung dafür, dass ein Zuschauer Lehmbau. erzählen, von Körper und Bewegung in fluchtartig den Theatersaal verlässt – der Gesellschaft, kodiert, kontextabhän- die Gewalt räsoniert in uns. Und ich ha- VON MELANIE SUCHY besondere Aufmerksamkeit bei dieser gig, gespiegelt und interpretiert, von be einfach nur himmelschreiend unge- Art von Machtverteilung, um das Ken- beinahe widerborstiger Leichtigkeit, rechtes Glück gehabt, dass mein Reso- Was soll ein Buch auf der Bühne? Im nenlernen als Prozess, um das Zuhören, medialer Spezifik plus starkem Be- nanzkörper in dieser Hinsicht so unaus- Schauspiel kennt man es als sogenann- das Aufeinander-Hören. Wobei diese wusstsein für das Theater. Stimmt al- geprägt ist. te Vorlage. Es legt etwas vor; dann ist ­Objekte etwas von Hand Geschaffenes les. Sie selbst formulieren: „Für die es weg, als Buch. Im Tanz sind Bücher oder mit der Hand Bedienbares sind: Ein künstlerische Modellierung und Insze- Das Publikum wird zum Klingen Fremdkörper, außer als seltene Story- Radio, eine Angel mit Federköder und nierung fokussieren wir in unseren Vor- gebracht, wie eine Schallwelle trifft der Lieferanten oder Recherche-Grundlagen eine Keramiktasse traten schon mit auf Bildern und Themen die Rolle des Kör- Eindruck auf den Publikumskörper und aus dem Philosophie-Regal. Der Düssel- in der Serie, stets mit Bezug zur Ge- pers. Dessen Bewegung verstehen wir hallt nach. Vom Körper ausgehend spre- dorfer Choreograf VA Wölfl von NEUER schichte des menschlichen Mitspielers. als Überträger und Lebenszeichen.“ chen die Stücke ihr Publikum also als TANZ ließ seine Tänzerinnen und Tän- Wer wählt was aus, was wählt wen aus, Doch wie können ein Text wie dieser resonanzfähig an, gehen von einer Mög- zer einst kiloweise Bücher aus Kartons was bewegt? und seine Autorin das nun übertragen, lichkeit zum Andocken aus; und der Me- räumen und ausufernd auslegen, um wo doch gerade alle auf einen Impfstoff dienkompetenz, die „Themen und Vor- dann auf dem Patchwork herumzu- Fabrice Mazliah bat diesmal den ita- hoffen? Bilder“ insofern zu reflektieren, als dass schreiten und zu musizieren. Der Frank- lienischen Choreografen­ und Kurator sie gerade nicht abprallen wie Strahlen, furter Choreograf und Tänzer Fabrice Michele Di Stefano, Performer zu sein. Vielleicht, indem persönliche Ein- sondern ganzheitlich erfahren werden. Mazliah, ehemals Und ein Buch mitzu- Verena Billinger und Sebastian Schulz – am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft an der drücke mit den Arbeiten subjektiv auf- Also nicht nur gedacht oder gefühlt, son- Mitglied der Forsy- bringen. Di Stefano Justus-Liebig-Universität in Gießen ausgebildet, sind sie mit choreografischen Projekten einer leben und blitzlichthafte Formulierun- dern immer im Zusammenklang, bei dem the Company und Fabrice Mazliah trug herbei, was ihn neuen, möglichst allumfassenden Körper-Erfahrung auf der Spur. Foto: Billinger & Schulz gen auswerfen. So könnte ein Text Lust es das eine nicht ohne das andere gibt, des Kollektivs MA- Duet #5: seit vielen Jahren be- darauf machen, die neue Produktion von wenn auch nicht immer gleich-zeitig. MAZA, das mittler- The Act of Reading gleitet: „I diari di An- VON EVA HOLLING Tür schritten oder Pixelwürfel aus Billinger & Schulz anzusehen. weile „Work of Act“ dy Warhol“, das Tage- Schaumstoff dabei hatten. Sie waren Die neue Produktion ist im Entste- heißt, macht nun das 24. – 27. 9. 2020 buch, das der ameri- Wenn jemand aus dem Gießener Kolle- vielleicht schon unlikely, wie die Krea- „Wir haben in Gießen, Frankfurt hen: Derzeit muss Theater virussicher Gegenteil: In seinem kanische Künstler gium der „Angewandten Theaterwissen- turen späterer Arbeiten, die ebenso in- und Hildesheim Angewandte Theater- entworfen werden. Das schränkt ein, er- „Duet #5: The Act of Mousonturm diktiert hatte. Keine schaft“ auf meinem Mobiltelefon anruft, tensiv über spezifische Körperlichkei- wissenschaft, Tanz, Choreografie und möglicht aber auch, die Regeln von Ab- Reading“ trifft ein Story ist das, eher spielt das „Intro“ der Gruppe The XX. ten kommunizieren. Performance studiert“, schreiben die stand, Hygiene und Zeit choreografisch Tänzer ein Buch, und hier soll keiner ein Kunstprojekt, das Banalitäten zum Ich bringe diesen Song mit einem mei- beiden über ihre Ausbildung. Mir fällt aufzufassen, Formenvielfalt zu denken. von beiden den anderen benutzen, aus- Inhalt hat, wie Marialena Marouda er- ner ersten Erlebnisse mit Verena Billin- Verena und Sebastian, so heißen dazu ein: Präzision und Imagination Verena und Sebastian antworten mir auf nutzen, unterdrücken. läutert: „ …von Bar zu Bar zu Party, dann ger und Sebastian Schulz zusammen, Billinger und Schulz bei mir, arbeiten sind eine gute Mischung. So vieles ver- diese Herausforderung so: Es könnte ei- ins Taxi“, die langweilige Abfolge von als sie 2010, mit fünf anderen, unter nie nur über Gegenstände, um sie da- handeln die zahlreichen Arbeiten – von ne Choreografie entwickelt werden, die Sie haben erst eine Woche geprobt, Tag zu Tag. dem Namen PET 6, das Ergebnis einer nach in Distanz zur Erscheinung zu Körperdiskursen im Privaten über Zu- sich um den Mousonturm herumbewegt, das Stück ist noch ganz am Anfang, als choreografischen Studie am Mouson- bringen. Vielmehr arbeiten sie mit den sammenhänge von Material, Ton und auf einem Parkplatz oder in einem Park- Mazliah und seine Dramaturgin Maria- Doch wie kommt der Inhalt, das, turm zeigen: „Computerised Move- Theatermitteln und durch sie: Themen, Vergänglichem hin zur Frage, wie die haus etwa, bei der sich Tänzerinnen, lena Marouda am Bildschirm Auskunft was im Buch ist, nach draußen, ins ment“. Seitdem lasse ich den anrufen- Körper, Bewegungen, Me- permanente, vielspurige Tänzer oder Performende und ein Auto geben. Nach einer Weile beginnen mir ­Innere des Lesers und der Leserin, ins den Zufall dieses wohlige Gefühl der er- dialitäten und Materiali- Erzählung unserer medi- begegnen. Ein „Car Walk“, der sich auch die Gedanken zu schwanken, denn wer Auge des Betrachters, der Betrachterin? kennenden Verwirrung bei mir herauf- tät, die sich beim Zu- Billinger & Schulz alen Alltage überhaupt bei Kälte tanzen lässt. Oder eine Cho- dem Lesen, dem Geschriebenen, den Die Dramaturgin spricht vom Materiel- beschwören, das diese Live-Avatare bei schauen als innere Notiz Neues Stück noch zu unseren Körpern reografie, die sich in einen Raum be- Personen, den Seiten, dem Auf und Zu, len und Immateriellen – und von der mir erzeugt haben. Erst durch sie bin niederlassen, oft zunächst passt. Dabei bloß nicht die wegt, der von vielen Seiten einsehbar dem Umdrehen, Halten, Weiter-Weiter, Aufgabe, dieses sichtbar zu machen, ich aufmerksam geworden auf die feh- unbemerkt. Wie also über 5. – 11. 12. 2020 eigene Jugend und ihre ist – inspiriert vom Atmen, das krisen- den Stimmen, Orten und Blickverläufen im Prinzip also zu materialisieren auf lend-schwebende Materialität und eige- diese beiden schreiben, Mousonturm explosive Energie verges- sensibilisiert neue Aufmerksamkeit er- so nachgeht, verliert irgendwie den fes- der Bühne. Ob das Warhol ist oder di ne Bewegungsqualität dieser virtuellen sich ihren Arbeiten nä- sen: Frisuren, Kostüme, hält und auch bereits Teil von ten Halt. Stefanos Gedanken über ihn oder die Körper auf den Spiele-Bildschirmen. Da- hern? Annähern geht nur Songs! Was war, was ist „Zeit / Temps“ (aber auch von anderen Ab­folge von Tagen, ob es das Öffnen von für mussten mir aber erst die sanft in der Begegnung; als Publikum bekom- und was sein wird, können geronnene Produktionen) ist. Diese Performance wird die fünfte Buchdeckeln ist oder von einer Persön- schwingenden Performerinnen und Per- me ich dann eine Aufgabe und Positi- Bilder innerhalb einer ewigen Bewe- der Serie von zehn Duetten, „The Manu- lichkeit und ihren Fantasien: Die unge- former begegnen, die in Fluren hinter on – und begreife diese häufig erst viel gung sein, und wenn wir nicht aufpas- Bei mir räsoniert es jetzt wieder. factured Series“, die Beziehungen von wohnte Aufgabe des Publikums werde der Gießener Studiobühne ihre Gesich- später, räsonierend, im Nachklang. sen, werden wir alle zum Dekor der Zeit. Als nächstes spielt – folgerichtig – ein Personen zu Objekten (und umgekehrt) sein, die Gleichwertigkeit von Mensch ter mit der Projektion anderer Gesichter Temps. Oder geht es bei „Violent Event“ „Outro“, nämlich das von M83: „Creatu- untersuchen und inszenieren. Es gehe und Buch wahrzunehmen – was immer überzogen, in überdimensionalen Kos- Es gibt eine Vielzahl von Presse- etwa gar nicht um dargestellte Gewalt? res of my dreams / raise up / and dance dabei um möglichst „gleichberechtigte ein Buch tatsächlich ist; und ein Mensch. tümen wie Bauhaus-Schatten durch die Stimmen, die über Verena und Sebasti- Dass sie undarstellbar ist, wäre dann with me!“ Entitäten“, betont Mazliah, und um die Ein Tanz. ANZEIGEN-SONDERVERÖFFENTLICHUNG KÜNSTLERHAUS MOUSONTURM SAMSTAG, 22. AUGUST 2020 SEITE 5 – TANZFESTIVAL RHEIN-MAIN – TICKETS: MOUSONTURM.DE Weniger Form, mehr Energie! Die österreichische Choreografin Doris Uhlich steht im Fokus des Tanzfestivals Rhein-Main. Wichtig für ihre Arbeiten ist der non-konforme Körper, dessen Fragilität und Vitalität gefeiert wird. Während des Festivals werden in Darmstadt, Wiesbaden und Frankfurt drei Arbeiten mit unterschiedlichen Formaten präsentiert – alle in Corona-gerechten Versionen. Ein Gespräch mit Doris Uhlich.

