DER BÜRGER IM STAAT

56.Jahrgang Heft 4 2006

Zuwanderung und Integration Herausgegeben von der Landeszentrale für politische Bildung DER BÜRGER Baden-Württemberg IM STAAT

Redaktion: Siegfried Frech Redaktionsassistenz: Barbara Bollinger Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart Fax (0711) 164099-77 [email protected] 56. Jahrgang Heft 4 2006 [email protected]

Inhaltsverzeichnis

Zuwanderung und Integration

Karl-Heinz Meier-Braun Wolfgang Walla Der lange Weg ins Einwanderungsland Migranten in Baden-Württemberg 246 Deutschland 204 Christoph Butterwegge Maria Böhmer Medienberichterstattung – Abbau oder Integrationspolitik aus Verstärkung von Vorurteilen? 254 bundespolitischer Sicht: Herausforderungen und Leitlinien 210 Karl-Heinz Meier-Braun Weltweite Migration und die Rolle Matthias Micus / Franz Walter der Vereinten Nationen 260 Mangelt es an „Parallelgesellschaften“? 215 Buchbesprechungen 265 Inken Keim / Rosemarie Tracy Mehrsprachigkeit und Migration 222

Andreas M. Wüst Wahlverhalten und politische Repräsentation von Migranten 228

Thomas Straubhaar Wirtschaftliche Folgen der Einzelbestellungen und Abonnements bei der Landeszentrale (bitte schriftlich) Zuwanderung 235 Impressum: Seite 227 Herbert Brücker Bitte geben Sie bei jedem Schriftwechsel Wirtschaftliche Effekte der Migration mit dem Verlag Ihre auf der Adresse aufgedruckte in alternden Gesellschaften 240 Kunden-Nr. an. Zuwanderung und Integration

AM 1. JANUAR 2005 TRAT DAS ZUWANDERUNGSGESETZ IN KRAFT. DAMIT BEKENNT SICH DIE BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND OFFIZIELL ZU IHRER ROLLE ALS EINWANDERUNGSLAND. picture alliance / dpa

201 Zuwanderung und Integration

Die Bundesrepublik Deutschland hat sich mehr als 50 Jah- leichtern. Matthias Micus und Franz Walter schildern die- re mit dem Begriff „Einwanderungsland“ schwer getan. In- sen Prozess gelingender Integration am Beispiel der so ge- zwischen beginnt sich die Einsicht durchzusetzen, dass nannten „Ruhrpolen“ und der parteipolitischen Milieus. die Zuwanderungsbilanz positiv zu bewerten ist. Integrier- Gefährdungen für demokratisch verfasste Gesellschaften te Zuwanderinnen und Zuwanderer stellen eine gesell- ergeben sich dann, wenn „Parallelgesellschaften“ den Dia- schaftliche, kulturelle und nicht zuletzt ökonomische Be- log verweigern und ihre Werte absolut setzen. Diese Ab- reicherung dar. grenzung kann als Reflex auf Gegebenheiten der Aufnah- Karl-Heinz Meier-Braun bilanziert im einführenden Beitrag megesellschaft gedeutet werden: Mangelnde Teilhabe- die Ausländerpolitik seit den 1950er-Jahren, als die ersten und Erfolgschancen, sich verschlechternde Integrationsbe- so genannten „Gastarbeiter“ nach Deutschland geholt dingungen und eine nur „partielle Integration“ lassen in wurden, bis zum Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes jüngster Zeit die Empörung der dritten Einwanderergene- im Jahre 2005. In diesem Panorama der Geschichte der Zu- ration wachsen. Dies lässt auf einen Mangel an parallelge- wanderung wird in sechs Phasen die zumeist von arbeits- sellschaftlichen Strukturen, die eine Brücke zur Mehrheits- marktpolitischen Überlegungen geprägte und unter dem gesellschaft schlagen könnten, schließen. Gesichtspunkt der Integration oft halbherzig betriebene Gelingende Integration hängt wesentlich von Wissen und Ausländerpolitik Deutschlands analysiert. Das am 1. Janu- Bildung ab. Bisher ist es offensichtlich nicht gelungen, Be- ar 2005 in Kraft getretene Zuwanderungsgesetz, dessen dingungen zu schaffen, unter denen sich das Lernpotenzi- Eckpunkte in dem Beitrag erörtert werden, markiert den al von Migrantenkindern optimal entfalten kann. Aus Beginn einer siebten Phase der Ausländerpolitik, die durch sprachwissenschaftlicher Perspektive ist das Problem klar eine neue Gewichtung der Integrationspolitik bei gleichzei- identifizierbar: Migrantenkinder sind unterfördert und da- tigem Eingeständnis von Versäumnissen in der Vergangen- mit auch unterfordert. Der Beitrag von Inken Keim und Ro- heit charakterisiert ist. semarie Tracy bringt interessante Gesichtspunkte in die ak- Die Bedeutung einer funktionierenden Integrationspolitik tuelle Diskussion über die unzureichenden Bildungschan- wird im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD her- cen von Migrantenkindern ein: Auf der Grundlage neuerer vorgehoben. Dies wird durch die Tatsache unterstrichen, sprachwissenschaftlicher Forschungen plädieren die Auto- dass Maria Böhmer – die wir als Autorin für dieses Heft ge- rinnen für eine Überwindung der Defizitannahme und zei- winnen konnten – am 29.11.2005 ihr Amt als Beauftragte gen anhand konkreter Beispiele, warum es dringend not- der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Inte- wendig ist, vereinfachte Vorstellungen über die sprachli- gration antrat. Der Umstand, dass die Integrationspolitik ei- chen Kompetenzen von Migrantenkindern zu überwinden. ne grundlegende Neubewertung erfährt, ist Anlass genug, Nach der Erörterung relevanter Ergebnisse der neueren die bundespolitische Sicht vorzustellen. Der im Kanzleramt Spracherwerbs- und Mehrsprachigkeitsforschung werden unlängst abgehaltene „Integrationsgipfel“ ist Ausdruck ei- einige weit verbreitete Vorurteile widerlegt und schließlich nes gewandelten integrationspolitischen Verständnisses Vorschläge zur Verbesserung der Sprachlernbedingungen und war ein wichtiges Signal, weil er Defizite der Integration unterbreitet. benannte und Maßnahmen zu einer besseren Integrations- Die politische Integration von Einwanderern bemisst sich politik in Angriff nahm. Auf diesem Integrationsgipfel wur- am Zugeständnis politischer Partizipationsmöglichkeiten. de ein „Nationaler Integrationsplan“ erarbeitet, der sich auf Wahlrecht, parlamentarische Präsenz und die Mit-Ent- sechs Schlüsselbereiche konzentriert: Weiterentwicklung scheidung von Personen mit Migrationshintergrund tragen der Integrationskurse, Förderung der deutschen Sprache, Si- entscheidend zum Abbau struktureller Defizite bei. Es hat cherung der Bildung und Ausbildung, Erhöhung der Arbeits- lange gedauert, bis Migranten als politisch relevante Sub- marktchancen, die Verbesserung der Lebenssituation von jekte und nicht nur als Objekte der Politik wahrgenommen Frauen und Mädchen mit Migrationshintergrund und wurden. Die Arbeiten von Andreas M. Wüst zum Wahlver- schließlich die Förderung der Integration vor Ort. halten von Migranten haben hier eine entscheidende Lücke Doch dies ist nur eine Seite der Medaille. Durchaus zu kon- geschlossen: Herkunft, Zeitpunkt der Einwanderung, kultu- statierende Probleme (so genannte „Parallelgesellschaf- relle und religiöse Orientierung der eingebürgerten Perso- ten“, schlechte Bildungsabschlüsse, Arbeitslosigkeit, religi- nen beeinflussen die Wahlbeteiligung, Parteibindung und öser Fundamentalismus usw.) drängen die positiven Aspek- die politischen Präferenzen. Die jeweiligen Parteipräferen- te der Zuwanderung in den Hintergrund und bestimmen die zen sind prägnant und hängen in entscheidendem Maße öffentliche Debatte. Mit dem emotional aufgeladenen Be- von dem durch die Parteien jeweils vertretenen Gesell- griff „Parallelgesellschaft“ verbindet sich das Bild einer un- schaftskonzept ab. Bei Abgeordneten mit Migrationshin- kontrollierbaren, das Gewaltmonopol des Staates nicht ak- tergrund ist auffallend, dass sie der Repräsentation ‚ihrer’ zeptierenden, zumeist islamischen Bedrohung. Weitaus gesellschaftlichen Gruppe einen hohen Stellenwert einräu- nüchterner hingegen ist die rationale Definition des Be- men und somit die nur unzureichend vertretene (Minder- griffs: „Parallelgesellschaften“ entwickeln sich in ethnisch, heiten-)Sicht in den politischen Prozess einbringen. sozial und weltanschaulich homogenen (Minderheiten-) Grenzüberschreitende Wanderungen in weltweitem Maß- Gruppen auf freiwilliger Basis in mehr oder weniger deutli- stab werden zunehmen. Das daraus resultierende wirt- cher Abgrenzung zur Mehrheitsgesellschaft. Solche Se- schaftliche Wachstum einzelner Gesellschaften wirft gregationen sind für die kulturelle und soziale Selbstbe- Fragen der Verteilung und des Umgangs mit sich daraus er- hauptung nicht unwichtig, weil sie die Identität stabilisie- gebenden Konfliktlinien auf. Migration führt zu ökonomi- ren und die Integration in die Aufnahmegesellschaft er- schen Divergenzen: Zuwanderung erhöht das Humankapi-

202 tal und Wachstum der Aufnahmegesellschaft, hemmt hin- berg: Bildungserfolg ist milieugebunden, hängt vom Erler- gegen die Entwicklung in den zumeist peripher gelege- nen der deutschen Sprache und einer gelingenden Integra- nen Herkunftsländern. Innergesellschaftliche Konfliktli- tion ab. Deutlich wird ebenfalls, dass ausländische Arbeit- nien entstehen dann, wenn sich die Verteilungsfrage stellt, nehmer weitaus stärker den Schwankungen des Arbeits- d.h. der durch Zuwanderung ausgelöste Strukturwandel marktes unterworfen sind, früher und schneller arbeitslos produziert Gewinner und trotz einem volkswirtschaftlichen werden als deutsche Arbeitnehmer. Zugewinn auch (relative) Verlierer. Allerdings stellt sich die In der aktuellen Debatte über Zuwanderung spielen Mas- Frage, ob die Verdrängung einheimischer Arbeitskräfte eine senmedien deshalb eine entscheidende Rolle, weil sie das Ursache der Migration ist oder – so die These von Thomas Bewusstsein ihrer Rezipienten und damit den öffentlichen Straubhaar – ein offensichtlicher Beleg für die räumliche Diskurs prägen. Im Laufe der letzten Jahre kamen Studien zu und berufliche Immobilität vom Arbeitsplatzverlust Be- dem Ergebnis, dass Medien häufig in einer skandalträchti- troffener. Bei genauerem Betrachten erweisen sich die ne- gen und diffamierenden Weise über Migrantinnen und Mi- gativen Phänomene, die mit der Zuwanderung einherge- granten berichten und so zu einem Negativimage beitragen. hen und populistisch ausgenutzt werden, als ein generelles Sensationslüsterne Schlagzeilen und einschlägige Stereo- Problem des Sozialstaats und als eine Folge unzureichen- type haben Nachrichtenwert, nicht das alltägliche friedli- der politischer und ökonomischer Steuerung. che Zusammenleben von Zugewanderten und Deutschen. Die deutsche Bevölkerung wird in den nächsten Dekaden Dies prägt letztlich auch die Haltung im Hinblick auf Model- spürbar altern. Mit diesem Alterungsprozess sind erhebli- le des Zusammenlebens zwischen Menschen unterschiedli- che Belastungen der Sozialsysteme verbunden. Einem im- cher Herkunft und Kulturen. Die von Christoph Butter- mer kleineren Teil der Erwerbsbevölkerung stehen immer wegge erörterten Beispiele, deren Inhaltsanalyse und die größere Teile einer nichterwerbstätigen Bevölkerung ge- dabei zutage tretenden Sprachbilder zeigen mehr denn je, genüber, deren Unterhalt durch die sozialen Sicherungs- dass eine seriöse Berichterstattung anzumahnen ist, die systeme finanziert werden muss. Angesichts dieser Ent- sich dem journalistischen Ethos verpflichtet fühlt und ele- wicklungen wird in der öffentlichen Diskussion häufig die mentare Persönlichkeitsrechte achtet. Hoffnung geäußert, durch Zuwanderung die Alterung der Der längst überfällige Blick über den „nationalen Teller- Bevölkerung aufzuhalten oder zumindest zu mildern. Die rand“ kann zu einer Versachlichung der Debatte beitragen: Vorstellung jedoch, dass durch Zuwanderung der Alte- Migration und deren Auswirkungen machen an keiner rungsprozess aufgehalten werden kann, ist aus zwei Grün- Grenze und vor keiner Staats- und Regierungsform Halt. den eine Illusion. Erstens ergibt sich, weil die Migrationsbe- Gerade weil Migration ein weltweites Phänomen ist, kann völkerung auch altert, ein dramatischer Zuwanderungsbe- kein Land die Probleme im Alleingang lösen. Ob Kriege, darf, wenn die Altersstruktur der Bevölkerung in Deutsch- Flucht, Suche nach Arbeit, Perspektivlosigkeit oder Armut – land konstant gehalten werden soll. Zweitens altern die weltweite Migrationsbewegungen zählen zu den großen Bevölkerungen in den Herkunftsregionen der Migration Herausforderungen unserer Zeit. Internationale Wande- ebenfalls, so dass es fragwürdig ist, ob ein derartiges Wan- rungsbewegungen haben im Lauf der letzten Jahre sowohl derungspotenzial überhaupt existiert. Deutschland und innerhalb von Regionen als auch zwischen den Kontinen- andere OECD-Länder können nichtsdestotrotz von der Zu- ten deutlich zugenommen. Mit dem 2005 veröffentlichten wanderung profitieren. Realistisch sind Wanderungsge- „Bericht der Weltkommission für Internationale Migration“ winne, die sich auf ein bis zwei Prozent des Bruttoinlands- und einem „Hochrangigen Dialog“ zu Beginn der 61. UN- produktes in den Einwanderungsländern belaufen. Auch Generalversammlung tragen die Vereinten Nationen dieser wenn durch Migration die Alterung nicht aufgehalten wer- Aufgabe in besonderer Weise Rechnung. Bei der Vorstel- den kann, helfen diese Gewinne doch, die Kosten des demo- lung der deutschen Fassung des Weltmigrationsberichtes graphischen Wandels zu senken. wurde deutlich, dass bisherige Konzepte der Steuerung und Unter den deutschen Ländern hat Baden-Württemberg den Begrenzung von Zuwanderung einerseits, des Flüchtlings- höchsten Ausländeranteil, und die bundesweite regionale schutzes andererseits und auch integrationspolitische Verteilung zeigt, dass in diesem Bundesland die meisten Maßnahmen auf dem Prüfstand stehen. Doch nicht nur Deutschen mit Migrationshintergrund leben. Wolfgang den Nationalstaaten kommt beim Schutz der Migranten Walla präsentiert grundlegende Daten und Fakten zur Zu- eine große Bedeutung zu. Die Internationale Völkerge- wanderung nach Baden-Württemberg. Der Beitrag be- meinschaft ist ebenfalls aufgerufen, sich in Fragen welt- schreibt zunächst die Wanderungsbewegungen nach 1945, weiter Migration zu engagieren und Handlungsoptionen die Vertriebene und Flüchtlinge in das Land führten, schil- aufzuzeigen. dert die Anwerbung, Ankunft und karge Lebenssituation Alle Autorinnen und Autoren wollen mit ihren Beiträgen der ersten „Gastarbeiter“, thematisiert die Dynamik der detaillierte Informationen vermitteln, zur Versachlichung Ost-West-Wanderung nach 1989 und bilanziert schließlich der Diskussion beitragen und Fakten bereitstellen, die für das aktuelle Wanderungsverhalten. Ein weiterer Schwer- das Verständnis des komplexen Themas wichtig sind. Allen punkt ist die Analyse der Bildungsbereitschaft und des Bil- Autorinnen und Autoren sowie Herrn Prof. Dr. Karl-Heinz dungserfolgs von Menschen mit Migrationshintergrund. Meier-Braun, der mit fachlichem Rat wesentlich zum Ent- Die Ursachen für Bildungsunterschiede zwischen „Einhei- stehen dieses Heftes beigetragen hat, sei an dieser Stelle mischen“ und Migranten sind reichlich komplex. Gleich- gedankt. Dank gebührt auch dem Schwabenverlag für die wohl bestätigen sich die Ergebnisse der PISA-Studien und stets gute und effiziente Zusammenarbeit. nachfolgender Untersuchungen auch für Baden-Württem- Siegfried Frech

203 ZUWANDERUNG UND AUSLÄNDERPOLITIK IN DEUTSCHLAND Der lange Weg ins Einwanderungsland Deutschland

KARL-HEINZ MEIER-BRAUN

deutet in erster Linie Arbeitsmarktpolitik. Das Angestelltenpositionen. Nach Angaben des Langsam beginnt sich die Einsicht durch- heißt: die deutschen Arbeitsmarktinteressen, Bundesarbeitsministeriums aus dem Jahre zusetzen, dass Deutschland ein Einwan- wie sie die politisch Verantwortlichen in Bund 1976 ermöglichten die ausländischen Arbeit- derungsland ist. Karl-Heinz Meier-Braun und Ländern definieren, stehen im Mittelpunkt. nehmer eine starke Verringerung der Arbeits- bilanziert die Ausländerpolitik seit den Jahrzehntelang bestimmte das Rotationsprin- zeit der Deutschen unter Beibehaltung eines 1950er-Jahren, als die ersten so genann- zip, das der damalige Ministerpräsident Hans starken Wirtschaftswachstums. Die ausländi- ten „Gastarbeiter“ nach Deutschland ge- Filbinger 1973 in die Diskussion gebracht hat- schen Arbeitnehmer zahlten Steuern, ohne in holt wurden, bis zum Inkrafttreten des te, die Ausländerpolitik. Im Kern ging es bei die- entsprechendem Umfang öffentliche Leistun- Zuwanderungsgesetzes im Jahre 2005. sem umstrittenen Vorschlag darum, dass die gen in Anspruch zu nehmen. Bereits 1971 hät- Der Autor entwirft ein Panorama der Ge- ausländischen Arbeitskräfte nach einiger Zeit – ten sonst die Beiträge zur staatlichen Renten- schichte der Zuwanderung und analy- siert in sechs Phasen die zumeist von ar- beitsmarktpolitischen Überlegungen ge- prägte und unter dem Gesichtspunkt der Integration oft halbherzig betriebe- ne Ausländerpolitik Deutschlands. Alle Phasen in diesem Politikfeld waren von zumeist kontrovers geführten und sym- bolisch aufgeladenen Debatten beglei- tet. Das am 1. Januar 2005 in Kraft getre- tene Zuwanderungsgesetz, dessen Eck- punkte von Karl-Heinz Meier-Braun erör- tert werden, markiert den Beginn einer siebten Phase der Ausländerpolitik. Die grundlegende Bedeutung einer funk- tionierenden Integrationspolitik wurde im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD hervorgehoben. So waren der 2006 im Kanzleramt abgehaltene „Inte- grationsgipfel“ und die unlängst statt- gefundene erste „Deutsche Islamkonfe- renz“ wichtige Signale, weil Defizite der Integration benannt und Maßnahmen zu einer besseren Integrationspolitik in An- griff genommen wurden. Gleichwohl – so das Resümee des Beitrags – besteht auf den Ebenen der Sozial-, Bildungs- und Bevölkerungspolitik ein mit erheblichen Anstrengungen verbundener Nachhol- bedarf.

ERSTE PHASE: AUSLÄNDERPOLITIK UNTER DEM „ROTATIONSPRINZIP“

Die erste Phase der Ausländerpolitik im Nach- MIT STOLZER MIENE UND DER HAND AM LENKER STEHT DER MILLIONSTE GASTARBEITER DER REPUBLIK, ARMADO RODRIGUES AUS PORTUGAL, N kriegsdeutschland, in der die Ausländerbe- 10.9.1964 IM KÖLN-DEUTZER BAHNHOF GESCHENKT BEKAM. NACH MEHR ALS ZWEI TAGEN FAHRT WAR ER NICHT DARAUF GEFASST, BEI SEINE schäftigung als vorübergehende Erscheinung MÄRSCHEN UND „AUF IN DEN KAMPF TORERO“ BEGRÜSST ZU WERDEN. gesehen wurde, dauerte immerhin von 1952 bis 1973. Ausländerpolitik war in diesen rund zwanzig Jahren in erster Linie deutsche Ar- Filbinger sprach damals von drei Jahren – wie- versicherung erhöht werden müssen. Auch das beitsmarktpolitik. Die Anwerbung erfolgte im der freiwillig nach Hause zurückkehren sollten. „Rentenloch“, bereits damals schon beklagt, Interesse der Wirtschaft, die einen wachsenden Dieses Wunschdenken, dass die „Gastarbeiter“ wäre ohne diese Beiträge nicht zu stopfen ge- Bedarf an Arbeitskräften hatte. Schon damals über kurz oder lang wieder heimkehren wür- wesen. Den von den ausländischen Arbeitneh- wurde der wichtigste Eckpunkt der Ausländer- den, bestimmte jahrzehntelang die Ausländer- mern in die Rentenversicherung gezahlten Be- politik definiert, der noch bis vor kurzem galt: politik in Deutschland. trägen stand nur rund ein Zehntel an Leistun- die Bundesrepublik ist kein Einwanderungs- Oft wird vergessen, dass das so genannte Wirt- gen gegenüber. Die Rentenversicherung wurde land! Abgesehen vom Ausländerrecht und schaftswunder im Nachkriegsdeutschland und lange Zeit weit gehend von den ausländischen seinen Ausführungsbestimmungen existierte der Aufbau der Sozialsysteme ohne die „Gast- Arbeitnehmern geradezu subventioniert. lange Zeit kein übergreifendes Konzept infra- arbeiter“ nicht erreicht worden wären. Viele Trotzdem meldeten sich schon bald kritische struktureller, sozial- und bildungspolitischer Deutsche stiegen aufgrund der Beschäftigung Stimmen zu Wort, die vor dem „Gastarbeiter- Maßnahmen in der Ausländerpolitik. Das Aus- von „Gastarbeitern“ in bessere berufliche Posi- boom“ warnten. In der Wirtschaftskrise der ländergesetz wurde als Fremden- und Auslän- tionen auf. So schafften nach den Berechnun- Jahre 1966/67 sorgte Bundeskanzler Ludwig derpolizeirecht verstanden, mit einem vielfäl- gen des Migrationsforschers Friedrich Heck- Erhard, der als Wirtschaftsminister die ersten tigen Abwehrinstrumentarium einschließlich mann zwischen 1960 und 1970 rund 2,3 Milli- Anwerbeversuche mit italienischen Arbeits- Abschiebung und Ausweisung. Die wichtigste onen Deutsche vor allem wegen der Ausländer- kräften unternommen hatte, für Schlagzeilen Grundlage war und ist: Ausländerpolitik be- beschäftigung den Aufstieg von Arbeiter- in mit dem Ausspruch, wenn jeder Deutsche eine

204 Der lange Weg ins Einwanderungsland Deutschland

Stunde in der Woche länger arbeite, brauche gung.“ Die Auseinandersetzung über die Vor- Forderungen nach „Begrenzungsmaßnahmen“ man die ausländischen Arbeitskräfte nicht. und Nachteile der Ausländerbeschäftigung bestimmten die Ausländerpolitik zu Beginn der Ausländer mussten schon bald als „Sündenbö- setzte Anfang der 1970er-Jahre vor allem des- 1980er-Jahre. So machte der baden-württem- cke“ herhalten; eine Funktion, die sich des Öf- halb ein, weil immer mehr „Gastarbeiter“ ihre bergische Innenminister und spätere Bundes- teren in schlechten wirtschaftlichen Zeiten Familien nachholten und erkennbar wurde, präsident Roman Herzog deutlich, dass die und auch in Wahlkämpfen wiederholen sollte. dass die Ausländerbeschäftigung eben doch Frage nach den Belastbarkeitsgrenzen jetzt zu- Wahlerfolge verzeichneten in den 1960er-Jah- kein vorübergehendes Phänomen sein konnte. nehmend in den Mittelpunkt der Ausländerpo- ren bereits Parteien mit ausländerfeindlichen Die Diskussion über Kosten und Nutzen der Ar- litik rücke. Die Landtage von Nordrhein-West- Parolen. So gelang der rechtsradikalen NPD beitsmigranten sowie die Furcht vor sozialen falen und Hessen stellten fest, dass die Aufnah- (Nationaldemokratische Partei Deutschlands) Konflikten schlug sich im Anwerbestopp für memöglichkeiten ihrer Länder erschöpft seien. zwischen 1966 und 1968 der Einzug in sieben ausländische Arbeitskräfte nieder, der am 23. Die Ministerpräsidenten Lothar Späth und Jo- deutsche Landtage. In Baden-Württemberg er- November 1973 verhängt wurde. Gleichzeitig hannes Rau forderten übereinstimmend, Aus- reichte die Partei 1968 überraschend fast zehn wurde damals eine erste Eingliederungspolitik länder bei „einem Missbrauch des Gastrechts Prozent der Stimmen. für die ausländischen Familien angekündigt, sofort auszuweisen“. Auch der Bundesbeauf- die langfristig in der Bundesrepublik bleiben tragte für Ausländerfragen, Heinz Kühn, mein- wollten. Der Anwerbestopp forderte allerdings te, dass die „Grenzen der Belastbarkeit durch die den Familiennachzug geradezu heraus und Aufnahme ausländischer Zuwanderer erreicht“ führte dazu, dass diejenigen, die schon da wa- seien. Hessens Ministerpräsident Holger Börner ren, auf Dauer blieben. Allein bis zum Anwerbe- sagte in einem Interview: „(...) ich halte einen stopp kamen 14 Millionen Migranten nach weiteren Zustrom von Türken in die Bundesre- Deutschland. Elf Millionen zogen in diesem Zeit- publik für nicht möglich. Ich bin eher bereit, un- raum wieder weg. Eigentlich wurde Deutsch- sere Vertragstreue im EG-Vertrag zu riskieren.“ land in dieser frühen Phase schon zum Einwan- Eine bundesweite „Allparteienkoalition“ unter derungsland, was aber von Politik und Gesell- dem Motto „Verringerung der Ausländerzah- schaft immer noch nicht akzeptiert wurde. len“ prägte die ausländerpolitische Debatte. Die sozialliberale Bundesregierung geriet in dieser Zeit in der Ausländerpolitik immer mehr DRITTE PHASE: INTEGRATION unter den Druck der CDU/CSU-Opposition, der IM MITTELPUNKT von den unionsregierten Bundesländern ver- stärkt wurde. Unter Zugzwang gesetzt, formu- In einer dritten und kurzen Phase von 1979 bis lierte die Bundesregierung selbst am 2. Dezem- 1980 standen Integrationskonzepte im Mittel- ber 1981 eine Begrenzungspolitik. Als „Sofort- punkt der Ausländerpolitik. 1979 legte der er- Regelung“ empfahl sie den Ländern unter an- ste Ausländerbeauftragte der Bundesregie- derem die Senkung des Nachzugsalters von 18 rung und frühere Ministerpräsident von auf 16 Jahre. Bremen folgte diesem Vorschlag Nordrhein-Westfalen, Heinz Kühn, ein Memo- aus verfassungsrechtlichen Bedenken nicht. randum vor. Kühn kritisierte die bisherige Aus- Außerdem wurden damals die Wohnraum- länderpolitik, die zu sehr von arbeitsmarktpo- richtlinien verschärft. In Baden-Württemberg litischen Gesichtspunkten geprägt worden sei. mussten Ausländer zwölf Quadratmeter pro Er forderte die Anerkennung der „faktischen Familienmitglied nachweisen, unabhängig da- Einwanderung“ und beispielsweise ein Kom- von, ob es im Heimatland lebte oder nicht. Eine munalwahlrecht für Ausländer. Kühn wies da- Voraussetzung, die seinerzeit nach Angaben mals schon auf den Geburtenrückgang und des Bundesbauministeriums 1,2 Millionen die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt hin. Es Deutsche nicht erfüllen konnten. Bundeskanz- gebe keine „Gastarbeiter“ mehr, sondern Ein- ler Helmut Schmidt sagte am 11. November wanderer. 1981 bei einer Pressekonferenz: „Die Bundes- 1980 blieb die damalige SPD/FDP-Bundesre- republik soll und will kein Einwanderungsland gierung mit ihren ausländerpolitischen Be- werden. Einigkeit (...) bestand auch darüber, schlüssen allerdings weit hinter den Forderun- dass der Zuzug und die Nachführung von Fa- gen ihres Ausländerbeauftragten zurück und milienangehörigen unter Anwendung aller lehnte seine Vorschläge für ein Ausländerwahl- rechtlichen Mittel im Rahmen des Grundgeset- ES AUS PORTUGAL, NEBEN DEM MOPED, DAS ER BEI SEINER ANKUNFT AM recht oder Einbürgerungserleichterungen für zes gestoppt werden soll (...).“ F GEFASST, BEI SEINER ANKUNFT MIT PAUKEN UND TROMPETEN, DEUTSCHEN ausländische Jugendliche ab. „Rückkehrbereitschaft stärken“ – das Motto picture alliance / dpa der Ausländerpolitik setzte sich zu Beginn der 1980er-Jahre durch. Das neue Klima der aus- VIERTE PHASE: WENDE IN DER länderpolitischen Diskussion artikulierte sich In den 1960er-Jahren lief die Anwerbung aus- AUSLÄNDERPOLITIK auch im so genannten „Heidelberger Manifest“ ländischer Arbeitskräfte weiterhin auf Hoch- vom 17. Juni 1981. Zahlreiche Intellektuelle touren. 1960 wurden Anwerbeabkommen mit Die vierte Phase der Ausländerpolitik dauerte wandten sich darin gegen die – wie es hieß – Spanien und Griechenland abgeschlossen, es von 1981 bis 1990 und lässt sich unter das Mot- „Unterwanderung des deutschen Volkes“ durch folgten die Türkei (1961), Portugal (1964) und to „Wende in der Ausländerpolitik“ stellen. Aus Ausländer, gegen die „Überfremdung unserer das damalige Jugoslawien (1968). 1965 traf die einem kurzen Wettlauf um Integrationskon- Sprache, unserer Kultur und unseres Volks- Bundesregierung entsprechende Vereinbarun- zepte wurde 1981 plötzlich ein Rennen um ei- tums“. Ausländerfeindlichkeit schlug sich An- gen mit Tunesien und Marokko, was weit ge- ne Begrenzungspolitik. Zahllose, zum Teil äu- fang der 1980er-Jahre in so genannten Bürger- hend unbekannt geblieben ist. ßerst dramatisierende Warnungen vor den initiativen „Ausländer-Stopp“ nieder. Unter „Ausländerproblemen“ und Ankündigungen, Androhung von Anschlägen und mit Parolen diese durch restriktive Maßnahmen zu lösen, „Deutschland den Deutschen!“ versuchte bei- ZWEITE PHASE: „KONSOLIDIERUNG standen im Mittelpunkt der 1980er-Jahre. Die spielsweise 1982 in Baden-Württemberg eine DER AUSLÄNDERBESCHÄFTIGUNG“ Realitäten eines Einwanderungslandes wurden ausländerfeindliche Gruppe, Firmen zu erpres- in weiten Teilen von Gesellschaft und Politik sen. Sie verlangte die Entlassung ausländischer Die zweite Phase der Ausländerpolitik dauerte weiterhin nicht gesehen. Zu einem voraus- Arbeitnehmer. von 1973 bis 1979 und stand unter dem Mot- schauenden und umfassenden Zuwande- Nach dem Wechsel zur CDU/CSU/FDP-Koali- to „Konsolidierung der Ausländerbeschäfti- rungs- und Integrationskonzept kam es nicht. tion nahm die Ausländerpolitik bereits in den

205 KARL-HEINZ MEIER-BRAUN

Koalitionsvereinbarungen 1982 einen breiten und die Befürchtung, die Legitimationsbasis in gestellt: „Deutschland ist schon längst zum Raum ein. In seiner Regierungserklärung am der Bevölkerung zu verlieren, spielten dabei Einwanderungsland geworden.“ 13. Oktober 1982 nannte Bundeskanzler Hel- wohl eine entscheidende Rolle. Vergeblich hat- In den Jahren 2001 bis 2004 entwickelte sich mut Kohl die Ausländerpolitik sogar als einen ten SPD-Abgeordnete um die stellvertretende eine kontroverse und bisweilen dramatisch zu der vier Schwerpunkte seines „Dringlichkeit- Parteivorsitzende und spätere Bundesjustizmi- nennende Debatte um das Zuwanderungsge- programms“, gleichberechtigt mit der Wirt- nisterin Herta Däubler-Gmelin versucht, die setz. Mit großer Mehrheit verabschiedete der schafts- und Außenpolitik, ein bis dato einma- Änderung des Artikels 16 im Grundgesetz zu schließlich nach langem Hin und liger Vorgang in der deutschen Politik der verhindern. Her am 1. Juli den Zuwanderungskompromiss. Nachkriegszeit. Die neue Bundesregierung Im Landtagswahlkampf in Baden-Württem- Nur zwei Abgeordnete der Unionsfraktion und setzte eine Kommission „Ausländerpolitik“ ein, berg im Jahre 1996 wiederholte sich die Ein- die beiden Vertreter der PDS stimmten gegen die sich am 16. November 1982 konstituierte. wanderungsdebatte, die früher um Türken und das Gesetz. 18 Abgeordnete der Grünen gaben Nach zahlreichen Ankündigungen beschloss Asylbewerber geführt wurde. Angesichts hoher mit ihrem Ja eine Erklärung zu Protokoll. Das in die Bundesregierung am 22. Juni 1983 einen Arbeitslosigkeit, so argumentierten diesmal die der Öffentlichkeit als Zuwanderungsgesetz be- „Gesetzentwurf zur befristeten Förderung der Sozialdemokraten, sei es unverantwortlich, zeichnete Reformwerk stand von Anfang an Rückkehrbereitschaft von Ausländern“, wobei über 200.000 Aussiedler ins Land hereinzulas- unter der Überschrift „Gesetz zur Steuerung sie Vorschläge der früheren Koalition, aber sen. Diese Argumentation brachte der SPD je- und Begrenzung der Zuwanderung und zur Re- auch der baden-württembergischen Landesre- doch keine Wählerstimmen. Allerdings warnte gelung des Aufenthalts und der Integration gierung aufgriff. auch Stuttgarts Oberbürgermeister Manfred von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwan- Obwohl die Bundesregierung diese Rückkehr- Rommel frühzeitig davor, „nach Osteuropa zu derungsgesetz)“. Zur Klarstellung wurde im maßnahmen als Erfolg darzustellen versuchte, fahren und in so starken Umfang Aussiedler Vermittlungsverfahren auf Wunsch der Uni- muss eine kritische Bewertung anders ausfal- anzuwerben“. Rommel wörtlich: „Wir stehen onsparteien im Paragraf 1 (Zweck des Gesetzes) len. Das Rückkehrförderungsgesetz ist eher als vor einer gewaltigen Aufgabe in der Unterbrin- die Formulierung aufgenommen, dass das Ge- eine Spar- und Sanierungsmaßnahme für die gung und Eingliederung der Aussiedler. Diese setz Zuwanderung „unter Berücksichtigung Rentenversicherung auf Kosten der ausländi- Aufgabe kann man nicht dadurch erfüllen, dass der Aufnahme- und Integrationsfähigkeit“ er- schen Arbeitnehmer zu sehen. Dieser Sparef- gelegentlich die schwarz-rot-goldene Fahne möglicht und gestaltet. Die ursprüngliche For- fekt wird auf drei bis vier Milliarden Mark ver- gehisst wird, sondern nur dadurch, dass man derung der Union – „unter Berücksichtigung anschlagt. Bei der Rückkehrhilfe für arbeitslo- ein finanziertes Einwanderungs- oder Einglie- der nationalen Interessen und der nationalen se Ausländer rechnete die Bundesregierung derungsprogramm aufstellt und Schritt für Identität“ – wurde allerdings nicht im Gesetz mit Einsparungen beim Arbeitslosen- und Schritt verwirklicht.“ Die Integrationsprobleme verankert. Kurzarbeitergeld in Höhe von damals rund 90 bei dieser Zuwanderungsgruppe zeigen sich Ob im Ergebnis der langwierigen Verhandlun- Millionen Mark und mit 240 Millionen beim gerade in letzter Zeit, nicht nur in Baden-Würt- gen das von der rot-grünen Regierung und In- Kindergeld. In Wirklichkeit war die Rückkehr- temberg. Eine Steuerungs- und Integrations- nenminister Schily angekündigte „modernste förderung, wie viele andere ausländerpoliti- politik hätte in diesem Bereich nach Einschät- Zuwanderungsrecht Europas“ steht, erscheint sche Entscheidungen auch, also eher eine sym- zung zahlreicher Experten deutlich früher ein- fraglich. Für viele Beobachter war am Ende des bolische Maßnahme – gerade in Hinblick auf ei- setzen müssen. Heute scheinen sich in der Allparteienkompromisses eher der kleinste ge- ne beunruhigte deutsche Bevölkerung. Zuwanderungspolitik manche Fehler der Ver- meinsame Nenner geblieben, auch wenn das gangenheit zu rächen. Gesetz immer noch besser ist als der frühere Zustand. Auch der damalige Bundespräsident FÜNFTE PHASE: ASYLPOLITIK Johannes Rau bewertete das Gesetz als zwie- IM BRENNPUNKT SECHSTE PHASE: DAS RINGEN UM EIN spältig. Rau bedauerte, wie „zäh und schwierig“ ZUWANDERUNGSGESETZ manche Erkenntnisprozesse in Deutschland Eine fünfte Phase in der Ausländerpolitik be- verliefen und verwies dabei genau auf die Dis- gann 1990 und dauerte bis 1998, dem Jahr, in Die sechste Phase der Ausländerpolitik, die kussion, ob Deutschland ein Einwanderungs- dem nach dem Regierungswechsel zu Rot- 1998 begann und bis Ende 2004 andauerte, land sei oder nicht. „Haarspalterisch“ sei jahre- Grün eine erneute Wende in der Ausländerpo- könnte man unter das Motto „Das Ringen um lang darüber gestritten worden – „nun ist die litik erfolgte. Noch zu Beginn dieser Phase trat ein Zuwanderungsgesetz“ stellen. Zunächst Begriffsdebatte beigelegt und allseits aner- am 1. Januar 1991 ein neues Ausländerrecht in einmal sollte sich Grundsätzliches mit einem kannt, dass Deutschland Einwanderung Kraft, für das sich der damalige Bundesinnen- klaren Bekenntnis zum Einwanderungsland braucht und steuern muss.“ minister Wolfgang Schäuble eingesetzt hatte. ändern. So jedenfalls kündigte es die 1998 neu Auf die Forderung der Unionsparteien hin wur- Das Gesetz verbesserte zwar das Aufenthalts- gewählte Bundesregierung von SPD und Bünd- de der Paragraf 20, ,,Zuwanderung im Aus- recht für lange in Deutschland lebende Auslän- nis 90/Die Grünen in ihrem Koalitionsvertrag wahlverfahren“, mit der Möglichkeit der Ein- der, brachte aber keine entscheidende Verbes- an. Die schließlich verabschiedeten erleichter- wanderung nach einem Punktesystem bereits serung bei der Einbürgerung. In den 1990er- ten Einbürgerungsbestimmungen vor allem für in den Vermittlungsgesprächen gestrichen. Jahren stand aber die Asylpolitik im Vorder- Ausländerkinder, die am 1. Januar 2000 in Kraft Von dieser Möglichkeit wollte die Bundesregie- grund, die „Gastarbeiter“ gerieten fast in traten, stellten einen gewissen Wendepunkt in rung überhaupt erst in etwa zehn Jahren Ge- Vergessenheit. Als neue Einwanderungsgruppe der Ausländerpolitik dar. Zum ersten Mal rück- brauch machen. Zum ersten Mal in der Ge- kamen nach dem Ende des Kalten Krieges die te eine Bundesregierung damit vom Abstam- schichte der Bundesrepublik Deutschland wä- Aussiedler hinzu. mungsprinzip (Jus sanguinis – „Recht des Blu- re damit aber Zuwanderung durch ein solches 1990 und in den folgenden Jahren wiederholte tes“) ab, wonach die Staatsangehörigkeit von Auswahlverfahren möglich gewesen. Eine ge- sich die Diskussion um die Zuwanderung nach den Eltern abgeleitet wurde. Kern der Reform nau festgelegte Anzahl von qualifizierten Be- Deutschland, nun mit veränderten Rollen. Wa- ist die Einbürgerung durch das Geburtsrecht werbern hätte unabhängig von einem konkre- ren es zehn Jahre zuvor die Türken, die im Fo- (Jus soli – „Recht des Bodens, Landes“), wonach ten Arbeitsplatzangebot – ausgerichtet nach kus der Begrenzungspolitik standen, konzen- die Staatsangehörigkeit vom Geburtsort bzw. den wirtschaftlichen Interessen Deutschlands trierte sich die Debatte nun auf die Asylbewer- -land abgeleitet wird. Das Staatsangehörig- – ins Land geholt werden können. Dies wäre ei- ber, deren Zahl im Jahre 1992 mit rund 440.000 keitsrecht aus dem Jahr 1913 wurde damit zu ne historische Neuerung in der deutschen Mi- im Bundesgebiet ihren Höhepunkt erreichte. Grabe getragen und ein historisch bedeutsa- grationspolitik gewesen, angelehnt an den Er- Wiederum schien es der CDU/CSU und den uni- mer Kurswechsel in der Ausländerpolitik vor- folgen klassischer Einwanderungsländer wie onsregierten Bundesländern zu gelingen, das genommen. In der 1999 veröffentlichten Bro- Kanada, Australien und den USA. In der Praxis „Ausländerthema“ gegenüber der SPD zu domi- schüre der Bundesregierung zum neuen hätten Bundestag und Bundesrat einem sol- nieren. Schließlich stimmte auch die SPD – mit Staatsangehörigkeitsrecht wurde denn auch chen Verfahren zustimmen müssen, so dass auf dem Rücken offensichtlich zur Wand – der zum ersten Mal in der Geschichte der Bundes- keinen Fall – wie von den Gegnern der Rege- Grundgesetzänderung im so genannten „Asyl- republik – eigentlich in der deutschen Ge- lung unterstellt – mit diesem Paragrafen 20 Tür kompromiss“ zu. Das „Superwahljahr 1994“ schichte überhaupt – regierungsamtlich fest- und Tor für eine erhöhte Zuwanderung geöff-

206 Einwanderungsland Deutschland

MARYAM AUS ERITREA IN EINEM INTEGRATIONSKURS FÜR FRAUEN IN FRANKFURT AM MAIN. SEIT ANFANG 2005 GILT DAS ZUWANDERUNGSGESETZ, IN DEM U. A. INTEG- RATIONSKURSE FÜR AUSLÄNDER UND SPÄTAUSSIEDLER FESTGESCHRIEBEN WURDEN. DIESE KURSE SOLLEN GRUNDKENNTNISSE ZUR RECHTSORDNUNG, VERFAS- SUNG, GESCHICHTE UND KULTUR DEUTSCHLANDS VER- MITTELN. picture alliance / dpa

zulassen. Dadurch war der Expertenkreis beim Bundesinnenminister offensichtlich in Ungna- de gefallen. Im Bereich der Arbeitsmigration ist von den ur- sprünglichen Plänen nicht mehr allzu viel übrig geblieben. So bleibt der Anwerbestopp für Nicht- und Geringqualifizierte erhalten. Hoch- qualifizierten kann jetzt eine Niederlassungs- erlaubnis gewährt werden. Mit- oder nach- ziehende Familienangehörige dürfen eine Erwerbstätigkeit ausüben. Selbstständige be- kommen im Regelfall eine Aufenthaltserlaub- nis, wenn sie mindestens eine Million Euro in- vestieren und mindestens zehn Arbeitsplätze schaffen – eine Hürde, die nur wenige über- springen können. Hinzu kommt, dass nach Pa- ragraf 21 bei der Prüfung, die für den Ort der geplanten Tätigkeit zuständigen „fachkundi- gen Körperschaften, die zuständigen Gewerbe- behörden, die öffentlich-rechtlichen Berufs- vertretungen und die für die Berufszulassung zuständigen Behörden zu beteiligen“ sind. Die Aufenthaltserlaubnis wird auf längstens drei Jahre erteilt. Nach drei Jahren kann eine unbe- fristete Niederlassungserlaubnis erteilt wer- den, „wenn der Ausländer die geplante Tätig- keit erfolgreich verwirklicht hat und der Le- bensunterhalt gesichert ist“. Ausländische Stu- denten dürfen nach ihrem erfolgreichen Studienabschluss zur Arbeitssuche bis zu ei- nem Jahr in Deutschland bleiben. Für Qualifi- zierte bestehen Ausnahmeregelungen: Im be- gründeten Einzelfall kann eine Arbeitserlaub- nis erteilt werden, wenn ein öffentliches Inter- esse an einer Beschäftigung besteht. Bei allen net worden wäre. Auch eine Null-Zuwande- war. Statt fünf Aufenthaltstiteln gibt es jetzt Regelungen haben Deutsche und im Inland Be- rung wäre aus arbeitsmarktpolitischen Grün- nur noch zwei: eine (befristete) Aufenthaltser- schäftigte Vorrang vor neuen Zuwanderern. den durchaus möglich gewesen. laubnis und eine (unbefristete) Niederlas- Verbesserungen bringt das Zuwanderungsge- Inhaltlich ging es in weiten Teilen des Kompro- sungserlaubnis. Ein neues Bundesamt für Mi- setz ansatzweise im humanitären Bereich. Das misses ausschließlich um Sicherheitsfragen gration und Flüchtlinge wurde geschaffen, das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Natio- und eigentlich gar nicht mehr um das Gesamt- aus dem bisherigen Bundesamt für die Aner- nen (UNHCR) würdigte die Verabschiedung des werk eines Zuwanderungsgesetzes. Dabei wur- kennung ausländischer Flüchtlinge in Nürn- Zuwanderungsgesetzes deshalb als „positives de von allen Beteiligten die Messlatte schritt- berg hervorging. Die Behörde soll die verstreu- Signal weit über Deutschland hinaus“. So wird weise höher gehängt. Während Politiker aus ten Maßnahmen bündeln, Integrationskurse nichtstaatliche und geschlechtsspezifische der CDU/CSU-Bundestagsfraktion bei den Si- für Ausländer und Spätaussiedler entwickeln Verfolgung als Fluchtursache anerkannt und cherheitsfragen immer höhere Forderungen und durchführen, oder auch wissenschaftliche unter anderem festgehalten: „Eine Verfolgung aufstellten, von denen klar war, dass sie alle an- Forschungen über Migrationsfragen in Auftrag wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten deren Fraktionen als unzumutbar ablehnen gegeben. Eine solche Bundesbehörde wurde sozialen Gruppe kann auch dann vorliegen, würden, steuerten allem Anschein nach auch seit langem gefordert und ist eine wichtige wenn eine Bedrohung des Lebens, der körperli- die Grünen auf ein Scheitern der Verhandlun- Bundeseinrichtung für Integration und Zu- chen Unversehrtheit oder der Freiheit allein an gen zu. Sie erklärten die Gespräche zwischen- wanderung. Gestrichen wurde allerdings der das Geschlecht anknüpft.“ Diese Formulierun- zeitlich für beendet, weil sie ihrer Wählerschaft Paragraf 76 „Sachverständigenrat für Zuwan- gen gehen sogar über die Richtlinien der Euro- den Verhandlungsstand nicht mehr als Re- derung und Integration“. Dieser vom Bundesin- päischen Union hinaus. Eine Aufenthaltser- formwerk darstellen konnten. nenminister eingerichtete Zuwanderungsrat laubnis soll bei Abschiebungshindernissen er- hatte sich bereits am 26. Mai 2003 unter dem teilt und damit so genannte Kettenduldungen Vorsitz von Rita Süssmuth konstituiert. Nach vermieden werden, wenn die Ausreisepflicht WESENTLICHE ECKPUNKTE DES dem Gesetzentwurf sollte der Zuwanderungs- nicht innerhalb von 18 Monaten vollzogen ZUWANDERUNGSGESETZES rat einen gleichen Stellenwert wie etwa die werden konnte. Im Ermessen der Länder liegt „Wirtschaftsweisen“ bekommen. Sang- und es, Härtefallkommissionen einzurichten. Die Das Zuwanderungsgesetz enthält eine kom- klanglos wurde dieses wichtige Gremium zu oberste Landesbehörde darf dann auf Ersuchen plette Novellierung des Ausländerrechts, das – Grabe getragen, nachdem es seinen ersten Be- einer solchen Härtefallkommission anordnen, so wurde immer wieder kritisiert – selbst von richt veröffentlicht und vorgeschlagen hatte, dass ein „ausreisepflichtiger“ Ausländer blei- Rechtsanwälten nicht mehr zu durchschauen in stark begrenztem Umfang Zuwanderung zu- ben darf. Im Asylverfahren wurde auch die Wei-

207 KARL-HEINZ MEIER-BRAUN sungsunabhängigkeit der Einzelentscheider im Unionsbürger ab. Künftig besteht nur noch – darauf, was er mit ihr macht.“ Und Rau sagte in Amt des Bundesbeauftragten für Asylangele- wie für Deutsche – eine Meldepflicht bei den deutlichen Worten weiter über das Zuwande- genheiten abgeschafft. Meldebehörden. Bei Familienangehörigen von rungsgesetz: „Die Entwicklung bei den Gesprä- Beim Kindernachzug bleibt es erstaunlicher- Spätaussiedlern wird der Nachweis über chen über ein Integrations- und Zuwande- weise bei der geltenden Rechtslage und einem Grundkenntnisse der deutschen Sprache als rungsgesetz ist ein besonders schlimmes Bei- Nachzugsanspruch bis zum 16. bzw. 18. Le- Voraussetzung für die Einbeziehung in den spiel für diese Art von Politik.“2 bensjahr. Über diesen Punkt und den erweiter- Aufnahmebescheid eingeführt, wodurch die Auf Wählerstimmen und -stimmungen wird ten Flüchtlingsschutz hatten sich jahrelang die Zugangszahlen in diesem Bereich weiter ver- auf jeden Fall bis zum heutigen Tage Rücksicht Parteien gestritten. Vor allem die Opposition ringert werden sollen. genommen. So erklärt sich offensichtlich auch hatte der Bundesregierung vorgeworfen, da- die widersprüchliche Position von mit zum Anstieg der Zahl der Zuwanderer bei- in der Zuwanderungspolitik. Noch 1984 hatte zutragen. Umso erstaunlicher ist es, dass die Ei- AUSLÄNDERPOLITIK ALS SYMBOLPOLITIK er ein Wahlrecht für Ausländer gefordert. Als nigung in diesem Punkt und beim erweiterten Bundesinnenminister sprach er davon, dass Flüchtlingsschutz in aller Stille erfolgte und die Das Ringen um das Zuwanderungsgesetz ist ei- „die Grenze der Belastbarkeit überschritten“ alten Argumente nun offensichtlich keine Rol- nes der zahlreichen Beispiele für die parteipo- sei. Auch Schilys Äußerung, die „beste Form der le mehr spielten. litische Politisierung der Ausländerpolitik. Be- Integration ist Assimilierung“, hätte von einem Zum ersten Mal wird durch das Gesetz ein In- reits am 22. März 2002 war in der umstrittenen seiner Amtsvorgänger der Union stammen tegrationsanspruch für Neuzuwanderer einge- Bundesratsitzung „eine politische Kampfsitua- können. führt. Wer nicht an den Integrationskursen tion auf die Spitze getrieben worden“, wie es teilnimmt, muss mit aufenthaltsrechtlichen Bundespräsident Johannes Rau kritisierte. Im Sanktionen rechnen. So genannte „Bestands- Hinblick auf die anstehenden Bundestagswah- SIEBTE PHASE: INTEGRATION ausländer“ – solche also, die schon länger in len ging es in erster Linie um eine Machtprobe WIEDER IM MITTELPUNKT? Deutschland leben –, können zu Kursen ver- zwischen Bundeskanzler Gerhard Schröder pflichtet werden, wenn sie das Arbeitslosen- und seinem Herausforderer und bayerischen Die Große Koalition von CDU/CSU und SPD er- geld II beziehen, besonders integrationsbe- Ministerpräsidenten Edmund Stoiber, denn klärte 2005 das Thema Integration zu einer dürftig sind und Plätze zur Verfügung stehen. schließlich handelte es sich um ein Kernstück Schwerpunktaufgabe. Der Posten einer Staats- Bei Verletzung der Teilnahmepflicht sollen die rot-grüner Politik. Dabei hatten die Parteien ministerin für Integration und Migration wur- Sozialleistungen gekürzt werden. Die Kosten mit ihren Konzepten gar nicht so weit ausein- de im Kanzleramt geschaffen und mit Maria der Integrationskurse trägt der Bund. Für neue ander gelegen. Der Gesetzentwurf war bereits Böhmer besetzt. 2006 veranstalte die Bundes- Zuwanderer (einschließlich Spätaussiedler) ein „rot-grün-schwarzer“ Kompromiss. Man regierung einen so genannten „Integrations- wurde mit rund 188 Millionen Euro jährlich an hätte sich durchaus einigen können, wenn man gipfel“ und eine erste „Deutsche Islamkonfe- Kosten für Integrationskurse gerechnet. Für die gewollt hätte, aber alle Parteien setzten die Zu- renz“. Auch das Zuwanderungsgesetz wurde Kursteilnahme von jährlich etwa 60.000 bereits wanderungspolitik zum Machterwerb und unter die Lupe genommen, denn es zeigte sich hier lebenden Ausländern belaufen sich die Machterhalt ein. beispielsweise, dass die Hürden für die Zuwan- Kosten auf rund 76 Millionen Euro. Eigenbei- Schon immer war Ausländerpolitik eine Art von derung von Hochqualifizierten viel zu hoch träge der Kursteilnehmer sind – gestaffelt nach Symbolpolitik, bei der einer beunruhigten waren. Abzuwarten bleibt, ob diese neuen An- finanzieller Leistungsmöglichkeit – vorgese- Wählerschaft konsequentes Handeln vorge- sätze in der Integrationspolitik zu Taten führen, hen. Die Länder sollen die Kosten für die sozi- führt werden sollte; sie war ein Mittel, um sich oder ob es wieder bei einem „Strohfeuer“ wie alpädagogische Betreuung und für die Kinder- politisch zu profilieren. Die Interessen und vor 25 Jahren in der dritten Phase der Auslän- betreuung tragen. Bedürfnisse der Minderheiten, der früheren derpolitik bleibt. Nach den Anschlägen in Madrid am 11. März „Gastarbeiter“, Flüchtlinge, Asylsuchenden Deutschland braucht auf jeden Fall Einwande- 2004 wurden im Vermittlungsverfahren um- oder Spätaussiedler und ihre Integration in die rer, denn die Zukunftsperspektive sieht so aus: fangreiche Vorschläge der Unionsparteien zu Gesellschaft standen weniger im Mittelpunkt „weniger, älter und bunter“. Auf die Auswirkun- Sicherheitsaspekten aufgenommen. Die FDP- als die „politische Ausschlachtung“ des The- gen der demographischen Entwicklung, die Landtagsfraktion in Stuttgart wies in diesem mas. Ausländerpolitik ist so bisweilen auch ein erst in den letzten Jahren ins Bewusstsein von Zusammenhang beispielsweise darauf hin, Beispiel dafür, wie jahrzehntelang in einem Be- Politik und Medien rückten, hatte übrigens dass bereits jetzt umfangreiche Ausweisungs- reich Politik gemacht werden kann, ohne auf bereits 1988 Wolfgang Schäuble noch als möglichkeiten bestehen und dass nach Anga- eine Bevölkerungsgruppe, die der Ausländer, Kanzleramtschef in einem Aufsatz unter der ben des Innenministeriums der spezielle Aus- Rücksicht nehmen zu müssen. Im Gegenteil, Überschrift „Älter und weniger“ hingewiesen. weisungsgrund „Unterstützung des interna- lange Zeit konnte Politik geradezu auf dem Rü- tionalen Terrorismus“, der nach dem Terroris- cken der Betroffenen ausgetragen werden, oh- musbekämpfungsgesetz vom 9. Januar 2002 ne dass sie sich dagegen wehren konnten, vor UNSER AUTOR eingeführt wurde, in Baden-Württemberg allem weil sie kein Wahlrecht hatten. Das hat noch gar nicht angewendet werden konnte.1 So sich in letzter Zeit geändert, denn jetzt geht es Prof. Dr. Karl- wurde jetzt eine Abschiebungsanordnung im um schätzungsweise eine Million Stimmen Heinz Meier- Zuwanderungsgesetz eingeführt, die von den Deutscher ausländischer Herkunft. Die Par- Braun ist seit vie- obersten Landesbehörden und bei besonderem teien haben diese Wählergruppe entdeckt. len Jahren als Bundesinteresse durch den Bund aufgrund ei- In seiner letzten „Berliner Rede“ ging Bundes- Wissenschaftler, ner „tatsachengestützten Gefahrenprognose“ präsident Johannes Rau im Mai 2004 auch we- Journalist und Be- erlassen werden kann. Rechtsschutz ist nur in gen des Ringens um das Zuwanderungsgesetz rater im Bereich einer Instanz vor dem Bundesverwaltungsge- mit allen beteiligten Akteuren hart ins Gericht: der Integrations- richt möglich. Eine Regelausweisung von Lei- „Vertrauen in die Politik wird auch zerstört, und Ausländerpo- tern verbotener Vereine wurde eingeführt. Eine wenn der Eindruck entsteht, in nahezu jeder litik tätig. Er leitet Ermessenausweisung für „geistige Brandstif- Frage gehe es in erster Linie darum, wer sich ge- die Abteilung SWR ter“ – beispielsweise „Hetzer“ in Moscheen – gen wen durchsetzt, wer wem am meisten International beim wurde im Gesetz verankert. Eine Regelanfrage schadet, wer zurückgesetzt wird oder sich wie- Südwestrundfunk in Stuttgart, ist dort Aus- über verfassungsfeindliche Erkenntnisse wird der ein Stück weiter nach vorne gekämpft hat. länderbeauftragter des Senders und Hono- vor der Erteilung einer Niederlassungserlaub- Dadurch werden nicht nur wichtige Sachfra- rarprofessor am Institut für Politikwissen- nis und vor der Entscheidung über eine Einbür- gen als Nebensache behandelt, so dass am En- schaft der Universität Tübingen. Als ausge- gerung eingeführt. de oft das Falsche oder Dilettantisches heraus- wiesener Kenner der Materie hat Karl-Heinz Zur Verwirklichung der Freizügigkeit in der Eu- kommt. Dadurch entsteht auch der fatale Ein- Meier-Braun grundlegende Veröffentlichun- ropäischen Union schafft das Gesetz die Auf- druck, in der Politik komme es letztlich nur dar- gen (s. u.) zu den Themen Migration, In- enthaltserlaubnis für Unionsbürgerinnen und auf an, wer die Macht hat und nicht so sehr tegration und Ausländerpolitik publiziert.

208 Der lange Weg ins Einwanderungsland Deutschland

BUNDESKANZLERIN EMPFÄNGT IM BUNDESKANZLERAMT IN BERLIN DIE TEILNEHMENDEN DES INTEGRATIONSGIPFELS. AUF DEM TREFFEN NAHM AUCH DIE BEAUFTRAG- TE DER BUNDESREGIERUNG FÜR MIGRATION, INTEGRATION UND FLÜCHTLINGE, MARIA BÖHMER (2. REIHE, 2. V. R.), TEIL. DER IM JULI 2006 DURCHGEFÜHRTE INTEGRATIONSGIPFEL WAR EIN WICHTIGES SIGNAL, WEIL MASSNAHMEN ZU EINER BESSEREN INTEGRATIONSPOLITIK IN ANGRIFF GENOMMEN WURDEN. picture alliance / dpa

Schäuble sagte „einen empfindlichen Mangel wenn man bedenkt, dass schon bald nicht mehr rungsgesetzes und in der Folge des Integra- an Nachwuchs – und später an Arbeitskräften vier Erwerbstätige einen Rentner sozusagen tionsgipfels entwickelt wird, ist bitter notwen- in allen Bereichen von Wirtschaft und Gesell- ernähren müssen, sondern nur ein Berufstäti- dig, denn Nachholbedarf besteht auf fast allen schaft“ voraus. Er forderte Gegenmaßnahmen ger auf einen Rentner kommt. Eine zukunftso- Ebenen. in der Familienpolitik, stellte aber fest: „Lang- rientierte Zuwanderungspolitik müsste sich fristig werden wir nicht umhin können, die endlich dieser Herausforderung stellen. Jetzt Schrumpfung der deutschen Bevölkerung zu- ist Deutschland zwar ein Einwanderungsland, LITERATUR mindest teilweise durch einen verstärkten Zu- der Anwerbestopp bleibt jedoch bestehen und Der Artikel stützt sich im Wesentlichen auf folgende Ver- zug von Ausländern auszugleichen. Das wird die Zuwanderungszahlen bewegen sich auf ein öffentlichungen des Autors: schon der Arbeitsmarkt erbringen. Ihr Anteil Rekordtief zu. Mit anderen Worten: Wir sind ein an der Gesamtbevölkerung wird wachsen und Einwanderungsland ohne Einwanderer gewor- Meier-Braun, K.-H.: Freiwillige Rotation – Ausländerpoli- tik am Beispiel der baden-württembergischen Landesre- damit auch die kulturellen und sozialen Prob- den. Insgesamt hat zwar in den letzten Jahren gierung. München 1979 leme. (…) Die Integrationspolitik sollte da- ein Perspektivenwechsel stattgefunden. Je- Meier-Braun, K.-H.: „Gastarbeiter“ oder Einwanderer? Anmerkungen zur Ausländerpolitik in der Bundesrepublik nach ausgerichtet werden.“ Schäuble weiter: doch sind jetzt schon wieder Rückschritte zu Deutschland. Berlin 1980 „Stärkerer Zuzug ausländischer Arbeitnehmer verzeichnen. Meier-Braun, K.-H.: Die Türkei und die Türken in verspricht Erleichterung für die Soziallasten Selbst mit dem neuen Zuwanderungsgesetz, Deutschland. Stuttgart 1982 der Deutschen in der Bundesrepublik. Aller- das am 1. Januar 2005 in Kraft getreten ist, blei- Meier-Braun, K.-H.: Integration oder Rückkehr? Zur Aus- länderpolitik des Bundes und der Länder, insbesondere dings werden Qualifikationsunterschiede und ben Integrationsprobleme, aber auch Auslän- Baden-Württembergs. Mainz/München 1988 Sprachbarrieren dem Ausländerzuzug Grenzen derfeindlichkeit und Gewalt gegen Ausländer Meier-Braun, K.-H.: 40 Jahre „Gastarbeiter“ und Auslän- setzen.“ Diese vorausschauenden Aussagen in Deutschland bestehen. Fremdenfeindlich- derpolitik in Deutschland. In: Aus Politik und Zeitge- schichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament., blieben allerdings damals wie heute ohne poli- keit – darin sind sich alle Beteiligten einig – darf 25.08.1995, Seite 14-22. tische Konsequenzen. auf Dauer kein Element der politischen Kultur Meier-Braun, K.-H.: Deutschland, Einwanderungsland. Sicher ist allerdings, dass durch Zuwanderung Deutschlands werden. „Ausländerpolitik“ darf Frankfurt am Main. , 2. Auflage 2002 Meier-Braun, K.-H./Weber, R. (Hrsg.): Kulturelle Vielfalt. die Entwicklung zu einer immer älter werden- nicht ausgrenzen. Integrations- und Zuwande- Baden-Württemberg als Einwanderungsland. Schriften den und schrumpfenden Bevölkerung gar nicht rungspolitik sollte vielmehr ein selbstverständ- zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs, Band mehr rückgängig gemacht werden kann. Man licher Bestandteil der Sozial-, Schul- und Be- 32. Stuttgart, 2. Auflage 2005 müsste praktisch nur noch Kinder einwandern völkerungspolitik sein und als ganz normales lassen, was natürlich absurd ist. Zuwanderung Politikfeld behandelt werden. Auch die Medien ANMERKUNGEN ist also kein Allheilmittel gegen das „Altersheim sollten besser aufklären und gelungene Bei- 1 Landtag von Baden-Württemberg: Drucksache 13/ Deutschland“. Einwanderung, gezielt ausge- spiele von Integration und interkultureller Be- 3045, Sitzung vom 23. März 2004. sucht, kann diesen Trend jedoch etwas abfe- gegnung in die Öffentlichkeit bringen. Die Um- 2 Johannes Rau: Vertrauen in Deutschland – eine Ermu- dern und sollte in diesem Sinne eigentlich als setzung eines „bundesweiten Integrationspro- tigung. Berliner Rede am 12. Mai 2004, S. 5. Glücksfall begriffen werden. Insbesondere gramms“, das laut Paragraf 43 des Zuwande-

209 INTEGRATION ALS SCHLÜSSELAUFGABE Integrationspolitik aus bundespolitischer Sicht: Herausforderungen und Leitlinien

MARIA BÖHMER

tik und Gesellschaft haben erkannt, dass die In- Die grundlegende Bedeutung einer funk- tegration von Zuwanderern eine der großen Ich bin der Überzeugung, dass Integration tionierenden Integrationspolitik wird im politischen und gesellschaftlichen Herausfor- nur gelingen kann, wenn ausländische Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU derungen der Bundesrepublik Deutschland ist. Kinder konsequent dazu gebracht werden und SPD hervorgehoben. Dies wird durch Die Bundesregierung hat deshalb Integration und auch die Möglichkeit haben, Deutsch die Tatsache unterstrichen, dass Maria als Schlüsselaufgabe unserer Zeit definiert und zu lernen. Wir werden deshalb gerade in Böhmer, die Autorin des Beitrags, am zum Schwerpunkt ihrer Politik bestimmt. Sie den Schulen das Erlernen der deutschen 29.11.2005 ihr Amt als Beauftragte der versteht Integration als Querschnittsaufgabe Sprache fördern. Besser gesagt, wir wer- Bundesregierung für Migration, Flücht- für Politik und Gesellschaft und folgt damit ei- den die Länder in ihrem Bemühen unter- linge und Integration antrat. Als Erste in nem Ansatz, in dem Integration nicht allein im stützen, dass Kinder nur dann in die Schu- diesem Amt ist sie als Staatsministerin Kontext von Zuwanderung gesehen wird. Inte- le kommen dürfen, wenn sie der deut- dem Kanzleramt zugeordnet. Schwer- grationsbelange durchdringen vielmehr eine schen Sprache mächtig sind. Ansonsten punkt ihrer Arbeit ist die Integrationsför- Vielzahl von Politik- und Lebensbereichen, von haben sie vom ersten Schultag an nicht derung der in Deutschland lebenden Mi- der Familie über Kindergarten, Schule und Be- die Chancen, die wir ihnen geben müssen, grantinnen und Migranten. Der im Kanz- rufswelt bis hin zur Altenpflege. Zum Verständ- um auch ihnen ein gutes Leben in unse- leramt abgehaltene „Integrationsgipfel“ nis von Integration als Querschnittsaufgabe rem Land zu ermöglichen. (14. Juli 2006) ist Ausdruck dieses gewan- gehört auch, dass Integration eine „Mehrebe- Wir brauchen einen Dialog mit dem Islam. delten Verständnisses. Er bildet den Auf- nenpolitik“ sein muss. Bund, Länder und Kom- Wir müssen einander verstehen lernen; takt zur Erarbeitung eines Nationalen In- munen stehen gemeinsam in der Pflicht. Den das gehört dazu. Wir müssen im Übrigen tegrationsplans bis zum Sommer 2007. Kommunen kommt aber eine besondere Be- darauf achten, dass wir unsere eigene Re- Der Plan soll klare Ziele, konkrete Maß- deutung zu, da die wesentlichen Integrations- ligion, das Christentum, ausreichend ver- nahmen und Selbstverpflichtungen aller leistungen „vor Ort“ im alltäglichen Mit- und stehen, soweit wir Christen sind – das gilt beteiligten Ebenen von Bund, Ländern, Füreinander erbracht werden. Integration wird auch für andere, die anderen Religionen Kommunen und gesellschaftlichen Ak- damit zu einer bereichs- und verantwortungs- anhängen –; denn einen Dialog der Kultu- teuren sowie Kriterien für die Evaluie- übergreifenden Aufgabe. ren kann man nur führen, wenn man sich rung und Umsetzung von Zielvorgaben Der Bundeskanzlerin war es deshalb ein wich- seiner eigenen Kultur auch wirklich be- und Maßnahmen enthalten. Entspre- tiges Anliegen, die Beauftragte der Bundesre- wusst ist. chende Arbeitsgruppen wurden zu fol- gierung für Migration, Flüchtlinge und Inte- Wir werden das offen und ehrlich tun. Wir genden Schlüsselbereichen eingerichtet: gration als Staatsministerin samt Arbeitsstab werden vor allen Dingen Differenzen ein- Weiterentwicklung der Integrationskur- im Bundeskanzleramt und im Kabinett zu ver- deutig benennen, wo immer sie auftreten. se, Förderung der deutschen Sprache, Si- ankern. Die Aufgaben der Integrationsbeauf- Deshalb sage ich an dieser Stelle ganz cherung der Bildung und Ausbildung, Er- tragten sind in Paragraf 93 des Aufenthaltsge- ausdrücklich – ich sage dies auch als höhung der Arbeitsmarktchancen, die setzes festgelegt. Frau –: Zwangsverheiratungen oder Eh- Verbesserung der Lebenssituation von renmorde – beides schreckliche Begriffe – Frauen und Mädchen mit Migrationshin- haben nichts, aber auch gar nichts mit Eh- tergrund, die Förderung der Integration re zu tun und sie haben auch gar nichts in Auszug aus der Regierungserklärung unserer Gesellschaft zu suchen. vor Ort und schließlich die Stärkunge der von Bundeskanzlerin Angela Merkel, Bürgergesellschaft. Wir können sie nicht dulden, wir wollen 30.11.2005: sie nicht dulden. Wir werden das deutlich „(...) Wir sind ein tolerantes, wir sind ein machen. (...)“ weltoffenes Land. Deutschland ist zu- „Niemand kann oder soll seine gleich ein Land, das seine Traditionen und Bindungen an die Orte seiner Kindheit seine Kultur pflegt. Das eine kann es ohne oder zu seiner Familie einfach kappen. das andere nicht geben; denn Heimat gibt Schwerpunkt ist die Integrationsförderung der Auf gar keinen Fall. gerade in Zeiten des sehr schnellen Wan- in Deutschland lebenden Migrantinnen und Aber wer hier in Deutschland eine neue dels, in denen wir leben, den Halt, den die Migranten. Die Beauftragte unterstützt die Heimat gefunden hat, und erst recht, Menschen brauchen, jedem Einzelnen Bundesregierung bei der Weiterentwicklung wer hier geboren und groß geworden ist, und unserem Land als Ganzem. Deshalb ihrer Integrationspolitik. Mit ihrer Arbeit trägt gehört dazu und prägt mit seiner haben wir nicht ohne Grund unserem sie dazu bei, Bedingungen zu schaffen, unter Herkunft, mit seinen Traditionen, Koalitionsvertrag den Titel ‚Gemeinsam denen Deutsche und Migrantinnen und Mi- mit seiner Kultur und mit seinem für Deutschland’ gegeben. Parallelgesell- granten gut und friedvoll zusammen leben und Glauben das Gesicht unseres Landes mit. schaften, in denen die grundlegenden arbeiten können. Sie wirkt nicht gerechtfertig- Das ist auch Ihr Land. Werte des Zusammenlebens in unserem ten Ungleichbehandlungen von Migrantinnen Und daraus erwächst Verantwortung.“ Land nicht geachtet werden, passen nicht und Migranten entgegen und berät sie in Fra- (BUNDESPRÄSIDENT HORST KÖHLER, in dieses Denken. gen der Einbürgerung. 5. OKTOBER 2006) Schlüsselaufgabe Integration INTEGRATION ALS Deshalb ist Integration eine Schlüsselauf- GESAMTGESELLSCHAFTLICHE AUFGABE AUFBRUCHSTIMMUNG gabe unserer Zeit. Mit der Ansiedelung der IN DER INTEGRATIONSPOLITIK Beauftragten für Migration, Flüchtlinge Als gesamtgesellschaftliches Anliegen ist Inte- und Integration im Kanzleramt habe ich gration aber nicht allein Aufgabe des Staates. Nach den kontroversen Debatten der vergan- sehr bewusst ein Signal gesetzt, dass dies Zwar können Staat und Politik die Rahmenbe- genen Jahre um Zuwanderung und Integration eine gesamtpolitische Aufgabe ist, der wir dingungen für Integration schaffen, gesetzli- befindet sich Deutschland heute in einer inte- große Beachtung schenken wollen. che Regelungen allein reichen jedoch nicht aus. grationspolitischen Aufbruchstimmung. Poli- Integration in die Gesellschaft erfordert eine

