Gefährdung Steckbrief Schirmherr »Insekt des Jahres 2009« Die Art ist in Deutschland, Österreich und der Schweiz nicht akut ge- Prof. Dr. Michael Succow, Träger des Alternativen Nobelpreises 1997 Die Gemeine Institut für Botanik und Landschaftsökologie der fährdet. Wie sich das Areal von vulnerata in Zukunft entwi- • Auffälliger Vertreter der Schaumzikaden Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald ckeln wird, hängt von verschiedenen Faktoren ab: zu den ungünsti- • In Österreich, Schweiz und vor allem in Süddeutschland Kuratorium Insekt des Jahres gen zählen Intensivierung des Landverbrauchs durch Urbanisierung häufig, v.a. in niedrigen Lagen und im Mittelgebirge, Kontaktadresse: Kuratorium Insekt des Jahres c/o Deutsches Entomologisches Institut, ZALF e.V. Blutzikade und intensivere landwirtschaftliche Nutzung (Ausbreitung von Mäh- in den Bayrischen Alpen bis 1600m; Eberswalder Str. 84, 15374 Müncheberg wiesen), während die Ausbreitung gebietsfremder Nährpflanzen in Norddeutschland vereinzelte Vorkommen Tel. 033432/824700, Fax – 4706, Email: [email protected] wie der Goldrute (Solidago canadensis) und der Klimawandel eine • 9–11 mm groß Prof. Dr. Holger H. Dathe (Müncheberg), Vorsitzender des Kuratoriums, Arealexpansion eher zu befördern scheinen. • Flügel dachförmig, Saugrüssel Editha Schubert, Sekretariat des Kuratoriums • Lebhaft schwarz-rot gezeichnet Deutsche Gesellschaft für allgemeine und angewandte Entomologie Präsident Prof. Dr. Gerald B. Moritz (Halle/Saale) Doppelgänger der Gemeinen Blutzikade • In Mitteleuropa weit verbreitet Entomofaunistische Gesellschaft • Erwachsene Tiere an Weg- und Feldrändern und in Vorsitzender Prof. Dr. Bernhard Klausnitzer (Dresden) ist eine südosteuropäische Art. Ihre Körper- feuchten Wiesen Förderkreis Waldschule e.V., Eberswalde größe beträgt etwa 6–10 mm. Die rote Binde nahe der Flügelspitze • Larven unterirdisch, im Boden, produzieren Schaumnester Herr Thomas Simon (Eberswalde) ist flach, bei Cercopis vulnerata dagegen ist sie stark gebogen. In • Nicht akut gefährdet Landesforstanstalt Eberswalde Mitteleuropa gibt es inselartige Vorkommen an wärmebegünstigten Forstdirektor Prof. Dr. Klaus Höppner (Eberswalde) Standorten bis in die Gebiete nördlich des Mains. Sie ist seltener als Landesverband für Obstbau, Garten und Landschaft Baden-Württemberg, Kreisverband Heidelberg . Cercopis vulnerata Dr. Erich Dickler, Dir. u. Prof. a. D. (Heidelberg) Stellvertretender Vorsitzender des Kuratoriums Münchner Entomologische Gesellschaft Präsident Prof. Dr. Ernst G. Burmeister (München) Museum für Naturkunde der Humboldt-Universität zu Berlin Dr. Joachim Ziegler (Berlin) Naturschutzbund Deutschland, Bundesfachausschuss Entomologie Vorsitzender Prof. Dr. Gerd Müller-Motzfeld (Greifswald) Sparkasse Barnim Vorstand Herr Josef Keil (Eberswalde) Abb. 8 Insekt des Jahres 2009 Österreich Österreichische Entomologische Gesellschaft Haematoloma dorsatum ist ein Einwanderer aus dem Mittelmeer- Naturschutzbund Österreich Univ.-Prof. Dr. Johannes Gepp, Institut für Naturschutz Insekt des Jahres 2009 gebiet, der sich mehr oder weniger kontinuierlich nach Nordosten Heinrichstr. 5, A-8010 Graz verbreitet. Diese Art ist gut unterscheidbar von Cercopis vulnera- Insekt des Jahres 2009 Schweiz ta durch die Färbung des Flügelvorderrandes. Bei den Cercopis- Abb. 10 und Abb. 11: Cercopis vulnerata Schweizerische Entomologische Gesellschaft Arten ist dieser Rand schwarz, bei den Haematoloma-Arten ist er Präsidentin Dr. Denise Wyniger Deutschland · Österreich c/o Natur-Museum Luzern, Kasernenplatz 6, CH-6003 Luzern rot. Haematoloma dorsatum ist mit 6,5–7,5 mm auch kleiner als die Lesetipp Pressesprecher: Dr. Wohlert Wohlers 9 – 11 mm große Cercopis vulnerata. • Remane, R. & E. Wachmann (1993): Zikaden kennenlernen, Schweiz Julius-Kühn-Institut (Braunschweig) beobachten. Naturbuch-Verlag, 1–288. Homepage: http://www.jki.bund.de/insektdj • Nickel, H. (2003): The Leafhoppers and Planthoppers of Flyer - Insekt des Jahres: Germany (, ): patterns and Förderer: Die Herstellung dieses Flyers wurde mit Fördergeldern aus Lottomitteln strategies in a highly diverse group of phytophagous . einer gemeinsamen Aktion des MLUV und der Arbeitsgemeinschaft Natur- und Umweltbildung Brandenburg e.V. unterstützt. Pensoft Publishers, Sofia-Moscow, Goecke & Evers, Keltern, Herausgeber des Faltblattes: Kuratorium Insekt des Jahres 460 pp. Redaktion: Editha Schubert, Dr. Joachim Ziegler Bildnachweis: Titelfoto und Abb. 1, 3, 8, 9: Prof. Dr. Ekkehard Wachmann; Abb. 2: Martin Brosch, Berlin; Abb. 4–7: Prof. Dr. Urs Wyss und Prof. Dr. Hannelore Hoch; Internet: Abb. 10/11: Angela Schwarz, www.insektengalerie.de Text: Prof. Dr. Hannelore Abb. 9 www.entofilm.com/Blutzikade Hoch, Berlin Gestaltung: Thomas Schmid-Dankward, Berlin Kuratorium Insekt des Jahres Das Insekt des Jahres 2009 Die Ökologie Reproduktion und Entwicklung Larvalentwicklung in Schaumnestern Wie alle Zikaden besitzt die Gemeine Blutzikade einen Saugrüssel. Die adulten Tiere können von Anfang Mai bis Mitte Juli, in höheren Bei der Bildung der Schaumnester wirken Morphologie, Physiologie Die Gemeine Blutzikade Nicht etwa, um Blut zu saugen, denn wie alle Zikaden ist auch Lagen von Juni bis Ende Juli beobachtet werden. In dieser relativ und Verhalten in einem energieaufwändigen Prozeß zusammen. Die die Blutzikade ein Pflanzensaftsauger. Die adulten Tiere bevorzu- kurzen Zeit müssen Paarung und Eiablage erfolgen, da Blutzikaden dünn ausgezogenen Seitenränder der Hinterleibsringe, die bei den gen die verschiedensten hochwüchsigen Kräuter und Gräser, wie nur eine einzige Generation pro Jahr hervorbringen. Larven zum Bauch hin umgeschlagen sind, bilden einen Luftkanal, z.B. Glatthafer, Brennessel, Giersch, Lupine, Margerite und Mäde- in den die Atemöffnungen (Stigmen) einmünden. Der Luftkanal ist im süß. Cercopis vulnerata akzeptiert auch gebietsfremde Pflanzenarten Der Paarung geht ein komplexes Werbeverhalten voraus. Wie viele Bereich um den After mit Wachsdrüsen ausgekleidet. Die aus dem als Nährpflanze zumindest der adulten Tiere, z.B. die Kanadische andere Kleinzikaden geben die Männchen akustische Signale ab, After austretende klare Flüssigkeit (überschüssiger Pflanzensaft) Goldrute (Solidago canadensis). Man kann die Tiere auf mäßig die als Vibrationen über die Nährpflanze übertragen werden. Dabei wird in den Luftkanal aufgenommen, wo sie durch spezielle trockenen bis mäßig nassen, besonnten bis halbschattigen Stand- schlagen die Männchen heftig mit Inhaltsstoffe das dort gebildete Wachs verseift. Gleichzeitig wird das orten, v.a. Magerrasen, Weiden, Waldlichtungen, Weg- und Graben- den Flügeln. Die Signale werden Gemisch mit Luft aus den Stigmen kräftig aufgeschäumt, so dass rändern, Hochstaudenfluren (auch subalpin), in lichten Wäldern, mit einem besonderen Organ, das einzelne haltbare Bläschen entstehen. Diese werden durch koordi- sogar in Gärten, aber nur sehr selten auf Mähwiesen, antreffen. beidseits an der Basis des Hinter- nierte Bewegungen der Hinterleibsspitze ausgestoßen und zu einem Abb. 1. leibs liegt, dem sog. Tymbal, er- Schaumnest zusammengefügt. Der Schaum, der in Aussehen und In ihrem natürlichen Lebensraum ist die Gemeine Blutzikade einer zeugt. Es handelt sich dabei um Beschaffenheit an Geschirrspülschaum erinnert, schützt die zarte äfer, Schmetterlinge, Fliegen – diese Insekten kennt jeder. Aber Vielzahl von möglichen Fressfeinden ausgesetzt: Raubwanzen und eine spezialisierte Kutikula-Platte, Larve vor Austrocknung. In Laborexperimenten konnte außerdem K Zikaden? Vielleicht gerade noch die großen Singzikaden, die Raubfliegen, Libellen, Laubheuschrecken, Ameisen, Spinnen, aber die von kräftigen Muskeln in beobachtet werden, dass er die Mundwerkzeuge von potentiellen den Urlaub auf dem Campingplatz am Mittelmeer durch ihren mono- auch