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Zoologisch-Botanische Datenbank/Zoological-Botanical Database

Digitale Literatur/Digital Literature

Zeitschrift/Journal: Mitt(h)eilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde

Jahr/Year: 2000

Band/Volume: 140

Autor(en)/Author(s): Fuhrmann Franz

Artikel/Article: Der Marienaltar Michael Pachers in der Stadtpfarrkirche "Zu Unserer Lieben Frau" (Franziskanerkirche) in Salzburg. 28-58 © Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, Salzburg, Austria; download unter www.zobodat.at

Zur Erinnerung an den Maler und Bildschnitzer

MICHAEL PACHER

geb. um 1430 in im Pustertal gest. im Sommer 1498 in Salzburg kurz vor Vollendung der Aufstellung seines grössten Altarwerkes für die damalige Stadtpfarrkirche heute Franziskanerkirche.

Die Madonna dieses Altares hat Johann Bernhard Fischer von Erlach in den barocken Hochaltar übernommen.

Begraben wurde Michael Pacher auf dem alten Pfarrfriedhof an der Nordseite der Kirche wo später Fürst - Erzbischof Wolf Dietrich von Raitenau die Residenz errichtete.

Errichtet im Gedenkjahr 1998 von den Franziskanern. Eingeweiht am 15. November durch den Propst Chrysosfomos Giner von Neustift bei .

Abb. 1 Inschriftstein für Michael Pacher in der Franziskanerkirche. © Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, Salzburg, Austria; download unter www.zobodat.at 29 Der Marienaltar Michael Pachers in der Stadtpfarrkirche „Zu Unserer Lieben Frau“ (Franziskanerkirche) in Salzburg

Von Franz Fuhrm ann

Die 500. Wiederkehr des Todesjahres von Michael Pacher 1998 fand ihren Niederschlag vor allem in seiner Südtiroler Heimat. Die denkwürdige Ausstellung im Augustiner-Chorherren-Kloster Neustift bei Brixen, verbunden mit einer Reihe kultureller Veranstaltungen und abgeschlossen mit einem wissenschaftlichen Symposion in der Pacherstadt Bruneck, war das herausra­ gende Ereignis1. Aber auch Salzburg meldete sich zu Wort, ist doch die Salz­ achstadt mit größter Wahrscheinlichkeit Pachers Sterbeort, und die heutige Franziskanerkirche jene heilige Stätte, für die der universale Künstler seinen letzten Flügelaltar geschaffen hat: neben dem Krakauer Altar von Veit Stoß das monumentalste Werk dieser Gattung im „Herbst des Mittelalters“. Den Söhnen des hl. Franziskus gebührt das Verdienst, mehrfach an den Schöpfer ihrer „Pachermadonna“ erinnert und ihm durch die Anbringung einer Inschrifttafel in ihrer Kirche ein „ewiges Gedächtnis“ gestiftet zu haben (Abb. 1). Die Gesellschaft für Salzburger Landeskunde veranstaltete nach Teil­ nahme an der Enthüllung des Gedenksteins einen Festakt im Romanischen Saal der Erzabtei St. Peter. Der Beitrag des Instituts für Kunstgeschichte der Universität Salzburg bestand in dem Versuch, Form, Funktion und Gehalt des Flügelaltars durch ein Modell 1:4 (vgl. Abb. 8) stärker zu veranschaulichen2. Die Fragen und Überlegungen, die mit der Herstellung dieses Modells ver­ bunden waren, sind Gegenstand der folgenden Ausführungen. Sie betreffen im Hinblick auf die besondere Aufgabe — die Maße und Maßverhältnisse des Altars im Vergleich mit den übrigen Pacher-Altären sowie sein Verhältnis zur Architektur des Hallenchors der Franziskanerkirche einschließlich des barocken Hochaltars Fischers von Erlach; — das Bildprogramm, seine Herleitung und Verteilung auf den Wandelaltar; — die kunstgeschichtliche Bedeutung des Salzburger Altars im Schaffen Mi­ chael Pachers und seiner Zeit.

Maße und Maßverhältnisse

Eine einigermaßen zuverlässige Vorstellung von der Größe des Altars ist erst seit 1951, dem Jahr der Auffindung einesTafelfragments (261 x 85 x 2,5 cm, Zirbelholz; Abb. 2), möglich, auf dem die Szene dargestellt ist, wie Josef von seinen Brüdern in den Brunnen geworfen wird. Da das ursprüng­ liche Format dieses Holztafel-Teils Schlüsselelement für die Maßverhältnisse des gesamten Altars ist, kommt seiner Bestimmung entscheidende Bedeutung © Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, Salzburg, Austria; download unter www.zobodat.at 30

zu. Nach Hoppe scheinen die rechte und wohl auch die obere Kante den ur­ sprünglichen Kanten der Tafel zu entsprechen. Hingegen ließ sich erkennen, „daß die ursprüngliche Bildfläche links zweifellos sehr beträchtlich und unten vermutlich geringfügig beschnitten worden war“3. © Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, Salzburg, Austria; download unter www.zobodat.at 31

Hinsichtlich der Höhe des Tafelfragments herrschte anfangs Unklarheit, da sie mit 240 cm angegeben wurde. Das hatte zur Folge, daß Dagobert Frey in seinen „Michael Pacher Studien“ (1953) mit dieser Höhe operierte. Zu­ sammen mit der von ihm angenommenen originalen Tafelbreite von 170/ 173 cm erreichte er ein Höhe-Breite-Verhältnis von 1,4:1, was in alle Rekon­ struktionszeichnungen Eingang fand. Es ist hier anzumerken, daß für die Er­ schließung des Breitenmaßes nicht nur die Bildkomposition der Josefsszene, sondern auch noch die bereits seit langem bekannten und mit unserem Altar in Verbindung gebrachten Tafelbilder der „Verlobung Mariens“ und der „Geißelung Christi“ (Vorder- und Rückseite einer Tafel aus Zirbelholz, 113 x 139.5 cm, beschnitten; Abb. 3 u. 4) von Frey herangezogen werden konnte. Demus schloß sich 1954 den Forschungen Freys an, verwendete das inzwi­ schen geklärte Höhenmaß von 261 cm, verringerte aber das Breitenmaß auf 160/165 cm. Das ergibt ein Verhältnis von ca. 1,6: l 4. Ein Breitenmaß von 165 cm kommt mir sehr gelegen, denn es entspricht, auf das Tiroler Fußmaß (1 ' = 33 cm) umgelegt, genau 5 Fuß. Vergrößert man das Höhenmaß nur um 3 cm auf 264 cm — wozu man aufgrund des Befund­ berichts von Hoppe berechtigt ist —, so erhält man eine Tafelhöhe von 8 Fuß (= 264 cm) und damit ein besonders schönes Verhältnis5. Mit diesen Werten ist aber noch nicht die Größe des Herzstücks des Altars, des Schreins, gewonnen. Aus Art und Umfang der Thematik der nunmehr be­ kannten drei Tafeln läßt sich als Typus ein doppelter Flügelaltar erschließen, ähnlich dem von St. Wolfgang. Das zentrale Gebilde des Altars, Schrein mit Doppelflügeln, muß demnach 16 Fuß (2 Tafeln übereinander) + 3 Rahmen­ stärken hoch sein. Die Stärke der genuteten Rahmen darf bei diesen Dimen­ sionen mit Vi Fuß angenommen werden, was zu einer Höhe von 17,5 Fuß = 577.5 oder rund 578 cm führt. Die Breite der Flügel (Tafel + 2 Rahmen­ stärken) beträgt 6 Fuß, jene des Schreins demnach 12 Fuß = 396 cm, die Ge­ samtbreite bei geöffneten Flügeln beträgt 24 Fuß = 792 cm. Das ergibt für den Schrein ein Verhältnis von 17,5:12 Fuß = 577,5:396 cm = 1,458:1. Für die vermutliche Höhe von Predella und Gesprenge gewinnt man An­ haltspunkte nur im Vergleich mit anderen Flügelaltären, vor allem dem von St. Wolfgang, d. h. für die Predella ca. ein Drittel der Schreinhöhe, für das Gesprenge mindestens die Höhe von Predella und Schrein zusammen. Das ergibt für unseren Fall 6 ' + 17,5' = 23,5' und somit eine Gesamthöhe von 47 Fuß. Setzt man diesen theoretischen Wert in die Baupraxis um und berück­ sichtigt die Gesamtbreite des Altars mit 24 Fuß, so scheint eine Anhebung der Gesamthöhe auf 48 Fuß sinnvoll, vor allem dann, wenn sich durch Auf- und Abrundung ein Dreierverhältnis von 6 / :18/ :24/ = 1:3:4 erreichen läßt. Das Verhältnis von Gesamtbreite zu Gesamthöhe wäre dann 2 4 ':4 8 /= 1:2 = 792:1584 cm, also ein „Biquadrat“. Ausdrücklich ist darauf hinzuweisen, daß mit dem Begriff Altar nur der von Pacher entworfene hölzerne Aufbau ge­ meint ist, also das Retabel, wie der Fachausdruck heißt, ohne den Blockaltar mit Mensaplatte. Rechnet man diese Altarhöhe (im eigentlichen Sinn), die mit etwa 4 Fuß anzusetzen ist, hinzu, so ergibt sich eine Höhe des gesamten Altars von 52 Fuß = 1715 cm (Schema l)6. 32 © Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, Salzburg, Austria; download unter www.zobodat.at