210 Integrationspolitik aus bundespolitischer Sicht: Herausforderungen und Leitlinien aktive Bürgergesellschaft, die sich durch wech- Schäuble, die Herausforderung beschrieben, selseitige Verantwortung, Eigeninitiative und wichtiger thematischer Schwerpunkt in vor der wir stehen. Wir brauchen einen lang- Engagement auszeichnet. Der Einzelne ist die Maßnahmen zum interreligiösen Dia- fristig angelegten Dialog der Kulturen, der al- ebenso gefragt wie Medien, Kultur, Sport, Wirt- log aufgenommen. len Gesprächspartnern hilft, die Verunsiche- schaft, Kirchen, Religionsgemeinschaften und Zwangsverheiratungen können nicht ge- rung im Umgang mit kultureller und insbeson- viele andere gesellschaftliche Gruppen. Die Zi- duldet werden. Wir wollen Zwangsverhei- dere religiöser Vielfalt zu überwinden. Die vilgesellschaft kann und muss eine besondere ratungen verhindern und prüfen zu die- Deutsche Islamkonferenz bildet den Rahmen Verantwortung im Integrationsprozess über- sem Zweck alle geeigneten Instrumente. für diesen schwierigen Prozess. nehmen. Wichtig sind Aufklärungen über Rechte und Pflichten sowie die Stärkung des Selbstbewusstseins und der selbst be- INTEGRATIONSLAND DEUTSCHLAND: EINE stimmten Lebensführung von Mädchen BESTANDSAUFNAHME Auszug aus dem Koalitionsvertrag von und Jungen. Zur Prävention und Bekämp- CDU, CSU und SPD vom 11.11.2005: fung von Zwangsverheiratungen sollen Heute leben in Deutschland rund fünfzehn Mil- die Rechtstellung der Betroffenen verbes- „Migration und Wanderungsbewegungen lionen Menschen, die einen Migrationshinter- sert, Betreuungs-, Beratungs- und spezi- grund haben oder als Spätaussiedler zu uns ge- sind eine zentrale Herausforderung unse- fische Hilfsangebote sowie Präventions- rer Zeit. Eine gelungene Integration der kommen sind. Jedes dritte Kind unter sechs maßnahmen ausgebaut werden. Zwangs- Jahren entstammt einer Zuwandererfamilie Menschen, die auf Dauer zu uns kommen, verheiratungen werden als Straftatbe- ist von grundlegender Bedeutung für die oder einer binationalen Ehe. Schätzungen ge- stand in das Strafgesetzbuch aufgenom- hen davon aus, dass im Jahr 2010 in den gro- innere Verfassung unserer Gesellschaft. men. (…).“ Integration kann nur gelingen, wenn Mi- ßen deutschen Städten bereits jeder Zweite un- gration gesteuert und begrenzt wird. Die ter vierzig Jahren einen Migrationshintergrund damit verbundenen Aufgaben lassen sich haben wird. nur durch eine ressortübergreifende Zu- Dabei müssen wir verstärkt von den Erfahrun- Der überwiegende Teil der bei uns lebenden Mi- sammenarbeit im Rahmen einer Gesamt- gen derjenigen profitieren, für die Integration grantinnen und Migranten hat längst seinen konzeption bewältigen. Zur Bekämpfung und Integrationsarbeit alltäglich gelebte Praxis Platz in unserer Gesellschaft gefunden und ist von Fluchtursachen wollen wir das Zu- ist. Wir benötigen ihre Perspektive und ihren voll integriert. Viele sind in der Zwischenzeit zu sammenwirken aller Politikbereiche bei Zugang zu den Problemen. Insbesondere Mi- „Aufsteigern“ in unserer Gesellschaft gewor- der Zusammenarbeit mit Herkunft- und grantinnen und Migranten müssen Teil der Ver- den. Sie haben wesentlich zur wirtschaftlichen Transitstaaten verstärken und koordinie- antwortungsgemeinschaft werden. Sie können Kraft und kulturellen Vielfalt Deutschlands bei- ren und auf europäischer Ebene diese Vor- eine wichtige Rolle als Vorbilder, Vermittler, getragen. Dazu zählen auch rund 300.000 Un- gehensweise unterstützen. Brückenbauer und „Lotsen“ einnehmen. Wir ternehmer, die eine Million Arbeitsplätze ge- Die Integration von Ausländern und Aus- sollten sie gezielt in die Integrationsarbeit ein- schaffen haben. Andere sind vom Wandel am siedlern in die deutsche Gesellschaft ist binden und ihre Erfahrungen stärker als bisher Arbeitsmarkt betroffen, der mehr und mehr eine Querschnittsaufgabe vieler Politikbe- nutzen. Integration wird damit zu einer Politik qualifizierte Arbeitskräfte verlangt. Ingesamt reiche. Sie bleibt ein Schwerpunkt der Po- der bürgerschaftlichen und gleichberechtigten zeigt sich aber, dass erfolgreiche Integration ei- litik der Bundesregierung. Wir werden die Kooperation. ne Bereicherung für beide Seiten ist – für die Integrationsmaßnahmen auf Bundesebe- Zugewanderten und für das Zuwanderungs- ne beim Bundesamt für Migration und land. Flüchtlinge bündeln und es damit als INTEGRATIONSGIPFEL ALS SIGNAL In der jüngsten Zeit rückt verstärkt in den Blick, Kompetenzzentrum für Integration stär- dass gerade bei der zweiten und dritten Gene- ken. Der Integrationsgipfel vom 14. Juli 2006 ist ration deutliche Integrationsdefizite bestehen. Wir werden einen intensiven Dialog mit Ausdruck dieses gewandelten Verständnisses Zu nennen sind in erster Linie die mangelnde den großen christlichen Kirchen und mit und damit einer neuen Phase der deutschen In- Beherrschung der deutschen Sprache, Schwä- Juden und Muslimen führen. Ein interre- tegrationspolitik. Erstmalig in der Geschichte chen in Bildung und Ausbildung, in der Folge ligiöser und interkultureller Dialog ist der Bundesrepublik Deutschland hatte die eine höhere Arbeitslosigkeit, die fehlende Ak- nicht nur wichtiger Bestandteil von Integ- Bundeskanzlerin zu einem Integrationsgipfel zeptanz von Grundregeln unseres Zusammen- rationspolitik und politischer Bildung; eingeladen, bei dem Migrantinnen und Mi- lebens bis hin zur Verletzung von Gesetzen, er dient auch der Verhinderung und Be- granten sowie Vertreter aller politischen Ebe- nicht zuletzt von Frauenrechten. Wir müssen kämpfung von Rassismus, Antisemitis- nen und gesellschaftlichen Gruppen gemein- verhindern, dass in der zweiten und dritten Ein- mus und Extremismus. Gerade dem Dialog sam an einem Tisch zusammenkamen, um sich wanderergeneration eine „verlorene Genera- mit dem Islam kommt in diesem Zusam- über Leitlinien von Integration zu verständi- tion“ entsteht. Für die Zukunft der Menschen in menhang eine bedeutende Rolle zu. Dabei gen. Der von der Bundeskanzlerin als „fast his- unserem Land wird es von entscheidender Be- ist es ein Gebot des wechselseitigen Res- torischer Moment“ bezeichnete Gipfel war der deutung sein, dass alle bereit und willens sind, pekts, auch Differenzen, die die Dialog- Auftakt zu einem fortlaufenden Dialog, als des- diese Defizite zu beheben – im Interesse der Mi- partner trennen, eindeutig zu benennen. sen Abschluss ein Nationaler Integrationsplan granten selbst und vor allem auch im Interesse Dieser Dialog wird nur gelingen, wenn wir mit klaren Zielen, konkreten Maßnahmen und der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen insbesondere junge Muslime sozial und Selbstverpflichtungen erarbeitet wird. Er dient Zukunft Deutschlands. beruflich besser integrieren. (…) einer nachhaltigen Integrationspolitik. Sowohl Die Debatte um Integration konzentriert sich Beim Integrationsprozess von Frauen aus- beim Gipfel als auch im Nachfolgeprozess steht allzu oft auf Negativbotschaften wie Gewalt ländischer Herkunft stehen ihre gleichbe- der Dialog mit den bei uns lebenden Migrantin- an Schulen, (Selbst-)Ausgrenzung in Ghettos, rechtigte Teilhabe am politischen, wirt- nen und Migranten im Mittelpunkt. Wir müs- Angst vor potenziellen Terroristen sowie Miss- schaftlichen und kulturellen Leben sowie sen mit den Migrantinnen und Migranten spre- verständnisse und Überreaktionen im Verhält- die Vermittlung der deutschen Sprache für chen und nicht länger über sie. Denn erfolgrei- nis zu den bei uns lebenden Muslimen. All dies den Einstieg in Bildung und Beruf im Vor- che Integrationspolitik darf nicht nur für, son- bleibt nicht ohne Folgen für die Akzeptanz von dergrund. Die begonnenen Maßnahmen dern muss gemeinsam mit Migranten gestaltet Migranten und für die Vermittelbarkeit einer zur Integration ausländischer Frauen sol- werden. nachhaltigen Integrationspolitik des „Förderns len weiter verstärkt und ihre gesellschaft- Die jüngst eingerichtete Deutsche Islamkonfe- und Forderns“. liche und berufliche Integration voran- renz ist eine unverzichtbare Ergänzung zum In der Debatte um Integration müssen wir stär- gebracht werden. Die Gleichberechti- Integrationsgipfelprozess. „Der Islam ist Teil ker als bisher betonen, dass trotz aller Schwie- gung von Frauen und Männern wird als Deutschlands und Europas. Der Islam ist Teil rigkeiten, Versäumnisse und Defizite die Inte- unserer Gegenwart und unserer Zukunft“, so gration von Zuwanderern in Deutschland nicht hat der Bundesminister des Innern, Wolfgang gescheitert ist. Es gibt zahlreiche beeindru-

211 MARIA BÖHMER ckende Beispiele gelungener Integration, die rungsgesetz ist ein erster wichtiger Schritt hin te entscheidend gewandelt: So müssen wir an- die Integrationsleistungen der vergangenen zu einer systematischen Integrationsförde- gesichts des demographischen Wandels und Jahrzehnte und sogar Jahrhunderte widerspie- rung von rechtmäßig auf Dauer im Bundesge- des wachsenden weltweiten Wettbewerbs um geln – denkt man beispielsweise an die Huge- biet lebenden Migrantinnen und Migranten die besten Köpfe zukünftig Zuwanderung auch notten und die polnischen Bergarbeiter im vollzogen worden. Die Bundesregierung hat gezielt für die wirtschaftlichen und gesell- Ruhrgebiet. Auch die erfolgreiche Integration sich zu ihrer Verantwortung für die Sprachför- schaftlichen Interessen Deutschlands nutzen. von Millionen von Vertriebenen und Flüchtlin- derung der Zugewanderten und deren Orien- Bildung und Ausbildung sind wesentliche Fak- gen nach dem Zweiten Weltkrieg ist eine wich- tierung über Recht, Kultur, Geschichte und das toren für eine erfolgreiche Teilhabe am gesell- tige Erfahrung. Die Beispiele belegen, dass Staatswesen Deutschlands bekannt. Die Inte- schaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Deutschland nicht erst seit der Anwerbung der grationsmaßnahmen des Bundes enthalten Leben. Gelingt dies langfristig nicht, ist der in- „Gastarbeiter“ Migration und Integration zu bereits Elemente, die Integration fördern, aber nere Zusammenhalt unserer Gesellschaft ge- bewältigen hat. Unser Land blickt auf eine lan- auch mangelnden Integrationswillen sanktio- fährdet. ge und prägende Migrationstradition mit zahl- nieren. Indem wir Menschen, die neu zu uns reichen Beispielen erfolgreicher Integration kommen, ein bestimmtes Maß an Integrations- zurück. Trotz aller Schwierigkeiten haben wir bemühungen abverlangen, befördern wir auch MIGRATIONSSTEUERUNG UND uns in den vergangenen Jahrzehnten einen Akzeptanz für Migration in der Aufnahmege- BEWUSSTE INTEGRATIONSGESTALTUNG reichhaltigen Erfahrungsschatz erarbeitet, den sellschaft und helfen den Migrantinnen und wir stärker als bisher für einen positiven, prag- Migranten an den Möglichkeiten, die unser Mit der Globalisierung verstärken sich der welt- matischen und selbstbewussten Umgang mit Land bietet, teilzuhaben. weite Informationsfluss und die allgemeine Migration und Integration nutzen sollten. Mobilität. Sowohl wirtschaftlich motivierte Mit unseren Bemühungen um eine systemati- Wanderungsprozesse als auch inter- und intra- sche Integrationspolitik fangen wir nicht bei INTEGRATIONSPOLITISCHE staatliche Fluchtbewegungen nehmen konti- Null an. Durch die alltägliche Integrationsar- RAHMENBEDINGUNGEN IM WANDEL nuierlich zu. Dies führt zu einem ständigen Aus- beit in vielen Bereichen verfügen wir über ei- tausch nicht nur von Kapital, Waren und nen großen Fundus an erfolgreichen Projekten, Sowohl die strukturellen Rahmenbedingungen Dienstleistungen, sondern vor allem auch von Ansätzen und Instrumenten. Getragen wird für Integrationspolitik als auch die individuel- Menschen, Ideen, Kulturmustern, Wertvorstel- diese Arbeit von einer Vielzahl engagierter und len Anforderungen für erfolgreiche Integration lungen und Lebensstilen. Die meisten Ziellän- motivierter Menschen. Mit dem Zuwande- haben sich im Laufe der letzten fünf Jahrzehn- der von Migrationsbewegungen setzen deshalb zugleich auf die Steuerung der Zuwanderung und die bewusste Gestaltung der Integration. Bei der Steuerung globaler Migrationsbewe- gungen steht vor allem die Frage nach der An- werbung von Hochqualifizierten im Mittel- punkt. Wie in anderen europäischen Ländern gibt es in Deutschland einen wachsenden Be- darf an hochqualifizierten Arbeitnehmern, der durch Aus- und Weiterbildung nicht gedeckt werden kann. Um im weltweiten Wettbewerb um die besten Köpfe bestehen zu können, muss Deutschland deshalb verstärkt Hochqualifi- zierte für den deutschen Arbeitsmarkt gewin- nen. Gerade bei dieser Gruppe von Arbeitsmi- granten haben wir die Chance, Zuwanderung INTEGRATIONSPOLITI- als Gewinn zu vermitteln. SCHE VERSÄUMNISSE Im Jahr 2005 hat Deutschland nur sehr wenige WERDEN DISKUTIERT, Hochqualifizierte angezogen. Schätzungen ge- DEUTSCHLAND ALS hen von 700-900 Hochqualifizierten aus, die EINWANDERUNGSLAND auf der Grundlage von Paragraf 19 des Aufent- ANERKANNT. „DER haltsgesetzes nach Deutschland gekommen DEUTSCHE PASS HAT sind. Gleichzeitig müssen wir aus der zuneh- VIELE GESICHTER“ – menden Abwanderung aus Deutschland insbe- MIT DIESEM PLAKAT sondere von jungen Menschen und Hochqua- WIRBT EINE EINBÜRGE- lifizierten Konsequenzen ziehen. Sie ist ein RUNGSKAMPAGNE IN ernst zu nehmender Indikator für die geringe BERLIN VOR ALLEM Attraktivität Deutschlands als Forschungs-, UNTER JUNGEN Unternehmens- und Lebens(stand)ort und MIGRANTEN DAFÜR, steht synonym für den Verlust von Bildungs- DEN DEUTSCHEN PASS ressourcen und Humankapital. ZU BEANTRAGEN. Die rechtlichen Regelungen bedeuten eine zu picture alliance / dpa hohe Hürde für die Zuwanderung Hochqualifi- zierter. Die Erfahrungen in der Praxis machen eine Erleichterung der Arbeitsaufnahme für Hochqualifizierte und Selbstständige notwen- dig. Dazu sind die Höhe der Einkommensgren- ze bei Hochqualifizierten, des Investitionsvolu- mens bzw. der zu schaffenden Arbeitsplätze bei Selbstständigen dringend zu überprüfen. Über die rechtlichen Grundlagen hinaus müssen aber auch Unternehmen, Universitäten und Forschungseinrichtungen daran mitwirken, die Attraktivität Deutschlands für Hochqualifizier- te zu steigern. Dazu gehört beispielsweise ein aktives „Anwerben“ von erfolgreichen Absol-

212 Integrationspolitik aus bundespolitischer Sicht: Herausforderungen und Leitlinien venten an renommierten Hochschulen oder ei- Menschen unterschiedlichster Herkunft fried- schaftliches Engagement und die Bereitschaft, ne stärkere Service-Orientierung bei der Be- lich und rechtstreu miteinander und in gegen- Menschen, die rechtmäßig bei uns leben, ehr- treuung von Absolventen und Wissenschaft- seitiger Achtung leben. Integration ist damit im lich willkommen zu heißen. Es gilt, ein gemein- lern (z.B. Einrichtung eines Career-Service). Es Interesse eines jeden von uns. sames Verständnis von Integration zu entwi- gilt, diese Menschen willkommen zu heißen Die räumliche Konzentration von Zuwanderern ckeln, das wechselseitige Pflichten und Rechte und ihnen einen guten Start in unserem Land in einzelnen Stadtvierteln (Segregation) steht begründet: für Migrantinnen und Migranten zu ermöglichen. Nur dann kann unser Land von ganz oben auf der Agenda der Integrationsde- wie für die heimische Bevölkerung. Wer Forde- dem Potenzial dieser Menschen profitieren. Der batte. Gesellschaft und Politik sind vor allem rungen stellt, muss auch fördern. Wer Rechte Blick über den Tellerrand lohnt. Die Instrumen- dann alarmiert, wenn sich wohnräumliche Se- beansprucht, muss auch Pflichten erfüllen. te zur Anwerbung von Hochqualifizierten sind gregation mit Bildungsferne, Perspektivlosig- Grundlage ist neben unseren Wertvorstellun- in anderen Ländern – beispielsweise Kanada, keit, Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt gen und unserem kulturellen Selbstverständnis Australien und den USA – inzwischen sehr aus- und wirtschaftlicher Not überlagert und zu ei- unsere freiheitliche und demokratische Ord- gefeilt. Es werden nicht nur Anreize für die nem sich selbst verstärkenden Effekt führt. Se- nung, wie sie sich aus der deutschen und euro- Hochqualifizierten selbst, sondern auch für de- gregation ist oftmals nicht primär ein ethni- päischen Geschichte entwickelt hat und im ren Familienmitglieder gesetzt. sches, sondern ein soziales, schichtenspezifi- Grundgesetz ihre verfassungsrechtliche Aus- sches Problem, das durch eine lokale Massie- prägung findet. rung von Konfliktpotenzial gekennzeichnet ist. DEMOGRAPHISCHER WANDEL Mit dem Quartiersmanagement steht ein viel- UND ZUWANDERUNG fach erprobtes Instrument der Stadtentwick- SCHLÜSSELBEREICHE FÜR INTEGRATION lung zur Verfügung, das der Vielschichtigkeit Eine weitere Entwicklung wurde in der Öffent- der Problemlagen und Betroffenengruppen Ausgehend von diesem Integrationsverständ- lichkeit erst nach und nach in vollem Umfang gerecht wird und diese Viertel nicht sich selbst nis will die Bundesregierung auf den folgenden wahrgenommen: die Brisanz des demographi- überlässt. sechs Handlungsfeldern Fortschritte erzielen, schen Wandels, dabei vor allem die Alterung Die Gewährleistung der inneren Sicherheit um Integration zu verbessern: unserer Gesellschaft durch eine wachsende Le- rückt immer wieder in den Mittelpunkt. Die At-  Integrationskurse weiterentwickeln; benserwartung und eine zu geringe Geburten- tentate von London im Juli 2005, die gewalttä-  Von Anfang an deutsche Sprache fördern; zahl. Allerdings dürfen wir den Beitrag von Zu- tigen Auseinandersetzungen in den französi-  Gute Bildung und Ausbildung sichern, Ar- wanderung zur Lösung des demographischen schen Vorstädten und die vereitelten Koffer- beitsmarktchancen erhöhen; Problems nicht überschätzen. Zuwanderung bomben-Anschläge in Deutschland alarmier-  Lebenssituation von Frauen und Mädchen kann weder dem Bevölkerungsrückgang ent- ten Bevölkerung und Politik. Die Bekämpfung verbessern, Gleichberechtigung verwirkli- gegenwirken noch die Alterung der Bevölke- des Terrorismus ist eine gemeinsame Aufgabe chen; rung verhindern, sondern lediglich dämpfen. aller europäischen Staaten. Zugleich erhält In-  Integration vor Ort unterstützen; Aus integrationspolitischer Sicht ist zu beto- tegrationspolitik eine zusätzliche Dimension.  Bürgergesellschaft stärken (Kultur, Sport, nen, dass die Potenziale der Kinder und Ju- Denn es gilt, Radikalisierungsprozessen durch Medien, Wissenschaft und ehrenamtliches gendlichen mit Migrationshintergrund gezielt Prävention zu begegnen. Engagement). zu fördern sind. Diese Bildungsreserve der Mit dem Integrationsgipfel vom 14. Juli 2006 ist zweiten und dritten Zuwanderergeneration der Startschuss für die Erarbeitung eines „Na- darf nicht brach liegen. INTEGRATION BEDEUTET IDENTIFIKATION, tionalen Integrationsplans“ gefallen, der die TEILHABE UND VERANTWORTUNG genannten Schlüsselbereiche aufgreift. Ausge- hend von den Schlüsselbereichen wurden sechs ANFORDERUNGEN DER Um den gewandelten Rahmenbedingungen Arbeitsgruppen unter Federführung der jeweils WISSENSGESELLSCHAFT und Herausforderungen begegnen zu können, zuständigen Bundesministerien eingerichtet. ist ein gemeinsames Grundverständnis von In- Die Auftaktsitzungen der Arbeitsgruppen ha- Die Zuwanderung, insbesondere der „Gastar- tegration erforderlich. ben Ende September 2006 überwiegend unter beiter“ in den fünfziger und sechziger Jahren der Leitung der zuständigen Bundesministerin- des letzten Jahrhunderts, war dadurch gekenn- nen und -minister begonnen. Sie setzen sich zeichnet, dass in erster Linie Menschen mit ge- „GUTES ZUSAMMENLEBEN – aus Vertreterinnen und Vertretern von Bund, ringer Bildung nach Deutschland kamen, die KLARE REGELN“ Ländern, Kommunen, Wirtschaft, Gesellschaft einfache Tätigkeiten ausübten. Durch Struk- und Migrantinnen und Migranten zusammen. turwandel und Globalisierung sind viele dieser Im Vorfeld des Integrationsgipfels verabschie- Die hochrangige Besetzung soll die Bedeutung, Arbeitsplätze weggefallen. Der Übergang von dete das Bundeskabinett unter dem Titel „Gu- die die Bundesregierung dem Thema Integra- der Industriegesellschaft zur Wissensgesell- tes Zusammenleben – klare Regeln“ eine Erklä- tion zumisst, unterstreichen. schaft hat einen gesamtgesellschaftlichen rung1, die nicht nur die Positionsbestimmung Diese Handlungsfelder berühren zugleich eu- Wandel zur Folge, der jeden Einzelnen vor ver- der Bundesregierung darstellt, sondern auch ropäische Fragen, und zwar nicht nur dort, wo änderte Anforderungen in Bildung, Ausbil- die Leitlinien für die Aktivitäten der Integra- europäische Regelungskompetenzen beste- dung, Beruf und Alltag stellt. Die wichtigste in- tionsbeauftragten formuliert. hen, sondern auch dort, wo wir Erfahrungen tegrationspolitische Implikation der Wissens- Für die Bundesregierung bedeutet erfolgreiche aus verschiedenen Ländern austauschen und gesellschaft ist, dass erfolgreiche Integration Integration Identifikation, Teilhabe und Ver- somit voneinander lernen können. Eine inten- durch Bildung erfolgt. antwortung. Dafür sind Anstrengungen sei- sive Zusammenarbeit erfolgt bereits mit mei- tens des Staates, der bürgerschaftlichen Ge- nem französischen Amtskollegen Azouz Begag, sellschaft und der Migranten und Migrantin- bilaterale Arbeitstreffen mit weiteren Ländern INTEGRATIONSDEFIZITE GEFÄHRDEN DEN nen selbst notwendig. Maßgebend ist zum ei- wie beispielsweise Spanien sind in der Vorbe- GESELLSCHAFTLICHEN ZUSAMMENHALT nen die Bereitschaft der Zuwandernden, sich reitung. Die Bundesregierung wird außerdem auf ein Leben in unserer Gesellschaft einzulas- im Rahmen der anstehenden deutschen EU- Viele Familien mit Migrationshintergrund in sen, unser Grundgesetz und unsere gesamte Ratspräsidentschaft Integration einen beson- Deutschland leben in sozial schwierigen Ver- Rechtsordnung vorbehaltlos zu akzeptieren deren Stellenwert einräumen. hältnissen. Dies birgt die Gefahr, dass aus ei- und insbesondere durch das Erlernen der deut- nem Miteinander ein Nebeneinander und im schen Sprache ein sichtbares Zeichen der Zu- schlimmsten Fall sogar ein Gegeneinander gehörigkeit zu Deutschland zu setzen. Dies er- INTEGRATION DURCH SPRACHE wird. Integration ist nicht nur Sozialarbeit für fordert Eigeninitiative, Einsatzbereitschaft und eine Randgruppe, sondern zentrale Vorausset- Eigenverantwortung. Sprache ist mehr als reine Kommunikation, sie zung für den inneren Zusammenhalt unserer Auf Seiten der Aufnahmegesellschaft benöti- bedeutet soziale Interaktion. Von Ludwig Witt- Gesellschaft in einem weltoffenen Land, in dem gen wir dafür Akzeptanz, Toleranz, zivilgesell- genstein stammt der Satz: „Die Grenzen meiner

213 MARIA BÖHMER

Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“. einanders und respektvollen Dialogs. Arbeit ist LEBENSSITUATION VON FRAUEN UND Auf den integrationspolitischen Kontext über- damit der wichtigste Motor für Integration und MÄDCHEN VERBESSERN tragen, beschreibt die Aussage treffend die Le- zugleich Indikator für ihr Gelingen. Umso pro- bensrealität zahlreicher Migranten, die versu- blematischer ist, dass Menschen mit Migra- Hier gibt die deutsche Verfassung den Rahmen chen, ohne ausreichende Sprachkenntnisse in tionshintergrund in Bildung, Ausbildung und vor. „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, unserer Gesellschaft zurecht zu kommen. auf dem Arbeitsmarkt nach wie vor benachtei- seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Spra- Sprache ist eine notwendige, aber keine hinrei- ligt sind: Überdurchschnittlich viele Jugendli- che, seiner Heimat und Herkunft, seines Glau- chende Voraussetzung für Integration – das che mit Migrationshintergrund haben keinen bens und seiner religiösen oder politischen An- beweisen die erheblichen Integrationsproble- Schulabschluss und rund 40 Prozent keinen schauungen benachteiligt oder bevorzugt wer- me maghrebinischer und damit überwiegend Berufsabschluss. Die Ausbildungsbeteiligung den “ – so lautet Artikel 3 des Grundgesetzes frankophoner Migranten in Frankreich. Mit von ausländischen Jugendlichen ist seit Mitte der Bundesrepublik Deutschland. Ebenso ist die dem Zuwanderungsgesetz wurden im Bereich der neunziger Jahre um fast 40 Prozent gesun- Gleichberechtigung von Mann und Frau in Ar- der Sprachförderung Strukturen gebündelt ken und liegt weit unter dem Durchschnitt. tikel 3 Grundgesetz verankert. Zu den besonde- und wichtige rechtliche Grundlagen dafür ge- Angesichts dieser besorgniserregenden Trends ren Anliegen der Integrationsbeauftragten ge- legt, dass auf Dauer in Deutschland lebende besteht ein dringender Handlungsbedarf, die hört die Durchsetzung der Frauenrechte. Frau- ausländische Neuzuwanderer mit mangelnden Bildungs- und Ausbildungssituation junger en nehmen eine zentrale Rolle im Integrations- Sprachkenntnissen zur Teilnahme an Deutsch- Migrantinnen und Migranten und damit ihre prozess ein. Der Stärkung von Migrantinnen in kursen verpflichtet werden können. Berufschancen zu verbessern. Familie und Gesellschaft dienen spezifische Doch ist damit das Problem mangelhafter Damit Jugendliche ihre ersten Schritte ins Be- Sprachangebote für Frauen. Über Bildung und Deutschkenntnisse gerade bei Kindern nicht rufsleben erfolgreich meistern können, ist eine Erziehung ist verstärkt ein modernes, auf gelöst. Die Grundlagen für eine gelingende enge Verzahnung von Schule und Betrieben Gleichberechtigung basierendes Verständnis Teilhabe in unserer Gesellschaft werden im El- wichtig. Angesetzt werden muss aber auch beim von Familie, Ehe und Partnerschaft zu vermit- ternhaus, im Kindergarten und in der Schule Engagement und der Verantwortung der Eltern teln. Mädchen und Frauen, die im Rahmen des gelegt. Ergänzend zum informellen Spracher- für den Bildungserfolg ihrer Kinder. Unter- Familiennachzugs nach Deutschland kommen, werb durch frühe soziale Kontakte zwischen nehmen müssen stärker als bisher Verantwor- müssen durch Erwerb von Grundkenntnissen Kindern mit und ohne Migrationshintergrund tung übernehmen. Dafür steht die Selbstver- der deutschen Sprache im Herkunftsland dazu im Vorschul- und Schulbereich ist die bildungs- pflichtung von zugewanderten Unternehmern, befähigt werden, in Deutschland selbstbe- begleitende Sprachförderung schon im frühen bis 2010 10.000 neue Ausbildungsplätze zu stimmt handeln und Beratungs- und Hilfean- Kindesalter von besonderer Bedeutung. Auf der schaffen. Richtungweisend ist die Initiative von gebote gezielt in Anspruch nehmen zu können. Basis frühzeitiger Sprachstandserhebungen im Unternehmen in Deutschland für eine – nach Die türkische Regierung hat sich bereit erklärt, Elementarbereich kann der individuelle Förder- französischem Vorbild – „Charta der Vielfalt“. in der Türkei entsprechende Sprachvorberei- bedarf festgestellt und rechtzeitig vor der Ein- Mit dieser Selbstverpflichtung für eine Unter- tungskurse einzurichten. schulung mit der Sprachförderung begonnen nehmenskultur der Pluralität setzen Unterneh- werden. Einige Bundesländer gehen hier be- men bewusst Vielfalt als unternehmerische reits mit gutem Vorbild voran. Ressource ein. Die sprachlichen und kulturellen INTEGRATIONSPOLITIK IST Diese frühkindliche Sprachförderung ist dann Potenziale von Mitarbeitern und Mitarbeite- GESELLSCHAFTSPOLITIK FÜR DIE ZUKUNFT zu einer bildungsbegleitenden Förderung der rinnen sollen bewusst gefördert, Rahmenbe- deutschen Sprache in der Schule und in der Be- dingungen für ein konstruktives Miteinander Integration geht mit zentralen gesellschafts- rufsausbildung auszubauen. Da mangelhafte im Arbeitsalltag geschaffen und Migrantinnen politischen Fragen einher: Wo stehen wir heu- Sprachkenntnisse der Kinder oft mit mangeln- und Migranten in der betrieblichen Einstel- te und wo sehen wir uns in zehn oder zwanzig den Deutschkenntnissen mindestens eines El- lungs- und Personalpolitik angemessen berück- Jahren? Wie wollen wir morgen leben, was ist ternteils einhergehen, müssen wir noch stärker sichtigt werden. Die Unternehmen eröffnen unser Modell bzw. Ideal des Zusammenlebens? als bisher die Eltern und vor allem die Mütter damit nicht nur Menschen mit Migrations- Was müssen wir tun, damit unsere Gesellschaft erreichen und in den Spracherwerb mit einbe- hintergrund bessere Ausbildungs- und Berufs- zusammenhält? Wie verhindern wir, dass aus ziehen (z.B. Sprachförderung in Eltern-Kind- chancen, sondern gewinnen Wettbewerbsvor- der Einheit in Vielfalt eine Vielfalt ohne Einheit Gruppen). Auch die Eltern sind gefordert, sich teile im globalen Wirtschaftsraum. wird? Wie stehen wir zu uns selbst? Und wie Deutschkenntnisse anzueignen, um gemein- wirkt sich dieses Selbstverständnis auf unsere sam mit den pädagogischen Fachkräften im Zielvorstellungen erfolgreicher Integration Kindergarten und in der Schule ihre Kinder bes- aus? ser unterstützen zu können. Die Chancen, geeignete Antworten auf diese Neben der Förderung des Erwerbs der deut- Fragen zu finden, stehen gut. Denn die Art und schen Sprache ist auch die Muttersprache als Weise, wie wir an das Thema herangehen, hat besonderes Potenzial von Migrantinnen und sich in Deutschland in den letzten Jahren ver- Migranten anzuerkennen. ändert: Die integrationspolitischen Versäum- UNSERE AUTORIN nisse der Vergangenheit werden offen disku- tiert, Deutschland als Einwanderungs- und In- INTEGRATION DURCH BILDUNG, Frau Prof. Dr. Maria tegrationsland anerkannt. Mit diesem Perspek- AUSBILDUNG UND ARBEIT Böhmer ist seit tivwechsel eröffnen sich neue Handlungsop- November 2005 tionen, die Zukunft Deutschlands gemeinsam Bildung ist der Schlüssel zu Integration, denn Staatsministerin mit und für Migranten im Sinne der gesell- Bildungserfolge eröffnen Teilhabechancen im im Bundeskanzler- schaftlichen und wirtschaftlichen Interessen gesellschaftlichen, politischen und vor allem amt und Beauf- unseres Landes zu gestalten. Nicht mehr das Ob im wirtschaftlichen Leben. Eine gute Schulbil- tragte der Bundes- von Integration ist die Frage, sondern das Wie. dung und eine darauf aufbauende solide beruf- regierung für Mi- Dafür lohnt es, alle Kräfte zu mobilisieren. liche Qualifizierung sind Voraussetzung für ei- gration, Flüchtlin- nen Zugang zum Arbeitsmarkt und damit für ge und Integration. eine nachhaltige Integration auch in anderen Seit 2001 ist sie Lebensbereichen. Arbeit ist nicht nur Grundla- Bundesvorsitzende ge für Existenzsicherung, sie bestimmt den ge- der Frauenunion und war bis 2005 stellver- ANMERKUNGEN sellschaftlichen Status, das Selbstwertgefühl tretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundes- 1 Erklärung vom 14.07.06, abrufbar unter: http://www. bundesregierung.de/Webs/Breg/DE/Bundesregierung/Be und eröffnet zahlreiche Möglichkeiten, soziale tagsfraktion. Frau Böhmer ist Mitglied des auftragtefuerIntegration/Integrationsgipfel2006/Ziel/ziel Beziehungen aufzubauen. Denn gerade der Ar- Bundesvorstandes der CDU. Mitglied des .html (Zugriff am 10.10.2006) beitsplatz ist Ort des tagtäglichen fairen Mit- Deutschen Bundestages ist sie seit 1990.

214 „PARALLELGESELLSCHAFTEN“ ERLEICHTERN DEN ÜBERGANG IN DIE MEHRHEITSGESELLSCHAFT Mangelt es an „Parallelgesellschaften“?

MATTHIAS MICUS / FRANZ WALTER

gesellschaftliche Strukturen gewähnt werden, lau- mel ethnozentristischen Denkens. Insofern stellt Mit dem emotional aufgeladenen Begriff ern Gefahren: Nicht zuletzt die Gefahr der Des- sich die Frage, wodurch sich eine „Parallelgesell- „Parallelgesellschaft“ verbindet sich das integration. schaft“ auszeichnet, was unter ihr genau zu verste- apokalyptische Bild einer unkontrollier- Zweitens galt Medien und Politik von Anfang an der hen sei. baren, das Gewaltmonopol des Staates Islam als Hauptquelle gesellschaftlicher Spaltungs- nicht akzeptierenden, zumeist islami- prozesse, verbindet sich die Debatte über „Parallel- schen Bedrohung. Weitaus nüchterner gesellschaften“ in Deutschland untrennbar mit der WAS MEINT DER BEGRIFF ist die rationale Definition des Begriffs: Rolle der Muslime. Insofern konsequent richtet sich „PARALLELGESELLSCHAFT“? „Parallelgesellschaften“ entwickeln sich der Blick auf die türkischen Gemeinden, entbrannte in einer ethnisch, sozial und weltan- in der Vergangenheit wiederholt – von Duisburg bis Einer Definition des Politikwissenschaftlers Thomas schaulich homogenen (Minderheiten-) Berlin – Streit um den Bau neuer Moscheen und Meyer folgend, lassen sich parallelgesellschaftliche Gruppe auf freiwilliger Basis in mehr avancierte das Kopftuch zur Chiffre. Diese Vermen- Strukturen durch das Vorhandensein von fünf cha- oder weniger deutlicher Abgrenzung zur gung des parallelgesellschaftlichen Bedrohungspo- rakteristischen Indikatoren identifizieren: eine weit Mehrheitsgesellschaft. Solche Segrega- tenzials mit dem islamischen Glauben findet seine gehende ethnisch-kulturelle oder kulturell-religiöse tionen sind für die kulturelle und soziale Begründung in der Gleichsetzung des internationa- Homogenität; eine annähernd vollständige lebens- Selbstbehauptung nicht unwichtig, weil len Terrorismus mit dem islamischen Fundamenta- weltliche und zivilgesellschaftliche Abgrenzung von sie die Identität stabilisieren und die In- lismus und der Tatsache, dass es radikale Muslime der Mehrheitsgesellschaft; eine nahezu komplette tegration in die Aufnahmegesellschaft sind, die spätestens seit dem Jahr 2001 die Furcht vor Verdoppelung der mehrheitsgesellschaftlichen In- erleichtern. Matthias Micus und Franz dem Fremden in der westlichen Welt nähren. Vor al- stitutionen; eine formal freiwillige Segregation; und Walter schildern diesen Prozess gelin- lem die Korrelation von kultureller und kirchlicher eine zumeist auch siedlungsräumliche Segregation.4 gender Integration am Beispiel der so ge- Heterogenität erscheint daher als Problem; eine „Parallelgesellschaften“ begründen sich demzufolge nannten „Ruhrpolen“ und der parteipo- starke religiöse Gläubigkeit gilt als wichtigstes Inte- in einer ethnisch, sozial und weltanschaulich homo- litischen Milieus. Gefährdungen für eine grationshemmnis. Zur Symbolgestalt des Bösen genen Gruppe, die sich von der Mehrheitsgesell- demokratisch verfasste Gesellschaft er- wurde in diesem Zusammenhang der „home-grown schaft ausgegrenzt fühlt. Alternativ zu den etablier- geben sich stets dann, wenn „Parallelge- terrorist“, der unauffällige, scheinbar integrierte, im ten Institutionen, die ihren Mitgliedern verschlossen sellschaften“ den Dialog verweigern und Westen geborene, hier aufgewachsene und ausge- stehen, verfügen sie über ein dichtes Netz separater ihre eigenen Werte absolut setzen. Diese bildete Moslem, der irgendwann seine Maske herun- Organisationen, Vergemeinschaftungen und Zu- Abgrenzung kann als Reflex auf Ge- terreißt und gegen die Welt kämpft, deren Teil er bis sammenkünfte, das praktisch alle Ansprüche ab- gebenheiten der Aufnahmegesellschaft dahin zu sein schien.1 deckt, eine weit gehend autarke Alltagsgestaltung gedeutet werden: Mangelnde Teilhabe- Und drittens schließlich werden „Parallelgesell- ermöglicht und Rückhalt gegenüber einer feindseli- und Erfolgschancen, sich dramatisch ver- schaften“ in Deutschland auch deshalb mit einer sol- gen Umgebung bietet. Zumeist aus der Defensive schlechternde Integrationsbedingungen chen Ablehnung betrachtet, weil sie in einem funda- heraus entstanden, als Kompensation für zuvor er- und eine nur „partielle Integration“ las- mentalen Widerspruch zum nationalen Selbstver- fahrene Ausschlüsse und Diskriminierungen, entwi- sen in jüngster Zeit die Empörung gera- ständnis und zur gesellschaftspolitischen Generalli- ckeln „Parallelgesellschaften“ starke Identitäten im de der dritten Einwanderergeneration nie des Landes stehen. Im Unterschied zu Frankreich Inneren und markante Abgrenzungen nach außen. wachsen. Die zu beobachtende neue und den angelsächsischen Ländern, die sich traditio- Die interne Solidarität wird durch gemeinschafts- „Kultur der Armut“ lässt eher auf ei- nell als „Staatsnationen“ verstehen, als Willensge- stiftende Rituale und Symbole im Alltag bekräftigt nen Mangel an parallelgesellschaftlichen meinschaften, deren Mitglieder ihre Zugehörigkeit sowie durch ein kompaktes Fundament stringenter Strukturen, die eine Brücke zur Mehr- durch das Bekenntnis zu den politischen Grundwer- Werte, Weltdeutungen und Orientierungen abge- heitsgesellschaft schlagen könnten, ten ausdrücken, basiert die deutsche „Kulturnation“ stützt. Wiewohl in Reaktion auf Ausgrenzungser- schließen. ihrem Selbstverständnis nach bis heute – und trotz fahrungen aufgebaut und insofern durchaus auf des reformierten Staatsangehörigkeitsrechtes – we- Momente zumindest indirekten Zwanges zurück- sentlich auf der Herkunft ihrer Angehörigen, das führbar, gründet das ausdifferenzierte Organisa- heißt einer homogenen ethnischen Abstammung tionsnetzwerk einer „Parallelgesellschaft“ aber letzt- EINE METAPHER ALS und gemeinsam geteilten Kultur. Eine gewisse lich auf freiwilliger Selbstabgrenzung, auf einem BEDROHUNGSSZENARIO Gleichförmigkeit herzustellen und allzu gravierende spezifischen Stolz und Sendungsbewusstsein, die Unterschiede zu beseitigen, wurde daher in sich in einem umfassenden Engagement, intensivem Seit einigen Jahren erfreut sich die Metapher von der Deutschland beständig auf verschiedene Weise ver- Einsatz und wechselseitigen Hilfestellungen nieder- „Parallelgesellschaft“ einer hohen Talkshow-Auf- sucht, insbesondere über einen umverteilenden So- schlagen. merksamkeit, wobei sich ihre negative Konnotation zialstaat auf der einen sowie eine aktive staatliche Nicht zuletzt die Freiwilligkeit der Selbstorganisa- im Wesentlichen aus drei Aspekten speist. Bemüht Wohnungspolitik auf der anderen Seite, die mit Be- tion unterscheidet „Parallelgesellschaften“ von wurde sie zum einen stets dann, wenn es darum ging, legungsquoten und Zuzugssperren eine gleichmäßi- Ghettobildungen, bei denen räumliche Integration schwer verständliche, zumeist verstörende, immer ge Verteilung der Bevölkerung herzustellen versuch- und soziale Organisierung durch Zwang zusammen- aber fremdkulturelle Ereignisse und Handlungsmo- te.2 Anders als etwa in den USA fürchteten deutsche fallen, und verbindet sie mit „ethnischen Kolonien“. tivationen zu erklären. Im Begriff der „Parallelgesell- Behörden segregierte Wohnquartiere mit einem ho- Der Begriff der „ethnischen Kolonie“ deckt sich da- schaft“ fand die Öffentlichkeit eine Antwort auf die hen Ausländeranteil bisher „wie der Teufel das Weih- bei faktisch mit dem der „Parallelgesellschaft“, wenn Fragen, warum sich ein unkontrollierter Mob in den wasser“3. Sichtbare ethnische Konzentrationen, „Pa- er die „auf der Basis von Selbstorganisation entstan- Pariser Vororten tagelang Straßenschlachten mit der rallelgesellschaften“ zumal, müssen einem solchen denen Beziehungsstrukturen unter Einwanderern in französischen Ordnungsmacht lieferte, weshalb Denken geradezu zwangsläufig als bedrohlich er- einer bestimmten räumlichen Einheit“5 bezeichnet. Londoner Jugendliche Flugzeuge in die Luft zu scheinen. Er rekurriert bloß – wie der Name schon sagt – stär- sprengen planten und in Deutschland zwei junge In der politischen und medialen Öffentlichkeit be- ker auf Segregationsprozesse bei Einwanderergrup- Männer Kofferbomben-Attentate auf Zugreisende steht also eine nahezu einhellige Ablehnung von pen, derweil sein Pendant auch Separationen eth- verüben wollten. Die „Parallelgesellschaft“ fungiert „Parallelgesellschaften“. Darüber hinaus aber ist das nisch gleicher Gesellschaftsgruppen einschließt. auf diese Weise als Generalbeschreibung für rück- vorherrschende Bild über dieses Phänomen eher dif- Beide Begriffe aber bezeichnen Gruppen, die sich ab- ständiges Denken, integrationsresistente Einstel- fus, an Präzision hat der Begriff durch die vielstim- kapseln und Distanz von der Mehrheitsgesellschaft lungen und ausländische Gesetzlosigkeit – speziell in mige Debatte der letzten Zeit nicht gewonnen. Im halten, die Binnenkommunikation pflegen und Au- Deutschland, aber auch ganz allgemein in Westeu- Gegenteil, er verkam zur Phrase und – indem Taten ßenkontakte meiden. Gleichermaßen auch kenn- ropa. Wer von „Parallelgesellschaft“ spricht, meint Einzelner für ein gesamtes Bevölkerungssegment zeichnen sie somit, zumindest aus gesamtgesell- daher erstens etwas Bedrohliches – wo parallel- verallgemeinert wurden – zu einer Legitimationsfor- schaftlicher Perspektive, Phänomene der Spaltung.

215 MATTHIAS MICUS / FRANZ WALTER

GEFÄHRDEN „PARALLELGESELLSCHAFTEN“ tete Wohnungen unverhältnismäßig hohe Mieten viel kontaktfreudiger und offener im Umgang mit DAS GEMEINWESEN? zahlen. der Aufnahmegesellschaft – und insofern integra- Brisanter noch im Hinblick auf die Debatte über „Pa- tionsbereiter – als Migranten ohne Vereinsmitglied- Eben diese Eigenschaft kann „Parallelgesellschaften“ rallelgesellschaften“ sind Indikatoren, welche die schaft.11 wie „ethnische Kolonien“ zu einer Gefahr für libera- verbreitete Einschätzung, große Teile der türkischen le Demokratien werden lassen – und insofern ist der Einwohner igelten sich ein und lebten in einer abge- Furor in der Debatte über parallelgesellschaftliche koppelten Eigenwelt, zu bestätigen scheinen. Ver- „BINNENINTEGRATION“ ALS SCHRITT IN Separatstrukturen durchaus nachvollziehbar. De- gleiche zwischen Zuwanderergruppen ergaben, dass DIE MEHRHEITSGESELLSCHAFT mokratien brauchen ein gewisses Reservoir gemein- die Option, in das Herkunftsland zurückzukehren, sam geteilter Werte, Normen und Orientierungen. mit sozialräumlicher Segregation korreliert und die Der Ambivalenz ihres Forschungsgegenstandes an- Sie benötigen einen Sockel an Vertrauen und Koope- Integration in die Aufnahmegesellschaft erschwert.7 gemessen fällt das Urteil der Stadt- und Migrations- ration als Voraussetzung für gesellschaftliche Soli- Gerade Türken äußern aber beständig die stärksten forschung über „Parallelgesellschaften“ daher we- darität. Ein Konglomerat verschiedener Gesellschaf- Rückkehrwünsche in ihre Heimat. Auch die desinte- sentlich differenzierter aus, als es die öffentlich, in ten in einer Demokratie dagegen – ein Zustand, der grative Wirkung ausgeprägter Frömmigkeit kann Politik und Medien geäußerten Ansichten vermuten zumindest der Tendenz nach in „Parallelgesellschaf- recht plausibel aus der Annahme, dass Religiosität lassen könnten. Bereits in den 1920er-Jahren be- ten“ angelegt ist – vermag die soziale, kulturelle und eine symbolische Grenze zwischen Einwanderern gründete eine Gruppe Chicagoer Wissenschaftler funktionale Integration des gesamten Gemeinwe- und Aufnahmegesellschaft errichte und dadurch um Ezra Park mit ihren Untersuchungen über die In- sens zu gefährden. den Aufbau interethnischer Freundschaften behin- tegration von Einwanderern in die USA am Beispiel Das gilt zumal für moderne Gesellschaften, deren dere, abgeleitet und durch empirische Ergebnisse, Chicagos das „sozialökologische Modell“, welches Strukturen sich in der Vergangenheit immer weiter denen zufolge Türken religiöser als andere Migran- der (anfänglichen) räumlichen Konzentration von ausdifferenzierten und deren Anfälligkeit für desin- tengruppen sind und gleichzeitig in ihren Sozial- Migranten positive Funktionen zuschrieb. Kern ihres tegrative Tendenzen daher gestiegen ist. Gesell- kontakten sehr weit gehend auf die eigene Familie, Modells war die Annahme, die Integration bezie- schaftlichen Zusammenhalt herzustellen fällt vor Angehörige der gleichen Ethnie und ihr Wohnquar- hungsweise Assimilation von Einwanderern erfolge dem Hintergrund der allgegenwärtigen Pluralisie- tier orientieren, sich also stärker auf Bezugsperso- generell in einem vierstufigen Prozess. In einer er- rungs- und Individualisierungsprozesse zunehmend nen gleicher Nationalität begrenzen, untermauert sten Phase suchen die Neuankömmlinge zunächst schwer. Traditionen und Konventionen verlieren an werden.8 Die Religiosität der Türken ist in den letz- ganz gezielt die Nähe ihrer Landsleute, um die mit Verbindlichkeit, Zugehörigkeiten werden auf Zeit ten Jahren zudem messbar angewachsen, die Zahl der Einwanderung verbundenen Risiken und Unsi- geknüpft und bei Bedarf unsentimental gekündigt, der Moscheebesucher gestiegen. cherheiten zu reduzieren. Das homogene Einwande- der Einzelne kann seinen Lebensplan unabhängig Freilich, so eindeutig sind die Ergebnisse nicht, bei rerquartier gewährt Schutz vor einer unbekannten von Anderen selbstbestimmt erstellen. Großkollekti- näherem Hinsehen ergeben sich vielmehr Wider- Umwelt, es bietet Orientierung, indem die kulturelle ve schrumpfen zu kleinteiligen Kontaktnetzen, mas- sprüche. So suchen seit dem Jahr 2000 zwar mehr Spannung zwischen alter sowie neuer Heimat ge- senhaft geteilte Klassenlagen vervielfachen sich zu Türken islamische Gotteshäuser auf, parallel dazu al- glättet wird und vermittelt auf schonende Weise die individuellen Lebensstilen. Gleichzeitig verschärfen lerdings pflegt auch eine zunehmende Zahl von ih- elementaren Normen und Verhaltensweisen des sich im Zuge der gesellschaftlichen Ausdifferenzie- nen interkulturelle Freundschaften zu Deutschen.9 Aufnahmelandes, deren Beachtung für sozialen Auf- rung soziale Ungleichheiten und Ausgrenzungen. Letztlich dürfte wohl nur ein sehr kleiner Teil der Tür- stieg zwingend notwendig ist. An diese Phase Gelingender Integration bedürfen Gesellschaften ken übrig bleiben, der nach formalen Kriterien als schließt sich eine kurze Periode der Positionskonflik- gegenwärtig insofern stärker als zuvor. Sie ist je- segregiert gelten kann. Ob man überhaupt von einer te mit den Einheimischen an, die aber, nachdem der doch zugleich prekärer denn je. Als entscheidendes türkischen „Parallelgesellschaft“ in Deutschland Migrant akzeptiert hat, sich zunächst unten einzu- Kriterium für Integration gilt dabei die prinzipiell sprechen kann, wird schließlich durch den Befund ordnen und sich dann sukzessive hocharbeiten zu gleiche Verteilung gesellschaftlicher Positionen und infrage gestellt, dass die organisatorische Einbin- müssen, schon bald durch einen Zustand der Anpas- Ressourcen zwischen den einzelnen Bevölkerungs- dung bei Türken insgesamt geringer ist und Vereins- sung, die Akkomodationsphase, abgelöst wird. Auf gruppen. Systematische Unterschiede beispielswei- mitgliedschaften seltener sind als unter gleichaltri- die Anpassung folgt dann schließlich – scheinbar se zwischen Migranten und Einheimischen im Hin- gen Einheimischen. Mitglieder von „Parallelgesell- zwangsläufig und unvermeidlich – das Endstadium blick auf die Erwerbsbeteiligung, auf Berufs- schaften“ aber zeichnen sich gerade durch ihren des Integrationsprozesses, die Assimilation der Zu- positionen, Bildungsabschlüsse, Einkommen und Organisationspatriotismus, durch ihre vielfältige wanderer, die vollständige Angleichung der Lebens- Wohnqualitäten deuten dagegen auf Schwierigkei- Einbindung in das subkulturelle Vereinswesen aus. verhältnisse, Einstellungen, Orientierungen.12 ten beim Integrationsprozess hin, zumindest aber Die Erklärung dafür liegt in der organisatorischen Das „sozialökologische Modell“ übte in der Folgezeit auf dessen Unabgeschlossenheit. Verdichtung parallelgesellschaftlicher Strukturen einen lang anhaltenden, weit reichenden Einfluss auf der einen, der Diskriminierung und der Notwen- auf die Migrationssoziologie aus und prägt bis heu- digkeit zu Zusammenschluss, Solidarität und Ge- te die Urteile auch deutscher Wissenschaftler über STIMMT DAS FEINDBILD VON DER meinschaftspflege auf der anderen Seite. sozialräumliche „Parallelgesellschaften“. Unter Be- „TÜRKISCHEN PARALLELGESELLSCHAFT“? Ganz unabhängig davon ist nicht einmal gewiss, zugnahme auf Vertreter der so genannten „Chica- dass aus der ethnischen Segregation Nachteile ent- goer Schule“ entwickelte beispielsweise Friedrich Betrachtet man nun die Situation der türkischen stehen und ob eine stärkere Einbindung in parallel- Heckmann sein Konzept der „ethnischen Kolonie“.13 Zuwanderer, so springen die Differenzen zu den gesellschaftliche Strukturen für die türkische Bevöl- Ähnlich dem amerikanischen Vorbild schrieb auch er Einheimischen, aber ebenso zu anderen Einwande- kerung nicht vielleicht sogar von Vorteil wäre. Eth- Konzentrationsprozessen von Einwanderern in einer rergruppen, unmittelbar ins Auge.6 Türken weisen nisch homogene Netzwerke jedenfalls sind per se ihnen fremden Umgebung positive Wirkungen zu, nicht nur eine dreimal höhere Arbeitslosenquote keineswegs ressourcenärmer als sozialstrukturell von der Stabilisierung des alltäglichen Lebensberei- auf als Deutsche, sie sind auch ungefähr doppelt identische, doch volksgruppenübergreifende Bezie- ches über die Lösung von Anpassungsproblemen so oft erwerbslos wie beispielsweise Spanier. hungsgeflechte. Eher im Gegenteil, zeichnen sie sich und die Verringerung von Unsicherheiten bis hin zur Wenn Türken arbeitslos sind, dann zudem länger als doch durch bessere Zugänge zum Arbeitsmarkt, Pflege der nationalkulturellen Identität. Etwa zeit- Einheimische, befördert werden sie seltener, de- mehr Informationsmöglichkeiten und insgesamt gleich mit Heckmann, aber ebenfalls durch Rückgriff gradiert häufiger. Weit überdurchschnittlich erwer- umfangreichere Beziehungen aus.10 Außerdem ver- auf die nordamerikanischen Sozialökologen, formu- ben ihre Kinder niedere Bildungsabschlüsse, beson- mag das Feindbild „Parallelgesellschaft“ nicht den lierte Georg Ellwert Anfang der 1980er-Jahre das ders stark überrepräsentiert sind sie unter Sonder- Sachverhalt zu erklären, warum sich gerade in der Modell der „Binnenintegration“. Und ähnlich wie schülern und Schulabbrechern, ein Abitur dagegen dritten Generation der türkischen Migranten funda- Heckmann und zuvor schon die Chicagoer sah auch macht bloß ein einstelliger Prozentsatz. Ungleich mentalistische Neigungen verbreiten, warum gera- er in der Binnenintegration einen ersten Schritt zur verteilt sind auch die Einkommen. Insbesondere de sie Unzufriedenheit und Gefühle des Fremdseins Integration der Einwanderer in die Mehrheitsgesell- Türken sind von Armut betroffen und auf Sozialleis- äußern – jene also, deren Integration verglichen mit schaft, indem aus der Migration resultierende Unsi- tungen angewiesen, die sie aber aus Angst, ihren ihren Eltern nach Indikatoren wie Sprachkenntnis, cherheiten abgemildert, die Ausbildung einer neuen Aufenthaltsstatus zu verlieren, oft nicht beantra- Bildung und Lebensstil erheblich fortgeschritten zu Identität unterstützt, Selbstbewusstsein vermittelt gen. Ebenso benachteiligt sind sie auf dem Woh- sein scheint. Vor allem aber sind in ethnischen Ver- und die Orientierung in einem gewandelten Umfeld nungsmarkt, wo sie für schlechter ausgestat- einen organisierte Einwanderer nachweislich sehr erleichtert würde.14

216 Mangelt es an „Parallelgesellschaften“?

In einer Gesamtansicht der Forschungsergebnisse „Parallelgesellschaften“ infrage gestellt wurde. De- fürworten daher auch die Sozialökologen eine Auf- kristallisieren sich so eine ganze Reihe Funktionen zidiert sind solche Bedenken von Hartmut Esser vor- lösung von Koloniestrukturen und die Gleichvertei- und Leistungen heraus, mit denen „Parallelgesell- getragen worden. Seiner Ansicht nach verstärken lung der sozialen Gruppen im Raum, letztlich also schaften“ ihren Mitgliedern das Leben in einer oft- kulturell und sozial abgegrenzte Lebenswelten letzt- gleichmäßig gemischte Wohnquartiere.16 mals feindlichen, stets aber fremden Umgebung er- lich die Differenzen zwischen den einzelnen Bevöl- leichtern. So machen sie den Neuankömmlingen den kerungsgruppen. Einerseits erhöht sich durch ihre Wechsel in eine radikal anders geprägte Ordnung er- Zusammenballung die Sichtbarkeit der Minderheit, SIND DIE PRÄMISSEN DER träglicher, indem sie Vertrautes bieten und auf diese deren Folgen eine Verstärkung der Bedrohungsge- MIGRATIONSFORSCHUNG PLAUSIBEL? Weise die kulturellen Differenzen zwischen Her- fühle bei der Mehrheitsgesellschaft und als Reaktion kunfts- und Aufnahmegesellschaft überbrücken. darauf eine noch forciertere Ausgrenzung sind. Aus Wiewohl differenzierter argumentierend als die po- „Parallelgesellschaften“ stellen Institutionen und der Perspektive der Minderheit vergrößert sich an- litisch-medialen Wortführer des öffentlichen Dis- Gelegenheiten bereit, durch die Solidarität prakti- dererseits durch die sozialräumliche Verdichtung kurses, gelangt die Forschung über „Parallelgesell- ziert und Bedürftigen Unterstützung zuteil werden und die Möglichkeit, praktisch alle Bedürfnisse in- schaften“ folglich zu relativ einheitlichen Schluss- kann. Über ihr Organisationswesen aktivieren sie ih- nerhalb der parallelgesellschaftlichen Subkultur be- folgerungen. „Parallelgesellschaften“ sind ihr bloß re Angehörigen und vermitteln auch mehrheitsge- friedigen zu können, die Neigung, unter sich zu blei- das kleinere Übel im Vergleich zu ungefiltert aufein- sellschaftlich wichtige Kompetenzen. Nach außen, ben und Beziehungen zu anderen Gesellschafts- ander stoßenden kulturellen Differenzen. Wenn der in die Mehrheitsgesellschaft hinein artikulieren sie gruppen gar nicht mehr anzustreben. Kontakte zwi- kulturelle Graben zwischen alter und neuer Heimat die Interessen ihrer Mitglieder, versuchen, Diskrimi- schen Minderheit und Mehrheit kommen dann nur schmal, ohne Zwischeninstanzen überbrückbar nierungen abzubauen und Unterstützung für die kaum noch zustande, wären aber die Voraussetzung und eine unmittelbare Integration der Migranten in Anliegen der Minderheit zu gewinnen. dafür, sich gegenseitig kennen zu lernen, eventuell die Mehrheitsgesellschaft infolgedessen möglich ist, Freundschaften zu knüpfen, jedenfalls aber Vorur- dann sind separate Strukturen auch im Interesse der teile abzubauen. Darüber hinaus verhindert die Dis- Zuwanderer abzulehnen, da die Netzwerke der Ein- BEITRAG ZUR tanzierung von der Mehrheitsgesellschaft den Er- heimischen ressourcenreicher und leistungsfähiger PERSÖNLICHKEITSSTABILISIERUNG werb für einen sozialen Aufstieg elementarer Fähig- und die sozialen Aufstiegsmöglichkeiten hier um- keiten, Kenntnisse und Beziehungen, verweist die fangreicher sind. Außerdem gefährden nach allge- Die wohl bedeutendste Funktion von „Parallelgesell- Betroffenen insofern stets auf die „Parallelgesell- meiner Einschätzung „Parallelgesellschaften“ ihre schaften“ aber betrifft ihren Beitrag zur Persönlich- schaft“ zurück, deren Positionshierarchie aber be- integrativen Funktionen, wenn sie sich hermetisch keitsstabilisierung. Dadurch dass sie ihren Mitglie- grenzt ist und die für ihre Mitglieder daher eine „Mo- von der Mehrheitsgesellschaft abschotten, ihre ei- dern Orte der Geselligkeit und Vergemeinschaftung bilitätsfalle“ darstellt.15 genen Werte und Ziele absolut setzen und funda- bieten, indem sie Identifikationsangebote unterbrei- Die Differenzen zwischen den jeweiligen For- mentalistische Ziele propagieren. Notwendig sind ten und den Anpassungsdruck abfedern, der auf den schungsrichtungen sind freilich nicht so tief, wie es daher die prinzipielle Offenheit ihrer Infrastrukturen Zuwanderern lastet, reduzieren sie die destruktive scheinen mag, sie heben sich auf einer übergeord- und eine generelle Bereitschaft zur kulturellen Kraft als „negative Individualität“ bezeichneter sozi- neten Ebene vielmehr auf. Auch Wissenschaftler in Grenzüberschreitung. Da sich mit ihnen aus gesamt- aler Halt- und Schutzlosigkeit. Nur dadurch, durch der Tradition der Chicagoer Schule sehen die Gefah- gesellschaftlicher Perspektive zudem eine Spaltung die im Binnenleben erfahrene Anerkennung und die ren, die aus einer introvertierten Selbstgenügsam- der Bevölkerung verbindet, ist ihr dauerhafter Fort- sozialen Sicherheiten, die „Parallelgesellschaften“ keit von „Parallelgesellschaften“ herrühren. Sie ge- bestand abzulehnen, weil dadurch der soziale Zu- bieten, können ihre Mitglieder Zutrauen in ihre Fä- hen gleichfalls davon aus, dass eine sture Binnen- sammenhalt unterminiert würde. Eine Verstetigung higkeiten entwickeln, dessen sie bedürfen, wollen sie perspektive Kontakte zur umgebenden Umwelt ver- von „Parallelgesellschaften“ ist demnach wün- in der Mehrheitsgesellschaft bestehen und vor den hindern und soziale Mobilität begrenzen kann. schenswert nur vor dem Hintergrund eines kontinu- ersten Widerständen nicht gleich verzagt und resig- Mangelnde Kontakte aber begünstigen Ressenti- ierlichen Zuwandererstroms und permanenten Aus- niert einknicken. ments und schwächen die Bereitschaft, sich auf die tausches ihrer Mitglieder. Schließlich wird aber von Gerade in letzterem übrigens ähneln „Parallelgesell- Anforderungen der Mehrheitsgesellschaft einzulas- Park über Heckmann bis Esser unisono davon ausge- schaften“ stark kirchlichen Institutionen. Auch reli- sen. Begrenzte Mobilität wiederum meint ethnische gangen, eben diese Eigenschaft – der dynamische giösem Glauben wird die Wirkung zugeschrieben, Unterschichtung, bedeutet also nichts anderes als Charakter parallelgesellschaftlicher Vergemein- Gemeinschaft zu stiften, Halt und Orientierung zu die oben erwähnte „Mobilitätsfalle“. schaftung – würde dadurch garantiert, dass die In- vermitteln, Selbstzweifel zu kalmieren und weltliche Esser seinerseits gesteht ethnischen Kolonien zu- tegration von Minderheiten in die Mehrheitsgesell- Ausgrenzungserfahrungen durch die Einbettung in mindest für die erste, anomiearme Anpassung von schaft gesetzesmäßig und mit Blick auf die verschie- eine parallele, transzendentale Ordnung erträglicher Migranten an ihre neue Umgebung eine nützliche denen Integrationsdimensionen gleichgerichtet er- zu machen. Insofern dürfte es kein Zufall sein, dass Rolle zu. Gegen die Neigung von Einwanderern, nach folge. Der Integrationsprozess, heißt das, endet religiöse Vereinigungen in „Parallelgesellschaften“ ihrer Ankunft die Nähe zu ihresgleichen zu suchen zwangsläufig mit der Assimilation, Fortschritte bei einen zentralen Platz einnehmen und in ihren Akti- und vertraute Nachbarschaften zu bevorzugen, hat der sozialstrukturellen und sozialkulturellen Inte- vitäten über den engen religiösen Bereich zumeist er zeitlich befristet durchaus nichts einzuwenden. gration – also die gleichberechtigte Teilhabe an Bil- weit hinausgehen. Verständlich dürfte dann auch Problematische Folgen zeitigt für ihn erst die Verste- dungs-, Berufs- und Erwerbschancen auf der einen, sein, warum selbst dezidiert kirchenferne Separat- tigung parallelgesellschaftlicher Strukturen und in- der Erwerb von Sprachkenntnissen sowie die Über- kulturen oftmals religiöse Züge aufweisen und sich nerethnischer Kontaktkreise. Diese Einschätzung nahme dominanter Denk- und Verhaltensmuster auf Ersatzreligionen schaffen, beispielsweise in Form ei- aber deckt sich mit dem Gesellschaftsbild der Chica- der anderen Seite – seien eng miteinander verknüpft. ner visionären Ideologie. Die Verbindung von „Paral- goer Sozialforscher, die der räumlichen Konzentra- Hier stellt sich bei aller Plausibilität dann jedoch die lelgesellschaft“ und Glauben ist also eher die Regel tion von Migranten ebenfalls nur temporär Vorzüge Frage, ob der dominante Fokus der Migrationsfor- als die Ausnahme und durch beider Beitrag zur Per- zusprechen. „Parallelgesellschaften“ verstehen sie schung auf die amerikanische Einwanderungsge- sönlichkeitsstabilisierung im Übrigen keinesfalls ge- als Auffanglager für Neuankömmlinge, als Brücken- sellschaft nicht vielleicht zu verzerrten Ergebnissen nerell integrationshemmend. köpfe zur neuen Heimat, deren Zweck erfüllt ist, führt – zu Ergebnissen jedenfalls, die für Deutsch- wenn ihre Mitglieder den transkulturellen Umbruch land nicht so ohne weiteres verallgemeinerbar sind. verdaut haben und sich eigenständig zurechtfinden Eine kurze Skizze der klassischen deutschen „Paral- ABGRENZUNG KANN SICH ZUR können. Dauerhafte Absonderung lehnen sie mit lelgesellschaften“, der polnischen Zuwandererge- „MOBILITÄTSFALLE“ ENTWICKELN dem bekannten Argument ab, die Integration in die meinschaft und der parteipolitischen Milieus, soll Mehrheitsgesellschaft werde dadurch erschwert. hierauf eine Antwort geben. Binnenintegration – bei „Parallelgesellschaften“ eben- Verwundern muss das nicht, entwickelten die Grün- so wie bei Religionen – setzt freilich die Abgrenzung derväter der Chicagoer Schule doch das sozialökolo- nach außen geradezu voraus. Vergemeinschaften- gische Modell auf der Grundlage ihrer Annahmen DIE ZUWANDERERGEMEINSCHAFT den Strukturen ist stets die Tendenz zur Abschottung über soziale Ungleichheit, wobei sie die residentielle DER „RUHRPOLEN“ inhärent. Es konnte daher nicht ausbleiben, dass Segregation als Abbild gesellschaftlicher Distanzen Kritik am sozialökologischen Ansatz der Chicagoer betrachteten und die Nivellierung sozialer Unter- Die polnischen Landarbeiter, die, beginnend mit den Schule aufkam und ihre Funktionsbestimmung von schiede als wünschenswert ansahen. Langfristig be- 1870er-Jahren, aus den preußischen Ostprovinzen

217 MATTHIAS MICUS / FRANZ WALTER

angeworben wurden, um in den Großzechen des DIE GEWALT ESKALIERTE ERNEUT IN DEN FRANZÖSISCHEN Ruhrbergbaus zu arbeiten, ähnelten in ihren Moti- VORSTÄDTEN: MANGELNDE TEILHABE- UND ERFOLGS- ven durchaus den Gastarbeitern ein knappes Jahr- CHANCEN, SICH DRAMATISCH VERSCHLECHTERNDE INTEG- hundert später. In den Westen gingen sie anfänglich RATIONSBEDINGUNGEN UND EINE NUR „PARTIELLE INTEG- als Arbeitskräfte, um Geld zu verdienen. Mit dem Er- RATION“ LASSEN IN JÜNGSTER ZEIT DIE EMPÖRUNG DER sparten wollten sie später Eigentum in ihrer Heimat DRITTEN EINWANDERERGENERATION WACHSEN. erwerben, in die sie nach einiger Zeit zurückzukeh- picture alliance / dpa ren beabsichtigten. Und auch die Reaktionen der Einheimischen waren miteinander vergleichbar. ner auf struktureller Ebene erfolgreicher – obschon Spätestens seit die Einwanderung in den 1890ern sie einer besonders intensiven polizeilichen Überwa- massenhafte Ausmaße annahm, wurden die Ostel- chung ausgesetzt waren und im Unterschied zu den bier an ihren Arbeitsplätzen mit Skepsis beäugt, als Masuren als „Reichsfeinde“ galten. Innerhalb der Lohndrücker verachtet und mit Schimpfworten wie Bergwerkshierarchie stiegen sie gleichwohl schnel- „Hergelaufene“ und „Pollacken“ belegt. Misstrauen ler und nachhaltiger auf, ihnen gelang auch der und Vorurteile kursierten, Angst vor Überfremdung Wechsel in einen anderen, prestigeträchtigeren In- machte sich breit, Besorgnisse ob der hohen Krimi- dustriezweig häufiger als den Masuren. Zwar blieb nalitätsrate der Zuwanderer beschlichen auch offi- auch für die ethnischen Polen die Zugehörigkeit zur zielle Stellen und in der Öffentlichkeit entstand das Unterschicht erst einmal bestimmend. Zu verwun- Stereotyp des grobschlächtigen, rauflustigen, ver- dern braucht das allerdings nicht, waren sie doch als schlagenen Polen.17 ungelernte Landarbeiter in ein industrialisiertes Ge- In dieser Situation wurden die Grundlagen der pol- biet migriert. Als „Mobilitätsfalle“ jedenfalls erwies nischen Eigenwelt gelegt. Die ersten polnischen Ver- sich die parallelgesellschaftliche Subintegration für eine bildeten sich und in den zecheneigenen Wohn- die Polen keineswegs. anlagen entstanden polnische Kolonien. Den Annah- Freilich lässt sich die Aussage, die Posener seien in- men der Sozialökologen entsprechend, fußte diese tegrierter als die Masuren gewesen, nicht umstands- Entwicklung zunächst ausschließlich auf Sicher- los auf alle Dimensionen der Integration verallge- heits- und Orientierungsbedürfnissen der Zuwan- meinern. Einerseits nahmen sie zwar neben einer dernden. Die Vereine erfüllten Auffangfunktionen in größeren sozialen Aufwärtsmobilität über ihre Or- einer gänzlich fremden Umgebung und dienten da- ganisationsanbindung auch an den öffentlichen An- zu, Bedürfnisse nach Entspannung, Kurzweil, Gesel- gelegenheiten einen stärkeren Anteil als jene. Über- ligkeit zu befriedigen. Die ethnisch homogene Kon- haupt zeichneten sie sich durch eine steigende poli- zentration in Zechenkolonien wiederum entwickelte tische Mobilisierungsbereitschaft und wachsende sich aus der Suche nach Vertrautem. Dabei war die Wahlbeteiligungen aus – allesamt Faktoren der Zu- räumliche Abschottung schon im ausgehenden 19. gehörigkeit zur Aufnahmegesellschaft. Im Hinblick Jahrhundert umstritten, sie wurde verdächtigt, „pol- auf andere Indikatoren dagegen, Mischehen und nische Enklaven auf deutschem Boden“ herauszubil- Namensänderungen zum Beispiel, wiesen die Masu- den. Auch mochten die homogenen Nachbarschaf- ren Vorteile auf. Auch das lässt sich aus der Einbin- ten das Erlernen der deutschen Sprache hemmen dung in eine „Parallelgesellschaft“ bei den Posenern und ethnische Rückzugstendenzen fördern. Insge- erklären, mit einer segregierteren Wohnweise und samt aber überwogen für beide Seiten – Polen wie intensiveren Bindungen an die eigenethnische Aufnahmegesellschaft – die Vorteile. Nicht bloß, dass Gruppe. Es zeigt sich hier aber vor allem, dass Inte- die Zechenwohnungen Möglichkeiten zu Gartenbau gration auf den unterschiedlichen Ebenen bisweilen und Viehhaltung boten, die Neuankömmlinge also durchaus ungleichzeitig, womöglich gar gegenläu- ihre vertraute Beschäftigung zumindest als Neben- fig, jedenfalls nicht zwangsläufig parallel verläuft. erwerb fortsetzen konnten. Die Wohnsituation ver- minderte vielmehr die Anpassungsprobleme an die industriellen Arbeitsbedingungen, den Hauptgrund DIE SÄULEN DER POLNISCHEN für die hohe Zahl von Arbeitsplatzwechseln gerade „PARALLELGESELLSCHAFT“ bei den Osteinwanderern, förderte dadurch die Sess- haftigkeit und biographische Kontinuität. Die segre- Die verbreitete Annahme einer eher schädlichen gierten Zechenkolonien erleichterten die Gewöh- Wirkung parallelgesellschaftlicher Separation auf weite Teile der polnischen Zuwanderer ansprach, die nung der Arbeiter an ihre neue Umgebung, verein- den sozialen Zusammenhalt schließlich wurde auch von den etablierten Verbänden nicht erreicht wur- fachten analog dazu ihre Integration und wirkten, da im Hinblick auf die Polenwanderung vertreten. Da- den, sei es, weil polnische Interessen in den deut- Entwurzelung radikalisiert, Stetigkeit aber mit Bin- bei lässt sich am Beispiel der polnischen Bergarbei- schen Gewerkschaftsorganisationen bewusst über- dungen, Sicherheiten und Sozialkontakten einher- tergewerkschaft „Zjednoczenie Zawodowe Polskie“ gangen wurden oder schlicht die notwendigen geht, auch politisch mäßigend.18 (ZZP) exemplarisch zeigen, dass „Parallelgesellschaf- Kenntnisse über die spezifischen Lebens- und Ar- Freilich reichte der Nutzen sozialräumlicher Verdich- ten“ nicht nur insofern eine integrative Funktion beitsbedingungen der Zuwanderer fehlten. Indem tung für die Polen noch ein ganzes Stück weiter – ausüben können, als sie die basale Grundlage, das ZZP diese Arbeitergruppen aufklärte, organisier- weiter auch als in der Migrationssoziologie gemein- gleichermaßen den Startpunkt eines assimilatori- te und für gemeinsame Protestkundgebungen mit hin angenommen. Das lässt sich durch einen Ver- schen Prozesses bilden. Wobei ihre Rolle dieser In- den deutschen Bergarbeitergewerkschaften mobili- gleich der verschiedenen Einwanderergruppen aus terpretation zufolge darin besteht, die Migranten sierte, dadurch dass es Stimmungen kanalisierte und den Ostprovinzen, namentlich der Gegenüberstel- aus ihrer kulturellen Schockstarre zu lösen und auf- Unmut in organisierte Aktionen lenkte, reduzierte es lung von Masuren und „ethnischen“ Polen aus der nahmefähig für Veränderungen zu machen, wäh- die Möglichkeiten der Bergwerksdirektoren, Polen Provinz Posen, veranschaulichen. Ein autonomes Or- rend die eigentliche soziale Integration dann aber und Deutsche gegeneinander auszuspielen. Auf die- ganisationsnetz knüpften nur die Posener Polen, jenseits ihrer Strukturen im Rahmen der Mehrheits- se Weise entzog es unbeholfenen und ziellosen „wil- während die Masuren historisch eine politisch-kon- gesellschaft stattfindet. Oberflächlich betrachtet den“ Streiks polnischer Bergleute die Grundlage und fessionelle Sonderentwicklung durchlaufen hatten, förderte nun das 1902 gegründete ZZP tatsächlich stärkte die gesamte Bergarbeiterbewegung. Inter- der dominanten Kultur im Aufnahmeland aufgrund die Zersplitterung der Gewerkschaftsbewegung, ethnische Einigkeit herzustellen erforderte in der ihrer evangelischen Konfession und der monar- richtete es sich doch auch an diejenigen polnischen Gewerkschaftsarbeit nicht die vorherige Auflösung chisch-preußischen Gesinnung vergleichsweise na- Arbeiter, die bereits in einer sozialdemokratischen, der parallelgesellschaftlichen Eigenorganisationen he standen und sich direkt in die mehrheitsgesell- katholischen oder liberalen Bergarbeitergewerk- beziehungsweise die Distanzierung der Beteiligten schaftlichen Netzwerke zu integrieren suchten. Den- schaft organisiert waren. In Wirklichkeit aber trug es von ihr, sondern entstand gerade aufgrund der Exis- noch waren die Integrationsbemühungen der Pose- zur Stärkung der Einheit der Bergarbeiter bei, da es tenz des ZZP, ihrer Gründung und ihres Wirkens.

