I. Erfahrungen
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I. Erfahrungen Staatsführung und Militär marschierten im Juni 1941 nicht voraussetzungslos in dieses verbrecherische Abenteuer. Vielmehr waren sie von Erfahrungen geprägt, die bis auf die militärische Besatzungspolitik im Ersten Weltkrieg zurückgingen. Mit den Händen ist dies zu greifen bei der operativen Vorbereitung des Feldzuges, für die 1941 auch umfangreiche Akten aus dem Ersten Weltkrieg herangezogen wurden1. Freilich scheinen es weniger direkte Kontinuitäten, etwa biographischer Natur, gewesen zu sein, die die Besatzungspolitik des Ersten mit der des Zweiten Weltkrieges verbanden. Vielmehr waren es Deutungen, Handlungskonzepte und Erfahrungen, die sich erst im Laufe der Nachkriegszeit im Bewusstsein vieler Militärs niederschlugen2. Diese mittelbare Wirkung von 1914 auf 1941 ist der eine Aspekt, dem hier Bedeutung zukommt, ein Vergleich der beiden Okkupations- phasen in Osteuropa der andere. 1. Besatzung und Gewalt im Ersten Weltkrieg Das Deutsche Reich streckte im Zweiten Weltkrieg nicht zum ersten Mal die Hand in den russischen Raum aus. Imperiale Großraumvorstellungen zirkulier- ten schon seit der Jahrhundertwende unter den deutschen Eliten, kreisten jedoch vor allem um afrikanische und asiatische Besitzungen oder um die Einflussnahme im Osmanischen Reich. Freilich waren diese noch unklar formuliert und fanden ihre Grenzen im europäischen Mächtesystem. Der Erste Weltkrieg schien jedoch neue Großmachtperspektiven in Europa zu eröffnen. Noch zu der Zeit, als es an der Ostfront gar nicht gut für die Mittelmächte aussah, postulierte das berühmte „Septemberprogramm" 1914 Perspektiven wie die Schaffung von Vasallenstaaten im Westteil des Zarenreiches und weitere Annexionen im polnischen Raum. Dieses unverbindliche Programm richtete sich aber vor allem auf Annexion und Dominanz in Westeuropa. Der Krieg sollte mit einem Friedensschluss beendet werden, der - trotz des erwarteten deutschen Sieges - auf Ausgleich bedacht sein musste3. 1 Gerlach, Kalkulierte Morde, S. 128. 2 Vgl., wenn auch weniger politikgeschichtlich orientiert: Reinhart Koselleck, Der Einfluß der beiden Weltkriege auf das soziale Bewußtsein, in: Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militär- geschichte von unten. Hg. von Wolfram Wette. München, Zürich 1992, S. 324-343; Die Erfah- rung des Krieges. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg. Hg. von Nikolaus Buschmann, Horst Carl. Paderborn u.a. 2001, bes. S.261ff. 3 Vgl. Klaus Hildebrand, Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler, 1871-1945. Stuttgart 1995, S.321ff. 26 I. Erfahrungen Deutsche Truppen standen 1941 nicht das erste Mal in Ostgalizien, in Kiew oder Wilna. Während der zwangsweise Marsch, den die Kontingente deutscher Staaten in der Grande Armee Napoleons 1812 nach Russland unternommen hatten, inzwi- schen eher als Folklore im Bewusstsein verankert blieb, waren die Besetzungen aus dem Ersten Weltkrieg durchaus auch noch zwei Jahrzehnte später in Öffentlich- keit und Militär unmittelbar präsent. Den eigentlichen Beginn großräumiger Besatzungsherrschaft im Osten markie- ren die militärischen Offensiven der Mittelmächte im April 1915 nach Kurland und im Mai/Juni 1915 durch Polen. Bis September 1915 waren riesige Gebiete des Zarenreiches erobert, von der Düna im Norden über Wilna, halb Weißrussland und Teile Wolhyniens; erst im Oktober 1917 kam die Großstadt Riga dazu. Das österreichische Galizien ging 1915 wieder an die K.u.k.-Monarchie zurück. Während die zentralpolnischen Gebiete einer Zivilverwaltung unterstellt wur- den, kamen Kurland, Litauen und der Raum Bialystok-Grodno unter die Militär- verwaltung „Ober Ost". Etwa ein Drittel der dortigen Bevölkerung war geflohen, evakuiert oder ums Leben gekommen, sodass fast drei Millionen Personen unter die deutsche Herrschaft fielen. Die Mehrheit dieser Einwohner bestand aus Frau- en, Kindern und älteren Personen4. Die Verwaltung „Ober Ost" war eine Militärverwaltung im reinsten Sinne. Sie unterstand direkt dem Oberbefehlshaber Ost Hindenburg, der zudem 1916 noch Chef der Obersten Heeresleitung wurde. Zivile Instanzen hatten dort kaum etwas zu sagen. Ein vergleichsweise großer Verwaltungsapparat, dessen Personalstärke im Laufe der Zeit zwischen 10000 und 18000 Mann schwankte, regierte diesen Raum von etwa 108 000 qkm. Damit war eine detaillierte Steuerung möglich, for- mell die Durchsetzung der Politik an fast jedem Ort5. Südlich von „Ober Ost" wurde zusätzlich der „Verwaltungsbezirk Ober Ost" eingerichtet, der Wolhynien und Polesien umfasste. Während Ende 1917 noch über die Zusammenfassung dieser Militärverwal- tungen diskutiert wurde, überschlugen sich im Jahr darauf die Ereignisse: Als die Friedensverhandlungen mit den Bolschewiki in Brest Litowsk ins Stocken