1/2–2020

Vereint nach drei Jahrzehnten?

www.lpb-bw.de Heft 1/2–2020, 70. Jahrgang Thema im Folgeheft:

»Bürger & Staat« wird von der Landeszentrale Migration und Teilhabe für politische Bildung Baden-Württemberg herausgegeben. Direktion der Landeszentrale Lothar Frick Sibylle Thelen Redaktion Inhaltsverzeichnis Prof. Siegfried Frech, [email protected] Redaktionsassistenz Barbara Bollinger, Eckhard Jesse [email protected] Das letzte Jahr der DDR ...... 4 Anschrift der Redaktion Gerhard Sälter Lautenschlagerstraße 20, 70173 Stuttgart Die Mauer bröckelt: Die SED-Diktatur und ihr Ende im November 1989 . 13 Telefon: 07 11/16 40 99-44 Fax: 07 11/16 40 99-77 Michael Fritsch Herstellung Ökonomisch vereint? Wirtschaftliche Unter schiede zwischen Ost- Schwabenverlag AG und West deutschland dreißig Jahre nach der Wende ...... 19 Senefelderstraße 12, 73760 Ostfildern-Ruit Jo Berlien Telefon: 07 11/44 06-0, Fax: 07 11/44 06-1 74 Aber in 30 Jahren redet kein Mensch mehr davon ...... 26 Gestaltung Titel VH-7 Medienküche GmbH, Stuttgart Markus Decker Einsichten eines „Wessis“: Gestaltung Innenteil Die Geschichte einer Entfremdung ...... 32 Schwabenverlag Media der Schwabenverlag AG Wolf Wagner Vertrieb Kulturschock oder wahrgenommene Aufstiegsblockaden? ...... 38 Neue Süddeutsche Verlagsgsdruckerei GmbH Everhard Holtmann Nicolaus-Otto-Straße 14, 89079 Ulm Telefon: 07 31/94 57-0, Fax: 07 31/94 57-2 24 Wiederkehr eines gespaltenen Bewusstseins? – www.suedvg.de Politische Einstellungen in Ost- und Westdeutschland im Zeitverlauf ...46 Druck Erik Vollmann Neue Süddeutsche Verlagsgsdruckerei GmbH Demokratieunterstützung und politische Kultur in Ost und West ...... 51 Nicolaus-Otto-Straße 14, 89079 Ulm Isabelle-Christine Panreck Preis der Einzelnummer 3,33 EUR. Politisch zweigeteilt? – Wahlverhalten und Parteiensystem ...... 59 Jahresabonnement 12,80 EUR Abbuchung. Bitte geben Sie bei jedem Schriftwechsel mit Michael Schönherr, Olaf Jacobs dem Verlag Ihre auf der Adresse aufgedruckte Wer beherrscht den Osten? Eliten in Politik, Wirtschaft und Justiz ...... 66 Kundennummer an. Martin Kopplin Namentlich gezeichnete Beiträge geben nicht Frauen in Ost und West: Angleichung nach drei Jahrzehnten? ...... 71 unbedingt die Meinung des Herausgebers und der Redaktion wieder. Christiane Bertram Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte „Generation 1975 – Mit 14 ins neue Deutschland“ – übernimmt die Redaktion keine Haftung. Blick vom Osten und Westen in die deutsche Teilungsgeschichte ...... 81

Nachdruck oder Vervielfältigung auf elek- Siegfried Wittenburg tronischen Datenträgern sowie Einspeisung Für Freiheit, Demokratie und Menschenwürde ...... 89 in Datennetze nur mit Genehmigung der Redaktion. Buchbesprechungen ...... 95

Titelfoto: picture alliance/dpa

Auflage dieses Heftes: 14.000 Exemplare

Redaktionsschluss: 17.04.2020

ISSN 0007-3121

Das komplette Heft fi nden Sie zum Downloaden als PDF-Datei unter www.buergerimstaat.de Vereint nach drei Jahrzehnten? Als Symbol der deutschen Teilung ist die Mauer mittlerweile länger verschwunden als sie gestanden hat, doch die Unterschiede zwischen Ost und West sind noch existent. picture alliance/dpa

1 Vereint nach drei Jahrzehnten?

Jahrestage und Jubiläen werden medial zuweilen etwas schen Wirtschaft bis zur Wiedervereinigung im Jahr 1990 überbemüht. Sie gehören jedoch zu den wichtigen Erinne- ein. Des Weiteren wird der Transformationsprozess in den rungspunkten, die zur Reflexion anregen. Die Jahre 1989 neuen Ländern nachgezeichnet. Die noch verbleibenden und 1990 sind „Epochenjahre“: Der Fall der Mauer am 9. Entwicklungsunterschiede und die aktuelle Situation der November 1989 war der Durchbruch zur Einheit und mar- ostdeutschen Wirtschaft sind auch dreißig Jahre nach der kierte einen Wendepunkt in der deutschen und internati- Wiedervereinigung noch deutlich durch mehr als vierzig onalen Politik. Mit der deutschen Einheit am 3. Oktober Jahre Sozialismus geprägt. Eine grundlegende Umorien- 1990 und dem Zerfall der Sowjetunion Ende 1991 endete tierung des Wirtschaftssystems benötigt aufgrund der im- die Teilung der Welt in zwei Blöcke. mensen Anforderungen schlichtweg längere Zeiträume. Die Bürgerinnen und Bürger der DDR erlebten einen poli- Anlässlich der Volkskammerwahl reiste Jo Berlien im März tischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Transforma- 1990 auf Einladung eines CDU-Abgeordneten des Wahl- tionsprozess, dessen Nachwirkungen immer noch spürbar kreises Calw-Freudenstadt nach Frankfurt/Oder. Er sollte sind. Die Transformationserfahrungen haben Spuren hin- den dortigen Wahlkampf beobachten und in einer Lokal- terlassen. Eine beiderseitige Ernüchterung währt schon ausgabe der Südwest Presse darüber berichten. Dem kon- geraume Zeit. Bis heute treten Unterschiede zwischen dem servativen Wahlbündnis „Allianz für Deutschland“ wurden „Osten“ und dem „Westen“ zutage, sei es in der wirt- 1990 nur geringe Chancen eingeräumt. Die CDU (Ost) schaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung, in (par- bat daher um Unterstützung aus dem Westen. Seit dieser tei-)politischen Einstellungen oder in der politischen Kul- Zeit ist Jo Berlien beruflich wie privat immer wieder mit der tur. Als Symbol der deutschen Teilung ist die Mauer mitt- Ost-West-Thematik befasst. Ob im Journalistenkolleg an lerweile länger verschwunden als sie gestanden hat, doch der FU , in einer Begegnung mit dem Ostberliner Au- die Unterschiede zwischen Ost und West sind noch exis- tor Andre Wilkens oder mit der Ostberliner Schriftstellerin tent. Es gibt nicht nur ein ökonomisches und materielles Barbara Honigmann – immer geht es auch um den Unter- Gefälle, sondern auch ein Gefälle mit Blick auf Selbstbe- schied zwischen Ost und West. wusstsein, Darstellungsvermögen und Zuhörbereitschaft. Knapp zweieinhalb Millionen Frauen und Männer sind Was geschah 1989 und 1990? Das letzte Jahr der DDR seit der Wiedervereinigung in die neuen Länder gezogen. gilt oft als ein vergessenes Jahr. Das 41. Jahr der DDR Einer von ihnen ist Markus Decker. Im Spätsommer 1992 brachte jedoch gravierende Entscheidungen. Der Zehn- zog der Journalist als 28-Jähriger nach Sachsen-Anhalt Punkte-Plan Helmut Kohls war von größerer Tragweite als und „verliebte“ sich rasch in den Osten. Er erzählt, wie er der maßgeblich von DDR-Oppositionellen initiierte Aufruf die neuen Bundesländer kennen lernte, wie steinig, aber „Für unser Land“. Der Zentrale Runde Tisch plädierte für dennoch voller Überraschungen und menschlich wichti- schnelle Wahlen zur Volkskammer, ohne aber die Einheit gen Begegnungen sein Weg war. In seinem einfühlsamen Deutschlands zu propagieren. Mit überwältigender Mehr- Porträt der ostdeutschen Gesellschaft beschreibt Markus heit stellte der Ausgang dieser Wahl eine Art Plebiszit für Decker aber auch, wie seine Liebe zum Osten langsam die deutsche Einheit dar. Der Staatsvertrag, der Wahlver- erlosch. Er schildert sein nachlassendes Verständnis für trag und der Einigungsvertrag bildeten wichtige Schritte ostdeutsche Mentalitäten, Besonderheiten der politischen auf dem Weg zur Wiedervereinigung. Eckhard Jesse plä- Kultur und für den zu beobachtenden Rechtsruck einzelner diert dafür, das letzte Jahr der DDR nicht als ein Jahr der Milieus. Die Geschichte seiner teilweisen Entfremdung verpassten Chancen zu interpretieren. zeigt, dass die innere Einheit eine immer noch reichlich Unzufriedenheit und darauf gründende Opposition und fragile Angelegenheit ist. Widerspruch sowie eine Tendenz zur Westwanderung Die Wiedervereinigung versprach Freiheits- und Wohl- hatte es in der Bevölkerung der DDR immer schon gege- standsgewinne, wurde aber aus Sicht der ostdeutschen ben. Als die leitenden Parteikader der KPD 1945 aus ihrem Bevölkerung als ökonomischer Schock, als soziale und kul- Moskauer Exil nach Deutschland kamen, brachten sie viel- turelle Enteignung wahrgenommen. Mehr als die Hälfte leicht die Hoffnung mit, die „Befreiung der Arbeiterklasse“ der Ostdeutschen fühlen sich im Jahr 2019 immer noch als in Deutschland zu vollenden, aber ihre politische Vorstel- Bürger zweiter Klasse. Wolf Wagner zeigt an historischen lungswelt war geprägt von den Kämpfen der Weimarer Beispielen gelingende Vereinigungen als Zusammen- Republik und der stalinistischen Atmosphäre der Angst, schlüsse Gleicher und vergleicht diese mit Vereinigungen, die ihre Persönlichkeiten überformt hatte. Statt einer sozi- die per Anschluss oder Beitritt erfolgten und Konflikte aus- alen Republik errichteten sie eine Diktatur, welche eine lösten. Mit Bezug auf Norbert Elias und Pierre Bourdieu Mauer als Basis staatlicher Macht benötigte, wodurch entwickelt Wolf Wagner ein eigenes Modell kulturellen sich die SED für weitere 28 Jahre an der Macht halten Wandels. Anstatt eines optimistischen Modells des Kultur- konnte, bevor sie 1989 zusammen mit ihrer Mauer unter- schocks, an dessen Ende die Verständigung steht, werden ging. Gerhard Sälter schildert die zeitgeschichtlichen ein dauerhaft wahrgenommener Ausschluss der ostdeut- Etappen des SED-Staates, beginnend mit der Durchset- schen Bevölkerung und als Folge davon eine trotzige Ge- zung der Diktatur nach 1945 bis zum Fall der Mauer im genkultur konstatiert. November 1989. Die psychologischen Nachwirkungen der Umbrüche sind Michael Fritsch erörtert Ausmaß und Ursachen der immer immer noch gegenwärtig. Everhard Holtmann geht der noch bestehenden wirtschaftlichen Unterschiede zwi- Frage nach, wie sich die politischen Einstellungen in Ost- schen Ost- und Westdeutschland. Er geht zunächst auf und Westdeutschland im Zeitverlauf entwickelt haben. die ökonomische Ausgangslage nach dem Zweiten Welt- Denn nur im Ost-West-Vergleich lässt sich klären, ob sich krieg und auf die wirtschaftliche Entwicklung der ostdeut- die Deutschen nach der Wiedervereinigung im politischen

2 Denken angeglichen haben, getrennte Wege gingen oder Die gesellschaftliche Position der Frau in der DDR war sich divergent entwickelt haben. Indikatoren wie die Demo- durchaus zwiespältig. Die Gleichberechtigungspolitik kratiezufriedenheit, das Institutionenvertrauen, die wahr- führte zur Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt und genommene Responsivität von Politikern, die Bevorzugung zu deren rechtlicher und finanzieller Unabhängigkeit – ein des repräsentativen oder direkten Demokratiemodells, For- Gleichstellungsvorsprung, der sich bis heute in der beruf- men politischer Partizipation sowie die Gerechtigkeitser- lichen Autonomie ostdeutscher Frauen niederschlägt. wartungen an Staat und Politik geben Auskunft über Stand Möglichkeiten einer selbstbestimmten Lebensgestaltung und Veränderungen der politischen Einstellungen. und politischen Partizipation jedoch blieben beschränkt. Drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung dominiert Um die Verstetigung der bis heute zu konstatierenden Un- das Trennende, nicht das Vereinende oder gar Vereinigte terschiede zwischen ost- und westdeutschen Frauen erklä- das öffentliche Bild zum Zustand der Republik. Nicht zu- ren zu können, bedarf es der Auseinandersetzung mit den letzt die regionale Stärke der rechtspopulistischen bis -ex- gesellschaftlichen Bedingungen der Frauen in der DDR tremistischen Partei Alternative für Deutschland (AfD) im sowie mit den Umbruchserfahrungen und den Anglei- Osten gilt als Ausdruck der gesellschaftlichen Spaltung. chungsprozessen nach der Wiedervereinigung. In den Noch dreißig Jahre nach ihrem Beitritt zur Bundesrepublik Werte- und Einstellungsmustern ostdeutscher Frauen spie- müssen sich die Bürger und Bürgerinnen der neuen Länder geln sich – so das Fazit von Martin Kopplin – Umbruchser- des Verdachtes erwehren, sie seien nicht „demokratiefä- fahrungen, ökonomische und soziale Unsicherheiten so- hig“. Doch wie gravierend ist die Spaltung der Gesell- wie politische Enttäuschung wider. schaft? Erik Vollmann diskutiert, wie es um zentrale Ele- Der westdeutsche Blick auf die DDR, auf den Fall der mente der Demokratieunterstützung in Deutschland be- Mauer, die Wiedervereinigung sowie den Transformati- stellt ist. Dabei werden der Osten und der Westen nicht onsprozess wird in der Geschichtswissenschaft erst in als monolithische Blöcke betrachtet, sondern Unterschiede jüngster Zeit thematisiert. Will man die nach wie vor an- zwischen einzelnen Bundesländern in den Blick genom- haltende Unzufriedenheit der Menschen in den neuen men. Ländern verstehen, muss man auch nach der Perspektive Haftete den neuen Ländern unmittelbar nach der Wieder- der „alten“ Bundesrepublik fragen. Christiane Bertram vereinigung mit Blick auf die Wahlbeteiligung das Bild schildert das Interviewprojekt „Generation 1975“, in dem des Sorgenkindes an, schienen sich die Unterschiede im 26 Zeitzeug*innen befragt wurden, die im Jahr 1975 ge- Lauf der Zeit einzuebnen. Die Bundestagswahl 2017 je- boren wurden und bis zum Mauerfall im Westen bzw. im doch brachte, auch durch die Stimmengewinne der AfD, Osten Deutschlands aufgewachsen sind. Der Beitrag geht Bewegung in das Parteiengefüge. Isabelle-Christine Pan- zunächst der Frage nach, ob die deutsch-deutsche Tei- reck fokussiert zunächst die Anfänge der bundesdeut- lungsgeschichte durch asymmetrische, parallele oder ver- schen Demokratie nach der Wiedervereinigung. Nach flochtene Entwicklungen charakterisiert ist. Die Schilde- der Skizzierung der „Übernahmepolitik“, die der Bevölke- rung der ersten Ergebnisse des Oral History-Projekts zeigt rung der DDR durchaus entgegenkam, werden die west- eindrücklich, wie unterschiedlich nicht nur die Zeit der deutschen Volksparteien sowie deren Streben in die poli- Trennung, sondern auch der Mauerfall und die Wieder- tische „Mitte“ analysiert. Schließlich rücken diejenigen vereinigung samt ihren Folgen im Osten und Westen er- Parteien in den Vordergrund, die eindeutige Positionen in lebt wurden. sozioökonomischen und soziokulturellen Konflikten ein- Siegfried Wittenburg war in den 1980er-Jahren einer der nehmen: zunächst der Kontrast von FDP und Die Linke als wichtigsten Fotografen in der DDR. Als ausgebildeter Gegenspielerinnen in sozioökonomischen Fragen, dann Funkmechaniker und fotografischer Autodidakt dokumen- Grüne und AfD als Gegenpole auf der soziokulturellen tierte er in dieser bedeutenden historischen Zeitspanne Achse. Der Beitrag schließt mit einem Ausblick auf mögli- den Alltag in diesem Staat mit einem kritischen und doch che Konsequenzen für das Parteiensystem. liebevollen Blick. 1986 geriet er mit dem Regime in Kon- Nach dem Umbruch in der DDR 1989/90 erfolgte ein flikt, weil er sich einer Zensuraufforderung der SED wider- enormer Elitentransfer von West- nach Ostdeutschland. setzte und nicht den Zielen des Staates folgte. Die span- Mit der Ausdehnung des politisch-rechtlichen Systems nenden Jahre nach der politischen Wende bis 1996 hat der Bundesrepublik auf die neuen Länder wurden (er- Wittenburg mit der Kamera festgehalten. Nach einer Zwi- fahrene) Westdeutsche betraut, die in der Folge im poli- schenphase von 15 Jahren kehrte er 2010 zu seinen künst- tisch-administrativen, wirtschaftlichen und juristischen lerischen Wurzeln zurück. Sein Thema ist wiederum der Bereich Führungspositionen besetzten. Auffallend ist, Alltag der Menschen im vereinten Deutschland. Seine Pu- dass sich an dieser anfänglichen Lage bis heute wenig blikationen, Ausstellungen und Vorträge speisen sich aus geändert hat. Die Frage einer angemessenen Repräsenta- eigenem Erleben, als folgende Werte für ihn nicht existier- tion ostdeutscher Bevölkerungsgruppen in den Füh- ten: Freiheit, Demokratie und Menschenwürde. rungsetagen ist nicht zuletzt politisch relevant und macht Allen Autorinnen und Autoren, die mit ihren Beiträgen auf- sich in der aktuellen Stimmungslage in der Bevölkerung schlussreiche Informationen sowie Einsichten und oft auch Ostdeutschlands bemerkbar. Michael Schönherr und persönliche Ansichten vermittelt haben, sei an dieser Olaf Jacobs gehen der Frage nach, inwieweit Ostdeut- Stelle gedankt. Dank gebührt auch dem Schwabenverlag sche in den Elitepositionen sowohl Deutschlands als auch und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Druckvor- Ostdeutschlands tatsächlich repräsentiert sind oder im stufe für die stets gute und effiziente Zusammenarbeit. Laufe der Zeit überhaupt in Führungspositionen nachrü- cken konnten. Siegfried Frech

3 1989: DAS JAHR DER WEICHENSTELLUNGEN Das letzte Jahr der DDR Eckhard Jesse

Geschehens, von denen die Rede sein soll, legen davon Das letzte Jahr der DDR gilt oft als ein vergessenes Jahr, Zeugnis ab. obwohl gerade in diesem Zeitraum viele Weichen ge- stellt wurden. Wir sind fixiert auf die Freiheitsrevolution, die etwa in der Leipziger Demonstration vom 9. Oktober Freiheits- und Einheitsrevolution 1989 zum Ausdruck kommt, und die Einheitsrevolution, dokumentiert durch den Fall der Mauer am 9. November 1989 brachen die meisten kommunistischen Systeme plötz- 1989. Das 41. Jahr der DDR brachte gravierende Ent- lich und unerwartet zusammen.5 Dies galt auch für den scheidungen. Der Zehn-Punkte-Plan Helmut Kohls war zweiten deutschen Staat, die DDR.6 Veränderte außenpo- von größerer Tragweite als der maßgeblich von DDR- litische Konstellationen spielten eine große Rolle. Die kri- Oppositionellen initiierte Aufruf „Für unser Land“. Der sengeschüttelte Sowjetunion unter Michail Gorbatschow Zentrale Runde Tisch, der in der Übergangszeit von der war nicht mehr zur Intervention in dem von ihr abhängigen Diktatur zur Demokratie eine große Rolle spielte, plä- Staat bereit. dierte für schnelle Wahlen zur Volkskammer, ohne aber Das unkoordinierte Wechselspiel von Flucht und Demonst- die Einheit Deutschlands zu propagieren. Mit überwälti- ration – von „exit“ und „voice“7 – förderte den Zusammen- gender Mehrheit stellte der Ausgang dieser Wahl eine bruch der SED-Diktatur. Die Fluchtbewegung in andere Art Plebiszit für die deutsche Einheit dar. Der Staatsver- Ostblockländer wie Ungarn löste im Lande eine Demonst- trag, der Wahlvertrag und der Einigungsvertrag bildeten rationsbewegung aus. Der Ruf „Wir wollen raus“ provo- wichtige Schritte auf dem Weg zur Wiedervereinigung. zierte den Ruf „Wir bleiben hier“. In Leipzig hatte schon Es verbietet sich daher, das letzte Jahr der DDR als ein länger eine renitente Szene Wurzeln geschlagen.8 Die Jahr der verpassten Chancen zu interpretieren. 30 Jahre Leipziger Montagsdemonstrationen vom September 1989 nach der deutschen Einheit will selbst der schärfste Geg- im Anschluss an Friedensgebete in Kirchen entfalteten eine ner sie nicht rückgängig machen. große Dynamik, die Sicherheitskräfte nicht unterbinden konnten. Am 2. Oktober erscholl aus den Reihen der mitt- lerweile etwa 20.000 Demonstranten erstmals der Ruf „Wir sind das Volk“.9 Der Mythos von den verpassten Chancen

Die DDR sei untergangen, so die DDR-Schriftstellerin Dani- ela Dahn, „als sie gerade anfing, Spaß zu machen. Und zwar nicht nur für ein paar Dutzend Bürgerrechtler, son- dern für Millionen Menschen, die endlich ihr Schicksal in die Hand genommen hatten, demonstrieren gingen, auf Versammlungen sprachen, Resolutionen verfassten, sich neuen Gruppen anschlossen, Plakate malten, Häuser be- setzten, Parteien und Verbände gründeten, Menschenket- ten bildeten, unabhängige Studenten- und Betriebsräte wählten, Flugblätter druckten, die alten Chefs absetzten, in Städten und Dörfern Runde Tische einrichteten. So viel Selbstbestimmung war nie.“1 Manche idealisieren die Entwicklung im letzten Jahr, spre- chen von einem „wunderbaren Jahr der Anarchie“2 und be- dauern die schnelle Einigung, die nicht das demokratische Potenzial jenes Jahres genutzt habe. „Dass die anfängli- chen autonomen Lernprozesse auf dem Weg von der alten in eine neue DDR abgebrochen wurden, war ein echter Mangel.“3 Und bei Stefan Bollinger heißt es: „Die DDR in Der 9. Oktober 1989 gilt viel- ihrem 41. Jahr hatte emanzipatorische Ansätze und Chan- fach als der „Tag der Entschei- cen für ein neues Entwicklungsmodell. Sie wurden aus vie- dung“. Nach dem Montagsge- lerlei Gründen nicht genutzt.“4 Ist damit die Situation des bet in der Nikolaikirche zog ein Jahres 1990 angemessen für die DDR beschrieben? War friedlicher Demonstrationszug der Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland wirklich ein von etwa 70.000 Personen vom Akt der „Selbstaufgabe“? Ist die These angebracht, die Karl-Marx-Platz um den Leipzi- deutsche Einheit sei keine konsequente Folge der Selbstbe- ger Innenstadtring. Neben stimmung? Nein: Im Jahr 1990 wurden im Osten, nicht mehr „Keine Gewalt“ wurde „Wir SED-Diktatur, noch nicht mit dem Westen vereint, keine sind das Volk“ gerufen. Chancen verpasst, sondern genutzt. Die Knotenpunkte des picture alliance/dpa

4 Der 9. Oktober 1989 gilt vielfach als der „Tag der Ent- DAS LETZTE JAHR DER DDR 10 scheidung“ . Ein friedlicher Demonstrationszug von etwa 70.000 Personen zog um den Leipziger Innenstadtring. Neben „Keine Gewalt“ wurde „Wir sind das Volk“ gerufen. Die Angst, der Staat könne ein Blutbad anrichten, eine sche Kroppzeug gekämpft. […] Mir braucht keiner zu sa- „chinesische Lösung“ vorsehen, war verbreitet.11 Doch an- gen, wie man mit dem Klassenfeind umgeht. Ich hoffe bloß, gesichts der schieren Menschenmasse blieben die Sicher- dass ihr das genau wisst. Umzugehen, Schießen liebe Ge- heitskräfte in den Kasernen. An den folgenden Montagen, nossen und dass die Panzer dann vor der Bezirksleitung als die Gefahr eines Blutbades immer mehr schwand, stieg und vor dem ZK stehen, das wäre noch die einfachste Sa- die Zahl der Demonstrationsteilnehmer auf mehrere che. Aber solch eine komplizierte Situation nach 40 Jahren 100.000 an. Sie betrug am 6. November nahezu 500.000, DDR?“13 Die DDR-Oberen sahen die Aussichtslosigkeit ih- wobei die Zahlenangaben schwanken. Nach dem Fall der rer Lage ein. Mauer mutierte die Hauptparole. Nun hieß es nicht mehr: Die Feiern zum 40-jährigen Gründungstag der DDR am „Wir sind das Volk“, sondern „Wir sind ein Volk“.12 Die Frei- 7. Oktober 1989 in bewährter – und bewehrter – Form mit heitsrevolution schlug binnen kurzem in eine Einheitsrevo- Militärparade offenbarten eine gespenstische Atmo- lution um. Kein Jahr nach dem 40. Jahrestag der DDR war sphäre. „Drinnen“ wurde gefeiert, „draußen“ protestiert. In Deutschland vereint. der Folge eskalierte die öffentliche Unzufriedenheit zuse- Dass ein gewaltsames Eingreifen des Staates aufgrund der hends. Egon Krenz wollte nach dem Sturz Honeckers eine vielen Demonstranten damals unwahrscheinlich war, zeigt „Bremserpolitik“ betreiben, weshalb er und die Partei da- u. a. eine seinerzeit nicht öffentlich bekannte Äußerung des rum bemüht waren, die Spitze der Reformbewegung zu bil- Innenministers Friedrich Dickel, die zugleich belegt, dass den. Bis 1989 hatten ungefähr drei Millionen Menschen, die Passivität der staatlichen Organe nicht auf Humanität darunter zahlreiche bürgerliche Eliten, die DDR in Richtung zurückgeht: „Natürlich ist das in dem Moment ein Zurück- Bundesrepublik verlassen (bis zum Mauerbau etwa zwei- weichen, aber ich sage Euch noch einmal, bei Größenord- einhalb Millionen). So konnte keine deutliche Systemoppo- nungen von 20, 30, 80 oder gar 100.000 ist gar nichts an- sition, getragen von bürgerlichen Positionen, entstehen, deres möglich. Am Montag ist das gleiche wieder in Leip- wobei der Berufung auf „sozialistische Ideen“ zum Teil frei- zig, das geht jetzt schon wochenlang, und wir schlagen lich eine legitimatorisch-absichernde Funktion innewohnte. uns hier die Nächte um die Ohren. […] Ich würde am liebs- Zudem schob das kommunistische Regime Widerspenstige ten hingehen und diese Halunken zusammenschlagen, zum „Klassenfeind“ ab. Nach dem Zusammenbruch der dass ihnen keine Jacke mehr passt. Ich war 1953 verant- Diktatur wussten sich die Oppositionellen nur einig in dem, wortlich hier in Berlin. Mir braucht keiner zu sagen, was die was sie nicht wollten (eine kommunistische Diktatur), aber weiße Brut veranlasst. Ich bin als Jungkommunist nach nicht einig in dem, was sie wollten. Spanien und habe gegen die Halunken, dieses faschisti- Die Staatssicherheit verhielt sich in der Phase des Um- bruchs abwartend und griff nicht aktiv in den politischen (Verfalls-)Prozess ein, hatte allerdings in den oppositionel- len Gruppierungen ihre Informanten untergebracht. Sie war kein „Staat im Staate“, sondern unterstand der all- mächtigen SED. Da diese am Ende der DDR ideologisch entkräftet und gelähmt war, agierte auch die Staatssicher- heit nicht. Sie, die alle oppositionellen Gruppierungen un- schädlich machen sollte, blieb eigentümlich passiv, wohl auch deshalb, weil die ostdeutsche Diktatur offenkundig nicht mehr auf die Bajonette der Sowjetunion vertrauen konnte. Die partielle (politische) Abwendung der DDR von der Sowjetunion ist aber nur der eine Aspekt. Der andere liegt in der partiellen (ökonomischen) Hinwendung der DDR – die 1971 proklamierte „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ hatte in eine Sackgasse geführt – zum ge- schmähten „Klassenfeind“, zur Bundesrepublik. Die DDR- Führung konnte nicht mehr hart durchgreifen. Versuchte die Staatssicherheit zunächst, den Niedergang der DDR auf- zuhalten, wollte sie ihn später abbremsen. Schließlich schien es ihr Bestreben, als der Umbruch unabwendbar war, die eigene Arbeit durch mehr oder weniger systemati- sche Aktenvernichtung möglichst zu vertuschen.

Kohls Initiative und die Initiative „Für unser Land“

Binnen kurzem trat nach Öffnung der Mauer ein Konstella- tionswandel ein. Die Situation in der DDR spitzte sich noch mehr zu, gerieten doch Parteichef Egon Krenz und der neue Ministerpräsident Hans Modrow (seit Mitte November) weiter unter Druck. Die DDR-Regierung wollte mit ihrem

5 Eckhard Jesse

7. Oktober 1989: Die offizielle Festveranstaltung aus Anlass des 40. Jahrestages der DDR im Palast der Republik offen- barte eine gespenstische Atmosphäre. „Drinnen“ wurde gefeiert, „draußen“ protestiert. In der Folge eskalierte die öffentliche Unzufriedenheit zusehends. picture alliance/dpa

Vorschlag einer „Vertragsgemeinschaft“ zwischen den Just am gleichen Tag wurde in Ostberlin der vornehmlich beiden deutschen Staaten in die Offensive gelangen. Ihr von oppositionellen Kreisen verfasste Aufruf „Für unser Schritt war eine Flucht nach vorn. Die Bundesregierung Land“ – Konrad Weiß gehörte zu den Initiatoren – durch hatte sich bis dahin zurückgehalten, um nicht Öl ins Feuer den Schriftsteller Stefan Heym präsentiert.14 Er sollte eine zu gießen, und lediglich grundlegende Reformen in der Vereinigung Deutschlands abwenden. „Noch haben wir DDR angemahnt. Sie schien die Meinungsführerschaft in die Chance, in gleichberechtigter Nachbarschaft zu allen der Haltung zur deutschen Frage zu verlieren, zumal Kohl Staaten Europas eine sozialistische Alternative zur Bun- von sowjetischen Überlegungen wusste, die „deutsche desrepublik zu entwickeln. Noch können wir uns besinnen Frage“ auf die weltpolitische Tagesordnung zu setzen. auf die antifaschistischen und humanistischen Ideale, von Am 28. November folgte ein so überraschender wie effekt- denen wir einst ausgegangen sind. Alle Bürgerinnen und voller Paukenschlag. Bundeskanzler Helmut Kohl, der sich Bürger, die unsere Hoffnung und unsere Sorge teilen, rufen in den Monaten zuvor innerparteilicher Kräfte, die ihn stür- wir auf, sich diesem Appell durch ihre Unterschrift zen wollten, zu erwehren hatte, trat in einer Generalaus- anzuschließen.“15 Dieser Aufruf löste zunächst ein großes sprache zum Bundeshaushalt im Deutschen Bundestag Echo aus, verpuffte jedoch später.16 Heym bezeichnete ebenfalls die Flucht nach vorn an: Mit seinem Zehn-Punkte- Kohls Programm als „Ouvertüre zur Vereinnahmung“ der Programm erlangte er in einer Art Alleingang – nur die DDR. Der ostdeutsche Aufruf, dem später sogar Egon Krenz Amerikaner wurden zuvor informiert, nicht konsultiert – die zustimmte, und die westdeutsche Erklärung sind längst Ge- Initiative zurück. Das maßgeblich mit Horst Teltschik aus schichte. Im Grunde ließ sich Kohls Rede auch als ein „Auf- dem Bundeskanzleramt erstellte Programm enthielt eine ruf für unser Land“ deuten – für ein vereinigtes Deutschland Art Stufenplan für die deutsche Einheit, allerdings ohne nämlich. Sie war in der Tat eine „Ouvertüre“ – aber nicht jede Terminierung. Die Punkte 1 bis 4 betrafen u. a. die In- zur „Vereinnahmung“, sondern zur Lösung von der Verein- tensivierung der Zusammenarbeit mit der DDR. Das dortige nahmung durch die Sowjetunion. Machtmonopol der SED müsse allerdings vorher beendet Die Reaktionen auf die Rede Kohls fielen unterschiedlich sein. In Punkt 5 war von der Entwicklung „konföderativer aus: im eigenen Land und bei der DDR-Bevölkerung über- Strukturen“ die Rede – „mit dem Ziel, danach eine Födera- wiegend positiv, im Ausland eher negativ. Die FDP als Koa- tion, das heißt eine bundesstaatliche Ordnung in Deutsch- litionspartner der Union, obwohl vorher nicht informiert, land zu schaffen“. Kohl vermied eigens den Ausdruck „Kon- war davon recht angetan, ebenso zunächst die SPD, die föderation“, weil er keiner Verfestigung zweier Staaten allerdings eine Aussage zur Unantastbarkeit der polni- Vorschub leisten wollte. Die Punkte 6 bis 9 betonten stark schen Westgrenze vermisste, während die Grünen heftig die Einbettung der innerdeutschen Beziehungen in die ge- protestierten und das Selbstbestimmungsrecht der DDR- samteuropäische Entwicklung, den KSZE- und den Abrüs- Bevölkerung betonten. Bei der Abstimmung am 1. Dezem- tungs-Prozess. Im letzten Punkt schließlich redete Kohl ber 1989 enthielten sich die Sozialdemokraten. Selbst bei Klartext: „Die Wiedervereinigung, das heißt die Wieder- Teilen von ihnen tauchte das Wort vom „Ko(h)lonialismus“ gewinnung der staatlichen Einheit Deutschlands, bleibt (Oskar Lafontaine) auf. das politische Ziel der Bundesregierung.“ Er hatte damit In den USA stieß der Stufenplan Kohls auf große Unterstüt- zwar nur Gängiges zur Sprache gebracht, jedoch in einer zung. Hingegen reagierten die Regierungen von Frank- Situation, die eine operative Deutschlandpolitik begüns- reich und Großbritannien heftig ablehnend. Mitunter tigte. Dieser Plan rief ein großes Echo hervor. Offenbar war machte sogar in – allerdings wenig seriösen – Medien das es der Bundesregierung mit einer Wiedervereinigung poli- Wort vom „Vierten Reich“ die Runde. Die DDR-Regierung tisch ernst. protestierte scharf gegen jegliche Vorstellung einer deut-

6 schen Einheit, die die Stabilität in Deutschland gefährde. DAS LETZTE JAHR DER DDR Auch die Sowjetunion reagierte überaus unwirsch. Außen- minister Eduard Schewardnadse warnte vor einem „deut- schen Revanchismus“. Was Gorbatschow als „politischen Fehlschluss“ des Kanzlers bezeichnet hatte, war vielmehr Teilnehmer am Runden Tisch ein politischer Fehlschluss Gorbatschows. Dieser geriet angesichts der Eigendynamik der Entwicklung immer mehr ins Hintertreffen. Gleichwohl schien Kohl bei dem Straß- Neue Parteien und Organisationen burger Treffen der Staats- und Regierungschefs der Euro- Vereinigte Linke päischen Gemeinschaft am 8. Dezember weitgehend iso- Sozialdemokratische Partei in der DDR liert. Er habe „niemals einen EG-Gipfel in so eisiger Atmo- Bürgerbewegung Demokratie jetzt sphäre“ 17erlebt. Bürgerbewegung Neues Forum Doch die innen- und außenpolitischen Wirkungen der Grüne Partei Rede Kohls änderten bald das Klima. In der DDR bekamen Initiative Frieden und Menschenrechte die entfachten Hoffnungen auf eine Wiedervereinigung Grüne Liga Nahrung. Die Fluchtbewegung hörte freilich nicht auf. Das Unabhängiger Frauenverband Ausmaß der Krise stieg, die Angst vor einem Kollaps der DDR machte die Runde. Andere Staaten versuchten regu- Alte Parteien und Organisationen lierend einzugreifen, fanden allerdings keine geeigneten Sozialistische Einheitspartei (SED) Ansatzpunkte. Gegen die Selbstbestimmung der Deut- Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD) schen ließ sich schwer ein plausibles Argument finden. Das National-Demokratische Partei Deutschlands Timing von Kohls Rede „saß“: Zwei Tage später trafen sich (NDPD) Bush und Gorbatschow vor Malta. Die Strategie des Kanz- Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD) lers glich in mehrfacher Hinsicht einer Gratwanderung. Ei- Christliche Demokratische Union (CDU) nerseits musste das Programm einen Überrumplungseffekt Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB) haben, andererseits durfte es nicht Argwohn gegenüber Freier Deutscher Gewerkschaftsbund (FDGB) deutscher Unberechenbarkeit schüren. Er konnte zwar Demokratischer Aufbruch (DA) nicht über Bush verfügen, wollte ihn jedoch indirekt auf sei- nen Kurs festlegen. Zu Recht hatte der Kanzler in seinem Zehn-Punkte-Programm die außenpolitische Orientierung Unter der Leitung dreier kirchlicher Würdenträger standen eines vereinigten Deutschlands ausgespart, um keine Dis- zunächst 15 Repräsentanten der „neuen Kräfte“ 15 Reprä- kussion über das heikle Thema zu provozieren. Eine Wie- sentanten der „alten Kräfte“ gegenüber: neben der SED dervereinigung fand die amerikanische Unterstützung nur die einstigen vier Blockparteien CDU, LDPD, DBD, NDPD. unter der Bedingung der NATO-Zugehörigkeit Gesamt- Ab der zweiten Sitzung am 18. Dezember 1989 bis zur letz- deutschlands. ten Sitzung am 12. März 1990 waren auf der Seite der neuen Kräfte je zwei Vertreter der „Grünen Liga“ und des „Unabhängigen Frauenverbandes“ dazugekommen, auf Der Zentrale Runde Tisch der anderen Seite je zwei Vertreter des FDGB und der Ver- einigung der gegenseitigen Bauernhilfe. Der Runde Tisch, Bürgerrechtler sprachen sich am Zentralen Runden Tisch der 16 Arbeitsgruppen eingesetzt hatte, tagte wöchent- für die Entmachtung der Staatssicherheit aus und drängten lich. auf einen Termin für erste demokratische Wahlen im Land, Die oppositionellen Kräfte erklärten eingangs weitsichtig schmollten jedoch beim Einigungsprozess. Am 7. Dezem- und realistisch: „Am Runden Tisch haben sich fünf beste- ber 1989 trat in Berlin im Dietrich-Bonhoeffer-Haus, später hende Parteien und acht in Bildung begriffene oppositio- – ab der 4. Sitzung – im Schloss Schönhausen in Pankow, nelle Gruppen bzw. Parteien versammelt. Keine dieser dem ehemaligen Amtssitz von Wilhelm Pieck, – der Zent- Kräfte, auch nicht die Volkskammer und Regierung hat eine rale Runde Tisch zusammen. Der Runde Tisch, der ein ecki- hinreichende Legitimation durch freie und demokratische ger war, ist kein deutsches Spezifikum in der friedlichen Re- Wahlen. Sie können deshalb keine grundlegenden Ent- volution 1989, eher eine Adaption der polnischen Entwick- scheidungen für unser Land treffen. Der Runde Tisch kann lung. An ihm kamen die Befürworter und die Gegner des keine Regierungsfunktion ausüben. Wir wollen nicht daran SED-Systems zusammen. Die „alten Kräfte“18, um die Termi- mitschuldig werden, dass dieser Tatbestand vor dem Volk nologie Uwe Thaysens zu benutzen, der als wissenschaft- verschleiert wird.“19 Allerdings lautete der nächste Satz: licher Begleiter der Arbeit des Zentralen Runden Tisches „Wir erklären, dass wir nur eine Politik unterstützen wollen, das Standardwerk zu diesem Thema geschrieben hat, die die Eigenständigkeit unseres Landes wahrt.“ So lautete hofften auf diese Weise, der revolutionären Entwicklung der Fluchtpunkt der Arbeit des Runden Tisches. ihre Spitze nehmen zu können. Die „neuen Kräfte“ wollten Das Machtzentrum war freilich nicht am Runden Tisch ver- einen schnellen Übergang von der Diktatur zur Demokra- treten. Gleichwohl suchte Ministerpräsident Hans Mod- tie. Die einen suchten den Systemwechsel hinauszuzögern, row in Krisensituationen den Runden Tisch auf. Oppositio- die anderen ihn zu beschleunigen. Beide Seiten wollten nelle (bis auf die linksradikalen Vertreter der „Vereinigten diesen Prozess nun friedlich gestalten und die Revolution Linken“) gelangten ab Ende Januar 1990 in die „Regierung ab diesem Zeitpunkt gleichsam aushandeln. In der gesam- der nationalen Verantwortung“ Modrows (als Minister ten DDR entstanden zahlreiche Runde Tische, z. B. auf Be- ohne Geschäftsbereich). Sie stützten so faktisch den Kurs zirks- und Kreisebene, zum Teil auch thematische Runde der letzten illegitimen DDR-Regierung20 und gaben ihre Tische. Kontrollfunktion weitgehend ab. Damit ließen sie sich von

7 Modrow für seinePolitik einspannen, etwa bei dem Besuch in Bonn und dem Treffen mit Bundeskanzler Helmut Kohl. Immerhin erreichten sie zuvor die Abschaffung der Staats- sicherheit. Eckhard Jesse Der Runde Tisch hat seinen Anteil an der Friedlichkeit des Verlaufs der revolutionären Entwicklung. Und er unterließ Versuche, seine Arbeit über die Zeit nach der demokrati- schen Wahl der Volkskammer zu verlängern. Die Berechti- gung seiner Existenz bestand gerade darin, diese bald überflüssig zu machen. Er war nicht so mächtig, dass er die Regierung tatsächlich kontrollieren konnte. Aber umge- kehrt bedurfte diese seiner vielfältigen Unterstützung. Der Runde Tisch, auf den Erhalt einer demokratisierten DDR fi- xiert, hat zur deutschen Einheit wenig beigetragen. So wurde in der ersten Sitzung eine Erklärung zum Selbstver- ständnis, deren erster Satz folgendermaßen lautete, ein- stimmig angenommen: „Die Teilnehmer des Runden Tisches treffen sich aus tiefer Sorge um unser in eine Krise gerate- nes Land, seine Eigenständigkeit und seine dauerhafte Entwicklung.“21 Zum Besuch von Kanzler Kohl gab der Runde Tisch am 18. Dezember 1989 der Erwartung Ausdruck, dass „der Be- such zum Ausbau in den Beziehungen zwischen der DDR und BRD beiträgt und damit auch der Verantwortung bei- der deutscher Staaten für die Einrichtung einer system- übergreifenden Friedensordnung in Europa entspricht. […] Die Souveränität und staatliche Identität jedes der beiden deutschen Staaten darf durch keine Seite in Frage gestellt werden. […] Von deutschem Boden darf heute keine De- stabilisierung für Europa und damit der Welt ausgehen.“22 Die Formulierungen sind so gewählt, dass kein Zweifel an der Haltung des Runden Tisches mit Blick auf die Zwei- basisdemokratische, wenn nicht gar rätedemokratische staatlichkeit aufkommen konnte. Prinzipien. Vage Konzepte der Herrschaftslosigkeit waren Der Zentrale Runde Tisch strebte demokratische Wahlen u. a. eine Reaktion auf jahrzehntelange diktatorische Herr- an, um sich überflüssig machen zu können. Das gilt selbst schaft. Der Zentrale Runde Tisch war mächtig und ohn- für die Vertreter der SED. So hieß es in der ersten Sitzung mächtig zugleich. Mächtig insofern, als er zur Stabilität bei Gregor Gysi „Und für Neuwahlen zum schnellstmögli- wie zur Friedlichkeit der Verhältnisse ebenso beitrug wie chen Zeitpunkt bin ich.“23 Hingegen waren die oppositio- zu freien Wahlen und zur Abschaffung des Amtes für Nati- nellen Kräfte mehrheitlich eher für einen späteren Wahl- onale Sicherheit; ohnmächtig insofern, als die Entwicklung termin. Der Runde Tisch einigte sich in der ersten Sitzung nach dem 18. März 1990 über viele seiner unausgegore- auf den 6. Mai 1990 als Termin der Volkskammerwahl (mit nen Vorschläge hinweggegangen ist. Die mehrheitlich 22 Stimmen bei elf Enthaltungen). Die neue SED-Führung eine schnelle deutsche Einheit befürwortende Bevölkerung wollte die Eigenständigkeit der DDR sichern und akzep- hat solchen Positionen eine Absage erteilt. tierte freie Wahlen. Sie versprach sich von einem schnellen Termin Vorteile für den Wahlausgang, während die meis- ten oppositionellen Kräfte in einem frühen Termin ihre Volkskammerwahlen am 18. März 1990 Chancengleichheit gefährdet sahen, weder organisato- risch noch programmatisch noch strategisch auf einen Das Wahlrecht wurde faktisch von der Volkskammer ge- Wahlkampf vorbereitet. Später gelang es Hans Modrow macht (mit gewissen Modifikationen, etwa der Ablehnung (und der SPD, die sich zu jenem Zeitpunkt als Gewinnerin einer Sperrklausel).24 Die Arbeitsgruppe des Runden Tisches einer baldigen Wahl wähnte) sogar im Zusammenhang mit „Neues Wahlgesetz“ unter dem Vorsitz von Wolfgang Ull- dem Eintritt der oppositionellen Kräfte in seine Regierung mann und Lothar de Maizière funktionierte nicht gut, trat erst den Wahltermin auf den 18. März vorzuverlegen. spät zusammen (auch wegen zu hoher Arbeitsbelastung). Sie Der Runde Tisch trat immer mehr als Repräsentant der war dem „zeitweiligen Volkskammerausschuss zur Erarbei- „DDR-Identität“ auf, nicht als vorwärtstreibende gesell- tung eines neuen Wahlgesetzes“ nicht gewachsen. Offenkun- schaftliche Kraft. Allmählich verschmolzen die Positionen dig wurde der Runde Tisch „gerade in der Wahlfrage seinem zwischen den „alten“ und den „neuen“ Kräften. CDU und eigenen Anspruch nicht gerecht […], in diesem Punkt als trei- LDPD setzten auf Abgrenzung von der SED/PDS, während bende Kraft zu agieren.“25 So verzichtete er sogar darauf, an- manche der oppositionellen Gruppen Positionen der ge- ders als vorgesehen, einen eigenen Wahlgesetzentwurf vor- wandelten und umbenannten SED übernahmen. Der eine zulegen. Allerdings war dies keine Katastrophe, da die unde- Machtkampf – alte versus neue Kräfte – ging in einen an- mokratisch gewählte Volkskammer – nicht zuletzt dank der deren Machtkampf über. Den wenigen Anhängern einer Kräfte, die nun nicht mehr als Blockparteien firmierten, – ein schnellen Einheit standen nun deren zahlreiche Gegner demokratisches Wahlverfahren zügig ausgearbeitet hatte. gegenüber. Manche diffuse Vorstellungen grenzten an Die basisdemokratisch ausgerichteten Gruppierungen er-

8 DAS LETZTE JAHR DER DDR

Union (6,3 Prozent). Dieser Zusammenschluss verfügte im Süden der DDR (Sachsen, Thüringen) über Hochburgen. Auf die SPD, die als Favorit galt, entfiel gut jede fünfte, auf die PDS nicht einmal bzw. immerhin – je nach Perspektive – jede sechste Stimme, auf die liberalen Kräfte nur jede 20. Noch schlechter schnitten die Bürgerrechtler ab. Das Neue Forum, Demokratie jetzt, die Initiative Frieden und Men- schenrechte fusionierten sich zum Bündnis 90. Dieses kam lediglich auf 2,9 Prozent. Die Grünen, zusammen mit dem Unabhängigen Frauenverband angetreten, erreichten Im Februar 1990 wetteifern ganze zwei Prozent. Dem Verlangen nach einer eigenen unterschiedliche Parteien mit DDR war kein Erfolg beschieden.28 Plakaten in Dresden Pillnitz um Der Ausgang der Volkskammerwahlen beschleunigte das die Gunst der Wählerinnen Tempo in Richtung deutsche Einheit. Die oft als „Laienspie- und Wähler zu den ersten und ler“ verspotteten Politiker zeigten sich ihrer schwierigen letzten freien Volkskammer- Aufgabe gewachsen. Die Regierung Lothar de Maizières wahlen am 18. März 1990. Ins- aus der „Allianz für Deutschland“, der SPD und den Libera- gesamt traten 24 Parteien und len sah sich mit den Forderungen nach einer schnellen politische Gruppierungen zur deutschen Einheit konfrontiert. Wahl an. Der Wahlausgang bei einer Wahlbeteiligung von 93,4 Prozent beschleunigte das Staatsvertrag, Wahlvertrag und Einigungsvertrag Tempo in Richtung deutsche Einheit. Zum 1. Juli 1990 wurde das „Wagnis“29 einer Wirtschafts-, picture alliance/dpa Währungs- und Sozialunion („Staatsvertrag“) eingegangen, die D-Mark damit alleiniges Zahlungsmittel in der DDR. Die Währungsunion war unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten reichten immerhin ihre Teilnahme an der Wahl – auch als prekär, aber politisch ohne angemessene Alternative, wollte Nichtparteien. Das Ergebnis zeigt Macht und Ohnmacht des die Politik den Übersiedlerstrom eindämmen. Die Fortzahlung Runden Tisches zugleich: „Die Volkskammer hatte ihre formale von Löhnen, Renten und Mieten erfolgte im Verhältnis 1:1, die Kompetenz als Legislativorgan grundsätzlich behauptet, war Umstellung von Guthaben und Schulden im Verhältnis 2:1 aber faktisch nur vom Akklamationsorgan der SED zu dem des (Ausnahme: ein nach dem Alter gestaffelter Sockelbetrag in Zentralen Runden Tisches geworden. Der Runde Tisch seiner- Höhe von 2.000 D-Mark, 4.000 D-Mark und 6.000 D-Mark im seits war als Machtbasis der ‚Regierung der Nationalen Ver- Verhältnis 1:1). Damit wurden die Weichen auch für die politi- antwortung‘ nunmehr in eine der ursprünglichen Konzeption sche Einheit gestellt. Realistisch wäre aus ökonomischer Sicht der SED von einer modifizierten Nationalen Front nicht unähn- ein weitaus schlechterer Kurs gewesen, aus politischer Pers- liche Rolle geraten.“26 Insofern hat der Runde Tisch mit Blick auf pektive jedoch nicht. Was kaum jemand weiß: Ein Referatslei- die Wahlen nicht sonderlich prägend gewirkt. Seine ursprüng- ter im Finanzministerium und der beamtete Staatssekretär in liche Absicht, das Wahlgesetz durch einen Volksentscheid zu diesem Ministerium leiteten maßgebliche Vorarbeit für den verabschieden, musste schon aus Zeitgründen aufgegeben Finanzminister Theo Waigel: Im ersten Fall handelt es sich um werden. Thilo Sarrazin, den späteren Verfasser des umstrittenen Best- Nachdem die Volkskammer auf Druck des Zentralen Run- sellers „Deutschland schafft sich ab“, im zweiten Fall um Horst den Tisches am 20. Februar 1990 ein demokratisches Köhler, den Bundespräsidenten von 2004 bis 2010.30 Wahlrecht verabschiedet hatte, stand den ersten freien Am 3. August 1990 kam der „Vertrag zur Vorbereitung und Wahlen nichts mehr im Wege. „Das neue Wahlrecht war Durchführung der ersten gesamtdeutschen Wahl des Deut- zwar nicht revolutionär im Sinne der von manchen verfoch- schen Bundestages zwischen der Bundesrepublik Deutsch- tenen Vision einer grundsätzlich ‚höheren Qualität‘ demo- land und der Deutschen Demokratischen Republik“ zustande. kratischer Wahlen. Es war aber sehr wohl revolutionierend Das Bundesverfassungsgericht erklärte später manche Be- im Sinne der Überwindung der bestehenden, den Bürgern stimmungen dieses Vertrages für verfassungswidrig, so etwa unerträglich gewordenen Herrschaftsverhältnisse.“27 Im die bundesweite Fünfprozentklausel. Es forderte bei der ersten stark von den Parteien des Westens geprägten Wahl- gesamtdeutschen Wahl eine für den Osten und den Westen kampf stand die Frage nach der schnellen deutschen Ein- gesondert geltende Sperrklausel. Auf diese Weise sicherte heit im Vordergrund. der „Hüter der Verfassung“ der verfassungsfeindlichen PDS Womit kaum jemand gerechnet hatte: Das Ergebnis der den Einzug in den Bundestag – und vielleicht auch ihr Überle- ersten demokratischen Volkskammerwahl vom 18. März ben. 1990 brachte bei einer extrem hohen Wahlbeteiligung von Am 23. August 1990 morgens gegen 3.00 Uhr beschloss die 93,4 Prozent einen klaren Sieg der „Allianz für Deutsch- Volkskammer auf einer turbulenten, quälend langen, immer land“ mit fast 50 Prozent der Stimmen – zu ihr gehörten wieder durch Auszeiten unterbrochenen Sondertagung den neben der CDU (40,8 Prozent) der Demokratische Auf- Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland. Dieser Tag bruch (0,9 Prozent) und die konservative Deutsche Soziale beendete damit das nicht zuletzt parteipolitisch bedingte wo-

9 chenlange Tauziehen über den Zeitpunkt der deutschen Ein- Abstimmung laut Protokoll „jubelnden Beifall bei der CDU/DA, heit. Verschiedene Termine standen zur Diskussion. Dies hing der DSU, teilweise bei der SPD“ aus. Pathetisch und bedau- einerseits mit parteitaktischen Finessen zusammen, anderer- ernd hatte er erklärt: „Frau Präsidentin! Das Parlament hat so- seits mit drei bisher noch nicht definitiv geregelten Punkten von eben nicht mehr und nicht weniger als den Untergang der Eckhard Jesse zentraler Bedeutung: dem Einigungsvertrag, dem 2+4-Ver- Deutschen Demokratischen Republik zum 3. Oktober 1990 trag und der Länderneubildung. Günther Krause, Parlamenta- beschlossen.“32 Gysi ahnte in diesem historischen Moment die rischer Staatssekretär beim Ministerpräsidenten Lothar de Wirkung seiner Worte nicht. Maizière, schlug als Kompromisstermin den 3. Oktober vor. Der „Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Dieser Termin wurde gewählt, weil die KSZE-Außenminister- der Deutschen Demokratischen Republik“ („Einigungsvertrag“) konferenz, die am 1. und am 2. Oktober tagte, das Ergebnis wurde erst am 31. August 1990 unterzeichnet. Dieser umfas- der 2+4-Verhandlungen mitgeteilt bekommen sollte. Der von sende, unter großem Zeitdruck ausgehandelte Vertrag – Ver- den Fraktionen der CDU/DA, der DSU, der FDP und der SPD handlungsführer auf ostdeutscher Seite war wie schon beim schließlich eingereichte Abänderungsantrag lautete wie folgt: Staatsvertrag Günther Krause, auf westdeutscher Wolfgang „Die Volkskammer erklärt den Beitritt der DDR zum Geltungs- Schäuble – ist eine beachtliche Leistung, unabhängig von bereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik gemäß Arti- manchen Fehlern, die bei dem ungeheuren Zeitdruck als un- kel 23 des Grundgesetzes mit Wirkung vom 3. Oktober 1990. vermeidbar angesehen werden müssen. In diesem Vertrags- Sie geht dabei davon aus, dass die Beratungen zum Eini- werk ist der in der Praxis später modifizierte Grundsatz „Rück- gungsvertrag zu diesem Termin abgeschlossen sind, die gabe vor Enteignung“ festgeschrieben worden. 2+4-Verhandlungen einen Stand erreicht haben, der die au- Kein Jahr nach dem 7. Oktober, an dem der 40. Grün- ßen- und sicherheitspolitischen Bedingungen der deutschen dungstag der DDR gefeiert wurde, ging die – nunmehr de- Einheit regelt, die Länderbildung soweit vorbereitet ist, dass mokratische – DDR zu Ende. Am 3. Oktober 1990 wurde die Wahl der Länderparlamente am 14. Oktober 1990 durch- Deutschland wiedervereint. Ob dafür der pejorativ ge- geführt werden kann.“31 So geschah es dann auch. meinte Begriff der „Übernahme“33 ein angemessener Aus- Die für das Beitrittsgesuch notwendige Zweidrittelmehrheit druck ist? Die DDR war 40 Jahre eine Diktatur, eine Diktatur wurde klar erreicht: 264 Abgeordnete votierten mit Ja, 62 mit auf deutschem Boden, aber keine deutsche Diktatur. In Nein, sieben enthielten sich. Alle Abgeordneten der CDU/DA, dem Moment, in dem die Sowjetunion die Breschnew-Dok- der SPD (bis auf vier), der DSU und des DBD/DFD stimmten zu, trin aufgab, brach das SED-System zusammen. Die Folge alle der PDS dagegen. Das Stimmverhalten von Bündnis 90/ der fehlenden DDR-Identität: die deutsche Einheit. Grüne war gespalten: Zwei (Joachim Gauck und Konrad Weiß) gaben eine Ja-Stimme ab, sieben eine Nein-Stimme (u. a. Marianne Birthler, Gerd Poppe, Jens Reich und Werner Nach 30 Jahren Schulz), fünf enthielten sich (u. a. Günter Nooke und Vera Wol- lenberger). Viele der engagierten Demokraten fühlten sich Die Erfolge der Einheit sind einerseits unbestritten, gerade von der Schnelligkeit des Prozesses überrumpelt. für den Osten: politisch und ökonomisch. Die neuen Bun- Der ansonsten eloquent-wirkungsmächtige PDS-Fraktionsvor- desländer stehen deutlich besser da als die ehemaligen sitzende Gregor Gysi löste mit seinem Einwurf direkt nach der Ostblockländer, die ohne „großen Bruder“ die Abnabe-

Der „Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokrati- schen Republik“ (Einigungsver- trag) wurde am 31. August 1990 unterzeichnet. Dieser umfassende, unter großem Zeitdruck ausgehandelte Ver- trag – Verhandlungsführer auf ostdeutscher Seite war Gün- ther Krause, auf westdeutscher Wolfgang Schäuble – ist eine beachtliche Leistung, unabhän- gig von manchen Fehlern, die bei dem Zeitdruck als unver- meidbar angesehen werden müssen. picture alliance/dpa

10 lung von der Vergangenheit schaffen mussten: und zwar in DAS LETZTE JAHR DER DDR politischer, ökonomischer und kultureller Hinsicht. Zu einer sachgerechten Bilanz gehört es freilich ebenso, Defizite zu benennen. Die Kernfrage lautet dabei: Gehen diese auf die Zeit vor der Einheit zurück, oder sind sie mit Fehlern nicht Polarisierung.34 Die Proteste gegen die zum Teil unkont- nach der Einheit zu erklären? Wer fair ist, wird den einen rollierte Masseneinwanderung im Herbst 2015, die sich auf wie den anderen Sachverhalt benennen. Das DDR-System die Parole „Wir sind das Volk“ stützen, wollten ganz bewusst war wirtschaftlich in einem Maße marode, wie es der Wes- an die Demonstrationen gegen die SED anknüpfen. Für Kritiker ten so nicht erwartet hatte. Und bestimmte Verhaltenswei- stellt dies eine Anmaßung dar. sen, etwa der Glaube an den allmächtigen Staat, der es Der beträchtliche Wandel auf den unterschiedlichsten Fel- richten werde, wirken nach. Allerdings sind nach 1990 dern in den letzten 30 Jahren geht bloß zum Teil auf die deut- auch Fehler gemacht worden. In gewisser Weise konnte sche Einheit zurück, wesentlich auf die Globalisierung mit der dies nicht anders sein. Der Zusammenschluss zweier ge- digitalen Revolution. Die Bundesrepublik Deutschland ist keine gensätzlicher Systeme, die mehr als 40 Jahre getrennte „Berliner Republik“ geworden, blieb die verfassungspolitische Wege eingeschlagen hatten, war präzedenzlos. Wer die und wirtschaftliche Struktur doch erhalten. Der Wandel zumal Annahme vertrat, der Zusammenschluss werde ohne grö- in der Außenpolitik ist allerdings mit Händen zu greifen. Zwar ßere Probleme vonstatten gehen, ließ Realismus vermissen. besteht die Westbindung nach wie vor, aber Deutschland Deutlich mehr Ostdeutsche sind in den Westen gegangen trägt mehr – akzeptierte – Verantwortung, selbst militärische. als umgekehrt. Heute wohnen auf dem Gebiet der DDR Der Wandel beim Parteiensystem und beim Wahlverhalten ist zwei Millionen Menschen weniger als vor 30 Jahren. Mitt- zum Teil eine Reaktion auf die deutsche Einheit. Bei den Bun- lerweile ist der Abwanderungsprozess fast gestoppt, wo- destagswahlen 2002, 2005 und 2013 hätte es eine schwarz- bei die Überalterung zu schaffen macht. Es war eine be- gelbe Mehrheit im Westen gegeben, dasselbe Votum voraus- trächtliche, nicht immer hinreichend gewürdigte Lebens- gesetzt. Ost ist allerdings nicht gleich Ost. Brandenburg stellt leistung Ostdeutscher, sich in den neuen Verhältnissen im Gegensatz zu Sachsen ein „rotes“ Bundesland dar. Hier zurechtzufinden. Mit der besseren Lebensqualität in den pendelt der Stimmenanteil für die CDU bei Landtagswahlen jungen Ländern hängt die gestiegene Lebenserwartung um die 20 Prozent. Wenn die SPD seit 1990 etwa 500.000 Mit- zusammen. Sie ist hier mittlerweile fast so hoch wie in den glieder verloren hat (und die Union im gleichen Zeitraum rund alten Ländern. Hingegen starben die Menschen vor der 400.000), so ist der Osten damit kein Vorreiter für den Westen. Einheit im Osten durchschnittlich knapp drei Jahre früher Zwar fällt die Rekrutierungsfähigkeit der Parteien im Osten um als im Westen. Was kaum jemand weiß: War die Selbst- über die Hälfte niedriger aus als im Westen, aber die schrump- mordrate in der DDR fast doppelt so hoch wie in der Bun- fende Zahl der „Parteibürger“ – eine Reaktion auf gesamtge- desrepublik, besteht mittlerweile kaum mehr ein Unter- sellschaftliche Prozesse – steht in keinem Zusammenhang mit schied. der deutschen Einheit. Die Erfolge der rechtspopulistischen Die Zahl der „Ossi“- und „Wessi“-Witze ist längst ge- AfD fallen im Osten (Bundestagswahl 2017: 21,9 Prozent) stär- schrumpft, der Gebrauch des bösen Wortes von „Dunkel- ker aus als im Westen (Bundestagswahl 2017: 10,7 Prozent). deutschland“ hat im Westen nachgelassen, das Klischee Gleiches gilt für das Abschneiden der aus der SED hervorge- vom arroganten Westdeutschen im Osten. Es gibt, anders gangenen Partei Die Linke (Ost: 17,8 Prozent; West: 7,4). Im als etwa in Belgien, Großbritannien oder Spanien, keiner- Vergleich zu den Bundestagswahlen 2013 haben sich die Un- lei sezessionistische Anflüge. Kaum jemand hat – positiv terschiede zwischen Ost und West bei der AfD erhöht, bei der oder negativ – den Sachverhalt erwähnt, dass mit Joachim Partei Die Linke vermindert. Gleichwohl ist Die Linke noch stär- Gauck und Angela Merkel Politiker aus den neuen Ländern ker eine Ostpartei als die AfD. das oberste und das mächtigste Staatsamt zwischen 2012 „Das“ Ausland, das vielfach bewundernd nach Deutschland und 2017 bekleideten. Dies ist ebenso ein schönes Zeichen blickt, kann nicht recht den hiesigen Missmut begreifen, der der Normalität wie die Zunahme entspannten Patriotismus dann und wann auflebt. Betont wird vielfach weniger das Er- in Deutschland, nicht zuletzt dank der Einheit. Das weniger reichte als das noch Nicht-Erreichte. Und: Manche denken verkrampfte Verhältnis zu nationalen Symbolen ist deren nach wie vor in Ost-West-Kategorien. Die politische Kultur Folge. Auch wenn die Entscheidung für den (geschichtslo- Deutschlands ist längst nicht mehr in den Osten und in den sen) 3. Oktober als Nationalfeiertag wohl Plausibilität ver- Westen geschieden. Wie subnationale Analysen zeigen, ver- missen lässt: Jede Änderung trüge jetzt zur Delegitimation laufen regionale Unterschiede nicht nach Ost und West35, so des Staatswesens bei. Die Entscheidung für Berlin als das Klischee. Vor dem Hintergrund der plötzlichen Vereini- Hauptstadt und Sitz der Regierung wie des Parlaments war gung muss das Urteil ungeachtet einiger Defizite im politi- dagegen folgerichtig: Mit dem beschaulichen Bonn hätte schen und wirtschaftlichen Bereich lauten: Die Geschichte der sich Deutschland kleiner gemacht, als es ist. Einheit ist alles in allem gesehen eine deutsche Erfolgsge- Gewiss, die Menschen in den neuen Bundesländern schät- schichte! zen Gleichheit höher ein als die im Westen, wobei im Wes- Der Heidelberger Historiker Edgar Wolfrum hat vor mehr als ten die Zahl der „Freiheitsfreunde“ zurückgegangen ist. einem Jahrzehnt in einem großen Werk die Geschichte der Noch in einem anderen wesentlichen Punkt gibt es Diffe- Bundesrepublik Deutschland als „geglückt“ bezeichnet.36 In renzen. Die ostdeutsche „Konsenskultur“ färbt auf den seinem neuesten Buch wird das vereinigte Deutschland nicht Westen ab, der sich bequem im Besitzstandsdenken ein- so positiv gesehen.37 Das Land sei verunsichert und unbere- gerichtet hat. Häufig ist von „alternativlosen“ Entscheidun- chenbar geworden. Die vielbeschworene innere Einheit lasse gen die Rede, weniger von einer offenen Streitkultur, die zu wünschen übrig. Wie fällt in weiteren 30 Jahren die Bilanz die Gesellschaft voranbringt. Wer mit mutigen Anstößen aus? Wir wissen es nicht – aber was wir wohl wissen: Das aufwartet, gilt zuweilen als anstoßerregend. Wir brau- 41. Jahr der DDR wird nicht verantwortlich für das jeweilige chen mehr Konkurrenz, um Stillstand zu vermeiden – freilich Urteil gemacht.

11 bezog sich aber nicht auf die deutsche Einheit, sondern auf Demonstranten ANMERKUNGEN und Einsatzkräfte des Staates gleichermaßen. Gewalt sollte um jeden Preis vermieden werden. 1 Daniela Dahn, zitiert nach Stefan Bollinger: Vorbemerkung. In: Stefan 13 Tonbandprotokoll der Rede des Ministers des Innern vor den Chefs Bollinger (Hrsg.): Das letzte Jahr der DDR. Zwischen Revolution und Selbst- der Bezirksbehörden der am 21. Oktober 1989, zitiert nach:

Eckhard Jesse aufgabe. Berlin 2004, S. 7. Tobias Hollitzer: „Heute entscheidet es sich: Entweder die oder wir“ – zum 2 Vgl. Christoph Links/Sybille Nitsche/Anja Taffelt: Das wunderbare 9. Oktober 1989 in Leipzig. Vorgeschichte, Verlauf und Nachwirkung. Ein Jahr der Anarchie. Von der Kraft des zivilen Ungehorsams 1989/90. Berlin Beitrag zur Geschichte der Entwicklung 1989/90 in Leipzig. In: Horch und 2004. Guck, 2/1998, S. 32. 3 Dieter Segert: Verpasste Chancen im 41. Jahr. In: Aus Politik und Zeit- 14 Vgl. Konstanze Borchert/Volker Steinke/Carola Wuttke (Hrsg.): „Für geschichte, B 35–37/2019, S. 14; siehe auch Dieter Segert: Das 41. Jahr. unser Land“. Eine Aufrufaktion im letzten Jahr der DDR. Frankfurt am Main Eine andere Geschichte der DDR. Wien u. a. 2008. 1994. 4 Stefan Bollinger: Die finale Krise der DDR. In: Stefan Bollinger (vgl. 15 Der Aufruf ist u.a abgedruckt bei Bollinger (vgl. Anm. 1), S. 162. Anm. 1), S. 54. 16 Zitiert nach Helmut Kohl: „Ich wollte Deutschlands Einheit.“ Dargestellt 5 Vgl. Timothy Garton Ash: Ein Jahrhundert wird abgewählt. Europa im von Kai Diekmann und Ralf Georg Reuth. Berlin 1996, S. 182. Umbruch 1980–1990. Erweiterte Neuausgabe, München 2019. 17 Zitiert nach Helmut Kohl: „Ich wollte Deutschlands Einheit.“ Dargestellt 6 Vgl. u. a. Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in von Kai Diekmann und Ralf Georg Reuth. Berlin 1996, S. 195. der DDR. München 2009. 18 Vgl. Uwe Thaysen: Der Runde Tisch. Oder: Wo blieb das Volk? Der 7 Vgl. Albert O. Hirschman: Abwanderung, Widerspruch und das Weg der DDR in die Demokratie. Opladen 1990. Schicksal der Deutschen Demokratischen Republik. Ein Essay zur konzep- 19 Der Zentrale Runde Tisch der DDR. Wortprotokoll und Dokumente. tionellen Geschichte. In: Leviathan, 4/1992, S. 330–350. Hrsg. von Uwe Thaysen. Wiesbaden 2000, Bd. 1, S. 13. 8 Vgl. etwa Thomas Rudolph/Oliver Kloss/Reiner Müller/Christoph 20 Vgl. dazu Hans Modrow: Ich wollte ein neues Deutschland. Berlin Wonneberger (Hrsg.): Weg in den Aufstand. Chronik zu Opposition und 1998, S. 411f. Widerstand in der DDR von 1987–1989. Leipzig 2014. 21 Der Zentrale Runde Tisch der DDR (vgl. Anm. 19), Bd. 1, S. 62. Die Par- 9 Vgl. u. a. Martin Jankowski: Der Tag, der Deutschland veränderte – allelen zum Aufruf „Für unser Land“ sind offenkundig. 9. Oktober 1989. Essay. Leipzig 2007. 22 Ebd., S. 121. 10 Vgl. z. B. Ekkehard Kuhn: Der Tag der Entscheidung. Leipzig, 9. Oktober 23 Der Zentrale Runde Tisch der DDR (vgl. Anm. 19), Bd. 1, S. 53. 1989. Berlin 1992. 24 Dies wird überzeugend nachgewiesen bei Hans Michael Kloth: Vom 11 Vgl. Tobias Hollitzer: Der friedliche Verlauf des 9. Oktober 1989 in „Zettelfalten“ zum freien Wählen. Die Demokratisierung der DDR 1989/90 Leipzig. Kapitulation oder Reformbereitschaft? Vorgeschichte, Verlauf und und die „Wahlfrage“. Berlin 2000. Nachwirkung. In: Günther Heydemann/Gunter Mai/Werner Müller 25 Ebd., S. 557. (Hrsg.): Revolution und Transformation in der DDR 1989/90. Berlin 1999, 26 Ebd., S. 563. S. 247–288. 27 So zutreffend ebd., S. 720 (Hervorhebung im Original). 12 Der von Bürgerrechtlern um Pfarrer Christoph Wonneberger am 9. Ok- 28 Vgl. für Einzelheiten (auch zu den anderen Wahlen des Jahres) Jürgen tober verteilte Appell enthielt zwar den Satz „Wir sind das Volk“. Dieser W. Falter: Wahlen 1990. Die demokratische Legitimation für die deutsche Einheit mit großen Überraschungen. In: Eckhard Jesse/Armin Mitter (Hrsg.): Die Gestaltung der deutschen Einheit. Geschichte – Politik – Gesellschaft. Düsseldorf 1992, S. 163–188. 29 So Dieter Grosser: Das Wagnis der Währungs-, Wirtschafts- und So- zialunion. Politische Zwänge im Konflikt mit ökonomischen Regeln. Stutt- gart 1968. 30 Vgl. für Einzelheiten Eckhard Jesse/Richard Schröder: Am Anfang war das Geld. In: Cicero, Heft 4/2020, S. 72–80. 31 Protokolle der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik, 10. Wahlperiode (5. April bis 2. Oktober 1990). Hrsg. vom Deutschen

UNSER AUTOR UNSER Bundestag. Band 3. Opladen 2000, S. 1380. 32 Ebd., S. 1382. 33 So Ilko-Sascha Kowalczuk: Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil

der Bundesrepublik wurde. München 2019. 34 Vgl. jüngst Ulrike Ackermann: Das Schweigen der Mitte. Wege aus der Polarisierungsfalle. Darmstadt 2020. 35 Vgl. Tom Mannewitz: Politische Kultur und demokratischer Verfas- Prof. Dr. Eckhard Jesse, geb. 1948 in Wurzen bei Leipzig, studier- sungsstaat. Ein subnationaler Vergleich zwei Jahrzehnte nach der deut- schen Wiedervereinigung. Baden-Baden 2015. te an der FU Berlin Politik- und Geschichtswissenschaft. Nach der 36 Vgl. Edgar Wolfrum: Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bun- Assistenzzeit in Trier und einer Reihe von Gastprofessuren in Mün- desrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart chen, Trier, Mannheim und Potsdam hatte er zwischen 1993 und 2006. 37 Vgl. Edgar Wolfrum: Der Aufsteiger. Eine Geschichte Deutschlands von 2014 den Lehrstuhl für Politische Systeme, Politische Institutionen 1990 bis heute. Stuttgart 2020. im Fach Politikwissenschaft an der TU Chemnitz inne.

