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Ein Rückblick Der Fall Filbinger auf die Kampagne und die historischen Fakten Günther Gillessen

Der 90. Geburtstag von Hans Filbinger, eine Akte in die Registratur abgegeben dem ehemaligen Ministerpräsidenten von werden könnte, und auch das andere, -Württemberg, im Herbst 2003 war dass man im Besitz eines „Sinnbildes“ gar in journalistischen Würdigungen aber- nicht näher zu wissen braucht, wie es mals Anlass, vor allem auf seine Tätigkeit denn nach dem berühmten Rancke-Wort als Militärrichter im Krieg und auf die Um- „eigentlich gewesen war“. Filbingers stände seines Sturzes im Jahre 1978 auf- Schuld gilt als gegeben – und diese Schuld merksam zu machen. Seit damals sind sich vermehrt der Angeklagte durch seine Un- Filbinger und seine Gegner gegenseitig ein bußfertigkeit und hartnäckige Weige- fortwährendes politisches Ärgernis. Der rung, das Schuldbekenntnis und die öf- Umgang mit der NS-Zeit, soweit er sich fentliche Reuebekundung abzuliefern, auf öffentlichen Foren abspielt, ist leider die seine Gegner von ihm verlangen. durch und durch politisiert und verengte Dabei lässt sich der Vorwurf, die Ver- sich zusehends auf das Täter-Opfer- gangenheit nicht „aufgearbeitet“ zu ha- Schema. Wer nicht Opfer war, muss Täter ben, mühelos gegen diejenigen wenden, gewesen sein. Alle dritten Verhaltenswei- die ihn erheben. Das publizistische Urteil sen in einem Dutzend Stufen zwischen ak- von 1978, das zu Filbingers Sturz führte, tivem Widerstand, beharrlicher Verwei- war die gemeinsame Fehlleistung eines gerung und mitläuferischer Schwäche Schriftstellers voller Zorn und Eifer und scheinen die Unterscheidung nicht zu loh- des Versagens des kritischen Unterschei- nen. Der mangelnde Unterscheidungs- dungsvermögens gerade in demjenigen wille ist wohl als radikaler Entlastungs- Teil des deutschen Journalismus, der sich mechanismus zu verstehen. Von dem nö- für besonders kritisch hielt. Das „Sinn- tigen Maß an Detail-Wissen und an Über- bild“ ist eine bis heute wirkungsvolle Er- blick, auch an Geduld und Mitleid, das ein findung. guter Historiker braucht, um eine andere Zeit zu verstehen, sind wir als Nation noch Zwei verschiedene Fälle weit entfernt. Was kann man ein Vierteljahrhundert Der politische Tageskampf hat sich im nach dem Sturz Filbingers zu seinem Fall Umgang mit den zwölf Hitler-Jahren sagen? Methodisch zunächst dies: dass es gleichsam eine zweite Bühne geschaffen. sich um zwei verschiedene Fälle handelt, Auf dieser ist Filbinger zum „Sinnbild ei- nämlich das tatsächliche Verhalten des ner nicht aufgearbeiteten Nazi-Vergan- Marinestabsrichters Filbinger im Kriege, genheit“ (so drückte sich eine Freiburger wie es sich aus den Akten und Zeugen- Kommunalpolitikerin aus) geworden – aussagen ergibt, und der Fall des Minis- eine Äußerung, in der gleich zwei Fehlur- terpräsidenten Filbinger in der politi- teile stecken: als ob die NS-Vergangenheit schen Kampagne des Sommers 1978. Dass jemals „aufgearbeitet“ und damit wie Filbinger die Wucht und auch die Wut der

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Günther Gillessen