Schema 2: Salzburger Altar, Ort in der Franziskanerkirche

Wenn bisher die Maße des Altars vom kleinsten Element, den nur annä­ hernd bestimmbaren Rechtecken der Tafeln, aus entwickelt wurden, so ist das der verkehrte, sozusagen im Krebsgang vollzogene Weg. Denn zu allererst hatte sich der Altarbauer selbstverständlich mit den besonderen Verhältnis­ sen jenes Raums auseinanderzusetzen, für den der Altar gedacht war, in unse­ rem Fall mit dem zentralen Bereich des Hallenchors der Franziskanerkirche. Es ist dies jenes gleichschenkelige Dreieck, das die drei östlichen Rundpfeiler im Grundriß bilden. Aus dem Schema 2 geht eindeutig hervor, daß Pacher die vorgegebenen architektonischen Maßverhältnisse hervorragend berücksichtigt hat und bei der Breitenbemessung seines Altars mit knapp 4 m Schrein- und doppelter Gesamtbreite sich von der dem Fiallenchor innewohnenden maßli- chen Harmonie leiten ließ. Hinsichtlich der Höhe des Altars hatte Pacher bei der gegebenen lichten Höhe bis zum Gewölbe von 28 m große Freiheit. Doch kann kein Zweifel bestehen, daß er auch in dieser Richtung auf die Raumver-

Abb. 2 (rechts) Brunnensturz Josefs, rechtes Tafelfragment (Aspekt 2). © Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, Salzburg, Austria; download unter www.zobodat.at 33 © Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, Salzburg, Austria; download unter www.zobodat.at 34

Schema 3: St. Wolfganger Altar

hältnisse Rücksicht genommen hat, vor allem in Anbetracht des schmalen Triumphbogens zwischen Chor und Langhaus. Im übrigen darf nicht über­ sehen werden, daß der Chor zu Pachers Zeit ein anderes Gesicht hatte: der Kapellenkranz war um ca. 6 Fuß niedriger und wies gotische Formen auf, © Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, Salzburg, Austria; download unter www.zobodat.at 3 5 und im Ostscheitel sowie an der Südseite waren die Hochfenster tiefer her­ untergezogen und erzeugten dadurch andere Lichtverhältnisse (Abb. 5 u. 6)7. Den Vergleich mit den übrigen Flügelaltären Pachers und einigen anderen seiner Zeit will ich auf die Verhältnisse der Schreine beschränken. Nur der Altar von St. Wolfgang soll als Vergleichsbeispiel im ganzen maßlich behan­ delt werden. Er ist vollständig erhalten und am besten wissenschaftlich unter­ sucht und publiziert (Schema 3)8. Nach Manfred Koller betragen die Gesamtmaße des St.-Wolfgang-Altars geöffnet 1210 (ursprünglich ca. 1270) cm x 660 cm, davon die Predella ca. 118 cm x 342 cm, der Hauptschrein 386 cm x 330 cm und das Gesprenge 584 (ursprünglich ca. 640) cm x 330 cm (hier ohne Tiefenmaße). Die Sum­ me der realen Höhenmaße ergibt jedoch 1088 cm, also eine Differenz von 122 cm. Dies erklärt sich daraus, daß in Kollers Gesamtmaß außer dem Re- tabel auch noch der Blockaltar mitgerechnet ist (ohne entsprechenden Hin­ weis). Der Unterschied in der Gesprengehöhe (und damit der Gesamthöhe) wird darauf zurückgeführt, daß die Fiale des Mittelturms um ca. 50 cm ge­ stutzt wurde. Koller versuchte die Proportionierung des Schreins mittels eines Rasters im Fußmaß von 30 cm aufzudecken und erzielte damit vorerst ein überzeugendes Verhältnis von Höhe zu Breite von 13:11 = 390:330 cm. Da aber bei der Bemessung eines Schreins am ehesten von dessen Breite auszu­ gehen ist — worauf bereits Demus hingewiesen hat —, stellt sich die berech­ tigte Frage, warum Pacher gerade die ungerade Zahl 11' zugrunde gelegt ha­ ben sollte. Hier ist doch der gerade Wert von 10 Fuß viel naheliegender, zu­ mal ohnehin der Tiroler Fuß mit 33,4 cm überliefert wird. Es läßt sich daher die gemessene Breite von 330 cm am besten in 10 Tiroler Fuß ä 33 cm über­ setzen und dieses Fußmaß darüber hinaus wohl auch auf die übrigen Werke Pachers anwenden9. Die maßgebliche Frage aber bleibt, in welches Verhältnis Pacher die Höhe des Schreins zu dessen Breite setzte, denn darin lag doch wohl seine künst­ lerische Freiheit. Das in sich ruhende, statische Quadrat entsprach offensicht­ lich nicht mehr seinen Vorstellungen. Ein etwas schlankeres, steigendes, in der Architektur der Kirche von St. Wolfgang vorgegebenes Gebilde schwebte ihm vor. Entspringt nun die angepeilte Höhe von etwa 11 bis 12 Fuß nur einer gefühlsmäßigen Regung — nicht zu viel und nicht zu wenig, doch haar­ genau so viel —, um der harmonischen Gesamtvorstellung zu entsprechen, oder/und gewinnt man sie und fixiert sie schließlich durch konstruktive, ord­ nungsgebundene und -schaffende geometrische Beziehungen? Das ist die Fra­ ge, die sich der Kunstfreund nicht unbedingt zu stellen braucht, wohl aber der wissenschaftliche Kunsthistoriker. Diese ahnen zwar und wissen zum Teil, daß gerade die gotischen Bauleute Meister der elementaren Geometrie waren. Es

Folgende Doppelseite Seite 36: Abb. 3 Verlobung Mariens (Aspekt 1). Seite 37: Abb. 4 Geißelung Christi (Aspekt 2). Abb. 3 u. 4 in Verbindung mit der Rekonstruktion nach Frey/Demus auf das Ver­ hältnis 8:5 gebracht. © Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, Salzburg, Austria; download unter www.zobodat.at