VON SANDRA LUZINA für andere, ohne dass ich es weiß – die- Sie haben viel Aufsehen mit der Perfor- Energie. Weniger um das äußere Bild, ser Aspekt beschäftigt mich am meis- mance „Habitat“ erregt, bei der sich die sondern darum, wie sich diese Nackt- Frau Uhlich, Choreografinnen und Cho- ten. Ich habe ständig ein „Aufpassge- nackten Performer und Performerinnen heit anfühlt. Ich versuche, die emanzi- reografen sind stark eingeschränkt fühl“ in mir – und das ist sehr anstren- sowie das Publikum im selben Raum patorische Kraft von Tanz zu nutzen – durch die Corona-bedingten Hygiene- gend. Für mich stellt sich die Frage: Wie bewegen. In Zeiten des „Social Distan- meine Arbeit ist für alle Körper zugäng- und Abstandsregeln. Es hat fast den funktioniert meine furchtlose Kunst in cing“ geht das nicht mehr. Werden Sie lich. ­Anschein, als ob derzeit ein Tanzverbot dieser fürchterlichen Zeit? Gerade das Stück nun modifizieren? herrsche. Sie sind aber besonders be- durchlebe ich eine Phase der Melancho- In „Habitat“ geht es um einen utopi- Sie haben eine „Philosophie des Flei- troffen, denn in Ihren Arbeiten geht es lie. Ich glaube aber, es ist wichtig, dass schen Körperraum. Das Stück schreit sches“ entwickelt, die Ihren Stücken zu um Nacktheit, Nähe und Empathie. Wie man sich dem stellt und nicht beginnt, nach körperlicher Nähe und nach Em- Grunde liegt. Können Sie die kurz um- gehen Sie mit den Beschränkungen um? Distanz-Theater zu produzieren. Und ich pathie, die man körperlich ausdrücken reißen? Die Corona-Pandemie ist für mich das hoffe, dass wir in der Krise unseren kann – und hier macht COVID-19 einen Ich begreife den Körper als ein Einlage- einschneidendste Erlebnis, das ich je ­Humor nicht verlieren. Denn sonst gehe Strich durch die Rechnung. Ich stehe rungssystem. Die Haut ist keine un- hatte. Mein Körper kann gefährlich sein ich wirklich unter! im engen Kontakt mit Anna Wagner, der durchlässige Barriere, sondern wir sind Dramaturgin am Mousonturm. Wir über- transparente Wesen, die sich in dieser legen gerade: Was ist ein „Habitat“ mit Welt bewegen. Wir lagern unsere eigene Körperabstand, mit einer Vorsicht, aber Biografie in uns ein, aber auch die Bio- Tanzfestival Rhein-Main trotzdem mit einer Lebendigkeit? grafie der Welt – und die Ängste, die 30. 10. – 15. 11. 2020 unsere Gegenwart produziert. Ich habe Welche Eingriffe werden Sie vorneh- bemerkt: Über das Schütteln des Flei- 30. 10. – 1. 11. | Yoann Bourgeois men? sches beginnen sich diese Einlagerun- Tentatives d’approches d’un point de suspension Es könnte funktionieren, indem man gen zu bewegen. Darauf liegt der Haupt- (Attempts to approach a Point of Suspension) den Performerinnen und Performern ei- fokus meiner Philosophie: Du kannst Staatstheater Darmstadt nen Ort zuweist – die Zuschauerinnen dein Archiv in Bewegung versetzen. 31. 10. & 1. 11. | Doris Uhlich und Zuschauer könnten sich dann im- Lass es nicht erstarren. HABITAT | Frankfurt LAB mer noch frei durch den Raum bewegen. 31. 10. | Ginevra Panzetti & Enrico Ticconi Ich werde versuchen, den Atem so zu Lassen sich denn durch dieses Schütteln Harleking | Staatstheater Darmstadt choreografieren, dass die Aerosole und Vibrieren auch äußere Zuschreibun- nicht zu Überträgern werden können. gen abschütteln? 1. 11. – 5. 11. | PINSKER+BERNHARDT Außerdem entwerfe ich mit meinem Ja, das kann ich unterschreiben, dass Furchtlose Kunst in fürchterlicher Zeit – Nacktheit ist das natürlichste überhaupt, und jeder Boom Boom (AT) | Künstlerhaus Mousonturm Team gerade transparente Kostüme, sich dadurch Vorstellungen von Tanz, Körper, auch der nicht-konforme zählt. Und im Tanz, sagt Doris Uhlich, lässt sich das Verhältnis 6. 11. – 8. 11. | Tony Rizzi / Bad Habits Körpertanks. Körper und Nacktheit neu sortieren. zwischen dem einen und dem anderen neu sortieren. Foto: Andrea Salzmann Why Wait? | Frankfurt LAB Schütteln ist ja auch eine schamanisti- 6. 11., 8. 11., 11. 11., 14. 11. Das klingt nach Science-Fiction! sche Praxis, wie wir wissen. das funktioniert. Die Gruppe und ich immer noch viel zu tun im Hinblick auf Sharon Eyal / Xie Xin / Hessisches Staatsballett Leider ist es die Gegenwart. Das Kos- kamen dann auf die Idee, die Rollstüh- eine körperliche Offenheit. Horizonte | Hessisches Staatstheater Wiesbaden tüm spiegelt das wider. Ich möchte den Diese spezifischen Körpertechniken le zu zerlegen und diese in die Energie- 7. 11. & 8. 11. | Doris Uhlich nackten Körpern durch die Kostüme er- ­haben Sie in „Every Body Electric“ für tanzschritte zu inkludieren, wie eine Art Durch die Pandemie verändert sich un- Every Body Electric | Staatstheater Darmstadt möglichen, sich zu verausgaben und Menschen mit körperlichen Behinderun- Körpererweiterung. ser Blick auf Körper. Ihre Performances sich zu berühren – und wenn’s nur 15 gen erprobt. Waren Sie überrascht, wie feiern den nicht-konformen Körper in 7. 11. & 8. 11. | La Veronal bis 20 Minuten sind. gut das angenommen wurde von den Deutlicher als bei Kolleginnen und Kol- seiner Fragilität und Vitalität und können SONOMA | Staatstheater Darmstadt Ensemblemitgliedern? legen beschäftigen Sie sich mit einem da wie ein Korrektiv wirken. Schwingt in 11. 11. & 12. 11. | Jeremy Wade In ihren Arbeiten geht es immer wieder Es war mehr Begeisterung als Über­ Kern-Thema: dem nicht-konformen Kör- ihrer Arbeit denn auch etwas Therapeu- Glory | Frankfurt LAB darum, Körpernormen und Schönheits- raschung! Bei einem Workshop haben per. Um den geht es auch in Ihrem Solo tisches mit? 12. 11. | Doris Uhlich diktate zu hinterfragen. Nackte Körper wir mein Konzept der „Energetic Icons“ „mehr als genug“. Ist dies das Manifest Ich bin Künstlerin. Mich interessieren mehr als genug | Wartburg Wiesbaden spielen dabei eine große Rolle. Wie set- angewendet – so nenne ich die Suche einer Unangepassten? bestimmte Bewegungen in ästhetischer zen Sie die Nacktheit ein? nach individuellen und kollektiven Ener- Im Zentrum steht der Körper als Mar- Hinsicht; das verbindet sich dann mit 12. 11. & 13. 11. | Markéta Stránská / Núria Guiu Sagarra Ich versuche, der Nacktheit kein kon- gietanzschritten. Es ging darum, sich zu kenzeichen. Ich gehe der Frage nach: meinem Interesse für Energie und Bewe- FLY! & Spiritual Boyfriends | Hessisches Staatstheater Wiesbaden zeptuelles Korsett umzuschnüren. Es elektronischer Musik zu be­wegen, in Was bedeutet es, einen korpulenteren gung. Aber ich weiß, dass meine Arbeit 14. & 15. 11. | Tanztag Rhein-Main geht mir darum, das nackte Sein zu wiederholende Bewegungsmuster zu Körper zu haben in einer Tanzwelt? Wo auch einen therapeutischen Charakter 15. 11. | Lee Chen-Wei & Vakulya Zoltán leben – und auch den Humor zu zeigen, ­gelangen, die wie ein körpereigener doch heute vermeintlich jede Form von haben kann. Und wenn Kunst beides ver- Together Alone | Hessisches Staatstheater Wiesbaden der im nackten Körper steckt. Es geht Treibstoff funktionieren. Es hat das ge- Körper auf der Bühne erscheinen kann. binden kann, Ästhetik und eine Form von weniger um die Form, mehr um die samte Ensemble überrascht, wie gut Das Solo entstand 2010. Aber es gibt Heilung – warum denn nicht?