Die Zeitschrift „Bürger & Staat“ wird herausgegeben von der LANDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Baden-Württemberg. Direktor der Landeszentrale: Lothar Frick Redaktion: Prof. Siegfried Frech, Lautenschlagerstraße 20, 70173 Stuttgart, Telefax (07 11) 16 40 99-77 Herstellung: Schwabenverlag AG, Senefelderstraße 12, 73760 Ostfildern (Ruit),

IMPRESSUM Telefon (07 11) 4 4 06-0, Telefax (07 11) 4 4 06-174 Vertrieb: Neue Süddeutsche Verlagsgsdruckerei GmbH Ulm, Nicolaus-Otto-Straße 14, 89079 Ulm, Telefon (07 31) 94 57-0, Telefax (07 31) 94 57-224, E-Mail: www.suedvg.de Preis der Einzelnummer: EUR 3,33, Jahresabonnement EUR 12,80 Abbuchung.

Die namentlich gezeichneten Artikel stellen nicht unbedingt die Meinung der Redaktion dar. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Nachdruck oder Vervielfältigung auf Papier und elektronischen Datenträgern sowie Einspeisung in Datennetze nur mit Genehmigung der Redaktion.

12 DAS ENDE DER DDR Die Mauer bröckelt: Die SED-Diktatur und ihr Ende im November 1989 Gerhard Sälter

diese Maßnahmen bereits ein erhebliches Anwachsen der Unzufriedenheit und darauf gründende Opposition und Unzufriedenheit, was die Aufbruchsstimmung der ersten Widerspruch sowie eine Tendenz zur Westwanderung Nachkriegsjahre beendete, so konnte die SED das damit hatte es in der Bevölkerung der DDR eigentlich immer einhergehende Wohlfahrtsversprechen nur sehr ungenü- schon gegeben. Als die leitenden Parteikader der KPD gend einlösen: Der Sozialismus sowjetischer Prägung 1945 aus ihrem Moskauer Exil nach Deutschland kamen, brachte auch in der DDR keinen Massenwohlstand, im Ge- brachten sie vielleicht die Hoffnung mit, die „Befreiung genteil wuchs beim Privatkonsum der Abstand zur kapita- der Arbeiterklasse“ in Deutschland zu vollenden, aber listischen Bundesrepublik schon bald erheblich. ihre politische Vorstellungswelt war geprägt von den Die SED-Führung errichtete in der DDR eine Diktatur, in der Kämpfen der Weimarer Republik und der stalinistischen sie nicht nur die Wirtschaft zentral lenkte, sondern auch Atmosphäre der Angst, die ihr Exil vergiftet und ihre das öffentliche Leben kleinteilig durchorganisierte und da- Persönlichkeiten stark überformt hatte. Sie hatten keine bei lenkend und ordnend in das Leben der Bürger und Bür- Chance, mit solchen Vorstellungen eine breite Unterstüt- gerinnen eingriff. Die Funktionäre der SED entwickelten zung in der Bevölkerung zu finden – und sie blieb auch nicht nur sehr konkrete Vorstellungen davon, wie die Men- aus. Statt einer sozialen Republik errichteten sie eine schen leben und sich verhalten sollten, sie machten auch Diktatur, welche nach einigen Kämpfen eine Mauer als Pläne, wo jeder Mann, jede Frau und jedes Kind in der ge- Basis staatlicher Macht benötigte, wodurch sich die SED sellschaftlichen Ordnung zu stehen hatte und welche Rol- für weitere 28 Jahre an der Macht halten konnte, bevor sie im November 1989 zusammen mit ihrer Mauer unter- ging. Gerhard Sälter erörtert die wesentlichen zeitge- schichtlichen Etappen des SED-Staates, beginnend mit der Durchsetzung der Diktatur nach 1945 bis zum Fall der Mauer im November 1989. Der historische Längs- schnitt ist zugleich eine Geschichte der Opposition in der DDR.

Diktatur und Konformität

Die Männer um Walter Ulbricht machten sich 1945 daran, ihre Vorstellungen von einer sozialen Ordnung in Ost- deutschland umzusetzen, wobei sie auf die Mitsprache der Bevölkerung wenig Wert legten, aber – wiewohl vergeb- lich – hofften, die Zustimmung der dort lebenden Men- schen nachträglich zu erhalten. Dabei mag in der direkten Nachkriegszeit die Besorgnis eine Rolle gespielt haben, dass die Mehrheit der Bevölkerung nicht nur durch die bür- gerliche Ordnung der Weimarer Zeit, sondern auch durch ihre Mitwirkung in der nationalsozialistischen Diktatur ge- prägt sei – und natürlich fürchteten die Funktionäre wäh- rend der gesamten Zeit der Diktatur „negative“ Einflüsse aus dem Westen. Die Parteifunktionäre setzten ihr politisches Konzept ge- waltsam um, beginnend mit der Enteignung der Groß- und Mittelbetriebe, die mit einer Kriminalisierung der Besitzer und ihrer Familien einherging. Die Landwirte wurden bis Anfang der 1960er-Jahre in Kollektiven zusammengefasst, später folgten viele der kleinen Handwerksbetriebe. Schon 1946 zwang die KPD die Sozialdemokraten, die nach dem Die SED-Diktatur errichtete 1961 eine Mauer, die sie als Basis Ende der nationalsozialistischen Diktatur gerade wieder für ihre staatliche Macht benötigte. Dadurch konnte sich die eine eigene Partei aufgebaut hatten, zur Fusion mit ihrer SED für weitere 28 Jahre an der Macht halten, bevor sie im Partei, woraus die SED entstand, in der die Sozialdemokra- November 1989 zusammen mit ihrer Mauer unterging. ten bald zielstrebig marginalisiert wurden. Begründeten picture alliance/dpa

13 len sie ausfüllen sollten. Weil die SED damit in paternalis- tischer Weise tief in die private Lebensführung eingriff, ent- stand ein enormer Konformitätsdruck. Gefragt war in der DDR das Unterordnen unter die Macht der Partei, das Ein-

Gerhard Sälter Gerhard fügen in die von ihr geschaffene soziale Ordnung und die aktive Beteiligung an der Gestaltung dieser Ordnung nach den Vorstellungen der Parteifunktionäre. Versuchte die SED auf der einen Seite, Anpassung zu er- zwingen, was mit Repressionsdrohungen unterlegt war, machte sie denen, die das erfolgreich taten, Angebote auf Integration und sozialen Aufstieg. Solche Angebote wur- den anfangs verstärkt durch eine verbreitete Aufbruchs- stimmung, das Gefühl, das bessere Deutschland aufzu- bauen, und das auf die Zukunft gerichtete sozialistische Konsumversprechen. Bei einer kleiner werdenden Minder- heit hielt die darauf gründende Zuversicht in das sozialisti- sche Staatsmodell bis zum Ende der DDR, sie bildete die soziale Basis der SED. Aber anders als die nationalsozia- listische Diktatur hat die der SED die Mehrheit der Bevölke- rung niemals für sich gewinnen können. Die Beziehung zwischen dem SED-Staat und den Bürgern der DDR war beiderseits dauerhaft von Misstrauen geprägt. Wegen der gewaltsamen Herrschaftsdurchsetzung, der Neuausrichtung der gesellschaftlichen und wirtschaftli- chen Ordnung und der kleinteiligen Normierung des All- tags entstand eine Unzufriedenheit in der DDR, die sich anfangs in Opposition und Rebellion Bahn zu brechen ver- suchte, denen die SED mit Repression begegnete, dann in eigensinnigem Widerspruch sich ausdrückte, welche die SED in Aushandlungsprozessen und durch Integrationsan- gebote aufzufangen versuchte, die sich aber immer auch in Träumen vom „Goldenen Westen“ und einer Tendenz zur landesweiten Aufstand mündete. Als klar geworden war, Westwanderung manifestierte. dass die SED dem weder mit Polizei und Staatssicherheit noch mit Propaganda beikommen konnte, waren es sowje- tische Soldaten, die der Revolte nach wenigen Tagen ein Opposition und Herrschaftsalltag gewaltsames Ende bereiteten. Dadurch konnten sich die Männer um Ulbricht an der Macht halten, und der Aufstand Die Opposition in der DDR war immer vielgestaltig. Sie ba- führte sogar zu einer Festigung ihrer Position innerhalb der sierte in der direkten Nachkriegszeit auf einem ganz eige- Partei. Mit der Niederschlagung des Aufstands endeten nen Amalgam, das sehr unterschiedliche Haltungen und die Hoffnungen auf eine schnelle Wiedervereinigung. Motive vereinte. Bürgerliche, kirchliche und sozialdemo- Aber auch innerhalb der SED, die ja mit einem umfassen- kratische Milieus widersetzten sich der Homogenisierung den Anspruch auf Emanzipation angetreten war, gab es der politischen Kultur, und an den Oberschulen flackerte anfangs skeptische Stimmen, und später bildeten sich im- immer wieder jugendlicher Widerstand auf, während sich mer wieder kleine Oppositionsgruppen. 1956 entstand auf dem Land (und nicht nur dort) eine abwartend-resis- eine von sozialdemokratischen Ideen inspirierte Gruppe tente Haltung in der Erwartung hielt, „dass es wieder an- um Walter Janka, Wolfgang Harich und Gustav Just, die ders kommt“. Berliner aus beiden Stadthälften beteiligten eine radikale Entstalinisierung und eine Wiederherstel- sich an den Protesten gegen die Spaltung der Stadt im lung der bürgerlichen Freiheitsrechte anstrebte. Ihre Prota- Herbst 1948. In den Motivlagen und der ideologischen gonisten wurden 1957 in einem Schauprozess zu mehrjäh- Grundierung von Resistenz und Opposition mischten sich rigen Haftstrafen verurteilt. Späterhin waren es marxisti- Werthaltungen, die noch aus dem Nationalsozialismus sche Intellektuelle wie Rudolf Bahro, Robert Havemann stammten und durch die Unterstützung antikommunisti- und Wolf Biermann, die zunächst loyale, aber idealistische scher Organisationen in Westberlin virulent gehalten wur- Parteikader gewesen waren, welche die Politik der SED kri- den, mit bürgerlichen Ordnungsvorstellungen (insbeson- tisierten. dere in Fragen der Wirtschaft und der Rechtssicherheit), Darüber hinaus erzeugte die Machtausübung der SED wi- kirchlichem Traditionalismus, sozialdemokratischem Ei- derständige Haltungen und oppositionelle Äußerungen. gensinn, der dem Stalinismus nicht weichen wollte, und Gegen die 1962 weitgehend abgeschlossene Kollektivie- mehr oder weniger spontanen Reaktionen auf die Erfah- rung der Landwirtschaft formte sich bäuerlicher Wider- rungen mit der kommunistischen Herrschaftspraxis in der stand, während die Kirchen, insbesondere die Jungen Ge- Phase der Diktaturdurchsetzung. meinden, eine weltanschauliche Alternative zum SED- Mit Stalins Tod im März 1953 keimten in der noch jungen Staat und geschützte Räume zu bieten versuchten, in denen DDR Hoffnungen auf ein Ende der stalinistischen Ära. Im alternative Lebensstile erprobt werden konnten. Auch Juni 1953 formte sich in Ostberlin eine Protestbewegung Reste bürgerlicher und sozialdemokratischer Milieus hiel- gegen die Erhöhung der Arbeitsnormen, welche in einen ten sich vielerorts, in denen abweichende Werthaltungen

14 DIE MAUER BRÖCKELT: DIE SED-DIKTATUR UND IHR ENDE IM NOVEMBER 1989

publik in die UNO 1973 ist gewissermaßen auch ein Er- gebnis des Mauerbaus. Mit Mauer und Grenzregime versperrte die SED dem unzu- friedenen Teil der Bevölkerung erfolgreich den Weg nach Westen. Allerdings hatten sich damit die Motive der Flücht- linge nicht erledigt. Weiterhin versuchten sie trotz der da- mit verbundenen Gefahren die mit Hindernissen bewehrte Grenze zu überqueren. Etwa 40.000 gelang seit 1961 die Flucht, weitere 500.000 gelangten bis 1989 auf anderen 17. Juni 1953: Sowjetische Pan- Wegen in den Westen. Vermutlich etwa 75.000 DDR-Bür- zer in der Leipziger Straße ger wurden bei der Flucht oder bei der Vorbereitung dafür werden von Jugendlichen mit verhaftet und bestraft, und wahrscheinlich verloren etwa Steinen beworfen. Im Juni 1953 500 Menschen ihr Leben bei einem Fluchtversuch, allein in formte sich in Ostberlin eine Berlin waren es 101 seit dem Mauerbau. Die Abwehr der Protestbewegung gegen die von der SED weiterhin als Bedrohung wahrgenommenen Erhöhung der Arbeitsnormen, Flüchtlinge, die zunehmend in die Nähe von Staatsfeinden welche in einen landesweiten gerückt wurden, verstärkte den Polizeistaatscharakter der Aufstand mündete. Als die SED DDR ganz erheblich. Die ohnehin hohe Überwachungs- dem weder mit Polizei, Staatssi- dichte erhöhte sich durch das Grenzregime noch einmal cherheit noch mit Propaganda deutlich, was die Unzufriedenheit nicht verminderte. beikommen konnte, waren es Ergebnis des Mauerbaus war innenpolitisch eine Konsoli- sowjetische Soldaten, die der dierung der Macht der SED, wodurch sich der An pas sungs- Revolte ein gewaltsames Ende druck noch einmal deutlich erhöhte. Dem Mauerbau folgte bereiteten. ein umfassendes Programm, mit dem Verweigerer und Dis- picture alliance/dpa sidenten in die geordnete Gesellschaft der DDR eingefügt werden sollten. Viele Bewohner Ostdeutschlands erkann- ten bereits in den ersten Tagen nach dem Mauerbau, dass überlebten. Nach dem Mauerbau am 13. August 1961 pro- das politische Klima in der DDR einer radikalen Wandlung testierten in Berlin vor allem in Grenznähe zahlreiche Bür- unterlag. Die verbliebenen Bürger und Bürgerinnen waren ger und Bürgerinnen, andere diktierten den Parteikadern gezwungen, sich im SED-Staat dauerhaft einzurichten. ihr Missfallen in die Protokolle. Dieser Bewusstseinswandel in der Bevölkerung ist mit Mit- teln intensiver Propaganda, justizieller Repression und dauerhaftem politischem Druck herbeigeführt worden. Mit Westwanderung und Mauerbau dem Wechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker 1971 in der Parteileitung zeichnete sich unter dem Schlagwort All diesen Formen von Eigensinn, Resistenz und Opposition der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ ein sachter waren angesichts staatlicher Repression und sozialer Inte- Politikwechsel ab, der innenpolitisch eine gewisse Ent- grationsangebote letztlich keine dauerhaften Erfolge be- spannung im Verhältnis zwischen Partei und Bevölkerung schieden, weshalb den endgültig Desillusionierten, den einleitete. Aber die Mauer blieb eine wesentliche Basis der Ausgegrenzten und denjenigen, die sich einfach nur ein Macht der SED in der DDR. besseres Leben versprachen, oftmals nur der Weg in den Westen als Ausweg blieb. Die SED erleichterte diese Ab- wanderung phasenweise, indem sie zwischen 1953 und Gesellschaftliche Veränderungen 1957 recht großzügig Reiseerlaubnisse nach Westdeutsch- land erteilte und damit vielen die Möglichkeit gab, von ei- Unterdessen fand in der DDR so etwas wie eine heimliche nem genehmigten Verwandtenbesuch einfach nicht zu- Kulturrevolution statt. Ähnliche Prozesse in Westdeutsch- rückzukehren. Bis zum Mauerbau hatte die DDR durch die land werden unter den Stichworten Amerikanisierung, Westwanderung ein Sechstel ihrer Bevölkerung verloren, Westernisierung und Liberalisierung verhandelt und mit was man im Westen damals eine „Abstimmung mit den Fü- der Epochenzäsur von 1968 in Verbindung gebracht. Die- ßen“ nannte. ser bereits in den 1950er-Jahren einsetzende Prozess griff Den Mauerbau 1961 feierte die SED-Führung zunächst vor auch auf die DDR über, in der westliche Medien, insbeson- allem als Sieg über den westdeutschen Anspruch, auch die dere Radio und später das Fernsehen, Bestandteil des All- Menschen in der DDR international zu vertreten. Sie tags einer großen Mehrheit waren. Die Haare nicht nur der glaubte, ihre Souveränität über Land und Leute gegenüber jungen Männer wurden länger, die Jeansmode fand zahl- der Weltöffentlichkeit dokumentiert und durchgesetzt zu reiche Anhänger, und der Import von Musikstilen bis hin haben. Tatsächlich führte die Mauer angesichts der Hilflo- zum Punk begann nicht nur in der Jugendkultur, dort aber sigkeit des Westens zu einem Umdenken bei den westdeut- besonders, neue Lebensstile, Selbstwahrnehmungen und schen Eliten und half, die unter Bundeskanzler Willy Brandt Rollenvorbilder hervorzubringen. Der Arbeiterheros hörte eingeleitete neue Ostpolitik der Annäherung zu begrün- langsam, aber sicher auf, ein Vorbild zu sein, wenn er es für den. Der gemeinsame Einzug der DDR und der Bundesre- die Mehrheit denn je gewesen ist.

15 Diese Wandlung der Alltagskultur beäugte die SED an- Leipzig, bald aber in allen Städten der DDR, zu einer Mas- fangs kritisch, dann versuchte sie, sie zu domestizieren. Die senbewegung angewachsen. Freizügigkeit war neben vie- Parteioberen sahen darin vor allem ein Ergebnis westlicher len anderen Freiheitsrechten ihre zentrale Forderung. Wühlarbeit, unterschätzten aber gleichzeitig ihre soziale Es ist viel über den Zettel von Günter Schabowski speku-

Gerhard Sälter Gerhard und politische Sprengkraft. Während die alternden Partei- liert worden. Der hatte am Nachmittag des 9. November funktionäre ihren sozialen Ordnungsvorstellungen aus der die neuen Reiseregelungen der Weltpresse bekannt zu ge- Weimarer Zeit verhaftet blieben, entstanden in der Gesell- ben und zu erläutern. Schlecht informiert und offensichtlich schaft, befördert durch Einflüsse der überlebenden Reste abgelenkt, gab er auf die Frage der Journalisten Riccardo bürgerlicher und kirchlicher Milieus, andere Vorstellungen Ehrman und Peter Brinkmann, ab wann das denn gelte, die von einem guten Leben, die sich weit von dem kollektivisti- unzutreffende Antwort: „Das tritt nach meiner Kenntnis … schen Gesellschaftsmodell nach sowjetischem Vorbild ist das sofort, unverzüglich“. Aber auch ohne diesen Ver- entfernten und individueller Freizeitgestaltung und dem sprecher wäre die Mauer mit denselben Konsequenzen Konsum eine große Bedeutung zumaßen. gefallen, nur eben etwas später. Aus diesem sozialen Wandel heraus entstanden in der Die westlichen Medien, insbesondere die Tagesschau, DDR seit Ende der 1970er-Jahre von der Partei unabhän- nahmen die Sensationsmeldung schnell auf und verbreite- gige politische Gruppen, welche vor allem die Rechte der ten sie. Daraufhin versammelten sich am Abend auf beiden Frauen und der Homosexuellen, die Umwelt und den Welt- Seiten der Grenzübergänge in Berlin zahlreiche Men- frieden auf ihre Agenda setzten, erste Gruppen befassten schen in der Erwartung, die Mauer werde geöffnet oder sich mit dem Rassismus in der DDR. Sie blieben, von der sei schon offen. Da diese Erwartung auf einem Missver- SED und der Staatssicherheit misstrauisch und genau be- ständnis beruhte, hatten die Grenztruppen und die Pass- obachtet, anfangs klein und fanden, auch wegen des feh- kontrolleinheiten der Staatssicherheit noch keine neuen lenden Zugangs zu Massenmedien, keinen Zugang zur Befehle. Der zuständigen Offizier am Grenzübergang Mehrheitsgesellschaft. Bornholmer Straße, Harald Jäger, versuchte vergeblich, ei- Jedoch wuchs auch in dieser die Unrast: Jugendliche fühl- nen seiner Vorgesetzten zu einer Entscheidung zu drän- ten sich bevormundet und empfanden den westlichen Le- gen, weshalb er eine halbe Stunde vor Mitternacht eigen- bensstil, den sie im Fernsehen und im Radio erlebten, at- mächtig entschied, die Grenze zu öffnen. Bald darauf folg- traktiver als die Angebote der FDJ und die Vorgaben der ten weitere Grenzübergänge in Berlin und entlang der in- SED. In der Bevölkerung wuchs das Unbehagen angesichts nerdeutschen Grenze. Das Grenzregime der DDR hatte verrottender Maschinen in den Fabriken, eingeschränkter ausgedient. Konsummöglichkeiten und verfallender Innenstädte. Viele Die nach Westberlin hineinströmenden Ostberliner wur- gewannen den Eindruck, dass ihr Land sich, entgegen den den mit Jubel empfangen. In Westberlin, in dem niemand offiziellen Versprechen und Verlautbarungen, im Abstieg auf diesen Ansturm vorbereitet war, herrschte für mehrere befand. Sie wünschten sich ein funktionierendes Gemein- wesen und sahen in der Bundesrepublik, die sie aus den Medien kannten, eine positive Alternative. Dissidenten, durch die staatliche Gängelei aufgebrachte junge Menschen und eine desillusionierte Bevölkerung fanden sich 1989 zu einer wachsenden Protestbewegung zusammen. Zunächst auf Reformen und Mitbestimmung ausgerichtet, änderten die Proteste im Herbst unter dem Eindruck des auseinanderbrechenden Ostblocks und einer wachsenden Flucht- und Ausreisebewegung ihren Charak- ter. Die SED-Führung verlor jeden Rest an Glaubwürdig- keit. Anders als die kommunistische Partei in China, die im Sommer 1989 Proteste blutig niederschlagen ließ, sicherte sie nach ersten Polizeieinsätzen gegen Demonstranten ihre Macht letztlich nicht mit Gewalt, was ihr letzter Aus- Im Juni 1990 begann der Rück- weg gewesen wäre. Sie musste Anfang November zurück- bau der Mauer, der nur kleine treten. Das neue Politbüro beschloss im November 1989 Abschnitte als Anschauungsob- eine zaghafte Öffnung der Grenze, woraufhin die Mauer jekte für die Nachgeborenen am 9. November unter dem Ansturm der Bürger zusammen- und für Besucher übrigließ. brach. Nach der Grenzöffnung bemalten Künstler aus aller Welt das Symbol des Kalten Das Loch in der Mauer Krieges. Es entstand die East Side Gallery, eine bunte 1,3 Es war die wachsende offene Unzufriedenheit, welche das Kilometer lange Freilichtaus- im Oktober 1989 neugebildete Politbüro, das Leitungsgre- stellung. Zu den berühmtesten mium der SED, Anfang November 1989 dazu brachte, Aus- Motiven zählt der innige Bru- landsreisen grundsätzlich zu erlauben und das dauerhafte derkuss von DDR-Staatschef Verlassen der DDR zu legalisieren. Seit dem Sommer hatten Erich Honecker und dem sow- bereits mehrere zehntausend Bürger und Bürgerinnen über jetischen Staatschef Leonid Drittstaaten den endgültigen Weg nach Westen angetre- Breschnew. ten. Seit September waren die kleinen Proteste, zunächst in picture alliance/dpa

16 Tage ein fröhlicher Ausnahmezustand. Allerdings, das DIE MAUER BRÖCKELT: DIE SED-DIKTATUR sollte man nicht vergessen, machten viele Berliner, die aus UND IHR ENDE IM NOVEMBER 1989 dieser deutsch-deutschen Feiergemeinschaft heraus als nicht zugehörig empfunden wurden, schon in den ersten Tagen teils extreme Ausgrenzungserfahrungen. In Bezug Das Verschwinden der Mauer auf die DDR war vielen Menschen jedoch bewusst, dass sie einen historischen Moment erlebten. Einige Ostberliner, Bis zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten war es die gerade die Mauer durchschritten hatten, kehrten zu ihr jedoch vom 9. November noch ein weiter Weg. Obwohl zurück. Feiernde Menschen bestiegen die Mauer am Bran- die Entwicklung vom Mauerfall zur Vereinigung aus der denburger Tor, und die Grenzsoldaten auf der Ostseite Rückschau betrachtet sehr schnell ablief, waren die Debat- der Mauer mussten das dulden, ohne einzugreifen. Noch ten doch teilweise zäh, wie am Beispiel des Umgangs mit in der Nacht begannen einige, die Mauer mit jeglichem der Mauer zu sehen ist. Die SED war ja noch an der Macht, Werkzeug, das gerade zur Hand war, zu beschädigen. deshalb war das Verschwinden der Mauer ein Indikator für Das besserten die Grenzer zwar am nächsten Tag wieder den Wandel: Je mehr Löcher sie erhielt, desto größer die aus, aber die Botschaft war klar: Eine erneute Schließung Wahrscheinlichkeit, dass die Diktatur enden würde. der verhassten Mauer würden die Menschen in der DDR Es dauerte eine Zeit, bis das funktionslos gewordene und in Berlin nicht hinnehmen. Grenzregime der DDR endgültig abgeschafft wurde. Noch Mit der Öffnung der Mauer und der endlich zugelassenen am Abend des 9. November, lange nach der Pressekonfe- Freizügigkeit hatte die Diktatur der SED eine wichtige renz und kurz vor der Grenzöffnung, verhafteten Grenzsol- Stütze verloren. Ihre neue Führung agierte zunehmend hilf- daten den letzten Flüchtling. Reinhard S. stoppte gegen elf los, selbst innerhalb der Partei büßte sie an Glaubwürdig- Uhr einen S-Bahn-Zug an der Behmstraßenbrücke unweit keit ein. Bei den Wahlen zur Volkskammer im März 1990, des Grenzübergangs Bornholmer Straße, um über die na- den ersten freien Wahlen in der DDR, erhielt die in PDS hegelegene Mauer zu flüchten. Solche Festnahmen hörten umbenannte SED nur knapp 17 Prozent der Stimmen. Als jedoch bald auf. Während am 10. und 11. November noch Sieger gingen aus dieser Wahl Parteien hervor, die eine mehrere Personen in der Berliner Charlottenstraße und schnelle Vereinigung mit der Bundesrepublik forderten. nahe der Brunnenstraße vorläufig festgenommen wurden, Mit dem Fall der Mauer schien der revolutionäre Elan ver- wurden in der Nacht vom 10. auf den 11. November zwei dampft zu sein. Da kompetente und unbelastete Eliten im Männer, die in Treptow die Mauer mit einer Leiter zu über- eigenen Land fehlten und die Bevölkerung sich eine winden versuchten, erstmals nicht mehr verhaftet. Die schnelle Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse wünschte, Grenzsoldaten führten nur noch „eine Art Belehrung mündete die demokratische Revolution in der Aufnahme durch“, wie sie berichteten. der ostdeutschen Länder in die Bundesrepublik. Seit dem 9. November wurde die Mauer auch baulich im- mer durchlässiger. Bereits am Abend des 10. November wurde an der Bernauer Straße, wo am Tag zuvor noch an der Mauer gearbeitet worden war und deshalb schwere Maschinen bereitstanden, ein erstes Loch hineingebro- chen. Dort entstand der erste Grenzübergang, für den ein Stück der Mauer beseitigt wurde. Ihm folgten bis Weih- nachten weitere, bis das Passieren der Grenze wieder ein Stück Normalität geworden war. Ende Januar 1990 waren 25 Straßenübergänge wieder hergestellt. Mit der Wirt- schafts- und Währungsunion entfielen am 1. Juli 1990 auch die Ausweiskontrollen, die in den Monaten zuvor immer nachlässiger gehandhabt worden waren. Nahezu unter der Hand verschwand die Mauer langsam aus dem Stadtbild. Grenzsoldaten entfernten seit dem 20. November Sperren aus dem Grenzgebiet. Am 21. De- zember gab der Verteidigungsminister den Befehl, den weiteren Ausbau der Grenzanlagen in Berlin und an der innerdeutschen Grenze endgültig zu stoppen. Gleichzei- tig setzte er die Anweisung zum Schießen auf Flüchtlinge erneut und diesmal endgültig außer Kraft, verpflichtete die Grenztruppen jedoch weiterhin darauf, „die Unverletzlich- keit der Staatsgrenze jederzeit zu sichern“. Parallel dazu wurde über das Schicksal der Mauer öffent- lich verhandelt, denn die SED-Führung vermochte sich nur sehr zögerlich von diesem Machtinstrument zu trennen. Be- reits am 10. November hielten führende Kader der SED ihr Verschwinden für möglich. Am 29. Dezember 1989 fasste die Übergangsregierung unter Hans Modrow den grund- sätzlichen Beschluss, die Mauer abzureißen. Ein vollstän- diger Verzicht auf Grenzsperren war aber noch nicht denk- bar. Der soeben gewählte SED-Vorsitzende Gregor Gysi gestand zwar zu, dass die Mauer „nicht mehr wichtig“ sei,

17 konnte sich ein vollständiges Abtragen jedoch nicht vor- stellen, da dadurch „ein gesetzwidriges Passieren“ der Grenze möglich werde. Verschiedene SED-Funktionäre machten daraufhin Vorschläge, die Mauer durch andere

Gerhard Sälter Gerhard Sperren zu ersetzen, etwa durch einen Zaun. Es war der Westberliner Bürgermeister Walter Momper, der darauf UNSER AUTOR UNSER bestand, die Mauer müsse so schnell wie möglich und voll- ständig verschwinden. Im Juni 1990 begann der systemati- sche Rückbau, der nur kleine Abschnitte als Anschauungs- material für die Nachgeborenen und ausländische Besu- cher übrigließ. Dr. Gerhard Sälter ist Leiter der Abteilung Forschung und Do- Die Berliner Mauer verschwand mit wachsender Zahl der kumentation der Stiftung Berliner Mauer. Sein wissenschaftli- Grenzübergänge als steinerne Realität des Kalten Krieges ches Interesse gilt Machtbeziehungen, der Praxis von Herr- zusehends aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit. Seit dem schaft und der Genese gesellschaftlicher Ordnungen. Er forscht November 1989 hatte sich zudem ihr Symbolgehalt geän- und publiziert zur Geschichte der Polizei, zur DDR, dem Grenz- dert. Stand sie bis dahin für den Charakter des SED-Regi- regime und der Staatssicherheit sowie zum Bundesnachrichten- mes, die Teilung der Welt und den Kalten Krieg, wurde sie dienst. Zuletzt erschienen: Phantome des Kalten Krieges. Die nun zu einem weltbekannten Symbol für deren Überwin- Organisation Gehlen und die Wiederbelebung des Gestapo- dung. Vielerorts wurde sie von „Mauerspechten“ bearbei- Feindbildes „Rote Kapelle“, Berlin 2016; Die vergessenen To- tet, die zahlreiche Stücke als Zeugnisse eines überwunde- ten. Todesopfer des DDR-Grenzregimes in Berlin von der Tei- nen Zeitalters herausbrachen: „Stücke der Mauer hatten lung bis zum Mauerbau (1948–1961), Berlin 2016 (zusammen tatsächlich eine besondere Aura“, wie der amerikanische mit Johanna Dietrich und Fabian Kuhn); Am Rand der Welt. Die Historiker Brian Ladd festhielt: „Sie wurden wie heilige Re- Mauerbrache in West-Berlin in Bildern von Margret Nissen und likte behandelt, die unsere Erlösung vom Kalten Krieg be- Hans W. Mende, Berlin 2018 (hrsg. zusammen mit Manfred zeugten.“ Es handelte sich um eine private Aneignung des Wichmann). verhassten öffentlichen Bauwerks, nachdem es seine Funk- tion verloren hatte und Geschichte geworden war.

bBA19016Schmidt_Hoelderlin 23.10.19 12:06 Seite 1

Von Hölderlin bis Jünger Von Hölderlin bis Jünger Zur politischen Topographie der Literatur Von Hölderlin im deutschen Südwesten Zur politischen Topographie der Literatur Das Verhältnis von Literatur und Politik gilt als schwierig. Literatur, bis Jünger im deutschen Südwesten die sich politischen Zielen verschrieb, wurde nicht selten die ästhe tische Qualität abgesprochen, während jener Dichtung, die sich fern von den Aktualitäten des Alltags als Schutzraum des Zur politischen Topographie der Literatur Hrsg. von Thomas Schmidt und Kristina Mateescu Schönen verstand, Folgenlosigkeit oder gar ethische Verantwortungs- losigkeit vorgeworfen wurde. Diese mitunter selbst schon ideologisch im deutschen Südwesten gewordenen Frontlinien werden in diesem Band nicht bestärkt. Vielmehr legen die Beiträge konkrete Kontaktzonen zwischen Hrsg. von Thomas Schmidt und Kristina Mateescu Das Verhältnis von Literatur und Politik gilt als schwierig. Literatur, die Literatur und Politik frei und zeigen, wie eng und vielfältig die Sphären der literarischen und der politischen Kultur miteinander sich politischen Zielen verschrieb, wurde nicht selten die ästhetische verknüpft sind. Sämtliche Beiträge argumentieren dabei vom Ort aus und zeigen so Baden-Württemberg als einzigartige Literatur- Hölderlin bis Ju ̈ nger Von und Kulturlandschaft. Qualität abgesprochen, während jener Dichtung, die sich fern von den Aktualitäten des Alltags als Schutzraum des Schönen verstand, Folgenlosigkeit oder gar ethische Verantwortungslosigkeit vorge-

Die Herausgeber: Dr. Thomas Schmidt ist Leiter der Arbeitsstelle für literarische Museen, Archive worfen wurde. Diese mitunter selbst schon ideologisch gewordenen und Gedenkstätten in Baden-Württemberg und profiliert vom Deutschen Literatur- archiv Marbach aus Europas reichste und lebendigste historische Literaturland- Frontlinien werden in diesem Band nicht bestärkt. Vielmehr legen die schaft – das „Literaturland Baden-Württemberg“.

Kristina Mateescu promoviert an der Universität Heidelberg und ist wissenschaft- (Hrsg.) Schmidt/Mateescu liche Mitarbeiterin im DFG-Projekt „Internationale akademische Beziehungen Beiträge konkrete Kontaktzonen zwischen Literatur und Politik frei Deutschlands 1933 bis 1945“. und zeigen, wie eng und vielfältig die Sphären der literarischen und der politischen Kultur miteinander verknüpft sind. Sämtliche Beiträge argumentieren dabei vom Ort aus und zeigen so Baden-Württemberg als einzigartige Literatur und Kulturlandschaft.

6.50 Euro zzgl. Versand, Bestellung ausschließlich im Webshop der Landeszentrale für politische Bildung: www.lpb-bw.de/shop E-Book (kostenlos) unter www.lpb-bw.de/e-books.html

18 BLÜHENDE LANDSCHAFTEN? Ökonomisch vereint? Wirtschaftliche Unter- schiede zwischen Ost- und West deutschland dreißig Jahre nach der Wende Michael Fritsch

im Oktober 1990 erfolgte die Vereinigung der beiden Michael Fritsch erörtert Ausmaß und Ursachen der immer Staaten durch Beitritt der DDR zur Bundesrepublik und da- noch bestehenden wirtschaftlichen Unterschiede zwi- mit auch zur Europäischen Union (EU). Um die Lebensver- schen Ost- und Westdeutschland. Er geht zunächst auf hältnisse im wirtschaftlich zurückgebliebenen Osten an die ökonomische Ausgangslage nach dem Zweiten Welt- das westdeutsche Niveau heranzuführen, wurden vielfäl- krieg und auf die wirtschaftliche Entwicklung der ost- tige Förderprogramme aufgelegt, die bis heute mit um- deutschen Wirtschaft bis zur Wiedervereinigung im Jahr fangreichen Mitteltransfers von West nach Ost verbunden 1990 ein. Des Weiteren wird der Transformationspro- sind. Trotz dieser sehr intensiven Bemühungen ist die An- zess in den neuen Ländern seit der Wende nachgezeich- gleichung der Lebensverhältnisse bisher nur unvollständig net. Die noch bestehenden Entwicklungsunterschiede gelungen. und die gegenwärtige Situation der ostdeutschen Wirt- Dieser Beitrag behandelt Ausmaß und Ursachen der der- schaft sind auch dreißig Jahre nach der Wiedervereini- zeit – 30 Jahre nach der deutschen Vereinigung – beste- gung noch deutlich durch mehr als vierzig Jahre Sozia- henden wirtschaftlichen Unterschiede zwischen dem Ge- lismus geprägt. Eine grundlegende Umorientierung des biet der ehemaligen DDR und Westdeutschland. Der Wirtschaftssystems – so das Fazit – benötigt aufgrund zweite Abschnitt schildert die wirtschaftliche Ausgangssi- der immensen Anforderungen schlichtweg längere Zeit- tuation nach dem Zweiten Weltkrieg, die Teilung in zwei räume. Eine Angleichung der Wirtschaftskraft ist nicht separate Staaten sowie insbesondere die wirtschaftliche kurzfristig „machbar“. Entwicklung der ostdeutschen Wirtschaft bis zur Vereini- gung im Jahr 1990. Anschließend wird der Transformati-

Ost- und Westdeutschland: Zwei Geschichten

Nach dem Zweiten Weltkrieg war Deutschland für gut 40 Jahre in zwei Staaten geteilt. Aus den Besatzungszonen der Siegermächte Frankreich, Großbritannien und USA im Westen des Landes entwickelte sich die Bundesrepublik Deutschland (Westdeutschland). Aus der sowjetischen Be- satzungszone im Osten entstand mit der Deutschen Demo- kratischen Republik, der DDR, ein sozialistischer Staat (Ostdeutschland).1 Die Bundesrepublik wurde demokra- tisch-marktwirtschaftlich ausgerichtet, gehörte zum losen Bündnis westlicher Staaten und war wirtschaftlich intensiv in die internationale Arbeitsteilung eingebunden. Die DDR war politisch wie wirtschaftlich stark in den von der Sow- jet union dominierten „Ostblock“ integriert. Die Wirtschaft war nach sowjetischem Vorbild als System zentraler Len- kung (Zentralverwaltungswirtschaft) organisiert. Beide deutsche Staaten entwickelten sich höchst unter- schiedlich. Während die Bundesrepublik ökonomisch sehr erfolgreich war und zu einer der weltweit führenden Indus- trienationen aufstieg, blieb die DDR wirtschaftlich zuneh- mend zurück. Einschränkungen individueller Freiheiten so- wie wirtschaftliche Problem in der DDR führten in den 1950er-Jahren zu massiver Abwanderung, insbesondere Grubenlampen stehen in einem Regal einer Schachtanlage von relativ gut qualifizierten Menschen, die 1961 durch die des Mansfelder Kupferreviers. Mit der Wende wurde der Schließung der Westgrenze und den Bau der Berliner unrentable Kupferbergbau im Mansfelder Revier 1990 ein- Mauer gestoppt wurden. Als sich die Grenzen der DDR im gestellt. Viele Bergleute wurden arbeitslos. Die Erfahrung, Sommer und Spätherbst des Jahres 1989 infolge des von einer als sicher angesehenen Beschäftigung in die Drucks der Bevölkerung als immer durchlässiger erwiesen, Arbeitslosigkeit zu fallen, wurde in aller Regel als schmerz- brach die DDR politisch wie wirtschaftlich zusammen. Im volle persönliche Abwertung erlebt. November 1989 kam es zur Öffnung der DDR-Grenze und picture alliance/dpa

19 onsprozess in Ostdeutschland seit der Wende nachge- zeichnet (Abschnitt 3). Der vierte Abschnitt behandelt dann verbleibende Entwicklungsunterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland. Der Beitrag schließt mit einem Resü- Michael Fritsch mee.

Wirtschaftliche Folgen der deutschen Teilung nach dem Zweiten Weltkrieg

Vor dem Zweiten Weltkrieg war die wirtschaftliche Leis- tungsfähigkeit von Ost- und Westdeutschland durchaus vergleichbar.2 Bereits direkt nach Ende des Zweiten Welt- krieges ergaben sich unterschiedliche Bedingungen für die wirtschaftliche Entwicklung in beiden Teilen des Landes dadurch, dass in der sowjetischen Besatzungszone (der späteren DDR, Ostdeutschland) in großem Ausmaß Pro- duktionsanlagen demontiert und in der Sowjetunion wei- ter genutzt wurden. Weiterhin musste die DDR über einen längeren Zeitraum Reparationsleistungen für Kriegsschä- den – meist in Form von Sachgütern und Rohstoffen – an die Sowjetunion leisten. In den westlichen Besatzungszo- nen (der späteren Bundesrepublik Deutschland, West- deutschland) blieben solche Demontagen hingegen eine seltene Ausnahme. Vielmehr begannen die westlichen Sie- germächte (England, Frankreich und USA) bald nach Kriegsende damit, den wirtschaftlichen Wiederaufbau in den von ihnen besetzten Gebieten – etwa mit dem Mar- shallplan – massiv zu fördern. Der massive Beschäftigungsrückgang konnte nur zum Teil Entsprechend dem sozialistischen Grundkonzept war die durch staatlich unterstützte Sanierungsmaßnahmen und Politik in der DDR darauf gerichtet, den Privatbesitz von Beschäftigungsgesellschaften abgemildert werden. Zwischen Produktivvermögen sowie private unternehmerische Initia- 1989 und 1993 sank die Zahl der Beschäftigten in Ost- tive möglichst zu unterbinden.3 Entsprechend wurde die deutschland von 7,8 auf 5,8 Millionen. private Wirtschaft in der Regel durch Enteignungen nach picture alliance/dpa und nach verstaatlicht. Die Verstaatlichung privater Be- triebe führte zu einer Zerstörung des unternehmerischen Mittelstandes, eines Wirtschaftsbereiches, der sich in – in aller Regel durch gravierende Mängel der Planwirt- Westdeutschland als ein wichtiger Wachstumstreiber er- schaft zunichte gemacht wurden. wies (Audretsch/Lehmann 2016). Die wenigen am Ende der Forschung und Entwicklung fanden nahezu ausschließlich 1980er-Jahre noch verbliebenen Privatbetriebe waren fast in den akademischen Einrichtungen (Hochschulen, Akade- ausschließlich im Handwerk und im Einzelhandel tätig, wo- mie der Wissenschaften) sowie in den zentralen Stammbe- bei die Gewinne und das Wachstum dieser Betriebe inten- trieben der Kombinate statt. Auch für den Innovationsbe- siver staatlicher Kontrolle unterlagen (Pickel 1992). Am reich gab es genaue Planvorgaben, was sich als äußerst Ende der DDR-Zeit im Jahr 1989 betrug der Anteil der un- ineffizient und fortschrittshemmend erwies, wobei nicht ternehmerisch selbständigen Personen an der Erwerbsbe- zuletzt auch die wirtschaftliche Isolation der DDR hinder- völkerung lediglich 1,8 Prozent im Vergleich zu mehr als lich war. So wurde Ende der 1980er-Jahre ein 256kB-Mik- zehn Prozent in Westdeutschland (Fritsch/Bublitz/Sorg- rochip zum Selbstkostenpreis von mehr als 500 DDR-Mark ner/Wyrwich 2014). hergestellt, wobei ein vergleichbarer Chip auf dem Welt- Die staatliche Wirtschaft der DDR war in großen Einheiten, markt zu dieser Zeit für einen geringen Bruchteil dieses Produktionsgenossenschaften und Kombinaten, organi- Preises erhältlich war. siert. Ein Kombinat hatte meist mehrere Betriebsstandorte, Der Außenhandel wurde vollständig vom Staat kontrolliert. die jeweils nur ein geringes Maß an Entscheidungsbefug- Im Vergleich zur Bundesrepublik war die außenwirtschaft- nissen besaßen. Innerhalb der Betriebe dominierte eine liche Verflechtung der DDR-Wirtschaft gering und zu ei- stark ausgeprägte Zergliederung der Arbeitsabläufe, nem wesentlichen Teil auf die anderen sozialistischen meist eingebunden in vielstufige, streng hierarchische Ent- Staaten Mittel- und Osteuropas konzentriert. Die geringe scheidungsstrukturen. Dementsprechend waren Eigenver- Einbindung in die internationale Arbeitsteilung, aber auch antwortlichkeit und die Fähigkeit zur Selbstorganisation das von den westlichen Industriestaaten verhängte Verbot nur schwach ausgeprägt. Infolge der Konzentration der der Lieferung technologieintensiver Güter an Staaten des Produktion auf wenige große Kombinate profitierten so gut Ostblocks (COCOM-Liste), isolierten die DDR-Wirtschaft wie alle Betriebe von einer Art Monopolstellung. Ein we- von internationalen Entwicklungen. Häufige Vorherrschaft sentliches Motiv für die Konzentration der Produktion be- politischer Konzepte über ökonomische Notwendigkeiten, stand in der besseren Möglichkeit der staatlichen Kont- das Fehlen von Wettbewerb sowie eine überbordende rolle. Darüber hinaus versprach man sich davon Effizienz- zentrale Bürokratie schränkten die ohnehin geringe Leis- vorteile, die – sofern solche Vorteile tatsächlich bestanden tungsfähigkeit zusätzlich ein. Die sektorale Struktur der

20 ÖKONOMISCH VEREINT? WIRTSCHAFTLICHE UNTER- SCHIEDE ZWISCHEN OST- UND WEST DEUTSCHLAND

deutschen Bürgerinnen und Bürgern überaus enorme Anpassungsleistungen abforderte. Nicht nur, dass sich die institutionellen Rahmenbedingungen schlagartig und grundlegend änderten; auch die Regulierungsdichte des westlichen Systems war erheblich höher als in der DDR. Ein weiterer Unterschied bestand darin, dass die neuen Re- geln sehr viel energischer durchgesetzt wurden.5 Ein we- sentlicher Vorteil der Übernahme des westdeutschen Rechtssystems war, dass hierdurch Unklarheiten über zu- künftige rechtliche Regulierungen, die in anderen ehemals sozialistischen Transformationsstaaten oftmals als gravie- rendes Entwicklungshemmnis wirkten (siehe Åslund/Djan- kov 2014), weitgehend vermieden wurden. Für die ostdeutsche Wirtschaft bedeuteten die Grenzöff- nung im Herbst 1989 und der Beitritt zur Bundesrepublik im Oktober 1990 eine abrupte Intensivierung des Wettbe- werbs, dem sie kaum gewachsen war.6 Bereits die Öffnung der innerdeutschen Grenze für ostdeutsche Bürgerinnen und Bürger im November 1989 führte für ostdeutsche Be- triebe zu einer erheblichen Verschärfung des Wettbe- werbs. Mit der Währungsunion am 1. Juli 1990 und der for- mellen Vereinigung am 3. Oktober 1990 hatten Anbieter aus anderen Ländern dann schlagartig ungehinderten Zu- gang zum ostdeutschen Markt, was für die in der DDR an- sässigen Anbieter zu einem Nachfrage- und Produktions- rückgang dramatischen Ausmaßes führte. Durch die Ein- DDR-Wirtschaft war stark durch das verarbeitende Ge- führung einer einheitlichen Währung am 1. Juli 1990 im werbe dominiert; der Dienstleistungssektor und dabei ins- Gefolge der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion besondere der Bereich der haushaltsorientierten Dienst- stiegen die Löhne in Ostdeutschland innerhalb weniger leistungen blieben im Vergleich zu Westdeutschland stark Jahre von sieben Prozent des westdeutschen Niveaus auf unterentwickelt (siehe Fritsch/Sorgner/Wyrwich 2015). ca. 80 Prozent an. Da sich die Arbeitsproduktivität in ost- Hinsichtlich des Arbeitskräftepotenzials sind insbeson- deutschen Unternehmen aber nicht im gleichen Maße er- dere zwei Besonderheiten hervorzuheben. Erstens war es höhte, lagen die Arbeitsstückkosten im Durchschnitt deut- für Frauen normal, einer beruflichen Vollzeitbeschäftigung lich höher als in den westdeutschen Unternehmen. Dies nachzugehen, so dass der Erwerbsanteil der Frauen mit wirkte sich negativ auf die Wettbewerbsfähigkeit und die fast hundert Prozent deutlich über dem entsprechenden Gewinne der ostdeutschen Betriebe aus. Entsprechend Anteil in Westdeutschland lag. Zweitens war der Anteil der sank die Industrieproduktion im Jahr 1991 auf 35 Prozent un- und angelernten Arbeitskräfte wesentlich geringer als des Wertes der im Jahr 1989 erzielt wurde. im Westen, da fast alle Beschäftigten über eine abge- Mit der deutschen Währungsunion zogen die Preise der schlossene Ausbildung verfügten.4 ostdeutschen Produkte drastisch an. Dies führte dazu, dass Als Resultat dieses wenig effizienten Wirtschaftssystems die Absatzmärkte in anderen sozialistischen Staaten Ost- herrschte in fast sämtlichen Bereichen Angebotsmangel, europas, in die während der DDR-Zeit ca. zwei Drittel der d. h. es waren deutlich weniger Güter verfügbar als nach- ostdeutschen Exporte gingen, wegbrachen. Zudem er- gefragt wurden. Zur Zeit der Wende im Jahr 1990 waren schwerte die negative Reputation vieler ostdeutscher Pro- weite Teile der DDR-Wirtschaft durch technisch stark rück- dukte, denen der Ruf minderer Qualität anhing, den Ab- ständige Produktionsanlagen und eine verrottete Infra- satz auf dem heimischen ostdeutschen Markt. Viele ost- struktur gekennzeichnet. Folge dieser Zustände war eine deutsche Unternehmen verloren einen Großteil ihrer geringe Arbeitsproduktivität, die Ende der 1980er-Jahre angestammten Kunden und Zulieferer, so dass sie gezwun- lediglich knapp 30 Prozent des westdeutschen Niveaus er- gen waren, neue Geschäftsbeziehungen aufzubauen. Die reichte (Hitchens/Wagner/Birnie 1993; van Ark 1995). vorhandenen Betriebe mussten enorme Anpassungsleis- tungen vollbringen, was häufig nur in geringem Maß ge- lang.7 Die Folge war ein massiver Beschäftigungsrück- Die Entwicklung der ostdeutschen Wirtschaft seit der gang, der durch staatlich unterstützte Sanierungsmaßnah- Vereinigung men und Beschäftigungsgesellschaften nur zu einem Teil abgemildert werden konnte (vgl. Abbildung 1). In den ers- Der Transformations-Schock ten Jahren nach der Wende, zwischen 1989 und 1993, Mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik zum 3. Okto- sank die Zahl der Beschäftigten in Ostdeutschland von 7,8 ber 1990 wurde buchstäblich über Nacht das westdeut- Millionen auf 5,8 Millionen. Entsprechend lag die durch- sche Gesellschafts- und Rechtssystem (Institutionentrans- schnittliche Arbeitslosenquote im Jahr 1993 bei ca. 15 Pro- fer) für die neuen Bundesländer übernommen, was den ost- zent.

21 Michael Fritsch

Abbildung 1: Beschäftigungsentwicklung in Ostdeutschland (ohne Berlin) zwischen 1989 und 2018 Quelle: Arbeitskreis Erwerbstätigenrechnung des Bundes und der Länder (2019).

Neben diesen Änderungen ist der mentale Schock nicht zu eigneten Betrieben vorhanden, so erhielten sie den Vorzug vernachlässigen, der mit dem Zusammenbruch der DDR vor anderen Bewerbern, unabhängig davon, ob sie ein und der Übernahme des westdeutschen Systems verbun- wirtschaftlich tragfähiges Nutzungskonzept vorweisen den war. Insbesondere die höheren Anforderungen an Ei- konnten. Hierdurch wurde die Möglichkeit einer Über- geninitiative, Eigenverantwortlichkeit und Selbstvorsorge nahme und Fortführung eines Betriebes durch andere Be- bedeuteten für viele Menschen, die im DDR-System soziali- werber wie etwa die vorhandene Belegschaft stark einge- siert waren, eine erhebliche Umstellung. Hinzu kam, dass schränkt, was häufig als ungerecht empfunden wurde und vielfach wesentliche Teile der unter den alten Rahmenbe- sicherlich nicht in jedem Fall zu ökonomisch sinnvollen Er- dingungen erworbenen Qualifikationen nicht mehr benö- gebnissen führte. tigt wurden. Durch den Systemwechsel war der Großteil Am 1. Juli 1990 waren der Treuhandanstalt etwa 8.500 Be- der Ostdeutschen zu einer wesentlichen beruflichen Umo- triebe mit über vier Millionen Beschäftigten unterstellt. rientierung gezwungen, was häufig einen nachhaltigen Durch die Entflechtung von Kombinaten stieg die Zahl der Bruch ihrer Erwerbsbiografie bedeutete. Insbesondere die Betriebe mit der Zeit zunächst noch an. Bis zur Selbstauflö- Erfahrung, von einer als sicher angesehenen Beschäfti- sung der Treuhandanstalt am 31. Dezember 1994 wurden gung in die Arbeitslosigkeit zu fallen, wurde in aller Regel 8.134 Betriebe an private Investoren veräußert oder repri- als schmerzvolle persönliche Abwertung erlebt. Verstärkt vatisiert, ferner 310 Betriebe in kommunale Hände über- wurde dieses Gefühl der Abwertung auch dadurch, dass führt und 3.718 Betriebe stillgelegt. Die hohe Anzahl der direkt nach der Vereinigung viele Leitungspositionen – im Schließungen war sowohl auf das Erbe der sozialistischen Interesse eines schnellen Wandels – mit Personal aus den Planwirtschaft wie auch auf die dramatisch geänderten alten Bundesländern besetzt wurden, weshalb vielfach Rahmenbedingungen zurückzuführen.8 der Eindruck einer „Übernahme“ durch den Westen ent- Bei den neuen Eigentümern der ehemals staatlichen Be- stand. triebe handelte es sich vielfach um westdeutsche Unter- nehmen, die den ostdeutschen Betrieb als Zweigniederlas- Die Transformation des Unternehmensbestandes sung führten. Neu-Ansiedlungen von Zweigbetrieben Eine wesentliche Voraussetzung für den Übergang zu einer westdeutscher und internationaler Unternehmen fanden Marktwirtschaft war die Privatisierung der ehemals staat- nur in relativ geringem Maße statt und konnten somit kaum lichen Betriebe (Transformation „von oben“). Parallel hierzu zur Schließung der durch den massiven Arbeitsplatzabbau fand eine große Anzahl von Gründungen neuer Unterneh- in den Altbetrieben entstehenden Beschäftigungslücke men statt; diese Transformation geschah, spiegelbildlich beitragen. Ein wesentliches Merkmal von Zweigbetrieben gesehen, „von unten“. – häufig auch als „verlängerte Werkbänke“ gekennzeich- Die Organisation der Privatisierung staatlicher DDR-Be- net – besteht darin, dass wichtige Entscheidungen nicht triebe oblag der noch zu DDR-Zeiten gegründeten Treu- vor Ort, sondern in der Unternehmenszentrale getroffen handanstalt. Ziel war es, diese Betriebe nach den Grund- werden. Aufgrund dieser externen Abhängigkeit erwies sätzen einer Marktwirtschaft zu privatisieren und so die sich die Beschäftigung in solchen Zweigbetrieben nicht „Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen zu selten als wenig dauerhaft. Denn wenn ein Unternehmen in sichern“ (§ 8 Treuhandgesetz) oder, sofern dies nicht mög- wirtschaftliche Schwierigkeiten gerät, dann findet die er- lich war, die betreffenden Betriebe stillzulegen. Die Praxis forderliche Anpassung in aller Regel zuerst in den Zweig- der Treuhandanstalt stützte sich auf die Leitlinie: „Schnelle betrieben und nicht am Standort der Unternehmenszent- Privatisierung, entschlossene Sanierung, behutsame Still- rale statt. legung“. Für diejenigen Betriebe, die während der DDR- Großzügige Investitionshilfen trugen wesentlich dazu bei, Zeit enteignet wurden, galt der Grundsatz „Rückgabe vor dass die weiterhin bestehenden ostdeutschen Betriebe ih- Entschädigung“. Waren Alteigentümer oder Erben von ent- ren Anlagenbestand zügig auf den neuesten Stand brin-

22 gen konnten. Demgegenüber gestaltete sich die erforder- ÖKONOMISCH VEREINT? WIRTSCHAFTLICHE UNTER- liche Anpassung der Fachkenntnisse und Qualifikationen SCHIEDE ZWISCHEN OST- UND WEST DEUTSCHLAND der Beschäftigten weitaus schwieriger und langwieriger. Zudem standen viele Betriebe vor der Aufgabe, ein völlig neues Angebot an Produkten und Dienstleistungen zu ent- dass es auch 30 Jahre nach der deutschen Vereinigung in wickeln und hierfür Abnehmer zu gewinnen. Insgesamt der Region kaum große Betriebe bzw. Unternehmen gibt führte die Transformation „von oben“ zu einem massiven (IWH 2019). Arbeitsplatzabbau. Auch der Ausbildungsbereich – einschließlich der Hoch- Mit der Wende kam es in Ostdeutschland zu einem enor- schulen – wurde an das westdeutsche System angepasst, men Gründungsboom.9 Allein im Jahr 1990 wurden ca. was insbesondere an den Hochschulen grundlegende Ver- 60.000 neue Unternehmen gegründet, wobei knapp zwei änderungen mit sich brachte. Die Institute der ostdeut- Drittel dieser Gründungen auf den Dienstleistungs- und schen Akademie der Wissenschaften, die in der DDR den Touristikbereich entfielen. Der Gründungsboom in Ost- wesentlichen Teil der Grundlagenforschung betrieben, deutschland während der ersten Jahre des Transformati- wurden aufgelöst oder in Einrichtungen der bereits in der onsprozesses hatte eine Reihe von Ursachen. Ein wesentli- alten Bundesrepublik etablierten Forschungsorganisatio- cher Grund war, dass sich durch die weitgehende Unter- nen (z. B. Max-Planck- und Fraunhofer-Gesellschaft, Leib- drückung von unternehmerischer Selbstständigkeit unter niz-Gemeinschaft) überführt. dem DDR-Regime ein Nachholbedarf an Gründungen an- gestaut hatte. Zweitens stellte die sich rapide ausbreitende Arbeitslosigkeit, verbunden mit einem Mangel an berufli- Wirtschaftliche Unterschiede zwischen Ost- und chen Alternativen, vielfach ein leitendes Motiv bei der Ent- Westdeutschland 30 Jahre nach der Vereinigung scheidung für berufliche Selbstständigkeit dar („Gründun- gen aus Not“). Schließlich erschien eine Unternehmens- Trotz der massiven wirtschaftlichen Unterstützung aus den gründung häufig auch deshalb als aussichtsreich, weil alten Bundesländern und seitens der EU bestehen auch einer stark steigenden Nachfrage nach Produktions- und knapp 30 Jahre nach dem Beitritt der ehemaligen DDR zur Dienstleistungsgütern direkt nach dem Systemumbruch nur Bundesrepublik wesentliche Unterschiede des Wohlstands relativ wenige ostdeutsche Anbieter gegenüberstanden. und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zwischen bei- Aufgrund des Zusammenspiels von „Push“- (Arbeitslosig- den Teilräumen.10 So beläuft sich die an der Arbeitspro- keit) und „Pull“-Faktoren (Nachholbedarf) stieg der Anteil duktivität gemessene wirtschaftliche Leistungsfähigkeit in der unternehmerisch selbstständigen Personen an allen Er- Ostdeutschland auf etwas mehr als 80 Prozent des Wertes werbstätigen (Selbstständigenquote) in Ostdeutschland für Westdeutschland, und die Innovationstätigkeit ist im enorm an und überstieg ab dem Jahr 2005 das westdeut- Osten deutlich schwächer ausgeprägt. Auch der Anteil der sche Niveau (vgl. Abbildung 2). Exporte ins Ausland fällt deutlich geringer aus als in West- Ein wesentliches Problem ostdeutscher Gründer waren deutschland. Da viele ostdeutsche Betriebe durch Firmen mangelnde Kenntnisse und Erfahrungen mit den Anforde- aus Westdeutschland und dem Ausland übernommen und rungen einer Marktwirtschaft. Vor allem unzureichende als Zweigniederlassungen geführt werden, gibt es in Ost- Managementfähigkeiten stellten ein Wachstumshemmnis deutschland relativ wenige Unternehmenszentralen. dar und führten zu einem relativ hohen Risiko des Schei- Trotz eines hohen Niveaus der Gründungsaktivitäten in terns. Außerdem verfügten ostdeutsche Gründer in der Re- Ostdeutschland ist ein wirtschaftlich prosperierender Mit- gel über nur wenig Eigenkapital, denn das DDR-System bot telstand bisher kaum erkennbar. Die originär ostdeutschen kaum Anreize und Möglichkeiten zur Bildung privater Er- Unternehmen, die ihren Hauptsitz in der Region haben, sparnisse. Der geringe wirtschaftliche Erfolg vieler ost- sind in aller Regel relativ klein. Im Gegensatz zu den alten deutscher Gründungen schlägt sich etwa darin nieder, Bundesländern gibt es in Ostdeutschland kaum mittelstän-

Abbildung 2: Entwicklung des Anteils der Selbstständigen in Ost- und Westdeutschland im Zeit- raum 1991 bis 2016 Quelle: Eigene Darstellung, Michael Fritsch.

23 Michael Fritsch

Eine wichtige Lehre, die aus dem Verlauf der Transforma- tion der ostdeutschen Wirt- schaft gezogen werden kann, ist, dass eine grundlegende Umorientierung des Wirt- schaftssystems längere Zeit- räume benötigt. Dass dreißig Jahre massiver Wirtschaftsför- derung nicht zu einer stärkeren Angleichung der Wirtschafts- kraft geführt haben, stellt nicht zuletzt die „Machbarkeit“ wirt- schaftlichen Wachstums in Frage. picture alliance/dpa

dische Weltmarktführer, was offensichtlich eine Folge der 1989/90, insbesondere die frühe Einführung der D-Mark Enteignung von privaten Betrieben während der DDR-Zeit und die schlagartige Integration in die Weltwirtschaft, ha- darstellt. ben die ostdeutsche Wirtschaft stark überfordert. Dabei Im Ergebnis dieser Entwicklungen beträgt das Bruttosozi- war die Übernahme des weitgehend bewährten institutio- alprodukt pro Kopf der Bevölkerung in Ostdeutschland, nellen Rahmens der alten Bundesrepublik, der umgehend ein allgemeines Maß für wirtschaftlichen Wohlstand, nur für Rechtssicherheit sorgte, offenbar alternativlos, denn für ca. 70 Prozent des westdeutschen Niveaus.11 Allerdings die Ausarbeitung eines gänzlich neuen Regelsystems bestehen sowohl innerhalb von Ostdeutschland ebenso fehlte damals schlichtweg die Zeit. Es ist unklar, ob, und wie innerhalb Westdeutschlands erhebliche regionale Un- falls ja, wie ein stärker gleitender Übergang bei grund- terschiede. Zwar gibt es in Ostdeutschland einige sich dy- sätzlicher staatlicher Einheit von Ost und West – hier lag namisch entwickelnde Regionen wie Dresden und Jena, eindeutig die Priorität des Einigungsprozesses – hätte ge- die durch ein hohes Maß an Innovationsaktivitäten ge- staltet werden können? Die Entwicklung in anderen ehe- kennzeichnet sind. Allerdings besteht noch ein erheblicher mals sozialistische Staaten Osteuropas, in denen der Um- Abstand zwischen solchen punktuellen „Leuchttürmen“ bruch ungefähr zur gleichen Zeit wie in Ostdeutschland (die bisher kaum in die Breite ausstrahlen) zu führenden einsetzte (siehe hierzu die Beiträge in Åslund/Djankov westdeutschen Regionen wie etwa Frankfurt, Hamburg, 2014), zeigt einerseits, dass ein wesentlich langsamerer München und Stuttgart. Verlauf des Transformationsprozesses helfen kann, einige Härten des Übergangs zu mildern. Andererseits kam es in diesen Ländern vielfach zu gravierenden politischen wie Gründe für die verbliebenen Ost-West-Unterschiede ökonomischen Unsicherheiten, wobei die vorhandenen und Ausblick Wachstumspotenziale häufig in nur geringem Maße aus- geschöpft wurden. Angesichts dieser Beispiele erscheint Die Gründe für die auch ca. 30 Jahre nach der Wende ver- es sehr zweifelhaft, dass die ostdeutsche Wirtschaft bei bliebenen Unterschiede zwischen den alten und den einer sanfteren Form des Transformationsprozesses – so- neuen Bundesländern sind vielfältig. Dabei ist die Haupt- fern unter den damaligen Umständen überhaupt machbar ursache wohl in den 40 Jahren sozialistischer Planwirt- – heute besser dastehen würde. schaft zu sehen, deren schwerwiegende Funktionsmängel Eine wichtige Lehre, die aus dem Verlauf und dem bisheri- schließlich zum Zusammenbruch des DDR-Regimes geführt gen Ergebnis der Transformation der ostdeutschen Wirt- haben. Insbesondere wirken sich das Fehlen von wirksa- schaft gezogen werden kann, ist, dass eine solche grund- mem Wettbewerb, die Verstaatlichung privater Betriebe legende Umorientierung des Wirtschafts- und Gesell- sowie die systematische Unterdrückung unternehmerischer schaftssystems längere Zeiträume benötigt. Geschichte Initiative bis heute negativ auf die Leistungsfähigkeit der wirkt lange nach! Dass dreißig Jahre massiver Wirtschafts- ostdeutschen Wirtschaft aus. Weiterhin hat die durch po- förderung in Ostdeutschland nicht zu stärkerer Anglei- litische und wirtschaftliche Entwicklungen nach dem Zwei- chung der Wirtschaftskraft geführt haben, stellt nicht zu- ten Weltkrieg induzierte Abwanderung von überwiegend letzt die „Machbarkeit“ wirtschaftlichen Wachstums in qualifizierten Personen die Region deutlich geschwächt Frage. Auf jeden Fall sollte dies Anlass sein, das Instrumen- (Rösel 2019). tarium der Förderung einschließlich seiner Nebenwirkun- Das hohe Tempo bei der Herstellung der staatlichen Verei- gen zu überdenken und weiter zu entwickeln. nigung von Ost- und Westdeutschland in den Jahren

24 LITERATUR ÖKONOMISCH VEREINT? WIRTSCHAFTLICHE UNTER- SCHIEDE ZWISCHEN OST- UND WEST DEUTSCHLAND Arbeitskreis Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der Länder (2019): Bruttoinlandsprodukt, Bruttowertschöpfung in den Ländern der Bundes- republik Deutschland 1991 bis 2018. Reihe 1, Länderergebnisse Band 1. Stuttgart (Statistisches Landesamt Baden-Württemberg). URL: ht tps:// lich wie politisch eng mit der westdeutschen Bundesrepublik verbunden. www.statistik-bw.de/VGRdL/tbls/?rev=RV2014&lang=de- Da es seit der deutschen Vereinigung im Jahr 1990 keine belastbaren se- DE#RV2014LA-GDP [11.02.2020]. paraten Statistiken für die wirtschaftliche Situation in Ost- und Westberlin Åslund, Anders/Djankov, Simeon (Hrsg.) (2014): The Great Rebirth – Less- gibt (was angesichts der weitgehenden Integration beider Teile auch nicht ons from the Victory of Capitalism over Communism. New York. sinnvoll wäre), bleibt Berlin bei sämtlichen in diesem Aufsatz enthaltenen Audretsch, David/Lehmann, Erik (2016): The Seven Secrets of : statistischen Angaben unberücksichtigt. Economic Resilience in an era of Global Turbulence. Oxford. 2 Beispielsweise gehörte Sachsen in den Jahrzehnten bis zum Zweiten Fritsch, Michael/Bublitz, Elisabeth/Sorgner, Alina/Wyrwich, Michael Weltkrieg zu den wirtschaftlich führenden und wohlhabendsten Regionen (2014): How Much of a Socialist Legacy? The Re-emergence of Entre- in Deutschland. Für Details siehe Wolf (2019). preneurship in the East German Transformation to a Market Economy. 3 Zu einer detaillierten Darstellung der Entwicklung der DDR-Wirtschaft In: Small Business Economics, 2/2014, S. 427–446. siehe Steiner (2004). Fritsch, Michael/Sorgner, Alina/Wyrwich, Michael (2015): Wandel und 4 Allerdings war die Ausbildungszeit in vielen Berufen kürzer als im Wes- Persistenz: Die Entwicklung der Wirtschaft in Ostdeutschland nach der ten. Hierzu ausführlicher Wagner (1993). Wiedervereinigung. In: Gesellschaft, Wirtschaft, Politik, 2/2015, 5 Beispielsweise wurden die massenhaften Verstöße gegen Umwelt- S. 225 –237. schutzvorschriften während der DDR-Zeit selten bis überhaupt nicht ge- Hitchens, David M.W.N./Wagner, Karin/Birnie, J. Esmond (1993): East ahndet. German Productivity and the Transition to the Market Economy – Com- 6 Ausführlicher hierzu Fritsch/Sorgner/Wyrwich (2015). parisons with West Germany and Northern Ireland. Aldershot. 7 Ausführlich hierzu mit zahlreichen Fallbeispielen Mallok (1996). Institut für Wirtschaftsforschung (IWH) (2019): Vereintes Land – Drei Jahr- 8 Zu den Ausgangsbedingungen der Kombinate siehe Steiner (2009). zehnte nach dem Mauerfall. Halle. 9 Hierzu ausführlich Fritsch/Bublitz/Sorgner/Wyrwich (2014). Mallok, Jörn (1996) Engpässe in ostdeutschen Fabriken – Technikausstat- 10 Siehe als Überblick IWH (2019). tung, Technikeinsatz und Produktivität im Ost-West-Vergleich. Berlin. 11 Siehe hierzu Statistische Ämter der Länder (2019), Tabelle 3.3. Pickel, Andreas (1992): Radical Transitions – The Survival and Revival of Entrepreneurship in the GDR. Boulder. Rösel, Felix (2019): Die Wucht der deutschen Teilung wird völlig unter-

schätzt. In: ifo Dresden berichtet, 3/2019, S. 23–25. UNSER AUTOR Steiner, André (2009): Ausgangsbedingungen für die Transformation der DDR-Wirtschaft: Kombinate als künftige Marktunternehmen? In: Zeit- schrift für Unternehmensgeschichte/Journal of Business History, 2/2009, S. 139–157. Steiner, André (2004): Von Plan zu Plan: eine Wirtschaftsgeschichte der DDR. München. Wolf, Nikolaus (2019): Regional Economic Growth in Germany, 1895– 2010. In: Rosés, Joan Ramón/Wolf, Nikolaus (Hrsg.): The Economic De- velopment of Europe’s Regions – A Quantitative History since 1990. S. 149–176. van Ark, Bart (1995): The Manufacturing Sector in : A Reas- sessment of Comparative Productivity Performance, 1950–1988. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 2/1995, S. 75–100. Wagner, Karin (1993): Qualifikationsniveau in ostdeutschen Betrieben, Bestand-Bewertung-Anpassungsbedarf. In: Zeitschrift für Betriebswirt- Prof. Dr. Michael Fritsch hat Volkswirtschaftslehre an der TU Ber- schaft, 2/1993, S. 129–145. lin studiert, dort promoviert und habilitiert. Von 1992 bis 2006 hatte er den Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik an der TU Bergaka- demie Freiberg inne und ist seit Herbst 2006 an der Friedrich- Schiller-Universität Jena (Fachgebiet Unternehmensentwicklung, ANMERKUNGEN Innovation und wirtschaftlicher Wandel) tätig. Weiterhin ist er 1 Die Bezeichnungen „Ostdeutschland“, „neue Bundesländer“ und „ehe- Forschungsprofessor am Institut für Wirtschaftsforschung Halle malige DDR“ werden hier synonym gebraucht, obwohl die ersten beiden (IWH) und (Mit-)Herausgeber mehrerer Fachzeitschriften. Seine Bezeichnungen das ehemalige Westberlin, das nicht Teil der DDR war, einschließen. Die Bezeichnungen „Westdeutschland“ und ‚“alte Bundes- wesentlichen Forschungsgebiete sind die Funktionsweise von länder“ meinen die alte Bundesrepublik Deutschland. Nach dem Krieg Märkten sowie die Bestimmungsgründe regionaler Entwicklung, wurde die Hauptstadt Berlin in vier Besatzungszonen aufgeteilt, wobei nur insbesondere der Beitrag von Innovationsaktivitäten und Unter- der sowjetisch besetzte Teil, Ostberlin, zur DDR gehörte. Westberlin, be- stehend aus den drei anderen Besatzungszonen, lag zwar geografisch in nehmensgründungen. Ostdeutschland, hatte aber einen besonderen Status und war wirtschaft-

25 UNTER OSSIS UND WESSIS – EIN STREIFZUG DURCH 30 JAHRE Aber in 30 Jahren redet kein Mensch mehr davon Jo Berlien

viel zu enge, viel zu niedrige Tunnelröhre zu, ich bin mir si- Unser Autor Jo Berlien ist 24 als er in der ersten März- cher: Gleich zerbersten wir wie der Germanwings-Flug mit woche 1990 nach Frankfurt/Oder reist. Für den 18. März dem irren Co-Piloten am Plastikfelsmassiv. Es ist gewisser- ist die erste Volkskammerwahl der DDR nach demokra- maßen ein Nahtoderlebnis. Und wem das ein Zuviel an tischen Grundsätzen angesetzt. Für die Lokalausgabe Dramatik ist, eine typisch schriftstellerische Übertreibung, der Südwest Presse in Horb/Neckar soll er den Wahl- der hat sogar recht. Wir Westdeutschen sind Maulhelden kampf beobachten. Eingeladen hat Hans-Joachim Fuch- und steigern uns, weil wir sonst nichts erleben, in Achter- tel, CDU-Abgeordneter des Wahlkreises Calw-Freuden- bahnfahrten hinein. stadt. Die CDU (Ost) scheint Unterstützung aus dem Wes- ten nötig zu haben. Dem konservativen Wahlbündnis „Allianz für Deutschland“ werden nur Außenseiterchan- Wie Matthias Rust, nur westwärts cen eingeräumt. Der Einsatz in Frankfurt/Oder hat unse- ren Autor geprägt. Im Verlauf von 30 Jahren war und ist Mein Sitznachbar Wilkens, der Ostberliner, gefragt, wie er beruflich wie privat immer wieder mit der Ost-West- es ihm ergangen sei, erzählt von seiner Ausbildung als Pi- Thematik befasst, wie der folgende Text schlaglichtartig lot, die er in der DDR gemacht hat. Halsbrecherische Flug- aufzeigt. Ob im Journalistenkolleg an der FU Berlin, in manöver wie das plötzliche Wegkippen nach rechts oder einer Begegnung mit dem Ostberliner Autor Andre Wil- links gehörten zum Trainingsrepertoire. Und natürlich war kens im Europa-Park Rust oder mit der Ostberliner sein Antrieb damals nicht die pure Lust am Rausch, Andre Schriftstellerin Barbara Honigmann in Straßburg – im- war nicht einfach nur ein leidenschaftlicher Sportflieger. Er mer geht es auch um den Unterschied zwischen Ost und sagt: „Ich spekulierte darauf, während eines Flugs einfach West. Um Motivation und den Antrieb, etwas aus seinem weiterzufliegen.“ So wie Matthias Rust, der mit einer Leben zu machen, um Freiheitsdrang sowie – im Gegen- Cessna 1987 auf dem Roten Platz in Moskau gelandet war, zug – um Antriebslosigkeit und Selbstzufriedenheit des aber in die andere Richtung, dem Westen zu. Aber, sagt er: satten Wohlstandsbürgers. Die 1980er-Jahre können als „Es saß immer einer neben mir.“ bleierne Zeit (im Westen) erinnert werden. Oder aber als unruhig-flirrende Periode der Veränderung (im Osten).