3 6 © Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, Salzburg, Austria; download unter www.zobodat.at 3 7 © Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, Salzburg, Austria; download unter www.zobodat.at 3 8 fehlen uns aber ausreichende quellenmäßige konkrete Hinweise auf die Art ihrer Anwendungen. Daher hilft nur ein Verfahren — sozusagen wieder im Krebsgang —, das versucht, vorerst undurchschaubare zahlenmäßige Gegeben­ heiten auf mögliche geometrische Zusammenhänge hin zu hinterfragen und damit in ein tieferes „logisches“ Formgefüge einzuordnen. Seit langem war mir bewußt, daß der Schrein des St. Wolfganger Altars den Gesetzen der Triangulatur, d. h. des gleichseitigen Dreiecks gehorcht, und zwar in der Weise, daß die Schreinbreite der Höhe eines gleichseitigen Dreiecks entspricht, dessen Seite die Schreinhöhe bildet. Da wir aber von der Schreinbreite als Proportionsbasis (1 0 ') auszugehen haben, muß für die Schreinhöhe der Kehiwert (1,155) der Dreieckshöhe (0,866) verwendet wer­ den, womit mit ausreichender Genauigkeit die tatsächlich gemessene Höhe (1 1,6') erreicht wird. Auf ähnliche Weise läßt sich auch die Höhe der Pre­ della gewinnen. Man halbiert das Grundquadrat der Konstruktion waagrecht, setzt von hier ein gleichseitiges Dreieck mit Spitze nach unten an und erhält als Differenz zur Basis den Wert 3,66' (bzw. 3,57') = 31/i Fuß = 118 cm. Ein überraschendes Ergebnis bringt die geometrische Auflösung der Ge­ sprenge- bzw. der Gesamthöhe des St. Wolfganger Retabels. Nimmt man die Bodenlinie der Predella als Basis der Gesamtbreite (bei geöffneten Flügeln) des Altars von 20 Fuß (660 cm) und legt am linken Anfangspunkt dieser Ba­ sisstrecke den 60°-Winkel an, so schneidet die schräge Gerade die Normale über dem rechten Endpunkt der Basisstrecke in einem Punkt, der exakt die ursprüngliche Gesamthöhe des Altarretabels ergibt, in Zahlen: 2 0 ' x V3 = 34,64 Fuß = 1143 cm. Zählt man noch die Blockaltarhöhe von 128 cm hin­ zu, so erhält man die Gesamthöhe des Altars mit 1271 cm. Damit ist die Ge­ samthöhe des Altars nicht nur eine „Abhängige“ der lichten Höhe des Chors der Wallfahrtskirche, sondern auf besondere Art mit der Dreigliedrigkeit des Aufbaus verknüpft: ein hervorragendes Beispiel für die konsequente Anwen­ dung der Triangulatur, um „ebenbildliche“ Ganzheit zu erzielen10. Ein maßlicher Vergleich dervier Pacherschen Altarschreine ist in mehrfa­ cher Hinsicht aufschlußreich. In der zeitlichen Reihenfolge ihrer Entstehungs­ jahre wächst die absolute Größe und verändert sich das am Anfang stehende Quadrat in Rechtecke, mit der Tendenz, immer höher und schlanker zu wer­ den. Mit dieser Entwicklung scheint auch eine Verwandlung der grundsätz­ lichen Maßverhältnisse von der Quadratur über die Triangulatur zur Quintur verbunden gewesen zu sein (vgl. Anhang)11. Von den vier Schreinen sind nur jene des Grieser und des St. Wolfganger Altars original erhalten und damit real nachmeßbar. Die beiden anderen Schrei­ ne von St. Lorenzen im Pustertal und in Salzburg lassen sich annähernd rekonstruieren. Dabei dienen erhaltene Flügeltafeln als Ausgangspunkte. Der Schrein von St. Lorenzen dürfte quadratisch mit einer Seitenlänge von ca. 7 Fuß (230 cm) gewesen sein. Der Schrein von Bozen-Gries hat eine Basis­ länge von 9 Fuß (300 cm) und eine Höhe von 105A Fuß (360 cm), Verhält­ nis 1,2:1. Den Schrein von St. Wolfgang kennen wir bereits zur Genüge, sei­ ne Maße sind l l 2/3 Fuß: 10 Fuß, bei einem Verhältnis von 1,166:1, eine Spur weniger schlank als der Grieser Schrein, doch vielleicht gerade deshalb der © Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, Salzburg, Austria; download unter www.zobodat.at 39

Schema 4: Größen- und Proportionsvergleich der Altarschreine

G röße V-Faktor Wersin-Stufe L St. Lorenzen i. P. 7 ' : 7 ' 1 1 Q G Gries/Bozen 10 s/6 ':9 ' 1 ,2 0 4 1 ,2 0 7 QD W St. W olfgang lty '-.lO ' 1 ,1 6 6 1 ,1 6 6 QQ- + Q- F Frueauf 1 4W :10' 1 ,4 1 6 1 ,4 1 4 D S Salzburg 17Vi':12' 1,458 1 ,453 PP K Krakau 2VA': 16' 1,359 1 ,3 6 6 T R - + Q Q - © Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, Salzburg, Austria; download unter www.zobodat.at 40

Abb. 5 Pacheraltar-Schema im gotischen Hallenchor (niedriger Kapellenkranz und lange Fenster rekonstruiert). © Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, Salzburg, Austria; download unter www.zobodat.at 41

Abb. 6 Hochaltar Fischers von Erlach mit barockisiertem Kapellenkranz und verkürzten Chorscheitel-Fenstern. harmonisch ausgewogenste und am vollkommensten von der Gesetzmäßig­ keit der Triangulatur geprägt. Für den Salzburger Schrein konnten wir unter Annahme einer Basislänge von 12 Fuß eine Flöhe von 17V2 Fuß erschließen. Das entsprechende Verhältnis von 1,458:1 kommt dem „Wersinschen“ Fak­ © Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, Salzburg, Austria; download unter www.zobodat.at 4 2

tor 1,453 so nahe, daß von einem Grundverhältnis der Quintur gesprochen werden darf12. Zum Vergleich werden noch die Schreine des Salzburger Frueauf-Altars (re­ konstruiert) und des Krakauer Marienaltars von Veit Stoß herangezogen. Der Frueauf-Altar (1490/91) deshalb, weil er für die Rekonstruktion des Salzbur­ ger Pacher-Altars von Dagobert Frey Bedeutung hat, der Krakauer Schrein we­ gen seiner enormen Ausmaße, die zur Relativierung der so hervorgehobenen Größe des Salzburger Pacher-Altars dienen sollen. Die angenommene Basis­ länge des Frueauf-Schreins mißt ca. 10 Fuß (330 cm) und entspricht damit je­ ner des St. Wolfganger Altars. Die Höhe von 465 cm (14,1 ^) übertrifft aber diesen bei weitem, ergibt ein Verhältnis von 1,41:1 und kommt dem Verhält­ nis (doch nicht der Größe) des Salzburger Pacher-Altars sehr nahe13. Der Krakauer Altar (1477—1489) — übrigens ein Standflügelaltar mit nur einem beweglichen Flügelpaar — ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Erstens dürfte dessen Schreinkasten mit Ausmaßen von 725 x 534 cm tat­ sächlich der größte seiner Gattung sein. Zweitens liegt seiner Rechteckform exakt eine Proportion zugrunde, bei der die Höhe aus der Summe von hal­ ber Breite + Breite x 6/ 1 gewonnen wird. Den Bruch 6/7 (0,857...) als Nähe­ rungswert für ^3/i (0,866...) = Höhe des gleichseitigen Dreiecks kennen wir bereits. Bei der Schreinhöhe sind Elemente der Triangulatur (Rundbogen im Schrein) und der Quadratur (waagrechte Dreiteilung der Flügel) wirksam mit­ einander verbunden. Überträgt man die cm-Maße auf Fuß (1 Krakauer Fuß = 35,6 cm), so klären sich schlagartig die Verhältnisse: Basis = 15 Fuß, Höhe 20/3 Fuß = ein Verhältnis von 1,357:1 (vgl. Schema 4)14.

Das Bildprogramm

Dieses für die bildlichen Darstellungen des Altars an sich wichtige Kapitel kann verhältnismäßig kurz gehalten werden, weil es durch die Forschungen und Überlegungen von Otto Demus ausführlich behandelt wurde. Ausgangs­ punkt und Schlüssel für das Gesamtthema ist der Salzburger Fund von 1951. Mit der Darstellung des „Brunnensturzes Josefs“ war auf einmal ein alttesta- mentliches Thema angeschlagen, das die beiden bereits bekannten Themen des „Marienlebens“ und des „Leidens Christi“ entscheidend eiweiterte. Zu­ sätzlich brachten Spuren auf der Rückseite der fragmentierten Tafel die Ge­ wißheit, daß sie Träger einer reliefierten Darstellung gewesen sein muß. Die Erfahrungen aus der Pacherschen Altartradition in Verbindung mit dem aus­ gesprochenen Marien-Patrozinium der ehemaligen Stadtpfarrkirche „Zu Un­ serer Lieben Frau“ führten zu der Auffassung, daß es sich in Salzburg um einen Wandelaltar mit doppelten Flügelpaaren handeln müsse. Das Hauptthema mit je vier Szenen aus dem Leben der Jungfrau und der Gottesmutter Maria dürfte sich auf die Außenseiten der Außenflügel (1. As­ pekt) und die Innenseiten der Innenflügel (3. Aspekt) verteilen, die Leidens­ geschichte Christi, vier Szenen in paarweiser, typologischer Verbindung mit vier alttestamentlichen Themen, auf die übrigen Flügelflächen (2. Aspekt). Es galt daher, 16 bildliche Darstellungen auf den Vorder- und Rückseiten von © Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, Salzburg, Austria; download unter www.zobodat.at 43

Abb. 7 Altarentwurf Fischers von Erlach mit Projizierung des Pacheraltar-Schemas. © Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, Salzburg, Austria; download unter www.zobodat.at 4 4

8 Tafeln so zu verteilen, daß nach der Montierung in die genuteten Rahmen der Flügel der sinnvolle Zusammenhang der drei Themengruppen gewähr­ leistet war. Die Schwierigkeit, mit der Komplexität bereits bei der Planung des Altars fertig geworden zu sein, kam uns bei der Rekonstruktion des Mo­ dells deutlich zum Bewußtsein15. Ohne auf das Zusammensetzspiel von Demus, das von Wood weitergeführt wurde, im einzelnen einzugehen, seien nur die Kernpunkte der Problematik herausgehoben und meine Meinung dazu geäußert. Generell herrscht wegen der „Verlobungsszene“ Einigkeit, daß dem ersten Aspekt (Werktagsseite, 4 Bil­ der) die Kindheitsgeschichte Mariens zugeordnet ist. Dabei scheidet meines Erachtens die „Heimsuchung Mariens“ (Demus) aus. Sie gehört — wenn über­ haupt vorgesehen — dem christologisch-mariologischen Themenkreis an, der dem dritten Aspekt (4 Reliefs, Feiertagsseite, Predella?) Vorbehalten ist. Der zweite Aspekt (8 Bilder, Sonntagsseite) enthält vier Szenen aus der Leidens­ geschichte des Herrn, verbunden mit vier alttestamentlichen Themen nach typologischer Art. Dieser Schluß ist zwingend, weil die „Josefsszene“ am ehe­ sten die „Grablegung Christi“ verlangt, den Abschluß der Leidensgeschichte, konkret fixiert durch die „Geißelung“16. Die entscheidendste Frage ist, wie fügen sich unsere zwei Tafeln mit ihren den drei Themenkreisen zugehörenden Szenen in die acht Rahmenfelder der vier beweglichen Flügel inhaltlich und formal am sinnvollsten ein. Da für den dritten Aspekt keine konkreten inhaltlichen Angaben vorliegen, klammern wir ihn vorläufig aus. Für die Arbeit des Zusammensetzens der Aspekte 1 und 2 haben wir einschränkende und zugleich hilfreiche konkrete Vorgaben: die „Verlobung“-“Geißelung“-Tafel durch die physische Koppelung, die „Josefs“- Tafel durch die typologische Koppelung. Für die Auswahl und Anordnung der einzelnen Darstellungen sind zwei grundsätzliche Kenntnisse und Überlegungen Voraussetzung: erstens aus dem Bereich der christlichen Ikonographie mit zeitlicher Reihung der einzelnen Er­ eignisse, zweitens allgemeine Ordnungsprinzipien, die zeitliches Nacheinan­ der in örtliches Nebeneinander und/oder Untereinander bzw. Übereinander umzusetzen erlauben. Diese Ordnungsprinzipien beinhalten beispielsweise, daß die abendländische Lese- und Sehrichtung in aller Regel von links nach rechts, von links oben nach rechts unten oder auch von oben nach unten und kaum von unten nach oben erfolgt. Damit lassen sich zeitliche Ereignis­ folgen recht genau in optisch faßbare „Orte“ übertragen. Allein die Beachtung dieses Grundprinzips erlaubt es, die „Josefs“-Tafel im rechten unteren Bereich des achtteiligen Aspekts 2 anzusiedeln. Typologisch mit der „Grablegung Christi“, dem letzten Akt der Leidensgeschichte, verbun­ den, schließt dieses Bildpaar sinnvoll die Leidensgeschichte ab. Mehr noch: da die hintere Fläche der „Josefs“-Tafel Reliefträger war, kann sie nur Teil des rechten inneren Flügels sein, d. h., das typologische Gegenstück „Grablegung Christi“ muß rechts anschließen und ist untere Bildfläche der Innenseite des rechten Außenflügels. Diese Position erlaubt zwei Schlüsse: erstens dürfte mit ziemlicher Sicherheit der Beginn der Leidensgeschichte (Ölberg, Gefangen­ nahme Christi?) in den beiden Bildfeldern links oben zu suchen sein, zweitens © Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, Salzburg, Austria; download unter www.zobodat.at 45

Abb. 8 Modell 1:4 des Salzburger Altars (Aspekt 2).

muß das typologische Gegenstück analog zum „Josef im Brunnen“ nebenein­ ander angeordnet sein. Ob links oder rechts, entscheidet sich durch die Po­ sition der „Geißelung“. Diese kann nur links unten (auf der Innenseite des linken Außenflügels) oder rechts oben (auf der Innenseite des rechten Außen­ flügels) stehen. Daraus folgt, daß auch der „Ölberg“ links oben außen ange­ setzt werden muß und das typologische Gegenstück dazu rechts davon. Das ergibt ein Gesamtkonzept des Aspekts 2: Altes Testament in der Mitte (Außen­ seiten der Innenflügel), Neues Testament an den Rändern (Innenseiten der Außenflügel). Für die Postierung der „Geißelung“ ist zu bedenken, daß sie durch die gemeinsame Tafel mit der „Verlobung Mariens“ gekoppelt ist und dadurch auch die Bildverteilung von Aspekt 1 mit berücksichtigt werden muß. Von der Parallele zur zeitlichen Abfolge sind für die „Geißelung“ beide Po- © Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, Salzburg, Austria; download unter www.zobodat.at 46