218 Mangelt es an „Parallelgesellschaften“?

beitern ohne klare politische Vorstellungen natio- nung und fundamentalistischer Absonderung ent- nalbewusste Polen wurden, die im ruhrpolnischen standene Organisationswesen, durch das sie a la lon- Organisationssystem ein Instrument zur Erhaltung gue mit der Mehrheitsgesellschaft versöhnt wurden, nationaler Identität sahen und sich dezidiert von der das sie an den bestehenden Staat heranführte und Aufnahmegesellschaft abgrenzten. Religiöse Verei- ihnen demokratische Werte vermittelte. Indem die ne nahmen zunehmend politische Züge an, Turnver- sozialdemokratischen und katholischen „Parallelge- eine setzten sich die Erhöhung nationaler Kampf- sellschaften“ ihren Mitgliedern soziale Aufstiegs- kraft zum Ziel und die Gesangsvereine intonierten möglichkeiten boten, sie sukzessive entmarginali- jetzt statt religiöser Choräle vornehmlich polnische sierte, ihnen Selbstvertrauen und Machtbewusst- Folklore. „Erst die mit der Masseneinwanderung (in sein vermittelte, wurde die Integration der einstigen den 1890er Jahren) ursächlich zusammenhängende Parias in die Gesellschaft vorangetrieben, ja mut- verstärkte Diskriminierung in der Öffentlichkeit und maßlich überhaupt erst möglich gemacht. die Verschärfung staatlicher Unterdrückungsmaß- nahmen“, schlussfolgert Christoph Kleßmann, „schufen aus einer Vielzahl zusammenhangloser, TEILHABECHANCEN UND verstreuter Immigrantengruppen eine sich ihrer INTEGRATIONSWILLIGKEIT Stellung und Herkunft bewusste Minderheit.“19 Doch indem sich der fundamentalistische Impetus in in- Bloß, wie kommt es dann, dass gegenwärtig die In- tensiviertes Organisationsengagement umsetzte, tegrationskraft der westlichen Demokratien durch verstärkte paradoxer Weise gerade die politische und Zuwanderung überfordert zu werden droht? Warum soziale Bewusstwerdung ethnisch-kultureller Diffe- erscheinen gerade räumliche Konzentrationen von renzen die Bindungen der Polen an die neue Heimat Bevölkerungsteilen mit Migrationshintergrund als und beschleunigte ihre Integration. Im Unterschied Problem, warum auch geht von fundamentalisti- zu den Prämissen der Sozialökologen machte inso- schen Einstellungen aktuell eine solche Gefahr aus? fern nicht zuletzt die organisationsproduktive Kraft Wieso, ganz konkret, rebellieren in den französi- von schroffen Konflikten und rigider wechselseitiger schen Vororten Jugendliche maghrebinischer Ab- Abgrenzung die Eingliederung der Ruhrpolen in das stammung und neigen russlanddeutsche Aussiedler deutsche Gemeinwesen zu einer Erfolgsgeschichte. in Deutschland auffallend häufig zu abweichendem Verhalten? Und schließlich: Weshalb breiten sich Unzufriedenheit, Frust und Gewaltbereitschaft ins- VERHÄRTETE FRONTEN FÜHREN ZU besondere in der dritten Generation der Einwande- SOLIDARGEMEINSCHAFTEN rer aus, die hier geboren und in die Schule gegangen sind, welche die deutsche Sprache sprechen und – Gleiches gilt im Übrigen für die innergesellschaftli- außer vielleicht vom Hörensagen – keine Kenntnis- chen Parallelwelten der katholischen und sozialisti- se über ihr Herkunftsland besitzen, geschweige schen Bevölkerungsteile. Auch ihre subkulturellen denn, dass sie irgendwelche Kontakte in die Heimat Separatstrukturen nährten sich aus kämpferischen ihrer Vorfahren pflegten? Auseinandersetzungen, auch ihre „Parallelgesell- Eine Antwort könnte in der Differenzierung von so- schaften“ konstituierten sich in einer Phase polari- zialräumlicher Segregation nach ihrem ursächli- sierter Agitation auf der einen, nachdrücklicher chen Zustandekommen und der Unterscheidung Selbstabschottung auf der anderen Seite. Die Katho- von gesellschaftlichen Angeboten und subjektiven liken formierten sich zum Milieu, als einerseits die Leistungen als Voraussetzung gelingender Integra- konservativ-liberalen Eliten ihre Attacken gegen die tion gefunden werden. Soziale Integration ist ein katholische Kirche verschärften und ihre Existenzbe- zweiseitiger Prozess, sie hängt von der strukturellen rechtigung durch anti-jesuitische Kampagnen und Offenheit der Aufnahmegesellschaft ebenso ab wie den Feldzug gegen die konfessionelle Schulaufsicht von den individuellen Anstrengungen der Zuge- im ohnehin protestantisch imprägnierten Kaiser- wanderten. Von den Migranten kann erwartet wer- reich in Zweifel zogen. Sie schufen ihr ausgedehntes den, die neue Sprache zu erlernen, sie müssen sich Vereinsnetz, als sich andererseits die päpstliche Kri- auf die mehrheitsgesellschaftlichen Spielregeln tik an den bürgerlichen Freiheiten dogmatisierte und einlassen, Werte, Normen und dominante Verhal- Die Bildung einer polnischen Gewerkschaftsorgani- der papstgläubige, ultramontane Katholizismus zum tensmuster internalisieren. Die Gesellschaft ihrer- sation fiel dabei nicht zufällig in eine Zeit, die durch unversöhnlichen Gegner von Aufklärung, Toleranz seits muss strukturelle Teilhabechancen eröffnen Konflikte zwischen Deutschen und Polen in den und Liberalismus, kurz: der Moderne wurde. und Integrationswilligen Angebote unterbreiten. preußischen „Ostmarken“ geprägt war und die Ver- Der sozialdemokratische Organisationspatriotismus Migranten dürfen nicht systematisch vom Arbeits- giftung des Klimas auch im Ruhrgebiet infolge die- entfaltete sich ebenfalls in einer Zeit verhärteter markt ferngehalten oder aus bestimmten Berufspo- ser Konflikte sowie zunehmende Spannungen zwi- Frontstellungen. Auch ihre eigenweltliche Formie- sitionen ausgeschlossen werden, im Bildungssys- schen Einheimischen und Ruhrpolen sah. In zwei De- rung spielte sich vor dem Hintergrund des Wandels tem muss unabhängig von sozialem Status und kaden entstanden um die Jahrhundertwende herum der SPD von einer rückwärtsgewandten, stände- ethnischer Zugehörigkeit Chancengleichheit herr- die Säulen der polnischen „Parallelgesellschaft“, be- staatlichen Gerechtigkeitsvorstellungen anhängen- schen und auch der Wohnungsmarkt muss prinzi- ginnend 1890 mit der Herausgabe der ersten polni- den, letztlich konservativen Interessenvertretung von piell offen sein. schen Zeitung, dem „Wiarus Polski“. Später wurden Arbeitergesellen und Heimgewerbetreibenden zu ei- Die strukturelle Integration der Migranten in die dann fast zeitgleich das ZZP sowie eine polnische ner marxistisch inspirierten, systemüberwindenden, Aufnahmegesellschaft ist deshalb besonders wich- Volksbank gegründet und 1913 schließlich alle be- zumindest theoretisch und verbal revolutionären tig, weil sie das Fundament aller anderen Integra- stehenden polnischen Vereine unter einer Dachor- Partei des Industrieproletariates ab. Die Grundlagen tionsdimensionen bildet. Die Integrationsprozesse ganisation zusammengefasst. Zu diesem Zeitpunkt der sozialdemokratischen Solidargemeinschaft la- können stocken, die Einbindung in die Aufnahmege- gab es im Ruhrgebiet 875 polnische Vereine mit gen in den so weit reichenden wie dauerhaften Aus- sellschaft kann unvollständig bleiben, schon gar mehr als 80.000 Mitgliedern. Ohne fundamentalisti- grenzungen von Sozialdemokraten aus den mehr- nicht muss die Gewöhnung von Zuwanderern an die sche Energien wäre diese Verdichtung der polni- heitsgesellschaftlichen Institutionen, wurzelnd in neue Umgebung zwangsläufig mit ihrer Assimila- schen Subkultur nicht denkbar gewesen. Die polari- den Jahren des Sozialistengesetzes, als die SPD ver- tion enden. Aber ohne die strukturelle Integration in sierte Frontstellung zwischen Einheimischen und boten war und ihre Anhänger verfolgt wurden. den Wohnungs-, Arbeits- und Ausbildungsmarkt Zugewanderten leitete auf polnischer Seite einen Es war insofern bei den Katholiken und Sozialdemo- lassen sich interethnische Kontakte schwerer knüp- Prozess ein, der als „sekundäre Minderheitsbildung“ kraten nicht anders als bei den Ruhrpolen eben die- fen, verzögert sich das Erlernen der Amtssprache, bezeichnet wird und in dessen Verlauf aus Landar- ses aus Unversöhnlichkeiten, wechselseitiger Ableh- verringert sich die Wahrscheinlichkeit, dass sich die

219 MATTHIAS MICUS / FRANZ WALTER

Migranten auf die Kultur der Aufnahmegesellschaft tionsbedingungen an sich finden. Explosiv wird der FEHLEN KOLLEKTIVE STRUKTUREN, einlassen und mit ihrer neuen Heimat identifizieren. Ausschluss der Migrantenkinder aus den verschie- DROHT WURZELLOSIGKEIT Nur dann auch, wenn den Zugewanderten diese An- denen gesellschaftlichen Teilhabeformen erst durch gebote gemacht werden, kann Segregation freiwil- den Widerspruch zwischen sozialer sowie ökonomi- Doch kann zweifellos nicht nur die Aufnahmegesell- lig, als freie Entscheidung der Migranten, erfolgen, scher Diskriminierung auf der einen und kulturell- schaft die Integration von Migranten fördern oder ansonsten wird sie durch Diskriminierung, Benach- normativer Assimilation auf der anderen Seite. Es ist blockieren. Die Zuwanderer selbst können ebenfalls teiligung, Ausschluss erzwungen. gerade diese „partielle Integration“, aus der sich die mehr oder weniger integrationsgewillt sein und tra- Empörung speist. gen insofern selbst zum Erfolg oder Misslingen des Das lässt sich am Beispiel der Vorstadtkrawalle in Eingliederungsprozesses bei. Betrachtet man nun VERSCHLECHTERUNG DER Frankreich exemplarisch zeigen. Die rebellierenden aber ihre aktuelle Situation, blickt man auf die Be- INTEGRATIONSBEDINGUNGEN Vorstadtjugendlichen rechneten sich, wiewohl zu- dingungen subjektiver Integrationsbereitschaft und meist Kinder von Immigranten, keiner kulturellen inspiziert sie auf der Folie der historischen Beispiele Gerade dafür aber, dass die gesellschaftlichen Teil- Minderheit zu, sie waren vielmehr kulturell ange- für eine gelungene Integration, dann fällt nicht ein märkte Migranten immer weniger offen stehen und passt, hatten die republikanischen Werte verinner- Übermaß, sondern das Fehlen parallelgesellschaftli- sie zunehmend gegen ihren Willen ausgegrenzt wer- licht, insbesondere die prinzipielle Gleichheit jedes cher Strukturen auf. Auch in diesem Punkt bieten die den, sprechen die Entwicklungen seit den 1980er- französischen Staatsbürgers, und teilten auch die Pariser Vorstadtbezirke wieder nur ein besonders Jahren. Räumlich wurden sie aus den kleinräumigen, Konsumwünsche des durchschnittlichen französi- drastisches, gleichwohl aber verallgemeinerbares verwinkelten Zentren mit vielfältigen Nutzungs- schen Jugendlichen. Doch gerade die kulturelle und Beispiel. In dem so genannten „Roten Gürtel“ ballte möglichkeiten in die großflächig angelegten und mentale Integration der Vorstadtjugend in das fran- sich früher die französische Arbeiterschaft, politisch nicht selten als Schlafstädte konzipierten, dadurch zösische Staatswesen, letztlich erst ihr Wunsch da- dominierte hier traditionell die Kommunistische zumeist monofunktionalen Hochhaussiedlungen am zuzugehören, ließ sie die Zurückweisung durch die Partei. Kennzeichnend für die heutigen Problem- Stadtrand abgedrängt. Zwar bedeuteten die neuen Mehrheitsgesellschaft mit unverminderter Härte quartiere war seinerzeit ein sozial-kulturelles Gefü- Wohnungen an sich gegenüber den altstädtischen spüren und machte ihr die faktisch bestehende Dis- ge aus einer mehrheitlichen Beschäftigung der Behausungen zunächst einmal keine Verschlechte- kriminierung umso schmerzlicher bewusst. Just der Männer in der Industrie, einer dominanten Kultur rung. Der Nachteil dieser Großwohnanlagen bestand Widerspruch zwischen einer Gesellschaft, die sich in der Arbeit und vor allem einem festen Klassenbe- aber in ihrer Anonymität und Monostruktur, die bei Sonntagsreden und öffentlichen Bekenntnissen wusstsein. Dieses Klassenbewusstsein als Kern des den Bewohnern zu Isolierung und Vereinsamung stets und zuerst demokratischen Modellen ver- Selbstverständnisses der Vorstadtbewohner lieferte führte, den Schwund von Sozialkompetenz zur Folge pflichtet weiß, und der tatsächlichen sozialen Aus- eine suggestive Deutung der gesellschaftlichen hatte und sie ihrer Möglichkeiten zur Selbsthilfe be- grenzung, die im Rassismus, in Arbeitslosigkeit und Schichtung sowie der eigenen sozialen Stellung; in raubte, indem sich eigenethnische Infrastrukturen in schulischer Benachteiligung zum Ausdruck kommt, ihm artikulierte sich der Stolz der Arbeiter als Produ- diesem Umfeld nicht ausbilden konnten. mobilisierte die randalierenden Jugendlichen.21 zenten des gesellschaftlichen Reichtums; vor allem Auch in den integrationssensiblen Bereichen Arbeit Im Ausmaß geringer, von der Tendenz her aber ähn- aber erzeugte es Gefühle der wechselseitigen Soli- und Ausbildung hat sich die Distanz zwischen Zu- lich zeigt sich diese Schärfung des Ausgrenzungsbe- darität und schuf so die Voraussetzung für organi- wanderern und Einheimischen verbreitert und die wusstseins und Ungerechtigkeitsempfinden in siertes, kollektives Handeln. Als Grundlage und Diskriminierung verstärkt. Dabei waren gerade Aus- Deutschland bei den Aussiedlern, die wie die Nach- Handlungsbegründung unterlag das Klassenbe- bildung und Arbeit in der Vergangenheit zentrale In- fahren der nordafrikanischen Einwanderer in Frank- wusstsein auch dem dichten Netz politisch-gewerk- tegrationsmotoren, bei den Ruhrpolen nicht anders reich rechtlich den Einheimischen gleichgestellt schaftlicher Organisationen, das die Banlieues um- als im Falle der heterogenen Einwandererströme in sind, deren Hoffnungen am Arbeitsmarkt aber sys- spannte und die Anbindung ihrer Bewohner an die die USA. Durch eine Ausbildung können auch tematisch enttäuscht wurden. Gleichermaßen auch Mehrheitsgesellschaft sicherstellte. schlechte Schüler wieder Selbstvertrauen und Zu- verschärft die „partielle Integration“ bei den Türken Die klassischen Organisationsnetze und Kollektiv- kunftshoffnung schöpfen, und derweil Ausländer in der dritten Generation das Leiden an ihrem Schick- verbände der Arbeiterbewegung sind jedoch längst Deutschland sich politisch nicht beteiligen und an sal, da sie zwar tendenziell integrierter sind als ihre verschwunden. Erst verschwand die Arbeit, später Wahlen nicht teilnehmen durften, bestanden auf der Eltern, aufgrund wesentlich höherer Ansprüche die folgten die Arbeiter. Die Leistungen, die nicht zuletzt Betriebsebene sehr wohl Partizipationsgelegenhei- gesellschaftliche Behandlung subjektiv aber als eher von den Gewerkschaften früher bei der Integration ten. Hier durften sie den Betriebsrat mitwählen, Be- noch diskriminierender wahrnehmen. Das Gefühl, auch der Einwanderer erbracht wurden, überfordern triebsräte sogar selbst auch werden; hier lernten sie von Benachteiligung betroffen zu sein, jedenfalls sie heute. Der Niedergang der traditionellen Groß- demokratische Verfahrensweisen und die Regeln der nimmt seit einigen Jahren sogar noch zu. kollektive hat der Vorstadtbevölkerung ihre Zu- betrieblichen Mitbestimmung kennen. Nicht zufällig Von gesellschaftlicher Seite behindert vor dem Hin- kunftsgewissheit genommen, er hat sie ihres Selbst- schließlich bahnen sich Mischehen zumeist am Ar- tergrund gestiegener Partizipationserwartungen wertgefühles beraubt und sie gleichsam ort- und beitsplatz an – wird doch bei der Arbeit nicht nur Lohn folglich insbesondere der ökonomische Ausschluss wurzellos zurückgelassen. Der Zorn ist geblieben, verdient, sondern oftmals auch die Grundlage inter- die Integration von Zuwanderern. Die französischen Ausgrenzungsprozesse haben sich eher noch ver- ethnischer Kontakte gelegt. Doch gerade in diesen Aufstände beispielsweise waren wesentlich mate- schärft, aber die Unzufriedenheit aus den Banlieues Bereichen verschlechterte sich in der Vergangenheit riell motiviert, kaum aber – wie zumeist unterstellt – artikuliert sich nicht mehr vernehmlich und struktu- die Situation der Zuwanderer zusehends. Seit den ethnisch, religiös oder weltanschaulich. Auslöser riert. Was früher die Organisationen der Arbeiterbe- 1970er-Jahren sind sie von Entlassungswellen stets waren die verschärften sozialen Probleme in den wegung bündelten, kanalisierten und in den politi- am stärksten betroffen gewesen, ihr Anteil an den Banlieues, die hohe Arbeitslosigkeit, verbreitete Ar- schen Prozess einspeisten, das entlädt sich heute Beschäftigten sank in der Vergangenheit daher trotz mut, allgegenwärtige Perspektivlosigkeit. Die Ursa- eruptiv und ungehemmt, ohne Koordination und steigender Migrantenzahlen, und auch unter den che der Krawalle lag in der Diskriminierung durch die Disziplin in blinder Zerstörungswut. Von „Auflö- Lehrlingen schrumpfte der Prozentsatz der Migran- Mehrheitsgesellschaft, der vertieften Kluft zwischen sungserscheinungen“ sprach zuletzt der französi- tenkinder von acht auf 4,4 Prozent drastisch.20 großen Teilen der Migranten und dem Rest der Ge- sche Soziologe Jean-Pierre Le Goff.22 sellschaft sowie der zunehmenden Kumulation so- Ethnische Organisationen jedenfalls sind nicht an zialer Probleme in den segregierten Quartieren, wes- die Stelle der Arbeiterassoziationen getreten, insbe- EMPÖRUNG SPEIST SICH AUS halb sich die Wut der Randalierer auch vorzugswei- sondere türkische Zusammenschlüsse konnten die „PARTIELLER INTEGRATION“ se an Symbolen staatlicher Präsenz und Prestigeob- entstandene Lücke nirgendwo schließen. Dieser jekten der Mittelschichtkultur – Schulen, öffentliche Sachverhalt mag zum Teil auf kulturelle Prägungen Die Verschlechterung der strukturellen Integrations- Gebäude, Bibliotheken, Kindergärten einerseits, Au- zurückzuführen sein, auf eine bei großen Teilen der bedingungen erklärt nun freilich noch nicht, warum tos andererseits – abreagierte. Durch die Vermitt- Türken verinnerlichte Skepsis gegenüber Selbstor- gerade die Angehörigen der dritten Einwandererge- lung von Sprachkenntnissen und die Zuerkennung ganisationen und eine bereitwillige Hinnahme zen- neration besonders anfällig für fundamentalisti- der Staatsangehörigkeit, in Deutschland als zentra- traler Vorgaben, d.h. eine ausgeprägte Autoritäts- sches Gedankengut sind, weshalb sie vor allem ihre le Integrationsfaktoren angesehen, jedenfalls hätten gläubigkeit. Wiederum bezogen auf die Türken in Lage als unerträglich empfinden. Seine Begründung sich die Ausschreitungen nicht besänftigen lassen – Deutschland hat er aber auch damit zu tun, dass es dürfte dieser Sachverhalt weniger in den schlechten beides besitzen die maghrebinischen Vorstadtju- bei den Muslimen keinen allgemein akzeptierten An- oder gar verschlechterten strukturellen Integra- gendlichen längst. sprechpartner für den deutschen Staat gibt, also

220 Mangelt es an „Parallelgesellschaften“? nicht einmal eine zentrale Interessenvertretung in Hoffnungen nicht mehr verbindet und von der Rest- Schwierigkeiten erwachsen aktuell vielmehr gerade den für Türken so wichtigen Religionsfragen exis- gesellschaft durch eine tiefe lebensweltliche Kluft aus dem Mangel an parallelgesellschaftlichen Struk- tiert. Eine schlagkräftige bundesweite Pressure- getrennt ist. Diese Restgesellschaft wird von den turen, aus der gesellschaftlichen Ausgrenzung der Group, eine unumstrittene, die Gesamtheit der tür- Unterschichten bloß noch als bevormundend und Unterschicht einerseits und ihrem Mangel an kultu- kischen Migranten repräsentierende Interessenver- entmündigend wahrgenommen, auch soziale Hilfs- reller Identität andererseits. Das aber verbindet ei- tretung, die ihre Anliegen mit Nachdruck in die Öf- dienste empfinden die Betroffenen nur als zusätzli- nen Großteil der Migranten mit deutschen Arbeits- fentlichkeit einspeisen und eine parlamentarische ches Moment ihrer Demütigung und Gängelung. In losen und Sozialleistungsbeziehern. Repräsentation sicherstellen würde, gibt es nicht. den segregierten Unterschichtsquartieren breitet Die Vorbeter der allermeisten Moscheen, die Imame, sich folgerichtig eine „Kultur der Armut“ aus, die ein- die unter den türkischen Gläubigen über eine hohe seitig konsumorientiert ist, Tugenden wie Fleiß, Autorität verfügen und als bevorzugte Ansprech- Pünktlichkeit und Ordnung dagegen kaum noch Be- ANMERKUNGEN partner fungieren, werden zudem in der Türkei aus- deutung beimisst. Eigene, subjektive Identitäten 1 Vgl. Bittner, Jochen: Zeitzünder im Kopf. In: Die Zeit, gebildet und kommen in der Regel erst spät nach auszubilden sind die Zurückgelassenen zunehmend 24.8.2006. Deutschland. Sie sind damit in dieser Gesellschaft unfähig, Vorstellungen eines positiven Selbst, wie 2 Vgl. Alpheis, Hannes: Erschwert die ethnische Konzen- 23 tration die Eingliederung? In: Esser, Hartmut/Friedrichs, selbst fremd, sprechen oft nicht einmal die deutsche Didier Lapeyronnie es nennt, besitzen sie nicht. Aus Jürgen (Hrsg.): Generation und Identität. Theoretische Sprache, können ihre Gemeinde darum nur schwer- Mangel an Alternativen übernehmen sie vielmehr und empirische Beiträge zur Migrationssoziologie. Opla- lich nach außen vertreten und ihren Rat suchenden die Negatividentifikationen aus den Reihen der den 1990, S. 147–184, hier: S. 149f. 3 Häußermann, Hartmut: Zuwanderung und die Zukunft Glaubensbrüdern bei Problemen keine sinnvollen Mehrheitsgesellschaft, messen sie sich an den Maß- der Stadt. In: Heitmeyer, Wilhelm u.a. (Hrsg.): Krise der Hilfestellungen geben. Die religiösen Gemeinschaf- stäben der sozial Arrivierten, wodurch ihr Leben als Städte. Frankfurt a. M. 1998, S. 145–175, hier: S. 147. ten erreichen daher mit ihren zumeist mäßigenden vollständiges Scheitern erscheint. Ein Aufstieg aus 4 Vgl. Meyer, Thomas: Parallelgesellschaft und Demo- kratie. In: ders./Weill, Reinhard (Hrsg.): Die Bürgergesell- Appellen insbesondere die Jugendlichen zuneh- den Armutsquartieren ist aufgrund dessen unwahr- schaft. Perspektiven für Bürgerbeteiligung und Bürger- mend schwerer und zeigen sich machtlos gegenüber scheinlich, die Möglichkeit, aufstiegswichtige kommunikation. Bonn 2002, S. 343–372. der individuellen Konstruktion des eigenen Glaubens Ressourcen zu akkumulieren, durch den Zwang zu 5 Heckmann, Friedrich: Ethnische Minderheiten, Volk und Nation. Soziologie inter-ethnischer Beziehungen. vermittels zweifelhafter Versatzstücke aus Internet- sozialer Uniformität noch zusätzlich eingeschränkt. Stuttgart 1992, S. 97. Seiten, arabischen Satellitensendern und den Lehren Gegenwärtig zeichnet sich die Situation der Migran- 6 Vgl. für die folgenden Angaben: Bremer, Peter/Ge- windiger Wanderprediger, deren Ergebnis dann oft- ten durch ein kulturelles Vakuum, das Fehlen sozia- string, Norbert: Migranten – ausgegrenzt? In: Häußer- mann, Hartmut u.a. (Hrsg.): An den Rändern der Städte. mals ein aggressiv anti-westlicher Islamismus ist. ler Maßstäbe, aktivierender Einbindungen und inter- Frankfurt a.M. 2004, S. 258–285. mediärer Strukturen sowie einen Mangel an politi- 7 Vgl. Friedrichs, Jürgen: Vor neuen ethnisch-kulturellen scher Repräsentation aus. Nicht zuletzt das Fehlen Konflikten? Neuere Befunde der Stadtsoziologie zum Verhältnis von Einheimischen und Zugewanderten in DIE NEUE „KULTUR DER ARMUT“ organisationsgestützter Vergemeinschaftung lässt Deutschland. In: Heitmeyer, Wilhelm u.a. (Hrsg.): Krise der die periodisch aufflackernden Proteste so ziellos und Städte. Frankfurt a.M. 1998, S. 233-265, hier: S. 248ff. Der Verlust organisatorischer Einbindungen ebenso unkontrolliert, dadurch aber auch so Furcht einflö- 8 Vgl. Fuhse, Jan: Religion in der Migration. Ein Blick auf das Einwanderungsland Deutschland. In: Vorgänge, wie sozialer Kompetenzen wird noch beschleunigt ßend sein. „Parallelgesellschaften“ vermittelten da- 1/2006, S. 54–62, hier: S. 59f. durch den Auszug der Mittelschichten aus den einst- gegen – wie wir am Beispiel der Ruhrpolen und der 9 Vgl. hierzu und im Folgenden Halm Dirk/Sauer, Mar- maligen Arbeiterquartieren. In den letzten Jahren deutschen Parteimilieus gesehen haben – Sinn, tina: Parallelgesellschaft und ethnische Schichtung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 1–2/2006, S. 18–24. haben sich die unteren und mittleren Lagen zuneh- Identität und Selbstbewusstsein. Sie kanalisierten 10 Vgl. Janßen, Andrea/Polat, Ayca: Soziale Netzwerke mend voneinander abgekoppelt. Spätestens wenn Frustrationen, verschafften den Forderungen ihrer türkischer Migrantinnen und Migranten. In: Aus Politik ihre Kinder ins schulpflichtige Alter kommen, ziehen Anhänger Gehör und boten alternative Bildungs- und Zeitgeschichte, 1–2/2006, S. 11–17, hier: S. 15. 11 Vgl. Fijalkowski, Jürgen/Gillmeister, Helmut: Auslän- diejenigen, die es sich leisten können, aus den Pro- und Aufstiegswege zu den verschlossenen Mehr- dervereine – ein Forschungsbericht. Über die Funktion blemvierteln weg. Mit den Angehörigen der sozialen heitsinstitutionen. Über ihre vielfache Anbindung an von Eigenorganisationen für die Integration heterogener Mitte geht nun aber die vormalige Trägerschicht des die etablierten Regelwerke und Verfahrenswege, Zuwanderer in eine Aufnahmegesellschaft am Beispiel Berlin. Berlin 1997, S. 225ff. Organisationswesens verloren, diejenigen, die zuvor auch über ökonomische Austauschprozesse und die 12 Vgl. Treibel, Annette: Migranten in modernen Gesell- durch ihr Engagement die Vereine geprägt haben, die Unmöglichkeit, wechselseitige Kontakte gänzlich zu schaften. Soziale Folgen von Einwanderung, Gastarbeit Sinn zu stiften und den Zusammenschlüssen da- vermeiden, protegierten sie letztlich die Integration und Flucht. Weinheim 1999. 13 Vgl. Heckmann, Friedrich: Die Bundesrepublik: Ein durch eine auch politische Bedeutung zu geben ver- von Minderheiten in die Gesamtgesellschaft. Für Einwanderungsland? Zur Soziologie der Gastarbeiterbe- mochten und als Kommunikatoren gesprächsfähig diese Rolle jedoch, die sie bei der Heranführung be- völkerung als Einwandererminorität. Stuttgart 1981. in Richtung der Mehrheitsgesellschaft waren. Zu- nachteiligter, orientierungsloser, Hilfe suchender 14 Vgl. Elwert, Georg: Probleme der Ausländerintegra- tion. Gesellschaftliche Integration durch Binnenintegra- rückgelassen wird eine sozial homogene Unter- Bevölkerungsteile an die Mehrheitsgesellschaft tion. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsy- schicht ohne Selbstbewusstsein, erst recht die nöti- spielten, gibt es momentan keinen Ersatz. Das Pro- chologie, 4/1982, S. 696–716. ge Sozialkompetenz, ja selbst Zusammengehörig- blem in Deutschland sind daher nicht etwa verfes- 15 Vgl. Esser, Hartmut: Aspekte der Wanderungssoziolo- gie. Assimilation und Integration von Wanderern, ethni- keitsgefühl. Übrig bleibt ein neues Unten, das sich tigte „Parallelgesellschaften“, in denen Minderhei- schen Gruppen und Minderheiten. Darmstadt 1980. dauerhaft ausgeschlossen wähnt, mit der Zukunft ten eine fremdartige Kultur pflegen würden. 16 Vgl. Dangschat, Jens: Sag´ mir wo Du wohnst, und ich sag´ Dir, wer Du bist. Zum aktuellen Stand der deutschen Segregationsforschung. In: Prokla, 4/1997, S. 619–647. 17 Vgl. Kleßmann, Christoph: Integration und Subkultur nationaler Minderheiten: das Beispiel der „Ruhrpolen“ 1870–1939. In: Bade, Klaus J. (Hrsg.): Auswanderer – UNSERE AUTOREN Wanderarbeiter – Gastarbeiter. Bevölkerung, Arbeitsmarkt und Wanderung in Deutschland seit der Mitte des 19. Prof. Dr. Franz Wal- Matthias Micus Jahrhunderts. Ostfildern 1984, S. 486–505, hier: S. 502. 18 Vgl. Kleßmann, Christoph: Polnische Bergarbeiter im ter ist Professor für ist Mitarbeiter Ruhrgebiet: Soziale Lage und gewerkschaftliche Organi- Politikwissenschaft von Franz Walter sation. In: Mommsen, Hans/Borsdorf, Ulrich (Hrsg.): an der Universität an der AG Par- Glück auf, Kameraden! Die Bergarbeiter und ihre Organi- sationen in Deutschland. Köln 1979, S. 109–130. Göttingen. Zum The- teienforschung 19 Kleßmann, Christoph: Polnische Bergarbeiter im Ruhr- ma „Parallelgesell- der Universität gebiet 1870–1945. Soziale Integration und nationale schaften, Integra- Göttingen. Subkultur einer Minderheit in der deutschen Industriege- sellschaft. Göttingen 1978, S.188. tion und Desintegra- 2005 erschien von 20 Vgl. Tenbrock, Christian: Kollege Immigrant. In: Die tion in sozial, eth- ihm „Die Enkel Zeit, 28.09.2006. nisch und religiös Willy Brandts. 21 Vgl. Dubet, Francois: Die Logik der Jugendgewalt. Das Beispiel der französischen Vorstädte. In: Trotha, Trutz von gespaltenen Gesell- Aufstieg und (Hrsg.): Soziologie der Gewalt. Opladen 1997, S. 220– schaften“ sind in Politikstil einer 234, hier: S. 226. Göttingen Planungen für ein größeres For- SPD-Generation“ im Campus-Verlag. 22 Zit. in Wiegel, Michaela: Kein Lumpenpack. In: Frank- schungsprojekt in Vorbereitung. Bei Kiepen- furter Allgemeine Zeitung, 12.10.2006. 23 Vgl. Lapeyronnie, Didier: Die Ordnung des Formlosen. heuer & Witsch ist von Franz Walter zuletzt In: Mittelweg 36, 3/2001, S. 79–92. das Buch „Träume von Jamaika“ erschienen.

221 OPTIMALE LERNBEDINGUNGEN FÜR MIGRANTENKINDER STEHEN NOCH AUS Mehrsprachigkeit und Migration

INKEN KEIM / ROSEMARIE TRACY

weisen. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen sprachlichen Kompetenzen von Migrantenkin- Der Beitrag von Inken Keim und Rosema- korrespondieren mit den Befunden aus (migra- dern zu überwinden. Abschnitt 3 fasst relevan- rie Tracy bringt zwei Gesichtspunkte in tions-)soziologischen und erziehungswissen- te Ergebnisse der neueren Spracherwerbs- und die aktuelle Diskussion über die unzurei- schaftlichen Arbeiten, die an Fallbeispielen zei- Mehrsprachigkeitsforschung zusammen. In chenden Bildungschancen von Migran- gen, wie soziale Ungleichheit im normalen unserem abschließenden Teil widerlegen wir tenkindern ein: Auf der Grundlage neu- Schulalltag aufgrund organisatorischer Struk- einige weit verbreitete Vorurteile und machen erer sprachwissenschaftlicher Forschun- turen, von Schulregeln und -programmen, so- Vorschläge für die Verbesserung der Sprach- gen plädieren die Autorinnen für eine wie von Habitualisierungen und Alltagsrou- lernbedingungen von Migrantenkindern. Überwindung der Defizitannahme und tinen seitens der Pädagogen hergestellt wird zeigen anhand konkreter Beispiele, wa- (vgl. Bommes/Radtke 1993; Gogolin/Neumann rum es dringend notwendig ist, verein- 1997; Weber 2003). Ein Vergleich der Ergeb- KOMMUNIKATIONSPRAKTIKEN IN fachte Vorstellungen über die sprachli- nisse aus PISA und IGLU ergibt, dass mit dem JUGENDGRUPPEN IN MANNHEIM chen Kompetenzen von Migrantenkin- Übergang von der Grundschule zur Sekundar- dern zu überwinden. Nach der Erörte- stufe ein deutlicher Leistungsabfall einher geht Mannheim6, eine mittlere Großstadt in Baden- rung relevanter Ergebnisse der neueren und die intellektuellen Ressourcen von Kindern Württemberg mit 320.000 Einwohnern, hat Spracherwerbs- und Mehrsprachigkeits- in der Sekundarstufe I wenig genutzt und aus- derzeit einen Migrantenanteil von ca. 21 Pro- forschung werden einige weit verbreite- gebaut werden (IGLU 2004, S. 113). Die Unter- zent; die türkischstämmigen Migranten bilden te Vorurteile widerlegt. suchungen zeigen vor allem die Auswirkung die größte Gruppe, daneben gibt es vor allem Bisher ist es offensichtlich nicht gelun- des sozialen und familiären Hintergrunds der Migranten slawischer, romanischer, arabischer, gen, Bedingungen zu schaffen, unter de- Kinder auf Testergebnisse und Lehrerbewer- afrikanischer und asiatischer Herkunftsspra- nen sich das Lernpotenzial von Migran- tungen: Kinder aus Familien ohne Migrations- chen. Die türkische Migrantenpopulation ist tenkindern optimal entfalten kann. Aus hintergrund erbrachten die besten Ergebnisse. weit ausdifferenziert und umfasst sowohl so- sprachwissenschaftlicher Perspektive ist Kinder mit gleichen Testleistungen erhielten ziale Gruppen, die weltoffen agieren und in vie- das Problem klar identifizierbar: Migran- z. T. völlig unterschiedliche Bewertungen durch len Lebensbereichen erfolgreich sind,7 als auch tenkinder sind unterfördert und damit die Lehrenden und dementsprechend auch un- solche, die sich gegenüber der Mehrheitsge- auch unterfordert. Bei der Beurteilung terschiedliche Schullaufbahnempfehlungen. sellschaft abschotten und sich in die eigene der Leistungen von Migrantenkindern Kinder ohne Migrationshintergrund haben ei- ethnische Gruppe zurückziehen. Der unter- muss ein grundlegender Perspektiven- ne viermal höhere Chance, eine Gymnasial- suchte Stadtteil in der Mannheimer Innenstadt wechsel stattfinden, weg von der Defi- empfehlung zu erhalten, als Kinder mit Migra- ist ein typisches Migrantenwohngebiet, in dem zitorientierung und hin zur Würdigung tionshintergrund. Selbst bei vergleichbaren bis zu 65 Prozent der Einwohner einen Migra- dessen, was Kinder unter den bisher ge- kognitiven Fähigkeiten und vergleichbarer Le- tionshintergrund haben. Die türkische Migran- gebenen Lern- und Lebensbedingungen sekompetenz erhalten Kinder aus oberen So- tengemeinschaft hat eine hohe Infrastruktur bereits erreicht haben. zialschichten immer noch wesentlich öfter entwickelt; es gibt türkische Lebensmittelge- (2,63) eine Gymnasialempfehlung als Kinder schäfte, Bäckereien, Haushaltswaren- und aus der unteren Sozialschicht. Kleidergeschäfte, türkische Banken und Im- Unter den Migrantenkindern schneiden türki- mobilienbüros, türkische Friseure, Ärzte und sche Kinder besonders schlecht ab. In einem Ar- Rechtsanwälte. In vielen Familien hat sich auf- MIGRATION UND BILDUNG tikel in Die Zeit werden sie beispielsweise als grund der langjährigen Unsicherheit der Mi- IN DEUTSCHLAND „Spitzenreiter im (schulischen) Scheitern“ be- grationssituation und aufgrund vieler negati- zeichnet,3 und in dem jüngsten Bildungsbericht ver Erfahrungen in Deutschland8 eine Art Neo- In der Migrationssoziologie werden Integra- von Baden-Württemberg wird ihnen ein „er- orthodoxie herausgebildet; d.h. diese Familien tion oder Assimilation als vielgestaltige Prozes- heblicher Bildungsrückstand“ attestiert.4 Für halten streng an mitgebrachten traditionellen se begriffen, in deren Verlauf Migrantinnen diese Bildungsmisere werden zwei Faktoren und religiösen Werten und Normen fest, um und Migranten die Teilnahme an den für ihre verantwortlich gemacht: die geringe Förde- sich und ihren Kindern Sicherheit zu geben und Lebensführung bedeutsamen Bereichen der rung durch die Schule und das geringe Bil- sie vor „fremden“ Einflüssen zu schützen.9 Das Gesellschaft mehr oder weniger gut gelingt. dungsinteresse türkischer Eltern. Interessan- soziale Leben ist in diesen Familien auf das Ter- Dieses Gelingen hängt einerseits von materiel- terweise zeigt ein Blick in die PISA-Untersu- ritorium des Stadtgebiets beschränkt: Ver- len und ideellen Ressourcen ab, wie Wissen und chung, dass türkische Migrantenkinder in an- wandte und Freunde leben hier, Einkäufe, Fri- Bildung, Einkommen und sozialen Beziehun- deren Ländern erheblich bessere Ergebnisse seur- und Arztbesuche finden in der direkten gen, und andererseits von den sozialen Bedin- erzielen; 5 d. h. die türkische Herkunft erklärt Nachbarschaft statt. Im Leben dieser Migran- gungen, die in den verschiedenen Bereichen nicht, warum diese Kinder in deutschen Schu- ten kommen Deutsche nicht vor, und Deutsch vorherrschen, zu denen Migrantinnen und Mi- len so wenig erfolgreich sind. Gomolla/Radtke hat im Alltag kaum eine Bedeutung. granten Zugang suchen und die diese Bemü- (2002) z.B. sehen das Hauptproblem bei der Nach einer neueren Statistik zur Schulsituation hungen erleichtern oder erschweren (Bade/ deutschen Schule und sprechen von einer „in- in Mannheim (2004) ist der Anteil von Migran- Bommes 2004, S. 25). Beeinflusst werden Ein- stitutionellen Diskriminierung“, da Migranten- tenkindern in den beiden Grundschulen des gliederungsprozesse vor allem durch die Auf- kinder mit dem Argument der „mangelnden Stadtgebiets mit 77-90 Prozent sehr hoch. Die- nahmebereitschaft des Aufnahmelandes und Deutschkenntnisse“ für die Hauptschule emp- se Situation hat erhebliche Konsequenzen für durch entsprechende Eingliederungshilfen in fohlen werden, auch wenn sie die kognitiven die Schulkarriere der Kinder: Im Stadtgebiet den Bereichen Bildung und Arbeit. Voraussetzungen für einen Besuch des Gymna- schaffen nur ca. 15 Prozent der Migrantenkin- Laut Bade/Bommes (2004, S. 26) ist das deut- siums haben. der den Übergang zu höheren Schulen (Real- sche Bildungssystem eine Art „Grundpfeiler für Der folgende Beitrag bringt zwei Gesichts- schule, Fachgymnasium und Gymnasium), ob- die Reproduktion sozialer Ungleichheitsver- punkte in die aktuelle Diskussion über die un- wohl nach Aussage der Lehrenden viele ausge- hältnisse“, d.h. trotz einer Reihe von Bildungs- zureichenden Bildungschancen von Migran- sprochen intelligent sind. Auch die Hauptschü- aufsteigern sind die meisten Migrantenkinder tenkindern ein. Auf der Grundlage neuerer ler schneiden schlecht ab, vor allem die Jungen: schulisch wenig erfolgreich. Diese Einschät- sprachwissenschaftlicher Forschung plädieren 30-35 Prozent eines Jahrgangs verlassen die zung wird in den als PISA1 und IGLU2 bekannt wir für eine Überwindung der Defizitannahme Schule ohne Abschluss, viele mit schlechten gewordenen Untersuchungen bestätigt, die die und zeigen anhand eines konkreten Beispiels Abschlüssen, und nur sehr wenigen Jugendli- eklatante Benachteiligung von Kindern und Ju- (Abschnitt 2) warum es dringend notwen- chen (14-15 Prozent eines Jahrgangs) gelingt gendlichen mit Migrationshintergrund nach- dig ist, vereinfachte Vorstellungen über die es, eine Lehrstelle zu bekommen.

222 Mehrsprachigkeit und Migration

KOMMUNIKATIONSVERHALTEN VON re Merkmale, von denen einige sehr häufig, an- Höflichkeit. Der Lehrer reagiert mit einer Rück- HAUPTSCHÜLERN dere nur gelegentlich auftreten.10 Sehr häufig fragebitte(02), mit der er dem Jungen anzeigt, fehlen Präpositionen und Artikel in Lokal- und dass mit seiner Äußerung etwas nicht stimmt, Für die Migrantenkinder des untersuchten Richtungsangaben (isch geh Doktor, isch war ihm aber gleichzeitig auch die Möglichkeit gibt, Mannheimer Stadtgebiets zeichnen sich mit Schule, isch muss Toilette), gelegentlich fallen die unerwünschte Formulierung selbst zu kor- dem Beginn der Sekundarstufe I typische Ent- Artikel (schickst du Kumpel) und Pronomina rigieren. Doch der Junge ergreift die Korrektur- wicklungskarrieren ab. Mit dem Übergang zur aus (wann hast du [sie] gesehn), und in einigen gelegenheit nicht, sondern wiederholt seine Hauptschule, die auf dem Territorium des Fällen stimmen Genus (das Tee) und Kasus Eingangsformulierung und verstärkt sie damit. Stadtgebiets liegt, verläuft die weitere Ent- (isch lieb ihm) nicht. Häufig verwendet werden Jetzt reagiert der Lehrer durch nö so nicht  wicklung der Kinder im Lebensraum der Mi- bestimmte Intensivierungsformeln wie isch *(03) und fordert die gewünschte Form ein: wie grantengemeinschaft; diesen Weg gehen die schwör,isch hass des,vallah (‚mein Gott’), neu- heißt das richtig . Daraufhin produziert der meisten. Da die Kinder selbst den Wechsel zur trale Verben wie haben und machen werden Junge die aus Lehrerperspektive angemessene Hauptschule als Versagen interpretieren, ent- generalisiert (z.B. isch mach disch Krankenhaus Variante darf ich bitte auf die Toilette gehn wickeln sie oft sehr früh eine anti-schulische = ‚ich schlag dich krankenhausreif’). Besonders (04/06). Er zeigt, dass er weiß, was der Lehrer Haltung und suchen außerhalb der Schule nach auffallend sind phonetische und prosodische von ihm erwartet; doch er genießt die Interak- Herausforderungen und nach Anerkennung, Merkmale wie Kürzung von Vokalen, Fortis- tion mit dem Lehrer, deren Verlauf für ihn vor- die sie z. B. in ethnischen Cliquen oder in reli- sierung von stimmlosen Frikativen, Verstimm- hersehbar ist, und er zeigt durch sein Lachen, giösen und politischen Gruppen finden. Das haftung stimmloser Laute, Silben zählender dass sie ihm Spaß macht. Auch der Lehrer kennt Selbstbild dieser Jugendlichen ist entspre- Rhythmus und eine flache Intonationskontur das Spiel und spielt es mit: Er kritisiert den Jun- chend ethnisch geprägt, und ihre sozialen mit geringen Tonhöhenbewegungen. gen nicht explizit dafür, dass er auf der „fal- Netzwerke sind auf die Migrantengemein- Mit Beginn des Schullebens lernen Migranten- schen“ Form beharrt, obwohl er die „richtige“ schaft bezogen. kinder zwischen Umgangsdeutsch, das die Leh- kennt, sondern er gibt sich mit der Umformu- Diese Kinder und Jugendlichen bilden ganz be- renden sprechen, und ethnolektalen Formen in lierung zufrieden und gewährt die Bitte. stimmte kommunikative Praktiken aus. In der der multilingualen Gruppe zu unterscheiden. Wenn man Kinder und Jugendliche in unter- multilingualen Peergroup entsteht aus ethno- Die Kinder erleben, dass die Lehrenden ethno- schiedlichen Situationen beobachtet, erkennt lektalen Formen des Deutschen eine Art lingua lektale Formen ablehnen und korrigieren, und man, dass sie Situationen, in denen standard- franca; in der türkisch-stämmigen Jugend- sie lernen sehr schnell, dass sie die Lehrenden nahes Deutsch erforderlich ist, von vertrauten clique werden deutsch-türkische Mischungen mit der Verwendung dieser Formen provozie- (Peergroup-)Situationen unterscheiden, in de- zusammen mit ethnolektalen Formen verwen- ren können. Das folgende Gespräch (vgl. Abbil- nen ethnolektale Formen die Normalform dar- det, und in der Schule wird standardnahes dung 1) zwischen einem italienisch-stämmi- stellen. Ein 15jähriger kroatischer Schüler, der Deutsch gefordert, das eine Reihe von Jugend- gen Erstklässler (DE) und seinem Lehrer (LE) seinen Klassenfreund mit komm wir gehen lichen auch beherrschen (zumindest münd- stellt eine typische Lehrer-Schüler-Interaktion Pause auffordert, wendet sich kurze Zeit später lich). Die verschiedenen Sprachformen sind si- dar. an die Klassenlehrerin mit der Bitte: darf isch tuationsspezifisch verteilt, sie können aber Der Junge beginnt die Interaktion mit der Fest- ma bitte auf die Toilette Frau Brand. Ein tür- auch bestimmte diskursive, interaktive und so- stellung isch muss Toilette (01). Die Äußerung kischstämmiger Schüler fragt seinen Freund ziale Funktionen erfüllen. hat ethnolektale Merkmale (Ausfall von Präpo- Güven, wann gehen wir Schwimmbad? Als er Ethnolektale Formen basieren auf der deut- sition und Artikel in der Richtungsangabe Toi- mit seinem Klassenlehrer spricht, verwendet schen Umgangssprache, haben aber besonde- lette), und es fehlen Elemente konventioneller er umgangssprachlich grammatische Formen: isch hab die aber auf=m Hof gesehn Herr Wolf, ABBILDUNG 111 die is nisch in der Klasse. Interessant sind Situationen mit Mehrfach- adressierung, in denen sich Jugendliche im 01 DE: isch muss Toilette  isch muss Toilette gleichen Gespräch einerseits an ihre Freunde 02 LE: bitte  wenden und andererseits an außenstehende Erwachsene. Im folgenden Beispiel erzählt der 03 LE: nö so nicht  * wie heißt das richtig  15-jährige Hauptschüler Murat der deutsch- 04 DE: darf=ich sprachigen Interviewerin von einer Schlägerei, 05 K LACHEND in die er verwickelt war. In der Erzählungssi- tuation sind seine Freunde anwesend, die die 06 DE: bitte auf die Toilette gehn  Geschichte bereits kennen. Die Situation stellt 07 LE: ja gut  * ok * bleib folgende Anforderungen an Murat: Er muss das unterschiedliche Hintergrundwissen der 08 LE: nich so lang Rezipienten berücksichtigen und unterschied- liche soziale Beziehungen zu ihnen herstellen. Dazu setzt er seine sprachlichen Ressourcen ABBILDUNG 2 ein und wechselt virtuos zwischen deutsch- türkischen Mischungen, ethnolektalen Formen Im Ausschnitt schildert Murat, dass er trotz einer schweren Fußverletzung die Herausforderung und Standarddeutsch. Mit gemischten Formen zum Kampf annahm und seinen Kontrahenten traf. adressiert er die Freunde und tauscht sich kurz mit ihnen aus. In der Erzählung, adressiert an 01 MU: un dann halt bin isch rau“s * hat noch Krückn die Interviewerin und an die Freunde, wechselt 02 MU: un dana“ch hat=a gemeint Di“ng * weil der wollt er zwischen ethnolektalen Formen und Stan- 03 MU: u“nbedingt en Kampf mit mir * un isch konnt net darddeutsch (vgl. Abbildung 2) 04 MU: sagn isch kann jetzt net weil mein Fuß gebrochen In dem Erzählausschnitt werden unterschiedli- 05 MU: is oder so * bin isch trotzdem hingegangn * obwohl che Formulierungsmuster für die Gestaltung 06 MU: meine Fuß noch zusammngenäht war * da hab isch halt der einzelnen Strukturteile verwendet. Die kur- 07 MU: zur Sicherheit ein Schlagstock mitgenommn * falls siv markierte Vordergrunddarstellung – die 08 MU: es wirklich schiefgehn sollte oder so * er=s halt Schilderung der eigenen Handlung und der des 09 MU: auf misch drauf * hab=sch Schlagstock rausgezogn * Kontrahenten – wird in einem Darstellungs- 10 MU: hab=sch ihm vom Hals so gepackt nach hintn- * muster präsentiert, das der Verdichtung und 11 MU: hab=sch den gepackt (...) wollt wegrenn * dann dem Spannungsaufbau dient. Es ist charakteri- 12 MU: hat=a mir Fuß gestellt siert durch eine kleinschrittige Handlungsbe- schreibung, durch kurze syntaktische Einhei-

223 INKEN KEIM / ROSEMARIE TRACY ten, Verbspitzenstellung und szenisches Prä- ckeln, lösen sich allmählich aus beiden Bezugs- zial-kulturelles Problem, wenn sie nur diese sens. In diesen Strukturteilen treten auch eth- gesellschaften und verstehen sich als weder Sprachformen präferieren und – aus welchen nolektale Formen auf (fett markiert): das ab- „deutsch“ noch „türkisch“, sondern als etwas Gründen auch immer – diejenigen schriftkul- weichende Genus in meine Fuß (06), der Ausfall „Neues“. Dieses neue, hybride Selbstverständ- turellen Fertigkeiten nicht erwerben (wollen?), des Artikels in Schlagstock (09) und Fuß (12), nis bringen sie durch die Herausbildung beson- die in Bildungsinstitutionen gefordert werden. der abweichende Kasus in hab=sch ihm ge- derer Kommunikationspraktiken zum Aus- Genau hier liegt ein entscheidendes Problem: packt (10) und die abweichende Präposition in druck: Sie erwerben hohe schriftlichkulturelle Aus der Perspektive der Schule entsprechen vom Hals (10) anstelle von am Hals. Im Kontrast Kompetenzen, die sie in Schule und Ausbildung viele Migrantenkinder bereits beim Eintritt in dazu haben die schwarz und recte markierten erfolgreich einsetzen, lehnen ethnolektale For- die Schule nicht den schulischen Anforderun- Hintergrunddarstellungen – Motiverläuterung men ab und bilden in der Peergroup eine gen. Die Schule fühlt sich ihrerseits überfor- und Handlungsbegründung –, die an die Inter- deutsch-türkische Mischsprache heraus, die dert, bzw. sie ist nicht entsprechend dafür aus- viewerin gerichtet sind, komplexere Satzstruk- sie als „eigene“ Sprache bezeichnen.13 Sprach- gestattet, die Lücken angemessen zu schließen. turen (Kausal-, Temporal- und Konzessivsätze) mischungen gehören zur Alltagsroutine in der und keine ethnolektalen Merkmale. Der Kon- Peergroup; es sind die Kommunikationsfor- trast zwischen grammatischen und ethnolek- men, in denen sich die Jugendlichen laut eige- MONOLINGUALER UND DOPPELTER talen Formen wird besonders augenfällig bei ner Aussage am wohlsten fühlen. Sie werden ERSTSPRACHERWERB der Verwendung derselben Elemente in ver- vor allem beim Informationsaustausch, in Er- schiedenen Strukturteilen: einerseits gramma- zählungen und Argumentationen verwendet. Der Erwerb (mindestens!) eines sprachlichen tisch korrekt in der Hintergrunddarstellung In Erzählungen folgen die Wechsel zwischen Kenntnissystems gehört zu den besonders ver- mein Fuß (04), ein Schlagstock (07) und in der türkischen und deutschen Elementen be- lässlichen Leistungen der frühen Kindheit und Reformulierung den gepackt (11); und anderer- stimmten Mustern, d.h. sie haben diskursive damit zu den Selbstverständlichkeiten, über die seits ethnolektal geprägt in der Vordergrund- und rhetorische Funktionen. Sie dienen z. B. man sich als Laie normalerweise wenig Gedan- darstellung meine Fuß (06), Fuß (12), Schlag- zur Konturierung zweigliedriger Darstellungs- ken macht. Die Wissenschaft hingegen ist aus stock (09) und ihm gepackt (10). strukturen, wobei der erste Teil türkisch, der guten Gründen fasziniert vom Erstspracher- Murat zeigt eine hohe Erzählkompetenz. Er zweite und hervorgehobene Teil deutsch struk- werb, denn er ist bemerkenswert robust gegen- trennt Erzählstrukturteile auch auf der Formu- turiert ist: Zeynebi de gördüm (’ich habe auch über Umwelteinflüssen, solange eine „Grund- lierungsebene und variiert dabei zwischen Zeynep gesehen), die Arme die hat fast en Herz- versorgung“ mit sprachlichem Input gewähr- Standard konformen und ethnolektalen For- infarkt bekommen oder Bahnda göryüm böyle leistet ist.14 Der Spracherwerb ist unabhängig men. Doch der Wechsel von der einen zur an- yapıyo (‚ich sehe sie in der Bahn, sie macht so’), von der Intelligenz und der Modalität, denn deren Form dient nicht nur der narrativen die Arme hat gedacht mir is was passiert. Oder auch der Erwerb einer Gebärdensprache voll- Strukturierung, sondern Murat signalisiert sie dienen der Hervorhebung bei Reformulie- zieht sich mit beeindruckender Geschwindig- auch, an wen die Äußerung gerichtet ist; d.h. er rungen, z. B. die ganze Zeit insanlar nasıl bakıyo keit und sehr systematisch (Leuninger 2000). stellt über die Sprachwahl symbolisch unter- (‚wie die Leute die ganze Zeit schauen’), wie Ungeachtet der jeweiligen Umgebungssprache schiedliche soziale Beziehungen her, eine eher die misch a“ngekuckt haben, des gibt=s net. In und Erziehungspraxis durchlaufen Kinder da- distanzierte und formelle zu der Interviewerin, Argumentationen wird bei Übereinstimmung bei sehr ähnliche Stadien und benötigen weder die die Hintergrunderläuterungen evoziert, mit der Vorrednerin deren Sprachwahl über- explizite Instruktion noch korrektives Feed- und eine vertraute zu seinen Freunden, die sei- nommen, bei Widerspruch wird die Sprache ge- back. Das sprachliche Wissen, das sich Lerner ne Kampfschilderung belustigt verfolgen. wechselt. Die deutsch-türkische Mischsprache aneignen, ist überwiegend implizit und damit dient aber nicht nur als bevorzugtes Kommu- dem eigenen Bewusstsein nicht zugänglich. nikationsmittel in der Peergroup; sie dient vor Im Alter von zwei bis drei Jahren haben normal KOMMUNIKATIVE PRAKTIKEN allem auch zur Abgrenzung nach außen und entwickelte Kinder für sich die wichtigsten ERFOLGREICHER GYMNASIASTINNEN zum Ausschluss von monolingualen Deut- Satzbaupläne ihrer Erstsprache(n) rekonstru- schen und Türken. Wie Abbildung 3 zeigt, fun- iert. Deutschsprachige Kinder meistern in die- Migrantenjugendliche, die den Weg in höhere giert sie für die Mädchen als zentrales Kriteri- sem Zeitraum die Regularitäten der Verbstel- Schulen schaffen, stellen im untersuchten um bei der Partnerwahl: lung (an zweiter Stelle im Hauptsatz, am Ende Stadtgebiet eine kleine Minderheit dar. Diesen im Nebensatz), d.h. sie produzieren bereits Äu- Weg, der äußerst anstrengend und für die Be- ßerungen wie Jetzt geh ich da rein, Mama soll troffenen mit familiären, sozialen und schuli- Abbildung 3 den Ball mitnehmen und beginnen mit dem Er- schen Problemen verbunden ist, schaffen vor werb von Nebensätzen (wenn der das ab- allem Mädchen. Sie begreifen früh, dass der FU: isch könnte nie einen Mann lieben macht). Manche Kinder überraschen ihre Um- Weg aus der türkisch-traditionellen Frauenrol- wenn er meine Sprache welt vor dem Alter von drei Jahren mit Äuße- le nur über eine gute Ausbildung führt, die sie FU: nischt kann * die Mischsprache * rungen wie beispielsweise wir kriegen – wenn als Voraussetzung für ein eigenständiges und einen Türken nich und ich größer bin – wenn ich größer bin, dann nicht-familienbestimmtes Leben betrachten. FU: auch keinen Deutschen * isch könnte krieg-mer – dann krieg ich entweder 'ne Katze Mit dem Übergang in höhere Schulen müssen nie zu einem sagen * oder 'nen Hamster oder einen Hund die von uns untersuchten Mannheimer Mi- FU: ich liebe dich * das klingt so hart * Entgegen lange gehegter Vorurteile wissen wir grantenkinder in Institutionen außerhalb des aber seni seviyorum heute, dass Kinder auch durch einen „doppel- Stadtgebiets wechseln. Dort treffen sie auf FU: (=ich liebe dich) klingt schön ten“ Erstspracherwerb nicht überfordert sind. sprachliche und soziale Anforderungen, auf die Wenn Kinder von Geburt an von Mutter und Va- sie nicht vorbereitet sind und die sie nicht oder ter oder anderen Bezugspersonen in unter- mindestens nicht ohne Schwierigkeiten erfül- Vorläufiges Fazit: In Migrantenjugendgruppen schiedlichen Sprachen angesprochen werden, len können. Der Wechsel in eine dominant bilden bilinguale ebenso wie ethnolektale For- oder wenn von Anfang an im Elternhaus eine, deutsche Schüler- und Lehrergemeinschaft men die sprachlich-kommunikativen Ressour- in der Umgebung eine andere Sprache gespro- wird – hier in den Worten der Betroffenen – als cen zur Konstruktion eines eigenen Jugend- chen wird, entspricht der Erwerb im Wesentli- Schock des Lebens erlebt; die Kinder fühlen sich gruppenstils, der die hohe Sprachbewusstheit chen in beiden Sprachen den Meilensteinen der ausgelacht, ausgegrenzt und abgewertet. Sie der Jugendlichen zeigt und Ausdruck ihrer jeweiligen monolingualen Entwicklung. Dabei reagieren mit einem überhöhten ethnischen sprachlichen Kreativität ebenso wie ihrer sozi- kann sich die eine oder andere Sprache durch- Selbstbild und wenden sich gleichzeitig gegen al-kulturellen Eigenständigkeit ist. Wie die an- aus schneller entwickeln als die andere. Man- traditionelle Lebensvorstellungen ihrer Eltern, geführten Beispiele belegen, beeinträchtigen che Kinder präferieren die eine ihrer Sprachen, die von ihnen dafür verantwortlich gemacht weder bilinguale noch ethnolektale Praktiken was sich im Laufe der Entwicklung aber auch werden, dass sie in der deutschen Schule nicht den Erwerb standardnaher Formen oder ändern kann. Kinder, die von Geburt an mit zwei akzeptiert werden.12 Sie beginnen, eine eigen- schriftkultureller Fertigkeiten. Allerdings ent- Erstsprachen aufwachsen, ‚wissen‘ sehr früh, ständige Lösung für ihre Probleme zu entwi- steht für die Jugendlichen ein erhebliches so- dass sie es mit unterschiedlichen Systemen zu

224 Mehrsprachigkeit und Migration tun haben und machen sich auch früh Gedan- wachsenenalter eher eine Ausnahme. Neuere natürlicher Begabung einerseits und den unzu- ken dahingehend, wer welche Sprache spricht, systematische Longitudinalstudien mit Kin- reichenden Deutschkenntnissen, mit denen vgl. dazu folgenden Dialog zwischen einer Mut- dern im Vorschulalter stützen die Hypothese, viele Kinder immer noch in deutsche Schulen ter und ihrer Tochter (Alter 2;9): dass mindestens der Erwerb der Wortstellung kommen. Nahe liegend wäre es fraglos, mit ei- Mutter: in the Kita they call it Frühstück * und der Subjekt-Verb-Kongruenz bei intensi- ner gezielten Förderung möglichst früh zu be- don‘t they? vem Kontakt im Alter von drei bis vier Jahren ginnen. Kind: und du heißt das breakfast noch weitgehend wie beim Erstspracherwerb gemeistert werden kann. Sowohl die Ge- Die Fähigkeit, die beteiligten Sprachen zu dif- schwindigkeit als auch die grundsätzliche Be- VORAUSSETZUNGEN FÜR EINE ferenzieren, schließt zeitweiliges intensives reitwilligkeit, mit der sich Kinder auch unter er- ERFOLGREICHE FÖRDERUNG Sprachmischen nicht aus. Kinder mit Deutsch schwerten Bedingungen auf den Erwerb einer und Englisch als simultanen Erstsprachen pro- neuen Sprache einlassen, zeigt, wie sinnvoll ein Wer Sprache fördern will, muss allerdings zu- duzieren dabei Äußerungen wie Mama hat das möglichst früher Einsatz einer intensiven nächst einmal verstehen, wie Sprache und fix it, Monkey auch bike, kannst du move a bit Sprachförderung ist – ein Punkt, auf den wir in Spracherwerb funktionieren. Dazu gehört vor und soll ich hit it? (alle produziert im Alter 2,3- Kürze zurückkommen. allem auch, dass man eine Ahnung vom Er- 2,6). Mischungen sind manchmal das Produkt In der Untersuchung von Thoma/Tracy (2006) werbsziel hat, d.h. Vorstellungen von den Ei- einer geschickten Strategie, wobei Lücken in wurden acht Kinder mit türkischer, russischer genschaften der Zielsprache(n) und dem „na- der einen Sprache zeitweise mit Hilfe der ande- und arabischer Erstsprache ein Jahr lang in türlichen Curriculum“ von Lernern. Nur so kann ren gefüllt werden. Beeindruckend ist, wie prä- zweiwöchigem Abstand aufgenommen. Die man Förderbedarfe identifizieren, gezielt Maß- zise diese Anleihe erfolgt, vgl. das darf man if Kommunikationsfreudigsten unter ihnen pro- nahmen ergreifen und Fortschritte als solche man will. Mischäußerungen zeigen auch, dass duzierten bereits nach 6-8 Kontaktmonaten erkennen. Wichtig ist vor allem, die in den vor- Kinder bereits als knapp Dreijährige eine Tech- Sätze wie ich hab kein Platz mehr, keine Platz angegangenen Abschnitten angesprochenen nik beherrschen, die sie später immer wieder mehr hab ich hier, die Junge will Prinzessin ho- Kompetenzen und Ressourcen anzuerkennen, bei der Integration von entlehnten Wörtern len, die syntaktisch zielsprachlich sind, auch die bereits Kinder mitbringen und die bei Ju- einsetzen können, vgl. du cutst dein toe, cleanst wenn Genus- und Kasusmarkierungen noch gendlichen immer noch weit gehend unter- du dein teeth?. abweichen. schätzt werden, weil man die Koexistenz und Freilich: Wie leicht es bilingualen Kindern fällt, In der aktuellen Diskussion um das günstigste Beherrschung unterschiedlicher sprachlicher ihre Sprachen während des Sprechens zu tren- Alter für den Zweitspracherwerb spielen immer Repertoires oft nicht erkennt oder nicht einmal nen und die eine oder andere zu unterdrücken, noch Vorstellungen von „Schwellen“ eine Rol- für möglich hält. hängt auch von den Ähnlichkeiten und Unter- le,16 die vor allem in der Erstsprache vor dem schieden zwischen den Sprachsystemen ab. Hinzutreten einer zweiten Sprache überwun- Wir fassen im Folgenden einige Grundüberzeu- Kindern, die mit eng verwandten Sprachen, z. B. den werden sollten, um subtraktive Effekte für gungen und Vorurteile zusammen, die in Bil- Deutsch und Englisch, aufwachsen, die sich die beteiligten Sprachen sowie für die kogniti- dungseinrichtungen und in der Öffentlichkeit auch im Sprachrhythmus in vieler Hinsicht ähn- ve Entwicklung eines Kindes zu vermeiden. (immer noch) weit verbreitet sind und die einer lich sind, mag es schwerer fallen, Interferenzen Glücklicherweise zeigt uns der erfolgreiche angemessenen Beurteilung der sprachlichen zu vermeiden, als Kindern, die es mit typologisch doppelte Erstspracherwerb, dass Kinder sehr Fähigkeiten von Migrantenkindern ebenso wie weiter von einander entfernten Sprachen zu tun wohl mit der Koexistenz von mehr als einer ihrer Förderung im Wege stehen. haben. Qualitative und quantitative Untersu- Sprache in ihrer Umgebung umgehen können. chungen der kindlichen Sprachwahl gegenüber Diese Erkenntnis ermutigt zu einem frühen Ein-  Mehrsprachigkeit ist eine Art unterschiedlichen Gesprächspartnern zeigen satz der Förderung in der Zweitsprache. „Ausnahmezustand“. jedenfalls, dass Kinder im Alter von zwei bis drei Es gibt freilich keine Garantie dafür, dass Kin- Es ist ein Irrtum anzunehmen, der Mensch wä- Jahren in der Lage sind, sprachlich differenziert der, die von Anfang an mit zwei Sprachen kon- re auf die Einsprachigkeit hin ausgelegt. Demo- auf unterschiedliche Partner zu reagieren. frontiert werden, tatsächlich alle beide auf graphisch betrachtet ist der Monolingualismus Dauer beibehalten. Ebenso wenig kann man eine Ausnahme, und aus sprachwissenschaft- garantieren, dass sich die Erstsprache eines Mi- licher Perspektive ist der einsprachige Mensch DEUTSCH ALS ZWEITSPRACHE grantenkindes im Wettbewerb mit einer zeit- ohnehin eine Fiktion. Auch Muttersprachler IN DER FRÜHEN KINDHEIT versetzt hinzu tretenden Zweitsprache lang- beherrschen nicht nur eine Variante einer Spra- fristig behaupten kann. Aber dies ist unab- che; sie sprechen i. d. R. mehrere Dialekte und Im Gegensatz zur Erforschung der Erstsprache, hängig von der grundlegenden Fähigkeit eines verfügen über unterschiedliche Stile sowie inklusive des doppelten Erstspracherwerbs, Kindes, früh mit mehr als einer Sprache umzu- fachsprachliche Ressourcen, in Abhängigkeit steckt die Zweitspracherwerbsforschung im gehen, und hängt vielmehr von Statusfragen von Interessen, Bildungswegen und Berufen. Vorschulalter noch in den Kinderschuhen. Wir und dem Prestige der Sprachen ab, d.h. von As- wissen, dass sich Kinder im Schulalter und vor pekten, die mit der eigentlichen Begabung des  Die Muttersprache / Erstsprache allem Erwachsene mit den Feinheiten des deut- Menschen für die Mehrsprachigkeit nichts zu erwirbt man „perfekt“. schen Kasus und Genus schwer tun, und für sie tun haben. In den Bereich der Fiktion gehört auch die Mei- erweisen sich auch die Verbstellung und der Fi- Die vorsichtigen, aber ermutigenden Schluss- nung, dass jeder Muttersprachler seine Spra- nitheits- und Flexionsstatus des Verbs als pro- folgerungen, die sich aufgrund der wenigen che bis in alle Feinheiten „perfekt“ beherrschen blematisch, also just diejenigen Merkmale, die vorliegenden Studien zum Erwerb des Deut- könnte. Auch Sprecher der gleichen Sprachen Kinder beim Erstspracherwerb früh und zuver- schen durch Drei- bis Vierjährige ziehen lassen, unterscheiden sich z. T. erheblich im Umfang lässig erwerben. Typische Abweichungen von stehen in Kontrast zu der Beobachtung, dass ihres aktiven oder passiven Wortschatzes und erwachsenen Lernern des Deutschen folgen – die Mehrheit der Migrantenkinder bis zum in der Differenziertheit ihrer sprachlichen u. a. in Abhängigkeit von ihren Erstsprachen – Schulbeginn kaum erwerben, was sie benöti- Ressourcen, von Unterschieden in der jeweili- abweichenden Mustern wie dann ich gehe Dok- gen, um dem Unterricht folgen zu können. Es gen kommunikativen Kompetenz ganz zu tor morgen, ich machen so, ich habe gelesen fehlt ihnen vor allem an Wortschatz, aber auch schweigen. Sprachen sind jedenfalls keine Ob- Buch.15 an morphologischen Feinheiten (Genus, Kasus, jekte, über die man vollständig oder etwa „zur Die Frage, bis zu welchem Alter eine nach be- unregelmäßige Paradigmen) und der ziel- Hälfte“ verfügen könnte, wie es die Metapher gonnenem Erstspracherwerb hinzutretende sprachlichen Verwendung von Präpositionen; der „Halbsprachigkeit“ suggeriert. So ist es Zweitsprache noch wie eine Erstsprache er- vgl. dazu von achtjährigen Grundschulkindern durchaus möglich, dass man eine zweite oder worben werden kann, wird in der Forschung Äußerungen wie ein Kind hat so Leiter, die Jun- weitere Sprache auf einigen Ebenen (z.B. im Be- kontrovers diskutiert. Im Unterschied zur „Ro- ge klettert Baum, der will zerstören, der lauft reich des Lexikons und der Syntax) sehr gut er- bustheit“ des Erstspracherwerbs ist eine weit- auf die Treppe hoch. werben kann, aber erfolglos mit der Lautung gehende Annäherung an muttersprachliche Was also ist zu tun angesichts einer offenkun- und der Prosodie kämpft, weil hier die Muster Kompetenzen beim Zweitspracherwerb im Er- digen Diskrepanz zwischen Lernpotential und der Erstsprache besonders interferieren.