Sitzen ein Wessi und ein Ossi in der Achterbahn …

Rust/Baden, Dezember 2019, 30 Jahre nach der Wende. Ein Treffen mit dem Politikwissenschaftler und Autor Andre Wilkens. Im Freizeitpark Europa-Park wollen wir über Eu- ropa reden und die Frage erörtern, warum Europa nicht eine mitreißende Erzählung gelingt, so wie den Illusionis- ten und kühnen Achterbahnarchitekten im Europa-Park: Die Leute kommen seit 40 Jahren. Eine Familie bezahlt 200 Euro Eintritt und steht an der Achterbahn 45 Minuten in der Warteschlange. Aber der Laden brummt. Die Europa-Frage also. Neben der Ost-West-Frage ver- mutlich die häufigste Frage nach Identität und Verortung. Nicht nur das Interesse der Dass Andre Wilkens, 56, gebürtiger Ostberliner ist, spielt Medien – hier vor dem Palast zunächst keine Rolle. Vier Stunden lang spazieren wir der Republik – war anlässlich durch ein imaginiertes Europa, eine knallbunte Kulissen- der ersten freien Wahl zur stadt – und steigen dann doch noch in die Achterbahn. Volkskammer der DDR groß. Null Wartezeit, also rein in den Blue Fire Megacoaster! Da die Westparteien im Osten Nervenkitzel-Stufe: Fünf von Fünf! Die krasseste aller Ach- 1989/90 noch mehr oder weni- terbahnen! Vier Loopings inklusive 360-Grad-Schraube. ger „Bonsai-Organisationen“ Gewöhnlich steigt man als Jugendlicher in eine Achter- (Steffen Mau) waren, hatten sie bahn und danach nie wieder. Ich habe keine Ahnung, wo- im Vorfeld der Volkskammer- rauf ich mich einlasse. Beschleunigung von Null auf Hun- wahl die Unterstützung durch dert in zweieinhalb Sekunden. Mit Blick auf das schmale Westparteien bitter nötig. Geleis nahezu lotrecht in die Tiefe, Schussfahrt auf eine picture alliance/dpa

26 Ich will von ihm wissen, wo er sich heute sähe, wenn die ABER IN 30 JAHREN REDET DDR im Herbst 1989 nicht kollabiert wäre und es bis heute KEIN MENSCH MEHR DAVON zwei getrennte deutsche Staaten gäbe. Intellektueller und redlicher Mensch, der er ist, schließt er nicht aus, dass er sich unter Umständen untergeordnet und angepasst hätte. dort alles schafft. Nun sollten sie selber schaffen. Der fol- Schiebt aber den Satz nach: „Früher oder später hätte ich gende Abschnitt erzählt davon; der Text ist eine Nacher- es versucht rauszukommen.“ So wurde er sozialisiert, dieser zählung zweier Artikel, die am 10. März 1990 in der Süd- Drang zum Aufbruch steckte tief drin. west Presse/Neckar-Chronik Horb erschienen sind.

Mit der West-CDU in der Noch-DDR Ossis machen um viere Feierabend

Frankfurt/Oder, März 1990, vier Monate nach der Wende. Fremder, kommst du als Wessi zu den Ossis, so stellen dir Wäre Hans-Joachim Fuchtel, aktuell 68 Jahre alt, Bayer, deine Westlandsleute in der Annahme, dass du nun sämtli- man würde ihn ein Urviech nennen. Fuchtel, heute CDU- che Vorurteile auf einen Schlag bestätigt siehst die Frage: Staatssekretär im Bundesministerium für Ernährung und „Wie ist Ihr Eindruck? Haben Sie das erwartet?“ Landwirtschaft, ist einer vom Land, vom Schwarzwaldrand, Die Südwest Presse im Nordosten. Zu Gast im anderen einer der mit 40 als Junger Wilder galt und gleichzeitig Frankfurt. Auf Einladung der West-CDU. Wir erwarten Kohlianer war. Über die Arbeitsbedingungen im März nichts. Wir, das sind ein Kollege der „Kreisnachrichten 1990 in der DDR sagte er: „Ich war mal im Jemen, da hat’s Calw“ und ich. Wir halten uns im Hintergrund und ziehen keinen Alkohol gegeben. Aber hier muss man vier Stunden auch mal auf eigene Faust los. Sitzen bei bärtigen Bürger- auf ein Telefonat warten, das ist noch schlimmer.“ rechtlern im Wohnzimmer und müssen uns erklären: Selbst- In Ostbrandenburg hat Fuchtel im März 1990 eigentlich verständlich sind wir keine Parteischreiber, weder CDU- nichts verloren. Zuständig für die Region sind die Partei- Wähler, geschweige denn Mitglied. Aber die SPD kriegt freunde aus Nordrhein-Westfalen. Aber Fuchtel ist ehrgei- sowas ja nicht auf die Reihe! zig. Ungefragt und vertrauend auf sein Talent als Mobili- Also zurück zu Fuchtel. Mit massiver Propaganda und einer sierer mischt er sich ein und will in Frankfurt an der Oder unglaublichen Materialschlacht zeigt sein bunt zusam- den Wahlkampf der Ost-CDU in Schwung bringen. Er sagt: mengewürfelter Stab aus Parteiprofis und Ortsverbands- „Anstatt eine Dienstreise als EG-Beauftragter anzutreten, laien den Genossen, wie man einen Wahlkampf aufzieht. bin ich hierher, um zu handeln.“ Es ist Montagnachmittag gegen 15 Uhr. In der Geschäfts- Er trommelt Freiwillige aus den CDU-Verbänden Freuden- stelle des CDU-Bezirksverbands ist ein Malheur passiert. stadt und Calw zusammen und karrt sie ins 780 Kilometer Fünf Mann stehen im Korridor und inspizieren einen Kopie- entfernte Frankfurt/Oder. In den Jahren zuvor hatte er sie rer. Das Gerät ist eine Leihgabe aus dem Westen. Und es jährlich nach Bonn eingeladen und ihnen gezeigt, was er ist kaputt. Irgendwer hat statt des gebräuchlichen Toners Druckfarbe nachgeladen. Wir kommen zu einem ungünsti- gen Zeitpunkt an, die Freude über das Auftauchen weiterer Schwarzwälder hält sich in Grenzen. Hans-Joachim Fuchtel und seine Getreuen sind zu diesem Zeitpunkt bereits seit einer Woche in Frankfurt. Die Verbrü- derung zwischen Ost- und West-CDUlern, sagt ein Mit- streiter aus Freiburg, sei nicht reibungslos verlaufen. „Das darf man gar nicht schreiben, wie das war, als Fuchtel an- kam: Éin einziger hat ihn empfangen!“ Fuchtel selber zeigt sich „verwundert, dass sich die Leut‘ so schnell verflüchti- gen“, sprich: dass sie um halb vier Feierabend machen. In- zwischen sei das anders. Die Schwarzwälder, wenn sie unter sich sind, halten den Frankfurtern mangelnde Einsatzbereitschaft vor. „Dabei ist das denen ihr Wahlkampf.“ Wenn der Mann aus dem Breisgau an die aus dem Westen gelieferte Druckmaschine denkt, die niemand in Gang zu setzen verstand, obschon in der Geschäftsstelle 15 Leute angestellt sind, schüttelt er den Kopf. „Bei uns sitzen in einem vergleichbaren Bezirk gerade mal zwei Mann.“

Ein Mentalitätsproblem Nord/Süd

Und wir sitzen mit Heinz Lassowsky, 38, Vorsitzender des CDU-Bezirks Frankfurt, Cottbus, Potsdam, beim Kaffee. Ja, sagt er, man habe schon „Schwierigkeiten, sich in die Men- talität der Schwaben hineinzudenken“. Lassowsky wird nach der Wahl als CDU-Abgeordneter in die Volkskammer in Ostberlin einziehen. Nach Auflösung der Volkskammer

27 tritt er bei der Wahl zum brandenburgischen Landtag an, scheitert, wird Geschäftsführer eines Wirtschaftsförder-

Jo BerlienJo vereins, gründet ein Unternehmen. Heute verdient er sein Geld mit Windkraftanlagen. Eine Frankfurterin, langjähriges Ost-CDU-Mitglied, hält den Schwarzwäldern mangelndes Einfühlungsvermögen vor. „Wir haben jahrelang von oben gesagt bekommen, was wir zu tun haben“, gibt sie zu bedenken. Vor dem ers- ten Arbeitseinsatz der Fuchtel-Truppe habe sie darauf hin- gewiesen, dass es verboten sei, Plakate anzuschlagen. „Kaum waren sie zurück, ruft die Dewag (Deutsche Werbe- und Anzeigengesellschaft der DDR, die Red.) an und pro- testiert!“ Am späten Nachmittag gibt Lassowsky bekannt, dass in der Innenstadt flächendeckend alle Plakate herunterge- holt worden seien. War es die Dewag? War es die SPD? Wenn mal nicht der Feind am Werk ist, hapert es an der Organisation. Für die Werbetour über 100 Kilometer Kopf- steinpflasterpiste nach Bernau geht ein ganzer Tag drauf. Ein neuer Kopierer muss besorgt werden. Und in Zepernick, nördlich von Berlin, sollen um 16 Uhr am S-Bahnhof die Ber- linpendler abgepasst werden – vier Züge voller potentiel- ler Wähler und Wählerinnen!

Frau Wiesner und der Ost-Punk

Die Euphorie legt sich rasch. Die Arbeiterinnen und Arbei- ter nehmen unseren Leuten im Vorübergehen die Zettel ab, von Entreißen kann keine Rede sein, und nur wenige lassen sich auf eine Diskussion ein. „Erschreckend, wie grau die aussehen, wie düster die dreingucken“, sagt Rolf aus Calw. Auch der General, ein Lebemann schlechthin, ist mürrisch. „Hoffentlich bleiben die drüben!“ In der Masse entdeckt er kein einziges hübsch zurechtge- machtes Mädchen. Frau Wiesner aus Freudenstadt ärgert Bei einer Straßenumfrage am 19. März in Horb am Neckar sich über einen Punk, der seit geraumer Zeit die CDU-Ak- sagt Frau Hellstern: „Kohl und Kohle – mit diesem Schlag- tion verfolgt. Sie traut sich nicht, ihn anzusprechen. Also wort haben die das gut auf einen Nenner gebracht.“ Für fragt die Presse nach. Falls er wählen gehe, sagt, er „dann Frau Hellstern ist klar, dass „wir blechen müssen. Woher jedenfalls nicht rechts“. Frau Wiesner ist empört. „Dass sol- soll das Geld sonst kommen?“ Und Herr Kesenheimer che Leute nie aufwachen!“ meint: „Die haben das gewählt, wo’s Geld hockt.“ Herr Am Abend ist Arbeitsminister Norbert Blüm in Frankfurt. Wolf zeigt sich überrascht: „Alle sahen die SPD vorne. Aber Der wie immer gut aufgelegte Blüm schüttelt Fuchtel vor die Leute meinen wohl, dass sie so schneller ans Geld kom- dem Grand Hotel die Hand und sagt zu uns gewandt: „Wir men.“ Erleichtert zeigen sich Frau Klüh („Eine Absage an gehen oft zusammen baden.“ Womit er vermutlich sein gu- den Sozialismus!“) und Herr Walz („Jetzt kommt die Wie- tes Verhältnis zu Fuchtel unterstreichen und weniger eine dervereinigung!“). Herr Wagner winkt ab: „Ich hoffe, dass sarkastische Wahlprognose wagen will. Eine kleine laute diese zur Faulheit erzogenen Leute drüben bleiben!“ Frau Schar Gegendemonstranten skandiert: „Deutschland stark Eisseler schließlich seufzt: „Mich hat es aufgeregt, dass nur und groß – die Scheiße geht von vorne los.“ Tags darauf noch DDR im Radio kam. Ich bin froh, dass es rum ist.“ meldet die Lokalpresse „Handgreiflichkeiten nach Kund- gebung“. Fuchtel liest die Zeitung sehr genau. Er stellt fest: Das Kürzel CDU taucht im gesamten Artikel kein einziges Kühle Ost-Frau, DDR-Kaderelite Mal auf. An unserem letzten Abend irren wir nach Mitternacht durch Berlin 1998, Journalistenkolleg an der Freien Universität. Frankfurt. Wir suchen ein Taxi. „Nü, schaut schlecht aus“, Neun Jahre nach der Wende treffen im Westberliner Be- sagt der Mann am Taxistand und schüttelt das müde zirk Lankwitz 16 Jungjournalisten aus dem Westen auf Haupt. Hinter ihm, im Kabuff sitzen die Fahrer und trinken zehn Kollegen aus dem Osten. Sie sind Anfang/Mitte drei- Kaffee. Also entscheiden wir uns für eine der vielen neuen ßig, arbeiten bei Lokalzeitungen und wollen einen akade- Schwarztaxen, junge Leute ohne Plan und Ortskenntnis, mischen Abschluss. Das Studium ist auf drei Jahre ange- aber wild darauf, ein Geschäft zu machen. Arbeiterwohn- legt. Man beschäftigt sich mit der dräuenden Globalisie- heim Spartakusring 22? – Wir gondeln im Wartburg durch rung, mit Prinzip und Prozess empirischer Forschung und so die Stadt und finden am Ende mehr aus Zufall ans Ziel. weiter. Die Wahl am 18. März 1990 gewinnt die Ost-CDU die „Al- Die Ost-West-Thematik steht nicht auf dem Plan. Tatsäch- lianz für Deutschland“ (CDU, Demokratischer Aufbruch, lich geht es zwischen den Kommilitonen um nichts anders. Deutsche Soziale Union) mit 48 Prozent vor der SPD (21,8 %). Der Lauteste des Seminars, Stefan, Radiomann aus Essen,

28 ABER IN 30 JAHREN REDET KEIN MENSCH MEHR DAVON

von daheim. Es hält ihn dann nicht lange, er folgt dem nächstbesten Stipendiaten-Ruf und quartiert sich in der Villa Massimo in Rom ein, dem Gegenentwurf zur improvi- sierten Ostberliner Kühlschrankarchitektur. Mir näher, aber nicht weniger klischeebehaftet, ist die Runde um Schwaben-Lothar aus Kreuzberg. Im Februar 2004 ziehe ich nach Berlin. Am zweiten Tag meiner Ankunft versammelt Lothar ein paar Leute, allesamt Emigranten aus Bevor das Viertel chic, dyna- Westdeutschland, und einer nach dem anderen erzählt misch und schwäbisch domi- seine Story von den Anfangsjahren in den Achtzigern in niert wurde: In der Fenster- Berlin. Das Jahr 1989 kommt in den Erzählungen nicht vor. scheibe eines Hauses im Ost- Auf Nachfrage kommen Klagen. Dass die Stadt sich zum berliner Stadtbezirk Prenzlauer Schlechten verändere. Ähnlich wie im Film „Herr Lehmann“ Berg wirbt ein Frauenzentrum (Leander Haußmann, 2003) verbrachten einige von ihnen im Sommer 1990 für ein sozia- den Abend des 9. November 1989 an einem Tresen und les Projekt. Zur Wendezeit gab schauten sich die Maueröffnung im Fernseher an. Weil Lo- es zahlreiche zivilgesellschaftli- thar und Genossen keine Ignoranten sind, finden sich rasch che Vorhaben als Zeichen der sogenannte politische Freunde aus dem Osten. Er lädt neuen Freiheit und Demokratie. nach Neustrelitz in Mecklenburg ein, wir suchen Kontakt Inzwischen ist der Prenzlauer zu den Kulturleuten und schreiben Zeitungsartikel über die Berg zum „szenigen“ Osten Bildhauer-Dauerausstellung in der Schlosskirche. avanciert, in dem die „höhere Kunst des Konsumierens im Genuss der Einfachheit liegt“ – Ein bisschen DDR in Straßburg so ein Reiseführer. picture alliance/dpa Straßburg, 2011. Die Schriftstellerin Barbara Honigmann ist 1984 aus Ostberlin ausgereist und nach Straßburg ge- zogen. „Hier bin ich gelandet vom dreifachen Todessprung gibt den Klischee-Wessi, der sich von Simone, einer sprö- ohne Netz: vom Osten in den Westen, von Deutschland den Intellektuellen aus Ostberlin, offenbar angezogen nach Frankreich und aus der Assimilation mitten in das fühlt und herausgefordert sieht. Simone lässt Stefan abblit- Thora-Judentum hinein“, resümierte sie in dem 1986 er- zen. Simone hat schnell das Image der kühlen Ost-Frau schienenen „Roman von einem Kinde“. Ich lerne sie kennen, weg. Zwei Drittel der Seminaristen sind unauffällig, junge als ich sie für eine Kulturzeitschrift porträtiere; wir freunden Leute aus der Provinz, die vorankommen wollen und sich uns an, und ich ziehe kurz darauf mit der Familie nach neben dem Beruf dieses Studium aufgehalst haben. Wie in Straßburg. Der Blick aus Barbaras Wohnung erinnert an jeder Gruppe gibt es auch hier Leute, die vorneweg gehen. Berlin, auch an Ostberliner Tristesse. Dabei berlinert sie Zwei Ostdeutsche, Matthias und Jana, sind liiert. Sie sind stark und nennt ihre Katze Atze. Sie lebt ihr Leben als deut- die Klassenbesten. Die Wessis beargwöhnen das. Müssen sche Schriftstellerin, die ausschließlich auf Deutsch schreibt die nicht in der DDR Privilegien genossen haben? Sind das und mittlerweile nicht mehr ins Französische übersetzt nicht Kinder von Führungskadern? Im Verlauf von drei Jah- wird. So dass irgendwann die Frage kam: „Willst du nicht ren springt mehr als die Hälfte der Kommilitonen ab. Jana irgendwann zurück?“ Sie antwortete berlinerisch brüsk: und Matthias machen ihren Abschluss. Matthias arbeitet „Diese Frage stellt sich nicht!“ heute beim Deutschlandfunk, Jana wurde ZDF-Moderato- Die Antwort ist einfach: In Straßburg gibt es jüdisches Le- rin. Simone schreibt Bücher und arbeitet für die „taz“. Von ben, in Berlin schreiben nur die Zeitungen drüber. Ihr Ber- uns Wessis war keiner so zielstrebig und erfolgreich. Ste- lin, wie sie es kannte, existiert nicht mehr. Der DDR weint sie fan macht immer noch Lokalradio. keine Träne nach. Den verstreut lebenden Freunden schon. Ein Sohn lebt in Berlin, der andere in Paris, Straßburg liegt irgendwo dazwischen. Ostberlin existiert in der Erinne- Wohlfühl-Wessi im Prenzlberg rung und lebt in ihren Büchern fort und ein wenig auch in ihrem Alltag, dem Alltag einer still und konzentriert vor sich Berlin, Februar 2004. Begegnung mit E., dem elaborierten hinarbeitenden Künstlerin. „Ich bin jetzt 70“, sagt sie, „Rei- Sohn einer Kollegin aus dem Schwarzwald. E., Anfang 20, sen nach Übersee kommen nicht mehr in Frage. Ich bin froh, studiert Architektur und schreibt für die FAZ. 2004 mietet er dass ich das gemacht habe mit New York.“ sich im Ostbezirk Prenzlauer Berg ein, gerade noch recht- zeitig, ehe das Viertel chic wird und schwäbisch dominiert. Der junge Mann mag sich gar nicht einkriegen ob der ab- Berlin – bis heute geteilt gewanzten, bizarr metallenen Kargheit seiner Einzimmer- Absteige mit Kochnische: Stahltür, Wände teils stählern Berlin, 2004. Geht es Ihnen auch so? Wenn ich irgendwo in ausgekleidet. Man kommt sich vor wie in der Kühlkammer Deutschland einen Berliner treffe, ist es ein Ostberliner. einer Metzgerei. E. findet es toll. Schicken Altbau kennt er Der Westberliner erfreut sich seiner Stadt, obschon er täg-

29 Jo BerlienJo

Für viele junge Westdeutsche ohne Verwandtschaftsbezie- hungen in die DDR war der Osten kein Thema. Die DDR, das war Jürgen Sparwasser (2.v.l.), der bei der WM 1974 – vorbei an Horst-Dieter Höttges (r.), Berti Vogts (2.v.r.) und Tor- hüter Sepp Maier – das ent- scheidende Tor und damit die 1:0-Führung gegen das BRD- Team erzielte. Am Ende blieb es bei diesem 1:0 – ein sensati- oneller Sieg der DDR. picture alliance/dpa

lich drauf schimpft. Er ist sesshaft und standorttreu. Unter 1986 begleitet er einen Freund, der sich als Abenteuer- allen 16 Bundesländern haben die Berliner die geringste schwimmer einen Namen gemacht hat, in die USA. Der Umzugsquote, besagt eine Statistik von 2014; unter allen Mann will im Colorado River den Grand Canyon durch- Berlinern bleiben die Kreuzberger am liebsten in ihrem schwimmen. Berlien hat einen Auftrag von der Playboy- Kiez und mehr als 20 Jahre in der Mietwohnung. 2009, 20 Redaktion in München. 8.000 Mark wird die Story bringen: Jahre nach der Wende, konstatierte der Berliner Mieter- „Dass ich von dem Honorar keine einzige Mark sah, weil verein: „Der Blick auf die Wahlergebnisse nach Wohnge- die ganze Unternehmung 60.000 Mark kostete – den Flug bieten verdeutlicht, dass man den geographischen Räu- hatte ich selber bezahlt –, hakte ich als erste leidvolle Er- men von Ost- und Westberlin immer noch eine deutliche fahrung mit dem Kapitalismus ab.“ Ein Finanzdienstleister, politische und kulturelle Teilung zuordnen kann. Die Mi- der später wegen mehrerer Betrügereien vor Gericht ste- schung von Ossis und Wessis in den Stadtgebieten hat hen wird, hat T-Shirts gesponsert, ein Filmteam aus Los An- diese Teilung nicht beseitigt; sie hat sie nur relativiert.“ geles eine Dokumentation gedreht. Mit dem Film tingelt das „Adventure Team“ zwischen Rottweil und Tübingen über Land. Dabei hätten sie auch in Las Vegas, wo sie für Der Wessi hat alle Chancen eine Woche Station machten, ihr Glück versuchen können. Warum eigentlich nicht? Straßburg/Amsterdam, Dezember 2019. Wilkens, Andre, Beinahe überflüssig zu erwähnen, dass die deutsch-deut- Jahrgang 1963, Autor (Ost), und Berlien, Jo, Jahrgang sche Teilung für den 15- bis 25-jährigen Westdeutschen 1965, Autor (West): Legt man die beiden Mittelschichts- ohne Verwandtschaftsanbindung in den Osten kein Thema Biografien wie eine Folie übereinander, ergibt sich ein ge- war. DDR, das war Jürgen Sparwasser, der bei der WM ’74 genläufiges Bild: So viel Aufbruch war nie! Aber nur im Os- das Tor gegen uns schoss. Vater war ein traumatisierter ten. Vertriebener aus Ostpreußen, der darüber nicht sprach Baden-Württemberg, 1980–1989. Berlien hat die 1980er- und auch nicht zurück wollte und bis zu seinem Tod die Rus- Jahre als Jugendlicher im Südwesten als bleierne Zeit in sen fürchtete, weshalb er nach Kanada floh. Erinnerung. Die Altersspanne von 15 bis 25 gilt gewöhnlich als Zeit des Aufbruchs. Berlien bietet sich dreimal die Mög- lichkeit, raus zu kommen aus der als zu eng empfundenen Und der Ossi nutzt sie schwäbischen Provinz. 1981 reist die Familie nach Ontario und schaut sich an einem der großen Seen ein zum Verkauf Ostberlin, 1980–1989. Andre Wilkens hat die 1980er- stehendes Hotel an. Berlien sagt: „Ich war 16 und froh, Jahre in der DDR als Zeit des Aufbruchs erlebt. Der Westen nicht auswandern zu müssen. Von dem Aufenthalt in Erin- ist für ihn Sehnsuchtsort. „Alles Tolle kam von dort: die Mu- nerung geblieben ist mir der Playboy-Titel mit Bo Derek, sik, die Klamotten, die Freiheit.“ Dass die Mauer Knall auf den ich mir im Dorfladen heimlich gekauft habe.“ 1984 ma- Fall zusammenkracht, überrascht auch ihn. In einem Bei- chen die Eltern ernst. Der Vater erwirbt ein Hotel in Ostka- trag für die „Zeit“ schreibt er im Dezember 2019: „Nach nada, die Familie muss ins kanadische Konsulat in Stuttgart 1989 gab es keinen Grund mehr wegzugehen. Praktisch zum Englischtest, alle bekommen eine Sozialversiche- jeden Tag passierte etwas Außergewöhnliches, bis dahin rungskarte und dürfen einwandern. Der Sohn aber bleibt. völlig Unvorstellbares. Einstmals mächtige Männer wur- Lieber macht er Zivildienst. „Danach habe ich bei der Zei- den über Nacht zu Karikaturen ihrer selbst. Neue Männer tung angefangen. Ich wollte in meiner Sprache schreiben. brachten Bananen, Wahlen und die D-Mark. Meine Stadt Was sollte ich in der kanadischen Provinz?“ war über Monate in einer unfassbaren Aufbruch- und Fei-

30 erstimmung. Theater, Universitäten, Marktplätze wurden ABER IN 30 JAHREN REDET zu Pop-up-Foren für eine neue Demokratie. Rockbands KEIN MENSCH MEHR DAVON trommelten den Beat des Wandels dazu. Immobilienhaie und -hechte unterteilten die Stadt in Monopolyzonen und fingen an zu spielen. Ich wusste auf einmal, dass nichts Sprachmelodie war vertraut und das Verstehen stellte sich mehr unmöglich sein würde. Die Hoffnung hatte gewon- von selbst ein. nen. Nach Deutschland würde sich auch Europa in Frieden In 30 Jahren werden die Menschen in Ost und West die vereinen.“ gegenläufige und oft konfrontative Sozialisation in zwei Wilkens geht trotzdem. Er studiert an der London School of politischen, wirtschaftlichen, sozialen Systemen vergessen Economics Politikwissenschaften und wird dort, wie er und überwunden haben. Thüringer und Hessen werden sagt, „zum Europäer ausgebildet“. 1991 fährt er in einem vertraute Nachbarn sein mit ähnlichen Temperamenten Lada von Berlin nach Brüssel. Bei der Europäischen Kom- wie Niedersachsen und Anhaltiner-Sachsen, wie Mecklen- mission hat er sich um ein Praktikum beworben. Er heiratet burger und die anderen nordischen Bundesländer drum eine Britin, lebt und arbeitet in Turin und Genf und ist heute herum. Bleiben werden die Unterschiede, aus der sich die Direktor der European Cultural Foundation in Amsterdam. Neugier speist, die Entdeckerlust, mal ins Saarland zu fah- Nachsatz: Der Autor Martin Gross zieht 1990 als West- ren oder ins Erzgebirge. deutscher nach Magdeburg. In der Wochenzeitung „Die Andere“ notiert er im Juni 1990: „Schade, wenn ich diese Leute sehe, wie sich alles für sie verändert, denke ich: Wa- Mauerfall oder Mannesmann? rum nur für sie?“ Anders gesagt: „War der Mauerfall wirklich das prägende Ereignis des ‘89er-Hebstes? Oder hatte die Lizenzvergabe In 30 Jahren ist Ost-West perdu für den Aufbau eines digitalen Mobilfunknetzes an das Unternehmen Mannesmann durch das Bonner Postministe- Straßburg, Dezember 2019. Wie wichtig ist 1989 heute rium wenige Tage nach Öffnung der Mauer letztlich nicht noch? Trotz aller Erlebnisse und aller Nostalgie zum Trotz viel weitreichendere Folgen?“ (Aus: Jan Wenzel [Hrsg.]: kann man 30 Jahre später als in Westdeutschland soziali- Das Jahr 1990 freilegen. Leipzig 2019) sierter Anfangsfünfziger ein unterkühltes Fazit ziehen. Viel- leicht folgt die Idee vom Zusammenwachsen von Ost und West lediglich einer überkommenen und nostalgischen, aus 40 Jahren Trennung gespeister Vorstellung einer ein- UNSER AUTOR heitlichen Nation. Vielleicht ist die Idee vom Nationalstaat aber nicht mehr zukunftsträchtig in einem zukünftigen Eu- ropa der Regionen und Metropolen? Sachsen, Thüringer, Brandenburger sprechen meine Sprache, aber das tun Schweizer, Luxemburger, Elsässer, Südtiroler und Österrei- cher auch, und als Schwabe habe ich mit Alemannen, Schweizern und Vorarlbergern mehr gemein als mit Meck- lenburgern, die Mentalitäten sind mir, siehe oben, näher. Als die Ostberlinerin Barbara Honigmann einmal einen Handwerker bestellte, kam ein Elsässer ins Haus. „Ich habe den nicht verstanden“, klagte sie. Das nächste Mal nahm Jo Berlien ist freier Journalist und Autor. Er hat als Ghostwriter und sie einen Franzosen. Im badisch-elsässischen Grenzland Redenschreiber für die Politik in Berlin und Brüssel gearbeitet und besuchte ich mit meiner Partnerin einmal ein ausschließlich für seine journalistische und literarische Arbeit diverse Preise er- auf Elsässisch gesprochenes Theaterstück. Die ersten halten. Wortwechsel waren noch schwer verständlich, doch die

31 DIE LIEBE IST ERLOSCHEN Einsichten eines „Wessis“: Die Geschichte einer Entfremdung Markus Decker

Tags darauf, es war ein Montag, suchte ich meine neuen Knapp zweieinhalb Millionen Frauen und Männer sind Kollegen auf, die mich flugs mit einem kleinen Auftrag ver- seit der Wiedervereinigung in die neuen Länder gezo- sahen, obwohl es erst am Dienstag, dem 1. September gen. Einer von ihnen ist Markus Decker. Im Spätsommer 1992, offiziell losgehen sollte. An jenem Dienstag saß ich 1992 zog der Journalist als 28-Jähriger nach Sachsen- dann mit meinen Volontariats-Novizen aus Ost und West Anhalt und „verliebte“ sich rasch in den Osten. Er erzählt, beim ostdeutschen Chefredakteur in Halle. Der Mann mit wie er die neuen Bundesländer kennen lernte, wie stei- SED-Vergangenheit, der bald darauf abgesetzt wurde und nig, aber dennoch voller Überraschungen und mensch- dem jahrelang durchweg westdeutsche Chefredakteure lich wichtigen Begegnungen sein Weg war. Diese Erfah- folgten, nahm sogleich anerkennend meinen ersten Text in rungen waren letztlich identitätsstiftend und lebensprä- Augenschein. Mein Leben im Osten ließ sich gut an. Und je gend. In seinem einfühlsamen Porträt der ostdeutschen mehr sich dieser Eindruck in den kommenden Monaten ver- Gesellschaft beschreibt Markus Decker aber auch, wie festigte, desto kräftiger und euphorischer wurde ich. Ich seine Liebe zum Osten langsam erlosch. Er schildert das spürte: Ich hatte den richtigen Beruf ergriffen. Das war zu nachlassende Verständnis für ostdeutsche Mentalitäten, Beginn keineswegs sicher. Und: Ich war zur richtigen Zeit Besonderheiten der politischen Kultur und für den zu be- am richtigen Ort. obachtenden Rechtsruck bestimmter Milieus. Die Ge- schichte seiner teilweisen Entfremdung von Ostdeutsch- land zeigt, dass die innere Einheit eine immer noch reich- Frühe Affinität zu Ostdeutschland lich fragile Angelegenheit ist. Obwohl sich vieles inzwischen angeglichen hat, gären unterhalb der Ober- Zufall war es im Übrigen nicht, dass ich in Sachsen-Anhalt fläche die Differenzen weiter. gelandet war. Denn eine Affinität zu Ostdeutschland hatte ich schon früh. Ich hatte vor 1989 Moskau und Prag bereist und als 18-Jähriger eher zufällig an einem Jugendlager

Ankunft im Osten: ängstlich, hoffnungsfroh und angemessen neugierig

Ich kann mich an meine Ankunft im Osten noch gut erin- nern. Ein Jahr nach meinem Examen und ein halbes Jahr nach meinem Vorstellungsgespräch bei der „Mitteldeut- schen Zeitung“ packte ich im Spätsommer 1992 das Nö- tigste in meinen roten Opel Corsa und fuhr von meiner Stu- denten-WG in Münster (Westfalen) nach Sachsen-Anhalt. Eine der zahlreichen Lokalredaktionen der ehemaligen SED-Bezirkszeitung namens „Freiheit“ hatte in Bernburg ih- ren Sitz; das liegt zwischen Magdeburg und Halle. Die schöne Industriestadt an der Saale sollte nun für 24 Mo- nate meine neue Heimat werden. Ich weiß noch, wie ich mich freute, als ich an einem Sonn- tagabend das Haus in Augenschein nahm, in dem sich die Arbeitslosigkeit als kollektives Redaktion, eine Art große Altbauwohnung mit vielen Zim- Schicksal: Die Uhren sind schon mern und knarzenden Dielen, und die Geschäftsstelle des vor Jahren stehen geblieben Blattes befanden. Das Haus stand in der Lindenstraße, der im ehemaligen Schwermaschi- zentralen Einkaufsstraße der Stadt, die alle den „Boule- nenbaukombinat „Ernst Thäl- vard“ nannten. Dieser von Bäumen gesäumte Boulevard mann“ (SKET) in Magdeburg. war schön und erinnerte mich an zu Hause, wo wir in einer SKET war vor der Gesamtvoll- ähnlichen Einkaufsstraße eine Bäckerei besaßen. Vom streckung 1996 größter Arbeit- Boulevard fuhr ich weiter zum Bernburger Salzbergwerk. geber in Magdeburg und hatte Es hielt in schmucklosen Pavillons kleine Werkswohnungen 1990 allein im Stammwerk bereit, in denen es nach dem unverwechselbaren DDR- 13.000 Beschäftigte. 2004 Putzmittel Wofasept roch. In einer schlug ich fürs Erste mein waren in einem ausgeglieder- Lager auf. Meine Gemütsverfassung war gleichermaßen ten Unternehmen noch rund ängstlich wie hoffnungsfroh und wie es sich für einen an- 350 Mitarbeiter beschäftigt. gehenden Journalisten gehört: angemessen neugierig. picture alliance/dpa

32 der Freien Deutschen Jugend in der Nähe von Potsdam teil- EINSICHTEN EINES „WESSIS“: genommen, kannte Wolf Biermanns Platten teilweise aus- DIE GESCHICHTE EINER ENTFREMDUNG wendig, hatte ein Interview mit seinem Liedermacher-Er- ben Stephan Krawczyk geführt, noch bevor die Mauer fiel – und fuhr, als sie dann tatsächlich gefallen war, umge- bereits wieder abgeschaltet, wenn ich zur Antwort an- hend mit dem Auto nach Berlin, um mir das aus der Nähe setzte. Ich hätte mindestens eine Stunde gebraucht, um anzusehen. Auch durfte in der Schule nicht fehlen, was als das jeweils Erlebte schildern und einordnen zu können. Ich DDR-Literatur bekannt war, Christa Wolf beispielsweise. bekam oft nicht mal zehn Minuten – und unternahm zuneh- Außerdem hatte ich als Kind erlebt, dass immer mal wieder mend seltener den Versuch. ein Nennonkel aus dem katholischen Eichsfeld zu uns kam; Weil ich im Osten zwar freundlich, aber eben doch als der besagte „Onkel Herbert“ hatte kriegsbedingt ein Holz- „Wessi“ wahrgenommen wurde, hatte ich rasch das Ge- bein und streng nach hinten gekämmte Haare. Die Klamot- fühl, mich emotional für eines der beiden Deutschländer ten, die er trug, komplettierten das Bild eines Mannes, der entscheiden zu müssen. Ich entschied mich für den Osten. aus einem anderen Land, aber irgendwie auch aus einer Ja, ich reagierte zunächst mit einer Art Überanpassung. So anderen Zeit zu kommen schien. Er erinnerte mich an Sepp oder so merkte ich, dass die Übersiedlung mir etwas ab- Herberger, den Vater des Fußballwunders von Bern im Jahr verlangte – eine Auseinandersetzung mit den neuen Ver- 1954. hältnissen, die mich zwangsläufig verändern würde. Ich Der Schritt über die alte innerdeutsche Grenze war groß konnte nicht der bleiben, der ich war. damals. Von Magdeburg nach Bernburg brauchte man für In Bernburg lernte ich eine grundlegend andere Gesell- 40 Kilometer bisweilen drei Stunden; eine Autobahn gab schaft kennen. Meine Kollegen waren teilweise in der SED es seinerzeit noch nicht. Die Sanierung vieler Gebäude gewesen oder hatten ihr nahe gestanden und reagierten hatte gerade erst begonnen. Im Winter roch es überall gegenüber den neuen Verhältnissen entweder übermäßig nach Kohle. Und in der Redaktion gab es zwar für jeden befangen oder übermäßig kritisch. Vielfach wurden sie der acht Redakteure und zwei Sekretärinnen einen Telefon- von ihrem Umfeld auch als befangen betrachtet. Das ver- apparat – dafür aber lediglich zwei Leitungen. Wenn zwei schaffte mir mehr journalistische Freiräume, als ich im Wes- Kollegen telefonierten, mussten die anderen warten. Es ten als 28-jähriger Volontär gehabt hätte. Ich hatte keine kam vor, dass sie die Wartezeit rauchend vor einem Aqua- Vergangenheit, die ich irgendwem hätte erklären müssen. rium totschlugen, das im letzten Zimmer der Redaktion Ich war frei. stand. Wie groß der Sprung von West nach Ost tatsächlich war, merkte ich bei Wochenendheimfahrten an den Reaktionen Arbeitslosigkeit als kollektives Schicksal meiner alten Freunde und Bekannten. Die fragten meist recht allgemein „Wie ist es denn da so?“, hatten jedoch Die Arbeitslosenquote lag seinerzeit bei etwa 25 Prozent, weil eine Massenentlassung die andere ablöste. Wenn die Quote mal bei nur 23,5 Prozent lag, waren alle schon froh. Ungefähr gleich viele Menschen waren in Arbeitsbeschaf- fungsmaßnahmen „geparkt“ – oder in F und U. F und U stand für Fortbildung und Umschulung, wobei beides stre- ckenweise oft kaum mehr war als Beschäftigungstherapie. Denn F und U führten oft nirgendwo hin, zumindest nicht in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis. Ziel schien eher zu sein, die Betroffenen vor dem Gefühl vollkommender Leere zu bewahren. Nach meinem Wechsel in die Lokalredaktion Wittenberg pflegte der dortige Arbeitsamtsdirektor Reiner Haseloff, der heute CDU-Ministerpräsident des Landes Sachsen- Anhalt ist, zu sagen, dass 80 Prozent der Bevölkerung mit seiner Behörde in Kontakt stünden. Diese Zahl wiederum erklärt plastisch, was in jenen Jahren in Ostdeutschland geschah. Die meisten Ostdeutschen hatten ihre alten Plätze in der Gesellschaft verlassen müssen und waren auf der Suche nach einem neuen Platz. Sie hingen mit beiden Beinen in der Luft – während die Mehrheit der Westdeut- schen mit beiden Beinen fest auf dem Boden stand. Ich weiß noch, wie Männer mittleren Alters mit Einkaufs- beuteln stundenlang auf Plätzen oder an Straßenkreuzun- gen standen, weil ihre alten Betriebe sie nicht mehr brauch- ten, es keine neuen Betriebe gab und sie mit ihrer Existenz nichts mehr anzufangen wussten. Einer schrieb mir in einer Angelegenheit mal einen kritischen Leserbrief und be- suchte mich anschließend in der Redaktion; ungefähr ein Jahr später kam derselbe Mann auf denselben Leserbrief zurück. Während ich jeden Tag mit zwei oder mehr Themen zu tun hatte und kaum wusste, wo mir in meinem soeben

33 begonnenen Journalistenleben der Kopf stand, war sein Leben anscheinend so ereignisarm geworden, dass er sich in diese Angelegenheit regelrecht verbiss. Es war erschüt- ternd.

Markus Decker Neu war für mich war auch, dass die Kirchen eine Ni- schenexistenz führten, nachdem sie zuvor die Friedliche Revolution mit gestaltet hatten – wobei die evangelische Kirche noch die bedeutendere war. Ich kam aus einem ka- tholischen Elternhaus, und im Münsterland war der Katho- lizismus dominant. Meine Mutter warnte mich regelrecht davor, zu dieser anderen Konfession überzulaufen. Ich hin- gegen merkte schnell, dass mich mit den ostdeutschen Pro- testanten mehr verband als mit der atheistischen Mehr- heitsbevölkerung. Sie hatten ähnliche Dinge im Kopf und ähnliche Interessen.

Das Ost-Thema: identitätsstiftend und lebensprägend

Aufs Ganze gesehen gilt: Ich mochte die Ostdeutschen. Ich mochte die Ostdeutschen auch deshalb, weil sie es nach 1945 erheblich schwerer gehabt hatten als wir Westdeut- schen – und in den ersten Jahren nach 1989 abermals. Man muss zu den Verlierern halten, finde ich. Zugleich hatte ich Anlass zur Dankbarkeit. Denn während im Osten Millionen Menschen von heute auf morgen ihre berufliche Existenz auf Nimmerwiedersehen verloren, be- kam ich dort eine berufliche Perspektive geboten. Meine Bewerbungen um ein Zeitungsvolontariat in Westdeutsch- land waren trotz Prädikatsexamen und allerlei Praktika bei durchaus renommierten Medien wie der „Frankfurter Rund- schau“ und dem Westdeutschen Rundfunk erfolglos geblie- ben, weil mir die nach jahrelanger freier Mitarbeiterschaft Westdeutsches Desinteresse an der Umbruch- und übliche Bindung an ein Blatt fehlte. Doch in jenen Monaten, Nachwendezeit in denen ich das Studium beendete, begannen westdeut- sche Verlage damit, die ostdeutschen Bezirkszeitungen Auf der einen Seite nehme ich Westdeutschland als jene aufzukaufen. Sie wollten die Redaktionen mit neuen Leuten Teilrepublik wahr, an der die deutsche Einheit und damit durchmischen, gern auch mit Westdeutschen. Sie suchten auch die ostdeutschen Transformationsprozesse überwie- junge, an Ostdeutschland interessierte Journalisten. Ja, sie gend spurlos vorübergegangen sind. Westdeutsche, die suchten Menschen wie mich. Nebenbei bemerkt war es so, keine Familienmitglieder in Ostdeutschland hatten und dass die Auflage der „Mitteldeutschen Zeitung“ als ehema- selbst nie dort gelebt haben, sind bis heute vielfach ah- lige SED-Bezirkszeitung 1992 ungefähr so hoch war wie nungslos. Vor allem sind sie weithin desinteressiert. die Auflagen von „Süddeutscher Zeitung“ und „F.A.Z.“ Wenn im Bundestag einmal jährlich über den Jahresbe- im Jahr 2020 zusammen. So gesehen glich ein Volontariat richt zum Stand der deutschen Einheit debattiert wird, bei der „Mitteldeutschen Zeitung“ einem Sechser im Lotto. dann sind Ostdeutsche dabei fast durchweg unter sich – 1994 zog ich also von Bernburg als frisch bestallter Redak- und zwar ohne dass dies irgendwem noch als Manko auf- teur weiter nach Wittenberg, von dort 1999 nach Halle fiele. Hier wird über die Einheit nicht als etwas Gemeinsa- und von Halle 2001 in die Parlamentsredaktion nach (Ost-) mes gesprochen. Über die Einheit zu sprechen, das bedeu- Berlin, wo ich unter anderem zuständig bin für das, was tet bis heute überwiegend, über Ostdeutschland zu man gemeinhin die „Ost-Themen“ nennt. Auch privat hat sprechen – und zwar entlang der Frage, ob und wie sich der Osten in meinem Leben Spuren hinterlassen: Meine dieses Ostdeutschland den westdeutschen Verhältnissen Liebste kommt aus Thüringen. angepasst habe oder auch nicht. Westdeutschland kommt Halb zufällig, halb zielgerichtet wurde das Ost-Thema für in der Betrachtung gar nicht vor. Ostdeutschland als Ak- mich gleichermaßen lebensprägend wie identitätsstiftend. teur eigentlich auch nicht. So viel zur Politik. Drei Bücher sind daraus erwachsen: „Zweite Heimat. Journalistisch mache ich ähnliche Erfahrungen. Westdeut- Westdeutsche im Osten“ (2014), „Was ich dir immer schon sche Geschichte gilt selbstredend als gemeinsame Ge- mal sagen wollte. Ost-West-Gespräche“ (2015) sowie schichte – so wie es auch keine West-Schauspieler oder „Ostfrauen verändern die Republik“ (2019; mit Tanja Bran- West-Schriftsteller gibt. Westdeutsche stehen – egal wo des). Sie waren Versuche, die Landesteile einander näher und in welcher Funktion – per se für das Ganze. Als solche zu bringen. Denn obwohl sich vieles angeglichen hat und apostrophierte „Ost-Schauspieler“ und „Ost-Schriftstel- vieles zusammengewachsen ist: Diese Landesteile sind ei- ler“ gibt es indes reichlich. Ostdeutsche Geschichte wird nander zuweilen immer noch fremd. Und ich empfinde mich entsprechend separat verhandelt. So ist es in westdeut- stärker als in den 1990er-Jahren als einer, der zwischen schen Redaktionen bis heute vielfach unmöglich, „Ost-The- den Stühlen sitzt. men“ als gesamtdeutsche Themen wahrzunehmen – ob-

34 EINSICHTEN EINES „WESSIS“: DIE GESCHICHTE EINER ENTFREMDUNG

Neu-Isenburg (mit einer langen und ehrenwerten Tradition von Veranstaltungen zur deutschen Einheit) – nichts der- gleichen. Der ostdeutsche Kollege einer großen überregionalen Ta- geszeitung hätte mein erstes Buch gern rezensiert; aber seine westdeutsche Zentrale lehnte ab. Und als ich im westdeutschen Teil meiner Familie von meinem dritten Ost- Buchprojekt berichtete, bekam ich zur Antwort, damit Heidenau, 26. August 2015: Ein müsse doch nun endlich mal Schluss sein. Der Hinweis auf zerbrochenes Ei, das von die Probleme im Ruhrgebiet ließ nicht lange auf sich war- einem vermeintlich „besorgten ten. Dieser Abwehr liegt unter anderem ein schematisches Bürger“ in Richtung der Bun- Verständnis von deutsch-deutscher Geschichte zugrunde. deskanzlerin geworfen wurde. Die Mehrheit der Westdeutschen geht davon aus, dass die 2015 hatte das Land Sachsen Angleichung mit wachsendem Abstand zu Mauerfall und einen leerstehenden Baumarkt deutscher Einheit gleichsam automatisch voranschreitet. zur Erstaufnahme von Flücht- Dass es auch anders sein könnte, weil grundlegende Wei- lingen herrichten lassen. Am chen womöglich falsch gestellt wurden – diese Vorstellung 21. August zogen 1.000 Leute existiert nicht. durch die Stadt, unter ihnen Erst vor ein paar Monaten ereignete es sich, dass sich eine Neonazis, aber auch Familien Freundin aus münsterländischen Jugendtagen darüber mit Kindern. Angela Merkel, wunderte, dass meine Liebste ja „gar keinen Dialekt“ spre- die nach Heidenau geeilt war, che. So als ob überall in der DDR Dialekt gesprochen wor- wurde als „Volksverräterin“ den und Ostdeutschland ein vergrößertes Sachsen wäre. geschmäht und auf übelste Dass der Westen vom Osten in den letzten 30 Jahren nichts Weise beschimpft. wissen wollte, ist jedenfalls kein Vorurteil, sondern mein picture alliance/dpa höchstpersönlicher empirischer Befund. Dieser Befund ist wiederum nur zu erklären, wenn man sich vor Augen führt, dass die Abkehr des Westens vom Osten schon lange vor wohl es vielfach gesamtdeutsche Themen sind. Die Treu- 1989 begonnen hatte. Die Westdeutschen hatten sich seit handanstalt etwa hat ja nicht nur die ostdeutsche den 1960er-Jahren der westlichen Welt zugewandt; aus Wirtschaft privatisiert. Es waren Westdeutsche, die diesen ihr bezogen sie ihre kulturellen Leitbilder. Die DDR hinge- Prozess gestaltet und als Käufer einstiger Ostbetriebe von gen galt als rückständig, und ihre Bewohner und Bewoh- ihm profitiert haben. Letzteres bleibt außen vor – und das, nerinnen galten als seltsame Wesen. Deshalb ist es auch obwohl diese Form der Privatisierung durchschlagende kein Wunder, dass sich größere Teile der linken und libera- Konsequenzen hatte. Bis heute werden nur rund zwei Pro- len Öffentlichkeit 1989 vom Ziel der Wiedervereinigung zent des gesamtdeutschen Vermögens in Ostdeutschland verabschiedet hatten. Oskar Lafontaine, 1990 Kanzlerkan- vererbt. Die Wohlhabenden leben im Westen. didat der SPD, scheiterte. Die westdeutschen Grünen flo- Beim Thema Ost-West-Wanderung herrscht das gleiche gen gleich ganz aus dem Bundestag und konnten von Bild. Es gibt lange Erörterungen darüber, welch negative Glück sagen, dass ein paar versprengte Ost-Grüne im Par- Wirkung die Abwanderung in Ostdeutschland hinterlas- lament die Fahne hoch hielten. sen hat. Welche positive Wirkung die ostdeutschen Zu- Das alles wirkt bis heute nach. Und es bewirkt, dass die wanderer in Westdeutschland hinterlassen haben, ist da- Westdeutschen den Osten noch immer nicht oder bloß gegen kein Gegenstand öffentlicher Erörterungen. Die partiell verstanden haben – etwa was das Erstarken der Reihe ließe sich fortsetzen: So war das Ministerium für AfD betrifft. Allerdings setzt beim Rechtsextremismus auch Staatssicherheit der DDR ja nicht bloß im Osten aktiv; es mein Problem ein. hatte seine Fühler nicht minder nach Westen ausgestreckt. Westdeutsches Desinteresse habe ich auch als Buchautor erfahren. So sind zwei der drei Bücher, die ich schrieb, in Allmähliche Entfremdung Ostdeutschland auf eine größere Resonanz gestoßen. Das erste Buch über „Westdeutsche im Osten“ wurde in nahezu Dass der Rechtsextremismus in Ostdeutschland stärker ist, allen ostdeutschen Zeitungen besprochen. „DIE ZEIT im war für mich von Beginn an offenkundig. Wenn ich in den Osten“ machte eine Doppelseite daraus. Ich durfte im Mit- 1990er-Jahren nachts mit dem Auto über Land fuhr, dann teldeutschen Rundfunk und im Rundfunk Berlin-Branden- habe ich mich beim Tanken meistens beeilt, weil „an der burg längere Interviews geben. Ferner wurde ich zu etwa Tanke“ gern Skinheads herumlungerten, vor denen man 25 Lesungen eingeladen. Mit dem dritten Buch über „Ost- sich in Acht nehmen musste. Und als die rechtsradikale frauen verändern die Republik“ verhält es sich ähnlich. Al- Deutsche Volksunion (DVU) 1998 bei der Landtagswahl in les in allem kommen abermals ungefähr 30 Lesungen zu- Sachsen-Anhalt immerhin 12,9 Prozent der Stimmen holte, sammen. In Westdeutschland gab es – abgesehen von da erschütterte mich weniger das Ergebnis selbst als die löblichen Ausnahmen in Wiesbaden (mit einigen ostdeut- Tatsache, dass es sonst niemanden um mich herum zu er- schen Zuhörern), Pforzheim (mit einem DDR-Museum) und schüttern schien. 1999 löste ich in Wittenberg dann einen

35 mittleren Skandal aus, weil ich einen dort stadtbekannten CDU-Politiker und Unternehmer beschrieb, wie er war: weit offen nach Rechtsaußen. Trotzdem habe ich all das im Grunde lange verdrängt. Als

Markus Decker ich mit meinem Freund Günter aus Köln mal in der Nähe von Bernburg auf einem Dorffest war und er mich auf die vielen Neonazis ansprach, redete ich das klein. Ich wollte nicht, dass Günter schlecht über den Osten denkt. Das ist bald 30 Jahre her. Ich wollte und ich will bis heute nicht, dass sich die Westdeutschen mit dem Verweis auf den Rechtsextremismus in Ostdeutschland bequem entlasten, wozu sie dann und wann neigen. Der innerdeutsche Zeige- finger nutzt niemandem. Ohnehin gibt es für die autoritär-fremdenfeindlichen Nei- gungen vieler Ostdeutscher ja Erklärungen: zwei aufein- ander folgende Diktaturen, die mangelnde Erfahrung im Zusammenleben mit Migranten, die Transformation, die stetige Abwanderung nach 1945 und die Konsequenz all dessen: dass sich die ostdeutsche Gesellschaft, von den Großstädten einmal abgesehen, in ihrer Zusammenset- zung und mentalen Verfasstheit signifikant von der west- deutschen Gesellschaft unterscheidet, sodass man sie – ei- gentlich – nicht mit derselben Elle messen kann. Seit der „Flüchtlingskrise“ bin ich mit Ostdeutschland gleichwohl weniger nachsichtig als ehedem. Meine Ge- duld hatte sich erschöpft, als ich sah, wie in Sachsen und anderswo eine Flüchtlingsunterkunft nach der anderen at- tackiert wurde. In Heidenau war ich im August 2015 Au- An einem zugeklebten Briefkasten der Erstaufnahmeeinrich- gen- und Ohrenzeuge, als die Kanzlerin ins Visier von tung Heidenau (Sachsen) klebt ein Zettel mit der Aufschrift Rechtsextremisten und vermeintlich „besorgten Bürgern“ „unbekannt verzogen“. Im April 2016 zogen hier die letzten geriet – Rechtsextremisten, die Angela Merkel gewiss auch Asylbewerber aus. Im August 2015 schlug in der Stadt der tätlich angegriffen hätten, wenn die Polizei nicht anwe- Hass auf Fremde in offene Gewalt um. Steht es einer Gesell- send gewesen wäre. Im Bundestagswahlkampf 2017 er- schaft, aus der selbst Millionen Menschen geflohen sind, lebte ich derlei bei Merkel-Visiten in Brandenburg und überhaupt zu, andere Flüchtlinge abzuwerten oder gar Mecklenburg-Vorpommern ebenfalls. Wo die Ostfrau er- anzugreifen? schien, waren ostdeutsche Neonazis mit ihren „Merkel picture alliance/dpa muss weg“-Plakaten immer schon da. Dieser Hass und diese Kälte haben mich schockiert und mir auch Angst gemacht. Noch mehr hat mich schockiert, dass schen, die mir einst nahe standen, sind aus politischen rechtsextremes Gedankengut in die Mitte der Gesellschaft Gründen belastet. Sympathieverhältnisse oder Freund- einsickerte – unter dem Banner einer angeblich bedrohten schaften gehen kaputt. Mir tut das zuweilen leid; doch ich Meinungsfreiheit, die die DDR von 1989 mit der Bundesre- erlebe es als unvermeidlich. Einerseits. publik von heute gleichsetzt und die Dinge damit auf den Andererseits möchte ich mich nicht zum Kronzeugen gegen Kopf stellt. Zu guter Letzt war da eine moralische Empö- Ostdeutschland machen lassen. So rief irgendwann nach rung. Ich fand – und ich finde nach wie vor –, dass es einer Erscheinen meines „ZEIT“-Textes die Redaktion einer be- Gesellschaft, aus der selbst Millionen Menschen geflohen kannten ARD-Talkshow an. Eine freundliche Mitarbeiterin sind, nicht zusteht, andere Flüchtlinge abzuwerten oder sagte, sie hätten mich gern in der Sendung. Am nächsten gar anzugreifen, zumal dann nicht, wenn diese wie Millio- Tag rief die Mitarbeiterin ein zweites Mal an, diesmal um nen Syrer vor Krieg und einer brutalen Diktatur fliehen. So meine Positionen genauer abzuklopfen. Weil ihr diese an- brutal wie unter Baschar al-Assad – das steht fest – war es scheinend zu differenziert erschienen, fiel ich von der Ein- unter Erich Honecker niemals. ladungsliste wieder runter. So sehr die Einladung meiner Als ich im März 2018 in der „ZEIT“ einen in diesem Sinne Eitelkeit entgegenkam, so sehr war ich am Ende froh, nicht zornigen Text über den Osten publizierte, bekam ich viel eine Rolle einnehmen zu müssen, die ich nicht hätte einneh- Zustimmung – von schulterklopfenden Westdeutschen, men wollen – und können. was mir nicht so lieb war, wie auch von zahlreichen Ost- deutschen mittlerer Jahrgänge, die in größeren Städten leben und mir sagten, sie verstünden ihre Landsleute selbst Es ist schwierig geworden in Deutschland nicht mehr. Freilich gab es nicht minder scharfe Kritik. Ein Ost-Kollege schrieb: „Dann geh‘ doch rüber.“ Das war bit- Man sieht: Es ist schwierig geworden in Deutschland, bis- ter. weilen schwieriger als 1992, als ich – ein zuversichtlicher Auch sonst mache ich in Ostdeutschland – wenn auch nicht und aufgeschlossener Westdeutscher – in ein im Ganzen nur in Ostdeutschland – die Erfahrung, dass sich die politi- noch zuversichtliches und aufgeschlossenes Ostdeutsch- sche Gesinnung und das Leben nicht mehr so einfach von- land aufbrach. Das Land wie auch ich waren bereit zur Ver- einander trennen lassen wie früher. Beziehungen zu Men- änderung. Über ein Vierteljahrhundert später sind wir auf

36 uns selbst und unsere jeweiligen Herkünfte zurückgewor- EINSICHTEN EINES „WESSIS“: fen. Der Graben wird gelegentlich wieder tiefer. DIE GESCHICHTE EINER ENTFREMDUNG Manchmal denke ich, diese Kluft zwischen Ost und West wird noch Jahrzehnte bleiben. Manchmal bin ich optimisti- scher und denke: Vielleicht müssen wir uns noch einmal bis aufs Messer streiten, um anschließend wirklich zueinander finden zu können. Und schließlich gibt es seltene Momente, in denen ich denke, dass es vielleicht besser wäre, sich mit diesem Ost-West-Ding gar nicht mehr so intensiv zu be- schäftigen, weil es die Differenzen noch vergrößert. Was ich sicher sagen kann, ist, dass der Umzug von West nach Ost mein Leben enorm bereichert hat – bereichert um UNSER AUTOR menschliche und zeithistorische Erfahrungen, die ich da- heim nicht hätte machen können. Bereichert auch um die Gewissheit der eigenen Privilegierung. Meine Kollegen in Bernburg hießen übrigens Andreas, Carsten, Engelbert, Harald, Paul, Raimund, Rita und Yvonne. Es war eine lebendige, lustige, auch komplizierte Redaktion. Drei von ihnen sind inzwischen gestorben – so wie Franz Peter Ewert gestorben ist, der stellvertretende Chefredakteur der „Mitteldeutschen Zeitung“, der aus dem Rheinland kam, sich im Osten so zurechtfinden musste wie ich und mit mir das Vorstellungsgespräch führte. Meistens Markus Decker, 1964 in Borghorst (Münsterland) geboren, hat würdigte er meine Texte. Gelegentlich monierte er sie Politikwissenschaft, Soziologie und Romanistik in Münster und auch. Und einmal, als ich ein kritisches Porträt über einen Marburg studiert und ging 1992 zur „Mitteldeutschen Zeitung“ Unternehmer zu Papier gebracht hatte, da sagte er zu mir: nach Sachsen-Anhalt. Er ist heute Berliner Parlamentskorrespon- „Wenn Sie das über mich geschrieben hätten, dann hätte dent beim RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) und hat drei ich sie erschossen.“ Ich habe alle noch vor Augen, als wäre Bücher zum Ost-West-Verhältnis geschrieben. es gestern gewesen.

Medienkompetenz erleben Offene Onlinekurse der Landeszentrale für politische Bildung für den Unterricht Mit wenigen Klicks sind Schüler*innen in einem Kursraum und durchleben mit fiktiven Jugendlichen digitale Herausforderungen. Ob Datenschutz, Hatespeech oder Verschwörungstheorien – in den methodisch und didaktisch durchdachten Kursräumen wird Medienkompetenz authentisch vermittelt. Fertige Arbeitsblätter können auch offline genutzt werden.

• Mit Herz gegen Hatespeech (Die Verbraucherzentrale Bundesverband bewertet den Online-Kurs mit gut.) www.elearning-politik.de/mitherzgegenhatespeech.html • Verschwörungstheorien erkennen www.elearning-politik.de/verschwoerungstheorien_kurs.html • Daten verraten. Meine Persönlichkeit im Netz www.elearning-politik.de/daten_verraten.html

Weitere offene Kurse für Schulklassen finden Sie hier: www.elearning-politik.de/internetangebote_schulklassen.html

37 DIAGNOSE: KULTURSCHOCK Kulturschock oder wahrgenommene Aufstiegsblockaden? Das Modell des Kulturschocks Wolf Wagner

wenn ich es hatte, war schon etwas ganz anderes dran. Ich Die Wiedervereinigung versprach Freiheits- und Wohl- fiel auf mit meiner deutschen Art, mit Messer und Gabel zu standsgewinne, wurde aber aus Sicht der ostdeutschen essen. Ich war ziemlich zurückhaltend und distanziert, be- Bevölkerung als ökonomischer Schock, als soziale und scheiden eben, wie ich es gelernt hatte. Meine Mitschüler kulturelle Enteignung wahrgenommen. Deklassierungs- und Geschwister erschienen mir überdreht. Ich wurde von erfahrungen verschärften die bis heute anhaltenden ge- ihnen vermutlich als leicht autistisch wahrgenommen, als sellschaftlichen Frakturen. Mehr als die Hälfte der Ost- etwas, was man heute einen „Nerd“ nennt. Die Phase der deutschen fühlen sich im Jahr 2019 immer noch als Bürger Irritationen steigerte sich zur Phase der Eskalation, zum ei- zweiter Klasse. Die Wiedervereinigung wird nur mäßig gentlichen Kulturschock. Es bildete sich ein geschlossenes gelobt, die Zustimmungswerte für die Demokratie sind Weltbild: Ich verteufelte die Gastkultur und verherrlichte besorgniserregend. Wolf Wagner zeigt an historischen meine Herkunftskultur. Ich hatte Heimweh. Ich schrieb im- Beispielen gelingende Vereinigungen als Zusammen- mer öfter und immer längere Briefe an Leute, die mich sonst schlüsse Gleicher und vergleicht diese mit Vereinigun- kaum interessiert hatten. Ich fühlte mich sehr einsam. Das gen, die per Anschluss oder Beitritt erfolgt sind und Kon- dauerte etwa drei Monate. flikte auslösten. Mit Bezug auf Norbert Elias und Pierre Dann kam ich in die Phase der Missverständnisse. Ich Bourdieu entwickelt Wolf Wagner ein eigenes Modell merkte, dass die Schwierigkeiten, in denen ich steckte, da- kulturellen Wandels. Anstatt eines optimistischen Modells rauf beruhten, dass die Einheimischen anderen Regeln des Kulturschocks, an dessen Ende die Verstän digung folgten als ich. Ich erkannte die Irritationen als Missver- steht, werden ein dauerhaft wahrgenommener Aus- ständnisse. Wenn es mir gelänge, die anderen Regeln zu schluss der ostdeutschen Bevölkerung und als Folge da- entdecken, könnte ich sie erlernen, mich nach ihnen rich- von trotzige Gegenkulturen konstatiert. Die wahrgenom- ten, und die Missverständnisse wären verschwunden. So menen Aufstiegsblockaden werden mit empirischen Da- ging das denn auch. Mein Englisch wurde immer besser. ten exemplarisch belegt. Ich verstand mehr und mehr. Und eines Morgens wachte ich auf und stellte fest: Ich hatte auf Englisch geträumt. Das geschah etwa ein halbes Jahr nach meiner Ankunft. Von da an ging alles besser. Ich war in der Phase der Verständi- Was ist und wie verläuft ein „Kulturschock“? gung angekommen und konnte mit den fremden Regeln im- mer besser spielen, konnte wechseln zwischen der Rolle Einen „Kulturschock“ bekommt man, wenn man für längere des Exoten und der Rolle des Überangepassten, der ame- Zeit – mindestens ein Jahr – in ein Land mit einer sehr ande- rikanischer sein konnte als die Amerikaner. Ich beherrschte ren Kultur reist und dort gezwungen ist, sich auf die fremde nicht nur zwei Sprachen, sondern auch zwei Kulturen. Kultur einzulassen, man sich also nicht in ein Hotel zurück- ziehen kann, in dem alles so ist wie daheim. Besonders aus- geprägt ist der Kulturschock, wenn man Teil einer Familie in dem fremden Land wird und Tag für Tag von morgens bis abends der fremden Kultur und Sprache ausgesetzt ist. Abbildung 1: Kulturschock – Das Grundmodell Ich verbrachte 1960 als Sechzehnjähriger mit einem Sti- pendium der Austauschorganisation American Field Service ein Jahr lang im Mittelwesten der USA in einer Familie mit vier Kindern in meinem Alter und jünger. Im gleichen Jahr publizierte Kalvero Oberg (1960) einen Aufsatz mit dem Titel „Culture Shock“. Darin schilderte er als Ergebnis von Interviews mit US-amerikanischen Studierenden, die ein Jahr im Ausland verbracht hatten, exakt das, was ich da- mals in den USA erlebte. Oberg entwickelte daraus ein Phasenmodell (vgl. Abbildung 1). Bei mir verlief das damals genauso, wie es Oberg be- schrieben hat: Nach einer ersten, aber ziemlich kurzen Phase der Euphorie über das tolle Abenteuer mit all den aufregend neuen Erlebnissen folgte eine Phase der zuneh- menden Irritationen. Ich verstand die Leute nicht. Im Unter- richt musste ich jedes zweite Wort nachschlagen, und Quelle: Eigene Grafik, W. Wagner.