Abb. 9 Kopf der Mutter Anna in der Abb. 10 Originales Jesuskind-Köpfchen Geburt Mariens (Aspekt 1). von Pacher. stierungen möglich, wenn als noch fehlendes Szenenpaar die „Kreuztragung Christi“ angenommen wird. Dann kann man entweder Z-förmig oder verkehrt N-förmig „lesen“. Das ergibt für die Positionen der „Verlobung“ zwangsläufig: rechts oben oder links unten. Was ist folgerichtiger für den Aspekt 1? Hier ist zuerst das Fragment mit der Darstellung eines weiblichen Kopfes einzubezie­ hen, das mit einer „Geburt Mariens“ unseres Altars glaubwürdig in Verbin­ dung gebracht wird (Abb. 9). Für die beiden noch fehlenden Szenen der Kind­ heit Mariens bieten sich am ehesten die „Goldene Pforte“ und der „Tempel­ gang Mariens“ an. In zeitlicher Reihenfolge hieße dies: P F O R T E — G E B U R T — TEMPELGANG — VERLOBUNG und ergäbe als „Lesefigur“ entweder die U-Form oder die verkehrte C-Form, beides ist möglich. Für die endgültige hypotheti­ sche Entscheidung ist nun die Bildkomposition heranzuziehen. Symmetrie und Statik — die abschließende Figur Josefs und die Blickwendung des Ho- hepriesters — sprechen für eine Postierung im linken unteren Feld, schließen aber die andere Stellung wegen Maria als Blickfang nicht aus. Hingegen scheint sich der nach links hinab hängende Christus mit einer Reihe anderer Formelemente der „Geißelungs“-Szene am besten in das obere rechte Bild­ feld einzufügen. Die „Kreuztragung“ als noch offene wahrscheinlichste vierte Leidensstation mit „Isaaks Opferholz“ als typologisches Gegenstück käme dann in das linke untere Wandfeld, so daß sich für den Aspekt 2 eine Z-för­ mige Leserichtung ergäbe. Ich möchte aber wegen der Positionierung der „Verlobung“ die andere Version nicht ausschließen. Ohne auf die verschiedenen typologischen Zuordnungsmöglichkeiten alt­ testamentarischer Szenen zur Leidensgeschichte Christi im einzelnen einzuge­ hen, läßt sich für das Gesamtbild des 2. Aspekts folgendes Ordnungsgefüge aufstellen: Oben von links nach rechts: Ö L B E R G mit Hesekiels Vision, Hiobs © Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, Salzburg, Austria; download unter www.zobodat.at 4 7

Züchtigung mit GEISSELUNG, unten: KREUZTRAGUNG mit Isaaks Opfergang, Josef im Brunnen mit GRABLEGUNG CHRISTI17. Über Einzelheiten der Themengruppe von Aspekt 3 fehlen konkrete inhalt­ liche Hinweise. Fest steht nur, daß es Reliefs waren und mit größter Sicher­ heit Szenen aus dem mütterlichen Marienleben dargestellt haben. Die Aus­ wahl bleibt offen, weil auch die Themen des Schreins und der Predella ein­ bezogen werden müssen, lassen aber wegen des Patroziniums auf besondere Höhepunkte des Marienlebens schließen. Über die Predella wissen wir über­ haupt nichts, im Schrein muß das Wunderwerk der thronenden Muttergottes mit Jesuskind eine zentrale Stellung eingenommen haben, worüber nur hypo­ thetisch nachgedacht werden kann. Hinweise liefert — neben Vergleichen mit gleichzeitigen Flügelaltären — möglicherweise auch Fischers von Erlach barok- ker Nachfolgealtar. Er hat sich nicht nur, was die Maßverhältnisse betrifft, an Pacher gehalten, sondern — in klassische Elemente und schwingende Kurven übersetzt — auch in der Gesamtform: Aus dem kantigen Kasten des Schreins wurde eine geschmeidige Nische mit krönendem Diadembogen. Dieser hatte möglicherweise einen Pacherschen Rund- oder Kielbogen als Vorbild, ähn­ lich wie der schlanke barocke Auszug mit der Gestalt des schwebenden Gott­ vaters an das gotische Gesprenge mit ähnlicher Thematik erinnern könnte, gleich wie die flankierenden Figuren der heiligen Georg und Florian an ehe­ malige Schreinwächter. In diese Richtung zu denken, hat man sich bisher kaum vorgewagt. Doch sollte man nicht außer acht lassen, daß an der Auf­ gabenstellung dieses Hochaltars in einem außergewöhnlichen Raum sich zwei ganz Große der Bildenden Kunst — Pacher und Fischer — begegnet sind und einander abgelöst haben (Abb. 5—7)18. Kurz ein paar Worte zur Zerstörung des Pacher-Altars in den Jahren 1709/ 1710. Die für uns so schmerzliche, handgreifliche Zerstörung muß sehr gründ­ lich erfolgt sein: Abgesehen vom Gnadenbild der Madonna, dem originalen Je­ susköpfchen (Abb. 10) und den zwei fragmentierten größeren Tafeln sowie einer kleineren Tafel hat sich nichts mehr erhalten. Es war der Zeitgeist, der hier wie in hunderten anderen Fällen am Werk war, innerhalb dessen St. Wolf­ gang eine rühmliche Ausnahme bildet. Auch ist zu bedenken, daß nach der stufenweisen Barockisierung des Kapellenkranzes der inzwischen den Franzis­ kanern überlassenen Kirche der formal und inhaltlich anspruchsvolle gotische Hochaltar wie ein unerträglicher Fremdkörper gewirkt haben muß, den man durch ein zeitgemäßes barockes Gebilde unter Beibehaltung des Kultbildes als religiösen Kern ersetzen wollte. Daß Fischer Pachers Altar im gotischen Hal­ lenchor, umrahmt vom barockisierten Kapellenkranz, gesehen und erlebt hat, darf mit Sicherheit angenommen werden. Und vermutlich war dieser für ihn zwiespältige Eindruck das auslösende Moment für die Erfindung der gotisch­ barocken Synthese seines einzigartigen Altars. Von wem der Anstoß zur Zerstö­ rung des Pacher-Altars ausgegangen ist, ist nicht restlos geklärt. Der Gunst der Stunde aber ist es zu danken, daß gerade Fischer, dem kongenialen Bildhau­ er-Architekten, der mit dem Tod seines großen Gönners Erzbischof Ernest Thun 1709 Salzburg bereits den Rücken gekehrt hatte, der Auftrag für den neuen Hochaltar zugefallen war, seinem letzten Werk im Erzstift Salzburg19. © Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, Salzburg, Austria; download unter www.zobodat.at

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Abb. 11 Thronende Muttergottes in Engelskranz der Lauretanischen Litanei (Fischer-von-Erlach-Altar). Der Engelsreigen ist rekonstrierende Restaurierung durch die Münchener Firma Pfefferle, 1939. © Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, Salzburg, Austria; download unter www.zobodat.at 4 9

Abb. 12 Thronende Muttergottes mit Engeln in Kielbogenbaldachin (Maria Laach am Jauerling, NO.). © Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, Salzburg, Austria; download unter www.zobodat.at 5 0