225 INKEN KEIM / ROSEMARIE TRACY

 Man ist nur dann „wirklich“ chend Personal für eine individuelle Ansprache Kindern im Allgemeinen optimal entfalten mehrsprachig, wenn man beide / alle der Kinder zur Verfügung steht. kann. Aus sprachwissenschaftlicher (ein- Sprachen gleichermaßen beherrscht. schließlich soziolinguistischer und psycholin- Auch wenn es mehrsprachige Menschen gibt,  Wir bemerken nicht, dass wir mit guistischer) Perspektive ist das Problem klar die mehrere Sprachen in hohem Maße beherr- zweierlei Maß messen identifizier-bar: Migrantenkinder sind unter- schen, ist es unrealistisch zu erwarten, dass sie Einstellungen zur Mehrsprachigkeit hängen in fördert und damit auch unterfordert. Im- sich in allen ihren Sprachen über beliebige The- hohem Maße vom Marktwert der beteiligten mer noch herrscht grundlegende Unkenntnis men gleichermaßen differenziert und flüssig Sprachen ab und damit vor allem vom Prestige darüber, was sprachliche Kompetenzen be- unterhalten können oder wollen. Das Ausmaß, ihrer Sprecher. Die Wahrscheinlichkeit, dass inhalten und was Kinder leisten können, wenn in dem dies möglich ist, hängt unter anderem deutsche Kinderärzte und Lehrer Eltern vom si- man ihnen die Gelegenheit dazu eröffnet. Um davon ab, ob ein Mensch überhaupt die Gele- multanen Angebot zweier Erstsprachen abra- eine Sprache aufzubauen, bedarf das Gehirn genheit hatte, sich in jeder seiner Sprachen mit ten, ist wesentlich höher, wenn es sich dabei sehr spezifischer Information, und diese In- entsprechenden Themenbereichen zu beschäf- um außereuropäische oder wenig bekannte formation muss Kindern in einer anregungs- tigen. Bilinguale bedienen sich ihrer Sprachen Sprachen handelt. Während im Gemeinsamen reichen Umgebung angeboten werden. eher nach einem Prinzip der Arbeitsteilung, d.h. europäischen Referenzrahmen für Sprachen Bei der Beurteilung der Leistungen von Migran- in Abhängigkeit vom Kontext, von Gesprächs- die Rede davon ist, dass künftig alle Bürgerin- tenkindern (und Lernern im Allgemeinen) muss partnern und Themen zieht man die eine oder nen und Bürger Europas drei Sprachen beherr- ein grundlegender Perspektivenwechsel statt- andere Sprache vor. Nicht selten empfinden schen sollten, tun sich viele Länder, darunter finden, weg von der Defizitorientierung und hin Mehrsprachige selbst die eine oder andere ih- auch Deutschland, schwer damit, das beachtli- zur Würdigung dessen, was Kinder unter den rer Sprachen als „stärker“ oder dominant; dies che mehrsprachige Potential zu erkennen, das bisher gegebenen Lern- und Lebensbedingun- kann sich im Laufe des Lebens und in Abhän- ihnen bereits zur Verfügung steht, auch wenn gen bereits erreicht haben. Kinder, die mit dem gigkeit von den Lebensumständen ändern. die betroffenen Sprachen – eben die der in den Eintritt in die Kindertagesstätten im Alter von letzten Jahrzehnten zugewanderten Menschen etwa drei Jahren zum ersten Mal mit dem Deut-  Mischungen sind Zeichen eines – nicht Bestandteil der traditionellen europä- schen in Berührung kommen, sind schließlich – defizitären Spracherwerbs. ischen Bildungspläne sind. zumindest im Normalfall – bereits in einer Spra- Diese Annahme haben wir bereits in anderen Auch in anderen Bereichen wird mit zweierlei che Experten. Sie interessieren sich für Sprache Abschnitten unseres Beitrags entkräftet. Mi- Maß gemessen. Wenn englische oder französi- und haben Spaß an Kommunikation. Die natür- schungen bilden stilistische Ressourcen und sche Muttersprachler sich darum bemühen, liche Begabung des Menschen für Sprache an zeugen früh von sehr gezielter Kooperation der Deutsch zu sprechen, ist man meist sehr tole- sich und der kreative Umgang mit Mehrspra- verfügbaren Sprachen. rant gegenüber Abweichungen, auch wenn chigkeit in der frühen Kindheit sind unsere nach mehrjährigem Aufenhalt in Deutschland wichtigsten Verbündeten. Wir werden dieses  Eine gesunde Identitätsentwicklung noch sämtliche Artikel betroffen wären. Bei ei- Potential aber nur in dem Maße nutzen können, ist an eine einzige Sprache gebunden. nem türkisch- oder russischsprachigen Kind, in dem es gelingt, die hier angesprochen Vorur- Ein weiteres Missverständnis beruht auf der das nach einjährigem Kontakt mit dem Deut- teile und Fehleinschätzungen zu überwinden Annahme, dass die kindliche Identitätsent- schen noch Probleme mit dem deutschen Arti- und die Sprach- und Kommunikationsfähigkei- wicklung die Bindung an EINE Sprache voraus- kel hat, ist man weniger großzügig. Negative ten von Kindern und Jugendlichen gezielt auf- setzt. Wie bereits oben dargelegt wurde, ist dies Reaktionen auf Lernersprachen sind jedoch zubauen. Wenngleich der Forschungsbedarf im nicht der Fall. Es gibt keinen prinzipiellen kein gutes pädagogisches Instrument, um die Bereich des Zweitspracherwerbs noch groß ist, Grund, warum sich mehrsprachige Menschen Motivation der Kinder zu erhalten. so wissen wir mittlerweile doch genug über die nicht mit mehreren Sprechergemeinschaften Dynamik von Spracherwerbsprozessen, um zu verbunden fühlen sollten; viele beanspruchen insistieren, dass dieses Wissen umgehend in die für sich ganz dezidiert und selbstbewusst eine FAZIT Lehrerbildung und in die Aus- und Weiterbil- hybride Identität.17 dung von pädagogischen Fachkräften inte- Bisher ist es offensichtlich nicht gelungen, griert werden muss, um ein grundlegendes Um-  Migrantenfamilien sollten das Bedingungen zu schaffen, unter denen sich denken zu erzielen und auch dort neue Hand- Deutsche zur Familiensprache machen. das Lernpotential von Migrantenkindern oder lungs- und Denkräume zu eröffnen. In der öffentlichen Diskussion wird immer wie- der die Annahme formuliert, nicht-deutsch- sprachige Eltern sollten Deutsch lernen, um es ihren Kindern beizubringen. Ohne Zweifel sind UNSERE AUTORINNEN Eltern wichtige Vorbilder für ihre Kinder. Wenn sie selbst Deutsch lernen und im Alltag verwen- Rosemarie Tracy hat Inken Keim ist Wis- den, setzen sie damit wichtige Signale; sie ver- einen Lehrstuhl für senschaftlerin am helfen dem Deutschen damit auch in den Au- Anglistische Lin- Institut für Deut- gen der Kinder zu Ansehen. Eltern können auf guistik an der Uni- sche Sprache und mannigfache Weise die Lernbereitschaft, die versität Mannheim. Privatdozentin an Neugier und den Bildungsprozess ihrer Kinder Ihre Forschungs- der Universität beeinflussen und aktiv unterstützen. Aber was schwerpunkte liegen Mannheim. For- Eltern, sofern sie das Deutsche nicht bereits gut im Bereich des schungsschwer- beherrschen, nicht können, ist, ihren Kindern Spracherwerbs und punkte sind Sozio- ein Modell für die deutsche Grammatik anzu- der Mehrsprachig- linguistik, Ethno- bieten. Ohne sehr gute Sprachkenntnisse kann keit. Sie hat 2002 graphie und Mehr- man Lernern nicht den reichhaltigen, kontrast- die Mannheimer sprachigkeit unter reichen Input anbieten, den das kindliche Ge- Forschungs- und Kontaktstelle für Mehrspra- Migrationsbedingungen. Sie leitete zusammen hirn braucht, um ein sprachliches System er- chigkeit ins Leben gerufen, die in Weiterbil- mit Werner Kallmeyer das Projekt „Deutsch- folgreich zu entschlüsseln. Die Eltern sollten dungsveranstaltungen Erzieherinnen, Erzie- türkische Sprachvariation und die Herausbil- vielmehr dazu ermutigt werden, mit ihren Kin- hern, Lehrerinnen und Lehrern praxisrelevante dung kommunikativer Stile in Migrantenju- dern in den Erstsprachen zu kommunizieren, in Forschungserkenntnisse vermittelt. Sie beglei- gendgruppen“ und ist zusammen mit Rose- denen sie ihnen komplexen, authentischen In- tet diverse Förderprojekte in Schulen und Kin- marie Tracy in Sprachförderprojekten für Mi- put anbieten können. Der deutsche Input muss dertagesstätten, u. a. das Ludwigshafener grantenkinder engagiert. dann von anderer Seite kommen. Dies setzt Sprachförderprojekt „Sprache macht stark!“, voraus, dass die Verantwortlichen entspre- ein von der BASF unterstütztes Projekt der of- chend qualifiziert wurden und dass ausrei- fensiven Bildung.

226 Mehrsprachigkeit und Migration

LITERATUR ANMERKUNGEN Ahrenholz, Bernt (Hrsg.) (2006): Kinder mit Migrations- Hinnenkamp, Volker (2005): „Zwei zu birmiydi?“. Misch- 1 Vgl. Deutsches PISA-Konsortium (2001). hintergrund. Freiburg sprachliche Varietäten von Migrantenjugendlichen im 2 Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung IGLU, Aslan, Sema (2005): Aspekte des kommunikativen Stils Hybriditätsdiskurs. In: Hinnenkamp, Volker/Meng, Ka- vgl. Bos et al. (2003) und (2004) 3 einer Gruppe weltläufiger Migranten türkischer Her- tharina (Hrsg.): Sprachgrenzen überspringen. Sprachliche Vgl. den Artikel in DIE ZEIT, Nr. 10, 27.02.2003, S.16. 4 kunft. In: DS (Deutsche Sprache), Heft 4/ 04, 32. Jhg., S. Hybridität und polykulturelles Selbstverständnis. (Stu- Ggl. den Artikel im Mannheimer Morgen vom 9.11.2004, 327-356. dien zur deutschen Sprache. Forschungen des Instituts S.5. 5 Vgl. den Artikel in DIE ZEIT, a.a.O; dort heißt es: „ob Auer, Peter (2003): ‘Türkenslang’: Ein jugendsprachlicher für Deutsche Sprache). Tübingen, S. 51-144. in Schweden oder Norwegen, in Österreich oder der Ethnolekt des Deutschen und seine Transformationen. Keim, Inken (i. Dr.): Die „türkischen Powergirls“ – Le- Schweiz: Überall können Kinder türkischer Einwanderer In: Häcki-Buhofer, Annelies (Hrsg.): Spracherwerb und benswelt und kommunikativer Stil einer Migrantinnen- besser lesen als hierzulande“. Lebensalter. Tübingen/Basel, S. 255-264. gruppe in Mannheim. Tübingen 6 Die ethnographisch-soziolinguistische Untersuchung Kern, Friederike/Selting, Margret (2006): Konstruktionen Backus, Ad (1996): Two in one. Bilingual speech of Tur- zum Sprach- und Kommunikationsverhalten türkisch- mit Nachstellungen im Türkendeutschen. In: Depper- kish immigrants in the Netherlands. Tilburg stämmiger MigrantInnengruppen in Mannheim wurde mann, Arnulf/ Fiehler, Reinhard/Spranz-Fogasy, Thomas Bade, Klaus/Bommes, Michael (2004): Einleitung: Inte- am Institut für Deutsche Sprache/ Mannheim (DFG-ge- (Hrsg.): Grammatik und Interaktion. Untersuchungen grationspotentiale in modernen europäischen Wohl- fördert) von 2000-2004 durchgeführt; zu den Projektpu- zum Zusammenhang von grammatischen Strukturen und fahrtsstaaten – der Fall Deutschland. In: Bade/Bommes, blikationen siehe www.ids-mannheim.de/prag/soziosti- Gesprächsprozessen. Radolfzell, S. 319-347. Michael/Münz, Rainer (Hrsg.): Migrationsreport 2004. listik/tuerkisch.html Fakten – Analysen – Perspektiven. Frankfurt am Main/ Kotsinas, Ulla-Britt (1998): Language Contact in Rinke- 7 Exemplarisch für eine weltoffene, trans- bzw. interna- New York, S. 11-42. by, an immigrant suburb. In: Androutsopoulos, Jannis/ tionale Orientierung türkischer Migranten der 2. Genera- Birdsong, David (Hrsg.) (1999): Second Language Acqui- Scholz, Arno (Hrsg.): Jugendsprache – language des jeu- tion sind die im Rahmen des Projekts untersuchten Grup- sition and the Critical Period Hypothesis. Mahwah (N.J.) nes – youth language. Frankfurt am Main, S. 125-148. pen, die „Europatürken“ und die „Unmündigen“; vgl. da- Bommes, Michael/Radtke, F.-O. (1993): Institutionali- Meisel, Jürgen M. (2001): The simultaneous acquisition zu Aslan (2005) und Cindark (2005). 8 sierte Diskriminierung von Migrantenkindern. In: Zeit- of two first languages: early differentiation and subse- Vgl. vor allem die rechtliche Unsicherheit, Verlust des schrift für Pädagogik, 39/3, S. 483-497. quent development of grammars. In: Cenoz, Jasone/Ge- Arbeitsplatzes und der Aufenthaltsgenehmigung in wirt- nesee, Fred (Hrsg.): Trends in Bilingual Acquisition, Am- schaftlichen Krisenzeiten; vgl. auch die ausländer- und be- Bos, Wilfried/Lankes, Eva-Maria/Prenzel, Manfred/ sterdam, S. 11-41 sonders türkenfeindlichen Aktionen in den 1990er-Jah- Schwippert, Knut/Walther, Gerd/Valtin, Renate (Hrsg.) ren und die Anschläge auf Türken in Mölln und Solingen. (2003): Erste Ergebnisse aus IGLU – Schülerleistungen Müller,Natascha/Kupisch, Tanja/Schmitz, Katrin/Canto- 9 Viele der befragten Jugendlichen berichten z. B., dass am Ende der vierten Jahrgangsstufe im internationalen ne, Katja (2006): Einführung in die Mehrsprachigkeits- ihre Cousins und Cousinen in der Türkei viel „freier“ leben Vergleich. Münster/New York/München/Berlin, S. 265- forschung. Tübingen als hier und deren Eltern viel großzügiger mit Vorschrif- 297. Myers-Scotton, Carol (2006): Multiple Voices. Malden (Mass.) ten und Verboten umgehen. Bos, Wilfried/Lankes, Eva-Maria/Prenzel, Manfred/ 10 Ethnolektale Formen sind in der Forschung auch für Rothweiler, Monika (2006): The acquisition of V2 and Schwippert, Knut/Valtin, Renate/Walther, Gerd (Hrsg.) andere Migrantenjugendgruppen in Schweden und in subordinate clauses in early successive acquisition of (2004): IGLU – Einige Länder der Bundesrepublik Deutschland beschrieben, vgl. u.a. Kotsinas (1998), Auer German. Journal of Bilingualism Deutschland im nationalen und internationalen Ver- (2003), Dirim/Auer (2004), Kern/Selting (2006). gleich. Münster/New York/München/Berlin Siebert-Ott, Gesa (2001): Frühe Mehrsprachigkeit. Tü- 11 Verwendete Sonderzeichen: * (kurze Pause),  (stei- Cindark, Ibrahim (2005): „Die Unmündigen“. Eine Fall- bingen gende Intonation),  (fallende Intonation), LACHEND studie der emanzipatorischen Migranten. In: DS (Deut- Thoma, Dieter/Tracy, Rosemarie (1986): Deutsch als frü- (Kommentar zur Äußerung auf der Kommentarzeile). Die sche Sprache), Heft 4/04, 32. Jhg., S. 299-326. he Zweitsprache: zweite Erstsprache? In: Ahrenholz, umgangssprachliche Lautung wird durch entsprechende Cummins, Jim (1986): Linguistic interdependence: A cen- Bernt (Hrsg): Kinder mit Migrationshintergrund. Frei- Schreibweise abgebildet. tral principle of bilingual education. In: Cummins, Jim/ burg, S. 53-75. 12 vgl. dazu Keim (i. Dr.), Teil II, in dem die biographische Swain, Merrill (Hrsg.): Bilingualism in education. Aspects Tracy, Rosemarie (1996): Vom Ganzen und seinen Teilen: Entwicklung der „türkischen Powergirls“ rekonstruiert of theory, research and practice. London, S. 80-95. Überlegungen zum doppelten Erstspracherwerb. In: und der äußerst schwierige Weg zu schulischem und be- Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.) (2001): PISA 2000. Sprache und Kognition 15, 1/2, S. 70-92. ruflichem Erfolg im Detail beschrieben wird. 13 Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im Tracy, Rosemarie (2005): Spracherwerb bei vier- bis acht- Bilinguale, deutsch-türkische Komunikationsformen internationalen Vergleich. Opladen jährigen Kindern. In: Guldimann, Titus/Hauser, Bern- werden in der Forschung auch für andere Migrantenju- hard (Hrsg): Bildung 4-8-jähriger Kinder. Münster, gendgruppen beschrieben, vgl. u. a. Backus (1996), Hin- Dirim, Inci/Auer, Peter (2004): Türkisch sprechen nicht nenkamp (2005). nur die Türken. Über die Unschärfebeziehung zwischen S. 59-75. 14 Vgl. zum Spracherwerb im Allgemeinen und unter- Sprache und Ethnie. Berlin/New York Tracy, Rosemarie (2006): Sprachmischung: Herausforde- schiedlichen Erwerbstypen die Aufsätze in Grimm 2000; Genesee, Fred/Nicoladis, Elena/Paradis, Johanne (1995): rungen und Chancen für die Sprachwissenschaft. In: Genesee et al. 1996; Müller et al. 2005, Siebert-Ott 2001; Language Differentiation in Early Bilingual Development. Deutsche Sprache 34, S. 44-60. Tracy 1996, 2005, 2006, Tracy/Gawlitzek 2000 In: Journal of Child Language 22 (1995), S. 611-631. Tracy, Rosemarie/Gawlitzek-Maiwald, Ira (2000): Bilin- 15 Vgl. Wegener 1998, Alterseffekte werden in Birdsong Gogolin, Ingrid/Neumann, Ursula (Hrsg.) (1997): Groß- gualismus in der frühen Kindheit. In: Grimm, Hannelore 1999 thematisiert; neuere Untersuchungen zum frühen stadt-Grundschule. Eine Fallstudie über sprachliche und (Hrsg.): Enzyklopädie der Psychologie. Band 3. Göttin- Zweitsprachenerwerb finden sich in Ahrenholz 1996; zum kulturelle Pluralität als Bedingung der Grundschularbeit. gen, S. 495-535. Erwerb des Deutschen bei türkischsprachigen Kindern vgl. Münster Weber, M. (2003): Heterogenität im Schulalltag. Kon- Rothweiler 1996; zu Kindern mit Russisch, Türkisch und Gomolla, Mechtild/Radtke, Frank-Olaf (2002): Institu- struktion ethnischer und geschlechtlicher Unterschiede. Arabisch als Erstsprachen Thoma/Tracy 2006. tionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Dif- Opladen 16 Zur Schwellenhypothese vgl. Cummins 1986 und die ferenz in der Schule. Opladen Wegener, Heide (Hrsg.) (1998): Eine zweite Sprache ler- Kritik in Siebert-Ott 2001. 17 Grimm, Hannelore (Hrsg.): Enzyklopädie der Psycholo- nen. Empirische Untersuchungen zum Zweitspracher- Vgl. dazu die Arbeiten in Hinnenkamp/Meng 2005 so- gie. Band 3: Sprachentwicklung. Göttingen werb. Tübingen. wie Myers-Scotton 2006.

Die Zeitschrift „Der Bürger im Staat“ wird herausgegeben von der LANDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Baden-Württemberg. Direktor der Landeszentrale: Lothar Frick Redaktion: Siegfried Frech, Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart, Telefax (07 11) 16 40 99-77. Herstellung: Schwabenverlag Media der Schwabenverlag AG, Senefelderstraße 12, 73760 Ostfildern (Ruit), Telefon (07 11) 44 06-0, Telefax (07 11) 44 23 49 Vertrieb: Verlagsgesellschaft W. E. Weinmann mbH, Postfach 12 07, 70773 Filderstadt, Telefon (07 11) 7 00 15 30, Telefax (07 11) 70 01 53 10. Preis der Einzelnummer: € 3,33, Jahresabonnement € 12,80 Abbuchung. Die namentlich gezeichneten Artikel stellen nicht unbedingt die Meinung der Redaktion dar. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Nachdruck oder Vervielfältigung auf Papier und elektronischen Datenträgern sowie Einspeisung in Datennetze nur mit Genehmigung der Redaktion.

227 POLITISCHE INTEGRATION FÖRDERT DIE AKKULTURATION Wahlverhalten und politische Repräsentation von Migranten

ANDREAS M. WÜST

lem Politikwissenschaftlern, erscheint diese Sicht zu Ergänzung des deutschen Staatsbürgerschafts- Wahlrecht, parlamentarische Präsenz und optimistisch. Unbestreitbar steigen die Chancen rechts um das Jus soli (2000) führte dazu, dass die die Mit-Entscheidung von Personen mit vollständiger Integration durch die Beseitigung von möglicherweise wahlentscheidende Bedeutung von Migrationshintergrund sind wichtige Ele- Starthindernissen erheblich. Es ist dennoch schwer Wahlberechtigten, die nicht von Geburt an die deut- mente der politischen Integration von absehbar, wie lange es dauern wird, bis strukturelle sche Staatsbürgerschaft besitzen, thematisiert wur- Einwanderern und tragen zum Abbau Defizite von Einwandererminoritäten abgebaut sind. de. Unmittelbar vor der Bundestagswahl 2002 sprach struktureller Defizite bei. Es gibt bislang Ferner öffnen sich Machtbereiche von Gesellschaf- das Wall Street Journal Europe davon, eingebürger- nur wenige empirische Analysen des ten nicht automatisch – eine Erfahrung, die insbe- te Türken seien Schröders „Secret Weapon“, die eine Wahlverhaltens von eingebürgerten Per- sondere Frauen in etablierten Demokratien noch Entscheidung zu Gunsten von Rot-Grün her- sonen in Deutschland. Aus verschiedenen heute machen müssen. Und schließlich ist es mit ei- beiführen könnten. Die Frankfurter Allgemeine Zei- Gründen hat es lange gedauert, bis Mi- ner Angleichung, d.h. Assimilation von Einwanderer- tung meinte nach der (für die bürgerlichen Parteien granten als politisch relevante Subjekte minoritäten an die Mehrheitsgesellschaft nicht ge- verlorenen) Wahl, die eindeutige „Präferenz der tür- und nicht nur als Objekte der Politik wahr- tan, denn sowohl Mehrheit als auch Minderheiten kischstämmigen Deutschen für Rot-Grün“ habe zu genommen wurden. Die Arbeiten von werden sich punktuell akkulturieren müssen. Inte- „weitreichenden Verzerrungen“ des Wahlergebnis- Andreas M. Wüst zum Wahlverhalten von gration ist keine Einbahnstraße, sondern ein Prozess, ses geführt.2 Und wenige Tage vor der Bundestags- Migranten haben hier eine entscheiden- an dessen Ende nicht nur eine angepasste Minder- wahl 2005 titelte die BILD-Zeitung3 mit einem vor ei- de Lücke geschlossen: Herkunft, Zeit- heit, sondern auch eine veränderte Gesamtgesell- ne türkische Flagge montierten Gerhard Schröder: punkt der Einwanderung, kulturelle und schaft steht. „Entscheiden Türken die Wahl?“ Der Hinweis auf den religiöse Orientierung der eingebürger- Redaktionsbesuch des Bundeskanzlers bei Hürriyet ten Personen beeinflussen die Wahlbetei- wird verbunden mit der Anmerkung „Hier kämpft ligung, Parteibindung und die politischen POLITISCHE INTEGRATION FÖRDERT Schröder um 600 000 Stimmen.“ Aussiedler und Präferenzen. Die jeweiligen Parteiprä- DIE AKKULTURATION Spätaussiedler werden dagegen seltener als poten- ferenzen sind prägnant und hängen in zielle Wähler porträtiert, doch wies z.B. Der Spiegel entscheidendem Maße von dem durch Die politische Integration von Migranten leistet des- im Frühjahr 2003 darauf hin, dass die aussiedler- die Parteien jeweils vertretenen Gesell- halb einen nicht zu unterschätzenden Beitrag im freundliche Politik der CDU/CSU offensichtlich auch schaftskonzept ab: Aussiedler aus Russ- Rahmen des Akkulturationsprozesses von Mehrheit dem Kalkül entspringe, „zigtausende Wähler“ der land und Osteuropa wählen überwie- und Minderheiten. Hierzu bedarf es jedoch der Wahr- Union ins Land zu holen.4 gend die Unionsparteien, eingebürgerte nehmung von Migranten als (potenzielle) Subjekte Die jahrzehntelange Weigerung, Einwanderungs- Ausländer favorisieren die SPD und die und nicht nur als Objekte von Politik. Dies geschieht land zu sein, hatte nicht nur politische, sondern auch Grünen. Bei Abgeordneten mit Migra- zunächst mit Blick auf das Wählerpotenzial, das Mi- ganz unvermutete Konsequenzen auf die Bevölke- tionshintergrund ist auffallend, dass sie granten mit deutschem Pass bei Bundes- und Land- rungsstatistik. So war und ist es sehr leicht, die Be- der Repräsentation ‚ihrer’ gesellschaftli- tagswahlen und Migranten aus EU-Ländern auch völkerung in Deutsche und Ausländer zu unterteilen chen Gruppe einen hohen Stellenwert ohne deutschen Pass bei Kommunal- und Europa- – es leben derzeit 75,1 Millionen deutsche Staatsbür- einräumen und somit auch die nur unzu- wahlen stellen. Personen mit Migrationshintergrund ger und 7,3 Millionen ausländische Staatsbürger in reichend vertretene (Minderheiten-)Sicht stimmen über die Zusammensetzung der Parlamen- Deutschland. Eine Differenzierung nach dem Migra- in den politischen Prozess einbringen. te mit ab und sind somit – zumindest potenziell – po- tionshintergrund gibt es jedoch erst seit kurzem. litisch relevant. Dies ist ein elementarer Aspekt poli- Rund ein Viertel (15,3 Millionen) der in Deutschland tischer Integration, denn die gewählten Parteien und lebenden Personen hat nach den Ergebnissen des Mi- Abgeordneten sollten ihren Wählern gegenüber ver- krozensus 2005 einen Migrationshintergrund. Zwei ABBAU STRUKTURELLER DEFIZITE TRÄGT antwortlich und responsiv sein. Das bedeutet im Drittel von ihnen (10,4 Millionen) sind Einwanderer ENTSCHEIDEND ZUR INTERGRATION BEI Kern, die Anliegen der Wähler (und damit auch der und ein Drittel (4,9 Millionen) hat zumindest ein El- Migranten) programmatisch aufzugreifen, im parla- ternteil, das eingewandert ist. Unter den Personen Die gesellschaftliche Integration von Einwanderern mentarischen Prozess zu vertreten, aber auch weiter mit Migrationshintergrund besitzen acht Millionen und ihren Nachkommen ist während der letzten drei mit den Wählern zu kommunizieren und veränderte einen deutschen Pass, 2,7 Millionen bereits durch Ge- Jahrzehnte zu einem zentralen Thema in nahezu al- Problemlagen im parlamentarischen Handeln mit zu burt, 3,5 Millionen durch Einbürgerung und weitere len etablierten Demokratien geworden. Deutschland berücksichtigen. Dabei dürfte es nicht nur einen Un- 1,8 Millionen, weil sie als Spätaussiedler nach gehört – aus verschiedenen Gründen – zu denjeni- terschied machen, welche Partei sich der Probleme Deutschland kamen und seit August 1999 nicht mehr gen Ländern, in denen man sich dem Integrati- annimmt, sondern auch welche Personen. Abgeord- formal eingebürgert werden. Eng definiert handelt es onsthema erst in den letzten Jahren verstärkt ange- nete mit Migrationshintergrund sollten in der Lage sich demnach um 5,3 Millionen Eingebürgerte, von nommen hat. Mittlerweile hat man aber auch in sein, die Belange von Migranten stärker im Blick zu denen etwa zwei Drittel, d.h. rund 3,5 Millionen, Deutschland erkannt, dass Integrationsdefizite Fol- behalten, eine ergänzende (Minderheiten-)Sicht in wahlberechtigt sind. Bei 62 Millionen Wahlberech- gekosten haben und das Konfliktpotenzial in einer den politischen Prozess einzubringen, stärker in und tigten beträgt der Neubürgeranteil damit rund 5,7 Gesellschaft erhöhen. Darüber hinaus ist klar gewor- mit ihrer eigenen ethnischen Gruppe zu kommuni- Prozent.5 den, dass Einwanderer und ihre Nachkommen für ei- zieren und ihr gegenüber verantwortlicher zu sein. Es gibt immer noch wenige empirische Analysen des ne Gesellschaft nicht nur problematisch, sondern Deshalb sind, neben dem Wahlrecht, die parlamen- Wahlverhaltens von Migranten in Deutschland. Be- auch überaus nützlich sein können. tarische Präsenz und die Mit-Entscheidung von Per- sonders interessant ist und bleibt das Wahlverhalten Zu Recht wird in der Integrationsdiskussion der Be- sonen mit Migrationshintergrund wichtige Elemen- der eingebürgerten Personen, da sie auch bei Wah- seitigung struktureller Defizite von Einwanderermi- te der politischen Integration von Einwanderermino- len zum Bundestag wahlberechtigt sind. Neben noritäten größte Aufmerksamkeit geschenkt, denn ritäten.1 mangelndem Interesse stellt es aufgrund der gerin- Sprache und Bildung sind die Schlüssel zu erfolgrei- gen Gruppengröße vor allem ein forschungsprakti- cher Integration. Einige Soziologen sehen bereits in sches Problem dar, eingebürgerte Personen in aus- der strukturellen Angleichung ethnischer Minder- MIGRANTEN ALS POTENZIELLE WÄHLER reichender Zahl zu identifizieren und mittels Befra- heiten, vor allem Bildungsgrad und Berufsstatus, den gungen Informationen über das Wahlverhalten und Weg zu einer vollständigen Integration geebnet, Das Interesse der Wissenschaft an der Wahlbeteili- dessen mögliche Motive in Erfahrung zu bringen.6 denn andere Integrationsdefizite minimierten sich gung und am Wahlverhalten von Migranten in Zusätzlich zu so genannten Screening-Verfahren, bei im Laufe der Zeit quasi von selbst. Anderen, vor al- Deutschland war und ist alles in allem gering. Erst die denen im Rahmen allgemeiner Bevölkerungsumfra-

228 Wahlverhalten und politische Repräsentation von Migranten gen eingebürgerte Personen durch eine einzige Fra- nen europäischen und außereuropäischen Ländern. durchschnittlich. Einmal mehr unterscheiden sich ge identifiziert und damit herausgefiltert werden Nur wenige Neubürger (2002: 17 Prozent) wurden Russlanddeutsche am stärksten von den anderen können, besteht vor allem auf lokaler Ebene die Mög- in Deutschland geboren. Nahezu sämtliche Einge- Neubürgergruppen. Trotz hoher Arbeiter- und nied- lichkeit, Eingebürgerte gezielt zu befragen. Von bei- bürgerte mit der ehemaligen Staatsbürgerschaft ei- riger Selbstständigenanteile sind lediglich 17 Pro- den Möglichkeiten wurde wiederholt Gebrauch ge- nes Aussiedlerlandes wurden im Ausland geboren, zent von ihnen Mitglieder in einer Gewerkschaft. Da- macht, so dass mittlerweile einige Ergebnisse dieser jedoch nur knapp zwei Drittel der eingebürgerten mit besteht – übrigens nicht nur auf der Grundlage Datenerhebungen vorliegen, die Rückschlüsse auf Türken. Dieser Umstand ist für eingebürgerte Türken dieses einen Indikators12 – ein Integrationsdefizit das Wahlverhalten eingebürgerter Personen in hinsichtlich ihres Kenntnisstandes der politischen Russlanddeutscher, das Einfluss auf die politische In- Deutschland zulassen.7 Landschaft in Deutschland von Vorteil. Insbesonde- formiertheit dieser Gruppe haben sollte. re eingebürgerte Türken, aber auch die Eingebürger- ten aus der Sowjetunion, deren Nachfolgestaaten ZUSAMMENSETZUNG DER GRUPPE und aus Polen, sind jünger als gebürtige Deutsche. POLITISCHE BETEILIGUNG VON EINGEBÜRGERTER PERSONEN Interessanterweise unterscheiden sich die Bildungs- MIGRANTEN IN ANDEREN LÄNDERN grade zwischen Eingebürgerten und gebürtigen Im Rahmen der monatlichen Politbarometer von Fe- Deutschen kaum. Allerdings haben die meisten Aus- Analysen, die über die politische Beteiligung von Mi- bruar bis Dezember 1999 und von Oktober 2001 bis siedler ihre Schulabschlüsse wohl nicht in Deutsch- granten in verschiedenen Ländern vorliegen,13 bele- September 2002 wurden Neubürger mittels einer zu- land, sondern im Auswanderungsland erworben.9 gen meist eine im Vergleich zu Einheimischen deut- sätzlichen Frage identifiziert. Wie Tabelle 1 zeigt, liegt Eingebürgerte sind – insgesamt – vergleichsweise re- lich niedrigere und im Zeitverlauf sogar abnehmen- der Gesamtanteil in den kumulierten Umfragen mit ligiös. Der Anteil derer, die keine Religionszugehörig- de Wahlbeteiligung. In Schweden ist die Beteiligung 4,5 Prozent (1999) bzw. 4,8 Prozent (2001/02) nur keit angeben, ist unter Eingebürgerten niedriger als von Ausländern an Kommunalwahlen, bei denen sie leicht unter dem auf Grundlage des Mikrozensus unter gebürtigen Deutschen, die Anteile der Katho- seit 1975 wahlberechtigt sind, von 59,9 Prozent 2005 geschätzten Anteil von 5,7 Prozent.8 Es wird liken und Muslime dagegen höher. Letztere sind auf (1976) auf mittlerweile 35,1 Prozent (2002) gesun- deutlich, dass die meisten Neubürger der letzten polnische bzw. türkische und südosteuropäische ken.14 Dies entspricht einem Wahlbeteiligungsrück- zwanzig Jahre nicht ehemalige Arbeitsmigranten, Neubürger zurückzuführen. Höchst interessant ist in gang um fast 25 Prozentpunkte; im gleichen Zeit- sondern Aussiedler waren. Eingebürgerte aus Aus- diesem Zusammenhang, dass eingebürgerte Türken raum hat die Wahlbeteiligung unter den schwedi- siedlerländern machen jeweils rund die Hälfte aller ihren Glauben wohl insgesamt weniger intensiv schen Staatsbürgern lediglich 12,5 Prozentpunkte eingebürgerten Personen aus. Blickt man auf ehema- praktizieren als Aussiedler. In einer lokalen Befra- abgenommen und beträgt nun 78,0 Prozent (2002). lige Staatsbürgerschaften, dann ist der Anteil einge- gung in Heidelberg (1999) gaben lediglich 11 Pro- Damit liegt die kommunale Wahlbeteiligung von bürgerter Personen aus der ehemaligen Sowjetuni- zent an, regelmäßig in eine Moschee zu gehen. Die- Ausländern fast die Hälfte unter der Beteiligung on mit je rund einem Viertel am höchsten, derjenige ser niedrige Anteil mag mit einer geringeren Verfüg- schwedischer Staatsbürger. Blickt man nur auf Ein- der Rumäniendeutschen mit je etwas über acht Pro- barkeit von Moscheen zu tun haben, doch auch bei gebürgerte, ist die Wahlbeteiligungsdifferenz zu Ein- zent am niedrigsten. Insbesondere der Anteil Einge- einer Frage nach der Selbsteinschätzung der eigenen heimischen jedoch geringer. Im Nachbarland Norwe- bürgerter aus Polen, die sowohl 1999 als auch 2001/ Religiosität lagen eingebürgerte Muslime hinter ein- gen, wo diese Differenzierung vorliegt, betrug die 02 die zweitgrößte Gruppe bilden, ist rückläufig. gebürgerten Katholiken und Protestanten.10 Wahlbeteiligung bei der Parlamentswahl des Jahres Zugenommen hat dagegen der Anteil eingebürger- Diese Details über die Religionszugehörigkeit sind 2001 insgesamt 75,5 Prozent, unter Eingebürgerten ter Personen ehemals türkischer Staatsbürgerschaft. ebenso wichtig für einen konfliktlinienorientierten lag sie bei 52 Prozent. Eingebürgerte Norweger, die 2001/02 bildeten eingebürgerte Türken mit 13 Pro- Blick auf politische Präferenzen und das Wahlverhal- schon mindestens 30 Jahre im Land leben, beteilig- zent die drittgrößte Gruppe der Neubürger. Es ist da- ten eingebürgerter Personen wie die Frage nach ei- ten sich aber genauso häufig (75 Prozent) an der von auszugehen, dass Eingebürgerte ehemals türki- ner Affinität zu Gewerkschaften.11 Eingebürgerte Wahl wie Einheimische, während Eingebürgerte, die scher Staatsbürgerschaft mittlerweile (2006) die sind insgesamt in etwa gleichem Ausmaß Mitglieder weniger als zehn Jahre im Land leben, seltener (41 zweitgrößte Gruppe der Neubürger bilden. Alle wei- in Gewerkschaften wie Einheimische, doch es gibt Prozent) zur Wahl gingen.15 Auch in Großbritannien teren Differenzierungen nach ehemaliger Staatsan- merkliche Differenzen nach Herkunftsländern. Über beteiligen sich Personen mit Migrationshintergrund gehörigkeit sind aufgrund zu geringer Fallzahlen we- ein Drittel der eingebürgerten Türken ist Mitglied ei- seltener an Wahlen als Einheimische, doch weisen ei- nig sinnvoll. Ein großer Rest der eingebürgerten Per- ner Gewerkschaft, und auch die Mitgliedsanteile un- nige Minderheitengruppen (z.B. indischer Herkunft) sonen in Deutschland kommt aus vielen verschiede- ter eingebürgerten Polen und Rumänen sind über- auch leicht höhere Wahlbeteiligungsraten auf.16 US-

TABELLE 1: EINGEBÜRGERTE ÜBER 18 JAHREN NACH EHEMALIGER STAATSANGEHÖRIGKEIT Ehemalige Politbarometer 2001/02 Politbarometer 1999 Veränderung 2001/02-1999 Staatsangehörigkeit Fallzahl Anteil Fallzahl Anteil Prozentpunkte ehemalige Sowjetunion einschließlich Nachfolgestaaten 181 25,2 136 21,9 +3,3 Polen 116 16,1 114 18,5 -2,4 Rumänien 58 8,1 53 8,6 -0,5 Türkei 97 13,4 72 11,7 +1,7 Südeuropa 30 4,2 28 4,5 -0,3 Zentraleuropa 66 9,1 84 13,6 -4,5 Südosteuropa 49 6,9 31 5,0 +1,9 Nord- und Westeuropa sowie Nordamerika 38 5,3 26 4,2 +1,1 Mittel- und Südamerika 5 0,7 5 0,8 -0,1 Afrika 12 1,6 11 1,8 -0,2 Naher und Mittlerer Osten 13 1,8 9 1,4 +0,4 Asien 22 3,1 20 3,2 -0,1 keine Angabe 33 4,6 29 4,7 -0,1 Fallzahl Eingebürgerter und Anteil an allen Befragten 718 4,8 618 4,5 +0,3

229 ANDREAS M. WÜST amerikanische Studien zeigen ebenfalls eine durch- die immer noch sehr lückenhaft und international Linkspartei) waren hinsichlich Zuwanderungs- und weg niedrigere Wahlbeteiligung eingebürgerter Ein- nicht standardisiert ist, gibt es auch einige Beteili- Integrationsfragen stets fordernder als die SPD, wanderer im Vergleich zu Einheimischen.17 Die Wäh- gungsanalysen. Dass die Wahlbeteiligungen unter wenn auch der Grünen-Fokus früher eher auf Asyl- lerregistrierung stellt hier eine zusätzliche Hürde dar, Eingebürgerten höher sind als unter Ausländern suchenden als auf ausländischen Arbeitnehmern lag. so dass direkte Vergleiche nur bedingt möglich sind. überrascht nicht, denn die politische Gleichstellung Zu High politics wurden Migrationsfragen Anfang wird stets als ein wichtiges Motiv für die Einbürge- der 1990er-Jahre – die heftigen öffentlichen Ausein- rung genannt.21 Mit Hilfe von Umfragedaten konnte andersetzungen führten 1992 zum so genannten DIE WAHLBETEILIGUNG IN DER für Latinos in den USA gezeigt werden, dass die Wahl- „Asylkompromiss“, bei dem Zuzugsbeschränkungen BUNDESREPUBLIK beteiligung mit zunehmendem Alter, formalem Bil- sowohl für Aussiedler als auch Asylsuchende getrof- dungsgrad und Einkommen ansteigt.22 Und regiona- fen wurden, obwohl diese Asylbewerber sehr viel här- Ausländische Staatsbürger sind bei Bundes- und le Analysen für Kalifornien kamen zum Schluss, dass ter trafen als Aussiedler. Spätestens 1992/93 wurden Landtagswahlen in Deutschland nicht wahlberech- sozio-ökonomische und migrationsspezifische Fak- ideologische Grundpositionen (monokulturell vs. tigt. Etwas anders verhält es sich bei Kommunal- und toren (wie beispielsweise das Einwanderungsjahr) in multikulturell) und gruppenspezifische Präferenzen Europawahlen. Seit 1994 sind Bürger eines Landes, der Lage sind, einen Teil der Unterschiede zwischen (Pro-Aussiedler vs. Pro-Ausländer) der Parteien sehr das zum Zeitpunkt der Wahl der EU angehört, bei dem einheimischen, weißen Bevölkerungsteil und deutlich, obwohl die Parteien unisono davon spra- Kommunalwahlen automatisch und bei Europawah- den eingebürgerten Latinos sowie Asiaten zu er- chen, dass nun vor allem die Integration der in len auf Antrag wahlberechtigt. Die Antragstellung klären, ohne dass sich die Beteiligungslücke durch Deutschland lebenden Ausländer verbessert werden bei Europawahlen ist nötig, um doppelte Einträge in die Berücksichtigung dieser Faktoren ganz schließen sollte. Wählerregister in Deutschland und im Land, dessen lässt.23 Die in Tabelle 2 ausgewiesenen langfristigen Partei- Staatsbürgerschaft der EU-Bürger besitzt, auszu- Das Alter spielt auch für die Wahlbeteiligung Einge- bindungen (Parteiidentifikation) und die geäußerten schließen. Dies erfolgt in Form eines Abgleichs bürgerter in Deutschland eine wichtige Rolle: Über Wahlabsichten erscheinen auf dem Hintergrund der mit den zuständigen Behörden im EU-Ausland. Nach 50-jährige Neubürger geben sehr viel häufiger an zu skizzierten Parteipolitiken mehr oder weniger Auskunft des Bundeswahlleiters gibt es für die wählen als Eingebürgerte unter 40 Jahren. Dies er- zwangsläufig zu sein. Überraschend ist zunächst, Europawahl 1994 keine bundesweite Statistik über klärt einen Teil der Beteiligungsunterschiede zwi- dass in den ausgewiesenen Neubürgergruppen je- die Zahl derjenigen Unionsbürger, die sich ins Wäh- schen den insgesamt älteren Rumäniendeutschen weils mindestens die Hälfte der Befragen (50 Pro- lerverzeichnis haben eintragen lassen. 1999 waren und anderen Neubürgergruppen. Größeren Einfluss zent bis 59 Prozent) angibt, einer Partei langfristig es rund 33.000 (2 Prozent) der damals 1,6 Millio- auf die Wahlbeteiligung im Vergleich zum Migrati- zuzuneigen. Damit liegen die Anteile an eine Partei nen potenziell wahlberechtigten Unionsbürger in onshintergrund hat aber die Kirchgangshäufigkeit: langfristig gebundener Neubürger annähernd so Deutschland, 2004 stieg die Zahl auf 133.000 (6 Pro- Insbesondere praktizierende Christen beteiligen sich hoch wie unter gebürtigen Deutschen (63 Prozent). zent) der nun 2,15 Mio. Unionsbürger im Wahlalter. häufiger an Wahlen als Nicht-Kirchgänger.24 Dieses Auf der Grundlage dessen, was wir über die Entwick- Es ist anzunehmen, dass die Mehrzahl dieser Perso- Ergebnis ähnelt den US-amerikanischen, denn Louis lung langfristiger Parteibindungen wissen,31 sind die nen auch tatsächlich gewählt hat, doch Informatio- De Sipio fand unter den Latino-Nichtwählern signi- Anteile derjenigen Neubürger, die einer Partei lang- nen hierüber liegen nicht vor. Über die Beteiligung fikant weniger bekennende Christen.25 Das Ergebnis fristig zuneigen, unerwartet hoch. Und diese langfri- von Unionsbürgern an Kommunalwahlen gibt es et- ist insofern plausibel, da soziale Integration (in die- stigen Parteibindungen prägen in erheblichem Aus- was mehr, aber immer noch wenige Erkenntnisse. sem Fall in Form des Kirchgangs) stärkere politische maß das Wahlverhalten. Etwa die Hälfte der jeweili- Vereinzelte Anstrengungen zeigen weit unterdurch- Partizipation fördert.26 Die Daten der lokalen Unter- gen Partei-Wähler stammt auch in den Neubürger- schnittliche Beteiligungsraten von Unionsbürgern suchung in Heidelberg im Jahr 1999 zeigen darüber gruppen von Identifikateuren – nur etwas weniger bei Kommunalwahlen: So ergaben Sonderauswer- hinaus, dass Eingebürgerte, die überwiegend deut- als unter gebürtigen Deutschen. tungen der Stadt Stuttgart anlässlich der Kommu- sche Medien (Zeitungen, Radio, Fernsehen) nutzen, Kleine Parteien scheinen für Neubürger insgesamt nalwahlen der Jahre 1999 und 2004 Wahlbeteiligun- häufiger angeben, dass sie zur Wahl gehen würden weniger attraktiv zu sein, und die verschiedenen gen der Unionsbürger von 22 Prozent (1999) und 18 als Eingebürgerte, die gleichgewichtig deutsche Me- Neubürgergruppen scheuen zudem jeweils be- Prozent (2004). Diese Beteiligungen liegen weit un- dien und solche des Herkunftslandes nutzen. Inso- stimmte Parteien. Eingebürgerte Türken meiden die ter der durchschnittlichen Wahlbeteiligung in Stutt- fern kann eine Orientierung am Herkunftsland, wie CDU/CSU, während die SPD unter Eingebürgerten gart von 48 Prozent (1999) bzw. 49 Prozent (2004). Freeman und Ögelman argumentieren, die politische aus der Sowjetunion, deren Nachfolgestaaten und Auch an anderen Wahlen beteiligten sich Unions- Integration im Einwanderungsland behindern.27 aus Rumänien stark unterrepräsentiert ist. Diese bürger unterdurchschnittlich, mit Raten zwischen prononcierten Partei-Unterstützungsprofile der Neu- 15 Prozent und 30 Prozent.18 Insofern werden die bürger finden im Ausmaß lediglich bei einigen weni- schwedischen Ergebnisse bestätigt. PARTEIPRÄFERENZEN gen sozio-ökonomischen Untergruppen bei gebürti- Bei Bundestagswahlen beschränkt sich die Wahl- gen Deutschen eine Entsprechung. So erwiesen sich berechtigung auf deutsche Staatsbürger. Untersu- Parteipolitik reflektiert in erheblichem Maß poli- im Exit poll von ZDF und Forschungsgruppe Wahlen chungen der Wahlbeteiligung eingebürgerter Türken tisch-ideologische Grundpositionen und kommt da- zur Bundestagswahl 2002 nur kirchengebundene in Deutschland19 sowie aller Personen, die im Jahr mit zumeist solchen sozialen Gruppen zugute, die ei- Katholiken als genauso ausgeprägte Unionsanhän- 2000 in der Hansestadt Hamburg eingebürgert wur- ne Partei langfristig unterstützen.28 Dies ist im Poli- ger (73 Prozent) wie Russlanddeutsche.32 Wenn den,20 zeigen, dass die Wahlbeteiligung Eingebürger- tikfeld Migration (Einwanderungs- und Integrati- man berücksichtigt, dass der Anteil der kirchenge- ter in etwa so hoch liegt wie diejenige gebürtiger onspolitik) nicht anders. Die CDU/CSU war schon im- bundenen Katholiken in Deutschland inzwischen ge- Deutscher. Auch die Politbarometerdaten belegen mer zurückhaltend, wenn es um die dauerhafte Nie- rade noch 11 Prozent beträgt,33 dann erscheint die geringe Beteiligungsunterschiede zwischen gebürti- derlassung und Einbürgerung von Nicht-Aussiedlern noch kleinere Gruppe der Russlanddeutschen (gut gen Deutschen und Einwanderern. In den monatli- ging, dagegen jedoch stets unterstützend, wenn es 1 Prozent) nicht mehr ganz so klein. chen Befragungen der Jahre 2001/02 gaben 87 Pro- die Zuwanderung ethnisch deutscher Aussiedler be- Tabelle 2 beinhaltet neben langfristigen Parteibin- zent der gebürtigen Deutschen und 82 Prozent der traf. Auch die große Zuwanderungswelle aus Osteu- dungen und den Ergebnissen auf die Wahlabsichts- Eingebürgerten an, sich an einer Bundestagswahl ropa, die Ende der 1980er-Jahre einsetzte, änderte frage auch so genannte Parteipotenziale nach ehe- beteiligen zu wollen. Eingebürgerte ehemals türki- nichts an der Grundposition, die Grenzen für Aus- maliger Staatsangehörigkeit. Diese Parteipotenziale scher Staatsbürgerschaft und Russlanddeutsche lie- siedler prinzipiell durchlässig zu halten. Auch die SPD entstanden durch die Kombination von Antworten gen mit Beteiligungsraten von jeweils 78 Prozent war bis Ende der Achtzigerjahre nicht allzu kritisch auf zwei Fragen im Politbarometer:34 zunächst der am Ende, Rumäniendeutsche bilden mit 88 Prozent bezüglich der Aussiedlermigration, doch lag und Wahlabsicht und nachfolgend einer Frage, ob der- die Spitze. liegt ihr Schwerpunkt auf der gesellschaftlichen In- oder diejenige Befragte sich vorstellen könnte, diese tegration ausländischer Arbeitnehmer und der fai- (andere) Partei zu wählen. Erwartungsgemäß ebnen ren Behandlung von Asylsuchenden und Flüchtlin- sich die Unterschiede der Parteipräferenz etwas ein, BETEILIGUNG HÄNGT VON ALTER, gen.29 Die FDP-Position lag häufig näher an derjeni- doch es kommt nicht von ungefähr, dass 60 Prozent BILDUNGSGRAD UND EINKOMMEN AB gen der Sozialdemokraten, doch hinderte die Treue der eingebürgerten Türken sich nicht vorstellen kön- zur Koalition mit der Union lange Zeit daran, weiter- nen, die CDU/CSU zu wählen und 63 Prozent der Neben der reinen Bestandsaufnahme der Wahlbetei- reichende gesetzliche Änderungen herbeizu- Rumäniendeutschen die SPD stets meiden. Es ligung unter Personen mit Migrationshindergrund, führen.30 Die Grünen (und später auch PDS und scheint einen ethnisch-kulturellen Grundkonflikt

230 Wahlverhalten und politische Repräsentation von Migranten

TABELLE 2: PARTEIIDENTIFIKATION, WAHLABSICHT UND PARTEIPOTENZIAL NACH EHEMALIGER STAATSANGEHÖRIGKEIT (SPALTENPROZENTWERTE; POLITBAROMETER 10/01 – 09/02)

gebürtige Deutsche Eingebürgerte SPD CDU/CSU Grüne FDP PDS keine SPD CDU/CSU Grüne FDP PDS keine Parteiidentifikation 27 26 4 3 2 37 23 23 3 1 1 42 Wahlabsicht 3939784–4242862– Parteipotenzial 54 52 28 36 12 – 57 60 31 28 10 – Land der ehemaligen Staatsangehörigkeit SU und Nachfolgestaaten Türkei SPD CDU/CSU Grüne FDP PDS keine SPD CDU/CSU Grüne FDP PDS keine Parteiidentifikation 9 36 1 1 0 42 31 490050 Wahlabsicht 2373111–62112233– Parteipotenzial 48 77 13 17 5 – 73 40 56 24 19 – Land der ehemaligen Staatsangehörigkeit Polen Rumänien SPD CDU/CSU Grüne FDP PDS keine SPD CDU/CSU Grüne FDP PDS keine Parteiidentifikation 18 29 1 1 1 41 14 28 2 3 0 45 Wahlabsicht 4251321–17605190– Parteipotenzial 50 69 27 32 5 – 37 73 34 47 8 –

(Cleavage) zu geben, an dessen Endpunkten ein Zeit, diese zu ändern. Auch die erste als deutsche aussiedlerfreundliche Politik betrieben, die ihr zwar monokulturelles bzw. ein multikulturelles Gesell- Staatsbürger geborene Generation wird zu einem noch heute bei Aussiedlern nützt, die jedoch zuse- schaftskonzept steht.35 Dieses Cleavage ist von den großen Teil, zumindest anfangs, die Präferenzen der hends verblasst. Die rot-grüne Bundesregierung hat Parteien recht prägnant besetzt und führt zu migra- Elterngeneration übernehmen.38 Doch die Parteien in ihrer ersten Legislaturperiode das Staatsan- tionsgruppen-spezifischer Politik. Die Parteipräfe- erhalten spätestens hier eine neue Chance. Sie soll- gehörigkeitsrecht moderat, aber wegweisend refor- renzen der Migrationsgruppen sind deshalb präg- ten diejenigen Neubürgergruppen, von denen sie miert, und diese Veränderungen wurden insbeson- nant und schwächen sich unter Berücksichtigung derzeit noch gemieden werden, über konkrete Ange- dere von eingebürgerten Türken goutiert. Einigen sozio-demographischer Differenzen nur unwesent- bote neu gewinnen können. Der SPD müsste dies gingen die Reformen aber nicht weit genug, so dass lich ab.36 über die Thematisierung der sozialen Lage bei Aus- anzunehmen ist, dass insbesondere die vor der Bun- siedlern etwas leichter fallen als der CDU/CSU, die das destagswahl 2005 gegründete Linkspartei auch Un- „C“ im Namen trägt, das Muslime nicht unbedingt er- terstützung von Eingebürgerten erfährt. Da aktuelle ZUR LANGFRISTIGEN STABILITÄT mutigt, sich den im Prinzip durchaus nicht unattrak- Daten fehlen, lässt sich diese mögliche Verschiebung VON PARTEIPRÄFERENZEN tiven, konservativen Politikangeboten zu öffnen. Ins- innerhalb des multikulturell orientierten linken La- besondere der letztgenannte Grund wäre durchaus gers jedoch bislang nicht quantifizieren. Die politischen Präferenzen und das Wahlverhalten eine Chance für die FDP, die sie bislang kaum nutzt. eingebürgerter Personen sind nach den bisher ge- Hinzu kommt, dass Wähler sehr wohl zwischen dem zeigten und berichteten Ergebnissen auffällig klar. entscheiden können, was die Parteien für sie und ihr KANDIDATEN MIT Doch sind diese gruppenspezifischen Muster auch soziales Umfeld tatsächlich tun und was sie anderer- MIGRATIONSHINTERGRUND im Zeitverlauf konstant? Werden drei Viertel der seits „nur“ versprechen. Bis weit in die 1990er-Jahre Russlanddeutschen auch in zwei, fünf oder zehn Jah- hinein hatte die Kohl-Regierung eine auch in Teilen Wenn das Wahlverhalten von Personen mit Migrati- ren die CDU/CSU wählen und 60 Prozent der einge- der CDU/CSU-Fraktion nicht immer unumstrittene, onshintergrund in Deutschland noch kaum unter- bürgerten Türken die SPD? Diese Frage lässt sich nicht abschließend beantworten, doch es gibt mehrere Gründe anzunehmen, dass die gezeigten parteipoli- ABBILDUNG 1: WAHLABSICHT NACH EINBÜRGERUNGSJAHR tischen Präferenzmuster zumindest mittelfristig (AUSGEWÄHLTE NEUBÜRGERGRUPPEN; IN PROZENT) stabil sind. Die Einschätzung beruht auf der Prägnanz (Parteipotenziale) und Tiefe (Parteiidentifikation) der Präferenzen, aber auch auf Ergebnissen einer retro- 100 spektiven Sicht, die in Abbildung 1 dargestellt sind: Wenn wir die vor 1995 mit danach eingebürgerten SU und Nachfolgestaaten Türkei Russlanddeutschen und Türken vergleichen, dann 80 zeigt sich vor allem, dass das jeweils gemiedene La- ger (SPD bei Russlanddeutschen, Union bei einge- bürgerten Türken) nur mäßig von Veränderungen politischer Präferenzen profitiert. Trotz gewisser Va- 60 riationen, die durchaus auch auf den niedrigen Fall- zahlen beruhen können, bleiben die Präferenzen prägnant und signifikant verschieden. Demnach 40 sollten starke Veränderungen innerhalb kurzer Zeit unwahrscheinlich sein, zumal eine veränderte sozi- alstrukturelle Zusammensetzung (z.B. durch berufli- 20 chen Aufstieg) oder eine bessere gesellschaftliche In- tegration den bisherigen Analysen zu Folge nur ge- ringe Effekte auf parteipolitische Präferenzen hat.37 0 Wenn parteipolitische Präferenzen in den verschie- bis 1995 1995–2002 bis 1995 1995–2002 denen Neubürgergruppen tief verankert sind, dann N = 93 N = 62 N = 25 N = 62 bedürfte es in jedem Fall erst einmal ausreichender

231 ANDREAS M. WÜST

TABELLE 3: ANTEILE DER KANDIDATEN MIT EIGENER MIGRATIONSERFAHRUNG Unterdrückung erfahren haben, eine Heimat bietet. UNTER DEN KANDIDATEN DER IM BUNDESTAG VERTRETENEN PARTEIEN BEI DER Im Vergleich: Nur die Linkspartei bot ebenfalls drei BUNDESTAGSWAHL 2005 Kandidaten aus dem Nahen Osten auf, CDU und Grü- ne jeweils einen, die SPD keinen. insges. CDU/CSU FDP SPD Grüne Linke Außerhalb des Gebietes der Bundesrepublik 107 18 20 21 14 34 VERBESSERT SICH DIE QUALITÄT geborene Kandidaten POLITISCHER REPRÄSENTATION? darunter: Die klassische Repräsentationsforschung stellt Par- aus ehemals deutschen teien und politische Inhalte in den Fokus ihrer Be- Gebieten Eingewanderte 40 9 6 9 2 14 trachtungen. Demnach ist die Vertretung von Ideen aus Aussiedlerländern und Interessen das zentrale Element politischer Re- Eingewanderte 13 3 1 3 1 5 präsentation und weitaus wichtiger als die Vertre- tung gesellschaftlicher Gruppen durch Personen, die aus Rekrutierungsländern solchen Gruppen angehören.42 Es ist unbestreitbar, für „Gastarbeiter“ 21 2 1 4 5 9 dass beispielsweise auch Unternehmer Arbeitneh- aus allen merinteressen vertreten können, und dass es keines anderen Ländern 33 4 12 5 6 6 Migrationshintergrundes bedarf, um die Interessen von Migranten vertreten zu können. Dennoch sollte Quelle: Eigene Zusammenstellung und Ausdifferenzierung unter Berücksichtigung von Informationen aus der IMMCANDS Database von Sara Claro da Fonseca, WZ Berlin. es aus mehreren Gründen einen Unterschied für die Qualität politischer Repräsentation machen, ob Mi- granten und ihre Nachkommen durch Personen mit sucht ist, dann gilt dies verstärkt für die Beschäfti- onshintergrund bei Bundestagswahlen arbeitet, las- Migrationshintergrund politisch vertreten werden gung mit Kandidaten, die einen Migrationshinter- sen in Zukunft mehr Klarheit über Kandidaten mit oder nicht.43 grund haben. Auch hier bestehen forschungsprakti- Migrationshintergrund erwarten.40 Zum einen hat die Präsenz auf der politischen Büh- sche Probleme, denn der Migrationshintergrund ei- ne einen doppelten symbolischen Wert. Migranten nes Kandidaten ist oft nur sehr schwer feststellbar. haben ‚ihre’ sichtbaren Repräsentanten, d.h. sie kön- Nicht zuletzt deshalb liegen auch aus anderen Län- EIN BLICK AUF PARTEIDIFFERENZEN LOHNT nen sich über politische Akteure ihrer eigenen Grup- dern nur wenige Bestandsaufnahmen vor.39 Eine pe der Gesamtgesellschaft leichter zugehörig erste Annäherung lässt sich über diejenigen Kandi- Trotz der möglichen Einschränkungen hinsichtlich fühlen.44 Dies kann sogar dazu führen, dass diese po- daten der im Bundestag vertretenen Parteien errei- der „zufällig“ im Ausland geborenen Deutschen, litischen Akteure als Vorbilder wahrgenommen wer- chen, die nicht auf dem Gebiet der heutigen Bundes- lohnt der Blick auf Parteidifferenzen. Bei der Links- den und damit die politische Integration gefördert republik geboren wurden und demnach eine eigene partei finden sich die meisten Kandidaten mit Migra- wird. Andererseits wird für die Gesamtgesellschaft Migrationserfahrung (erste Generation) aufweisen. tionshintergrund, bei den Grünen die wenigsten. durch eine solche Präsenz klarer, dass die Gesell- Wie Tabelle 3 zeigt, trifft dies auf 107 (4,6 Prozent) Letzteres Ergebnis beruht vor allem auf der mit Ab- schaft nicht nur aus ‚Einheimischen’ besteht bzw. der 2.346 Kandidatinnen und Kandidaten der Bun- stand niedrigsten Anzahl von grünen Kandidaten aus mono-ethnisch ist. Zum zweiten ist es wichtig, dass destagswahl 2005 zu, die einer im Parlament vertre- ehemals deutschen Gebieten; auch aus Aussiedler- spezifische Erfahrungsschätze in den politischen tenen Partei angehörten. Durch die Besetzung aus- ländern kommt nur ein Kandidat. Dies sieht bei Prozess eingebracht werden. Dies war und ist mit ländischer Gebiete durch Deutschland im Zweiten CDU/CSU, SPD und Linkspartei anders aus: die mei- Blick auf die Arbeiterschaft oder auf Frauen durch- Weltkrieg und die Verkleinerung des deutschen sten ihrer Kandidaten kommen aus ehemals deut- aus von Relevanz.45 So sollte es einen substanziellen Staatsgebietes als Kriegsfolge schließt die Definition schen Gebieten. Die Tatsache, dass erheblich mehr Unterschied machen, ob ein Einwanderer, der selbst „Geburt außerhalb des Staatsgebietes“ aber auch Vertriebene in die SBZ als nach Westdeutschland ka- und in seinem unmittelbaren Umfeld Diskriminie- Personen ein, die als deutsche Vertriebene und men, könnte die vergleichsweise hohen Anteile bei rung erfahren hat, über diesen Themenkomplex dis- Flüchtlinge zu Ende des Zweiten Weltkriegs nach der Linkspartei mit erklären,41 da der Schwerpunkt kutiert oder ein über Generationen hinweg gut situ- Deutschland kamen. Dies trifft auf den größten Teil der Linkspartei in den neuen Bundesländern liegt. In- ierter ‚Einheimischer’. Schließlich ist auch die Kom- (40) der Kandidaten mit Migrationshintergrund zu, teressant ist aber vor allem die Frage, ob es, entspre- munikation zwischen den Bürgern und Politikern, im zum Beispiel (SPD) oder Erika chend dem mono-multikulturellen Cleavage, par- besten Fall Abgeordneten, sehr wichtig für die Qua- Steinbach (CDU). teispezifische Differenzen zwischen Kandidaten aus lität politischer Repräsentation.46 Und hier macht es Daneben gibt es aber auch 13 Kandidaten mit Migra- Aussiedlerländern und solchen aus Rekrutierungs- nicht nur einen Unterschied, einen Politiker anspre- tionshintergrund, die in Aussiedlerländern (Rumäni- ländern für „Gastarbeiter“ gibt. Hier lassen sich zu- chen zu können, der aus dem eigenen Wahlkreis en, Polen, Sowjetunion und Nachfolgestaaten) gebo- mindest zwei Tendenzen feststellen. Zum einen stel- stammt, sondern auch, ob der Bürger ihn, im weite- ren wurden sowie 21 Kandidaten, die in ehemaligen len linke Parteien mehr Kandidaten aus ehemaligen sten Sinne, als Zugehöriger der eigenen gesellschaft- Rekrutierungsländern für ausländische Arbeitneh- Rekrutierungsländern für Gastarbeiter als aus Aus- lichen Gruppe wahrnehmen kann oder nicht.47 Die mer (Italien, Jugoslawien, Türkei u. a.) zur Welt ka- siedlerländern auf. Zum anderen haben die politisch amerikanische Repräsentationsforschung konnte men. 33 weitere Kandidaten mit Migrationshinter- links stehenden Parteien mehr Kandidaten aus den für Afro-Amerikaner zeigen, dass sowohl von Seiten grund wurden in anderen Ländern (u. a. Westeuropa, Rekrutierungsländern für Gastarbeiter als die Partei- der Bürger als auch auf Seiten der Repräsentanten Nordamerika, Naher Osten) geboren. Vor allem in en des bürgerlichen Lagers. Der Blick auf Kandidaten, mehr Kontakt besteht, wenn beide der gleichen Min- letzterer Gruppe, möglicherweise aber auch in den die in der Türkei geboren wurden, macht den Unter- derheitengruppe angehören.48 anderen, können sich allerdings noch Personen be- schied noch deutlicher: bei der FDP findet sich kein Erste Ergebnisse für Deutschland verspricht die finden, die als Kinder deutscher Eltern im Ausland ge- solcher Kandidat, bei der CDU einer, bei der SPD drei, Deutsche Kandidatenstudie 2005,49 in deren Rahmen boren wurden, z.B. im Zuge eines Auslandsaufent- bei den Grünen vier und bei der Linkspartei acht. Hier auch nach dem Geburtsort und dem ethnischen Hin- haltes. Manchmal hat dies, wie im Falle von Harald gibt es dann doch noch beträchtliche Unterschiede tergrund (Selbstdefinition mit der Möglichkeit von Leibrecht (FDP), auch zu einer Sozialisation im Aus- zwischen den bürgerlichen und den linken Parteien. Mehrfachantworten) der Kandidaten gefragt wurde, land geführt, so dass die „Rückkehr“ nach Deutsch- Ein abschließender Blick auf diejenigen Kandidaten, so dass auch Aussagen über Kandidaten mit Migra- land nicht nur als Formalie, sondern auch als Migra- die weder in ehemals deutschen Gebieten geboren tionshintergrund getroffen werden können. Insge- tionsprozess verstanden werden kann. In anderen wurden noch aus Aussiedlerländern oder Rekrutie- samt 35 (3,4 Prozent) der 1.031 Befragten gaben an, Fällen, wie bei Patricia Lips (CDU), fand lediglich die rungsländern für Gastarbeiter kamen, belegt eine einen anderen ethnischen Hintergrund zu haben. 14 Geburt im Ausland – hier: Italien – statt, so dass man vergleichsweise hohe Anzahl von 12 Kandidaten bei sind einem ehemaligen Rekrutierungsland für Gast- eigentlich nicht von einem Migrationshintergrund der FDP. Von diesen kommen jeweils zwei aus Frank- arbeiter zuordenbar und 7 einem klassischen Aus- sprechen kann. Weitere Forschungsanstrengungen, reich und aus den USA, aber drei aus dem Nahen siedlerland. Zwei Kandidaten haben einen sorbischen wie u.a. von Sara Claro da Fonseca, die am Wissen- Osten. Möglicherweise ist die liberale FDP eine Par- Hintergrund vermerkt. Immerhin 68 Kandidaten (6,6 schaftszentrum Berlin über Kandidaten mit Migrati- tei, die in höherem Ausmaß Personen, die politische Prozent) haben die Frage verweigert; nur drei von ih-

232 Wahlverhalten und politische Repräsentation von Migranten nen wurden im Ausland geboren. Aufgrund der ge- TABELLE 4: ABGEORDNETE DES 16. DEUTSCHEN BUNDESTAGS MIT ringen Fallzahlen sind Analysen für einzelne Grup- MIGRATIONSHINTERGRUND (ERSTE UND ZWEITE EINWANDERERGENERATION; pen statistisch problematisch. Möglich ist jedoch, OHNE EHEMALS DEUTSCHE GEBIETE) sich Differenzen zwischen den ausschließlich deut- schen und allen Kandidaten mit einem anderen eth- CDU/CSU FDP SPD Grüne Linke nischen Hintergrund anzusehen. als Deutsche Carl E. von im Ausland Bismarck (CH) Hartfrid Wolff geboren (CH) DIE AGENDA VON KANDIDATEN MIT (AUS) Harald Leibrecht [Herta Däubler- MIGRATIONSHINTERGRUND Patricia Lips (I) (USA) Gmelin (SVK)] 1. Einwanderer- Lale Akgün (TK) Ekin Deligöz (TK) Hüseyin-Kenan Im Sinne der klassischen Repräsentationsforschung Generation Josip Joratovic (PL) Aydin (TK) sollten Abgeordnete mit Migrationshintergrund (YU) Hakki Keskin (TK) Themen und Probleme der eigenen ethnischen Grup- (Iran) pe häufiger ansprechen und sich selbst stärker als 2. Einwanderer- Josef P. Winkler Sevim Dagdelem Vertreter der eigenen ethnischen Gruppe sehen. Mit Generation (Iran) (IND) (IND) (TK) Blick auf die am häufigsten genannten politischen (vorläufig) Probleme ergeben sich wenige Unterschiede zwi- schen den beiden Kandidatengruppen. Auch für Kan- Anteil der didaten mit anderem ethnischen Hintergrund ist die Abgeordneten Arbeitslosigkeit das mit Abstand dringlichste Pro- mit Migrations- blem, wenn auch mit geringerem Abstand zu ande- hintergrund 0,4% 0,0% 1,4% 7,8% 5,7% ren Problemen. Häufiger als von den ethnisch deut- schen Kandidaten werden der soziale Frieden, Büro- kratie und Außenpolitik als Probleme genannt, das der Befragten ohne anderen ethnischen Hintergrund Deutschen Kandidatenstudie 2005 lassen sich diese Haushaltsdefizit dagegen deutlich seltener. Auf der so, die Hälfte (50 Prozent) von ihnen ist der Ansicht, Erwartungen nicht bestätigen, denn es gibt kaum Grundlage dieser Problemschwerpunkte von einer eine gesellschaftliche Gruppe zu repräsentieren sei Unterschiede zwischen den beiden Kandidatengrup- spezifischen Agenda der Kandidaten mit Migrations- am wenigsten wichtig. Lediglich ein Drittel (33 Pro- pen. Andere Ergebnisse könnten sich ergeben, wenn hintergrund zu sprechen, wäre voreilig. zent) der Kandidaten mit einem anderen ethnischen direkt nach der eigenen ethnischen Gruppe gefragt Deutlicher fallen die Ergebnisse auf die Frage nach Hintergrund teilt diese Sicht.50 Die Tatsache, dass sich würde, was im Rahmen der Kandidatenstudie vor al- dem Repräsentationsfokus aus. Die Kandidaten soll- die meisten Kandidaten mit Migrationshintergrund lem mit Blick auf die große Mehrheit der ethnisch ten sagen, wen oder was ein direkt gewählter Abge- bei der Linkspartei finden, ist lediglich ein Faktor für deutschen Kandidaten nicht getan wurde. Wichtiger ordneter repräsentieren soll. Als Optionen wurden die festgestellten Unterschiede. Wie Abbildung 2 als für die ethnisch deutschen Kandidaten ist für fünf Möglichkeiten vorgegeben, die in eine Rangfol- zeigt, ist die Gruppenrepräsentation für die Kandida- Kandidaten mit anderem ethnischen Hintergrund ge gebracht werden sollten: (a) die eigenen Wähler ten der Linkspartei zwar deutlich wichtiger als für die aber die Durchsetzung der politischen Interessen der im Wahlkreis, (b) alle Bürger im Wahlkreis, (c) alle Kandidaten aller Parteien zusammengenommen, eigenen Wähler. Insofern scheinen ihnen – das legen Wähler der Partei, (d) eine gesellschaftliche Gruppe doch auch innerhalb der Linkspartei fallen die Unter- die Ergebnisse der Deutschen Kandidatenstudie und (e) alle Bürger der Bundesrepublik. Die Antwort- schiede zwischen den Kandidaten mit ethnisch deut- 2005 nahe – politische Inhalte im politischen Prozess option d wurde auch mit Blick auf die Kandidaten schem und anderem ethnischen Hintergrund bei die- wichtiger zu sein als der Kontakt zur Basis. mit Migrationshintergrund in den Fragebogen auf- ser Antwortkategorie am höchsten aus. genommen, denn eine der Erwartungen ist, dass bei Bundestagskandidaten mit anderem ethnischen diesen Kandidaten Sorgen um eine (und vor allem um Hintergrund messen der Gruppenrepräsentation ABGEORDNETE MIT MIGRATIONSHINTERGRUND die eigene) gesellschaftliche Gruppe eine größere nachweislich einen höheren Stellenwert zu als die Rolle spielen. Und tatsächlich ist für 19 Prozent von ‚einheimischen’ Kandidaten. Doch kommunizieren Nach gegenwärtigem Forschungsstand wurden 16 ihnen die Gruppenrepräsentation der wichtigste Re- sie auch stärker mit den Bürgern und „kümmern“ sie Kandidaten mit Migrationshintergrund in den Deut- präsentationsfokus. Dies sehen lediglich 6 Prozent sich stärker um sie? Auf Grundlage der Daten der schen Bundestag gewählt, die nicht aus ehemals deutschen Gebieten stammen, ein weiterer rückte in den Bundestag nach (Tabelle 4). Sechs von ihnen ABBILDUNG 2: REPRÄSENTATIONSFOKUSSE VON PARLAMENTSKANDIDATEN wurden allerdings als Deutsche im Ausland geboren (MITTELWERTE EINER RANGORDNUNG VON und besitzen mehr oder weniger zufällig bzw. nur for- 1=AM WICHTIGSTEN BIS 5=AM WENIGSTEN WICHTIG) mal einen Migrationshintergrund. Die klassische er- ste Einwanderergeneration ist mit sieben Abgeord- neten vertreten, die zweite mit weiteren vier Abge- Eigene Wähler im WK ordneten. Es ist nicht völlig auszuschließen, dass es Alle Bürger im WK weitere Abgeordnete der zweiten Einwanderergene- ration im Deutschen Bundestag gibt, vor allem Kin- Wähler der Partei Alle der von Aussiedlern, die schwer zu identifizieren sind. Gesellschaftliche Gruppe Kandidaten Hierzu werden in Zukunft stärkere Anstrengungen (N=914/35) unternommen – möglicherweise müssen die Anga- Alle Bürger ben in Tabelle 4 dann ergänzt werden. Trotz dieser Einschränkung hinsichtlich der zweiten Generation sind mit Blick auf Tabelle 4 zwei Ergeb- nisse festzuhalten. Erstens: Personen mit Migrati- Eigene Wähler im WK onshintergrund sind im Deutschen Bundestag un- Alle Bürger im WK terrepräsentiert. Zweitens: Linke Parteien haben mehr Abgeordnete mit Migrationshintergrund. Bei- Wähler der Partei nur Kandidaten de Ergebnisse werfen weitere Forschungsfragen auf. Gesellschaftliche Gruppe der Linkspartei (N=186/18) Liegt diese Unterrepräsentation an den Parteien, an Alle Bürger den (potenziellen) Kandidaten oder gar an den Wählern? Wie zuvor gezeigt werden konnte, sind Per- 1,0 2,0 3,0, 4,0 5,0 sonen mit Migrationshintergrund bereits als Kandi- am am wenigsten wichtigsten wichtig daten unterrepräsentiert, und dies mit Blick auf die klassischen Migrantengruppen vor allem bei den