38 Das Grundmodell des Kulturschocks ist ein optimistisches KULTURSCHOCK ODER WAHRGENOMMENE Modell. Denn der ganze Prozess, den das Modell darstellt, AUFSTIEGSBLOCKADEN? ist ein Lernprozess, eine Chance. Am Ende steht die Verstän- digung, in der man die Unterschiede kennt und anerkennt. Was ist schiefgelaufen? Wie kann man diese ganz uner- wartete Entwicklung 30 Jahre nach der Wiedervereini- Die Anwendung des Modells auf das gung erklären? wiedervereinigte Deutschland Ist es in anderen Wiedervereinigungen oder Vereinigun- gen ebenso gelaufen? Ist die Erwartung einer Verständi- Als ich 1992 eine Stelle als Professor an der Fachhoch- gung bei der Vereinigung ganzer Gesellschaften mögli- schule Erfurt antrat und nach Thüringen zog, merkte ich, cherweise verfehlt? Das sind die Fragen, die bei der gege- dass die Ostdeutschen um mich herum in meiner Straße benen Problemlage weiterhelfen könnten. und im Zug, mit dem ich beinahe jeden Tag von meiner Kleinstadt nach Erfurt pendelte, in einem Zustand waren, wie ich damals in meiner schlimmsten Zeit in Amerika. Sie Wiedervereinigungen und Vereinigungen im steckten im Kulturschock. Mit der Wiedervereinigung per Vergleich Beitritt waren sie in ein fremdes Land versetzt worden, ohne sich auch nur ein Stück von ihrem gewohnten Platz Beim Vergleich der historischen Beispiele für Vereinigun- wegbewegt zu haben. Beinahe alle Regeln, an die sie sich gen ganzer Gesellschaften stellt sich sehr schnell heraus, über Jahrzehnte ihres Lebens in der DDR gewöhnt hatten, dass es zwei grundverschiedene Formen der Vereinigung manchmal mühsam, manchmal freudig, galten nicht mehr. bzw. Wiedervereinigung gibt, nämlich die Vereinigung un- Stattdessen galten Regeln, die sie zum größten Teil noch ter gleichberechtigten Gleichen und die Vereinigung per nicht einmal kannten. Die Warenwelt der DDR war ver- Anschluss oder Beitritt zu einem dominanten Teil, dessen schwunden und ersetzt durch die des Westens. Das war Regeln und Institutionen man übernehmen muss (vgl. Wag- wunderbar und verstörend zugleich. Sehr viele waren aus ner 2015). ihrem bisherigen Leben abrupt hinausgeworfen worden. Sie hatten ihren Arbeitsplatz, häufig ihren ganzen Betrieb Vereinigungsprozesse unter Gleichen verloren und mussten nun ein Leben führen, das sie nie ge- Vereinigungen als Zusammenschluss Gleicher, in denen lernt hatten. Sie lebten in Angst und Schrecken. Ich erlebte die vereinigten Teile ihre je unterschiedliche Identität weit- das bei meinen Nachbarn. Ich erlebte es im Zug in den gehend bewahren, sind relativ selten in der Geschichte, Gesprächen der Pendlerinnen und Pendler um mich her. Ich dafür aber von großer Bedeutung. Das Heilige Römische erlebte es in der Hochschule bei meinen Studentinnen und Reich deutscher Nation ist das am längsten bestehende Studenten, bei den Kolleginnen und Kollegen, die in der Beispiel für einen solchen Zusammenschluss sehr unter- DDR aufgewachsen waren und aus ihren bisherigen Positi- schiedlicher, aber gleichberechtigter, nach innen souverä- onen vertrieben worden waren. ner Gebilde. Die großen Fürstenhäuser hielten sich gegen- Ich meinte, ihre Situation mithilfe des Kulturschock-Modells seitig im Zaum und bewahrten die Machtbalance über bei- gut zu verstehen. Ich konnte ihnen Orientierung geben und nahe 850 Jahre. ihnen Hoffnung machen, denn laut Modell würde die Ver- Ein weiteres Beispiel ist der Zusammenschluss der Vereinig- ständigung kommen. Die Unterschiede würden anerkannt ten Staaten von Amerika – zuerst als Staatenbund, dann werden und man würde wissen, wie die anderen „ticken“. als Bundesstaat – und ihre Ausdehnung bis zum Bürger- Alles würde gut werden. krieg 1861. Die Land Ordinance von 1785 des Continental Als Sozialwissenschaftler sah ich es als meine Aufgabe, Congress verbot den 13 Ursprungsstaaten, sich nach Wes- den Menschen Orientierung und Hoffnung zu geben. Also ten hin durch Anschluss neuer Territorien auszudehnen. tat ich das, was ich immer tat: Ich schrieb ein Buch. Es er- Diese Territorien mussten neue Staaten bilden und konnten schien 1996 unter dem Titel „Kulturschock Deutschland“ dabei eigene Institutionen und Regelungen entwickeln, die (vgl. Wagner 1996). Das Buch wurde ein kleiner Bestseller. sich von den bestehenden Staaten zum Teil erheblich un- Heute, vierundzwanzig Jahre später, 30 Jahre nach der terschieden. Erst ab einer gewissen Bevölkerungsgröße Wiedervereinigung, haben sich diese optimistischen Er- wurden sie in die Vereinigten Staaten von Amerika aufge- wartungen nicht erfüllt. Der Jahresbericht der Bundesre- nommen, behielten aber ihre Eigenständigkeit nach innen. gierung zum Stand der Deutschen Einheit 2019 stellt fest: Erst in der Frage der Sklaverei wollte die Mehrheit der „So fühlen sich laut einer jüngst für die Bundesregierung Staaten keine südliche Abweichung mehr dulden, und es durchgeführten Umfrage 57 Prozent der Ostdeutschen als kam zum Bürgerkrieg mit dem nachfolgenden erzwunge- Bürger zweiter Klasse. Die Wiedervereinigung halten nur nen Anschluss der unterlegenen Südstaaten. rund 38 Prozent der Befragten im Osten für gelungen. Bei In Europa lebte das Heilige Römische Reich deutscher Na- Menschen unter 40 sind es sogar nur rund 20 Prozent. Be- tion nach dem endgültigen Sieg über Napoleon Bona- sorgniserregend sind die Zustimmungswerte für die Demo- parte ab 1815 im Deutschen Bund als lockerer Zusammen- kratie im Osten Deutschlands: Knapp die Hälfte der Men- schluss Gleicher fort. Und selbst die Gründung der Deut- schen im Osten sind eher unzufrieden mit ihrer Funktions- schen Reiches 1871 war ein solcher Zusammenschluss unter weise. Diese Unzufriedenheit findet auch einen Ausdruck Gleichen. Zwar war Preußen die dominante Macht, aber in den signifikant unterschiedlichen Wahlergebnissen im die kleineren Teile behielten nach innen ihre Souveränität Osten und im Westen in den letzten Jahren“ (Der Beauf- mit eigenem Heer, eigener Polizei, Justiz, eigenen Bil- tragte der Bundesregierung für die neuen Bundesländer dungssystemen und eigenem Wahlrecht. 2019: 13). Eine verheerende Bilanz, was die erwartete Ver- Ein weiteres Beispiel ist die Gründung der Bundesrepublik ständigung betrifft! Deutschland im Jahr 1949. Die elf von den Westalliierten

39 nach 1945 nach und nach wiedergegründeten Bundeslän- ohne sich dabei zu verändern. Erst 1884 wurde das Wahl- der im Westen (ohne Saarland und Berlin) wurden von den recht von den zwei auf sieben Prozent der Bevölkerung Alliierten als Träger der Gründung eines Weststaates ein- ausgedehnt (vgl. Stärker 2000). gesetzt. Die gewählten Landtage stellten die Delegierten Große Teile der ländlichen Bevölkerung des Südens fühl- Wolf Wagner Wolf zur Beratung des Grundgesetzes, und die Landtage be- ten sich durch die Einigung von oben um die versprochene schlossen auch die Annahme des Grundgesetzes und da- Demokratisierung und Landreform betrogen und begann mit den Zusammenschluss der Länder zur Bundesrepublik einen langen Guerillakrieg, den Briganten-Krieg, gegen Deutschland. Als dann auch noch die unbedeutende Pro- die Obrigkeit. Dies ist nur eine der vielen Äußerungen des vinzstadt Bonn zur Bundeshauptstadt erhoben wurde, er- anhaltenden Konfliktes zwischen den beigetretenen Teilen rangen die Landeshauptstädte großes und etwa gleiches und den dominanten Teilen, die bis heute anhalten und die Gewicht. Die Bundesrepublik bot damit eine sehr große italienische Politik bestimmen. Hier hat es seit über 150 kulturelle Vielfalt. Auch stellten die Bundesländer im Bun- Jahren die im Modell Kulturschock vorhergesagte Verstän- desrat ein wichtiges Bundesorgan zur Verteidigung dieser digung nicht gegeben, genauso wenig wie in den 30 Jah- Vielfalt im Westen Deutschlands. ren des wiedervereinigten Deutschlands. Schließlich ist die Vereinigung Europas ein besonders be- Das kann man in all den anderen Beispielen der Vereini- deutendes Beispiel für einen Zusammenschluss von Natio- gung per Beitritt oder Anschluss beobachten: Der An- nalstaaten unter Bewahrung ihrer Souveränität und Identi- schluss des Königreichs Hannover an Preußen 1866 er- tät. Diese Form der Vereinigung ist nach ihrem Erfinder, zeugte einen über hundert Jahre anhaltenden Widerstand Jean Monnet, als „Methode Monnet“ bezeichnet worden: mit einer eignen Partei, der Deutsch-Hannoverschen Par- Keine großen utopischen Ziele und Programmatiken pro- tei, die noch in den 1950er- Jahren den Ministerpräsiden- pagieren, sondern pragmatisch in kleinen Schritten Ab- ten von Niedersachen stellte. hängigkeiten schaffen, so dass die Teile mehr und mehr Ein besonders spektakuläres Beispiel für eine Vereinigung kooperieren und immer mehr zusammenwachsen. Willy per Anschluss ist der amerikanische Bürgerkrieg (1861– Brandt und Egon Bahr haben daraus die neue Ostpolitik 1865). Nach seinem Ende gab es bis 1877 eine Reconstruc- entwickelt mit dem Grundkonzept, der Gegenseite das tion genannte, relativ kurze Zeit der Herrschaft einer Koali- Recht zuzugestehen, anders zu sein. tion von befreiten Sklaven und Kräften aus dem Norden, Bei allen diesen Beispielen von Vereinigung gibt es keinen die versuchten, eine demokratische und egalitäre Ord- Kulturschock. Die sich vereinenden Teile müssen sich an nung gegen den Widerstand der Repräsentanten der al- keiner Stelle einer dominanten Kultur unterwerfen und an- ten konföderierten Ordnung durchzusetzen. Nach und passen. Damit gibt es auch keinen Anlass für einen Kultur- nach traten die aus der Union ausgetretenen Staaten der schock. Die vereinten Teile bewahren ihre Vielfalt. Das Re- Union wieder bei. Die Wiedervereinigung war vollzogen. sultat ist eine geringere Vergleichbarkeit der Lebensver- Dieser Prozess war aber so hochumstritten, dass er in den hältnisse als bei einer Vereinigung per Beitritt oder Südstaaten zu einem extremen Kulturschock führte, der in Anschluss. Dafür aber ist die Zufriedenheit mit dem Prozess den Jahren seither zu keiner Verständigung geführt hat. hoch und der Grad der Vorurteile und Diskriminierung zwi- Es gibt eine Reihe von Einigungen und Wiedervereinigun- schen den Teilen gering (vgl. Wagner 2015). gen per Anschluss, die bei den Angeschlossenen so hefti- gen und über Generationen anhaltenden Widerstand ver- Vereinigungen durch Beitritt oder Anschluss ursachten, dass sie die Vereinigung rückgängig machten Dies ist völlig anders bei der zweiten und geschichtlich entweder per Volksabstimmung oder per Krieg. Beispiele häufigsten Form der Vereinigung, die Vereinigung per Bei- dafür sind Tschechien und die Slowakei, Jugoslawien mit tritt oder Anschluss. Italiens Vereinigung im 19. Jahrhun- seinen Nachfolgestaaten und Jemen mit seinen jeweiligen dert ist dafür ein Musterbeispiel. Nach der Niederlage Zerfalls- und Wiedervereinigungsstaaten. Napoleons und der Restauration der vorrevolutionären Die Betrachtung von Vereinigungen und Wiedervereini- Verhältnisse auf dem Wiener Kongress dominierte auf der gungen in der Geschichte zeigt, dass es nur bei Vereini- italienischen Halbinsel das Haus Savoyen im Königreich gungen per Beitritt oder Anschluss Konflikte gibt, die man Sardinien-Piemont als einzige genuin italienische Macht Kulturschock nennen könnte. Aber sie zeigen keinerlei Ten- von Bedeutung. Die spanischen Bourbonen beherrschten denz zu einer versöhnenden Verständigung zwischen den den Süden Italiens im Königreich beider Sizilien. Das habs- Teilen wie im Modell des Kulturschocks gefordert. Auch burgische Österreich war die bestimmende Macht im östli- nach Jahrhunderten zeigt sich in vielen Gesellschaften chen Nord- und Mittelitalien. Das Königreich Piemont-Sar- eher eine Tendenz zum Gegenteil: Eine anhaltende und dinien war eine zentralistische, konstitutionelle Monarchie häufig zunehmende Verhärtung der Fronten. Das Modell mit großen Machtbefugnissen des Monarchen und einem Kulturschock hat versagt. Der Soziologie Norbert Elias hin- Wahlrecht, das nur zwei Prozent der Bevölkerung eine Be- gegen bietet eine alternative Erklärung: dauerhaft wahr- teiligung an der Politik erlaubte (vgl. Stärker 2000). Ca- genommener Ausschluss und anhaltende trotzige Gegen- millo Benso von Cavour, der Ministerpräsident von Sardi- kultur. nien, lud die Fürsten und den Adel der anderen Königrei- che und Fürstentümer in ganz Italien ein, sich dem Adel Piemont-Sardiniens anzuschließen und so der drohenden Statt Kulturschock dauerhaft wahrgenommener Entmachtung durch die demokratischen Volksbewegun- Ausschluss und trotzige Gegenkultur gen Guiseppe Garibaldis zu entgehen. Sie machten da- von gerne Gebrauch. Ein Land nach dem anderen trat Norbert Elias hat bei seinen historischen Studien zu seinem nach einer Volksabstimmung unter den zwei Prozent Adel großen Werk „Über den Prozess der Zivilisation“ (Elias dem Königreich bei. Italien wuchs, indem Piemont-Sardi- 1980) in meiner Lesart zwei epochemachende Entdeckun- nien wuchs, bis es sich in Königreich Italien umbenannte, gen gemacht. Die erste Entdeckung ist: Der kulturelle Wan-

40 del entsteht in Gesellschaften dadurch, dass Menschen ihr KULTURSCHOCK ODER WAHRGENOMMENE Prestige steigern wollen und deshalb die Verhaltenswei- AUFSTIEGSBLOCKADEN? sen von Gruppen übernehmen, die sie als mit mehr Prestige ausgestattet wahrnehmen. Allerdings werden nur diejeni- gen Verhaltensweisen übernommen, die mit dem eigenen Aufstiegsmöglichkeiten und damit eine Gesellschaft mit Lebensstil vereinbar sind. Pierre Bourdieu hat in seinem verminderten Distanzregeln war. Die distanzsetzenden Buch „Die feinen Unterschiede“ (1987) solche Lebensstile Oberschichten waren ihr schon in den 1950er-Jahren sehr treffend beschrieben. So wird klassische Musik in ei- durch Flucht in den Westen abhandengekommen. Die da- ner Gruppe, die einen eher groben und hedonistischen Le- durch entstandenen Vakanzen waren durch junge Aufstei- bensstil pflegt, wohl nie die dort populären Schlager ver- ger aus den Arbeiter- und Bauernfakultäten der ersten Ge- drängen können, was musikalisch anspruchsvollere Pop- neration DDR gefüllt worden, die den loyalen Kern der DDR musik aber durchaus leisten kann. Beim Übernehmen bildeten, aber den akademischen Überlegenheitshabitus werden die Verhaltensweisen dem Lebensstil der Gruppe, bürgerlicher Akademiker nie erlernt hatten. Nach dem Bau die sie übernehmen, angepasst. Sie verändern sich dabei. der Mauer blockierten sie alle Aufstiegsmöglichkeiten für Elias beschreibt, wie bei der Gesellschaftsgruppe, deren die nachrückende Generation. Steigerung des eigenen Verhaltensweisen übernommen werden, die Gefahr ent- Prestiges durch Distanz nach unten funktionierte nicht in steht, dass sie in die unteren Gesellschaftsgruppen sozu- der DDR. Es bildete sich eine engere und vertrautere Ge- sagen eingeschmolzen werden und damit ihre hervorge- sellschaft heraus, die nach dem Beitritt zur Distanzgesell- hobene Stellung verlieren. Also muss diese hervorgeho- schaft Westdeutschland sehr fremdelte. Mithilfe von Elias bene Gruppe rasch neue Verhaltensweisen entwickeln, und Bourdieu kann man ein Modell des kulturellen Wan- die ihr wieder Distinktion und Distanz verschaffen. Das ist dels konstruieren. laut Elias der Motor des gesellschaftlichen Wandels. Die Die zweite Entdeckung von Norbert Elias ist die Aufstiegs- Eliten müssen sich ständig durch neue Distanz signalisie- blockade und die daraus entstehende trotzige Gegenkul- rende Verhaltenspraktiken nach unten abgrenzen, die tur. Er schildert im ersten Band seines Werkes „Über den dann aber wieder von den unteren Schichten übernommen Prozess der Zivilisation“ im ersten Kapitel („Zur Sozioge- werden. nese der Begriffe ‚Zivilisation‘ und ‚Kultur‘“), wie sich in Auf diese Art und Weise werden Gesellschaften, in denen Deutschland gegen Ende des 18. Jahrhunderts in der deut- ein sozialer und ökonomischer Aufstieg möglich ist, durch- schen kulturellen Elite unter dem Einfluss der literarischen tränkt von immer neuen Distanz und Überlegenheit signa- Avantgarde „Sturm und Drang“ und der philosophischen lisierenden Verhaltensnormen. In Gesellschaften, in denen Avantgarde des deutschen Idealismus eine Strömung her- Aufstieg nicht oder kaum möglich ist, etwa in der Kastenge- ausbildet, die sich gegen den sonst allgemein selbstver- sellschaft strenggläubiger Hindus, fehlen die Distanzre- ständlichen Gebrauch des Französischen in Literatur und geln Westeuropas. So wurde ich in Indien unverwandt und Philosophie wendet und ihre Werke auf Deutsch verfasst, aus nächster Nähe angestarrt, und wenn ich mich darüber während an den Höfen der vielen Fürstentümer und König- aufregte und die Gaffer vertreiben wollte, kamen noch reiche weiter Französisch gesprochen und alles daran ge- mehr und drängten noch näher an mich heran. Erst durch setzt wird, dem französischen Hof in Versailles ebenbürtig Elias wurde mir klar, dass in Indien nicht schon Kleinkindern zu erscheinen. In Frankreich und England kann das Bürger- beigebracht wird, dass man nicht „glotzen“ soll. Wenn es tum in den Adel aufsteigen und bleibt daher auf die Ver- interessant wird, müssen wir wegschauen. Die Inder dürfen haltensweisen des hohen Adels als Orientierungspunkt dran bleiben. ausgerichtet. In Deutschland sind die meisten höfischen Es ist eine überraschende Erkenntnis, dass auch die DDR Gesellschaften zu arm, um Bürgern in größerem Umfang seit dem Bau der Mauer eine Gesellschaft mit wenigen diese Aufstiegsmöglichkeiten zu bieten. Das deutsche Bür-

Abbildung 2: Das Modell kulturellen Wan- dels nach Elias und Bourdieu Quelle: Eigene Grafik, W. Wagner.

41 Wolf Wagner Wolf

Abbildung 3: Aufstiegsblockaden im Modell Quelle: Eigene Grafik, W. Wagner.

gertum und seine kulturelle Elite steckten in einer Aufstiegs- willigen zusammenkamen und schließlich aufgrund der blockade und orientiert sich trotzig auf eine deutschspra- Weigerung Michail Gorbatschows, die SED-Herrschaft chige Gegenkultur. Dabei entwickelt diese lokale Elite ihre mit Panzern zu sichern, die Herrschaft der SED bedrohten eigenen gegenkulturellen Normen, an denen sich die (vgl. Pollack 2019). Mit der Öffnung der Mauer setzten sich nachgeordneten Schichten orientieren, sie imitieren und so die Kräfte endgültig durch, die keine reformierte DDR, son- in der deutschen Gesellschaft verbreiten. Dem aus dem dern ihre schnelle Auflösung wollten. Sie wählten bei der Französischen stammenden Begriff der „Zivilisation“, der Volkskammerwahl am 18. März 1990 diejenigen Parteien, eine allgemeine, vor allem äußerliche Eleganz und Moder- die den schnellen Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland nität in allen Dingen bezeichnet, wird der deutsche Begriff forderten. So stimmten am 23. August 1990 81 Prozent der der „Kultur“ entgegengesetzt, der vor allem nach Innerlich- Abgeordneten der Volkskammer für den Beitritt zur Bun- keit, Bildung und Moralität strebt. desrepublik Deutschland und für die Auflösung der DDR. Ich verallgemeinere dieses Beispiel (vgl. Abbildung 3) und Wenig später erst bemerkten die Menschen im beigetrete- behaupte: Überall, wo Gruppen in einer Gesellschaft zu nen Teil Deutschlands, dass ihre Wahl ungeahnte Konse- dem Eindruck gelangen, dass sie keine Chance haben, quenzen hatte. Denn Beitritt hieß: Im Prinzip sollte alles aufzusteigen und Anschluss an den bestimmenden Teil der Ostdeutsche verschwinden und durch Westdeutsches er- Gesellschaft zu erhalten, spalten sie sich als zusammenge- setzt werden. Wer in diesem neuen Land aufsteigen wollte, höriges Segment von der Gesellschaft ab und bilden eine musste dies nach westdeutschen Regeln tun. Wer auf einer trotzige Gegenkultur. Die höchste Schicht innerhalb dieses ostdeutschen Identität beharrte, war damit ausgeschlos- Segments übernimmt die Funktion einer lokalen Elite, die in sen. Aufstieg ging nur auf westdeutsch. Ostdeutsch-Sein gleicher Weise wie in der dominanten Gesellschaft imitiert war damit zur Aufstiegsblockade geworden. Dabei war und damit für das ganze Segment zum Vorbild wird. gleichgültig, ob diese Aufstiegsblockade wirklich oder nur wahrgenommen war. Beides führte die Betroffenen in eine trotzige ostdeutsche Gegenkultur und die war oft rechts Die Anwendung des Modells auf Deutschland gesinnt, weil nichts die Westdeutschen so ärgerte wie das Rechts-Sein. Detlef Pollack, ein in der DDR aufgewachse- In der Endphase der DDR gab es mehrere trotzige Gegen- ner und dort promovierter Soziologe, hat schon 1997 in kulturen. Da waren die Kirchennahen, denen wegen ihrer einem Aufsatz in der Zeitschrift „Aus Politik und Zeitge- Verweigerung der Jugendweihe ein Studium und damit der schichte“ darauf hingewiesen, dass die verweigerte Aner- Aufstieg verweigert worden war. Da waren die SED-frem- kennung zu einer Ablehnung von Demokratie und Markt- den konservativen Akademiker, deren Kinder ebenfalls wirtschaft führte (vgl. Pollack 1997). Das war der soziale vom Studium ausgeschlossen und in der Reproduktion des und ökonomische Kern dessen, was ich mit dem Modell elitären Status behindert worden waren. Da waren die Kulturschock vergeblich zu erklären versucht hatte. Ausreisewilligen, die Ausreiseanträge gestellt hatten und Solche Reaktionen kann man auch in Ländern beobachten, deswegen massiv bedrängt wurden. Da waren die „Asozi- die keine Wiedervereinigung erlebt haben. Die Wähler- alen“, die randständigen Unangepassten, die sich der Be- schaft Donald Trumps in den USA entsteht nach Beobach- triebsarbeit verweigerten und dafür ins Gefängnis kamen. tungen der US-amerikanischen Ethnologin Arlie Russell Und da waren die politischen Dissidenten, die Träger der Hochschild in ihrem Buch „Fremd in ihrem Land“ ebenfalls Friedlichen Revolution. Und da waren schließlich die Nor- aus dem Gefühl, aus ihrem Land ausgeschlossen zu sein, malen, die Bürgerinnen und Bürger, denen der Zustand der von bevorzugten Minderheiten überholt zu werden, keine DDR zunehmend unerträglich erschien. Der Soziologe Det- Chance zu haben (Hochschild 2017). Trump liefert ihnen lef Pollack hat überzeugend gezeigt, wie diese sehr unter- die willkommene Symbolik und den idealen Sammelpunkt schiedlichen Strömungen unter der Führung der Ausreise- für eine trotzige Gegenkultur.

42 Die Entstehung der wahrgenommenen KULTURSCHOCK ODER WAHRGENOMMENE Aufstiegsblockade AUFSTIEGSBLOCKADEN?

Das macht das Fazit zur misslungenen Verständigung im Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deut- mehr als den gerechten Anteil, etwas weniger, sehr viel we- schen Einheit 2019 verständlich. Die Daten der Allgemei- niger? “ erscheint über all die Jahre hinweg eine krasse nen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften von Diskrepanz (Diagramm 2): Zwischen 50 und 70 Prozent der 1991 bis 2010 (ALLBUS) zeigen, wie diese Wahrnehmung Ostdeutschen kreuzen „etwas weniger“ und „sehr viel we- zustande gekommen ist.1 niger“ an. 1991 sind es 82,4 Prozent und 1992 81,4 Prozent! Diagramm 1 zeigt, wie sich die Selbsteinstufung der Be- Aber selbst 2018, als die Befragten praktisch keinen Unter- fragten in den neuen Bundesländern zu ihrer Schichtenzu- schied in ihrer heutigen Wirtschaftslage feststellen, sind es gehörigkeit in den Jahren nach der Vereinigung verändert immer noch 52,1 Prozent, die sich ungerecht behandelt se- hat. Immer mehr Menschen in den neuen Bundesländern hen. In Westdeutschland (Diagramm 3) ist es umgekehrt: ordnen sich selbst der Mittelschicht und der oberen Mittel- Zwischen 60 und 70 Prozent kreuzen den „gerechten An- schicht zu. Damit zeigen sie, dass sie einen deutlichen sozi- teil“ oder „mehr als den gerechten Anteil“ an, so wie es sich alen Aufstieg erlebt haben. Dazu kommt: Im Jahr 2018 kon- in einer guten Gesellschaft gehört. statieren die Befragten in der ALLBUS-Befragung kaum ei- Das bedeutet, dass in den neuen Bundesländern bei einem nen Unterschied zwischen Ost und West bei der Beurteilung großen Teil der Bevölkerung während der gesamten Zeit ihrer eigenen Wirtschaftslage. 68,3 Prozent der Ostdeut- seit der Wiedervereinigung ein massives Gefühl der Be- schen schätzen ihre Wirtschaftslage als sehr gut und gut nachteiligung, des Ausgeschlossen-Seins von der Teilhabe ein. Bei den Westdeutschen sind es 70,7 Prozent, also etwa an der Mehrheitsgesellschaft geherrscht hat. Dieses Ge- gleich viele. fühl einer Aufstiegsblockade widerspricht der ökonomi- Jedoch bei der Frage „Verglichen mit anderen, die hier in schen und sozialen Wirklichkeit, denn – wie eben gezeigt Deutschland leben, erhalten Sie Ihren gerechten Anteil, – von Anbeginn hat Aufstieg stattgefunden. Diese wahrge-

Diagramm 1: Ostdeutsche Selbstein- schätzung zur Schicht- zugehörigkeit 1991–2018 (ALLBUS)

Diagramm 2: „Verglichen mit anderen, die hier in Deutschland leben, erhalten Sie Ihren gerechten Anteil, mehr als den gerechten Anteil, etwas weniger, sehr viel weniger?“ (Ostdeutsche) Quellen: ALLBUS 1991–2018.

43 Wolf Wagner Wolf

Diagramm 3: „Verglichen mit anderen, die hier in Deutschland leben, erhalten Sie Ihren gerechten Anteil, mehr als den gerechten Anteil, etwas weniger, sehr viel weniger?“ (Westdeutsche) Quellen: ALLBUS 1991–2108.

nommene Aufstiegsblockade stammt aus dem Ausschluss aussah, krankenhausreif oder gar tot. Meine Studentinnen durch die Vereinigung per Beitritt, in dem alles Ostdeut- und Studenten in Erfurt am Fachbereich Sozialwesen be- sche für ungültig erklärt und durch Westdeutsches ersetzt richteten, wie sie verfolgt wurden und um ihr Leben fürch- worden ist. ten mussten. Diese Jugendlichen sind inzwischen älter ge- Das ist die klassische Aufstiegsblockade, die nach dem von worden und bilden heute das Rückgrat der ostdeutschen mir entwickelten Modell zu einer trotzigen Gegenkultur AfD. führt. Abbildung 4 versucht, den gegenwärtigen Zustand in den Diese trotzige Gegenkultur in den neuen Bundesländern neuen Bundesländern abzubilden. hat in den 1990er-Jahren eine Welle von rechtsextremen Über allem schweben wie eine Wolke die aus dem Westen Gewaltexzessen vor allem bei Jugendlichen erzeugt (Nimz importierten Eliten. In der Wirtschaft treten sie als domi- 2019). Die von der Wiedervereinigung enttäuschten Ju- nantes lokales Management auf, das aber von den in gendlichen gehörten zu den geburtenstarken Jahrgängen Westdeutschland sitzenden Zentralen gesteuert wird. In der DDR und wurden in besonderem Maße von der Gesell- den Verwaltungen sind die hohen Positionen vom Abtei- schaft der neuen Bundesländer ausgeschlossen, weil die lungsleiter bis zum Staatssekretär mit wenigen Ausnahmen Betriebe die älteren Beschäftigten mit Kindern behielten – außer bei den Ministern – genauso in westlicher Hand und die Jungen zurückwiesen. Sehr viele von diesen, be- wie die meisten Professorenstellen an den Hochschulen sonders die klugen und gebildeten Frauen, wanderten und Forschungseinrichtungen (vgl. Best/Holtmann 2012). nach Westdeutschland aus. Die jungen Männer, die blie- Diese ökonomischen, kulturellen und Verwaltungseliten ben, trieben die Gegenkultur auf die Spitze. Sie schufen aus dem Westen sind kosmopolitischer und stehen stärker „national befreite Zonen“ und prügelten jeden, der anders den 68ern nahe als ihr Gegenstück im Westen und erst

Abbildung 4: Ostdeutschland heute Quelle: Eigene Grafik, W. Wagner.

44 recht die Masse der Menschen, die im Osten aufgewach- KULTURSCHOCK ODER WAHRGENOMMENE sen und dort geblieben sind. Das liegt daran, dass nach AUFSTIEGSBLOCKADEN? 1990 zuerst besonders erfahrene Kräfte mit „Buschzulage“ aus dem Westen kamen, die dann aber wieder zurück auf ihre alten Posten im Westen gingen. Geblieben sind die Elias, Norbert (1980): Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 7. Auflage, Frankfurt am Main. jungen, neugierigen und weltaufgeschlossenen Akademi- (Erster Band: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Ober- ker und Akademikerinnen, die sich gerne auf die Heraus- schichten des Abendlandes. Zweiter Band: Wandlungen der Gesell- forderungen des Aufbaus nach dem Vorbild Westen und schaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation.) Hochschild, Arlie Russell (2017): Fremd in ihrem Land. Eine Reise ins Herz die auf Lebenszeit gut dotierten hervorgehobenen Positio- der amerikanischen Rechten. Frankfurt am Main/New York. nen einließen und diese noch auf lange Zeit blockieren. Nimz, Ulrike (2019): Ohne jede Grenze. In: Süddeutsche Zeitung vom Mit ihnen sind auch die heutigen Spitzen der AfD in den 9./10. November 2019. Oberg, Kalvero (1960): Culture Shock: Adjustment to New Cultural Envi- Osten gekommen. ronments. In: Practical Anthropology, Volume 7, Issue 4, S. 177–182. Der kulturellen Elite aus dem Westen steht eine kulturelle Pollack, Detlef (1997): Das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung: der Elite aus dem Osten gegenüber und vermischt sich mit ihr. Wandel der Akzeptanz von Demokratie und Marktwirtschaft in Ost- deutschland. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 13/1997, S. 3–14. Das sind diejenigen, die den Übergang und die Evaluatio- Pollack, Detlef (1998): Ostdeutsche Identität – ein multidimensionales Phä- nen geschafft haben. Und es sind auch diejenigen, die in nomen. In: Heulemann, Heiner (Hrsg.): Werte und nationale Identität den 30 Jahren seit der Wiedervereinigung ihre Ausbildung im vereinten Deutschland. Erklärungsansätze der Umfrageforschung. Opladen, S. 301–318. abgeschlossen und den Aufstieg geschafft haben. Zu ih- Pollack, Detlef (2019): Es war ein Aufstand der Normalbürger. In: FAZ vom nen gehören die Angehörigen der vielen erfolgreichen 12.07.2019. Kleinbetriebe in den neuen Bundesländern und der ge- Pollack, Detlef (2019): Regime und Widerstand. Die verachtete Bevölke- rung der DDR. In: FAZ vom 16.07.2019. nauso erfolgreichen landwirtschaftlichen Genossenschaf- Stärker, Tina (2000): Deutsches und italienisches Wahlrecht. Diplomarbeit ten, die aus den Landwirtschaftlichen Produktionsgenos- an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Fachbereich Ange- senschaften (LPGs) hervorgegangen sind. wandte Sprach- und Kulturwissenschaft. Wagner, Wolf (1996): Kulturschock Deutschland. Berlin. Diesem in die gesamtdeutsche Gesellschaft perfekt integ- Wagner, Wolf (2015): Unification by Absorption or by Incrementalism rierten Segment stehen drei trotzige Gegenkulturen ge- (Sunshine Policy)? In: A Comparative Enquiry 25 Years after German genüber, die sich im wiedervereinten Deutschland ausge- Reunification. In: Development and Society, Volume 44, Issue 1, S. 167– 189. schlossen fühlen (vgl. Abbildung 4). Es gibt links unten die Wagner, Wolf (2016): Vietnamesische Lehrjahre – Wiedervereinigungen trotzige Gegenkultur der Ausgesonderten, die früher „Die zum Vergleich. In: Brähler, Elmar/Wagner, Wolf (Hrsg.): Kein Ende mit Linke“ als Repräsentanten ihres Trotzes angesehen haben, der Wende? Perspektiven aus Ost und West. Gießen, S. 247–265. nun aber mehr und mehr zur AfD übergehen. In der Mitte gibt es eine Trotzkultur der früheren Gegner: die alte Par- teielite und ehemalige Dissidenten, die die Friedliche Revo- ANMERKUNGEN lution mittrugen. Beide sind aus unterschiedlichen Grün- 1 ALLBUS 1980–2018. Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwis- den von der Wiedervereinigung enttäuscht und identifizie- senschaften. Die alle zwei Jahre erhobenen Deutschland-repräsentativen ren sich mit der Linken und zunehmend mit der AfD. Der Umfragen wurden 1980–1986 und 1991 von der DFG gefördert. In den Wechsel zur AfD fällt ihnen leicht, weil sie wie alle im Osten anderen Jahren dazwischen und danach wurden die Umfragen von Bund und Ländern finanziert und vom GESIS-Leibniz Institut für Sozialwissen- Sozialisierten im Unterschied zu den im Westen Aufge- schaften in Köln und Mannheim durchgeführt. Sie werden der sozialwis- wachsenen ein gespaltenes Weltbild haben. Sie vertreten senschaftlichen Forschung und Lehre kostenlos zur Verfügung gestellt. zugleich stark linke und stark rechte Positionen. So bejahen sie beispielsweise sehr stark die Gleichstellung von Frauen und materielle Gleichheit als Maß der Gerechtigkeit. Gleichzeitig bejahen sie ebenso stark Aussagen zu Frem- denfeindlichkeit („Zuzug unterbinden“) und Autoritarismus („Straftäter härter bestrafen“; „Eine Diktatur ist manchmal besser“) (vgl. ALLBUS 2018). Schließlich gibt es ganz rechts UNSER AUTOR im Bild die trotzige Gegenkultur der ehemaligen konserva- tiven Eliten der DDR in den besseren Vierteln von Dresden und Leipzig. Sie verstehen sich mit PEGIDA als Avantgarde einer konservativen und heimatbezogenen Revolution ge- gen die Dominanz der westdeutschen Alt-68er.

LITERATUR

ALLBUS 2018/GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften (2019): All- gemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften. Köln. URL: https://www.gesis.org/allbus/inhalte-suche/studienprofile- Prof. Dr.habil. Wolf Wagner war bis 2009 Professor für Sozial- 1980-bis-2018/2018 [07.01.2020]. Best, Heinrich/Holtmann, Everhard (2012): Aufbruch der entsicherten Ge- wissenschaften im Fachbereich Sozialwesen an der Fachhoch- sellschaft. Deutschland nach der Wiedervereinigung. Frankfurt am schule Erfurt, deren Rektor er von 2001 bis 2005 war. 1976 Main. schrieb er den Bestseller „Uni-Angst und Uni-Bluff. Wie studieren Bourdieu, Pierre (1987): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftli- chen Urteilskraft. Frankfurt am Main. und sich nicht verlieren“ (letzte Überarbeitung 2007). Weiter pu- Der Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Bundesländer (2019): blizierte er über Armut, Hochschule und zum Verhältnis von Ost- Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit. und Westdeutschland, so 1996 in der Monographie „Kultur- Hrsg. vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie. Berlin. URL: https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Publikationen/Neue-Laender/ schock Deutschland“. Heute lebt er im Ruhestand in Berlin. jahresbericht-zum-stand-der-deutschen-einheit-2019.html [21.11.2019].

45 WAS DENKT UND MEINT DAS VOLK? Wiederkehr eines gespaltenen Bewusstseins? – Politische Einstellungen in Ost- und Westdeutschland im Zeitverlauf Everhard Holtmann

desrepublik mussten die Ostdeutschen nach dem Zusam- Nach dem Zusammenbruch der DDR erlebten die Men- menbruch der DDR und der unmittelbar anschließenden schen in Ostdeutschland eine zweifache Transformation. Wiedervereinigung eine doppelte Transformation, d. h. Sie mussten den Wechsel des politischen und des wirt- den Wechsel des politischen und des wirtschaftlichen Sys- schaftlichen Systems bewältigen. Die psychologischen tems bewältigen. Weniger die materiellen Folgen als viel- Nachwirkungen der Umbrüche sind auch drei Jahrzehnte mehr die psychologischen Nachwirkungen der nach 1990 nach der Wiedervereinigung noch gegenwärtig. Ever- erfahrenen politischen, ökonomischen und sozialen Um- hard Holtmann geht der Frage nach, wie sich die politi- brüche sind in Ostdeutschland auch 30 Jahre nach der schen Einstellungen in Ost- und Westdeutschland seit deutschen Einigung noch gegenwärtig. der Wiedervereinigung im Zeitverlauf entwickelt ha- Dieser Tatbestand ist wissenschaftlich gut belegt. Die poli- ben. Denn nur im Ost-West-Vergleich lässt sich klären, tische Kultur, d. h. handlungsleitende politische Wertüber- ob sich die Deutschen seit der Wiedervereinigung im zeugungen, Einstellungen und Meinungen, wie sie sich in politischen Denken angeglichen haben, getrennte Wege der nach Osten erweiterten Bundesrepublik herausgebil- gingen oder sich gar divergent entwickelt haben. Indika- det haben, wird seit 1990 fortlaufend gründlich vermessen. toren wie die Demokratiezufriedenheit, das Institutio- Dabei behält die empirische Politikforschung vornehmlich nenvertrauen, die wahrgenommene Responsivität von Ostdeutschland im Blick, bezieht jedoch den Westen des Politikern, die Bevorzugung des repräsentativen oder Landes vergleichend mit ein. Nur mittels eines Ost-West- direkten Demokratiemodells, Formen politischer Partizi- Vergleichs lässt sich nämlich klären, ob die Deutschen seit pation sowie die Gerechtigkeitserwartungen an Staat 1990 in ihrem politischen Denken zusammenwachsen oder und Politik geben Auskunft über Stand und Veränderun- aber getrennte Wege gehen. Erst wenn die Entwicklung im gen der politischen Einstellungen. zeitlichen Längsschnitt betrachtet wird, treten Konstanz und Wandel von Einstellungen, d. h. die Festigung neuer Orientierungen sowie die Ablösung bzw. das Beharrungs- vermögen tradierter Einstellungen deutlich zu Tage. Warum sind politische Einstellungen und ihre Die langen Wellen der deutschen Einigung haben wir im Kenntnis für die Demokratie bedeutsam? Rahmen zweier Untersuchungen auf breiter Datengrund- lage vermessen. Dafür wurde eine Sekundärauswertung Die Legitimität einer politischen Ordnung gründet auf hin- ausgewählter vorliegender Datensätze von bundesweiten reichender ideeller Bejahung durch die Bevölkerung sowie Umfragedaten um Ergebnisse aus eigenen gesamtdeut- auf dem mehrheitlich anerkannten Nachweis ihrer tatsäch- schen Bevölkerungsumfragen jeweils ergänzt. So konnte lichen Leistungsfähigkeit. Politik ist, kurz gesagt, Vertrau- eine Meta-Analyse erstellt werden, bei welcher aus den enssache. Wichtig ist, dass die Bevölkerung darauf ver- verschiedenen Umfragen – freilich um den Preis einer ge- traut, dass die gewählten Repräsentanten die an sie ge- wissen Vergröberung – einheitliche statistische Mittel- richteten Erwartungen guten Regierens (good governance) werte gezogen wurden, die sich als Zeitreihen abbilden einlösen. Eine derartige Vertrauensbeziehung zwischen lassen. Die Verlaufskurven der verdichteten Umfragedaten Bürgerinnen, Bürgern und dem Staat ist eine Grundbedin- zeigen drei markante Signaturen auf, die mit den Schlag- gung für eine stabile Demokratie. worten Konvergenz, Differenz und Divergenz plakativ be- Insofern stellt ein Systemwechsel eine besondere Heraus- schrieben werden können: Zum einen sind auf der Einstel- forderung dar, sowohl für die Bevölkerung wie für die poli- lungsebene deutliche Tendenzen der Angleichung im Ost- tisch verantwortlich Handelnden. Denn mit einem solchen West-Verhältnis erkennbar (Konvergenz). Zum zweiten Wechsel der Rahmenbedingungen gehen in der Regel bestehen Einstellungsunterschiede weiter fort (Differenz). nicht nur ein Institutionenwandel, sondern auch einschnei- Zum dritten ist zu beobachten, dass sich etwa ab Mitte des dende Veränderungen in den Lebensbedingungen einher. Jahres 2015 politisch-kulturell die Ost-West-Schere wieder Das bringt besondere Anforderungen an das Anpassungs- weiter öffnet (Divergenz)1. vermögen der betroffenen Menschen mit sich. Von ihnen ist Im folgenden Teil dieses Beitrags werden ausgewählte Be- die Bereitschaft gefordert, sich in gesellschaftlich wie poli- funde unserer vergleichenden Forschung zur politischen tisch grundlegend neuen Verhältnissen zurechtzufinden. Kultur in Ost- und Westdeutschland, die wir an anderer Eine derartige Zäsur hat Deutschland in seiner jüngeren Stelle 2015 und 2019 ausführlich publiziert haben2, vorge- Geschichte zweimal erlebt, nämlich zunächst im Zuge der stellt. Hierbei schauen wir insbesondere auf Einstellungen, Demokratiegründung in Westdeutschland nach 1945 und die über Stand und Veränderungen im Verhältnis zwischen sodann im Gefolge der Wiedervereinigung von 1990. An- den Bürgerinnen und Bürgern und der politischen Ord- ders als die Westdeutschen in der Gründerzeit der Bun- nung sowie deren Akteuren Auskunft geben. Dazu zählen

46 Indikatoren wie die Demokratiezufriedenheit, das Instituti- WIEDERKEHR EINES GESPALTENEN BEWUSSTSEINS? onenvertrauen, die seitens der Bevölkerung wahrgenom- – POLITISCHE EINSTELLUNGEN IN OST- UND mene Rückkopplung (Responsivität) von Politikern, die Be- WESTDEUTSCHLAND IM ZEITVERLAUF vorzugung des repräsentativen oder des plebiszitären De- mokratiemodells, die nachgefragten Formen politischer tiezufriedenheit die wahrgenommene praktische Leis- Beteiligung sowie die an Staat und Politik adressierte Ge- tungsfähigkeit dieser politischen Ordnung aus und unter- rechtigkeitserwartung. liegt folglich stärkeren Schwankungen. Das veranschau- licht die nachstehende Abbildung 1. Die Mittelwerte für die Zufriedenheit mit dem Funktionieren Die politische Kultur im geeinten Deutschland – der Demokratie variieren zwar von Jahr zu Jahr, liegen Entwicklung und aktueller Stand im Spiegel aber gegen Ende des dritten Jahrzehnts nach der Wieder- ausgewählter Befunde vereinigung etwa auf dem gleichen Niveau wie 1990. Die Wellenbewegung der Daten zeigt einen bemerkenswer- Demokratiezufriedenheit ten Gleichlauf. In Ostdeutschland unterschreitet der Zu- Wie die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokra- friedenheitswert jedoch die in Westdeutschland gemesse- tie ausfällt, hängt von der individuellen Bewertung des po- nen Werte durchwegs erheblich und liegt dabei, anders litischen Alltagsgeschehens ab. Anders als das grundsätz- als im Westen, überwiegend im negativen Bereich. Die liche Bekenntnis zur „Demokratie als Idee“, das über die ganz rechts abgetragenen Einzelwerte unserer Bevölke- Zeit hinweg weitgehend konstant bleibt, drückt Demokra- rungsumfrage 2018 zeigen den in beiden Teilen des Lan-

Eigene Umfrage 2018 Abbildung 1: Demokratiezufriedenheit Mittelwerte auf einer Skala (rekodiert) von –2 (sehr unzufrieden) bis +2 (sehr zufrieden) Eigene Berechnungen Zentrum für Sozialforschung Halle (ZSH) auf Basis von ALLBUS (Allgemeine Bevölkerungsum- frage der Sozialwissenschaften), des Polit- und Eurobarometers, des ESS (European Social Survey), der GLES (Ger- man Longitudinal Election Study) und des Langfrist-Online-Trackings.

Eigene Umfrage 2018

Abbildung 2: Vertrauen in die deutsche Regierung Mittelwerte auf einer Skala (rekodiert) von -2 (überhaupt kein Vertrauen) bis +2 (sehr großes Ver- trauen) Eigene Berechnungen ZSH auf Basis von ALLBUS, des Eurobarometers und des ESS.

47 des deutlichen, im Osten dramatischen aktuellen Einbruch weist, bei in etwa gleichbleibendem Ost-West-Abstand, der Demokratiezufriedenheit. seit Beginn der 2000er-Jahre die Linie nach oben.

Vertrauen in politische Institutionen Wahrgenommene Rückkopplung von Politikern bzw. Parteien Seit Anbeginn der Wiedervereinigung bringen Ostdeut- an die Bevölkerung (Responsivität)

Everhard HoltmannEverhard sche der Bundesregierung weniger Vertrauen entgegen Auch um die stete und intensive Beziehung zwischen der als Westdeutsche (Abbildung 2). Jedoch war während der Bevölkerung und Politikern bzw. Parteien, wie sie eine le- ersten zweieinhalb Jahrzehnte nach 1990 das Vertrauen in bendige Demokratie auszeichnet, ist es im geeinten Deutsch- West wie Ost stetig gewachsen. Den rechts außen abge- land in den Augen der Bevölkerung traditionell schlecht be- tragenen Einzelwerten unserer Bevölkerungsumfrage 2018 stellt. Die in der Gesellschaft wahrgenommene Rückkopp- zufolge ist dieser Trend auch in den letzten Jahren nicht lung der politischen Funktionselite wird üblicherweise zum abgebrochen. Anders als in Westdeutschland bleibt der Beispiel mittels Einschätzungen gemessen, ob sich die poli- Vertrauenswert in Ostdeutschland aktuell aber wie zuvor tischen Akteure auch zwischen Wahlterminen der Anliegen im negativen Skalenbereich. der Bürgerinnen und Bürger annehmen, und ferner, ob sie Die Berufsgruppe der Politiker, Politikerinnen und mehr das Gemeinwohl oder nur ihre eigenen Interessen im Blick noch die politischen Parteien nehmen seit jeher in der behalten. Wie Abbildung 4 veranschaulicht, fremdeln die Rangfolge des Politikvertrauens hintere Plätze ein. Wie Ab- Deutschen in Ost wie West mit Politikern, Politikerinnen und bildung 3 illustriert, ist dies ist im östlichen wie im westli- Parteien ausdauernd, auch wenn sich seit etwa Mitte der chen Teil des Bundesgebietes nicht anders. Allerdings 1990er-Jahre die gefühlte Distanz verringert.

Abbildung 3: Vertrauen in Parteien bzw. Politiker Mittelwerte auf einer Skala (rekodiert) von -2 (überhaupt kein Vertrauen) bis +2 (sehr großes Ver- trauen) Eigene Berechnungen ZSH auf Basis von ALLBUS, des Eurobarometers und des ESS.

Abbildung 4: Politikerinnen, Politikern und Parteien attestierte Rückkopplung (Responsivität) Mittelwerte auf einer Skala (rekodiert) von -2 (min.) bis +2 (max.) Eigene Berechnungen ZSH auf Basis von ALLBUS, des ESS, der Trafo-Studie (1994, 1998, 2002), der Konrad-Ade- nauer-Stiftung/KAS (1997), der KSPW (1995, 1996), der GLES und des Langzeit-Online-Trackings.

48 Eher für eine repräsentative oder für eine plebiszitäre WIEDERKEHR EINES GESPALTENEN BEWUSSTSEINS? Demokratie? – Präferenzen in Ost- und Westdeutschland – POLITISCHE EINSTELLUNGEN IN OST- UND Seit der Wiedervereinigung ist die Vorliebe für direkte De- WESTDEUTSCHLAND IM ZEITVERLAUF mokratie in Ostdeutschland weiter verbreitet als im West- teil des Landes (Abbildung 5). Dieser ostdeutsche Sympa- bzw. Volksentscheiden teil, und 41 bzw. 43 Prozent beteili- thievorsprung für plebiszitäre Verfahren erklärt sich zum gen sich am Sammeln von Unterschriften. Dabei sind der einen mit den Erfahrungen der Volksbewegung während Besuch von Bürgerversammlungen sowie die Teilnahme an der Friedlichen Revolution von 1989 und zum anderen mit Instrumenten direkter Demokratie in den letzten Jahren einer größeren inneren Abstandshaltung gegenüber dem deutlich, im Osten deutlicher als im Westen, gestiegen.4 Parteienstaat, die sich auch in einem geringeren Grad an langfristig stabiler Bindung an eine Partei (hier ohne Abbil- Erfüllte oder enttäuschte Gerechtigkeitserwartungen? – dung) ausdrückt. Einschätzungen im Osten und im Westen Deutschlands Untere Abbildung 5 zeigt zudem, dass sich die Ost-West- Einem klassischen Modell der Systemtheorie zufolge, be- Unterschiede bezüglich des präferierten Demokratiemo- steht eine wichtige Systemfunktion, die das Überleben ei- dells bis 2010 erkennbar angenähert hatten. Seither öffnet nes politischen Systems ermöglicht, in der maßgebenden sich die Ost-West-Schere hier neuerlich. („autoritativen“) Verteilung öffentlicher und privater Gü- ter.5 Aus Sicht der Bürgerinnen und Bürger spielt es für ihre Nutzungshäufigkeit ausgewählter Formen politischer Loyalität gegenüber dem politischen System eine wesentli- Beteiligung che Rolle, ob die staatlicherseits direkt oder mittelbar ge- Unsere Bevölkerungsumfrage von 2018 bestätigt, was steuerte Güterallokation, wozu neben materiellen Leistun- auch viele andere einschlägige Studien zeigen: Nur eine gen auch immaterielle Lebenschancen gehören, sich am Minderheit der Deutschen in Ost und West nutzt Möglich- Gerechtigkeitsprinzip als Richtgröße orientiert. Aufgrund keiten politischer Partizipation, die über das Abgeben der der langen deutschen Sozialstaatstradition ist die Grund- Stimme bei allgemeinen Wahlen hinausgehen. Wie Oscar erwartung gerecht gestalteter Lebensbedingungen in Ost- W. Gabriel, die 2018er-Umfragedaten zusammenfassend, und Westdeutschland besonders weit verbreitet. feststellt, mobilisieren Unterschriftensammlungen und di- In Umfragen wird die Gerechtigkeitsnote, die die Befrag- rektdemokratische Verfahren „in beiden Teilen Deutsch- ten vergeben können, mit zwei Fragen erhoben. Eine Frage lands mehr als ein Drittel der Befragten“. Ferner hat jede(r) lautet, ob es „hierzulande alles in allem gerecht zugeht“. Vierte nach eigenen Angaben im Laufe des Jahres vor Zusätzlich wird gefragt, ob die betreffende Person nach der Befragung „schon einmal einen Entscheidungsträger eigener Einschätzung „einen persönlich gerechten Anteil kontaktiert oder an einer Bürgerversammlung teilgenom- erhält“ bzw. anders formuliert, „bekommt, was mir zusteht“. men“. Hingegen „berichtet nur jeder Zehnte über eine Dass es in Deutschland „alles in allem gerecht zugeht“, be- Beteiligung an einer Demonstration oder Mitarbeit in einer jahten im ersten Halbjahr 2018 bundesweit etwas mehr als Partei, einem Verband oder einer anderen Frei wil ligen- 52 Prozent. 40 Prozent waren gegenteiliger Ansicht. Dabei organisation.“3 fiel das Verhältnis von Ja- und Nein-Stimmen in Ost und Bei der tatsächlichen Nutzung diverser Formen politischer West spiegelverkehrt aus. In Ostdeutschland votierten Beteiligung liegen die Werte für West- und Ostdeutsch- knapp 54 Prozent für „ungerecht“ und nur annähernd land (laut Selbstauskunft der Befragten) kaum auseinan- 38 Prozent für „gerecht“. Hingegen ging es für 55 Prozent der. In Ost wie West engagieren sich je zehn Prozent in der Westdeutschen „gerecht“ und für knapp 38 Prozent Parteien und Organisationen und nehmen je zwölf Prozent „ungerecht“ zu.6 Ein starkes regionales Gefälle trat auch an Demonstrationen teil. 25 Prozent (West) bzw. 23 Pro- beim persönlichen Gerechtigkeitsempfinden zu Tage: Gut zent (Ost) nehmen Kontakt auf zu Politikern, Politikerinnen 27 Prozent im Westen, jedoch knapp 38 Prozent im Osten oder Amtspersonen. 29 bzw. 27 Prozent kommen zu Bür- der Bundesrepublik waren der Ansicht, sie bekämen weni- gerversammlungen, 36 bzw. 42 Prozent nehmen an Bürger- ger als den gerechten Anteil.7

Abbildung 5: Präferenz für das repräsentative und das direkte Demokratiemodell im ost-westdeutschen Vergleich (Prozentwerte) Quelle: Eigene Bevölkerungsumfragen 2014 und 2018.

49 Abbildung 6: Gerechtigkeitsempfinden nach Wahlpräferenz in Ost- und Westdeutschland Everhard HoltmannEverhard

Quelle: Bevölkerungsumfrage politische Partizipation Ostdeutschland 2018. Abgedruckt bei Brachert, in Holtmann u. a. 2019, S. 270.

Wohl unterliegt die Beantwortung der Gerechtigkeits- Ausblick frage im Zeitverlauf Schwankungen, und sie fällt auch regi- onal unterschiedlich aus.8 Und je nachdem, ob die eigene Die Ergebnisse der Landtagswahlen in Brandenburg, Lebenslage allgemein und persönlich als gerecht oder un- Sachsen und Thüringen im September und Oktober 2019 gerecht bewertet wird, unterscheiden sich, wie obige Ab- haben die sich in den Umfragen ab 2015 ankündigende, bildung 6 zeigt, auch die Parteiensympathien, und sie sind neuerlich zwischen Ost- und Westdeutschland wieder außerdem unterschiedlich in Ost und West. wachsende Kluft in der politischen Kultur der Bundesrepu- Die Balkendiagramme in der Abbildung 6 lassen erken- blik bestätigt. Insbesondere in Regionen, die seit 1990 von nen, dass Befragte mit ausgeprägtem Ungerechtigkeits- Abwanderung und wirtschaftlicher Schrumpfung stark be- empfinden unter Personen mit Wahlabsicht zugunsten der troffen sind, konnte die AfD überdurchschnittliche Zuge- AfD, verglichen mit Anhängern anderer Parteien, in Ost winne erzielen.9 Ob die hohen Stimmenanteile der AfD ei- wie West den größten Anteil stellen. In ähnlicher Größen- nen ostdeutschen Sonderweg darstellen oder ob sie die ordnung sind Menschen, welche die Verhältnisse generell Vorboten einer dauerhaften Umschichtung des gesamt- bzw. persönlich als ungerecht bewerten, nur noch unter deutschen Parteiensystems sind, ist angesichts bisher nied- Nichtwählern und Anhängern der Linkspartei in Ost- rigerer Wähleranteile in Westdeutschland und im nationa- deutschland zu finden. len Rahmen stagnierender Umfragezahlen der AfD derzeit noch offen.

ANMERKUNGEN 1 Erste Hinweise hierfür in Everhard Holtmann/Tobias Jaeck: Was denkt und meint das Volk? Deutschland im dritten Jahrzehnt der Einheit. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 33–34/2015, S. 35–45. 2 Siehe hierzu Oscar W. Gabriel/Everhard Holtmann/Tobias Jaeck/ Melanie Leidecker-Sandmann/Jürgen Maier/Michaela Maier: Deutsch- UNSER AUTOR UNSER land 25. Gesellschaftliche Trends und Politische Einstellungen (Reihe bpb Zeitbilder). Bonn 2015; sowie Everhard Holtmann (Hrsg.): Die Umdeutung der Demokratie. Politische Partizipation in Ost- und Westdeutschland. Mit Beiträgen von Matthias Brachert, Oscar W. Gabriel, Rebekka Heyme, Everhard Holtmann, Tobias Jaeck, Aya Isabel Kleine und Jürgen Maier. Frankfurt/New York 2019. 3 Oscar W. Gabriel: Politische Partizipation im ausgehenden dritten Prof. Dr. Everhard Holtmann war bis 2012 Professor für System- Jahrzehnt des vereinigten Deutschland. In: Holtmann 2019 (vgl. Endnote analyse und Vergleichende Politik an der Martin-Luther-Universi- 2), S. 194. 4 Ebenda, S. 195f. tät Halle-Wittenberg. Von 2007 bis 2012 war er Sprecher des 5 Vgl. David Easton: A Systems Analysis of Political Life. New York u. a. DFG-Sonderforschungsbereichs 580 („Gesellschaftliche Ent- 1965. wicklungen nach dem Systemumbruch“) der Universitäten Jena 6 Holtmann 2019 (vgl. Endnote 2), S. 134. 7 Ebenda, S. 135. und Halle. Seit 2012 ist er Forschungsdirektor am Zentrum für 8 Vgl. etwa Sachsen-Monitor 2017, S. 36, und Sachsen-Anhalt-Monitor Sozialforschung Halle e. V. (ZSH). Seit 2017 leitet er das Projekt 2018, S. 71. Kompetenzzentrum soziale Innovation Sachsen-Anhalt. Er hat 9 Hierzu jetzt ausführlicher Matthias Brachert/Everhard Holtmann/To- bias Jaeck: Sozialräumliche Einflüsse auf politische Einstellungen und zahlreiche Forschungsprojekte realisiert und Publikationen veröf- Wahlverhalten. Eine vergleichende Analyse von Landtagswahlen in drei fentlicht in den Themenfeldern Demokratie, Partizipation, lokale ostdeutschen Bundesländern (Schriftenreihe Empirische Sozialforschung Politik, Regieren, Transformationsforschung und historische Poli- der Friedrich-Ebert-Stiftung). Berlin 2020. Download: https://www.fes. de/forum-berlin/artikelseite-forum-berlin/neue-studie-vergleichende- tikforschung. analyse-der-landtagswahlen-2019-in-drei-ostdeutschen-bundeslaendern [31.03.2020]

50 DOMINIERT DAS TRENNENDE? Demokratieunterstützung und politische Kultur in Ost und West Erik Vollmann

selbst angelegt – allgegenwärtig. Doch was geschieht, Drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung dominiert wenn Unmut und Frust weitergehen und die politischen Tie- das Trennende, nicht das Vereinende oder gar Vereinigte fenschichten erfassen? Wenn plötzlich nicht mehr einzelne das öffentliche Bild zum Zustand der Republik. Nicht Richtungsentscheidungen oder Politiker und Politikerinnen, zuletzt die regionale Stärke der rechtspopulistischen bis sondern „die politische Klasse“ an sich, die „real existie- -extremistischen Partei Alternative für Deutschland (AfD) rende“ Demokratie oder gar die Demokratie als gesell- im Osten gilt als Ausdruck der gesellschaftlichen Spal- schaftliches Ordnungsmodell zur Disposition stehen? tung. Noch dreißig Jahre nach ihrem Beitritt zur Bundes- Die Unterstützung – oder Ablehnung – von Demokratie republik müssen sich die Bürger und Bürgerinnen der kann unterschiedlich spezifisch bzw. tief greifend sein. Er- neuen Bundesländer des Verdachtes erwehren, sie seien fasst der politische Unmut nicht nur die konkrete Akteurse- nicht „demokratiefähig“. Doch wie gravierend ist die bene, sondern auch politische Institutionen, das ganze po- Spaltung der Gesellschaft? Der Beitrag von Erik Voll- litische System, die Idee der Demokratie oder gar die poli- mann untersucht, wie es um zentrale Elemente der Demo- tische Gemeinschaft, stehen die politische Einheit und das kratieunterstützung in Deutschland bestellt ist. Dabei demokratische Miteinander infrage. Die Stabilität eines werden Osten und Westen nicht als monolithische Blöcke politischen Systems ist direkt von der Unterstützung, zumin- betrachtet, sondern die Unterschiede zwischen einzel- dest aber der Duldung durch die eigene Bevölkerung ab- nen Bundesländern in den Blick genommen. hängig. Hiervon ausgehend ist das Ziel dieses Beitrags die Analyse der Demokratieunterstützung in Deutschland. Da- bei wäre der Blick auf die Gesamtbevölkerung, der in den meisten Untersuchungen zur Thematik vorherrscht, unzu- Vorbemerkung

Dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung scheint die deutsche Gesellschaft noch immer gespalten. Der Osten fühlt sich vom Westen dominiert.1 Im Gegenzug geht das unschöne Bild von „Dunkeldeutschland“ wieder um, das bereits in den 1990ern als Pejorativ für den rückständigen Osten benutzt wurde und das – so intendiert oder nicht – 2015 im Zuge der Flüchtlingskrise aus dem Munde des deutschen Staatsoberhauptes einmal mehr in den neuen Bundesländern für Empörung sorgte. Diese Vorgänge sind Ausdruck – nicht Ursache – einer Spaltung der Gesellschaft und werfen Fragen zum gesell- schaftlichen Zusammenhalt in Deutschland auf. Dabei ist Zusammenhalt nicht mit Konsens zu verwechseln: Eine of- fene Gesellschaft ist ohne Partikularinteressen und Streit undenkbar. Es braucht den Konflikt, der durchaus auch hit- zig ausfallen darf. Die ihm zugrunde liegenden gesell- schaftlichen Interessengegensätze dürfen freilich nicht die gesellschaftlichen Bindekräfte schwächen. Solange es ei- nen „nicht streitigen Sektor“ (Ernst Fraenkel) gibt, über den sich kein Einzelinteresse hinwegsetzt, ist die Gefahr ein- brechenden Zusammenhalts auch einigermaßen gebannt. Die gegensätzlichen Interessen bedürfen weiterhin des fortwährenden Austarierens. Regierungspolitik ist in die- sem Sinne der Vektor widerstreitender politischer Kräfte. Dass dabei jene zu kurz kommen, die nicht für eine Regie- rungspartei stimmen, ist im Kern unproblematisch. Die de- mokratische Chance, eventuell bei der nächsten Wahl zum Erfasst der politische Unmut nicht nur die konkreten politi- Zuge kommen zu können, wirkt gesellschaftlich befriedend. schen Akteure, sondern auch politische Institutionen, das Unzufriedenheit mit dem politischen „Personal“ ist für das ganze politische System, die Idee der Demokratie oder gar Bestehen einer Demokratie darum weniger problematisch die politische Gemeinschaft, stehen die politische Einheit und als vielmehr der Motor politischen Wandels. Die Abwahl das demokratische Miteinander infrage. von Politikern und Politikerinnen ist – weil in der Demokratie picture alliance/dpa

51 Erik Vollmann

Abbildung 1: Objekte politischer Unter- stützung Quelle: Norris 2011: 24.

reichend: Zusammenhalts- und stabilitätsgefährdend kann setzt aber die Anerkennung der Ordnung als legitim (also auch die Ablehnung des Systems in einzelnen Gesell- rechtmäßig) durch die Bürger und Bürgerinnen voraus (Pi- schaftssegmenten sein. In Deutschland hat sich durch die ckel/Pickel 2006: 52). Die Ergründung der gesellschaftli- Transformationsgeschichte eine Betrachtung Ostdeutsch- chen Voraussetzungen demokratischer Stabilität war das lands und die vergleichende Miterfassung des Westens Gründungsmotiv und ist bis heute zentrales Anliegen die- (zumeist inklusive Berlin) tradiert. Doch auch „der Osten“ ist ses Forschungszweigs. „Politische Kultur“ umfasst die Mei- kein einheitlicher Block. Hier bedarf es einer regionalen nungen, die gefühlsmäßigen, wissensbasierten und be- Feinanalyse, der in diesem Beitrag durch einen Vergleich wertenden Einstellungen sowie die Werteorientierungen der Demokratieunterstützung zwischen den Bundeslän- der Bevölkerung (nicht eines bestimmten Individuums) ge- dern Rechnung getragen werden soll.2 Auf dessen Basis genüber der Politik. Jedoch: Welche Einstellungen sind der wird die Unterstützung bzw. Ablehnung der Demokratie Demokratiestabilität zuträglich, welche nicht? auf verschiedenen Ebenen verglichen. Legitimität ist kein eindimensionales Konzept. Vielmehr kann sich die Anerkennung durch den Bürger bzw. die Bür- gerin (oder deren Verweigerung) auf verschiedene Teile Politische Kultur und Demokratieunterstützung des politischen Systems richten: Ich muss nicht die Demo- kratie als Herrschaftsform verdammen, nur weil ich mit mei- Die Politische Kulturforschung basiert auf der Annahme, je- nen gewählten Repräsentanten in dieser Legislaturperiode des politische System habe einen Selbsterhaltungstrieb nicht einverstanden bin. Umgekehrt: Nur weil ich in der De- und strebe daher nach Stabilität. Ein dauerhafter Bestand mokratie eine schlechte Staatsform sehe, muss das nicht

Abbildung 2: Einstellungen zur politischen Gemeinschaft: Verbunden- heit mit dem Land4 Quelle: Eigene Berechnungen nach Bertelsmann 2017, gewichtete Ergebnisse.

52 heißen, ich halte die politische Elite prinzipiell für unfähig DEMOKRATIEUNTERSTÜTZUNG UND oder korrupt. Getrennt werden muss auch zwischen den POLITISCHE KULTUR IN OST UND WEST Institutionen: Wer mit dem Verfassungsgericht oder der Polizei zufrieden ist, muss es noch lange nicht mit dem Par- lament oder der Regierung sein (und umgekehrt). pen, die sich wenig oder nicht mit dem eigenen Land ver- In Anlehnung an Pippa Norris (1999; 2011) werden fünf ver- bunden fühlen (siehe Abbildung 2). Von einer homogenen schiedene Formen der politischen Unterstützung unter- Ost-West-Kluft kann aber keine Rede sein. Das durchgän- schieden (Abbildung 1). Sie lassen sich auf einem Konti- gig bessere Wahlergebnis der AfD in den ostdeutschen nuum zwischen diffuser und spezifischer Unterstützung ab- Ländern zur Bundestagswahl 2017 sowie deren Erfolge bei tragen. Je spezifischer die Unterstützungsart, umso mehr den Landtagswahlen 2019 in Sachsen, Brandenburg und hängt sie von den konkreten Leistungen der Politik ab; je Thüringen scheinen von der Verbundenheit der Wähler mit diffuser sie ist, umso mehr ist sie von grundlegenden Wer- Deutschland nicht abzuhängen. Dieser Befund überrascht ten und der individuellen Sozialisation der Menschen ab- angesichts der Rhetorik der Parteiführung und der Bedeu- hängig.3 tung des Nationalen in Wahl- wie Grundsatzprogramm.4

Große Unterstützung der politischen Gemeinschaft in Ost-West-Gefälle bei der Unterstützung der der gesamten Republik Demokratie als beste Staatsform

Eine Analyse der verschiedenen Dimensionen demokrati- Generell liegt die Unterstützung der Demokratie um ihrer scher Unterstützung in der Republik, in Ost und West sowie selbst willen in Deutschland gleichfalls auf hohem Niveau. den deutschen Bundesländern offenbart Grautöne unter- Bei mehr als 75 Prozent der Deutschen stoßen die demo- schiedlichster Schattierung. Die politische Gemeinschaft kratischen Grundwerte auf Resonanz. Nur sechs Prozent als Fundament jeder politischen – also auch demokratischen der Bevölkerung können demgegenüber als ausgemachte – Ordnung befindet sich weitab einer Krise: 79 Prozent der Demokratieskeptiker gelten, wiederum 18 Prozent sehen Deutschen fühlen sich mit ihrem Land verbunden – ein Wert, Stärken und Schwächen der Demokratie. In den meisten der über die Zeit relativ konstant und vergleichbar mit ande- europäischen Staaten fällt diese Unterstützung groß aus ren europäischen Länder ist (Mannewitz/Vollmann 2019: (70–80 %), und Deutschland reiht sich hier ein. Die Ergeb- 38). Lediglich fünf Prozent der Deutschen tun dies nicht, 15 nisse dieser Untersuchung stellen Deutschland daher ei- Prozent äußern sich ambivalent. Alle drei Gruppen können gentlich ein solides Zeugnis aus (siehe auch Klingemann für eine Demokratie ausschlaggebend sein – von der gro- 2014: 146; Mannewitz/Vollmann 2019: 33, 38–39). ßen Mehrheit ist vermutlich ein Eintreten für die politische Obwohl die generelle Unterstützung der Demokratie als Gemeinschaft im Krisenfall zu erwarten, von den wenigsten beste Staatsform also ähnlich stark ausfällt wie bei der po- ein Opponieren, und die Mittelgruppe dürfte wohl entwe- litischen Gemeinschaft und deswegen zu erwarten wäre, der schwanken oder sich heraushalten wollen. die Demokratie ruhe auf einem ebenso festen Sockel, gibt Was die regionale Verteilung angeht, so ist die Verbun- es beträchtliche regionale Disparitäten, die eine unter- denheit mit Deutschland in Mecklenburg-Vorpommern schiedlich starke Verwurzelung demokratischer Werte (87 %), Bayern (85 %) und Schleswig-Holstein (84 %) am suggerieren: Die Akzeptanz der Demokratie als beste größten, in Brandenburg (69 %) und Sachsen (69 %) am Staatsform fällt in allen ostdeutschen Bundesländern im niedrigsten. Dazu gibt es in Bremen (18 %), Brandenburg Durchschnitt niedriger aus als in den westdeutschen (Ab- (14 %) und Sachsen (11 %) größere (aber nicht große) Grup- bildung 3). Am Ende des Rankings stehen Brandenburg

Abbildung 3: Einstellungen zu den Regimeprinzipien: Demokratie als beste Staatsform Quelle: Eigene Berechnungen nach Bertelsmann 2017, gewichtete Ergebnisse.

53 Erik Vollmann

Abbildung 4: Einstellungen zu den Regimeleistungen: Zufriedenheit mit der Demokratie in Deutschland Quelle: Eigene Berechnungen nach Bertelsmann 2017, gewichtete Ergebnisse.

(61 %), Sachsen (65 %), Thüringen (67 %), Sachsen-Anhalt 57 Prozent der Deutschen stellen der bundesdeutschen De- (68 %) und Mecklenburg-Vorpommern (70 %). In Branden- mokratie ein positives Zeugnis aus, 29 Prozent sehen Licht- burg (15 %) und Sachsen (13 %), aber auch in Berlin (10 %) wie Schattenseiten und 14 Prozent sind wenig bis gar nicht gibt es dazu auch besonders hohe Anteile an Personen, die von ihr überzeugt (Abbildung 4). Ein solch kritisches Mei- der Aussage, die Demokratie sei die beste Staatsform, nungsbild ist für eine westliche Demokratie nicht unge- nicht oder nur wenig zustimmen. In Sachsen-Anhalt (4,6 %) wöhnlich. Bedenklich ist indes der Riss, der durch unser liegt dieser Wert dagegen unter dem Bundesmittel. Gleich- Land geht, denn: Im Osten sind die Menschen durchweg wohl ist in der Zusammenschau ein Ost-West-Gefälle nicht skeptischer als im Westen. Bis auf Mecklenburg-Vorpom- zu übersehen. mern, das ostdeutsche Land mit der höchsten Unterstüt- zung der deutschen Demokratie (53 %), liegen die ostdeut- schen Länder mit großem Abstand hinter Bremen, dem Ost-West-Kluft bei Beurteilung der westdeutschen Bundesland mit der niedrigsten Unterstüt- Demokratieperformanz zung der deutschen Demokratie. So liegt der Anteil der De- mokratiezufriedenen in Thüringen bei 41 und in Bremen bei Noch weiter klaffen Ost und West in Hinblick auf die Beur- 56 Prozent. In Brandenburg und Sachsen liegt der Anteil teilung der Demokratiepraxis in Deutschland auseinander. der Demokratiezufriedenen sogar unter 40 Prozent.

Abbildung 5: Institutionenvertrauen (Mittelwert) Quelle: Eigene Berechnungen nach Bertelsmann 2017, gewichtete Ergebnisse.5

54 In gesundem Misstrauen vereint? Vertrauen in die DEMOKRATIEUNTERSTÜTZUNG UND demokratischen Institutionen POLITISCHE KULTUR IN OST UND WEST

Näher zusammen rücken die Bundesländer im Hinblick auf die politischen Institutionen. Einerseits sind die Unter- Politische Unzufriedenheit und ziviler Ungehorsam, Eliten- schiede zwischen ihnen hier nicht so groß, andererseits kritik und unkonventionelle Teilhabe (etwa: Demonstratio- schneiden die Institutionen – wie auch zu erwarten ist – nen) hatten in der Frühphase der Erforschung politischer schlechter ab als jede andere Demokratieebene. Dabei Kultur kaum Platz. Allerdings stellt eine kritische Bürger- kommen die mit Meinungsstreit, Parteilichkeit und Partiku- schaft kein Übel für die Demokratie dar. larinteressen assoziierten Organe – wie Parteien, Bundes- Diese Herrschaftsform lebt auch vom Engagement, und bür- tag und Bundesregierung – schlechter weg als die eher gerliche Teilhabe kann als Merkmal der Reifung der Gesell- rechtsstaatlichen Einrichtungen der Gerichtsbarkeiten und schaft gelten. Der sogenannte selbstbewusste (Dalton/ der Polizei (Mannewitz/Vollmann 2019). Im Mittel über alle Welzel 2014), kritische (Norris 1999) oder unzu friedene politischen Einrichtungen ist dabei dennoch das Vertrauen (Klingemann 1999) Bürger legt größeren Wert auf politi- aller Deutschen (35 %) größer als das Misstrauen (knapp sche Mitsprache statt auf Ruhe und Ordnung: Er sei von ei- 22 %) (Abbildung 5). Einem „Sowohl als auch“ können sich ner gewissen Skepsis gegenüber allen Autoritäten geprägt, wiederum mehr als 42 Prozent der Deutschen anschließen. zeige ein gesundes Misstrauen gegenüber den politischen Dieser große Anteil überrascht nicht, fällt es vielen doch Institutionen und befürworte die Werte und Normen der leichter, direkt beobachtbare Einrichtungen mit konkreten Demokratie, äußere sich aber kritisch gegenüber ihren Pro- Handlungen und Leistungen (z. B. ein Urteil, ein Gesetz, blemen und Schwachstellen in der Realität. eine Festnahme) zu verknüpfen und darum ein Urteil zu fäl- Grundlegend für eine Bewertung der Demokratiestabilität len, das eben häufig positive wie negative Erinnerungen ist die Unterscheidung in eine intrinsische und eine instru- berücksichtigt. Ein geografisches Muster schält sich dabei mentelle Form der Demokratieunterstützung: Ausblei- nicht heraus. Zwar gab es das größte Misstrauen in Bran- bende intrinsische Demokratieunterstützung (also die Ak- denburg (29 % – nur hier überwiegte Misstrauen das Ver- zeptanz der Demokratie um ihrer selbst willen) gilt als pro- trauen), und alle neuen Bundesländer außer Mecklenburg- blematisch. Mangelnde instrumentelle Demokratieunter- Vorpommern weisen ein mittleres Institutionenvertrauen stützung (also die Akzeptanz eines realen demokratischen unterhalb des Bundesschnittes auf. Gleiches gilt aber auch Systems aufgrund seiner Leistungen) stellt wiederum weni- für Rheinland-Pfalz, Bayern und Berlin. Dagegen liegt ger eine Demokratiebedrohung als vielmehr einen Treiber Mecklenburg-Vorpommern in Bezug auf das Vertrauen auf für politische Reformen dar. Mithin ist die Entstehung „kriti- dem zweiten Platz. Insgesamt liegen die Länderwerte nah scher Demokraten“ – anders als die Entstehung demokra- beieinander.5 tiedistanzierter Gesellschaftsteile – aus Sicht einer Demo- kratie durchaus wünschenswert.