Zusammenfassung und Bedeutung

Der Mangel an erhaltenen Altarteilen, besonders an Skulpturen und quel­ lenmäßigen Überlieferungen, läßt nur eine recht unvollständige Rekonstruk­ tion unseres Altars zu. Das gilt vor allem für die Predella, den inneren Aufbau des Schreins mit den Flügelreliefs und für das Gesprenge. Eine verhältnismä­ ßig gute Vorstellung haben wir von der Gesamtgestalt und den Ausmaßen, vorausgesetzt, daß unsere Analogie zum St. Wolfganger Altar standhält. Auch über die Grundlinien des inhaltlichen Programms sind wir weitgehend unter­ richtet. Im Vergleich zu den anderen Altären Pachers ist er nicht nur den Ab­ messungen nach der größte, sondern auch inhaltlich durch die typologische Einbindung des Alten Testaments der umfassendste. Da die Zeit für diese the­ matische Ausweitung mit Ende des 15. Jahrhunderts längst abgelaufen war, stellt sich die Frage, von welcher Seite dieser theologische Anstoß noch ge­ kommen sein kann. Zwar ist Pacher selbst so gut wie sicher mit diesem Ge­ dankengut durch die Fresken im Brixener Domkreuzgang bekannt geworden, doch dürfte das als Begründung nicht ausreichen. Viel eher ist an einen Tra­ ditionsstrang im Umkreis der Augustiner-Chorherren des Salzburger Metro­ politankapitels zu denken. Sie stellten nämlich zur damaligen Zeit die Pfarrer bzw. Nachpfarrer der Stadtpfarrkirche „Zu Unserer Lieben Frau“, und einer von ihnen stieg damals sogar zur Würde des Erzbischofs auf. Pacher stand schon von Südtirol aus durch das Kloster Neustift mit den Augustinern in enger Verbindung. Neustift wurde von Klosterneuburg aus gegründet, der Heimstätte des sogenannten „Verduner Altars“, dem berühmtesten Beispiel typologischer Bildprogrammatik. Es wäre dankenswert, diesen vorstellbaren Zusammenhängen nachzugehen. Pachers Salzburger Altar muß ein grandioses Alterswerk gewesen sein, in dem sein großes, vielfach bewiesenes Können zur letzten ausgeglichenen Reife gelangt ist. In St. Wolfgang war sein künstlerisches Ziel — im Sinne des Stils der siebziger Jahre, personifiziert in Niklas Gerhaert von Leiden — die ver­ schränkt bewegte Verräumlichung der Szenerien, in den Tafelbildern durch den restlosen Einsatz der Perspektive aufs äußerste gesteigert, zu erreichen. Dabei werden diese in die Tiefe schießenden Raumbühnen durch ein straffes Rahmenwerk im Zaum gehalten. In Salzburg — 20 Jahre später — sind diese Tiefenräume auf seichte, gewissermaßen ausgebreitete Raumschichten zurück­ genommen, in denen sich zuständlich gewordenes Geschehen symmetrisch beruhigt vollzieht. Damit ist ein Zug zu innerer Größe — eine Monumentali- sierung — verbunden, die außer einer Abgeklärtheit des Alters durchaus auch als Einwirkung von harmonisierenden Kräften der aufgefaßt wer­ den kann. Vieles wirkt in diesem leider nur mehr stückhaft erhaltenen Werk zusammen. Und wer um den Grundcharakter dessen, was man in der Bilden­ den Kunst das „Salzburgische“ genannt hat, Bescheid zu wissen glaubt, dürf­ te kaum Schwierigkeiten haben, auch in Pachers „Schlußakkord“ seines groß­ artigen Schaffens eine überraschende Bestätigung für diesen Charakterzug zu erkennen (Abb. 11 u. 12)20. © Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, Salzburg, Austria; download unter www.zobodat.at 5 1

Anmerkungen

1 A. Rosenauer (Hg.), Michael Pacher und sein Kreis. Ein Tiroler Künstler der europäi- chen Spätgotik, 1498—1998 (Neustift 1998) (= Kat. mit Bibliographie). —A. Rosenauer (H g.), Michael Pacher und sein Kreis. Symposion (Beiträge) (Bozen—Lana 1999). 2 Text der Inschrift: „Zur Erinnerung an den Maler und Bildschnitzer MICHAEL PA­ CHER geb. um 1430 in Bruneck im Pustertal gest. im Sommer 1498 in Salzburg kurz vor Voll­ endung der Aufstellung seines größten Altarwerkes für die ehemalige Stadtpfarrkirche heute Franziskanerkirche. Die Madonna dieses Altares hat Johann Bernhard Fischer von Erlach in den barocken Hochaltar übernommen. Begraben wurde Michael Pacher auf dem alten Pfarrfried- hof an der Nordseite der Kirche, wo später Fürst-Erzbischof Wolf Dietrich von Raitenau die Residenz errichtete. — Errichtet im Gedenkjahr 1998 von den Franziskanern. Eingeweiht am 15. November durch den Propst Chrysostomos Giner von Neustift bei Brixen.“ — Festakt der Ges. f. Salzburger Landeskunde am 18. November 1998. — Präsentation des Altarmodells am 23. November 1998 im Inst. f. Kunstgeschichte der Universität Salzburg. 3 Tb. Hoppe, Zur Auffindung eines Tafelbildes Michael Pachers, in: Wiener Jb. f. Kunst­ geschichte, Bd. 16 (Wien 1954), S. 82—86. 4 D. Frey, Michael-Pacher-Studien, in: Wiener Jb. f. Kunstgeschichte, Bd. 15 (Wien 1953), S. 2 3 —100. — O. Demus, Studien zu Michael Pachers Salzburger Hochaltar, in: Jb. f. Kunst­ geschichte (wie Anm. 3), S. 87—118. 5 W. Rottleutbner, Alte lokale und nichtmetrische Gewichte und Maße und ihre Größen nach metrischem System (Innsbruck 1985), S. 26 f. Der Tiroler Fuß wird mit 33,4 cm ange­ geben. Dieses Maß ähnelt sehr dem altrömischen drusianischen Fuß, der auch karolingischer Fuß genannt wird; er mißt 33,3 cm = l'A römischer Fuß = 29,6 cm + 3,7 cm = 33,3 cm. Es ist bemerkenswert, daß dieses Maß fast genau ‘/j eines Meters ist. W. — Trapp, Kleines Handbuch der Maße, Zahlen, Gewichte und der Zeitrechnung (Augsburg 1996). — 5:8 ist Teil der Fibo­ nacci-Reihe und harmonikal die kleine Sext. 6 Dieses aus einem realen Tafelmaß mittels Proportionen entwickelte Höhenmaß über­ steigt noch etwas die bisher angenommene Höhe von 16 m. „Biquadrat“ ist ein von mir abge­ wandelter Begriff ausWersin, Buch vom Rechteck (Ravensburg 1956). Vgl. den Anhang. 7 Vgl. meine Arbeit, „Der Chor der Franziskanerkirche in Salzburg und sein ,Maßgrund‘, eine Nachlese, in: Wiener Jb. f. Kunstgeschichte, Bd. 46/47 (Wien 1993/94), S. 195-209. - Bemerkenswert ist, daß sich auch Fischer von Erlach an diese Maße gehalten hat. Eine grobe Vermessung hat ergeben, daß die Breite seines Altars einschließlich der Seitenportale ebenfalls rund 8 m beträgt. 8 M . Koller u. N. W ibiral, Der Pacher-Altar in St. Wolfgang. Untersuchung, Konservierung und Restaurierung 1969—1976 (Wien 1981). — M. Koller, Der Flügelaltar von Michael Pacher in St. Wolfgang (Wien-Köln-Weimar 1998). 9 Von St. Wolfgang leite ich das Tiroler Fußmaß mit 33 cm ab, und es bewährt sich. Nur im Fall des Grieser Altars würde ein Wert von 33,3 cm besser greifen. 10 Mit dem aus der Konstruktion gewonnenen exakten Kehr- oder Reziprokwert erreicht man nur 11,55 Fuß = 381 cm Schreinhöhe. Bei der üblichen 1%-Toleranz erhält man aber be­ reits 385 cm statt gemessenen 386 cm, was für die praktische Genauigkeit schon reichen wür­ de. Verwendet man aber den Bruchwert = 1,166, mit dem im Mittelalter gearbeitet wurde, so erzielt man 385 cm. Mit Wurzelwerten wie (= 0,866) bzw. (= 1,155) konnte erst im 16. Jh. gerechnet werden, weil erst damals das Rechnen mit Wurzeln eingeführt wurde. Für den Rechenwert der Höhe des gleichseitigen Dreiecks wurde der Bruch 7? (= 0,857) verwen­ det, siehe H. Kaiser u. W. N öbauer, Geschichte der Mathematik (Wien 1984), S. 34. — Beim Rechnen mit dem Tiroler Fuß muß berücksichtigt werden, daß er duodezimal unterteilt wird und so z. B. ein Wert von 0,64 Fuß als 0,666 = /.i Fuß zu gelten hat. — Zur Höhe des Block­ altars sie Koller/Wibiral (wie Anm. 8), S. 96. 11 Quadratur und Triangulatur sind Proportionsverfahren, die auf den geometrischen Eigenschaften von Quadrat und gleichseitigem Dreieck und deren Diagonalen bzw. Höhen etc. beruhen. Modern ausgedrückt, hängen sie von den Wurzelwerten 2 (= 1,414) und 3 (= 1,732) ab. Sie spielten bereits im Mittelalter eine Rolle (vgl. den Streit um die Weiterführung des Baus © Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, Salzburg, Austria; download unter www.zobodat.at 5 2