Herausforderung von 1978 zunächst bewegung des 20. Juli gehörten. Zwei der unterschätzte, dass er sich in ersten Äu- 1945 ermordeten Verschwörer, beides ßerungen zu Einzelheiten seiner Erinne- Militärjuristen, nämlich der Chef des rung irrte, bis er mit den Akten konfron- Heeresgerichtswesens, , und tiert wurde, dass er sich taktisch falsch der Völkerrechtsreferent im Oberkom- verteidigte und dass die heimlich mando der Marine, Berthold Graf von mitmischte – das alles gehört zum zwei- Stauffenberg, ein Bruder des Attentäters ten Fall. Das Zweite sagt nichts über das vom 20. Juli, hatten den Marinestabsrich- Erste, aber das Erste alles, was zum Zwei- ter Filbinger ohne dessen Wissen dem ten zu sagen ist. Stadtkommandanten von Berlin, Paul Über Filbingers Tätigkeit als Marine- von Hase, für eine Verwendung nach ge- richter eine zutreffende Vorstellung zu lungenem Putsch empfohlen mit der Be- erlangen setzt zunächst voraus, die Be- merkung, auf Filbingers „antinationalso- dingungen und Umstände zur Kenntnis zialistische Grundsatztreue und Loya- zu nehmen, die seinen Entscheidungs- lität“ könne man sich jederzeit verlassen. raum in der Militärgerichtsbarkeit der Das macht Filbinger nicht zum Wider- Marine begrenzten. Die erste fachhistori- standskämpfer, aber es zeigt, dass er dem sche Untersuchung zur Person und zur Justiz-Kollegen Karl Sack einigen Grund Sache stammt von Hugo Ott, Heinz Hür- gegeben haben muss, ihn „in petto“ zu ten und Wolfgang Jäger (Hans Filbinger, nehmen. der ,Fall’ und die Fakten, 1980). Die zweite von Franz Neubauer (Das öffentliche Fehl- Haltung zur Todesstrafe urteil, 1990) behandelt speziell die juristi- Ihre verstörende Färbung erhält Filbin- schen Sachverhalte. Neubauer macht auf gers Tätigkeit in der Marinejustiz durch Dutzende sachlicher Irrtümer bei dem die Todesstrafe. Heute wird sie weithin Schriftsteller Rolf Hochhut, in Zeitungs- als absoluter Skandal empfunden. Doch artikeln namhafter Journalisten und damals war das anders. Noch 1949, bei selbst bei den an Filbingers Prozess vor der Inkraftsetzung des Grundgesetzes, dem Landgericht Stuttgart beteiligten war die Mehrheit der westdeutschen Be- Rechtsanwälten und Richtern aufmerk- völkerung gegen die Abschaffung der To- sam. desstrafe. Die Einstellung zur Todesstrafe war kein Merkmal zur Unterscheidung „Antinationalistische zwischen Nazis und Nicht-Nazis. Sie Grundsatztreue“ stand während des Zweiten Weltkrieges Dokumentiert ist, dass der „Oberfähnrich in den Strafkatalogen vieler Länder Euro- z. See Dr. jur. Hans Filbinger“ im Frühjahr pas, auch wenn deren Gerichte zurück- 1943 gegen seinen erklärten Willen als haltend damit umgingen. Neubauer be- Stabsrichter zur Militärjustiz der Marine richtet, dass selbst in der Schweiz, obwohl kommandiert wurde und dass er sich die- nicht Kriegspartei, im Zweiten Weltkrieg sem Auftrag durch freiwillige Meldung 33 Todesurteile gegen Soldaten ausge- zur U-Boot-Waffe zu entziehen suchte. sprochen und siebzehn auch vollstreckt Erwiesen ist auch, dass er als Heranwach- worden sind. sender aktiv in dem katholischen Jugend- In jeder Armee ist zwingendes Gebot, bund „Neudeutschland“ gewesen und die Disziplin der Truppe unter allen Um- als Student in Freiburg Kreisen verbun- ständen aufrechtzuerhalten, weil anders den war, die zum religiösen, konservati- die bewaffnete Macht weder unter politi- ven und freiheitlichen Umfeld (unter an- scher Kontrolle der Regierung noch in mi- deren ) der Widerstands- litärischer Einsatzbereitschaft gehalten

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Der Fall Filbinger