Von brav zu selbstbewusst: Idealbilder des demokratischen Bürgers Kritische Bürger und unzufriedene Demokratieskeptiker: Typen und Verteilung Dominierte in den 1950er- und 1960er-Jahren eine Staats- politischer Kulturen in den Ländern bürgerkultur als Idealbild des Bürgerverhaltens für stabile Demokratien die Forschung, die nicht weit ab von Nibelun- Die Einstellungen der Bürger gegenüber der Demokratie gentreue stand, so hat sich mittlerweile eine selbstbe- als Idee (intrinsisch) und gegenüber der Demokratiepraxis wusste, ja kritische Bürgerschaft als Wunschtyp der Politi- (instrumentell) sind zentrale Voraussetzungen für den Be- schen Kulturforschung durchgesetzt (Dalton/Welzel 2014). stand eines freiheitlichen politischen Systems. Nachste-

Tabelle 1: Typen von Demokratieunterstützern

Demokratieleistung zufrieden unzufrieden

Demokratie als demokratisch zufriedene Demokraten unzufriedene Demokraten beste Staatsform demokratieskeptisch zufriedene Demokratie- unzufriedene Demokratie- skeptiker skeptiker Quelle: Eigene Darstellung nach Dalton und Shin 2014: 109.

Tabelle 2: Typen von Demokratieunterstützern in Deutschland

Zufriedenheit mit der Demokratie in Deutschland unzufrieden unentschieden zufrieden

Bewertung Demokratie demokratieskeptisch 3,02 % 2,16 % 0,93 % allgemein systemambivalent 4,30 % 9,66 % 4,06 % demokratisch 6,04 % 17,15 % 52,67 % Quelle: Eigene Berechnungen nach Bertelsmann 2017.

55 Erik Vollmann

Abbildung 6: Typen politischer Kultur in den Bundesländern Quelle: Eigene Berechnungen nach Bertelsmann 2017.

hend ist hieran angelehnt eine Einordnung politischer Kul- Ebene) hin. Diese Gruppe sorgt auch dafür, dass die De- turen abgezeichnet (Klingemann 2014; Dalton/Shin 2014). mokratie sich weiterentwickelt und an neue Herausforde- Unterschieden wird zwischen (1) zufriedenen Demokraten, rungen anpasst. Zugleich: Bei anhaltender Ignoranz sei- (2) unzufriedenen Demokraten, (3) zufriedenen Demokra- tens der politischen Elite könnten Wähler und Wählerinnen tieskeptikern und (4) unzufriedenen Demokratieskeptikern vom Lager der unzufriedenen Demokraten in das der De- (vgl. Tabelle 1). mokratieskeptiker wechseln, wenn sie das Gefühl haben, Die erste Gruppe ist aus Sicht eines demokratischen Regi- dass ihre Meinung nicht zählt und die Demokratie grundle- mes höchst unproblematisch, ist jene doch einverstanden gende Probleme nicht lösen kann. mit den ideellen Grundlagen und der Realität der Demo- Die Demokratieskeptiker (3 %) sind auch jene, um die sich kratie im eigenen Land. Sie machen in Deutschland die Politik und politische Bildung besonders bemühen müssen Mehrheit mit etwa 53 Prozent der Bevölkerung aus (vgl. Ta- – nicht so sehr wegen ihrer Einstellungen zur Demokra- belle 2). tiepraxis, sondern wegen ihrer prinzipiellen Reserviertheit Auch die unzufriedenen Demokraten müssen kein Grund gegenüber Wahlen, Rechtsstaatlichkeit und Bürgerrech- zur Sorge sein. Diese rund sechs Prozent der Bevölkerung ten. Das macht sie empfänglich für politisch-systemische ausmachende Gruppe deutet auf anhaltende politische, Alternativen. Ihre geringe Stärke in der Gesamtbevölke- ökonomische und soziale Missstände (Policy-Ebene), auf rung darf nicht über die zumindest latente Gefährlichkeit strukturelle Defizite der Demokratie (z. B. als unzureichend der Skeptiker für die Demokratie – besonders in mobilisie- empfundene Einbindung direktdemokratischer Elemente; renden Krisenzeiten – hinwegtäuschen. Polity-Ebene) oder auf prozedurale Unzulänglichkeiten Hinzu tritt abermals eine regionale Ungleichverteilung, die (z. B. Wahrnehmung von „Hinterzimmerpolitik“; Politics- auch einen Ost-West-Gegensatz widerspiegelt (Abbil-

Tabelle 3: Typen politischer Kultur und Parteianhänger

unzufriedene zufriedene unzufriedene zufriedene Demokratieskeptiker Demokratieskeptiker Demokraten Demokraten FDP 0,3 % 0,0 % 1,4 % 75,4 % Bündnis 90/ Grüne 0,7 % 1,5 % 2,0 % 67,9 % SPD 0,8 % 0,0 % 2,8 % 64,6 % CDU/CSU 1,5 % 0,8 % 2,1 % 66,3 % Linke 4,4 % 2,0 % 9,1 % 42,7 % AfD 11,9 % 0,1 % 2 7, 0 % 10,0 % Quelle: Eigene Berechnungen nach Bertelsmann 2017.

56 dung 6): In den neuen Ländern ist der Anteil zufriedener DEMOKRATIEUNTERSTÜTZUNG UND Demokraten deutlich geringer, lediglich Mecklenburg-Vor- POLITISCHE KULTUR IN OST UND WEST pommern weist in dieser Gruppe über 40 Prozent von ihnen auf. Homogen sind die ostdeutschen Bundesländer aber nicht: die bedenkliche Gruppe der unzufriedenen Demo- umso mehr ab, desto fassbarer und damit lebensweltlicher kratieskeptiker ist in Brandenburg (9 %) und Sachsen (8 %) diese für die Menschen wird. Weiterhin bestehen biswei- am größten, die übrigen neuen Bundesländer liegen unter len beträchtliche innerdeutsche Unterschiede. Gerade die dem oder um den Bundesschnitt herum. ostdeutschen Bundesländer gehören über alle Dimensio- Mit Sachsen und Brandenburg sind gleichwohl zwei Hoch- nen hinweg zu den eher kritischen Bürgern und Bürgerin- burgen der AfD bei den letzten Bundes- und Landtags- nen – mit unterschiedlich starker Abweichung zu den alten wahlen führend. Die Phänomene scheinen in der Tat ver- Bundesländern und auch erheblicher intraregionaler Vari- bunden. Ein Blick auf die Typen politischer Kultur unter anz: Der Osten ist kein homogenes politisch-kulturelles Parteianhängern weist auf eine Häufung unzufriedener Gebilde (mehr). Gerade Brandenburg und Sachsen sind Demokratieskeptiker unter den Sympathisanten der Rechts- allerdings konstant am unteren Ende des Bundesländer- populisten hin (Tabelle 3): Die Gruppe der unzufriedenen vergleiches zu finden. Hier sollten besondere Aufmerksam- Demokratieskeptiker ist bei den übrigen Parteien nur bei keit aufgewandt und Anstrengungen unternommen wer- den Linken mit vier Prozent etwas stärker vertreten, wäh- den, das Vertrauen in und die Unterstützung von Demokra- rend zwölf Prozent der AfD-Anhänger zu diesem Typus ge- tie in Deutschland zu verbessern. hören. Trotz aller Polarisierung und trotz der teils grundsätzlichen Auseinandersetzungen in der Bevölkerung steht weder die politische Gemeinschaft als solche noch die Demokratie Fazit: Es ist nicht alles schlecht als Staatsform zur Disposition. Der beträchtliche Ost- West-Unterschied bei der Beurteilung der Demokratieidee Zusammenfassend ist es um die Demokratieunterstützung und -praxis erlaubt wiederum zwei Schlüsse: Einerseits in Deutschland aber nicht schlecht bestellt. Grundsätzlich handelt es sich dabei um einen Ausdruck unterschiedlicher besteht eine große Assoziation mit der politischen Ge- internalisierter Wertesysteme und Erfahrungen mit der De- meinschaft und der Demokratie als bestmöglicher Staats- mokratie. Die politisch-kulturellen Spuren der Zeit vor form. Gleichzeitig nimmt die Unterstützung der Demokratie 1989/90 werden noch einige Jahre sichtbar sein. Sie be-

Schülerinnen und Schüler neh- men an dem Planspiel „Wir sind Abgeordnete“ im Landtag von Hessen teil. Planspiele sind eine bewährte Methode der politischen Bildung, um die Komplexität von Politik sowie die Notwendigkeit von Koope- ration als Voraussetzung erfolgreichen politischen Han- delns zu erfahren. Demokratie muss auch dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung erklärt, gelernt und erfahren werden – im Westen wie im Osten der Republik. picture alliance/dpa

57 einflussen nicht nur die Beurteilung der Demokratie als LITERATUR Ideal, sondern auch – über ganz eigene Wertmaßstäbe (z. B. stärkere Gleichheitsorientierung, Sicherheitsdenken Bertelsmann Stiftung (2017): Sozialer Zusammenhalt in Deutschland 2017. und Paternalismus im Osten) – die Einschätzung der Demo- Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt. Gütersloh. Erik Vollmann Braun, Stefan (2018): Dieses Land wird vom Westen dominiert. In: Süddeut- kratierealität selbst. Dass die Messlatte für die Demokratie sche Zeitung vom 02.03.2018. URL: https://www.sueddeutsche.de/ im Osten höher hängt als im Westen, liefert einen Baustein politik/prominente-ostdeutsche-warnen-dieses-land-wird-vom-wes- ten-dominiert-1.3887286–0 [25.01.2020]. in der Erklärung variierender Demokratiezufriedenheit. Dalton, Russell J./Shin, Doh Chull (2014): Reassessing the Civic Culture Der andere ist die politisch-wirtschaftlich-gesellschaftli- Model. In: Dalton, Russel J./Welzel, Christian (Hrsg.): The Civic Culture che Transformation der ostdeutschen Gesellschaft. Transformed. From Allegiant to Assertive Citizens. New York, S. 91–115 . Dalton, Russell J./Welzel, Christian (Hrsg.) (2014): The Civic Culture Trans- Schließlich: Dass die Demokratie weithin in der westdeut- formed. From Allegiant to Assertive Citizens. New York. schen Gesellschaft nach 1945 Fuß gefasst hat, verdankt Klingemann, Hans-Dieter (1999): Mapping Political Support in the 1990s: sich keineswegs dem Zufall. Die politischen und demokra- A Global Analysis. In: Pippa, Norris (Hrsg.): Critical Citizens. Global Support for Democratic Governance. Oxford, S. 31–56. tiepädagogischen Bemühungen nach dem Ende des Nati- Klingemann, Hans-Dieter (2014): Dissatisfied Democrats. Democratic Ma- onalsozialismus waren beträchtlich. Demokratie muss sich turation in Old and New Democracies. In: Dalton, Russell J./Welzel, erklären, für sich werben und Konflikte aushalten. Wenn Christian (Hrsg.): The Civic Culture Transformed. From Allegiant to As- sertive Citizens. New York, S. 116 –157. eine Gesellschaft Freiheit, Vielfalt und Komplexität – ihrer- Mannewitz, Tom (2019): Demokratie muss man können. FAZ vom 08.03.2019. seits Merkmale nicht nur jeder funktionierenden Demokra- URL: https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/tom-mannewitz-ue- tie, sondern moderner Gesellschaften überhaupt – nicht ber-ideen-fuer-die-demokratie-der-zukunft-16077118-p2.html [28.01.2019]. nur aushalten, sondern damit konstruktiv umzugehen wis- Mannewitz, Tom/Vollmann, Erik (2019): Muster regionaler Demokratieun- sen soll, muss man sie darauf vorbereiten – und zwar von terstützung in Deutschland 2017. Schwindendes Vertrauen in Politik und Kindesbeinen an.6 Diese Fähigkeiten entwickeln sich nicht Parteien. Eine Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt? Gü- tersloh, S. 22–61. von allein. Demokratie muss auch dreißig Jahre nach der Norris, Pippa (1999): Introduction: The Growth of Critical Citizens? In: Wiedervereinigung erklärt und gelernt werden – im Wes- Norris, Pippa (Hrsg): Critical Citizens. Global Support for Democratic ten wie im Osten der Republik. Governance. Oxford, S. 1–27. Norris, Pippa (2011): Democratic Deficit. Critical Citizens Revisited. Cam- bridge. Pickel, Gert/Pickel, Susanne (2006): Politische Kultur- und Demokratiefor- schung. Grundbegriffe, Theorien, Methoden. Eine Einführung. Wiesba- den. Unzicker, Kai/Boehnke, Klaus (2019): Radar gesellschaftlicher Zusammen- halt: Sozialer Zusammenhalt in Deutschland 2017. Köln (GESIS Daten- archiv).

ANMERKUNGEN 1 „Dieses Land wird vom Westen dominiert“ war daher auch Anklage und Hilferuf gesellschaftlicher Führungskräfte in Ostdeutschland bei Braun (2018). 2 Ermöglicht wird dies durch die subnationale Aufgliederung des Da- tensatzes des Radars Gesellschaftlicher Zusammenhalt (n = 4969 mit re- UNSER AUTOR UNSER gionaler Zuordnung; Bertelsmann Stiftung 2017; Unzicker/Boehnke 2019, auf dem diese Analyse basiert. Dieser Beitrag basiert in Teilen auf Man- newitz/Vollmann (2019).

3 Die systemischen Konsequenzen langfristig ausbleibenden Vertrau- ens in die Amtsinhaber als spezifischstes Element beschränkt sich regel- mäßig auf die Abwahl, die als solche in der Demokratie systemimmanent, Erik Vollmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für also gar erwünscht ist. Dieser Aspekt wird daher in dieser Untersuchung Deutsche und Vergleichende Politikwissenschaft, Europafor- nicht berücksichtigt. 4 Abkürzungen für alle Abbildungen: BB: Brandenburg, BE: Berlin, BW: schung und Politische Ökonomie am Institut für Politische Wissen- Baden-Württemberg, BY: Bayern, HB: Bremen, HE: Hessen, HH: Hamburg, schaft der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. MV: Mecklenburg-Vorpommern, NI: Niedersachsen, NW: Nordrhein- Seine Forschungsschwerpunkte beinhalten Legitimation und Iden- Westfalen, RP: Rheinland-Pfalz, SH: Schleswig-Holstein, SL: Saarland, ST: Sachsen-Anhalt, SN: Sachsen, TH: Thüringen, Gesamt: Gesamtdeutsch- titätskonstruktion in demokratischen wie autokratischen Syste- land. men, subnationale Politik sowie Migration. Seine Arbeit fokussiert 5 Mittleres Institutionenvertrauen über die Institutionen politische Par- auf die Regionen der Europäischen Union sowie des Nahen Os- teien, Gerichte, Polizei, Landesregierung, Landtag, Bundesregierung, Bun- destag, öffentlich-rechtlicher Rundfunk. Siehe ausführlich Bertelsmann tens und Nordafrikas. (2017). 6 Empfohlen sei dazu auch das Plädoyer von Mannewitz (2019): Demo- kratie muss man können.

58 ENTWICKLUNGSLINIEN DES PARTEIENSYSTEMS Politisch zweigeteilt? – Wahlverhalten und Parteiensystem Isabelle-Christine Panreck

schen Mauerfall am 9. November 1989 und formeller Wie- Haftete den neuen Ländern unmittelbar nach der Wie- dervereinigung am 3. Oktober 1990. dervereinigung mit Blick auf die Wahlbeteiligung das Die Umsetzung der politischen Einheit glich freilich einer Bild des Sorgenkindes an, schienen sich die Unterschiede Mammutaufgabe: Das Versprechen „blühender Land- im Lauf der Zeit einzuebnen. Die Bundestagswahl 2017 schaften“ war leichter zu geben denn einzuhalten. Die ho- jedoch brachte, nicht zuletzt durch die Stimmengewinne hen Erwartungen mündeten nicht selten in Enttäuschun- der AfD, Bewegung in das deutsche Parteiengefüge. Der gen. Dem Osten haftete das Bild des Sorgenkindes der Beitrag von Isabelle-Christine Panreck fokussiert zu- Republik an – in der Tat blieb die Teilhabe an den demo- nächst die Anfänge der bundesdeutschen Demokratie kratischen Institutionen hinter der im Westen zurück: Die nach der Wiedervereinigung. Die deutsche Einheit wurde Wahlbeteiligung fiel ebenso wie die Parteienbindung im Schnelldurchgang vollzogen, andere politische Ent- schwächer aus, Volatilität in der Stimmabgabe war die wicklungspfade waren nicht mehrheitsfähig. Nach der Folge – insbesondere bei den Bundestagswahlen 1994 Skizzierung der „Übernahmepolitik“, die der Bevölke- und 1998. Zum silbernen Jubiläum der Einheit schienen sich rung der DDR durchaus entgegenkam, werden die west- die Unterschiede indes einzuebnen. In Zeiten von „Postde- deutschen Volksparteien sowie deren Streben in die po- mokratie“ nahmen die Wahlbeteiligung auch im Westen litische „Mitte“ analysiert. Schließlich rücken diejenigen ab und die Volatilität in der Stimmabgabe zu.6 Passt sich Parteien in den Vordergrund, die eindeutige Positionen der Westen dem Osten an? Nein, meinte Eckhard Jesse, in sozioökonomischen und soziokulturellen Konflikten der in der gesamten westlichen Welt einen Rückgang der einnehmen: zunächst der Kontrast von FDP und Die Linke als Gegenspielerinnen in sozioökonomischen Fragen, dann Grüne und AfD als Gegenpole auf der soziokultu- rellen Achse. Der Beitrag schließt mit einem Ausblick auf mögliche Konsequenzen für das Parteiensystem.

Krise(n) der Demokratie

Es fällt nicht schwer, die noch junge Geschichte der wie- dervereinigten Bundesrepublik als eine Aneinanderrei- hung von Krisen zu erzählen. Verdrossenheit über „Partei- enstaat“ und „politische Klasse“1 in den 1990ern, postde- mokratische Zustände in den „00er“-Jahren,2 schließlich Polarisierung und ein „populistischer Moment“3 im aktuel- len Jahrzehnt. Die Zuversicht über den Siegeszug der libe- ralen Demokratie nach Fall des „Eisernen Vorhangs“ ist ge- trübt. Es ist fast obligatorisch, an dieser Stelle auf Francis Fukuyamas vorschnell festgestelltes „Ende der Geschichte“4 zu verweisen. Der Mauerfall und die damit verbundene Erschütterung des „Gemeinsamen Hauses Europa“ waren im europäi- schen Ausland zum Teil kritisch beäugt worden, und nicht nur dort: Proteste bereiteten Bundeskanzler Helmut Kohl, am 10. November 1989 nach überstürzter Abreise aus Warschau nach Westberlin geeilt, keinesfalls einen ange- nehmen Empfang. Die Sorge vor neuem Größenwahn griff um sich – würde nicht die Idee des Nationalismus Aufwind erhalten? Die Anfang 1990 noch in Betracht gezogene deutsch-deutsche Konföderation erwies sich indes nicht Der Einheitsbonus des Kanzlers Kohl verpuffte recht bald. als mehrheitsfähig – spätestens nach den Wahlen am Der „Einheitskater“ machte sich bereits Ende 1990 breit. Ehe- 18. März 1990, gemäß Peter Graf Kielmansegg ein Plebis- malige DDR-Bürgerinnen und -Bürger bei einer Demonstra- zit über die Einheit5, war klar: Die DDR würde in der Bun- tion auf dem Karl-Marx-Platz in Leipzig. Der Protest richtet desrepublik aufgehen. Nicht einmal ein Jahr verging zwi- sich gegen Helmut Kohl, der „blühende Landschaften“ ver- sprach. picture alliance/dpa

59 Wahlbeteiligung, sinkende Mitgliederzahlen bei den Par- 1993 schlossen sie sich mit dem ostdeutschen Bündnis 90 teien und nachlassende Partizipation in Bürgerinitiativen zusammen.12 Eine Besonderheit war die SED-Nachfolge- beobachtete.7 partei PDS, die – anders als zunächst erwartet – nicht von Die Bundestagswahlen 2017 setzten vorerst einen Schluss- der Bildfläche verschwand. Die Initiative zur Übertragung punkt hinter diese Entwicklungen. In Zeiten gesellschaftli- des Parteiensystems, so setzt Jesse der „Kolonialisierungs“- cher Polarisierung und Populismus stieg die Wahlbeteili- These schon im Jahr 1998 entgegen, ist dabei von der Be- gung in den alten wie den neuen Ländern an (76,8 zu 73,2 völkerung der DDR und den ehemaligen Blockparteien 8

Isabelle-Christine Panreck Prozent). Die relativen Zuwächse im Osten überflügelten ausgegangen. Federführend in diesem Prozess seien frei- gar die im Westen mit 5,1 zu 3,2 Prozentpunkten. Zugleich lich die Westparteien gewesen.13 offenbaren sich erneut gravierende Unterschiede: Die So- zialdemokraten erreichten im Osten lediglich schwache 13,9 Prozent, im Westen indes stärkere (wenn auch nicht Niedergang der Volksparteien starke) 21,9 Prozent. Der Anteil der Stimmen für die Alterna- tive für Deutschland (AfD) im Westen beziffert sich auf 10,7 Die Übernahme des Parteiensystems in den neuen Ländern Prozent, im Osten auf 21,9 Prozent.9 Der Höhenflug der darf nicht über die Krise von Union und SPD zum Zeitpunkt rechtspopulistischen Partei ist in den neuen Ländern seit- der Einheit hinwegtäuschen. Mithin galten die 1980er- her ungebrochen, wie die Ergebnisse der jüngsten Land- Jahre als das Krisenjahrzehnt der Volksparteien, die unter tagswahlen in Sachsen (27,5 Prozent), Brandenburg (23,5 erheblichem Mitgliederschwund und Vertrauensverlust in Prozent) und Thüringen (23,4 Prozent) belegen. Ist Deutsch- der Bevölkerung litten.14 Der Absturz der Sozialdemokra- land selbst 30 Jahre nach der Einheit mit Blick auf sein Par- ten übertraf dabei die Schwäche der Union – Ralf Dahren- teiensystem zweigeteilt? dorf rief im Jahr 1987 gar „das Ende des sozialdemokrati- Der Beitrag richtet sein Augenmerk zunächst auf die An- schen Jahrhunderts“15 aus. fänge der bundesdeutschen Demokratie nach der Wie- Einem Sprung in den Jungbrunnen kam die Ausweitung auf dervereinigung. Auf die Beantwortung der Frage nach ei- die neuen Länder nicht gleich. Selbst der Einheitsbonus des ner Kolonialisierung des Ostens durch den Westen folgen Kanzlers Kohl verpuffte recht bald: In Ostdeutschland ließ die Analyse der westdeutschen Volksparteien sowie deren der „Einigungskater“ die Zustimmungswerte zur Union sin- Streben in die politische „Mitte“. Schließlich rücken die ken. Auch der in der Partei verbreitete Katholizismus konnte Parteien in den Vordergrund, die eindeutige Positionen in im weitgehend atheistischen Osten kaum punkten. Zu- sozioökonomischen und soziokulturellen Konflikten10 ein- gleich verlor das „bürgerliche“ Lager im Westen mit dem nehmen: zunächst der Kontrast von FDP und Die Linke als Kollaps des Ostblocks sein integratives Moment des Anti- Gegenspielerinnen in sozioökonomischen Fragen, dann kommunismus.16 Das Ergebnis der Union bei der Bundes- Grüne und AfD als Gegenpole auf der soziokulturellen tagswahl 1998 war desaströs – besonders im Osten, wo Achse. Der Beitrag schließt mit einem Blick auf die Konse- der Stimmenanteil der CDU um 11,2 Prozentpunkte von quenzen für das Parteiensystem. 38,5 (1994) auf 27,3 (1998) fiel. Im Westen büßte die Union um 5,1 Prozentpunkte auf 37,0 Prozent ein. Der folgende – ungefilterte – Regierungswechsel von Kohl Kolonialisierung? Ausdehnung des westlichen auf Gerhard Schröder im Jahr 1998 entpuppte sich als so- Parteiensystems zialdemokratisches Strohfeuer. So errang das Tandem aus

Der portugiesische Künstler António Calado da Maia goss die Einheit Deutschlands in eine Karikatur (siehe Abbildung 1): Zwei Gruppen laufen mit je einem Teil der schwarz-rot- goldenen Fahne aufeinander zu. Die Zacken der jeweili- gen Enden passen exakt ineinander. Was überzeugend die Freude der sich in die Arme fallenden Ost- und West- berliner am Abend des 9. Novembers widerspiegelt, greift mit Blick auf die Zusammenführung der beiden deutschen politischen Systeme zu kurz. Nachdem die Idee des „drit- ten Weges“ – ein Versuch, den realen Sozialismus der DDR zu reformieren – gescheitert war, übertrug sich das politi- sche System des Westens auf den Osten. Im Bewusstsein dieser Asymmetrie rahmten west- und ost- deutsche Intellektuelle die Entwicklung in Anspielung auf das Einverleiben Österreichs durch das nationalsozialisti- sche Deutschland 1938 als „Anschluss“ oder imperialis- Abbildung 1: tisch als „Annexion“ oder „Kolonialisierung“.11 Nicht nur Karikatur des portugiesischen wurde der Geltungsbereich des Grundgesetzes ausge- Künstlers António Calado weitet, sondern auch weitgehend das Parteiensystem als da Maia zentrale Ebene des politischen Willensbildungsprozesses Stiftung Haus der Geschichte; in den neuen Ländern übernommen. SPD, CDU und FDP EB-Nr. 1995/02/0381. führten ost- und westdeutsche Verbände zusammen. Mit Urheber: António Calado da Maia, etwas Verspätung folgte die „doppelte Vereinigung“ der Online unter: https://www.hdg.de/ Grünen. Am Tage nach der Bundestagswahl 1990 verein- lemo/bestand/objekt/karikatur- ten sich die Grünen im Westen mit den Grünen im Osten. maia-deutschland-flagge.html

60 Schröder und Oskar Lafontaine unter dem Wahlspruch „In- POLITISCH ZWEIGETEILT? – WAHLVERHALTEN novation und soziale Gerechtigkeit“ zwar den Wahlsieg UND PARTEIENSYSTEM (Westen: 42,3; Osten: 35,1), langfristig weckte es jedoch Erwartungen, die sich nicht erfüllen ließen. Spätestens mit dem Beschluss der Agenda 2010 und dem Schröder-Blair- FDP und Die Linke – sozioökonomische Gegenspieler Papier im Jahr 2003 gab die Partei ihren Markenkern der Sozialkompetenz auf, und sie ersetzte ihn durch wirt- Wie Feuer und Wasser stehen sich FDP und Die Linke im schaftsfreundlichere Positionen. Mit erheblichen Einbußen sozioökonomischen Konflikt gegenüber. In welchem Ver- verlor die SPD die Bundestagswahlen 2005. Im Osten lan- hältnis sollen Staat und Markt stehen? Fordert Die Linke dete sie bei 30,4, im Westen bei 35,1 Prozent.17 einen starken Staat und Anstrengungen, ökonomische Die Union konnte aus den Verlusten der SPD kaum Vorteil Märkte bis in die Preisbildung hinein zu regulieren, sieht schlagen. Zwar übernahm die Partei, obwohl schwächer die FDP den Staat erst dann in der Pflicht, wenn der Markt als im Jahr 2002 (Westen: 40,8; Osten: 28,3), bei den vor- versagt. Das wirtschaftsliberale Profil der FDP war indes gezogenen Wahlen 2005 (Westen: 37,5, Osten: 25,3) das längst nicht immer so scharf wie heute: War sie in der alten Kanzleramt, die Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise nur vier Bundesrepublik zunächst Mehrheitsbeschafferin der CDU Jahre später erschütterte die Union aber in ihren Grund- unter Ludwig Erhard (1963 bis 1966), ließ sie sich im Jahr festen. Die am freien Markt ausgerichtete Wirtschaftspoli- 1969 auf eine sozialliberale Koalition unter Willy Brandt tik ließ sich im Angesicht der taumelnden Banken nicht hal- (1969 bis 1974) sowie dessen Nachfolger Helmut Schmidt ten – ihre „Rettung“ verprellte einen Teil der wirtschaftsli- (1974 bis 1982) ein. Nach Zerbrechen dieser aufgrund beralen Stammwählerschaft.18 Konnte die Popularität wirtschaftspolitischer Differenzen im Jahr 1982 – der libe- Angela Merkels die Zwiste im konservativen Lager bei den rale Otto Graf Lambsdorff hatte mit Blick auf die anhal- Bundestagswahlen im Jahr 2013 noch überdecken – die tende Wirtschaftskrise einen strikten Sparkurs von Kanzler Union erreichte 41,5 Prozent (Westen: 42,2; Osten: 38,5) Schmidt gefordert –, verhalfen die Liberalen Kohl zur Kanz- – bröckelte der Zusammenhalt im Zuge der „Flüchtlings- lerschaft. Die schwarz-gelbe Koalition hielt über die Ein- krise“ im Jahr 2015 weiter. Die Spannungen entluden sich heit hinweg bis 1998. Dennoch ging mit den Lagerwech- schließlich im Streit zwischen CDU und CSU um eine seln ein gewisses Glaubwürdigkeitsproblem einher, das in „Höchstgrenze“ der Aufnahmebereitschaft. Obwohl die einen Aderlass an Mitgliedern im sozialstaatlich ausge- Forderung nach einer „Höchstgrenze“ zuvorderst aus der richteten Flügel der Liberalen mündete. Ab Mitte der CSU stammte, verlor Merkel auch innerhalb der CDU an 1980er blieb die Partei sodann weitgehend konsequent Rückhalt.19 einer wirtschaftsliberalen Haltung verpflichtet, die einen Die Bundestagswahlen 2017 offenbarten schließlich, wie schlanken Staat bevorzugt.21 weit das Misstrauen gegenüber den Volksparteien nach Die deutsche Einheit verlieh den Liberalen zunächst Rü- ihren inhaltlichen Kehrtwenden verbreitet war. Union und ckenwind: Bei den Bundestagswahlen im Jahr 1990 war SPD erreichten addiert schwache 53,5 Prozent. Das Stre- das Ergebnis im Osten mit einem Anteil von 12,9 Prozent ben in die politische „Mitte“ und die mangelnde Unter- sogar höher als im westdeutschen Stammland mit 10,6 Pro- scheidbarkeit nach Jahren der „Großen Koalition“ eröffne- zent. Der hohe Stimmenanteil ist jedoch weniger auf die ten den kleinen Parteien Raum, sich links und rechts von programmatische Ausrichtung der Partei als auf die Popu- Union und SPD zu profilieren.20 larität des liberalen Außenministers Hans-Dietrich Gen- scher zurückzuführen. Nach dessen Rücktritt sank die Zu- stimmung im Osten bei den Wahlen 1994 und 1998 rapide auf schwache 3,5 bzw. 3,3 Prozent. Erst im Jahr 2002 ge- lang es den Liberalen wieder, auch in den neuen Ländern die Fünfprozenthürde zu überspringen. Im Zuge des Hö- henflugs unter Führung von Guido Westerwelle erreichte sie 2009 gar 10,6 Prozent (West: 15,4 Prozent). Nach der Regierungsbeteiligung unter Kanzlerin Angela Merkel (2009 bis 2013) fiel die Partei indes ins Bodenlose: Im Jahr 2013 schied die FDP aus dem Bundestag aus. Obwohl sie in Ost und West einbüßte, war das Ergebnis insbesondere in den neuen Ländern desaströs: Mit gerademal 2,7 Pro- zent fuhr sie ihr schlechtestes Ergebnis seit der Wiederver- einigung ein. Die Radikalität zugunsten des freien Marktes kam nicht im Westen und erst recht nicht im sozialistisch vorgeprägten Osten an. Dem Wunsch nach einem fürsorgenden Staat kommt die Partei Die Linke nach. Nach der Einheit hatte sich die SED- Nachfolgepartei PDS zunächst in Ostdeutschland profi- liert, indem sie sich als Anwältin genuin ostdeutscher Inter- essen inszenierte. Die zunehmenden Enttäuschungen über sozioökonomische Folgen der Einheit gaben der Partei Auftrieb, trotz ihrer kommunistischen Vergangenheit, die etwa mit der „Kommunistischen Plattform“ bis in die Ge- genwart ragt. Als ostdeutsche Regionalpartei erreichte die PDS in den neuen Ländern bei den Bundestagswahlen

61 1994 bis 2005 im Schnitt um die 20 Prozent, in den alten Ländern verblieb sie jedoch notorisch schwach. Aufgrund der höheren Bevölkerungszahl des Westens scheiterte die Partei 1990 und 1994 mit Blick auf die gesamtdeutschen Ergebnisse an der Fünfprozenthürde. In den Bundestag zog sie dennoch ein, da im Jahr 1990 in ein ost- und ein westdeutsches Wahlgebiet unterschieden wurde und die

Isabelle-Christine Panreck PDS im Jahr 1994 im Osten ausreichend Direktmandate er- langte.22 Die Partei legte im Westen erst zu, als sie sich im Jahr 2007 mit der WASG (Wahlalternative Arbeit & soziale Gerech- tigkeit) zusammentat, einer linken SPD-Abspaltung unter Führung von Oskar Lafontaine. Seine Beliebtheit auch über seine Heimat – das Saarland – hinaus brachte der neuen Partei Die Linke Pluspunkte ein.23 Das Ost-West-Gefälle nähert sich seitdem an, ist aber noch immer enorm, wie die Ergebnisse der Bundestagswahlen erhellen. Die Kluft of- fenbart sich zudem in der Teilhabe an Landtagsregierun- gen: Waren PDS (bzw. Die Linke) in den ostdeutschen Län- dern Mecklenburg-Vorpommern von 1998 bis 2006, in Thüringen 2014 bis 2019, in Brandenburg 2009 bis 2019 und in Berlin von 2002 bis 2011 an der Regierung, wurde sie in Westdeutschland im Jahr 2018 erstmals in Bremen an einer Landesregierung mit SPD und Grünen beteiligt.24

Die Grünen und die AfD – soziokulturelle Gegenspieler

Wie libertär soll die Gesellschaftspolitik eines Staates ausfallen? Soll etwa ein bestimmtes Familienmodell – wie die Beziehung zwischen Mann und Frau Vorrang vor gleichgeschlechtlichen Partnerschaften haben? Der sozio- um die sieben Prozent zu. Erst ab 2004 gewann die Partei kulturelle Konflikt um gesellschaftliche Identitätsfragen im Osten an Zustimmung. Allerdings dauerte es weitere spiegelt sich in Deutschland in erster Linie im Streit zwi- sieben Jahre, bis sie in allen Landtagen vertreten war. Seit- schen den Grünen und der AfD wider. Befürworten die dem nehmen die Grünen bei Wahlen gewissermaßen die Grünen kosmopolitische Lebensentwürfe, die mithin pro- Rolle des „Koalitionsjokers“ ein: Von 2014 bis 2019 regier- gressive Positionen mit Blick auf gleichgeschlechtliche Ehe, ten sie als kleinster Partner einer rot-rot-grünen Koalition in Chancengleichheit der Geschlechter und Multikulturalis- Thüringen, nach den Wahlen im Jahr 2013 entstand in Hes- mus umfassen und ökologischen Fragen Gewicht zumes- sen ein schwarz-grünes Bündnis, in Baden-Württemberg sen, rückt die AfD strukturkonservative Positionen, etwa sind sie seit 2016 Seniorpartnerin in einer Koalition mit der eine Vorstellung von Geschlecht als dichotome Unterschei- CDU, in Rheinland-Pfalz taten sie sich im selben Jahr mit dung in „Männer“ und „Frauen“, sowie eine nationale Iden- SPD und FDP, in Schleswig-Holstein 2017 mit CDU und FDP tität in den Vordergrund.25 Gegründet im Jahr 2013 ist die zusammen. AfD die erste Partei im Bundestag des wiedervereinigten Indem die SPD in die Mitte rückte, machte sie Raum für die Deutschland, die keine direkten Wurzeln in der Zeit vor gesamtdeutsche Ausweitung der Grünen und der Partei 1990 hat. Die Linke, wodurch im linken Spektrum drei Parteien um die Die Grünen waren hingegen im Jahr 1983 erstmals in den Wählergunst konkurrieren. Mit Verspätung füllte sich das Bundestag eingezogen. Im Zuge der Wiedervereinigung Vakuum rechts der in die Mitte gestrebten CDU. Noch im gerieten sie ins Straucheln: Bei den Wahlen am 2. Dezem- Jahr 2010 stellte Oskar Niedermayer fest: „Die gesell- ber 1990 gingen die Grünen im Westen und Osten sowie schaftspolitische Positionsveränderung der CDU hat je- das ostdeutsche Bündnis 90 noch getrennt ins Rennen: Er- doch nicht zu Veränderungen der Akteursstruktur des Par- reichte Bündnis 90/Die Grünen im Osten ein respektables teiensystems geführt. […] Eine konservative Partei oder Ergebnis (6 Prozent), verfehlten die Grünen im Westen die eine relevante rechtspopulistische bzw. rechtsextremisti- Fünfprozenthürde. Ihr Wahlkampf gegen die Wiederverei- sche Partei, die den autoritären Pol repräsentieren könnte, nigung nach Artikel 23 und ihre Warnung vor neuem Nati- besteht in Deutschland nicht.“27 Die Gründung der AfD im onalismus hatten nicht verfangen.26 Der Austritt einiger Jahr 2013, ihre elektoralen Erfolge bei Landtagswahlen – „Fundis“, etwa Jutta Ditfurth im Jahr 1991, sorgte für eine binnen vier Jahren (2014 bis 2018) war sie in allen Landta- Mäßigung der Partei, die schließlich auf dem Leipziger gen vertreten – und das Abschneiden als drittstärkste Kraft Parteitag der Fusion mit Bündnis 90 zustimmte. Die „Ver- bei den Bundestagswahlen 2017 erschütterte das Partei- nunftehe“ nützte der Partei zuvorderst im Westen, so kehrte ensystem. Zunächst als eurokritische, wirtschaftsliberale sich das Ergebnis aus 1990 in den Bundestagwahlen 1994, Partei gestartet, rücken die Rechtspopulisten seit 2015 das 1998 und 2002 um: Verfehlte die Partei im Osten regelmä- Thema „Flucht und Migration“ und damit verbunden die ßig die Fünfprozenthürde, legte sie im Westen auf Werte Abgrenzung des „Volkes“ auf vertikaler Ebene gegen die

62 POLITISCH ZWEIGETEILT? – WAHLVERHALTEN UND PARTEIENSYSTEM

rungsbeteiligung mündeten das Abschneiden bei Wahlen jedoch weder auf Landes- noch auf Bundesebene: Keine Partei ist zu einer Koalition in Land- oder Bundestag be- reit.32

Fazit und Ausblick: Konsequenzen für das Parteiensystem

Das Mitte-Streben der Volksparteien, ihr Mitglieder- Ein Wahlplakat der AfD, auf- schwund und die schwächelnde Mobilisierung in der Wäh- genommen am 15.09.2017 in lerschaft einerseits, das Wachsen der Grünen und der Par- Dresden. Migrationskritische tei Die Linke zu gesamtdeutschen Parteien sowie die elek- Parolen verfingen 2017 ebenso toralen Erfolge der AfD andererseits sorgen für enorme wie das Bekenntnis zum „star- Verschiebungen im Parteiensystem. War die „Bonner Re- ken Staat“, begleitet von einer publik“ kontinuierlich von einem System der Zweiparteien- Häme gegenüber Bundeskanz- dominanz geprägt, erlebte die „Berliner Republik“ insbe- lerin Angela Merkel. Bei der sondere im Zuge der vergangenen drei Bundestagswahlen Bundestagswahl 2017 erreichte Zäsuren: Die Wahl 2009 markierte über die Erfolge der die AfD in den neuen Ländern Grünen und der Partei Die Linke den Übergang zu einem 21,9 Prozent gegenüber 10,7 pluralistischen Parteiensystem. Das knappe Scheitern von Prozent in den alten. In Sach- FDP und AfD an der Fünfprozenthürde im Jahr 2013 be- sen überflügelte sie sogar dingte die kurzzeitige Rückkehr zur gewohnten Zweipar- knapp die seit 1990 regierende teiendominanz. Im Jahr 2017 reüssierten AfD und FDP, wo- CDU (27,0 zu 26,9 Prozent). durch sich die Zahl der im Bundestag vertretenen Fraktio- picture alliance/dpa nen von vier auf sechs erhöhte. Das bessere Abschneiden der Partei Die Linke in den neuen als in den alten Ländern, besonders aber die Stärke der AfD im Osten warf die Frage „Eliten“ und auf horizontaler Ebene gegen „Fremde“ in den auf, ob die Bundesrepublik wenn nicht zwei Parteiensys- Mittelpunkt ihrer Kampagnen – insbesondere die ostdeut- teme, so doch ein gespaltenes vorweise. Gegen diese schen Verbände offenbaren eine völkisch-nationalistische These spricht, dass die Distanz zwischen Ost- und Wester- Ausrichtung.28 gebnissen seit 1990 in der Tendenz abnimmt. Der Einfluss Trotz der Radikalität im Osten schneidet die Partei hier bei der AfD geht zudem weit über den einer ostdeutschen Re- Wahlen deutlich besser ab als im Westen. Migrationskriti- gionalpartei hinaus, so erzielt sie im Westen zweistellige sche Parolen verfangen ebenso wie ein harscher „Anti- Ergebnisse. Obwohl die Partei im Osten stärker ist als im Genderismus“29: Die Partei ordnet sich offensiv als Gegen- Westen, wäre es einseitig, das Problem des Rechtspopulis- pol zu den Grünen auf der soziokulturellen Achse rechts mus allein auf die neuen Länder zu beschränken. Überdies der CDU ein. Auf der sozioökonomischen Achse ist ihre Po- sind sich Ost und West derzeit in ihrer Ablehnung einer sition weniger eindeutig: Im Osten tendiert sie zum „star- Koalition mit der AfD auf Bundes- und Landesebene einig. ken Staat“, im Westen lässt der in der Anfangsphase domi- Trotz der allgemeinen Absage an Koalitionen mit der AfD nante Wirtschaftsliberalismus nach den diversen Flügel- führt die elektorale Stärke der rechtspopulistischen Partei kämpfen und dem Austritt der Lucke-Richtung zumindest zu Veränderungen mit Blick auf die rechnerisch und poli- nach. Bei den Bundestagswahlen erreichte sie in den tisch möglichen Koalitionen. Diese hatten sich bereits vor neuen Ländern 21,9 Prozent gegenüber 10,7 Prozent in den Gründung der AfD vervielfältigt – insbesondere in den alten. In Sachsen überflügelte sie sogar knapp die seit Länderregierungen, die nicht selten als „Probelauf“ für den 1990 regierende CDU (27,0 zu 26,9 Prozent). Mobilisie- Bund dienen: Die Grünen haben sich den Ruf als zuverläs- rungspotenzial entfaltet die Partei dabei besonders unter sige Partnerin in verschiedensten Farbkombinationen er- ostdeutschen Männern, so machten 33,1 Prozent der säch- worben. Selbst grün-schwarze Bündnisse – in den 1980ern sischen Männer und 21,2 Prozent der sächsischen Frauen undenkbar – sind heute kaum mehr ungewöhnlich. In Hes- ihr Kreuz bei der AfD.30 Den Wahlausgang allein auf die sen gelingt die Zusammenarbeit seit 2013. Die Vorbehalte Transformationserfahrung zurückzuführen, wäre kurzge- der SPD gegenüber der Partei Die Linke haben im Westen griffen. Auch die These des AfD-wählenden Geringverdie- und auf Bundesebene nachgelassen. Bei den Bundestags- ners lässt sich nur bedingt halten. Es ist eher die Angst vor wahlen wurde 2017 offen mit einem rot-rot-grünen Bündnis gesellschaftlichem Abstieg, die mobilisiert. Im Vergleich geliebäugelt. Allein die Präsenz der Rechtspopulisten er- von Ost- und Westdeutschland offenbart sich: Ist die AfD höht überdies die Zahl politisch möglicher Koalitionen: La- im Osten beinahe flächendeckend stark, reüssiert sie in gerübergreifende Bündnisse werden wahrscheinlicher, da Westdeutschland eher in den strukturschwachen Regio- der Druck auf die übrigen Parteien steigt, die neue Partei nen. Freilich lässt die dünne empirische Datenbasis mit von der Regierungsverantwortung fern zu halten. So regie- Blick auf langfristiges Wahlverhalten noch keine Schlüsse ren in Sachsen und Brandenburg seit 2019 Koalitionen aus über das Elektorat der jungen Partei zu.31 In eine Regie- CDU, Grünen und SPD, in Sachsen-Anhalt existiert ein sol-

63 Bundestagswahlen 1990 Gesamt Ost West Tabelle 1: Wahlverhalten im Wahlgebiet West (mit SPD 33,5 24,3 35,7 Berlin-West) und im Wahlgebiet Ost (mit Berlin-Ost) CDU/CSU 43,8 41,8 44,3 bei den Bundestagswahlen 1990 bis 2017 im Ver- FDP 11, 0 12,9 10,6 gleich (in Prozent) B 90/Gr. 5,0 6,1 4,8 PDS 2,4 11,1 0,3 Sonstige 4,3 3,8 4,3 Isabelle-Christine Panreck ches schon seit 2016. 1990 hätte niemand mit dieser Ent- Bundestagswahlen 1994 Gesamt Ost West wicklung gerechnet. In Thüringen und Brandenburg er- SPD 36,4 31,5 37, 5 schallten zwischenzeitlich gar der Ruf nach einer Koalition CDU/CSU 41,5 38,5 42,1 von CDU und Die Linke. FDP 6,9 3,5 7, 7 Wer Ost und West mit Blick auf die derzeitigen Koalitionen B 90/Gr. 7, 3 4,3 7,9 auf Länderebene vergleicht, kommt zu folgendem Ergeb- PDS 4,4 19,8 0,9 nis: Insgesamt regieren acht Zweier- und acht Dreierkoali- Sonstige 3,5 2,4 3,9 tionen. Lediglich eine der acht Zweierkoalitionen auf Lan- desebene findet sich im Osten, so regiert in Mecklenburg- Bundestagswahlen 1998 Gesamt Ost West Vorpommern eine „Große Koalition“. In allen übrigen SPD 40,9 35,1 42,3 neuen Ländern (inklusive Berlin) existieren (teils lagerüber- CDU/CSU 35,1 27, 3 37, 0 greifende) Dreierkoalitionen. Kurzum: Ein Bündnis aus FDP 6,2 3,3 7, 0 Volkspartei plus Juniorpartner gehört im Osten der Ver- B 90/Gr. 6,7 4,1 7, 3 gangenheit an. Auch im Westen und im Bund werden lang- PDS 5,1 21,6 1,2 fristig – sofern es zu keiner Änderung des Wahlrechts Sonstige 6,0 8,6 5,2 kommt – Dreierbündnisse wahrscheinlicher. In diesem Bundestagswahlen 2002 Gesamt Ost West Sinne mag der Osten 30 Jahre nach der Einheit zum Vorrei- SPD 38,5 39,7 38,3 ter des Westens werden. CDU/CSU 38,5 28,3 40,8 FDP 7, 4 6,4 7, 6 B 90/Gr. 8,6 4,7 9,4 LITERATUR PDS 4,0 16,9 1,1 Bergmann, Knut/Diermeier, Matthias/Niehues, Judith (2017): Die AfD. Eine Sonstige 3,3 6,7 2,8 Partei der sich ausgeliefert fühlenden Durchschnittsverdiener? In: Zeit- schrift für Parlamentsfragen, 1/2017, S. 57–75. DOI: 10.5771/0340– Bundestagswahlen 2005 Gesamt Ost West 1758–2017–1-57. SPD 34,2 30,4 35,1 Beyme, Klaus von (1993): Die politische Klasse im Parteienstaat. Frankfurt am Main. CDU/CSU 35,2 25,3 37, 5 Bösch, Frank (2018): Christlich Demokratische Union Deutschlands (CDU). FDP 9,8 8,0 10,2 In: Decker, Frank/Neu, Viola (Hrsg.): Handbuch der deutschen Parteien. Wiesbaden, S. 242–261. B 90/Gr. 8,1 5,2 8,8 Crouch, Colin (2004): Post-Democracy. Cambridge. PDS/Die Linke 8,7 25,3 4,9 Dahrendorf, Ralf (1987): Das Ende der Sozialdemokratie. In: Merkur, Sonstige 3,9 5,7 3,5 1–12 /1987, S . 1021–1038. Decker, Frank (2018): Parteiendemokratie im Wandel. In: Decker, Frank/ Bundestagswahlen 2009 Gesamt Ost West Neu, Viola (Hrsg.): Handbuch der deutschen Parteien. Wiesbaden, SPD 23,0 17,9 24,1 S. 3–39. Decker, Frank (2019): Kosmopolitismus versus Kommunitarismus. Eine neue CDU/CSU 33,8 29,8 34,6 Konfliktlinie in den Parteiensystemen? In: Zeitschrift für Politik, 4/2019, FDP 14,6 10,6 15,4 S. 445–454. DOI: 10.5771/0044–3360–2019–4-445. Fukuyama, Francis (1992): The End of History and the Last Man. London. B 90/Gr. 10,7 6,8 11, 5 Hark, Sabine/Villa, Paula-Irene (Hrsg.) (2017): Anti-Genderismus. Sexua- PDS/Die Linke 11,9 28,5 8,3 lität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinander- setzungen. Bielefeld. Sonstige 6,0 6,4 6,1 Hoffmann, Jürgen (1998): Die doppelte Vereinigung. Vorgeschichte, Ver- Bundestagswahlen 2013 Gesamt Ost West lauf und Auswirkungen des Zusammenschlusses von Grünen und Bünd- SPD 25,7 17,9 27, 4 nis 90. Opladen. Jesse, Eckhard (1998): Das deutsche Parteiensystem nach der Vereinigung. CDU/CSU 41,5 38,5 42,2 In: German Studies Review, 1/1998, S. 69–82. FDP 4,8 2,7 5,2 Jesse, Eckhard (2015): Das Ende der DDR. In: Aus Politik und Zeitgeschich- te, 33–34/2015, S. 18–25. B 90/Gr. 8,4 5,1 9,2 Jesse, Eckhard (2018): Die Bundestagswahl 2017 im Spiegel der repräsen- PDS/Die Linke 8,6 22,7 5,6 tativen Wahlstatistik. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 2/2018, S. 223–242. DOI: 10.5771/0340–1758–2018–2-223. Alternative für Deutschland 4,7 5,9 4,5 Jesse, Eckhard (2019): Das Aufkommen der Alternative für Deutschland. Sonstige 6,3 7, 3 5,8 Deutschland ist kein Ausnahmefall mehr. In: Brinkmann, Heinz Ulrich/ Panreck, Isabelle-Christine (Hrsg.): Rechtspopulismus in Einwande- Bundestagswahlen 2017 Gesamt Ost West rungsgesellschaften. Die politische Auseinandersetzung um Migration SPD 20,5 13,9 21,9 und Integration. Wiesbaden, S. 97–132. CDU/CSU 33,0 27, 6 34,1 Kielmansegg, Peter Graf (2000): Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland. Berlin. FDP 10,7 7, 5 11, 4 Krockow, Christian von/Lösche, Peter (Hrsg.) (1986): Parteien in der Krise. B 90/Gr. 8,9 5,0 9,8 Das Parteiensystem in der Bundesrepublik und der Aufstand des Bürger- willens. München. PDS/Die Linke 9,2 17, 8 7, 4 Mannewitz, Tom (2016): Really Two Deeply Divided Electorates? German Alternative für Deutschland 12,6 21,9 10,7 Federal Elections 1990–2013. In: German Politics, 2/2016, S. 219–234. DOI: 10.1080/09644008.2016.1235699. Sonstige 5,0 6,4 4,7 Merkel, Wolfgang (2016): Bruchlinien. Kosmopolitismus, Kommunitarismus Quelle: Zusammenstellung nach den amtlichen Wahlstatistiken. und die Demokratie. In: WZB Mitteilungen (154), S. 11–14.

64 Mouffe, Chantal (2018): Für einen linken Populismus. Berlin. Niedermayer, Oskar (2010): Von der Zweiparteiendominanz zum Pluralis- POLITISCH ZWEIGETEILT? – WAHLVERHALTEN mus. Die Entwicklung des deutschen Parteiensystems im westeuropäi- UND PARTEIENSYSTEM schen Vergleich. In: Politische Vierteljahresschrift, 1/2010, S. 1–13. DOI: 10.1007/s11615–010–0005–0. Niedermayer, Oskar (2015): Eine neue Konkurrentin im Parteiensystem? 18 Vgl. Niedermayer 2010, S. 11 f. Die Alternative für Deutschland. In: Niedermayer, Oskar (Hrsg.): Die 19 Vgl. Bösch 2018, S. 246. Parteien nach der Bundestagswahl 2013. Wiesbaden, S. 175 –207. 20 Vgl. Decker 2019, S. 454. Niedermayer, Oskar (2018): Die Entwicklung des bundesdeutschen Partei- 21 Vgl. Treibel 2018, S. 319–321. ensystems. In: Decker, Frank/Neu, Viola (Hrsg.): Handbuch der deut- 22 Vgl. Niedermayer 2018, S. 110. schen Parteien. Wiesbaden, S. 97–125. 23 Vgl. Decker 2018, S. 10 f. Panreck, Isabelle-Christine (2019): Rechtspopulismus – historisches Phä- 24 Von 2010 bis 2012 unterstützte Die Linke im nordrhein-westfälischen nomen, politischer Kampfbegriff, analytisches Konzept? In: Brinkmann, Landtag die Minderheitenregierung von Hannelore Kraft aus SPD und Heinz Ulrich/Panreck, Isabelle-Christine (Hrsg.): Rechtspopulismus in Grünen. Einwanderungsgesellschaften. Die politische Auseinandersetzung um 25 Weiterführend zum soziokulturellen Konflikt siehe Merkel 2016, S. 11 f. Migration und Integration. Wiesbaden, S. 25–41. 26 Vgl. Probst 2018, S. 203–209. Priester, Karin (2012): Rechter und linker Populismus. Annäherung an ein 27 Niedermayer 2010, S. 12. Chamäleon. Frankfurt am Main, New York. 28 Vgl. Thieme 2019; Panreck 2019, S. 27–31. Probst, Lothar (2018): Bündnis 90/Die Grünen (GRÜNE). In: Decker, Frank/ 29 Vgl. Hark/Villa 2017. Neu, Viola (Hrsg.): Handbuch der deutschen Parteien. Wiesbaden, 30 Vgl. Jesse 2018, S. 228–235. S. 203–218. 31 Bergmann et al. 2017, S. 65–72. Sontheimer, Kurt/Bleek, Wilhelm/Gawrich, Andrea (2007): Grundzüge 32 Vgl. Jesse 2019, S. 123. des politischen System Deutschlands. München. Thieme, Tom (2019): Dialog oder Ausgrenzung – Ist die AfD eine rechtsex- treme Partei? In: Bundeszentrale für politische Bildung – Dossier Rechtspopulismus. Online verfügbar unter http://www.bpb.de/politik/ extremismus/rechtspopulismus/284482/dialog-oder-ausgrenzung-ist- AUTORINUNSERE die-afd-eine-rechtsextreme-partei [30.01.2020]. Treibel, Jan (2018): Freie Demokratische Partei (FDP). In: Decker, Frank/ Neu, Viola (Hrsg.): Handbuch der deutschen Parteien. Wiesbaden, S. 319–331.

ANMERKUNGEN 1 Vgl. Beyme 1993. 2 Vgl. Crouch 2004. 3 Vgl. Priester 2012; Mouffe 2018. 4 Vgl. Fukuyama 1992. 5 Vgl. Kielmansegg 2000, S. 670. Dr. Isabelle-Christine Panreck ist Visiting Fellow an der London 6 Vgl. Mannewitz 2016, S. 221, 231. 7 Vgl. Jesse 2015, S. 25. School of Economics and Political Science. Sie studierte in Müns- 8 Siehe auch im Folgenden Tabelle 1, die eine Übersicht aller Bundes- ter „Politik und Wirtschaft” (B. A.) und „Politikwissenschaft“ (M. A.) wahlergebnisse gibt (vgl. Seite 64). und wurde mit einer Studie über die demokratische Qualität au- 9 Vgl. Jesse 2018, S. 227–234. 10 Vgl. Niedermayer 2015. ßenpolitischer Diskurse in Chemnitz promoviert. Ihre Forschungs- 11 Vgl. Sontheimer et al. 2007, S. 111–120. schwerpunkte liegen in der vergleichenden Populismus- und De- 12 Vgl. Hoffmann 1998. mokratieforschung sowie der Wissenschaftsgeschichte. Ihre Ha- 13 Vgl. Jesse 1998, S. 74. 14 Statt vieler Krockow/Lösche 1986. bilitationsschrift verfasst sie im Feld der „Intellectual History“ über 15 Dahrendorf 1987, S. 1022. das Werk und Wirken des Heidelberger Sozialwissenschaftlers 16 Vgl. Niedermayer 2018, S. 109. Klaus von Beyme. 17 Vgl. Niedermayer 2010, S. 10 f.

Politische Bildung auf Social Media News aus Politik, Landeskunde und der LpB

/lpb.bw.de lpb.bw

@lpbbw /user/lpbbw

65 ELITE WEST – ELITE OST? Wer beherrscht den Osten? Eliten in Politik, Wirtschaft und Justiz Michael Schönherr, Olaf Jacobs

dies nach diesem Anfangsimpuls weitestgehend so blieb Nach dem Umbruch in der DDR 1989/90 erfolgte ein und die gesellschaftlichen Eliten in den neuen Bundeslän- enormer Elitentransfer von West- nach Ostdeutschland. dern auch noch Jahrzehnte später relativ selten selbst aus Mit der Ausdehnung des politisch-rechtlichen Systems Ostdeutschland kommen.1 Dabei bilden die Ostdeutschen der Bundesrepublik auf die neuen Bundesländer wurden mit etwa 85 Prozent2 die klare Mehrheit in der Wohnbevöl- in aller Regel erfahrene Westdeutsche betraut, die in der kerung in den neuen Bundesländern. Diese soziale Gruppe Folge im politisch-administrativen, wirtschaftlichen und wird in den Eliten also noch heute nicht adäquat repräsen- juristischen Bereich Führungspositionen besetzten. Auf- tiert. fallend ist, dass sich an dieser anfänglichen Lage bis Das kann insofern problematisch sein, als diese Eliten für heute wenig geändert hat. Noch Jahrzehnte später kom- die Gruppe der ostdeutschen Bevölkerung „innerhalb und men die gesellschaftlichen Eliten in den neuen Bundes- für soziale Strukturen, Institutionen und Organisationen ländern relativ selten aus Ostdeutschland. Die Frage mit mittel- oder unmittelbar gesamtgesellschaftlicher Wir- einer angemessenen Repräsentation ostdeutscher Bevöl- kungsreichweite über die wesentliche Steuerungskompe- kerungsgruppen in den politischen und wirtschaftlichen tenz verfügt und in entscheidenden Handlungssituationen Führungsetagen ist nicht zuletzt politisch relevant und das letzte Wort haben.“3 macht sich in der aktuellen Stimmungslage in der Bevöl- Die Frage nach der Repräsentation bestimmter Bevölke- kerung Ostdeutschlands bemerkbar. Michael Schönherr rungsgruppen in Führungspositionen bekommt durch die und Olaf Jacobs gehen der Frage nach, inwieweit Ost- aktuelle politische Entwicklung in Ostdeutschland eine zu- deutsche in den Elitepositionen sowohl Deutschlands als sätzliche Relevanz. Denn hier laufen einige Entwicklungen auch Ostdeutschlands tatsächlich repräsentiert sind oder parallel, die auch Einfluss auf die gesamtdeutsche politi- im Laufe der Zeit überhaupt in Führungspositionen nach- sche Debatte haben. So stimmen Ostdeutsche in Umfragen rücken konnten. regelmäßig zu, sie seien im Vergleich zu Westdeutschen nur Bürger zweiter Klasse – in Sachsen 2018 immerhin 52 Pro- zent der Befragten.4 Gleichzeitig greift die rechtspopulisti- sche Alternative für Deutschland (AfD) in ihren Wahlkämp- Enormer Elitentransfer von West nach Ost

Der Umbruch in der DDR 1989/90 fußte zu einem guten Teil auf der Forderung nach „neuen Köpfen“. Mit dem Ende der DDR endeten nicht nur die charakteristischen und gesell- schaftsprägenden ostdeutschen Strukturen von Staat und Gesellschaft, sondern auch die personelle Kontinuität von Elitepositionen. Der Weg, die deutsche Einheit durch den Beitritt Ostdeutschlands zur Bundesrepublik Deutschland herzustellen, machte den Aufbau neuer, im Osten nicht be- kannter und geübter Strukturen nötig. Die Folge war ein beispielloser Elitentransfer von West- nach Ostdeutschland. Der Entwicklung einer neuen eige- nen Elite, wie sie später in den meisten osteuropäischen Auf Bundesebene unterstrichen Ländern passierte, stand entgegen, dass genug mit den bisher vor allem Bundeskanzle- neuen Verhältnissen Vertraute in den alten Bundesländern rin Angela Merkel und der frü- bereitstanden, um die ostdeutschen Elitepositionen zu be- here Bundespräsident Joachim setzen. Gleichzeitig gab es eine erhebliche Migrationsbe- Gauck die Annahme, Ostdeut- wegung von Fachkräften in die entgegengesetzte Rich- sche seien heute in bundes- tung. Dadurch ging auch das Potenzial für nachfolgende deutschen Spitzenpositionen Elitepositionen verloren. angekommen. Allerdings zeigt Die ursprüngliche Begründung für den Elitentransfer lag die politische Elite bundesweit darin, dass sich mit der Wiedervereinigung das politisch- ein klares Übergewicht west- rechtliche System der Bundesrepublik auf die neuen Bun- deutscher Positionsinhaber. desländer ausdehnte. Mit dem nötigen Neuaufbau in Poli- Lediglich in den neuen Bundes- tik, Medien, Wirtschaft, Wissenschaft, Justiz und Militär ländern ist heute ein Großteil wurden in der Regel erfahrene Westdeutsche betraut. Als der politischen Positionen von logische Folge besetzten diese in allen Bereichen auch fast Ostdeutschen besetzt. alle Führungspositionen. Bemerkenswert ist jedoch, dass picture alliance/dpa

66 fen genau diese Stimmungslage auf und scheint damit zu WER BEHERRSCHT DEN OSTEN? punkten. Auch die Linke hat das Thema in den letzten Jah- ELITEN IN POLITIK, WIRTSCHAFT UND JUSTIZ ren besetzt und in die öffentliche Debatte getragen. Ende 2019 scheiterte sie im Bundestag mit dem Antrag, eine „Ost- Quote“ in Bundesbehörden einzuführen.5 schen Gesellschaft finden sie sich in Führungsgruppen un- 30 Jahre nach der Deutschen Einheit stellt sich also in Ost- terschiedlicher sozialer Felder mit jeweils unterschiedlichen deutschland noch immer die Frage, inwieweit Ostdeutsche Einfluss- und Entscheidungsreichweiten. Zu den gesell- heute in der Bundesrepublik angekommen sind, und damit schaftspolitisch relevantesten gehören die politisch-admi- verbunden die Frage, inwieweit sie in den Elitepositionen nistrativen, wirtschaftlichen und juristischen Elitegruppen,8 sowohl Deutschlands als auch Ostdeutschlands tatsäch- also die höchsten Führungskräfte in den jeweiligen Berei- lich repräsentiert sind und nach dem massiven westdeut- chen. schen Elitentransfer überhaupt nachrücken konnten. Die Abgrenzung, wer zu den „Ostdeutschen“ gehört und wer nicht, wird 30 Jahre nach der Wiedervereinigung im- mer schwieriger. Bei den vorliegenden Daten galten jene Erhebungswellen und Definitionsfragen Menschen als ostdeutsch, die bis 1990 in der DDR aufge- wachsen sind oder dort den größeren Teil ihres Lebens ver- Deutschlandweite Elitenstudien sind rar. Die letzte breit bracht haben. Hinzukommen junge Menschen, die nach angelegte Arbeit war die Potsdamer Elitestudie in den 1975 in der DDR bzw. in den neuen Bundesländern gebo- 1990er-Jahren.6 Die aktuell vorliegenden Daten speisen ren wurden und durch ihr Umfeld „ostdeutsch“ sozialisiert sich aus regelmäßigen Erhebungswellen, die teilweise in wurden und demnach eine „ostdeutsche Herkunft“ haben. Zusammenarbeit mit der Universität Leipzig umgesetzt Diese frühe Sozialisierung in einem bestimmten Umfeld wurden.7 Zuletzt wurden sie im Herbst 2019 aktualisiert, prägt auch das Verhalten bis in die späteren Lebensjahre.9 wobei die Veränderungen in den letzten Jahren eher mar- Demnach können auch Führungskräfte mit westdeutscher ginal sind. Durch eine in der Herangehensweise ähnliche oder ausländischer Herkunft ihre soziale Prägung nicht so Erhebung des Mitteldeutschen Rundfunks von 2004 sind schnell ablegen, auch wenn sie seit 25 Jahren in den neuen ein zeitlicher Vergleich und das Nachzeichnen von Ent- Bundesländern leben und selbst sehr häufig die Meinung wicklungstendenzen möglich. In erster Linie werden Ein- vertreten, die Herkunft spiele keine Rolle mehr. richtungen in den fünf neuen Bundesländern betrachtet, wobei Berlin als ehemals geteilte Stadt nach Möglichkeit ausgelassen wird. Hinzu kommen vergleichbare Einrich- Politische Elitepositionen tungen auf Bundesebene: Regierungskabinette, einhun- dert größte Unternehmen und oberste Gerichte. Die politische Elite zeigt bundesweit ein klares Überge- Zu den Elitegruppen gehören Personen, die mit einer ge- wicht westdeutscher Positionsinhaber. Lediglich in den samtgesellschaftlichen Wirkungsreichweite über wesentli- neuen Bundesländern ist heute ein Großteil der politischen che Steuerungskompetenzen verfügen. In der demokrati- Positionen von Ostdeutschen besetzt. In den Landesregie- rungen der fünf neuen Bundesländer hatten im Herbst 2019 62 Prozent der Regierungsmitglieder eine ostdeut- sche Herkunft, was dem Bevölkerungsanteil von etwa 85 Prozent zumindest nahekommt. Doch es gibt eine erstaunli- che Entwicklung. 2016 kamen noch 70 Prozent der Landes- minister aus dem Osten Deutschlands, 2004 sogar noch 75 Prozent. Die Repräsentation Ostdeutscher in den ostdeut- schen Landesregierungen geht also zurück. Im Vergleich zu anderen Bereichen ist dieser Anteil sogar eher hoch. Das erklärt sich durch das Prinzip demokrati- scher Wahlen, das schnelle Aufstiege vom Kreis bis in die Länderparlamente ermöglicht. Das bietet letztendlich auch den ostdeutschen Wählern und Wählerinnen die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, wer sie in der Politik repräsentieren soll und darf. Allerdings ist die Aufstellung der Kandidaten und der Landeslisten auch ein Ergebnis in- nerparteilicher Auseinandersetzungen, bei denen der „Vorsprung“ des aus Westdeutschland stammenden politi- schen Personals offenbar noch nicht ausgeglichen werden konnte. Dieser sogenannte „Vorsprung“ ergibt sich auch aus der geübten Praxis, die westdeutsche Politiker ab 1990 in die neuen Bundesländer mitbrachten – Erfahrungen, die Ost- deutsche erst im Laufe der Jahre sammeln konnten. Die Er- fahrung mit dem politischen System der Bundesrepublik prädestinierte westdeutsche Anwärter dafür, für die parla- mentarische Funktionsweise wichtige Positionen zu beset- zen. Dazu gehören auch die Staatssekretäre in den Landesregierungen. Diese Positionen verlangen im beson-

67 deren Maße Menschen mit bestimmten fachlichen Qualifi- kationen, zum Beispiel Volljuristen mit langjähriger Erfah- rung, sowie eine gute Vernetzung innerhalb der eigenen Partei. Unter den Staatssekretären in den ostdeutschen Landesregierungen gibt es weiterhin viel weniger Ostdeut- sche. 2016 waren sie mit 46 Prozent in der Minderheit, 2004 waren es sogar nur 26 Prozent. Auf Bundesebene unterstrichen bisher vor allem Bundes- kanzlerin Angela Merkel und der frühere Bundespräsident

Michael Schönherr, Olaf Jacobs Joachim Gauck die Annahme, Ostdeutsche seien heute in den bundesdeutschen Spitzenpositionen angekommen. In der Bundesregierung werden 2020 zwei von 16 Posten von Ostdeutschen besetzt – inklusive der Kanzlerin. Auch das liegt etwas unter dem bundesweiten Bevölkerungsanteil Ostdeutscher von etwa 17 Prozent. Unter den Staatssekre- tären war der Anteil 2016 sogar noch geringer. Nur drei der 60 Staatssekretäre in der Bundesregierung hatten eine Ost-Biografie, 2004 waren es sogar noch sechs von insge- samt 51.