dafür, gemeinsam anders zu sein, eine Unsere Körper sind elektrisch aufgeladen sinnliche Form wechselseitiger Abhän- Im Achselhaarwald gigkeit. Unsere Körper sind elektrisch; Postmodern, post-fucked, post mortem: Der Tänzer und Choreograf Jeremy Wade erinnert aufgeladen mit Perversion können wir Der Körper als Knotenpunkt von Selbstwahrnehmung sich an sein extrem körperliches Künstlerwerden im New York der Jahrtausendwende. hin und wieder ein schillerndes Anders- und Fiktion, Anpassung, Korrektur und Kritik – Janna Als Reaktion darauf entstand „Glory“, das er nun wieder aufgenommen hat. sein erleben. Pinsker und Wicki Bernhardt schaffen mit ihrer neuen Kann eine Performance die beschis- Performance „Boom Boom“ ein Podium für Körper(-teile). VON JEREMY WADE Grotesken hin, einem emotionalen und von Pfingst-Gemeinden, wenn Mitglie- senen Geschichten umschreiben, in die Eine Uraufführung für alle ab 12. körperlichen Kontinuum, einem - der „die Kraft des Heiligen Geistes“ wir verstrickt sind? Können wir die „Glory“ war das erste Stück, das ich als tialismus der Widerlegung, den ich empfingen, der sie durchrüttelte bis zu ­Mythen umschreiben, die uns trennen? junger Choreograf in New York City ab ­„Articulating Disorientation“ nannte. Ich einer ungeheuerlichen Auslöschung. All Und können wir diese kritische Um- VON ANTIGONE AKGÜN sprechen, wenn es behaart oder jenseits 2003 erarbeitet habe. Ein brutales, nack- arbeitete mir damals den Arsch wund, diese Verhaltensprinzipien fanden ihren schreibung statt durch Zerstörung der Norm wäre? Auf dem Balkon – viel- tes Duett, ein Tanz der Nicht-Zugehörig- als Barkeeper, Go-Go-Tänzer, Anstrei- Weg in die Arithmetik von „Glory“: durch gegenseitige Unterstützung errei- Heute habe ich es nicht geschafft, mich leicht. Aber auf einem öffentlichen Platz keit, eine Enteignung der glatten, flie- cher und Stricher, und überlebte den Big ­Affekt als Kraft, das Kind als Gipfel der chen? Vielleicht führt affektive Solida- zu melden. Bei meinem Körper. Auch und gänzlich ohne Scham? ßendenden sozialen Codes, die die all- ­(Badass) Apple nur knapp. Ich habe im Trance; aber am wichtigsten das ­Gefühl, rität, dieses Gefühl seelischer Verbun- die letzten Monate, ja sogar Jahre nicht. täglichen Gefühls- und Verhaltensmus- „The Cock“ in der Avenue A gearbeitet, dass Hingabe ein Ort undif­ferenzierter denheit, zu der Zuversicht, dass alles Zumindest nicht bewusst. Diese Körper- Scham. Auch so eine Sonderbarkeit ter menschlicher Interaktion ausma- seinerzeit die anrüchigste und unglaub- Schwingungen war, oder, wie ich es gern gut werden wird, „that it’s going to be Ich-Beziehung ist schon sonderbar. in der Körper-Ich-Beziehung. Ausgelöst chen und die Vorstellungen von festge- lichste Schwulenbar des Universums. ausdrücke, ein Ort des „alles ist neu“. ok“. Wenn wir über die beschissenen Selbst wenn man nicht einmal Fan vom durch isolierende Mechanismen einer legter Subjektivität. Das Duett wirft auf Du bekamst dort schon Syphilis vom Sit- Geschichten, in die wir verstrickt sind, Leib-Seele-Dualismus bei Descartes ist. Gesellschaft, welche aus gezielten eine im Grunde widerliche, ­zutiefst kör- zen auf dem Sofa. Ich habe eine Menge „Glory“ ist ein Geschenk der quee- lachen können, ist das verdammt mäch- Das Ich ist der Körper – und dennoch Machtinteressen heraus über die Norm perliche Art ontologische Fragen auf Drogen genommen, eine Menge Sex in ren Götter. Für mich ereignete sich „Glo- tiger Scheiß. Und wenn wir die beschis- wird diese Einheit durch eine schleier- bestimmen und alle anderen Körper ab- und erkundet, wie die Gegenpole­ von Darkrooms gehabt, mich wild kostü- ry“ in geschmähten Räumen, unheilig senen Geschichten, in die wir verstrickt hafte Trennlinie gestört, welche Einsei- werten oder diskriminieren will. Scham, Reue, Erniedrigung, Ekstase, miert und bei den legen­dären Foxy-Par- und profan, während der frühen sind, betrauern können, ist das eben- tigkeit mit sich bringt: Obwohl Ich und schließlich Unter­werfung und Hingabe ties nackt in der Menge gebadet. ­Morgenstunden. Vom AIDS-Aktivisten, falls krass. In einem Raum voller Men- Körper die alltäglichen Reizüberflu­ Doch was passiert, wenn das Ich umgeformt und durchbrochen werden. ­Kurator und Autor Douglas Crimp schen trauern zu können, darin ist das tungen von individuellen Erfahrungen diese Mechanismen der gesellschaft­ Kurz gesagt, in meinen Zwanzigern stammt der berühmte Satz: „Unsere Pro- Theater am besten. Die politische Wirk- einerseits und großen sozialen, politi- lichen Blick- und Identitätspolitiken re- Es war nicht leicht, Ende der 1990er bewegte ich mich durch die Welt mit miskuität wird uns retten.“ Ich bin eine macht der Kunst liegt also vielleicht in schen und kulturellen Normen und Er- flektiert und gemeinsam mit einzelnen Jahre als junger Künstler in New York weit aufgerissenen Augen, einem lang- Hure. Ich öffne meine Löcher für euch, ihrer Fähigkeit, anders, von einer weni- wartungen andererseits stets als Team Körperteilen revoltiert, um alle Körper City erwachsen zu werden. Es waren die sam heraufziehenden Nervenzusam- und ich tue es auch auf der Bühne. Ich ger gewalttätigen Zukunft, zu träumen. zu meistern versuchen, sucht nur der in ihrer Diversität zu ermächtigen? Jahre nach der AIDS-Epidemie, die so menbruch und einer gigantischen Dau- werde bezahlt, es herrscht ein Konsens. Und dass sie ein Zufluchtsort bleibt, an Körper den Dialog zum Ich. Und auch ­Dieser Frage und Aufgabe hat sich das viele Tänze gelöscht hat. Ich begann ererektion. Mein Absturz war gewaltig; Meine Promiskuität ist eine queere, dem wir neue Mythen erschaffen, die uns nur dann, wenn es etwas höchst Dring- Choreografie- und Performance-Duo mein Tanzstudium im Licht der Postmo- die Twin Towers fielen, und praktisch ­utopische, extrovertierte und extrem durch die komplizierte Gegenwart bringen. liches zu besprechen gibt. PINSKER+BERNHARDT angenommen. derne an der School for New Dance De- über Nacht trat als neue Weltordnung ­inklusive Sozialität. Sie ist ein Plädoyer DEUTSCH VON KRISTIAN LUTZE In ihrer neuen Arbeit „Boom Bom“ wol- velopment in Amsterdam, wo mich die die Schock-Doktrin der Gentri­fizierung Dann erfüllt der Körper das Ich mit len sie das menschliche Scham-Empfin- kühnen, queer-feministischen Künstle- in Kraft. Ich nannte das Genre, in dem pochenden Schmerzen oder durchflutet den untersuchen und durch verschiede- rinnen Katie Duck und Gonie Heggen sich meine Choreografie-Kollegen be- das Gesicht mit rötlicher Farbe, wäh- ne Ebenen von Choreografie, Soundde- beeinflussten. Nach meiner Rückkehr wegten – und ich mich – nicht postmo- rend es zugleich die Temperatur hoch- sign und Performance einen Dialog zwi- nach New York City stellte ich allerdings dern, sondern post-fucked. Wir waren schraubt. Ansonsten hat der Körper das schen Mitwirkenden, Publikum und be- fest, dass hier ausschließlich die Hyper- post mortem. Ich durch alle Lebenslagen zu beglei- sonders großen und kleinen Körperob- funktionalität des Körpers angesagt ten – immer sein bestes Gesicht zeigend jekten herstellen, um über den Körper war. Alles drehte sich um die sogenann- In „Glory“ sind viele dieser Erfah- und Mannigfaltiges erduldend: Im ge- als Knotenpunkt zwischen Eigenwahr- ten somatischen­ Praktiken, deren Ziel rungen enthalten, das Stück wurde zu genwärtigen Zeitalter der fortwähren- nehmung und Fiktion, zwischen Anpas- es ist, ein fließendes, entspanntes, pen- ihrem Aufbewahrungsort. Mich fas­ den Selbstoptimierung verdient sich sung, ­stetiger Korrektur und Kritik delgleiches Schwingen zu produzieren. zinierte die Politik der Ekstase und der Körper seine Liebe nicht selten nachzudenken.­ Gefällig anzuschauen, angenehm aus- ­Unterwerfung. Ich machte Notizen, ­lediglich, wenn er den gesellschaft­ zuführen, als ganzheitlich etikettiert, wenn ich abstürzte und verzeichnete lichen Leistungsansprüchen gleich- PINSKER+BERNHARDT, die seit aber letztendlich eine behagliche Kunst- ­penibel mein dialektisches Verhalten kommt. Aber erfährt der Körper denn 2017 bereits mit Objekten arbeiten und fertigkeit für die weiße Mittelschicht, zwischen Speichelleckerei und Manie. jemals Liebe? Oder findet er zumindest darüber sehr gelungen auf abstrakte ausgerichtet auf Effektivität und Pro- Zu gut kannte ich diese Momente auf Gehör? Wie ist es bei Ihnen? Weise sozialpsychologische Phänomene duktivität. den Tanzflächen, wenn „she was feeling verhandeln, richten sich auch dieses it!“: die rollenden Augen und die zur Wann haben Sie sich das letzte Mal Mal an ein Publikum ab 12 Jahren: und Im Gegensatz dazu waren die Tän- ­Seite geworfenen Beine und Arme. Mir mit Ihrem Bein auf den Balkon gesetzt ermöglichen so vielleicht ein Empo­ ze, die aus mir kamen, nervös und un­ begegneten solche sich entfaltenden Können wir die Mythen umschreiben, die uns trennen? Vielleicht in der intimen Begegnung, in und nachgefragt, wie es ihm geht? Und werment in einem phantasmagorisch behaglich. Ich gab mich ekstatischen Körper auch in den ekstatischen Tänzen der Umarmung, im Kuss – in Solidarität: Hoffnungen von Jeremy Wade. Foto: Dieter Hartwig würden Sie mit ihrem Bein auch dann schweißtropfenden Achselhaarwald. SAMSTAG, 22. AUGUST 2020 KÜNSTLERHAUS MOUSONTURM ANZEIGEN-SONDERVERÖFFENTLICHUNG TICKETS: MOUSONTURM.DE – STADT & RAUM – SEITE 6

Passanten zu Performern Keine Angst vor der Die Gruppe LIGNA verwandelt die Corona-Restriktionen in ein Radioballett im Stadt- raum – und hat dafür viele internationale Partnerinnen und Partner gefunden. In Frankfurt, Darmstadt und Wiesbaden wird „Zerstreuung überall!“ im September Unwahrscheinlichkeit aufgeführt – und auf hr2-kultur gesendet. Beim Festival „Implantieren“ von ID_Frankfurt sind neun künstlerische Positionen zu sehen, die sich mit dem Verhältnis von Performance, öffentlichem Raum und VON FALK SCHREIBER Stadt­gesellschaft auseinandersetzen. Eines der Projekte lädt das Publikum mitten in Zwei Meter Abstand. Husten und Niesen nur in die Armbeuge. Keine Umarmun- Frankfurt zum Whale-Watching ein: Dahinter stecken der Witz und die Verve von gen, kein Händeschütteln. Die Abstands- Susanne Zaun, Marion Schneider und ihren „zaungästen“. regeln während der Corona-Pandemie sind wohl aus medizinischer Sicht not- wendig, sie nehmen aber auch den Cha- rakter von Regieanweisungen an: Wer nach den Vorgaben des Social Distan- cing lebt, bewegt sich in einer eigenar- tigen Choreografie durch den Alltag. Der öffentliche Raum wird zur Bühne, die Passanten und Passantinnen zu Per- formerinnen und Performern, die Bewe- gung zur Performance.