werden kann. Fahnenflucht im Felde, un- werden, da ja möglich sei, dass das Be- erlaubte Entfernung von der Truppe, sprochene einem Dritten weitererzählt Wachvergehen können die Sicherheit werde. ganzer Einheiten gefährden. Im Militär- strafrecht aller Länder gehört Desertion Militärrichter und Gerichtsherr im Kriege zu den Delikten mit höchsten Die Militärgerichte bestanden seit der Strafandrohungen. Kaiserzeit aus einem ausgebildeten Juris- Das Militärstrafrecht der Wehrmacht ten als Vorsitzendem und zwei Soldaten war kein Geschöpf des NS-Staates, son- als Beisitzern. In der Rechtsfindung wa- dern das im Kern unveränderte deutsche ren sie unabhängig. Das Urteil bedurfte Militärstrafrecht von 1872. Es entsprach jedoch der Bestätigung eines höheren dem international Üblichen und kann Kommandeurs als „Gerichtsherrn“. Er nicht deshalb als „Nazi-Recht“ abgetan hatte dazu ein Gutachten seines juristi- werden, weil die alten Bestimmungen schen Beraters einzuholen. Verweigerte auch im NS-Staat weitergalten oder weil der Gerichtsherr die Bestätigung des Ur- Hitler die Wehrmacht in einen Angriffs- teiles, ging die Sache in der Regel an das krieg führte. Im Verlauf des Krieges erkennende Gericht zurück, das dann in drängte die politische Führung die militä- anderer Besetzung ein zweites Mal zu rische Führung und diese die Militärge- verhandeln hatte. In diesem Falle enthielt richte zunehmend zur Ausschöpfung des die schriftliche Begründung der Nicht- gesetzlichen Strafrahmens, vor allem zur Bestätigung zugleich die Weisung an den Verhängung von Todesstrafen. Vertreter der Anklage, wie er im zweiten Verfahren zu plädieren habe. Die Wei- „Zersetzung der Wehrkraft“ sung war bindend, Nichtbefolgung Ge- Die schwerwiegendste Änderung des horsamsverweigerung. hergebrachten Militärstrafrechtes erfolg- Bei hart umkämpften Urteilen kletterte te bei Kriegsbeginn mit der Einführung die Funktion des Gerichtsherrn zum eines typischen NS-Deliktes, der „Zerset- nächsthöheren Befehlshaber und sogar zung der Wehrkraft“. Jeder, der im Kriege noch höher, bis zum Oberbefehlshaber Soldat war, erinnert sich an den Schre- der Teilstreitkraft hinauf. Man kann also cken, den dieser Begriff umgab. Mit der nicht von einem mehrstufigen Gerichts- Todesstrafe konnte bestraft werden, „wer verfahren sprechen, wohl aber von einem öffentlich dazu auffordert oder anreizt, mehrstufigen, normierten Verfahren. die Erfüllung der Dienstpflicht in der Doch konnte der Gerichtsherr dem Ge- deutschen oder verbündeten Wehrmacht richt das Urteil nicht vorschreiben. zu verweigern oder sonst öffentlich den Aus dem Verhältnis beider Institutio- Willen des deutschen oder verbündeten nen – der einen, die Recht allein nach dem Volkes zur wehrhaften Selbstbehauptung Gesetz sprechen, und der anderen, die die zu lähmen oder zu zersetzen sucht“. Einsatzbereitschaft der Truppe aufrecht- Nahezu beliebig dehnbar waren alle erhalten sollte – ergab sich, dass das Ge- vier Merkmale: der Anreiz, die Absicht, richt bei der Urteilsfindung nicht ignorie- die Zersetzung und die Öffentlichkeit. ren konnte, dass das Urteil der Zustim- Jede missliebige politische Äußerung mung des Gerichtsherrn, zunächst seines konnte ein fanatischer Richter als „Zerset- juristischen Beraters, bedurfte. Je nach zung der Wehrkraft“ interpretieren. In Konstellation der Personen konnte es der späteren Jahren konnte selbst ein vertrau- Schonung eines Angeklagten mehr nüt- liches Gespräch zu zweit von einem fana- zen, ihn zu einer Strafe in der Mitte des tischen Richter als „öffentlich“ ausgelegt Strafrahmens als zur Mindeststrafe zu