Eliten in der Wirtschaft

Die Wirtschaft in den neuen Bundesländern ist geprägt vom tiefgreifenden Transformationsprozess nach der Wie- dervereinigung. Trotz modernster Industrieanlagen ist die Wirtschaftskraft nach wie vor insgesamt viel geringer als in den alten Bundesländern. Die einhundert größten Unter- nehmen erreichen hier einen jährlichen Umsatz von rund 80 Milliarden Euro, also weniger als die Siemens AG in München allein. Die ostdeutsche Wirtschaft ist geprägt sche in den Chefetagen sitzen. Denn im Zweifel setzen von kleineren Unternehmen und Tochterfirmen großer Konzernzentralen eher auf „Eigengewächse“ bei der Füh- deutscher Konzerne, also von sogenannten verlängerten rung ihrer Tochterfirmen. Doch auch ein ostdeutscher Un- Werkbänken. ternehmer muss nicht allein auf heimisches Personal setzen, Das hat auch Auswirkung auf die Eliten in der Wirtschaft in wie die Erhebung von 2016 zeigt. Selbst wenn sich auch den neuen Bundesländern. Unter den Geschäftsführern die Eigentümergesellschaft des ostdeutschen Unterneh- und Vorstandsvorsitzenden der einhundert größten Unter- mens in den neuen Bundesländern befand, wurden über nehmen Ostdeutschlands kommt nur jeder zehnte aus Ost- zwei Drittel der Chefposten von Westdeutschen besetzt – deutschland (zehn Prozent). Bei den Erhebungen 2016 und 67 Prozent gegenüber 29 Prozent aus Ostdeutschland. 2004 lag der Anteil jeweils noch bei etwa einem Drittel. Elitentheoretische Erklärmuster nehmen auch Netzwerke in Das erklärt sich auch aus der wirtschaftlichen Entwicklung den Blick, in denen sich auch und gerade Wirtschaftseliten in dieser Zeit. Die größten ostdeutschen Unternehmen wur- organisieren. Diese basieren auf gegenseitigem Ver- den in zunehmendem Maße von westdeutschen oder aus- trauen, sozialstrukturellen Ähnlichkeiten und gemeinsa- ländischen Konzernen übernommen. Von 2004 bis 2016 men Laufbahnen.10 Hierbei scheinen westdeutschen Ma- sank der Anteil der originär ostdeutschen Unternehmen in nager einen zusätzlichen organisatorischen Vorsprung zu den Top 100 Ostdeutschlands von 63 auf 49 Prozent. Das haben. hat mit der insgesamt kleinteiligeren Unternehmensstruktur Es gibt noch einen weiteren Effekt, der den Mangel an Ost- zu tun. Denn im Umfeld der Globalisierung, die sich zeit- deutschen in den wirtschaftlichen Eliten zu erklären ver- gleich mit dem ostdeutschen Transformationsprozess wei- mag. Denn ausgeprägte Elitenstrukturen benötigen ein gut ter verstärkte, sind ostdeutsche Firmen eher Übernahme- ausgebildetes, kompetentes und ehrgeiziges Reservoir. kandidaten, als dass sie selbst zu expandierenden Konzer- Doch in Ostdeutschland gingen durch den schwierigen nen heranwachsen können. Transformationsprozess und die darauf folgende Abwan- Die tendenziell geringe Größe von Unternehmen und Un- derung viele Potenziale verloren. Allein von 1989 bis 1994 ternehmensgruppen erschwert dabei den Aufbau starker siedelten 660.000 der 18- bis 40-jährigen Ostdeutschen in Wirtschaftsstrukturen. Größere Unternehmen, besonders die alten Bundesländer über – etwa zwölf Prozent der Be- privatwirtschaftliche Industrie- und Dienstleistungsunter- völkerung in dieser Altersgruppe. Dem steht ein Bevölke- nehmen, benötigen größere Abteilungen für Forschung rungsrückgang von insgesamt nur 5,4 Prozent gegenüber.11 und Entwicklung sowie für die Verwaltung. Jene ostdeut- Damit ging den potenziellen ostdeutschen Eliten ein er- schen Tochterunternehmen, die mit einem Mutterkonzern hebliches Nachwuchsreservoir verloren. im Ausland oder in den alten Bundesländern verbunden Die Unterschiede in der Wirtschaftskraft zwischen Ost- sind, haben selten diese Abteilungen. Aufstiege über diese und Westdeutschland zeigen sich auch mit Blick auf die Bereiche in die Leitungsebene werden dadurch erschwert. einhundert größten Unternehmen der Bundesrepublik. Die Deswegen und durch den wachsenden Anteil verlängerter VNG AG mit Sitz in Leipzig ist das einzige ostdeutsche Un- Werkbänke ist es nachvollziehbar, dass weniger Ostdeut- ternehmen, das regelmäßig in dieser Liste der Top 100 zu

68 WER BEHERRSCHT DEN OSTEN? ELITEN IN POLITIK, WIRTSCHAFT UND JUSTIZ

Diese heterogene Verteilung erklärt sich aus dem Neuauf- bau der Justiz in den neuen Bundesländern ab 1990 nach den rechtstaatlichen Prinzipien der Bundesrepublik. Eine Verfassungsgerichtsbarkeit oder Verwaltungs-, Sozial- und Finanzgerichtszweige gab es in der DDR in dieser Form Lothar Späth, von 1978 bis nicht. Auch deshalb haben nur wenige in der DDR ausge- 1991 Ministerpräsident von bildete Juristen ihren Weg in die neu aufgebauten Ge- Baden-Württemberg, ist viel- richtsbarkeiten gefunden. Im Gegensatz dazu wurde der leicht der „Prototyp“ des west- Bedarf an Juristen zunächst aus den alten Bundesländern deutschen Elite-Managers, der gedeckt. Dass diese zu diesem Zeitpunkt relativ jung wa- in den neuen Ländern erfolg- ren und später die genannten Positionen besetzten, könnte reich war. Späth wurde im Juni eine Erklärung für das langsame Nachrücken ostdeutscher 1991 Geschäftsführer der Jen- Juristen in obere Landesgerichte sein. Doch die unmittel- optik GmbH in Jena und führte bar nach der Wiedervereinigung berufenen Richter stehen das Unternehmen 1998 an die heute häufig vor dem Ruhestand. So besteht in den nächs- Börse. Jenoptik ist eines der ten Jahren die Möglichkeit einer Veränderung in diesem wenigen Beispiele, dass ein Bereich. ehemaliges Industriekombinat Ein weiterer Grund können auch hier weiterhin Netzwerk- sich nach der Wende ökono- strukturen unter westdeutschen Richtern sein. Denn das misch erfolgreich behaupten Nachrücken Ostdeutscher verläuft erstaunlich langsam, konnte. Allerdings wurden wenn man auf die vorliegenden Daten aus den Jahren am 31. Dezember 1991 2004 und 2016 schaut. Unter den Vorsitzenden Richtern an 17.000 Menschen entlasssen. den Landesgerichten der neuen Bundesländer stieg der picture alliance/dpa Anteil Ostdeutscher von drei auf sechs Prozent, in der ge- samten Richterschaft stieg er von zwölf auf 13 Prozent. Auch an den Bundesgerichten gibt es ein Nachrücken, al- finden ist. Auch sie ist allerdings mehrheitlich im Besitz der lerdings auch hier ein sehr langsames. Die Bundesgerichte EnBW AG mit Sitz in Karlsruhe.12 Entsprechend finden sich betreffen dieselben Gerichtsbarkeiten wie auf Landes- unter den Geschäftsführern und Vorstandsvorsitzenden ebene. Wer hier Richter wird, hatte zuvor meist eine geho- der Top 100 in Deutschland lediglich zwei Personen mit bene Stellung in einem der obersten Landesgerichte inne ostdeutschen Wurzeln. – und ist in der Regel aus Westdeutschland. Denn von den Die für diese hohen Positionen verlangten Voraussetzun- fast 350 Bundesrichtern in Deutschland kamen 2019 ledig- gen konnten Ostdeutsche offenbar noch nicht in entspre- lich sieben aus Ostdeutschland. Bei der Erhebung 2016 chendem Umfang erbringen, oder sie werden in den Netz- waren es sogar nur drei. Der geringe Ost-Anteil auf dieser werken der entsprechenden Entscheider nicht wahrge- Ebene erklärt sich auch aus dem geringen Nachwuchsre- nommen. Dafür sind die fast ausschließlich in Westdeutsch- servoir der Landesgerichte in den neuen Bundesländern. land ansässigen Unternehmen in der Regel zu stark in ihren Wirtschaftsregionen verankert, aus denen sich die Spit- zenkräfte ebenfalls rekrutieren. Fazit und Ausblick

Mit Blick auf die betrachteten Bereiche wird deutlich, dass Landesrichter und Bundesrichter die Ostdeutschen auch fast 30 Jahre und damit eine Gene- ration nach der Wiedervereinigung in gesellschaftlichen Neben den politisch-administrativen und den wirtschaftli- Führungspositionen noch immer nicht adäquat repräsen- chen Eliten haben auch juristische Elitegruppen eine hohe tiert sind. Egal ob in der Landes- oder der Bundespolitik, in Bedeutung. Auf Landesebene gehören die Richter an den Unternehmen oder an Gerichten – der Anteil Ostdeutscher obersten Landesgerichten zu der betrachteten Elitegruppe, an Spitzenpositionen liegt unterhalb des entsprechenden und zwar jene in der ordentlichen sowie der Arbeits-, So- Anteils Ostdeutscher an der Bevölkerung. zial-, Verwaltungs-, Finanz- und Verfassungsgerichtsbar- Nach dem enormen Elitentransfer von West nach Ost gab keit. 2019 wurden an den obersten Landesgerichten in den es nur ein sehr langsames Nachrücken Ostdeutscher in die neuen Bundesländern 413 Richterstellen betrachtet, von Elitepositionen – sowohl in der Bundesrepublik als auch in denen 54 von Ostdeutschen besetzt waren, also rund 13 Ostdeutschland selbst. Im Zeitvergleich mit dem Jahr 2004 Prozent. Bezogen auf die ostdeutsche Bevölkerung sind die lässt sich insgesamt nur ein extrem langsames Nachrücken Richter an ostdeutschen Gerichten also stark unterreprä- auf sehr niedrigem Niveau feststellen, besonders in jenen sentiert. Die eigentliche Elite stellen die Präsidenten und Bereichen, in denen Posten eher langfristig und stark nach Vizepräsidenten der Gerichte sowie die vorsitzenden Rich- fachlicher Qualifikation vergeben werden oder wo das ter der einzelnen Senate dar, die sich aus der gesamten Ausscheiden von Vorgesetzten die Bedingung für einen Richterschaft rekrutieren. Zu dieser Gruppe gehörten 2016 Aufstieg ist. Erstaunlich ist allerdings, dass sich teilweise nur sechs Prozent. Den übrigen Anteil stellten Westdeut- gar keine Angleichung vollzieht, sondern die Anteile Ost- sche. deutscher sogar sinken.

69 Der leicht wachsende Anteil Ostdeutscher deutet aller- Gerade in der zugespitzten Debatte um Ost-Quoten lässt dings auch an, dass es Potenziale an Aufstiegschancen sich feststellen, dass die Ostdeutschen in Führungspositio- der ostdeutschen Eliten für die nächsten Jahre gibt. Dabei nen viel stärker eine Minderheit bilden als Frauen. Der Sinn scheint die Frage nach der Altersstruktur der Eliten eine der einer Ost-Quotierung von Verwaltungsposten ist aller- wesentlichen zu sein. In Rücksprachen mit den Angehöri- dings sehr umstritten, was allein schon an der immer gen der untersuchten Eliten wurde immer wieder deutlich, schwierigen Herkunftsabgrenzung von West- und Ost- dass langjährige Posteninhaber, die nach 1990 aus West- deutschen liegt. Dadurch könnten die zukünftige Debatte deutschland nach Ostdeutschland gekommen sind, vor um die Elitenrekrutierung und die damit verbundenen Her- dem Ruhestand stehen. Perspektivisch werden an ihre kunftsfragen in den kommenden Jahren an Relevanz verlie-

Michael Schönherr, Olaf Jacobs Stelle relativ junge Nachfolger treten, die möglicherweise ren. Allerdings muss gleichzeitig die Tatsache zur Kenntnis sehr häufig immer noch aus den alten, aber immer öfter aus genommen werden, dass dieses Thema auch nach einem den neuen Bundesländern stammen werden. Die Anglei- langen Zeitraum von 30 Jahren noch diskutiert wird. Die zu chung an die tatsächliche Bevölkerungsverteilung wird Beginn erwähnte Frage nach dem Ostdeutschen als Bür- wohl noch mehrere Generationen brauchen. Das durch ger zweiter Klasse wird auch von jüngeren Menschen be- den Wegzug Anfang der 1990er-Jahre verminderte Reser- jaht. Die Auseinandersetzungen in dieser Frage könnten voir potenzieller ostdeutscher Eliten ist dabei ebenso ein also noch länger andauern. Grund wie es die neu im Osten etablierten oder auf den Osten erweiterten und westdeutsch dominierten Netz- werke sind. LITERATUR Bluhm, Michael/Jacobs, Olaf (2016): Wer beherrscht den Osten? Ostdeut- sche Eliten ein Vierteljahrhundert nach der deutschen Wiedervereini- gung. Leipzig: Universität Leipzig, Institut für Kommunikations- und Me- dienwissenschaft. Bürklin, Wilhelm/Rebenstorf, Hilke u. a. (1997): Eliten in Deutschland. Rek- rutierung und Integration. Opladen. Deutsche Gesellschaft e. V. (Hrsg.) (2017): Ostdeutsche Eliten – Träume, Wirklichkeiten und Perspektiven. Berlin. Hoffmann-Lange, Ursula (1992): Eliten, Macht und Konflikt in der Bundes- republik. Opladen. Hoffmann-Lange, Ursula (2000): Elite West – Elite Ost? In: Der Bürger im

UNSERE AUTOREN Staat, 4/2000, S. 203–210.

Kollmorgen, Raj (2015): Aus dem Osten an die Spitze? In: Berliner Debatte Initial e. V.: Berliner Debatte Initial, 2/2015.

Michael Schönherr, geb. 1982 in Magdeburg, arbeitet in Leipzig als Autor an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Journa- ANMERKUNGEN lismus. Nach dem Studium der Politikwissenschaft sowie der Kom- 1 In der folgenden Untersuchung gelten als Ostdeutsche Personen, die munikations- und Medienwissenschaft an der Universität Leipzig in den neuen Bundesländern geboren wurden oder die den größeren Teil wandte er sich zahlreichen Buch- und Datenprojekten zu. Schwer- ihres Lebens bis 1989 in der DDR verbracht haben. punkte sind dabei deutsche Geschichte sowie aktuelle Themen in 2 Eigene Schätzung nach Angaben des Statistischen Bundesamtes und des Leibniz-Instituts für Länderkunde Leipzig: Der Anteil errechnet sich aus Politik und Gesellschaft. Seit 2015 beschäftigt er sich regelmäßig der DDR-Wohnbevölkerung im Herbst 1989 und dem Wanderungssaldo mit der regionalen und sozialen Herkunft sowohl ostdeutscher als zwischen den alten und den neuen Bundesländern von 1990 bis 2013. auch gesamtdeutscher Eliten. Berücksichtigt wurden dabei 750.000 Rückkehrer in die neuen Bundes- länder sowie ein Ausländeranteil von etwa 2,5 Prozent. Vgl. https://www. ifl-leipzig.de/fileadmin/user_upload/Forschung/Raumproduktionen_ MultiGeo/Re-Turn_ZA_Online-Erhebung.pdf [01.02.2020]. 3 Vgl. Raj Kollmorgen: Aus dem Osten an die Spitze? In: Berliner De batte Initial e. V.: Berliner Debatte Initial, 2/2015, S. 17. 4 Vgl. https://www.staatsregierung.sachsen.de/sachsen-monitor- 2018–5616. html [01.02.2020]. 5 Vgl. https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2019/kw43- de-ost-quote-663310 [01.02.2020]. 6 Wilhelm Bürklin/Hilke Rebenstorf u. a: Eliten in Deutschland. Rekrutie- rung und Integration. Opladen 1997. 7 Vgl. Michael Bluhm/Olaf Jacobs: Wer beherrscht den Osten? Ost- deutsche Eliten ein Vierteljahrhundert nach der deutschen Wiedervereini- gung. Leipzig: Universität Leipzig, Institut für Kommunikations- und Medi- enwissenschaft 2016. Olaf Jacobs arbeitet als Produzent und Autor von journalistischen 8 Vgl. Ursula Hoffmann-Lange: Eliten, Macht und Konflikt in der Bundes- republik. Opladen 1992, S, 400–407. Kollmorgen 2015, S. 18. Hierzu ge- Medien in Leipzig und ist Professor am Institut für Kommunikations- hören auch massenmediale Eliten, die hier aus Mangel an Fallzahlen aus- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig. Er nahm den gespart wurde. Anfang seiner Berufstätigkeit im MDR und ist heute Produzent bei 9 Vgl. Kollmorgen 2015, S. 20. 10 Kollmorgen 2015, S. 28. der Hoferichter & Jacobs GmbH. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit 11 Klaus Funken: Keine Wende am Arbeitsmarkt in Ostdeutschland – eine sind lange Fernsehformen und medienübergreifende Projekte. Ein Zwischenbilanz im Jahre 1996. Bonn 1996, S. 9f. Großteil der Produktionen erfolgt mit Beteiligungen aus dem Aus- 12 Vgl. https://vng.de/de/unternehmen [01.02.2020]. land oder erfahren eine internationale Auswertung. Von ihm ge- führte Produktionen erhielten unter anderem den Grimme-Preis sowie den europäischen Fernsehpreis und weitere Auszeichnun- gen.

70 UNGLEICHE SCHWESTERN IN OST UND WEST? Frauen in Ost und West: Angleichung nach drei Jahrzehnten? Martin Kopplin

Signal der Förderung gleichberechtigter Arbeitsbedingun- Die gesellschaftliche Position der Frau in der DDR war gen auch die nun bezifferte Produktivitätssteigerung ver- durchaus zwiespältig. Die Gleichberechtigungspolitik spricht. Die Anpassung der Lebensverhältnisse in Ost- und führte zur Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt und Westdeutschland folgt familienpolitisch einem bundes- zu deren rechtlicher und finanzieller Unabhängigkeit – deutschen Trend, bei dem die erwerbstätigen ostdeut- ein Gleichstellungsvorsprung, der sich bis heute in der schen Mütter eine Vorreiterrolle einnehmen. Der Auswei- beruflichen Autonomie ostdeutscher Frauen nieder- tung der Betreuung für Grundschulkinder ging ab 2005 schlägt. Möglichkeiten der selbstbestimmten Lebensge- der flächenmäßige Ausbau von Kita-Plätzen in West- staltung und politischen Partizipation jedoch blieben deutschland und die Einführung des Rechtsanspruchs auf beschränkt. Um die Verstetigung der bis heute zu kons- diese voraus. Ferner lassen sich Anknüpfungspunkte an die tatierenden Unterschiede zwischen ost- und westdeut- DDR-Familienpolitik beim Gesetz zum Elterngeld und zur schen Frauen erklären zu können, bedarf es der Ausein- Elternzeit von 2006 diskutieren. andersetzung mit den gesellschaftlichen Bedingungen Doch neben der auch politisch geförderten behutsamen der Frauen in der DDR sowie mit den Umbruchserfahrun- Annäherung haben sich 30 Jahre nach der Wiedervereini- gen während der Transformationszeit und den Anglei- gung demografische und sozioökonomische Unterschiede chungsprozessen nach der Wiedervereinigung. In ihren in Ost und West verschärft und gefestigt. Damit gehen ei- Wertemustern und Einstellungen haben sich ostdeutsche nerseits Annäherungen bei den Einstellungen, Wertemus- und westdeutsche Frauen weniger angenähert als ost- tern und Verhaltensweisen von ostdeutschen und west- und westdeutsche Männer. In den Werte- und Einstel- lungsmustern ostdeutscher Frauen spiegeln sich – so das Fazit von Martin Kopplin – Umbruchserfahrungen, öko- nomische und soziale Unsicherheiten sowie politische Enttäuschung wider.

Die Vorreiterrolle erwerbstätiger ostdeutscher Mütter

Im Januar 2020 stellte die einzige ostdeutsche Bundesmi- nisterin Franziska Giffey zusammen mit der Wirtschafts- wissenschaftlerin Christa Spieß ein Gutachten des Deut- schen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zu den Aus- wirkungen des Ausbaus der Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder auf die Erwerbstätigkeit von Müttern vor.1 Im gegenwärtigen Koalitionsvertrag wird sich darauf geeinigt, bis 2025 einen Rechtsanspruch auf die Ganz- tagsbetreuung für Grundschulkinder einzuführen. Der Bund stellt den Ländern hierfür zwei Milliarden Euro Fi- nanzhilfen zur Verfügung. Das Gutachten belege, dass die fiskalischen Effekte der ausgebauten Betreuung die mone- tären Aufwände weitestgehend ausgleichen. Es sei davon auszugehen, dass durch die Maßnahmen das Arbeitsvolu- men von Müttern mit Grundschulkindern um drei bis sieben Prozent steige – mit den entsprechenden Auswirkungen auf Steuern, Sozialausgaben und Transferleistungen. Doch habe die Regelung nur einen sehr geringen Effekt auf Müt- Die hohe Erwerbsbeteiligung von Frauen in der DDR, sozial- ter in Ostdeutschland. Denn verglichen mit Müttern in politische Errungenschaften und eine vergleichsweise rechtli- Westdeutschland sind bereits ein weitaus größerer Anteil che Gleichstellung führten im Vergleich zu westdeutschen von ihnen erwerbstätig, und dies mit einem deutlich höhe- Frauen zu einem Gleichheitsvorsprung ostdeutscher Frauen, ren Arbeitszeitvolumen.2 Es wird also ein Handlungsbe- der durch politische Entmündigung und hohe Doppelbela- darf gesehen, die Lebensverhältnisse der Mütter in West- stung in Beruf und Haushalt jedoch begrenzt blieb. Das Bild, deutschland an diejenigen in Ostdeutschland anzuglei- aufgenommen im Januar 1966, zeigt Frauen bei der Produk- chen, und dies mit einem Milliardenbetrag gefördert, tion von Fotoapparaten im VEB Pentacon in Dresden. wovon sich die Regierung neben dem familienpolitischen picture alliance/dpa

71 deutschen Frauen einher. Andererseits lässt sich die Ver- stetigung der Unterschiede zwischen ihnen feststellen. Diese Entwicklung wird anhand der Auswertung der Allge- meinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften

Martin Kopplin (ALLBUS) aufgezeigt, die von der Hoferichter & Jacobs Film- und Fernsehproduktion im Rahmen des MDR-Projekts „Ostfrauen“3 in Zusammenarbeit mit Frau Prof. Dr. Hilde- gard Maria Nickel von der Humboldt-Universität Berlin und dem GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften 2019 durchgeführt wurde. Um sich Erklärungen der bis heute haltenden Unterschiede ost- und westdeutscher Frauen anzunähern, bedarf es der Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Bedingun- gen der Frauen in der DDR und in Ostdeutschland in der Transformationszeit nach der Wiedervereinigung.

Gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen für Frauen in der DDR

Zügig nach der Staatsgründung förderte die DDR-Regie- rung systematisch die Integration der Frauen in den Ar- beitsmarkt, um dem massivem Arbeitskräftemangel nach dem Zweiten Weltkrieg und der Auswanderung von circa drei Millionen Menschen nach Westdeutschland vor dem Bau der Mauer zu entgegnen. Während die Bundesrepub- bei der Verteilung von unbezahlter Arbeit wurde durch die lik ab Anfang der 1960er-Jahre fehlende Arbeitskräfte erwerbszentrierte DDR-Frauenpolitik nicht in den Blick ge- durch das Anwerben von sogenannten Gastarbeitern und nommen. Durch die Integration der Frauen in Vollzeiter- Gastarbeiterinnen aus dem Ausland zu kompensieren ver- werbsarbeit erodierten nicht zwangsläufig die traditionel- suchte, stand diese Möglichkeit der DDR nur in geringem len Rollenbilder zu Hause. So waren sie weiter ungleich Umfang zur Verfügung. Die Normalisierung der Vollzeit- stärker als Männer mit der unbezahlten Reproduktionsar- erwerbsarbeit von Frauen entstand in der DDR aus der beit in Haushalt und Familie belastet, da sie nach Schicht- volkswirtschaftlichen Notwendigkeit und wurde staatlich ende den überwiegenden Anteil dieser Aufgaben über- proklamiert, während in Westdeutschland nach 1968 vor nahmen. Berufliche Qualifizierungen und politisches En- allem der Druck emanzipativer Bestrebungen der Frauen- gagement führten gegebenenfalls zu einer weiteren bewegung zum Motor der Transformation der Geschlech- Belastung. So wurde die wöchentliche Gesamtarbeitszeit terverhältnisse wurde. berufstätiger Mütter 1969 mit mehr als 93 Stunden bemes- Nach der Ideologie des selbsterklärten Arbeiter-und-Bau- sen, im Gegensatz zu knapp 59 Stunden auf Seiten der ern-Staates würde sich die Geschlechterdiskriminierung in Männer.6 Der Doppelbelastung wurde ab 1952 mit einem der angestrebten klassenlosen Gesellschaft ohnehin auf- monatlichen erwerbsarbeitsfreien Haushaltstag begeg- lösen. Die Sichtbarkeit der Frauen auf dem Arbeitsmarkt net.7 Zudem konnten ab 1976 alleinerziehende und später diente als Zeugnis, dass die Gleichberechtigung der Frau alle erwerbstätigen Mütter ein bezahltes Babyjahr als Er- verwirklicht sei und dementsprechend auch als Feigen- ziehungsurlaub in Anspruch nehmen. Maßnahmen, welche blatt, mit dem von Missständen abgelenkt wurde. So wurde die geschlechtliche Arbeitsverteilung im Haushalt aller- beispielsweise sexualisierte Gewalt öffentlich unzurei- dings weiter zementierten. chend thematisiert und eine Infrastruktur, die Betroffene Die Erwerbsarbeit von Müttern wurde durch die flächen- unterstützt, nur wenig gefördert.4 Qualifizierte Vollzeiter- deckende Ganztagsbetreuung von Kindern ab dem Baby- werbstätigkeit von Frauen wurde erst in eher schlechter be- alter bis zum Ende der Grundschulzeit sichergestellt. Wa- zahlten Dienstleistungsberufen und der Leichtindustrie üb- ren Krippen- oder Hortplätze knapp, wurden alleinerzie- lich. Die Einkommensdifferenzen zwischen verschiedenen hende Mütter hier gleichfalls wie bei der Suche nach Branchen waren in der DDR zwar vergleichsweise gering, Wohnraum bevorzugt. die zwischen den Geschlechtern aber deutlich ausge- Neben der Sicherstellung der Frauenerwerbsarbeit dien- prägt. Die Verdienste der Frauen waren sowohl in der DDR ten die sozialpolitischen Maßnahmen auch der demogra- als auch in der Bundesrepublik durchschnittlich ein Viertel phischen Steuerung. Ein weiteres Instrument hierfür waren niedriger als die der Männer.5 Und doch sind es häufig zinslose Ehekredite, die junge Eheleute aufnehmen und ökonomische Gründe gewesen, aus denen Frauen eine Er- durch die Geburt von Kindern abmindern konnten. Ab der werbsarbeit aufnahmen, da das Auskommen des familiä- Geburt des dritten Kindes galt der Kredit als getilgt, was ren Haushalts aufgrund der niedrigen DDR-Gehälter häu- umgangssprachlich als „abkindern“ bezeichnet wurde. In fig nur durch zwei Einkommensbezieher abgesichert wer- Ost wie in West setzte seit Mitte der 1960er-Jahre ein star- den konnte. Tätigkeiten, die in Westdeutschland als ker Geburtenrückgang ein. Mit der familienfördernden So- Männerberufe galten, wurden alsbald in der DDR auch zialpolitik stieg die Geburtenrate in der DDR wieder von von Frauen besetzt. Doch war das Vorrücken in Leitungspo- gut 1,5 Kindern pro Frau im Jahr 1975 auf 1,9 Kinder im Jahr sitionen durch die anhaltende Doppelbelastung erschwert. 1980 und blieb bis zur Wiedervereinigung im Osten höher Die geschlechterspezifische Diskriminierung von Frauen als im Westen.8

72 FRAUEN IN OST UND WEST: ANGLEICHUNG NACH DREI JAHRZEHNTEN?

gans der DDR – des Politbüros – waren in ihrem Kandida- tinnenstatus nicht stimmberechtigt. Insbesondere Lebens- entwürfe fernab der heteronormativen Familie fanden keine politische Anerkennung. Homosexuelle Handlungen wurden zumindest bereits 1968 straffrei, während in der Bundesrepublik der entsprechende Paragraph 175 erst Kinder spielen im Schulhort der 1994 abgeschafft wurde. Homosexualität blieb im öffentli- 6. Oberschule in Marzahn, chen Diskurs aber bis Mitte der 1980er-Jahre auch in der Ostberlin (Januar 1985). Die DDR ein Tabuthema. Erwerbsarbeit von Müttern Die gesellschaftliche Position der Frau in der DDR war also wurde durch die flächende- durchaus zwiespältig. Einerseits führte die Gleichberechti- ckende Ganztagsbetreuung gungspolitik zu einer vergleichsweise großen Aneignung von Kindern sichergestellt. des Arbeitsmarkts durch Frauen und zu deren rechtlicher Waren Krippen- und Hort- und finanzieller Unabhängigkeit – ein Gleichstellungsvor- plätze knapp, wurden alleiner- sprung der sich bis heute in der beruflichen Autonomie ost- ziehende Mütter hier ebenso deutscher Frauen niederschlägt. Die selbstbestimmte Le- wie bei der Suche nach Wohn- bensgestaltung darüber hinaus und Möglichkeiten der po- raum bevorzugt. litischen Partizipation blieben allerdings beschränkt. picture alliance/dpa

Umbruchserfahrungen in der Transformationszeit und Auf der anderen Seite war Empfängnisverhütung in der Angleichungsprozesse im wiedervereinigten DDR in Form der sogenannten Wunschkind-Pille kostenfrei Deutschland zugänglich. Zudem konnten Frauen in der DDR sehr viel selbstbestimmter als Frauen in der Bundesrepublik einen Der Wegfall der genannten sozial- und familienpolitischen Schwangerschaftsabbruch vornehmen. Ab 1972 wurden Maßnahmen durch die Ausweitung des bundesdeutschen mit der Fristenregelung Abtreibungen bis zur zwölften Rechts auf die neuen Bundesländer führte zu Verlusterfah- Schwangerschaftswoche erlaubt, während in der Bundes- rungen ostdeutscher Frauen in der Transformationszeit. republik 1995 eine de facto ähnliche Rechtsprechung in Nach der Wiedervereinigung fand die am Alleinverdie- Kraft trat, Abtreibungen allerdings innerhalb der Frist zwar nermodell ausgerichtete Frauen- und Arbeitsmarktpolitik straffrei, aber rechtswidrig bleiben. Eine obligatorische Westdeutschlands in Gesamtdeutschland Anwendung. Beratung vor dem Eingriff gab es in der DDR nicht. Die vormals berufstätigen Ostfrauen waren durch den Erwerbstätige Frauen waren in der DDR ökonomisch deut- flächendeckenden Abbau von Arbeitsplätzen während lich unabhängiger – sie erzielten ihr eigenes Einkommen der Deindustrialisierung der neuen Bundesländer, nicht und waren zudem rechtlich gleichgestellter als Frauen in selten mit der Erfahrung, dass ihre in der DDR erworbenen der Bundesrepublik. Sie konnten sich unbürokratischer und Qualifikationen auf dem gesamtdeutschen Arbeitsmarkt mit einem geringeren ökonomischen Risiko scheiden las- nicht gefragt sind, massenhaft mit dem Wegfall der eige- sen. Frauen reichten in der DDR doppelt so häufig wie nen Erwerbsmöglichkeiten und der aus ihnen resultieren- Männer die Scheidung ein, wodurch das Land mit die den gesellschaftlichen Anerkennung konfrontiert. Der Ins- höchste Scheidungsquote weltweit aufwies. titutionentransfer von West nach Ost installierte meist Die individuelle Besteuerung der Erwerbsarbeit ermög- westdeutsche Männer als neue Eliten im Osten. Dem Pro- lichte insbesondere geschiedenen Frauen eine existenzsi- jekt „Deutsche Einheit“ standen ostdeutsche Frauen auf- chernde Rente, während die Haushaltsbesteuerung der grund erwerbsbiografischer Einschnitte entsprechend we- Bundesrepublik und das Ehegattensplitting in der Regel nig euphorisch gegenüber. die besserverdienenden Männer begünstigt. Die Bund- Zudem wurde der gelebte Alltag in der DDR in den Medien Länder-Arbeitsgruppe Härtefallfonds kündigte an, noch im und in deutsch-deutschen Begegnungen nachträglich dis- Jahr 2020 ein Handlungskonzept zur Entschädigung von kreditiert, allen voran beim Thema der Kindererziehung. Beziehern und Bezieherinnen besonders geringer Renten Soziodemographische Daten, wie auch die unten näher durch die Anwendung des bundesdeutschen Renten- ausgeführten Ergebnisse der untersuchten Werte- und Ver- systems, darunter in der DDR geschiedene Frauen, vorzu- haltensmuster, zeigen, dass die Erfahrungen in der DDR legen. und der Transformationszeit nicht nur die in der DDR sozia- Die geschlechterpolitischen Errungenschaften in der DDR lisierten, sondern auch nachkommende Generationen gingen mit der politischen Entmündigung und Ruhigstel- weiter beeinflussen. lung emanzipatorischer Ansprüche von Frauen einher. Auf die schwierige Lage des ostdeutschen Arbeitsmarkts Frauenpolitische Entscheidungen wurden mitnichten in ei- reagierten insbesondere die jüngeren Frauen ab der nem partizipativen Prozess ausgehandelt, sondern den Nachwendezeit mit enormer Flexibilität. Sie strebten wei- Frauen an den Werkbänken von den älteren Männern in terhin qualifizierte Erwerbsbeteiligung in Vollzeit an und der Politik verkündet. Vier von 130 Ministerposten in der zogen dafür im Zweifelsfall der Arbeit nach. Allein bis 1993 Geschichte der DDR wurden an Frauen vergeben. Die ein- haben 1,4 Millionen Menschen Ostdeutschland verlassen, zigen zwei weiblichen Mitglieder des obersten Machtor- wobei sich die Gruppe der jungen Frauen dabei als die

73 mobilste erwies.9 Dies sorgte für eine beschleunigte Über- sche Institutionen und Wissenschaftsstandorte im Osten alterung und zu einem Männerüberschuss in vielen Regio- angesiedelt sind. Ostdeutsche Frauen reagieren darauf nen des Ostens. In der Transformationszeit stürzte die Ge- mit beruflicher Flexibilität und Durchsetzungsfähigkeit. Die burtenrate in Ostdeutschland auf unter ein Kind pro Frau höchsten Führungspositionen werden weiterhin häufig von

Martin Kopplin und erreichte erst 2008 wieder das Niveau Westdeutsch- Westdeutschen besetzt. Doch bundesweit sind immer wie- lands.10 der Frauen aus Ostdeutschland die ersten Frauen über- In den letzten 30 Jahren gab es eine stete Annäherung des haupt, die bestimmte Spitzenpositionen besetzen – so die Ostens an den Westen bei der Ausgestaltung des Famili- erste Bundeskanzlerin, die erste DAX-Vorstandsvorsit- enlebens. Bei der Geburt des ersten Kindes waren ost- zende und die erste Generalin der Bundeswehr.19 deutsche Mütter 1990 im Schnitt 24,6 Jahre alt und west- Die späte familienpolitische Neuorientierung Deutsch- deutsche Mütter 2,4 Jahre älter. 2001 gab es hierbei erst- lands ab den 2000er-Jahren förderte schrittweise die Er- mals keinen Altersunterschied mehr zwischen Ost und werbstätigkeit von Müttern und die partnerschaftliche Ar- West. 2018 waren ostdeutsche Mütter im Schnitt 29,2 Jahre beitsteilung innerhalb der Familie mit Maßnahmen wie der alt, westdeutsche 30,0 Jahre.11 Einführung von Elterngeld und Elternzeit, dem Ausbau von Die hohe Scheidungsrate in Ostdeutschland fiel nach den Kita-Plätzen und dem diesbezüglichen Rechtsanspruch rechtlichen Anpassungen und der Einführung des Tren- und ferner der Neufassung des Unterhaltsrechts nach nungsjahrs von 1990 bis 1991 um über 70 Prozent und sta- Trennung und Scheidung.20 Dies hat vor allem einen nach- bilisierte sich erst ab 2000 knapp unterhalb des westdeut- holenden Effekt in Westdeutschland. Die Betreuungsquote schen Niveaus.12 Dass heute im Osten weniger Ehen bei Kindern zwischen drei und fünf Jahren hat sich zwi- geschiedenen werden als im Westen dürfte auch an schen Ost und Westdeutschland bereits weitestgehend der lange Zeit niedrigeren Heiratsrate im Osten liegen. Auf angeglichen (März 2019: Ost: 94,2 %; West: 92,7 %). Bei der anderen Seite führten die vormals üblichen Familien- Kindern unter drei Jahren bestehen erhebliche Unter- gründungen in jüngerem Alter zu weniger stabilen Partner- schiede fort (Ost: 52,1 %; West: 30,3 %.).21 In Westdeutsch- schaften und zu mehr Kindern mit getrennt lebenden land schließen die Frauen schrittweise zu der höheren Er- Eltern.13 werbstätigkeit ostdeutscher Frauen auf.22 Ostdeutsche Die höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen in Ostdeutsch- Frauen lassen sich für die gesamtdeutsche Entwicklung land setzte sich in der Transformationszeit fort und besteht also in einiger Hinsicht als Vorreiterinnen bezeichnen, was auch heute. Doch die Dominanz des Familienmodells mit im öffentlichen Diskurs bisher kaum zur Kenntnis genom- zwei Erwerbstätigen im Haushalt erodierte. Männer und men wurde. Frauen in Ostdeutschland stehen mittlerweile auch dem Familienmodell mit einem (meist männlichen) Hauptverdie- ner und einer (meist weiblichen) Zuverdienerin offen ge- Gegenseitige Annäherung und zugleich verfestigte genüber.14 In Westdeutschland ist das letztgenannte Mo- Unterschiede bei Einstellungen und Verhalten dell weiterhin am meisten verbreitet, aber auch hier ist eine Diversifizierung der Lebensentwürfe festzustellen. Neben Obwohl die gesellschaftlichen Umwälzungen der Trans- den nach wie vor besseren Angeboten der Kinderbetreu- formationszeit die Lebensmodelle ostdeutscher Frauen he- ung führen Einstellungen zur Erwerbstätigkeit von Müttern rausgefordert haben, schlägt sich ihr damaliger Gleich- in Ostdeutschland häufiger zu einer gleichmäßigeren Ver- stellungsvorsprung noch heute in ihren Werte- und Einstel- teilung von reproduktiver Arbeit im Haushalt und Erwerbs- lungsmustern nieder. Auf der anderen Seite führten die tätigkeit zwischen Männern und Frauen,15 wobei auch in Umbruchs- und Verlusterfahrungen zu einer reservierten Ostdeutschland Mütter mehr Zeit mit Haushalts- und Erzie- Haltung gegenüber der Politik, Forderung nach mehr sozi- hungsarbeit verbringen als Väter.16 Westdeutsche Männer aler Gerechtigkeit und einer skeptischen Einschätzung der artikulieren häufiger Bedenken, dass die Erwerbstätigkeit Zukunft. Da dies auch noch bei den nachfolgenden Gene- der Mütter den Kindern schaden könne, während im Osten rationen messbar ist, liegt es nahe, dass die Erfahrungen die Berufstätigkeit der Mütter durch generationenüber- als „Sozialisationsgepäck“ nachwirken. greifende Erfahrungen selbstverständlich wurde. Im Osten Seit 1980 erhebt das GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwis- erwirtschaften Frauen dank höherer Qualifikationen oder senschaften mit der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage ihrer beruflichen Flexibilität öfter das Primäreinkommen der Sozialwissenschaften (ALLBUS) in der Regel alle zwei oder das einzige Einkommen, da im Vergleich zu West- Jahre Indikatoren zur Einstellung, zu Verhaltensweisen und deutschland ostdeutsche Männer häufiger von Erwerbslo- zur Sozialstruktur in Deutschland auf Grundlage repräsen- sigkeit betroffen sind. In Mecklenburg-Vorpommern, Bran- tativer Stichproben der Bevölkerung. Seit 1991 werden die denburg und Sachsen lag im Juni 2018 die Beschäftigungs- umfragebasierten Daten auch in Ostdeutschland erhoben, quote von Frauen über der der Männer.17 Die niedrigeren was den Vergleich zwischen den alten und den neuen Bun- Einkommen in Ostdeutschland sorgen für zusätzlichen desländern ermöglicht. Da auch heute noch knapp 90 Pro- Druck, in Vollzeit erwerbstätig zu sein. Die Einkommensun- zent der ostdeutschen Wohnbevölkerung auch in Ost- terschiede zwischen den Geschlechtern fallen im Osten deutschland sozialisiert wurden,23 geben die Daten einen geringer als im Westen aus, da mittlere Führungspositio- Einblick in die Werte und Lebenswelten ostdeutscher nen fast gleich häufig mit ostdeutschen Männern und Frauen und Männer. Die aktuelle Erhebungswelle ALLBUS Frauen besetzt werden.18 2018 wurde Anfang des Jahres 2019 veröffentlicht. Bis heute bestehen unterschiedliche ökonomischen Bedin- Unter den befragten ostdeutschen Frauen gibt seit Jahr- gungen bei Einkommen und Vermögen in Ost und West fort zehnten ein relativ konstanter Anteil von knapp 40 Prozent und die Voraussetzungen, um in Ostdeutschland Karriere an, ganztägig berufstätig zu sein. Der Abstand von west- zu machen, sind schlechter, auch da weniger zukunfts- deutschen Frauen verringerte sich von 18 Prozentpunkten trächtige Unternehmen, politische und verwaltungstechni- 1991 auf sieben Prozentpunkte 2018. Bei ihnen dominieren

74 Halbtagsbeschäftigungen und Nebentätigkeiten als Be- FRAUEN IN OST UND WEST: schäftigungsform. Die angegebenen Stunden pro Woche, ANGLEICHUNG NACH DREI JAHRZEHNTEN? die mit Erwerbstätigkeit verbracht werden, gingen in den letzten Jahrzehnten unter Ostfrauen stark zurück. 1991 ar- beiteten sie nach eigener Auskunft im Schnitt 40,4 Stunden schen verbreitet und wurde von Frauen im Osten noch und heute noch 36,6 Stunden. Gegenwärtig geben Frauen einmal häufiger genannt. Diese Sorge wird gegenwärtig im Westen an, im Schnitt 33,2 Stunden der Erwerbsarbeit nur noch von jeder zehnten Ostfrau angegeben. Dies ist nachzugehen – Männer im Osten 42,3 Stunden und Män- noch immer der höchste Wert unter den untersuchten ner im Westen 43,3 Stunden. Die Annäherung beim Ar- Gruppen; er liegt aber nur knapp über den Angaben der beitsvolumen geht mit einer immer ähnlicheren Bewertung Westdeutschen. der eigenen wirtschaftlichen Lage von Ost- und Westdeut- Ostdeutsche Frauen geben an, heute so zufrieden wie nie schen einher. Seit 2016 geben nur noch rund zehn Prozent mit ihrer Lebenssituation zu sein. Seit 2010 verbesserte sich der Ostdeutschen an, dass ihre wirtschaftliche Lage die Beurteilung der allgemeinen Lebenszufriedenheit bei schlecht sei, so wenige wie nie zuvor. ihnen so stark wie bei keiner anderen Gruppe. Bis 2014 lag Ostdeutsche ordneten sich in den 1990ern überwiegend die Einschätzung der Zufriedenheit gemeinsam mit derjeni- der Arbeiter- und Unterschicht zu. Bei der eigenen Schicht- gen der Ostmänner auf niedrigem Niveau. Seitdem stei- einstufung haben sich ostdeutsche Frauen stärker als ost- gert sich im Mittel die angegebene Zufriedenheit der Ost- deutsche Männer an die Westdeutschen angenähert, die frauen erheblich, die der Ostmänner nur gering. In der Be- sich seit Jahrzehnten zu knapp zwei Dritteln selbst der Mit- wertung der eigenen Lebenszufriedenheit haben die telschicht zuordnen. Ostfrauen haben unabhängig von ih- ostdeutschen Frauen zu den westdeutschen Frauen mittler- rer tatsächlichen, häufig prekären sozialen Situation selte- weile aufgeschlossen. ner das Gefühl als andere Gruppen, persönlich in existen- Dennoch geben mehr als die Hälfte der ostdeutschen zieller Not zu leben. Frauen an, nicht ihren gerechten Anteil am Lebensstandard Die Furcht, den Arbeitspatz zu verlieren, war bis 2010 be- zu erhalten, im Westen nur gut jede dritte Frau. Ostfrauen deutend häufiger unter Ostdeutschen als unter Westdeut- sind mehrheitlich mit der Gerechtigkeit in Deutschland un-

Abbildung 1: Furcht vor Stellenverlust (Arbeitnehmer/-innen) Quelle: Eigene Darstellung, Martin Kopplin.

Abbildung 2: Allgemeine Lebens- zufriedenheit

Vertikalachse: 0 = Ganz und gar unzufrieden […] 10 = Ganz und gar zufrieden. Quelle: Eigene Darstellung, Martin Kopplin.

75 Martin Kopplin

Abbildung 3: Gerechtigkeit und soziale Unterschiede Quelle: Eigene Darstellung, Martin Kopplin.

Abbildung 4: Links-Rechts-Selbsteinstufung Befragte/r

Vertikalachse: 1 = links […] 10 = rechts. Quelle: Eigene Darstellung, Martin Kopplin.

zufrieden. Nur jede siebte Ostfrau schätzt die sozialen Un- Drei von vier Ostfrauen geben an, dass sie der Meinung terschiede im Land als gerecht ein, während doppelt so seien, Politiker und Politikerinnen würden sich nicht um ihre viele westdeutsche Männer sie für gerecht halten. Die Zu- Gedanken kümmern. Vor zehn Jahren waren sogar noch stimmung zu dieser Frage lässt insbesondere unter west- rund 85 Prozent der Ansicht, entsprechend schlecht poli- deutschen Frauen nach, die nur noch geringfügig häufiger tisch repräsentiert zu werden. Es wird derweil selten an- als Ostdeutsche angeben, die sozialen Unterschiede als gegeben, dass sie die Möglichkeit in Betracht ziehen, Poli- gerecht zu empfinden. tik selbst aktiv mitzugestalten. 2008 gab noch jede vierte Die mehrheitlich konstatierten Gerechtigkeitsdefizite wer- Frau in Ost und West an, sich vorstellen zu können, selbst den von der Forderung nach einer Politik des sozialen Aus- in einer politischen Gruppe aktiv zu werden. Zehn Jahre gleichs flankiert. Knapp 90 Prozent der Ostfrauen geben später verringerte sich der Anteil im Osten auf nur noch an, dass die soziale Sicherung das wichtigste Regierungs- jede fünfte Frau, während er im Westen stieg und dies ak- ziel sein sollte. Eine Umverteilung zu Gunsten einfacher tuell für knapp jede dritte Frau denkbar sei. Die Teilnahme Leute würden drei Viertel von ihnen gutheißen. Damit mes- an politischen Partizipationsformen wie Demonstrationen sen sie sozialpolitischen Forderungen einen größeren Stel- oder Diskussionsrunden war für Ostfrauen lange Zeit lenwert bei als ostdeutsche Männer und Westdeutsche. selbstverständlicher als für Frauen aus dem Westen. Doch Darin liegt möglicherweise begründet, warum sich Ost- mittlerweile geben Ostfrauen am seltensten an, sich poli- frauen auf einer politischen Links-Rechts-Skala weiter links tisch zu engagieren. Wohlmöglich sorgte Ernüchterung einordnen als alle anderen Gruppen. Während die ost- nach der Transformationszeit zu der zurückhaltenden Ein- deutschen Männer sich in den letzten zehn Jahren zuneh- schätzung der Wirksamkeit des eigenen politischen Han- mend weiter rechts sehen, verorten sich ostdeutsche Frauen delns und zu einem Misstrauen gegenüber öffentlichen In- durchschnittlich etwas links der Mitte. Seit der Wiederver- stitutionen. einigung geben konstant knapp 80 Prozent der Frauen im Das Vertrauen gegenüber politischen Institutionen wie Osten an, sie seien der Meinung, dass der Sozialismus ei- dem Bundestag, der Bundesregierung und den politischen gentlich eine gute Idee sei, die nur schlecht ausgeführt Parteien, aber auch gegenüber den Medien und der Wis- wurde. Ostdeutsche Männer waren stets seltener dieser senschaft ist unter ostdeutschen Frauen geringer als unter Ansicht – allerdings zuletzt auch zu knapp 70 Prozent. westdeutschen Frauen und Männern, nimmt aber langfris- tig zu. Das ohnehin höhere Vertrauen in politische Instituti-

76 onen unter Westdeutschen steigt ebenfalls an, weswegen FRAUEN IN OST UND WEST: es zu keiner Annäherung der Werte zwischen Ost- und ANGLEICHUNG NACH DREI JAHRZEHNTEN? Westdeutschen kommt. Ostdeutsche Frauen sind seit der Wiedervereinigung und bis heute die Gruppe, welche mit der Demokratie in pen am niedrigsten. Fast die Hälfte ist der Meinung, man Deutschland am wenigsten zufrieden ist. Auch in dieser müsse den Mitmenschen gegenüber vorsichtig sein. Denk- Hinsicht gibt es nur eine sehr geringe Annäherung an die bar ist, dass die Erfahrung der staatlichen Überwachung Einstellungen der Westdeutschen. in der DDR, die auch private soziale Beziehung korrum- Ostfrauen sind nicht zuletzt aufgrund eigener Prekaritäts- pierte, bis heute einen Einfluss darauf hat. Seit Beginn der erfahrungen um die Lage der „einfachen Leute“ besorgt. 1990er-Jahre denken vor allem Ostfrauen, dass nicht nach Vier von fünf Ostfrauen erwarten, dass sich die Lage dieser der möglichen -Vergangenheit der Mitmenschen ge- Gruppe verschlechtert – so viele wie in keiner anderen fragt werden sollte, eine Ansicht, die in den letzten zwölf Gruppe. Fast die Hälfte der ostdeutschen Frauen, aber nur Jahren allerdings zurückgeht. knapp jede dritte westdeutsche Frau, stimmt der Aussage Wohlmöglich speist sich die reservierte Einschätzung des zu, dass es besser sei, bei „dieser Zukunft“ keine Kinder gesellschaftlichen Zusammenlebens aber auch aus den Um- mehr in die Welt zu setzen. Nach den Ergebnissen des ALL- brüchen nach der Wiedervereinigung. Umzüge, berufliche BUS 2018 kann angenommen werden, dass die Bevölke- Neuanfänge und wachsende soziale Unterschiede belaste- rungsentwicklung im Osten also nicht nur von der dramati- ten die sozialen Zusammenhänge in der Nachwendezeit. schen demografischen Entwicklung abhängt, sondern Mehr als drei Viertel der Frauen im Osten sind der Mei- auch die wenig zuversichtliche Sicht auf die Zukunft den nung, dass sich die Mehrheit nicht für ihre Mitmenschen Kinderwunsch beeinflussen könnte. interessiert, ebenfalls mehr als in allen anderen Gruppen. Der gesellschaftliche Zusammenhalt wird von ostdeut- Im Vergleich zu 1992 geben 2018 mit 30 Prozent nur noch schen Frauen pessimistisch eingeschätzt. Nur jede fünfte halb so viele Ostfrauen an, dass es in ihrer Umgebung Ge- Frau im Osten ist der Ansicht, dass man seinen Mitmen- genden gibt, in die sie nachts nicht allein gehen möchten. schen trauen könne. Seit 30 Jahren ist die Zustimmung zu Unter Westdeutschen Frauen sind es mit 34 Prozent gering- dieser Frage bei ihnen im Vergleich zu den anderen Grup- fügig mehr. Die Unterschiede bei den Fragen des zwi-

Abbildung 5: Politische Partizipation Quelle: Eigene Darstellung, Martin Kopplin.

Abbildung 6: Demokratiezufriedenheit

Vertikalachse: 1 = Sehr zufrieden, 2 = ziemlich zufrieden, 3 = etwas zufrieden, 4 = etwas unzufrieden, 5 = ziemlich unzufrieden, 6 = sehr unzufrieden. Quelle: Eigene Darstellung, Martin Kopplin.

77 Martin Kopplin

Abbildung 7: Vertrauen zu Mitmenschen Quelle: Eigene Darstellung, Martin Kopplin.

schenmenschlichen Vertrauens und des gesellschaftlichen Nach der Wiedervereinigung gaben Frauen in Ost wie in Miteinanders haben sich in der Vergangenheit wohlmög- West häufiger als Männer an, dass ihnen die Bürger und lich also auch aus verschiedenen Unsicherheitsempfindun- Bürgerinnen im jeweils anderen Teil Deutschlands fremd gen ergeben; heute lässt sich dieser Zusammenhang aber sind. Dies äußert gegenwärtig noch immer knapp jede nicht mehr herstellen. fünfte Frau im Osten, ein etwas höherer Anteil als bei den Ostdeutsche sind dem Thema Zuwanderung gegenüber Frauen in Westdeutschland. Diese Ansicht ist unter ostdeut- weiterhin deutlich negativer eingestellt als Westdeutsche. schen Männern am seltensten verbreitet, nur jeder Achte Unter ostdeutschen Frauen sind Ressentiments gegen Zu- würde dem zustimmen. Also muss zumindest auf Seiten der wanderer etwas seltener verbreitet als unter ostdeutschen Frauen festgehalten werden, dass die angesprochenen An- Männern. Gut jede dritte Frau im Westen, aber fast jede gleichungen der Lebensbedingungen und Einstellungen bei zweite Frau im Osten hält Deutschland für „gefährlich über- einer nicht unwesentlichen Minderheit noch nicht dazu ge- fremdet“. Nur vier von zehn Frauen im Osten glauben, dass führt haben, sich als zusammengewachsen zu empfinden. Einwanderer gut für die deutsche Wirtschaft seien, wäh- rend im Westen zumindest fünf von zehn Frauen davon überzeugt sind. Ebenfalls vier von zehn Frauen im Osten würden es befürworten, den Zuzug von Geflüchteten zu un- terbinden – knapp drei von zehn Westfrauen sind dieser Ansicht. Nur eine Minderheit von gut einem Drittel der Ostfrauen war Anfang der 1990er-Jahre der Meinung, dass die Wie- dervereinigung mehr Vorteile als Nachteile für Ostdeutsch- land gebracht habe. Heute sind sie zwar größtenteils die- ser Ansicht, allerdings etwas seltener als ostdeutsche Männer. Seit Anfang der 1990er Jahre ist die überwiegende Mehr- heit der ostdeutschen Frauen der Meinung, dass die Wie- dervereinigung Westdeutschland mehr Vorteile als Nach- teile gebracht habe. Es gibt eine erstaunliche Angleichung des Westens an den Osten in dieser Einschätzung. West- deutsche sind 2018 erstmals ebenfalls mehrheitlich dieser Ansicht. Der Vergleich der verschiedenen Systeme unterscheidet sich zwischen der Generation, die in der DDR sozialisiert wurde und der Nachwendegeneration: „Mit der DDR wer- den aus ostdeutscher Sicht rückblickend mehrheitlich Sys- temvorteile in den Bereichen soziale Gerechtigkeit, soziale Absicherung, Schutz vor Verbrechen, Kinderbetreuung, Bildung und sozialer Zusammenhalt verbunden. Wird je- Zekwia-Kinderwagen aus den 1950er-Jahren im Deutschen doch beim 35. Lebensjahr eine Trennlinie gezogen, so er- Kinderwagenmuseum in Zeitz (Sachsen-Anhalt). Es dürfte weist sich, dass es vor allem ältere Ostdeutsche sind, die kaum einen Bürger der DDR geben, der nicht in einem für die DDR obigen Bonus vergeben. Demgegenüber hat Zekwia-Kinderwagen aus Zeitz gelegen hat. Durch die Inte- sich für jüngere Ostdeutsche bis auf die Bereiche Bildung, gration der Frauen in Vollzeiterwerbsarbeit erodierten nicht sozialer Zusammenhalt und Kinderbetreuung die Lebenssi- zwangsläufig die traditionellen Rollenbilder. Sie waren tuation im geeinten Deutschland verbessert.“24 ungleich stärker als Männer mit der Reproduktionsarbeit in Haushalt und Familie belastet. picture alliance/dpa

78 Fazit FRAUEN IN OST UND WEST: ANGLEICHUNG NACH DREI JAHRZEHNTEN? Die hohe Erwerbsbeteiligung von Frauen in der DDR, sozi- alpolitische Errungenschaften insbesondere für Mütter und eine weitgehende rechtliche Gleichstellung führten im Bluhm, Michael/Jacobs, Olaf (2016): Wer beherrscht den Osten? Ostdeut- sche Eliten – ein Vierteljahrhundert nach der deutschen Wiedervereini- Vergleich zu westdeutschen Frauen zu einem Gleichstel- gung. URL: https://www.mdr.de/heute-im-osten/wer-beherrscht-den- lungsvorsprung ostdeutscher Frauen, der durch politische osten-studie-100-downloadFile.pdf [04.02.2020]. Entmündigung und der ungleich verteilten hohen Doppel- Bundesagentur für Arbeit, Statistik/Arbeitsmarktberichterstattung, Be- richte (2019): Blickpunkt Arbeitsmarkt – Die Arbeitsmarktsituation von belastung in Beruf und Haushalt allerdings begrenzt blieb. Frauen und Männern 2018. URL: https://statistik.arbeitsagentur.de/ Ostdeutsche Frauen bewältigten aus diesem Gleichstel- Statischer-Content/Arbeitsmarktberichte/Personengruppen/generi- lungsvorsprung heraus die Herausforderungen der Trans- sche-Publikationen/Frauen-Maenner-Arbeitsmarkt.pdf [04.02.2020]. Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (2018a): Zusammengefasste formationszeit mit ausgeprägtem Pragmatismus und vertei- Geburtenziffern in West- und Ostdeutschland 1945 bis 2016. URL: digten oftmals ihre berufliche Unabhängigkeit durch Mo- https://www.bib.bund.de/DE/Fakten/Fakt/F09-Zusammengefasste- bilität und Anpassungsfähigkeit. Zu den Umbruchserfah- Geburtenziffer-West-Ost-ab-1945.html [04.02.2020]. Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (2018b): Durchschnittliches Alter rungen im wiedervereinigten Deutschland gehören aber der Mütter bei Geburt des 1. Kindes in der bestehenden Ehe in Deutsch- auch ökonomische und soziale Unsicherheit, mitunter der land, West- und Ostdeutschland, 1960 bis 2016. URL: https://www.bib. Verlust sozialer Anerkennung und politische Enttäuschung. bund.de/DE/Fakten/Fakt/F20-Alter-Muetter-bei-Erstgeburt-Deutsch- land-West-Ost-ab-1960.html [04.02.2020]. Neben den Erfahrungen aus der Vergangenheit wirken Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2015.): auch weiterhin Unterschiede in der Einkommens- und Ver- 25 Jahre Deutsche Einheit. Gleichstellung und Geschlechtergerech- mögenssituation einer Annäherung an die Verhaltens- und tigkeit in Ostdeutschland und Westdeutschland. URL: https://www. bmfsfj.de/blob/93168/8018cef974d4ecaa075ab3f46051a479/25- Wertemuster in Ost und West entgegen. jahre-deutsche-einheit-gleichstellung-und-geschlechtergerechtigkeit- Die Ergebnisse des ALLBUS 2018 zeigen, dass die Erfah- in- ostdeutschland-und-westdeutschland-data.pdf [04.02.2020]. rungen aus der DDR und der Transformationszeit auch Ein- Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2017): 3. At- las zur Gleichstellung von Frauen und Männern in Deutschland. URL: fluss auf nachkommende Generationen haben. Auch wenn https://www.bmfsfj.de/blob/114006/738fd7b84c664e8747c8719a16 sich die persönliche Lebenssituation ostdeutscher Frauen 3aa7d9/3--atlas-zur-gleichstellung-von-frauen-und-maennern- mehrheitlich verbessert haben mag, empfinden sie die so- in-deutschland-deutsch-data.pdf [04.02.2020]. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2020): Aus- ziale Lage im Land als ungerecht, fällt ihre Bewertung von bau der Ganztagsbetreuung finanziert sich zum Teil selbst [Pressemit- Demokratie und Wiedervereinigung reserviert aus und ihr teilung] URL: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/aktuelles/presse/presse- Vertrauen in Politik und Institutionen sowie in die Wirksam- mitteilungen/ausbau-der-ganztagsbetreuung-finanziert-sich-zum-teil- selbst/144602 [04.02.2020]. keit des eigenen politischen Handelns ist vergleichsweise Geisler, Esther/Köppen, Katja/Kreyenfeld, Michaela/Trappe, Heike/ gering. Pollmann-Schult, Matthias (2018): Familien nach Trennung und Schei- Bei vielen Wertvorstellungen und Einstellungen wie der dung in Deutschland. URL: https://opus4.kobv.de/opus4-hsog/front- door/deliver/index/docId/2493/file/Familien_Trennung_Scheidung_ Bewertung der wirtschaftlichen Lage, der Gerechtigkeits- v2.pdf [04.02.2020]. empfindung, der Einschätzung der Zukunft, Fragen der po- Grünheid, Evelyn (2018): Teilzeitarbeit auf dem Vormarsch. Differenzie- litischen Repräsentation und Partizipation sowie Fragen rungen im Erwerbsverhalten von Frauen in Deutschland. In: Bundes- institut für Bevölkerungsforschung. Bevölkerungsforschung Aktuell. des gesellschaftlichen Miteinanders haben sich ostdeut- URL: https://www.bib.bund.de/Publikation/2018/pdf/Bevoelkerungs- sche und westdeutsche Frauen weniger angenähert als forschung-Aktuell-4–2018.pdf?__blob=publicationFile&v=2 ost- und westdeutsche Männer. [04.02.2020]. Holtmann, Everhard/Jaeck, Tobias (2015): Was denkt und meint das Volk? Eine Angleichung des Ostens an den Westen gibt es beim Deutschland im dritten Jahrzehnt der Einheit. In: Aus Politik und Zeit- Zeitpunkt der Familiengründung und der Ausgestaltung geschichte, 33–34/2015, S. 35–45. der Familienmodelle. Einige sozialpolitische Maßnahmen Köppen, Katja/Trappe, Heike (2019): The Gendered Division of Labor and Its Perceived Fairness: Implications for Childbearing in Germany. De- der DDR finden sich heute in der bundesdeutschen Gesetz- mographic Research, 40 (48), pp. 1413–1440. URL: https://www.demo- gebung wieder. Die aktuelle Bundesregierung fördert den graphic-research.org/volumes/vol40/48/40–48. Ausbau der Ganztagskinderbetreuung und der Frauener- pdf#search=%22heike%20trappe%22 [04.02.2020]. Nickel, Hildegard Maria (2011): Die „Frauenfrage“ in Ost und West – werbsarbeit, mit der Konsequenz, dass sich die Erwerbs- Arbeitsmarkt und Geschlechterpolitik: Der Lebenszyklus von Frauen muster westdeutscher Frauen an die der ostdeutschen findet wenig Beachtung. In: Lorenz, Astrid (Hrsg.): Ostdeutschland und Frauen annähern. Die Vorreiterrolle ostdeutscher Frauen die Sozialwissenschaften. Bilanz und Perspektiven 20 Jahre nach der Wiedervereinigung. Opladen, S. 208–222. spielt im öffentlichen Diskurs nur eine marginale Rolle und Schmitt, Christian/Trappe, Heike (2014): Geschlechterarrangements und sollte eine größere Würdigung erfahren. Die stärkere The- Ehestabilität in Ost- und Westdeutschland. SOEPpapers on Multidisci- matisierung des gegenseitigen Anpassungsprozesses von plinary Panel Data Research 682. DIW Berlin. URL: https://www.diw.de/ documents/publikationen/73/diw_01.c.482199.de/diw_sp0682.pdf Ost und West und der besonderen Lebenslagen west- und Statistisches Bundesamt (2017): Ehescheidungen je 1000 Einwohner 1993 ostdeutscher Frauen hat das Potenzial, die von nicht weni- bis 2015. URL: https://www.destatis.de/GPStatistik/servlets/MCRFile- gen artikulierte Fremdheit gegenüber den Menschen aus NodeServlet/DEHeft_derivate_00032289/2010140157004.pdf [04.02.2020]. dem anderen Teil Deutschlands abzubauen. Statistisches Bundesamt (2019a): Durchschnittliches Alter der Mutter bei der Geburt des Kindes 2018. URL: https://www.destatis.de/DE/ Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Geburten/Tabellen/ geburten-mutter-biologischesalter.html (04.02.2020]. LITERATUR Statistisches Bundesamt (2019b): Betreuungsquoten der Kinder unter 6 Jahren in Kindertagesbetreuung am 01.03.2019 nach Ländern. URL: Bach, Stefan/Jessen, Jonas/Haan, Peter/Peter, Frauke /Spieß, C. Kathari- https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Soziales/ na/Wrohlich, Katharina (2020): Fiskalische Wirkungen eines weiteren Kindertagesbetreuung/Tabellen/betreuungsquote-2018.html Ausbaus ganztägiger Betreuungsangebote für Kinder im Grundschul- [04.02.2020]. alter. Gutachten für das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen Stephan, Helga/Wiedemann, Eberhard (1990): Mitteilungen aus der und Jugend Berlin. DIW Berlin: Politikberatung kompakt 146. URL: Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Lohnstruktur und Lohndifferenzie- https://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.702895. rung in der DDR. URL: http://doku.iab.de/mittab/1990/1990_4_ de/diwkompakt_2020–146.pdf [04.02.2020]. mittab_ stephan_wiedemann.pdf [04.02.2020].

79 Stöckmann, Peter (1973): Mehr Freizeit für berufstätige Mütter. In: Mitteil- ANMERKUNGEN lungen des Instituts für Bedarfsforschung 1/1973, S. 14. Mitteilungen des Instituts für Bedarfsforschung 3/196, S. 10–13. Nach: Kaminsky, 1 Vgl. BFSFJ 2020. Anna (2017): Frauen in der DDR. Berlin. 2 Bach u. a. 2020, S. 11f f. Trappe, Heike (2017): Ungleiche Schwestern und Brüder in Ost und West? 3 Der Begriff „Ostfrauen“ wird synonym zu „Ostdeutsche Frauen“ ver-

Martin Kopplin [Vortragsfolien] Vortrag im Kunstmuseum Schwaan am 17.11.2017. wendet und bezeichnet Personen weiblichen Geschlechts, die in der DDR Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs bzw. Ostdeutschland sozialisiert wurden oder ihr Leben überwiegend in (2019): Fallstudie „Sexueller Kindesmissbrauch in Institutionen und Fa- Ostdeutschland verbracht haben. milien in der DDR“ – Zusammenfassung. URL: https://www.aufarbei- 4 Vgl. Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Miss- tungskommission.de/wp-content/uploads/2019/03/Zusammenfas- brauchs 2019, S. 1. sung-Fallstudie_Sexueller-Kindesmissbrauch-in-Insitutionen-und-Fa- 5 Vgl. Trappe 2007, S. 23. Nach einer Mitteilung aus der Arbeitsmarkt- milien-in-der-DDR.pdf [04.02.2020]. und Berufsforschung von 1990 werden für 1988 wiederum Gehaltsunter- schiede zwischen Arbeiterinnen und Arbeitern von rund 17 Prozent in der DDR und rund 30 Prozent in der Bundesrepublik gemessen; vgl. Stephan/ Wiedemann 1990, S. 557. 6 Vgl. Stöckmann 1973, S. 14. 7 Der Haushaltstag kann ab 1952 von vollbeschäftigten verheirateten Frauen, ab 1965 auch von unverheirateten Müttern, ab 1977 von unverhei- rateten Frauen ab 40 und unter besonderen Umständen auch von Män- nern in Anspruch genommen werden. Er wird 1994 mit der Neuregelung des Arbeitszeitrechts in Artikel 19 ArbZRG abgeschafft. 8 Vgl. BiB 2018a.

UNSER AUTOR UNSER 9 Vgl. Nickel 2011, S. 7. 10 Vgl. BiB 2018a. 11 Vgl. DESTATIS 2019a; BiB 2018b.

12 Vgl. DESTATIS 2017, S. 40. 13 Vgl. Geisler u. a. 2018, S. 8f. 14 Vgl. Köppen/Trappe 2019, S. 1417. 15 Vgl. Schmitt/Trappe 2014, S. 9. Martin Kopplin, geboren 1989, studierte Kulturwissenschaft in 16 Vgl. BMFSFJ 2015, S. 73. 17 Vgl. BA-Statistik 2019, S. 16. Marburg und Murcia/Spanien. Seit 2016 arbeitet er in der 18 Vgl. BMFSFJ 2017, S. 28. Redaktion der Hoferichter & Jacobs Film- und Fernsehproduk- 19 Vgl. Bluhm/Jacobs 2016, S. 27. tion an datenjournalistischen Projekten und politischen Doku- 20 Vgl. Köppen/Trappe 2019, S. 1417. 21 Vgl. DESTATIS 2019b. mentationen. Er ist Koautor der Studien „Der NRW-Atlas“ (2017 22 Vgl. Grünheid 2018, S. 5. im Auftrag des WDR), „Wer braucht den Osten? Ostdeutsch- 23 Vgl. Jacobs/Bluhm 2016, S. 3. land als Modellfall für die Zukunft gesamtdeutscher und euro- 24 Holtmann/Jaeck 2015, S. 43 päischer gesellschaftlicher Entwicklung“ (Berlin 2019) und „Ostfrauen. Wissenschaftliche Kommentierung der Daten des ALLBUS 2018“ (2019 im Auftrag von rbb und MDR). Zudem engagiert er sich stadtteilpolitisch in einem soziokulturellen Zen- trum in Leipzig.

PLANSPIELE Ein Angebot der Landeszentrale für politische Bildung

Die Planspielhefte der LpB werden zu verschiedenen politischen Themenfeldern erstellt und • vermitteln, wie Politik funktioniert, • zielen auf die Aktivierung der Teilnehmer/-innen ab, • ermöglichen offene Lernprozesse, • haben einen hohen Alltagsbezug, • verschaffen ein nachhaltiges Verständnis von Demokratie, • sind in den Schulunterricht integrierbar, • modellieren einen Ausschnitt aus einer komplexen Realität • und simulieren kompetenzorientiert politische Prozesse.

2.- Euro (zzgl. Versand) oder als PDF-Download bei vergriffenen Heften. Bestellung ausschließlich im Webshop der Landeszentrale für politische Bildung: www.lpb-bw.de/planspiele_lpb.html

80 GENERATION EINHEIT „Generation 1975 – Mit 14 ins neue Deutschland“ – Blick vom Osten und Westen in die deutsche Teilungsgeschichte Christiane Bertram

deutsch-deutsche Teilungsgeschichte Deutschlands muss Der westdeutsche Blick auf die DDR, auf den Fall der über 1989 hinaus erzählt werden: Die Bilder der jubelnden Mauer, die Wiedervereinigung sowie den Transformati- Menschen vor dem Brandenburger Tor erinnern an das onsprozess wird in der Geschichtswissenschaft erst in Happyend in einem Liebesfilm: Die beiden haben sich, al- jüngster Zeit thematisiert. Will man die nach wie vor an- les ist gut. Doch mit der Hochzeit fängt das Zusammenle- haltende Unzufriedenheit der Menschen in den neuen ben erst an. Ländern verstehen, muss man auch nach der Perspektive In diesem Beitrag und in unserem Projekt „Generation der „alten“ Bundesrepublik fragen. Der Beitrag von 1975“ liegt der Fokus darauf, was die Teilung Deutschlands Christiane Bertram beschreibt das Interviewprojekt „Ge- mit dem Westen und mit dem Osten gemacht hat und was neration 1975“. In diesem Oral History-Projekt wurden sich nach 1990 in den alten und neuen Bundesländern än- 26 Zeitzeug*innen befragt, die im Jahr 1975 geboren derte. In dem Interviewprojekt „Generation 1975 – Mit 14 wurden und bis zum Mauerfall im Westen bzw. im Osten ins neue Deutschland“ haben wir 26 Zeitzeug*innen be- Deutschlands aufgewachsen sind. Das Projekt wird zu- fragt, die im Jahr 1975 geboren wurden und bis zum Fall nächst thematisch eingeordnet und geht der Frage nach, der Mauer im Westen (Baden-Württemberg und Westber- ob die deutsch-deutsche Teilungsgeschichte durch asym- metrische, parallele oder verflochtene Entwicklungen charakterisiert ist. Die Schilderung der ersten Ergebnisse des Oral History-Projekts zeigt eindrücklich, wie unter- schiedlich nicht nur die Zeit der Trennung, sondern auch der Mauerfall und die Wiedervereinigung samt ihren Folgen im Osten und Westen erlebt wurden.