233 ANDREAS M. WÜST

12 Vgl. zur sozialen Integration Eingebürgerter und den nach: Zur Validierung des Konzepts „Parteiidentifikation“ bürgerlichen Parteien. Daneben finden sich offenbar weiteren Indikatoren Wüst; Anm. 7, S. 116-125. in der Bundesrepublik. In: Markus Klein et al. (Hrsg.): 50 mehr Kandidaten mit Migrationshintergrund bei den 13 Es gibt leider wenig systematische und vor allem kaum Jahre Empirische Wahlforschung in der Bundesrepublik nicht im Bundestag vertretenen Parteien,51 so dass vergleichende Analysen. Vgl. vor allem Anthony M. Messi- Deutschland. Wiesbaden 2000, S. 235-271. na: The Political Incorporation of Immigrants in Europe: 32 Vgl. z.B. Wüst; Anm. 11, S. 108. einige Indizien dafür sprechen, dass die Möglichkei- Trends and Implications. In: Anthony M. Messina/Gallya 33 Vgl. Dieter Roth/Andreas M. Wüst: Abwahl ohne Macht- ten für diese Personengruppe, über die etablierten Lahav (Hrsg.): The Migration Reader: Exploring Politics and wechsel: Die Bundestagswahl 2005 im Lichte langfristiger Parteien in den Bundestag zu gelangen, limitiert sind. Policies. Boulder 2006, S. 470-493; verschiedene Beiträge Entwicklungen. In: Eckhard Jesse/Roland Sturm (Hrsg.): in: Wiener Hefte zur Migration und Integration in Theorie Bilanz der Bundestagswahl 2005: Voraussetzungen, Er- Die vergleichsweise besseren Chancen bieten sich und Praxis 1(1), 2003; Jean Tillie: Explaining Migrant gebnisse, Folgen. Wiesbaden 2006, S. 43-70, hier S. 55. wohl auf der politischen Linken. Hierauf gibt es auch Voting Behaviour in the Netherlands. Combining the Elec- 34 Siehe hierzu auch Bernhard Kornelius: Politbarometer- toral Research and Ethnic Studies Perspective. In: Revue aus anderen Ländern einige Hinweise.52 Praxis: Die Trendwende vor der Bundestagswahl 2002. In: Européenne des Migrations Internationales 14(2), 1988, Andreas M. Wüst (Hrsg.): Politbarometer. Opladen 2003, S. Nachzutragen ist, dass Kandidaten, die in ehemali- S. 71-95. 65-80, hier S. 75-77. 14 gen Rekrutierungsländern für Gastarbeiter geboren Vgl. Messina; Anm. 13, S. 472 mit weiteren Verweisen. 35 Vgl. hierzu bereits Wüst; Anm. 24, S. 356 f. 15 wurden, auf den Landeslisten der linken Parteien im Messina; Anm. 13, S. 473. 36 Vgl. hierzu u.a. Wüst; Anm. 7, S. 189-216; ders.: Einge- 16 Shamit Saggar: Race and Representation: Electoral Po- bürgerte als Wähler. In: Wiener Hefte 1(1), 2003, S. 113- Durchschnitt etwas besser positioniert sind als Kan- litics and Ethnic Pluralism in Britain. Manchester 2001, 126, hier S. 122-125. didaten, die in Deutschland geboren wurden. Bei S. 103. 37 Wüst; Anm. 7, S. 147 ff. und S. 189 ff. 17 Linkspartei, Grünen und CDU trifft dies auch für Kan- Louis De Sipio: Counting on the Latino Vote. Latinos as 38 Vgl. Angus Campbell et al.: The American Voter. New a New Electorate. Charlottesville 1996; ders.: Building York 1960, S. 146-148; Russell J. Dalton: Citizen Politics. didaten zu, die in Aussiedlerländern geboren wurden. America, One Person at a Time: Naturalization and Politi- New York 20023, S. 175-180. cal Behavior of the Naturalized in Contemporary American Deshalb könnte es möglich sein, dass die Hürde, in 39 Politics. In: Gary Gerstle/John Mollenkopf (Hrsg.): E Pluri- Vgl. Messina; Anm. 13. der Partei Fuß zu fassen, höher ist, als nachfolgend bus Unum? Contemporary and Historical Perspectives on 40 Vgl. Sara Claro da Fonseca: Neue Bürger – Neue Kandi- auf einen akzeptablen und möglicherweise aus- Immigrant Political Incorporation. New York 2001, S. 67- daten? Die Parteien im Wettstreit um Migrantenstimmen. 106; Jack Citrin/Benjamin Highton: How Race, Ethnicity, In: WZB-Mitteilungen 114, Berlin 2006. sichtsreichen Listenplatz zu gelangen. Inwieweit die and Immigration Shape the California Electorate. San Fran- 41 Vgl. Klaus J. Bade/Jochen Oltmer: Normalfall Migra- Kandidaten, ihr Qualifikationsprofil sowie ihre eige- cisco (Public Policy Institute of California) 2002. tion. Bonn 2004, S. 57. nen politischen Präferenzen für die Berücksichti- 18 Vgl. z.B. Thomas Schwarz: Das neue Wahlrecht für Uni- 42 Vgl. Hanna F. Pitkin: The Concept of Representation. gung innerhalb der etablierten Parteien eine wichti- onsbürger und seine Inanspruchnahme. In: KommunalPra- Berkeley 1967. xis Baden-Württemberg 5/1997. 43 Vgl. hierzu grundlegend: Anne Phillips: The Politics of ge Rolle spielen, bleibt künftigen Forschungsan- 19 Daten und Analysen auf einer Stichprobe türkischer Presence. Oxford 1995 sowie Jane Mansbridge: Should strengungen genauso vorbehalten wie der Einfluss Nachnamen auf Telefon-CD-ROMs basierend (zur Metho- Blacks Represent Blacks and Women Represent Women? A Contingent “Yes”. In: Journal of Politics 61 (3), 1999, S. der Wähler auf den Erfolg von Kandidaten mit Mi- dik siehe Sauer; Anm. 7, S. 178 f.), Die Zeit 37, 2003, S. 6. 20 Thorsten Klinger; Anm. 7, S.132-135. 628-657; dies.: Rethinking Representation. In: American 53 grationshintergrund. 21 Vgl. hierzu neben De Sipio: Counting on the Latino Vo- Political Science Review 97 (4), 2004, S. 515-528. te; Anm. 17, auch Tanja Wunderlich: Die neuen Deutschen: 44 Vgl. z.B. Glenn F. Abney /John D. Hutcheson: Race, Re- Subjektive Dimensionen des Einbürgerungsprozesses. presentation, and Trust: Changes in Attitudes After the Stuttgart 2005. Election of a Black Mayor. In: Public Opinion Quarterly 45 22 De Sipio: Counting on the Latino Vote; Anm. 17, S. 95. (1), 1981, S. 91-101. 45 ANMERKUNGEN 23 Citrin/Highton; Anm. 17, S. 74-77. Vgl. bspw. Pippa Norris/Joni Lovenduski: Political Re- 24 cruitment. Gender, Race and Class in the British Parliament. 1 Die Arbeit an diesem Beitrag wurde von der Volkswa- Andreas M. Wüst: Naturalised Citizens as Voters: Beha- Cambridge 1995. viour and Impact. In: German Politics 13 (2), S. 341-359, genStiftung gefördert. Ich möchte mich bei Sara Claro da 46 Vgl. Dietrich Herzog et al.: Abgeordnete und Bürger: Er- Fonseca vom Wissenschaftszentrum Berlin für den Aus- hier S. 349. 25 gebnisse einer Befragung der Mitglieder des 11. Deutschen tausch von Forschungs-Zwischenergebnissen und bei Mai- De Sipio: Counting on the Latino Vote; Anm. 17, S. 65; Bundestages und der Bevölkerung. Opladen 1990, S. 19. ke Salzwedel vom MZES für umfangreiche Recherchearbei- S. 92. 47 26 Vgl. z.B. Claudine Gay: Spirals of trust? The Effect of ten zum Migrationshintergrund von Kandidaten und Ab- Vgl. hierzu z.B. Thorsten Faas/Hans Rattinger: Politi- Descriptive Representation on the Relationship Between geordneten bedanken. Teile des Aufsatzes beruhen auf der sche Konsequenzen von Arbeitslosigkeit: Eine Analyse der Citizens and Their Government. In: American Journal of überarbeiteten Fassung eines Beitrags aus dem Jahr 2003: Bundestagswahlen 1980 bis 2002. In: Andreas M. Wüst Political Science 46 (4), 2002, S. 717-733. vgl. Andreas M. Wüst: Das Wahlverhalten eingebürgerter (Hrsg.): Politbarometer. Opladen 2003, S. 205-254, hier S. 48 Personen in Deutschland.In: Aus Politik und Zeitgeschich- 225. Vgl. Gay, Anm. 47, S. 729; Richard F. Fenno: Going Ho- me. Black Representatives and Their Constituents. Chica- te, B53/2003, S. 29-38. 27 Gary P. Freeman/Nedim Ögelman: Homeland Citizen- 2 go 2003, S. 261; David Lublin: The Paradox of Represen- The Wall Street Journal Europe, No. 160, 19.9.2002, S. ship policies and the status of third country nationals in tation. Racial Gerrymandering and Minority Interests In A3; FAZ Nr. 259, 7.11.2002, S. 10. the European Union. In: Journal of Ethnic and Migration Congress. Princeton 1997, S. 72-97. 3 Titelseite der BILD vom 14. September 2005. Studies 24 (4), 1998, S. 769-788. 49 28 Weitere Informationen zur Deutschen Kandidatenstu- 4 Der Spiegel Nr. 9, 24.2.2003, S. 42. Vgl. z.B. Hans-Dieter Klingemann et al.: Parties, Poli- die 2005 finden sich im Internet: http://www.mzes.uni- 5 Exakte Zahlen für wahlberechtigte Neubürger liegen cies, and Democracy. Boulder 1994. mannheim.de/projekte/gcs/. 29 zum Zeitpunkt der Abfassung des Manuskripts (Oktober Andreas M. Wüst: Vorbild USA? Deutsche Einwande- 50 Die Unterschiede sind statistisch signifikant (chi2-Test; 2006) noch nicht vor. Geht man davon aus, dass Eingebür- rungspolitik auf dem Prüfstand. Heidelberg (Magisterarbeit) p < 0,01). 1995; Ulrich Herbert: Geschichte der Ausländerpolitik in gerte die gleiche Altersstruktur aufweisen wie alle Deut- 51 Sara Claro da Fonseca: Immigrant Constituencies as a schen mit Migrationshintergrund, dann sind 67,5 Prozent Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge. München 2001; Dita Vogel/Andreas M. Wüst: Political Challenge. Vortrag auf der Jahrestagung der APSA von ihnen wahlberechtigt. 2006 (http://www.wz-berlin.de/zkd/dsl/pdf/APSA2006_ 6 Vgl. u. a. Kurt Salentin: Die Stichprobenziehung bei Zu- Paradigmenwechsel ohne Instrumentenwechsel? Kontinu- ität und Wandel im Politikfeld Migration. In: Martin See- SCF.pdf). wandererbefragungen. In: ZUMA-Nachrichten 45, 1999, 52 Vgl. z.B. Messina; Anm. 13; Miki C.Kittilson/Katherine S. 115-135. leib-Kaiser/Antonia Gohr (Hrsg.): Sozial- und Wirtschafts- politik unter Rot-Grün. Wiesbaden 2003, S. 265-286. Tate: Political Parties, Minorities and Elected Office: Com- 7 Für Deutschland (Politbarometer 1999) und Heidelberg 30 paring Opportunities for Inclusion in the U.S. and Britain. (lokale Umfrage 1999) repräsentative Daten und Analysen Vgl. z.B. Richard von Weizsäcker: Wer ist der Fremde? Unser Staatsbürgerschaftsrecht muss dringend reformiert In: Center for the Study of Democracy, Paper 04-06, 2004, in: Andreas M. Wüst: Wie wählen Neubürger? Politische Irvine: University of California [http://repositories.cdlib.org/ Einstellungen und Wahlverhalten eingebürgerter Personen werden. In: Die Zeit 11, 1995, S. 16. 31 csd/04-06/]. in Deutschland. Opladen 2002. Analysen für die Jahre Dies betrifft insbesondere die Zeit, die nötig ist, damit 53 sich solche Bindungen entwickeln und von einer Genera- Ergebnisse aus anderen Ländern sind hier alles andere 2001/02 ders.: Das Wahlverhalten eingebürgerter Personen als eindeutig. in Deutschland. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B53/ tion auf die nächste übertragen werden; vgl. Jürgen W. Fal- 2003, S. 29-38. Für die Eingebürgerten des Jahres 2000 in ter/Harald Schoen/Claudio Caballero: Dreißig Jahre da- Hamburg repräsentative Kurzanalyse in: Thorsten Klinger: Politische und gesellschaftliche Partizipation von Einge- bürgerten in Hamburg. In: Hamburg in Zahlen IV, 2001, S. 132-135. Vgl. auch Martina Sauer: Die Einbürgerung tür- kischer Migranten in Deutschland. In: Andreas Goldberg/ Dirk Halm/Martina Sauer (Hrsg.): Migrationsbericht 2002 des Zentrums für Türkeistudien. Münster 2001, S.165-228, UNSER AUTOR S.178f. und die Daten in: Die Zeit 37, 2003, S. 6. 8 Es ist anzunehmen, dass eine Befragung im Jahr 2005 abermals leicht höhere Eingebürgertenanteile ergeben hät- Dr. Andreas M. Wüst, Politikwissenschaftler, geboren 1969 in Karlsruhe. te. Hier und nachfolgend ist zu berücksichtigen, dass sich Studium an der Universität Heidelberg und an der University of Dela- sämtliche Angaben auf wahlberechtigte Eingebürgerte be- ziehen, d.h. Neubürger unter 18 Jahren ausgeschlossen ware (USA). Von 1993 bis 2001 Projektmitarbeiter bei der Forschungs- sind. gruppe Wahlen, bei ZUMA (beide in Mannheim) und an der Universität 9 Die Heidelberger Untersuchung des Jahres 1999 ergab, Heidelberg. 2002 Promotion an der Universität Heidelberg (Wie wählen dass insgesamt nur 21 Prozent der Neubürger einen deut- schen Schulabschluss vorweisen können; bei Eingebürger- Neubürger? Politische Einstellungen und Wahlverhalten eingebürgerter ten aus Aussiedlerländern liegt der Anteil sogar unter 10 Personen in Deutschland. Opladen 2002). Seit 2002 Projektleiter und seit Prozent, bei eingebürgerten Türken beträgt er über 60 Prozent (vgl. Wüst; Anm. 7, S. 98 ff.). 2006 Fellow der VolkswagenStiftung am Mannheimer Zentrum für Eu- 10 Vgl. Wüst; Anm. 7, S. 103 f. ropäische Sozialforschung (MZES) der Universität Mannheim. Von 1999 11 Siehe z.B. Andreas M. Wüst: Wahlverhalten in Theorie bis 2006 Lehrbeauftragter an der Universität Heidelberg, seit Winter- und Praxis: Die Bundestagswahlen 1998 und 2002. In: Hein- semester 2006 Lehre an der Universität Mannheim. Forschungsschwer- rich Oberreuter (Hrsg.): Parteien und Wahlen in Deutsch- land - ein kritische Bilanz. München 2003, S. 90-117. punkte sind die empirische Wahl- und Repräsentationsforschung.

234 WACHSTUM, SOZIALE UND (VERTEILUNGS-)POLITISCHE FOLGEN UND KONFLIKTLINIEN Wirtschaftliche Folgen der Zuwanderung

THOMAS STRAUBHAAR

veröffentlichen regelmäßig eine Vielzahl von gen die Zuwanderung von Menschen verursa- Migrationsberichten, thematisch einschlägige chen. Davon soll im Folgenden die Rede sein. Grenzüberschreitende Wanderungen in Outlooks, Reports und Dokumente. In Deutsch- Im Eingangskapitel „Zuwanderung und Effi- weltweitem Maßstab werden in den kom- land sind nach dem Bericht der Unabhängigen zienz“ wird von einer relativ abstrakten neo- menden Jahren zunehmen. Das daraus Kommission „Zuwanderung“ (Süssmuth-Be- klassischen Gleichgewichtswelt ausgegangen, resultierende wirtschaftliche Wachstum richt) oder dem Jahresgutachten des Sach- in der Einwanderer auf ihre Funktion als Pro- einzelner Gesellschaften wirft Fragen verständigenrates für Zuwanderung und In- duktionsfaktoren reduziert werden, die sich auf der Verteilung und des Umgangs mit sich tegration verschiedene Bundesministerien und perfekten Arbeitsmärkten bewegen. Das Folge- daraus ergebenden Konfliktlinien auf. Bundesämter aktiver geworden. So hat Anfang kapitel „Zuwanderung und Wachstum“ führt Die abstrakte neoklassische Sicht bewer- Juli 2006 das Bundesamt für Migration und die ökonomische Logik zunächst weiter und tet Migration positiv, weil sie den „Reich- Flüchtlinge (BAMF) im Auftrag der Bundes- analysiert die langfristigen Auswirkungen der tum der Nationen“ (Adam Smith) mehrt regierung den „Migrationsbericht 2005“ vor- Migration, beginnt dann aber am vollkomme- und unvollkommene Märkte ausgleicht. gelegt. nen Modell zu kratzen, in dem Ungleichge- Verlässt man die Gefilde dieser Modell- Es gibt also zum Thema Zuwanderung viel zu wichtsprozesse nicht mehr per Annahme aus- welt, wird offenkundig, dass Migration sagen. Und das ist auch richtig so. Denn die in- geschlossen bleiben. Der dritte Abschnitt „Zu- zu ökonomischen Divergenzen führen ternationale Migration hat in den beiden letz- wanderung und Verteilung“ erweitert die kann: Zuwanderung erhöht das Human- ten Dekaden enorm zugenommen (vgl. Kasten). ökonomische Analyse um die distributive Di- kapital und Wachstum der Aufnahmege- mension. Das vierte Kapitel „Zuwanderung und sellschaft, hemmt hingegen die Entwick- Sozialstaat“ zeigt auf, dass die Effekte der Mi- lung in den zumeist peripher gelegenen Viele oder wenige Zuwanderer? gration wesentlich verändert werden, je nach- Herkunftsländern. Innergesellschaftli- dem wie weit mit sozialpolitischen Instrumen- che Konfliktlinien entstehen dann, wenn Knapp 200 Millionen Menschen dürften ten und über Steuern und Transfers in die pri- sich die Verteilungsfrage stellt, d.h. der heute in einem anderen als ihrem Heimat- märe Verteilung der Einkommen als Folge von durch Zuwanderung ausgelöste Struk- land leben. Das sind wenige, nämlich nur Marktprozessen eingegriffen wird. Der fünfte turwandel produziert Gewinner und gut 3 Prozent, wenn man die Weltbevöl- Abschnitt schließlich soll deutlich machen, trotz einem volkswirtschaftlichen Zuge- kerung von rund 6,3 Milliarden als Maß- dass es letztlich politisch-ökonomische Span- winn auch (relative) Verlierer. Grundsätz- stab nimmt. Es sind viele, wenn man die nungsfelder sind, die über die Beurteilung der lich stellt sich allerdings die Frage, ob die 200 Millionen als absolute Zahl betrach- Frage entscheiden, ob „mehr“ Zuwanderung Verdrängung einheimischer Arbeitskräf- tet. Dann entspricht das Volk der Wan- mehr oder weniger Probleme verursacht. te eine Ursache der Migration ist oder – dernden etwa der Einwohnerzahl Brasi- so die These von Thomas Straubhaar – ein liens, dem – bezogen auf die Bevölkerung offensichtlicher Beleg für die räumliche – fünftgrößten Land der Erde. Die 200 Mil- ZUWANDERUNG UND EFFIZIENZ und berufliche Immobilität vom Arbeits- lionen Ausländer sind sogar sehr viele, platzverlust Betroffener. Die Frage nach wenn man einen Blick zurück in die Ver- Für die sich auf Adam Smith berufenden Öko- dem Sozialkasseneffekt – mithin ein wei- gangenheit wirft. 1980 lebten erst rund nomen bestehen bei der Beurteilung der Zu- teres Spannungsfeld – ist aufgrund unzu- 100 Millionen Menschen im Ausland. Seit- wanderung keine Zweifel: Migration ist positiv reichender Analysen nicht eindeutig zu her hat sich diese Zahl also verdoppelt. zu bewerten. Sie fördert den „Reichtum der Na- beantworten. Positive Auswirkungen Dabei spielt allerdings eine ausschlagge- tionen“. Einwanderung beseitigt einen (relati- auf die Sozialkassen hängen stets vom bende Rolle, dass die Sowjetunion, die ven) Mangel im Aufnahmeland. Auswande- Ausmaß der Integration der Zugewan- Tschechoslowakei und Jugoslawien in rung verringert einen (relativen) Überschuss im derten ab. Der Grad der Integration je- einzelne Teile zerbrachen. Ohne eigenes Herkunftsland. Migration ist somit nicht mehr doch wird von den politischen Rahmen- Dazutun und ohne grenzüberschreitende als ein vorübergehendes, also temporäres Arbi- bedingungen der Aufnahmegesellschaft Wanderung wurden auf dem politischen tragephänomen. Sie verhindert ein Abweichen bestimmt. Während die positiven Vortei- Reißbrett Inländer über Nacht zu Auslän- von der Messlatte ökonomischer Effizienz, le der Zuwanderung kaum thematisiert dern. Eine Metamorphose übrigens, die in nämlich dem „Gesetz des einheitlichen Preises“ werden, erweisen sich die negativen den letzten 200 Jahren immer wieder ei- („The Law of one Price“ im Güter- und das „Fak- Phänomene, die mit der Zuwanderung ne sehr bedeutende Rolle spielte: Durch torpreis-Ausgleichstheorem“ im Faktormarkt). einhergehen und populistisch weidlich politische Änderungen der Staatsgebiete Die ökonomische ”Benchmark” der (statischen, ausgenutzt werden, bei genauerem Be- dürften mehr Grenzen über Menschen als allokativen) Effizienz besagt, dass (handelbare) trachten letztlich als ein generelles Pro- Menschen über Grenzen gewandert sein! Güter überall in der Welt mehr oder weniger blem des Sozialstaats und entpuppen gleich viel kosten müssten und die reale Kauf- sich als eine Folge unzureichender politi- kraft der Stundenlöhne für identische Arbeit scher und ökonomischer Steuerung. Ein Trend, der auch künftig anhalten wird. Die weltweit ähnlich sein sollte. grenzüberschreitende Wanderung wird in den Migration korrigiert Marktunvollkommenhei- kommenden Jahren eher stärker als schwächer ten, die nicht durch Güterhandel oder Kapital- werden, sie dürfte eher rascher als langsamer transfers beseitigt werden können. Beispiels- verlaufen, und sie wird eher größere als gerin- weise gibt es nicht-handelbare Güter, wie Erz- WELTWEITE ZUNAHME DER MIGRATION gere Herausforderungen für die Aufnahmelän- lager, Kraftwerke, bereits gebaute Fabrikanla- der mit sich bringen. Auf der Suche nach einem gen oder natürliche Landschaften, die sich Migration ist weltweit zu einem zentralen The- besseren Leben anderswo werden Menschen kaum oder überhaupt nicht verschieben lassen. ma von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft ge- über immer längere Distanzen wandern. Sie Dann ist es billiger, Menschen zum Arbeitsplatz worden. Die Global Commission on Interna- kommen somit aus immer weiter entfernten als Arbeitsplätze zu den Menschen zu bringen. tional Migration (GCIM) hat Ende 2005 ihren Regionen. Dadurch werden die Unterschiede Hat Migration – zusammen mit dem Güterhan- Abschlussbericht publiziert. Weltbank, Interna- zwischen Aufnahmegesellschaft und Zuwan- del oder Kapitalinvestitionen – dafür gesorgt, tionaler Währungsfonds, verschiedene Unter- dernden sowohl sprachlich, kulturell, sozio- dass nach Abschluss aller Anpassungsvorgän- organisationen der UN, die Kommission der ökonomisch wie auch bezüglich der gemeinsa- ge früher oder später überall das „Gesetz des Europäische Union (EU), die OECD, die inter- men Werte, Normen und Moralvorstellungen einheitlichen Preises“ erfüllt ist, werden die An- nationale Arbeitsorganisation (ILO) oder die zunehmen. Somit stellt sich noch einmal aus- reize für weitere grenzüberschreitende Wan- Internationale Migrationsorganisation (IOM) geprägter die Frage, welche ökonomischen Fol- derungsprozesse verschwinden und die Migra-

235 THOMAS STRAUBHAAR

tion kommt an ein Ende. Anders gewendet: Die EINE MITARBEITERIN DER DEUTSCHEN POST IM BRIEF- Folgen der Migration beseitigen die Ursachen LOGISTIKZENTRUM IN BONN. AUSLÄNDISCHE ARBEITS- der Migration. KRÄFTE SIND WEIT STÄRKER BEREIT, SCHLECHT BEZAHLTE Zusammengenommen ist in einer ökonomi- JOBS ANZUNEHMEN, NACHTS UND SONNTAGS ZU schen Modellwelt die Zuwanderung von Ar- ARBEITEN. picture alliance / dpa beitskräften für das Zielland makroökono- misch positiv. Wie Freihandel auf Gütermärk- ten ist eine freie Wanderung der Arbeitskräfte Vorteile als Produktionsstandorte durch die eine unabdingbare Notwendigkeit, um das So- Zuwanderung festigen können. Dadurch wird zialprodukt zu maximieren. Migration hilft, Un- es möglich, dass Migration das regionale gleichgewichte auf dem Arbeitsmarkt einzueb- Wachstum in weniger entwickelten peripheren nen. Mehr Migration ist somit in der Regel bes- Gebieten hemmt und das Wirtschaftswachs- ser als weniger Migration. tum in dynamischen Zentren fördert.

ZUWANDERUNG UND WACHSTUM ZUWANDERUNG UND VERTEILUNG

Seit Gunnar Myrdals „kumulativen (zirkulären) Die Krux der Migration liegt darin, dass das Teufelskreisen“ und Alfred Hirschmans „sich ökonomische Modell zunächst nichts darüber selbst verstärkenden Polarisierungseffekten“ aussagt, wer denn die Effizienzgewinne der Zu- wird Migration nicht als ausgleichendes Regu- wanderung einstreichen kann. Während die lativ oder kurzfristiges Arbitragephänomen Volkswirtschaft insgesamt gewinnt, werden verstanden, sondern als selbst verstärkende nicht alle Beteiligten zu den Gewinnern gehö- Ursache für ein beschleunigtes Auseinander- ren. Durch die Zuwanderung wird ein Struktur- klaffen der wirtschaftlichen Entwicklung von wandel ausgelöst, der langfristig zwar drin- armen Auswanderungs- und reichen Einwan- gend notwendig ist und der erlaubt, die durch- derungsländern. Der Grund dafür, dass Zuwan- schnittliche Produktivität zu erhöhen, von dem derung nicht zu Konvergenz, sondern Diver- aber nicht alle Einheimischen gleichermaßen genz führt, liegt darin, dass in der Realität in al- positiv betroffen sind. Einige werden mögli- ler Regel die jüngeren, besser qualifizierten, ri- cherweise sogar aus dem Arbeitsmarkt ver- sikofreudigeren Menschen das Land verlassen drängt. Es ergeben sich politisch-ökonomische und die älteren, schlechter qualifizierten und Spannungsfelder zwischen Interessengruppen weniger dynamischen Verwandten und Ange- der Gewinner und der (relativen) Verlierer. Ver- hörigen zurückbleiben. Im Aufnahmeland wird einfacht auf den Punkt gebracht, der Pool an leistungsfähigen Arbeitskräften  gewinnen alle Einheimischen, die im Pro- vergrößert, in den Herkunftsländern trocknet duktionsprozess Aufgaben erfüllen, die er aus. Deshalb spricht man oft von „Brain- komplementär sind zu den Tätigkeiten der Gain“ bzw. „Brain-Drain“. Zuwandernden, und es Zuwanderung erhöht das verfügbare Human-  verlieren alle Einheimischen, die im Produk- kapital. Dadurch steigt die Kapitalrentabilität, tionsprozess dieselben Aufgaben erfüllen, und das wirtschaftliche Wachstum wird stimu- die nun von den Zuwandernden erledigt liert. Sich selbst verstärkende Effekte fördern werden können. diese Wachstumsspirale zusätzlich: So ist die Wahrscheinlichkeit positiver externer Effekte Werden beispielsweise im deutschen Arbeits- bei höher qualifizierten Zuwanderern beson- markt fehlende Informatiker(innen) im Aus- ders hoch. Dadurch steigt auch das Grenzpro- land angeworben, werden in der Tendenz die dukt der komplementären einheimischen Ar- Löhne jener deutschen Spezialistinnen und beitskräfte. Als Beispiel mag die osteuropäische Spezialisten sinken, die mehr oder weniger mischen. Oder: Nicht die Migration der Auslän- Fachärztin dienen, die in einem deutschen denselben Job erfüllen. Hingegen profitieren der, sondern die fehlende (berufliche oder Krankenhaus arbeitet. Es kann sein, dass erst sie komplementäre einheimische Produktionsfak- räumliche) Mobilität der Einheimischen verur- es ermöglicht, dass bestimmte Operationen an toren (begonnen beim Putzpersonal und auf- sacht die Arbeitslosigkeit! Ort und Stelle durchgeführt werden können. gehört bei den Arbeit gebenden Firmen). Dank Immobilität mag zwar mikroökonomisch Dank der Verfügbarkeit über das spezielle Wis- den zuwandernden IT-Spezialisten steigt deren durchaus attraktiv scheinen. Makroökono- sen der ausländischen Medizinerin behalten Arbeitsproduktivität. misch hat sie jedoch den Charakter eines „Lu- dann auch deutsche Pfleger, Bettenmacher Je einfacher einheimische durch einwandernde xusgutes“. Immobilität hat ihren volkswirt- und Reinigungshelfer ihren Job. Um das Kran- Arbeitskräften ersetzbar sind, desto härter wer- schaftlichen Preis, da sie eine rasche und flexi- kenhaus werden sich möglicherweise Dienst- den die Anpassungserfordernisse. Bei gut funk- ble Anpassung an geänderte Rahmenbedin- leistungsbetriebe niederlassen, die in der einen tionierenden Arbeitsmärkten wird durch die gungen verzögert. Des Öfteren ließen sich halt oder anderen Weise Vorleistungen erbringen, Zuwanderung ein Druck auf die Reallöhne er- Menschen transaktions- und kostengünstiger Patienten und ihre Angehörigen mit Konsum- setzbarer einheimischer Arbeitskräfte ausge- zu bestehenden Fabrikationsanlagen bringen gütern oder Hilfeleistungen versorgen, Thera- übt (was die direkt Betroffenen negativ beur- als neue Investoren für neue Produktionsanla- pien anbieten oder sogar komplexe Forschung teilen, was aber für die übrige Wirtschaft posi- gen zu finden sind. In Zeiten eines sehr raschen und Labortests durchführen. Das wird in der ei- tiv ist). Bei schlecht funktionierenden Arbeits- Strukturwandels sind die makroökonomischen nen oder anderen Weise Innovationen anregen märkten wird die Arbeitslosigkeit ansteigen. Kosten der Immobilität in Form steigender und damit das Wachstum zusätzlich stimulie- In der Realität (und ganz besonders in der deut- struktureller Arbeitslosigkeit besonders au- ren. schen Wirklichkeit!) ist es möglich, dass Zu- genfällig. Zusammengefasst ergibt sich, dass in einer dy- wandernde einheimische Arbeitskräfte aus Gerade für Westeuropa und vor allem für namischen Sicht Migration sehr wohl Zentrali- dem Arbeitsmarkt in die Erwerbslosigkeit drän- Deutschland ist der Mangel an beruflicher aber sierungsprozesse verschärfen kann. Interna- gen. Allerdings ist dann die Zuwanderung (in auch räumlicher Mobilität eine fundamentale tionale Wanderungen führen tendenziell zu ei- der Regel) nicht die Ursache der Arbeitslosig- Ursache der hohen Beschäftigungslosigkeit. ner verstärkten Konzentration der Bevölkerung keit, sondern lediglich ein relativ offensichtli- Vielfach ist nicht ein Zuviel an Migration, son- und des Kapitals auf so genannte „dynamische cher Beleg für die fehlende berufliche und dern ein Zuwenig an Mobilität das eigentliche Zentren“, die ihre (absoluten) komparativen räumliche Mobilität und Flexibilität der Einhei- Problem. Der Zugriff auf ausländische Arbeits-

236 märkte hilft hier, regionale oder sektorale Ar- einheimischen Bevölkerung (dazu gehören  die Nutzung öffentlicher Güter (Rechtsrah- beitsmarktungleichgewichte zu überwinden. auch die fehlende berufliche Mobilität sowie men, Justizwesen, innere und äußere Sicher- Wenn sich viele Deutsche den Luxus von Immo- eine fehlende Lohnflexibilität). heit), Infrastrukturanlagen (Verkehrs-, Tele- bilität und Sesshaftigkeit leisten können und Je ausgeprägter die Diskrepanz zwischen kommunikations- und Energienetze) und wollen (weil für sie die mikroökonomischen  den (makroökonomischen) Mobilitätserfor- Dienstleistungen (Gesundheits-, Bildungs- Vorteile der Immobilität überwiegen), bietet dernissen, die ein immer schneller werden- wesen), die allen zur Verfügung stehen und sich an, Menschen von außen als Ersatz für die der Strukturwandel einfordert, und die direkt über Abgaben und Gebühren oder makroökonomisch erforderliche Mobilität sor-  der (mikroökonomischen) Mobilitätsbereit- indirekt über Steuern finanziert werden. gen zu lassen. Oft ist die internationale Wan- schaft, die sich die Einheimischen zumuten Damit wird die Frage zentral, wieweit Einwan- derung von Arbeitskräften nicht mehr als eine wollen, dernde Sozial- und Fürsorgeleistungen sowie Anpassungsreaktion auf ineffizient gesetzte desto wichtiger wird es, dass Ausländer(innen) öffentliche Güter durch den Staat beziehen staatliche Regulierungen in anderen (Güter- für das notwendige Maß an Mobilität und und diese über Steuern, Abgaben und Gebüh- und Kapital-)Märkten oder auf dem nationalen Flexibilität in einer Volkswirtschaft sorgen. So ren auch mitfinanzieren. Wer subventioniert Arbeitsmarkt selber. Beispielsweise sind aus- gesehen, ist gerade Einwanderung im ver- im Saldo wen: die Ausländer die Einheimischen ländische Arbeitskräfte weit stärker bereit, krusteten Arbeitsmarkt das Kosten senkende oder umgekehrt? Oder anders ausgedrückt: schmutzige, schlecht bezahlte Jobs anzuneh- „Schmieröl“ des makroökonomischen Struk- Profitieren oder verlieren die einheimischen men, nachts und sonntags zu arbeiten – eine turwandels. Sozialkassen durch die Zuwanderung? Flexibilität, die Einheimischen oft aufgrund Die Frage nach dem Sozialkasseneffekt der Zu- historisch überlebter Arbeitsmarktregulierun- wanderung ist ex ante nicht eindeutig zu be- gen und Tarifverordnungen verbaut ist. Zu- ZUWANDERUNG UND SOZIALSTAAT antworten. Allein eine empirische Überprüfung wanderung ermöglicht somit eine verbesserte liefert hier genauere Erkenntnisse. Gerade die Allokation der Arbeitskräfte. Menschen haben Zuwandernde Menschen konkurrieren mit Ein- Empirie bietet aber gewaltige Methoden- und in höher entwickelten Volkswirtschaften die heimischen um Datenprobleme. Teile des Transfersystems las- Wahl zwischen eigener Mobilität und Flexibili-  Sozialleistungen, die direkt über Beiträge sen sich nur mit sehr rudimentären Schätz- tät oder der Einwanderung von außen. Einwan- oder indirekt über Steuergelder finanziert werten abbilden. Entsprechend fragmentarisch derung ersetzt somit die fehlende Mobilität der werden, und um und widersprüchlich sind dann auch bishe-

237 THOMAS STRAUBHAAR rige Ergebnisse. Speziell die Vernachlässigung Eine Kompensation der Zuwanderungseffekte der Rentenversicherung und der dynamischen Zuwanderung „neuer“ Ausländer(innen) durch eine Entschädigungszahlung der Gewin- Wachstumseffekte geben Anlass zu Diskus- beheben zu wollen. ner an die Verlierer würde das makroökono- sionen über die Aussagekraft der empirischen Zweitens wirkt sich eine bessere Integra- misch ineffiziente Ergebnis korrigieren. Hier Resultate. Zudem sind die Berechnungen zu tion von Kindern und Jugendlichen mit könnte eine politisch-ökonomische Rechtferti- sehr raum- und zeitbezogen, um sie zu verall- Migrationshintergrund später positiv für gung für Transferleistungen der „profitieren- gemeinern. die öffentlichen Haushalte aus. Besser in- den“ Produktionsfaktoren (Kapital, Fachkräfte) In der Regel ist der Sozialkasseneffekt der Zu- tegrierte Ausländer(innen) werden eher an die „verlierenden“ Arbeitskräfte (weniger wanderung an den Konjunkturzyklus des Auf- eine Beschäftigung finden. Somit werden Qualifizierte) liegen. nahmelandes gekoppelt. Er ist eng mit den sie auch Steuern und Abgaben entrich- Der westeuropäische Sozialstaat hatte nicht Möglichkeiten verbunden, die den Zuwandern- ten. Schlechter integrierte Ausländer(in- zuletzt unter anderem die Aufgabe (in der Ver- den auf dem Arbeitsmarkt sowohl konjunktu- nen) werden die Staatshaushalte in mehr- gangenheit durchaus gut) erfüllt, zwischen rell als auch einwanderungsrechtlich offen ste- facher Form belasten. Einfacher ausge- Verlierern und Gewinnern einer Öffnung der hen. Nicht zuletzt sind Aufenthaltsdauer und drückt: es ist kostengünstiger in jungen nationalen Arbeitsmärkte eine Kompensation damit eng verbunden der Integrationserfolg in Jahren Jugendliche mit Migrationshinter- herbeizuführen. Hier zeigt sich jedoch mit und die Aufnahmegesellschaft wichtig (vgl. Kasten). grund gezielt zu fördern, anstatt in späte- durch die Globalisierung ein fundamentaler ren Jahren die Folgen einer misslungenen Wandel: Integration finanzieren zu müssen.  Leistungsfähige Steuerzahler können leich- Die erfolgreiche Integration Jugendli- ter und schneller abwandern, sei es als Per- cher mit Migrationshintergrund ist son, sei es als Unternehmen, oder sei es von fundamentaler Bedeutung Offensichtlich ist, dass Migration für den Sozi- schlicht funktional durch eine Verlagerung alstaat dann zum Problem werden kann, wenn von Arbeitsplätzen ins Ausland. Die PISA-Studie (Programme for Inter- zu leicht, zu großzügig und zu unspezifisch flä-  Wirtschaftlich schwächere Empfänger der national Student Assessment) hat die chendeckend Sozialtransfers über zu viele aus- Transferleistungen kommen in ein Dilemma. Schwierigkeiten von Schülerinnen und geschüttet werden. Eine zu weit gehende Ent- Sie müssen entweder geringere Sozialleis- Schülern mit Migrationshintergrund im koppelung von früheren Leistungen an spätere tungen in Kauf nehmen oder aber bereit deutschen Bildungssystem offen gelegt. Ansprüche (Zahlungen) verschärft das Pro- sein, mehr Migration zuzulassen, um so bes- Obwohl in Deutschland sehr viel öffentli- blem. Dann sind die Migrationsprobleme je- sere Voraussetzungen für mehr Effizienz zu ches Geld ausgegeben wird, um auslän- doch oft nicht spezifische Probleme der Migra- schaffen. dische Kinder besser in das deutsche tion, sondern generelle Probleme des Sozial- Die zunehmende Bereitschaft innerhalb der Schulsystem zu integrieren, ist das Ziel staates! Europäischen Union, die Nationalisierung der der Chancengleichheit für Jugendliche Arbeitsmärkte und die Restriktionen der Ein- mit Migrationshintergrund bis anhin bei wanderung zumindest etwas zu lockern, sind weitem verfehlt worden. Das ist aus ZUWANDERUNG UND POLITIK Zeichen dafür, dass die Globalisierung die An- zwei Gründen eine Fehlentwicklung, die ti-Immigrationsströmungen im politisch-öko- schleunigst zu korrigieren ist. Zum Urteil über die Zuwanderung tragen auch nomischen Spannungsfeld geschwächt hat, Erstens sind die ausländischen Kinder Agglomerations- oder Ballungseffekte sowie weil nun das Drohpotenzial der Abwanderung vielfach hoch motiviert. Sie scheitern je- Verdrängungseffekte bei. Dabei geht es weni- glaubwürdiger und die Kosten einer Marktab- doch oft nicht intellektueller, sondern ger um objektive gesamtwirtschaftliche Belas- schottung zu groß geworden sind (vgl. Kasten). sprachlicher Defizite wegen. Es ist unbe- tungen als weit stärker um subjektive indivi- stritten, dass bei ausländischen Kindern duelle Betroffenheiten. Denn in der Regel sind die Förderung des Deutschen als Zweit- es nicht die wenigen Zuwandernden, die zu Das Punktesystem als zentraler sprache umso erfolgreicher ist, je früher verstopften Strassen, überfüllten Krankenhäu- Selektionsmechanismus mit der Sprachförderung begonnen wird. sern oder schlechten Schulen führen. Wenn Somit kommt Kindergärten und Vorschu- aber in urbanen Brennpunkten die Kriminalität Das deutsche Zuwanderungsgesetz von len eine wichtige Rolle zu, die „Sprachlo- der Ausländer tatsächlich höher ist als jene der 2005 schafft für eine ökonomisch sinn- sigkeit“ nicht-deutschsprachiger Kinder Einheimischen, oder wenn in sozialen Span- volle Auswahl von Ausländern keine Basis. frühzeitig zu beheben. „Mehrsprachigkeit nungsgebieten die Zahl ausländischer Schüler Der Verzicht auf den Auswahlmechanis- sollte ein bewusster Bestandteil des Kin- jene der Einheimischen weit übersteigt, dann mus eines Punktesystems ist schade, weil dergartenalltags werden. Hierzu ist eine wird sich eine generelle Stimmung gegen die gerade das Punktesystem (das ja nur in entsprechende Ausbildung der Erziehe- Zuwanderung insgesamt mobilisieren lassen. Kombination mit der Festlegung von Zu- rinnen notwendig. Aufgebaut werden Wenn die Zuwanderung gesamtwirtschaftlich wanderungsquoten seine Wirkung entfal- kann dabei auf bereits vorhandenen Kom- positiv ist, aber einzelne Teile der Gesellschaft ten kann) die echte politische Kompro- petenzen von Erzieherinnen mit Migra- verlieren (oder subjektiv glauben, sie wür- misslösung darstellen würde. Das Punk- tionshintergrund, die in größerer Zahl den verlieren), wird es letztlich eine politisch- tesystem erlaubt, mit einem Instrument eingestellt werden sollten“, so hat es der ökonomische Frage, wieweit Zuwanderung gleichzeitig zwei Ziele zu erfüllen: das Be- Sachverständigenrat für Zuwanderung schrankenlos möglich oder durch rechtliche grenzungsziel ebenso wie das Steuerungs- und Integration in seinem Jahresgut- und administrative Hemmnisse erschwert wird. ziel. Der große Irrtum liegt in der Meinung, achten 2004 zu Recht gefordert. Würden Die „Logik des kollektiven Handelns“ hilft zu er- mit dem Punktesystem würden Tür und Tor Jugendliche mit Migrationshintergrund klären, wieso sich die Interessen von wenigen nach Deutschland weit geöffnet und die besser integriert, wäre „automatisch“ das negativ Betroffenen gegen die Interessen der Politik verlöre die in der Tat fundamentale in Deutschland verfügbare Humankapital vielen Profiteure der Zuwanderung oft in wei- Kompetenz, die Grenzen dicht zu machen, größer. Dieser Zugewinn ist gerade mit ten Teilen durchsetzen können: Die relativ we- wann immer sie glaubt, die Zuwanderung Blick auf die demographische Alterung nigen durch die Zuwanderung relativ stark ne- stoppen zu müssen. Das Gegenteil ist der unverzichtbar. Oder anders formuliert: es gativ betroffenen Einheimischen lassen sich Fall. Das Punktesystem belässt der Politik ist in jeder Beziehung eine kostengünsti- leichter und wirkungsvoller organisieren als die die Möglichkeit, jederzeit die legale Zu- gere und damit effizientere Strategie, die relativ größere Masse der positiv Betroffenen, wanderung nach Deutschland vollstän- bereits in Deutschland lebenden Auslän- die aufgrund der individuell doch geringen dig zu stoppen, bietet aber zusätzlich der der(innen) der zweiten und dritten Gene- Vorteile eher zum „Trittbrettfahren“ neigen Politik ein hohes Maß an Flexibilität, die ration besser in die deutsche Gesellschaft dürften. Entsprechend der unterschiedlichen gewünschte Zuwanderung nach wirt- und Arbeitswelt zu integrieren, als Proble- Interessenlage werden Zuwanderungsbe- schaftlichen Gesichtspunkten steuern zu me der demographischen Alterung durch schränkungen stärker ausfallen, als es gesamt- können. wirtschaftlich effizient wäre.

238 Wirtschaftliche Folgen der Zuwanderung

BEDEUTET MEHR ZUWANDERUNG MEHR knappen Sozialkassen mit gescheiterten Zu- Das Punktesystem ist zunächst einmal ein ODER WENIGER PROBLEME? wanderern, Asylsuchenden und Flüchtlingen Begrenzungssystem. Der erste Schritt be- geteilt werden. Hier müsste immer wieder dar- steht nämlich darin, dass die Politik Jahr Wird Bilanz gezogen, zeigt sich, dass für die an erinnert werden, dass es beim Asylrecht um für Jahr von neuem eine Quote festlegen einheimische Bevölkerung Einwanderung ins- Menschenrechte und damit um humanitäre müsste, die zuallererst verbindlich be- gesamt positiv zu bewerten ist. Kurzfristig un- Grundrechte geht und nicht um ökonomische stimmt, wie viele Menschen legal nach terstützt sie die Anpassungsprozesse an einen Kosten und Nutzen. Deutschland einwandern dürfen. Selbst- immer rascheren Strukturwandel. Langfristig Während die Vorteile der Einwanderung kaum redend kann auch eine Quote von Null als stimuliert sie das wirtschaftliche Wachstum. thematisiert werden, bieten die negativen Er- angemessen und richtig erachtet werden, Vor allem wenn dank der Zuwanderung positi- scheinungen nicht immer – aber in schwierigen was im Klartext nichts anderes bedeutet ve Externalitäten entstehen, beispielsweise in Zeiten immer öfter – Stoff genug, um mit über- als ein Zuwanderungsstopp. Es ist somit Form eines „Brain-Gains“. großen Schlagzeilen das Bild zu schwärzen. offensichtlich, dass ein Punktesystem mit Eine politisch-ökonomische Spannung ent- Einzelschicksale und verbrecherische Untaten jedem Niveau der politisch gewünschten steht durch die ungleiche subjektive, aber auch werden dann zu allgemeinen Bedrohungsbil- legalen Zuwanderung vereinbar ist. Punk- objektive Betroffenheit durch die Zuwande- dern aufgebaut. Allzu leicht werden hier Aus- tesystem und Begrenzung der Zuwande- rungseffekte. Die Vorteile der Einwanderung länder(innen) insgesamt in eine Sündenbock- rung sind nicht unversöhnliche Gegensät- sind anonymisiert. Sie werden nicht wissent- Rolle gepresst. Allzu rasch bleibt vergessen, ze, sondern harmonische Ergänzungen! lich wahrgenommen. Sie kommen der Gesell- dass die Masse der Ausländer(innen) ihr Ein- Erst wenn der jährliche Zuwanderungs- schaft insgesamt mehr oder weniger gleichmä- kommen durch ehrliche, in der Regel be- spielraum politisch bestimmt wurde, ßig verteilt zugute, ohne dass die Urheber schwerliche Arbeit erzielt und damit durch die kommt das Punktesystem zur Geltung. bekannt sind, etwa so, wie auch die täglichen ganz normale Einkommensteuer ihren Beitrag Das Punktesystem sorgt nämlich nun für Vorteile einer gut funktionierenden Rechtsord- zur Alimentierung der Sozialkassen leistet. Es eine aus ökonomischer Sicht optimale Se- nung als selbstverständlich genommen wer- wundert wenig, dass aus einer subjektiven Be- lektion. Es funktioniert umso besser, je den und sich kaum jemand mehr darum be- troffenheit oft verdrängt wird, wie gering die einfacher und transparenter die Kriterien müht, sie ständig hervorzuheben. objektive Belastung durch die ausländische sind und je mehr darauf verzichtet wird, Ganz anders beurteilen arbeits- oder woh- Wohnbevölkerung tatsächlich ist und dass die allzu viel im Voraus regulieren zu wollen. nungssuchende Einheimische die Einwande- anonymen makroökonomischen Vorteile der Es ist eine Illusion zu glauben, die Selek- rung. Aus ihrer direkten Betroffenheit erken- Zuwanderung ganz vergessen werden. tion ließe sich zielgenau nach einzelnen nen sie im Ausländer (in der Ausländerin) eine Richtig ist, dass Zuwanderung makroökono- Berufen vornehmen. Einwanderungswil- direkte Konkurrenz um Arbeitsplätze oder misch positiv zu beurteilen ist. In aller Regel ist lige sollten aufgrund der Kriterien Quali- Wohnraum. Wer einen Job oder eine Wohnung mehr Zuwanderung ökonomisch besser als we- fikation, Alter und Sprachkenntnisse in ei- an einen Ausländer verliert, wird sich wenig für niger. Was auf den ersten Blick als „Probleme“ ne Warteschlange eingeteilt werden. So- die anonymen Vorteile für alle interessieren. In der Zuwanderung mit ganz fetten Überschrif- weit die Quote reicht, erhalten dann die einer verständlichen Angst um Arbeitsplätze, ten ins Bild der Öffentlichkeit gezerrt wird, er- zuvorderst Stehenden das Recht, nach auf der oft vergeblichen Suche nach billigen weist sich bei genauerem Hinsehen oft als ge- Deutschland einzuwandern. Wohnungen und mit Blick auf die Kriminali- nerelles Problem des Sozialstaates und nicht Ein Punktesystem bietet die Möglichkeit, tätsstatistik stehen viele Einheimische der Ein- als spezifisches Problem, das durch die Zuwan- eine ökonomisch sinnvolle Auswahl der wanderung misstrauisch gegenüber – vor al- dernden verursacht wird. Im Gegenteil: Es sind Zuwanderungsberechtigten vorzuneh- lem, wenn sie tagtäglich an urbanen Brenn- nicht zuletzt die positiven Wirkungen der Zu- men. Es schafft einfache und klare recht- punkten unmittelbar mit den Problemen der wanderung und die Beiträge der ausländischen liche Regeln für die Arbeitsmigration. Es Zuwanderung konfrontiert werden und sich in Arbeitskräfte zu den deutschen Sozialkassen, erlaubt, zweckmäßig und flexibel auf sich ihrem unmittelbaren persönlichen Wohlbefin- die es auch und gerade ermöglichen, schwä- ändernde Gegebenheiten auf dem Ar- den eingeschränkt fühlen. chere und Not leidende Deutsche finanziell zu beitsmarkt zu reagieren. Mit einem Punk- Zudem glauben viele Einheimische, dass die unterstützen. tesystem vergrößert sich der migrations- Ausländer(innen) verantwortlich dafür seien, Richtig bleibt aber auch, dass die ökonomi- politische Gestaltungsspielraum für Poli- dass Straßen verstopft, Krankenhäuser über- schen Wirkungen der Zuwanderung nicht tik, Wirtschaft und Gesellschaft. füllt, Schulklassen zu groß oder Wohnungs- überschätzt werden sollten. Genau so wenig und Erholungsraum zu knapp werden. Schlim- wie Zuwanderung so schlecht ist, wie sie von mer noch: Oft müssen die ohnehin bereits den negativ Betroffenen bewertet wird, so we- Zusammengefasst sind neben den ökonomi- nig ist sie der Königsweg, der alle ökonomi- schen Konsequenzen der Einwanderung eben- schen oder demographischen Probleme der so die sozialen und (verteilungs-)politischen Aufnahmegesellschaft lösen kann. Zuwande- Folgen mit zu berücksichtigen. Letztere werden UNSER AUTOR rung hilft höchstens flankierend. Sie ist aber umso augenfälliger, je mehr gegen Ende des kein Ersatz für (überfällige) Strukturreformen. 20. Jahrhunderts Asylsuchende und Flücht- Prof. Dr. Thomas linge aus Kriegs- und Bürgerkriegsregionen Straubhaar ist die europäischen Migrationsstatistiken zu prä- Universitätspro- gen begannen. Gerade für europäische Wohl- fessor für Volks- fahrtsstaaten erlangte eine Faustregel Gültig- wirtschaftslehre, keit, die auch in klassischen Einwanderungs- insbesondere ländern wie den USA ihren Niederschlag fand: Wirtschaftspolitik, Wo kein Sozialstaat ist, da sind auch keine Mi- an der Universität grationsprobleme! Ökonomische Migrations- Hamburg; seit probleme entstehen vor allem dann, wenn mit 1999 Präsident sozialpolitisch motivierten (re-)distributiven des Hamburgi- Maßnahmen das allokative Marktergebnis (zu schen Welt-Wirt- stark) korrigiert wird. Einwanderer beeinflus- schafts-Archivs (HWWA); seit 1998 Direktor sen das politisch-ökonomische Spannungsfeld des Instituts für Integrationsforschung am und verändern für viele Einheimische die (sozi- Europa-Kolleg Hamburg. Seine Forschungs- al- bzw.) finanzpolitische Budgetinzidenz. Die und Publikationsschwerpunkte sind: Inter- Bewertung der Migrationsfolgen ist damit in nationale Wirtschaftsbeziehungen, Ord- ganz besonderem Maße durch politisch-öko- nungspolitik, Bildungs- und Bevölkerungs- nomische Interessengruppen geprägt. ökonomie.

239 KANN ZUWANDERUNG DEN DEMOGRAPHISCHEN WANDEL AUFHALTEN? Wirtschaftliche Effekte der Migration in alternden Gesellschaften

HERBERT BRÜCKER

BEEINFLUSST MIGRATION DEN den Umfang und das durchschnittliche Alter Die deutsche Bevölkerung wird in den DEMOGRAPHISCHEN WANDEL? der Zu- und Rückwanderer sowie die Fertili- nächsten Dekaden spürbar altern. Nicht täts- und Mortalitätsraten der ausländischen nur der Altersdurchschnitt wird erheb- Geringe Fertilitätsraten und eine steigende Le- Bevölkerung getroffen werden. lich steigen, auch der Anteil der älteren benserwartung führen in den nächsten Deka- Um den Einfluss der Migration auf die demo- Bevölkerung, der nicht mehr im Erwerbs- den zu einem deutlichen Anstieg des Alters der graphische Entwicklung in Deutschland zu leben steht, wird sich bis zum Jahr 2050 Bevölkerung in Deutschland. Ohne Zuwande- skizzieren, wird hier auf eine Bevölkerungspro- voraussichtlich verdoppeln. Mit diesem rung dürfte die Bevölkerung in Deutschland jektion des Deutschen Instituts für Wirt- Alterungsprozess sind erhebliche Belas- von 83 Millionen Personen im Jahr 2005 auf 59 schaftsforschung (DIW Berlin) zurückgegrif- tungen der Sozialsysteme verbunden. Millionen Personen im Jahr 2050 sinken. Im sel- fen.1 Die Annahmen und Ergebnisse der Migra- Dies gilt für umlagefinanzierte wie auch ben Zeitraum wird das Verhältnis der über 60- tionsszenarien sind vergleichbar mit ande- kapitalgedeckte Rentenversicherungs- Jährigen zu den 20- bis 60-Jährigen von 0,4 auf ren einschlägigen Projektionen der demogra- systeme, für die Gesundheitsversorgung 1,05 steigen. Die Alterung der Bevölkerung phischen Entwicklung in Deutschland.2 Unter und die Pflegeversicherung. Einem im- vollzieht sich nicht kontinuierlich, sondern anderem wird angenommen, dass die Gebur- mer kleineren Teil der Erwerbsbevölke- wird sich in den Jahren ab 2015 beschleunigen tenzahl der ausländischen Frauen 1,5, die der rung stehen immer größere Teile einer und in der Dekade zwischen 2030 und 2040 ih- einheimischen Frauen in Deutschland 1,3 be- nichterwerbstätigen Bevölkerung ge- ren Höhepunkt erreichen. Insbesondere der trägt und das Verhältnis zwischen Zu- und genüber, deren Unterhalt durch die sozi- Anteil der jungen Alterskohorten an der Bevöl- Rückwanderungsraten über die Zeit konstant alen Sicherungssysteme finanziert wer- kerung im erwerbsfähigen Alter wird bereits bleibt. den muss. Angesichts dieser Entwicklun- früh sinken. gen wird in der öffentlichen Diskussion Langfristige Prognosen der Bevölkerungsent- häufig die Hoffnung geäußert, durch Zu- wicklung unterliegen einer erheblichen Un- VIER SZENARIEN wanderung die Alterung der Bevölke- sicherheit. Die demographische Entwicklung rung aufzuhalten oder zumindest zu mil- ist kein Datum. Sie kann durch institutionelle Um die Effekte der Zuwanderung für die Alters- dern. Angesichts stabiler Fertilitätsraten Veränderungen (soziale Sicherungssysteme, struktur der deutschen Bevölkerung zu skizzie- ist Migration tatsächlich die unbekannte Kinderbetreuung, Bildungs- und Ausbildungs- ren, werden hier vier Szenarien simuliert: Als Größe in allen demographischen Szena- system), wirtschaftliche Entwicklungen und Referenzszenario wird der Fall einer Nettozu- rien. Die Vorstellung, dass durch Zuwan- soziokulturelle Verhaltensänderungen beein- wanderung von Null angenommen. Im zweiten derung der Alterungsprozess aufgehal- flusst werden. Allerdings werden derartige Ver- Szenario wird unterstellt, dass die Nettozu- ten werden kann, ist aus zwei Gründen änderungen in den wirtschaftlichen und insti- wanderung sich bis zum Jahre 2050 auf durch- eine Illusion. Erstens ergibt sich, weil tutionellen Rahmenbedingungen wie auch so- schnittlich 135.000 Personen pro Jahr beläuft. die Migrationsbevölkerung auch altert, ziale Verhaltensänderungen bestenfalls lang- Dies ist gegenüber der Zuwanderung in der ein dramatischer Zuwanderungsbedarf, fristig wirksam. So ist die Geburtenrate mit letzten Dekade ein deutlicher Rückgang, ent- wenn die Altersstruktur der Bevölkerung 1,3 bis 1,4 Kinder je Frau in (West-)Deutschland spricht aber in etwa der Nettozuwanderung in Deutschland konstant gehalten wer- über die letzten Dekaden recht konstant. Auch nach Deutschland seit dem Jahr 2000. Im drit- den soll. Zweitens altern die Bevölkerun- die Entwicklung der Mortalitätsrate folgt ei- ten Szenario wird eine Nettozuwanderung von gen in den Herkunftsregionen der Migra- nem stationären Trend. Die Rate des natürli- 270.000 Personen pro Jahr angenommen. Dies tion ebenfalls, so dass es fragwürdig ist, chen Bevölkerungswachstums lässt sich des- entspricht in etwa der Nettozuwanderung ob ein derartiges Wanderungspotenzial halb recht gut auch über längere Zeiträume nach Deutschland in der zweiten Hälfte der überhaupt existiert. Allerdings steigen prognostizieren. 1990er-Jahre, würde aber gegenüber dem ge- durch den demographischen Wandel Die große Unbekannte in den meisten demo- genwärtigen Niveau eine Verdoppelung be- die Gewinne durch Zuwanderung in graphischen Szenarien ist die Migration. Mi- deuten. Im vierten Szenario schließlich wird die Deutschland. Auch wenn der Alterungs- gration beeinflusst die Altersstruktur der Be- Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter (20 prozess global ist, steigt das demogra- völkerung im Wesentlichen auf vier Wegen: bis 60 Jahre) bei rund 46 Millionen Personen et- phische Gefälle in der Welt durch die ra-  Erstens steigt mit der Zuwanderung der wa konstant gehalten. Hierfür wäre eine durch- pide Alterung in den entwickelten Län- Umfang der jungen Kohorten, da das durch- schnittliche Nettozuwanderung von 570.000 dern. Die Produktivität des Kapitalein- schnittliche Alter der Zuwanderer deutlich Personen pro Jahr notwendig.3 satzes kann deshalb dadurch erhöht wer- geringer ist als das der deutschen Bevölke- den, wenn entweder verstärkt in Län- rung. dern mit jüngeren Bevölkerungen inves-  Zweitens bewirkt die Rückwanderung älte- MIGRATION UND DEMOGRAPHISCHE tiert wird, oder wenn Teile dieser Bevöl- rer Kohorten, dass die ausländische Bevöl- STRUKTUR kerungen in entwickelten Ländern wach- kerung nicht im gleichen Maße altert wie die sen. Empirische Untersuchungen zeigen, einheimische Bevölkerung in Deutschland. Die Simulationsergebnisse werden in den Ta- dass durch Kapitalmobilität nur kleine  Drittens sind die Fertilitätsraten ausländi- bellen 1 und 2 präsentiert. Bei einer Nettozu- Teile dieses Produktivitätspotenzials ge- scher Frauen höher als die deutscher Frau- wanderung von Null würde die deutsche Be- nutzt werden können. Deutschland und en, wodurch ebenfalls das durchschnittliche völkerung von knapp 83 Millionen Personen im andere OECD-Länder können deshalb er- Alter der Bevölkerung in Deutschland sinkt. Jahre 2002 auf knapp 59 Millionen Personen im heblich von der Zuwanderung profitie-  Viertens schließlich beeinflussen die unter- Jahre 2050 sinken. Der Anteil der über 60-Jäh- ren. Realistisch sind Wanderungsgewin- schiedlichen Mortalitätsraten der ausländi- rigen an der Gesamtbevölkerung, d.h. derjeni- ne, die sich auf ein bis zwei Prozent des schen und der einheimischen Bevölkerung gen Alterskohorten, die gegenwärtig überwie- Bruttoinlandsproduktes in den Einwan- in Deutschland die Altersstruktur zusätzlich. gend nicht mehr erwerbstätig sind, würde im derungsländern belaufen. Auch wenn Der Einfluss der Zuwanderung auf die Alters- selben Zeitraum von 22,5 Prozent auf 44,3 Pro- durch Migration die Alterung nicht auf- struktur der Bevölkerung in Deutschland hängt zent ansteigen. Der Altersquotient, der hier als gehalten werden kann, helfen diese Ge- daher nicht allein von den Annahmen über den das Verhältnis der über 60-Jährigen zu den 20- winne , die Kosten zu senken. Umfang der Nettozuwanderung ab, sondern bis 60-Jährigen definiert ist, würde von 0,4 auf auch davon, welche Annahmen in Hinblick auf 1,05 steigen. Der Belastungsquotient schließ-

240 Wirtschaftliche Effekte der Migration in alternden Gesellschaften lich, der hier als das Verhältnis der 0- bis 20- wanderung von 270.000 Personen) steigen. SCHWANKUNGEN IN DER Jährigen und der über 60-Jährigen zu den 20- Dies ist nach wie vor eine erhebliche Zunahme, DEMOGRAPHISCHEN ENTWICKLUNG bis 60-Jährigen definiert ist, würde von 0,8 auf aber ein signifikanter Rückgang gegenüber 1,38 steigen (vgl. Tabellen 1 und 2) dem Szenario ohne Zuwanderung. Der demographische Wandel vollzieht sich Bei einer Nettozuwanderung von 135.000 bzw. In dem letzten Szenario mit einer jährlichen nicht gleichmäßig über die Zeit. Der Alterungs- 270.000 Personen würde die deutsche Bevölke- Nettozuwanderung von 570.000 Personen prozess beschleunigt sich ab 2015 und erreicht rung bis zum Jahr 2050 auf 60,1 bzw. 67,1 Mil- würde die deutsche Bevölkerung bis zum Jahr in der Dekade 2020 bis 2030 seinen Höhepunkt, lionen Personen sinken. Die Bevölkerung in ei- 2050 auf knapp 95 Millionen Personen steigen. danach schwächt sich die Zunahme des Alters nem Alter von über 60 Jahren würde von 18,6 Obwohl die Zahl der Bevölkerung im erwerbs- der Bevölkerung mit dem Aussterben der ge- Millionen auf 24 Millionen bzw. 25,7 Millionen fähigen Alter im Wesentlichen konstant bleibt, burtenstarken Jahrgänge wieder etwas ab. steigen. Damit würde der Altersquotient von würden der Altersquotient in diesem Szenario Aufgrund des beschleunigten Alterungspro- 0,4 auf 0,88 (Nettozuwanderung von 135.000 von 0,4 auf 0,69 und der Belastungsquotient zesses ab dem Jahr 2015 wird in dem Szenario, Personen) bzw. auf 0,83 (Nettozuwanderung von 0,8 auf immerhin 1,02 steigen. Dies ist dar- das die Zahl der Bevölkerung im erwerbsfähi- von 270.000 Personen), und der Belastungs- auf zurückzuführen, dass die Bevölkerung mit gen Alter konstant hält, angenommen, dass die quotient von 0,8 auf 1,22 (Nettozuwanderung Migrationshintergrund ebenfalls von dem Al- Nettozuwanderung mit jährlich 160.000 Per- von 135.000 Personen) bzw. auf 1,16 (Nettozu- terungsprozess betroffen ist. sonen bis zum Jahr 2010 sehr viel geringer als

TABELLE 1: NETTOZUWANDERUNG UND ALTERSSTRUKTUR DER BEVÖLKERUNG

2002 2010 2015 2020 2030 2040 2050 Bevölkerung nach Altersgruppen in Millionen Personen Alter keine Nettozuwanderung 0 - 20 18,070 14,230 13,130 12,210 11,030 9,420 8,070 20 - 60 45,900 43,890 42,080 39,460 32,090 28,710 24,740 über 60 18,550 21,460 22,800 24,570 28,520 27,770 26,090 insgesamt 82,520 79,580 78,010 76,240 71,640 65,900 58,900 Alter Nettozuwanderung von 135.000 Personen 0 - 20 18,070 14,820 13,880 13,050 11,900 10,340 9,010 20 - 60 45,900 44,940 43,630 41,360 34,520 31,360 27,110 über 60 18,550 21,200 23,230 25,280 29,910 30,060 23,980 insgesamt 82,520 80,960 80,740 79,690 76,330 71,760 60,100 Alter Nettozuwanderung von 270.000 Personen 0 - 20 18,070 15,042 14,248 13,581 12,710 11,376 10,376 20 - 60 45,900 45,580 44,628 42,759 36,735 34,233 31,011 über 60 18,550 21,256 22,632 24,383 28,006 27,067 25,683 insgesamt 82,520 81,878 81,508 80,723 77,451 72,676 67,070 Alter Nettozuwanderung von 570.000 Personen 0 - 20 18,070 15,190 14,700 14,630 15,680 15,450 15,270 20 - 60 45,900 46,000 46,100 46,130 46,100 46,950 46,880 über 60 18,550 21,570 23,000 24,950 29,720 30,850 32,550 insgesamt 82,520 82,760 83,800 85,710 91,500 93,250 94,690

Quelle: Berechnungen des DIW.

TABELLE 2: ENTWICKLUNG DES ALTERS- UND BELASTUNGSQUOTIENTEN

2002 2010 2015 2020 2030 2040 2050 Altersquotient (Verhältnis der Altersgruppe 60+ zur Altersgruppe 20-60) insgesamt 82,520 79,580 78,010 76,240 71,640 65,900 58,900 keine Nettozuwanderung 0,40 0,49 0,54 0,62 0,89 0,97 1,05 Nettozuwanderung von 135.000 Personen 0,40 0,47 0,53 0,59 0,87 0,96 0,88 Nettozuwanderung von 270.000 Personen 0,40 0,47 0,51 0,57 0,76 0,79 0,83 Nettozuwanderung von 570.000 Personen 0,40 0,47 0,50 0,54 0,64 0,66 0,69 Belastungsquotient (Verhältnis der Altergruppe 20-60 zu den Altergruppen 0-20 und 60+) keine Nettozuwanderung 0,80 0,81 0,85 0,93 1,23 1,30 1,38 Nettozuwanderung von 135.000 Personen 0,80 0,80 0,85 0,93 1,21 1,29 1,22 Nettozuwanderung von 270.000 Personen 0,80 0,80 0,83 0,89 1,11 1,12 1,16 Nettozuwanderung von 570.000 Personen 0,80 0,80 0,82 0,86 0,98 0,99 1,02

Quelle: Berechnungen des DIW. Vgl. Text zu den Annahmen der Szenarien.

241 HERBERT BRÜCKER

in den späteren Dekaden ist. Der Höhepunkt DER TÜRKE ALI CUMALI UND DIE DEUTSCHE HILDE wird in der Dekade von 2020 bis 2030 mit einer HERING IM MESCID, EINEM ISLAMISCHEN GEBETSRAUM, Nettozuwanderung von mehr als 870.000 Per- IM MULTIKULTURELLEN ALTENHEIM „HAUS AM SAND- sonen erreicht. BERG“ IN DUISBURG. DIE VORSTELLUNG, DASS ZUWAN- DERUNG DEN ALTERUNGSPROZESS DEUTSCHLANDS AUFHALTEN KANN, IST EINE ILLUSION: ZUWANDERER BRUTTO- UND NETTOZUWANDERUNG UND EINHEIMISCHE ALTERN NÄMLICH GEMEINSAM! EINWANDERUNG IST KEIN ALLHEILMITTEL GEGEN EINE Die Zahl der Nettozuwanderung entzieht sich SCHRUMPFENDE GESELLSCHAFT, WEIL AUCH ZUWANDE- der unmittelbaren politischen Steuerung. RER ÄLTER WERDEN. picture-alliance/dpa Durch die Einwanderungspolitik kann im We- sentlichen nur die Bruttozuwanderung be- einflusst werden. Die Zahlen der Bruttozu- Personen auf rund 44 Millionen Personen bzw. wanderung sind sehr viel höher als die rund 50 Prozent der in Deutschland lebenden Nettowanderungszahlen: In den 1980er- und Bevölkerung steigen. Allerdings wird die Zahl 1990er-Jahren entsprach einer jährlichen Net- der ausländischen Staatsbürger aufgrund von tozuwanderung von 270.000 Personen eine Einbürgerungen, die Annahme der deutschen Zuwanderung von 930.000 Personen und eine Staatsbürgerschaft durch Migranten der zwei- Rückwanderung von 660.000 Personen. Wenn ten und dritten Generation und Ehen zwischen das Wanderungsverhalten der Vergangenheit Deutschen und Ausländern sehr viel geringer stabil bleibt, dürfte einer Nettozuwanderung sein. Ähnlich wie bei der Massenzuwanderung von einer Millionen Personen eine Zuwande- nach Deutschland vor und nach den beiden rung von rund 1,7 Millionen Personen entspre- Weltkriegen aus Osteuropa werden erhebliche chen. Wenn die Nettozuwanderungsraten sub- Teile der Bevölkerung ausländischer Herkunft stanziell gesteigert werden sollen, muss in nach einigen Dekaden durch Assimilation nicht Deutschland folglich die Zahl der Einwanderer, mehr sichtbar sein. die ein Arbeits- und Aufenthaltsrecht erhalten, erheblich gesteigert werden. DAS GESETZ DER GROSSEN ZAHL

ZUNAHME DER BEVÖLKERUNG Die Ergebnisse der hier präsentierten Simula- AUSLÄNDISCHER HERKUNFT tionen bestätigen das, was in der demographi- schen Forschung auch als „Gesetz der großen In Abhängigkeit von den Zuwanderungszahlen Zahl“ bezeichnet wird: Um die demographische und den Annahmen über die Altersstruktur der Struktur der Bevölkerung zu beeinflussen, sind Zuwanderer steigt natürlich auch die Bevölke- sehr hohe Nettozuwanderungsraten notwen- rung ausländischer Herkunft. Bei einer Netto- dig, weil die zugewanderte Bevölkerung auch zuwanderung von Null wird die Bevölkerung von dem Alterungsprozess betroffen ist. Zu- ausländischer Herkunft von 7,3 Millionen im dem passen sich die Fertilitätsraten der auslän- Jahre 2002 geringfügig auf 7,8 Millionen im dischen Bevölkerung recht schnell denen der Jahre 2050 steigen. Bei einer Nettozuwande- deutschen Bevölkerung an, so dass auch hier rung von jährlich 130.000 Personen würde die weitaus weniger Kinder geboren werden, als Bevölkerung ausländischer Herkunft auf 14,6 für die Reproduktion der ausländischen Bevöl- Millionen, bei einer Nettozuwanderung von kerung in Deutschland notwendig wäre. Nach 270.000 Personen auf 20,5 Millionen Personen den Schätzungen der Vereinten Nationen und bei einer Nettozuwanderung von 570.000 müsste die in Deutschland lebende Bevölke- rung auf 180 Millionen Personen anwachsen, damit die Altersstruktur der deutschen Bevöl- ABBILDUNG 1: ANTEIL DER ALTERSKOHORTEN MIT HOHER WANDERUNGSBEREITSCHAFT kerung konstant gehalten werden kann.4 IN DEN WICHTIGSTEN HERKUNFTSREGIONEN

IST EIN ANSTIEG DER NETTOZUWANDERUNG REALISTISCH?