Seit 2002 sind solche Performances die Spezialität der Gruppe LIGNA. Ole Frahm, Michael Hüners und Torsten ­Michaelsen entwickeln Situationen, in Total kontaktlos, aber auch total vernetzt – von jedem Spielort führt der Weg hinaus in alle denen der Zuschauer oder die Zuschaue- Welt. Mit mehr als einem Dutzend internationaler Tanzschaffender lässt LIGNA Straßen, Parks rin zum Performenden wird: Durch das und Plätze zu Orten virtueller Begegnung werden. Foto/Grafik: Johannes Koether Einüben kurzer Choreografien und das Nachstellen ritueller Arrangements ver- „Zerstreuung überall!“ beschäftigt ter Metzlerpark zum Beispiel. Die Dis- wischen die Grenzen zwischen Bühne sich als Radioballett mit den Distanzie- tanzregeln werden natürlich eingehal- und Publikum. „Radioballett“ nennt das rungsregeln während der Pandemie. De- ten, aber parallel dazu werden sie hin- Trio diese immersiven Arbeiten, bei de- ren grundsätzliche Sinnhaftigkeit wird terfragt, dekonstruiert, neu gedacht. nen die Teilnehmenden meist per Kopf- nicht in Frage gestellt, ihr performati- Und am Ende steht eine Choreografie, hörer angeleitet werden, also keine auto- ver Gehalt aber durchaus. LIGNA grei- mit dem Publikum als Performenden, nom agierenden Wesen sind, sondern fen in ihrem choreografischen Konzept mit dem Stadtraum als Bühne. „Schau- Ausführende eines Regiekonzepts. zurück auf zwei künstlerisch-politische en Sie auf die anderen Menschen und Aktionen: einerseits Valeska Gerts 1919, die unsichtbaren Kreise um sie herum“, Die jüngste Arbeit „Zerstreuung vor dem Hintergrund der Spanischen heißt es im Stück. „Lauter kleine Büh- überall!“ geht dabei einen Schritt weiter: Grippe uraufgeführte „Pause“, anderer- nen. Auf der großen Bühne der Stadt.“ 14 internationale Künstler und Künstle- seits Erdem Gündüz’ 2013 im Rahmen Ausflugsdampfer am Mainkai, die Uferpromenade und im Hintergrund die Europäische Zentralbank – ja, das könnte Frankfurt sein. Wenn da nicht rinnen wurden gebeten, kurze Szenen der Istanbuler Gezi-Park-Proteste ent- ein Wal im Wasser wäre – wie kommt der da hin? Das zaungäste-Team will ihn suchen lassen. Foto-Montage: Mamoru Iriguchi für LIGNA zu produzieren, darunter Eisa­ standene Aktion „Standing Man“. Und ­Jocson (Philippinen), Alejandro Ahmed von dort aus führen Verweise in Kon- Zerstreuung VON BERNHARD SIEBERT Publikum dazu einladen, eigene und „Implantieren“ präsentiert sich (Brasilien) und Bebe Miller (USA). Aber texte, mit denen man sich gar nicht so überall! fremde Wunschprojektionen durchein- 2020 kompakter als beim letzten Mal: weil die Kontaktbeschränkungen eine gern identifizieren mag: zu den „Tanz- Was für eine verrückte Idee! Einen Wal ander zu wirbeln und den Blick auf Waren es vor zwei Jahren fünf Wochen, Anreise der meisten Beteiligten nach wut“-Exzessen als Reaktion auf Pande- 13 internationale suchen. Zwischen Frankfurt und Offen- Wahrscheinlichkeiten zu verschieben“, so ballt sich das Programm diesmal an ­Europa noch unmöglich machen, werden mien im Mittelalter, zu den verschwö- choreografische Positio- bach. In organisierten Führungen in so Zaun. Haben die beiden denn selbst drei langen Wochenenden. Neben den Zuschauerinnen und Zuschauer die ab- rungstheoretisch motivierten „Hygiene- Kleingruppen. „Dass auf diese Weise ein schon einen Wal gesehen? „Ich ja“, meint zaungästen sind 8 weitere künstlerische wesenden Künstlerinnen und Künstler Demos“ als Reaktion auf die Corona-­ nen zur Kollektivität Wal gefunden werden kann, das ist na- Schneider, „bei einer in Südafrika an­ Positionen eingeladen, von Philip Albus durch ihre Performance vertreten. „All die- Restriktionen. in der Krise türlich unwahrscheinlich. Aber darum gebotenen Tour. Zu dem Zeitpunkt war und Ana Berkenhoff, 431art (Haike jenigen unter Ihnen, für die noch keine geht’s ja“, meinen Susanne Zaun und ich allerdings schon so seekrank, dass Rausch und Torsten Grosch), Scripted- Normalität herrscht, drehen sich bitte in Stattfinden wird das von der Tanz- 1. & 2. 9., 19 Uhr: Marion Schneider. Ihr Projekt, das sie ich froh war, als das Boot endlich wie- Reality, Ülkü Süngün, dem Kollektiv Richtung Maputo, Mosambik“, heißt es plattform Rhein-Main initiierte Projekt Metzlerpark Frankfurt „Trip of a Lifetime“ nennen, rührt weni- der umkehrte und wir an Land gehen ­PARA, Hannah Schassner & Mirrianne an einer Stelle. Wenn sich jetzt eine Grup- als Koproduktion des Mousonturms und 4. 9., 19.30 Uhr: ger vom Bedürfnis, auf Umwelt- oder konnten.“ Zaun sagt, sie wisse, dass Hahn sowie von Frida Laux. Janina Cas- pe Menschen nach Südosten wendet, des Hessischen Staatsballetts mit dem Stadtraum Darmstadt ­Politikprobleme hinzuweisen, als vom sie zur Seekrankheit neige, und habe tellano eröffnete das Festival mit „Yoga dann wird eine Gemeinschaft geschaffen Zürcher Theater Spektakel, dem Ber­ Wunsch danach, ein diffuses Sehn- ­daher touristische Whale-Watching-An­ Church of Evil“. Sie alle lassen auf zwischen Leuten, für die der Pandemie- liner „Tanz im August“-Festival und 5. 9., 17.30 Uhr: suchtsgefühl beim Publikum auszu­ gebote immer gemieden, auch wenn sie ­eigenwillige Weise den Stadtraum mit zustand nicht normal ist. Und zugleich dem Theaterfestival Basel im öffent­ Am Warmen Damm, Wiesbaden lösen. Wie ließe sich das vorstellen, ein im Urlaub am Meer immer neugierig seinen Grünflächen, Baustellen und entsteht eine Verbindung zur Künstlerin lichen Raum, laut Aussage der Künstler 26. 9., 23 Uhr: hr2-kultur so großes, so erhabenes Tier zu sehen, gewesen­ sei. Zwischenräumen zur Bühne werden. Edna Jaime in Maputo. so zentral wie möglich – im Frankfur- und das quasi vor der eigenen Haustür? Besonders eine Formulierung erreg- „Derzeit scheint es mehr denn je ge- Zaun und Schneider, die mit dem te ihre Aufmerksamkeit: „Da stand ‚Wha- fordert, sich über ein Zusammensein im Label „zaungäste“ zeichnen, haben ei- le Searching‘ statt ‚Whale Watching‘, und öffentlichen Raum Gedanken zu ma- gentlich eine höchst erfolgreiche Hand- das fand ich richtig gut. Ich dachte mir: chen“, meint Sophie Osburg dazu. Neue ID_Frankfurt e. V. „Terminal X“ – der Wald wird schrift entwickelt: Ihre Shows „Mit den So eine Walsuche könnte man vom Prin- Perspektiven solle das Publikum ein- Beinen im Bauch“ (2014) und „Dieser zip her ja dann eigentlich überall veran- nehmen: auf Frankfurt; auf Kunst in IMPLANTIEREN mit Musik besetzt Witz trägt einen Bart“ (2016) bauen stalten.“ Und so haben Zaun und Schnei- Zeiten der Krise; auf die Vorschläge der 2020 ganz auf die Stimmgewalt, Frechheit der mit ihrem Team diese Idee in den Künstlerinnen und Künstler, Theater und Präzision eines sprechenden Frau- Frankfurter Stadtraum übertragen – und Stadtgesellschaft zusammenzuden- 20. 8. – 6. 9. 2020; enchors. Das Politische und das Poeti- oder eben umgetopft, wenn man so will. ken. Die Arbeiten kommentieren sich Frankfurt, Darmstadt, Offenbach sche gehen Hand in Hand in diesen Hierher verpflanzt. Implantiert. dabei gegenseitig, inhaltlich wie formal. 20. – 21. 