Einleitung

„Die Grenze. Unser geteiltes Land 1949 bis heute“ – das bedeutet für das Magazin „ZEIT Geschichte“ im Mai 2019, dreißig Jahre nach dem Mauerfall, fast ausschließlich, dass auf die DDR geschaut wird. „Schutzwall nach innen“ (Wolle 2019), „Unter Beobachtung“ (Einert/Ploenus 2019) oder „Bloß raus!“ (Arnim-Rosenthal/Flohr 2019), aber auch „Schmuckstücke im Kuchen“ (Soch 2019) über Paketsen- dungen in die DDR oder „Go East!“ (Stöver 2019) über die Wanderungsbewegung von West nach Ost sprechen in erster Linie über die Bedeutung der Mauer für das Leben im Osten Deutschlands. Was die Existenz der Mauer für die Menschen im Westen bedeutete und was sich durch den Fall der Mauer und die Wiedervereinigung für sie verän- dert hat, diese Fragen werden in der Geschichtswissen- schaft noch nicht lange diskutiert, wie Franka Maubach (2019) in dem abschließenden Beitrag „Jenseits von 1989“ mit einem Blick auf die parallelen, aber auch verflochtenen Verhältnisse zwischen der DDR und der alten BRD und über die Epochengrenze 1989 hinaus ausführt. Sicherlich war die Mauer in der DDR präsenter und die Wiedervereinigung hat in den östlichen Bundesländern mehr verändert als in den westlichen. Trotzdem ist es, um Die Bilder der feiernden und begeisterten Menschen vor die anhaltende Unzufriedenheit vieler Menschen in Ost- dem Brandenburger Tor erinnern an das Happyend in einem deutschland im Jahr 2020 zu verstehen, wichtig, nicht nur Liebesfilm: Die beiden haben sich, alles ist gut. Doch mit der auf den Osten zu schauen, sondern auch nach dem Wes- Hochzeit fängt das Zusammenleben erst an. ten, nach der „alten“ Bundesrepublik, zu fragen. Und: Die picture alliance/dpa

81 lin) bzw. im Osten Deutschlands (Brandenburg und Ost- berlin) aufgewachsen sind. Wir haben sie nach ihren Erin- nerungen an das geteilte und wiedervereinigte Deutsch- land gefragt. Wir – das ist die Projektgruppe mit Sarah Bornhorst, Bettina Effner, Gerhard Sälter1 und Kathrin

Christiane Bertram Christiane Steinhausen von der „Stiftung Berliner Mauer“, Almut Leh und Alexander von Plato vom „Archiv Deutsches Gedächt- nis“ an der FernUniversität in Hagen. Die Me dien küns t- ler*innen Stefan Krauss und Ina Rommel („KRRO“) haben die Interviews geführt und videografiert und schneiden das Rohmaterial für die verschiedenen Zielsetzungen zu. Die Idee zu dem künstlerisch-wissenschaftlichen Interview- projekt entstand im Austausch mit den beiden über meine erste Zeitzeugenstudie (Bertram 2017). Die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur hat das Interviewpro- jekt finanziert. In dem Interviewprojekt verbinden sich eine geschichtswis- senschaftliche, künstlerische, didaktische und empirische Zielsetzung. l Geschichtswissenschaft: Die Interviews werden dem „Archiv Deutsches Gedächtnis“ zur Verfügung gestellt und an der Universität Konstanz in Qualifikationsarbei- ten ausgewertet. l Kunst: Die Stiftung Berliner Mauer zeigt dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung, im Jahr 2020, eine künst- lerische Videoinstallation aus dem Material. l Didaktik: Die Videos werden für die didaktische Arbeit Mediengemeinschaft und in verwandtschaftlichen Bezie- der Stiftung Berliner Mauer aufbereitet und in der ge- hungen aus. Permanent wurde ein wechselseitiger Bezug schichtsdidaktischen Lehre und Forschung der Universi- aufeinander in der Politik, Wirtschaft und Kultur, im Sport tät Konstanz genutzt. und in den Medien genommen, der die gesellschaftliche l Empirie: Die Universität Konstanz arbeitet mit den und soziale Entwicklung in beiden deutschen Teilstaaten Zeitzeug*innen und den Videos in einer derzeit anlau- geprägt hat. Die Systemkonkurrenz führte zu einer perma- fenden DFG-Zeitzeugenstudie im Geschichtsunterricht. nenten wechselseitigen Beobachtung, die sich auf viele Im Folgenden wird (1) das Projekt thematisch eingeordnet, Bereiche der Gesellschaft erstreckte (Bösch 2015: 17–20; (2) die Erhebung beschrieben, (3) werden erste Ergebnisse Sabrow 2007: 19–24). Die Parallelen und Verflechtungen skizziert und die geplanten Verwendungsmöglichkeiten zwischen den beiden deutschen Teilstaaten lassen sich mit vorgestellt. dem größeren zeitlichen Abstand besser erkennen. So könnte der rasante Wandel seit den 1970er-Jahren, der bisher entweder aus den spezifischen Problemen des Sozi- Thematische Einordnung: Asymmetrische, parallele alismus oder aus den strukturellen Verschiebungen westli- oder verflochtene Teilungsgeschichte? cher Industriegesellschaften „nach dem Boom“ (Doering- Manteuffel/Raphael 2010) erklärt wurde, in einer erwei- Mit der Befragung der „Generation 1975“ rücken die Spät- terten und aufeinander bezogenen Perspektive eventuell phase des geteilten Deutschlands und die Phase der Trans- besser verstanden werden. Ein Beispiel hierfür: Philipp formation in den 1990er-Jahren in den Blick. Zunehmend Ther bringt in Anschlag, ob nicht der Osten ein „Laborato- wird die deutsch-deutsche Teilungsgeschichte in der For- rium für künftige Entwicklungen im Westen“ (Ther 2016: 14) schung über die Grenze von 1990 hinaus thematisiert gewesen sei. Die seit den 1980er-Jahren in Großbritannien (Bösch et al. 2015; Lindenberger 2015; vgl. APuZ 2019). und in den USA erkennbaren neoliberalen Tendenzen, die Während Frank Bösch dem Herausgeberband „Geteilte mit der „Agenda 2010“ der sozialdemokratisch-grünen Re- Geschichte“ die Zielsetzung voranstellt, „parallele, ver- gierung in ganz Deutschland spürbar wurden, seien be- flochtene oder getrennte Entwicklungen auszumachen“ reits zehn Jahre vorher, Anfang der 1990er-Jahre, im Agie- (Bösch 2015: 9), beschreibt Christoph Kleßmann das ge- ren der Treuhandgesellschaft erkennbar gewesen. teilte Deutschland als eine asymmetrisch verflochtene Para- Doch trotz der Verflechtungen und Gemeinsamkeiten: die llelgesellschaft, in der sich die DDR weitaus stärker auf die Unterschiede zwischen dem Osten und Westen Deutsch- Bundesrepublik bezog als umgekehrt (Kleßmann 2006: 22). lands waren groß – nicht nur während der Zeit der deut- Angesichts des offensichtlichen Gegensatzes der politi- schen Teilung; auch die Friedliche Revolution und die Wie- schen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systeme zur dervereinigung wurden im Osten und Westen sehr unter- Zeit des Kalten Krieges fallen die Verflechtungen und schiedlich erlebt. Doch erst zur Chronologie: Wie kam es para llelen Entwicklungen nicht unbedingt ins Auge (Bösch zum Fall der Berliner Mauer im November 1989 und – nur 2015: 17; Kleßmann 2006: 22). Doch blieb eine Verbun- elf Monate später – zur Deutschen Einheit? Und wie wurde denheit und Bezogenheit zwischen den beiden Teilstaaten innerhalb eines Jahres die Wiedervereinigung Deutsch- auch während der Zeit der Teilung bestehen. Die Gemein- lands vollzogen? samkeiten drückten sich in einer gemeinsame Geschichte Die Friedliche Revolution kam – vermutlich für alle – im Os- und Sprache, in einer gemeinsamen Kommunikations- und ten und Westen Deutschlands überraschend. Nach Ilko-

82 „GENERATION 1975 – MIT 14 INS NEUE DEUTSCHLAND“ – BLICK VOM OSTEN UND WESTEN IN DIE DEUTSCHE TEILUNGSGESCHICHTE

„dritten Weg“, der in der Bürgerrechtsbewegung der DDR und von links-alternativen Kreisen im Westen gefordert worden war, hätte vielleicht eher ein gemeinsamer Staat entwickelt werden können, in dem sich die Erfahrungen Von „Fortschritt“ kann in die- beider Teilstaaten hätten wiederfinden lassen (Segert sem ehemaligen Betrieb, in 2019). Stattdessen verschwand im Osten innerhalb eines dem ca. 650 Beschäftigte Jahres die DDR nicht nur als Staat und Regelwerk, sondern Baumwollgewebe herstellten, auch als Lebens-, Alltags- und Arbeitsraum. kaum mehr die Rede sein. Das Bei der raschen wirtschaftlichen Anpassung des Ostens Werk wurde im Dezember (Kowalczuk 2019: 15–16) übernahm die Treuhandgesell- 1991 stillgelegt. Bis zur Beendi- schaft – deren Gründung eine Idee des Runden Tisches ge- gung ihrer Arbeit im Jahr 1994 wesen war – die Verantwortung für die Transformation der hatte die Treuhand insgesamt DDR-Wirtschaft in die gesamtdeutsche Wirtschaft. Bis zu 6.456 volkseigene Betriebe der Beendigung ihrer Arbeit im Jahr 1994 hatte die Treu- (VEB) privatisiert, 3.718 hand insgesamt 6.456 volkseigene Betriebe (VEB) privati- Betriebe wurden liquidiert. 2,5 siert, wobei 80 Prozent der größeren Betriebe von West- Millionen von insgesamt vier deutschen erworben wurden. 3.718 volkseigene Betriebe Millionen Arbeitsplätzen gin- wurden liquidiert, 2,5 Millionen von insgesamt vier Millio- gen verloren. nen Arbeitsplätzen gingen verloren (Piper 2020).2 picture alliance/dpa An diesen hingen nicht nur die Einkommen, sondern auch das soziale Leben der Betroffenen. So breitete sich insbe- sondere bei denjenigen, die zu alt für eine neue Karriere Sascha Kowalczuk (2019) ist die „Revolution“ oder „Wende“ und zu jung für die Rente waren, Enttäuschung und Verbit- den meisten DDR-Bürger*innen quasi in den Schoß gefal- terung aus. Überall im Osten kam es zu Massenprotesten, len: Anfang des Jahres 1989 engagierte sich nur eine Min- von denen vor allem der Hungerstreik der Bergarbeiter in derheit für Veränderungen, im Dezember 1989 gingen Bischofferode (Thüringen) in Erinnerung geblieben ist. über eine halbe Million in Ostberlin auf die Straße. Die Während die Menschen in Ostdeutschland die Erfahrung Freude über den Fall der Mauer war grenzenlos – für die machten, dass innerhalb eines Jahres die gewohnte staat- meisten ohne eigenes Zutun. Helmut Kohl erkannte rasch, liche, wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung inklu- welches Potenzial für die Wiedervereinigung in dem für sive der geltenden Normen und Regeln durch die bundes- die Staaten im Osten und Westen gleichermaßen überra- deutsche Ordnung ersetzt wurde und das eigene Land von schenden Fall der Mauer steckte. Rasch stellte er die Wei- der Landkarte und aus dem Alltag verschwand, veränderte chen für eine Wiedervereinigung der beiden deutschen sich im Westen quasi nichts. Aus Sicht der alten Bundesre- Staaten im Kontext der europäischen Gemeinschaft, die zu publik wurde diese lediglich größer und bot dadurch neue einer Europäischen Union entwickelt werden sollte. Bereits Optionen für die Wirtschaft und den Tourismus, brachte am 28. November 1989 schlug er im Bundestag in seinem aber auch finanzielle Belastungen wie den Solidaritätszu- 10-Punkte-Programm die Wiedervereinigung in Form eines schlag mit sich (Bösch 2015). Ansonsten unterschied sich Beitritts des Gebiets der DDR zu dem Regelwerk der Bun- die neue Bundesrepublik für die Menschen, die im Westen desrepublik Deutschland vor. Als die Stimmung in der DDR- lebten und dort blieben, nicht wesentlich oder nicht wahr- Bevölkerung nach dem Fall der Mauer von „Wir sind das nehmbar von der alten Bundesrepublik. Volk“ zu „Wir sind ein Volk“ umschlug, nutzte Kohl die „in- Verständnis und Einfühlungsvermögen in die Situation der formelle nationale Koalition mit der Massenbewegung“ Menschen im Osten war im Westen nicht sonderlich aus- (Röder 2011: 54). Im Februar wurde eine baldige Wäh- geprägt. „Jammerossi“ und „Besserwessi“ wurden zu geflü- rungs-, Wirtschafts- und Sozialunion in Aussicht gestellt, gelten Bezeichnungen, so dass die Gesellschaft für deut- und am 1. Juli 1990 mit einem 1:1-Wechselkurs vollzogen. sche Sprache (GfdS) den Begriff „Besserwessi“ – abwer- Der Zwei-plus-Vier-Vertrag der beiden deutschen Staaten tend für eine „Person, die aus den alten Bundesländern mit den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges wurde am stammt und sich gegenüber Bewohner[inne]n der neuen 12. September 1990 in Moskau unterzeichnet und trat am Bundesländer besonders in Bezug auf den politischen und 15. März 1991 in Kraft. wirtschaftlichen Bereich besserwisserisch und belehrend Der rasante Prozess der Wiedervereinigung war auch dem verhält“3 – zum „Wort des Jahres 1991“ erkoren, da es das engen Zeitfenster geschuldet: Parallel zu den Absprachen Verhältnis zwischen West- und Ostdeutschen in der Kom- über die Wiedervereinigung mit den Siegermächten des bination der Wörter Besserwisser, Westen und „Wessi“ kri- Zweiten Weltkriegs zerfiel die Sowjetunion: Am 11. März tisch zusammenfasse.4 1990 erklärten die 15 sowjetischen Unionsrepubliken ihre Über lange Zeit wurden die für viele Menschen in Ost- Unabhängigkeit, am 25. Dezember 1991 löste sich die So- deutschland traumatischen Veränderungsprozesse nach wjetunion auf. Spätestens dann hätte mit 15 Nachfolge- 1990 in der öffentlichen Erinnerung kaum oder eher in ei- staaten verhandelt werden müssen (von Plato 2009). Trotz- ner herablassenden Haltung thematisiert. Erst in den letz- dem: Mit diesem Verlauf der Wiedervereinigung Deutsch- ten Jahren und im Zusammenhang mit den Wahlerfolgen lands, in der ein Teilstaat das Regelwerk des anderen der rechtspopulistischen Partei Alternative für Deutschland komplett übernahm, wurde eine Chance vertan. In einem (AfD) in den östlichen Bundesländern in den letzten Jahren

83 wird genauer nachgefragt und nach Gründen für die Un- mit dem jeweiligen politischen System gesammelt. Der po- zufriedenheit vieler Menschen im Osten Deutschlands ge- litische Umbruch 1989/1990 fiel mit ihrem eigenen puber- fragt. Die zuweilen geäußerte Vermutung, die Wahler- tären Umbruch zusammen. Aufgrund ihrer Jugend tragen folge der AfD im Osten Deutschlands (2019 kam die AfD sie keine persönliche Schuld und können nicht in Katego- bei drei Landtagswahlen in den östlichen Bundesländern rien wie „Täter“ oder „Bystander“ eingeordnet werden. Er-

Christiane Bertram Christiane auf deutlich über 20 Prozent; im Bundesdurchschnitt liegt zogen wurden sie von Eltern, die in der Kriegs- bzw. Nach- sie bei ca. zwölf Prozent) hätten vor allem mit der DDR- kriegszeit (1940–1955) geboren worden waren, damit fast Vergangenheit zu tun, erscheint wenig plausibel. Zum ei- ihr ganzes Leben in einem geteilten Staat verbracht hatten nen kann der Begriff „ostdeutsch“ statistisch nicht eindeu- und sich 1989 – vierzig bis fünfzig Jahre alt – beruflich und tig verwendet werden: Zwischen 1991 und 2013 gingen gesellschaftlich neu orientieren mussten. Auch wenn den rund 3,3 Millionen Menschen von Osten nach Westen, Jugendlichen im Osten der Mauerfall persönliche Chan- rund 2,1 Millionen gingen in die andere Richtung, die alle- cen eröffnete, haben sie doch die – häufig schmerzhaften samt in den öffentlichen Statistiken nicht getrennt ausge- – Transformationsprozesse aus der Nahperspektive miter- wiesen werden (Bösch 2019: 28). Zum anderen muss bei lebt. Wie erinnern sie das geteilte und wiedervereinigte einer Beurteilung der politischen Situation in den ostdeut- Deutschland? Was haben sie von ihren Eltern, der ersten schen Bundesländern die nunmehr dreißigjährige Erfah- Nachkriegsgeneration, und von ihren Großeltern, die den rung der Menschen in dem wiedervereinigten Deutschland Zweiten Weltkrieg miterlebt haben, erfahren? Was wollen in den Blick genommen werden. Diese Erfahrungen waren sie, die nun selbst Mitte Vierzig sind, ihren Kindern, die nicht nur positiv. Die Enttäuschung vieler Menschen im Os- jetzt in der Pubertät sind, mitgeben? ten zeigt sich in einer repräsentativen Studie, die im Herbst Ad (2): Die Perspektive. Bisher werden die Erinnerung an 2019 von der Wochenzeitung ZEIT in Auftrag gegeben die Teilung Deutschlands nahezu ausschließlich im Osten wurde. Nach dieser Studie schätzen die Ostdeutschen ihre Deutschlands verortet. Wir erachten es als dringend not- materielle Situation heute zwar deutlich besser ein als zu wendig, die westliche Perspektive in den Diskurs hinein zu DDR-Zeiten, doch fühlen sie sich im wiedervereinigten holen: Wie haben die Zeitzeug*innen aus dem Osten und Deutschland nicht ausreichend wahrgenommen, repräsen- aus dem Westen das Nebeneinander und die Konkurrenz tiert und wertgeschätzt (Borsutzki/Machowecz/Wefing von zwei gesellschaftlich und politisch verschiedenen Sys- 2019). Angela Merkel antwortete auf diese in der Umfrage temen, den Mauerfall und die Transformation nach 1990 eingefangene Stimmung, wenn sie bei der Gedenkveran- erlebt? Wie wirkmächtig oder wie normal war die Mauer staltung zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober im Alltag im Osten und im Westen Deutschlands? Gab es 2019 hervorhob, dass die Zeit nach dem Mauerfall für viele eine Reflexion über die Mauer und über die Teilung im Osten auch mit dem „Verlust von Lebensgewissheit“ ver- Deutschlands? Was haben die Zeitzeug*innen im Osten bunden gewesen sei, eine Folge der oft schmerzhaften und im Westen von den Transformationsprozessen mitbe- Transformationsprozesse in den neuen Bundesländern.5 kommen, wie haben sie diese erlebt und wie schätzen sie Ein vorläufiges Fazit: Trotz der Annäherung von Ost- und diese heute ein? Westdeutschland in den letzten dreißig Jahren bleiben bis heute zahlreiche Unterschiede sichtbar. Ob sich diese Un- terschiede durch die unterschiedlichen Vorgeschichten oder durch die Erfahrung des Mauerfalls und den Transfor- mationsprozess nach der Wiedervereinigung erklären las- sen, genau diese Fragen stehen in unserem Interviewpro- jekt „Generation 1975 – Mit 14 ins neue Deutschland“ im Vordergrund. Hier haben wir die damals Jugendlichen im Osten und Westen Deutschlands gefragt, wie sie sich an die Teilung, den Mauerfall und die Wiedervereinigung er- innern und wie sie den Stand der Deutschen Einheit heute In einer repräsentativen Studie, einschätzen. die im Herbst 2019 veröffent- licht wurde, schätzen die Ost- deutschen ihre materielle Situ- Die Interviews: Die Stichprobe und unsere Fragen ation heute zwar deutlich bes- ser ein als zu DDR-Zeiten, doch In dem Projekt „Generation 1975 – Mit 14 ins neue Deutsch- fühlen sie sich im wiederverei- land“ wurden insgesamt 26 Zeitzeug*innen, die 1975 im nigten Deutschland nicht aus- Osten (genauer: Brandenburg oder Ostberlin) oder Wes- reichend wahrgenommen. ten Deutschlands (genauer: Baden-Württemberg oder Angela Merkel antwortet auf Westberlin) geboren worden waren, nach ihrer Erinnerung diese in der Umfrage einge- an das geteilte und wiedervereinigte Deutschland befragt. fangene Stimmung, wenn sie Die Stichprobe zeichnet sich aus durch (1) das Alter der bei der Gedenkveranstaltung Zeitzeug*innen, die 1989 Jugendliche waren, und (2) durch am 3. Oktober 2019 hervor- den wechselseitigen Blick von Ost und West. hebt, dass die Zeit nach dem Ad (1): Das Alter. Die Befragung der „Generation 1975“6 Mauerfall für viele im Osten bietet die Chance, den generationell geprägten Linien der auch mit dem „Verlust von Familienerinnerung an das geteilte und wiedervereinigte Lebensgewissheit“ verbunden Deutschland nachzuspüren. Als die Mauer fiel, waren sie gewesen sei. 14 Jahre alt und hatten bereits erste eigene Erfahrungen picture alliance/dpa

84 Um unsere Stichprobe zu akquirieren, haben wir im März „GENERATION 1975 – MIT 14 INS 2019 einen Aufruf in den Printmedien und in den Social- NEUE DEUTSCHLAND“ – BLICK VOM OSTEN UND Media-Kanälen der Projektbeteiligten gestartet: „Stiftung WESTEN IN DIE DEUTSCHE TEILUNGSGESCHICHTE Berliner Mauer sucht Zeitzeug*nnen des Jahrgangs 1975 aus Ost und West. Wie haben Jugendliche den Mauerfall Interviews wurden im Zeitraum von April bis Oktober 2019 erlebt?“ und „Ost- und West-Perspektiven auf die jüngste geführt, mitten während der medial präsenten Vorberei- Geschichte Deutschlands. Multimediales Interviewprojekt tung zum 30-jährigen Jahrestag des Falls der Berliner der Universität Konstanz und der Stiftung Berliner Mauer Mauer. mit der Generation 1975“ – so waren die Pressemitteilun- gen betitelt. Angesprochen wurden Menschen, die in Baden-Württem- Erste Ergebnisse: Wie erinnern sich die berg, Brandenburg sowie Ost- und Westberlin aufge- Zeitzeug*innen? wachsen waren und bereit waren, von ihren Erfahrungen in einem geteilten und wiedervereinigten Staat zu erzählen. Die systematische Analyse der Daten steht noch aus. Zum Interessierte konnten sich in einer Online-Datenbank ein- jetzigen Zeitpunkt können lediglich die ersten Beobach- tragen. Wir wollten in der Stichprobe eine möglichst große tungen und Eindrücke aus dem Material präsentiert wer- Bandbreite an möglichen Lebensverläufen und Perspekti- den. Bei der Auswertung der Daten orientiere ich mich an ven im geteilten und wiedervereinigten Deutschland abbil- den Triftigkeitskriterien von Jörn Rüsen (1983), die sich ins- den und haben daher nicht nur nach dem Geburtsdatum besondere für die Analyse von Zeitzeugenaussagen als und den Wohnorten, sondern auch nach dem Bildungshin- hilfreich erwiesen haben (Bertram 2017: 48/49). Die Triftig- tergrund und der politischen Orientierung gefragt. Eine keitskriterien von Rüsen (1983; 2013) werden im Folgenden der Fragen in dem Online-Fragebogen war die soge- auf das Videomaterial der „Generation 1975“ angewandt. nannte Sonntagsfrage: „Wenn am Sonntag Bundestags- Die empirische Triftigkeit (Rüsen 1983: 82) fragt nach der wahl wäre, welche Partei würden Sie wählen?“ historischen Richtigkeit der Zeitzeugenerzählung: Über Auf diesen Aufruf meldeten sich über 60 Interessent*innen, welches Wissen verfügen die Zeitzeug*innen? Welche As- von denen wir insgesamt 26 Zeitzeug*innen auswählten. pekte des Themas sind bekannt und werden genannt? Die Medienkünstler*innen Ina Rommel und Stefan Krauss Stimmen die getroffenen Aussagen mit dem gesicherten führten die lebensgeschichtlichen Interviews auf der Basis Wissen über die Vergangenheit überein? Bei der narrativen von Leitfäden, die in der Projektgruppe entwickelt worden Triftigkeit (Rüsen 1983: 83) wird die Qualität und Angemes- waren. Sie orientierten sich an den Phasen, die in der Oral senheit der Argumentation geprüft: Welche „Geschichte“ History-Methode üblich sind (vgl. Leh 2000; Plato/Leh/ erzählen die Zeitzeug*innen mit den (ihnen bekannten Thonfeld 2008): Nach einem offenen lebensgeschichtli- bzw. für sie relevanten) historischen Ereignissen? Wie chen Part wurden nach Klärungsfragen die vorab verabre- deuten sie die Vergangenheit? Bei der normativen Triftigkeit deten und oben kurz skizzierten Themenfelder erfragt. Die (Rüsen 1983: 82–83) geht es um die Botschaft der Zeit- zeug*innen: Was haben sie aus ihrer Geschichte gelernt? Welche Erkenntnisse und Werte wollen sie den Zu hö- rer*innen mitgeben? Wie gesagt: eine methodisch-kontrollierte, quantifizie- rend-vergleichende Auswertung der Daten steht noch aus. Insbesondere zur empirischen Triftigkeit können derzeit le- diglich Aussagen zur jeweiligen Perspektive und der Infor- miertheit der Zeitzeug*innen getroffen werden. Die fol- genden ersten Beobachtungen bei dem Durchhören und der Zusammenfassung des Materials für den Videoschnitt werden zugespitzt formuliert. In jeder Teilstichprobe gab es Ausnahmen, und es wurden individuelle Gewichtungen vorgenommen.

Empirische Triftigkeit: Was haben die Zeitzeug*innen in ihrer Kindheit und Jugend von dem geteilten Deutschland mitbe- kommen?

Perspektive der westdeutschen Zeitzeug*innen: Die DDR war weit weg, sie wussten fast nichts über den ande- ren Teilstaat. Vielen war nicht klar, dass die DDR ein deut- scher Staat war. Von den acht Zeitzeug*innen aus Baden- Württemberger hatten fünf überhaupt keine Vorstellung von der DDR, zwei hatten durch Reisen in die DDR eine diffusen Eindruck, einer hatte durch Verwandte einen rela- tiv intensiven Kontakt zur DDR. Von den fünf Zeitzeug*innen aus Westberlin hatte nur einer einen engen Kontakt nach Ostberlin. Die anderen nahmen die Präsenz der Mauer als gegeben hin, ohne die andere Seite der Stadt zu kennen. Die Zeitzeug*innen im Westen bekamen die Friedliche Re-

85 Christiane Bertram Christiane

Jungpioniere einer 2. Klasse erhalten ihre Schwimmstufe. Die Kindheit in der DDR wird von Zeitzeug*innen aus dem Osten durchgehend als unbe- schwert und behütet erinnert: Alles war geregelt, aus Sicht der Kinder hat alles funktio- niert. picture alliance/dpa

volution fast ausschließlich im Fernsehen mit und konnten Für die „armen Menschen im Osten“ hat man sich gefreut die Ereignisse kaum einordnen. Einige lernten den Osten („dass sie es jetzt auch so gut haben wie wir im Westen“; nach dem Mauerfall bei Urlaubsreisen kennen. MS), doch wurde auch vor kommenden Problemen gewarnt Perspektive der ostdeutschen Zeitzeug*innen: Die alte (Oma am Kachelofen: „Oje, oje, jetzt kommt was. Das wird Bundesrepublik Deutschland war – ob im Positiven oder im keine schöne Zeit.“; MS). Viele erinnern sich an Diskussio- Negativen – ein relevanter Bezugspunkt. Durch die Schule nen über die Kosten der Wiedervereinigung und an Ost- und die Medien, die ein negatives Bild der BRD zeichneten, deutsche, bei denen man sich – als man sie dann endlich im aber auch durch Westkontakte, Westfernsehen oder Ge- Betrieb kennen lernte – wunderte, dass diese „auch arbei- spräche in der Familie und im Freundeskreis verfügten alle ten können“ (PG). Ihr Erlebnis der Wiedervereinigung: Da- Zeitzeug*innen aus dem Osten über Informationen über durch änderte sich für sie überhaupt nichts. die alte BRD und hatten eine Vorstellung vom Westen. Alle haben den Prozess der Wiedervereinigung und der Trans- Narrative Triftigkeit: Wie erinnern sich die Zeitzeug*innen aus formation nach 1990 am eigenen Leib erfahren. dem Osten an die DDR und alte BRD und an die Wiederverei- nigung? Narrative Triftigkeit: Wie erinnern sich die Zeitzeug*innen aus dem Westen an die alte BRD und DDR und an die Wiederver- Kindheit in der DDR und Blick in den Westen: Die Kind- einigung? heit in der DDR wird ebenfalls durchgehend als unbe- schwert und behütet erinnert: Alles war geregelt, aus Sicht Kindheit in der BRD und Blick auf den Osten: Die eigene der Kinder hat alles funktioniert. Als Jugendliche haben sie Kindheit wird als idyllisch, unbeschwert und friedlich erin- die DDR und BRD mehr oder weniger bewusst als diametral nert. In den Worten einer Zeitzeugin: ein „normales schö- verschiedene gesellschaftliche Systeme wahrgenommen. nes Leben“ und „kleines Paradies“ (MS). „Alles war gut“ – Alle haben auch kritische Stimmen über die DDR gehört, diese Einschätzung äußern fast wörtlich sieben von acht häufig wurde in der Familie Kritik geübt, die nicht nach au- Zeitzeug*innen aus Baden-Württemberg. Die DDR interes- ßen dringen sollte. Eine vom Sozialismus zutiefst über- sierte sie wenig bis gar nicht: Sie wurde als ein „anderes zeugte Zeitzeugin bekam Zweifel an dem System in der Land“ wahrgenommen, nicht als ein Teil Deutschlands. Eine DDR, als sie in der Schule miterlebte, wie Lehrkräfte Druck diffuse Bedrohung ging davon aus („Russland und der Os- auf Mitschüler*innen ausübten. ten mag uns nicht“ (MS), „Dunkeldeutschland“ (MS) und die Erlebnis der Wiedervereinigung: Der Fall der Mauer kam Menschen in der DDR wurden bemitleidet („arme Leute, die für alle überraschend. Die Veränderungen waren schlag- nichts haben“ (MS), „arme Menschen, denen es schlecht artig zu spüren: in der Schule, auf der Straße, in der Fami- geht“(MS). Vorurteile und Herablassung prägten die Sicht lie. Viele berichten über Anpassungsschwierigkeiten der auf die DDR: Ein Zeitzeuge aus Baden-Württemberg Eltern, viele berichten von der eigenen Orientierungslosig- schickt von der DDR-Reise extra Schwarz-Weiß-Postkarten keit in der offenen Situation. Die meisten Zeitzeug*innen an die Freunde zu Hause, damit es „heruntergewirtschafte- haben relativ rasch ihren Platz im wiedervereinigten ter“ (TW) aussieht. Deutschland gefunden, nur eine von zwölf hat dauerhaft Erlebnis der Wiedervereinigung: Die Ereignisse in den keinen Fuß auf den Boden bekommen. Über den Fall der Jahren 1989/90 verfolgten die Jugendlichen im Westen Mauer haben sich fast alle gefreut, doch viele berichten am Fernseher, es sei denn, man hatte Verwandte im Osten. von demütigenden Erfahrungen nach der Wende wie das

86 Balgen um Bananen, die von Lastwagen aus dem Westen „GENERATION 1975 – MIT 14 INS im Osten in die Menge geworfen wurden. Einer erinnert NEUE DEUTSCHLAND“ – BLICK VOM OSTEN UND sich, dass bei einem Schulaustausch die westdeutschen El- WESTEN IN DIE DEUTSCHE TEILUNGSGESCHICHTE tern gefragt haben sollen, ob die ostdeutschen Jugendli- chen mit Messer und Gabel essen könnten. Eine Zeitzeugin kultur, der historisch-politischen Bildung und der empi- aus Ostberlin berichtet von ihrem ersten Besuch in West- rischen Forschung zugutekommen. Wie kann das pas- berlin: Sie sei behandelt worden „wie ein Befreiter“, habe sieren? sich minderwertig gefühlt und sei danach für zwei Jahre l Fachwissenschaft: Eine geschichts- und politikwissen- nicht mehr in den Westen gefahren. Für alle galt: Innerhalb schaftliche Auswertung des Datenmaterials wird an der kürzester Zeit verschwand ihr eigener Staat, die DDR, und Universität Konstanz in der Arbeitsgruppe „Fachdidak- sie lebten in einem völlig neuen Staat, der Bundesrepublik tik in den Sozialwissenschaften“ in Form von Abschluss- Deutschland, die kurz davor noch der Feind gewesen war. arbeiten und im Kontext der fachdidaktischen Lehre vor- genommen. Das Rohmaterial wird allen interessier- Normative Triftigkeit: Wie beurteilen und bewerten die Zeit- ten Forscher*innen in dem „Archiv Deutsches Gedächt- zeug*innen die Wiedervereinigung aus heutiger Sicht? Was nis“ (FernUniversität in Hagen) zur Verfügung gestellt. haben sie aus der deutsch-deutschen Geschichte gelernt? l Erinnerungskultur: In einer Videoinstallation der Stiftung Berliner Mauer werden die Zeitzeug*innen auf zehn Zeitzeug*innen aus dem Westen: Auch aus dem Blick von Monitoren und aus sechs Lautsprechern miteinander in heute: Der Fall der Mauer hat ihr Leben nicht verändert – es einen Dialog treten. Diese Installation wird im Gedenk- gab lediglich eine neue Hauptstadt und die Urlaubsreisen jahr 2020 in der Gedenkstätte „Notaufnahmelager Ma- gingen jetzt auch an die Ostsee. Ein Zeitzeuge aus Baden- rienfelde“ in Berlin und voraussichtlich auch in den Lan- Württemberg fasst zusammen: „Für mich war vorher alles deshauptstädten der beteiligten Bundesländer, in Stutt- gut, und es ist auch jetzt noch alles gut.“ Nach einer kurzen gart und Potsdam, gezeigt. Überlegung geht es weiter: „Aber das trifft vielleicht auch l Didaktik: Das Material wird von der Stiftung Berliner die Zeit ganz gut. Ich bin ja in einer Zeit aufgewachsen. 75, Mauer im Kontext ihres historisch-politischen Bildungs- was war da bis heute? Da war ja nix in Deutschland.“ Auf angebots für Schüler*innen genutzt. In der Arbeits- die Nachfrage, was mit „da war nichts“ gemeint war, kommt gruppe „Fachdidaktik in den Sozialwissenschaften“ an als Erklärung, dass es zwar hin und wieder Krisen gab, die der Universität Konstanz wird mit dem Material in der beispielsweise mit einer Abwrackprämie gelöst wurden, Lehre gearbeitet. Die Studierenden konzipieren hiervon doch – und das ist der letzte Satz: „Meine Generation hat ausgehend Ideen für den Geschichtsunterricht. keine Not erlebt. Nie.“ – Bei dieser Aussage denkt der Zeit- l Empirische Forschung: Das Material wird in einer groß zeuge aus Baden-Württemberg sicherlich nicht an den Teil angelegten Zeitzeugenstudie, die von der Deutschen seiner Generation, der im Osten Deutschlands aufge- Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert wird, einge- wachsen ist. Von den zwölf Zeitzeug*innen, die im Westen setzt werden. Im Zentrum der Interventionsstudie, die Deutschlands aufgewachsen sind, lassen lediglich zwei von der Universität Konstanz und der Universität Tübin- wirklich Empathie und ein Einfühlungsvermögen für die gen in enger Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Menschen in Ostdeutschland erkennen. Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) durchgeführt Zeitzeug*innen aus dem Osten: Der Mauerfall hat den wird, steht eine zentrale Fortbildung zur Zeitzeugenme- Alltag von allen tiefgreifend geändert. Fast von allen wird thode und zu dem Thema „Lernen aus der deutsch-deut- der Mauerfall aus dem Abstand als eine persönliche schen Geschichte: Sind wir dreißig Jahre nach dem Chance gesehen, auch von der Funktionärstochter, deren Mauerfall vereint?“ In der Unterrichtseinheit werden die Vater nach der Wende von den Nachbarn als „Stasi- Lehrkräfte mit den Zeitzeug*innen der „Generation schwein“ beschimpft wurde. Jedoch wird an dem Vorge- 1975“ arbeiten. In einem Teil der Stichprobe kommen die hen bei der Wiedervereinigung eine – meist differenzierte Zeitzeug*innen in die Klasse, in einem anderen Teil wird – Kritik geübt (z. B. rasche Betriebsschließungen durch die mit den Videointerviews gearbeitet. Wir wollen unter- Treuhandgesellschaft und nachfolgend eine hohe Arbeits- suchen, ob die reale oder mediale Anwesenheit der losigkeit, die Nicht-Anerkennung der Berufsabschlüsse Zeitzeug*innen zu differenziellen Effekten hinsichtlich der Eltern, keine Wertschätzung der DDR-Institutionen, des Interesses, der Kompetenzen und des Wissens der auch nicht der gut funktionierenden wie z. B. das Gesund- Schüler*innen führt und welche Rolle das Erlebnis der heits- oder Bildungssystem). Zwei der insgesamt zwölf Zeitzeugenbegegnung hierbei spielt. Zeitzeug*innen aus dem Osten sehen das allerdings an- ders. Bei beiden stürzte die Familie mit der Wiedervereini- gung in ein großes Chaos, alles Schlechte wurde (und Fazit wird) dem Westen zugeschrieben. Eine formuliert, sie fühle sich auch heute noch „wie im Exil, aber das Land, in das ich In welcher Nutzung auch immer, das Videomaterial der zurück will, gibt es nicht mehr“ (LG). „Generation 1975“ zeigt eindrücklich, wie unterschiedlich nicht nur die Zeit der Trennung, sondern auch die Wieder- vereinigung im Osten und Westen erlebt wurden. Damit Ausblick: Was passiert mit dem Videomaterial? möchten wir das Verständnis zwischen den Menschen im Osten und Westen fördern und neue Impulse für die Dis- Das gemeinsam erstellte Videomaterial ist in einer en- kussionen über die Chancen, Brüche und Verluste sowie gen Zusammenarbeit von Fachwissenschaftler*innen, Gewinne des Zusammenwachsens von Ost und West ge- Künstler*innen sowie Didaktiker*innen entstanden. Die ben. Wir freuen uns auf den Austausch zwischen der Wis- Ergebnisse sollen der Fachwissenschaft, der Erinnerungs- senschaft und der Öffentlichkeit.

87 Leh, Almut (2000): Forschungsethische Probleme in der Zeitzeugenfor- LITERATUR schung. In: BIOS – Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History, Arnim-Rosenthal, Anna von/Flohr, Markus (2019): Bloß raus! Magazin 1/2000, S. 64–76. ZEIT-Geschichte 5/2019: Die Grenze. Unser geteiltes Land. S. 48–56. Lindenberger, Thomas (2015): Ist die DDR ausgeforscht? Unsere Zeitge- Bertram, Christiane (2017): Zeitzeugen im Geschichtsunterricht. Chance schichte zwischen nationalem Boom und Globalisierung. In: Bösch, oder Risiko für das historische Lernen? Eine randomisierte Interventions- Frank/Sabrow, Martin (Hrsg.): ZeitRäume. Potsdamer Almanach des Zentrums für Zeithistorische Forschung. Göttingen, S. 10 0 –117.

Christiane Bertram Christiane studie im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. Bösch, Frank (2019): „Sonderfall Ostdeutschland?“ Zum Demokratiever- Maubach, Franka (2019): Jenseits von 89. ZEIT Geschichte 5/2019: Die ständnis in Ost und West. In: geschichte für heute, 4/2019, S. 21–30. Grenze. Unser geteiltes Land 1949 bis heute. S. 108–109. Bösch, Frank (Hrsg.) (2015): Geteilte Geschichte. Ost- und Westdeutsch- Piper, Nikolaus: Deutsche Bad Bank. In: Süddeutsche Zeitung, 29. Febru- land 1970–2000. Göttingen. ar/1. März 2020, S. 23. Bösch, Frank (2015): Geteilt und verbunden. Perspektiven auf die deutsche Plato, Alexander von (2009): Die Vereinigung Deutschlands – ein weltpo- Geschichte seit den 1970er-Jahren. In: Bösch, Frank (Hrsg.): Geteilte litisches Machtspiel. Bush, Kohl, Gorbatschow und die internen Ge- Geschichte. West- und Westdeutschland 1970–2000. Göttingen, sprächsprotokolle. 3. Auflage, Berlin, S. 118 –121. S. 7– 37. Plato, Alexander von/Leh, Almut/Thonfeld, Christoph (Hrsg.) (2008): Hit- Borsutzki, Doreen/Wefing, Heinrich (2019): Jetzt hört mal zu! In: ZEIT vom lers Sklaven. Lebensgeschichtliche Analysen im internationalen Ver- 02.10.2019, S. 19. gleich. Wien, S. 443–450. Brauer, Juliane (2016): (K)eine Frage der Gefühle? Die Erinnerung an die Plus-Minus (2020): Öffnung der Treuhand-Akten: Wie die Privatisierung DDR aus emotionshistorischer Perspektive. In: Führer, Carolin (Hrsg.): der DDR-Wirtschaft wirklich lief. Sendung am 28.08.2019. URL: ht tps:// Die andere deutsche Erinnerung. Tendenzen literarischen und kulturel- www.daserste.de/information/wirtschaft-boerse/plusminus/sendung/ len Lernens. Göttingen, S. 77–96. treuhand-akten-erstmals-eingesehen-100.html [13.03.2020]. Doering-Manteuffel, Anselm/Raphael, Lust (2010): Nach dem Boom. Per- Rödder, Andreas (2011): Geschichte der deutschen Wiedervereinigung. spektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970. Göttingen. München. Einert, Benedikt/Ploenus, Michael: Unter Beobachtung. Magazin ZEIT- Röding-Lange, Ute: Bezeichnungen für ‚Deutschland‘ in der Zeit der ‚Wen- Geschichte 5/2019: Die Grenze. Unser geteiltes Land. S. 38–41. de‘. Dargestellt an ausgewählten westdeutschen Printmedien. Würz- Kleßmann, Christoph (2006): Spaltung und Verflechtung – Ein Konzept zur burg 19 97. integrierten Nachkriegsgeschichte 1945 bis 1990. In: Kleßmann, Chris- Rüsen, Jörn (1983): Historische Vernunft. Die Grundlagen der Geschichts- toph/Lautzas, Peter (Hrsg.): Teilung und Integration. Die doppelte deut- wissenschaft. Grundzüge einer Historik I. Göttingen. sche Nachkriegsgeschichte als wissenschaftliches und didaktisches Sabrow, Martin (2019): „1989“ als Erzählung. In: Aus Politik und Zeitge- Problem. Schwalbach/Ts., S. 20 – 37. schichte, 35–37/2019, S. 25–33. Kowalczuk, Ilko-Sascha (2019): Von der Revolution über den Mauerfall zur Sabrow, Martin (2007): Historisierung der Zweistaatlichkeit. In: Aus Politik Einheit. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 35–37/2019, S. 4 –11. und Zeitgeschichte, 3/2007, S. 19–24. Segert, Dieter (2019): Verpasste Chancen im 41. Jahr. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 35–37/2019, S. 12–17. Soch, Konstanz (2019): Schmuckstücke im Kuchen. Magazin ZEIT-Ge- schichte 5/2019: Die Grenze. Unser geteiltes Land. S. 76 –7 7. Stöver, Bernd (2019): Go East. Magazin ZEIT-Geschichte 5/2019: Die Grenze. Unser geteiltes Land. S. 57–58. Ther, Philipp (2014): Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Ge- schichte des neoliberalen Europas. Frankfurt am Main. Tröger, Mandy (2019): Die Treuhand und die Privatisierung der DDR-Pres- se. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 35–37/2019, S. 34–39. Wolle, Stefan (2019): Schutzwall nach innen. Magazin ZEIT-Geschichte 5/2019: Die Grenze. Unser geteiltes Land. S. 28–34. UNSERE AUTORIN

ANMERKUNGEN 1 Vgl. auch den Beitrag von Gerhard Sälter in diesem Heft. 2 Aufgrund der im letzten Jahr freigegebenen Akten der Treuhandge- sellschaft rückt die Rolle des „Leitungsausschusses“ in den Fokus. Diesem Prof. Dr. Christiane Bertram, Juniorprofessorin Fachdidaktik in Leitungsausschuss gehörten meist junge Mitarbeiter*innen privater den Sozialwissenschaften an der Universität Konstanz, promo- Beratungsfirmen an, die unter Hochdruck Tausende ostdeutsche Firmen vierte am Hector-Institut für Empirische Bildungsforschung, Univer- bewerteten. An ihre Empfehlungen des Leitungsausschusses hat sich der Vorstand der Treuhandgesellschaft in der Regel gehalten (Dierk Hoff- sität Tübingen, mit einer Interventionsstudie zur Wirksamkeit von mann, Institut für Zeitgeschichte in Berlin, in einer Plus-Minus-Sendung am Zeitzeugenbefragungen im Geschichtsunterricht, für die sie mit 28.08.2019). dem Publikationspreis der Gesellschaft für Empirische Bildungs- 3 URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Besserwessi [13.03.2020]. 4 Ebenso wurde es zum Unwort des Jahres vorgeschlagen, da es „im forschung ausgezeichnet wurde. Ein Schwerpunkt ihrer Forschung Nordosten Deutschlands mindestens ein so herbes Schimpfwort wie in stellt die differenzielle Wirksamkeit authentischer und digitaler Österreich der Piefke für den ‚preußisch‘ schnarrenden Deutschen“ sei Lernumgebungen dar. Generell geht es ihr darum, wie mit kogni- (Röding-Lange 1997: 246). 5 URL: https://www.focus.de/politik/deutschland/geschichte-festakt- tiv und emotional anregenden Unterrichtsmethoden (z.B. Zeitzeu- zur-deutschen-einheit-mit-steinmeier-und-merkel_id_11205440.html genbefragungen, dramapädagogische oder regionalgeschicht- [13.03.2020]. liche Zugänge) historische Kompetenzen, Fachwissen und Interes- 6 Bezogen auf die Erinnerung an die DDR hat sich die „Generation 1975“ der DDR-Zeitzeug*innen literarisch schon häufiger zu Wort gemeldet, se an Geschichte gefördert werden können. jedoch wurde diese Generation bisher nicht systematisch erschlossen (Brauer 2016).

88 IMPRESSIONEN AUS DEM VEREINTEN DEUTSCHLAND Für Freiheit, Demokratie und Menschenwürde Siegfried Wittenburg

dem Müllhaufen der Geschichte. Ich finde für die Foto- Der 1952 in Warnemünde geborene Siegfried Witten- gruppe Räume in einer neu gegründeten Medienwerkstatt, burg war in den 1980er-Jahren einer der wichtigsten die in einem verschlissenen Altbau mit ihrer Tätigkeit be- Fotografen in der DDR. Als ausgebildeter Funkmechani- ginnt. Bei Hochwasser der Ostsee steht das Labor im Keller ker und fotografischer Autodidakt dokumentierte er in knietief unter Wasser. Doch allein das Herstellen von dieser bedeutenden historischen Zeitspanne den Alltag Schwarzweißfotografien macht keinen Sinn mehr, denn in diesem Staat mit einem kritischen und doch liebevollen alle kulturellen Tätigkeiten in der Öffentlichkeit, die weit- Blick. 1986 wurde er als Leiter des Jugend-Fotoklubs gehend vom Kulturbund getragen und organisiert wurden, „Konkret“ entlassen und geriet mit dem Regime in Kon- finden abrupt ein Ende. Mir ist es gelungen, Geld zu ver- flikt, weil er sich einer Zensuraufforderung der SED wi- dienen, jetzt D-Mark, doch mir gelingt es nicht, die Kultur in dersetzte und nicht den Zielen des Staates folgte. An der die neue Zeit zu retten. Der Verlust schmerzt, und es bleibt Ostsee geboren und aufgewachsen, kehrte er dieser eine emotionale Leerstelle. Landschaft niemals den Rücken. Auch die spannenden Auch Künstler kommen jetzt aus dem Westen. Wir wollen Jahre nach der politischen Wende bis 1996 hat Witten- diese live erleben, die sonst nur über den Bildschirm in die burg mit der Kamera festgehalten. Nach einer Zwischen- ostdeutschen Wohnzimmer flimmerten: Musiker wie The phase von 15 Jahren, während dieser er sich in verschie- Rolling Stones, Tina Turner, die Toten Hosen … Sie wurden denen Tätigkeitsbereichen für den Wiederaufbau enga- den Ostdeutschen nicht geschenkt, für die Tickets haben gierte, kehrte er 2010 zu seinen künstlerischen Wurzeln sie bezahlt. Die Stadtverwaltung Rostock setzt als Direkto- zurück. Sein Thema ist wiederum der Alltag der Men- schen im vereinten Deutschland. Mit seinen Publikationen in zahlreichen Medien in Bild und Wort, seinen Ausstel- lungen und Zeitzeugenvorträgen erreicht der Autor und Fotograf ein Millionenpublikum. Sein Engagement speist sich aus eigenem Erleben, als folgende Werte für ihn nicht existierten: Freiheit, Demokratie und Menschen- würde.

Rostock-Warnemünde, 1991

Der Leiter des Kulturhauses der Warnowwerft macht ein ernstes Gesicht, als er mich als Leiter des Fotoklubs „Kon- kret“ auffordert, ein Konzept zu erarbeiten, wie die Zukunft dieser Arbeitsgemeinschaft vorzustellen wäre. Die War- nowwerft, vorher VEB, jetzt GmbH, gehört der Treuhand und es wird verhandelt, diese an einen norwegischen Kon- zern zu verkaufen. Angesichts des für moderne Anforde- rungen unwirtschaftlichen Betriebes ist das Kulturhaus un- mittelbar am Leuchtturm für die neuen Investoren ein Filet- stück. Die Warnowwerft unterhält das Haus und etwa 20 Volkskunstzirkel von einer Trachtengruppe über einen Holzschnitzzirkel bis hin zum aufmüpfigen Fotozirkel kön- nen dort in ihrer Freizeit kostenlos tätig sein. Allein die Fo- togruppe mit über 20 Mitgliedern nutzt einen Raum und ein Labor für mehrere Arbeitsplätze sowie entsprechende Technik. Sie erhält jährlich ein Budget von 5.000 Mark, das sie gar nicht verbraucht. Weiterhin betreiben die jungen und engagierten Freizeitkünstler mit hohen Ansprüchen eine Fotogalerie. Alles Engagement ist von innen heraus Das Gebäude im Hintergrund war ursprünglich ein Hotel gewachsen in einem Staat, der Kunst und Kultur in seinem und wurde 1952 während der Aktion Rose enteignet. Danach Sinne zu lenken versuchte, was junge Menschen zuneh- war es ein Kulturhaus für die Einwohner Warnemündes, mend in Frage stellten. Sie leben in Wohnheimen, bei ihren unterhalten vom VEB Warnowwerft. Nach 1990 wurde es Eltern oder mit ihren Familien in Plattenbauten, wo es keine nach Norwegen verkauft und zu Ferienwohnungen umge- Möglichkeiten gibt, eine Dunkelkammer einzurichten. baut. Für die Tourismuswirtschaft wurde die Kultur der Men- Die Werft wird verkauft. Die komplette Laboreinrichtung schen in diesem Ort ersatzlos gestrichen. und die Beleuchtung der erst neuen Galerie landen auf Foto: Siegfried Wittenburg

89 alle aufzählen kann. Allerdings freue ich mich, dass inzwi- schen auch die Städte in Ostdeutschland in der subjekti- ven Wahrnehmung weit nach oben gerückt sind. Wir alle wissen, dass dieses in Vorzeiten vollkommen anders war. Ich weiß, wovon ich spreche. Nur fordern solche Hitlisten den Besucher heraus, doch genauer hinzuschauen, um Siegfried Wittenburg eventuell noch einen schwerwiegenden Makel zu erken- nen. Aber was ist eine schöne Stadt? Nach meinem Besuch im Zeitgenössischen Forum kehre ich zum Hauptbahnhof zurück. Keine Frage, der größte Kopf- bahnhof Europas ist ein Erlebnisbahnhof. Haben die Züge der Bundesbahn Verspätung, kann ich Rolltreppe fahren, in der Shopping-Meile shoppen gehen, den Bettlern Mün- zen in den Hut werfen oder eine Bratwurst essen. Ich ent- schließe mich spontan, mit einer Straßenbahn eine Stadt- rundfahrt zu unternehmen. Dazu benötige ich ein Ticket. Doch der Ticketautomat möchte mein Geld nicht, jedenfalls nicht meinen 20-Euro-Schein. Ich frage in zwei Läden die Verkäuferinnen, ob sie den Schein in zwei kleinere wech- seln würden. Nein, das dürfen sie nicht. So kaufe ich eine Ansichtskarte, erhalte Wechselgeld und kann nach Con- newitz fahren. Dort sind die Häuserwände kunstvoll mit Graffiti besprüht und ich überlege, ob das Punkte bei der Bewertung gegeben hat. Vielleicht zählten auch die zahl- reichen Tattoo-Studios. Nach der Rundfahrt verbreitet sich in Leipzig beleuchtete Dunkelheit. Ich checke in einem Hotel nahe am Augustus- platz ein, das mir alles bietet, was ich für eine Nacht benö- „Kirche offen für alle“ steht heute noch vor dem Hauptein- tige. Am Abend streife ich durch die Leipziger Innenstadt gang der Leipziger Nikolaikirche. Der Pfarrer Christian Füh- mit ihren hell erleuchteten Geschäften. Sie befinden sich rer (1944–2014) öffnete sie für alle Menschen. Sie stand für zwar auf dem Niveau deutscher Großstädte, doch ich ver- Jugend und Innovation. Selbst die Punkband „Wutanfall“ misse Individualität. Auch die Klotzigkeit der Gebäude be- durfte hier auftreten. Die Friedensgebete und die dortigen hagt mir nicht. Es gibt kaum Plätze zum Verweilen. Die Montagsdemonstrationen leiteten das Ende der DDR ein. Mädlerpassage treffe ich menschenleer an, und nach dem Foto: Siegfried Wittenburg Studium der Abendkarte am Auerbachs Keller wende ich mich aus preislichen Gründen ab, weil erst Mittwoch ist. Ebenso ergeht es mir beim Anschauen der Speisekarten im rin für die Kunsthalle eine Kunsthistorikerin aus Frankreich Barfußgässchen: Sie sind schick, entsprechen aber nicht ein. Sie reißt die Wände ein und präsentiert Werke in riesi- meinem Budget mitten in der Woche. Dann fiel mein Blick gen Formaten, die niemand versteht. Und niemand hat Zeit, auf den Augustiner am Markt. Dort, wusste ich, gibt es bay- sich damit zu beschäftigen. Es geht ums Überleben. erisches Bier und ein Gericht passend zum Portemonnaie. Im Gegenzug landen 23.000 Kunstwerke der DDR in einem Beim Betreten des stilgerechten Wirtshauses, das in der Archiv im brandenburgischen Beeskow, ob sie nun staats- Größe dem Münchner Original kaum nachsteht, empfängt konform waren oder nicht. Auch einige meiner Werke mich die komplette Personalschaft im Dirndl bzw. in Leder- müssten dort gelagert sein, bisher unauffindbar. Fotogra- hose. Ich sage: „Hier muss ich wohl Grüß Gott sagen?“ Die fen aus dem Westen kommen auf mich zu und suchen Mög- Personalschaft lächelt und sagt tatsächlich „Grüß Gott.“ lichkeiten, in Rostock oder anderswo im Osten auszustel- Ich möchte jetzt einwenden, dass Ostdeutschland die len. Sie kommen mit Wucht und besitzen alles, was man atheistischste Region der Welt und Leipzig sicher keine In- braucht. Für das Zusammenwachsen in der deutschen Ein- sel der Frömmigkeit ist. Nachdem ich kulinarisch versorgt heit ist alles gut, schön und notwendig. Doch es gibt kaum wurde, frage ich die im Dirndl gekleidete Kellnerin, ob sie etwas dagegenzusetzen. Jedenfalls nicht in diesen wilden aus Bayern oder aus Sachsen kommt. „Aus der Ukraine“, Jahren. antwortet sie. Anschließend stelle ich dem Kellner in Leder- hose und kariertem Hemd die gleiche Frage. „Ich bin Sachse“, antwortet er, „aber diese Kleidung hat schon Au- Leipzig, Januar 2019 gust der Starke getragen.“ Es ist schon zu spät, diese Aus- sage auf ihre historische Korrektheit zu überprüfen und ich Mich erreicht die Meldung, dass Leipzig die schönste Stadt frage verständnisvoll: „Sicher wollen Sie bayerisches Bier Europas sein soll. Ich verhalte mich solchen Bewertungen verkaufen?“ „Ja.“ gegenüber sehr skeptisch, denn die Kriterien sind sehr un- Beim Bier aus München muss ich über diese Aussage nach- terschiedlich und das Ergebnis kann nur subjektiv gefärbt denken. Ich kenne das Selbstbewusstsein der Bayern („Mir sein. Ich mag viele Städte Europas, darunter Rotterdam, san mir!“), das das der Sachsen („Weschn was flennste Danzig und Bad Nauheim, je nachdem, wo ich mich an in- denn nu schonwidder rum?“) haushoch überragt. Auch ver- teressante Begegnungen mit den dort lebenden Menschen breitet sich die Vermutung in mir, dass das Bundesland erinnern kann. Bitte haben Sie Verständnis, dass ich nicht Sachsen bei der Einführung seines Namenszusatzes „Frei-

90 staat“ stark nach Bayern geschielt hat. Ich grabe in der FÜR FREIHEIT, DEMOKRATIE UND MENSCHENWÜRDE Geschichte. Der Freistaat Bayern existierte bereits, bevor er ein deutsches Bundesland wurde. Sachsen hingegen legte sich erst am Tag der deutschen Einheit diesen Na- menszusatz zu. Eine rechtliche Bedeutung ist damit nicht tes Bier? Richtig: Radeberger. Die Brauerei wurde 1872 ge- verbunden, hört sich nur interessanter an. gründet und war Hoflieferant Seiner Majestät des Königs Doch wie verstehe ich die Sachsen? Die Kellnerin aus der Friedrich August von Sachsen. Die Radeberger Gruppe Ukraine ist nach Deutschland gekommen, um Geld zu ver- KG, eine Tochter-Gesellschaft der Dr. August Oetker AG, dienen. Ob sie dabei einen Blaumann, einen weißen Kittel sitzt in Frankfurt am Main. Sie erzielt einen Jahresumsatz oder ein Dirndl trägt, ist unerheblich. Zu Hause in Mariupol von 1,9 Milliarden Euro. Ob diese ihre Getränke in Unifor- geht sie wieder in „zivil“. Auch ein Norddeutscher, ein men des deutschen Kaiserreichs ausschenkt, wie Friedrich Rheinländer oder ein Saupreiß würde sich ernsthaft nie als August III. sie getragen hat, ist mir nicht bekannt. ein Bayer verkleiden. Das hat mit Fremdenfeindlichkeit nichts zu tun, sondern mit Kultur in den Regionen der deut- schen Föderation. Auch wenn man sich in Bayern umschaut, Peenemünde, Dezember 2018 ist nicht immer Heimat drin, wo Heimat draufsteht. Ein ge- schäftstüchtiger bayerischer Gastronom steckt seine Per- Einer Einladung zu einer Buchpräsentation folgend, reise sonalschaft aus Polen, der Slowakei und Slowenien schon ich bis kurz vor die Grenze zu Polen. Die pommerschen mal in Trachten, um seinen Schmarrn besser zu verkaufen. Kleinstädte Torgelow und Eggesin im heutigen Kreis Vor- Diese Geschichte wird anders verlaufen sein: Der Kellner pommern-Greifswald sind als Garnisonsstädte bekannt. war in Sachsen arbeitslos und musste als Kunde regelmä- Ab 1935 errichteten dort die Nationalsozialisten Rüstungs- ßig bei der Agentur für Arbeit erscheinen. Diese hat ihm betriebe und bauten Wohnanlagen für die Beschäftigten. den Job im neu eingerichteten Augustiner vermittelt. Ab- Männer, die nach dem Krieg dort ihren Wehrdienst bei der schlagen durfte er unter Androhung von Kürzung seiner NVA geleistet haben, nannten die Gegend „Land der drei Bezüge nicht. Der bayerische Arbeitgeber, dem mit hoher Meere: Waldmeer, Sandmeer, nichts mehr“. Richard Kruse Wahrscheinlichkeit der Lohn der Personalschaft in den ers- (Name geändert) holt mich vom Haltepunkt der Bahn ab. ten Monaten von der Arbeitsagentur gesponsert wurde, Durch die Scheiben seines BMW sehe ich modernisierte schrieb die Arbeitskleidung vor. Was blieb dem Sachsen und gepflegte Städtchen. Ebenso erhalte ich einen Ein- übrig, als die Konditionen zu akzeptieren? So entwickelt er druck vom größten Arbeitgeber der Region: die Eisengie- für sich persönlich eine neue Identität, verbiegt etwas die ßerei Torgelow GmbH. Sie beschäftigt bei ca. 100 Millio- Geschichte und beruft sich auf August den Starken. Dabei nen Euro Umsatz um die 500 Mitarbeiter und befindet sich sächselt er als Atheist sein „Grüß Gott“. Und das in einer in österreichischem Besitz. Während der Fahrt durch die Metropole der Helden von 1989! Waldgebiete fallen mir die ehemaligen Militärgelände Ich bezweifle, ob das auf Dauer gut geht. Als ich gehe, auf. Eine ganze Panzerdivision mit einer Stärke von 322 lasse ich das Stimmengewirr eines fast voll besetzten modernen Panzern zuzüglich weiterer Waffeneinheiten Wirtshauses hinter mir. Es wird ein satter Gewinn nach und 8.750 Mann waren hier während des Kalten Krieges München fließen. Aber hat Sachsen nicht auch ein bekann- stationiert. Richard Kruse erzählt, dass es einem Brigade-

Die vom Leipziger Künstler Wolfgang Mattheuer (1927– 2004) im Jahr 1984 geschaf- fene Bronzeplastik „Jahrhun- dertschritt“ wird als ein bedeu- tendes Kunstwerk der DDR bezeichnet. Die Skulptur von Wolfgang Mattheuer, einem der führen- den Vertreter der „Leipziger Schule“, zeigt eine Person, deren lange rechte Hand den Hitlergruß zeigt und deren linke zur proletarischen Faust geballt ist. Der rechte Fuß ist weit nach vorn gestreckt, der linke nach hinten eingeknickt. Dadurch hat die Skulptur etwas Haltloses, verursacht dadurch, dass sie Gegensätzliches in sich vereinigt und das zerrissene 20. Jahrhundert symbolisiert. Foto: Siegfried Wittenburg

91 general der Bundeswehr die Sprache verschlagen hat, als leuchteter Flachbau zum Vorschein. In einem Ausstellungs- er 1990 diese Kampfkraft zu Gesicht bekam. raum werden Schiffsmodelle der Volksmarine, Gemälde, Die hochgerüsteten Einheiten wurden eliminiert, Berufssol- Uniformen und weitere militärische Utensilien präsentiert. daten nach Hause in den Frieden geschickt und Siedlun- In einem anderen Raum locken allerlei Souvenirs zum Kauf. gen mit Mehrfamilienwohnhäusern zurückgebaut. Die Ein- Ein älterer Museumsmitarbeiter, allem Anschein nach ein wohnerzahl hat sich fast halbiert. Die Region ist Hochburg früherer Offizier, spricht mit mir wie mit einem ehemaligen Siegfried Wittenburg der Rechten, denn Rechtssein ist der Protest gegen die rot- Parteikumpel und duzt mich unangenehm. Schlechte Erin- schwarze Landesregierung in Schwerin, die sich weit ent- nerungen kommen hoch und ich gehe auf Abstand. fernt im Westen befindet. Der Schritt von Schwarz zu Blau Die etwa sechzig Sitzplätze im Saal sind ausschließlich oder gar Braun ist kurz. Die Bevölkerung nimmt es ihr übel, von älteren Männern in Zivilkleidung besetzt, einige davon dass die Region wirtschaftlich abgehängt ist und darüber sind weißhaarig. Der Autor wird mit militärischen Ehren be- hinaus für sie wichtige Krankenhäuser schließt. Historisch grüßt und die Männer sprechen sich mit ihren ehemaligen gehört die Region zum Wirtschaftsraum Stettin, doch mit Dienstgraden an. Hendrik Born projiziert Bilder auf die einem Federstrich Stalins, der mit den Alliierten den „größ- Leinwand und erzählt seine Biografie. Er beginnt mit seiner ten Feldherrn aller Zeiten“ besiegt hat, wurde diese Groß- Kindheit, stellt seine Entwicklung als Offizier der Volksma- stadt mit heute 450.000 Einwohnern von Deutschland ab- rine dar, berichtet von seinem Studium an der Seekriegs- getrennt und Polen zugeordnet. Eine wichtige Eisenbahn- akademie in Leningrad und seiner Ausbildung für den Ein- hubbrücke der Strecke von Berlin nach Swinemünde auf satz auf dem Küstenschutzschiff „Berlin Hauptstadt der der Insel Usedom und weiter zu den Seebädern wurde DDR“ in der 4. Flottille in Rostock-Warnemünde. Erst als er 1945 von der Wehrmacht gesprengt und ragt seitdem als über Michail Gorbatschow schimpft, wird er politisch und denkmalgeschütztes Stahlgetüm aus dem Küstengewässer es wird deutlich, wie loyal er zum Staat stand. Ich muss des Stettiner Haffs. Erst 2018 hat Schwerin vergessen, die schmunzeln, als der Admiral stolz von den guten Noten er- Bedeutung des Wiederaufbaus der Bahnstrecke gegen- zählt, die er von seinen Vorgesetzten für die Ausführung über dem Bund fachgerecht zu argumentieren, um sie im der Übungen und Manöver erhielt. Als damals Wehrpflich- Bundesverkehrswegeplan bis 2030 zu verankern. Eine tiger habe ich anders gedacht, denn diese Übungen gal- Stadt der Europäischen Union mit 40.000 Einwohnern ten der Vernichtung des eigenen Bruders im Westen. Aber wurde einfach vergessen. Wer in Schwerin keine Arbeit fin- worauf soll der ehemalige Admiral stolz sein? det, fährt morgens nach Hamburg und kommt abends wie- Mitten im Umbruch der DDR wurde Hendrik Born (Jahr- der nach Hause. Wer im Osten Mecklenburg-Vorpom- gang 1944) am 11. Dezember 1989 zum Chef der Volksma- merns Arbeit sucht, zieht ganz weg. Die jungen Frauen zu- rine berufen. „Diese Zeiten brauchen neue Köpfe“, sagte erst. der damalige Verteidigungsminister der Modrow-Regie- Die Vorstellung des Buches „Es kommt alles ganz anders“ rung, Admiral Theodor Hoffmann. „Sie sind jung und ak- findet am Abend im Marinemuseum in Peenemünde statt. zeptiert in der Truppe. Sie müssen das machen. […] Ich war Der Autor ist Hendrik Born, ehemaliger Vizeadmiral und sicher kein Oppositioneller oder Regimekritiker, aber ich letzter Chef der Volksmarine. Richard Kruse und ich tasten betrachtete das DDR-Regime spätestens in seiner letzten uns durch das schwach beleuchtete Hafengelände der Phase mit sehr kritischen Augen“, erinnert sich Born. „Bei ehemaligen 1. Flottille. Gleich nebenan befindet sich das einem mehrtägigen Flottenbesuch im schwedischen Göte- Historisch Technische Museum der ehemaligen Versuchs- borg stellte ich für mich fest, dass hier ein Gesellschafts- anstalt für Raketentechnik. Am Kai dümpeln zwei schrott- und Sozialsystem hervorragend funktionierte. Genau so reife Raketenschnellboote, dahinter kommt ein hell er- stellten wir uns den Sozialismus in der DDR vor.“

Peenemünde, Hendrik Born, 2018 Dieses Foto zeigt den letzten Chef der Volksmarine, Vizead- miral a. D. Hendrik Born. Das Gemälde im Hintergrund stellt das Küstenschutzschiff „Berlin Hauptstadt der DDR“ beim Ein- laufen in Warnemünde dar. Hendrik Born wurde für dieses Schiff ausgebildet, aber es kam (zum Glück) nie zum Einsatz. Foto: Siegfried Wittenburg

92 FÜR FREIHEIT, DEMOKRATIE UND MENSCHENWÜRDE

schlage zufällig die wichtigste Seite auf und lese: „Das System des real existierenden Sozialismus hatte nach 40 Jahren abgewirtschaftet und war nicht reformierbar. Die inneren Widersprüche waren unauflöslich. Ich denke an die Diskrepanz zwischen dem politischen Führungsan- spruch und seiner Entfremdung von den Realitäten unseres Staates. Die deutsche Wiedervereinigung war, alles in al- lem, ein Glücksfall. Zwar hat es nicht wenige Verlierer ge- geben, zu denen ich in gewissem Sinne zähle. Doch we- sentlich mehr Menschen, und langfristig vor allem den jün- geren, wurde eine Zukunft eröffnet, die sie in der DDR nicht gehabt hätten. Ohne die Bundesrepublik hätte Ost- deutschland mit noch viel größeren Schwierigkeiten zu kämpfen, als es heute der Fall ist. Das zeigt schon der Blick auf die Situation anderer ehemaliger sozialistischer Län- der.“

Eggesin, Ernst Amende, 2018 In einem Ort, der während zweier deutscher Diktaturen eine militärische Rolle spielte, war Ernst Amende als Fotodrogist tätig und für Hobbyfotografen ein fachkundiger Händler und Berater. Mit dem Ende des Kalten Krieges verlor er seine Kundschaft und erlebte einen schmerzlichen Kulturverlust. Foto: Siegfried Wittenburg

Sein Leben verlief unaufgeregt und stetig aufsteigend, bis der Herbst 1989 den Staat zum Fall brachte. Natürlich hatte Gorbatschow daran seinen Anteil. Bürgerrechtler er- schienen im Stab der Volksmarine und junge Matrosen stellten Fragen, worauf die Führung keine Antworten mehr wusste. Er nahm skurrile Meldungen entgegen wie: „Keine besonderen Vorkommnisse. Sechs Mann sind desertiert.“ Ein Schiff der Volksmarine lag laut Einsatzplan ständig auf „Friedenswacht“ vor der Insel Fehmarn. Als die Seeleute an Land gingen, besuchten sie ihre Verwandten in der Bun- desrepublik. Der Admiral a. D. stellt die Friedliche Revolu- tion so dar, als ob sie der Besonnenheit des Staates und seiner militärischen Führung zu verdanken sei. In Wirklich- keit waren es die Bürgerinnen und Bürger, die über die nö- tige Weitsicht und Disziplin verfügten. Hendrik Born wurde am letzten Tag der DDR, am 2. Oktober 1990, entlassen. Er fand Arbeit beim Bremer Vulkan und wurde später Ver- Rostock, Dr. Thomas Diestel, 2017 kaufsleiter für MAN im Gebiet Kaspisches Meer und der Dr. Thomas Diestel gründete 1991 ein Unternehmen der Lüf- Türkei. Weil er Russisch sprach. „Diese Gegend ist für uns tungs-, Klima-, Kälte- und Reinraumtechnik und startete mit noch ein weißer Fleck“, sagten seine neuen Arbeitgeber. 13 Mitarbeitern. Seine übergroßen Mitbewerber aus den Zurück in einem Dorf bei Eggesin stehe ich vor dem Bücher- alten Bundesländern drohten, „alles platt zu machen“. Doch regal von Richard Kruse und bin beeindruckt von seiner Li- er entwickelte trotz der Notwendigkeit, niedrige Löhne zah- teratur über die jüngste deutsche Geschichte. Er zieht ein len zu müssen, eine einzigartige Unternehmensphilosophie Buch heraus und drückt es mir in die Hand. „Der Mann, der und hat damit Erfolg. Heute beschäftigt er über 100 qualifi- die DDR retten wollte“. Der Autor heißt Alexander Schalck- zierte Mitarbeiter bei zwölf Millionen Euro Jahresumsatz. Golodkowski. Er hat das Exemplar persönlich signiert. Ich Foto: Siegfried Wittenburg

93 Ernst Amende ist Drogist. Seine Leidenschaft ist die Foto- grafie und so betrieb er in Eggesin eine Fotodrogerie. Gleichzeitig engagierte er sich für die Amateurfotografie. Mit dabei waren Berufssoldaten der NVA, denn diese gab es in der Gegend reichlich. Ich lernte ihn als einen fachkun- digen und vertrauenswürdigen Menschen kennen. In den Siegfried Wittenburg wilden Jahren nach der deutschen Einheit war ich als Mit- arbeiter im Außendienst für Canon tätig und hatte das Glück, dass diese Fotoapparate auch von den ehemaligen NVA-Offizieren, die teilweise von der Bundeswehr über- nommen wurden, begehrt waren. So kam ich mit Ernst Amende ins Geschäft. Auf die Rechnung, wie viele Millio- nen D-Mark alle vier Canon-Kollegen in den „neuen Bun- desländern“ erwirtschaftet haben, wie viel Geld davon hängen blieb und wie viel wieder auf anderen Wegen in den Westen zurückgeflossen ist, möchte ich heute verzich- Erfurt, Bäckereiwagen, 2012 ten. Ich traf den Drogisten nach etwa 25 Jahren wieder. Er Seit viele Kunden nicht mehr zur Bäckerei kommen, fahren erkannte mich sofort. Jetzt ist er Rentner, hilft gelegentlich die Bäcker zu den Kunden. Besonders in den Regionen, wo im Laden aus, denn die Drogerie führen seine Tochter und ältere und sozial schwache Menschen wohnen und der sein Schwiegersohn fort. Fotoapparate und Zubehör sind öffentliche Nahverkehr eingespart wurde, wird dieser Ser- aus dem Sortiment verschwunden. Es ist niemand mehr da, vice gepflegt. Doch das Geschäft wird weniger, denn die der sich dafür interessiert. Ernst Amende macht auf mich Zahl der Supermärkte nimmt ständig zu. Allein in Thüringen einen traurigen Eindruck. Ich kann nachvollziehen, dass reduzierten sich die Bäckereien auf 70 Prozent im Vergleich der erlittene Kulturverlust schmerzlich ist. zu 2008. Foto: Siegfried Wittenburg

Langen Brütz, Dezember 2017 nen geringeren Lohn zahlte als im Westen üblich. Dafür entwickelte er eine einzigartige Unternehmensphilosophie Thomas D. steht vor mir in der Haustür, groß, stattlich, lä- zum Vorteil seiner Belegschaft. Damit hatte er langfristig chelnd. Er ist der jüngste Bruder meines ehemals besten Erfolg. Heute beschäftigt er über 100 Mitarbeiter bei zwölf Freundes. Zuletzt habe ich Thomas gesehen, als er fünf Millionen Euro Umsatz. Darüber hinaus ist sein kulturelles Jahre alt war. Sein Gesicht hat sich nicht verändert und Engagement hervorzuheben: Er fördert die Kultur in der sofort war Vertrauen zu ihm da. Er ist über eine Stunde ge- Stadt Rostock, wo er unternehmerisch tätig ist, besonders fahren, um sich zwei Bücher signieren zu lassen. Doch zu- das philharmonische Orchester des Volkstheaters. erst muss er mir aus seinem Leben erzählen, natürlich vor allem aus der Zeit nach 1990. Er hat als Ingenieur auf der Warnowwerft gearbeitet, erzählt er. Während der Trans- Erfurt, Juni 2013 formation hat er den Werftdirektor gefragt, ob er einen Betriebsteil übernehmen könne. „Ja“, sagte dieser, „die Kli- Ich erhalte einen Anruf von einem Unternehmen in Erfurt. matechnik, die brauche ich nicht mehr.“ Der Geschäftsführer ist am Apparat und wünscht sich für So hat sich Thomas einige Container auf ein altes Werftge- eine Messe eine Ausstellung mit meinen Fotografien. In der lände gestellt und eine Firma gegründet. Im Osten begann Regel sind die Vorabsprachen kompliziert, doch von ihm der Bauboom. Mecklenburg-Vorpommern brauchte neue kam kurz und bündig die Ansage: „Ich bin Kaufmann. Nen- Gebäude wie Krankenhäuser, Schulen und Firmensitze – nen Sie mir einen Preis.“ Erst später kam mir eine Ahnung, genug Arbeit für qualifizierte Beschäftigte in dieser Bran- dass dieser unerheblich war. Nahe der Landeshauptstadt che. Doch Thomas erzählt auch von seinen übergroßen Thüringens erscheint das Ziel meiner Anreise: Ein Fach- Mitbewerbern aus den alten Bundesländern. „Wir werden großhandel für Bäcker und Konditoren. Der Hauptsitz be- euch alle plattmachen!“, war noch die freundlichste Dro- findet sich in Duisburg. hung im Prozess der deutschen Einheit. Thomas steuerte Der Chef, der ein Headset trägt und permanent mit einem dagegen, indem er seinen Arbeitern und Ingenieuren ei- Unsichtbaren spricht, zeigt mir kurz angebunden einen großen Raum und bittet mich, dort für seine Kunden meine Bilder aufzuhängen. Dann habe ich ihn nicht wieder gese- hen. Kein Plakat, keine Beschäftigung mit dem Inhalt, keine inhaltliche Begleitung, nichts. Bis heute ist mir schleierhaft, wie er auf die Idee gekommen ist, meine Werke in seinem Lagergebäude zu präsentieren. Sie dienen nur zur Umrah- mung seiner geschäftlichen Tätigkeit. Nebenan präsen- tiert ein Zauberkünstler seine Fähigkeiten, irgendwo wer- den Kinder bemalt, auf dem Hof steht eine Hüpfburg und in UNSER AUTOR UNSER einem großen Zelt werden Speisen und Getränke angebo- ten. Als kultureller Höhepunkt tritt ein Udo-Lindenberg- Double auf, während die Bäcker und Konditoren Thürin- Foto: gens Spanferkel verspeisen. Ich langweile mich, fahre in Anna Elisabeth Bruß die Stadt und gehe fotografieren.