Die Zuwanderung kann natürlich durch eine Li- beralisierung der Einwanderungspolitik erhöht werden. Angesichts des großen Einkommens- gefälles zwischen Einwanderungsländern wie Deutschland und anderen entwickelten Staa- ten in der EU und den Ländern an der euro- päischen Peripherie besteht ein erhebliches Migrationspotenzial. So belaufen sich die Pro- Kopf-Einkommen in den wichtigen Herkunfts- regionen der Zuwanderung in die EU – Südos- teuropa, Nordafrika und dem Mittleren Osten und den Nachfolgestaaten der früheren So- wjetunion – gemessen in Kaufkraftparitäten auf rund 20 Prozent des Einkommens in der EU- 15. In den afrikanischen Ländern südlich der Sahara beläuft sich das Pro-Kopf-Einkommen durchschnittlich auf rund ein Zehntel des Ni- veaus in der EU-15. Mit Ausnahme der osteu- Quellen: Weltbank (2005) und eigene Berechnungen. ropäischen Länder besteht jedoch auch ein er-

242 hebliches Gefälle zwischen dem Bildungs- und mittel- und osteuropäischen Länder, in denen Kohorten mit einer besonders hohen Wande- Ausbildungsniveau der Bevölkerung in den vor 1990 die Ausreisemöglichkeiten durch den rungsneigung, d.h. der Anteil der 20- bis 29- Herkunftsländern und den Ländern der EU. Dies Eisernen Vorhang weit gehend beschränkt wa- Jährigen an der Gesamtbevölkerung, mit rund dürfte die Bereitschaft in der EU, die Arbeits- ren,5 mit einer Bevölkerung von 340 Millionen einem Fünftel etwa 5 Prozentpunkte höher als märkte zu öffnen, senken. Personen. in Deutschland und der EU-15. In dieser Region Zu berücksichtigen ist allerdings auch, dass Aus diesen drei Regionen stammen rund 70 wird nach der Bevölkerungsprojektion der selbst bei einem hohen Einkommensgefälle im- Prozent der ausländischen Bevölkerung in Weltbank6 das Durchschnittsalter der Bevölke- mer nur kleine Teile der Bevölkerung in den Deutschland. Seit Beginn der 1990er-Jahre ist rung in den nächsten Dekaden deutlich anstei- Herkunftsländern bereit sind zu wandern. Zu- die ausländische Bevölkerung aus der Türkei, gen, so dass in der Dekade 2040-2050 die Al- dem beschränken hohe Wanderungskosten die dem früheren Jugoslawien und den mittel- und tersstruktur in dieser Region der gegenwärti- Möglichkeiten zur Migration für breite Bevöl- osteuropäischen Ländern mit rund 2 Millio- gen Altersstruktur in Deutschland entspricht. kerungsgruppen in armen Ländern. nen Personen gewachsen, während der Anteil Der Anteil der Kohorten im Alter von 20 bis 29 Schließlich beschränkt ein wichtiger demogra- der ausländischen Bevölkerung aus den süd- an der Gesamtbevölkerung wird von gegen- phischer Umstand das Migrationspotenzial: europäischen Mitgliedstaaten der EU sinkt. wärtig rund 20 Prozent auf unter 14 Prozent Der demographische Wandel vollzieht sich glo- Schließlich hat der Anteil der ausländischen fallen. In den südeuropäischen Mitgliedstaaten bal, auch wenn die einzelnen Länder in unter- Bevölkerung aus den nordafrikanischen Ma- der EU entsprechen die Fertilitätsraten und die schiedlichem Ausmaß von dem Alterungspro- ghreb-Staaten und dem Mittleren Osten in den Altersstruktur der Bevölkerung bereits heute zess betroffen sind. Die wichtigsten Herkunfts- 1990er-Jahren, von einem niedrigen Niveau weit gehend denen in Deutschland. Hier wird länder der Migration nach Deutschland lassen ausgehend, zugenommen. Angesichts der de- die Bevölkerung folglich ähnlich wie in sich in Hinblick auf ihre demographische mographischen Struktur könnte diese Region Deutschland altern und der Anteil der Kohor- Struktur in drei Regionen unterteilen: zum ei- künftig für Zuwanderung an Bedeutung ge- ten im Alter von 20 bis 29 von gegenwärtig nen die Türkei und das frühere Jugoslawien mit winnen. rund 15 Prozent bis zum Jahr 2050 auf unter einer Bevölkerung von 84 Millionen Personen, Folgende Trends charakterisieren die demogra- zehn Prozent sinken. zum anderen die südeuropäischen EU-Mitglie- phische Entwicklung in den Herkunftsregio- In den mittel- und osteuropäischen Ländern der (Griechenland, Italien, Spanien und Por- nen: In der Türkei und Nordafrika ist das mitt- und im früheren Jugoslawien ist das Durch- tugal) mit einer Bevölkerung von insgesamt lere Alter der Bevölkerung (Median) deutlich schnittsalter der Bevölkerung nur geringfügig 105 Millionen Personen, und abschließend die geringer als in Deutschland und der Anteil der jünger als in Deutschland und der Anteil der

243 HERBERT BRÜCKER jungen Kohorten mit einer hohen Wande- tel für die Finanzierung der Lasten des demo- tigung der Ausbildungskosten, bei älteren rungsneigung nur unwesentlich höher. Im Zu- graphischen Wandels mobilisiert werden. In aufgrund der höheren Gesundheits- und ge des transformationsbedingten Einbruchs den folgenden Abschnitten wird hier nur auf Sozialhilferisiken. der Geburtenraten in diesen Regionen wird das einen Aspekt dieser potenziellen Gewinne ein-  Löffelholz und Köpp (1998) ziehen aus ihrer Durchschnittsalter der Bevölkerung jedoch gegangen: Die fiskalischen Gewinne des Wohl- Analyse der fiskalischen Effekte der Zuwan- schneller steigen als in Deutschland, so dass fahrtsstaates in einer alternden Gesellschaft. derung die Schlussfolgerung, dass sich der das Durchschnittsalter etwa ab dem Jahr 2030 Zuzug und der Aufenthalt von Ausländern höher sein wird als in Deutschland. Der Anteil insgesamt positiv auf die öffentlichen der Kohorten im Alter zwischen 20 bis 29 Jah- CHANCEN FÜR DEN WOHLFAHRTSSTAAT Haushalte auswirken. Dies wird auf die po- ren wird von gegenwärtig 15 bis 16 Prozent bis sitiven Effekte für umlagefinanzierte sozia- zum Jahr 2050 auf 11 bis 12 Prozent sinken (vgl. Die Zuwanderung wirft Gewinne und Kosten le Sicherungssysteme, die sich bei einer Ver- Abbildung 1). für den Wohlfahrtsstaat in den Einwande- jüngung der Bevölkerung ergeben, und auf Der demographische Wandel beeinflusst folg- rungsländern auf. Zunächst erhöht sich mit der die unterproportionale Inanspruchnahme lich auch die Altersstruktur der Bevölkerungen Zuwanderung der Anteil der Erwerbstätigen an öffentlicher Güter durch die ausländische in den Herkunftsländern der Migration nach der Bevölkerung. Dies verringert die Belastung Bevölkerung zurückgeführt. Durch öffentli- Deutschland erheblich. Der Anteil der Kohorten insbesondere umlage- und abgabefinanzierter che Investitionen in eine verbesserte Inte- mit einer hohen Wanderungsneigung an der Sozial- und Steuersysteme in einer alternden gration der ausländischen Bevölkerung Gesamtbevölkerung wird in den nächsten fünf Gesellschaft. Der Umfang dieser Gewinne können diese Erträge noch deutlich gestei- Dekaden in den Herkunftsländern um ein Vier- hängt von der Integration der Zuwanderer in gert werden. tel bis ein Drittel sinken. Dies wird sich in der den Arbeitsmarkt und der Struktur der Steuer-  Eine Studie des Ifo-Institutes (Sinn et al. Dekade 2020 bis 2030, in der zur Aufrecht- und Sozialsysteme ab. Zudem weitet sich mit 2001) kommt hingegen zu dem Ergebnis, erhaltung der demographischen Struktur in der Zuwanderung die Zahl zukünftiger Steuer- dass gegenwärtig die ausländische Bevölke- Deutschland statistisch ein besonders hoher zahler aus. Mit dem Wachstum der Bevölke- rung zu einer Nettobelastung für die öffent- Wanderungsbedarf besteht, bereits weitge- rung verringert sich somit die Nachhaltigkeits- lichen Finanzen in Deutschland führt. Der hend vollzogen haben. Es kann infolgedessen lücke, die sich aus der Überwälzung öffentli- Unterschied zu den Studien von Bonin et al. davon ausgegangen werden, dass das Migra- cher Schulden auf künftige Generationen bei (2000), Bonin (2001) und Löffelholz und tionspotenzial in den nächsten Dekaden spür- gleichzeitig schrumpfender Bevölkerung er- Köpp (1998) ergibt sich im Wesentlichen aus bar zurückgeht. gibt.7 der Annahme, dass Ausländer bereits in ei- Diesen potenziellen Gewinnen durch Zuwan- nem Alter von Null Jahren zuwandern und derung stehen Kosten gegenüber: Zuwanderer dass die Verringerung der Steuerlast künfti- WIRTSCHAFTLICHE FOLGEN sind überdurchschnittlichen Arbeitslosigkeits- ger Generationen unberücksichtigt bleibt. und Sozialhilferisiken ausgesetzt, während ih- Die tatsächlichen fiskalischen Erträge der Es ist also aus zwei Gründen wenig realistisch, re Steuer- und Abgabenbeiträge aufgrund ge- Zuwanderung werden damit systematisch dass durch eine sprunghafte Erhöhung der ringer Verdienste unter dem Durchschnitt der unterschätzt. Zuwanderungszahlen die Alterung der Bevöl- deutschen Bevölkerung liegen. Es ist folglich Unter den Annahmen der Studien von Bonin et kerung in Deutschland in den Dekaden 2020 eine empirische Frage, ob und in welchem Um- al. (2000) und Bonin (2001) sind die Gewinne bis 2050 ausgeglichen werden kann: Erstens fang die wirtschaftlichen Lasten der alternden der Zuwanderung für den Wohlfahrtsstaat in müsste die ausländische Bevölkerung drama- Bevölkerung durch Zuwanderung gemildert einer alternden Gesellschaft erheblich: Bei ei- tisch zunehmen, was wiederum zu erheblichen werden können. ner Nettozuwanderung von 300.000 Personen Problemen der wirtschaftlichen und sozialen Die Nettoeffekte der Zuwanderung sind für könnte die Nachhaltigkeitslücke, also die Diffe- Integration führen würde. Zweitens ist es zwei- Deutschland in mehreren Studien untersucht renz zwischen den Ausgaben und Einnahmen, felhaft, ob ein derart hohes Migrationspo- worden. Auf Grundlage des – durchaus kontro- die geschlossen werden muss, damit die Schul- tenzial überhaupt realisiert werden kann. versen – Forschungsstandes können folgende denlast für die künftigen Generationen nicht Allerdings kann die Zuwanderung, angesichts Schlussfolgerungen gezogen werden: steigt, von 6 Prozent des Bruttoinlandsproduk- des hohen Einkommensgefälles zwischen  Bonin et al. (2000) und Bonin (2001) zeigen tes auf 4 Prozent gesenkt werden. Dies ist ein Deutschland und den anderen entwickelten für Deutschland, dass sich über den Lebens- erheblicher Gewinn, der die Belastung des Ländern in der EU und den Regionen an der eu- zyklus eines Zuwanderers ein positiver Net- Wohlfahrtsstaates durch die Alterung der Ge- ropäischen Peripherie, zumindest auf kurze toertrag für die öffentlichen Finanzen er- sellschaft signifikant reduzieren würde. und mittlere Sicht erheblich erhöht werden. gibt, wenn er in einem Alter zwischen 11 In allen Studien steigen die fiskalischen Gewin- Welche Folgen würde ein solcher Anstieg der Jahren und 55 Jahren einwandert. Dies trifft ne durch Zuwanderung mit der Qualifikation Nettozuwanderung nach sich ziehen? für die große Mehrheit der Zuwanderer zu. der Einwanderer: Mit steigendem Ausbil- Grundsätzlich gilt, dass durch Migration der Bei jüngeren Alterskohorten ergibt sich ein dungsniveau erhöht sich der Beitrag zu Steu- Faktor Arbeit erheblich produktiver eingesetzt negativer Beitrag aufgrund der Berücksich- ern und Abgaben, während die Arbeitslosig- werden kann. Dies führt zu globalen Einkom- mensgewinnen, die nach den einschlägigen Berechnungen vermutlich höher als diejenigen einer weiteren Liberalisierung von Handel und Kapitalverkehr sind. Allerdings sind die Gewin- ne und Verluste durch Migration nicht gleich- UNSER AUTOR mäßig über die Produktionsfaktoren und damit über die Bevölkerung verteilt. Es kann trotz ei- Prof. Dr. Herbert Brücker leitet den Forschungsbereich „Internationale ner deutlichen Erhöhung der Wohlfahrt der Vergleiche und Europäische Integration“ beim Institut für Arbeitsmarkt Nationen zu einer erheblichen Umverteilung und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg. Herbert Brücker hat sich an der kommen (vgl. den Beitrag von Thomas Straub- Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Technischen Universität in haar in diesem Heft), es können unter Berück- Berlin mit einer Arbeit über Europäische Migration habilitiert und an sichtigung von Arbeitslosigkeit auch Verluste der Universität Frankfurt promoviert. Vor seiner Tätigkeit für das IAB für die Einwanderungsländer entstehen (vgl. war er u. a. Gastprofessor an der Aarhus School of Business und wis- Boeri/Brücker 2005). Das Gefälle in der demo- senschaftlicher Mitarbeiter beim DIW Berlin. Seine Forschungsinteres- graphischen Struktur der Bevölkerung erhöht sen umfassen die Migration von Arbeitskräften, die Arbeitsmarktöko- grundsätzlich die potenziellen Gewinne durch nomie und Probleme der Internationalisierung und Europäischen Inte- Migration. Im Zuge des Alterungsprozesses gration. Er hat zahlreiche Bücher und Aufsätze in Fachzeitschriften kann der bestehende Kapitalstock durch Mi- veröffentlicht und u. a. im Auftrag der Europäischen Kommission die gration produktiver eingesetzt und damit Mit- wirtschaftlichen Effekte der EU-Osterweiterung untersucht.

244 Wirtschaftliche Effekte der Migration in alternden Gesellschaften keits- und Sozialhilferisiken sinken. Mikroöko- das Gefälle in der demographischen Struktur rungsbedarf nach Teilarbeitsmärkten in Deutschland. Gutachten für den Zuwanderungsrat der Bundesregie- nometrische Studien zeigen in der Tat, dass der Ein- und Auswanderungsländer steigen rung. Berlin, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Ausländer mit gleichen Humankapitalcharak- diese Gewinne zusätzlich an. Sie dürften höher Februar 2004. teristika ein geringeres oder gleiches Sozial- sein als die Gewinne einer weiteren Liberalisie- Eurostat (2001): Bevölkerungsvorausschätzung. Eurostat, Luxembourg. hilferisiko im Vergleich zur einheimischen Be- rung der Güter- und Kapitalmärkte. Allerdings Löffelholz, H.-D./Köpp, G. (1998): Ökonomische Auswir- völkerung in Deutschland haben, so dass die fallen die Gewinne der Einwanderungsländer kungen der Zuwanderung nach Deutschland. Schriften- fiskalischen Erträge deutlich mit der Qualifika- bei inflexiblen Arbeitsmärkten und Arbeitslo- reihe des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirt- schaftsforschung, Neue Folge, Heft 63, Berlin. 8 tion der Zuwanderer steigen dürften. sigkeit geringer aus. Der demographische Riphahn, R. (1999): Immigrant Participation in the Ger- Wandel bedeutet nicht zwangsläufig, dass die man Welfare Program. In: FinanzArchiv, 55, S. 163-185. Arbeitslosenrate sinkt. Bei einer höheren Belas- Sinn, H.-W./Flaig, G/Werding, M./Munz, S./Düll, N./Hoff- mann, H. (2001): EU-Erweiterung und Arbeitskräftemi- SCHLUSSFOLGERUNGEN tung des Faktors Arbeit durch Sozialabgaben gration. Wege zu einer schrittweisen Annäherung der Ar- kann es im Gegenteil auch zu einem fallenden beitsmärkte. Institut für Wirtschaftsforschung. München Die Alterung der deutschen Bevölkerung wird Arbeitsangebot und steigender Arbeitslosigkeit Schulz, E. (1997): Alternde Gesellschaft: Zur Bedeutung von Zuwanderung für die Altersstruktur der Bevölkerung auch bei einem Politikwechsel in der Einwan- kommen. Durch Zuwanderung können diese in Deutschland. In: DIW Wochenbericht, Jg. 62 (1997), derungspolitik nicht aufgehalten werden kön- Belastungen gesenkt werden. De facto werden Nr. 33, S. 578-590. nen. Unter realistischen Annahmen wird sich Migranten in Deutschland durch die sozialen Schulz, E. (1999): Zur langfristigen Bevölkerungsent- wicklung in Deutschland: Modellrechnung bis 2050. In: der Anteil der älteren Bevölkerungsgruppen, Sicherungssysteme besteuert. Dies gilt vor al- DIW Wochenbericht, Jg. 66 (1999), Nr. 42, S. 745-757. die nicht mehr im erwerbsfähigen Alter sind, bis lem für das umlagefinanzierte Rentensystem, Schulz, E. (2001): Demographische Entwicklung und Zu- zum Jahr 2050 gegenüber dem Beginn dieses das gegen kurze Beitragszahlungen und damit wanderungs’bedarf‘. Berlin. Statistisches Bundesamt (2000): Bevölkerung: Bevölke- Jahrtausends mindestens verdoppeln. Gleich- gegen die typischen Erwerbsbiographien von rungsentwicklung Deutschlands bis zum Jahr 2050, Er- zeitig geht die Zahl der Kinder und Jugendli- Migranten diskriminiert. Die fiskalischen Ge- gebnisse der 9. koordinierten Bevölkerungsvorausberech- chen zurück. Der Anteil der Bevölkerungsgrup- winne der Migration in einer alternden Gesell- nung. Wiesbaden. Statistisches Bundesamt (2001): Bevölkerung: Bevölke- pen, die nicht im erwerbsfähigen Alter sind, schaft können deshalb hoch ausfallen. Das gilt rungsentwicklung Deutschlands bis zum Jahr 2050, Er- wird deshalb nur um rund 50 Prozent steigen. auch, wenn wir berücksichtigen, dass Migran- gebnisse der 10. koordinierten Bevölkerungsvorausbe- Gleichzeitig steigt das Durchschnittsalter der- ten überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit rechnung. Wiesbaden. Ulrich, R.E. (2001): Die zukünftige Bevölkerungsstruktur jenigen, die noch im Arbeitsprozess stehen. betroffen sind und deshalb auch überdurch- Deutschlands nach Staatsangehörigkeit, Geburtsort und Durch Zuwanderung kann der Altersquotient schnittlich hohe Leistungen wie Arbeitslosen- ethnischer Herkunft: Modellrechnung bis 2050. Gutach- um bis zu ein Drittel, und der Belastungsquo- geld I und II beziehen. ten im Auftrag der Unabhängigen Kommission „Zuwan- derung“. Eridion GmbH. tient um bis zu ein Viertel gesenkt werden. Alles in allem kann Deutschland die Folgen des United Nations (2001a): Replacement Migration: Is it a Dies würde aber einen radikalen Bruch mit der demographischen Wandels nicht durch Zu- Solution to Declining and Ageing Populations? In: Popu- gegenwärtigen Einwanderungspolitik erfor- wanderung bewältigen. Migration kann aber lation Studies, 206. United Nations (2001b): Alterung der Weltbevölkerung dern. Die Nettozuwanderungsraten müssten dazu beitragen, die wirtschaftlichen Kosten zu 1950-2050: Zusammenfassung. In: Population Studies, 207. um das Zwei- bis Dreifache steigen, und die mildern. Der Beitrag der Migration zur Bewäl- Weltbank (2005): World Development Indicators. CD- Bruttozuwanderungsraten um ein Mehrfa- tigung des demographischen Wandels wird Rom.Washington, D.C. Zimmermann, K. F./Bauer, T./Bonin, H./Fahr, R./Hinte, H. ches. Kurz und mittelfristig ist ein solcher An- umso höher ausfallen, je besser es gelingt, eine (2001): Fachkräftebedarf bei hoher Arbeitslosigkeit. Gut- stieg, angesichts des großen Einkommensge- große Zahl von qualifizierten Migranten zu ge- achten im Auftrag der Unabhängigen Kommission „Zu- fälles zwischen Deutschland und den anderen winnen und diese in Arbeitsmarkt und Gesell- wanderung“. Bonn: Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA). Einwanderungsländern in der EU auf der einen schaft zu integrieren. Dies setzt einen grundle- ANMERKUNGEN und den Herkunftsländern der Migration an der genden Wechsel in der deutschen Einwande- 1 Vgl. Brücker und Kohlhaas (2004); Schulz (1997, europäischen Peripherie auf der anderen Seite, rungs- und Integrationspolitik voraus. 1999, 2001). durchaus denkbar. Allerdings ist der demogra- 2 Vgl. Birg et. al. (1988a), Birg et. al (1988b), Eurostat phische Wandel ein globales Phänomen. Die (2001), Statistisches Bundesamt (2001), United Nations LITERATUR (2001a, 2001b). Bevölkerungen in den Herkunftsländern altern 3 Birg, H./Flöthmann, E.-J./Heins, F./Reiter, I. (1998a): Mi- In diesem Szenario wurde unterstellt, dass das Alter ebenfalls. Dies wird dazu führen, dass die jun- grationsanalyse – Empirische Längsschnitt- und Quer- der Zu- und Rückwanderer konstant bleibt. Unter der An- gen Kohorten mit einer hohen Wanderungsbe- schnittanalysen auf der Grundlage von Mikro- und Ma- nahme, dass das durchschnittliche Alter der Zu- und Rückwanderer im Zeitverlauf steigt, wäre eine jährliche reitschaft in den nächsten zwei bis drei Deka- kromodellen für die Bundesrepublik Deutschland. In: IBS- Materialien, Band 43, IBS. Zuwanderung von mehr als 700.000 Personen notwen- den um Rund ein Drittel zurückgehen werden. dig, um die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter kon- Birg, H./Flöthmann, E.-J./Frein, T. (1998b): Simulations- stant zu halten. Vgl. Brücker und Kohlhaas (2004). Also genau dann, wenn der demographiebe- rechnungen zur Bevölkerungsentwicklung in den alten 4 und neuen Bundesländern im 21. Jahrhundert. In: IBS- Vgl. United Nations (2001a, 2001b). dingte Einwanderungsbedarf besonders hoch 5 Materialien, Band 45, K, IBS. Es handelt sich um die zehn Beitrittsländer zur Euro- ist, dürfte das Wanderungspotenzial sinken. Ei- Boeri, T./Brücker, H. (2005): Why are Europeans so Tough päischen Union aus Mittel- und Osteuropa mit einer Ge- ne Migrationspolitik, die die demographische on Migrants? Economic Policy, 44, samtbevölkerung von 104 Millionen Personen und die Länder der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) Struktur der Bevölkerung in Deutschland be- Bonin, H. (2001): Fiskalische Effekte der Zuwanderung mit einer Gesamtbevölkerung von 240 Millionen Perso- nach Deutschland: Eine Generationenbilanz. In: IZA Dis- nen im Jahr 2002. einflussen will, muss deshalb bereits heute den cussion Paper 305, Bonn: IZA. 6 Vgl. Weltbank (2005). Politikwechsel einleiten. Bonin, H./Raffelhüschen, B./Walliser, J. (2000): Can Im- 7 Vgl. zur Berechnung der Nachhaltigkeitslücke für Migration führt zu einem produktiveren Ein- migration Alleviate the Demographic Burden? In: Finanz- Archiv, 57, S. 1-21. Deutschland Bonin et al. (2000) und Bonin (2001). 8 satz des Faktors Arbeit und folglich zu einem Brücker, H./Kohlhaas, M. (2004): Möglichkeiten der Vgl. Riphahn (1998). Anstieg des globalen Sozialproduktes. Durch quantitativen und qualitativen Ermittlung von Zuwande-

245 ZUWANDERUNG UND DEMOGRAPHISCHE SITUATION IN BADEN-WÜRTTEMBERG Migranten in Baden-Württemberg

WOLFGANG WALLA

ABBILDUNG 1 Unter den deutschen Ländern hat Baden- Württemberg den höchsten Ausländer- Wanderungsgewinne und -verluste Baden-Württemberg seit 1951 anteil, und die bundesweite regionale Wanderungssaldo gegenüber den alten Ländern Wanderungssaldo gegenüber den neuen Ländern Verteilung zeigt, dass in diesem Bundes- land die meisten Deutschen mit Migra- Wanderungssaldo gegenüber dem Ausland Wanderungssaldo insgesamt tionshintergrund leben. Wolfgang Walla 200.000 präsentiert grundlegende Daten und Wanderungsgwinne Fakten zur Zuwanderung nach Baden- 150.000 Württemberg. Der zeitliche Bogen er- streckt sich hierbei über die letzten 100.000 55 Jahre. Der Beitrag beschreibt zu- 50.000 nächst die Wanderungsbewegungen nach 1945, die Vertriebene und Flüchtlin- 0 ge in das Land führten, schildert die An- werbung, Ankunft und karge Lebenssi- -50.000 Wanderunsgverluste tuation der ersten so genannten „Gast- -100.000 arbeiter“, thematisiert die Dynamik der 1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 Ost-West-Wanderung nach 1989 und bi- lanziert schließlich das aktuelle Wan- derungsverhalten. Ein weiterer Schwer- punkt ist die Analyse der Bildungsbereit- re und Musikanten. Es kamen andere, denn mit den Verwaltungen von Baden und Süd- schaft und des Bildungserfolgs von Men- schon immer zog es Menschen dorthin, wo sie württemberg-Hohenzollern – geweigert, einen schen mit Migrationshintergrund. Die meinten, dass es ihnen besser ginge. Die Be- angemessenen Beitrag zur Lösung des Flücht- Ursachen für Bildungsunterschiede zwi- weggründe sind dabei vielschichtig: Die einen lingsproblems zu leisten. Das Land geriet da- schen „Einheimischen“ und Migranten wollen Geld verdienen, andere ihr Leben oder durch insgesamt in den Ruf, nicht sehr flücht- sind reichlich komplex. Gleichwohl be- das ihrer Familie in Sicherheit wissen und wie- lingsfreundlich zu sein. stätigen sich die Ergebnisse der PISA- der andere wollen ihre Sprache oder Religion Zu den acht Millionen Vertriebenen, die Auf- Studien und weiterer Untersuchungen behalten dürfen. Wenn dem so ist, dann scheint nahme in der Bundesrepublik fanden, kamen auch für Baden-Württemberg: Bildungs- es sich in Baden-Württemberg ganz gut leben noch vier Millionen Bürger aus der sowjeti- erfolg ist milieugebunden, hängt vom zu lassen, denn zwischen 1950 und 2005 wur- schen Besatzungszone (SBZ) bzw. der Deut- Erlernen der deutschen Sprache und ei- den etwa 16 Millionen in das Land Zuziehende schen Demokratischen Republik. 3,4 Millionen ner gelingenden Integration ab. Deutlich gezählt, die Hälfte darunter kam aus dem Aus- flohen bis zum 12. August 1961 aus dem „Ul- wird ebenfalls, dass ausländische Arbeit- land oder der ehemaligen DDR. Im selben Zeit- bricht-Staat“. Dann errichtete dieser mit Unter- nehmer weitaus stärker den Schwan- raum wurden dagegen nur knapp 13 Millionen stützung der Warschauer Paktstaaten die Ber- kungen des Arbeitsmarktes unterwor- Fortzüge gemeldet. So wurden im Laufe von 55 liner Mauer (45 km) und baute den deutschen fen sind: Wenn der Arbeitsmarkt dies er- Jahren fast 29 Millionen Wanderungsfälle über Teil des „Eisernen Vorhangs“ in einer Länge von fordert, dann werden ausländische Ar- die Landesgrenze registriert. 1.381 km fluchtsicher aus. Für ein Vierteljahr- beitnehmer(innen) früher und schneller hundert schienen die Wanderungsströme aus arbeitslos als deutsche. der DDR zu versiegen. Ganz so verhielt es sich VERTRIEBENE, FLÜCHTLINGE, aber nicht: Seit dem Mauerbau schafften es SPERRBRECHER 400.000 DDR-Bürger „ganz legal“ in die dama- lige Bundesrepublik überzusiedeln oder abge- Ein Ergebnis der Politik Hitlers und Stalins war schoben zu werden. 220.000 flohen ohne vor- 16 MILLIONEN ZUWANDERER die wohl größte Völkerwanderung, die Europa herige Genehmigung, unter ihnen 40.000 Per- IN 55 JAHREN erlebte und noch erlebt. Eine große Gruppe un- sonen, die mit Mut, Fantasie und unter Gefahr ter den „Wandernden“ waren Vertriebene und für Leib und Leben in den Westen gelangten – Carl Zuckmayer lässt den Harras, des „Teufels Flüchtlinge. Man bezeichnete 1950 damit „Per- im Amtsdeutsch „Sperrbrecher“ genannt. Auch General“, zu einem jungen Wehrmachtsoffizier sonenkreise, die ihrer Heimat beraubt wurden für diese Bevölkerungsgruppen lieferten die sagen: oder sie aus Furcht verließen und so entwur- Zählungen Datenmaterial. 1961 wurden in Ba- „… und jetzt stellen Sie sich doch mal ihre Ah- zelt, besitzlos und hilfsbedürftig sind, dass sie den-Württemberg 416.000 Deutsche aus der nenreihe vor – seit Christi Geburt. Da war ein einer sozialen Betreuung bedürfen“. Für die SBZ gezählt, das waren 5,4 Prozent der Ge- römischer Feldhauptmann. Ein schwarzer Kerl. Statistik galt: „Heimatvertriebene sind Perso- samtbevölkerung. Braun wie eine reife Olive, der einem blonden nen mit Wohnsitz am 1.9.1939 in den deut- Mädchen Latein beigebracht hat und dann kam schen Ostgebieten unter fremder Verwaltung, ein jüdischer Gewürzhändler in die Familie. Der im Saargebiet oder im Ausland, letztere nur mit DIE ERSTEN „GASTARBEITER“ ist noch vor der Heirat Christ geworden und hat deutscher Muttersprache“. Bei der Volkszäh- die katholische Haustradition begründet. – lung 1950 wurden in Baden-Württemberg 1950 waren im Land 57.000 Ausländer regis- Und dann kam ein griechischer Arzt, ein kelti- 862.000 Heimatvertriebene gezählt, das waren triert. Es handelte sich um Kaufleute, Studen- scher Legionär, ein Graubündner Landsknecht, 13,5 Prozent der damaligen Gesamtbevölke- ten, Personal im Gastgewerbe und eine nicht ein schwedischer Reiter, ein Soldat Napoleons, rung. Drei Viertel von ihnen lebten im amerika- näher bezifferbare Zahl von im Dritten Reich ein desertierter Kosak, (...) ein Magyar, (...) ein nisch besetzten Württemberg-Baden, wo auf verschleppten Personen (Displaced Persons), Pandur, (...) ein böhmischer Musikant – das al- 100 „Einheimische“ 20 Vertriebene kamen. An- die nach dem Krieg aus verschiedenen Gründen les hat am Rhein gelebt (…)".1 ders sah es im Süden des Landes aus. Dort ka- nicht in ihre Heimatländer zurückkehren woll- So gesehen dürfte jeder Baden-Württember- men auf 100 Einheimische nur neun Vertriebe- ten. Im Zuge des Wiederaufbaus und des Wirt- ger irgendeinen Migrationshintergrund haben. ne – und dies, obwohl diese Landesteile die ge- schaftswunders zeichnete sich ein allgemeiner Dabei muss man nicht zwei Jahrtausende zu- ringsten Kriegsverwüstungen erlitten hatten. Arbeitskräftemangel ab, so dass die Bundesre- rückgehen, denn in den letzen sechs Jahrzehn- Die französische Besatzungsadministration gierung bereits 1956 eine Vereinbarung mit ten kamen zwar keine Landsknechte, Legionä- hatte sich – wohl durchaus im Einverständnis Italien über die Anwerbung von Arbeitskräften

246 Migranten in Baden-Württemberg

ABBILDUNG 2: 1986 und 1989 kamen 700.000 Personen in den Westen.

Ausländische Bevölkerung in Baden-Württemberg seit 1950 nach ausgewählter Staatsangehörigkeit AUSSIEDLER: REPATRIIERUNG IN EIN UNBEKANNTES VATERLAND Spanien 1.500.000 Griechenland Die eher urbanen, aus Polen zuziehenden Aus- 1.250.000 siedler bevorzugten die Stadtstaaten und Jugoslawien 1) Großstädte in Nordrhein-Westfalen und Hes- 1.000.000 Italien sen, die mehr ländlich geprägten Aussiedler- 750.000 Türkei schichten aus der Sowjetunion die Länder Nie- dersachsen, Rheinland-Pfalz und Baden- 500.000 sonstige Württemberg. Im Gegensatz zu den ersten

250.000 Nachkriegsjahren nahm Baden-Württemberg diesmal überdurchschnittlich viele dieser Men- 0 schen auf. Zur demographischen Struktur der 1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 Aussiedler liegen nur wenige Daten vor. Alters-

Ab 1992: Personen aus Ländern Bosnien-Herzegowina, Jugoslawien, Kroatien, Mazedonien, Slowenien strukturen und konfessionelle Zugehörigkeit Quelle: Bundesverwaltungsamt (Ausländerzentralregister), Köln. ähneln jener der Vertriebenen. Es kommen dop- pelt so viele Katholiken wie Protestanten, fast ein Zehntel zählt sich nicht zu den großen schloss. 1960 folgten ähnliche Abkommen mit deportiert, russifiziert, polonisiert und ge- christlichen Kirchen. Spanien und Griechenland, 1961 mit der Türkei, drängt, ihre nationale, politische und weltan- Die Aussiedler sehen sich mit anderen Integra- 1964 mit Portugal, 1965 mit Tunesien und Ma- schauliche Identität dem herrschenden System tionsproblemen konfrontiert als früher die Ver- rokko und schließlich 1968 mit Jugoslawien. anzupassen. Seit 1950 gelang über zwei Milli- triebenen. Sie wechseln von einer reglemen- Die Gastarbeiter kamen zu Hunderttausenden onen von ihnen die Auswanderung in die ehe- tierten und stark sozial orientierten Mangel- in die Wirtschaftszentren des Landes, meist malige Bundesrepublik Deutschland. Mit dem wirtschaft in eine weit gehend anonyme und jüngere und überwiegend ledige Männer. Bis Zerfall des sowjetischen Satellitensystems und individualisierte Überflussgesellschaft, ohne etwa 1973 verstand man die Ausländerbe- den innenpolitischen Veränderungen in Zent- sofort daran teilhaben zu können. Hinzu kom- schäftigung als ein vorübergehendes Phäno- ral- und Osteuropa gewann die Ost-West- men nicht selten Sprach- und berufliche Aus- men der „Gastarbeiter“; Gäste, die zu dienen Wanderung erneut an Dynamik. Zwischen bildungsprobleme. hatten und nicht zu bedienen waren. Die Män- ner schufteten auf dem Bau oder am Fließband. Sie schickten ihr Verdientes nach Hause, der ABBILDUNG 3 Ehefrau oder der Mama, oder sie sparten für ein Haus in Kalabrien oder für eine Werkstatt in Ka- talonien. Selbst hausten sie in Bauhütten und Wanderungen der ausländischen Bevölkerung in Baden-Württemberg seit 1970 billigsten Unterkünften, nicht selten mehrere Nach Baden-Württemberg aus dem Ausland zugezogene ausländische Bevölkerung in einem Raum. Des Kochens nicht immer Aus Baden-Württemberg in das Ausland fortgezogene ausländische Bevölkerung mächtig, ernährten sie sich oft von Spaghetti; 250.000 so wurden sie dann selbst genannt. Was Max 200.000 Frisch bereits 1965 zu seinen schweizerischen Landsleuten sagte, galt auch für die Bundesre- 150.000 publik und Baden-Württemberg: „Ein kleines 100.000 Herrenvolk sieht sich in Gefahr, man hat Ar- beitskräfte gerufen und es kommen Menschen, 50.000 (...) die in ihrem Land auf keinen grünen Zweig kommen, (...) die sich (hier) über menschenun- 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 würdige Unterkünfte beschweren, die sparen 1970 bis 1990: Ohne die Wanderungen mit der ehemaligen DDR bzw. den Ostgebieten des Deutschen Reichs. und jährlich Milliarden heimschicken. Sie fallen Ab 1991: Identisch mit den Wanderungen über die Grenze des Bundesgebiets. auf, sie haben ein Auge auf Mädchen und Frau- en, solange sie ihre nicht in die Fremde mitneh- men dürfen (...)“. Später strebte man eine „Kon- solidierung“ an. Dafür gab es mehrere Gründe. ABBILDUNG 4 Einer der wichtigsten war, dass viele Ausländer ihre Familien nachholten, was die Sozialkassen belastete und infrastrukturelle Probleme schuf. Nach Deutschland zugezogene Aussiedler seit 1980* Vor allem aber sollte der durch die erste Ölkri- ehem. UdSSR Polen Rumänien sonstige se gestörte Arbeitsmarkt entlastet werden. Die

Konsolidierungspolitik mündete schließlich am 350.000

23.11.1973 im schlichten Anwerbestopp der 300.000 Regierung Brandt-Scheel. Konjunkturkrise und 250.000 Anwerbestopp bewirkten, dass in Baden-Würt- temberg das Zuzugsvolumen von Ausländern 200.000 auf ein Drittel sank. Der Zusammenbruch des 150.000 Ostblocks und Bürgerkriege ließen die Zuwan- 100.000 derung um 1990 nochmals kräftig steigen, um 50.000 sich nun ein wenig über 100.000 und die der 0 Fortzüge knapp darunter einzupendeln. 1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 Während viele Deutsche im und nach dem * Bis 1990 BRD, ab 1991 Deutschland Krieg aus ihrer Heimat vertrieben wurden, Quelle: Aussiedlerstatistik, Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung 2004. mussten andere bleiben. Sie wurden teilweise

247 WOLFGANG WALLA

TABELLE 1 A: WANDERUNGEN UND WANDERUNGSEFFEKTE ZWISCHEN BADEN-WÜRTTEMBERG UND DEM AUSLAND SEIT 2003

Staatsangehörigkeit Zuzüge Fortzüge Saldo Volumen Wanderungseffekt 2003 2004 2005 Insgesamt 108.021 99.985 8.036 208.006 4 2 5 Ukraine 2.312 1.184 1.128 3.496 32 29 21 Russische Föderation 4.221 2.677 1.544 6.898 22 19 20 China 2.988 2.295 693 5.283 13 2 5 Indien 1.877 1.324 553 3.201 17 9 7 Türkei 9.634 7.090 2.544 16.724 15 6 5

Volumen: Summe aus Zu- und Fortzügen; Saldo: Differenz aus Zu- und Fortzügen; Effekt: Saldo in % vom Volumen, der Effekt sagt wie viel von 100 Wandernden im Land bleiben.

TABELLE 1 B: WANDERUNGEN UND WANDERUNGSEFFEKTE ZWISCHEN BADEN-WÜRTTEMBERG UND DEM AUSLAND SEIT 2003

Staatsangehörigkeit Zuzüge Fortzüge Saldo Volumen Wanderungseffekt 2003 2004 2005 Portugal 1.299 1.687 -388 2.986 -13 -20 -12 Griechenland 2.459 3.875 -1.416 6.334 -22 -30 -28 Italien 5.402 8.882 -3.480 14.284 -24 -31 -24

Volumen: Summe aus Zu- und Fortzügen; Saldo: Differenz aus Zu- und Fortzüge; Effekt: Saldo in % vom Volumen, der Effekt sagt wie viel von 100 Wandernden im Land bleiben.

AKTUELLES WANDERUNGSVERHALTEN Eines scheint dennoch sicher zu sein: die Tole- Personen ohne Migrationshintergrund werden ranz- und Integrationsfähigkeit insbesondere im Weiteren vereinfachend auch „Einheimi- Seit einigen Jahren stammen die meisten Zu- der frühen EU-Länder wird massiv auf die Pro- sche“ genannt, obwohl dieser Begriff – zugege- wanderer Baden-Württembergs aus den ost- be gestellt werden. benermaßen – noch diffuser als „Migrant“ ist. europäischen Staaten sowie der Türkei, China Die in Zukunft wohl gebräuchliche Definition und Indien. Zuwanderer aus der Ukraine und der Personen mit Migrationshintergrund muss aus Russland verbleiben per Saldo am ehesten MIGRATIONSHINTERGRUND – als operative „Statistikdefinition“ verstanden im Land. Bei letzteren handelt es sich häufig EINE NEUE DATENQUELLE werden. Sie hat den großen Vorteil, dass sie um nichtdeutsche Familienangehörigen von überschneidungsfrei ist, das heißt eine Person deutschstämmigen Aussiedlern aus der ehe- Politik, Wissenschaft und Statistik haben ein kann nur zu einer der genannten Gruppen maligen UdSSR. enormes semantisches Problem, das Phäno- zählen. Sie hat aber auch den Nachteil, dass sie Ganz anders verhält es sich mit Menschen aus men Migrant, Migrationshintergrund und Mi- nur wenige Hinweise auf die kulturellen und den ehemaligen Herkunftsgebieten des me- grationserfahrung definitorisch in den Griff zu ethnischen Hintergründe sowie die traditions- diterranen Südeuropas. Deren Wanderungs- bekommen. Wie schwammig und wie neu die- bestimmten Verhaltensweisen der so definier- effekte sind auffallend negativ, das heißt, es se Begriffe sind, zeigt sich auch in der Tatsache, ten Personengruppen gibt. Zieht zum Beispiel gehen mehr als kommen (siehe Tabelle 1 B). dass sie in Meyers 25-bändigem „Großem Ta- ein Kreuzlinger nach Konstanz oder ein elsäs- Deutschlands und auch Baden-Württembergs schenlexikon“ (Ausgabe 2001) noch nicht vor- sisch sprechender Wissembourger nach Karls- Attraktivität ist für viele EU-Bürger gesunken, kommen. Die amtliche Statistik definiert seit ruhe oder ein Vorarlberger nach Vorderöster- was letztlich ein Erfolg der Regionalpolitik dem Mikrozensus 2005 die Personengruppe reich, so sind dies Personen mit Migrations- der Europäischen Union darstellt. Deren Ziel mit Migrationshintergrund wie folgt: hintergrund, obwohl sie in Kulturkreisen auf- ist es, in allen Mitgliedstaaten Lebens- und Einkommensverhältnisse zu schaffen, die eine Armuts- oder Erwerbswanderung unnötig macht. Legte die EU jahrzehntelang den Fokus 1. Ausländer auf die wirtschaftsschwachen Regionen im Sü- den und Westen, so verschiebt er sich derzeit 1.1 Zugewanderte Ausländer auf den europäischen Osten und Südosten so- – Ausländer der 1. Generation wie aktuell – aber noch nicht effektiv – auf den 1.2 In Deutschland geborene Ausländer Maghreb und auf das schwarze Westafrika. – Ausländer der 2. und 3. Generation In den letzten Jahren wächst der Wanderungs- 2. Deutsche mit Migrationshintergrund druck auf die südlichen EU-Länder Spanien und 2.1 Zugewanderte Deutsche mit Migrationshintergrund Italien. Aus Nordafrika, Südamerika und Teilen – Zugewanderte Deutsche ohne Einbürgerung (Spätaussiedler) des Orients versuchen Tausende Menschen in – Eingebürgerte mit eigener Migrationserfahrung der EU ein Auskommen zu finden. Da nach dem Schengener Abkommen die übrigen EU-Länder 2.2 nicht zugewanderte Deutsche mit Migrationshintergrund nicht verpflichtet sind, Migranten aus einem – eingebürgerte nicht zugewanderte Ausländer sicheren Herkunftsland (das kann auch eine – Kinder zugewanderter Spätaussiedler Zwischenstation sein) aufzunehmen, wurden – Kinder zugewanderter oder in Deutschland geborener eingebürgerter ausländi- und werden viele der dortigen Zuwanderer scher Eltern nachträglich „legitimiert“. Viele sind damit EU- – Kinder ausländischer Eltern, die bei Geburt zusätzlich die deutsche Staatsangehö- Bürger geworden, für die es derzeit kaum Wan- rigkeit erhalten haben (Jus soli) derungsbeschränkungen gibt. Wie sich der – Kinder mit einseitigem Migrationshintergrund, bei denen nur ein Elternteil Migrant südliche Wanderungsdruck auf die übrigen EU- oder in Deutschland geborener Eingebürgerter oder Ausländer ist.2 Länder auswirken wird, ist derzeit noch offen.

248 Migranten in Baden-Württemberg

TABELLE 2: BEVÖLKERUNG MIT ODER OHNE MIGRATIONSHINTERGRUND IN DEUTSCHLAND UND BADEN-WÜRTTEMBERG 2005

Von je 100 der gesamten Bevölkerung waren …. Deutschland Baden-Württemberg Deutsche ohne Migrationshintergrund 81 75 Personen mit Migrationshintergrund 19 25 davon Deutsche 10 13 Ausländer 912 Von je 100 der Bevölkerung mit Migrationshintergrund waren … Deutschland Baden-Württemberg Personen ohne eigene Migrationserfahrung 32 33 davon Deutsche bei denen mindestens ein Elternteil Spätaussiedler, Eingebürgerter oder Ausländer ist 18 17 Eingebürgerte 33 Ausländer 11 13 Personen mit eigener Migrationserfahrung 68 67 davon Deutsche Zuwanderer ohne Einbürgerte (Spätaussiedler) 12 11 Eingebürgerte 20 21 Ausländer 36 35

Abweichungen in den Summen durch Rundungsdifferenzen Quelle: Mikrozensus 2005 gewachsen sind, die den hiesigen ähnlich einen, weil sie als EU-Bürger die gleichen Rech- fielen nämlich zwei andere, die Geburtenzah- sind. Keinen Migrationshintergrund haben te haben wie Deutsche und die Türken, weil sie len beeinflussenden Verhaltensweisen zusam- dagegen solche Personen, die von den friesi- durch den Verlust der türkischen Staatsange- men: (1.) Viele Frauen, die in den letzten schen Inseln oder aus der Lausitz oder gar als hörigkeit, so sie die deutsche Staatsangehörig- Kriegsjahren und in der Nachkriegszeit auf im Ausland geborene und dort aufgewachse- keit erwerben wollen, eher Nachteile in ihrem Kinder verzichteten, holten dies Ende der ne Kinder von Deutschen nach Baden-Würt- Ursprungsland erwarten müssen. 1950er- und Anfang der 1960er-Jahre nach. temberg kommen.3 Ähnliches lässt sich auch aus der regionalen (2.) Gleichzeitig wurde in der Bundesrepublik Nach obiger Definition gliedert sich die Bevöl- Verteilung der Migranten in Baden-Württem- noch nie so früh geheiratet wie in jenen Jah- kerung Deutschlands und Baden-Württem- berg ablesen (Abbildung 6). Welche tieferen ren. Als die Antibabypille kam, wurde dieser die bergs wie in Tabelle 2 dargestellt. strukturellen Ursachen diesen Phänomenen alleinige Schuld am folgenden Geburtenrück- Die nun gefundene Definition für ein Fünftel und regionalen Verteilungsmustern zugrunde gang gegeben. Wenn letzteres zuträfe, hätten der Bundesbürger birgt die Gefahr der Pau- liegen, bleibt der weiteren Analyse der Mikro- sich die Ausländerinnen wohl ähnlich verhal- schalisierung in sich, denn Migranten als ho- zensusergebnisse vorbehalten. ten. Dem war nicht so, wie die Abbildung 7 mogene Gruppe gibt es nicht. Spanier haben si- vereinfachend darstellt. cher mehr mit Deutschen gemein als mit Ukrai- Ob und wie viele Kinder bei ihrer Geburt Deut- nern und letztere mehr mit Polen als mit Tür- GEBURTENVERHALTEN DER sche oder Ausländer werden, ist von gesetzge- ken. An etlichen Stellen dieses Beitrags wird NATIONALITÄTEN GLEICHT SICH AN berischen und administrativen Einflüssen be- dies noch deutlich werden. stimmt. Bis Ende 1974 galt: wenn beide Eltern- Als um 1960 die Babyboomer zur Welt kamen, teile ausländisch oder der Vater Ausländer oder hatte das wenig mit wachsender Geburten- die ledige Mutter Ausländerin waren, dann er- REGIONALE VERTEILUNG DER MIGRANTEN freudigkeit der deutschen Frauen zu tun. Es warb das Kind die Staatsangehörigkeit des Va-

In Deutschland hat nach obiger Definition je- der Fünfte und in Baden-Württemberg jeder ABBILDUNG 5 Vierte familiäre Wurzeln außerhalb des Landes. Wie tief dies bei jenen Personen ohne Migra- Von 100 Bundesbürgern waren in den Ländern und in Stuttgart im Jahr 2005 … tionserfahrung noch empfunden wird, muss offen bleiben. Abbildung 5 verdeutlicht die Ausländer Deutsche mit Migrationshintergrund

Nachwirkungen früheren Wanderungsgesche- (Stuttgart) 26 14 hens. Die ursprünglich und zum Teil auch heu- Hamburg 14 13 te noch eher gewerblich produzierenden alten Bremen 13 12 Bundesländer (und die Stadtstaaten) haben die Berlin 13 10 höchsten Ausländeranteile. Dies überrascht wenig, wurden in den 1960er- und 1970er- Jahren doch gerade Arbeitskräfte für den (Wie- Baden-Württemberg 12 13 derauf)Bau und für Fließbandarbeiten und das Norhrein-Westfalen 11 13 Gastgewerbe gesucht. Darüber hinaus deuten Hessen 11 12 die Daten auf unterschiedliche Integrationsin- Bayern 9 10 tensitäten hin. In den Stadtstaaten und in Saarland 8 10 Stuttgart ist der Anteil der Ausländer an der Rheinland-Pfalz 8 9 Gesamtbevölkerung höher als jener der Deut- Niedersachsen 7 9 schen mit Migrationshintergrund. Das mag an Schleswig-Holstein 5 8 unterschiedlichen Einbürgerungspraktiken lie- Sachsen 3 2 gen; wahrscheinlicher ist, dass die ursprüng- Brandenburg 3 2 lich aus den südlichen EU-Ländern und der Tür- Sachsen-Amhalt 2 2 kei stammenden Migranten und deren Nach- Thüringen 2 2 kommen keinen Vorteil darin sehen, die deut- Mecklenburg-Vorpommern 2 2 sche Staatsangehörigkeit zu erwerben. Die

249 WOLFGANG WALLA

ABBILDUNG 6 ters bzw. der ledigen Mutter. Von 1975 bis zum 30. Juni 1993 galt: Wenn die Mutter deutsch Von 100 Baden-Württembergern waren in den Regionen im Jahr 2005 … und mit einem Ausländer verheiratet war, er- warb deren Kind die deutsche Staatsangehö- Ausländer Deutsche mit Migrationshintergrund rigkeit. Vom 1. Juli 1993 bis Ende 1999 wurden alle Kinder, deren Eltern oder deren Vater oder Stuttgart 17 14 deren Mutter Deutsche waren, auch Deutsche. Nordschwarzwald 12 16 Seit dem 1.1.2000 erhalten auch jene Kinder Neckar Alb 12 14 von Ausländern die deutsche Staatangehörig- Hochrhein-Bodensee 13 12 keit, wenn mindestens ein Elternteil acht Jahre Mittlerer Oberrhein 12 12 rechtmäßig in Deutschland lebte. Abbildung 8 Heilbronn-Franken 8 15 verdeutlicht die Einflüsse der Gesetzgebung Rhein-Neckar 12 11 auf den numerischen Bestand der Ausländer- Schwarzwald-Baar-Heuberg 9 14 kinder. Ostwürttemberg 8 14 Besonders erklärungsbedürftig sind die Jahre um 1970. Im Jahr 1967, dem Jahr der ersten Donau-Iller 11 11 schweren Rezession in der Nachkriegszeit, Südlicher Oberrhein 8 13 mussten viele Ausländer und Ausländerinnen, Bodensee-Obersschwaben 7 11 die ihren Arbeitsplatz verloren hatten, in die Heimatländer zurückkehren. Das galt nicht für Schwangere. Da jede fünfte Ausländerin – ABBILDUNG 7 wahrscheinlich nicht schwanger – das Land verließ, stieg die Geburtenrate (bezogen auf die Deutsche und ausländische Lebendgeborene in Baden-Württemberg seit 1953 verbliebenen Ausländerinnen) nur rechnerisch Deutsche Kinder um ein Drittel. Mit einer gestiegenen Gebur- Ausländische Kinder tenfreudigkeit hatte das damals also nichts zu 150.000 tun, wie die weitere Entwicklung offenbart. In 125.000 den folgenden Jahren der Hochkonjunktur brachten viele „Gastarbeiter“ ihre oft jungen 100.000 Frauen nach Deutschland mit. Von 1967 bis 75.000 1972 stieg die Zahl der Ausländerinnen in Ba- 50.000 den-Württemberg um das Vierfache auf fast eine halbe Million, die Zahl der hier Geborenen 25.000 aber nur um das Dreifache. Die immer stärker 0 sinkende Geburtenfreudigkeit der Auslände- 1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 rinnen deutete sich schon damals an. 1974 wurden in Baden-Württemberg von 100 ausländischen Frauen 270 Kinder geboren. Das ABBILDUNG 8 waren fast doppelt so viele wie bei deutschen Frauen. 2003 brachten 100 ausländische Frau- en im Alter von 15 bis unter 45 Jahren nur noch Deutsche und ausländische Lebendgeborene in Baden-Württemberg seit 1953 172 Kinder zur Welt. Von Kindern, deren beide Deutsche Kinder je 1000 deutsche Frauen Elternteile Ausländer waren, erwarben im sel- Ausländische Kinder je 1000 ausländische Frauen ben Jahr nach neuem Recht 52 Prozent die deutsche Staatsbürgerschaft durch Geburt im 75 Inland. Die übrigen 48 Prozent blieben auslän- dische Staatsbürger, weil ihre Eltern die im 50 neuen Recht verankerten Voraussetzungen nicht erfüllten oder die Möglichkeiten nicht in

25 Anspruch nahmen. Frauen und Familien mit Migrationshinter-

0 grund zeigen Differenzen im generativen Ver- 1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 halten. So haben Türkinnen immer noch die höchste Geburtenhäufigkeit, aber selbst deren Geburtenrate ist im Laufe eines Jahrzehnts um rund ein Drittel gefallen. Die niedrigste Gebur- ABBILDUNG 9 tenhäufigkeit unter den größten Nationalitä- tengruppen haben die Griechinnen. Schon in Durchschnittliche Kinderzahl von 100 Frauen im Alter von 15 bis 49 Jahren den 1980er-Jahren brachten sie im Durch- in Baden-Württemberg 1990, 1995 und 1999 schnitt deutlich weniger Kinder zur Welt als nach ausgewählten Staatsangehörigkeiten der Frauen deutsche Frauen. Um 2000 lag die Geburtenra- te der Griechinnen mit etwa 110 Kindern je 100 300 Frauen um fast ein Viertel unter der der deut- 250 schen Frauen. Die Geburtenentwicklung bei der ausländischen Bevölkerung und besonders der 200 Geburtenrückgang bei den Türkinnen dürften 150 sich fortgesetzt haben. Bemerkenswert ist das 100 Geburtenverhalten der Frauen aus dem ehe- maligen Jugoslawien, das mit nachgeholten 50 Geburten einem typischen Nachkriegsverhal- 0 ten entspricht. 90 95 99 90 95 99 90 95 99 90 95 99 90 95 99 Das seit 2000 geltende neue Staatsangehörig- Griechisch Italienisch Jugoslawisch Türkisch Deutsch keitsrecht erschwert eine sichere Deutung der

250 Migranten in Baden-Württemberg

TABELLE 3: LEBENDGEBORENE IN BADEN-WÜRTTEMBERG SEIT 1970 NACH ALLGEMEIN BILDENDE ABSCHLÜSSE: STAATSANGEHÖRIGKEIT DER ELTERN, BEI IDENTISCHER STAATSANGEHÖRIGKEIT VON DIFFERENZEN BEI JUNGEN UND ALTEN MUTTER UND VATER In der öffentlichen Diskussion werden seit lan- Lebendgeborene in Baden-Württemberg seit 1970 nach Staatsangehörigkeit der gem die Bildungsdifferenzen zwischen Men- Eltern, bei identischer Staatsangehörigkeit von Mutter und Vater schen mit Migrationshintergrund und „Einhei- mischen“ beklagt. Der Mikrozensus 2005 be- Jahr Griechenland Italien Serbien und Montenegro Türkei stätigt für Baden-Württemberg solche Diffe- 1970 2.570 3.787 2.460 2.486 renzen, die allerdings recht komplex und 1980 993 3.598 2.964 7.191 unterschiedlich in Erscheinung treten. Bei den über 60-Jährigen sind auf den ersten 1990 810 2.379 1.141 8.027 Blick bei weiterführenden Bildungsabschlüs- 2000 739 1.625 1.830 5.744 sen keine gravierenden Besonderheiten auszu- 2005 536 1.025 1.546 3.760 machen. Jeweils ein Viertel der „Einheimi- schen“ und der Migranten haben die Realschu- Quellen: StaLa Ba-Wü, Bundesverwaltungsamt, Ausländerzentralregister (AZR). le oder das Gymnasium abgeschlossen oder ei- ne Fachhochschulreife erlangt. Berücksichtigt Geburtenentwicklung in der ausländischen eine Realschule besuchen. Auf den ersten Blick man aber die feiner gegliederte Alterstruktur und deutschen Bevölkerung. Die Tabelle gibt überrascht das; ruft man sich aber in Erin- beider Personengruppen lassen sich doch grö- daher das Geburtenverhalten der ausländi- nerung, dass ein erheblicher Teil der ursprüng- ßere Differenzen vermuten: Bei den Einheimi- schen Frauen nicht exakt wieder, dennoch lichen Migranten aus den armen, agrarisch schen ist der Anteil – vor allem weiblicher – lässt sich aus den Geburtenzahlen die unter- geprägten Regionen der Ursprungsländer Hochbetagter deutlich stärker ausgeprägt als schiedliche Entwicklung der Geburtenraten stammt, scheint diese Bildungszurückhaltung bei der Vergleichsgruppe. Folglich müsste der erahnen. weniger verwunderlich. Ob eine Volksgruppe Anteil der Einheimischen mit weiterführenden stark integriert ist, wie die Italiener, oder we- Bildungsabschlüssen deutlich niedriger liegen niger stark, wie ein Großteil der Türken, als bei den Migranten, da in den ersten Jahr- FÜR AUSLÄNDER DIE HAUPTSCHULE, scheint demnach kaum eine Rolle zu spielen. zehnten des vergangenen Jahrhunderts insbe- FÜR DEUTSCHE DAS GYMNASIUM? Auffallend sind die günstigen Quoten der Kro- sondere Frauen nur geringe Chancen hatten, aten und Slowenen. Auf die Frage des Verfas- einen höheren Bildungsabschluss zu erreichen. Die Zukunft einer Nation, einer Volkswirtschaft sers an einen slowenischen Bildungsstatistiker Ein weiterer – allerdings hier nicht belegbarer oder einer ethnischen Gruppe liegt in den Kin- woran das liegen könne, kam die spontane Grund – dürfte in der unterschiedlichen Wer- dern – das wird allgemein, da zwingend logisch Antwort: „Das haben wir Maria Theresia zu tigkeit und damit mangelnden Vergleichbarkeit – so anerkannt. Weil dem so ist, sind eine verdanken“. Diese fast lapidare Antwort doku- der Schulabschlüsse in Deutschland und in den hohe Bildungsbereitschaft und ein gut ausge- mentiert die Nachhaltigkeit von Bildungspoli- Ursprungsländern liegen; letzteres gilt insbe- bautes Bildungswesen die wichtigsten Voraus- tik, denn gebildete Eltern wünschen sich für sondere für den Realschul- und Fachhoch- setzungen für den erfolgreichen Fortbestand ihre Kinder mindestens das gleiche Bildungs- schulabschluss, die es in dieser Begrifflichkeit eines Gemeinwesens. Im Familienbericht 20044 niveau, das sie selbst erreicht haben. Unter nur in Deutschland gibt. Bei der älteren Grup- wird darauf näher eingegangen. Die dort dar- diesem Gesichtspunkt müsste eine bildungs- pe der Personen mit Migrationshintergrund gestellten Ergebnisse der baden-württember- politische Offensive für weniger bildungsbe- fällt der hohe Anteil jener auf, die überhaupt gischen Bildungsstatistik sind teilweise er- reite Gruppen zuerst bei den Eltern beginnen. keinen allgemein bildenden Abschluss haben. nüchternd. Diesen müsste die Notwendigkeit einer höher Ohne weiteren Analysen des Mikrozensus vor- Während unter den Deutschen 42 Prozent der qualifizierenden Ausbildung ihrer Söhne und greifen zu wollen, darf angenommen werden, Schüler ein Gymnasium und 32 Prozent eine ihrer Töchter (!) vermittelt werden. Dabei wäre dass es sich hierbei um Männer und vor allem Realschule besuchten, sind es bei Serben und vor allem auf die Beherrschung der deutschen um Frauen aus den eher agrarisch strukturier- Montenegrinern (Jugoslawen), Türken, Italie- Sprache der größte Wert zu legen, denn man- ten Gebieten Anatoliens und des mediterranen nern und Portugiesen gerade einmal ein Zehn- gelnde Sprachkompetenz ist die größte Hürde Raumes handelt. tel, die ein Gymnasium und zwei Zehntel, die für eine gute Bildungskarriere. Auffallend sind die Bildungsunterschiede bei den 20- bis 30-Jährigen Baden-Württember- gern mit Migrationshintergrund. Der übliche ABBILDUNG 10 Abschluss wird an einer Hauptschule erwor- ben, bei den „Einheimischen“ ist der gängige Abschluss das Abitur oder eine Fachhochschul- Von je 100 Vonausländischer je 100 ausländischer und deutscher und deutscher Schüler Schüler besuchten besuchten imim SchuljahrSchuljahr 2002/2003 reife. Das wäre wenig dramatisch, wenn es … folgende Schularten in Baden-Württemberg 2002/2003 heute noch jene Masse von Arbeitsplätzen mit folgende Schularten in Baden Württemberg geringen Qualifikationsansprüchen gäbe, die Hauptschulen Realschulen Gymnasien Sonstige einst von vielen der älteren Migranten besetzt wurden. Jugoslawen 75 16 9

Türken 70 20 9 BERUFSBILDUNG: AUF DEN KÜNFTIGEN Italiener 69 21 9 ARBEITSMARKT WENIG VORBEREITET

Portugiesen 70 20 10 Was sich bei den allgemein bildenden Schulab- schlüssen andeutet, setzt sich bei der berufli- Griechen 49 28 22 chen Ausbildung massiv fort. 36 Prozent der heute 30 bis 35-Jährigen mit Migrationshin- 42 27 Spanier 29 tergrund haben keinen beruflichen Abschluss, bei den „Einheimischen“ sind es „nur“ 8 Prozent. Kroaten 40 31 28 Die Ursachen sind vielschichtig: An erster Slowenen 39 31 29 Stelle sind mangelhafte Deutschkenntnisse zu nennen. Untersuchungen, z.B. in Mannheim, Deutsche 23 32 42 3 haben offengelegt, dass die Deutschkennt- nisse der dritten, hier geborenen Migranten-

251 WOLFGANG WALLA

ABBILDUNG 11 generation sogar schlechter sind als jene der zweiten Generation. Ghetto-Bildung, Satelli- tenfernsehen und fehlende Integration in den Von 1000 Baden-Württembergern mit bzw. ohne Migrationshintergrund hatten Arbeitsmarkt sind die wesentlichsten Ursa- 2005 … einen der folgenden allgemeinbildenden Schulabschlüsse chen für diese kritische Entwicklung. Da Ghet- ohne allgemeinbildenden Abschluss Volks-/ Hauptschulabschluss tos eine Tendenz zur Verdichtung und im un- günstigsten Falle zur Entwicklung von Paral- Realsschulabschluss Abitur oder Fachhochschulreife lelgesellschaften haben und heimatsprach- 1000 115 132 liche Fernsehprogramme fast konkurrenz- 294 94 los gegenüber fremdsprachlichen (deutschen) 437 148 750 sind, bleibt als einzige Stellschraube für die heute 20 bis 30-Jährigen nur die Integration in 259 den Arbeitsmarkt. Das setzt aber zunehmend 500 560 höhere Qualifikationen voraus, die nicht vor- handen sind und erst geschaffen werden müs- 347 718 sten. Dieser Circulus vitiosus scheint kaum 250 400 lösbar zu sein, weshalb bereits von einer „ver- lorenen Generation“ gesprochen wird. Die 204 214 47 Entwicklungen in französischen Vorstädten 0 zeigen mögliche Folgen. Die lapidare Feststel- Personen ohne Personen mit Personen ohne Personen mit lung „hier ist die Politik gefordert“, scheint zu Migrations- Migrations- Migrations- Migrations- kurz gegriffen, da die Politik kaum Arbeits- hintergrund hintergrund hintergrund hintergrund plätze schaffen kann. Die dann folgende ste- 20 bis unter 30 Jahre . 60 und mehr Jahre reotype Forderung nach unternehmerfreund- lichen Rahmenbedingungen greift ebenfalls zu kurz, wie die katastrophalen Entwicklungen südamerikanischer Volkswirtschaften belegen, ABBILDUNG 12 nachdem dort auf Druck neoliberaler Öko- nomen im „Washington Konsensus“ die ge- Von 1000 Baden-Württembergern mit bzw. ohne Migrationshintergrund wünschten Rahmenbedingungen geschaffen in Alter von 30 bis unter 35 Jahren hatten 2005 wurden. Es nimmt daher nicht Wunder, dass in … einen der folgenden beruflichen Schulabschlüsse manchen Teilen der Welt bereits von den „apo- kalyptischen Reitern des Neoliberalismus“ ge- ohne berufliche Abschluss Lehrausbildung sprochen wird. Die Forderung, die gestellt Meister-/ Technikerausbildung Fachhochschul-/ Hochschulabschluss werden müsste wäre, den Wert von Arbeit an 1000 sich zu erhöhen ohne damit in erster Linie Pro- 124 216 62 duktivität und Gewinnerwartung zu verbin- den. Mit 1-Euro-Jobs wurde dieser Weg be- 750 126 schritten.

454 500 AUCH BILDUNG SCHÜTZT MIGRANTEN NICHT VOR ARBEITSLOSIGKEIT 579

250 Der Anteil der sozialversicherungspflichtigen 360 Ausländer (am Arbeitsort) an der Wohnbevöl- kerung lag bis in die 1990er-Jahre über jener 79 0 der deutschen Bevölkerung. Würde man zu den Ausländern und den Deutschen die nicht ver- Personen ohne Migrationshintergrund Personen mit Migrationshintergrund sicherungspflichtig Erwerbstätigen (insbeson- dere Selbstständige und Beamte) hinzurech- nen, hätten sich die Anteilskurven bereits in ABBILDUNG 13 den 1980er-Jahren geschnitten. Wenn der Arbeitsmarkt dies erfordert, dann werden ausländische Arbeitnehmer früher und Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte schneller arbeitslos als deutsche. Da sich die je 100 Ausländer und Deutsche in Baden-Württemberg seit 1976 wirtschaftliche Entwicklung in den letzten Jah- ren durch stetige Zunahmen auszeichnete, Beschäftigte Deutsche je 100 Deutsche Beschäftigte Ausländer je 100 Ausländer muss angenommen werden, dass die Schwan- kungen bei der Zahl der Arbeitslosen kaum von 50 der Konjunktur abhängig sind. Durch ein rela- tiv hohes Lohniveau verursachte Arbeitsplatz- 40 verlagerungen in Billiglohnländer und zuneh- mende Qualifikationsansprüche an den ver- 30 bleibenden Arbeitsplätzen scheinen die eigent- lichen Ursachen zu sein. 20 Der Mikrozensus 2005 brachte ein fast tragisch einzuschätzendes Ergebnis zur Erwerbslosig- 10 keit von Menschen mit Migrationshintergrund. Dass solche ohne beruflichen Abschluss beson- - dere Schwierigkeiten haben, überrascht wenig. 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 Gründe können mangelnde Sprachkenntnis sein oder bereits die Tatsache, Migrant oder

252 Migranten in Baden-Württemberg

ABBILDUNG 14 ANMERKUNGEN 1 Zuckmayer, C. (1999): Des Teufels General. Drama in drei Akten. 30. Auflage, Frankfurt/M., S. 65. Entwicklung der Arbeitslosigkeit von Ausländern und Deutschen 2 Vgl. zu weiteren Detailinformationen: „Leben in im Vergleich zur Zahl der sozialbersicherungspflichtig Beschäftigten in Baden-Württemberg, seit 1980 Deutschland – Ergebnisse des Mikrozensus 2005“. Hrsg. vom Statistischen Bundesamt. Berlin 2006, S. 73. 3 Arbeitslose Ausländer Ähnliche semantische Probleme gab es und gibt es bei der Definition von Vertriebenen und Flüchtlingen. Dazu je 100 sozialversicherungspflichtig beschäftigte Ausländer ein individualisiertes Beispiel: Die Familie Graber aus 20 Breslau hat fünf Söhne, Leopold – den Vertriebenen, Karl Arbeitslose Deutsche – den Flüchtling, Adolf – den Ausländer, Wotan – den je 100 sozialversicherungspflichtig beschäftigte Deutsche Asylanten und schließlich den Nachzügler Konrad. Leo- pold wurde 1930 geboren, er machte bei den Großeltern 15 in Oppeln in deren Textilfachgeschäft eine kaufmänni- sche Lehre. Die Großeltern wollten nach dem Krieg in Op- peln bleiben, wurden aber 1946 enteignet und vertrieben. 10 Heute ist Leopold Finanzbeamter in Duisburg – er zählt zu den Vertriebenen. Karl wurde zwei Jahre später gebo- ren. Er floh mit den Eltern Anfang 1945 vor der Roten Ar- mee nach Hof in Bayern. Die Eltern beantragten einen 5 Vertriebenenausweis, den sie auch erhielten. Heute be- treibt Karl eine Gastwirtschaft in der Nähe von Koblenz. Er ist sowohl Flüchtling als auch Vertriebener. Adolf, 0 Jahrgang 1935, ging auf der Flucht verloren und wurde in einem Kinderheim in Wroclaw aufgezogen. Er machte 1980 1985 1990 1995 2000 2005 dort eine sportliche Karriere als Fußballer. Nach einem Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg und Bundesagentur für Arbeit „Freundschaftsspiel“ im Westen kehrte er nicht mehr nach Polen zurück. Er heißt heute Dolfi Grabowski, be- sitzt noch einen polnischen Pass und arbeitet als Mecha- niker in einer Automobilfabrik in Köln. Er ist der Auslän- der. Wotan kam 1939 zur Welt. Das Kriegsende verbrach- te er bei einer Tante in Glatz, die einen polnischen Offi- zier heiratete. Er durfte höhere Schulen besuchen, wurde TABELLE 4: VON JEWEILS 1000 ERWERBSPERSONEN MIT BZW. OHNE Maschinenbauingenieur und Mitglied von Solidarnosˇ´c. MIGRATIONSHINTERGRUND, DIE 2005 ERWERBSLOS WAREN, HATTEN … 1986 beantragte er in Berlin als Asylant anerkannt zu EINEN DER FOLGENDEN BERUFLICHEN SCHUL- ODER HOCHSCHULABSCHLÜSSE werden. Nachdem sich die Eltern in Koblenz niedergelas- sen hatten, kam 1949 Konrad zur Welt. Er ist heute als höherer Beamter beim Regierungspräsidium in Karlsruhe Migrationshintergrund Fachhochschul- oder Lehr- oder Ohne beruflichen unter anderem auch für die Winzer- und Heimatfeste Hochschulabschluss Anlernausbildung Abschluss Nordbadens zuständig. Obwohl „Originalwessi“ zählt er zu den Vertriebenen, will davon aber nicht wissen. So Personen ohne Migrationshintergrund 25 53 94 oder so ähnlich sah es in vielen Familien aus, die aus dem Personen mit Migrationshintergrund 97 115 158 Osten kamen. Auf die bundesrepublikanischen Verwal- tungen kamen durch derartige Lebensläufe erhebliche darunter Ausländer (123) 137 170 Rechtsunsicherheiten und auf die amtliche Statistik enor- me definitorische Probleme zu. Obwohl die Söhne diesel- ben Eltern haben und fast eine klassische Großfamilie darstellen, gelten für sie unterschiedliche Gesetze und zählen sie zu unterschiedlichen „statistischen Teilmas- sen“. Leopold, Karl und Konrad wurden als Flüchtlinge Nachfahre von Migranten zu sein. In dieser UND DIE ZUKUNFT? bzw. Vertriebene gezählt; Dolfi findet sich im Ausländer- minder qualifizierten Gruppe sind die Unter- zentralregister wieder und Wotan wird als Ausländer in schiede in der Erwerbslosenquote im Vergleich Eines scheint sicher: aus eigener Kraft wird kei- der Asylantenstatistik erfasst. 4 Sozialministerium Baden-Württemberg (2004): Fami- zu Personen ohne Migrationshintergrund zwar nes der europäischen Länder den Bevölke- lienbericht 2004. Teil 2. Migration und Migrantenfami- bemerkenswert, aber im Vergleich zu jenen mit rungsstand halten können. Die größten Verlus- lien in Baden-Württemberg. Bearbeitet von der Familien- höheren Abschlüssen am geringsten. Mit stei- te werden die neuen EU-Länder erdulden müs- wissenschaftlichen Forschungsstelle des Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg. gendem beruflichem Abschluss wächst die Dis- sen, die somit als Arbeitskräftereservoir für die krepanz der Erwerbslosenquoten zwischen sol- alten EU-Länder in Bälde ausfallen werden. Zu- chen mit und ohne Migrationshintergrund. Ei- dem stellt die Wanderung innerhalb der EU ein ne Person mit Migrationshintergrund und ei- Nullsummenspiel dar – der Gewinn des einen nem Fachhochschul- bzw. Hochschulabschluss Landes ist der Verlust des anderen. Um den trägt ein viermal höheres Risiko erwerbslos zu Bevölkerungsstand einigermaßen zu halten, sein als vergleichbare Personen ohne Migra- müssten Hunderte Millionen Migranten von tionshintergrund, Ausländer sogar ein fünfmal außerhalb der EU aufgenommen werden. Das höheres. Ob dies strukturelle Gründe hat, oder ist aussichtslos und von der Bevölkerung nicht ob manche Abschlüsse vom Arbeitsmarkt nicht gewünscht, ja sogar gefürchtet. Was bleibt, ist anerkannt werden, muss weiteren Untersu- die Zusammenführung der hier lebenden Mi- chungen des Mikrozensus vorbehalten bleiben. granten und Einheimischen. Das bedeutet nicht Assimilation als „Verschmelzung der ei- nen Gruppe in die andere“ sondern Integration als die „Bildung von übergeordneten neuen Ge- UNSER AUTOR samtheiten“. Wolfgang Walla, geboren 1943, studierte in Tübin- gen und Regens- burg Wirtschafts- und Sozialwissen- schaften. Er leitet im Statistischen Landesamt Ba- den-Württemberg die Abteilung „In- formationsdienste, Veröffentlichungswesen, sozial- und regio- nalwissenschaftliche Analysen“.

253 DAS THEMA MIGRATION IN DEUTSCHEN MASSENMEDIEN Medienberichterstattung – Abbau oder Verstärkung von Vorurteilen?

CHRISTOPH BUTTERWEGGE

aber zu ihrer Bestätigung und Verfestigung in Gefahren präsentiert. Die vorhandenen und In der aktuellen Debatte über Zuwande- den Köpfen von Zeitungslesern, Fernsehzu- zukünftigen sozialen Veränderungen werden rung spielen Massenmedien deshalb ei- schauerinnen und Radiohörern bei, während nicht als entscheid- und gestaltbar, sondern als ne entscheidende Rolle, weil sie das Be- sie nur selten Aufklärung betreiben und durch katastrophal und schicksalhaft dargestellt.“ wusstsein ihrer Rezipienten und damit Hintergrundberichte notwendige Kenntnisse Ohne den „Volkszorn“ gegen Asylsuchende den öffentlichen Diskurs prägen. Medien über das komplexe Wanderungsgeschehen in schürende Berichte wären rassistische Über- filtern Informationen, bereiten sie auf der Welt von heute (Stichwort „Globalisie- griffe wie im sächsischen Hoyerswerda (Sep- und beeinflussen durch die Art und Wei- rung“) vermitteln. tember 1991) und in Rostock-Lichtenhagen se der Darstellung in nicht unerhebli- (August 1992) kaum vor laufenden Fernsehka- chem Maße die öffentliche Wahrneh- meras mit Applaus bedacht worden. Im deut- mung. Im Laufe der letzten Jahre kamen NEGATIVBERICHTERSTATTUNG ANSTATT schen Mediendiskurs dominierten aber seit Studien zu dem Ergebnis, dass Medien SERIÖSEM JOURNALISMUS 1989/90 Kollektivsymbole wie „brechende häufig in einer skandalträchtigen und Dämme“ und das „volle Boot“, die (neo)rassis- diffamierenden Weise über Migrantin- Aus den Zeitungen und anderen Medien ist sel- tischen Positionen entsprechen (vgl. Gerhard nen und Migranten berichten und so ten Positives über Ausländerinnen und Auslän- 1992, S. 171). „Asylantenfluten“ ergossen sich wesentlich zu einem Negativimage bei- der zu erfahren. Mord und Totschlag, Diebstahl, über Deutschland, das als „Wohlstandsinsel“ tragen. Sensationslüsterne Schlagzeilen (Banden-)Raub und (Asyl-)Betrug sind Delikte, galt. Nicht nur durch ständige Benutzung der und Stereotype haben Nachrichten- über die im Zusammenhang mit ethnischen Flutmetaphorik, sondern auch mittels „Killwör- wert, nicht das alltägliche friedliche Zu- Minderheiten häufig berichtet wird. Ein angel- tern“ (Jürgen Link) wie „Scheinasylanten“ oder sammenleben von Zugewanderten und sächsisches Bonmot („Only bad news are good „Wirtschaftsflüchtlinge“ wurde die Stimmung Deutschen. Zeitungs-, Rundfunk- und news“) abwandelnd, kann man konstatieren: angeheizt. Fernsehkonsumenten übernehmen die- Nur böse Ausländer sind für deutsche Medien Obwohl die Asylbewerberzahlen nach der se transportierten Zerrbilder zumeist un- gute Ausländer! Georg Ruhrmann (1999, S. Grundgesetzänderung im Mai 1993 stark zu- hinterfragt. Dies prägt letztlich auch die 102) spricht denn auch von einem „Negativ- rückgingen, setzten Journalistinnen und Jour- Haltung im Hinblick auf Modelle des syndrom“, das die Mainstream-Berichterstat- nalisten ihre Negativberichterstattung über Zusammenlebens zwischen Menschen tung kennzeichne: „Folgen weltweiter Migra- ausländische Flüchtlinge fort. Im so genannten unterschiedlicher Herkunft und Kultu- tionsprozesse und das Entstehen multikultu- Bremer Kurdenskandal wurden zu Beginn des ren. Die von Christoph Butterwegge er- reller Tendenzen werden in einer Semantik der Jahres 2000 ca. 500 angeblich aus der Türkei örterten Beispiele, deren Inhaltsanalyse und die dabei zutage tretenden Sprach- bilder zeigen mehr denn je, dass eine se- riöse Berichterstattung anzumahnen ist, die sich dem journalistischen Ethos ver- pflichtet fühlt und elementare Persön- lichkeitsrechte achtet.