des Mailänder Doms). Weniger geläufig, doch mit dem sogen. „Goldenen Schnitt“ verbunden, ist die Quintur, sie steht mit der Wurzel 5 (= 2,236) im Einklang. 12 Laurentius-Altar 1462/63 ff., Grieser Altar 1471 bis um 1475, St. Wolfganger Altar 1471 bis 1481, Salzburger Altar 1484 bis 1498. — Der Faktor 1,453 gehört als „Bipenton, stehend“ zur Wersinschen Stufenleiter und entspricht dem Wert von 2 tg 36°. Darauf beruht auch die Konstruktion des Schemas vom Schrein des Salzburger Altars; siehe Anhang. 13 Vgl. Frey (wie Anm. 4). — L. v. Baldass, Conrad Laib und die beiden Rueland Frueauf (Wien 1946). — E. Baum , Kat. des Museums Mittelalterlicher Österreichischer Kunst (Wien 1971), S. 79 f., S. 69 f. (Pacher). — Die Tafelmaße des Frueauf-Altars 210 x 135 cm = 7 x 4,5 Salzburger Fuß (ä 30 cm), Rahmenbreite 0,5 Fuß, wurden für das Schema des Vergleichs der Schreine in Tiroler Fuß umgewandelt. 14 Die Maßangaben nach M. Stuhr, Der Krakauer Marienaltar von Veit Stoß (Leipzig 1992). Mit den gewaltigen Schreinmaßen 725 x 534 cm kann man vorerst proportional kaum etwas anfangen. Erst die Umformung in Fuß, und zwar in den Krakauer Fuß (der Nürnberger Fuß mit 30,4 cm hat nicht gegriffen) = 35,6 cm, klärte sich alles aufs beste auf: Basis = 534 cm = 15 Fuß, Höhe = 725 cm = 20 1/ j Fuß. Ein lehrreiches Beispiel, wie hilfreich es ist, Meter-Maße in ursprüngliche Maßeinheiten umzuformen, um künstlerisch mitbestimmende Maßverhältnisse erkennen und beurteilen zu können. Triangulatur und Quadratur wirken in diesem Fall auf ein­ fachste Weise zusammen. Grosso modo kann man sagen: Der Schrein hat ein harmonisches Verhältnis von 4:3 (Quart) und zusammen mit den Flügeln eines von 2:3 (Quint), nach der Ok­ tav die einfachsten Intervalle. (Für Schema 4 in Tiroler Fuß verwandelt.) 15 Zum technischen Aufbau eines Wandelaltars vgl.Koller/Wibiral (wie Anm. 8). — Es ist darauf hinzuweisen, daß Rekonstruktionsmaße schematisch sind und eines Spielraums (Tole­ ranz) bedürfen. So sitzen z. B. Tafeln in genuteten Rahmen, wodurch sozusagen beim Meßvor­ gang und in der Praxis einige cm „verlorengehen“ können. Penible Genauigkeit kann zu „fal­ scher“ Genauigkeit verkommen. Das gilt auch für Zahlen. Auf- und abgerundete Zahlen und ge­ meine Brüche können oft wirklichkeitsnäher sein als Dezimalbrüche. 16 Demus (wie Anm. 4). — Cb. S. Wood, Michael Pacher and the fate of the in Renaissance Germany, in: Res 15 (Spring 1988), S. 89—104. — Zur Typologie siehe F. Röhrig, Der Verdun er-Altar (Klosterneuburg—Wien 71995). 17 G . Heinz-Mohr, Lexikon der Symbole, Bilder und Zeichen der Christlichen Kunst (Köln 71983), S. 232 ff. — Abb. 8 zeigt noch li. u. die später geänderte Variante der „Geiselung“ re. o. 18 Eine Vorstellung, wie sich die Feiertagsseite des Salzburger Pacher-Altars gezeigt haben könnte, kann annäherungsweise der 1480 (?) datierte Flügelaltar von Maria Laach in NÖ ver­ mitteln. In absoluten Maßen (Schrein 370 x 257 cm) wesentlich kleiner, hat er ähnliche Pro­ portionen (Schrein 1,44:1) und vergleichbare Inhalte: Aspekt 1 — Beschneidung Jesu, Darstel­ lung im Tempel, Entschlafung und Krönung Mariens; Aspekt 2 — Leiden Christi von Ölberg bis Kreuzigung und Auferstehung; Aspekt 3 — Flügelreliefs mit Verkündigung, Heimsuchung, Ge­ burt Jesu und Anbetung der Hl. Drei Könige; Schrein — thronende Muttergottes mit Jesuskind, umgeben von Engeln und eingefaßt mit einem Kielbogenbaldachin. — R.Feuchtmüller, M aria Laach (St. Pölten o. J.). 19 L. Spatzenegger, Beiträge zur Geschichte der Pfarr- oder Franziskanerkirche in Salzburg, in: MGSL 9 (1869), S. 1—67. — P. B. Gritsch, Zur Geschichte des Hochaltares in der Franzis­ kanerkirche, in: M G SL 6 4 (1 9 2 4 ), S. 1 5 3 —163. — F. Fuhrmann, Der Kapellenbau in Salzburg zur Zeit des Erzbischofs Wolf Dietrich von Raitenau, Wiener Dissertation 1943 (ungedruckt). — F. Fuhrmann, Der Chor der Franziskanerkirche (vgl. Anm. 4). — H. Sedlmayr, J. B. Fischer von Erlach (Wien 21976). — J. Neuhardt (Hg.), 400 Jahre Franziskaner in Salzburg. Kat. zur 8. Son­ derschau des Dommuseums (1983). — M. Oberhammer, Pustets Klosterführer (Salzburg 1998), S. 2 0 6 - 2 0 8 . 2 0 L. Madersbacher, Michael Pacher, Flügelfragment des Hochaltares der Stadtpfarrkirche Salzburg, in: Michael Pacher und sein Kreis (wie Anm. 1). —H. Dopsch, Salzburg im 15. Jahr­ hundert, in: Dopsch/Spatzenegger 1 /1 , S. 5 6 3 ff. — Spatzenegger (wie Anm. 19), S. 4 5 . Stadt­ pfarrer war zur selbigen Zeit der nachmalige Erzbischof Friedrich V. von Schaunberg (1494— 1 4 9 5 ). — K. W olfsgruber, Dom und Kreuzgang von Brixen, Geschichte und Kunst (Bozen 1 9 8 8 ). — W. S ch leg el F. K öhler u. F. Wagner, Studien zur Salzburger Franziskanerkirche, I—III, © Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, Salzburg, Austria; download unter www.zobodat.at 5 3

in: Alte und moderne Kunst, H. 198/199 (1985). - F. Fuhrmann , J. B. Fischer von Erlach und das „Salzburgische“, in: Ceterum (Salzburg 1966). K. H. Ritschel, Pacher schnitzte dieses Köpfchen, in: SN v. 9./10. Juli 1983. — Chr. Burchard , Historische Bilderrahmen, in: Barockberichte, H. 24/25 (Salzburg 1999), S. 406 ff. — M.Kol­ ler, Restauratorische Untersuchungen zu Michael Pachers Altären von St. Lorenzen und Salz­ burg, in: Pacher-Symposion (wie Anm. 1), S. 159—172.