94 BUCHBESPRECHUNGEN

Eine persönliche (Sozial-)Geschichte Ostdeutschlands anschließend das Leben der ostdeutschen Bevölkerung im wiedervereinigten Deutschland. Der erste Teil konzentriert Steffen Mau: sich auf mehrere Fragen: Wie haben die Menschen in der Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen DDR gelebt, gewohnt und gearbeitet? Wie hat die Arbeits- Transformationsgesellschaft. gesellschaft die Menschen integriert? Welche wesentli- Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. chen Sozialisationsagenturen gab es? Welche Rolle spiel- 286 Seiten, 22,00 Euro. ten Konformität und Kontrolle? Wie war es um Familie und Privates bestellt? Jahrestage und Jubiläen werden auf dem Buchmarkt zuwei- Steffen Mau beschreibt eine stark nivellierte, auf die Arbeit len etwas überbemüht. Sie gehören jedoch zu Erinnerungs- konzentrierte und durch die Hofierung und Heroisierung punkten, die zur Reflexion anregen. Dreißig Jahre nach dem der Arbeiterklasse charakterisierte, geschlossene und eth- Mauerfall sind mehrere politikwissenschaftliche Sachbü- nisch weitgehend homogene Gesellschaft, die sich von der cher erschienen, die die Friedliche Revolution, die Wende westdeutschen Gesellschaft grundlegend unterschied. und die Wiedervereinigung samt ihren Folgen bilanzieren. Die letzten Jahre der DDR waren durch mangelnde Auf- Von den allesamt lesenswerten Veröffentlichungen hebt stiegsmöglichkeiten, Tendenzen der politischen Erstarrung sich die mit empathischem Blick geschriebene Bilanz des So- und eine stetig zunehmende Unzufriedenheit gekenn- ziologen Steffen Mau ab. Mau gelingt das Kunststück, so- zeichnet – ein ausgelaugtes Land, unfähig zu dynamischen ziologische Analyse und ausgewogene Argumentation mit Entwicklungen. Mit der Wiedervereinigung nun, so die biografischen Erfahrungen gekonnt zu verbinden. Kernaussage des zweiten Teils, wurden strukturelle Beson- Steffen Mau, Professor für Makrosoziologie an der Hum- derheiten der DDR jedoch nicht aufgelöst, sondern mit- boldt-Universität zu Berlin, wächst in den 1970er-Jahren im transportiert, gar verfestigt bzw. vertieft. Gerade die Ent- Rostocker Neubauviertel Lütten Klein auf. In der Nacht vom wertung ganzer Biografien hat zur Verfestigung alter Ein- 9. auf den 10. November erlebt er den Mauerfall als Soldat stellungen sowie zu einer Distanzierung von den „neuen“ der Nationalen Volksarmee. Drei Jahrzehnte nach dem politischen Institutionen, deren Eliten und Repräsentanten Mauerfall zieht er eine sozialwissenschaftliche, aber auch geführt. Diese gesellschaftlichen Frakturen hinterließen eine persönliche Bilanz des Systemwechsels, der die Men- „Narben“ und Hypotheken, die eine gewisse Empfänglich- schen in der DDR völlig unvorbereitet traf. Die Einheit ver- keit für national-identitäre, illiberale und rechtspopulisti- sprach Freiheits- und Wohlstandsgewinne, erfolgte jedoch sche Positionen erklären. als wirtschaftlicher und sozialer Schock – begleitet von Er- Im ersten Teil, der einer dichten Beschreibung gleichkommt, fahrungen der Deklassierung und Entmündigung. Mau schildert Mau das Leben in den Neubaugebieten, die als skizziert und analysiert gekonnt das Nebeneinander von „Idealstädte“ alle sozialen Schichten versammelten, zu ei- Verbesserungen und Gewinnen, die die Einheit mit sich nem hohen Grad an Wohnzufriedenheit führten und letzt- brachte, nimmt aber auch die Verlustseite, die nicht erfüll- lich zur sozialen Nivellierung beitrugen – wohnte man ten Erwartungen, die enttäuschten Hoffnungen und die doch zusammen und gleich. In der DDR wohnte fast ein nicht eingelösten Versprechen – so z. B. die „blühenden Viertel der Bevölkerung in der „Platte“. Die geplanten Vor- Landschaften“ – in den Blick. Er verwendet hierzu in Anleh- zeigeviertel sollten mittels wichtiger Sozialisationsagentu- nung an die medizinische Terminologie den Begriff der ren (Kindergärten und Schulen), Einkaufsmöglichkeiten, „gesellschaftlichen Fraktur“ und meint damit Brüche des Kulturhäuser und durch verschiedene Kollektive (Elternkol- gesellschaftlichen Zusammenlebens, die zu (inneren) Fehl- lektive in Schule und Kindergarten, Hausgemeinschaften stellungen und Verschiebungen führen können. Ost- usw.) für eine besondere Form der Kollektivierung sorgen. deutschland, so die These von Steffen Mau, ist drei Jahr- Wenngleich im Rückblick auch idealisiert, hat die DDR zehnte nach der Wiedervereinigung eine Gesellschaft mit dennoch versucht, materielle Ungleichheiten zu beseiti- zahlreichen Frakturen. Er konterkariert damit auch Narra- gen. In der „nach unten hin nivellierte[n] Gesellschaft“ tive eines relativ bruchlosen ostdeutschen Entwicklungs- (Manfred Lötsch) war die Spreizung der Einkommen ge- pfades und der sukzessiven Normalisierung. ring. Gezielt versuchte der Arbeiter-und-Bauern-Staat mit Steffen Mau betont in seiner Einleitung ausdrücklich, dass den bürgerlichen Privilegien zu brechen. Ein proletarischer er keineswegs eine Gesamtdarstellung der DDR sowie Habitus und die Sozialfigur des klassenbewussten Arbei- eine umfassende Geschichte der Wiedervereinigung und ters wurden zum Idealbild sozialistischer Lebensweise und Transformation beabsichtigt. Vielmehr geht es ihm um sozi- -führung erkoren. Die „äußeren“ Strukturmerkmale hinter- alstrukturelle Wandlungsprozesse und die damit verbun- ließen merkliche Spuren in der Lebensführung und prägten denen Mentalitätsumbrüche. Zudem betont er seine per- die kulturellen Praktiken. In der weitgehend homogenen sönliche Involviertheit, seine Zeitzeugenschaft und seine Gesellschaft der Werktätigen wurde eine bescheidene Le- durchaus gewollte Subjektivität: „Lütten Klein ist [sein] bensweise kultiviert, die Extravaganzen nicht aufkommen Fenster zur Beobachtung des sozialen Wandels in Ost- ließ und stattdessen auf Konformität Wert legte. Abwei- deutschland“ (S. 19). Neben den wissenschaftlichen Quel- chung und Autonomiestreben galten als suspekt, Loyalität len beziehen sich die Urteile und Schlussfolgerungen von hingegen wurde belohnt. Letztlich blieben auch Familie, Steffen Mau auch auf Beobachtungen, Erkundungen vor Privatheit und Erziehung nicht unbeeinflusst. Die ökonomi- Ort und auf mehr als dreißig Interviews, die er in Lütten sche Abhängigkeit der Frauen war durch die gezielte Klein zwischen Sommer 2017 und März 2019 führte. „Emanzipation von oben“ (Rainer Geißler) in der DDR we- Das Buch hat zwei große Teile: Es beschreibt zunächst den niger stark ausgeprägt als dies im Westen der Fall war. Alltag und die Sozialstruktur in der ehemaligen DDR und (Wenngleich dies nicht bedeutete, dass die geschlechts-

95 BUCHBESPRECHUNGEN

spezifische Arbeitsteilung im Privaten aufgehoben war.) Westens von einer „machiavellistische[n] Staatsübernah- Das Private als Rückzugsraum, geduldete „kleine Freihei- mestrategie“. Das „nationale Projekt“ der Einheit brachte ten“ und Strukturmerkmale einer „Nischengesellschaft“ zwar den „Glanz des Konsums“ (S. 128) mit sich, führte zu (Günther Gaus) machten Defizite des Systems vergessen. Prozessen der Liberalisierung und Privatisierung, schlug Man darf sich die DDR – so Steffen Mau – nicht als ein aus- sich aber auch in den Mentalitäten und Einstellungen der schließlich totalitäres Gebilde vorstellen, sondern zum Teil Menschen nieder. Das Wort von „Modernisierungsdefizi- als „kommode Diktatur“ (Günter Grass). ten“ machte die Runde und führte zur Entwertung von gan- Im ersten Teil des Buches überzeugen, wie im Übrigen auch zen Lebensentwürfen, zur „Bereinigung“ des Marktes von im zweiten Hauptteil, mit dem Fließtext abgestimmte Foto- sozialistischen Überbleibseln durch die Treuhand und bin- grafien, die die vorgetragenen Argumente und Schilderun- nen kurzer Zeit zum dramatischen Anstieg der Arbeitslosig- gen stimmig illustrieren. Prägnante Grafiken sorgen für ei- keit bis auf Höchstwerte von mehr als 20 Prozent. Mit der nen raschen Überblick und liefern wesentliche Kennziffern. ökonomischen Übernahme ging der Zusammenbruch der Der zweite Teil des Buches beginnt mit der Beschreibung Arbeitsgesellschaft Hand in Hand. Ostdeutschland wurde des Zusammenbruchs der DDR. Ökonomische Krisensymp- nach der Wende zur „Pionierregion neoliberaler Deregu- tome, eine abschmelzende Massenloyalität und politische lierung“ (S. 161) Den wenigen Profiteuren und Wendege- Zerfallserscheinungen führten zum Umschlagen subjekti- winnern stand die große Mehrheit der Wendeverlierer ge- ver Ohnmacht in kollektive Handlungsmacht. Der Zustand genüber: Arbeitslose, Pendler, Gelegenheitsarbeiter und kollektiver Erregung und Euphorie brachte die „versteiner- in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen „Geparkte“. Die ten Verhältnisse, mit Marx gesprochen, nun plötzlich“ Abwertung der DDR-Kultur, Selbstwertverlust, soziale De- (S. 121) zum Tanzen. Steffen Mau skizziert die wesentlichen klassierung sowie der Austausch der Eliten und ehemali- Stationen der Wiedervereinigung, beginnend mit der gen Kader durch westliches Führungspersonal, die „Auf- Volkskammerwahl im März 1990, deren Wahlergebnis die bauhelfer“, verstärkten den „Vereinigungsschock“ (S. 186) Zustimmung der Bevölkerung zu einem raschen Beitritt sig- und waren mithin die Ursache, dass sich viele Menschen in nalisierte (vgl. auch die Beiträge von Eckhard Jesse und den neuen Ländern immer noch als „Bürger zweiter Klasse“ Gerhard Sälter in diesem Heft). Der Staatsvertrag, der fühlen. Die Transformationserfahrungen haben mentale Wahlvertrag und der Einigungsvertrag bildeten wichtige Spuren hinterlassen. Die Wiedervereinigung war eben Schritte auf dem Weg zur Wiedervereinigung und führten keine Ehe unter Gleichen, bis heute treten deutsch-deut- zur „Eingemeindung“ – kritische Stimmen sprechen von ei- sche Schieflagen zutage, sei es in der wirtschaftlichen und ner „Übernahme“ (Ilko-Sascha Kowalczuk) – der DDR. Der gesellschaftlichen Entwicklung, in (partei-)politischen Bin- Politikwissenschaftler Klaus von Beyme sprach angesichts dungen sowie in der politischen Kultur. Als Symbol der des alternativlosen Beitritts und des vormundschaftlichen deutschen Teilung ist die Mauer mittlerweile länger ver-

bBA18010Cueppers_Aufarbeitung 23.05.18 12:06 Seite 1

Späte Aufarbeitung Späte Aufarbeitung LSBTTIQ-Lebenswelten Späte Aufarbeitung LSBTTIQ-Lebenswelten im deutschen Südwesten im deutschen Südwesten LSBTTIQ-Lebenswelten Für Baden-Württemberg hat sich in den vergangenen Jahren die im deutschen Südwesten Hrsg. von Martin Cüppers und Norman Domeier einzigartige Chance ergeben, durch breit angelegte wissenschaft- liche Aufarbeitungsprojekte sowohl die Lebenswelten von lesbischen, Hrsg. von Martin Cüppers und Norman Domeier schwulen, bisexuellen, transsexuellen, trans- und intergeschlecht - lichen sowie queeren Menschen (LSBTTIQ) als auch die gegen sie Für Baden-Württemberg hat sich in den vergangenen Jahren die gerichteten Verfolgungsmechanismen umfassend in den Blick zu nehmen. Dieses Buch präsentiert erste Erträge dieser universitären und ehrenamtlich geleisteten Forschungsarbeit. Vermittelt wird damit einzigartige Chance ergeben, durch breit angelegte wissenschaft- ein vielschichtiges Bild, das sowohl die Lebens- und Verfolgungs- geschichte von LSBTTIQ im 20. Jahrhundert als auch aktuelle liche Aufarbeitungsprojekte sowohl die Lebenswelten von Entwicklungen und Fragestellungen wie die „Ehe für alle“ und die

Aufhebung von Unrechtsurteilen berücksichtigt. Aufarbeitung Späte lesbischen, schwulen, bisexuellen, transsexuellen, trans- und inter- geschlechtlichen sowie queeren Menschen (LSBTTIQ) als auch die

Die Herausgeber: gegen sie gerichteten Verfolgungsmechanismen umfassend in den PD Dr. Martin Cüppers, geb. 1966, ist wissenschaftlicher Leiter der Forschungs- stelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart. Er forscht zu nationalsozialistischen Verbrechen und deren Bewältigungsversuchen in der Nachkriegszeit. Blick zu nehmen. Dr. Norman Domeier, geb. 1979, ist Akademischer Rat am Historischen Institut der Universität Stuttgart. Sein Forschungsinteresse umfasst die politische Kultur- und Mediengeschichte der europäischen Moderne, insbesondere das Verhältnis Dieses Buch präsentiert erste Erträge dieser universitären und von Macht, Sexualität und Öffentlichkeit. (Hrsg.) Cüppers/Domeier ehrenamtlich geleisteten Forschungsarbeit. Vermittelt wird damit ein vielschichtiges Bild, das sowohl die Lebens- und Verfolgungs- geschichte von LSBTTIQ im 20. Jahrhundert als auch aktuelle Entwicklungen und Fragestellungen wie die „Ehe für alle“ und die Aufhebung von Unrechtsurteilen berücksichtigt.

6.50 Euro zzgl. Versand, Bestellung ausschließlich im Webshop der Landeszentrale für politische Bildung: www.lpb-bw.de/shop E-Book (kostenlos) unter www.lpb-bw.de/e-books.html Kooperationspartner*innen: www.der-liebe-wegen.org und www.lsbttiq-bw.de

96 BUCHBESPRECHUNGEN schwunden als sie gestanden hat, doch die Unterschiede sor schließlich „Die Wiedervereinigung als Herausforde- zwischen Ost und West sind noch sichtbar. Die Bürden der rung politischer Bildung.“ Vergangenheit sind immer noch eine Last der Gegenwart. Bereits das erste Kapitel kann dabei mit einer Überra- Es existiert nicht nur ein ökonomisches und materielles Ge- schung aufwarten. Denn während sich der überwiegende fälle, sondern auch ein soziales Gefälle mit Blick auf Selbst- Teil der Beiträge im gesamten Band mit den Inhalten der bewusstsein, Darstellungsvermögen und gegenseitige Zu- politischen Bildung im Sinne der Vermittlung des politi- hörbereitschaft. Der alleinige Blick auf wirtschaftliche schen Systems der Bundesrepublik befasst, zeigt einer der Kennziffern verstellt die virulente Unzufriedenheit und Sys- hier neu aufgelegten Beiträge aus dem Jahr 2012, dass temskepsis. Der Osten ist, so schlussfolgert Steffen Mau, auch der vorrangig in Asien beheimatete Konfuzianismus eine „Gesellschaft des Verdrusses und der Anfälligkeit für Impulse für die deutsche politische Bildung geben kann. Populismen“ (S. 246) – sicher nicht flächendeckend, aber Denn die Ideen Konfuzius‘ wirken unter anderem in der Per- (wie die letzten Landtagswahlen belegen) auch kein mar- sönlichkeitsbildung. Damit sind sie Grundlage für eine ginales Phänomen. Wenn auch Menschen, Mentalitäten, „nachhaltige, da harmonische Stabilität“ (S. 24). Hier wird Einstellungen und politische Kulturen sich inzwischen an- eine vergleichsweise junge Entwicklung der politischen Bil- genähert haben, werden Unterschiede zwischen Ost und dung angesprochen. Jene, die nicht staats- sondern ak- West weiterhin fortbestehen und die innere Einheit belas- teurszentriert arbeitet und damit die Bürgerinnen und Bür- ten. Man muss nicht alle Feststellungen von Steffen Mau ger in den Fokus rückt. So wird Demokratie nicht nur als teilen, wer jedoch den Osten verstehen will, sollte seine Herrschafts-, sondern auch als Lebens- und Alltagsform soziologisch brillante Bestandsaufnahme lesen. Versteht begriffen. sich seine Diagnose der frakturierten Gesellschaft doch Grundlage der politischen Bildung in Deutschland, das als Einladung zur Reflexion über ostdeutsche Lebenswel- zeigen auch Patzelts Beiträge, bilden Demokratieerzie- ten und Mentalitäten. hung, Bürgerbildung, Kenntnisse des politischen Systems, Siegfried Frech die Fähigkeit zur Bekundung der eigenen Interessen und Selbstbestimmungskompetenz. Zusätzlich sind einige der Beiträge Patzelts geprägt vom Begriff des Patriotismus. Theorie und Praxis der politischen Bildung Dieser unterscheide sich von der Begriffsverwendung von radikal rechter Seite dadurch, dass er die „bislang nicht Werner J. Patzelt: richtig geleistete Verbindung von Nation und Demokratie“ Politische Bildung für ein demokratisches Deutschland. Ziele, (S. 113) anzudenken vermag und Nationalstolz mit Wert- Inhalte und Bilanzen. schätzung für die Demokratie zu verbinden suche. Diese Ergon Verlag, Würzburg 2019. Gedanken, die der Autor im Jahr 2000 listete, scheinen er- 275 Seiten, 45 Euro. neut virulent geworden zu sein. Wenn Pegida und AfD die Formel „Wir sind das Volk“ verwenden und damit versu- Werner J. Patzelt zählte als Professor für Politische Systeme chen, Demokratie und Nation zu einen – dabei aber von und Systemvergleiche an der TU Dresden zu den wesentli- einem homogenen Volksbegriff ausgehen, der weite Teile chen Begründern der Fachdisziplin Politikwissenschaft in der Bevölkerung von politischer Mitbestimmung auszu- den neuen Bundesländern. Seine Lehrstuhlberufung er- schließen versucht – und eine „echte Demokratie“ fordern, folgte bereits 1992. Bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2019 scheint es auch bis heute nicht gelungen, Patriotismus und befasste er sich somit knapp 30 Jahre lang in unregelmäßi- pluralistische Demokratie zu einen, ohne dabei weite Teile gen Abständen mit Aufgaben und Inhalten der politischen der Gesellschaft abzuwerten. Bildung. Mit dem Band „Politische Bildung für ein demokra- Politisch Bildung ist sicherlich kein Allheilmittel gegen die tisches Deutschland“ hat er eine Sammlung seiner (teil- weiteren Phänomene, welche die Berliner Republik bedro- weise unveröffentlichten) Beiträge zum Thema von 1992 hen und denen sich Patzelt ebenso widmet. Diese stellen bis 2013 vorgelegt. Damit gibt der Autor nicht nur einen praktische Herausforderungen für alle aktiven politischen Einblick in den sich stetig ändernden und gerade in den Bildnerinnen und Bildner dar – vom Sozialkunde- bis zum letzten Jahren neu belebten Forschungsgegenstand, son- Volkshochschullehrer. Exemplarisch seien hier genannt: dern auch Kenntnis über die kontinuierliche persönliche Politik- bzw. Parteienverdrossenheit, Veränderung der In- Befassung mit der Thematik. formationsbeschaffung durch die Mediengesellschaft Werner Patzelt, der sich selbst als „Politikerklärer“ (S. 7) (Stichwort: Fake News), Globalisierung, Radikalisierung. betitelt, will mit dem Sammelband aufzeigen, „‚Wozu’ und Aber politische Bildung kann und soll Wegweiser an die ‚Warum’“ (S. 12) politische Bildung notwendig ist. Metho- Hand geben, sich mit diesen Herausforderungen ausein- dische und didaktische Fragen bleiben somit außen vor. So andersetzen zu können. Für Patzelt war es Mitte der unterteilt der Autor den Band in vier Kapitel, die sich nicht 1990er-Jahre bereits ein Erfolg, „dass die meisten Leute chronologisch, sondern thematisch mit den beiden ge- über Politik, über Wirtschaft und Gesellschaft fast wie über nannten Leitfragen befassen. Im 1. Kapitel setzt er sich mit das Wetter und seine Folgen nachzudenken begannen“ „Politische Bildung und Politikwissenschaft“, also der Ver- (S. 229). Wie das Wetter, so bestimmen auch Politik und ortung des Fachs im Kanon der Disziplin, auseinander. Es Gesellschaft unser tägliches Handeln, unsere Motivation folgt Kapitel 2: „Freiheitliche Demokratie und ihre Anforde- und stellen Möglichkeiten und Chancen der Partizipation. rungen an die politische Bildung“. Das 3. Kapitel ist über- Aber erst mit Hilfe weitreichender Kenntnisse über Politik schrieben mit „Einzelaufgaben der politischen Bildung.“ Im können eben diese Räume genutzt, Folgen abgesehen, An- letzten Kapitel betrachtet der emeritierte Dresdner Profes- griffe auf die Demokratie abgewehrt und eigene Hand-

97 BUCHBESPRECHUNGEN

lungsräume erkannt werden. Insofern ist es nur folgerich- zu. Die Aufsatzsammlung ist dabei ein spannender und tig, dass Patzelt auch immer wieder dafür plädiert, Sozial- lohnenswerter Einblick in die Entwicklung des Fachs und und Gemeinschaftskunde in den Schulen auszubauen. Ein seiner Implementierung in die Stundenpläne der Schulen. bis heute währendes Mantra. Darüber hinaus ist es in Zeiten, in denen rechtspopulisti- Während sich das Thema politische Bildung in der Schule sche Parteien sich auf das vermeintliche Neutralitätsgebot steter Aktualität erfreut, zeigt Patzelts Aufsatzsammlung an des Beutelsbacher Konsens berufen, besonders wichtig, einigen Stellen aber auch Alterserscheinungen. So schrieb an die Geschichte der politischen Bildung in der Bundesre- er noch im Jahr 2000: „In der Tat ist der einzige bewährte publik, ihre Entstehung als Demokratiewissenschaft und Bezugsrahmen für Demokratie ohnehin der Nationalstaat“ ihre Vermittlung einer freiheitlich-demokratischen Grund- (S. 115). Hier zeigte spätestens der Brexit, dass eine euro- ordnung zu erinnern. Diese Erinnerungsarbeit ist ein nicht päische Identität mittlerweile ebenso auffindbar ist. Wo zu vernachlässigender Kern des Bandes. sich Identitäten von den Nationalstaaten entfernen, muss Ronny Noak auch die politische Bildung reagieren. Dementsprechend erweiterte sich der zu vermittelnde Wertekanon auch um supranationale Elemente. Wir leben im Zeitalter der Krisen – nicht Den aktuellen Entwicklungen versucht der Autor an einigen Stellen durch Einschübe und Anmerkungen gerecht zu wer- Alexander Görlach: den. Häufig ergänzen diese die Beiträge und vermitteln so Homo Empathicus. Von Sündenböcken, Populisten und der weitergehende Erkenntnisse. An einigen Stellen regen Rettung der Demokratie. diese selbst zu weiteren Gedanken an. Dass Werner Pat- Herder Verlag, Freiburg/Breisgau 2019. zelt die Politik der Bundesregierung in einer Fußnote bei- 192 Seiten, 18,00 Euro. läufig als „Staatsversagen anlässlich des Migrationsge- schehens von 2015/16“ (S. 122, FN 3) bezeichnet, sagt aber Der Titel des Buches ist vielversprechend: Homo Empathi- schließlich mehr über den Autor, als über den Gegenstand cus – von Sündenböcken, Populisten und der Rettung der der Analyse. Demokratie. Mit diesen Begriffen trifft er den Ton der Zeit. Deutlich wird aber insgesamt, dass kein Zweifel an der Vielleicht geben sie endlich die Antwort auf die Frage, wer Notwendigkeit der politischen Bildung bestehen darf. Um hat Schuld an der Misere, dass linke und rechte Ränder des über Funktion, Stellenwert und Ausprägung der politischen politischen Spektrums stark werden? Wie gehen wir mit Po- Bildung als Teil der Demokratieerziehung in Wissenschaft pulisten um? Wie können wir die Demokratie retten? Alex- und Gesellschaft nachzudenken, bieten sich bei der Lek- ander Görlach, promovierter Linguist und Theologe, türe genügend Ansätze. Gerade in Abgrenzung zur Staats- selbsterklärter „Anywhere“ (S. 76), weil wohnhaft in Berlin bürgerkunde der DDR, auf die allerdings in den Aufsätzen und New York, hat den Anspruch, Lösungen aufzuzeigen wenig Bezug genommen wird, zeigt sich Transformations- – so steht es zumindest im Klappentext des Buches. Um sich und Wissenschaftsgeschichte hier auf gedrängtem Raum. dieser Lösung zu nähern, untersucht er zunächst, wieso wir Zusammenfassend lässt sich sagen: Aufsatzsammlungen überhaupt eine solche brauchen. In zehn Kapiteln be- eines Autors sind häufig ein zweischneidiges Schwert. Ei- schreibt er, welche Krisen uns im 21. Jahrhundert beschäf- nige der Aufsätze mögen in ihren Erkenntnissen überholt tigen, wie sich die liberale Demokratie verzehrt, welche sein, andere scheinen aber gerade aufgrund aktueller Um- Werte und Tugenden wir über Bord geworfen haben und stände passender denn je. Patzelts Sammlung ist daher ein wie ein neuer Gesellschaftsvertrag Rettung verspricht. möglicher Zugang zur Geschichte einer Disziplin, die die Somit beginnt das Buch mit einer Aneinanderreihung von Grundlagen unseres Zusammenlebens maßgeblich beein- Momenten der Nachkriegsgeschichte, die Görlach als Kri- flusst, in Wissenschaft und Praxis doch aber häufig eher sen bezeichnet: Flüchtlingskrise, Findungskrise nach den stiefmütterlich behandelt wird. Wie bei einem Mosaik setzt Anschlägen des 11. Septembers 2001 und die Finanzkrise. sich bei der Lektüre so ein zunächst noch fragmentarisch Insbesondere letztgenannte hat es dem Autor angetan, erscheinendes Bild über Bedingungen, Herausforderun- denn sie offenbart seiner Ansicht nach das Versagen der gen und Besonderheiten des Faches zusammen. Erkennt- Politik, vielmehr das der politischen Akteure: Indem Präsi- nisreich erweist sich hier zudem die besondere Beachtung denten und Minister Systeme wie den Finanzsektor nicht der ostdeutschen Nachwendeperspektive. Dennoch blei- regulieren, sondern nur an den ökonomischen Vorteilen für ben einige Fragen offen: Wie sieht es beispielsweise mit ihr Land oder – schlimmer – an ihrem persönlichen Nutzen den aktuellen Herausforderungen der politischen Bildung interessiert sind, tragen sie die Schuld an eben diesen Kri- aus? Keiner der Texte ist jünger als eine halbe Dekade – sen. Zu diesem rational kalkulierenden, kapitalistischen und doch steht das demokratische System der Bundesre- und wirtschaftlich-orientierten Homo Oeconomicus skiz- publik seit dem NSU, dem Erstarken von Rechtspopulismus ziert der Autor nach und nach einen Gegenentwurf: den und -extremismus sowie der Bedrohung von Lokalpolitikern Homo Empathicus. Ein empathischer Mensch, der sich an vor neuen Herausforderungen, auf die sie neue Antworten Moral, Tugenden und Werten, die der Gemeinschaft dien- finden muss. lich sind, orientiert, kann nicht Heraufbeschwörer von den Erkenntnisreich ist der Band vor allem für jene, die sich mit zuvor zitierten Krisen sein. Görlach argumentiert anhand der Gründungsgeschichte der politischen Bildung in den religiöser Motive: Sündenbock, Todsünde, christliche neuen Bundesländern nach der Friedlichen Revolution Nächstenliebe. Den Menschen und vor allem den Autokra- 1989/90 auseinandersetzen wollen. Patzelt kommt in die- ten und Populisten dieser Welt fehle es an eben diesen sem Prozess die Position eines Theoretikers wie Praktikers moralischen Leitplanken und Werten. Statt Freiheit, Tole-

98 BUCHBESPRECHUNGEN ranz und Offenheit predigen „Strongmen“ (S. 178) wie Vik- fällen. Schade! Denn der Titel suggeriert, er habe eine Idee tor Orbán, Donald Trump und Recep Erdoğan nach Ansicht gefunden, den Fängen der Populisten zu entkommen und Görlachs eine Politik der Abschottung und Ausgrenzung. zukünftig Krisen zu vermeiden. Dies führe dazu, dass wir heute in einer illiberalen Demo- Seine Beispiele aus den USA, aus Deutschland oder seiner kratie – als Antithese zur liberalen Demokratie – leben. Da- persönlichen Vita erzeugen „starke Bilder“, wie er sie in bei ist Demokratie für den Autor „viel mehr als ein Mehrpar- seinem Buch permanent nennt. Er erinnert an die soge- teiensystem mit Parlamentswahlen“ (S. 69): Sie ist eine soli- nannten Krisen unserer Zeit und kommentiert die aktuellen darische Gesellschaft, losgelöst von kleinlichen Parametern gesellschaftlichen und moralischen Entwicklungen. Gör- wie Nationalität, Herkunft oder Geschlecht. Populisten be- lach schreibt flüssig, obgleich zahlreiche englische Be- stehen aber darauf, diese Gesellschaft nach Hautfarbe griffe, lateinische Zitate sowie Anekdoten aus der Antike und Glaube zu separieren und erzeugen so Unfriede. Die und der Bibel der Leserin bzw. dem Leser eine hohe Kon- Krise der Demokratie ist für Görlach daher eine Krise der zentrationsfähigkeit abverlangen. Allerdings: Der Titel ver- Empathie und manifestiert sich im Aufstieg und Erfolg der spricht mehr. Nur in einer utopischen Wunschvorstellung Populisten. würden sich Staaten von einem Homo Empathicus regieren Görlach schöpft seine Ideen zu eben diesen Krisen nicht lassen. Schließlich geht der verantwortungsvolle Umgang etwa nur aus eigenen Beobachtungen, er zitiert bevorzugt mit Ressourcen und Steuergeldern nicht immer mit unendli- aus einem Aufsatz von Ralf Dahrendorf aus dem Jahr 2009. cher Solidarität und Nächstenliebe einher. Er sagt es Dieser widmete sich der Rolle eines mündigen Bürgers: der selbst: In den USA – der Demokratie schlechthin – wollen „citizenship“ (S. 16). Staatsbürgerschaft und die Über- die Bürgerinnen und Bürger nicht einmal einen Dollar ihres nahme von Verantwortung sind nicht von ethnischen oder Geldes in eine Sozial- oder Krankenversicherung stecken, religiösen Merkmalen abhängig – obwohl uns Populisten von der dann im Ernstfall Andere profitieren würden. Aber genau Gegenteiliges weismachen wollen. Dahrendorfs auch das gehört zur Citizenship: die Freiheit, sich gegen Thesen haben rund zehn Jahre später noch nicht an Aktua- etwas zu entscheiden, was man unter Empathie verbuchen lität eingebüßt, konstatiert Görlach zu Recht. Flüchtlinge in könnte. Letztlich ehrt Görlach mit seinen Ausführungen vor einem Boot erzeugen mehr Emotionen als die Euro-Rettung allem den Soziologen Ralf Dahrendorf, der sich mit den Griechenlands und somit auch „starke Bilder“ (S. 9). Gör- Herausforderungen unserer Zeit für Mensch und Gesell- lach begreift, dass Populisten eben diese „starken Bilder“ schaft auseinandergesetzt hat. Sie zeigen: Früher wie – oder vielmehr die damit einhergehenden Emotionen – für heute gab und gibt es Krisen in den westlichen Demokra- ihre Zwecke nutzen. Jedoch will er „kein Urteil über die tien. Früher waren es Hungersnöte, Kriege, Ausbeutung. Schädlichkeit oder die Wirksamkeit von Populismus“ (S. 50) Sie waren essentiell, und jeder war in irgendeiner Art und

Die Reihe MATERIALIEN entwickelt in Zusammenarbeit mit Gedenkstätten Angebote zur Geschichtsvermittlung an außerschulischen Lernorten.

• „Heraus zum Massenstreik“ MATERIALIEN Der Mössinger Generalstreik vom 31. Januar 1933 – linker Widerstand „Heraus zum Massenstreik“

Der Mössinger Generalstreik vom 31. Januar 1933 – linker Widerstand in der schwäbischen Provinz in der schwäbischen Provinz. Lese- und Arbeitsheft zur nationalsozialistischen Geschichte: Lernen mit regionalem Bezug. Das Heft stellt diese Widerstandsaktion dar, zeichnet die besondere Vorgeschichte in dem Ort nach und beleuchtet MATERIALIEN die langwierige Aufarbeitung.

„Ich habe den Krieg verhindern Stuttgart 2015 , 64 Seiten, kostenlos wollen“ Der Hitler-Gegner Georg Elser und sein Attentat vom 8. November 1939 – die Motive, Vorbereitungen und Folgen • Hitler-Gegner Georg Elser „Ich habe den Krieg verhindern wollen“ - Der Hitler-Gegner Georg Elser und sein Attentat vom 8. November 1939 – die Motive, Vorbereitungen und Folgen. Das Heft umfasst Texteinheiten mit ergänzenden Arbeitsblättern, die Elsers Lebensgeschichte, seinen Werdegang und das Attentat dokumentieren. Stuttgart 2014 , 66 Seiten , kostenlos

Bestellung oder Download als PDF, kostenlos (ab 500 g zzgl. Versand). Bestellung ausschließlich im Webshop der Landeszentrale: www.lpb-bw.de/shop

99 BUCHBESPRECHUNGEN

Weise betroffen. Und heute? Görlach behauptet, auch den, begrenzt. Im 21. Jahrhundert explodierte quasi das heute bestimmen Krisen die „starken Bilder“ der westlichen Medienangebot, vor allem in den sozialen Medien. Demokratien. Es ist immer leicht, theatralisch und medien- Viele private Sender fühlen sich nicht primär der Wahrheit wirksam die nächste Herausforderung, einen Wahlaus- verpflichtet, und für privatwirtschaftliche Nachrichtenme- gang oder Börsensturz als „Krise“ zu betiteln – dies gilt für dien sei politischer Bullshit ein Geschäft, konstatiert Müller Politikerinnen, Politiker ebenso wie für Publizisten. Dabei anhand von anschaulichen Beispielen. US-Sender sehen handelt es sich oftmals jedoch einfach nur um ein schreck- sich kaum in der Lage, all dem Geld auszuweichen, das liches Ereignis, eine unangekündigte Situation, auf die sich dadurch in die Kassen gespült werde. Immer mehr Zu- Bürgerinnen und Bürger wie Politiker und Politikerinnen erst schauer bevorzugen eher „Soft News“, statt sich mit der einmal einstellen müssen. Immer nach der nächsten Krise harten und komplexen Realität zu befassen. Müllers Fazit: zu schreien – das ist nicht empathisch, sondern populis- „Bullshit, der in großer Menge die öffentliche Sphäre ver- tisch. stopft, ist deshalb alles andere als ungefährlich.“ Susanne Thelen Wer gut für seine Urteilsbildung informiert sein will, muss Zeit und Mühe aufwenden und darf nicht einer Herde von Influencern und unzuverlässigen Quellen hinterherlaufen, Die permanent aufgeregte Republik was sich mit dem Wortspiel „Blinde führen die Blinden“ gut veranschaulichen lässt. Auch auf diese Weise tragen sozi- Henrik Müller: ale Medien mit Stimmungsmache, Lügen und Halbwahr- Kurzschlusspolitik. Wie permanente Empörung unsere heiten zur „Kurzschlusspolitik“ bei. An dieser Stelle fordert Demokratie zerstört. Müller deshalb eine Grundversorgung mit Qualitätsme- Piper Verlag, München 2020. dien, Bildung und Kultur. 256 Seiten, 22 Euro. Im siebten Kapitel stellt der Autor mehrere Anforderungen an vertrauensvollen Journalismus: ein Thema persönlich Sind wir mittendrin in einer Phase, in der 75 Jahre nach durchdringen und für das Publikum „konsumierbar“ ma- dem Ende des „Dritten Reiches“ unsere Demokratie aufs chen, die eigene Tätigkeit und Rolle im täglichen Geschäft Neue gefährdet ist? Wird sie gerade schon zerstört? reflektieren, das Leserinteresse um Hintergründiges, Über- Henrik Müller, bis vor kurzem stellvertretender Chefredak- raschendes und Kontraintuitives ergänzen! Einen hohen teur der Zeitschrift „manager magazin“ und heute Profes- Wert haben exklusive Recherchen und Analysen. Gute sor für wirtschaftspolitischen Journalismus an der TU Dort- Journalisten sollten zudem dreifach unabhängig sein: in- mund, benennt gleich zu Beginn seines Buch „Kurzschluss- tellektuell, ideologisch und wirtschaftlich. politik“ eine dramatische aktuelle Erscheinung: die Zurück zur gefährdeten Demokratie: Wenn sich unsere frei- „permanente Empörung“. Fast unerschöpflich entstehen heitliche Gesellschaftsordnung nicht weiter auf dem Rück- neue Krisen, Umbrüche, Konfrontationen und Verwerfun- zug befinden soll und Menschen im politischen Betrieb gen, Verfallsprozesse, so dass „Unsicherheit“ das Lebens- Gehör finden und mitentscheiden wollen, so wäre die Form gefühl unserer Zeit geworden ist. Auf der Suche nach den der Volksabstimmung neu zu bedenken. Dazu gibt es posi- Schuldigen brandmarkt er nicht unbedingt die „üblichen tive Beispiele (die lange Tradition in der Schweiz) und ne- Verdächtigen“ (Eliten in Politik, Topmanager, Finanziers, gative (Brexit-Desaster). Müller stellt die Forderung auf: Populisten, Journalisten, den Turbokapitalismus), sondern „Referenden sollten über Fragen abgehalten werden, die den sogenannten „Zerfall der Öffentlichkeit“. die Bürger konkret betreffen und deren direkte Folgen sie Bisher führten Profis aus Politik und Journalismus, Kultur und beurteilen können. Sie sollten viel häufiger als bislang auf Wissenschaft die politische Debatte an. Heute mischt lokaler und regionaler Ebene stattfinden“ (S. 208). quasi jeder mehr oder weniger Qualifizierte in den Social „Was können wir gegen den Zerfall der Öffentlichkeit Media-Kanälen mit. Ursprünglich wurde diese elektroni- tun?“ – so lautet Müllers letztes Kapitel. Was muss gesche- sche Form der Beteiligung als Instrument der Demokratisie- hen, dass die liberale Gesellschaftsordnung ihre Bürger rung enthusiastisch gefeiert. Zunehmend kommt aber nun und Bürgerinnen nicht verliert? Erste Antwort: Es muss be- die dunkle Seite zum Vorschein. „Das abgewogene infor- sonders in den sozialen Medien wieder „Anstand“ und mierte Urteil wird abgelöst von der impulsiven Meinung“ „Vernunft“ einkehren – zwei auf bedrückende Art altmodi- (Facebook, Whatsapp, YouTube, Tweets). Vernünftige Ent- sche Begriffe. In der journalistischen Praxis braucht es eine scheidungen werden durch „Kurzschlusspolitik“ (so auch fundierte Ausbildung. Qualitätsjournalismus muss als Ge- der Buchtitel) verhindert. gengewicht den „Verstand betäubenden Lärm“ von Social Der Autor beobachtet „dröhnende Intoleranz“ und Miss- Media und Populismus übertönen. achtung von demokratischen Kompromissen statt ernsthaf- Müllers weitere These, dass eine möglichst weite Verbrei- ten Diskurs. Eine weitere sprachlich gelungene und gleich- tung von digitalem Journalismus durch allgemeine Abga- zeitig besorgniserregende Feststellung über die Informati- ben (vergleichbar mit der Regelung bei den öffentlich- onsflut an Push-Meldungen, Whatsapp-Nachrichten: „In rechtlichen Anstalten) finanziert werden müsste, ist eine der Wahrnehmung vermischt sich das Triviale mit dem neue Idee, über die sich nachzudenken lohnt. Ebenso ein- Wichtigen, das Reale mit dem Fiktionalen, Bullshit mit zigartig ist seine Überlegung, eine Art „europäische ARD“ Wahrheit“ (S. 21). zu gründen. Warum gibt es immer mehr Bullshit? Früher verbreitete er Auf den letzten Seiten seines Buches fordert Müller zusam- sich beispielsweise am Kneipentresen, und seine Wirkung menfassend: Niedermachen verboten! Fair sein! Für neue war wegen der wenigen Menschen, die damit erreicht wur- Fakten und Deutungen offen sein! International denken!

100 BUCHBESPRECHUNGEN

Fakten zuerst! Positive Energie entwickeln statt Destruk- Zuckmayer oder auf die Novelle „Klein und Wagner“ von tion! Hermann Hesse, die durch den Fall des Amokläufers Wag- Fazit: Übersichtlich, gut gegliedert, mit Statistiken sowie ner angeregt wurde, hingewiesen. Cineasten werden sich Schaubildern veranschaulicht und mit vielen aktuellen Bei- über die Hinweise auf Werner Herzogs Verfilmung des spielen durchsetzt, lohnt es sich allemal in der heutigen Kasper Hauser-Falls („Jeder für sich und Gott gegen alle“) aufgewühlten Zeit, dieses Buch Multiplikatorinnen und oder den in Anlehnung an die Haarmann-Protokolle ent- Multiplikatoren der politischen Bildung zu empfehlen. standenen Film „Totmacher“ (mit Götz George als Fritz „Müllers Memo“, seine persönliche wöchentliche „Spiegel“- Haarmann) freuen. Online-Kolumne ließe sich ergänzend aktuell als über- Die „kriminal-historische Zeitreise“ (Elmar Erhardt) beginnt schaubarer Text heranziehen. Engagierte Lehrerinnen und mit dem Fall des Räuberhauptmanns Schinderhannes, ge- Lehrer könnten in der Praxis der Medienerziehung so man- folgt von der rätselhaften, in ganz Europa mit großem Inte- che von Twitter, Whatsapp und Fake News geplagte Schü- resse verfolgten Geschichte des Findlings Kasper Hauser. lerinnen und Schüler ein wenig schlauer machen. Im Anschluss konzentriert sich Erhardt auf den Amoklauf Berthold Schäffner des Lehrers Ernst August Wagner. Dieser erste, in das Lehr- buch der klinischen Psychologie eingegangene Amoklauf hat eine tragische Parallele: Wagner wurde nach seiner Zwei Jahrhunderte Kriminalgeschichte Verurteilung im „Irrenhaus“ in Winnenden untergebracht. Am selben Ort startete am 11. März 2009 der 16-jährige Elmar Erhardt: Schüler Tim Kretschmer einen Amoklauf in der dortigen Re- Deutsche Kriminalgeschichte. Verbrechen und Strafe als alschule. Geschildert wird in der Folge der Fall des Mas- Spiegel der Gesellschaft. senmörders Fritz Haarmann, der es in einem Gassenhauer Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2019. zur traurigen Berühmtheit brachte: „Warte, warte nur ein 230 Seiten, 29,00 Euro. Weilchen, bald kommt Haarmann auch zu dir, mit dem klei- nen Hackebeilchen, macht er Leberwurst aus dir.“ Als am Verbrechen und Täter üben seit jeher eine abstoßende Fas- 27. Februar 1933 der Reichstag brannte, begann die bra- zination auf Menschen aus. Vergessen wird dabei oft, dass chiale Durchsetzung der Nazi-Diktatur in Deutschland. der einzelne Fall bzw. das einzelne Verbrechen immer auch Dieses Kapitel beginnt mit den eigentlichen Ereignissen am die Signatur des jeweiligen Zeithorizontes widerspiegelt. Abend des 27 Februar und schildert im Anschluss die noch Verbrechen sind beileibe nicht „geschichtslos“! Der rechtli- in der Nacht des Brandes beginnende Verfolgung von che Umgang mit den Verbrechen wirft ein Schlaglicht auf Funktionären und Mitgliedern der KPD sowie von zivilcou- den gesellschaftlichen und historischen Kontext. Die histo- ragierten Gegnern der Nazis (Erich Mühsam, Carl von Os- rische Kriminalitätsforschung hat sich im angelsächsischen sietzky). Parallel dazu wurde die Strategie zur Machtüber- und französischen Sprachraum bereits seit den 1970er- nahme forciert – noch in der Brandnacht wurde am Entwurf Jahren, im deutschen Sprachraum erst seit etwa 1990 eta- einer neuen Notverordnung gearbeitet, die am 28. Feb- bliert. Im Fokus steht dabei die soziale Realität der Krimina- ruar als „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz lität, der Devianz und ihres Umfeldes. Kriminalitätsge- von Volk und Staat“ veröffentlicht wurde, gefolgt vom „Er- schichte tangiert insofern auch die Sozial-, Politik- und mächtigungsgesetz“ am 23. März 1933. Die Vita des ange- Rechtsgeschichte. klagten Marinus van der Lubbe und der Prozess selbst, in Elmar Erhardt führt die Leserinnen und Leser in seinem dem die Auseinandersetzung zwischen dem mitangeklag- jüngst erschienenen Buch „Deutsche Kriminalgeschichte“ ten bulgarischen Kommunisten Georgi Dimitroff und Her- anhand berühmter Verbrechen, beginnend mit der Hinrich- mann Göring weltweite Aufmerksamkeit fand, werden kon- tung von Johannes Bückler, genannt „Schinderhannes“, am zise erörtert. Kommentare zu kriminalistisch-kriminologi- 21. November 1803 bis zur Verurteilung des Mörders des schen Aspekten und Anmerkungen zur eklatanten bekannten Münchner Modedesigners Rudolph Mosham- Verletzung des Strafrechts, einschließlich der Todesdro- mer am 21. November 2005, durch zwei Jahrhunderte hung Görings gegenüber Dimitroff, sind ein weiterer Be- deutscher Kriminalgeschichte. Erhardt lehrte bis zu seiner standteil des Kapitels, ebenso wie der „Historikerstreit“ um Emeritierung Strafrecht, Strafverfahrensrecht sowie Ord- die Täterschaft. nungswidrigkeitenrecht beim Bundeskriminalamt und an Die Epoche der Bundesrepublik beginnt mit der Ermordung der Hochschule für Polizei Baden-Württemberg. Erklärte der Prostituierten Rosemarie Nitribitt, zu deren Kunden- Intention des Bandes ist es, den Blick über die spektakulä- kreis die noble Gesellschaft (Krupp, Quandt, Sachs & Co.) ren Einzelfälle hinaus auf die zeitgeschichtlichen Struktu- gehörte. Der Fall der Vera Brühne mit seinem fragwürdigen ren zu lenken. Indizienprozess und die Verbrechen des Kindermörders Die Darstellung der einzelnen Fälle folgt einem bestimmten Jürgen Bartsch lösten in der noch jungen Bundesrepublik Muster. Im Mittelpunkt stehen zunächst die Verbrechen heftige und kontroverse Diskussionen über die rechtliche selbst, gefolgt von den Täter- und Opferbiographien, den Ahndung aus. Schließlich schildert Erhardt zwei Fälle aus polizeilichen Ermittlungen und den Strafprozessen. An- der DDR: Erwin Hagedorn, der „Jürgen Bartsch der DDR“ schließend werden die einzelnen Verbrechen in den krimi- hatte drei Kinder getötet und wurde am 15. September nologischen und strafrechtlichen Kontext gesetzt. Am Ende 1972 durch einen Pistolenschuss in den Hinterkopf hinge- eines jeden Falls wird die Rezeption in Literatur, Theater, richtet. Im Fall „Kreuzworträtselmord“ wurde mit der Aus- Musik und/oder Film skizziert. So wird z. B. auf die literari- wertung von 550 000 Schriften eine große Schriftproben- sche Verarbeitung des Schinderhannes-Stoffes durch Carl überprüfung in die Wege geleitet, die so nur in einem tota-

101 BUCHBESPRECHUNGEN

litären System stattfinden konnte. Mit den vom „Hammer- wird die Darstellung der einzelnen Kriminalfälle dem ein- mörder“ begangenen Morden und Banküberfällen, die in gangs geschilderten Anliegen Erhardts gerecht: Kriminal- den Jahren 1984 und 1985 in Baden-Württemberg die Ge- geschichte findet keineswegs in einem historischen Va- müter erregten, setzt sich ein weiteres Kapitel auseinander. kuum statt, sondern ist stets an die politische und soziale Weitere Falldarstellungen konzentrieren sich auf den Geschichte der jeweiligen Epoche gebunden. Ohne Na- „intelligenteste[n] Straftäter der deutschen Kriminalge- poleons Besetzung des Rheinlandes hätte es den Räuber- schichte“ (Elmar Erhardt), auf den unter dem Pseudonym hauptmann Schinderhannes wohl nicht gegeben. Als der bekannt gewordenen Kaufhauserpresser „Onkel Dago- Reichstag in Berlin brannte, begannen die Diktatur der bert“. Abschließend werden die Fälle des „Kannibalen von Nazis und die Verfolgung politisch Andersdenkender. Der Rotenburg“ und die Ermordung des Rudolph Moshammer Fall der Edelprostituierten Rosemarie Nitribitt ereignete behandelt. sich während des Wirtschaftswunders. Fälle aus der Ära Bei all diesen Fällen, so spektakulär und schillernd sie auch Adenauer oder aus der ehemaligen DDR können nur vor sein mögen, geht es Erhardt beileibe nicht um das Faszino- dem Hintergrund der jeweiligen gesellschaftlichen Situa- sum „Verbrechen“. Zwei Aspekte des Buches sind beson- tion angemessen interpretiert werden. Der strafrechtliche ders hervorzuheben: Interessant sind zunächst die fachli- Umgang mit zwei Kindermördern, der eine aus der Bun- chen Kommentare und Anmerkungen, die ein überaus brei- desrepublik (Jürgen Bartsch), der andere aus der DDR (Er- tes Spektrum kriminalwissenschaftlicher Themen berühren. win Hagedorn), ermöglicht einen Vergleich zweier unter- Es geht um „Serienmord“, „Triebtäterschaft“ sowie um bri- schiedlicher politischer Systeme. sante und kontrovers diskutierte Themen wie „Amoklauf“ Der historische Längsschnitt, der 200 Jahre Kriminalge- oder „Kannibalismus“. Damit kommen auch phänomenolo- schichte anhand spektakulärer Fälle schildert, ist reich be- gische Tätertypen ins Spiel (z. B. Kindermörder, Serienmör- bildert und lässt in allen Fallschilderungen zeitgenössische der, Amokläufer, Raubmörder). Im Fokus stehen aber auch Quellen zu Wort kommen. Der Band zeigt, dass Kriminal- strafrechtliche Themen. So geht es bei Mordfällen z. B. um geschichte primär die Geschichte von Taten, Verbrechen, Fragen von „lebenslanger Freiheitsstrafe“ oder die „beson- Ermittlungen und Prozessen ist. Bei der Kriminalgeschichte dere Schwere der Schuld“. Erhardt streift in den verständ- stehen Taten und Täter naturgemäß im Vordergrund. Und lich geschriebenen Anmerkungen, die jeden Fall unter der wer nimmt die Opfer in den Fokus? In den Schilderungen strafrechtlichen Perspektive erörtern, auch rechtstheoreti- hat Erhardt versucht, Geschichte auch aus der Perspektive sche und rechtsphilosophische Fragen – etwa die Frage, der Opfer zu schreiben. Elmar Erhardt hat eine nicht nur welchen Zweck die staatliche Strafe eigentlich hat. Diese aufschlussreiche, sondern auch überaus kurzweilige Stu- Kommentare sind deshalb verdienstvoll, weil sie auch von die für historisch Interessierte vorgelegt. strafrechtlichen Laien verstanden werden. Vor allem aber Siegfried Frech 74–2017 4–2017 3/4–2017 Zeitschrift für die Praxis der politischen Bildung politischen der Praxis die für Zeitschrift Zeitschrift für Gemeinschaftskunde, Geschichte und Wirtschaft und Geschichte Gemeinschaftskunde, für Zeitschrift E4542

Frankreich Die neuen Medien und die Mit spitzer Feder politische Meinungsbildung Karikaturen zu zehn Themenfeldern »Fake News« - ein Produkt der neuen Medien?

www.lpb-bw.de www.lpb-bw.de www.lpb-bw.de

due74_cover.indd 2 16.11.17 08:13 bis2017_04_cover.indd 2 23.11.17 09:58 Für alle, die mehr wissen wollen - die Zeitschriften der Landeszentrale für politische Bildung BW • BÜRGER & STAAT – Zeitschrift für Multiplikatoren politischer Bildung, Abonnement: 4 Hefte/Jahr 12.80 Euro, www.buergerimstaat.de • POLITIK & UNTERRICHT – Zeitschrift für die Praxis der politischen Bildung, Abonnement: 4 Hefte/Jahr 14.00 Euro, www.politikundunterricht.de • DEUTSCHLAND & EUROPA – Zeitschrift für Politik, Geschichte, Deutsch, Geografie und Kunst, Abonnement: 2 Hefte/Jahr 6.- Euro, www.deutschlandundeuropa.de

Bestellung oder Download als PDF, kostenlos (ab 500 g zzgl. Versand). Bestellung ausschließlich im Webshop der Landeszentrale: www.lpb-bw.de/zeitschriften.html

102 BUCHBESPRECHUNGEN

Eine südbadische Kleinstadt im Nationalsozialismus Die Erinnerungskultur hatte in Waldkirch lange Zeit einen schweren Stand. Platzte doch 1989 die Nachricht in die Wolfram Wette (Hrsg.): Kleinstadt, der aus Waldkirch stammende SS-Standarten- „Hier war doch nichts!“ Waldkirch im Nationalsozialismus. führer Karl Jäger habe in Litauen als verantwortlicher Kom- Donat Verlag, Bremen 2020. mandeur eines Einsatzkommandos die Ermordung von 528 Seiten, 29,80 Euro. mehr als 138.000 Juden und anderen Verfolgten geleitet. (Bezug: Stadt Waldkirch, Dezernat II/Abteilung 2.1 Kultur – Dieser „schwer verdauliche Brocken [hing fortan] über der Stadtarchiv, Freie Straße 17, 79183 Waldkirch; Tel.: 07681/474 08 Stadt“ – so Wolfram Wette, der 2011 eine Biographie über 57 oder: [email protected]) Karl Jäger veröffentlichte. Auch in dem vorliegenden Sam- melband wird das Massenverbrechen von Karl Jäger kurz Bereits Mitte der 1960er-Jahre hat William S. Allen, ein skizziert (S. 227ff.). Das Porträt zeigt auf beunruhigende Wegbereiter der lokalen Nationalsozialismusforschung, in Weise, wie bei ganz normalen Menschen Tötungsbereit- seinem Buch The Nazi Seizure of Power: The Experience of a schaft erzeugt wird und wie sie imstande sind, massenhaft Single German Town 1930–1935 die lokalen Strukturen der Menschen zu töten. nationalsozialistischen Machtergreifung zu einer entschei- Gerade deshalb bekommt die Grundlagenforschung und denden Voraussetzung für die Errichtung der NS-Diktatur die Arbeit der „Ideenwerkstatt Waldkirch in der NS-Zeit“ erklärt. Will man verstehen, wie der Nationalsozialismus an ein besonderes Gewicht. Hat sie doch wesentlich zum die Macht kam, darf man nicht nur nach Berlin oder in an- Nachdenken über eine angemessene Erinnerungskultur dere Metropolen schauen. Genauso aufschlussreich sind und zur Versachlichung sowie zum Fortgang der lokalen die Prozesse der „Machtergreifung“, der (Selbst-)Gleich- Forschung beigetragen. schaltung, der aktiven Aneignung der NS-Ideologie sowie Es ist ein schwieriges Unterfangen, den insgesamt knapp der nationalsozialistischen Politik auf kommunaler Ebene. 50 Beiträgen in dem Sammelband gerecht zu werden. Die Bereits 1985 hat der Historiker und Archivar Gert Zang in Auswahl und Kommentierung einzelner Aspekte ist daher seinen Reflexionen über den theoretischen und praktischen durchaus dem subjektiven Interesse des Rezensenten ge- Nutzen der Regional- und Alltagsgeschichte schlüssig auf- schuldet. Die Spannbreite der Beiträge reicht von der An- gezeigt, dass die lokale und/oder regionale Ebene nicht nur passung an die neuen Machthaber und schildert deren ein funktionalisiertes Partikel des historischen Prozesses ist, Strategie, die von Matthias Maier treffend mit „Indoktrinie- sondern mit Blick auf historische Abläufe ein Eigengewicht ren, Infiltrieren, Integrieren und Inszenieren“ (S. 54ff.) über- besitzt. Just in diese Zeit fallen auch der Aufschwung der schrieben wurde. Besonders aufschlussreich ist die zu- Lokal- und Regionalgeschichte und die Etablierung vieler nächst „weiche“ und sodann „härtere“ Strategie, politisch Geschichtswerkstätten, die sich mit der Geschichte der Dör- unliebsame Bürgermeister aus dem Amt zu entfernen: fer und Kleinstädte im Nationalsozialismus beschäftigen. Fruchtete der Appell an den freiwilligen Verzicht nicht, wur- Die Vielfalt lokal- und regionalgeschichtlicher Veröffentli- den NSDAP-Kommissare eingesetzt, die faktisch die kom- chungen in den 1980er- und 1990er-Jahren relativiert die munalpolitischen Entscheidungen blockieren konnten. etwas apodiktisch anmutende Aussage von Wolfram Wette, Letztlich zog sich der in Waldkirch amtierende Bürgermeis- der in seinem einleitenden Beitrag konstatiert, dass die „Ge- ter Carl Eberle angesichts der Drohungen und Repressa- schichte der Kommunen im Nationalsozialismus lange Zeit lien von seinem Amt zurück. 1934 wurde er vom Reichsstatt- im Windschatten der nationalen Geschichtsschreibung halter von Baden in den Ruhestand versetzt. Die auf „brau- mehr oder weniger unbeachtet“ (S. 13) blieb. nen“ Kurs gebrachte Tageszeitung „Der Elztäler“ trug im Der Schwede Sven Lindquist hat 1983 das Motto lokal- und Übrigen durch ihre Berichterstattung ihren Teil dazu bei. regionalgeschichtlicher Forschungen etwas salopp mit Sein Nachfolger, „Parteigenosse“ Max Kellmayer, war dem Satz „Grabe, wo du stehst“ umschrieben. Genau die- kommunalpolitisch kein sonderliches „helles Licht“. Den- sen Zugriff haben die 27 Autorinnen und Autoren, Mitglie- noch gelang es ihm, einen Teil der Bevölkerung für seine der der 2011 gegründeten „Ideenwerkstatt Waldkirch in nationalsozialistische Überzeugung zu gewinnen. Dass es der NS-Zeit“, des Sammelbandes „Hier war doch nichts!“ 1945 die „Stunde null“ nicht gegeben hatte, sich in den Waldkirch im Nationalsozialismus gewählt. Die solide re- westlichen Besatzungszonen vielmehr eine „kalte Amnes- cherchierten und quellengesättigten Beiträge zeigen in ih- tie“ (Jörg Friedrich) vollzog, zeigt die Kandidatur Kellmay- rer Gesamtheit, wie sich die kleinstädtische Gesellschaft in ers bei der Bürgermeisterwahl im Jahr 1957 und sein res- der Diktatur veränderte und wie sie nach 1945 mit ihrer pektables Ergebnis von 1.552 Stimmen – immerhin 35,2 Diktaturerfahrung umging. Die Autorinnen und Autoren Prozent. Die geschilderte Bücherverbrennung 1934 (S. konzentrieren sich dabei auf mehrere leitende Fragestel- 94ff.) und die Einweihung eines Kriegerdenkmals im Jahr lungen: Wie und in welcher Form veränderte sich das Le- 1935 (S. 114ff.) sind nur zwei Beispiele, die die Formierung ben in Waldkirch? Wie vollzog sich die Etablierung der der „Volksgemeinschaft“ verdeutlichen. An die vom NS- Diktatur? Wer waren die Wegbereiter und Initiatoren der System postulierte Egalität der „Volksgemeinschaft“ war Machtübernahme auf der lokalen Ebene? Wer unterstützte die Exklusion gekoppelt, d.h. die Ausgrenzung und Margi- die nationalsozialistische Bewegung vor Ort? Wie war die nalisierung „Rasse- und Volksfremder“. Denunziation (S. Rolle der Kirche? Wer stellte sich dagegen, leistete gar Wi- 181ff.), Euthanasie (S. 174ff.) und die Arisierung von Unter- derstand? Welche Rolle spielten die „kleinen Führer“? Wie nehmen (S. 216ff.) ereigneten sich weitab von Berlin auch wurde der Zweite Weltkrieg erlebt? Wie ging man nach in der südbadischen Provinz. Ebenso wird die ideologische der Befreiung 1945 mit den Verbrechen, mit den Tätern und Unterwanderung von Alltag, Kirche und Schule analysiert Opfern um? (S. 286–359). Sechs Beiträge sind dem Widerstand gewid-

103 BUCHBESPRECHUNGEN

met und thematisieren an sechs Fallstudien das zivilcoura- behalte zu äußern und das Redemanuskript der Schriftstel- gierte Verhalten Einzelner (S. 238–284). Weitere Beiträge lerin vorab einsehen zu wollen. Dass die Namensgebung nehmen anhand von Feldpostbriefen den Kriegsalltag (S. dennoch zustande kam, ist dem Engagement der demokra- 152ff.) in den Blick, thematisieren die Erschießung von tischen Öffentlichkeit und auch dem zivilcouragierten Ver- Wehrmachts-Deserteuren und den Durchhalteterror der halten des Kollegiums und vor allem den Schülerinnen und letzten Kriegstage (S. 371ff.) sowie das Kriegsende und die Schülern zu verdanken. Anzumerken bleibt, dass das frie- unmittelbare Nachkriegszeit. denspädagogische Curriculum dieser Schule besondere Das Jahr 1945 bedeutete zwar das Ende des Krieges und Aufmerksamkeit verdient. Das Schulcurriculum schreibt vor, der nationalsozialistischen Diktatur, dennoch gab es „men- dass jeder Schüler und jede Schülerin sowohl von dem Tä- tale“ Kontinuitäten. Ehemalige Nationalsozialisten mach- ter Karl Jäger als auch von dem widerständigen Soldaten ten erneut Karriere und integrierten sich nahezu spurlos in Heinz Drossel (S. 462ff.) gehört haben muss. die Nachkriegsgesellschaft. Die meisten der ungezählten Den Autorinnen und Autoren ist eine brillante und überaus Mitläufer schwiegen und wollten mit der nationalsozialisti- lesenswerte lokale Studie gelungen. Leserinnen und Leser schen Vergangenheit nicht konfrontiert werden. Kollekti- des Sammelbandes können in den sorgfältig recherchier- ves Beschweigen war angesagt. Die Entnazifizierung ver- ten und dicht beschriebenen Wirklichkeitsausschnitten ei- lief wie in vielen anderen Orten: Gegenseitige Entlastun- ner südbadischen Kleinstadt – gleichsam wie unter einer gen bei der Erlangung von „Persilscheinen“ waren auch in Lupe – die Wirkkraft nationalsozialistischer Mechanismen Waldkirch eine gängige Methode, mit der Vergangenheit und die oftmals kritiklose Anpassung an NS-Herrschafts- „abzuschließen“. Wie wirkmächtig dieses bewusst ge- strukturen erkennen. Der Band überzeugt nicht nur durch wollte Vergessen ist, zeigen die abschließenden Beiträge die soliden Recherchen und lesbaren Beiträge, sondern des Sammelbandes, die die Aufarbeitung nach 1945 fo- auch durch seine großzügige Bebilderung. Zeitgeschichtli- kussieren. Ein Aufsatz widmet sich z.B. der Frage, wie die che Bild- und Textquellen illustrieren und belegen die Ar- Kommune jahrzehntelang mit den Nazi-Bildern an den gumentation sowie Gedankengänge der einzelnen Bei- Wänden im Rathaus umging (S. 416). Ebenso tief blicken träge. Die „ikonische Beweisführung“, die manchen Bild- lässt der Eklat um die Namensgebung der Schule im Jahr quellen innewohnt, ist ein Beleg für die Etablierung der 1987 (S. 429ff.). Nachdem sich die Schülerinnen und Schü- nebulösen „Volksgemeinschaft“ und für das Arrangement ler für den Namen „Geschwister Scholl-Gymnasium“ aus- mit dem Regime. Der von Wolfram Wette herausgegebene sprachen, sollte Inge Aicher-Scholl – die Schwester der Sammelband ist ein mustergültiges Beispiel für fachlich hingerichteten Widerstandskämpfer Sophie und Hans gründliche, sachlich gehaltene und engagierte Lokalge- Scholl – für die Festansprache gewonnen werden. Deren schichtsschreibung. Engagement in der Friedensbewegung war willkommener Siegfried Frech Anlass für Kleingeister in der damaligen Schulleitung, Vor- Ü

Wenn Sie BÜRGER & STAAT abonnieren möchten, erhalten Sie die Zeitschrift für nur 12,80, vier Hefte im Jahr, frei Haus. Schicken Sie diesen Abschnitt zurück an: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, Redaktion Bürger & Staat, Lautenschlagerstraße 20, 70173 Stuttgart. Sollten Sie jeweils drei Monate vor Ablauf des Kalenderjahres nicht abbestellt haben, läuft das Abonnement weiter.

Name, Vorname bzw. Organisation

Straße, Hausnummer Geldinstitut

PLZ, Ort IBAN BIC

Datum, Unterschrift Datum, Unterschrift

Rechtlicher Hinweis: Ich kann diese Bestellung binnen 14 Tagen widerrufen. Zur Wahrung der Frist genügt die rechtzeitige Absendung (Poststempel) an: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, Redaktion Bürger & Staat, Lautenschlagerstraße 20, 70173 Stuttgart. Ich habe von meinem Widerspruchsrecht Kenntnis genommen.

Datum, Unterschrift

104 Ihre Ansprechpartner/-innen bei der LpB

Leitung Abteilung Medien und Methoden LpB-Shops/ Direktion Abteilungsleiter/Neue Medien Lothar Frick 07 11/16 40 99-60 Karl-Ulrich Templ 07 11/16 40 99-40 Publikations- Sibylle Thelen 07 11/16 40 99-30 Politik & Unterricht ausgaben Büro des Direktors Robby Geyer 07 11/16 40 99-42 Sabina Wilhelm 07 11/16 40 99-62 Deutschland & Europa Stuttgart Stellvertretender Direktor Ralf Engel 07 11/16 40 99-43 Lautenschlagerstraße 20 Karl-Ulrich Templ 07 11/16 40 99-40 Bürger & Staat/ 70173 Stuttgart Didaktische Reihe Telefon: 07 11/16 40 99-0 Stabsstellen Prof. Siegfried Frech 07 11/16 40 99-44 Öffnungszeiten: Kommunikation und Marketing Unterrichtsmedien Mo – Do 9.00 – 12.00 Uhr Leiter: Heiko Buczinski 07 11/16 40 99-63 Michael Lebisch 07 11/16 40 99-47 13.00 – 15.30 Uhr Daniel Henrich 07 11/16 40 99-64 E-Learning Fr 9.00 – 12.00 Uhr Klaudia Saupe 07 11/16 40 99-49 Sabine Keitel 07 11/16 40 99-32 Tagungszentrum Demokratie stärken Social Media Haus auf der Alb Leiter: Felix Steinbrenner 07 11/16 40 99-81 Bianca Braun 07 11/16 40 99-53 Hanner Steige 1 Kata Kottra 07 11/16 40 99-48 Extremismusprävention 72574 Bad Urach Larissa Berner 07 11/16 40 99-51 Felix Steinbrenner 07 11/16 40 99-81 Telefon: 0 71 25/1 52-0 Digitale Medien „Läuft bei Dir“ Öffnungszeiten: Rebecca Beiter 07 11/16 40 99-48 Stefanie Beck 07 11/16 40 99-740 Mo – Fr 8.00 – 12.00 Uhr Wolfgang Herterich 07 11/16 40 99-14 Stefanie Hofer 07 11/16 40 99-741 13.00 – 16.30 Uhr Matthias Kathan 07 11/ 164099-742 Jeanette Reusch-Mlynárik 0 71 25/1 52-1 36 Klaudia Saupe 07 11/16 40 99-49 Team meX Außenstelle Freiburg Daniel Can 07 11/16 40 99-82 Bertoldstraße 55 Yagmur Koreli 07 11/16 40 99-86 Abteilung Haus auf der Alb 79098 Freiburg Hanner Steige 1, 72574 Bad Urach Telefon: 07 61/2 07 73-0 Abteilung Zentraler Service Telefon: 0 71 25/1 52-0, Fax -100 Öffnungszeiten: www.hausaufderalb.de Abteilungsleiter Di/Do 9.00 – 17.00 Uhr Kai-Uwe Hecht 07 11/16 40 99-10 Abteilungsleiter/Gesellschaft und Politik/ Querschnittsaufgaben Schriften zur politischen Landeskunde Außenstelle Heidelberg Philipp Eger 07 11/16 40 99-725 Baden-Württembergs Plöck 22 Prof. Dr. Reinhold Weber 0 71 25/1 52-146 Hagen Göltz 07 11/16 40 99-717 69117 Heidelberg Telefon: 0 62 21/60 78-0 Organisation/Innerer Dienst Schule und Bildung/

Tamara Mürter 07 11/16 40 99-11 Integration und Migration Öffnungszeiten: Robert Feil 0 71 25/1 52-139 Di 10.00 – 17.00 Uhr Haushalt Monika Selmeci 0 71 25/1 52-140 Mi 13.00 – 17.00 Uhr Gudrun Gebauer 07 11/16 40 99-12 Europa – Einheit und Vielfalt/ Do 10.00 – 17.00 Uhr Personal Internationale Politik Sabrina Gogel 07 11/16 40 99-13 Thomas Schinkel 0 71 25/1 52-147 Newsletter »Einblick« Information und Kommunikation Tengiz Dalalishvili 0 71 25/1 52-126 anfordern unter Wolfgang Herterich 07 11/16 40 99-14 Servicestelle Friedensbildung www.lpb-bw.de/newsletter Siegfried Kloske 0 71 25/1 52-137 Claudia Möller 0 71 25/1 52-135 Tagungszentrum Haus auf der Alb Leitung Außenstellen Nina Deiß/Julia Telegin 0 71 25/1 52-109 Regionale Arbeit Abteilung Politische Tage für Schüler/-innen Demokratisches Engagement Außenstelle Freiburg Abteilungsleiterin/Gedenkstättenarbeit Bertoldstraße 55, 79098 Freiburg Sibylle Thelen 07 11/16 40 99-30 Telefon: 07 61/2 07 73-0, Fax -99 Andreas Schulz 07 11/16 40 99-726 Leiter: Politische Landeskunde Prof. Dr. Michael Wehner 07 61/2 07 73-77 Dr. Iris Häuser 07 11/16 40 99-20 Vivianna Klarmann 07 61/2 07 73-33 Schülerwettbewerb des Landtags Monika Greiner 07 11/16 40 99-25 Außenstelle Heidelberg Stefanie Thiele 07 11/16 40 99-26 Plöck 22, 69117 Heidelberg Frauen und Politik Telefon: 0 62 21/60 78-0, Fax -22 Beate Dörr 07 11/16 40 99-29 Leiterin: Regina Bossert 0 62 21/60 78-14 Sabine Keitel 07 11/16 40 99-32 Stefan Artmann 0 62 21/60 78-13 Jugend und Politik Mareike Wangemann 0 62 21/60 78-16 Angelika Barth 07 11/16 40 99-22 Fachbereich Politische Tage im Lautenschlagerstraße 20 Christiane Franz 07 11/16 40 99-23 Regierungsbezirk Stuttgart 70173 Stuttgart Johannes Ulbrich 07 11/16 40 99-702 Thomas Franke 07 11/16 40 99-83 Telefon: 07 11/16 40 99-0 Freiwilliges Ökologisches Jahr Fachbereich Politische Tage im Fax: 07 11/16 40 99-77 Steffen Vogel 07 11/16 40 99-35 Regierungsbezirk Tübingen [email protected] Max Kemmner 07 11/16 40 99-36 Anja Meitner 0 71 25/152-134 www.lpb-bw.de Stefan Paller 07 11/16 40 99-37 Lea Oldenburg 07 11/16 40 99-34 Druckausgaben neuerer Hefte können Sie (auch im Klassensatz) im Webshop Die Ausgaben der Zeitschrift der Landeszentrale www.lpb-bw.de/shop bestellen. Die Hefte sind k­ ostenlos. finden Sie im Internet zum kosten­ Ab einem Sendungsgewicht von 500 g wird eine Versandkostenpauschale losen Download auf der Seite ­berechnet. Keine Bestellung per Telefon, Post, Fax oder E-Mail. www.buergerimstaat.de