MASSENMEDIEN SIND GEISTIGE KATALYSATOREN

Massenmedien filtern für die Meinungsbildung wichtige Informationen und beeinflussen auf diese Weise das Bewusstsein der Menschen, für die sich die gesellschaftliche Realität zuneh- mend über die Medienrezeption erschließt. In der Migrationsberichterstattung wirken die Massenmedien mithin als geistige Katalysato- ren: Journalistinnen und Journalisten bringen Vorurteile gegenüber Ausländern, Klischees im Hinblick auf (bestimmte Gruppen von) Migran- ten und Stereotype, mit denen diese belegt werden, nicht unbedingt selbst hervor, tragen

MEDIEN KONZENTRIEREN SICH AUF DAS KOPFTUCH ALS SYMBOL FÜR ISLAMISMUS UND SEINE UNTERDRÜCKUNG DER FRAU. FERESTHA LUDIN, MUSLIMISCHE LEHRERIN UND BESCHWERDEFÜHRERIN IM KOPFTUCHSTREIT, WIRD VOR DER URTEILSVERKÜNDUNG IM BUNDES- VERFASSUNGSGERICHT ZUM OBJEKT JOURNALISTISCHER BEGIERDE. picture alliance / dpa

254 Medienberichterstattung – Abbau oder Verstärkung von Vorurteilen? stammende Asylbewerber von der Polizei und Begriff „Ausländerkriminalität“ auf die rassisti- entsprechende Einstellungsmuster zu stimu- der Lokalpresse bezichtigt, sich in betrügeri- sche Struktur sowohl des hiesigen Einwande- lieren. Schon eine nüchterne und scheinbar scher Absicht als staatenlose Libanesen aus- rungs- wie auch des dazu parallel verlaufenden „objektive“ Polizeistatistik zur Ausländerkrimi- gegeben sowie Aufenthaltsrechte und Sozial- Kriminalitätsdiskurses hin: „Dieser Terminus nalität enthält – sofern sie weder kommentiert leistungen erschlichen zu haben (vgl. hierzu: legt den Schluß nahe, dass Kriminalität, wenn noch richtig interpretiert wird – die heimliche Butterwegge/Hentges 2001, S. 88 ff.; Butter- sie von Ausländern begangen wird, ursächlich Botschaft, Menschen anderer Nationalität bzw. wegge/Hentges 2004, S. 84 ff.). Missbrauchs- mit ihrem Status als Ausländer zu tun habe.“ Herkunft seien aufgrund ihrer biologischen vorwürfe, die sich aus rassistischen Klischees Deutsche werden überwiegend als „Einzeltä- und/oder kulturellen Disposition für Straftaten speisen, geben diesen neue Nahrung, sodass ter“ dargestellt, wohingegen Migrantinnen anfälliger. man durchaus von einem Teufelskreis sprechen und Migranten eher im Kollektiv auftauchen, kann, den zu durchbrechen selbst linksliberalen auch wenn nicht immer explizit von „ausländi- Journalistinnen und Journalisten nicht leicht schen Banden“ die Rede ist (vgl. dazu: Jäger u.a. MIGRANTEN WERDEN ALS fällt. 1998). „SOZIALPARASITEN“ STIGMATISIERT Ein gutes Beispiel für dieses duale Darstel- lungsmuster lieferte die rheinische Boulevard- Wer staatliche Hilfe braucht, Fördermaßnah- „AUSLÄNDERKRIMINALITÄT“ SCHÜRT DIE zeitung Express am 21. Oktober 1999: Ihr Auf- men oder finanzielle Unterstützung in An- KRIMINALITÄTSFURCHT macher auf Seite 1 lautete: „Balkan-Bande spruch nehmen muss, wird von den meisten hops genommen. Danke, Polizei! – Hunderte Journalistinnen und Journalisten entweder ig- Seit der emotional aufgeladenen Asyldiskus- Einbrüche in und um Köln aufgeklärt“, während noriert oder gar als „Wohlfahrtsimmigrant“, sion zu Beginn der 1990er-Jahre wird die Kri- ein „Burgenkönig vor Gericht: Wie oft hat er be- „Asylschmarotzer“ bzw. „Sozialparasit“ denun- minalitätsfurcht einer Mehrheitsgesellschaft trogen?“ überschriebener Artikel vergleichs- ziert, was ausgezeichnet in das mediale Bild auf die ethnischen Minderheiten projiziert. weise klein war und erst auf Seite 28 stand, ob- von der „Krise des Sozialstaates“ (vgl. hierzu: Flüchtlinge wurden zu „Betrügern“, „Sozial- wohl es dabei um einen Schaden in Millionen- Butterwegge 2005, S. 97 ff.) passt. Am 17. Ok- schmarotzern“ und „Störenfrieden“ gestem- höhe ging. Über mehrere Jahre hinweg waren tober 2005 berichtete die Bild-Zeitung unter pelt, die durch ihr Hiersein oder ihr Verhalten junge Taschendiebe aus Südosteuropa ein Top- Berufung auf einen „Report“ des Hauses von den Wohlstand und das friedliche Zusammen- Thema der Boulevardpresse, die das Ausländer- Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang leben in der Bundesrepublik Deutschland ge- bild der Deutschen maßgeblich prägt. Am 9. Clement über Fälle des Leistungsmissbrauchs, fährden. Dabei gab es vor allem in der Boule- November 1999 machte der Kölner Express bei- der die betroffenen Langzeitarbeitslosen mit vardpresse reihenweise „Dramatisierungen, spielsweise mit der Schlagzeile „Passen Sie auf! „Parasiten“ in Verbindung bringt und sich ge- Skandalisierungen, Exotisierungen, Sensatio- Klau-Kinder in der Stadt“ auf, am 22. August gen Missbrauch, „Abzocke“ und Selbstbedie- nierungen, Verzerrungen und Falschmeldun- 2002 veröffentlichte er unter der Überschrift nung im Sozialstaat wendet, unter dem Auf- gen“, die Bernd Scheffer (1997, S. 33) als „Ma- „Die Klau-Kids von Köln. Sie haben Hunderte macher „Die üblen Tricks der Hartz-IV-Schma- nipulationen“ bezeichnet. von Menschen überfallen und beklaut. Und sie rotzer! ... und wir müssen zahlen“. In dem Arti- Für Margret Jäger, Gabriele Cleve, Ina Ruth und laufen frei herum“ nach Art eines Fahndungs- kel des größten deutschen Boulevardblatts Siegfried Jäger (1998, S. 13) weist schon der aufrufs die Bilder von 53 überwiegend dunkel- heißt es: „Bei Hartz IV wird gnadenlos abge- häutig aussehenden Jugendlichen. Rechtzeitig zockt.“ Unter den fünf „schlimmsten Fällen“, zur Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland die das Boulevardblatt aufführte, waren „eine griff die Bild-Zeitung das Thema erneut auf. Hartz-IV-Empfängerin aus Tunesien“, die Unter dem Titel „WM-Alarm: Klau-Kids wieder „schon längst wieder in ihrer Heimat“ lebte, so- da!“ berichtete sie am 25. April 2006 über Ban- wie „ein Libanese“, der als „bei seinen Landsleu- den kleiner Trickdiebe „aus Süd- und Lateina- ten bekannter Sänger“ nicht nur „gegen Hono- merika und Osteuropa“, die es auf Touristen in rar ständig bei Festen und Hochzeiten“ auftre- der Kölner City abgesehen hätten. te, sondern auch „ein BMW-Cabriolet“ fahre Problematisch ist schon die Nennung der und „sogar einen Manager“ habe. Damit er- nichtdeutschen Herkunft von Tatverdächtigen weckte man den Eindruck, als seien Migrantin- und Straftätern in Berichten über Verbrechen, nen und Migranten überrepräsentiert und als weil dadurch der Eindruck vermittelt bzw. be- handle es sich bei den „Abzockern“ nicht um stärkt wird, die Amoralität eines Gesetzesbre- zum Teil kuriose Ausnahmen, sondern nur um chers hänge mit dessen Abstammung oder eth- die Spitze eines Eisberges. Am 7. November nischer Herkunft zusammen (vgl. Topitsch 2005 ergänzte der Spiegel unter der Über- 1997, S. 136). Dies gilt auch, wenn Namen ab- schrift „Missbrauch bei Türken?“ und Berufung gekürzt werden, daraus jedoch die nichtdeut- auf die Bundesagentur für Arbeit, vermutlich sche Herkunft der (mutmaßlichen) Täter er- beziehe eine „große Zahl türkischer Arbeitslo- sichtlich ist. Besonders perfide erscheint da ein ser“, die nennenswertes Vermögen im Heimat- „Polizeischutz für bedrohten Hauptschüler. land hätten, ohne es anzugeben, rechtswidrig 15-Jähriger von Mitschüler beleidigt und ge- Arbeitslosengeld II. schlagen“ überschriebener Artikel im Lokalteil des Berliner Tagesspiegels (vom 9.5.2006), der Schlägereien im Umfeld einer Schöneberger HYSTERIE UND ISLAMOPHOBIE Schule behandelt und nicht nur die Tatsache NACH DEM 11. SEPTEMBER hervorhebt, dass „weit mehr als die Hälfte“ der Beteiligten einen Migrationshintergrund ha- Seit den Attentaten auf das Word Trade Center ben, sondern den Hauptbeschuldigten auch und das Pentagon verdunkelte sich nicht nur „Masel Al-Q.“ nennt, was zusammen mit dem das Islambild deutscher Medien (vgl. Ates˛ 2006), Hinweis, dass „alle Schülernamen geändert“ sondern feierte auch die Deutung der Welt- wurden, eigentlich nur bedeuten kann, dass der politik als „Kampf der Kulturen“ (Samuel Verfasser die sich aufdrängende Assoziation zu P. Huntington) bzw. „Krieg der Zivilisationen“ Al Qaida gewollt oder vielleicht sogar als witzig (Bassam Tibi) fröhliche Urständ. Der damalige empfunden hat. Zeit-Mitherausgeber und Chefredakteur Josef Freilich bedarf es gar keiner Schlagzeile wie Joffe schrieb für die am 13. September 2001 er- „Tod im Gemüseladen: Türke erschoss Libane- scheinende Ausgabe, welche für das Blatt un- sen“ (Weser-Kurier vom 22.5.1999, S. 1), um gewohnt reißerisch und mit roten Lettern rassistische Klischees zu reproduzieren oder „Krieg gegen die USA“ verkündete, einen Leit-

255 CHRISTOPH BUTTERWEGGE artikel unter dem Titel „Die Zielscheibe: unsere tember 2001 belegt: „Das Letzte, was wir jetzt Zivilisation. Terror total und global“. Dort hieß brauchen, ist ein Kampf der Kulturen. Das es: „In dieser Woche scheint der Harvard-Poli- Allerletzte sind Mit-Christen, die nun zum Feld- tologe Samuel Huntington mit seinem viel ge- zug gegen den Islam blasen und den welt- scholtenen Kampf der Kulturen (1995) auf weiten Schock nutzen, um auf den Flammen schrecklichste Weise Recht zu bekommen.“ des Infernos ihr heuchlerisches Süppchen zu Osama bin Laden und Al Qaida wurden zu Chif- kochen.“ fren, welche die Feindschaft gegenüber der Ob das größte deutsche Boulevardblatt diese westlichen Zivilisation symbolisieren. Terro- mahnenden und warnenden Worte eines seiner rismus, Fundamentalismus und Islamismus Redakteure in der Folgezeit wirklich beherzig- avancierten in vielen Medien zu einer gleicher- te, ist eine Frage, die hier nicht mit letzter Si- maßen allgegenwärtigen wie omnipotenten cherheit beantwortet werden kann. Matthias Gefahr, der man gemeinsam mit US-Präsident Junge (2005, S. 316) hat andere Tageszeitungen George W. Bush in kriegerischer Manier entge- (Die Welt, FAZ und Frankfurter Rundschau) im gentrat, wobei sich der Einwanderungs- und Hinblick auf Ursachenzuschreibungen für den der Kriminalitätsdiskurs wieder verschränkten. 11. September 2001 unmittelbar nach dem Teilweise gab es sogar einen Rückfall in Zerrbil- Ereignis analysiert und kritisiert eine Vernach- der, die während der Asyldiskussion in den frü- lässigung ökonomischer und politischer Zu- hen 1990er-Jahren dominiert hatten. Genannt sammenhänge: „Die Frage nach der Weltord- sei hier nur das stern-Titelbild vom 27. Septem- nung tritt seit dem 11. September in den aus- ber 2001, wo ein dunkelhäutiger Mann mit gewählten Zeitungen zuvörderst als Frage Vollbart und Sonnenbrille zu sehen ist, in deren nach der Regulation von Kulturdifferenzen Gläsern sich unter der Überschrift „Terror-Ge- auf.“ Noch lange nach den Attentaten domi- fahr in Deutschland. Geheimdienste warnen nierten in deutschen Massenmedien die Bilder vor Anschlägen radikaler Muslime“ die bren- der brennenden Zwillingstürme, militärische nenden Türme des World Trade Center spiegeln, Metaphern und eine martialische Sprache. sowie das Titelbild eines Spiegel special (2/ 2003) zum Thema „Allahs blutiges Land. Der Is- lam und der Nahe Osten“, wo von verschleier- WENN „UNS“ DIE TÜRKEN ten Musliminnen über einen bärtigen Fanatiker AUF DER TASCHE LIEGEN… mit bluttriefendem Krummdolch bis zum flam- menden Inferno über Juden alle Stereotype be- Genau ein Jahr und einen Tag nach den Terror- dient werden. anschlägen veröffentlichte Hans-Ulrich Weh- Nach den Terroranschlägen am 11. September ler in der Zeit (vom 12.9.2002) einen Gastbei- 2001 wurde der lange erhoffte und seinerzeit trag, dessen Titel „Das Türkenproblem. Der wahrscheinlich mögliche Paradigmenwechsel Westen braucht die Türkei – etwa als Frontstaat in der arbeitsmarktbezogenen Migrationspoli- gegen den Irak. Aber in die EU darf das musli- tik durch einen autoritären Sicherheitsdiskurs mische Land niemals“ die antiislamische Stoß- konterkariert (vgl. dazu: Reißlandt 2003, S. richtung der Diskussion darüber deutlich er- 132ff.). Der zumindest vorübergehend liberale kennen ließ. Auch rassistische Untertöne wa- Zeitgeist wandelte sich wieder, weil fortan ren nicht zu überhören, wenn der Bielefelder auch der „Schläfer“ das Zerrbild des muslimi- Historiker schrieb: „Nach geografischer Lage, schen Migranten bestimmte und sich die Zu- historischer Vergangenheit, Religion, Kultur, wanderungsdebatte dadurch fast ins Gegenteil Mentalität ist die Türkei kein Teil Europas. Wes- verkehrte: „Ihr Ausgangspunkt war die Hoff- halb sollte man 65 Millionen muslimischen nung auf willkommene Zuwanderer, die der Anatoliern die Freizügigkeit gewähren, sich auf deutschen Gesellschaft dabei helfen, einige ih- unabsehbare Zeit mit einem kostspieligen Ver- rer eklatantesten Schwächen auszugleichen. sorgungsfall belasten?“ Nun dreht sich alles darum, dem Zuwanderer, Giovanni di Lorenzo, neuer Chefredakteur der der den Terror ins Land trägt, den Weg zu ver- Zeit, setzte diese Art der Kommentierung fort, sperren.“ (Geis 2004) Migrantinnen und Mi- als er in der Ausgabe vom 30. September 2004 granten wurden noch stärker mit (Gewalt-) unter dem Titel „Drinnen vor der Tür. Auch nach Kriminalität, Emotionalität und Irrationalität, drei Generationen sind die Türken in Deutsch- Rückständigkeit und Unberechenbarkeit, wenn land nicht angekommen“ über deren anhalten- nicht gar religiösem Fundamentalismus und de Erfolglosigkeit klagte. „Es muss“, hieß es da, politisch-ideologischem Fanatismus in Verbin- „erlaubt sein, auf eine Form der Einwanderung … UND IHRE FRAUEN KOPFTÜCHER dung gebracht. „Wiederholte Verweise auf ‚kri- zu schauen, die der Volkswirtschaft heute we- TRAGEN (LASSEN) minelle Ausländer‘ oder ‚islamische Terroristen‘ nig bringt und den Steuerzahlern schwer nach- delegitimieren Migranten, behindern ihre Inte- vollziehbare Belastungen abverlangt.“ Von ei- Was der geplante EU-Beitritt der Türkei für die gration im Sinne der Akzeptanz in der deut- nem ausgeglichenen Verhältnis zwischen ein- Außenpolitik bedeutete, war das Kopftuch an schen Mehrheitsgesellschaft (‚Ingroup‘) und gezahlten Sozialversicherungsbeiträgen und Schulen für die Innenpolitik. Sabine Schiffer legen Maßnahmen gegen sie nahe.“ (Weber- ausgezahlten Leistungen könne nicht die Rede (2005, S. 26) moniert, dass sich die Medien auf Menges 2005, S. 136) sein, und „zu viele Türken“ frönten der auch un- den Schleier und das Kopftuch als Symbole für Demgegenüber vertritt Eberhard Seidel (2003, ter Deutschen grassierenden Unsitte, den Sozi- den Islamismus und seine Unterdrückung der S. 1354) die Auffassung, ein in Deutschland alstaat hemmungslos auszubeuten. Verstärkt Frau konzentrieren und diese Kleidungsstücke „bislang unbekanntes zivilgesellschaftliches werde diese Neigung durch den gerade unter benutzt hätten, um Fremdheit zu markieren: Klima“ habe die nach den Terroranschlägen in Mitgliedern der dritten Generation beobacht- „Seit dem 11. September ist eine Zunahme New York und Washington D.C. allgemein be- baren „Rückzug in eine türkische Parallelwelt“. an expliziten Schuldzuweisungen gegenüber fürchteten antiislamischen Ressentiments un- Detailliert wurde den Türken vorgerechnet, was Muslimen für verschiedenste Untaten auszu- ter Kontrolle gehalten und die Einbindung sie die Deutschen kosteten, und hieraus der machen.“ Tatsächlich kulminierten im so ge- selbst der Boulevardpresse in den neuen zivil- Schluss gezogen, dass diese Form der Einwan- nannten Kopftuch-Streit die weitgehend un- gesellschaftlichen Konsens bewirkt, was er mit derung weder länger finanzierbar noch Inte- geklärten Fragen nach der Haltung zum Islam einem Zitat aus der Bild-Zeitung vom 16. Sep- gration möglich sei. wie zur Religion allgemein und nach der Ein-

256 Medienberichterstattung – Abbau oder Verstärkung von Vorurteilen?

SERIÖSE BERICHTERSTATTUNG VERZICHTET AUF DAS SPIEL Hamburger Nachrichtenmagazins schwenkte MIT VORURTEILEN UND FÜHLT SICH DEM JOURNALISTI- eine Frau mit dunklem Teint und geschwollener SCHEN ETHOS SOWIE DER ACHTUNG DER MENSCHEN- Halsschlagader eine rote (türkische) Fahne. Da- RECHTE VERPFLICHTET. Picture alliance / dpa neben saßen Mädchen mit Kopftüchern auf endlos lang wirkenden Bankreihen einer Ko- ranschule. Unter der Fahne trieb eine dunkel- häutig-maskuline, mit Messern und Nuncha- kus bewaffnete Jugendgang ihr Unwesen. Zu dieser an Manipulation grenzenden Fotomon- ma nicht nur die lokalen Medien wochenlang. tage bemerkt Mark Terkessidis (2003, S. 244): So berichtete die Süddeutsche Zeitung am 26. „In einem Akt perfider journalistischer Zuspit- Februar 2005 unter dem Titel „In den Fängen ei- zung fasste der Spiegel das hegemoniale ner türkischen Familie. Muslimische Dorfmoral Angstphantasma über ‚Ausländer‘ zusammen: in der Berliner Moderne: Schon wieder haben Fanatismus, Fundamentalismus, Kriminalität, türkische Männer eine Frau mit dem Tod be- Gewalt.“ straft. Die Geschichte eines brutalen Zusam- Wenngleich manche Zeitungen und Zeitschrif- menpralls der Kulturen“ darüber. Nachdem das ten, die das Thema sofort danach aufgriffen, Landgericht Berlin am 13. April 2006 den jüng- sehr viel differenzierter als der Spiegel urteilten sten Sohn der Familie Sürücü zu 9 Jahren und (vgl. Sarigöz 1999), bestimmte dieser als Leit- 3 Monaten Jugendstrafe verurteilt, seine bei- medium das politische Klima der Bundesrepu- den gleichfalls angeklagten älteren Brüder je- blik. Man rückte von einem liberalen Konzept doch mangels Beweisen freigesprochen hatte, der Migrations-, Integrations- und Minderhei- flammte die Debatte erneut auf. So berichtete tenpolitik ab, dem das Dogma der Nachkriegs- ein „Migration: Verbrechen im Namen der Eh- zeit gegenüberstand, die Bundesrepublik sei re“ überschriebener Spiegel-Artikel (vom kein Einwanderungsland und dürfe es auch 24.4.2006), die Forderungen nach Ausweisun- nicht werden. Seriöse bürgerliche Presseorga- gen und schärferen Gesetzen würden lauter, ne polemisierten nunmehr häufiger gegen das wobei er die Stimmung durch solche Formulie- Konzept der „multikulturellen Gesellschaft“, rungen wie „die gesamte Sippe“, „archaisch mit dem man (Ausländer-)Kriminalität, Ban- strukturierte Kurden“, „selbstgewählte Isola- denkriege und Chaos in Verbindung brachte. tion“ oder „die gnadenlose Gewalt, die von jun- Dagegen setzte der damalige Berliner Innense- gen, meist muslimischen Migranten ausgeht“ nator Jörg Schönbohm (CDU) im Sommer 1998 und die Feststellung, „dass die Parallelwelt vor- die gut zwei Jahre später von seinem Partei- nehmlich türkischer Einwanderer immer un- freund und damaligen Chef der Unionsfraktion durchdringlicher wird“, weiter anheizte. im Bundestag aufgegriffene For- Schahrzad Farrokhzad (2006, S. 75) arbeitet derung, Zuwanderer müssten sich der „deut- vier Konstruktionsvarianten der islamischen schen Leitkultur“ fügen. Hierüber entbrannte in Frau in Medien und Öffentlichkeit heraus, die den Medien eine längere Kontroverse, bei der es nebeneinander existieren, aber unterschiedlich um die „nationale Identität“ ging. In diesem Zu- beurteilt werden: die exotische Orientalin, die sammenhang fungierten Vertreter demokrati- Kopftuchtürkin, die moderne Türkin und die scher Parteien wiederholt als Stichwortgeber Fundamentalistin. „Auffällig ist, dass die türki- rechtsextremer Publikationsorgane, die sich sche Frau im Mittelpunkt des medialen Interes- gern auf Stellungnahmen und Positionen bür- ses steht – was im Alltagsdiskurs zur Folge hat, gerlicher Kreise berufen, um ihre Reputation zu dass viele der in Deutschland lebenden orien- erhöhen (vgl. Hentges 2002, S. 113 f.). talisch aussehenden und/oder kopftuchtra- In der Diskussion über das angebliche „Schei- genden Frauen aufgrund ihrer phänotypischen tern der multikulturellen Gesellschaft“ und die Merkmale für Türkinnen gehalten werden.“ Forderung nach einem Treueid für Zuwanderer, die nach der Ermordung des niederländischen Filmemachers Theo van Gogh am 2. November ZWISCHEN „DEUTSCHER LEITKULTUR“ 2004 wieder aufflammte, feierte die „deutsche“, UND MULTIKULTURELLER WIRKLICHKEIT häufiger auch die „christlich-abendländische“ oder „freiheitliche demokratische“ Leitkultur Medien liefern nicht nur (Zerr-)Bilder von Zu- fröhliche Urständ. Die liberale Zeit überschrieb wanderern und ethnischen Minderheiten, die den von Leon de Winter verfassten Leitartikel ei- stellung zur Migration wie zum weiblichen Ge- das Denken und Handeln der Einheimischen nes Dossiers, das am 18. November 2004 er- schlecht (vgl. Oestreich 2005). beeinflussen, sondern prägen auch deren Hal- schien, zum Thema „Vor den Trümmern des gro- Als der mit den Namen von Osama bin Laden tung im Hinblick auf die Modelle eines friedli- ßen Traums. Warum selbst in den Niederlanden, und Al Qaida verbundene Bombenterror mit chen Zusammenlebens zwischen Menschen dem Mutterland der Toleranz, die islamischen den Anschlägen auf Vorortzüge in Madrid am unterschiedlicher Nationalität, Herkunft, Kul- Vorstellungen von Respekt und Ehre mit west- 11. März 2004 sowie auf die U-Bahn und einen tur und Religion, indem sie Möglichkeiten und lichen Werten nicht harmonieren können“, wo- Bus in London am 7. Juli 2005 auch Europa traf, Grenzen der Integration ausloten und öffentli- mit aus Sicht der Blattmacher klar war, dass wurde das politische und mediale Klima rauer. che Debatten darüber führen. Besonders das in „Multikultur“ keine Zukunft mehr hatte. In der kampagnenartigen Berichterstattung der Bundesrepublik seit den 1980er-Jahren Im Feuilleton der FAZ (vom 23.11.2004) sprach über „Zwangsverheiratungen“ von Mädchen diskutierte Konzept einer „multikulturellen Ge- Lorenz Jäger vom „Bankrott des Multikultura- und Frauen, die oftmals zusammen mit eng be- sellschaft“ wurde auch von Journalistinnen lismus“ und mutmaßte, die Ermordung Theo freundeten Familien „arrangierte Ehen“ sind und Journalisten kommentiert, (fehl)interpre- van Goghs werde womöglich eines Tages mit und schon während der 1970er-Jahre skanda- tiert und wiederholt überzogen, aber nie über- dem Fall der Berliner Mauer verglichen, denn lisiert wurden (vgl. Beck-Gernsheim 2006, S. zeugend kritisiert. nunmehr sei „eine weitere Lebenslüge der 33f.), sowie über „Ehrenmorde“ blieben (kultur) In seiner Titelgeschichte „Deutsche und Aus- deutschen Linken geplatzt und der Katzenjam- rassistische Untertöne daher nicht aus. Als die länder: Gefährlich fremd“ vom 14. April 1997 mer entsprechend groß“, was zwei Wege eröff- Kurdin Hatun Sürücü am 7. Februar 2005 in erklärte der Spiegel die multikulturelle Gesell- ne: „Der eine ist der Übergang zur Wirklichkeit. Berlin erschossen wurde, beschäftigte das The- schaft für gescheitert. Auf dem Titelbild des Wird er nicht eingeschlagen, dann bleibt nur ei-

257 SENSATIONSLÜSTERNE SCHLAGZEILEN UND STEREOTYPEN HABEN NACHRICHTENWERT, NICHT DAS ALLTÄGLICHE FRIEDLICHE ZUSAMMENLEBEN VON ZUGEWANDERTEN UND DEUTSCHEN. IN DRAMATISIERENDER ABSICHT VER- WENDETE SPRACHBILDER ZEIGEN MEHR DENN JE, DASS EINE SERIÖSE BERICHTERSTATTUNG ANZUMAHNEN IST. picture alliance / dpa

nur eine Rechtsordnung brauche, sondern sich auch „über ihre Grundlagen, ihre Herkunft, ih- re Orientierungen“ verständigen müsse: „Wir machen bei uns die Erfahrung, dass sich neben der Rechtsordnung, deren Geltung kein Mensch bestreitet, Verhaltensmuster halten, die ihrerseits kulturell begründet sind. Wenn sich die Gesellschaft nicht regelmäßig ihrer Grundlagen vergewissert, läuft sie Gefahr, dass sich auch die Rechtsordnung auflöst.“ (Rheini- scher Merkur vom 24.11.2005) Indem Lammert die Religion (statt der Nation) zum zentralen ne weitere Drehung der multikulturellen Schmitt heraufziehen: „In all diesen Szenarien Ab- bzw. Ausgrenzungskriterium machte, löste Schraube: Dann wird der Staat seinen thera- taucht (...) ein altbekanntes Muster auf, das die er das Problem einer Dominanzkultur, die sich peutischen Charakter noch einmal steigern Bundesrepublik spätestens nach Beendigung über den Wertehorizont der Zuwanderer erha- und für die Unwilligen unter der Mehrheitsbe- des Kalten Krieges überwunden glaubte, näm- ben dünkt, nicht. Mit dem von ihm benutzten völkerung neue Erziehungs- und Toleranzpro- lich die Zurichtung der Gesellschaft nach den „Kulturkreis“-Begriff wird vielmehr Fremdheit gramme auflegen. Er wird dann ein jakobini- Prinzipien von Freund und Feind.“ konstruiert bzw. assoziiert und vor allem die scher Tugendstaat, und die Freiheit bleibt auf Nach der vorgezogenen Bundestagswahl am nichteuropäische Migration negativ etikettiert der Strecke.“ Dagegen relativierte Mark Sie- 18. September 2005 flammte die „Leitkultur“- bzw. abqualifiziert. mons an selbiger Stelle, gescheitert sei nur Debatte erneut auf. (CDU) er- die „Milchmädchenrechnung der Monokultur“, klärte unmittelbar nach seiner Wahl zum Nach- und wies auf Kanada hin, wo die meisten Ein- folger Wolfgang Thierses als neuer Parla- DEUTSCHPFLICHT UND SCHULKRAWALLE wanderer nicht nur in den Arbeitsmarkt inte- mentspräsident gegenüber der Zeit (vom griert, sondern auch von der dortigen Gesell- 20.10.2005), dieser Begriff sei „reflexartig“ ab- Im Frühjahr 2006 machten zwei Berliner Schu- schaft „als Gewinn für ihr eigenes Wohler- gelehnt worden, verdiene es aber, wieder auf- len in den Massenmedien regelrecht Furore. Die gehen gewollt und gewünscht“ seien: „Wie gegriffen zu werden: „Dass es in jeder Gesell- von Lehrerinnen, Lehrern, Eltern sowie Schüle- selbstverständlich gehört zur kanadischen schaft Überzeugungen geben muss, die mög- rinnen und Schülern der Weddinger Hoover- Leitkultur die kulturelle Verschiedenheit.“ lichst breit verankert sind, ist eine Binsenweis- Realschule vereinbarte und in die Hausord- heit. Kein politisches System kann seine innere nung aufgenommene Deutschpflicht auf dem Legitimation ohne solche gemeinsam getrage- Schulhof und bei Klassenfahrten galt den meis- „PARALLELGESELLSCHAFT“ AVANCIERT nen Überzeugungen aufrechterhalten – schon ten darüber berichtenden Journalistinnen und ZUM MODEBEGRIFF gar nicht in schwierigen Zeiten wie heute, in Journalisten als Musterbeispiel gelungener In- denen nicht Wohlstandszuwächse verteilt, tegration und zivilgesellschaftlichen Engage- „Parallelgesellschaft“ avancierte nach dem sondern Ansprüche eingesammelt werden ments (vgl. Man spricht Deutsch. Eine Real- Mord an van Gogh zu einem Mode- und dem müssen.“ schule in Berlin bemüht sich um Integration. Konträrbegriff zur „multikulturellen Gesell- Lammert kritisierte ausdrücklich die Wortkom- Nun ist die Empörung groß, in: Die Zeit vom schaft“, der eine umfassende Drohkulisse auf- bination „deutsche Leitkultur“, verband Letzte- 26.1.2006). Dass die Mutter-, Familien- bzw. baut und düstere Entwicklungsperspektiven re mit einer „Revitalisierung des Glaubens“ im Herkunftssprachen von Migranten und deren ahnen lässt. Er gilt als Chiffre für kulturelle Sinne christlicher Religionsgemeinschaften Nachkommen, die hierzulande selten als ethni- Entfremdung, Integrationsverweigerung und und hob hervor, dass jede Gesellschaft nicht sche Minderheiten gelten, besser gefördert als Selbstabschottung. Erol Yildiz (2006) zeigt, wie „verboten“ werden sollten, ging angesichts der insbesondere von türkischen Migrantinnen gleichzeitig stattfindenden Diskussion über und Migranten bewohnte Stadtviertel im Rah- UNSER AUTOR Einbürgerungstests, wie sie Baden-Württem- men eines medialen Ghettodiskurses als „Pa- berg und Hessen befürworteten, völlig unter. rallelwelt“ bzw. „Gegengesellschaft“ konstru- Prof. Dr. Christoph Der 16-jährige Schülersprecher Asad Suleman, iert werden. Butterwegge, geb. dessen Eltern aus Pakistan stammen, gelangte Albrecht von Lucke (2005, S. 10) erkannte darin 1951, leitet seit mit seinem Bekenntnis zur deutschen Sprache einen „diskursiven Dammbruch“, dass die au- 1998 die Abteilung in alle großen Tageszeitungen der Republik und ßenpolitische Frontstellung gegenüber dem Is- für Politikwissen- wurde sogar in die ARD-Talkshow von Sabine lamismus und Terrorismus nunmehr voll auf schaft und ist Mit- Christiansen eingeladen (vgl. Deutschstunden, die Innenpolitik und deren Streitpunkte durch- glied der For- in: Die Zeit vom 2.2.2006). schlug: „Deutschland ist im Krieg gegen die schungsstelle für Noch mehr Aufmerksamkeit erregte die Ge- Feinde der Freiheit, und die Heimatfront steht interkulturelle walttätigkeit, welche das Kollegium der Rütli- in Berlin-Kreuzberg.“ Mit der Diskussion über Studien (FiSt) an Hauptschule in einem Schreiben an die Senats- „Parallelgesellschaften“, die in einem „Die der Universität zu behörde beklagte, das der Lokalpresse zuge- Schlacht um Europa“ überschriebenen Artikel Köln. Gemeinsam spielt wurde (vgl. Krawalle an der Hauptschule von Gilles Kepel in der Welt am Sonntag vom mit Gudrun Hentges hat er die beiden im VS Neukölln: Kollegium fordert die Auflösung der 21. November 2004 und im Titelblatt der am Tag – Verlag für Sozialwissenschaften erschie- „Rütli“; Hauptstadt knallhart. Notruf aus Neu- darauf erschienenen Ausgabe des Münche- nenen Bücher „Massenmedien, Migration kölln, in: Der Tagesspiegel vom 30.3.2006). ner Nachrichtenmagazins Focus „Unheimliche und Integration“ (2. Aufl. Wiesbaden 2006) Auch in überregionalen Medien wurde die Bru- Gäste. Die Gegenwelt der Muslime in Deutsch- und „Zuwanderung im Zeichen der Globali- talität vieler Schüler fast ausnahmslos mit ei- land“ gipfelte, sah von Lucke wieder die Gedan- sierung“ (3. Aufl. Wiesbaden 2006) heraus- nem hohen Anteil von Jugendlichen türkischer kenwelt und die militante Rhetorik eines Carl gegeben. bzw. arabischer Herkunft „erklärt“, der soziale

258 Medienberichterstattung – Abbau oder Verstärkung von Vorurteilen?

Hintergrund aber häufig vernachlässigt. Selbst Butterwegge, C./Hentges, G. (2001): „Ausländer und Asyl- Reißlandt, C. (2003): Ein neuer Anlauf nach dem Schei- missbrauch“ als Medienthema: Verantwortung und Versa- tern? – Die wechselhafte Geschichte des Zuwanderungs- wenn Journalist(inn)en dieses Problem wie in gen von Journalist(inn)en. In: Butterwegge, C./Lohmann, gesetzes In: Butterwegge, C./Hentges, G. (Hrsg.) (2003): dem Spiegel-Artikel „Die verlorene Welt“ (vom G. (Hrsg.) (2001): Jugend, Rechtsextremismus und Gewalt. Zuwanderung im Zeichen der Globalisierung. Migrations-, 3.4.2006) als Ursache erkannten und benann- Analysen und Argumente. 2. Aufl. Opladen, S. 83-99. Integrations- und Minderheitenpolitik. 2. Aufl. Opladen, Butterwegge, C./Cremer, J./Häusler, A./Hentges, G./Pfeif- S. 123-148. ten, verdunkelten sie es durch einseitige Zu- fer, T./Reißlandt, C./Salzborn, S. (2002): Themen der Rech- Ruhrmann, G. (1999): Medienberichterstattung über Aus- schreibungen („Streitigkeiten zwischen ethni- ten – Themen der Mitte. Zuwanderung, demografischer länder: Befunde – Perspektiven – Empfehlungen. In: But- schen Gruppen sind besonders typisch“). Re- Wandel und Nationalbewusstsein. Opladen terwegge, C./Hentges, G./Sarigöz, F. (Hrsg.) (1999): Me- Butterwegge, C./Hentges, G. (2004): Libanesische Kur- dien und multikulturelle Gesellschaft. Opladen, S. 95-108. porter, Kamerateams und Fotografen belager- d(inn)en im Kreuzfeuer der medialen Kritik. Über die Ver- Sarigöz, F. (1999): Die multikulturelle Gesellschaft im Spie- ten tagelang die in der Boulevardpresse als antwortung und das Versagen von Journalist(inn)en. In: gel der Medien. In: Butterwegge, C./Hentges, G./Sarigöz, NAVEND – Zentrum für Kurdische Studien (Hrsg.) (2004): F. (Hrsg.) (1999): Medien und multikulturelle Gesellschaft. „Terrorschule“ bezeichnete Einrichtung, hetz- Kurden und Medien. Ein Beitrag zur gleichberechtigten Ak- Opladen, S. 9-28. ten „hinter arabischen und türkischen Halb- zeptanz und Wahrnehmung von Kurden in den Medien. Scheffer, B. (1997): Eine Einführung: Medien und Frem- wüchsigen her“ und zahlten teilweise über 100 Bonn, S. 79-108. denfeindlichkeit. Alltägliche Paradoxien, Dilemmata, Ab- Butterwegge, C. (2005): Krise und Zukunft des Sozialstaa- surditäten und Zynismen. In: ders. (Hrsg.) (1997): Medien Euro für „gestellte Gangster-Gesten“, wie die tes. Wiesbaden und Fremdenfeindlichkeit. Alltägliche Paradoxien, Dilem- Zeit (vom 6.4.2006) in einem Dossier „Ist die Butterwegge, C. (2006): Migrationsberichterstattung, Me- mata, Absurditäten und Zynismen. Opladen, S. 17-71. Rütli noch zu retten?“ berichtete. dienpädagogik und politische Bildung. In: ders./Hentges, Schiffer, S. (2005): Der Islam in deutschen Medien. In: Aus G. (Hrsg.) (2006): Massenmedien, Migration und Integra- Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Das Münchner Nachrichtenmagazin Focus tion. 2. Aufl. Wiesbaden, S. 187-237. Parlament, 20/2005, S. 23-30. machte die Vorfälle an der Rütli-Hauptschule Butterwegge, C./Hentges, G. (Hrsg.) (2006): Zuwanderung Schneider, M. (2004): Schicksalsgemeinschaft. Wie die am 10. April 2006 zum Aufhänger seiner Titel- im Zeichen der Globalisierung. Migrations-, Integrations- deutschen Konservativen Weltoffenheit demonstrieren. In: und Minderheitenpolitik. 3. Aufl. Wiesbaden Frankfurter Rundschau vom 22.7.2004 geschichte „Die Multikulti-Lüge. Wie die Inte- Farrokhzad, S. (2006): Exotin, Unterdrückte und Funda- Seidel, E. (2003): Islam und Islamismuskritik in Deutsch- gration in Deutschland scheitert. Kommt jetzt mentalistin. Konstruktionen der „fremden Frau“ in deut- land. Zwischen Blauäugigkeit und Dämonisierung. In: die Wende in der Ausländerpolitik?“ Unter ei- schen Medien. In: Butterwegge, C./Hentges, G. (Hrsg.) Blätter für deutsche und internationale Politik, 11/2003, (2006): Massenmedien, Migration und Integration. 2. Aufl. S. 1352-1360. nem „Außer Kontrolle“ betitelten Foto, auf dem Wiesbaden, S. 55-86. Terkessidis, M. (2003): Wir selbst sind die Anderen. Globa- Rütli-Schüler mit Steinen auf Reporter und Ka- Geis, M. (2004): Vom Gastarbeiter zum Schläfer. In: Die Zeit lisierung, multikulturelle Gesellschaft und Neorassis- merateams werfen, hieß es: „Die Integration vom 15.4.2004 mus. In: Butterwegge, C./Hentges, G. (Hrsg.) (2003): Zu- Hentges, G. (2002): Das Plädoyer für eine „deutsche Leit- wanderung im Zeichen der Globalisierung. Migrations-, muslimischer Einwanderer ist gescheitert. Die kultur“ – Steilvorlage für die extreme Rechte?. In: Butter- Integrations- und Minderheitenpolitik. 2. Aufl. Opladen, Multikulti-Ideologie weicht einem nüchternen wegge, C., u. a. (2002): Themen der Rechten – Themen der S. 231-252. Mitte. Zuwanderung, demografischer Wandel und Natio- Topitsch, R. (1997): Soziobiologie, Fremdenfeindlichkeit Blick auf die Chancen und Gefahren einer un- nalbewusstsein. Opladen, S. 95-121. und Medien. In: Scheffer, B. (Hrsg.) (1997): Medien und umkehrbaren Migration“. Jäger, M./Cleve, G./Ruth, I./Jäger, S. (1998): Von deutschen Fremdenfeindlichkeit. Alltägliche Paradoxien, Dilemmata, Einzeltätern und ausländischen Banden. Medien und Absurditäten und Zynismen. Opladen, S. 123-142. Straftaten. Duisburg Weber-Menges, S. (2005): Die Wirkungen der Präsentation Junge, M. (2003): Die Bewältigung des 11. September in ethnischer Minderheiten in deutschen Medien. In: Geißler, LITERATUR ausgewählten Tageszeitungen. In: Allmendinger, J. (Hrsg.) R./Pöttker, H. (Hrsg.) (2005): Massenmedien und die (2003): Entstaatlichung und soziale Sicherheit. Verhand- Integration ethnischer Minderheiten in Deutschland. Pro- Ates˛, S˛. (2006): Das Islambild in den Medien nach dem 11. lungen des 31. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für blemaufriss – Forschungsstand – Bibliographie. Bielefeld, September 2001. In: Butterwegge, C./Hentges, G. (Hrsg.) Soziologie in Leipzig. Teil 1. Opladen, S. 311-321. S. 127-184. (2006): Massenmedien, Migration und Integration. 2. Aufl. Yildiz, E. (2006): Stigmatisierende Mediendiskurse in der Wiesbaden, S. 153-172. Lucke, A. von (2005): Diskursiver Dammbruch. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2005, S. 9-11. kosmopolitanen Einwanderungsgesellschaft. In: Butter- Beck-Gernsheim, E. (2006): Türkische Bräute und die Mi- Oestreich, H. (2005): Der Kopftuch-Streit. Das Abend- wegge, C./Hentges, G. (Hrsg.) (2006): Massenmedien, Mi- grationsdebatte in Deutschland. In: Aus Politik und Zeit- gration und Integration. 2. Aufl. Wiesbaden, S. 37-53. geschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, 1- land und ein Quadratmeter Islam. 2. Aufl. Frankfurt am 2/2006, S. 32-37. Main

259 MIGRATION ALS GLOBALE HERAUSFORDERUNG Weltweite Migration und die Rolle der Vereinten Nationen

KARL-HEINZ MEIER-BRAUN

der Zuwanderung in die klassischen Einwande- dischen Bevölkerung immer noch mehr Groß- Ob Kriege, Flucht, Suche nach Arbeit, Per- rungsländer wie die Vereinigten Staaten, Kana- haushalte gibt. spektivlosigkeit oder Armut – weltweite da und Australien in den 1990-Jahren ent- Noch sind die Zuwanderer in Deutschland im Migrationsbewegungen zählen zu den spricht. Die Zahl der Einwanderer, die notwen- Durchschnitt jünger als die Gesamtbevölke- großen Herausforderungen und epo- dig ist, um einen Rückgang der Bevölkerung rung, was eine positive Auswirkung auf die so- chentypischen Problemen unserer Zeit. aufzufangen, liegt erheblich über den bisheri- zialen Sicherungssysteme hat. Einwanderer Internationale Wanderungsbewegun- gen UN-Prognosen. Die einzige Ausnahme bil- sind ein „Balsam für Rentenkassen“, wie es das gen haben im Lauf der letzten Jahre so- den dabei die Vereinigten Staaten. Im Verhält- Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln aus- wohl innerhalb von Regionen als auch nis zu ihrer Bevölkerungsgröße bräuchten Ita- drückt. Europa sollte Zuwanderer deshalb auch zwischen den Kontinenten deutlich zu- lien und Deutschland die höchste Nettozuwan- als Bereicherung, geradezu als Glücksfall be- genommen. Mit dem 2005 veröffentlich- derung (Zuzüge minus Fortzüge), um den greifen. Die jungen Einwanderer und Einwan- ten „Bericht der Weltkommission für Bestand der Bevölkerung im arbeitsfähigen Al- derinnen, hier geboren und aufgewachsen, Internationale Migration“ und einem ter erhalten zu können (vgl. auch den Beitrag sind auf jeden Fall ein Gewinn in einer immer „Hochrangigen Dialog“ zu Beginn der 61. von Herbert Brücker in diesem Heft) älter werdenden Gesellschaft. Darauf weisen UN-Generalversammlung tragen die Ver- Migrationsforscher seit über 25 Jahren hin. Eu- einten Nationen dieser Aufgabe in be- ropa, insbesondere Deutschland, braucht Ein- sonderer Weise Rechnung. Bei der Vor- SCHRUMPFENDE EU-BEVÖLKERUNG – wanderer, weil es nur so seinen wirtschaftli- stellung der deutschen Fassung des Welt- TREFFSICHERE UN-PROGNOSEN chen und sozialen Standard halten kann. Mit migrationsberichtes wurde offenkun- anderen Worten: das Boot ist nicht voll, son- dig, dass bisherige Konzepte der Steue- Insgesamt ist anzumerken, dass die demogra- dern es wird immer leerer! rung und Begrenzung von Zuwanderung phischen Vorausberechungen keine „Kaffee- einerseits, des Flüchtlingsschutzes ande- satzlesereien“ sind. Es wird stets genau ange- rerseits und auch integrationspolitische geben, welche Ergebnisse unter welchen An- TIEFGREIFENDE FOLGEN Maßnahmen auf dem Prüfstand stehen. nahmen im Hinblick auf die Kinderzahl, Lebens- ALTERNDER BEVÖLKERUNG Doch nicht nur den Nationalstaaten erwartung und Wanderung zu erwarten sind. kommt beim Schutz der Migranten eine Die Prognosen sind auch deshalb ziemlich Nicht nur in der Landwirtschaft, im Hotel- und große Bedeutung zu. Die Internationale treffsicher, weil beispielsweise der größte Teil Gaststättengewerbe, in der Kranken- und Al- Völkergemeinschaft ist ebenfalls aufge- der Menschen, die etwa im Jahr 2030 leben tenpflege werden Mitarbeiter gesucht. Ein rufen, sich in Fragen weltweiter Migra- werden, schon geboren ist. So lag der Fehler der wachsender Bedarf besteht auch an Hoch- tion zu engagieren und Handlungsoptio- UN-Berechnungen für die Weltbevölkerung schulabsolventen. Trotz vier Millionen Arbeits- nen aufzuzeigen. aus den 1950er-Jahren für das Jahr 2000, also loser konnten beispielsweise im Herbst 2004 in fast für ein halbes Jahrhundert später, bei un- der Metall- und Elektroindustrie viele Stellen ter fünf Prozent. nicht besetzt werden. Gesamtmetall-Präsident Gerade in Deutschland ähnelt der Altersaufbau Martin Kannegiesser sagte, dass dieser Branche schon längst keiner Pyramide mehr, mit einem rund 150.000 Mitarbeiter fehlten. Seit Beginn festen Sockel von Jungen, einem soliden Mit- des Jahres sei die Zahl der nicht besetzten Ar- MIGRATION UND telbau von Erwerbstätigen und wenigen Alten beitsplätze um 40.000 (oder 35 Prozent) gestie- BEVÖLKERUNGSENTWICKLUNG an der Spitze. Vielmehr sieht er jetzt schon aus gen. Gesucht werden unter anderem Installa- wie ein „zersauster Tannenbaum“ und bald – so teure, Schlosser, Maler, Maurer, Mechaniker, Nach Berechnungen der Bevölkerungsabtei- sagen schon manche – wie eine Urne. Falls die Elektriker und Bürokaufleute. Wegen der sin- lung der Vereinten Nationen (UN Population Bevölkerung um ein Viertel schrumpft, hätte kenden Geburtenrate droht Deutschland ein Division) zur „Bestandserhaltungsmigration“ dies katastrophale Folgen für die Industrielän- Fachkräftemangel und der Rückgang seiner werden zwischen 1995 und 2050 die Bevölke- der, für die Renten-, Kranken- oder Pflegever- Bevölkerung von 82,5 Millionen auf rund 75 rung Japans sowie die nahezu aller Länder Eu- sicherung und für den Bestand von Kindergär- Millionen bis zum Jahr 2050 – also auf das Ni- ropas schrumpfen. Einige Länder, darunter Ita- ten und Schulen. Das Kernproblem ist die nie- veau von 1963. Experten sagen einen Einbruch lien, könnten zwischen einem Viertel und ei- drige Geburtenrate. Um den Bevölkerungsbe- auf dem Immobilien- und Kapitalmarkt voraus, nem Drittel ihrer Bevölkerung verlieren. Die Be- stand aufrechtzuerhalten, müsste jede Frau im denn die Bevölkerung schrumpft und altert zu- völkerung wird so stark altern, dass das Durchschnitt 2,1 Kinder zur Welt bringen. In gleich. Die Zahl der Selbstständigen, ein- durchschnittliche Alter eine noch nie da gewe- Wirklichkeit sind es EU-weit nur 1,3 Kinder, wo- schließlich der Freiberufler, wird aus demogra- sene Höhe erreicht. Die Zahl der Personen im bei Deutschland mittlerweile die niedrigste Ge- phischen Gründen in den kommenden Jahr- erwerbsfähigen Alter, die auf je eine Person im burtenrate in der Europäischen Union hat. zehnten um deutlich mehr als eine halbe Mil- Rentenalter entfällt, wird sich in vielen Fällen Aufhalten oder rückgängig machen lässt sich lion zurückgehen. Gefordert wird deshalb von etwa vier auf zwei halbieren. Das heißt: die Entwicklung zum „Altenheim“ durch Ein- unter anderem: Förderung von Ausländern! künftig müssten nicht mehr vier, sondern zwei wanderung ohnehin nicht mehr, höchstens ab- Beschäftigte einen Rentner versorgen. Nach mildern. Falls man mittel- bis langfristig wirk- anderen Studien kommt in Deutschland bei lich etwas verändern wollte, müsste man prak- MIGRATION WELTWEIT gleichbleibender Geburtenrate in 40 Jahren auf tisch nur noch Kinder einwandern lassen – ei- einen Rentner sogar nur noch ein aktiver Bei- ne groteske Vorstellung. Einwanderung ist Insgesamt gehören Bevölkerungsentwicklung tragszahler. Dann müssten die Rentenbeiträge schon deshalb kein Allheilmittel gegen eine und Migration zu den großen Herausforderun- auf mindestens 40 Prozent des Arbeitseinkom- schrumpfende Gesellschaft, weil Zuwanderer gen der Menschheit in diesem Jahrhundert. Zu- mens steigen (2004: 19,5 Prozent). auch älter werden und sich ihre Geburtenrate sätzlich zu dem Sonderberichterstatter für die Ein Rückgang der Bevölkerung wird nach den jener der Aufnahmegesellschaft angleicht. Ein- Menschenrechte von Migranten, Jorge A. Bus- UN-Untersuchungen ohne Bestandserhal- personenhaushalte sind bereits sowohl unter tamante (Mexiko), wurde deshalb eine „Welt- tungsmigration nicht aufzuhalten sein, wobei Ausländern als auch unter Deutschen mit ei- kommission für internationale Migration“ die Experten von einer Struktur der Zuwande- nem Anteil von 34 bzw. 37 Prozent der häufig- (Global Commission on International Migra- rung nach Alter und Geschlecht ausgehen, die ste Haushaltstyp, auch wenn es bei der auslän- tion, GCIM) mit Sitz in Genf eingesetzt, die im

260 Weltweite Migration und die Rolle der Vereinte Nationen

Oktober 2005 ihren Bericht mit Lösungsvor- Migration umfasst alle grenzüberschreitenden bei relativ hoher Arbeitslosigkeit im eigenen schlägen veröffentlicht hat. Mit Rita Süssmuth Wanderungsbewegungen, wie z. B. freiwillige Lande. Verbilligte Kommunikations- und Trans- wurde auch ein deutsches Mitglied berufen. Die Auswanderung von Hochqualifizierten oder portmöglichkeiten haben die Welt der Arbeits- frühere Präsidentin des Deutschen Bundesta- Familienzusammenführungen. Dazu gehört migration revolutioniert. Für einen Migranten ges leitete in Deutschland bereits die vom ehe- außerdem die zeitweilige Auswanderung für ei- ist es heute viel leichter geworden, sich inner- maligen Bundeskanzler Schröder eingesetzte ne begrenzte Beschäftigung, beispielsweise halb weniger Flugstunden weltweit auf Ar- „Zuwanderungskommission“ und war Vorsit- von Saisonarbeitskräften, sowie die „illegale beitssuche zu begeben und trotzdem Kontakt zende des mittlerweile wieder aufgelösten Migration“, auch „irreguläre Migration“ ge- mit der Heimat zu halten. Sachverständigenrates für Zuwanderung und nannt. Außerdem zählt unter den Begriff Mi- Weltweit sind zwar Millionen von Menschen als Integration der Bundesregierung. „Migration gration die erzwungene Flucht durch Kriege Arbeitskräfte im Ausland unterwegs. Irregulär kann nur noch im europäischen und internatio- oder Umweltkatastrophen. Durch den weit ge- Migrierte hinzugerechnet entspricht dies aller- nalen Maßstab gestaltet werden“, so Süssmuth fassten Migrationsbegriff ist das Aufstellen ei- dings nur drei Prozent der Weltbevölkerung. im Hinblick auf die „Neue Völkerwanderung“, ner internationalen Migrationsstatistik schwie- Umgekehrt ausgedrückt: fast 100 Prozent der wie die weltweite Migration schon genannt rig und sollte dringend unter UN-Standards Menschen bleiben zuhause und arbeiten nicht wird. verbessert werden. im Ausland. Es ist also die Ausnahme und nicht Rund 200 Millionen Menschen sind weltweit die Regel, dass sich jemand als Arbeitsmigrant unterwegs. Ihre Zahl stieg im Laufe des letzten auf den Weg macht. Viele Länder leben aber ge- Jahrzehnts jährlich um sechs Millionen und ARBEITSMIGRANTEN radezu von dem Geld, das die Gastarbeiter in nimmt damit schneller zu als das Wachstum der der Ferne verdienen. Ihre Rücküberweisungen Weltbevölkerung. Die meisten sind Arbeitsmi- Schon die ersten „Gastarbeiter“, die in den machen jährlich rund 150 Milliarden US-Dollar granten, etwa 17 Millionen sind Flüchtlinge, die 1950er-Jahren aus dem Mittelmeerraum nach (2004) aus, was einen Anstieg um 50 Prozent in vor Krieg, Verfolgung und massiven Menschen- Deutschland geholt wurden, waren Vorboten gerade einmal fünf Jahren darstellt. Die Rück- rechtsverletzungen fliehen mussten oder sich der modernen Globalisierung. Die Arbeitskräf- überweisungen, die Migranten in ihre Heimat in fluchtähnlichen Situationen befinden. Welt- tewanderung ist Teil und Folge der weltweiten senden, entsprechen dem Dreifachen der ge- weit sind fast die Hälfte (48,6 Prozent) aller Mi- Globalisierung. Ein „Weltmarkt der Migration“ samten öffentlichen Entwicklungshilfe und granten Frauen. Man spricht schon von einer ist längst entstanden, in dem sich sowohl die spielen eine wichtige Rolle bei der Bekämpfung „Feminisierung der Migration“, zumal immer reichen Industrienationen als auch die reichen der Armut in den Herkunftsländern, indem sie mehr Frauen als alleinverdienendes Familieno- Ölstaaten am Persischen Golf offensichtlich den Entwicklungsprozess unterstützen, wenn berhaupt ohne männliche Begleitung unter- dauerhaft auf die Beschäftigung von ausländi- die Regierungen dieser Länder ein für das Wirt- wegs sind. schen Arbeitskräften eingerichtet haben, selbst schaftswachstum förderliches Umfeld schaffen.

AFRIKANISCHE FLÜCHTLINGE AM STRAND VON PUERTO DEL ROSARIO (FUERTEVENTURA) NACH IHRER FESTNAHME. OB KRIEGE, SUCHE NACH ARBEIT, PERSPEKTIVLOSIGKEIT ODER ARMUT – WELTWEITE MIGRATIONSBEWEGUNGEN ZÄHLEN ZU DEN GLOBALEN HERAUSFORDERUNGEN UNSERER ZEIT. picture-alliance/dpa

261 KARL-HEINZ MEIER-BRAUN

Die Überweisungen der Arbeitsmigranten ge- Sri Lanka, dem Sudan oder Kolumbien. Welt- ÄRMSTE LÄNDER TRAGEN DIE HAUPTLAST hören zum Gewinn – „Brain Gain“ – der inter- weit gibt es schätzungsweise 20 bis 25 Millio- DER MIGRATION nationalen Arbeitskräftewanderung. Zur nega- nen dieser „Binnenvertriebenen“. Im Unter- tiven Seite der Arbeitsmigration zählt der Ver- schied zu Flüchtlingen nach der Genfer Flücht- Insgesamt wird die Diskussion über die „Neue lust an Humankapital – „Brain Drain“ –, wenn lingskonvention ist es bei ihnen sehr viel Völkerwanderung“ im Westen meist von Un- junge, gut ausgebildete Fachkräfte abwandern. schwieriger, Hilfe und Schutz zu gewährleisten. sachlichkeiten und vom Eindruck geprägt, als Rund 400.000 Wissenschaftler und Ingenieure Unberücksichtigt bleibt ihr Schicksal dennoch würden jetzt schon alle Flüchtlinge und Ar- aus Entwicklungsländern arbeiten in den In- nicht. So hat der UN-Generalsekretär bereits beitsmigranten der Welt in die reichen Indus- dustriestaaten in Forschung und Entwicklung. 1992 einen Beauftragten für Binnenvertriebe- trienationen strömen. Aber das Gegenteil ist Ghana und Jamaika registrieren mehr ausge- ne eingesetzt. Seit September 2004 hat dieses richtig: Höchstens ein bis zwei Prozent aller bildete Mediziner außerhalb als innerhalb ihres Amt der Schweizer Walter Kälin inne. Flüchtlinge kommt in Europa an. Die weltwei- Landes. Die Bilanz der Süd-Nord-Migration ten Migrations- und Asylprobleme spielen sich fällt deshalb insgesamt zwiespältig aus, auch vor allem auf der südlichen Halbkugel ab. Die wenn die wirtschaftlichen Auswirkungen der UMWELTFLÜCHTLINGE armen und ärmsten Länder tragen die Haupt- Migration auf die Aufnahme- und Herkunfts- last dieser Wanderungsbewegungen. Nur we- länder als überwiegend positiv zu bewerten Inzwischen sind weltweit neue Probleme hin- nige erreichen die reichen Wohlstandsinseln sind. zugekommen: so mussten bereits Millionen wie die Bundesrepublik Deutschland. Die wich- von Umweltflüchtlingen ihre Heimat verlas- tigsten Mitgrationsfaktoren zu Beginn des sen, weil ihre natürlichen Lebensgrundlagen 21. Jahrhunderts sind kriegerische Auseinan- FLÜCHTLINGE NACH DER GENFER zerstört wurden (z.B. Wüstenbildung, Über- dersetzungen, Menschenrechtsverletzungen, FLÜCHTLINGSKONVENTION schwemmungen). Gerade diese Zahlen wirtschaftliche Probleme, Hunger, Umweltka- schwanken aber sehr stark, sind also mit Frage- tastrophen und der Anstieg der Weltbevölke- Der „Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten zeichen zu versehen, zumal sie meist auf Schät- rung. Nationen“ (UNHCR) unterstützt und setzt sich zungen beruhen. Nach dem UN-Weltbevölke- Die Ungleichheit zwischen Arm und Reich auf für den Schutz von weltweit rund 17 Millionen rungsbericht 2001 befanden sich aber bereits der Welt klafft immer weiter auseinander. Ge- Menschen ein, die vor Krieg, Verfolgung und rund 25 Millionen Menschen auf der Flucht vor lingt es einem „Gastarbeiter“ aus Bangladesch massiven Menschenrechtsverletzungen geflo- Umweltzerstörungen. Damit überstieg die Zahl eine Woche lang in Japan zum Durchschnitts- hen sind oder sich in „flüchtlingsähnlichen Si- der Umweltflüchtlinge zum ersten Mal in der lohn bzw. zwei Wochen zur Hälfte des Durch- tuationen“ befinden. Darüber hinaus sind Geschichte der Menschheit die der Kriegs- schnittslohns zu arbeiten, so hat er so viel ver- schätzungsweise zwischen 20 bis 25 Millionen flüchtlinge. Gar nicht abzusehen ist, welche dient, wie in seinem Heimatland in zwei Jah- Menschen innerhalb ihrer Heimatländer wegen Flüchtlingsströme Veränderungen des Weltkli- ren. Eine Krankenschwester bekommt auf den innerstaatlicher Konflikte vertrieben worden. mas, beispielsweise die Überflutungen von Philippinen 146 Dollar im Monat. In den Golf- Diese Gruppe fällt nicht unter den Schutz der Küstengebieten, auslösen könnten. Falls sich staaten sind es 500 Dollar und in den Vereinig- Genfer Flüchtlingskonvention, weil sie keine aufgrund des Treibhauseffektes der Meeres- ten Staaten sogar 3.000 Dollar. Als Folge die- Grenze überschritten hat, auch wenn das spiegel in Bangladesch um einen Meter erhö- ser Gehaltsunterschiede aber auch der bes- UNHCR immer öfter gebeten wird, solchen hen sollte, rechnen Fachleute mit 20 bis 25 Mil- seren beruflichen Aufstiegschancen und Ar- Menschen zu helfen. Das Amt des Hohen lionen Menschen, die ihre Heimat verlassen beitsbedingungen sind aus den Philippinen in Flüchtlingskommissars wurde durch die Reso- müssten. den letzten Jahrzehnten mehr als 3.000 qua- lution 428 der UN-Vollversammlung gegrün- det und nahm am 1. Januar 1951 als Unteror- gan der UN-Vollversammlung seine Arbeit auf. Das UNHCR sollte den Millionen von Flüchtlin- gen und Vertriebenen in Europa helfen, die während oder nach dem Zweiten Weltkrieg ih- re Heimat verlassen mussten. Die Grundlage für die Arbeit der Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen ist nach wie vor die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und das Pro- tokoll von 1967. Diese „Magna Charta“ des In- ternationalen Schutzes für Flüchtlinge hat un- zähligen Menschen das Leben gerettet. Das in- ternationale Recht definiert einen Flüchtling als eine Person, die sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb eines Landes befin- det, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, oder die wegen eines Krieges oder innerstaat- lichen Konflikts geflohen ist.

BINNENVERTRIEBENE

Allerdings umfasst die weltweite Zahl der Mi- granten auch zahlreiche Menschen, die zum Verlassen ihrer Heimat gezwungen wurden, ohne dabei internationale Grenzen zu über- queren, etwa auf dem Balkan, in Afghanistan,

DIE REICHEN WOHLSTANDSINSELN SCHOTTEN SICH AB. ANGEHÖRIGE VON FLÜCHTLINGEN GEDENKEN DERER, DIE BEIM VERSUCH, DEN GRENZZAUN ZWISCHEN DEN VEREINIGTEN STAATEN UND MEXIKO ZU ÜBERWINDEN, UMS LEBEN KAMEN. picture-alliance/dpa

262 Weltweite Migration und die Rolle der Vereinte Nationen lifizierte Krankenschwestern pro Jahr ausge- sehen werden, die Schutz vor Menschen- vor Ort sind dringend notwendig. Den 2000 von wandert. schmugglern benötigen. Die illegale Auslän- den Vereinten Nationen formulierten acht Weltweit gehen zwar Arbeitsplätze für Arbeits- derbeschäftigung wirft ein bezeichnendes „Millenniums-Entwicklungszielen“ (Armutsbe- migranten beispielsweise durch Rationalisie- Licht auf die doppelbödige Diskussion und Po- kämpfung, allgemeine Grundschulbildung, Ge- rungsmaßnahmen verloren. Aber viele Arbeits- litik in den Industrieländern. So wird angenom- schlechtergleichstellung, Verringerung von bereiche, insbesondere im Dienstleistungsbe- men, dass Frankreich ein Drittel seiner Auto- Kindersterblichkeit, Verbesserung der Gesund- reich, kann man nicht einfach ersetzen. Darü- bahnen mit illegalen Einwanderern gebaut hat heit von Müttern, Infektionskrankheiten be- ber hinaus – so die Beobachtungen der Inter- und seine Autoproduktion ebenfalls zu einem kämpfen, Umweltschutz, Entwicklungspart- nationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Genf – Drittel mit illegal Beschäftigten bestreitet. Ita- nerschaften) kommt in diesem Zusammen- nimmt die Arbeit, die einheimische Arbeitskräf- lien erwirtschaftet sein Bruttosozialprodukt hang ebenfalls eine wichtige Aufgabe zu. Zwar te nicht mehr übernehmen wollen, offensicht- schätzungsweise zu 20 bis 30 Prozent mit ille- kann Entwicklungshilfe sicher nur einen klei- lich noch zu. Taxifahren war in den Vereinigten gal Eingereisten. In den USA wiederum halten nen Beitrag dazu leisten, dass der Auswande- Staaten bis vor etwa zehn Jahren eine hoch an- sich nach Angaben des Berichts der Weltkom- rungsdruck nachlässt. Sie sollte aber endlich, gesehene Tätigkeit für Einheimische. Heutzuta- mission für Internationale Migration schät- wie bereits 1970 festgelegt, 0,7 Prozent des ge gibt es nur noch wenige einheimische Taxi- zungsweise zehn Millionen irreguläre Migran- Bruttosozialproduktes erreichen und damit ei- fahrer. In den letzten 25 Jahren hat sich der An- ten auf. ne alte Forderung der Vereinten Nationen um- teil der im Ausland geborenen Taxifahrer in setzen. Die Bundesrepublik – immer noch eines Washington D.C. von 25 auf 85 Prozent erhöht. der reichsten Länder der Welt – erreicht kaum In Deutschland zeichnet sich eine ähnliche Ent- MIGRATION ALS AUSDRUCK DES die Hälfte dieser Marke. Der Umfang der inter- wicklung ab. Nach Angaben des Deutschen Ta- ARMUTSGEFÄLLES nationalen Hilfe geht zurück, obwohl die xi- und Mietwagenverbandes liegt der Auslän- Flüchtlings- und Migrationsbewegungen in deranteil bei den Taxiunternehmen in Deutsch- Das Flüchtlings- und Migrationsproblem den vergangenen Jahren eine neue Dimension land bei rund 30 Prozent. Vor zehn Jahren macht grundsätzlich deutlich, dass wir nicht erreicht haben. machte er nur etwa zehn Prozent aus. nur in Deutschland jahrelang Scheindiskussio- nen über die Asylpolitik geführt haben. Die wirklichen Probleme und Fluchtursachen, wie DIE ROLLE DER VEREINTEN NATIONEN MENSCHENSCHMUGGEL der so genannte Nord-Süd-Gegensatz oder das „Weltumweltproblem“, werden geradezu aus- Zur Beseitigung von Fluchtursachen muss die Experten gehen davon aus, dass Menschen- geklammert. Die eigentlichen „Probleme hinter Rolle der Vereinten Nationen und ihrer Flücht- schmuggel mit illegalen Arbeitskräften bereits den Problemen“ werden nicht benannt, weil sie lingsorganisation gestärkt werden. Mehr Kom- einträglicher ist als der Handel mit Drogen. Be- zu einem grundsätzlichen Umdenken und bei- petenz und mehr Geld heißt die Forderung. Bis- reits jetzt verdienen internationale Gangster- spielsweise zu einer anderen Politik gegenüber lang wird das Budget des UNHCR ausschließ- syndikate geschätzte zehn Milliarden US-Dol- dem Süden führen müssten. Migrations- und lich durch freiwillige Beiträge der Geberstaaten lar im Jahr am Menschenhandel. Auch diesbe- Flüchtlingsströme sind nichts anderes als der finanziert, was immer wieder zu Problemen um züglich sind die Vereinten Nationen bereits tä- Ausdruck der wirtschaftlichen, demographi- ausstehende Gelder führt, mit denen interna- tig. So trat am 28. Januar 2004 das Protokoll schen und politischen Ungleichgewichte auf tionale Hilfsprogramme finanziert werden sol- gegen den Schmuggel von Migranten an Land, der Welt. So viel ist sicher: eine von Krisen ge- len. Ein Vergleich mit kriegerischen Interven- in der Luft und auf See in Kraft. Es ist ein Mei- schüttelte Welt, eine unstabile und ungerech- tionen macht das Problem deutlich. Im Herbst lenstein im Kampf gegen den Menschen- te Weltordnung wird weiterhin Migrations- 2004 zeichneten sich bereits Gesamtkosten des schmuggel, da erstmals die illegale Migration und Flüchtlingsbewegungen produzieren. Das Irakkrieges in Höhe von 225 Milliarden US-Dol- an sich nicht mehr als Verbrechen betrachtet rasche Bevölkerungswachstum in der Dritten lar ab. Geht man vom bestehenden Etat aus, wird, sondern illegale Migranten als Opfer ge- Welt wird weiterhin zu einem verstärkten Aus- entspricht dies in etwa der Summe, die dem wanderungsdruck führen. Bereits im Jahre Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen in 2043 wird die Zahl der Menschen voraussicht- den nächsten 200 Jahren zur Verfügung stehen lich neun Milliarden Menschen betragen – wird. Internationale Migration im Überblick neun Jahre früher als erwartet. Trotzdem ist Auf der Internationalen UN-Bevölkerungs- nicht damit zu rechnen, dass sich schon bald und Entwicklungskonferenz in Kairo wurde – 2005 gibt es fast 200 Millionen interna- ein Millionenheer von Armutsflüchtlingen auf 1994 bereits ein Aktionsprogramm beschlos- tionale Migranten, was jedem 35. Men- den Weg zu den Wohlstandsinseln machen sen, in dem die Herkunfts- und Aufnahmelän- schen oder drei Prozent der Weltbevöl- wird. der zur Zusammenarbeit aufgerufen werden. kerung entspricht; Die Rechte der Migranten sollen dadurch bes- – 48,6 Prozent der internationalen Mi- ser geschützt, die illegale Migration verringert, granten sind Frauen; DISKUSSION UM FLUCHTURSACHEN sowie Rassismus und Fremdenfeindlichkeit be- – zwischen 1980 und 2000 stieg die Zahl DRINGEND ERFORDERLICH kämpft werden. Fragen der Migration standen der in der entwickelten Welt lebenden im Mittelpunkt verschiedener internationaler Migranten von 48 Millionen auf 110 Beseitigung der Fluchtursachen, das ist in der Konferenzen, vor allem auf der Weltkonferenz Millionen an, verglichen mit einem An- Tat der wichtigste Ansatz bei der Diskussion um gegen Rassismus, Rassendiskriminierung und stieg von 52 Millionen auf 65 Millionen die „Neue Völkerwanderung“. In der Praxis ge- Fremdenfeindlichkeit 2001 in Durban (Südafri- in den Entwicklungsländern; schieht aber immer noch viel zu wenig, um die- ka). Auch das Amt des Hohen Kommissars für – im Jahr 2000 waren etwa 86 Millionen se Erkenntnis umzusetzen. Fluchtursachen be- Menschenrechte beschäftigt sich immer wie- der Migranten weltweit erwerbstätig – seitigen, Umweltflüchtlinge verhindern - was der mit Migrationsthemen. Zahlreiche weitere das sind über 50 Prozent aller Migran- heißt das? Wer ist Schuld an Umweltzerstörung UN-Aktivitäten, beispielsweise die der UNESCO ten; und Ökoflüchtlingen? Die west- und osteuro- (United Nations Educational, Scientific and – jährlich überqueren geschätzte 2,5 bis päischen Staaten sind auf jeden Fall für 80 Pro- Cultural Organisation) 2004 im „Internationa- vier Millionen irreguläre Migranten in- zent des Kohlendioxidausstoßes verantwort- len Jahr des Gedenkens an den Kampf gegen die ternationale Grenzen; lich. Die Bundesrepublik bläst mehr Kohlendio- Sklaverei und ihrer Abschaffung“, spielen in – zwischen 1990 und 2000 waren 89 Pro- xid in die Luft als Indien. Jede einzelne Person diesem Zusammenhang eine Rolle. Auch der zent des Bevölkerungswachstums in in den Industrieländern verbraucht im Durch- „UN-Bericht über die menschliche Entwicklung Europa auf Zuwanderung zurückzu- schnitt soviel Energie wie zehn Personen in der 2004“ setzt sich für die Rechte von Migranten führen. so genannten Dritten Welt. Gemeinsame An- und kulturelle Freiheit weltweit ein. Mit Ge- Quelle: Bericht der Weltkommission für Internatio- strengungen gerade der europäischen Staaten denktagen versuchen die Vereinten Nationen nale Migration in der Friedens-, Außen- und Entwicklungshil- das Thema in das Bewusstsein von Politik und fepolitik zur Beseitigung der Fluchtursachen Medien zu rücken, unter anderem mit dem 18.

