Der Fall Filbinger Auf Die Kampagne Und Die Historischen Fakten Günther Gillessen
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408_67_74_Gillessen 23.10.2003 15:03 Uhr Seite 67 Ein Rückblick Der Fall Filbinger auf die Kampagne und die historischen Fakten Günther Gillessen Der 90. Geburtstag von Hans Filbinger, eine Akte in die Registratur abgegeben dem ehemaligen Ministerpräsidenten von werden könnte, und auch das andere, Baden-Württemberg, im Herbst 2003 war dass man im Besitz eines „Sinnbildes“ gar in journalistischen Würdigungen aber- nicht näher zu wissen braucht, wie es mals Anlass, vor allem auf seine Tätigkeit denn nach dem berühmten Rancke-Wort als Militärrichter im Krieg und auf die Um- „eigentlich gewesen war“. Filbingers stände seines Sturzes im Jahre 1978 auf- Schuld gilt als gegeben – und diese Schuld merksam zu machen. Seit damals sind sich vermehrt der Angeklagte durch seine Un- Filbinger und seine Gegner gegenseitig ein bußfertigkeit und hartnäckige Weige- fortwährendes politisches Ärgernis. Der rung, das Schuldbekenntnis und die öf- Umgang mit der NS-Zeit, soweit er sich fentliche Reuebekundung abzuliefern, auf öffentlichen Foren abspielt, ist leider die seine Gegner von ihm verlangen. durch und durch politisiert und verengte Dabei lässt sich der Vorwurf, die Ver- sich zusehends auf das Täter-Opfer- gangenheit nicht „aufgearbeitet“ zu ha- Schema. Wer nicht Opfer war, muss Täter ben, mühelos gegen diejenigen wenden, gewesen sein. Alle dritten Verhaltenswei- die ihn erheben. Das publizistische Urteil sen in einem Dutzend Stufen zwischen ak- von 1978, das zu Filbingers Sturz führte, tivem Widerstand, beharrlicher Verwei- war die gemeinsame Fehlleistung eines gerung und mitläuferischer Schwäche Schriftstellers voller Zorn und Eifer und scheinen die Unterscheidung nicht zu loh- des Versagens des kritischen Unterschei- nen. Der mangelnde Unterscheidungs- dungsvermögens gerade in demjenigen wille ist wohl als radikaler Entlastungs- Teil des deutschen Journalismus, der sich mechanismus zu verstehen. Von dem nö- für besonders kritisch hielt. Das „Sinn- tigen Maß an Detail-Wissen und an Über- bild“ ist eine bis heute wirkungsvolle Er- blick, auch an Geduld und Mitleid, das ein findung. guter Historiker braucht, um eine andere Zeit zu verstehen, sind wir als Nation noch Zwei verschiedene Fälle weit entfernt. Was kann man ein Vierteljahrhundert Der politische Tageskampf hat sich im nach dem Sturz Filbingers zu seinem Fall Umgang mit den zwölf Hitler-Jahren sagen? Methodisch zunächst dies: dass es gleichsam eine zweite Bühne geschaffen. sich um zwei verschiedene Fälle handelt, Auf dieser ist Filbinger zum „Sinnbild ei- nämlich das tatsächliche Verhalten des ner nicht aufgearbeiteten Nazi-Vergan- Marinestabsrichters Filbinger im Kriege, genheit“ (so drückte sich eine Freiburger wie es sich aus den Akten und Zeugen- Kommunalpolitikerin aus) geworden – aussagen ergibt, und der Fall des Minis- eine Äußerung, in der gleich zwei Fehlur- terpräsidenten Filbinger in der politi- teile stecken: als ob die NS-Vergangenheit schen Kampagne des Sommers 1978. Dass jemals „aufgearbeitet“ und damit wie Filbinger die Wucht und auch die Wut der Nr. 408 · November 2003 Seite 67 408_67_74_Gillessen 23.10.2003 15:03 Uhr Seite 68 Günther Gillessen Herausforderung von 1978 zunächst bewegung des 20. Juli gehörten. Zwei der unterschätzte, dass er sich in ersten Äu- 1945 ermordeten Verschwörer, beides ßerungen zu Einzelheiten seiner Erinne- Militärjuristen, nämlich der Chef des rung irrte, bis er mit den Akten konfron- Heeresgerichtswesens, Karl Sack, und tiert wurde, dass er sich taktisch falsch der Völkerrechtsreferent im Oberkom- verteidigte und dass die Stasi heimlich mando der Marine, Berthold Graf von mitmischte – das alles gehört zum zwei- Stauffenberg, ein Bruder des Attentäters ten Fall. Das Zweite sagt nichts über das vom 20. Juli, hatten den Marinestabsrich- Erste, aber das Erste alles, was zum Zwei- ter Filbinger ohne dessen Wissen dem ten zu sagen ist. Stadtkommandanten von Berlin, Paul Über Filbingers Tätigkeit als Marine- von Hase, für eine Verwendung nach ge- richter eine zutreffende Vorstellung zu lungenem Putsch empfohlen mit der Be- erlangen setzt zunächst voraus, die Be- merkung, auf Filbingers „antinationalso- dingungen und Umstände zur Kenntnis zialistische Grundsatztreue und Loya- zu nehmen, die seinen Entscheidungs- lität“ könne man sich jederzeit verlassen. raum in der Militärgerichtsbarkeit der Das macht Filbinger nicht zum Wider- Marine begrenzten. Die erste fachhistori- standskämpfer, aber es zeigt, dass er dem sche Untersuchung zur Person und zur Justiz-Kollegen Karl Sack einigen Grund Sache stammt von Hugo Ott, Heinz Hür- gegeben haben muss, ihn „in petto“ zu ten und Wolfgang Jäger (Hans Filbinger, nehmen. der ,Fall’ und die Fakten, 1980). Die zweite von Franz Neubauer (Das öffentliche Fehl- Haltung zur Todesstrafe urteil, 1990) behandelt speziell die juristi- Ihre verstörende Färbung erhält Filbin- schen Sachverhalte. Neubauer macht auf gers Tätigkeit in der Marinejustiz durch Dutzende sachlicher Irrtümer bei dem die Todesstrafe. Heute wird sie weithin Schriftsteller Rolf Hochhut, in Zeitungs- als absoluter Skandal empfunden. Doch artikeln namhafter Journalisten und damals war das anders. Noch 1949, bei selbst bei den an Filbingers Prozess vor der Inkraftsetzung des Grundgesetzes, dem Landgericht Stuttgart beteiligten war die Mehrheit der westdeutschen Be- Rechtsanwälten und Richtern aufmerk- völkerung gegen die Abschaffung der To- sam. desstrafe. Die Einstellung zur Todesstrafe war kein Merkmal zur Unterscheidung „Antinationalistische zwischen Nazis und Nicht-Nazis. Sie Grundsatztreue“ stand während des Zweiten Weltkrieges Dokumentiert ist, dass der „Oberfähnrich in den Strafkatalogen vieler Länder Euro- z. See Dr. jur. Hans Filbinger“ im Frühjahr pas, auch wenn deren Gerichte zurück- 1943 gegen seinen erklärten Willen als haltend damit umgingen. Neubauer be- Stabsrichter zur Militärjustiz der Marine richtet, dass selbst in der Schweiz, obwohl kommandiert wurde und dass er sich die- nicht Kriegspartei, im Zweiten Weltkrieg sem Auftrag durch freiwillige Meldung 33 Todesurteile gegen Soldaten ausge- zur U-Boot-Waffe zu entziehen suchte. sprochen und siebzehn auch vollstreckt Erwiesen ist auch, dass er als Heranwach- worden sind. sender aktiv in dem katholischen Jugend- In jeder Armee ist zwingendes Gebot, bund „Neudeutschland“ gewesen und die Disziplin