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verurteilen, damit nicht ein scharfer Ge- gründen und deshalb Einspruch zu erhe- richtsherr das Urteil verwerfen und ein ben. anderer Richter im zweiten Verfahren auf Ohne von der Verfahrensordnung die zulässige Höchststrafe erkennen Kenntnis zu nehmen, ist es nicht möglich, konnte. Man ahnt, dass selbst eine heute das Verhalten Filbingers in der Marine- als drakonisch empfundene Haftstrafe in justiz zu beurteilen. Filbingers Gegner ha- solchen Zeiten auch versteckte Milde sein ben ihm vor allem vorgeworfen, dass er konnte. an Todesurteilen „mitgewirkt“ habe. In Wer milde zu urteilen beabsichtigte, ihrer Unbestimmtheit ist Mitwirkung wird dies keinesfalls in die Akten ge- eine irreführende, geradezu demagogi- schrieben haben. Eher wird er bemüht ge- sche Vokabel. Ein Staatsanwalt, der für wesen sein, die Absicht zu verstecken und ein bestimmtes Delikt die im Gesetz vor- sich semantisch möglichst im Jargon der gesehene Strafe beantragte, möglicher- Zeit auszudrücken. Der Wortlaut solcher weise unter Weisung, war nicht für den Aktenstücke darf nicht naiv gelesen wer- Spruch des Gerichtes verantwortlich. Er den. Milde Urteile enthielten Risiken, auch spielte eine Rolle und der Verteidiger die für den Richter selbst. „Rechtsbeugung entgegengesetzte. Allein die Richter hat- zugunsten des Angeklagten“ konnte kein ten zu urteilen. Der Vorwurf der Kritiker, Richter riskieren wollen, erst recht nicht Filbinger habe an Todesurteilen „mitge- einer, der auch noch künftig einem armen wirkt“, ignoriert die zu beachtenden Teufel helfen wollte. Immerhin hat es Fälle Unterschiede und auch die Reihenfolge gegeben, in denen ein Gericht im zweiten der Funktionen von Untersuchungsfüh- oder auch noch im dritten Verfahren am rer, Anklagevertreter, Richter und Ge- ersten Urteil festhielt, was die tatsächliche richtsherr. Er verkennt, wie außerdem Begrenzung der Befugnisse des Gerichts- noch zu zeigen sein wird, auch den Unter- herrn verdeutlicht. schied zwischen Recht und Gnade. Aufgaben der Anklagevertretung Die kritischen Fälle Dem Vertreter der Anklage fielen drei In sechs Fällen von über 230 Militärstraf- Aufgaben zu: Er war zunächst Untersu- sachen unter Mitwirkung Filbingers, die chungsführer, dann Vertreter der An- Heinz Hürten zählte, ging es um Tod und klage in der Verhandlung und schließ- Leben. In dreien von ihnen war Filbinger lich Vollstreckungsorgan. Nur bis zur Vertreter der Anklage, in einem vierten Anberaumung der Hauptverhandlung konnte er als Verfahrens-Unbeteiligter hatte er gewisse Möglichkeiten, das Ver- die Bestätigung eines Todesurteils ver- fahren zu steuern, etwa durch Ausdeh- hindern, und in zwei anderen Verfahren nung der Suche nach Entlastungszeu- war er Richter. In zwei dieser sechs Fälle gen, Einholung von Beurteilungen, Aus- rettete er Gegner des Regimes vor dem künften über häusliche Verhältnisse, in Todesurteil. der Darstellung des Untersuchungser- Filbinger hat behauptet, dass durch ihn gebnisses und in seinem Strafantrag. Al- kein einziger Soldat zu Tode gekommen les dann Folgende fiel in die Verantwor- sei. Tatsächlich war es so, und dies steht tung des Gerichtes – und des Gerichts- in schroffem Gegensatz zu dem 1978 über herrn. Wenn der Gerichtsherr ein Todes- Filbinger verbreiteten Bild eines blut- urteil verlangte, musste der Anklagever- dürstigen, sein Unwesen in der Militär- treter es fordern, auch wenn er wider- justiz verheimlichenden, unbußfertigen strebte – es sei denn, er war in der Lage, Nazi-Richters. Betrachten wir diese sechs die Rechtswidrigkeit der Weisung zu be- Fälle näher.