8., Abenden, und wenn sich der Chor in „Es Eleonora Herder sagt: „Bei ‚Implantie- Eschersheimer Anlage (Frankfurt) ist doch eine schöne Sache, über Kanz- „Implantieren“, das ist das Festival, ren‘ ging es immer auch um performa- Yoga Church of Evil lerkandidaten zu reden und dabei in dessen Rahmen der „Trip of a Lifetime“ tive Strategien der Raumaneignung.“ Recovering Beauty ­Blutwurst zu essen“ (2018) etwa als von von zaungäste uraufgeführt wird. Seit 20. – 22. 8., saasfee* Pavillon Helmut Kohl besessen erweist und ein 2013 wird es vom Verein ID_Frankfurt „Implantieren“ hilft nicht nur der ScriptedReality Kohl-Zitat nach dem anderen raushau- ausgerichtet, der sich als Interessenver- freien Szene Frankfurts darin, sich in DIE STADT en muss, wird dem Publikum einiges tretung von in Frankfurt und Umgebung der Stadt anzusiedeln, als gewachsenes MIT DER ZUNGE BETRETEN zugemutet. arbeitenden Tanz- und Performance- Festival mutiert es selbst immer noch. 20. – 23. 8. // 28. – 30. 8. // 4. – 6. 9., schaffenden versteht. „Implantieren“ hat So findet die aktuelle Ausgabe auch in Festivalzentren Aber es sind Zumutungen mit Witz den Anspruch, Theater in ungewöhnli- Darmstadt und Offenbach statt. Zum Philip Albus & Ana Berkenhoff und Verve. Denn Zaun und Schneider cher Weise an unterschiedliche Orte der ersten Mal wird dabei in jeder der drei SPACE MACHINE No. 1 überprüfen die eigenen künstlerischen Stadt zu bringen und so die Arbeit der Städte ein Festivalzentrum implantiert. Methoden immer wieder. Zuletzt haben freien Szene hier in ihrer Vielfalt sicht- Zum ersten Mal ist auch das Künstler- 21. – 23. 8., sie ein Stück gemacht, das den von ih- bar zu machen. Dabei wird jede Ausga- haus Mousonturm als Partner mit im Günderrodeschule (Frankfurt) nen in jahrelanger Arbeit aufgebauten be von einem neuen Team entwickelt und Boot: es koproduziert nicht nur den „Trip Hannah Schassner & Mirrianne Mahn Frauenchor in einen Abend voller Solos in vielen Belangen auch von Grund auf of a Lifetime“ der zaungäste, sondern moved. BEWEGT. déplacé. zerfallen ließ („Diesmal machen wir ­alle neu gedacht. „featured“ auch das gesamte Implantie- (K)ein Spaziergang in Schwarzweiß alles allein“, 2019). „Das Chorische war ren-Programm. „In dieser Krisenzeit für uns trotzdem noch da“, sagen die Die Festivalkoordination liegt für war es für uns interessant, vorhandene 22. – 23. 8., beiden. „Wir haben mal geschaut, ob diese Ausgabe wieder in den Händen ei- Ressourcen zu bündeln und so die Historisches Museum Frankfurt man das Konzept des Chors nicht ein- nes Frauenteams: Sophie Osburg, Paola ­Arbeit der freien Szene noch stärker Ülkü Süngün fach auch ausdehnen kann.“ Wechs und Ines Wuttke. Bei Konzepti- sichtbar machen zu können“, sagt ­Sophie Takdir. Die Anerkennung on und Kuration wirkten außerdem Ele- Osburg. 21. – 23. 8. // 28. – 30. 8., Jetzt geht es also zum Osthafen­ onora Herder und Alessia Neumann mit. OSTHANG gelände, und dort in zwei Gruppen auf Fast alle Festival-Produktionen sind Ebenfalls zum ersten Mal wurden 431art–Haike Rausch Walsuche, angeleitet von den Performe- ­Uraufführungen. Osburg, Wechs und zwei Residenzen für Künstlerinnen und & Torsten Grosch Außerparlamentarischer Widerstand und zivilgesellschaftlicher Protest – ein Musiktheater zwischen rinnen Judith Altmeyer, Asja Mahgoub Wuttke sorgen nicht nur für gute Künstler vergeben, und interessanter- Botanical Powwow – musikalischer Performance, Hörspiel und Audio-Walk im Wald. Foto: Julia Mihály / Maria Huber und Hanna Steinmair. „Wir wollen das ­Arbeitsbedingungen der eingeladenen weise führt diese Spur wieder zurück Micromuseum for the Future Künstlerinnen und Künstler, sondern zum Wasser: HELLA LUX untersuchen, 28. – 30. 8. // 4. – 6. 9., Klingen soll der Stadtwald und singen, gien von damals auch weiter tragen ins auch für ein spannendes Diskurspro- wie sich das Gelände am Osthafen ändert OSTHANG & Hbf OF wenn er sich verteidigt und verteidigt Heute und Hier: im Streit um das neue gramm, das hiesige Vereine, politische und welche Auswirkungen das auf die Frida Laux wird … Mit dem zeitgenössischen Musik- Terminal 3 des Airports. Konzert, Hör- Gruppen und lokale Initiativen einbin- Arbeitswelten dort hat. Und Marialena Paradance theater-Projekt „Terminal X – Building spiel und Spaziergang sind vermischt in det. Außerdem wurde für die aktuelle Marouda öffnet für Interessierte ihre­ 3. – 6. 9. // 10. – 13. 9., our Future“ erinnern Komponistin Julia dieser Wald-Besetzung – und werden Ausgabe ein neuartiges Vermittlungs- Sammlung von Erzählungen zum Ver- Osthafen Mihály und Regisseurin Maria Huber­ zum Ereignis dort, wo „mein Freund, konzept mitgedacht, das die Inszenie- hältnis von Mensch und Wasser, die sie zaungäste nicht nur an die „Startbahn-West“-Pro- der Baum“ gefährdet ist wie ­nirgends rungen auch Kindern und Jugendlichen im Rahmen des Projekts „Oceanographic Trip of a Lifetime teste vor 45 Jahren, sie wollen die Ener- sonst. näherbringen will. Und: „Implantieren“ Institute“ zusammengetragen hat. 4. – 6. 9., Tanusanlage hat sich in den vergangenen Jahren PARA Julia Mihály & Maria Huber überregional mit anderen, ähnlichen „Ach ja, ich kann schon noch einen SPECULATIVE RUINS Festivals vernetzt und ausgetauscht. Tipp geben für alle, die sich jetzt viel- RUINS OF SPECULATION Terminal X – Building our Future ­Dabei geht es auch darum, aus der frei- leicht auf eigene Faust auf Walsuche be- Info, Tickets Auf der Suche nach dem Blauwal – ein ver- en Szene Frankfurts heraus die Festi­ geben wollen“, meint Susanne Zaun. 21. – 23. August Frankfurter Stadtwald und Diskursprogramm unter gnügtes Spiel mit Wahrscheinlichkeiten. valarbeit im Tanz und Performance-­ „Dort, wo Wasser ist, ist die Wahrschein- www.implantieren-festival.de Bus-Transfer ab und Rückkehr zum Mousonturm Foto-Montage: Mamoru Iriguchi Bereich zu erforschen. lichkeit höher, einen zu finden.“ ANZEIGEN-SONDERVERÖFFENTLICHUNG KÜNSTLERHAUS MOUSONTURM SAMSTAG, 22. AUGUST 2020 SEITE 7 – PALMENGARTEN & DIGITALER MOUSONTURM – TICKETS: MOUSONTURM.DE Zu zweit auf einer Bank im Grünen Die Sommerkonzertreihe „Summer in the City“ musste der Mousonturm wegen Corona zwar absagen, doch ein kleineres Sommer-Sonderfestival im Palmengarten Ende August präsentiert mit Dota und Mine sogar zwei der Künstlerinnen aus dem ursprünglichen Programm.

­Bearbeitung aller drei Sätze seiner „Mondschein­sonate“. Während Maja ­Bader eines der bekanntesten Kunst­ lieder der Romantik interpretieren wird: „Der Tod und das Mädchen“ von Franz Schubert. Abends, in einem zweiten Konzert, treffen dann The OhOhOhs (das sind Florian Wäldele an Piano und Schlagwerk sowie Florian­ Dreßler mit Schlagzeug, Percussion und Sampler) auf Musiker des „Temporären elektro­ nischen Salons“ und schlagen mit beat-­ getriebenen Improvisationen auf elekt- ronischen Rohrblattinstrumenten von Oliver Leicht (hr-Bigband) und elektro- organischen Dubtrommeln von Oli ­Rubow (DePhazz, Hattler, A Coral Room) ein neues Kapitel der Bandgeschichte auf: Clubmusik wird, mit Flügel und sat- ten Grooves, konzertant.