Abbildungsnachweis

Abb. 1, 5—8: Salzburg, Inst. f. Kunstgesch.; Abb. 2—4: Wien, Österr. Galerie; Abb. 9: Privatbes.; Abb. 10: Salzburg, Dommus.; Abb. 11: Salzburg, Verl. St. Peter; Abb. 12: Wien, Verl. Kellner.

ANHANG

Die Notwendigkeit, sich bei einer Rekonstruktion mit Maßproblemen beschäfti­ gen zu müssen, bringt es mit sich, darauf etwas näher einzugehen. Bei der Beurtei­ lung und Bewertung von Maßen im künstlerischen Bereich kommt es nicht so sehr auf absolute Zahlen an, sondern in erster Linie auf relative, d. h. auf das Verhältnis bestimmter Zahlen untereinander und zum Ganzen einer gestaltlichen Einheit. Das zeigt sich am einfachsten und deutlichsten im Bereich von Rechtecken. Es bedarf kei­ nes nachdrücklichen Hinweises, daß in unserer gebauten Erscheinungswelt das Recht­ eck eine herausragende Rolle spielt. Seine Charakteristik wird vom Verhältnis der Höhe zur Breite bestimmt. Von den vielen Autoren, die sich mit Maßproblemen be­ schäftigt haben, ist Wolfgang von Wersin — ein ausübender, lehrender und theoreti- sierender Künstler — derjenige, der sich ganz auf das Rechteck konzentriert und des­ sen Wandlungsfähigkeit auf seine geometrische Gesetzmäßigkeit hin untersucht und festgelegt hat, ohne dessen „Gestik“ (Sedlmayr würde vom „anschaulichen Charakter“ sprechen) zu vernachlässigen. Ausgehend vom Quadrat (dem gleichseitigen = stati­ schen Rechteck) wird bis zum „Biquadrat“ (Doppelquadrat) in aufsteigender und re­ ziprok absteigender Linie eine zwölfstufige Skala entwickelt. Sie stützt sich im wesent­ lichen auf mittels Zirkelschwenkungen konstruierte (irrationale) Diagonalen, die ma­ thematisch definierte Rechtecke erzeugen und in einem inneren Zusammenhang ste­ hen. Wersin verwendet eine eigene (vom Altgriechischen abgeleitete) Begriffssprache. Er bezeichnet die Rechtecke insgesamt als „Orthogone“ und benennt die zwölf Stu­ fen gemäß Konstruktion und Charakter z. B. als „Diagon“, „Trion“, „Penton“ usw. (mit entsprechenden Abkürzungen). Bei der praktischen Erprobung des Wersinschen Systems führte ich einige Verän­ derungen (Verbesserungen) ein, da sowohl die Arithmetik als auch die geometrische Konstruktion Mängel hinsichtlich Genauigkeit bzw. Kompliziertheit aufweisen. Außer­ dem ergänzte ich die elfstufige Skala um eine zwölfte Stufe („Quatrion“), um dadurch eine Parallele zur musikalischen harmonischen Stufenleiter herzustellen. Weiters füge ich meiner Tabelle zum besseren Verständnis einiger komplizierteren Wurzelbrüche auch trigonometrische Werte hinzu. Die Legitimation erhält dieser „Anhang“ über die verbesserte Wersinsche Methode daraus, daß sich bemerkenswerte Zusammenhänge feststellen lassen, die Einblicke in die mit Tabus versehene Bedeutung von Propor­ tionen im Bereich der Bildenden Kunst erlauben. Zu den zwei im reziproken Verhältnis zueinander stehenden Teilen (Orthogone stehend, Orthogone liegend) der Tabelle gehören die von mir zum Teil vereinfach­ © Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, Salzburg, Austria; download unter www.zobodat.at 5 4

ten Konstruktionszeichnungen. Zur besseren Übersicht sind sie in die drei Gruppen Quadratur (V2), Triangulatur (V3) und Quintur (V5) aufgeteilt und zeigen, wie die einzelnen Orthogone (Rechtecke) auf einfache Weise gewonnen werden und in einem inneren Zusammenhang stehen{A—B = 1,000). Hinsichtlich der Verwendung solcher systematisierter Proportionen bleibt die Frage: Sind sie vorgegeben, d. h. läßt sich ein Künstler bewußt von ihnen leiten, oder werden sie nachträglich (von Maßforschern) gesucht und allenfalls aufgedeckt als ein dem auf Vollendung zielenden Kunstwerk innewohnendes Gesetz der Zahl? Bei Michael Pacher gewinnt man den Eindruck, daß er um solche Gesetzmäßigkeiten wußte und sie entsprechend einzusetzen verstanden hat.

L iteratu r (kleine Auswahl)

W. v. Wersin, Das Buch vom Rechteck — Gesetz und Gestik des Räumlichen (Ravensburg 1 9 5 6 ). — F. Goffitzer, Harmonik und Proportion in der Architektur (Linz 1996). — K. Freck- mann, Proportionen in der Architektur (München 1956). —H. Karlinger , Zahl und Maß (Wien 1 9 4 4 ). — H. Kayser, Lehrbuch der Harmonik (Zürich 1950). —H. Koepf, Struktur und Form — eine architektonische Formenlehre (Stuttgart 1979). —A. Kotm ann, 5000 Jahre messen und bauen (Stuttgart 1981). — P. v. Naredi-Rainer , Architektur und Harmonie (Köln 61996). — E. N eufert, Bauordnungslehre — Handbuch für rationelles Bauen nach geregeltem Maß (Berlin 1961). — Zum Vergleich mit der Musik: M. Vogel, Die Lehre von den Tonbeziehungen (Bonn- Bad Godesberg 1975).

Die Wersinschen Orthogone

Verhältniswerte der Höhen/ B r e ite n = 1

STUFEN stehend (|) liegend (— )

1. QUADRAT Q 1 1.000 tg45° 1 1.000 tg45°

2. HEMIDIAGON P Vs 1.118 2v/5 0.894 2 sinl8° + sin54° 5

3. TRION TR 2\/3 1.155 2tg30° 'yft 0.866 sin60° 3 2

4. QUADRIAGON QD l + y/2 1.207 1 0.828 2tg22.5° 2 to

5. BIAURON AA 1.236 4sinl8° l + %/5 0.809 sin54° y / E - 1 4 6. PENTON P 1.376 tg54° 0.727 tg36° 7 ^ V ö - 2 \ /5

7. DIAGON D 1.414 1 + tg22.5° y/2 0.707 sin45° V2 2

8. BIPENTON PP 1.453 2tg36° 1 t / 5 + 2 n/5 0.688 tg 5 4 ° 2\/5 — 2y/b 2 V 5 2

9. HEMIOLION ß 3 1.500 2 0.667 2 3

10. AURON A 1 + y/E 1.618 2sin54° y/5— 1 0.618 2sinl8° 2 2

11. SIXTON S 1.732 tg60° y/3 0.577 tg30° v 's 3

12. QUATRION QTR 2 + V 3 1.866 1 + sin60° 0.536 2tgl5° 2 2(2-\/3)

13. BIQUADRAT QQ 2.000 1 0.500 V 3 2 © Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, Salzburg, Austria; download unter www.zobodat.at 55

STUFEN DER QUADRATUR ( ¡ 2 )

QQI

01

Dl

QDI

Q

QD-

D-

0-

QQ-

A B © Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, Salzburg, Austria; download unter www.zobodat.at 5 6

STUFEN DER TRIANGULATUR (/3)

QQI 2.000

QTRI 1.866

Sl 1.732

TRI 1.155

Q 1.000

TR- 0.866

S- 0.577 QTR- 0.536

A B © Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, Salzburg, Austria; download unter www.zobodat.at 5 7

Anschrift des Verfassers: Univ.-Prof. Dr. Franz Fuhrmann Höfelgasse 3 A-5020 Salzburg © Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, Salzburg, Austria; download unter www.zobodat.at