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Der Fall Filbinger

Im Mai 1943 hatten mehrere Matrosen „Es war ein Kunststück, eine Manipula- bei Aufräumarbeiten nach einem Flieger- tion, eine Lüge, ohne Zweifel.“ Filbinger angriff auf aus einer Drogerie ein paar fertigte eine Aufzeichnung der zur Ret- Stücke Seife, Lippenstifte, Präservative tung des Mannes geeigneten Aussagen an und Filme gestohlen, obwohl streng be- und legte sie kommentarlos dem Urteil lehrt, dass auf Plünderung die Todesstrafe bei, das nun dem Gerichtsherrn zur Be- stehe. Fliegergeschädigte nach dem Bom- stätigung zugestellt wurde. Dieser for- benschaden noch zu bestehlen galt im derte Filbinger umgehend auf, zur „Gna- Krieg als besonders empörend, mindes- denfrage“ Stellung zu nehmen. Diese tens so empörend wie die Nachrichten in Aufforderung von oben gab Filbinger Ge- den Hochwasserjahren Jahr 2001 und legenheit vorzutragen, was Gnade recht- 2002, dass Plünderer sich in evakuierten fertigen könnte. Filbinger formulierte Ortschaften an Oder und Elbe zu schaffen dem Gerichtsherrn sogleich die Umrisse machten. eines Gnadenerlasses. Tatsächlich wan- In dem Kieler Verfahren war Filbinger delte der Gerichtsherr dann auf dem Gna- Untersuchungsführer und Anklagever- denwege das Todesurteil in eine Zucht- treter. Er nahm zwei konträre Positionen hausstrafe um. Der Matrose kam in ein ein. Vor Gericht forderte er für den An- Militärstraflager. Der Mann, dessen Amt führer der Matrosengruppe, Krämer, die es war, vor Gericht die Todesstrafe zu for- Todesstrafe. Heinz Hürten vermutet be- dern, war zugleich der, der sie hinten- sondere Gründe für das auffällige Miss- herum verhinderte. Tauben-Unschuld? verhältnis zwischen dem geringen Wert Schlangenklugheit? „Nazi-Richter“? des gestohlenen Gutes (war es bereits Der zweite Fall, besonders aufwüh- „Plünderung“?) und der Schwere der lend, ein Fall von Fahnenflucht wegen ei- Strafe, etwa eine Weisung des Gerichts- ner Liebesaffäre, spielte sich in Oslo ab. herrn an den Anklagevertreter für ein ab- Walter Gröger, ein einundzwanzig Jahre schreckendes Urteil. „Plünderung“ war alter Matrose, war im Oktober 1943 auf in der Sichtweise des Militärs jedenfalls das Schlachtschiff „Scharnhorst“ versetzt nicht nur ein Eigentumsdelikt, sondern worden, das in einem nordnorwegischen auch ein schwerer Anschlag auf die Dis- Fjord lag. Während er in Oslo auf die ziplin der Truppe. Das Kieler Marinege- nächste Transportmöglichkeit zu warten richt verurteilte Krämer zum Tode. hatte, lernte er eine Norwegerin kennen, Nach Verkündigung des Urteils, aber schlüpfte zu ihr, und alsbald planten noch vor dessen Ausfertigung ließ Filbin- beide eine Flucht nach Schweden. Die ger den Matrosen holen und fragte ihn Frau aber zögerte und bat nach vier Wo- abermals nach Einzelheiten des Hergan- chen einen ihr bekannten Feldwebel um ges. Krämer verstrickte sich in Lügen. Er Mithilfe für Grögers Verschwinden. Das war der Anstifter gewesen, er hatte die führte zur Festnahme Grögers und der anderen auf das Warenlager der Drogerie Frau durch die deutsche Militärpolizei. hingewiesen. Doch hatte er schon eine Der Untersuchungsführer und das Ge- aufgebrochene Tür vorgefunden. Filbin- richt in Oslo suchten beide Delinquenten ger stellte ihm suggestive Fragen: Emp- zu schonen. Der Matrose war zwar schon finde er das Urteil als zu hart, begreife er dreizehnmal disziplinarisch und einmal sich als Plünderer, habe er unüberlegt ge- kriegsgerichtlich (wegen Urlaubser- handelt, sei er von anderen verführt wor- schleichung) bestraft worden, aber das den? Filbinger berichtete dem Verfasser, lag schon ein Jahr zurück. Inzwischen auf solche Weise habe er von Krämer die trug er das Eiserne Kreuz zweiter Klasse Aussagen erhalten, die er gebraucht habe. und die Ostmedaille. Das Gericht er-