Dota, so heißt auch die Band der Berliner Liedermacherin Dota (Doro- thea) Kehr, die als Straßenmusikerin in Italien den Namen „Kleingeldprinzes- sin“ erhielt. Zurück in Berlin startete sie erfolgreich ein Plattenlabel. Die Musik ernährt und Gagen werden anständig geteilt. In klugen Texten benennt sie, Mine eröffnet das Fest – im Trend mit Pop und deutschem Text. Foto: Simon Hegenberg was nicht stimmt in der Welt, unpräten- tiös, lebensfroh und verschmitzt, doch In den Palmengarten kommen sie mit Es klappt also doch noch mit dem schonungslos, wenn es das Thema er- brandneuem Programm, das sie, mit Sommer in der Stadt: im Grünen, mit fordert und dabei entspannt begleitet und ohne Maske, samt virusresisten- toller Musik, mit Shows, Sprachwitz, von ihrer Band, die Chansons und Tanz- ten Pointen ins Publikum katapul­ ­frischer Luft und einer Zweierbank in beats zu balancieren weiß. Dotas Lieder tieren. lauer Luft. finden sich regelmäßig auf der „Lieder- bestenliste“, der Hitparade deutschspra- Warum das Klavier in Flammen steht? Weil Pianist Florian Wäldele und Schlagzeuger Florian Dreßler so unerhört viele Sounds und Stile durch chiger Musik. Im Palmengarten tritt sie die Instrumente jagen – diesmal mit Gästen wie Maja Bader und Leonhard Dering, Oliver Leicht und Oli Rubow. Foto: Niko Neuwirth am Sonntagmittag und -nachmittag in Musikpavillon im Palmengarten seltener Trio-Formation auf. 28. – 30. 8. 2020 VON GABRIELE MÜLLER präsentiert der Mousonturm neben in den Äther und performt nonchalant 28. 8., 20 Uhr: ­Mine und Dota zudem The OhOhOhs zu starken Klaviermelodien, minimalis- Der Festivalabschluss gehört am Mine Die Corona-Pandemie hat der Musik die und die TITANIC BoyGroup. tischen Gitarrenriffs und treibenden Sonntagabend der TITANIC BoyGroup, Basis entzogen. Aber der Mousonturm Drums. Das alles hört sich frisch an, den drei ehemaligen Chefredakteuren 29. 8., 16 Uhr: The OhOhOhs treffen Beethoven, gibt nicht auf. Auch wenn es vor der Die ausgebildete Jazzsängerin, fällt auf, als gute Popmusik mit ­einem MdEP Martin Sonneborn (Grimme- Leonhard Dering und Maja Bader Konzertmuschel dieses Jahr nur unter Songwriterin, Pianistin und Produzen- Schuss Deutsch-Rap und frecher Kante. Preis), Thomas Gsella (Robert-Gern- strengen Auflagen möglich ist, Konzer- tin Mine, die das kleine Festival am hardt-Preis) und Oliver Maria Schmitt 29. 8., 20 Uhr: te zu hören: nur im Sitzen auf Doppel- Freitagabend (28. 8.) eröffnet, kennt das The OhOhOhs sorgen am Samstag- (Henri-Nannen-Preis), die mit Auftrit- The OhOhOhs treffen Oliver Leicht & Oli Rubow bänken und nur in deutlich kleinerer Musikmachen aus verschiedensten Per- nachmittag (29. 8.) für Kontraste und ten von Zürich bis Berlin selbst Ver- (aka der Temporäre elektronische Salon) Publikumsstärke als sonst. Gebucht­ spektiven und beweist, dass deutsche werden mit Leonhard Dering, preisge- härmtesten ein Lächeln entlocken. Ein 30. 8., 12 & 16 Uhr: werden können ausschließlich ­online Popmusik nicht langweilig ist. Schon ihr krönter Pianist und Kurator der Naxos legendärer Ruf eilt ihnen ja voraus: Ver- Dota auf mousonturm.de jeweils nummerierte­ Album „Klebstoff“ setzt mit Streichern, Hallenkonzerte, und der Schweizer klagt von Papst, Bundespräsident und 30. 8., 20 Uhr: Bänke für je zwei Personen, die Zweier- Synthesizer, Flöten, Orgeln und sogar ­Sopranistin Maja Bader ausgewählte FIFA eroberten sie dennoch Parlamen- TITANIC BoyGroup SonnebornGsellaSchmitt – bank kostet 49 Euro (für Mine­ 59 Euro). einem ­Dudelsack auf abwechslungsrei- Stücke aus dem Beethoven-Lieder-­ te, überlebten Terroranschläge, wurden Ohne Orchester! An drei Nachmittagen und Abenden che Arrangements. Lines wirft sie ­locker Zyklus spielen, erstmals auch ihre ausgebuht und noch mehr bejubelt.

Wie schräg klingt die Krise? Beim NODE-Festival: Musikalische Standortbestimmung: Mit „You Are Here!“ sendet der Frankfurter Komponist Nachdenken über Technologie Hannes Seidl „neue Klänge für ein zerstreutes Publikum“ quer durch den Palmengarten. In der sechsten Edition stellt das Frank- die Strukturen dieser „anderen Natur“ ziert wird er exklusiv im Pop-Up-Studio furter Medienkunstfestival „NODE des menschlichen Alltags neu zu den- im Haus Rosenbrunn. Durch die Fens- ­Forum for Digital Arts“ die ökologische ken – unter ökologischen Aspekten. Zu ter des Pavillons kann das Publikum Krise in den Mittelpunkt: unter dem sehen ist das Programm diesmal auch den Radiomacherinnen und Musikern ­Titel „Second Nature“. Vom 2. bis zum im Netz: per Livestream aus dem multi­ zuschauen oder sich – mit Abstand – 8. Oktober werden die Festival-Gäste im medial erweiterten­ Mousonturm. auf Picknickdecken in der Nähe nieder- Rahmen von Vorträgen, Diskussionen, lassen. Am liebsten hätten es die Ma- Performances und Workshops den Ge- NODE Forum for Digital Arts – cherinnen und Macher allerdings, dass brauch digitaler Technologien hinter­ Second Nature die Hör-Gemeinschaft mit ihren Anten- fragen und den Versuch unternehmen, 2. – 8. 10. nen durch den Garten flaniert: Während sie exotischen Pflanzen nachspürt, lauscht sie neuen Klängen.

Seidls Projekte sind Begegnungs­ Der ganze Shakespeare zonen für Mensch und Klang. Während Der Frankfurter Musiker und Komponist es beim Radiosender „Good Morning ­Hannes Seidl. Foto: Marc Behrens aus dem Gewürzregal Deutschland“ vor vier Jahren um die Selbstermächtigung geflüchteter Men- einander: Von der Stimm-Performerin Verspielter geht’s nicht – über neun genen Küchentisch: mit Pfefferstreuer schen ging, stand 2018 bei „Salims Elsa M’Bala über den Elektroniker ­Wochen hin kreiert Forced Entertain- und Salzfässchen, Kräutern und Soßen ­Salon“ die Begegnung unterschiedlicher ­David Helbich, die Koto-Spielerin ­Naoko ment, das englische Ensemble, an je vier im Dauer-Einsatz; zu sehen daheim und Musikerinnen und Musiker im Kontext Kikuchi, die Oud spielende Sängerin ­Tagen (Donnerstag bis Sonntag) den kollektiv gestreamt im Studio 1. postkolonialer Fragen im Zentrum. Mit- Kamilya Jubran bis zur stets maskier- kompletten dramatischen Shakespeare. telpunkt des „You Are Here“-Radiopro- ten Keyboarderin Liz Kosack und vie- Vor Jahren schon war das ein großer Forced Entertainment – Table Top gramms ist der Musiker Paul Hübner. len anderen. Die Gäste kommen aus der Mousonturm-Erfolg. Jedes der 36 Stücke Shakespeare: At Home Edition Als Blasmusiker trafen ihn die pan­ experimentellen und improvisierten wird jetzt wieder zur Solo-Fantasie, für 17. 9. – 15. 11. demisch-musikalischen Auflagen be- Musik oder vom Jazz, oder sie setzen die Internet-Kamera entwickelt am ei- im digitalen Mousonturm Das wäre Erholung pur auf der Liegewiese, ganz ohne Virus – das Radio wird’s retten. Jeder sonders hart – kein Ab- traditionelle Instru- und jede bekommt eins auf’s Ohr gedrückt in Hannes Seidls Projekt. Foto: Hannes Seidl stand zwischen dem mente avantgardis­ ­ experimentellen Trom- Hannes Seidl/ tisch ein. Die Heraus- VON THERESA BEYER ist die virtuelle Bühne. Die letzten Mo- peter und dem Rest Paul Hübner u.a. forderung: sie haben nate haben gezeigt, dass das Fluch und der Welt schien groß noch nie zuvor mitein- Die Corona-Pandemie hat der Musik das Segen zugleich ist. In „You Are Here!“ genug. You Are Here! ander gespielt. Livegefühl gestohlen. Vorsichtig erpro- setzt das Team um den Frankfurter 12., 13., 19. & 20. 9. 2020 ben Musikerinnen und Musiker nun ers- Komponisten Hannes Seidl am zweiten Um die erzwunge- Tagsüber geht es te Kontaktaufnahmen: Wie kann man und dritten September-Wochenende ne Distanz klanglich zu Palmengarten ab 13 Uhr um die von sich trotz Mindestabstand wieder musi- aber nicht auf das Internet, sondern auf überwinden, macht sich Corona gezeichnete kalisch verbinden? Wie begegnet man das Uralt-Medium Radio. Vor 100 Jah- Hannes Seidl auf die ­Suche nach einer Musiklandschaft, um die Lage etwa in einander nach einer Zeit des musikali- ren wurde in Deutschland das erste neuen Band für Paul Hübner – das jeden- der Türkei, den USA und in anderen schen Hausarrests? Wie entsteht ein Ge- Konzert übertragen und schon damals falls ist die fiktive Rahmenhandlung der Ländern, um kuriose Verbindungen meinschaftsgefühl, wenn die Publi- war klar: Ja, es ist möglich über die Radioshow, die abends ab 18h live vom zwischen Musik und seltener Botanik. kumsreihen ausgedünnt, die Zuhörerin- ­Distanz hinweg Nähe zu erzeugen. Haus Rosenbrunn in den Garten gesen- Am Abend (18 – 20 Uhr) wird das über nen und Zuhörer vereinzelt sind? Und: det wird. den Garten verstreute Publikum mit Was wollen wir hören? Welche Klänge Gleich hinter dem Eingang in den seinen UKW-Radios dann zum Groß- passen zu der Zeit, in der wir lernen Palmengarten in der Siesmayerstraße Doch weil sich ein Post-Corona-En- gruppenverstärker und stimmt nicht müssen, mit der Pandemie zu leben? bekommt das Publikum UKW-Radios semble auch musikalisch in neue Ge- nur ab, wer in Paul Hübners neue Band ausgehändigt. Zu hören ist der Sender filde wagen muss, treffen im Pop-Up- aufgenommen wird. Es beurteilt auch, Eine Möglichkeit, das coronabe- „Radio Palm Fiction“. Nur im Garten Radiostudio bereits den ganzen Nach- wie schräg er sein darf, der Sound zur So sieht ein komplettes Shakespeare-Ensemble aus – wenn Richard Lowdon vom englischen dingte Nähe-Distanz-Problem zu lösen, kann er empfangen werden und produ- mittag über musikalische Extreme auf- Krise. Kollektiv Forced Entertainment mit ihm spielt. Foto: Hugo Glendinning SAMSTAG, 22. AUGUST 2020 KÜNSTLERHAUS MOUSONTURM ANZEIGEN-SONDERVERÖFFENTLICHUNG TICKETS: MOUSONTURM.DE – MUSEUM ANGEWANDTE KUNST & HÖLDERLINPFAD – SEITE 8 Schräge Bilder einer falschen Freundschaft Schwarze Körper sind nur in ganz bestimmter Form beliebt – vier Künstlerinnen und Künstler initiierten ein temporäres Museum für Schwarze Unterhaltungskultur in Deutschland. Es ist Archivprojekt, Ausstellung und Performance zugleich und öffnet Ende August erstmals seine Tore in Frankfurt.

VON MAHRET IFEOMA KUPKA ligkeit ohne konkreten Ort. Boney M. einige der Akteurinnen und Akteure, als Identifikationsfigur am nächsten. hätten auch von der Venus stammen deren Bezüge sich nun problemlos her- Ein Schwarzer deutscher Jurist, Arzt Als meine Mutter Ende der 1970er Jah- können – wie einer ihrer Albumtitel ausarbeiten lassen. Die Choreografin Jo- oder Apotheker, ganz selbstverständlich re in studierte, jobbte sie in „Nightflight to Venus“ suggerierte. ana Tischkau und die Theaterregisseu- in den deutschen Medien? Bis heute ei- einer Disco. Wenn Boney M. in der Han- rin Anta Helena Recke gründeten ge- ne Seltenheit, die kaum ohne umfassen- sestadt zu tun hatten, kamen sie nach Die Realität war ein bisschen weni- meinsam mit Frieder Blume, Lisa de Erklärung auskommt, ganz egal ob getaner Arbeit in diese Disco zum Ent- ger spektakulär. Boney M. entstand als Gehring und Elisabeth Hampe in Kopro- dargestellt oder in echt. Unhinterfragt spannen. Die Musik von Boney M. ge- Casting-Band, zusammengestellt vom duktion mit dem Mousonturm das bis heute: Die populärmediale Repräsen- hörte zu meiner Kindheit. Ich war stolz deutschen Musikprodu- „Deutsche Museum für tation für Schwarze Deutsche im Kontext auf die signierten Schallplatten meiner zenten Frank Farian. Schwarze Unterhal- von Musik, Unterhaltung oder Sport. Mutter, ich wusste aber nicht, dass Idee Er war für eine Reihe Frieder Blume/ tung und Black Music“ und Produktion der Band unweit mei- ähnlicher Projekte ver- Elisabeth Hampe/ (kurz: DMSUBM), eine Deutschland liebt den Schwarzen nes Heimatortes in Offenbach am Main antwortlich, darunter Kombination aus Ar- Körper, allerdings nur in einer ganz be- entstanden. Boney M., ursprünglich be- Milli Vanilli oder La Anta Helena Recke/ chivprojekt, Ausstel- stimmten Form. Nicht widerständig mit stehend aus Liz Michell und Marcia Bar- Bouche. Ihnen allen Joana Tischkau lung und Performance, erhobener Faust oder als mitgestaltender rett aus Jamaica, Maizie Williams aus war gemeinsam, dass die erstmals in der Teil der Gesellschaft, sondern am besten Montserrat und Bobby Farrell aus Aru- sie aus zusammenge- Deutsches Nebeneinanderstellung als lustigen Garanten dafür, dass alles in ba, verkörperten für mich eine aufre- suchten Schwarzen Per- Museum für dokumentarischen Ma- Ordnung ist, dass es keinen Rassismus gende Melange aus exotischer Ferne, sonen bestanden, denen Schwarze terials wie Schallplat- in Deutschland gibt. Das dieses schiefe Abenteuer und Wohnzimmerheime- der weiße Farian (bür- ten, CDs, (Auto-)Biogra- Repräsentationsverhältnis allerdings gerlich: Franz Reuther Unterhaltung fien, Zeitungsartikeln, symptomatisch ist für die in Deutschland aus Kirn in der Pfalz) und Black Music Plakaten, Interviews, herrschenden rassistischen Strukturen, mit seiner Musik Pop- Film- und Fernseh- wird selten thematisiert. Fab Morvan und star-Leben einhauchte. 25. 8. – 3. 9. 2020 auszügen Schwarze Rob Pilatus, besser bekannt als Milli Va- Das tat er auf eine Wei- Museum Unterhaltungskultur in nilli, schwangen Ende der 1980er in en- se, wie es sich im Angewandte Kunst Deutschland in der gen Caprihosen ihre Hüften, „Girl you Deutschland der jewei- Breite sicht-, hör- und know it’s true“, und ich muss an Milli ligen Zeit am besten kritisch diskutierbar denken, die Muse von Ernst Ludwig verkaufen ließ: Poppig leicht, mit einem macht sowie mögliche Strategien und Kirchner, die er 1911 nackt im Gemälde Anta Helena Recke und Joana Tischkau, Frieder Blume und Elisabeth Hampe – sie erfi nden Hauch Politik, ein bisschen Leidenschaft subversives Potential herausarbeiten „Schlafende Milli“ verewigte, das heute ein Museum, um die Geschichten Schwarzer Künstlerinnen und Künstler in Deutschland und einer Prise Erotik, die unerreichba- lässt. in der Kunsthalle Bremen hängt. Doch zu erzählen. Foto: DMSUBM re Orte imaginierte und exotische Sehn- welche Milli zeigt es? Damals hießen vie- süchte befriedigen sollte. Eine Erfolgs- Als ich Teenagerin war, gab es auf le Schwarze „Musen“ Milli – die namen- Recke. Das DMSUBM ist auch eine Form kiert einen Zwischenraum und ist zu- Checkliste, die möglicherweise später ProSieben Arabella Kiesbauers gleich- und identitätslosen, austauschbaren der Re-Aneignung und wirft die Frage gleich Angebot, als Teil deutscher Kul- auch die Grundlage für den Erfolg der namige Talkshow mit täglich wechseln- Schwarzen Frauen, die in Deutschland auf, wie Schwarze deutsche Kunst- und turgeschichte anerkannt zu werden, Schwarzen deutschen Casting-Girl-Band den Themen und Studiogästen. „Die ist lebten, von denen heute niemand ge- Kulturproduktion heute aussieht und denn aus der offiziellen Narration wird Tic Tac Toe bildete, deren Sängerinnen so wie du“, sagte meine Mutter und wusst haben will. aussehen kann, jenseits weißer Identi- diese Geschichte bislang noch konse- mit einer leicht ruppigen „Angry Black meinte damit die Tatsache, dass Frau tätskonstruktionen. quent ausgeschlossen. Woman“-Haltung ein weiteres weißes, Kiesbauer Kind eines Schwarzen und ei- Es spielt eine Rolle, dass das gern konsumiertes Vorstellungsmuster nes weißen Elternteils ist. Heute finde DMSUBM auch von zwei Schwarzen Dazu wanzt sich ihr Museum be- Das DMSUBM wird ein tragikomi- verkörperten. ich es rührend, wie meine Mutter nach deutschen Frauen initiiert wird. Denn wusst an eine bestehende Museums- scher Spaß werden, mit alten Freundin- Wer kennt noch Billy Mo und den „Tirolerhut“, Identifikationsfiguren suchte. Auch ihr Tischkau und Recke stehen mit ihren struktur an. Nicht durch den Hauptein- nen und Freunden, liebgewonnenen wer Ramona und wer Boney M. – sie alle Es gibt unzählige weitere Produkte war aufgefallen, dass es nicht viele Men- Arbeiten, ob sie wollen oder nicht, in ei- gang des Frankfurter Museum Ange- Peinlichkeiten und historischen Neu- wurden zu Ikonen deutscher Pop-Geschichte, in Funk und Fernsehen des Nachkriegs- schen in den deutschen Medien gab, die ner Kontinuität Schwarzer deutscher wandte Kunst gelangt man in das entdeckungen, wie beispielsweise die weil weiße Produzentinnen und Produzenten deutschland und der DDR, die auf ähn- so aussahen wie ihre Kinder und die sie Unterhaltungskultur. „All diese media- DMSUBM, sondern durch einen eige- Boney M. Pizza aus Offenbach, garniert das Publikum mit exotischen Bildern fütter- lichen Erfolgsmustern basierten und sich als Vorbilder vorstellen konnte. Ei- len Repräsentationen zusammengenom- nen Zugang. Es besteht als eigener mit vier schwarzen Oliven. Ob es die ab ten: auf Autogrammkarten wie diesen. Was dies zum Teil bis heute tun: Roberto ne Talkshow-Moderatorin schien ihr für men sind der Blueprint von dem, was Organismus mit separatem Programm 25. August als nostalgisches Remake in wirklich hinter den Karrieren steckt, erzählt Blanco, Ramona, Susan Baker, Billy Mo, ihre Tochter, für die sie sich eine Karri- das kollektive deutsche Bewusstsein auf an das Haupthaus angedockt, ohne Frankfurt wieder geben wird? Es bleibt das DMSUBM. Foto: Justus Gelberg Snap!, Daisy Dee oder Bro’Sis sind nur ere im Journalismus vorstellen konnte, eine Schwarze Person projiziert“, sagt wirklich Teil davon zu sein. Es mar- spannend.