der Truppe unter allen Um- als Student in Freiburg Kreisen verbun- ständen aufrechtzuerhalten, weil anders den war, die zum religiösen, konservati- die bewaffnete Macht weder unter politi- ven und freiheitlichen Umfeld (unter an- scher Kontrolle der Regierung noch in mi- deren Walter Eucken) der Widerstands- litärischer Einsatzbereitschaft gehalten Seite 68 Die politische Meinung 408_67_74_Gillessen 23.10.2003 15:03 Uhr Seite 69 Der Fall Filbinger werden kann. Fahnenflucht im Felde, un- werden, da ja möglich sei, dass das Be- erlaubte Entfernung von der Truppe, sprochene einem Dritten weitererzählt Wachvergehen können die Sicherheit werde. ganzer Einheiten gefährden. Im Militär- strafrecht aller Länder gehört Desertion Militärrichter und Gerichtsherr im Kriege zu den Delikten mit höchsten Die Militärgerichte bestanden seit der Strafandrohungen. Kaiserzeit aus einem ausgebildeten Juris- Das Militärstrafrecht der Wehrmacht ten als Vorsitzendem und zwei Soldaten war kein Geschöpf des NS-Staates, son- als Beisitzern. In der Rechtsfindung wa- dern das im Kern unveränderte deutsche ren sie unabhängig. Das Urteil bedurfte Militärstrafrecht von 1872. Es entsprach jedoch der Bestätigung eines höheren dem international Üblichen und kann Kommandeurs als „Gerichtsherrn“. Er nicht deshalb als „Nazi-Recht“ abgetan hatte dazu ein Gutachten seines juristi- werden, weil die alten Bestimmungen schen Beraters einzuholen. Verweigerte auch im NS-Staat weitergalten oder weil der Gerichtsherr die Bestätigung des Ur- Hitler die Wehrmacht in einen Angriffs- teiles, ging die Sache in der Regel an das krieg führte. Im Verlauf des Krieges erkennende Gericht zurück, das dann in drängte die politische Führung die militä- anderer Besetzung ein zweites Mal zu rische Führung und diese die Militärge- verhandeln hatte. In diesem Falle enthielt richte zunehmend zur Ausschöpfung des die schriftliche Begründung der Nicht- gesetzlichen Strafrahmens, vor allem zur Bestätigung zugleich die Weisung an den Verhängung von Todesstrafen. Vertreter der Anklage, wie er im zweiten Verfahren zu plädieren habe. Die Wei- „Zersetzung der Wehrkraft“ sung war bindend, Nichtbefolgung Ge- Die schwerwiegendste Änderung des horsamsverweigerung. hergebrachten Militärstrafrechtes erfolg- Bei hart umkämpften Urteilen kletterte te bei Kriegsbeginn mit der Einführung die Funktion des Gerichtsherrn zum eines typischen NS-Deliktes, der „Zerset- nächsthöheren Befehlshaber und sogar zung der Wehrkraft“. Jeder, der im Kriege noch höher, bis zum Oberbefehlshaber Soldat war, erinnert sich an den Schre- der Teilstreitkraft hinauf. Man kann also cken, den dieser Begriff umgab. Mit der nicht von einem mehrstufigen Gerichts- Todesstrafe konnte bestraft werden, „wer verfahren sprechen, wohl aber von einem öffentlich dazu auffordert oder anreizt, mehrstufigen, normierten Verfahren. die Erfüllung der Dienstpflicht in der Doch konnte der Gerichtsherr dem Ge- deutschen oder verbündeten Wehrmacht richt das Urteil nicht vorschreiben. zu verweigern oder sonst öffentlich den Aus dem Verhältnis beider Institutio- Willen des deutschen oder verbündeten nen – der einen, die Recht allein nach dem Volkes zur wehrhaften Selbstbehauptung Gesetz sprechen, und der anderen, die die