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kannte auf Fahnenflucht. Die Absicht der keine Gründe, am milderen ersten Urteil Fahnenflucht und die Länge der Abwe- festhalten zu können. Die Behauptung des senheit von der Truppe ließ keine andere „guten Kerns“ Grögers war kollabiert. Deutung zu. Das Gericht verurteilte Grö- Franz Neubauer weist in seinem Buch ger zu acht Jahren Zuchthaus und sah von mit Entschiedenheit Ansichten von Kriti- der Todesstrafe ab, weil es in dem Matro- kern zurück, Filbinger hätte Widerspruch sen trotz seines beträchtlichen Strafregis- gegen die Weisung des Flottenchefs einle- ters einen „guten Kern“ entdeckt hatte. gen können; aber die Weisung war nicht Die Frau wurde zu zwei Jahren Gefängnis gesetzwidrig ergangen. Oder: Filbinger wegen „Wehrkraftzersetzung“ verurteilt. hätte um Gnade bitten können. Doch das Ihre Strafe wurde ausgesetzt. war dem Anklagevertreter nach der Gna- Das Bestätigungsverfahren führte in denordnung verwehrt. Nur der Verteidi- Etappen bis zum Flottenchef. Der erste ger konnte den Gerichtsherrn um Gnade Gerichtsherr, der Befehlshaber der See- bitten. Immerhin waren bei Verurteilun- verteidigung Oslo-Fjord, entschied sich gen zum Tode die Richter verpflichtet, in für die Bestätigung des Urteiles über Grö- verschlossenen Umschlägen dem Ge- ger, aber gegen die Strafaussetzung für richtsherrn Gründe für einen Gnadener- die Frau. Der Flottenchef, Generaladmiral weis darzustellen. Am Ende war es nicht Schniewind, bestätigte die Feststellung der Flottenchef, sondern der Oberbefehls- der Fahnenflucht des Matrosen, aber haber der Marine selbst, Admiral Dönitz, nicht die Zuchthausstrafe für Gröger. Er der den Begnadigungsantrag des Vertei- forderte die Todesstrafe. digers für Gröger ablehnte und die Voll- Damit ging der Fall zurück an das Mi- streckung verfügte. litärgericht in Oslo. Der Untersuchungs- Als die Akte am 15. März 1945 in Oslo führer, derselbe wie im ersten Verfahren, eintraf, ordnete Filbinger die Vollstre- setzte alle Hebel in Bewegung, um güns- ckung für den nächsten Tag an. Man hat tige Zeugnisse früherer Vorgesetzter Grö- ihm vorgeworfen, er habe damit nicht gers herbeizuschaffen, damit das Gericht einmal bis zum Ende der Frist, dem drit- mildernde Umstände nachweisen und ten Tage, abgewartet. Hätte es etwas ge- am ersten Urteil festhalten könne. Das Le- ändert? Dass Filbinger sich selbst zum ben Grögers hing am Nachweis guter Leitenden Offizier der Vollstreckung ein- Führung. Doch alle zusätzlich eingehol- setzte, ist ihm als Sadismus ausgelegt ten Beurteilungen fielen niederschmet- worden. Den Kritikern war unbekannt, ternd aus. Auch die Uniformjacke mit dass der Staatsanwalt verpflichtet war, dem Band des Eisernen Kreuzes und der die Vollstreckung zu beaufsichtigen, und Ostmedaille war gestohlen. Der Fall war dass es in der Justiz als ungehörig galt, aussichtslos geworden. wenn derjenige Staatsanwalt, der die To- Filbinger war bis dahin nicht damit be- desstrafe beantragt hatte, einen anderen fasst. Am Tag der Hauptverhandlung, mit der Aufsicht über den entsetzlichen Mitte Januar 1945, war der Untersu- Vorgang beauftragte. Man hat Filbinger chungsführer verhindert, die Anklage zu schließlich auch noch die Kargheit des vertreten. Filbinger, erst im Dezember Hinrichtungsprotokolls als Herzlosigkeit nach Oslo versetzt, musste eine Anklage ausgelegt. Kann man aber in der bürokra- übernehmen, auf deren Vorbereitung er tischen Formelhaftigkeit des Protokolls keinerlei Einfluss hatte nehmen können. und der Unterlassung jedes persönlichen In diesem späten Stadium des zweiten Wortes nicht eher einen Akt bewussten Verfahrens war Filbinger angewiesen, die Verstummens des Aufsicht führenden Todesstrafe zu fordern. Das Gericht fand Offiziers gegenüber der Schrecken und

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Der Fall Filbinger

Mitleid erregenden Exekution eines jun- Filbinger zunächst nicht mehr an sie. Es gen Burschen erkennen? erschien unglaublich und der Gipfel der Heuchelei, dass ein Richter sich selbst Rettung von Angeklagten dreißig Jahre später nicht mehr an seine Die Rettung zweier wegen „Zersetzung eigenen Todesurteile erinnern können der Wehrkraft“ Angeklagter, des Militär- sollte. Und doch gibt es dafür eine plau- pfarrers Möbus und des Oberleutnants sible Erklärung. Es waren gleichsam ins Forstmeier, eines Batteriechefs der Mari- Bodenlose fallende, gar nicht mehr exe- neartillerie, braucht hier nicht detailliert kutierbare Urteile in summarischer Kür- dargestellt zu werden. Möbus war nach ze, letzte Umdrehungen des Militärjustiz- dem 20. Juli 1944 wegen einer politischen Apparates im Leerlauf. Äußerung von einem als fanatisch bekan- Am 15. März 1945 waren vier Matrosen nen Militärrichter in Tromsö zum Tode mit dem Hafenschutzboot NO 31 nach verurteilt worden, und auch der nächst- Schweden geflüchtet, nachdem sie den zuständige Gerichtsherr, Admiral Nord- Kommandanten erschossen hatten. Die mann, war für seinen Fanatismus be- Leiche warfen sie über Bord. Am 9. April kannt. Filbinger mischte sich als am Pro- verurteilte das Gericht in Oslo unter Vor- zess Nichtbeteiligter in das anschließende sitz Filbingers den Anführer in absentia Bestätigungsverfahren ein und erreichte wegen Mordes und Fahnenflucht zum im Frühjahr 1945 beim Oberkommando Tode. der Marine die Wiederaufnahme des Ver- Am 16. April 1945 floh der Komman- fahrens. Es endete mit Freispruch. Im dant eines anderen Hafenschutzbootes, Falle Forstmeier, der sich mit politischen ein Obersteuermann, mit vierzehn Besat- Äußerungen zum 20. Juli missliebig ge- zungsmitgliedern nach Schweden. Tags macht hatte, bemühte sich Filbinger als darauf ging die Meldung ein, und noch Untersuchungsführer um entlastende am selben Tag verurteilte Filbinger inner- Zeugenaussagen, doch fand er sie nicht. halb einer Stunde den Obersteuermann in Forstmeier hatte sich zu vielen Soldaten Abwesenheit wegen Fachnenflucht und gegenüber allzu unvorsichtig über die zu Wehrkraftzersetzung zum Tode. Zwei erwartende Niederlage geäußert. Filbin- Tage später war das Urteil bestätigt. ger griff zu einem gewagten Mittel. Bei Beide Todesurteile konnten den Ent- der Vernehmung der Belastungszeugen kommenen mit Sicherheit nicht mehr verunsicherte er diese und formulierte schaden. Filbinger begann erst nach der ihre Aussagen für das Protokoll so, dass Konfrontation mit den Akten 1978 sich sie den Angeklagten auch entlasten konn- wieder an sie zu erinnern. ten. Das Gericht ging darauf ein und ver- Doch wenn diese Todesurteile von urteilte den Batteriechef im März 1945 zur vornherein folgenlos für die Entkomme- Degradierung zum Matrosen und zu ei- nen waren, was sagen sie über den Rich- ner Haftstrafe mit Bewährungsprobe an ter aus? Fanatismus bis zuletzt? Hätte er der Front, zu der es nicht mehr kam. die Verfahren nicht verschleppen kön- Forstmeier kam mit heiler Haut davon. nen? Dazu müsste man die Situation beim Stabe des Kommandos Seeverteidigung Todesurteile als Richter Oslo-Fjord im April 1945 genau kennen. Besonders einfach verhält es sich ausge- Einen Hinweis auf Filbingers Motiv rechnet mit den beiden einzigen Todes- kann man dem Fall Petzold entnehmen, urteilen, die Filbinger selbst als Richter zu den Rolf Hochhut für ungeheuerlich hielt. verantworten hat. In der politischen Aus- Filbinger hatte drei Wochen nach Kriegs- einandersetzung von 1978 erinnerte sich ende, am 29. Mai 1945, in britischer