bei dem er die Wegstrecken des Dich- Autorinnen und Autoren schreiben aus In diesem Sinne wird nun der ters minutiös rekonstruierte und ablief, der Ferne Texte für den Hölderlinpfad: Hölderlinpfad zur neuen Bühne für sein Der Nabel dieser Erde dass Hölderlin die poetische Kraft und so Keijiro Suga (Tokio), Nuno Ramos Erfahrungs-Stadt-Theater. Wie für Höl- Bildgewalt seiner Gedichte und Gesän- (São Paulo), Lina Majdalanie (Beirut / derlin die Wanderung an sich schon ein Zum 250. Geburtstag des größten deutschen Dichters schickt uns der japanische Künstler ge auch jenen Landschaften direkt ent- Berlin), Kelly Copper vom Nature Thea- anderer, schöpferischer Akt und Ort Akira Takayama auf den Hölderlinpfad zwischen Frankfurt und Bad Homburg, um litera- nahm, die er durchwanderte. ter of Oklahoma (New York) und Maria war, eben eine Heterotopie, so soll mit Stefanopoulou (Athen). der digitalen Heterotopia-App nun das risch ein heutiges „Heterotopia“ zu entdecken – per Smartphone App. Dafür haben 14 zeit- Mit „Hölderlin Heterotopia“ ver- Spazieren, Laufen, (Rad-)Wandern genössische Autorinnen und Autoren eigens Texte geschrieben. Navid Kermani, Helene sucht nun der japanische Regisseur Der Theatermacher Akira Takayama, durch die Landschaft selbst einen „an- Akira Takayama in einem äußerst un- assoziierter Künstler des Mousonturms deren Ort“ mit eigenen Gesetzmäßigkei- Hegemann, Alexander Kluge und Elfriede Jelinek sind etwa mit von der Stadt-Land-Partie. gewöhnlichen, vom Mousonturm produ- seit 2014, versucht das Theater und sei- ten erzeugen. Das (versteckte) Theater zierten und vom Kultur- ne Mitwirkenden auf ra- funktioniert dabei als Infrastruktur VON TATSUKI HAYASHI UND MATTHIAS PEES „Exil“ in Homburg vor der Höhe nach initiierte Julia Cloot vom in Bad Hom- fonds finanzierten Pro- dikale Weise in der Stadt einer neuen Erfahrung, um in „naher Frankfurt zurück, um seine Geliebte burg ansässigen Kulturfonds Frankfurt jekt, Friedrich Hölderlin Akira Takayama (in der „Landschaft“ von Ferne“ nach Umwegen zu suchen, eine Zwischen zahlreichen Autobahnbrü- wiederzusehen, seine versgewordene RheinMain eine Reihe von Veranstal- mit Michel Foucault zu heute also) zu verorten – andere Realität, Heterochronie und cken, Brachen und Plattenbauten, einer „Diotima“: die Bankiersgattin Susette tungen, die dem Dichter aus Schwa- kreuzen, oder besser ge- Hölderlin auch um den Preis, dass Heterologik zu entdecken. Polizeikaserne, einer Indoor-Go-Kart- Gontard. Er hatte deren Kinder als Haus- ben – für den Frankfurt, wohl auch aus sagt: den halbfiktiven Heterotopia die Resultate seiner Bahn und dem vergleichsweise idylli- lehrer unterrichtet, doch als 1798 sein den genannten emotionalen Gründen, Hölderlinpfad mit Fou- ab 19. 9. 2020 Arbeit oft kaum mehr als „Vom Abgrund nemlich haben / schen, aktuell allerdings hart umkämpf- intimes Verhältnis zur Hausherrin ruch- als „der Nabel dieser Erde“ galt – nicht caults Konzept der „Hete- Theater zu erkennen Wir angefangen und Gegangen / ten alten Flugplatz in Bonames mit sei- bar wurde und der Bankier ihn vor die nur gedenken, sondern ihn auch weiter- rotopien“ zu einem „ande- Hölderlin-Pfad sind. Mit „WAGNER Dem Leuen gleich, / Der luget / nen Flüchtlingsunterkünften schlängelt Tür setzte, nahm er Zuflucht in der denken wollen. Als Wanderer war Höl- ren“ Ort zu verwandeln, PROJECT – Die Meister- In dem Brand der Wüste / … sich aus Bad Homburgs Osten durch die Nachbarstadt bei seinem Freund, dem derlin nicht nur zwischen Bad Homburg an dem ganz eigene Re- singer von Nürnberg“ Bald aber wird, wie ein Hund, unromantische Landschaft in Frank- landgrafschaftlichen Geheimrat Isaac und Frankfurt, sondern auch bis nach geln des Zusammenlebens außerhalb übersetzte er vergangenen Dezember umgehn / In der Hizze meine furts Norden bis hinein ins Herz der von Sinclair. Jena, in die Schweiz und quer durch der allgemeinen Gesellschaftsordnung Richard Wagners Opernklassiker zu- Stimme auf den Gassen der Gar- Stadt der 22 Kilometer lange Hölderlin- Frankreich zu Fuß unterwegs. Der Her- gelten. Das Publikum – oder besser: die sammen mit 60 Hip-Hop-Künstlerinnen ten / In den wohnen Menschen / pfad. Über den schlich sich der gleich- Friedrich Hölderlin wird dieses Jahr ausgeber der Frankfurter Hölderlin- Teilnehmenden – des Projekts werden und -Künstlern in eine „School of Hip- In Frankreich. Indessen aber an namige Dichter vor 220 Jahren angeb- 250, ebenso wie sein Kommilitone He- Ausgabe, D. E. Sattler, zeigte u. a. mit Hil- mit Hilfe einer Smartphone-App, die ab Hop“. Die „McDonald’s Radio University“ meinem Schatten / Richt’ ich lich des Öfteren heimlich aus seinem gel und Beethoven. Aus diesem Anlass fe eines „geodätischen“ Selbstversuchs, 19. September von mousonturm.de her- verwandelte 2017 sieben Frankfurter Fi- und Spiegel die Zinne / Meinem untergeladen werden kann, an verschie- lialen der Fast-Food-Kette über drei Wo- Fürsten / Die Hüfte unter dem denste konkrete Stationen auf dem chen in Orte des Lernens, an denen Ge- Stern und kehr’ in Hahnenschrei / Hölderlin-Pfad geführt, an denen sich flüchtete Vorlesungen über ihre persön- Den Augenblik des Triumphs. / Audiobeiträge auf ihrem Telefon frei- lichen Erlebnisse und Fachkenntnisse Frankfurt aber, neues zu sagen schalten: Texte, Erzählungen und Frag- hielten. In Tokio entwickelt er mit dem nach der Gestalt, die / Abdruk mente zu Hölderlin heute, die von 14 in- japanischen McDonald’s eine App für ist der Natur, / Des Menschen ternationalen Autorinnen und Autoren das Projekt. Sein „Heterotopia Project“, nemlich, ist der Nabel / Dieser für diesen Anlass verfasst und verortet dessen Ableger nun „Hölderlin Hetero- Erde …“ (Friedrich Hölderlin, aus: wurden. topia“ ist, wurde 2013 für die Stadt To- „Die apriorität des Individuellen / kio konzipiert; weitere Versionen ent- über das Ganze“, 1802) HÖLDERLIN HETEROTOPIA Neben der Literaturnobelpreisträ- standen in Taipeh, Abu Dhabi, Beirut, APP-GESTÜTZTER AUDIOWALK VON AKIRA TAKAYAMA MIT gerin Elfriede Jelinek, die sich in ihren Athen / Piräus und Riga. ERZÄHLUNGEN INTERNATIONALER AUTOR*INNEN ZU STATIONEN Arbeiten schon öfter (etwa in „Wolken. AUF DEM HÖLDERLIN-PFAD ZWISCHEN FRANKFURT UND Heim.“) auf Hölderlin bezog und sich für „Das Theater zu verstecken“: so be- BAD HOMBURG Diese Publikation wird das Projekt den „Patmos“-Gesang vor- schrieb der Theaterwissenschaftler gefördert im Rahmen ERÖFFNUNGSWANDERUNG ZUR HÖLDERLIN-FESTWOCHE genommen hat, beteiligen sich die Hans-Thies Lehmann einmal die zent- des Bündnisses 19. SEPTEMBER 2020, 15.00 UHR Schriftsteller Marcel Beyer und Navid rale Strategie Takayamas. Der antwor- internationaler Produktionshäuser von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. FRANKFURTER GOETHE-HAUS/FREIES DEUTSCHES HOCHSTIFT Kermani, dessen Frankfurter Poetik- tete auf die Frage der Fachzeitschrift Vorlesungen sich ebenso intensiv mit „Theater heute“, ob die Zukunft des The- IMPRESSUM | Anzeigensonderveröffentlichung der dem Dichter befassten wie sein Roman aters in einer App liegen könnte: „Es RheinMainMedia GmbH vom 22. August 2020 in Koope- „Dein Name“. Auch Jan Philipp Reemts- könnte sein, dass man dies nicht mehr ration mit der Künstlerhaus Mousonturm Frankfurt am ma, der Gründer des Hamburger Insti- als Theater erkennt. Eine App ist nur ei- Main GmbH, Waldschmidtstraße 4, 60316 Frankfurt am Main. Veröffentlicht in der Frankfurter Allgemeinen tuts für Sozialforschung, schreibt einen ne Form, sie ist nicht so wichtig. Es geht Zeitung, Regionalteil Rhein-Main | RheinMainMedia Beitrag, und Alexander Kluge steuert mir nicht ums Theater, sondern um die GmbH (RMM), Frankenallee 71 – 81, 60327 Frankfurt am ein eigenes Hörstück bei. Helene Hege- Funktion des Theaters. Die Funktion des Main (zugleich ladungsfähige Anschrift für die im mann („Axolotl Roadkill“) befragt die Theaters wird zur Funktion der Stadt. Impressum genannten Verantwortlichen und Vertre- tungsberechtigten) | Geschäftsführer: Achim P üger | Der Kulturfonds fördert HÖLDERLIN HETEROTOPIA im Rahmen seiner Liebesbriefe, die Susette Gontard und Theater als Kunstwerk wird möglicher- Projektleitung: Michael Nungässer, RMM | Verantwort- Veranstaltungen im Hölderlin-Jahr 2020. Alle Veranstaltungen und Informationen Friedrich Hölderlin austauschten, und weise verschwinden.“ Und was ist die lich für den redaktionellen Inhalt: Künstlerhaus Mouson- unter kulturfonds-frm.de/hoelderlin2020 auch Deniz Utlu („Die Ungehaltenen“, Funktion des Theaters? „Zum Beispiel turm, Redaktion: Michael Laages | Produktion: Bernd „Gegen Morgen“) ist dabei, dessen in einer Stadt etwas zusammen zu Buchterkirch, RMM | Layout: Dieter Lauer, RMM | Beitrag in der Ullstein-Anthologie erfahren oder einen Ort zu schaffen, an Druck: Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH, Kur- Getragen wird der gemeinnützige Fonds vom Land Hessen, von Frankfurt am Main, dem Hochtaunuskreis und dem Main-Taunus-Kreis, Darmstadt, Wiesbaden, Hanau, Bad Vilbel, hessenstraße 4 – 6, 64546 Mörfelden-Walldorf. Offenbach am Main und Oestrich-Winkel. Weitere herausragende Kunst- und Kulturprojekte finden Sie unter www.kulturfonds-frm.de / Facebook / Instagram / Newsletter „Eure Heimat ist unser Albtraum“ dem man zusammen oder individuell Weitere Detailangaben siehe Impressum der oben Furore machte. Auch fremdsprachige etwas lernen kann.“ aufgeführten Veröffentlichung.