263 KARL-HEINZ MEIER-BRAUN

gekennzeichnet war. In der Praxis muss sich al- Ausgewählte UN-Institutionen, die sich mit Migration beschäftigen lerdings noch erweisen, wie sich die neuen Be- stimmungen auswirken. Korrekturen an einem GCIM (Global Commission on International Migration): Die Weltkommission für Internatio- bestehenden Zuwanderungsgesetz sind sicher nale Migration wurde von Kofi Annan initiiert und am 9. Dezember 2003 in Genf von mehre- leichter vorzunehmen, nachdem kein Grund- ren Staaten ins Leben gerufen. (www.gcim.org) satzstreit mehr um die Frage „Sind wir Einwan- ILO (International Labour Organization): Die Internationale Arbeitsorganisation befasst sich derungsland oder nicht?“ geführt werden mit Migration insbesondere im Zusammenhang mit den Arbeitsbedingungen von Wanderar- muss. Verbesserungen bringt das Zuwande- beitnehmern. (www.ilo.org) rungsgesetz zum Beispiel im humanitären Be- reich. So wird nicht-staatliche und ge- OHCHR (Office of the High Commissioner for Human Rights): Das Amt des Hohen Kommis- schlechtsspezifische Verfolgung als Fluchtur- sars für Menschenrechte setzt sich für die universelle Umsetzung aller Menschenrechte ein sache anerkannt. und arbeitet in den Bereichen Flucht und Verfolgung, Arbeit und Menschenhandel. Nach den Anschlägen in Spanien am 11. März (www.ohchr.org) 2004 wurden im Vermittlungsverfahren um- UNESCO (United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization): Die Organisation fangreiche Vorschläge der Unionsparteien zu der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur verfolgt in ihrem Programm zu Sicherheitsaspekten aufgenommen. Das be- internationaler Migration die Absicht, die Achtung der Rechte von Migranten zu fördern, so- sorgniserregende demographische Problem, wie zu deren Eingliederung in die Einwanderungsgesellschaften beizutragen. vor dem nicht nur Deutschland steht, spielt im (www.unesco.org) Gesetz praktisch keine Rolle mehr. Auch hier hat sich offensichtlich die Opposition mit der UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees): Der Hohe Flüchtlingskommissar Ansicht durchgesetzt, dass sich demographi- der Vereinten Nationen setzt sich gegen Verfolgung und für Migration ein. Der Schwerpunkt sche Probleme nicht durch Zuwanderung lösen der Arbeit liegt im weltweiten Flüchtlingsschutz und den damit verbundenen Problemen. ließen. Die Bevölkerungsabteilung der Verein- (www.unhcr.org) ten Nationen oder auch die Süssmuth-Kom- UNODC (United Nations Office on Drugs and Crime): Innerhalb des UN-Büros für Drogen und mission hatten dagegen in ihren Berichten im- Verbrechensbekämpfung arbeitet das Centre for International Crime Prevention (CICP) mit mer wieder ausführlich auf das demographi- den Mitgliedstaaten u.a. an der Bekämpfung der wachsenden Bedrohungen durch transna- sche Defizit hingewiesen und den Zusammen- tionales organisiertes Verbrechen, Korruption und Menschenhandel. (www.unodc.org) hang zur Einwanderungspolitik betont. Ein Umdenken im Sinne einer aktiven Einwan- UNFPA (United Nations Fund for Population Activities): Der Bevölkerungsfonds der Vereinten derungspolitik wird jedoch vermutlich erst ein- Nationen nahm seine Arbeit 1969 auf und ist heute die größte internationale Organisation setzen, wenn das demographische Problem im zur Förderung von bevölkerungspolitischen Programmen und Maßnahmen reproduktiver Alltag sichtbar wird. Ein immer älter werdendes Gesundheit. (www.unfpa.org) und schrumpfendes Europa sollte aber schon heute eine vorausschauende Politik in Angriff UN Population Division: Die Bevölkerungsabteilung der Vereinten Nationen arbeitet der UN nehmen. Jedenfalls steht die Weltgemein- Commission on Population and Development – einer Kommission des ECOSOC – zu und ent- schaft im Umgang mit der internationalen Mi- wickelt regelmäßig demographische Projektionen zur Entwicklung der Weltbevölkerung. gration erst am Anfang und nicht am Ende der (www.un.org/esa/population/unpop.htm) Debatte, wie auch Wolfgang Schäuble betont. WHO (World Health Organisation): Die Weltgesundheitsorganisation beschäftigt sich mit Mi- „Wir alle sollten uns darüber im Klaren sein, gration v.a. im Zusammenhang mit der Wanderung von Fachkräften im Gesundheitswesen dass der hier vorgestellte Abschlussbericht der („Brain Drain“), gesundheitlichen Folgen von erzwungener Migration (z.B. Traumatisierung), Global Commission on International Migration sowie der Gesundheitsversorgung von Migranten im Zielland. (www.who.org) kein Schlussstein ist und das auch nicht sein darf, sondern eher ein Startschuss“, so der In- nenminister im März 2006 bei der Präsentation der von der DGVN (Deutsche Gesellschaft für Dezember, der zum „Tag der Migranten“ erklärt versammlung beschlossen, und am 18. Dezem- die Vereinten Nationen) herausgegebenen wurde. Hervorzuheben ist auch die Bildung ei- ber 1990 verabschiedet, trat sie am 1. Juli 2003 deutschen Berichtsfassung. ner „Geneva Migration Group“, die verschiede- in Kraft, nachdem mehr als zwanzig Staaten die ne UN-Organisationen wie die Internationale Konvention unterzeichnet und ratifiziert hat- LITERATUR Organisation für Migration (IOM) in Genf oder ten. Die wichtigsten Aufnahmeländer von Ar- Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen (Hrsg.): die UNCTAD, die UN Conference on Trade and beitsmigranten – darunter auch Deutschland – Bericht der Weltkommission für Internationale Migration: Development, an einen Tisch bringt, um Migra- haben bislang die Konvention jedoch nicht un- Migration in einer interdependenten Welt: Neue Hand- lungsprinzipien. Berlin 2006 tionsthemen zu besprechen. terzeichnet, weil sie dadurch offensichtlich ei- Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen (Hrsg.): nen verstärkten Zustrom von Migranten be- Informationsdienst Bevölkerung und Entwicklung (jähr- fürchten. Auch die Forderung nach einer UN- lich 2 bis 3 Ausgaben) Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen (Hrsg.): WICHTIGE UN-KONVENTIONEN Konferenz zum Thema Migration haben die In- Bericht über die menschliche Entwicklung 2004: Kultu- dustrienationen bisher abgeblockt, offenbar relle Freiheit in unserer Welt der Vielfalt. Berlin 2004 Zum gleichen Zeitpunkt stellte die damalige um nicht von den Entsendeländern auf die An- Deutsche Stiftung Weltbevölkerung (DSW) (Hrsg.): Welt- bevölkerungsbericht 2004. Kairo plus zehn: Bevölkerung, UN-Sonderberichterstatterin für Menschen- klagebank gesetzt zu werden. reproduktive Gesundheit und der weltweite Kampf gegen rechte von Migranten, Gabriele Rodríguez Pi- Armut. Stuttgart 2004 tarro, eine Verschlechterung der Menschen- Meier-Braun, Karl-Heinz: Deutschland, Einwanderungs- land. Frankfurt, 2. Auflage, 2003 rechtslage für Migranten fest. Vor allem Ein- DEUTSCHLAND ALS Meier-Braun, Karl-Heinz/Weber, Reinhold (Hrsg.): Kultu- wanderer ohne Aufenthaltserlaubnis seien EINWANDERUNGSLAND relle Vielfalt. Baden-Württemberg als Einwanderungs- immer mehr Ausbeutung und Rassismus aus- land. Stuttgart 2005 Sachverständigenrat für Zuwanderung und Integration: gesetzt. Bei der Diskussion um Einwande- Deutschland hat sich der Herausforderung Migration und Integration – Erfahrungen nutzen. Neues rungspolitik müssten die Regierungen mehr durch die internationale Migration gestellt und wagen. Jahresgutachten 2004 des Sachverständigenrates Verantwortung für die Integration und Be- nach langem Ringen ein Zuwanderungsgesetz für Zuwanderung und Integration. Berlin 2004 United Nations Population Division: Replacement Migra- schäftigung dieser Menschen übernehmen. verabschiedet, das am 1. Januar 2005 in Kraft tion: is it a Solution to Declining and Ageing Popula- Besonders ist darauf zu achten, dass auch Ab- getreten ist. Damit bekennt sich die Bundesre- tions? Doc. ESA/P/WP. 160. New York 2000 kommen wie die Internationale UN-Konven- publik offiziell zu ihrer Rolle als Einwande- Publikationen der Vereinten Nationen und ihrer Sonder- organisationen können über den UNO-Verlag erworben tion zum „Schutz der Rechte aller Wanderar- rungsland. Jetzt könnte Sachlichkeit in ein Po- werden. Am Hofgarten 10, 53113 Bonn, bestellung@ beitnehmer und ihrer Freiheiten“ unterzeich- litikfeld einkehren, das wie kein anderes von uno-verlag.de net werden. Bereits 1979 von der UN-General- emotional geführten Auseinandersetzungen

264 Buchbesprechungen

Geschichte der Bedingungen, vielleicht sind wir dazu gezwun- die Buchautorin. Einerseits sagen wir jetzt: „Wir türkischen „Gastarbeiter“ gen. Inwiefern kann aber der Ort, wo wir nicht sind ein Einwanderungsland“. Auf der anderen gewollt sind, unsere Heimat werden?“ Seite bleibt der Anwerbestopp bestehen, was zu KARIN HUNN: Ausführlich untersucht Karin Hunn die Ge- Spannungen führen muss. Außerdem sind die schichte der türkischen „Gastarbeiter“ in der Hürden – so Rita Süssmuth – für Studierende, „Nächstes Jahr kehren wir zurück“ – Bundesrepublik. Die inzwischen aufgehobene Hochqualifizierte und Unternehmer viel zu hoch. Die Geschichte der türkischen „Gastarbeiter“ Sperrfrist für die Bestände des Bundesarchivs Auf über 200 Seiten beleuchtet die frühere in der Bundesrepublik. machen es ihr möglich, interessante Dokumen- Bundestagspräsidentin das Thema Migration te heranzuziehen. So weist sie darauf hin, dass und Integration. Die weltweite Perspektive, die Wallstein-Verlag, Göttingen 2005 eine ganze Reihe von Staaten Anfang der sie eröffnet, ist besonders wichtig, denn oft- 598 Seiten, 46 Euro. 1960er-Jahre Interesse an Anwerbeabkommen mals wird bei diesem Thema wenig über den ei- 1961. Deutschland braucht dringend Arbeits- mit Deutschland hatten. Dazu zählen Bolivien, genen Tellerrand hinausgeschaut. Rita Süss- kräfte. Der Arbeitsmarkt in Italien, mit dem un- Indien, Thailand und der Sudan. In ihrer 600 muth war auch Mitglied in der Kommission der ter anderem ein Anwerbeabkommen abge- Seiten umfassenden Doktorarbeit, die an der Vereinten Nationen zur Migration. So weist sie schlossen wurde, ist leer gefegt. Fachleute wie Universität Freiburg entstanden ist, unter- beim weltweiten Thema „Illegale Einwanderer“ Eduard Keintzel vom Unternehmensverband streicht die Historikerin, dass Deutschland kei- darauf hin, dass es zwar illegale, „gegen das Ge- Ruhrbergbau machen sich auf in die Türkei, um neswegs blind in einen Einwanderungsprozess setz verstoßende Grenzübertritte, aber keine il- Anwerbemöglichkeiten von türkischen Ar- hineingeschlittert ist. Die staatlichen Behörden legalen Menschen“ gibt. Es handelt sich immer beitskräften zu erkunden. In seinem Bericht, erkannten schon frühzeitig Einwanderungs- um Menschen. der im Buch zitiert wird, schreibt er: „Der Türke tendenzen in Deutschland. Leider wurden da- Das neue Thema heißt nach ihrer Einschätzung gilt als äußerst genügsam und entwickelt von mals nicht rechtzeitig die richtigen Weichen nun „Migration und Entwicklung“. So sind die sich aus keine Initiative. Angeblich beeinflusst gestellt. Erst jetzt bekennt sich Deutschland zu Rücküberweisungen der Arbeitsmigranten das eigenartige Klima seine Arbeitslust; nach- seiner Rolle als Einwanderungsland. weltweit von zunehmender Bedeutung für die teilig, wenn der Südwind herrscht, und be- Mitte der 80er-Jahre endet die Untersuchung. Herkunftsländer. Sie sind mindestens dreimal schwingend, wenn der Nordwind weht. Die In einem kurzen Ausblick mit aktuellen Bezügen so hoch wie die gesamte offizielle Entwick- Empfindung von Neid ist dem Türken – wie be- verliert die kritische Bestandsaufnahme aller- lungshilfe, die auf der Welt gezahlt wird. Die hauptet wird – unbekannt. Er ist es nicht anders dings etwas an Wert und Aussagekraft. So ist Arbeitskräftewanderung hat aber auch ihre gewohnt, als dass er von strenger, harter Hand es nicht nachvollziehbar, warum Karin Hunn Schattenseiten für die Entsendeländer. So geführt wird [...]. Der Betrug fordert beim Tür- schreibt, der Multikulturalismus habe in macht die frühere Bundesfamilienministerin ken keine moralische Entrüstung heraus, er Deutschland in eine Sackgasse geführt. Dabei beispielsweise deutlich, dass in Somalia von kennt keine moralischen Bedenken.“ hat sie doch selbst sehr deutlich herausgearbei- 600, seit der Unabhängigkeit ausgebildeten Aber nicht nur solche Stereotype und Vorurteile tet, dass es im Laufe der Jahrzehnte praktisch Ärzten, jetzt nur noch 50 Ärzte im Lande arbei- prägten damals das Bild von den Türken und ih- keine Integrationspolitik und damit keine gute ten. Der Rest ist in die reichen Industrieländer rem Land, wie Karin Hunn in ihrer Untersuchung Chancen für das friedliche Zusammenleben ausgewandert. Trotzdem könnten beide Seiten schreibt. In Deutschland herrschte durchaus verschiedener Kulturen gegeben hat. Außer- – Aufnahme- und Herkunftsländer – viel stär- eine aufgeschlossene und tolerante Haltung dem unterstellt die Autorin – wenn auch über- ker von der Migration profitieren, wenn Zu- gegenüber den türkischen Muslimen, als das spitzt formuliert – die deutsche Variante des wanderung besser organisiert und das Thema Anwerbeabkommen abgeschlossen wurde. Das Multikulturalismus impliziere, dass „die kultu- nicht nur immer negativ besetzt würde. lässt sich an der Zeitungsberichterstattung rellen Eigenheiten von Einwanderern selbst „Kenntnisse über den Islam sind in unserer Be- oder an einer Ramadan-Feier im Kölner Dom im dann toleriert werden müssten, wenn die Mi- völkerung kaum vorhanden“, stellt Rita Süss- Frühjahr 1965 ablesen. Die Einwanderung tür- granten unter Berufung auf ihre Kultur gegen muth fest. Leidenschaftlich plädiert sie deshalb kischer Arbeitsmigranten hätte sich also keines- Menschenrechte verstießen.“ So übernimmt für Aufklärung und für ein Miteinander der wegs zwangsläufig so problematisch entwi- die Wissenschaftlerin zum Schluss unreflek- Kulturen. Es ist ihrer Meinung nach die Heraus- ckeln müssen, wie es dann der Fall war. Die Tür- tiert Thesen aus dem unsachlich geführten aus- forderung dieses Jahrhunderts, ob wir es ler- ken kamen mit einem fast schon idealisierten länderpolitischen Diskurs, den sie immer wie- nen, friedlich miteinander zu leben oder ob wir Bild von deutschem Fleiß und deutscher Gründ- der in ihrem Buch kritisiert. Trotzdem bleibt ih- Huntingtons Thesen vom „Kampf der Kulturen“ lichkeit an Rhein und Ruhr. Weder die türkischen re Untersuchung eine gut lesbare Aufarbeitung folgen. Migranten noch die bundesdeutsche Gesell- der Migrationsgeschichte in Deutschland, die In ihrem Schlusskapitel spricht sich die Autorin schaft waren jedoch an einer dauerhaften Ein- als Lektüre sehr zu empfehlen ist. für eine „demokratische Leitkultur” des Zusam- wanderung interessiert. Politische Fehler in der Karl-Heinz Meier-Braun menlebens aus. Im Gegensatz zu vielen, die den Türkei wie in Deutschland rächten sich im Laufe Begriff „Leitkultur“ unreflektiert verwenden, der Jahrzehnte. Die Türken und andere Migran- Testfall Integration erläutert sie ausführlich, was sie damit meint. ten lebten in einer Rückkehrillusion, Deutsch- Die Grundlage des Zusammenlebens bildet für land hingegen in der Lebenslüge: „Wir sind kein RITA SÜSSMUTH: sie das Grundgesetz, die Gleichberechtigung Einwanderungsland“. von Mann und Frau oder auch die Lösung von Rückkehrprämien für Türken und andere aus- Migration und Integration: Konflikten ohne Gewalt. Die Übernahme und länderpolitische Maßnahmen verstärkten eher Testfall für unsere Gesellschaft. Identifikation mit dieser Werteordnung ist für die ablehnende Haltung der deutschen Bevöl- sie eine unablässige Voraussetzung für die viel Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2006 kerung gegenüber den türkischen Einwande- beschworene Integration. Die multikulturelle 200 Seiten, 12,40 Euro rern und führten dazu, dass sich türkische Fa- Gesellschaft ist für sie eine Tatsachenbeschrei- milien teilweise abkapselten. Eine Türkin, die Fast ein halbes Jahrhundert lang hat es gedau- bung, aber noch kein Konzept für einen Zusam- nach dem Tod ihres Mannes als Mutter von ert – wie Rita Süssmuth zu Recht kritisiert – bis menhalt unserer Gesellschaft: „Die nicht en- zwei Kindern in die Bundesrepublik gekommen sich Deutschland endlich vom Rotationsprin- denden Attacken auf die multikulturelle Gesell- war, zieht deshalb – wie Karin Hunn zitiert – ei- zip in der Ausländerpolitik verabschiedet und schaft bringen uns nicht weiter, wenn damit die ne bittere Bilanz ihres Lebens: „Wir haben hier auf die Tatsachen in einem Einwanderungsland Fiktion einer kulturell homogenen Gesellschaft vielleicht materiell gesehen einiges erworben, eingestellt hat. durchgesetzt werden soll“, schreibt die CDU- unsere Kinder können sich ein besseres Leben In den letzten Jahren hat es ihrer Einschätzung Politikerin. leisten. Dafür wurde aber sehr viel geopfert. [...] nach eine Klimaänderung gegeben. An diesem Alles in allem hat Rita Süssmuth mehr als eine Egal, wie bereit wir sind, hier zu leben – die Paradigmenwechsel hat die Migrationsexper- gute Zusammenfassung zum Thema „Migra- Deutschen akzeptieren uns sowieso nicht. tin selbst mit der nach ihr benannten Kommis- tion und Integration als Testfall für unsere Ge- Auch wenn wir ständig sagen würden: sion maßgeblich mitgewirkt. Wir haben nun ein sellschaft“ geschrieben, die sich auch an Lese- ‚Deutschland ist uns Heimat geworden’, kann Zuwanderungsgesetz, aber auch schon wieder rinnen und Leser wendet, die sich mit dem The- es das nicht werden. Wir bleiben hier trotz aller Rückschritte in der Migrationspolitik, schreibt ma noch nicht beschäftigt haben. Das Buch

265 Buchbesprechungen sollte geradezu Pflichtlektüre nicht nur für Po- taten gebracht. Auch wird in der deutschen Be- lungsweisen und Fremdzuschreibungen der is- litiker in der gegenwärtigen Diskussion nach richterstattung über Kriminalfälle, bei denen lamischen Frau in Medien und Öffentlichkeit dem Integrationsgipfel und der ersten Deut- „Ausländer“ beteiligt waren, mit geradezu pe- heraus, die parallel existieren, aber je unter- schen Islamkonferenz sein. An manchen Stel- netranter Regelmäßigkeit auf ihre Nationalität schiedlich beurteilt werden: die exotische len merkt man dem Buch an, dass es offensicht- und/oder ethnische Herkunft hingewiesen, Orientalin, die „Kopftuchtürkin“, die moderne lich unter großem Zeitdruck geschrieben wur- während bei deutschen Straftätern deren Na- Türkin und die Fundamentalistin. Obgleich die de, was aber seinen Wert keineswegs schmälert. tionalität keine Erwähnung findet und zudem Identitätskonstrukte vieler dieser Frauen weit- Karl-Heinz Meier-Braun eher Erklärungsgründe für die Straftat ange- aus vielfältiger sind, wird mit der Dichotomie führt werden. Eine unvoreingenommene „traditionell versus modern“ ein reichlich ver- Wahrnehmung von Migranten ist angesichts einfachtes – und zudem stigmatisierendes – Die mediale Konstruktion der Präsenz der Medien im Alltag kaum mehr Muster angeboten. des „Ausländers“ möglich. In der öffentlichen Wahrnehmung Selbst weltoffene Journalisten sich seriös ge- entsteht dadurch der Eindruck, dass es sich bei bender Wochenmagazine vermischen in ihrer CHRISTOPH BUTTERWEGGE / „Ausländern“ um eine Gruppe handelt, die in al- Berichterstattung nur allzu oft das Thema Mi- GUDRUN HENTGES (HRSG.): len denkbaren gesellschaftlichen Bereichen gration mit Terrorismus und innerer Sicherheit. nur Probleme bereitet. Auch das Nachrichtenmagazin Der Spiegel Massenmedien, Migration und Integration. Der von Christoph Butterwegge und Gudrun zeichnet mit den „Knochenbrechern“ und dem Herausforderungen für Journalismus Hentges herausgegebene, bereits in der zwei- „schwarzen Dreieck Moskau – Minsk – Kiew“ – und politische Bildung. ten Auflage erschienene Sammelband vereint so der Titel des gleichnamigen Beitrags von brillante Einzelstudien und Diskursanalysen Gudrun Hentges – ein apokalyptisches Bild, das VS Verlag für Sozialwissenschaften, zum Thema „Massenmedien, Migration und In- letztlich ein Bedrohungsszenario für die inne- Wiesbaden 2006, 262 Seiten, 19,90 Euro tegration“. Das Buch gliedert sich in die vier re Sicherheit der Bundesrepublik suggeriert. In der aktuellen Debatte über Zuwanderung Hauptteile: (I.) Massenmedien: Motoren und Die Zerrbilder beeinflussen nicht nur das Den- spielen Massenmedien deshalb eine entschei- Multiplikatoren der Ethnisierung?, (II.) Zuwan- ken und Handeln der Mehrheitsgesellschaft – dende Rolle, weil sie das Bewusstsein ihrer Re- derung und Rassismus in den Medien, (III.) Is- sie zeitigen fatale Folgen: Sensationslüsterne zipienten und damit den öffentlichen Diskurs lamismus, Terrorismus und „Ausländerkrimi- Schlagzeilen und einschlägige Stereotype ha- prägen. Medien filtern Informationen, bereiten nalität“ als Medienthemen, (IV.) Alternativen ben Nachrichtenwert, nicht das alltägliche diese auf und beeinflussen durch die Art und für Journalismus und Pädagogik. Die inhaltli- friedliche Zusammenleben von Zugewander- Weise der Darstellung in nicht unerheblichem che Bandbreite der einzelnen Beiträge reicht ten und Deutschen. Zeitungs-, Rundfunk- und Maße die öffentliche Wahrnehmung. Im Laufe hierbei von der Darstellung gebräuchlicher Ar- Fernsehkonsumenten übernehmen diese der letzten Jahre kamen Studien zu dem Er- gumentationsmuster bzw. Topoi in der Bericht- transportierten Zerrbilder zumeist unhinter- gebnis, dass bundesdeutsche Medien häufig in erstattung und deren Ausrichtungen auf den fragt. Dies prägt letztlich auch die Haltung im einer skandalträchtigen und diffamierenden Einwanderungsdiskurs bis hin zu Studien, die Hinblick auf Modelle des Zusammenlebens Weise über Migrantinnen und Migranten be- sich auf bestimmte Vorurteile, Identitätszu- zwischen Menschen unterschiedlicher Her- richten und so wesentlich zu einem Negativ- schreibungen und die mediale Konstruktion kunft und Kulturen. image beitragen. Ethnische Minderheiten bzw. des „Ausländers“ konzentrieren. So arbeitet Sämtliche Einzelbeiträge, die dort zitierten Migranten werden überwiegend mit negativen Schahrazad Farrokhzad in ihrem Beitrag „Exo- Auszüge aus der deutschen Presse- und Me- Stereotypen belegt. So werden zum Beispiel tin, Unterdrückte und Fundamentalistin. Kon- dienlandschaft, deren Inhaltsanalyse und die osteuropäische Zuwanderer meist in Zusam- struktionen der ‚fremden Frau’ in deutschen dabei zutage tretenden Sprachbilder zeigen menhang mit kriminellen und mafiösen Straf- Medien“ (S. 54-84) u. a. vier gängige Darstel- mehr denn je, dass nicht nur eine seriöse Be-

266 Buchbesprechungen richterstattung anzumahnen ist, die sich dem mentierte das südwestdeutsche Regionalfern- der Firma bei einer eventuell (voraussehbaren) journalistischen Ethos verpflichtet fühlt und sehen damals die Vorgänge. notwendigen Sanierung des Bodens des elementare Persönlichkeitsrechte achtet. Dieser Verlust war umso schmerzlicher, als in Werksgeländes zu verzichten, einen Anspruch, Christoph Butterwegge (vgl. auch den Beitrag den Jahrzehnten zuvor die Stadt Geislingen den die Stadt ohne diese vertragliche Klausel in diesem Heft) zieht deshalb auch konkrete den vielfachen Wünschen des Heidelberger hätte erheben können. Schlussfolgerungen für die politische Bildung, Unternehmens, im Stadtgebiet expandieren zu Nun waren und sind – abgesehen von Letztge- die hauptsächlich an drei „Knotenpunkten der dürfen, immer wieder nachgegeben, die Erwei- nanntem – derartige Vorgänge auf kommuna- Entwicklung des Verhältnisses von Massenme- terung sogar mit eigenen Aufwendungen qua- ler Ebene im Zeitalter der Globalisierung nichts dien, Migrant(inn)en und Einheimischen an- si subventioniert hatte. Das Heidelberger Mut- Spektakuläres, schon gar nichts Anstößiges. setzen“ (S. 218). Zum einen kann politische Bil- terunternehmen war nach 1948 stark gewach- Kommunen unterstützen Betriebe in jeder er- dung wertvolle Beiträge zu einer kritischen sen, die Nachfrage nach seinen Produkten denklichen Weise im Rahmen der Gesetze, um Medienerziehung leisten und damit Schlüssel- (Druckmaschinen) stieg beständig. Die beeng- sie zum Bleiben oder zur Ansiedlung zu bewe- kompetenzen (Kritikfähigkeit, Interkulturalität, te Topographie der Stadt (Täler und Berge) gen. Interkommunale Konkurrenz dabei ist Empathie) fördern. Des Weiteren ist durch machte Erweiterungen auch in das (Alt-)Stadt- gang und gäbe. Die Betriebsverlagerung in ei- Fort- und Weiterbildungsangebote eine stärke- gebiet hinein erforderlich. Städtebauliche Op- nen angrenzenden Landkreis würde heutzuta- re Vernetzung mit Journalistinnen und Journa- fer waren nicht zu umgehen, wollte die Kom- ge gar als erfolgreiche regionale Ansiedlungs- listen anzustreben, um durch die gezielte Ver- mune das Tochterunternehmen der HDM hal- politik gefeiert werden. Was ist an dem Befund mittlung solider Informationen eine sachliche ten. So konnte sich – nach langwierigen, oft der Langzeitstudie jedoch so bemerkenswert und möglichst vorurteilsfreie Berichterstat- zähen Verhandlungen – das angestammte und lehrreich? tung zu garantieren. Und schließlich muss po- Betriebsareal nach und nach in den benachbar- Sorgfältig recherchiert, eindringlich und de- litische Bildungsarbeit Migranten und Minder- ten Wohn- und Kleingewerbebereich auswei- tailliert beschrieben, kenntnisreich geschildert heiten befähigen, deutsche Massenmedien in ten; im Bereich angrenzender Straßen erwarb wird hier das Machtgefälle zwischen den öf- einer ihren Bedürfnissen und Interessen ent- das Unternehmen Grund und Boden, dazu pri- fentlichen (Stadt, Landkreis) und privaten sprechenden Weise zu nutzen. vate Wohnhäuser und einen Straßenteil; ein (MAG/HDM) Handlungsträgern bei ihren Aus- Die einzelnen Beiträge sind anregend geschrie- Schlachthaus wurde verlagert, ein Forsthaus einandersetzungen um Planungsentscheidun- ben, erörtern den zum Verständnis notwendi- verlegt. Die Presse berichtete über die wach- gen, Genehmigungen, Immobilien und Kosten- gen fachwissenschaftlichen Hintergrund in ei- sende Tendenz der betroffenen Wohnbevölke- fragen. Darüber hinaus stellen sich die beiden ner verständlichen Sprache und überzeugen rung, wegen der steigenden Umweltbelästi- Autoren die Erkenntnis leitende Frage, inwie- nicht zuletzt durch die Auswahl der Belege und gung, die der Werksausbau mit sich brachte, in weit bei diesem jahrzehntelangen Poker beste- Beispiele. Christoph Butterwegge und Gudrun andere Stadtteile umzuziehen. hendes Recht angewandt oder im Gegenteil Hentges haben ein Buch herausgegeben, dem Die Stadt erfreute sich ihrerseits – für einen ge- auf dessen Anwendung sogar verzichtet wird. viele Leserinnen und Leser zu wünschen sind wissen Zeitraum – wachsender Gewerbesteuern. Geht man davon aus, dass sich Derartiges in- Siegfried Frech Bereits Mitte der 1950er-Jahre betrug der Ge- zwischen auch auf nationaler und internatio- werbesteueranteil der MAG ein Viertel der städ- naler Ebene abspielt, sind die bei dieser Fallstu- Gemeinwohl und Partikularinteresse tischen Gewerbesteuereinnahmen (bei einem die gewonnenen Erkenntnisse von allgemeiner Beschäftigtenanteil der MAG von einem Fünf- Bedeutung, die noch dadurch größer wird, als LEONIE BREUNUNG/HUBERT TREIBER: zehntel). Der Gesamtunternehmensumsatz der die Langzeitstudie überraschende und er- HDM stieg bis Mitte der 1970er-Jahre auf das staunliche Einblicke gewährt in die Taktik und Recht als Handlungsressource kommunaler Sechsfache, die Belegschaft allein im Geislinger Strategie einerseits der öffentlichen Verwal- Industrieansiedlungspolitik. Werk wuchs im selben Zeitraum von 253 Be- tung, andererseits von Großunternehmen. Zum Gebrauch und Verzicht von Recht bei schäftigten (1948) auf 2.000 Beschäftigte. Das Ergebnis dieser Untersuchung ist nicht ungleicher Machtverteilung: Ergebnisse ei- Den Wegzug konnte die Stadt letztlich trotz al- selbstverständlich: Recht spielt bei all diesen ner Langzeitfallstudie. ler Zugeständnisse jedoch nicht verhindern. Vorgängen die geringere, vielleicht sogar eine Aber auch noch nach der Betriebsverlagerung marginale Rolle, wenn – wie die beiden Verfas- Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2005 machte sie – im Zusammenhang mit dem Er- ser das tun – Recht verstanden wird als neutra- 601 Seiten, 98,00 Euro werb des Werksgeländes der MAG durch die ler, autonomer Faktor, auf den die an den Vor- Noch heute hat sich die Stadt davon nicht er- Kommune – beträchtliche Zugeständnisse. gängen beteiligten Akteure zurückgreifen oder holt: Mitte der 1970er-Jahre teilte die Leitung Denn sie war bereit, gegen einen relativ niedri- den Rückgriff unterlassen. Allerdings reden die der Heidelberger Druckmaschinen AG (HDM) gen Kaufpreis auf alle Ansprüche gegenüber Verfasser in den theoretischen Passagen ihrer der Stadt Geislingen an der Steige den beab- sichtigten Wegzug ihrer dortigen Konzern- tochter MAG (Maschinenfabrik Geislingen AG) Landeszentrale trauert um Eugen Baacke mit. Die knapp 30.000 Einwohner zählende Stadt, gelegen am nördlichen Rand der Schwä- Wir können die traurige Nachricht vom Tod unseres langjährigen Mitarbeiters und Kollegen bischen Alb, verlor nach der endgültigen Still- Eugen Baacke noch immer nicht begreifen. Um seine schwere Krankheit wussten wir, aber legung der Geislinger Betriebsanlagen der sein Lebensmut hatte schon manche Krise überwunden. Jetzt war sein Kampf vergebens. Mit MAG 1986 damit ihren nach der Württember- 60 Jahren hat er uns verlassen. gischen Metallwarenfabrik (WMF) zweitgröß- Eugen Baacke war seit 1989 als Referatsleiter in unserer Einrichtung tätig. Er war mit ten Industriebetrieb und zweitgrößten Gewer- viel Erfolg damit beschäftigt, Menschen für bürgerschaftliches und ehrenamtliches Enga- besteuerzahler: Ungefähre Berechnungen ge- gement in unserer Demokratie zu gewinnen. Dass wir in Baden-Württemberg eine modern hen von circa 15 Prozent Verlust der städti- ausgebildete Polizei haben, ist ganz wesentlich auch seinen Fortbildungsangeboten zu ver- schen Einnahmen aus. Weitere mittelbare danken. Mit zahlreichen Veröffentlichungen hat er sich einen guten Namen gemacht. Und finanzielle Einnahmeeinbußen waren, wie bei ganz besonders lag ihm am Herzen, die historisch-politischen Besonderheiten, die kulturel- jeder Firmen- bzw. Werksverlagerung, abseh- le und landschaftliche Attraktivität seiner oberschwäbischen Heimat in landeskundlichen bar. Der Schuldenstand pro Einwohner, wichti- Veranstaltungen zu vermitteln. Eugen Baacke war als Kollege allseits beliebt und geschätzt. ges Indiz für die Finanzkraft einer Kommune, Sein oberschwäbischer Humor war legendär und hat uns viele heitere Momente beschert. erhöhte sich nach der Verlagerung der Produk- Mit Eugen Baacke verliert die Landeszentrale für politische Bildung einen überaus en- tion der MAG (nach Amstetten auf der Schwä- gagierten und beliebten Kollegen, dem die politische Bildung und das Werben für unsere De- bischen Alb, etwa 5 Kilometer südlich von Geis- mokratie ein Herzensanliegen waren. Wir wollen ihn dadurch ehren, dass wir seinen Tugen- lingen gelegen) um knapp die Hälfte und blieb den und Idealen, denen er verpflichtet war, in unserer Arbeit nachgehen. auch in den folgenden Jahren bis heute auf ei- LOTHAR FRICK CHRISTINE KUNTZSCH nem hohen Stand. „Entschwindende Millionen Direktor Personalratsvorsitzende – ein Betrieb lässt Geislingen im Stich“, kom-

267 Buchbesprechungen

Studie einem „Steuerungsversagen“ des Rechts Entscheidungen wie Umweltschutz, Sicher- Vielfalt in der Einheit nicht das Wort. Das Konzept der „regulativen heitsstandards, Steuergerechtigkeit mitent- Politik“, d. h. gesellschaftliche Prozesse, das scheiden. Die „allein dem Volk übertragene HERMANN BAUSINGER: Verhalten gesellschaftlicher Akteure mit Hilfe Staatsgewalt“ weiche so „in weiten Bereichen von gesetzlichen Geboten und Verboten im nichtstaatlichen Mächten“. Der herbe Charme des Landes. Gedanken Sinne der jeweiligen politischen Zielvorgaben Allen, die sich, ob in Wissenschaft oder Praxis, über Baden-Württemberg. nach Plan steuern zu können, sehen sie in der mit Kommunalpolitik und Kommunalverfas- Klöpfer & Meyer Verlag, Tübingen 2006 Praxis, wie die Untersuchung zeigt, mit „Er- sungen, mit dem Verhältnis von Partikularin- 163 Seiten, 18,00 Euro folgsdefiziten“ behaftet an. Ein Beispiel mag teressen und Gemeinwohl, mit Fragen des Ne- dies verdeutlichen: Die lokalen Verwaltungsbe- beneinanders von staatlicher und privater Es gibt sicherlich nur wenige, die den deut- hörden, zuständig für die Durchsetzung ge- Macht und bürgerlicher Freiheit oder mit der schen Südwesten in all seinen historischen und setzlicher Normen, handeln wie im Fall Geislin- zur Zeit geführten Diskussion zur Steuerung kulturellen Schattierungen so gut kennen wie gen oft nicht als „interesselose Agenturen der von Recht beschäftigen, sei das gewichtige der Kulturwissenschaftler Hermann Bausinger. Durchführung von Gesetzen“ (S. 21) – was ein Werk zur Lektüre empfohlen. Aber auch dieje- Eine Essenz der Früchte seiner jahrzehntelan- in den Sozialwissenschaften diskutiertes „hie- nigen sollten die Studie zur Hand nehmen, die gen Auseinandersetzung mit dem „Ländle“ legt rarchisches Steuerungsmodell“ unterstellt – erfahren möchten, wie eine Stadt trotz des be- der Emeritus der Universität Tübingen nun in sondern sind, wie gezeigt werden soll, selbst in- stehenden, für sie weniger günstigen Macht- komprimierter und gleichzeitig amüsant zu le- teressierte Partei und verhalten sich entspre- gefälles, mit erheblichen Konzessionen (auch sender Form vor. Der gebürtige Aalener zeigt chend eigener, für den jeweiligen Fall speziell auf Kosten des Landes und des Bundes) für sich dabei, aus welcher Tiefe eine breit angelegte entwickelter Problemlösungsstrategien. Das günstige Regelungen während der verschiede- Kulturwissenschaft schöpfen kann, die sich aus geht dann so weit, dass Politik und Behörden ne Stufen des Verhandlungsmarathons errei- allen angrenzenden Disziplinen „bedient“: der den Unternehmen weit entgegenkommen und chen kann. Geschichte, der Politik, der Philologie – nicht – wie die Verfasser anklingen lassen – sogar Sicher erfordert diese Lektüre, was nicht ver- zuletzt auch der Dialektforschung –, der Wirt- rechtswidrige Zustände (etwa im Umweltbe- schwiegen werden soll, einen langen Atem. Ar- schaftsgeschichte und natürlich der Alltags- reich) zeitweise tolerieren. Unter anderem ge- gumentiert wird auf hohem Niveau. Man be- kultur. schieht dies deshalb, weil die staatlichen Hand- gegnet dabei vielen Querverweisen, inhaltli- Hermann Bausinger fragt im Grunde danach, lungsträger gerade bei Auseinandersetzungen chen Wiederholungen. Hie und da dominieren was das junge Bindestrich-Land „im Innersten“ mit mächtigen gesellschaftlichen Akteuren da- die Fußnoten den darstellenden Textteil. Das ist zusammenhält. Seine Antwort zieht sich wie von ausgingen, dass sie mit autoritativen Re- vielleicht nicht zu umgehen bei einer derarti- ein roter Faden durch das Buch: die Vielfalt. gelungen deren juristischen Widerstand bis in gen Langzeitstudie, die rund ein halbes Jahr- Dem Autor geht es um Wirtschaftsräume und die letzte Instanz provozieren würden. In sol- hundert umfasst und damit sehr breit angelegt Siedlungslandschaften, um Außengrenzen und chen Fällen bevorzugen staatliche Instanzen ist, trotzdem in die Tiefe geht und daneben noch Binnengliederung, um Konfessions-, Sprach- den Verhandlungsweg. Private Akteure haben Exkurse bietet in Stadt- und Unternehmensge- und Kulturgrenzen in einer historisch gewach- dabei zumeist die besseren Karten, verfügen schichte, Bevölkerungsentwicklung, urbane senen Landschaft, deren wesentliches Merkmal über mehr Wissen und Informationen (über ih- Topographie, Wohnungsbau und Baurecht, die Kleinkammerigkeit ist. Es geht also um Be- re eigene Firma, ihre Planungen), können das Wasserversorgung, Finanzverfassungen, Ge- wusstseinsräume und um Nachbarschaftsbe- größere Drohpotenzial aufbauen (Verlagerung, meinde- und Verwaltungsreformen. Ein aus- ziehungen auf oft engstem Raum. Im Ergebnis Wegzug, Gang vor die Gerichte usw.). führliches Literaturverzeichnis, Tabellen (zum steht einer von vielen anregenden Gedanken Mit dieser Verhandlungsstrategie, die auch als Gemeinderat und seinen wichtigsten Aus- des Buches: Die skizzierte Vielfalt war keines- „Verhandlungsdemokratie“ bezeichnet wird, schüssen) und Abbildungen mit Erläuterungen wegs eine Hypothek für die Gründung des neu- werden gesetzliche Rahmenregelungen zur (Luftbilder, Pläne, Fabrikanlagen, Stadtansich- en Landes Baden-Württemberg, sondern gera- Verhandlungssache, letztlich wird die „Staats- ten) runden das Ganze ab. Das dem Werk zu- dezu eine Bedingung. Wäre es 1952 darum ge- gewalt“ verhandelt. Damit steht aber die Frage grunde liegende Forschungsprojekt der beiden gangen, zwei große, in sich geschlossene Blö- im Raum, wie im Nachwort eines ehemaligen Wissenschaftler Leonie Breunung und Hubert cke – Baden und Württemberg eben – zu Bundesverfassungsrichters zu lesen ist (S. 558 Treiber wurde von der Volkswagen-Stiftung ge- vereinen, so wäre dies wohl deutlich schwieri- ff.), ob diese „Verhandlungsdemokratie“ nicht fördert, die Ergebnisse als Band 51 der renom- ger gewesen. So aber ging es darum, konzen- eigentlich ein undemokratischer Weg sei, wenn mierten rechtswissenschaftlichen Reihe „Fun- trisch angeordnete Identitäten und kleinere nicht allein die Volksvertreter, sondern auch damenta Juridica“ (Band 51) veröffentlicht. Traditionsbereiche aufeinander abzustimmen: private gesellschaftliche Akteure politische Walter-Siegfried Kircher Die Vielfalt garantiert also die Einheit, auch wenn der Gegensatz zwischen Badenern und Württembergern – angereichert um die nicht zu vernachlässigenden Hohenzollern – als spielerische Folklore geblieben ist. Landeszentrale trauert um Klaus Jentzsch Die Vielfalt des Landes ist auch der Tenor der Unerwartet und plötzlich verstarb unser langjähriger Mitarbeiter und Kollege Klaus Jentzsch Buchpassagen, die sich mit der Kultur, den im Alter von 73 Jahren. Städten, der Wirtschaft oder den Mentalitäten Klaus Jentzsch gehörte zu den Säulen der Landeszentrale. Von 1966 bis 1998 war er in befassen. Vielfalt zeigt sich nicht zuletzt aber unserer Einrichtung tätig. Er gehörte schon zum Stamm der Arbeitsgemeinschaft „Der Bür- auch in der Bevölkerung selbst. Das Kapitel ger im Staat e.V.“ und leitete die Außenstelle Tübingen, bevor er das Fachreferat „Erwachse- „Aus der Fremde, in die Fremde“ liest sich vor nenbildung“ übernahm. Seit der Strukturreform der Landeszentrale für politische Bildung im dem Hintergrund der aktuellen Integrationsde- Jahre 1991 leitete er die Verwaltungsabteilung. Über seinen Ruhestand hinaus war Klaus batte besonders interessant. Hier wird zum ei- Jentzsch der Landeszentrale für politische Bildung eng verbunden. Er führte mit großem Er- nen der historische Wandel des deutschen folg Rhetorik-Seminare durch. Besonders beliebt waren seine Studienreisen, die zu wichti- Südwestens vom Auswanderungs- zum Ein- gen Brennpunkten des weltpolitischen Geschehens führten und bei den Teilnehmenden blei- wanderungsland deutlich. Deutlich wird aber bende Eindrücke hinterließen. In seinem Buch“ Mehrfach um die ganze Welt“ hat er viele sei- auch, dass Armut, Krieg sowie politische und ner Reisen eindrucksvoll dargestellt. religiöse Verfolgung schon immer zu „impor- Klaus Jentzsch war ein allseits beliebter und geschätzter Kollege. Auf seine Offenheit und tierten Traditionen“ geführt haben, von denen Toleranz konnte man stets bauen. Sein ausgeglichenes, freundliches Wesen und seine ver- der Südwesten letztlich profitiert hat: seien es trauensvolle Art wussten wir zu schätzen. Sein Tod ist für uns ein schmerzlicher Verlust. die Waldenser, die „zurückgekehrten“ Heimat- vertriebenen oder die Arbeitsmigranten seit LOTHAR FRICK CHRISTINE KUNTZSCH den 1950er-Jahren. In einem Land, in dem der- Direktor Personalratsvorsitzende zeit annähernd zwanzig Prozent der Bevölke- rung einen Migrationshintergrund haben,

268 Buchbesprechungen stellt sich auch deshalb die Frage nach der Lan- den Wirtschaftsstandort Baden-Württemberg werbsbeteiligung. Trotzdem bestreiten hierzu- desidentität auf ganz neue Art und Weise. noch besser beurteilen zu können. lande nur noch 41 Prozent derjenigen, die hier Gleichzeitig zeigt die Frage aber auch, dass In 21 Kapiteln beschreibt Gisela Meister-Scheu- leben, ihren Lebensunterhalt in erster Linie mit Identitäten Konstrukte sind, die transportiert felen die historische Entwicklung und analy- Erwerbsarbeit. Ein Drittel der Bevölkerung wird werden und weiterleben – und so auch selbst siert einzelne wirtschaftliche Tatbestände wie von Angehörigen finanziert, ein Fünftel lebt wiederum Integration schaffen. den Strukturwandel, das Wohlstandsniveau hauptsächlich von Renteneinkommen, fünf Wer sich also geistreich, fundiert, bisweilen oder die Innovationskraft im Land. Sie spielt die Prozent von staatlichen Transfers. Der Anteil auch überraschend, nie aber klischeehaft über Stärke ihres Hauses aus: Ein umfassendes Zah- derjenigen, die Rente beziehen, wird durch die den deutschen Südwesten informieren will, lenwerk und viele Schaubilder zeichnen ein Bild Alterung der Gesellschaft noch wachsen. Hof- dem sei dieses Buch geraten, sei er nun Ein- von Niveau, Struktur und Entwicklung der ba- fentlich gelingt es uns, auch die Erwerbsbetei- heimischer, Zugewanderter oder Betrachter den-württembergischen Wirtschaftskraft. ligung zu erhöhen. von außen. Alle drei Gruppen werden nach der Das Buch beginnt mit einer quantifizierten Do- Beispiel Wohlstandsgefälle: Baden-Württem- Lektüre die eine oder andere Eigenheit und den kumentation des bekannten wirtschaftlichen berg hat unter allen deutschen Flächenländern „herben Charme des Landes“ besser verstehen. Aufstiegs Baden-Württembergs an die Spitze die ausgewogenste Wohlstandsverteilung. Das Reinhold Weber der deutschen Bundesländer. Wer an Zäsuren gilt sowohl für die Pro-Kopf-Wirtschaftsleis- interessiert ist, kann im letzten Kapitel, das sol- tung als auch für das verfügbare Einkommen Vom Nutzen amtlicher Statistik che Einschnitte zusammenstellt, nachlesen, der privaten Haushalte. Dessen Spreizung ist wann Hessen und Bayern Baden-Württemberg nicht nur geringer als die aller anderen Flä- GISELA MEISTER-SCHEUFELEN: bei der Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung über- chenländer. Sie hat sich auch in den letzten troffen haben. Hessen überholte 1987, 1993 zehn Jahren nicht etwa vergrößert, sondern so- Die wirtschaftliche Entwicklung von Ba- zog dann auch Bayern vorbei. Neben den häu- gar geringfügig verkleinert. den-Württemberg. Daten und Fakten. fig veröffentlichten Wirtschaftsdaten sind Die Beispiele zeigen, wie amtliche Statistik auch Untersuchungen des Statistischen Lan- Strukturen sichtbar macht, die auch die Politik Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2006 desamtes in das Buch eingebaut, die noch nicht als Entscheidungsgrundlage benötigt. Auch für 234 Seiten, 20,00 Euro allgemein bekannt sind. Unternehmen liefert die amtliche Statistik Da- Nicht selten opfern Chefs kleiner Unternehmen Beispiel Konzernabhängigkeit: Eine Analyse der ten zu Branchen, Außenhandel und Beschäfti- einige Wochenendstunden, um Statistischen Konzernabhängigkeit hat gezeigt, dass drei von gung, die für Marktforschungszwecke genutzt Ämtern zu berichten. Der gesetzlichen Pflicht vier Industriebeschäftigten im Land in Konzer- werden können. Wie die Wirtschaft unterliegt zur Datenlieferung darf kein Unternehmen aus- nen oder in Unternehmen arbeiten, die ihre aber auch die Statistik einem Strukturwandel. weichen. Da trifft es sich gut, dass die Präsiden- Selbstständigkeit verloren haben. Allerdings Während die Industrie so gut durchleuchtet ist, tin des Statistischen Landesamtes Baden-Würt- gibt es – und auch das wurde untersucht – in dass nach langen Bemühungen die Zahl der Er- temberg die Ergebnisse vieler Erhebungen Baden-Württemberg auch einen im Bundes- hebungen jetzt reduziert werden konnte, fehlt zu einem kompakten Standortbericht der ländervergleich überdurchschnittlich hohen zum Beispiel im Hochschulsektor eine Absol- Wirtschaftsregion Baden-Württemberg zu- Anteil an Konzernsitzen. Entscheidungen, die ventenstatistik. Dabei wäre es für die Planung sammengestellt hat. Die rhetorische Frage „Wa- Konzerntöchter betreffen, fallen deshalb rela- der teuren Hochschulangebote enorm wichtig rum noch ein Buch über die wirtschaftliche Ent- tiv häufig im Land und nicht in weiter Ferne. zu wissen, welche Chancen diejenigen, die sie wicklung Baden-Württembergs?“ beantwortet Beispiel Einkommensquellen: In Baden-Würt- nutzen, nachher auf dem Arbeitsmarkt haben. die Autorin gleich selbst: Weil das Statistische temberg sind 69 Prozent der 15- bis 65-Jähri- Eine Pilotstudie hat Frau Meister-Scheufelen Landesamt eine Fundgrube für Wirtschaftszah- gen erwerbstätig. Das ist – wieder im Vergleich schon gestartet. Es wäre zu wünschen, dass len und Fakten ist: zum Nachschlagen und um mit anderen Bundesländern – eine hohe Er- mehr daraus wird. Hilde Cost

269 Buchbesprechungen

Zusammenhalt und Wandel kommen war, dieses im Bündnis daraufhin ar- die Teilhabe an einer gemeinsamen nuklearen in Bündnissen beitete, deutsche Sicherheitsinteressen zu op- Streitmacht der NATO, der so genannten MLF timieren. Die Bundesrepublik hatte wesentliche (Multilateral Force), erreichen. Zugleich sollte CHRISTIAN TUSCHHOFF: Souveränitätsrechte aufgeben müssen, die der NATO-Oberbefehlshaber, bis heute immer Stationierung der westlichen Truppen auf ein amerikanischer General, die Kommandoge- Deutschland, Kernwaffen und die NATO deutschem Boden blieb ambivalent: sie schuf walt im Falle eines Konfliktes erhalten. Diese 1949-1967. Zum Zusammenhalt von und Sicherheit „für“ aber auch Sicherheit „vor“ Strategie wurde vor allem von den Deutschen friedlichem Wandel in Bündnissen. Deutschland. Von Anfang an hat Deutschland im Bündnis favorisiert, so Tuschhoff, hatten sie jedenfalls mehr Gewinn aus der Allianz gezo- doch wesentliche Attribute von Souveränität Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2002 gen als es Opfer gebracht hätte. aufgegeben und wollten damit aber Effektivi- 430 Seiten, 58,00 Euro Schon der Beitritt in die NATO erbrachte für tät erkaufen. Die MLF wurde nicht realisiert; Mit der Auflösung des Warschauer Paktes und Westdeutschland wieder soviel an Souveräni- aber das deutsche Drängen nach dichterer In- der Sowjetunion verlor die atomare Bedrohung tät, dass es als ein Staat auf internationaler tegration im Bündnis hatte Erfolg. In allen we- durch einen großen, nicht mehr zu hegenden Bühne voll anerkannt war. Die Aufrüstung der sentlichen Kommandostellen waren deutsche Krieg an Bedeutung. Zuvor lag die Angst vor der Bundeswehr zwischen 1956 und 1962 auf ca. Offiziere und Zivilangestellte hinreichend ver- Atombombe wie ein Trauma besonders auf der 450.000 Soldaten gab dem westlichen Bündnis treten, um deutsche Initiativen in Ansatz zu westdeutschen Bevölkerung. Schien es doch auch eine konventionelle Stärke, die es dem Os- bringen. In diesen Prozessen spielte es auch ei- klar, dass ein solcher Krieg – zumeist gedacht ten gegenüber als gleichwertig erscheinen ließ. ne große Rolle, dass Deutschland über die stra- als Angriff der Streitkräfte des Warschauer Abgesichert war dieser Aufbau auch durch die tegischen und taktischen Konsequenzen der Paktes – nur durch taktische Atomwaffen ge- Strategie der „Massiven Vergeltung“, die von atomaren Waffen – außer ihrem Design und ih- stoppt werden könnte. Im Resultat hätte es die der Annahme ausging, dass bei jedem Konflikt rer Herstellung – informiert wurde. Anfänglich Bundesrepublik wahrscheinlich nicht mehr ge- mit dem sowjetischen Machtbereich sofort geschah dies noch nicht sehr konzentriert, aber geben. massiv Atomwaffen eingesetzt werden sollten. Tuschhoff kann nachweisen, dass unterschied- Das dies alles nicht eintrat, so kann man im Die neue Kennedy-Administration Anfang der liche deutsche Stellen in den wichtigen Stäben Rückblick folgern, war auch und wahrschein- sechziger Jahre glaubte, dass man den USA die- die nötigen Informationen bekamen, nur lan- lich zu einem starken Maße ein Verdienst se martialische Strategie nicht mehr abnehmen deten diese nicht gebündelt im Verteidigungs- der „Nordatlantischen Verteidigungsgemein- würde und veränderte sie zur „flexible respon- ministerium – Folge davon, dass es keine na- schaft“ (NATO). Diese von den USA geführte Al- se“. Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn tionale Verteidigungsplanung in der Bundes- lianz nahm die deutsche Verteidigung unter ih- diese Strategie nicht den Nachteil gehabt hät- republik gab. re Fittiche, nachdem zuvor die EVG (Europäi- te, dass sie Sicherheiten im Bündnis in unter- In politischer Hinsicht hat die inferiore Rolle sche Verteidigungsgemeinschaft) an der fran- schiedlicher Weise schuf. der Bundesrepublik nicht geschadet. Der Druck, zösischen Nationalversammlung gescheitert Die Antwort seitens der Bundesregierung be- den die Deutschen in den NATO-Stäben ausüb- war. Das deutsche Drängen nach Gleichberech- stand darin, den Amerikanern eine einheitliche ten, hat die Integration des Bündnisses in der tigung in der Gemeinschaft mit Frankreich ließ Sicherheit im Bündnis abzuringen. Dafür spiel- Tat befördert. Als wirtschaftliche Großmacht sich politisch so kurz nach dem Kriege nicht ten einerseits Atomwaffen eine große Rolle so- und politische Mittelmacht konnte die alte durchsetzen. Tuschhoffs Arbeit setzt sich de- wie andererseits eine „Härtung“ des Bündnis- Bundesrepublik immer auch Gebrauch von ih- tailliert mit dem Problem auseinander, wie der ses durch Verdichtung der Institution „NATO“. rem militärischen Arm machen. deutsche Eintritt in das westliche Bündnis Bereits bei der Aufrüstung hatte die Bundesre- Die vorliegende Arbeit ist eine Habilitations- Deutschlands Sicherheit ermöglichte, wie aber publik atomare Trägersysteme von den Ameri- schrift an der Freien Universität in Berlin, d.h. andererseits, als Deutschland im Westen ange- kanern gekauft. Nunmehr nach 1962 wollte sie der Verfasser hat nicht nur eine historische Di-

270 Buchbesprechungen mension aufgearbeitet, sondern er hat auch (neue) Differenzierung und Definition von so und pazifistischen Denkens der Gegenwart zu- Antworten auf Theorieanforderungen aus dem genannten „gerechten Kriegen“. Auch wenn rückführt und dabei mit zwei Konzepten ver- Bereich der internationalen Beziehungen ge- seit dem zweiten Irakkrieg eine zaghafte Neu- traut macht, die Krieg und Militarismus aus sucht. Bei einer so tiefen Integration der West- und Wiederbelebung der internationalen Frie- zwei unterschiedlichen Perspektiven ablehnen deutschen in die NATO ergibt es sich, dass man densbewegung zu beobachten ist, verfestigt bzw. bekämpfen. Für mich ist es vor allem der mit der „neorealistischen“ Theorie, die von ei- sich der Eindruck, dass Krieg, verstanden als ei- anarchistische Blick auf das Phänomen Krieg, ner egoistischen Nutzenmaximierung im staat- ne neue Form staatlicher Gewaltprävention zur der eine interessante Diskussionsperspektive lichen Verhalten ausgeht und davon, dass Staa- Abwehr zukünftiger möglicher Bedrohungen, eröffnet. Es ist die Frage nach dem Stellenwert ten nicht unbedingt andere übertrumpfen aber wieder als opportunes Politikinstrument eine von Krieg und die Chance des Pazifismus in ei- doch ihre Position im internationalen System Renaissance erlebt. ner Zeit der Globalisierung. Wenn Krieg – so die halten wollen (defensive Positionalisten), nicht In diesem Kontext ist der Sammelband der Gra- Anarchisten – ursächlich gekoppelt ist mit der gut arbeiten kann. Vielmehr geht er von der li- zer Germanistikprofessorin Beatrix Müller- Existenz von Staaten, dann wäre zu diskutieren, beralen Institutionentheorie aus, die verdeutli- Kampel zu sehen, die an pazifistische und anti- ob die aktuellen Tendenzen der Globalisierung chen kann, dass ein Einbringen von „rationalen militaristische Traditionen der Gegenwart erin- und die damit einhergehenden Entwicklungen Interessen“ eines Staates in einen organisato- nern möchte. Dies macht sie einerseits mit ei- zur Entmachtung klassischer Nationalstaaten rischen Zusammenhang mit anderen Staaten ner knapp 100 Seiten umfassenden Einleitung auch zu einer Entmilitarisierung der Gegen- „absolute Gewinne“ erbringen kann. Dieser Be- und andererseits mit einer Auswahl klassisch wart führen? Es zeigt sich allerdings, dass der griff ist sprachlich etwas ungeschickt, aber er zu nennender Texte und Autoren der neuzeitli- Staat bei der Frage nach Krieg und Frieden al- soll verdeutlichen, dass man nicht genau meß- chen Friedensbewegung. Die insgesamt 17 Do- lein nicht ausschlaggebend ist. Es sind ebenso bare Gewinne durch einzelne Schritte, nämlich kumente stammen u. a. von Lev Tolstoi, Petr ökonomische, kulturelle sowie mentale Bedin- „relative Gewinne“ erzielen muss, um dennoch Kropotkin, Stefan Zweig, Romain Rolland, Erich gungen, unter denen Staaten existieren und die erfolgreich zu sein. Bei dem Ansatz der „abso- Mühsam, Alfred H. Fried und Olga Misar. die Vergesellschaftung entscheidend prägen. luten Gewinne“ reicht es vollkommen aus, Das entscheidende an dieser Auswahl – und Neben diesen historischen und systematischen wenn alle Teilnehmer an einer Kooperation über dies macht den Band empfehlenswert – ist die Aspekten des Pazifismus, die der Band aufzei- einen bestimmten Zeitraum „irgendeinen“ Ge- Gegenüberstellung des bürgerlichen und des gen kann, finden sich auch konkrete Begrün- winn erzielen können. Tuschhoffs Untersu- anarchistischen Konzepts. Idealtypisch und dungen in den Quellentexten für den Irrsinn so chung kommt zu dem Ergebnis, dass die Bun- exemplarisch werden diese beiden Richtungen genannter „gerechter Kriege“. Hier ist der Band desrepublik Machtgewinne erzielen konnte. Sie am Beispiel von Bertha von Suttner (1843- sehr aktuell und bietet Ansatzpunkte für eine hat sowohl Kontrolle über die Ressourcen der 1914) und des ebenfalls in Österreich gebore- Diskussion. NATO, über ihre Akteure und auch über politi- nen Pierre Ramus (1882-1942), der mit bürger- Von Suttner glaubt an die Pazifizierung von sche Resultate erzielt. Von Anfang an war klar, lichem Namen Rudolf Großmann hieß, vertieft. Staaten und Politiker und an ihre Kraft, Kriege dass sie nicht die Macht hatte „spezifische Re- Obwohl sich beide demselben Thema verschrie- zu verhindern. Ramus argumentiert genau an- ziprozität“ zu erzielen, also sofortige Gewinne ben hatten und etwa im gleichen Zeitraum leb- ders herum – nämlich antietatistisch – und für erfolgreiche Taten einfahren zu können, ten, begegneten sie sich persönlich nicht und sieht vor allem im Staat die Ursache von Krie- sondern „allgemeine Reziprozität“ – d.h. die In- standen auch in keinem Kontakt zueinander. gen. Von Suttner sieht durch völkerrechtliche tegrationsarbeit hat sich unter dem Strich ge- Sie waren beide Kämpfer für eine Welt ohne Vereinbarungen und internationale Tribunale lohnt. Damit kann Tuschhoff mit Bezug auf Al- Krieg und Waffen – jedoch vor einem ganz un- Möglichkeiten zur Entmilitarisierung der Ge- lianzverhalten – wenn auch eingeschränkt auf terschiedlichen weltanschaulichen Hinter- schichte. Ramus hingegen zeigt auf, dass völ- eine Allianz wie die NATO – plausibel machen, grund. kerrechtliche Vereinbarungen und Schiedsge- dass kleinere Bündnispartner nicht nur belang- Bertha von Suttner, die als Idealbeispiel für die richte in einer auf Gewalt basierenden Gesell- lose Anhängsel der Großen sind, wie die realis- „bürgerliche Friedensbewegung“ bis heute gilt, schaft keine Instrumente der Friedenssiche- tische Theorie dies zumindest ihrer Logik nach steht für eine aufgeklärte und humanistische rung sein können. Der Staat, der für sich alleine schließt. Manchmal, in der Tat, wackelt auch der Beziehung zwischen Staaten als wichtiges Ele- das Gewaltmonopol beansprucht, wird nicht Schwanz mit dem Hund. ment einer pazifistischen Politik. Pierre Ramus zum Garanten für Frieden – so die Hoffnung Alles in allem handelt es sich bei der Arbeit um dagegen, der seit seiner Jugend als Anarchist von Suttner, sondern im Gegenteil, der Auslö- eine wichtige Analyse dessen, was wir im „Kal- verfolgt wurde, steht für einen anarchistischen ser von Krieg – so Ramus. Diese Unterschiede ten Krieg“ waren und wie wir es geworden sind. Antimilitarismus, der gerade im real existieren- werden sehr gut bei Müller-Kampel deutlich Vor allem die Neigung der Bundesrepublik, den Staat die zentrale Ursache für Krieg und gemacht und dokumentiert. Mit Blick auf die Atomwaffen besitzen zu wollen, wird hier in ra- Militarismus sieht. Auf der einen Seite ist der Sozialdemokratie sei angemerkt, dass Krieg nie tionaler sicherheitspolitischer Perspektive ver- Staat Garant und Hoffnungsträger für Frieden als Mittel der Politik ausgeschlossen wurde. deutlicht. Jakob Schissler und auf der anderen ist er der Verhinderer des- Ramus argumentiert in diesem Sinne, dass, wer selben. am Staat teilhaben will wie die Sozialdemokra- Der libertäre oder anarchistische Blick auf das tie, nicht auf Nationalismus und Militarismus Bürgerliche und anarchistische Phänomen Krieg geht von einer grundsätzli- verzichten kann und entsprechend Krieg ak- Friedenskonzepte chen Gewaltbereitschaft in einer etatistischen zeptiert. Vergesellschaftung aus. In dieser Tradition In der umfangreichen Einleitung beschäftigt BEATRIX MÜLLER-KAMPEL (HRSG.): steht neben Ramus vor allem auch der Russe sich Müller-Kampel immer wieder mit der li- Leo Tolstoi, der mit seinem urchristlich gepräg- bertären Position und kann dabei eine Reihe „Krieg ist der Mord auf Kommando“. ten Pazifismus als Wegbereiter der modernen von Missverständnisse hinsichtlich Anarchis- Bürgerliche und anarchistische Friedensbewegung gilt und in diesem Band mit mus und Anarchie aufklären. Am Beispiel Friedenskonzepte. seinem Friedenstext, „Patriotismus und Regie- von Krieg und Frieden kann die Autorin und Bertha von Suttner und Pierre Ramus. rung“ (russ. 1900), vertreten ist. Auf diese heu- Herausgeberin das spezifische am antietatis- Mit Dokumenten von Lev Tolstoi, te eher vergessene bzw. marginalisierte frie- tischen Gesellschaftsmodell aufzeigen und Petr Kropotkin, Stefan Zweig, denspolitische Richtung macht dieser Band mit das Bild vom „schwarzen Mann mit der Bombe Romain Rolland, Erich Mühsam, seinen Texten besonders aufmerksam. Im Mit- in der Tasche“ revidieren sowie den Unter- Alfred H. Fried, Olga Misar u. a. telpunkt dieses Konzepts steht die These, dass schied zwischen Terrorismus und Anarchismus es in erster Linie der Patriotismus und Nationa- herausarbeiten. Als Fazit ist zu sagen, dass Verlag Graswurzelrevolution, Nettesheim 2005 lismus der Nationalstaaten sind – egal ob sie die Herausgeberin eine interessante Quellen- 288 Seiten, 17,80 Euro demokratisch, monarchistisch oder diktato- sammlung und einen erkenntniserweiternden Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist „Krieg als risch verfasst sind – , die Krieg und organisier- Kommentar zur Diskussion bürgerlicher und Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ te Gewalt fördern und legitimieren. anarchistischer Friedenspositionen zur Verfü- nach wie vor (wieder?) legitimiert und findet Der Band ist als eine Quellensammlung ange- gung stellt. eine hohe Akzeptanz – man denke nur an die legt, der zu den Wurzeln antimilitaristischen Ulrich Klemm

271 Der Bürger im Staat 56. Jahrgang 2006 INHALTSÜBERSICHT

Heft 1: Fußball und Politik

Dietrich Schulze-Marmeling Die Geschichte der FIFA-Fußballweltmeisterschaften 4 Christiane Eisenberg Fußball als globales Phänomen 14 Bernd-M. Beyer Walther Bensemann: Kosmopolit des Fußballs 20 Verena Scheuble / Michael Wehner Fußball und nationale Identität 26 Dirk Schindelbeck „Nun siegt mal schön!“ 32 Bernd Strauß Das Fußballstadion als Pilgerstätte 38 Gunter A. Pilz Tatort Stadion – Wandlungen der Zuschauergewalt 44 Rainer Koch / Wolfgang Maennig Spiel- und Wettmanipulationen – und der Anti-Korruptionskampf im Fußball 50 Michael Glameyer ballance 2006 – Integration und Toleranz für eine friedliche Fußballweltmeisterschaft 59 Uli Jäger Straßenfußball, Fair Play und globales Lernen 63 Wolfgang Walla Statistisch gesehen 70

Heft 2: Die arabische Welt und der Westen

Prinz El Hassan bin Talal Brücken und Wege zu Dialog und Verständigung 84 Hans Küng Der Westen und der Islam 86 Stefan Schreiner Zwischen den Welten – Zur Geschichte der Juden in der arabischen-islamischen Welt 94 Karl-Josef Kuschel Die „Weihnachtsgeschichte“ im Koran (Suren 3,35-51; 19,1-36) 102 Renate Kreile Frauenbewegungen in der arabischen Welt – Gemeinsamkeiten und Konfliktlinien 110 Nasser El Ansary Interkulturelle Begegnung und Kulturaustausch – das Institut du Monde Arabe 116 Sebastian Körber Vorreiter im Kulturdialog – das Institut für Auslandsbeziehungen 120 Manar Omar Zur deutschsprachigen Literatur arabischstämmiger Schriftsteller 122 Viola Shafik Der belagerte Film oder Europas arabisches Filmschaffen 131

Heft 3: Bewältigung von Diktaturen im Vergleich

Peter Steinbach Diktaturen im 20. Jahrhundert – Kategorien, Vergleich, Probleme 140 Peter I. Trummer Bewältigung von Diktaturen im Vergleich 149 Harald Schmid Eine Vergangenheit, drei Geschichten 153 Wolfgang Schuller Ziele und Prioritäten der strafrechtlichen Vergangenheitsbewältigung 161 Angela Borgstedt Der Fragebogen – Zur Wahrnehmung eines Symbols politischer Säuberung nach 1945 166 Heike C. Mätzing „Zirkel im Ehrenkranz“. Die Darstellung der DDR in aktuellen Schulbüchern 172 Claudia Kraft Der Umgang mit der mehrfachen Diktaturerfahrung im östlichen Europa 177 Elisabeth Schmidle Schandmal oder Mahnmal? Vom Umgang mit dem architektonischen Erbe der NS-Diktatur 184 Michael Stolle Warum protestieren? Die Auseinandersetzung mit Argentiniens Militärdiktatur 191

Heft 4: Zuwanderung und Integration

Karl-Heinz Meier-Braun Der lange Weg ins Einwanderungsland Deutschland 204 Maria Böhmer Integrationspolitik aus bundespolitischer Sicht: Herausforderungen und Leitlinien 210 Matthias Micus / Franz Walter Mangelt es an „Parallelgesellschaften“? 215 Inken Keim / Rosemarie Tracy Mehrsprachigkeit und Migration 222 Andreas M. Wüst Wahlverhalten und politische Repräsentation von Migranten 228 Thomas Straubhaar Wirtschaftliche Folgen der Zuwanderung 235 Herbert Brücker Wirtschaftliche Effekte der Migration in alternden Gesellschaften 240 Wolfgang Walla Migranten in Baden-Württemberg 246 Christoph Butterwegge Medienberichterstattung – Abbau oder Verstärkung von Vorurteilen? 254 Karl-Heinz Meier-Braun Weltweite Migration und die Rolle der Vereinten Nationen 260

272 Der Bürger im Staat 56. Jahrgang 2006 INHALTSÜBERSICHT

Buchbesprechungen

Bernd-M. Beyer Der Mann, der den Fußball nach Deutschland brachte. Das Leben des Walther Bensemann 76 Niklas Luhmann Schriften zur Pädagogik 76 Gert Sommer / Albert Fuchs Krieg und Frieden. Handbuch der Konflikt- und Friedenspsychologie 77 Gerd Hepp / Paul-Ludwig Weinacht Wie viel Selbständigkeit brauchen Schulen. Schulpolitische Kontroversen und Entscheidungen in Hessen (1991-2000) 78 Klaus Kellmann Stalin. Eine Biographie 79 Dieter Oberndörfer Deutschland in der Abseitsfalle. Politische Kultur in Zeiten der Globalisierung 79 Ivan M. Shynkarjov Polnische Außenpolitik als Ansatzpunkt für eine Ostpolitik der Europäischen Union: Das Beispiel der polnisch-ukrainischen Beziehungen von 1989-2002 80 Karl Heinz Neser Politisches Leben im Neckar-Odenwald-Kreis – gestern und heute 136 Dietrich Zitzlaff Es wäre ein Schaden für uns, wenn wir ihn vergäßen – (unter Mitarbeit von Jürgen Walther) Kurt Gerhard Fischer (5. Januar 1928 bis 1. Dezember 2001) 136 Philipp Gassert Kurt Georg Kiesinger 1904-1988. Kanzler zwischen den Zeiten 198 Reinhold Weber / Ines Mayer Politische Köpfe aus Südwestdeutschland 199 Ulrike Siegel „Wie leicht hätte es anders kommen können“. Bauerntöchter erzählen ihre Geschichte 199 Martin Lendi Politikberatung – Nachfrage, Resonanz, Alibi 200 Karin Hunn „Nächstes Jahr kehren wir zurück“ – Die Geschichte der türkischen „Gastarbeiter“ in der Bundesrepublik 265 Rita Süssmuth Migration und Integration: Testfall für unsere Gesellschaft 265 Christoph Butterwege / Gudrun Hentges Massenmedien, Migration und Integration. Herausforderungen für Journalismus und politische Bildung 266 Leonie Breunung / Hubert Treiber Recht als Handlungsressource kommunaler Industrieansiedlungspolitik. Zum Gebrauch und Verzicht von Recht bei ungleicher Machtverteilung: Ergebnisse einer Langzeitfallstudie 267 Hermann Bausinger Der herbe Charme des Landes. Gedanken über Baden-Württemberg 268 Gisela Meister-Scheufelen Die wirtschaftliche Entwicklung von Baden-Württemberg. Daten u. Fakten 269 Tuschoff, Christian Deutschland, Kernwaffen und die NATO 1949-1967. Zum Zusammenhalt von und friedlichem Wandel in Bündnissen 270 Beatrix Müller-Kampel „Krieg ist Mord auf Kommando“. Bürgerliche und anarchistische Friedenskonzepte. Bertha von Suttner und Pierre Rasmus 271

✂ bitte hier abtrennen ✂

Wenn Sie DER BÜRGER IM STAAT abonnieren möchten, erhalten Sie die Zeitschrift für nur a 12,80, vier Hefte im Jahr, frei Haus. Schicken Sie diesen Abschnitt zurück an: Verlagsgesellschaft W.E. Weinmann mbH, Postfach 1207, 70773 Filderstadt. Sollten Sie jeweils drei Monate vor Ablauf des Kalenderjahres nicht abbestellt haben, läuft das Abonnement weiter.

Hiermit erteile ich widerruflich die Abbuchungsermächtigung für den Jahresbezugspreis in Höhe von a 12,80. Name, Vorname bzw. Organisation

Straße, Hausnummer Geldinstitut

PLZ, Ort Konto-Nummer BLZ

Datum, Unterschrift Datum, Unterschrift

Rechtlicher Hinweis: Ich kann diese Bestellung binnen 14 Tagen widerrufen. Zur Wahrung der Frist genügt die rechtzeitige Absendung (Poststempel) an: Verlagsgesellschaft W.E. Weinmann mbH, Postfach 1207, 70773 Filderstadt. Ich habe von meinem Widerspruchsrecht Kenntnis genommen.

Datum, Unterschrift 63 Europa – Einheit und Vielfalt: Dr. Karlheinz Dürr...... -147 64 Frieden und Entwicklung: Wolfgang ...... -140 67 Bibliothek/Mediothek: Gordana Schumann ...... -121 68 Hausmanagement: Erika Höhne ...... -109

LpB-Shops/Publikationsausgaben

Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart Bad Urach Tagungsstätte Haus auf der Alb, Telefax 0711/16 40 99 -77, Service -66 Hanner Steige 1, (Tel. 07125/152-0) * Paulinenstraße 44–46, 70178 Stuttgart, Fax -55 Montag bis Freitag 8–16.30 Uhr [email protected] Direkt-Mails (ohne akad. Titel): Freiburg Bertoldstraße 55 [email protected] (Martina Plajer, Tel. 0761/20773-10) www.lpb-bw.de Dienstag und Donnerstag 9–17 Uhr Telefon Stuttgart: 0711/16 40 99-0 Heidelberg Plöck 22 (Maria Melnik, Tel. 06221/6078-11) Dienstag 9–15 Uhr, Mittwoch und Donnerstag 13–17 Uhr

Stuttgart Stafflenbergstr. 38 Durchwahlnummern (Claudia Kornau, Gertraude Hermann, Tel. 0711/164099-65), Direktor: Lothar Frick ...... 60 Montag und Donnerstag 14–17 Uhr Referat des Direktors: Dr. Jeannette Behringer...... 62 Controlling: Christiane Windeck ...... -11 Redaktion „Der Bürger im Staat“ 1 Querschnittsabteilung Zentraler Service Siegfried Frech, Telefon 0711/164099-44 11 Grundsatzfragen: Günter Georgi (Abteilungsleiter) ...... -10 E-Mail: [email protected] 12 Haushalt und Organisation: Gudrun Gebauer...... -12 Redaktionsassistenz: Barbara Bollinger, 13 Personal: Ulrike Hess ...... -13 Telefon 0711/164099-21, Fax -77 14 Information und Kommunikation: Wolfgang Herterich ...... -14 E-Mail: [email protected] Z 2 Querschnittsabteilung Marketing 21 Marketing: Werner Fichter (Abteilungsleiter) ...... -63 Die Zeitschriften auf CD 22 Öffentlichkeitsarbeit: Joachim Lauk ...... -64 Die Texte vergriffener Hefte auf den Jahrgangs-CDs: „Zeitschriften und Dokumentationen“, 3 Abteilung Demokratisches Engagement Ausgabe 1999/2000 und Ausgabe 2002, 31* Geschichte und Verantwortung: Konrad Pflug (Abt.leiter) ... -31 zu je 2,50 € zzgl. Versandkosten. 32 Frauen und Politik: Beate Dörr ...... …… -75 Sabine Keitel ...... -32 33* Freiwilliges Ökologisches Jahr: Steffen Vogel ...... -35 Bestellungen aller Publikationen 34 Jugend und Politik: Wolfgang Berger ...... -22 (Zeitschriften auch in Klassensätzen) bitte schriftlich an: 35* Schülerwettbewerb des Landtags: Monika Greiner ...... -26 Landeszentrale für politische Bildung, Landespolitik und Landeskunde: Dr. Iris Häuser ...... -52 Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart, Fax: 0711/164099-77 4 Abteilung Medien E-Mail: [email protected] 41 Neue Medien: Karl-Ulrich Templ (stv. Dir., Abt.leiter) ...... -20 oder im Webshop: www.lpb-bw.de/shop 42 Redaktionen Der Bürger im Staat/Didaktische Reihe: Siegfried Frech...... -44 Wenn Sie nur kostenlose Titel mit einem Gewicht unter 43 Redaktion Deutschland und Europa: Jürgen Kalb ...... -43 1 kg bestellen, fallen für Sie keine Versandkosten an. 44 Redaktionen Politik und Unterricht/Landeskundliche Reihe: Für Sendungen über 1 kg sowie grundsätzlich bei Lieferung Dr. Reinhold Weber...... -42 kostenpflichtiger Produkte werden die Versandkosten (Porto, Verpackung, Bearbeitung) berechnet. 5 Abteilung Regionale Arbeit 51 Außenstelle Freiburg, Bertoldstraße 55, 79098 Freiburg: Bitte fordern Sie unsere Verzeichnisse an Dr. Michael Wehner, Tel. 0761/20773-0, Fax -99 oder orientieren Sie sich im Internet www.lpb-bw.de 52 Außenstelle Heidelberg, Plöck 22, 69117 Heidelberg: Dr. Ernst Lüdemann (Abt.leiter), T:. 06221/6078-0, Fax -22 Newsletter „einblick“: www.lpb-bw.de/newsletter 54 Außenstelle Tübingen, Haus auf der Alb, Hanner Steige 1, 72574 Bad Urach, Tel. 07125/152-133, Fax -145 Rolf Müller -135

6 Abteilung Haus auf der Alb Thema des nächsten Heftes: Tagungsstätte Haus auf der Alb, Hanner Steige 1, 72574 Bad Urach, Telefon 07125/152-0, Fax... -100 Das größere Europa (1–2/2007) 61 Natur und Kultur: Dr. Markus Hug (Abteilungsleiter)...... -146 62 Zukunft und Bildung: Robert Feil ...... -139