Vögeln. Zum Überleben hat sie daher eine raffinierte »Mehr- Schwingung versetzt wird. Abb. 3: Blutzikaden bei der Paarung Räubern, wie z.B. Ameisen und Spinnen, nachhaltig verklebt. tonen Gesang zu einer Nervenprobe geraten lassen. Dabei sind jedoch komponentenabwehr« entwickelt: ihre auffällige Färbung wirkt auf die wenig auffälligen, oft nur wenige Millimeter großen Kleinzikaden, Vögel abschreckend, bei drohender Gefahr scheidet sie außerdem Vereinzelt wurde beobachtet, dass das Männchen die Vorderflügel- zu denen die Blutzikade zählt, auch in Mitteleuropa weit verbreitet aus der Fußspitze Tröpfchen einer übelriechenden, jedoch offenbar spitzen des Weibchens mit den Vorderbeinen betrillert. Ob die (mehr als 800 Arten) und belohnen näheres Hinsehen mit einer un- ungiftigen Flüssigkeit aus (Reflexbluten), so dass dem Räuber so- Weibchen mit Vibrationssignalen antworten, ist unbekannt. Die ei- geahnten Farbenpracht und Formenfülle. fort der Appetit vergeht. Insgesamt ist sie jedoch ein friedliches Tier gentliche Kopulation kann bis zu 5 Stunden dauern. und versucht, ihre Feinde zu meiden: die Jugendstadien sind in ih- Die auffällig rot-schwarz gezeichnete Gemeine Blutzikade, Cercopis ren Schaumnestern verborgen, und die Erwachsenen können sich Bisher konnte noch nie eine Eiablage direkt beobachtet werden. vulnerata, ist ein einheimischer Vertreter der Schaumzikaden (Cerco- durch enorme Fluchtsprünge in Sicherheit bringen. Hier sind die Da sich die Larven von Cercopis vulnerata in den oberen Boden- poidea), die weltweit ca. 2.500 Arten umfassen. Ihren Namen ver- Schaumzikaden Weltmeister unter den Insekten. schichten entwickeln, wird vermutet, dass die Weibchen in das danken die Schaumzikaden einer besonderen Verhaltensweise ihrer Spaltensystem der Bodenschicht kriechen und dort die Eier depo- Larven: diese produzieren eine Schaumhülle, den sog. »Kuckucks- nieren. Die gesamte Larvalentwicklung findet bei der Gemeinen Abb. 4: »Kuckucksspeichel« einer Abb. 5: Blasenbildung aus der speichel«. In Europa kommen 2 Familien der Cercopoidea vor, die Blutzikade im Boden statt. Schon bald nach der Eiablage schlüp- Schaumzikadenlarve Hinterleibsspitze Aphrophoridae (30 Arten) und die (12 Arten). Während fen die Larven, die sich im Laufe der nächsten Monate mehrfach die Larven der Aphrophoridae ihre Schaumnester oberirdisch anle- häuten. gen, bilden die Larven der Cercopidae, zu denen unsere Blutzikade gehört, unterirdische Schaumnester. Blutzikaden überwintern als Larven in der Oberbodenschicht – 10 bis 15 cm tief – in von Wurzeln durchzogenen Erdspalten. Dort Europaweite Verbreitung bilden sie kleine Schaumnester, in denen sie – vor Austrocknung und Cercopis vulnerata ist in ganz Europa verbreitet, mit Ausnahme Fressfeinden geschützt – die gesamte Larvalentwicklung vollziehen. von Irland, Portugal, Weißrussland, der Ukraine, dem europäischen Hier finden sie auch während der Wintermonate Nahrung. Der Ent- Teil der Türkei, Skandinavien und dem Baltikum. Die nördliche wicklungszyklus von Cercopis vulnerata umfasst fünf Larvalstadien, Arealgrenze der Art verläuft quer durch Norddeutschland und hat d.h. die Larve, die aus dem Ei schlüpft, muß sich fünfmal häuten. sich in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich nach Norden hin Die Häutung zur Imago, dem erwachsenen Tier, spielt sich wohl Abb. 6: Durch koordiniertes Aus- Abb. 7: Nach ca. 10–15 Minuten ist ausgeweitet. Die nördlichsten Funde liegen südlich des Nord-Ostsee- ebenfalls unterirdisch ab. Es wird berichtet, dass sich bei frisch ge- stoßen von Blasen entsteht die Schaumzikadenlarve ganz Kanals, der offenbar für die weitere Ausbreitung der begrenzt flug- schlüpften Individuen die schwarz-rote Körperfärbung erst nach ein lockeres Schaumnest von Schaum umhüllt fähigen Tiere eine Barriere darstellt. Abb. 2: Wiese – Typischer Lebensraum der Gemeinen Blutzikade einigen Tagen der Nahrungsaufnahme voll ausbildet.