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Kriegsgefangenschaft den Flakartilleris- Deutsche waren seit Ende Januar in Ost- ten Petzold zu sechs Monaten Gefängnis preußen eingeschlossen und bangten um wegen „Erregens von Mißvergnügen ihr Überleben. Zwei, vielleicht auch zwei- (Unbotmäßigkeit), Gehorsamsverweige- einhalb Millionen Zivilisten und Soldaten rung und Widersetzung“ verurteilt. Der rettete die Marine in diesen Wochen über Soldat hatte unter Alkohol am 10. Mai den die Ostsee unter Einsatz ihrer letzten Befehl seines Batteriechefs zum Umzug in Kräfte. Noch am 8. Mai soll die Marine in eine andere Baracke verweigert mit den kurländischen Häfen 28 000 Deutsche an Worten: „Die Zeiten sind jetzt vorbei. Ich Bord genommen haben. Disziplin war bin ein freier Mann. Ihr habt jetzt ausge- überlebenswichtig. schissen. Ihr Nazihunde. Ihr seid schuld Was bleibt am Ende übrig? Da ist noch an diesem Krieg.“ das Filbinger 1978 im Spiegel vorgehal- Der Krieg war vorbei, aber die Briten tene Zitat: „Was damals rechtens war, hatten in ihren Kriegsgefangenenlagern kann heute nicht Unrecht sein.“ Filbinger in Norwegen die Organisation der Wehr- sagt in seinen Memoiren, er sei missdeu- macht aufrechterhalten. So waren Filbin- tet worden, seine Aussage habe sich auf ger und seine Beisitzer noch monatelang das Militärstrafrecht in seinem alten Be- nach der Kapitulation gehalten, im Status stand bezogen. Sein damaliger Pressere- eines deutschen „Feldkriegsgerichts“ ferent Gerhard Goll, der spätere Staatsrat, und „auf Befehl des (deutschen) Gerichts- der dem Spiegel-Gespräch beigewohnt herrn und Kommandanten der Seevertei- hatte, hat das vermeintliche Zitat als digung Oslo-Fjord“ im britischen Lager „nicht nur unwahr, sondern infam“ be- nach deutschem Militärrecht Recht zu zeichnet. Filbinger zu unterstellen, wie es sprechen. Nur der oberste Gerichtsherr bis heute geschieht, er habe im Jahre 1978 hatte gewechselt. Jetzt war dies König NS-Recht für Recht erklärt, verdreht ihm Georg VI. von England. Die Vollstre- das Wort im Munde und macht daraus ckung des Urteils konnte Petzold nicht eine Verleumdung. Wer sie gelten lässt, sehr wehgetan haben: Umzug in eine an- hat jedoch größte Schwierigkeiten, lo- dere Baracke des Lagers bei täglichem gisch zu erklären, warum derselbe Mann Ausgang zum Baden am Meer. unter eigenem Risiko versuchte, Möbus, Es ist nicht schwer zu erkennen, wa- Forstmeier und andere der Strafgewalt rum Filbinger Petzold verurteilte, dessen des Regimes zu entziehen. Filbinger ein Anti-Nazismus er teilte. Auch in einem grausamer Militärrichter und „furchtba- Kriegsgefangenenlager muss Ordnung rer Jurist“? Nichts davon hält genauer Be- herrschen, damit es nicht zu Mord und trachtung stand. Totschlag kommt. Für die deutschen Nachtrag: Der Matrose, der im März Kriegsgefangenen in Norwegen bedeu- 1945 den Kommandanten des Hafen- tete es eine Erleichterung, unter der Auf- schutzbootes NO 31 erschossen hatte, sicht der eigenen Offiziere interniert zu wurde im Jahre 1953 vom Schwurgericht sein. Voraussetzung einer deutschen La- Köln wegen Totschlages zu zehn Jahren gerverwaltung unter britischer Fahne Freiheitsstrafe verurteilt. war indessen die Aufrechterhaltung der Der Bundesgerichtshof verurteilte im militärischen Ordnung im Lager. Jahre 2000 einen Berliner Fluchthelfer Disziplin, Zusammenhalt und Risiko- wegen „heimtückischen Mordes“ zu ei- bereitschaft in der Marine bis zur letzten ner Haftstrafe, weil er 1962 zu Beginn ei- Stunde aufrechtzuerhalten hatte vermut- ner Flucht durch einen Tunnel unter der lich nie mehr Sinn als in den letzten hun- Mauer einen Grenzsoldaten der DDR dert Tagen des Krieges. Vier Millionen ohne Warnung erschossen hatte.

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