ge- rieten, begannen die Mittelmächte am 18. bzw. 28. Februar 1918, unter dem Vor- wand einer „Polizeiaktion" gegen den Bolschewismus, mit einem weiteren Vor- marsch nach Norden und in die Ukraine. Bis Ende April eroberten sie im Norden die Reste Weißrusslands und des baltischen Raums, im Süden die Ukraine, die Krim, den Donbogen und die Schwarzmeerküste bis Rostov. Damit war ein Ter- ritorium eingenommen, das vom Umfang her bereits die Eroberungen im Zwei- ten Weltkrieg vorwegnahm, wenn es auch weiter westwärts seine Grenzen fand. Schon 1918 rückte das Erdöl auf dem Kaukasus ins Kalkül der militärischen Füh- rung. Bei der „Operation Blau" des Jahres 1942 sollte es eine zentrale Rolle in der Strategie spielen6. Die Oberste Heeresleitung war jedoch noch nicht zufrieden, 4 Vejas Gabriel Liulevicius, Kriegsland im Osten. Eroberung, Kolonisierung und Militärherr- schaft im Ersten Weltkrieg. Hamburg 2002, S. 33, 46. 5 Liulevicius, Kriegsland im Osten, S. 76ff. 6 Kurt Fischer, Deutsche Truppen und Entente-Intervention in Südrußland 1918/19. Boppard am Rhein 1973, S. 1 Iff.; Liulevicius, Kriegsland im Osten, S.256ff.; Wegner, Krieg gegen die Sowje- tunion 1942/43, S.768f. 1. Besatzung und Gewalt im Ersten Weltkrieg 27 sie entsandte Truppen in den Kaukasus und plante bereits, auf Petrograd vorzu- marschieren. Riesige Territorien sollte die russische Regierung abtreten. An eine dichte mili- tärische Besatzung war, angesichts der zeitgleichen Vorgänge an der Westfront, nicht mehr zu denken. Das deutsche Militär bevorzugte vielmehr einheimische Regierungen unter deutscher Aufsicht, die vor allem eine ökonomische Ausbeu- tung zugunsten des Reiches organisieren sollten. Zwar sollten die ukrainischen Regierungen durchaus stabilisiert werden, um als eigenständiger Machtfaktor ge- gen Russland bestehen zu können. Eine stringente deutsche Politik ist hier aber nicht erkennbar, sieht man vom Bestreben ab, aus der Ukraine ein Maximum an Getreidelieferungen herauszuholen. Freilich zeigt auch die wirtschaftliche Aus- beutung des Landes erhebliche Unterschiede zwischen 1918 und 19417. Versucht man nun, konkrete Vergleichsmomente auszumachen, so zeigen sich Unterschiede und Ähnlichkeiten deutlicher8: Am offensichtlichsten unterschieden sich natürlich die politischen Rahmenbedingungen der deutschen Besatzungspoli- tik im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Bei einem Vergleich der militärischen Besat- zungen beider Weltkriege ist in Rechnung zu stellen, dass sich die Armeen deutlich voneinander absetzten. Die politischen Anschauungen der Soldaten unterschieden sich nicht allzu sehr von denen der Gesamtbevölkerung, d.h. sie waren 1915 und noch mehr 1918 zerklüftet, während die Reichsbevölkerung 1941 in ihrer überwie- genden Mehrheit hinter Hitler stand. Gerade während der Phase maximaler terri- torialer Ausdehnung im Jahre 1918 hatte hingegen die Kriegsmüdigkeit der Solda- ten ihren Höhepunkt erreicht. Dass das Deutsche Reich von 1914/18 sich fundamental vom NS-Staat unter- schied, braucht hier nicht näher erläutert zu werden. Die Konstellation der Ak- teure war quasi spiegelverkehrt: Während die Reichsleitung zwar einen annexio- nistischen Kurs verfolgte, aber insgesamt doch durch politische Rücksichtnahmen eingehegt blieb, vertrat die Heeresleitung und hier insbesondere Generalquartier- meister Ludendorff extremere Positionen der Eroberungs- und Besatzungspolitik. Im Militär war die Tendenz zur Ignorierung des Kriegsvölkerrechts weit stärker ausgeprägt9. Kein Zweifel besteht darüber, dass sich das Reich schon im Krieg von 1914 aus den Bahnen klassischer Außenpolitik löste, dass offen über Annexionen im Osten nachgedacht wurde. Dieses Interesse richtete sich, ähnlich wie dann im Zweiten Weltkrieg, vor allem auf Polen und Teile des Baltikums. Als legitimato- rische Fundierung mussten dazu wieder mittelalterliche Siedlungen Deutscher 7 Klaus Hildebrand, Das deutsche Ostimperium 1918. Betrachtungen über eine historische „Au- genblickerscheinung", in: Gestaltungskraft des Politischen. Festschrift für Eberhard Kolb. Hg. von Wolfgang Pyta, Ludwig Richter. Berlin 1998, S. 109-124; Winfried Baumgart, General Gro- ener und die deutsche Besatzungspolitik in der Ukraine 1918, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 21 (1970), S.325-340; zur Getreideaufbringung 1918: Caroline Milow, Die uk- rainische Frage 1917-1923 im Spannungsfeld der europäischen Diplomatie. Wiesbaden 2002, S.141 ff. 8 Einen kompakten Vergleich bietet Madajczyk, Faszyzm i okupacje, Band 2, S. 636-643; diffe- renziert: Rüdiger Berglen, Vorspiel des „Vernichtungskrieges"? Die Ostfront des Ersten Welt- kriegs und das Kontinuitätsproblem, in: Die vergessene Front. Der Osten 1914/15. Hg. von Gerhard P. Groß. Paderborn u.a. 2006, S.393^08. 9 Vgl. dazu Isabell V. Hull, Absolute Destruction: