DEUTSCHE GESELLSCHAFT FÜR PATHOLOGIE E.V. Seit 1897 – dem Leben verpflichtet

PATHOLOGIE IM WANDEL – BETRACHTUNGEN ZUM 120-JÄHRIGEN JUBILÄUM DER DGP

pathologie-dgp.de

VORWORT

VON PROF. DR. PETER SCHIRMACHER HEIDELBERG, VORSITZENDER DER DGP

Die Deutsche Gesellschaft für Pathologie zählt zu Instituts für Pathologie der Universität Königsberg den ältesten und traditionsreichen medizinischen bis zu Interviews mit Vertretern der heutigen Pa- Fachgesellschaften und wird 120 Jahre alt. thologie. Diese Zusammenstellung hat bewusst nicht den Anspruch eines Kompendiums, aber Dieses kleine Jubiläum ist eine erneute Gele- kann durch die Vielfalt der Beiträge zum Nachden- genheit, im Rückblick einige wichtige, aber auch ken über Rolle und Entwicklung der Pathologie weniger bekannte Aspekte ihrer Entwicklung zu anregen. beleuchten. Dies hat unsere AG ‚Geschichte der Pathologie‘ unternommen und ich danke hierfür Unseren Mitgliedern und Lesern wünsche ich viel allen Beteiligten ganz herzlich. So werden das Spaß bei der Lektüre. Wirken von Johannes Orth, dem Nachfolger Rudolf Virchows, aber auch von Rahel Zipkin, der ersten Ihr Frau, die auf einem Kongress der DGP ihre wis- Peter Schirmacher senschaftlichen Daten präsentierte, beleuchtet. Der Bogen reicht vom Abriss der Geschichte des INHALT 7 | Johannes Orth und sein 43 | Von der Zellular­pathologie Vermächtnis an die Pathologie zur Molekular­pathologie – Rück- schau und Ausblick 33 | Die Geschichte des Lehrstuhls für Pathologie der Medizinischen 53 | Perspektiven der Pathologie in Fakultät der Albertus-Universität Interviews Königsberg

39 | Dr. med. Rahel Zipkin – Die Schicksalsreise einer ausser­ gewöhnlichen Pionier-Pathologin von Minsk über Bern nach Nürnberg JOHANNES ORTH UND SEIN VERMÄCHTNIS AN DIE PATHOLOGIE

VON HANS GUSKI UND KATJA WEBER

6 JOHANNES ORTH · HANS GUSKI UND KATJA WEBER

Im Jahre 1917, also vor 100 Jahren, beging Charité antrat, ging es ihm wie vielen ande- Johannes Orth seinen 70. Geburtstag und wurde ren vor ihm und nach ihm, die aus verschiedenen auf seine Bitte hin vom Amt des Direktors des Ins- inneren und äußeren Beweggründen die Arbeit tituts für Pathologie der Charité Berlin entbunden eines Genius fortsetzen, ohne zu wissen, ob sie ih- und in den Ruhestand versetzt. Deshalb ist es uns ren eigenen und den an sie gestellten Ansprüchen ein Bedürfnis, diesen außergewöhnlichen Patho- genügen können. Diese bestehen nicht nur in der logen angemessen zu würdigen und ihn anlässlich Bewahrung eines schweren Erbes, sondern in neu- des 120-jährigen Jubiläums der Deutschen Gesell- en, ebenbürtigen Leistungen unter veränderten schaft für Pathologie in das Bewusstsein besonders Bedingungen, mit neuen Techniken oder Metho- der jüngeren Pathologen-Generation zurückzuru- den in einer neuen Umgebung mit erhöhten An- fen. Wir wollen Johannes Orth dabei nicht nur als forderungen, so wie es die Zeit und die allgemeine den ersten Nachfolger Rudolf Virchows ehren, son- Entwicklung verlangen. Dies gilt übrigens nicht nur dern an seine in Göttingen und Berlin vollbrachten für die Berufung in eine herausgehobene, führen- großartigen wissenschaftlichen Leistungen in der de Stellung in der Medizin, sondern gleicherma- Tuberkulose- und Krebsforschung und auf anderen ßen für alle Gebiete der Wissenschaft und Kunst, in Gebieten erinnern, die für die klinische Praxis von denen an Nachfolger ihrer prominentesten Vertre- großer Bedeutung waren, kreative Beiträge, die ter gleiche oder noch höhere Maßstäbe angelegt bis heute nachwirken und die ihm deshalb einen werden. festen Platz in der Geschichte der Medizin gesichert Die Geschichte hat gezeigt, dass nicht alle haben. Nachfolger den Herausforderungen, wiederum Im Gegensatz zu Virchow, über den es eine Fül- Neues und Außergewöhnliches zu schaffen, ge- le von Literatur mit zahlreichen Monographien gibt wachsen sind. Nicht wenige haben trotz großer (das umfassendste Werk stammt zweifellos von Anstrengungen und unermüdlichem Fleiß resi- Christian Andree), findet man über den Pathologen gniert aufgegeben und einzelne sind an diesen Johannes Orth nur wenige ausführliche Publikatio- sich selbst gestellten Ansprüchen oder den Er- nen, darunter eine größere Abhandlung von Hanns wartungen der Gesellschaft auch gescheitert. Es Lufft über Orths Zeit in Göttingen (Lufft 1937). Um war nicht damit getan, dem verehrten Vorbild nur diese Lücke zu schließen, verfasste die Mitautorin nachzueifern oder dieses zu übertreffen, sondern dieses Artikels auf Anregung des Autors schon vor ihm vielmehr eine eigene schöpferische Leistung geraumer Zeit unter ihrem Mädchennamen Kat- entgegenzusetzen, die wiederum von der Gesell- ja Klaus eine Dissertation, welche die Leistungen schaft als eigenständiges und unabhängiges Werk Johannes Orths umfassend würdigt (Klaus 2006). wahrgenommen und von den Mitmenschen und Die nachfolgenden biographischen Angaben stüt- der Nachwelt anerkannt wird. zen sich wesentlich auf Orths persönliche Aufzeich- Um die Nachfolge Virchows anzutreten, nungen, die uns seine (inzwischen verstorbene) brauchte es Mut, ein gesundes Selbstbewusstsein Enkelin Annelise Löhe-Vogel dankenswerterweise und ein gehöriges Maß an Vertrauen in die eige- zur Verfügung gestellt hat (Orth 1922). ne Leistungsfähigkeit. Diese Eigenschaften besaß Johannes Orth. Zielstrebigkeit, Fleiß und Disziplin VIRCHOWS NACHFOLGE – waren die Voraussetzungen dafür, dass er bereits EINE HERAUSFORDERUNG 1870, mit 23 Jahren, die Doktorwürde erlangte, das medizinische Staatsexamen an der Universität Als Johannes Orth schon wenige Wochen nach dem Bonn mit „sehr gut“ bestand und ein Jahr später die Tod Rudolf Virchows am 1. Oktober 1902 sein Amt Approbation als Arzt erhielt. Orth war aber nicht nur als neuer Direktor des Pathologischen Instituts der ehrgeizig, sondern auch überaus wissensdurstig;

7 er fühlte sich berufen, mehr aus seinem Leben zu „Als Ortsschultheiß hatte mein Großvater unter den machen als die Nachfolge seines Vaters als Bade- Soldatendurchzügen in den Jahren 1812 bis 1815 arzt in Bad Ems anzutreten, wenngleich zu dessen viel zu leiden, da das Dorf bald so leer gegessen Kurgästen so prominente Persönlichkeiten wie Kö- und getrunken war, dass er mit den fouragieren- nig Wilhelm I. von Preußen gehörten. Die Welt des den und requirierenden Soldaten, deren Forderun- jungen Orth war die Welt der Wissenschaft. Einer gen er nicht erfüllen konnte, die größten Schwie- seiner Lehrer, der pathologische Anatom Eduard rigkeiten hatte und oft genug selbst in seinem Rindfleisch in Bonn, hatte schon frühzeitig dazu Leben bedroht war.“ Insbesondere „sollen einmal beigetragen, sich für diese zu begeistern. Deshalb Kosaken einen solchen Skandal gemacht haben, hielt es ihn auch nicht lange in dem Städtchen dass die Großmutter für sich und ihren kleinen Bonn, obwohl er bei Rindfleisch eine Assistenten- Peter“ (seinen 1812 geborenen Vater) „in so große stelle bekommen und sich bereits zwei Jahre nach Angst geriet, dass sie vom Oberstock den kleinen dem Staatsexamen (1872) habilitiert hatte. Viel- Jungen auf den vor dem Fenster liegenden Mist- mehr zog es ihn nach Berlin, um bei Virchow in die haufen warf, selbst nachsprang und mit dem Kind Lehre zu gehen. Schon zum 1. April 1873 wechselte durch die hintere Hofpforte flüchtete.“ er mit Einverständnis seines akademischen Lehrers Mütterlicherseits stammte er aus einer Würz- und gegen den Willen der Bonner Fakultät unter burger Handwerkerfamilie (der Großvater war Verzicht auf seine Privatdozentur nach Berlin und Hoftischlermeister). Von den Verwandten dieser wurde Assistent bei Virchow, der ihn freundlich Linie wusste er aber wenig, nur mit einer (wie man aufnahm. Die folgenden fünf Jahre sollten ihn damals sagte „rechten“) Schwester und einer Stief- nachhaltig prägen und sein weiteres Leben be- schwester seiner Mutter bestanden engere famili- stimmen. Um in so jungen Jahren (Orth war damals äre Beziehungen. gerade 26 Jahre alt) so weit zu gelangen, musste Johannes war kein Einzelkind, aber der einzi- man schon einiges geleistet haben. Das sollte aber ge Junge. Von den vier Schwestern überlebte nur nur der Anfang einer großen Lebensleistung sein, die älteste Schwester Babette. Sie starb mit 78 Jah- der wir uns chronologisch nähern wollen. ren in Berlin. Deren jüngere Tochter Luise heiratete den Chirurgen Josef Rotter, Chefarzt am St. Hed- KINDHEIT wigs-Krankenhaus in Berlin, der durch die nach UND SCHULE ihm (und William S. Halsted) benannte Operation zur Entfernung von Brustkrebs in die Medizinge- Johannes Josef Orth wurde in einem ungewöhn- schichte eigegangen ist. lich schneereichen Winter am 14. Januar 1847 in In Caub am Rhein besuchte Johannes die einem Bauernhaus in Wallmerod, einem, wie er Volksschule, anschließend in Bad Ems die Real- selbst schreibt, kleinen Städtchen am Fuß des Wes- schule. Der häufige Wohnortwechsel der Eltern terwaldes, im damaligen Herzogtum Nassau ge- beruhte auf der eigenartigen Medizinalverfassung boren und entstammte väterlicherseits einer Bau- des Herzogtums, nach der die Ärzte in der Regel ernfamilie aus Weilbach bei Hochheim im Maingau. Staatsbeamte waren und dorthin versetzt wurden, Der Großvater, an den er sich als kleiner Junge noch wo man sie brauchte. Eine freie Niederlassung gut erinnern konnte, besaß ein Bauerngut, war (meist an einem Kurort) war die Ausnahme. Dazu Ortsvorsteher, damals Schultheiß genannt, und gehörte sein späterer Schwiegervater Dr. v. Ibell in zugleich Chausseegeldkassierer an der durch Weil- Bad Ems, während sein Vater als „amtlicher Brun- bach führenden großen Heer- und Handelsstraße nenarzt“ um 1854 nach Bad Ems versetzt und bald von a. M. nach Mainz, dem Rheingau und darauf auch Medizinalrat wurde. Die nach Mei- Wiesbaden. Orth schreibt in seinen Erinnerungen: nung Orths fortschrittliche Medizinalverfassung,

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die auch den Kranken in den armen Gegenden schwer gelangt wäre. Für die übrigen vier Jahre eine ärztliche Versorgung garantierte, wurde mit musste er ein Zimmer in der Stadt beziehen, weil der Annexion des Herzogtums durch Preußen 1866 der Andrang zukünftiger Geistlicher auf das Kon- aufgelöst, das die Schlacht bei Königgrätz im so- vikt zu groß geworden war und er dieses verlassen genannten Deutschen Krieg für sich entschieden musste. Orth gehörte bald zu den besten Schü- hatte. lern im Gymnasium. In den letzten Jahren konnte In der Schule musste Johannes schon bald öf- er den zweiten Platz erlangen und behaupten. Er fentlich deklamieren. Das machte er offenbar so schätzte besonders den Unterricht in den beschrei- gut, dass kaum ein Jahr bis zum Abgang aus dem benden Naturwissenschaften, gehalten von einem Gymnasium verging, in dem er nicht mehrere Male jüngeren Lehrer, der Physik und Chemie unterrich- öffentlich auftreten musste. Er meinte, dass diese tete, dabei experimentierte und die Schüler in Übung zweifellos für seine spätere Dozentenlauf- Botanik und Zoologie auch mit dem Mikroskop be- bahn von Nutzen gewesen sei. In der Realschule kannt machte. Dieser Unterricht hat, wie Orth spä- wurde großer Wert auf das Erlernen der französi- ter schreibt, die Grundlage für sein Interesse an der schen und englischen Sprache gelegt, weil dies für mikroskopischen Forschung gelegt. Zu Ostern 1866 die örtliche Fremdenindustrie wichtig war. Für La- bestand er das Abiturientenexamen mit der Note 1. tein, das an der Schule nicht gelehrt wurde, musste Das Abitur fiel für alle Schüler sehr günstig aus, was er allerdings Privatunterricht nehmen, den ihm der seinen besonderen Grund darin hatte, dass sich Direktor erteilte. Johannes wurde bald Klasseners- unter den Abiturienten auch der Sohn des Direk- ter und hatte als Primus omnium die Ehre, anläss- tors befand, dem es gelungen war, die Themen für lich der Feier zu Schillers 100. Geburtstag im Jahre verschiedene Fächer herauszubekommen und der 1859 die erste Schaufel Erde auf die zu pflanzende die ganze Klasse an seiner Errungenschaft teilneh- Schiller-Linde werfen zu dürfen. Außerdem betei- men ließ. In seinen Aufzeichnungen bekennt Orth ligte er sich gern an Aufführungen von klassischen ehrlich: „Ob ich ohne diese besonderen Kenntnisse Theaterstücken (Wallenstein, Jungfrau von Orleans, die Note 1 bekommen haben würde, muss dahin- Torquato Tasso), bei denen er „mit Leib und See- gestellt bleiben“. Beim feierlichen Schlussakt hielt le dabei war“. Schauspieler wollte er aber doch sein Schulkamerad Gruber die übliche lateinische nicht werden, vielmehr stand für ihn (und auch für und er die französische Rede mit dem Thema „Les seinen Vater) schon damals fest, dass er das Gym- reports de Louis XIV. avec l’Allemagne.“ nasium besuchen würde, um später Medizin zu studieren. STUDIUM IN HEIDELBERG, WÜRZBURG, Mit 13 Jahren, zu Ostern 1860, kam Johannes MARBURG UND BONN Orth auf das Gymnasium in Hadamar. Während der ersten beiden Jahre wohnte er in dem benachbar- Nach bestandener Reifeprüfung zog Orth zunächst ten bischöflichen Knabenseminar, dem sog. Kon- an die Universität Heidelberg, wo er bei Bunsen vikt, das auch katholische Vollpensionäre aufnahm, Chemie, bei Kirchhoff Physik, bei Pagenstecher die nicht für den geistlichen Stand bestimmt waren. Zoologie, bei Hoffmeister Botanik, bei Arnold Die Anwesenheit von über 200 anderen Jungen al- und Nuhn Anatomie und bei Helmholtz (bei ihm ler Altersstufen half ihm über Heimweh und das allerdings nur als Hospitant) Physiologie hörte. Gefühl von Einsamkeit hinweg, auch wenn er dort Hoffmeister las im Sommer bereits um 6 Uhr. Sein keine Freundschaften schloss. Im Konvikt herrsch- Kolleg wurde „durch botanische Exkursionen in te ein strenges Regime. Hier wurde er an ein ge- die Berge, vor allem aber in die Rheinebene gen regeltes Leben gewöhnt, zu dem er in dem Alter, Mannheim hin“ ergänzt, an denen er „wenn irgend wie er meinte, auf sich allein gestellt sicherlich nur möglich“ teilnahm. Das Kolleg von Pagenstecher,

9 der es durch mikroskopische Demonstrationen heitliche und demokratische Überzeugung nicht bereicherte, besucht er so regelmäßig, dass die- verleugnen. ser auf ihn aufmerksam wurde. Am interessan- Schon in Heidelberg hatte ihn die in den Ver- testen fand er allerdings die Physik-Vorlesungen bindungen herrschende Heuchelei geärgert. So von Kirchhoff, ebenso die von Bunsen, der kleine durften beispielsweise laut Satzung keine Be- experimentelle Scherze liebte „und es z.B. nie stimmungsmensuren geschlagen werden, trotz- versäumte, die neben dem chemischen Institut dem fanden solche Zweikämpfe regelmäßig statt. feilhaltenden Marktweiber zu erschrecken, indem Auch aus diesem Grund kam er gern dem Wunsch er einen Glasbehälter mit Knallgas vor dem Fens- seines Vaters nach, zu Ostern 1867 die Universität ter explodieren ließ“. Der Anatom Arnold war ein zu wechseln. Von Heidelberg ging er nach Würz- höchst eifriger Lehrer, hatte aber den Fehler, nicht burg. Dort hörte er bei Scherer Chemie, führte un- aus freier Hand zeichnen zu können. Die Tafel war ter seiner Leitung chemische und toxikologische stets schon vor der Vorlesung dicht mit Zeichnun- Analysen aus, hörte bei Bezold Vorlesungen über gen bedeckt, sodass der Vorteil, das anatomische Physiologie und beschäftigte sich bei Albert von Bild vor den Augen der Zuhörer entstehen zu las- Kölliker mit mikroskopischer Anatomie. Als Famu- sen, verloren ging. Dagegen war der Anatom Nuhn lus des Prosektors Hasse, des späteren Professors ein guter Zeichner, was ihm besonders beim Unter- der Anatomie in Breslau, musste er sich an den richt in der Knochen- und Bänderlehre zugutekam. Vorbereitungen für die Verlesungen über Kno- Im Verlauf des Sommersemesters 1866 ließ sich chen und Bänder beteiligen. Mit dem Sohn eines Orth durch einen ehemaligen Hadamarer Mitschü- Wiesbadener Zahnarztes, Friedrich Cramer, den er ler bei der Burschenschaft Frankonia einführen, in Würzburg kennen lernte, und der der einzige deren Wahlspruch „Ehre, Freiheit, Vaterland“ war. Kommilitone war, mit dem Orth eine dauerhafte Die Anforderungen, welche die Verbindung an die Freundschaft verband, besuchte er regelmäßig Zeit ihrer Mitglieder stellte, waren durchaus mit den mikroskopischen Kurs Köllikers. Dieser erkann- dem Studium vereinbar, nur sonntags waren der te bald in den beiden, so erinnert sich Orth, fleißi- gemeinsame Mittagstisch und der anschließende ge und strebsame Schüler. Cramer schätzte er als Bummel obligatorisch. In der Woche nutzte Orth vorzüglichen Zeichner, auch von mikroskopischen die Zeit lieber für den Seziersaal als zum gemein- Objekten, und zog ihn deshalb zu seinen Arbeiten samen Mittagessen. am Lehrbuch der mikroskopischen Anatomie her- Den Idealen der Burschenschaft ist Orth zeitle- an (ein Teil der Abbildungen in Köllikers Lehrbuch bens treu geblieben, er verband damit die libera- stammt von Cramers Hand), an Orth dessen kriti- len Prinzipien, die er gegen die zunehmend stärker sche Ader. Orth hat diesem Lehrer später auf seine werdenden antidemokratischen und antisemi- Weise gedankt, indem er sich mit einer größeren tischen Tendenzen der Korps-Verbindungen ver- Abhandlung über „Entstehung und Vererbung in- teidigte. Der schon in seiner Studienzeit spürbare dividueller Eigenschaften“ an einer Festschrift für Nationalismus und Antisemitismus erreichte in den Kölliker beteiligte, die 1887 erschienen ist. Beschlüssen des Eisenacher Burschentages 1920 Als im 4. Semester das Physikum (schon da- einen traurigen Höhepunkt. Da ein (von einem Dr. mals auch als 1. Staatsexamen bezeichnet) näher Wehberg) verfasster Aufruf gegen die Eisenachter kam, bereiteten sich Cramer und Orth gemeinsam Beschlüsse bei den aktiven Burschenschaften wir- darauf vor. Da die Studenten aber zu dieser Zeit kungslos blieb, erklärte Orth seinen Austritt aus kein für Preußen gültiges Examen ablegen konn- der Verbindung. Die vom norddeutschen Ehrenrat ten, sondern dafür eine preußische Universität auf- geforderte Zurücknahme seiner Austrittserklärung suchen mussten, gingen beide nach Marburg, wo lehnte er ab; er konnte und wollte seine frei- Cramer schon eine Zeit lang studiert hatte. Beide

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wurden angenommen und legten Ostern 1868 die So verwundert es nicht, dass Johannes Orth nach Prüfung bei ihnen völlig unbekannten Examinato- Beendigung seines Militärdienstes mit Beginn des ren ab. Deshalb waren sie froh, das Physikum mit Wintersemesters 1871/72 wieder im Institut tätig der Note „Gut“ bestanden zu haben, nicht so Orths war und mit der Vorbereitung für die Habilitations- erfolgsverwöhnter Vater. Nachdem er ihm aller- arbeit, der eine experimentelle Untersuchung über dings die schwierigen Umstände geschildert hatte, das Erysipel zugrunde lag, begann. Nach Fertigstel- unter denen die Prüfung stattfand, war dieser wie- lung der Schrift meldete er im Herbst 1872 einen der versöhnt. vor der Fakultät zu haltenden Vortrag über eine Die klinischen Semester verbrachten die „Mikroskopische Untersuchung zur Entstehung von Freunde an der Universität Bonn. Sie fühlten sich Krebsmetastasen in Lymphdrüsen“ und einen öf- von dem Pathologischen Anatomen Eduard Rind- fentlich zu haltenden Vortrag zum Thema „Normal fleisch am meisten angezogen, der „mit glänzen- und Pathologisch“ an. Am 26. Oktober 1872 erteil- der Beredsamkeit und vor Begeisterung strahlen- te ihm die Fakultät die Venia Legendi für pathologi- den Augen ganz seinem Gegenstand hingegeben“ sche Anatomie. zu ihnen sprach. Beide arbeiteten in seinem In- In einer Rückschau auf die ersten drei Berufs- stitut fleißig an ihrer Dissertation. Bereits am 26. jahre Orths schreibt sein späterer Nachfolger in Februar 1870 erlangte Orth mit seiner Arbeit zur Göttingen (1928 – 47), Georg B. Gruber: „Er hat es „Untersuchung über Lymphdrüsen-Entwicklung“ sich Mühe kosten lassen, Dozent zu werden; das die Doktorwürde. Der Krieg mit Frankreich durch- bezeugt eine Reihe von Mitteilungen, die in kurzer kreuzte dann zunächst die das Staatsexamen be- Zeit hintereinander erschienen; sie sind durchaus treffenden Pläne. Orth wurde in ein Bonner Re- beachtlich, vor allem deswegen, weil sie Orths servelazarett abkommandiert und blieb entgegen Neigung zu sorgfältiger ätiologischer Betrach- seinem Wunsch in der Heimat. Als ihm klar wurde, tungsweise erkennen lassen.“ Er zählt an dieser dass er „kriegerische Lorbeeren nicht ernten sollte“, Stelle Orths Arbeiten aus jener Zeit im Einzelnen versuchte er aus der Not eine Tugend zu machen, auf (Gruber 1936). lernte für die Abschlussprüfungen und meldete sich im Herbst 1870 zum Staatexamen an, das er LEHRJAHRE BEI VIRCHOW mit der Note 1 abschloss. Seine Approbation als Arzt erhielt er allerdings erst am 18. März 1871. Bei einem Aufenthalt am Pathologischen Institut Bereits vor dem Doktorexamen bot Rind- der Charité in Berlin während der Osterferien im fleisch, der bis dahin keinen einzigen Assistenten März 1873 lernte Johannes Orth hatte, Orth eine Assistentenstelle mit der Aussicht kennen, von dessen Art zu unterrichten er sogleich auf eine Privatdozentur an, die er nach Rückspra- gefesselt war. Deshalb nahm er das unerwartete che mit seinem Vater annahm. Die Anstellung Anerbieten Virchows, schon am 1. April als Assistent konnte aber erst erfolgen, nachdem er im Febru- in sein Institut einzutreten, mit Einverständnis sei- ar die Doktorwürde erworben hatte; die Promoti- nes Chefs Rindfleisch an, allerdings unter Preisga- on wurde deshalb zum 1. Januar 1870 vordatiert. be seiner Privatdozentur. Die Bonner Fakultät sah Damals musste das mit Prüfungen verbundene das mit Unwillen und versuchte sogar zu verhin- Doktorexamen noch vor dem Staatsexamen ge- dern, dass Orth aus Bonn wegging. Wenn der da- macht werden. Dieses war einer der Gründe dafür, malige Bonner Dekan, der Physiologe Pflüger, al- dass sich die der Wissenschaft zugewandten Ärzte lerdings meinte, so berichtet Orth später, „es wäre frühzeitig, oft schon zwei Jahre nach dem Staats- bequemer, zu Virchow nach Berlin fortzulaufen, so examen habilitieren und dadurch in jungen Jahren irrte er“. Die Anforderungen im Institut und die wis- in leitende Stellungen berufen werden konnten. senschaftliche Konkurrenz waren in Berlin weitaus

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12 JOHANNES ORTH · HANS GUSKI UND KATJA WEBER größer. In einem Brief vom 11. Mai 1873 äußert Jahr 1875 fällt auch eine Beschreibung über das sich Orth dazu wie folgt (Orth 1922): Vorkommen von Bilirubinkristallen bei Neugebo- „In Bonn war ich allen persönlich bekannt, renen. Mit dieser Kasuistik gilt Orth als Entdecker man wußte was ich leistete und hörte stets von des neonatalen Kernikterus, wenngleich dieses Rindfleisch, daß er sehr zufrieden mit mir sei. Hier Verdienst wohl eher Jean Baptiste Baum (Erstbe- liegen die Verhältnisse ganz anders. Man legt vor schreibung 1785) oder Jaque Francoir Hervieux allen Dingen einen ganz anderen Maßstab an bei zustehen sollte, der dazu 1847 eine Doktorarbeit der Beurteilung von wissenschaftlichen Leistun- an der Universität von Paris verfasst hatte. Georg gen.“ Und weiter: „Hier dagegen sitzen die Leute Schmorl stellte dieses Krankheitsbild erst 1903 an- dutzendweise, die genau dieselbe Spezialität be- hand einer Studie an 120 Autopsiefällen bei einer arbeiten wie der andere, die aber auch ganz genau Tagung der Deutschen Gesellschaft für Pathologie darin bewandert sind und sich nicht im mindesten vor, in der auch Orth zugegen war (Hansen 2000). darum kümmern, ob einer fleißig gearbeitet hat, Durch die Beförderung zum ersten anatomischen sondern nur nachsehen, ob einer nicht irgendwo Assistenten sah sich Orth genötigt, die geplante sich eine Blöße gegeben hat wo man ihn fassen Hochzeit um ein halbes Jahr zu verschieben. Das und womöglich recht schlecht machen könnte. wurde aber in Kauf genommen, „zumal bei der Kurzum hier ist die Concurrenz in wissenschaft- nunmehr in Aussicht stehenden guten Curs-Ein- lichen Dingen in ihrer Blüte und jeder wird von nahme auch für das künftige Familienleben eine dem anderen mit Mißtrauen angesehen – weil er sichere materielle Grundlage gegeben war.“ An- ja Concurrenz sein könnte!“ In einem Brief vom 7. fang 1874 drohte aber ein neues Ereignis, den Juli 1873 schreibt er an seine Braut: „Ich sage Dir Du Hochzeitstermin umzustoßen. Karl Köster, der an wirst staunen wie man sich hier im schönen Berlin die Stelle des nach Würzburg berufenen Rind- verändern kann! Alle Gutmütigkeit und Sanftmut fleisch nach Bonn berufen worden war, hatte wohl geht hier pleite – wenn man überhaupt welche die Absicht gehabt, Orth für seine Nachfolge in Gie- hatte; militärische Strenge in allen Dingen – es ist ßen vorzuschlagen. Virchow wollte jedoch Orth zu schlimm.“ diesem Zeitpunkt noch nicht freigeben. Orth wollte Als Virchows erster anatomischer Assistent ihm das erst übelnehmen, gab ihm aber später da- Emil Ponfick, mit dem Orth auf gutem Fuße stand, rin recht, dass seine Ausbildung damals noch nicht zum Oktober 1873 nach berufen wurde, abgeschlossen war. So heiratete er im April 1874 rückte er an dessen Stelle auf. Zu seinen Aufgaben endlich seine Jugendfreundin Charlotte von Ibell, gehörte die schwere Arbeit in der Sektionsabtei- die er von Kindesbeinen an kannte. Orth weilte als lung (5 Sektionen an einem Tag waren, wie Orth Schüler oft im Hause des Medizinalrats Dr. v. Ibell, in einem Brief vom 13. Juli 1873 an seine Verlob- weil dessen ältester Sohn sein Klassenkamerad te in Bonn berichtet, keine Seltenheit, sogar nach war; der Schwager wurde später Oberbürgermeis- einem Sonntagsausflug nach Französisch-Buch- ter von Wiesbaden. holz, von dem die Gesellschaft erst um 1 Uhr nachts heimkehrte) und das Abhalten von normalhisto- BERUFUNG AUF DEN LEHRSTUHL IN GÖTTINGEN logischen Kursen. Die pathologischen Demonst- rationen waren zu dieser Zeit noch Virchow selbst In Frühjahr wurde Emil Ponfick von Göttingen nach vorbehalten. In kurzer Zeit erschienen auch eige- Breslau berufen. Für den dadurch frei gewordenen ne wissenschaftliche Arbeiten, darunter 1875 die Lehrstuhl empfahl Virchow wärmstens den 31jäh- erste Veröffentlichung „Ueber Tuberkulose“ und rigen Orth, doch Virchows Empfehlung fand sich zwei Bücher für Studenten, auf die im Rahmen sei- unter den Vorschlägen der Fakultät an das Minis- ner Lehrtätigkeit näher eingegangen wird. In das terium nicht wieder. In Göttingen wurden Zweifel

13 geäußert, was von Virchow schon Gutes kommen che seiner Frau in Anspruch zu nehmen.“ Im Jahre könne und sogar von „abgelegten Berliner Assis- 1882 wurde Orth gemeinsam mit Jakob Henle als tenten“ war die Rede. Virchow hingegen ermutig- Vertreter der Universität Göttingen zur 300-Jahr- te Orth und meinte, dass dieser keine Veranlassung feier der Universität Würzburg delegiert. Ein noch habe, die für sein Leben so entscheidende Beru- größerer Beweis des Vertrauens, das sich Orth bei fung auszuschlagen, zumal die Regierung nicht an der Universität erworben hatte, war seine Wahl die Vorschläge der Fakultät gebunden sei. Damit zum Prorektor der Universität für die Zeit 1890/91. sollte er recht behalten. Das preußische Kultusmi- Außerdem wurde er für die Jahre 1892/93 und nisterium ernannte Orth zum ordentlichen Profes- 1898/99 zum Dekan der medizinischen Fakultät sor für Allgemeine und Pathologische Anatomie in gewählt. Göttingen und schmetterte auch den Einspruch der Das Jahr 1891 wurde für Orth insofern bedeu- Fakultät ab. Orth trat zum 1. April 1878 sein Amt an, tungsvoll, als er in diesem Jahr das neu erbaute wohl wissend, dass er bei den Fakultätsmitglie- Institut in Besitz nehmen konnte, das maßgeblich dern einen schweren Stand haben würde. Auch das nach seinen Plänen errichtet worden war. Danach sollte sich bewahrheiten. begannen erfreuliche Zeiten für Orths Lehr- und In Göttingen fand Orth ein klägliches klei- Forschungstätigkeit. Für die Gestaltung des Un- nes Institut vor, das im Hofgebäude des Ernst-Au- terrichts, so wie Orth ihn für notwendig erachtete, gust-Hospitals (ehemaliges Heilig-Geist-Spital) un- war nun genügend Platz vorhanden. Zahlreiche tergebracht war, einen Berg von Schulden und die Schüler aus aller Welt kamen zu ihm an das Institut. Ablehnung der Kollegen. Er ging trotzdem unbeirrt Die Reihe angesehener Pathologen und bekann- an die Arbeit und, wie sein späterer Schüler und ter Kliniker, die in Göttingen durch seine Schule Assistent Wilhelm Ceelen, ab 1928 Direktor des Pa- gingen, ist lang. Die wissenschaftliche Arbeit, die thologischen Instituts in Bonn, schrieb, „entfaltete schon in den engen Mauern des alten Instituts un- … eine Tätigkeit, wie sie nur ein Mann von eiserner ter schwierigen Bedingungen betrieben worden Disziplin, von größtem Fleiß und von einer tiefein- war, setzte in noch stärkerem Maße ein. Mehr denn gewurzelten Liebe zu seinem Fach leisten kann.“ je war allerdings auch der sparsame Wirtschafter Orths Stellung in Göttingen festigte sich von Se- Orth gefragt. Viel Kraft kostete allein der Kampf mester zu Semester. In seinen biografischen Noti- um die Durchsetzung der finanziellen Belange des zen schreibt er 1922, dass sich die Festigung seiner Instituts. Für seine Verdienste wurde Orth 1896 der Stellung innerhalb der Fakultät u.a. darin zeigte, Titel eines Geheimen Medizinalrats verliehen. „dass ein Sohn von Fakultätsgenossen nach dem An dieser Stelle soll auch daran erinnert wer- anderen sein Assistent wurde, erst Adolf Henle, der den, dass der Göttinger Ordinarius an der Grün- jetzige Chirurg in Dortmund, dann Fritz König, der dung der Deutschen Pathologischen Gesellschaft jetzige Direktor der chirurgischen Klinik in Würz- am 20. September 1897 in Braunschweig unter burg, dann Ernst Meyer, jetzt Ordinarius für Psychi- dem Vorsitz ihres ersten Präsidenten Rudolf Vir- atrie in Königsberg i/Ostpreußen. Auch Professoren chow aktiv beteiligt war und dass der Name dieser anderer Fakultäten vertrauten mir ihre Söhne an, so ersten Vereinigung deutscher Pathologen auf Orth hat z.B. der junge Ritschl, jetzt Professor für ortho- zurückgeht. pädische Chirurgie in Freiburg i/Br. eine sehr gute Eine Fülle wissenschaftlicher Arbeiten, die das Doktorarbeit über Heilung von Operationswunden Wissen auf vielen Gebieten der Medizin bereicher- im Magen unter meiner Leitung verfertigt.“ Auch ten, zeugt von der unermüdlichen Schaffenskraft der Gynäkologe Schwartz (der ihm anfänglich sehr Orths über ein Vierteljahrhundert in Göttingen. Lufft überheblich entgegengetreten war) „konnte nicht schreibt in seiner Dissertation über die pathologi- umhin, meine Hilfe zur Feststellung der Todesursa- sche Anatomie unter dem Direktorat von Johannes

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Orth: „Von hier aus gingen seine grundlegenden Pathologie bekannt geworden), wohl wissend, Arbeiten über Tuberkulose hinaus und ließen alle dass der angefangene Neubau des Pathologischen an diesem Gebiet Interessierten aufhorchen“ (Lufft Instituts von kundiger Hand weitergeführt und 1937). Das Thema Tuberkulose sollte ihn Zeit seines vollendet werden musste. Wäre die Entscheidung Lebens beschäftigen. anders ausgefallen, hätte sich die Fertigstellung Aus der Göttinger Zeit stammt weiterhin sein des Instituts wohl noch weiter verzögert, denn groß angelegtes, leider nicht vollendetes „Lehr- Ziegler starb bereits 1905 an einem Herzinfarkt. buch der speziellen pathologischen Anatomie“ Orth übernahm die schwere Aufgabe, Vir- (1. Band 1887, 2. Band 1893), zu dem er auch Spe- chows Erbe anzutreten und war sich dessen be- zialisten anderer Fachrichtungen zur Mitarbeit he- wusst, dass er in allem, was er nunmehr tun musste rangezogen hatte. Je ein Ergänzungsband stammt und wollte, an Virchow gemessen werden würde. von dem bekannten Dermatologen Paul Gerson Er war bei seiner Berufung nach Berlin immerhin Unna und dem Ophthalmologen Richard Greeff. schon 55 Jahre alt, während Virchow den 1856 neu Weit über Göttingen hinaus hatte Orths Name bald geschaffenen Lehrstuhl mit 35 Jahren übernom- einen guten Klang. Sein guter Ruf trug mit dazu bei, men hatte, zu einem Zeitpunkt, als er im Begriff dass Göttingen auch für die klinischen Semester zu war, die in Würzburg erarbeiteten Grundlagen für einer beliebten Universität wurde. seine Zellulartheorie allgemein publik zu machen, mit der er bald berühmt wurde. ORTH ALS DIREKTOR UND Warum Johannes Orth die Berufung, sicherlich BAUMEISTER IN BERLIN nach reiflicher Überlegung, annahm, lässt sich nur mutmaßen. Zum einen war es eine außerordent- Nach dem Tod von Rudolf Virchow am 5. Septem- liche Ehre, dass man ihm dieses Amt angetragen ber 1902 wurde Johannes Orth berufen, schon hatte. Zum anderen war ihm Virchow nicht nur zum 1. Oktober die Amtsnachfolge anzutreten. Als Lehrer, sondern stets auch Ansporn gewesen. Fest- klar war, dass sich Virchow von den Folgen eines steht, dass er den Meister, der seine Assistenten im Januar 1902 erlittenen Sturzes (beim Ausstei- durch sein systematisches Beobachten und metho- gen aus einer Straßenbahn), bei dem er sich eine disches Denken, seine bis ins Kleinste gehenden Oberschenkelhalsfraktur zugezogen hatte, nicht Untersuchungen, ohne dabei den Blick auf das wieder erholen würde, hatte die medizinische Fa- Ganze zu verlieren, nachhaltig beeindruckte, seit kultät Ende Juli mit Beratungen über seinen Amts- seinen Berliner Assistentenjahren verehrte. Diese nachfolger begonnen und an erster Stelle Felix Verehrung äußerte er nicht nur allgemein, son- Marchand in Leipzig, ebenfalls ein Virchow-Schüler, dern später, als kaum mehr daran zu denken war, vorgeschlagen. Dieser lehnte das Angebot aber Virchows Nachfolger zu werden, aus besonderem ab, weil er fürchtete, dass seine Kräfte nicht mehr Anlass auch öffentlich. Bei einer Feier zur Vollen- ausreichen würden, „ein so verantwortungsvolles dung des 150. Bandes des berühmten „Archivs“ im und mit vielen Schwierigkeiten verbundenes Amt Oktober 1897 hielt er beispielsweise in Gegen- mit gutem Gewissen übernehmen zu können.“ Da- wart Virchows eine Tischrede, in der er im Namen raufhin wurde der nur ein Jahr jüngere Orth auf der engeren Virchow-Schüler seiner Verehrung für den Berliner Lehrstuhl berufen. Die Fakultät gab Virchow Ausdruck verlieh (Orth 1921). Die Heraus- ihm damit den Vorzug vor dem Schweizer Patholo- forderung, dem Meister, der, wie Orth betonte, ih- gen Ernst Ziegler (Ziegler, Jahrgang 1849, damals nen nie das jurare in verba magistri, sondern das Ordinarius in Freiburg im Breisgau, war besonders selbständige wissenschaftliche Arbeiten und das durch seine seit 1884 herausgegebenen Beiträge Streben, durch eigenes Forschen und Denken die zur pathologischen Anatomie und zur allgemeinen Wahrheit zu ergründen, gelehrt hatte, etwas zu-

15 Das neue Pathologische Institut in Göttingen (Baubeginn Sommer 1889, Einweihung Ende 1891, Baukosten 213.550 Mark)

Schnittplan des Hauptgebäudes im Pathologischen Institut

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rückzugeben, und darüber hinaus den vielfach ge- rialdirektor meiner Einladung gefolgt. Als die Zeit rühmten Virchowschen Geist noch ein Stück weit in gekommen war, erhob sich der Herr Minister zu die Welt zu tragen, mögen auch ein Beweggrund einem Trinkspruch – auf den Gastgeber, auf den In- dafür gewesen, die Bürde der Nachfolge auf sich stitutsdirektor – beileibe nicht, sondern auf die me- zu nehmen. dizinische Fakultät, die er zu dem schönen neuen Orth musste bei seinem Amtsantritt sogleich, Institut beglückwünschte! Höchstes Erstaunen auf wie einer seiner späteren Nachfolger, Louis-Heinz allen Gesichtern! Und schon erhob sich der Dekan Kettler, schreibt, „nicht nur die vielfältigen Aufga- der medizinischen Fakultät, Prof. Rubner, um zu er- ben eines Institutsdirektors, sondern auch die Bür- klären, daß die Fakultät natürlich erfreut sei, daß de des weiteren Baues des Instituts übernehmen“ eines ihrer Mitglieder ein so schönes neues Institut (Kettler 1960). Von dem unter Virchow begonne- habe, aber ihr komme dabei gar kein Verdienst zu, nen Neubau des Pathologischen Instituts war erst sondern dies habe sich einzig und allein der Insti- das Pathologische Museum fertiggestellt, das am tutsdirektor erworben usw. wie es das Gegebene 27. Juni 1899 von Virchow eingeweiht worden war. war. Ein bissiger Spaßvogel hat später einmal die Hauptgebäude und Obduktionshaus waren da- Äußerung getan, der Herr Minister sei nicht ein Kul- gegen gerade erst in Angriff genommen worden. tusminister, sondern ein Stultusminister, worauf Orth vollendete den Bau in Virchows Sinne, jedoch Excellenz aufs höchste entrüstet waren!“ nach von ihm abgeänderten und teilweise neu Das neue Institut war das größte und mo- erstellten Plänen. Die feierliche Einweihung des dernste Pathologische Institut seiner Zeit. Im Zu- neuen Instituts fand am 10. Juni 1906 statt. Dazu sammenhang mit dem Neubau nahm Orth auch schreibt Orth wörtlich folgendes (Orth 1922): Änderungen in der Organisation des Instituts vor „Ich hatte zu der Feier zahlreiche Einladungen und baute die Gliederung des Instituts in Spezial- ergehen lassen, denen auch von einer großen Zahl abteilungen weiter aus. Außerdem widmete er Folge geleistet wurde, u.a. auch von dem Herrn sich der Neuordnung des Unterrichts. Insbesondere Kultusminister mit seinem Ministerialdirektor Nau- führte er gesonderten Unterricht in Pathologischer mann. Wir versammelten uns in dem alten Institut, Physiologie ein, den es bis dahin in Deutschland wo ich in dem langjährigen Hörsaal Virchows Ab- noch nicht gegeben hatte. Auf allen Gebieten der schiedsworte für das alte Haus sprach. Darauf zog Pathologie sollte nach dem Anspruch Orths nicht die Festgesellschaft in das neue Institut, wo ich im nur geforscht, sondern auch unter Anwendung al- Demonstrationssaal des Leichenhauses an Hand ler modernen Hilfsmittel Unterricht erteilt werden. projezierter Pläne die Einrichtungen des neuen Fünfzehn Jahre lang war Orth „ein treuer Hüter und Hauses bzw. der neuen Häuser erläuterte. Ich ge- Mehrer“ von Virchows Erbe (Ceelen 1923). Gäste stehe offen, daß ich erwartete, daß mir nunmehr aus aller Welt kamen wie zu Virchows Zeiten an seitens des Herrn Ministers einige Worte des Dan- das Institut. Auch um , dessen Her- kes für die außergewöhnliche Mühewaltung, die ausgabe er übernommen hatte, machte er sich ver- mir die Planung, Bauüberwachung, Einrichtung dient. Neben seiner Lehr- und Forschungstätigkeit des großen Instituts verursacht hatte, ausgespro- widmete Johannes Orth sich einer Reihe anderer chen würden, es wurden auch einige Orden bzw. Aufgaben, wobei eine ungeheure Anzahl von ihm Ehrenzeichen an das Institutspersonal verteilt – verfasster Obergutachten hervorgehoben werden meiner wurde mit keiner Silbe gedacht. Aber es soll; die diesbezüglichen Angaben variieren zwi- sollte noch merkwürdigeres geschehen! Ich per- schen 2350 (Ceelen 1923) und 1538 (Lubarsch sönlich hatte, natürlich ganz auf meine Kosten zu 1930). einem Festmahl im Hotel Savoy eingeladen und Die medizinische Fakultät wählte Orth 1904 wieder war der Herr Minister mit seinem Ministe- und 1912 jeweils für das nächste Studienjahr zum

17 Dekan. Seine Kollegen in der Fakultät schätzten ihn jährlich Zehntausende dahin. Das andere Thema besonders wegen seiner profunden Sachkenntnis galt der unheilbaren Krebskrankheit. Um die Fort- und nüchternen Sachlichkeit. Im Jahr 1906 wurde schritte, die auf diesen Gebieten auch durch Orth Orth als ordentliches Mitglied in die Königliche seit den 1870er Jahren gemacht wurden, beurtei- Preußische Akademie der Wissenschaften ge- len zu können, muss man etwas näher darauf ein- wählt. Wie zuvor schon in der Göttinger Königli- gehen. chen Gesellschaft für Wissenschaften, der er seit Am Anfang seiner wissenschaftlichen Lauf- 1893 angehörte, war er auch in Berlin der erste, bahn war über die Ursachen der Infektionskrank- der in seiner Eigenschaft als Pathologe in diese heiten noch keine Einigung erzielt. Die Tuber- wissenschaftliche Körperschaft aufgenommen kulose wurde überwiegend als nicht infektiös wurde (Virchow wurde diese Ehre als Anthropolo- angesehen. Obwohl Jean-Antoine Villemin bereits ge zuteil). Von 1907 bis 1921 war er Vorsitzender 1865 mit seinen Versuchen die Übertragbarkeit der des Deutschen Zentralkomitees zur Erforschung Tuberkulose bewiesen hatte, blieb die antikonta- und Bekämpfung der Krebskrankheit. Lange Jah- gionistische Auffassung in Wissenschaftskreisen re hindurch hatte er das Amt des Vorsitzenden der weiter dominierend. Zu den Befürwortern dieser Berliner Medizinischen Gesellschaft inne. Gegen Auffassung gehörte auch Virchow. Er zählte die Tu- seinen Willen wurde ihm immer wieder diese Aus- berkulose zu den neoplastischen Bildungen, sah zeichnung angetragen und als er aufgrund seiner sie also als endogen bedingt und somit als nicht schweren Krankheit das Amt nicht weiter ausüben ansteckend an. In diesem einen Punkt stimmte konnte, wurde er einstimmig zum Ehrenvorsit- er mit einem anderen großen Forscher, mit René zenden gewählt. Orth war außerdem Mitglied der Laënnec, überein, zu dessen Lehre er ansonsten in wissenschaftlichen Deputation für das Medizinal- scharfem Widerspruch stand. wesen und des Reichsgesundheitsrats. Er gehörte Laënnec, der bei seinen Untersuchungen noch der New York Academy of Medicine und der Reale nicht das Mikroskop zur Hilfe genommen hatte, Accademia dei Lincei (Rom) an, war Ehrenmitglied fasste 1819 Tuberkulose und Phthise als einheitli- der Academy of Science (St. Louis) und des Institute ches Krankheitsgeschehen auf und vertrat die Uni- of Hygiene (London). tät von knotigen und verkäsenden Manifestatio- nen. Wichtigstes Kennzeichen der Tuberkulose war JOHANNES ORTH UND DIE ERFORSCHUNG für ihn der Vorgang der Verkäsung. Dagegen trenn- DER TUBERKULOSE te Virchow die Tuberkulose streng von der Phthise, unterschied zwischen entzündlichen und neoplas- Als Orth die Nachfolge Virchows antrat, hatte er tischen Vorgängen, zwischen käsiger Pneumonie sich in der wissenschaftlichen Welt durch grund- und Tuberkel. Nicht die Verkäsung betrachtete er legende Forschungsarbeiten längst einen Namen als das Charakteristische für die Tuberkulose, son- gemacht. Wie vielen ungelösten Problemen sein dern nur dann dürfe von Tuberkulose gesprochen Interesse galt, kann man seinen zahlreichen Pub- werden, wenn Tuberkel, knötchenförmige Neubil- likationen entnehmen, jedoch kristallisierten sich dungen, vorhanden wären. Diesen Standpunkt der schon frühzeitig zwei Schwerpunkte heraus. Das Dualität der Krankheitsformen sollte Virchow bis zu eine Thema galt der Erforschung der besonders in seinem Tode, also auch lange nach der Entdeckung der 2. Hälfte des 19. Jahrhundert grassierenden Tu- des Tuberkuloseerregers, nicht verlassen. berkulose. Diese raffte zu einer Zeit, als die Bevöl- Als vorteilhaft sah es Orth an, so berichtet kerung sich vervielfachte und die Menschen in die Wolfgang Heubner, „daß er zwei Lehrer gehabt Städte zogen, vor allem aufgrund der Armut und hatte und davor bewahrt blieb, sich auf eine Schul- unglaublich schlechten hygienischen Verhältnisse, meinung festzulegen“ (Heubner 1923). Bereits

18 JOHANNES ORTH · HANS GUSKI UND KATJA WEBER durch seinen ersten Lehrer Rindfleisch wurde sein Tuberkulose noch immer einen morphologischen Interesse für die Tuberkulose geweckt. Gerade zu Begriff dar, der eine Erkrankung bezeichnete, bei der Zeit, als Orth bei ihm Assistent war, befasste der Tuberkel entstehen. Daher akzeptierte Virchow sich dieser mit Studien zur Lungentuberkulose. Im auch nur dann die Diagnose Tuberkulose, wenn Gegensatz zu Virchow verstand er die Tuberkulose Tuberkel vorhanden waren. Doch inzwischen hatte jedoch als eine spezifische Entzündung und er- die alte morphologische Bezeichnung einer ätio- kannte die Tuberkulose als zu den Infektionskrank- logischen Begriffsbestimmung weichen müssen, heiten gehörig. Diese Ansicht vertrat Orth, der bald nach der zur Krankheit Tuberkulose alle patholo- zu den die ätiologische Forschung fördernden Wis- gischen Veränderungen gehörten, die durch Tuber- senschaftlern gehörte, auch als Assistent Virchows, kelbakterien verursacht wurden. Somit waren die wie schon seine erste Veröffentlichung zum Thema Grenzen der Tuberkulose jetzt viel weiter gesteckt Tuberkulose belegt. Die während seiner Berliner und „tuberkulös“ bedeutete nicht mehr „mit Tuber- Assistentenzeit im Jahre 1876 durchgeführten Ver- kelbildung verbunden“, sondern „zur Krankheit Tu- suche untermauerten seinen Standpunkt. berkulose gehörig“. Dieser Erkenntnis hatten For- Bei diesen Tierexperimenten war es ihm gelungen, scher wie Jean-Antoine Villemin, Julius Cohnheim, die Krankheit durch Fütterung mit tuberkulösem Robert Koch und eben auch Orth den Weg gebahnt. Material auf Kaninchen zu übertragen. Anders als Dass Virchow es bis zuletzt nicht möglich gewesen Virchow rechnete er auch schon einige Jahre vor war, diesen Weg einzuschlagen, kritisierte sein Entdeckung der Tuberkelbakterien nicht nur die Tu- treuer Schüler Orth ohne Vorbehalt. Er hob die Be- berkelbildung, sondern auch andere, als käsig und deutung des Experiments für die Beurteilung von skrofulös bezeichnete Veränderungen zur Tuberku- Infektionskrankheiten hervor, die Virchow einst lose. Bereits 1875 wies er auf die Zusammengehö- selbst postuliert hatte. Indem Virchow jedoch nicht rigkeit von käsigen Veränderungen und Tuberkel- dem Experiment folgte, das längst über die Tuber- bildung hin. Sechs Jahre später, also noch ein Jahr kulose entschieden hatte, verleugnete er, so Orth, bevor Koch seine Entdeckung der Tuberkelbakteri- die von ihm selbst aufgestellten Grundsätze (Orth en mitteilte, bekannte er sich klar zur ätiologischen 1910, 1921b). Einheit der unterschiedlichen morphologischen Als einer der ersten Pathologen beschäftigte Veränderungen. sich Orth eingehend mit Versuchen zur Erforschung Mit seiner Ansicht, dass eine einheitliche Ur- der Wege und der Wirkung der Tuberkelbakterien sache so verschiedene pathologische Verände- bei ihrem Eindringen in den Körper. Auf ihn geht rungen bedingen konnte, stand Orth keineswegs auch die erste vollständige Beschreibung des tu- allein da und doch stieß sie in der damaligen Zeit berkulösen Primärkomplexes im Jahre 1887 zu- auf große Verständnisschwierigkeiten. Ihr stand rück. Schon frühzeitig trat er jedoch der Überschät- vor allem Virchows Überzeugung entgegen, nach zung des Bakteriums als der einzig maßgebenden der verschiedenen Formen pathologischer Erschei- Bedingung für die Entstehung und den Verlauf der nungen auch verschiedene Krankheitsursachen Infektionskrankheiten entgegen. Mit Nachdruck zugrunde liegen müssten. Letztendlich erbrachte verwies er immer wieder auf den großen Einfluss, Robert Koch aber mit der Entdeckung des Tuberkel- welchen die Krankheitsbereitschaft des betroffe- bazillus den greifbaren Beweis für die ätiologische nen Organismus auf das Geschehen ausübte. Be- Einheit der verschiedenen Krankheitserscheinun- reits zu einer Zeit, als „die Abneigung dagegen fast gen. Trotzdem beharrte Virchow weiterhin auf der das einzige Gebiet war, auf dem sich pathologi- Richtigkeit seiner Dualitätslehre. Den Grund dafür sche Anatomen und Bakteriologen zusammenfan- sah Orth in Virchows starrem Festhalten an seinem den“, erkannte Orth die Bedeutung der Disposition anatomischen Standpunkt. Für Virchow stellte die (Lubarsch 1917). Dabei bemühte er sich, möglichst

19 fassbare, klar definierte Begriffe herauszuarbeiten jahrzehntelanger Arbeit auf diesem Forschungsge- und gegen die Vorstellung anzukämpfen, dass man biet Grundlagen geschaffen zu haben, auf denen es bei der Disposition mit einer „jenseits der Gren- andere weiter aufbauen konnten (Ceelen 1923). zen wissenschaftlicher Untersuchungsmöglichkeit gelegenen Größe zu thun habe, die von weiteren JOHANNES ORTH UND SEIN KAMPF Forschungen eher abschrecke, als zu denselben GEGEN DEN KREBS einlade“ (Orth 1904). Mit dieser Frage setzte er sich im Rahmen seiner Tuberkuloseforschung intensiv Das zweite große Arbeitsgebiet betraf nicht ohne auseinander. Beispielsweise analysierte er aus- Grund die Krebsforschung. An der Charité vermerk- führlich die Beziehungen von Geschlecht, Alkohol te Orth einen wesentlichen Anstieg der Todesfälle und Trauma zur Tuberkulose. Diese Untersuchun- durch Krebs, die er trotz vielleicht vorliegender gen beschäftigten ihn besonders in seinem letzten spezifischer örtlicher Gegebenheiten auf eine all- Lebensjahrzehnt im Zusammenhang mit seiner Tä- gemeine Zunahme der Krebserkrankungen zurück- tigkeit als Obergutachter. Weiterhin konstatierte er führte (Orth 1909). Insgesamt mangelte es jedoch eine lokale Disposition der Lungenspitze für tuber- noch an hinreichenden statistischen Unterlagen, kulöse Herdbildungen, welche kontrovers disku- um eine solche Zunahme exakt belegen zu können. tiert wurde und heute auf den dort bestehenden Entsprechende statistische Erhebungen vorzuneh- hohen Sauerstoffpartialdruck zurückgeführt wird. men, machte sich das 1900 in Berlin gegründete Eine lokale Disposition nahm Orth auch als Erklä- Komitee für Krebsforschung (ab 1907 Deutsches rung für das Entstehen einer Lungentuberkulo- Zentralkomitee für Krebsforschung, 1911 Eintra- se infolge einer, wie er meinte, meist exogenen gung in das Vereinsregister unter der von Orth Reinfektion an. Seiner Ansicht nach musste diese vorgeschlagenen Bezeichnung Deutsches Zent- örtliche Disposition das Ergebnis einer früheren ralkomitee zur Erforschung und Bekämpfung der Infektion mit Tuberkelbakterien sein. Mit ihr ließe Krebskrankheit e.V.) zur Aufgabe und gab damit sich das Entstehen einer Lungentuberkulose besser anderen europäischen Ländern ein Beispiel. Erster begründen als mit einer durch die vorhergehende Vorsitzender wurde Ernst von Leyden, Direktor der Infektion erworbenen, den ganzen Körper betref- I. Medizinischen Klinik der Charité, der ab 1904 mit fenden Immunität. Neben seinem wissenschaftli- Paul Ehrlich u.a. die Zeitschrift für Krebsforschung chen Interesse an der Erforschung der Disposition gegründet hatte. Von dem Komitee gingen in den erblickte Orth dafür auch eine praktische Notwen- ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entschei- digkeit, weil immer bessere Kenntnisse von den dende Anstöße für die Krebsforschung und Krebs- disponierenden Faktoren eine wirkungsvollere bekämpfung aus. Dazu zählen unter anderem die Prophylaxe von Krankheiten ermöglichten. Gerade Errichtung von Fürsorgestellen für Krebskranke die Prophylaxe sah Orth als eine wichtige Aufgabe und des ersten deutschen Krebsforschungsinsti- der Medizin an, die zukünftig mehr in den Vorder- tuts in Berlin. Orth wurde im Jahre 1903 zum Eh- grund rücken musste. Dabei waren insbesondere renmitglied des Komitees ernannt und gehörte die Hausärzte gefordert, sich verstärkt der indivi- ab 1904 dem Vorstand an. Seit diesem Jahr fanden duellen Vorbeugung und Gesundheitserziehung die Sitzungen des Komitees in seinem Institut statt. anzunehmen (Lufft 1937). Diese Forderung von Im Frühjahr 1908 wurde dort unter maßgeblicher Orth hat auch heute nichts an Aktualität eingebüßt. Mitwirkung des Komitees die Internationale Ver- Die Mitherausgabe der Zeitschrift für Tuberkulose einigung für Krebsforschung gegründet. Nach v. in der Zeit von 1911 bis zu seinem Tode 1923 ist Leyden, der seine Ämter 1907 niedergelegt hatte, ebenfalls Teil seines Lebenswerks. Dazu schreibt wurde Orth dessen Nachfolger und übernahm auch Wilhelm Ceelen, dass ihm das Verdienst gebührt, in die Funktion als Mitherausgeber der Zeitschrift für

20 JOHANNES ORTH · HANS GUSKI UND KATJA WEBER

Krebsforschung (Wagner und Mauersberger 1989). an das von Rahel Hirsch, Assistentin bei Friedrich Auch auf dem Gebiet der Krebsforschung steht der Kraus an der II. Medizinischen Klinik und 1913 erste Name Johannes Orth für klare, sachliche Kritik. Mit Medizin-Professorin in Deutschland, erinnert. ihr trat er „allem Gefühlsmäßigem entgegen, be- Johannes Orth engagierte sich für den 1914 sonders denen, die mit Philosophie und Phantasie von Ferdinand Blumenthal entworfenen Plan ei- das Problem lösen wollten …, nur den Tatsachen ner Neuorganisation des nach Ausbruch des Ers- beugte er sich“ (Blumenthal 1925). Er forderte ten Weltkrieges von der Schließung bedrohten eine allseitige Betrachtungsweise der Fragestel- Instituts, in dem der Anspruch einer unabhängi- lungen und unabhängige Forschungsinstitute, gen Forschung besonders betont wurde. In dieser die nicht auf eine bestimmte Richtung festgelegt schwierigen Zeit übernahm er 1915 die Direktion waren. Deshalb stand er dem Berliner Institut für des Instituts und leitete dieses gemeinsam mit Krebsforschung längere Zeit skeptisch gegenüber. Blumenthal auch nach seiner 1917 erfolgten Eme- Vor allem störte ihn die zu einseitige Ausrichtung, ritierung bis 1921. Dieser schrieb dazu später: „Es anfangs auf die Entdeckung eines Krebserregers folgten einige Jahre schönsten Zusammenarbei- und später auf die eines chemischen Krebsheilmit- tens mit diesem hervorragenden und vortreffli- tels. Das Institut war auf Anregung von Ministeri- chen Manne, dessen Kritik und Anregungen für aldirektor Friedrich Althoff, dem “Baumeister“ der unsere Arbeiten von der größten Bedeutung wur- neuen Charité, entstanden, der die Krebsforschung den“ (Blumenthal 1928). Ein Höhepunkt, den Orth fördern wollte und für die Leitung des Instituts den nicht mehr erleben konnte, war das 25-jährige schon siebzigjährigen Ernst von Leyden gewinnen Bestehen des Zentralkomitees für Krebsforschung konnte, das damit eine Abteilung seiner I. Medizi- im Kaiserin-Friedrich-Haus am Luisenplatz unter nischen Klinik war. Teilnahme des Reichspräsidenten Friedrich Ebert. Das geplante Institut für Krebsforschung wur- Festredner waren Ferdinand Blumenthal, Otto Lu- de neben dem (damals noch im Bau befindlichen) barsch und Otto Warburg. Durch den Einfluss Orths Südflügel des Pathologischen Instituts errichtet und Blumenthals Aktivitäten, private Spender zu und am 8. Juni 1903 eröffnet. Es bestand im Unter- gewinnen, konnte die Schließung des Instituts schied zu den benachbarten Holzbaracken für Tu- zwar abgewendet werden, doch blieben die Geld- berkulosekranke aus drei massiven Steinbaracken, sorgen bestehen. Das ministerielle Versprechen, davon zwei mit je 10 Betten für männliche und dem Krebsforschungsinstitut den Status eines weibliche krebskranke Patienten und eine Labor- planmäßigen Instituts der Berliner Universität zu baracke. Diese nahm sich hinsichtlich der Nutzflä- verleihen, wurde Jahr für Jahr nicht eingelöst. Erst che bescheiden aus. Deshalb wurden später für die 1929 wurde das Institut für Krebsforschung vom tierexperimentellen und mikroskopisch-hämato- Staat etatmäßig übernommen. logischen Untersuchungen und die Etablierung Trotz der Beengtheit waren die wissenschaft- einer strahlentherapeutischen Abteilung Räume lichen Leistungen der Mitarbeiter in der Tumorfor- in der nahen Luisenstraße angemietet. Nach dem schung des bald international anerkannten und als Tode von Leydens 1910 wurden die Krebsbaracken Vorbild angesehenen Instituts enorm. Davon zeu- ein selbständiges Institut, dessen Leitung der Ley- gen die zahlreichen Publikationen und Vorträge den-Schüler Georg Klemperer übernahm. Mit dem auf internationalen Kongressen (1924 Leningrad, Institut sind die Namen weiterer bedeutender For- 1926 Lake Mohonk/USA, 1928 London und Stock- scher verbunden, wie Leonor Michaelis, Ferdinand holm, 1930 Paris). 1933 kam es schließlich unter Blumenthal, Paul Lazarus, Hans Hirschfeld, Otto Führung französischer, englischer und belgischer Rosenthal u.a., aber auch Ärztinnen wie Marga- Wissenschaftler (aber auch dank der schon auf der rethe Levy und Käte Frankenthal, deren Schicksal Londoner Krebskonferenz gestarteten Initiative der

21 Schnitt durch den 1. Stock und das Dachgeschoss des Obduktionshauses des neuen Pathologischen Instituts der Charité Berlin

Compendium der pathologische- anatomischen Diagnostik (ab 1893 nur: Pathologisch-anatomische Diagnostik) von Johannes Orth

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deutschen Krebsforscher, eine internationale Liga damals eine der Hauptstreitfragen auf dem Gebiet gegen den Krebs ins Leben zu rufen) zur Gründung der Krebslehre war, stellte sich Orth klar auf die der „Union Internationale Contre le Cancer“ (UICC). Seite derjenigen, die sich für die Abstammung der Mit dem erzwungenen Rücktritt Blumenthals im Krebszellen von den Epithelzellen aussprachen. Mai 1933 und der Vertreibung der zahlreichen jüdi- Seiner Auffassung nach war das Primäre und We- schen Mitarbeiter des Instituts (und der gesamten sentliche einer malignen epithelialen Geschwulst Charité) war das Ende des Instituts für Krebsfor- in einer Veränderung der Epithelzellen zu suchen. schung besiegelt. Das Institut wurde der Chirurgi- Andererseits war der Widerspruch nur ein schein- schen Klinik unter Sauerbruch zugeteilt, der wie barer, denn Virchow kannte zweifellos Karzinome, auch andere Ordinarien der Charité die Auffassung die wie Sarkome aussahen, und Sarkome, die in vertrat, dass Krebspatienten hinsichtlich der Be- Wirklichkeit Karzinome waren. Damals konnte handlung in der eigenen Klinik besser aufgehoben man die Entdifferenzierung von Tumoren weder seien. Die weltberühmten, nur teilweise zerstör- erklären noch deren epitheliale Natur nachweisen. ten, zweckentfremdeten Krebsbaracken in der so Bis das zweifelsfrei möglich war, sollten noch viele traditionsbewussten Charité nahmen ein unrühm- Jahrzehnte vergehen. liches Ende: Sie wurden 1996, von der Öffentlich- In Bezug auf die Metastasenbildung von Ge- keit unbemerkt, sang- und klanglos abgerissen schwülsten vertrat Orth ebenfalls einen anderen (Voswinckel 2014). Standpunkt als Virchow. Hatte dieser noch ge- Wie schon am Beispiel der Tuberkulosefor- glaubt, für die Entstehung von Metastasen „die schung gezeigt wurde, fühlte sich Orth stets dem wesentlichste Rolle den in den Krebsen gebildeten Geiste Virchows auf das Engste verbunden, auch Säften zuschreiben zu müssen“ (Lubarsch 1921), wenn er nicht immer den Ansichten seines Lehrers welche infektiös sein sollten, so war die von Orth folgte. Dass er durchaus manch gegensätzliche verfochtene Meinung weit mehr im Sinne der Zellu- Auffassung vertrat, konnte bei der Weiterentwick- larpathologie. Demnach gehen Metastasen durch lung von Wissensstand und Forschungsmethoden Zellteilung aus verschleppten Krebszellen eines und bei einem selbstständigen Forschergeist wie bestehenden malignen Tumors hervor, während ihm gar nicht ausbleiben. Wir sehen Orth wieder Virchow solchen Zellen höchstens die Bedeutung als getreuen Schüler Virchows, wenn er äußert: von Überträgern der infektiösen Säfte zubilligen „Allen feindlichen Anstürmen hat die Virchowsche wollte. Aus der Tatsache, dass es sich bei den Zel- Zellularpathologie auch im Gebiet der Geschwul- len der Tochtergeschwülste um legitime Nachkom- stlehre standgehalten“ (Orth 1920). Diese Aussa- men der Zellen des Primärtumors handelt, schloss ge bezog sich auf den von Virchow aufgestellten Orth folgerichtig eine Analogie zu metastatischen Grundsatz, dass jede Geschwulst aus Zellen besteht, Herden bei Infektionskrankheiten aus. Bei diesen die von körpereigenen Zellen abstammen und die stehen die Zellen in keinem Verwandtschafts- somit nichts Körperfremdes darstellen. „Das Prob- verhältnis zu denen des Mutterherdes, vielmehr lem des Krebses ist ein zelluläres; eine Erklärung kommt es zur Ausbreitung des Krankheitserregers. der Krebs­zellen geben, heißt das Wesen des Kreb- Bezüglich der kausalen Karzinogenese kam Orth ses feststellen“, betonte Orth immer wieder (Orth zu der Ansicht, „daß eine allgemein befriedigende 1909). Dagegen war Virchows Theorie, nach der Erklärung noch nicht gefunden“ worden sei und die Zellen von Karzinomen zwar den Epithelzellen es deshalb „besser und ehrlicher“ wäre, dieses ähneln, aber durch Metaplasie aus Bindegewebs- „Nichtwissen einzugestehen und zu versuchen, erst zellen hervorgegangen sind, seines Erachtens nicht eine bessere tatsächliche Grundlage für spätere aufrecht zu halten. In der Frage nach der Herkunft Theorien zu beschaffen“ (Orth 1909). Sein Beitrag der Krebszellen einer Primärgeschwulst, welche zur Krebsforschung bestand nicht nur in eigenen

23 Beobachtungen, sondern auch in einer kritischen noch nicht die Entstehung eines Tumors erklären. Sichtung anderer aktueller Forschungsergebnis- Für den Wissenschaftler Johannes Orth war es im- se. Letztendlich kam Orth zu dem Schluss, dass es mer ein wichtiges Anliegen, wie schon aus seinem nicht den einen spezifischen Krebserreger gibt, Kampf gegen die Tuberkulose ersichtlich wurde, vergleichbar mit dem Erreger der Tuberkulose neues Wissen praktisch umzusetzen und nicht nur oder der Syphilis, wohl aber verschiedene Parasi- um seiner selbst willen anzustreben. Deshalb war ten krebsauslösend sein können. Der eigentlichen es nur folgerichtig, dass er sich im Kampf gegen Parasitentheorie der Krebsentstehung, wie sie von den Krebs in seiner Eigenschaft als langjähriger Czerny, Fibiger und v. Leyden favorisiert wurde, Vorsitzender des Deutschen Zentralkomitees zur Er- stand Orth eher kritisch gegenüber: „Es gibt nicht forschung und Bekämpfung der Krebskrankheit be- einen einheitlichen, das Gewebe zur Geschwul- sonders engagierte. Aufklärung der Bevölkerung stbildung veranlassenden Reiz, sondern ... eine und Früherkennung der Krebserkrankung und ihrer Vielheit von Reizen.“ Ihnen allen gemeinsam sei Vorstufen standen dabei für ihn an erster Stelle. das Hervorrufen einer „Störung im Chromosomen- Dieses Ziel erachtete er als besonders erstrebens- bestand, ... die ihrer Art nach irreparabel ist“ und in wert, weil sich die Therapiemöglichkeiten bösarti- der er das Wesentliche der Krebsentstehung ver- ger Tumoren nur auf wenige Methoden, meist auf mutete (Orth 1920). eine chirurgische Intervention, beschränkten. Wenn es um die Fortschritte der Erkenntnis- Auch zu allgemeinen Fragen der Medizin hat se auf dem Gebiet der Krebsforschung geht, muss Orth mehrfach in Vorträgen Stellung bezogen, so auf jeden Fall die klare Herausarbeitung der Be- zu Fragen der Spezialisierung in der Medizin und deutung des chronischen Reizes und des präkan- die Bedeutung der ätiologischen Forschung für die zerösen Stadiums durch Orth erwähnt werden. Er ärztliche Praxis (1886) oder über medizinischen machte auf die oft schon längere Zeit bestehenden Unterricht und ärztliche Praxis (1897), in denen Gewebsveränderungen aufmerksam, die durch er sich mit den Gegnern der akademisch geschul- chemische und physikalische Noxen oder durch ten Ärzte auseinandersetzte, die diese einer ein- Parasiten hervorgerufen werden und in maligne seitigen Krankheitsbetrachtung bezichtigten. Die Tumoren übergehen können, aber nicht müssen. Schulmediziner würden über dem veränderten Da solche „Abweichungen von der regelmäßigen Organ den kranken Menschen vergessen. Orth hat Beschaffenheit“ der Krebsentstehung vorausge- sich dazu folgendermaßen geäußert: „… jeder hen, betonte Orth die Notwendigkeit der Früher- Lehrer wird seine Schüler stets darauf hinweisen, kennung (Orth 1912). Neben den für die Krebsent- daß nicht nur dieser oder jener Körperteil, sondern stehung so bedeutenden chronischen Reizen, wie der ganze Mensch krank gewesen ist“ und weiter immer wiederkehrenden kleinen Verletzungen, „Auch die sog. Schulmedizin übt Naturheilkunde, chronischen Entzündungen und länger andauern- und nur Unverstand kann eine Naturheilkunde den oder sich häufig wiederholenden chemischen zu einer zünftigen Medizin in Gegensatz bringen“ Einwirkungen, maß er auch noch anderen Fak- (Gruber 1936). toren eine Bedeutung bei. Dazu zählte er - heute noch aktuell anmutend - Alter, Geschlecht, Lebens- DER HOCHSCHULLEHRER ORTH UND weise und genetische Faktoren. Dabei könne aber SEINE SCHÜLER „von einer Vererbung der Krebskrankheit nicht wohl die Rede sein“, weil nur die Veranlagung dazu ver- Johannes Orth galt als begnadeter Redner und erbt wird. Durch diese Faktoren, so unterstrich Orth Lehrer. Sowohl in puncto Klarheit der Gedanken, in dem genannten Aufsatz, wird das Krebsrisiko Logik der Schlussfolgerungen und Genauigkeit erhöht, aber sie können für sich allein genommen als auch Verständlichkeit der Wissensvermittlung

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hatte er schon in jungen Jahren viel von seinem mie, wie sie zum Beispiel in den USA erfolgte, ge- Lehrmeister Virchow lernen können. Die Saat fiel hörten diese beiden Gebiete der Pathologie seiner auf fruchtbaren Boden, denn er besaß Einfüh- Auffassung nach als zwei Seiten einer Medaille lungsvermögen und pädagogisches Talent. Seine für das Verständnis von Krankheit untrennbar zu- besten Schüler beurteilten ihn so: „Ein Student, der sammen. Die Praxisbezogenheit spielte bei allen bei Orth pathologische Anatomie nicht lernte, war seinen Überlegungen eine dominierende Rolle. für die Medizin hoffnungslos verloren“ (Aschoff In der Debatte um die Reform der medizinischen 1923) und „Es gibt wohl nur wenige akademische Prüfungsordnung, die in den 90er Jahren des 19. Lehrer, über deren pädagogische Lehrfähigkeit ein Jahrhunderts geführt wurde, schlug Orth nicht nur so übereinstimmendes Urteil herrscht wie über Jo- die Verlängerung des Medizinstudiums von 9 auf hannes Orth“ (Ceelen 1923). Bei ihnen kann man 10 Semester vor, sondern befürwortete auch ein getrost davon ausgehen, dass sie ihn nicht lobten, praktisches Jahr, das dann 1901 eingeführt wurde weil sie den Grundsatz de mortuis nihil nisi bene (Orth 1906). nicht verletzen wollten, sondern weil sie ihn so Unter den zahlreichen Schülern Orths aus dem erlebt haben. Auch seine Lehrbücher zeichneten In- und Ausland waren eine Reihe bedeutender sich durch eine verständliche, präzise Darstellungs- Pathologen, die ihrerseits wiederum Großes ge- weise aus. Schon frühzeitig hatte er ein „Compen- leistet haben. Zu ihnen zählen Ludwig Aschoff, Her- dium der pathologisch-anatomischen Diagnostik“ mann Beitzke, Carl Benda, Rudolf Beneke, Wilhelm verfasst (1876), das Studenten und Ärzten als An- Ceelen, Johannes Fibiger (Kopenhagen), Harvey leitung zur Ausführung von Obduktionen und zur Gaylord (Buffalo, NY, USA), Gotthold Herxheimer, Erkennung pathologischer Organveränderungen Carl Kaiserling, Henrique da Rocha Lima (Rio de dienen sollte. Daraus entwickelte sich ein um- Janeiro), William Ophüls (San Francisco, später fangreiches „Lehrbuch der pathologisch-anatomi- Stanford, USA) und Vladimir Wyssokowitsch (Char- schen Diagnostik“ (1893), das in der 8. und letzten kov, später Kiev), der sich gemeinsam mit Orth im Auflage zu seinem 70. Geburtstag erschien und in Tierexperiment um die Pathogenese der infektiö- viele Sprachen übersetzt wurde. Das Buch enthält sen Endokarditis verdient gemacht hat. Mit ihnen auch eine kurz gefasste mikroskopische Diagnostik bleibt das Andenken an Johannes Orth lebendig, und verstreute Hinweise auf bioptische Befunde wird Virchows Erbe weitergetragen, so wie es Orth (Dhom 2001). Als Ergebnis seiner 5-jährigen Lehr- an seine Schüler und zeitweiligen Mitarbeiter wei- tätigkeit bei Virchow entstand der „Cursus der nor- tergegeben hat. malen Histologie“ (1878) und in der darauffolgen- den Göttinger Zeit ein mehrbändiges „Lehrbuch DER HUMANIST JOHANNES ORTH der speciellen pathologischen Anatomie“ (Band 1 1887). Lubarsch hielt das Lehrbuch für ein Meis- Johannes Orth war kein unpolitischer Mensch, aber terwerk, das auch noch 30 Jahre später „für den anders als Virchow nicht politisch tätig. Er nahm Fachmann eine Fundgrube“ darstellen würde (Lu- sein Leben lang liberale Standpunkte zu politi- barsch 1930). Orths Unterricht war stets auf die Be- schen und religiösen Fragen ein, blieb „als aufrich- dürfnisse des praktischen oder klinisch tätigen Arz- tiger Demokrat und warmherziger Patriot“ (Aschoff tes ausgerichtet. Deshalb legte er großen Wert auf 1923) seinen Idealen treu und bewahrte sich den den pathologischen Demonstrationskurs, in dem Traum von einem einheitlichen freien Staat aller klinisch relevante Fälle vorgestellt wurden. Dabei Deutschen. Im Herzogtum Nassau geboren, durch stand nicht das einzelne kranke Organ, sondern die Annexion Nassaus durch Preußen im Jahr 1866 der ganze Mensch im Mittelpunkt der Betrachtun- zum „Muss-Preußen“ geworden, wurde er kein gen. Im Gegensatz zur Trennung von allgemeiner Freund des, wie er es nannte, Bismarck’schen Pathologie und spezieller pathologischer Anato-

25 Das neue Pathologische Institut der Charité Berlin (Blick vom Alexanderufer). Das Pathologische Museum (im Bild links) wurde am 27. Juni 1899 durch Virchow fei- erlich eröffnet. Fertigstellung des Hauptgebäudes 1905 und des Obduktionshauses ein Jahr später. Einweihung des Gesamtgebäudes am 10. Juni 1906 (Baukosten ohne Pathologisches Museum 1.239100 Mark)

Brief von Johannes Orth an Rosa Virchow vom 12. Juni 1911.

26 JOHANNES ORTH · HANS GUSKI UND KATJA WEBER kleindeutschen Reiches und Kaisertums. Nach sei- vikt in Hadamar nahm nur katholische Schüler auf), nen Vorstellungen sollte Preußen als Großmacht war Johanes Orth mit der Naussauer Simultanschu- zerschlagen und in seine verschiedenen Bestand- le groß geworden, in der eine gemeinsame Erzie- teile aufgelöst werden. Darin erblickte Orth die hung der Kinder katholischer und evangelischer Voraussetzung für die Bildung einer föderativen Konfession stattfand. Orth forderte ein friedliches deutschen Republik nach dem Vorbild der Vereinig- und tolerantes Zusammenleben der verschiede- ten Staaten von Amerika oder der Schweiz, die aus nen Glaubensbekenntnisse. Für ihn war dieses Mit- einer Anzahl gleichmächtiger und gleichberech- einander ein Stück gelebte Normalität. Im Übrigen tigter Teilstaaten mit weitgehender Autonomie in gab es für ihn auch keinen Zweifel an der Fähigkeit inneren Angelegenheiten bestehen und der auch der Frau, ein Medizinstudium erfolgreich abzu- Österreich angehören sollte. Diese Ansicht vertrat schließen und führt dazu das Beispiel einer Ameri- er bereits als junger Burschenschaftler, als der er kanerin an, die bereits im Wintersemester 1895/96 auf die schwarz-rot-goldene Fahne geschworen einen Platz in seinem Labor innehatte. Im konser- hatte, und hielt daran bis ins hohe Alter fest. vativen Kaiserreich waren Frauen noch nicht zum Im Verlauf seines Lebens musste Orth miterle- Medizinstudium zugelassen; die Zulassung erfolg- ben, wie in der Burschenschaft Frankonia, der er als te zögernd, in Preußen erst 1908. junger Student 1866 beigetreten war, der antide- Georg Benno Gruber, nach Hugo Ribbert, Max mokratische und antisemitische Geist immer mehr Borst, Hermann Beitzke (jeweils nur kurz in den um sich griff. Zu seinen aktiven Zeiten hatte noch Jahren von 1902 bis 1907) und Eduard Kaufmann eine liberale Anschauung vorgeherrscht und auch (1907 – 1928) Nachfolger auf dem Lehrstuhl in Juden waren angesehene Mitglieder der Burschen- Göttingen, schreibt in seinem aus äußeren Grün- schaft gewesen. Die Beschlüsse des Eisenacher den erst 1936 erschienenen Nachruf auf Orth, in Burschentages 1920, wonach „Nichtarier“ verfemt welchem er dessen wissenschaftliche Leistungen und Angehörige von Parteien mit internationalen würdigt, dass die Eindringlichkeit und Klarheit oder separatistischen Tendenzen nicht mehr der Orths zu lehren nicht übertroffen werden konn- Burschenschaft angehören sollten, lehnte er ka- te. Es wäre in der Tat „ein wunderbares Gefühl, zu tegorisch ab. Für Orth kam eine Einteilung der Stu- erleben, wie heute schon betagte Schüler Orths, denten in solche erster und zweiter Klasse nicht in praktische Ärzte unserer Gegend, mit Worten Frage, da er die Gleichberechtigung aller Studen- höchster Verehrung und Dankbarkeit von diesem ten stets verteidigt hatte. In einer Ansprache an die an sich oft so kurz angebundenen, gewiß nicht neu zu immatrikulierenden Studenten 1890 hatte von vornherein herzlich aufgeschlossenen, ja so- er sich beispielsweise in seiner Eigenschaft als Rek- gar sich grimmig gebenden und doch so billig tor der Universität Göttingen gegen Rassen- und denkenden Manne reden“ (Gruber 1936) und be- Klassenhass ausgesprochen und die Studenten er- schreibt damit Orths hohes Ansehen in Göttingen. mahnt, sie mögen friedlich zusammen leben, denn In Berlin legte man allerdings höhere Maßstäbe an, sie seien alle gleichwertige Kinder der Alma Mater. weil man durch viele große Namen, darunter No- In dieser Rede bescheinigte er den antisemitischen belpreisträger wie Robert Koch, Emil von Behring Agitatoren einen sittlichen Makel. Daraufhin, so oder Paul Ehrlich, geblendet wurde. Dazu gehörte schreibt Orth in seinen Erinnerungen, „fielen die schon vor diesen Rudolf Virchow, der mit seinen antisemitischen Blätter und Blättchen wie eine wissenschaftlichen Leistungen, die weit über das Meute bissiger Hunde über mich her und konnten Fachgebiet Pathologie hinausreichten, den Grund- sich in Schmähungen meiner Person nicht genug stein dafür gelegt hatte, dass die Charité Weltruf tun“ (Orth 1922). genoss und auf ihrem Höhepunkt zum Mekka der Von Hause aus katholisch erzogen (das Con- Medizin wurde. Deshalb verwundert es nicht, dass

27 die Meinung der Berliner Zeitgenossen in Bezug Johannes Orth verstarb einen Tag vor Vollen- auf Orths herausragende wissenschaftliche Leis- dung seines 76. Lebensjahres am 13. Januar 1923 tungen recht zurückhaltend war. Dazu schreibt in seinem Haus in Berlin-Grunewald, Boothstr.16 Ceelen Folgendes: „Allerdings ließen sich biswei- (heute Humboldtstr. 16) an den Folgen einer eit- len kritische Stimmen vernehmen, Orths Name sei rigen Cholangitis, nachdem er seit Jahren an Gal- nicht mit einer großen Entdeckung verknüpft. Frei- lensteinkoliken und Ikterusschüben litt, die schon lich hat Orth keinen sogenannten großen ‚Schlag‘ 1915 eine Cholecystektomie notwendig gemacht geführt, der den Namen eines Mannes mit einem hatten. Wie es sich für einen Pathologen geziemt, Male in die Welt trägt und der oft die einzige Leis- hat er sich von seinem Nachfolger Otto Lubarsch tung des betreffenden Forschers bleibt. In steter, obduzieren lassen, der alle Befunde, die ihm Orth gleichmäßiger, stiller Arbeit hat Orth Bleibendes vorher im Detail mitgeteilt hatte, bestätigen konn- geschaffen“ (Ceelen 1923). Auch die späteren te (Lubarsch 1923). Orth fand seine letzte Ruhestät- Nachfolger, wie beispielsweise Louis-Heinz Kettler, te auf dem alten Friedhof im Grunewald neben sei- vertraten nicht ganz zu Unrecht die Meinung, dass ner Frau Charlotte von Ibell, seiner Adoptivtocher Orth zunächst im Schatten der überragenden Per- Anna (Emma Minna) Löhe und ihrem Mann Hein- sönlichkeit Virchows stand, wobei er Orth als eine rich Löhe, dem langjährigen Oberarzt und späteren den Durchschnitt weit übertreffende Forschernatur Direktor der Charité-Hautklinik, der bereits ab 1910 einschätzte (Kettler 1960). für zwei Jahre bei Orth gearbeitet hatte. 2009 hat dort auch Orths einzige Enkelin Annelise Löhe-Vo- JOHANNES ORTH UND SEINE VERDIENSTE gel ihre letzte Ruhe gefunden, der wir das unveröf- UM DIE PATHOLOGIE fentlichte Manuskript ihres Großvaters verdanken. In den Nachrufen, von denen die meisten 1923 Wir stehen auf dem Standpunkt, dass man Orth in verschiedenen Zeitschriften erschienen sind, Unrecht tut, wenn man ihn mit Virchow vergleicht. haben die Schüler ihrem Lehrer Orth ihre Dank- Als er das schwere Amt als sein Nachfolger antrat, barkeit, Wertschätzung und Zuneigung Ausdruck musste er die ersten fünf Jahre neben vielen an- verliehen. Wie fällt wohl heute die Beurteilung deren, bereits genannten Aufgaben der Fertigstel- seiner fachlichen Nachfahren aus? Wie beurteilen lung des neuen Pathologischen Instituts widmen. wir ihn als Arzt, Pathologen, Diagnostiker, Forscher, Danach verblieben ihm nur noch etwa 15 Jahre Hochschullehrer, Institutsdirektor und – am aller- seiner Lebenszeit, in der er weiterhin unermüdlich wichtigsten – als Mensch? Orth hat auf allen Fel- wissenschaftlich arbeitete und ein ungeheures dern der Pathologie Großes geleistet, am meisten Pensum absolvierte, wie aus unserer keineswegs beeindrucken wohl seine Leistungen als Wissen- vollständigen Darstellung seiner Lebensleistung schaftler auf den Gebieten der Tuberkulose- und hervorgeht. Deshalb stimmen wir mit einem seiner Krebsforschung und als akademischer Lehrer mit besten und treuesten Schüler, Ludwig Aschoff, voll- Fachbüchern, die zu seiner Zeit Bestseller waren. kommen überein, wenn er das Verdienst von Jo- Auch seine Leistungen als Baumeister sind unver- hann Orth mit folgenden Worten beschreibt: „Das gessen, denn unter seiner Leitung wurde das Pa- Höchste, was Orth vollbracht hat, war, Virchows thologische Institut in Göttingen errichtet und mit Nachfolge auf sich zu nehmen. Es war die ernst- dieser Erfahrung hat er das große Pathologische hafteste Prüfung, der sich ein deutscher Pathologe Institut in Berlin fertiggestellt. Das sind die blei- unterziehen konnte. Er hat sie nach übereinstim- benden Werte. Dass er ein guter Redner und Lehrer mendem Urteil glänzend bestanden. Nicht, indem war, wissen wir von denen, die ihn erlebt haben. er Virchow gleichzukommen versuchte, sondern Als Mensch soll Johannes Orth eher verschlossen, sich ganz als Orth gab.“ aber immer großzügig, hilfsbereit und tolerant ge-

28 JOHANNES ORTH · HANS GUSKI UND KATJA WEBER wesen sein. In politischen Fragen vertrat er einen internationalen Anerkennung der Leistungen der liberalen, fortschrittlichen Standpunkt. Er haderte deutschen Pathologie beigetragen. Orth war einer mit dem Kaiserreich, dessen Politik Deutschland der ganz großen Pathologen und Humanisten, der ins Verderben geführt hatte, wollte keine Monar- von seinen Schülern verehrt und von seinen Nach- chie, sondern eine föderative Republik und war folgern besonders gewürdigt wurde. damit seiner Zeit weit voraus. Wenn nach wissen- Mit diesem Fazit allein wird man aber dem schaftlichen Leistungen gefragt wird, meint man in Wissenschaftler Orth nicht ganz gerecht. Er ist der Regel die Anzahl der Veröffentlichungen. Von schon frühzeitig aus dem Schatten seines hoch- Johannes Orth sind allein in der Dissertation von verehrten Lehrers Virchow herausgetreten und Katja Klaus 223 Publikationen aufgelistet. Aber hat sein Leben der Erforschung von zwei weit ver- geht es nicht um Qualität, um Vielseitigkeit? In die- breiteten Krankheiten gewidmet: Tuberkulose und ser Hinsicht ist Virchow mit seinen vielfältigen In- Krebs. Beide Krankheiten haben nicht an Bedeu- teressengebieten kaum zu übertreffen, man denke tung verloren, sie sind erkannt, aber nicht besiegt. nur an seine Leistungen auf dem Gebiet der Anth- Hinsichtlich der Tumorerkrankungen darf man ropologie und dem der Vor- und Frühgeschichte. sogar sagen, dass der Kampf gegen den Krebs mit Man kennt von Virchow aber auch eine ganz ande- modernen Methoden gerade erst begonnen hat. re Seite, wie er sie z.B. in seiner ausdrucksstarken Orths Forschung hatte stets die Anwendung Rede über „Göthe als Naturforscher und in beson- der Ergebnisse in der klinischen Praxis zum Ziel. derer Beziehung auf Schiller“ zeigt, gehalten am 7. Wie bereits erwähnt, war er fast von Beginn an Februar 1861 in der Singakademie Berlin und er- in die Arbeit des Deutschen Zentralkomitees für schienen bei August Hirschwald in Berlin. Virchow Krebsforschung und Krebsbekämpfung (ab 1970 hatte keine Scheu, sich diesen großen Dichtern zu Deutsche Krebsgesellschaft) und des Instituts für nähern, denn er fühlte sich mit ihnen geistesver- Krebsforschung eingebunden, für die er sich bis wandt. War Goethe nicht auch Naturforscher und zuletzt engagiert hat. In diesem Institut wurden Schiller nicht auch Arzt? Unser (gemeinsames) In- schon 1903 erste Therapieversuche bei einer Pa- teresse, so sagte Virchow, ist kein anderes als das tientin mit Brustkrebs mittels Radiumbestrahlung Interesse an der Wissenschaft und der Humanität. und ab 1910 experimentelle Untersuchungen zur Dachte und handelte Orth nicht ähnlich? Er war Einführung einer Chemotherapie durchgeführt. durchaus nicht nur pathologischer Anatom; auch er Auch in den nachfolgenden Jahren gingen welt- besaß vielseitige Interessen. Das zeigen seine Bü- weit beachtete Aktivitäten und Innovationen aus cher, die nichts mit Pathologischer Anatomie zu tun dieser Einrichtung hervor. Orth hat zweifellos ei- haben, sondern mit Hygiene, Physiologie, Pädago- nen Anteil daran, dem Institut zu dessen „Aufstieg gik und, man staune, auch Psychologie. Wer kennt zu internationalem Ruhm“ (Voswinckel) verholfen von ihm wohl die Monographie „Gefühl und Be- zu haben. Die Liquidierung des Instituts durch Ver- wußtseinslage“ (1903) oder das Buch „Aufgaben, folgung seiner besten Wissenschaftler zu erleben, Zweck und Ziele der Gesundheitspflege“ (1904)? blieb ihm erspart. Auch deshalb gehört die Weiter- Man darf mit Recht sagen, dass Virchow immer führung der Krebsforschung mit den heute verfüg- richtig eingeschätzt wurde, denn keiner seiner baren Methoden zum Vermächtnis von Johannes Kritiker konnte ihm das Wasser reichen, dass Orth Orth, dessen wissenschaftliche Kreativität und aber in seiner zurückhaltenden, ruhigen Art oft un- menschliche Integrität kommenden Generationen terschätzt wurde. Je mehr man sich jedoch mit ihm Vorbild und Ansporn sein sollten. beschäftigt, desto mehr ist man von seiner vielsei- tigen und kreativen Persönlichkeit beeindruckt. Er hat schon in Göttingen und später in Berlin viel zur

29 LITERATUR Geschichte des Deutschen Krebsforschungszen- → 1. Aschoff, L.: Johannes Orth. Münchener Med. trums. Springer-Verlag, Berlin Heidelberg New Wschr. 70 (1923), S. 151 – 152. York 1989 → 2. Blumenthal, F.: Zum 25jährigen Bestehen des → 17. Orth, J.: Gefühl und Bewußtseinslage. Eine Deutschen Zentralkomitees zur Erforschung und kritisch-experimentelle Studie. Verlag von Bekämpfung der Krebskrankheit. Z. für Krebsfor- Reuther & Reichard, Berlin 1903. schung 22 (1925), S. 97 – 107. → 18. Orth, J.: Aufgaben, Zweck und Ziele der → 3. Blumenthal, F.: Entstehung und Entwicklung Gesundheitspflege. Verlag E. H. Moritz, Stuttgart des Universitätsinstituts für Krebsforschung an 1904. der Charité zu Berlin. Z. für Krebsforschung 27 → 19. Orth, J.: Zur Frage der Disposition bei (1928), S. 1 – 11. Tuberculose. Berliner klin. Wschr. 41 (1904), S. → 4. Ceelen, W.: Johannes Orth. Z. für ärztl. Fortb. 260 – 261. 20 (1923), S. 121 – 122. → 20. Orth, J.: Das Pathologische Institut in Berlin. → 5. Dhom, G.: Geschichte der Histopathologie. In Orth, J. (Hrsg.): Arbeiten aus dem Patholo- Springer, Berlin Heidelberg 2001, S. 367. gischen Institut zu Berlin, Verlag A. Hirschwal, → 6. Gruber, G. B.: Johannes Orth. Verh. Dt. Pathol. Berlin 1906, S. 1 – 76. Ges. 29 (1936), S. 400 – 406. → 21. Orth, J.: Über die Krebsgeschwulst des Men- → 7. Hansen W. R.: Pioneers in the Scientific Study schen. Sitzungsberichte der Königlich Preußi- of Neonatal Jaundice and Kernikterus. Pediatrics schen Akademie der Wissenschaften I (1909), S. 106 (2000), S. 1 – 7. 107 – 125. → 8. Heubner, W.: Johannes Orth. Nachrichten der → 22. Orth, J.: Rudolf Virchow und die Bakteriolo- Ges. d. Wiss. zu Göttingen. Geschäftl. Mitt. 49 gie. Dtsch. Med. Wschr. 36 (1910), S. 1937 – 1939. (1923), S. 49 – 56. → 23. Orth, J.: Die Krebserkrankung und ihre Be- → 9. Kettler, L.-H.: Das Pathologische Institut der kämpfung. Blätter für Volksgesundheitspflege 12 Charité. Z. für ärztl. Fortb. 54 (1960), S. 530 – 545. (1912), S. 217 – 226. → 10. Klaus, Katja: Johannes Orth und sein Beitrag → 24. Orth, J.: Fortschritte auf dem Gebiet der für die Pathologie. Diss. Berlin 2006. Ätiologie und Histologie des Krebses. Z. für ärztl. → 11. Lubarsch, O.: Johannes Orth und die Tuber- Fortb. 17 (1920), S. 121 – 128 und S. 159 – 166. kuloseforschung. Z. für Tuberkulose 27 (1917), → 25. Orth, J.: R. Virchow vor einem halben Jahr- S. 1 – 9. hundert. Persönliche Erinnerungen. Virchows → 12. Lubarsch, O.: Die Virchowsche Geschwul- Archiv 235 (1921a), S. 32 – 44. stlehre und ihre Weiterentwicklung. Virchows → 26. Orth, J.: Die Verdienste Rudolf Virchows um Archiv 235 (1921), S. 235 – 261. die Lehre von der Tuberkulose. Dtsch. Med. Wschr. → 13. Lubarsch, O.: Joh. Orth. Med. Klinik 19 (1923), 47 (1921b), S. 1188 – 1191. S. 160 – 162. → 27. Orth, J.: Einiges aus meinem Leben. Unveröf- → 14. Lubarsch, O.: Orth, Johannes. In: Verband der fentlichtes Manuskript, S. 1 – 67, Berlin, Oktober Deutschen Akademien: Deutsches Biographi- 1922. sches Jahrbuch1923, Bd. 5. Deutsche Verlags-An- → 28. Voswinckel, P.: Erinnerungsort Krebsbaracke. stalt, Stuttgart 1930, S. 285 – 290. Klarstellungen um das erste interdisziplinäre → 15. Lufft, H.: Die pathologische Anatomie in Krebsforschungsinstitut in Deutschland (Berlin, Göttingen unter Johannes Orth (1878 – 1902). Charité). Deutsche Gesellschaft für Hämatologie Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 1937. und Medizinische Onkologie e.V. Berlin 2014. → 16. Wagner, G. und A. Mauersberger: Krebs- forschung in Deutschland. Vorgeschichte und

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ANSCHRIFT DES VERFASSERS Prof. em. Dr. med. Hans Guski vormals Institut für Pathologie Universitätsklinikum Charité Charité-Platz 1 10117 Berlin [email protected]

31 DIE GESCHICHTE DES LEHRSTUHLS FÜR PATHOLOGIE DER MEDIZINISCHEN FAKULTÄT DER ALBERTUS-UNIVERSITÄT KÖNIGSBERG

VON RUDOLF MEYER LEHRSTUHL FÜR PATHOLOGIE KÖNIGSBERG · RUDOLF MEYER

Königsberg (jetzt: Kaliningrad) ist heute Bestand- teil der Russischen Föderation. In der Entwicklung der universitären Lehrstühle für Pathologie und in der Historie der Deutschen Gesellschaft für Pa- thologie gehört die Darstellung der Entwicklung der akademischen Pathologie in Königsberg zur Entwicklung der akademischen Pathologie im deutschsprachigen Raum (unabhängig von der je- weiligen staatlichen Zuordnung) und soll aus die- sem Grunde an dieser Stelle zunächst skizzenhaft und als Basisinformation dargestellt werden. Die Albertus-Universität Königsberg wurde Albertus-Universität Königsberg 1544 von Herzog Albrechts von Brandenburg-Ans- bach gegründet und bestand bis 1945 (12). Bei Physiologie und Anatomie wahrgenommen wur- ihrer Gründung war sie die dritte protestantische den. So hat beispielsweise der Physiologe Helm- Universität im deutschsprachigen Raum. Sie war holtz Vorlesungen in Pathologie angeboten und bereits mit vier Fakultäten bei ihrer Gründung eine durchgeführt. Volluniversität, wobei die Heilkunde zu den Grün- 1865 wurde der Virchowschüler Friedrich Da- dungsfakultäten gehörte. niel von Recklinghausen nach Königsberg berufen, Königsberg wies dabei eine vergleichsweise er hat diesen Auftrag allerdings nur ein knappes kleine universitäre Struktur im deutschsprachigen Jahr wahrgenommen, um dann einem Ruf nach Raum auf. Ungeachtet dessen strahlte die Alber- Würzburg zu folgen (1, 2). tus-Universität auf Grund ihrer geographischen Lage in die angrenzenden osteuropäischen Nach- ERNST CHRISTIAN NEUMANN barländer aus, insbesondere in das Baltikum und in das russische Reich. Ihm folgte Ernst Neumann (1834 – 1918), der die- Hinzu kommt, dass durch Immanuel Kant ses Amt über einen Zeitraum von 38 Jahren bis zu diese Universität einen europaweiten Bekannt- seiner Emeritierung im Jahre 1903 ausfüllte. heitsgrad aufwies. Ernst Neumann hat durch seine wissenschaft- liche Tätigkeit die Entwicklung der Pathologie im DER LEHRSTUHL FÜR gesamten deutschsprachigen Raum entscheidend PATHOLOGISCHE ANATOMIE beeinflusst. Seine Schüler von Baumgarten und As- kanazy haben das Besondere seiner wissenschaftli- Bevor auch in Königsberg im Jahre 1865 ein Lehr- chen Leistungen und das Spezielle seiner außerge- katheter für Pathologie* eingerichtet und perso- wöhnlichen Persönlichkeit ausführlich dargestellt nell ausgestattet wurde, war es hierorts so wie und gewürdigt (3, 4). Wissenschaftlich ist zu Ernst auch an anderen deutschsprachigen Standorten, Neumann Folgendes festzustellen: Er gehörte kei- dass die Ausbildungsbelange der Pathologischen ner der bekannten wissenschaftlichen Schulen der Anatomie durch andere Fächer wie Innere Medizin, damaligen Zeit an. Er hat diese Berufung zu einem Zeitpunkt übernommen, als er einerseits noch am Anfang seiner wissenschaftlichen Laufbahn stand und seine Habilitation erst sieben Jahre zurücklag. * Es war in der zeitlichen Abfolge die 16. Gründung eines Lehrstuhles für Pathologie im deutsch- Zu diesem Zeitpunkt war er Privatdozent in Königs- sprachigen Raum. berg und legte erst 1867 eine Habilitationsschrift

33 LEBENS- UND DIENSTALTERDATEN DER LEHRSTUHLINHABER FÜR PATHOLOGIE DER ALBERTUS-UNIVERSITÄT

KÖNIGSBERG

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6 4 Friedrich D. 1 von Recklinghausen 3 * 1833 ↗ 1865 † 1910 ↘ 1866

• BERLIN BRAUNSCHWEIG • Ernst 2 Neumann Friedrich * 1834 ↗ 1865 H 4 † Henke 1918 ↘ 1903 * 1868 ↗ 1906 † 1943 ↘ 1919

Rudolf 3 Beneke Carl 5 * 1861 ↗ 1903 Kaiserling † 1946 ↘ 1906 * 1869 ↗ 1913 † 1942 ↘ 1935

Carl 6 Krauspe 1 — 5 * 1895 ↗ 1935 6 — 10 † 1983 ↘ 1945 11 — 15 16 — 20 > 20

DIENSTDAUER IN JAHREN 14 JAHRE 30er

40er 31 44 ZEICHENERKLÄRUNG 42 32 * GEBURTSJAHR VORHERIGE STATION VERTEILUNG DER ALTERS- 38 † TODESJAHR H HAUSBERUFUNG DEKADEN BEI DIENSTBEGINN 39 ↗ DIENSTBEGINN ALTER BEI DIENSTBEGINN EMERITIERUNG ↘ DIENSTENDE 38 JAHRE

34 LEHRSTUHL FÜR PATHOLOGIE KÖNIGSBERG · RUDOLF MEYER

der Muskelzellen, verwiesen. Ernst Neumann war Ostpreuße und hat seine Heimat – abgesehen von wenigen Studienreisen zwischen 1855 und 1865 – nicht verlassen. Er war nicht der Mann großer Wor- te, sondern strebte in seinen mündlichen aber noch mehr in seinen schriftlichen Äußerungen nach präziser und textlich kurzgefasster Klarheit. Erst durch die Tagung der Gesellschaft der Natur- forscher 1910 in Königsberg ist er einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden. Ernst Neumann war seit 1898 Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Pathologie. Von seinen Schülern, die in der Pathologie tätig geblieben sind, sollen hier Paul Clemens von Baumgarten und Max Askanazy erwähnt werden. Von Baumgarten (1848 – 1928) wurde nach langjähriger Tätigkeit als Prosektor bei Neumann 1889 auf den Lehrstuhl in Tübingen berufen. Max Askanazy (1865 – 1940) hat seine wissenschaftli- che Ausbildung bei Ernst Neumann in Königsberg absolviert und wurde 1905 auf den Lehrstuhl für Ernst Christian Neumann allgemeine Pathologie und Pathologische Anato- mie der Universität Genf berufen und war dort bis als Ordinarius vor. Andererseits hatte er zum Zeit- zu seiner Emeritierung im Jahre 1939 tätig. punkt seiner Berufung bereits 25 wissenschaftliche Bei der Würdigung der Persönlichkeit von Originalarbeiten in klinischen, physiologischen Ernst Christian Neumann sollen aber zwei Fakten und pathologisch-anatomischen wissenschaftli- nicht unerwähnt bleiben. Die International Society chen Zeitschriften publiziert. Von seinen wissen- for Experimental Hematology hat während Ihrer schaftlichen Untersuchungsergebnissen­ soll an Tagung in Düsseldorf 1995 den Ernst Neumann dieser Stelle insbesondere die Erstbeschreibung Award erstmals verliehen. Zum anderen soll darauf des Erythroblasten genannt und auch auf die damit hingewiesen werden, dass im Jahre 2012 eine Ge- verbundenen wissenschaftlichen Darstellungen denktafel im Königsberger Dom angebracht wurde, zum Knochenmark und zur Blutbildung hingewie- auf der auch Ernst Christian Neumann aufgelistet sen werden. Es ist deshalb wohl mehr als berech- ist. tigt, Prof. Dr. Ernst Neumann als den Begründer der Hämatopathologie zu bezeichnen. Daneben RUDOLF BENEKE sollen aus der Fülle der unterschiedlichen wissen- schaftlichen Untersuchungen nur zwei erwähnt Im Jahre 1903 trat Rudolf Beneke (1861 – 1946) werden: einerseits seine wissenschaftliche klare die Nachfolge von Neumann als Lehrstuhlinha- Einordnung des Entzündungsbegriffes, wobei er ber in Königsberg an. Beneke war bis zu diesem andererseits die Entzündung als physiologischen Zeitpunkt insgesamt 13 Jahre als Prosektor der Abwehrmechanismus des Organismus erkannte. Krankenanstalten in Braunschweig tätig und übte Weiterhin sei an dieser Stelle auf seine Un- eine Lehrtätigkeit an der Universität in Göttingen tersuchungen zur Regeneration, insbesondere aus. Im Dienstzimmer von R. Beneke erfolgten

35 die vorbereitenden Absprachen, die zur Gründung in seinem Nachruf die wissenschaftlich-publizis- der Deutschen Gesellschaft für Pathologie führten. tische Aktivität von Carl Kaiserling zusammenge- Beneke war seit 1898 Mitglied der Gesellschaft. stellt (8, 9). Nach insgesamt dreijähriger Tätigkeit in Königs- berg folgte er einem Ruf nach Marburg (5, 6). KARL KRAUSPE

FRIEDRICH HENKE Die Nachfolge trat 1935 Karl August Krauspe an, der zum Zeitpunkt der Berufung als Prosektor des Pa- Sein Nachfolger in Königsberg wurde Friedrich thologischen Institutes Berlin-Moabit tätig war und Henke (1868 – 1943), der seine wissenschaftliche eine Lehrtätigkeit als nichtplanmäßiger, außer- Ausbildung durch Paul Clemens von Baumgarten ordentlicher Professor für Allgemeine Pathologie in Tübingen erhielt, sich dort auch 1897 habilitier- und Pathologische Anatomie an der Friedrich-Wil- te. Er arbeitete dann sechs Jahre in Breslau, um helms-Universität Berlin wahrnahm. Mit der An- 1904 zum Prosektor des Krankenhauses Charlot- nahme dieser Berufung kehrte Prof. Krauspe an tenburg-Westend ernannt zu werden. Aus dieser jene Einrichtung zurück, an der er 1920 seine wis- Position heraus wurde er 1906 auf den frei gewor- senschaftliche Ausbildung begonnen hatte. Seine denen Lehrstuhl nach Königsberg berufen. Im Jah- Tätigkeit endete zum einen mit der Zerstörung der re 1913 nach sieben Jahren Tätigkeit in Königsberg, Königsberger Altstadt durch einen Fliegerangriff erfolgt ein Ruf nach Breslau, den er auch annahm. im Jahre 1944, sowie durch seinen Kriegseinsatz Henke wurde insbesondere durch die mit Lubarsch zu Beginn des Jahres 1945, ehe mit der Kapitulati- gemeinsam erfolgte Herausgabe des „Handbuches on Königsbergs im April 1945 auch die universitäre für spezielle pathologische Pathologie und Mikro- Pathologie der Albertus-Universität ihr Ende fand skopie“ bekannt. Sein wissenschaftliches Hauptin- (10, 11). teresse galt der Erforschung der Infektionskrank- Prof. Krauspe hat dann nach Kriegsgefan- heiten (7). genschaft und Tätigkeit in nichtuniversitären Ein- richtungen – 1948 einen Ruf an den Lehrstuhl der JOHANN CARL KAISERLING Universität Hamburg erhalten, den er bis 1965 wahrnahm. Eine ausführliche Darstellung der wis- Die damit freigewordene Stelle des Lehrstuhlinha- senschaftlichen Leistungen sowie eine exzellente bers in Königsberg, wurde im Anschluss durch Prof. Würdigung der Persönlichkeit von Karl Krauspe hat Johann Carl Kaiserling (1869 – 1942) besetzt, der Johannes Lindner in den Verhandlungen der Deut- bis zu diesem Zeitpunkt in Berlin als außerordent- schen Gesellschaft für Pathologie 1984 vorgenom- licher Professor für Pathologische Anatomie tätig men, so dass es nicht erforderlich ist, dem etwas war. Diese Tätigkeit als Lehrstuhlinhaber und Di- hinzufügen. rektor des Pathologischen Institutes nahm er bis zu Erwähnt aber werden soll die Episode, die seiner Emeritierung im Jahre 1935 wahr und war Peter Schirrmacher im Vorwort zur Entwicklung damit insgesamt 22 Jahre in Königsberg tätig. Zwei der akademischen Pathologie in Deutschland dar- Dinge sind es, die Kaiserling bekannt gemacht ha- gestellt hat, weil sie kennzeichnend für den Geist ben. und die Berufsauffassung einer Generation von Pa- Zum einen, die von ihm entwickelte Kon- thologen ist, die in schwerer Zeit mit Hingabe und servierungslösung, die dauerhaft die Farben des Opferbereitschaft für unser Fach tätig waren. konservierten Präparates erhält. Zum anderen gilt Kaiserling als Begründer der Mikrometrie. In dan- kenswerter Weise hat sein Schüler Carl Krauspe

36 LEHRSTUHL FÜR PATHOLOGIE KÖNIGSBERG · RUDOLF MEYER

DIE UNIVERSITÄT IN KALININGRAD

Schlussendlich bleibt für den Chronisten die Pflicht LITERATURVERZEICHNIS darüber zu berichten, wie sich danach in Kalinin- → 1. Chiari, H. Friedrich Daniel v. Recklinghausen: grad das universitäre Leben entwickelt hat. Durch Verh. Dt. Ges. Path 51 (1912), 478 – 488 die sowjetischen Behörden wurde das Zentrale → 2. Schmidt, M. Friedrich von Recklinghausen: Institut für Fischereiwesen nach Kaliningrad ver- Centralbl. f Allg. Path.u Path. Anatomie XXI (1910), lagert und daraus eine Technische Universität 817 – 821 entwickelt. Seit der Perestroika hat sich auch das → 3. Askanazy, M. Ernst Neumann: Verh. Dt. Ges. Verhältnis zur Geschichte Königsberg verändert, Path. 28 (1935), 362 – 372 so dass die universitären Einrichtungen sich heu- → 4. Askanazy, M. Ernst Neumann: Centralbl. f Allg. te zunehmend als Nachfolgeeinrichtungen der Path.u Path. Anatomie XXIX (1918), 409 – 421 Albertus-Universität Königsbergs verstehen. Dieser → 5. Schmidt, M.B. Rudolf Beneke: Verh. Dt. Ges. Tatsache wurde auch dadurch Rechnung getragen, Path. 33 (1949), 403 – 406 dass die Universität seit 2012 den Namen Baltische → 6. Schmidt, M.B. Rudolf Beneke: Zentralbl. F Allg. Föderale Immanuel-Kant-Universität trägt. Path. U Path. Anatomie 83 (1947), 245 – 246 Der kurze Exkurs in die Geschichte der Akade- → 7. Staemmler, M. Friedrich Henke: Verh. Dt. Ges. mischen Pathologie in Königsberg ist damit vorerst Path. 39 (1955), 421 – 423 beendet. Es konnte nur das Anliegen sein, in den → 8. Krauspe, C. Carl Kaiserling: Verh. Dt. Ges. Path. skizzenhaften Darstellungen auf diese Etappe der 38 (1954), 388 – 392 universitären Pathologie hinzuweisen, um auch zu → 9. Johann Carl Kaiserling: https://de.wikipedia. gewährleisten, dass diese Facette der Geschichte org/wiki/Johann_Carl_Kaiserling der Deutschen Gesellschaft für Pathologie ihre ent- → 10. Lindner, J. Carl August Krauspe: Verh. Dt. Ges. sprechende Würdigung erhält. Path. 68 (1984), 589 – 596 Vieles an Fakten und Material zum Lehrstuhl- → 11. Prof. Dr. med. Karl August Krauspe (Lebens- für Pathologie in Königsberg muss noch durch daten): http://research.uni-leipzig.de/catalogus- sorgfältige Analyse erarbeitet, gewichtet und ein- profesorum-lipsiensium/ geordnet werden. Eine wahrliche Mammutarbeit, → 12. Albertus-Universität Königsberg: https:// die noch zu leisten ist. de.wikipedia.org/wiki/Albertus-Universität → 13. Baltische Föderale Immanuel-Kant-Universi- tät: https://de.wikipedia.org/wiki/Baltische_Fö- derale_Immanuel-Kant-Universität

DANKSAGUNG Der Autor möchte sich bei Frau Janette Zoschke für die elektronische Aufarbeitung des Materials und bei Herrn Dr. Jürgen Götze für die sorgfältige Re- cherchearbeit ganz herzlich bedanken.

ANSCHRIFT DES VERFASSERS Prof. Dr. Rudolf Meyer Schwarzwaldstr. 12 15827 Blankenfelde

37 DR. MED. RAHEL ZIPKIN DIE SCHICKSALSREISE EINER AUSSER­- GEWÖHNLICHEN PIONIER-PATHOLOGIN VON MINSK ÜBER BERN NACH NÜRNBERG

VON ABBAS AGAIMY INSTITUT FÜR PATHOLOGIE, FRIEDRICH-ALEXANDER-UNIVERSITÄT ERLANGEN-NÜRNBERG, UNIVERSITÄTSKLINIKUM ERLANGEN

38 RAHEL ZIPKIN · ABBAS AGAIMY

GEBURT, KINDHEIT UND FAMILIE

Ruth Rahel Zipkin wurde am 18.1.1878 in Kojdanow-Minsk, Russland geboren. Ihre Eltern waren Moses Zipkin (Kaufmann) und Darja, ge- borene Neumann. Zu früheren Lebensjahren von Frau Dr. Zipkin einschließlich ihrer Kindheit stehen leider keine Details zur Verfügung. Am 19.3.1908 heirateten Frau Dr. Zipkin und Herr Dr. Carl Rodler (evangelisch), geboren am 15.1.1877 in Nürn- berg, verstorben am 13.10.1935 in Nürnberg. Dies weist darauf hin, dass Frau Dr. Zipkin bereits 1908 in Nürnberg lebte. Über den Wechsel von Bern nach Nürnberg stehen jedoch keinerlei Angaben zur Verfügung. Dr. Karl Rodler war ein Facharzt für Dermatologie, Venerologie und Urologie. Das Ehe- paar hatte eine Tochter, Johanna Rodler, geboren in Nürnberg am 20.12.1909.

MEDIZINISCHE AUSBILDUNG UND WEITERBILDUNG

Frau Rahel Zipkin erlangte ihre Approbation nach einem 6-jährigen Medizinstudium an der Medi- zinischen Fakultät der Universität Bern (Winter- Abb. 1: Beiträge zur Kenntnis der gröberen und feineren Struktur- Verhältnisse des Dünndarmes von Inuus Rhesus semester 1896 bis zum Wintersemester 1902). Am 26.11.1902 promovierte sie (Bern. Med. Diss. 1903/1904) am anatomischen Institut der Uni- viert. 1904 wurde Frau Dr. Rahel Zipkin erstmalig versität Bern (Laboratorium von Herrn Prof. Zim- in den Mitgliederlisten der Deutschen Pathologi- DR. MED. mermann) zum Thema „Beiträge zur Kenntnis der schen Gesellschaft geführt, letztmalig wurde Ihre gröberen und feineren Struktur-Verhältnisse des Mitgliedschaft 1934 dokumentiert. Nach der Än- Dünndarmes von Inuus Rhesus“. Ihre Dissertation derung der Satzung der Gesellschaft dürfte Frau Dr. RAHEL ZIPKIN wurde veröffentlicht und ist online verfügbar (Mit Zipkin damit das erste weibliche Mitglied der Ge- 1 Taf. u. 15 Textfiguren; S.-A. aus „Anatom. Hefte“. sellschaft gewesen sein. Auf der 9. Jahrestagung in DIE SCHICKSALSREISE EINER AUSSER­- 1. Abth. 71. Heft.) Wiesbaden 1903. 73 + 3 S. 8°. Meran (24.27.09.1905) hat Sie dann Ihren Vortrag [26. XL 02.] (→ Abb. 1) mit dem Titel: „Hyalinähnliche kollagene Kugeln GEWÖHNLICHEN PIONIER-PATHOLOGIN VON Anschließend arbeitete Dr. Zipkin vier Jahre als Produkte epitethialer Zellen in malignen epit- als III. bzw. dann II. Assistentin im Pathologischen helialen Strumen“ präsentiert. Auch das war eine MINSK ÜBER BERN NACH NÜRNBERG Institut (Direktor: Prof. Dr. med. Theodor Langhans, Premiere, weil Sie damit die erste Frau war, die auf 1839 – 1915). Ein Jahr hatte sie dann als „Iite As- einer wissenschaftlichen Tagung der Deutschen VON ABBAS AGAIMY sistentin“ im anatomischen Institut absolviert und Pathologischen Gesellschaft das Ergebnis eigener ein Jahr als Assistentin in der Hautklinik. Sie hatte wissenschaftlichen Untersuchungen vorstellte. INSTITUT FÜR PATHOLOGIE, FRIEDRICH-ALEXANDER-UNIVERSITÄT auch als Volontärin in anderen medizinischen Kli- Über ihren Umzug nach Nürnberg liegen keine ERLANGEN-NÜRNBERG, UNIVERSITÄTSKLINIKUM ERLANGEN niken gearbeitet und viele spezielle Kurse absol- weiteren gesicherten Informationen vor.

39 DR. RODLER-ZIPKIN geeignet empfunden, als Assistentin von Herrn Prof. IN NÜRNBERG (1910 – 1944) Dr. Theodor Langhans arbeiten zu dürfen. Auch die Feststellung, dass er sie mit seinen Beobachtungen Frau Dr. Zipkin hatte in Nürnberg wohl eine pri- vertraute und sie als alleinige Autorin mehrere vate Praxis gehabt. Es ist jedoch unklar, ob sie am wichtige Studien veröffentlichte, bestätigt die Re- städtischen Klinikum Nürnberg gearbeitet hat oder putation dieser Pionier-Pathologin in einer Zeit, nicht. Von 1916 bis 1934 lebte die Familie Rodler in der Frauen nahezu keinerlei Zugang zum Fach in Behringersdorf bei Nürnberg (ein Ortsteil von Pathologie hatten. Sie hat dieses wissenschaft- Schwaig). Am 4.10.1934 zogen sie wieder nach liche Vertrauen am Ende jeder Veröffentlichung Nürnberg und lebten dann in der Lenbachstraße 4 deutlich herausgestellt und ihrem Chef als Mentor in der Nähe vom Rathenauplatz. Dr. Zipkin führte besonders gedankt. In den Jahren bei Herrn Prof. später den Namen Anna Rodler (Rodler-Zipkin), Dr. Langhans in Bern entwickelte sie offensichtlich möglicherweise um aufgrund der damaligen Ver- das Interesse an der Pathologie der Riesenzellen folgung ihre jüdische Identität zu verbergen. Nach den Angaben des Bayerischen Stadt- archivs München sind amtliche Dokumente zu Frau Dr. Zipkin, ins- besondere Melde- und Passunterlagen sowie Abb. 2: Arbeit zu den hyalinizierenden Schilddrüsentumoren eine Personalakte des Krankenhauses nicht vorhanden. Nach den damals geltenden Ras- in Entzündungen und Tumoren. So veröffentlichte sen-Gesetzen wurde sie durch den Tod ihres ari- sie 1907 in Virchows Archiv eine sehr gründliche schen Gatten rein jüdisch. Sie wurde am 17.1.1944 und interessante Arbeit zu „Über Riesenzellen mit nach Theresienstadt deportiert und kam dort am randständigen Kernen in Sarkomen“ [1]. Zudem 15.4.1944 um (siehe Eintrag im Gedenkbuch – „Op- wurde ihre umfassende Arbeit zu den „hyalinizie- fer der Verfolgung der Juden unter der national- renden Schilddrüsentumoren“ als ein wichtigster sozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland Eckstein in der Erkennung der Hyalinbildung durch 1933 – 1945“). Ihre Tochter Johanna lebte bis Au- epitheliale Zellen und gleich als ein Pionier-Werk gust 1946 in Nürnberg, dann zog sie nach Behring- in der Definition des „hyalinizierenden trabekulä- ersdorf um. Zu Johanna Rodler liegen keine Anga- ren Adenoms“ der Schilddrüse gewürdigt [2,3,4] (→ ben vor. Abb.2). Ferner hat Dr. Zipkin diverse Vorträge beim REFERATE, EHRUNGEN UND ärztlichen Kreisverband und den lokalen medizini- WISSENSCHAFTLICHE VERÖFFENTLICHUNGEN schen Gesellschaften der Region Nürnberg gehal- ten. Sie wurde von 1910 an häufig in den Berichten Frau Dr. Zipkin war offensichtlich eine außerge- des ärztlichen Kreisverbandes der Region Nürn- wöhnliche Pathologin und Morphologin. Dies lässt berg erwähnt. Es ist hervorzuheben, dass Dr. Zipkin sich durch ihre beeindruckend detaillierten und eine häufige Referentin bei den Jahrestagungen inspirierenden „Ein-Autor-Arbeiten“ zweifelsohne der Deutschen Pathologischen Gesellschaft (DPG) feststellen. Offensichtlich wurde sie daher als hoch war [2,5]. So berichtete sie bei der 9. und der

40 RAHEL ZIPKIN · ABBAS AGAIMY

Abb. 3

10.Tagung der DPG über verschiedene Themen (→ → 3. Zipkin, R.: Hyalinähnliche kollagene Kugeln Abb. 2, 3). als Produkte epithelialer Zellen in malignen Stru- men. Virchows Arch Path Anat Physiol. 1905;182: Beispiele ihrer Vortragsthemen und Veröffentli- S. 374 – 406. chungen sind unten aufgeführt: → 4. Carney JA.: Hyalinizing trabecular tumors of the — „Über ein malignes destruktiv wachsendes Lei- thyroid gland: quadruply described but not by the omyom der Leistenregion“: Vortrag bei der Tagung discoverer. Am J Surg Pathol. 2008;32: S. 622 – 34. der Münchener Gynäkologischen Gesellschaft → 5. Zipkin, R.: Über ein Adenorhabdomyom an und der Fränkischen Gesellschaft für Gynäkologie Stelle der linken und Hypoplasie der rechten Lun- und Frauenheilkunde am 12.06.1910 in Nürn- ge bei einer totgeborenen Frucht . Verh. Dtsch. berg. Pathol. Ges. 10, 53 (1906). — „Status thymicolymphaticus“ und „Pseudoleu- kämie“: Vortrag bei der Tagung der Nürnberger QUELLEN UND SEKUNDÄRLITERATUR Medizinischen Gesellschaft und Poliklinik am → Gedenkbuch. Opfer der Verfolgung der Juden un- 14.11.1912. ter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft — Pathologische Demonstrationen bei der Nürnber- in Deutschland 1933 – 1945 (Stadt Nürnberg). ger Medizinischen Gesellschaft und Poliklinik am → Bachmann Barbara, Bradenahl Elke: Medizinstu- 08.05.1913. dium von Frauen in Berlin 1871 – 1914. Bern, Diss. Die Rückseite ihrer Registrierkarte trägt den Ver- Med. v. 1990, S. 64 u. Anhang B. merk, „Dr. Anna Rodler war seit 21.07.1916 Träge- → Stadtarchiv Nürnberg rin des König-Ludwig-Kreuzes“. → Bundesarchiv, Berlin

ANSCHRIFT DES VERFASSERS LITERATUR Prof. Dr. med. Abbas Agaimy → 1. Zipkin, R.: Über Riesenzellen mit randständi- Pathologisches Institut gen Kernen in Sarkomen. Virchows Arch Path Anat Universitätsklinikum Erlangen Physiol. 1907;187(1): S. 240 – 258. Krankenhausstrasse 8 – 10 → 2. Zipkin, R.: Hyalinähnliche kollagene Kugeln als 91054 Erlangen Produkte epithelialer Zellen in malignen epithe- Telefon: +49-9131-85-22287 lialen Strumen. Verh. Dtsch. Pathol. Ges. 1905;9: Fax: +49-9131-85-24745 S. 153 – 154. email: [email protected]

41 VON DER ZELLULAR­ PATHOLOGIE ZUR MOLEKULAR­ PATHOLOGIE RÜCKSCHAU UND AUSBLICK*

VON HANS GUSKI VON DER ZELLULARPATHOLOGIE­ ZUR MOLEKULARPATHOLOGIE­ · HANS GUSKI

Die Geschichte der Zellularpathologie ist bekannt, wohl der letzte Versuch gewesen, der längst ab- die der Molekularpathologie muss noch geschrie- gestorbenen Generatio aequivoca noch einmal ben werden. Molekularpathologie ist mehr als Leben einzuhauchen. Den Kritikern der Zellular- Morphologie und Strukturforschung; sie ist äußerst pathologie ist eines gemeinsam: Sie konnten Vir- komplex, vereint pathologische Biologie, Bioche- chows scharfsinnigen und logischen, aber keines- mie, Physiologie und Genetik und kann nur er- wegs einfach formulierten Gedankengängen und folgversprechend sein, wenn die den krankhaften seinen aus eigenen Untersuchungen gezogenen Veränderungen zugrunde liegenden Funktionen verstanden werden. Wenn man sich mit den Ursprüngen der Mole- kularpathologie befasst, ein Begriff, den Heinrich Schade 1924 am Beispiel der Entzündung geprägt hat, muss man auf die Zellularpathologie zurück- gehen, nicht zuletzt deshalb, weil durchaus die Meinung vertreten werden könnte, dass es sich bei der molekularen Pathologie nicht um ein neu- es Paradigma, sondern um eine Weiterführung und Vertiefung der Zellularpathologie handelt. In der Vergangenheit wurde vielfach versucht, Zel- lular- und Molekularpathologie als unvereinbare Gegensätze darzustellen, denen widersprüchliche Erklärungsprinzipien des Lebens, nämlich das des mechanistischen, also physikalisch-chemischen und das des vitalistischen Ganzheitsprinzips zu- grunde liegen sollten. Überhaupt muss man fest- stellen, dass die Zellularpathologie übermäßig stark kritisiert und fehlinterpretiert wurde, entwe- der weil man glaubte, sie überwunden zu haben und durch neue Theorien ersetzen zu können, wie z.B. die Relationspathologie von Gustav Ricker Abb. 1: Die 1795 als Pépinière gegründete und bis 1945 bestehende Militärärztliche Akademie in der Invalidenstraße gegenüber der Cha- (1924), die Interzelluarpathologie von Tivadar Hu- rité. In dem Gebäude befand sich vor 1990 das Oberste Gericht der zella (1937) oder die sogenannte Neue Zelltheorie DDR, heute ist es Sitz des Ministeriums für Wirtschaft und Energie von L.N. Shinkin und W.P. Michailow (1956), die auf Experimenten von Olga Lepeschinskaja (1952) zur Schlussfolgerungen offenbar nicht folgen. Sie ha- Zellentstehung aus imaginärer lebender Materie ben Beweise ignoriert und seine Arbeiten zur Zel- beruhte und die sich rasch als Irrlehre erwies. Die lenlehre entweder gar nicht oder nicht gründlich „Neue Zelltheorie“ sollte Virchows Zelltheorie, sein genug gelesen (David 1993). Credo „omnis cellula a cellula“ widerlegen. 100 Virchow hat seine in Würzburg in einem mü- Jahre nach dem Siegeszug der Zelltheorie ist dies hevollen Erkenntnisprozess erarbeitete und durch Fakten belegte Zelltheorie erst in Berlin einem breiteren Publikum, das aus praktischen Ärzten und Studenten bestand, in 20 Vorlesungen öffent- * Vortrag anlässlich der Verabschiedung von Prof. Dr. med. Manfred Dietel am 30. September lich vorgestellt und diese umgehend in seinem be- 2016 im Institut für Pathologie der Charité Berlin kanntesten Buch veröffentlicht (Virchow 1858).

43 3b

3a

Abb. 3a-c: Das von Rudolf Vir- chow und seinem Freund Benno Reinhardt 1847 gegründete Ar- chiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klini- sche Medizin, Band 1 (a) enthält einem Artikel von Virchow über Krebs (b) und Zeichnungen von Krebszellen (c)

3c

44 VON DER ZELLULARPATHOLOGIE­ ZUR MOLEKULAR­PATHOLOGIE · HANS GUSKI

Die Entwicklung der Zelltheorie, die besagt, dass Der junge Virchow (Abb. 2) alle Pflanzen und Tiere und deren Organe aus Zel- begann mit seinen systemati- len aufgebaut sind, verlief nach der Veröffentli- schen mikroskopischen Studien chung der berühmten Monographie von Theodor der Gewebe als Prosektor der Schwann im Jahre 1839 unglaublich rasant. Die Charité 1846 und veröffent- Entdeckung war natürlich untrennbar mit der lichte bereits 1847 detaillierte weiteren Verbesserung der mikroskopischen Tech- Zeichnungen über Veränderun- nik verbunden. 1839 war Virchow kaum 18 Jahre gen der Zelle als Illustration alt und begann gerade mit seinem Studium am einer Studie „Zur Entwicklungs- Abb. 2: Rudolf Virchow Medizinisch-Chirurgischen Friedrich-Wilhelms-Ins- geschichte des Krebses …“ im (etwa um 1848) titut, der vormals sogenannten, 1795 gegründeten Band 1 des von ihm gemeinsam Pépinière zur Ausbildung von Militärärzten in Preu- mit seinem Freund Benno Reinhardt gegründeten ßen (Abb. 1). Archivs für Pathologische Anatomie und Physiolo- Die Gewebelehre unter Anwendung des Mi- gie und für klinische Medizin (Abb. 3a-c). Das war kroskops stand zu jener Zeit noch ganz am An- bei dem damaligen Stand der mikroskopischen fang. Zunächst befasste sich der Bonner Anatom Technik, die über eine 300fache Vergrößerung Carl Mayer (1787 – 1865) mit der Gewebelehre, nicht hinausging, eine Meisterleistung. Der um- der, wie Johannes Müller in Berlin, gleichzeitig fängliche Titel des Archivs blieb für Virchow zeitle- Pathologe und Physiologe war. Mit seinem 1819 bens Programm. Er hat immer auch pathophysio- erschienenen Buch prägte er erstmals den Begriff logische und pathochemische Vorgänge in seine Histologie. Die Begründer der mikroskopischen Überlegungen einbezogen, um über die Kenntnis Histologie im deutschen Sprachraum waren je- der Struktur hinaus auch die Funktion zu begrei- doch andere, namentlich Jan Evangelista Purkin- fen. Davon zeugen u.a. die von ihm eingerichteten je (1787 – 1869), Johannes Müller (1801 – 1858), speziellen Abteilungen im Berliner Institut, wie z.B. dessen ältester Schüler Jakob Henle (1809 – 1885) die chemische Abteilung, die von 1856 bis 1861 und wiederum dessen Schüler Albert Koelliker von Felix Hoppe-Seyler (1825 – 1895) und später (1817 – 1905), der mit Virchow sowohl in Berlin un- von dessen Schüler Ernst Salkowski geleitet wurde. ter Robert Froriep als auch in Würzburg eng zusam- Als Virchow seine Zellstudien 1849 als Pro- mengearbeitet hat. Dabei ist interessant, dass Ko- fessor der Pathologischen Anatomie in Würzburg elliker noch vor Virchow, nämlich bereits 1844 von fortsetzte war er keineswegs der Einzige. Vor ihm der freien Zellenbildung überzeugt war, während und zeitgleich mit ihm befassten sich intensiv auch Virchow noch längere Zeit an der Schwann‘schen Gottlieb Gluge, Julius Vogel, Friedrich Günsbach, Lehre von der Zellentstehung aus einem formlosen Carl Bruch und vor allem Robert Remak mit der Blastem festgehalten hat. In seinem Handbuch der pathologischen Gewebelehre (Dhom 2001). Von Gewebelehre des Menschen beschrieb er nicht nur Anfang an gehörte das besondere Augenmerk den die Zelle mit Kern und Nucleolus, sondern auch die Tumoren, oder wie man damals sagte, den krank- Zellteilung (Kölliker 1852). Koelliker war außer- haften Geschwülsten, wobei Johannes Müller als ordentlich vielseitig und u.a. 1849 Gründungsmit- Forscher und akademischer Lehrer nicht nur von glied der Physikalisch-Medizinischen Gesellschaft Virchow und Remak, sondern fast einer ganzen Ärz- in Würzburg. Vor dieser Gesellschaft stellte Wil- tegeneration alle anderen überragte. In Würzburg helm Conrad Röntgen 1896 seine X-Strahlen vor, entwickelte Virchow dann seine Zellularpatholo- die anschließend auf Köllikers Vorschlag (dessen gie, erstmals erschienen 1855 in „seinem Archiv“, Hand bei diesem öffentlichen Experiment als De- das ihm zweifellos einen Vorteil hinsichtlich der monstrationsobjekt diente) in Röntgenstrahlen Aufmerksamkeit unter seinen Kollegen verschaffte. umbenannt wurden. Dass sich Zellen durch Teilung vermehren, war aber

45 schon 3 Jahre vor ihm von Robert Remak, damals Die Zellularpathologie wurde in der Folgezeit oft Assistent bei dem Kliniker Johann Lucas Schönlein angefeindet, und zwar immer dort, wo es tatsäch- (1793 – 1864), in Müllers Archiv für Anatomie und liche oder vermeintliche Lücken in der Theorie gab, Physiologie veröffentlicht worden (Remak 1852). wie beispielsweise auf dem Gebiet der soliden In Virchows Artikel wird Remak nicht erwähnt. Das Tumoren, insbesondere hinsichtlich der Karzino- ist wohl einer der Gründe dafür gewesen, dass mentstehung. Trotzdem bleibt unbestritten, dass die Freundschaft zu Virchow zerbrach. Allerdings Virchows 1858 als Buch erschienene Zellularpa- haben es Virchow und Remak in ihren Veröffentli- thologie, in dem er in 20 Vorlesungen vor überwie- chungen nicht für nötig erachtet, Franz Julius Fer- gend praktischen Ärzten seine „Anschau- dinand Meyen (1804-1840), ung von der cellularen Natur Arzt und Professor der Bota- aller Lebenserscheinungen“ nik in Berlin, zu nennen, der ausführlich erläutert hat, ein die Zellteilung bei Pflanzen Meilenstein in der Entwick- schon viel früher beschrieben lung der allgemeinen Krank- hat (Meyen 1828). heitslehre war (Abb. 4). Da- Hier geht es aber nicht nach sollte viel Zeit vergehen, um das Primat einer Entde- bis weitere folgten. ckung, sondern um ein Prin- Bereits im 19. Jahr- zip, das sich wie ein roter hundert vermuteten einige Faden durch die Geschichte Wissenschaftler, dass die zel- vieler großer wissenschaft- luläre Ebene nicht die letzte licher Entdeckungen zieht: Stufe der Erkenntnis über den Derjenige, dem die Entde- Sitz und das Wesen der Krank- ckung zugeschrieben wird, heit sein kann. Im Zusam- konnte diese nur machen, menhang mit der lange um- weil er – bildlich gesprochen strittenen Geschwulstfrage, – auf den Schultern derjeni- speziell der Karzinogenese, gen stand, die den Boden beklagten Virchows Schüler dafür bereitet haben, so dass Abb. 4: In Virchows 1858 erschienenem Buch „Die und Enkel, ich zitiere Georg er weiter als diese blicken Zellularpathologie in ihrer Begründung auf physio- Dhom, „die Grenzen ihrer mi- logische und pathologische Gewebelehre“, werden konnte und – weil die Zeit die Krankheiten erstmalig durch Störungen auf zel- kroskopischen Sehfähigkeit. dafür reif war. Virchow blick- lulärer Ebene erklärt Sie spürten, dass es eine Pa- te in der Tat weiter und tiefer. thologie der Organellen und Als Wegbereiter der zukünftigen Pathologie hat er des Zellkerns, ja eine molekulare Pathologie ge- sich nicht damit zufriedengegeben, den Ursprung ben muss“ (Dhom 2001). der Zellneubildung erkannt zu haben und die Wie lang der Weg bis zum nächsten „Quanten- krankhaften Veränderungen der Gewebe und der sprung“ war, lässt sich daran ermessen, dass Vir- Zellen zu beschreiben, aus denen diese bestehen. chow schon in Würzburg folgende Fragen aufwarf: Sein Verdienst besteht vielmehr darin, eine Theo- „Jede anatomische Veränderung ist materiell, aber rie der Krankheitsentstehung geschaffen zu haben, ist deshalb jede materielle auch anatomisch? Kann nach der Krankheiten nunmehr in der Zelle als der sie nicht moleculär sein? Kann nicht mit Erhaltung kleinsten lebenden Einheit des Organismus entste- der Form und des äußeren Ansehens eine durch- hen. Das war nach Morgagnis „De sedibus et causis greifende moleculäre Änderung in der inneren Zu- morborum“ (1761) ein Quantensprung. sammensetzung des Stoffs eingetragen sein? Die

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feineren moleculären Veränderungen der Materie Urheber der Lehre von der Zusammensetzung aller sind kein Gegenstand der Anatomie, sondern der thierischer Gewebe aus Zellen.“ Physiologie, sie sind rein funktionell …“ (Virchow Unabhängig davon, was Virchow unter „Mole- 1854). kularkräften“ oder Kölliker unter „Molekulartheo- Virchow vertrat hier den berechtigten Stand- rie“ verstanden haben mögen, welche Methoden punkt, dass man die „feinmateriellen moleculären notwendig sein würden, um derartige Hypothesen Aenderungen“ niemals mit anatomischen Metho- mit Fakten zu unterlegen, konnte niemand auch den werde beobachten (also auch nachweisen) nur erahnen. können. Auch in seinen von Emil Kugler mitge- Wolfgang Bargmann, von dem ich das Kölli- schriebenen und zur Feier der ker-Zitat übernommen habe, 25. Tagung der Deutschen Pa- schreibt in seinem auf einem thologischen Gesellschaft von internationalen Symposium Robert Rössle im Jahre 1930 1968 in Berlin gehaltenen herausgegeben Vorlesun- Vortrag „Über Wesen und gen aus dem Wintersemester Ziele der modernen Morpho- 1855/56 (Abb. 5), den letzten logie“, dass sich bereits im vor seiner Berufung nach Ber- 19. Jahrhundert die Frage an- lin, stellte Virchow in der Ein- kündigte, welche Beziehun- leitung über „Geschichte und gen zwischen Struktur und Entwicklung der Disziplin“ Lebensvorgängen bestünden (d.h. der Pathologie) Überle- und dass einzelne Pioniere gungen darüber an, dass es bereits „die Notwendigkeit in der Zelle molekuläre Kräfte erkannten, in die Welt der und Wirkungen geben müs- Moleküle als dem eigentli- se, die dem Leben zugrunde chen Tatort des Lebens vor- liegen. Ähnlich äußerte sich zustoßen“ (Bargmann 1970). später Albert Koelliker in der Um dieses Ziel zu erreichen, 1889 erschienenen 6. Auflage waren aber bestimmte Vor-

seines Handbuchs der Gewe- Abb. 5: Die von dem Studenten Emil Kugler mitge- aussetzungen erforderlich, zu belehre, in dem er eine „Mo- schrieben Vorlesungen über allgemeine pathologi- denen, wie wir heute wissen, sche Anatomie, gehalten von Rudolf Virchow im WS lekulartheorie“ der Zelle vor- 1855/56 in Würzburg, enthalten dessen konkrete unter anderem die Entde- aus ahnt: Vorstellungen von einer „zellularen Pathologie“ ckung der Struktur und Funk- „Sollte es aber je möglich tion der DNA und RNA (1953, werden, auch die Moleküle zu entdecken, welche 1959), die In-situ-Hybridisierung (1969) als Metho- die Zellmembranen, die Muskelfibrillen, die Ach- de zum Nachweis von Nukleinsäuren in Geweben, senfasern der Nerven usw. bilden, und die Gesetze einzelnen Zellen oder auf Metaphase-Chromoso- ihrer Aneinanderlagerung und Veränderungen bei men und schließlich die Polymerase-Kettenreakti- der Entstehung, dem Wachsthume und der Thä- on (1983) gehören, die heute zu den wichtigsten tigkeit der jetzigen sogenannten Elementartheile Methoden der Molekularpathologie gehört. zu ergründen, dann würde auch für die Histologie Seit den Anfängen stand die Zelle mehr als eine neue Zeit beginnen und der Entdecker des Ge- 100 Jahre im Mittelpunkt der konventionellen setzes der Zellengenese oder einer Molekularthe- mikroskopischen Diagnostik und Forschung. Mit orie ebenso oder noch gefeierter werden, als der den in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts auch am hiesigen, im Krieg teilwei-

47 se zerstörten Institut etablierten neuen Methoden, durch die Entwicklung paraffingängiger Antikörper wie der Elektronenmikroskopie, Autoradiographie, für die Immunhistochemie abgelöst. Histochemie und Immunologie durch meinen aka- Heute ist die Immunhistochemie in der Tumor- demische Lehrer Louis-Heinz Kettler, dem Nachfol- diagnostik nicht mehr wegzudenken, kann aber ger von Robert Rössle und Hans Anders im Amte, nicht weiter zur Aufklärung molekularer Mecha- konnten die Wissenschaftler tiefer in die Struktur nismen von Tumorerkrankungen beitragen. An die- und Funktion der Zelle eindringen und eine Viel- ser Stelle haben meine Ausführungen wieder das zahl neuer Detailkenntnisse hiesige Institut erreicht. Ende über krankhafte Prozesse ge- der achtziger Jahre und in den winnen, ohne jedoch die Zel- wechselvollen Jahren der po- lebene zu verlassen und, mit litischen Wende war an eine einigen Ausnahmen, in den Einführung der Molekularpa- molekularen Bereich vorzu- thologie im Institut für Patho- stoßen. Das bereits erwähnte logie der Charité noch nicht internationale Symposium in zu denken, weil einerseits Berlin 1968 über „Die heutige die technischen Vorausset- Stellung der Morphologie in zungen dafür fehlten, ander- Biologie und Medizin“ spie- seits aber auch, weil es von gelt den damaligen Stand der 1991 bis 1994 eine überlange Wissenschaft in Ost und West Zeit des Interregnum gab, in wider und zeigt zugleich der ich 1992 von den Hoch- die Grenzen der Pathologie schullehrern des Instituts auf, die zu diesem Zeitpunkt zum amtierenden Direktor im Schatten der aufstreben- gewählt wurde, ein in der den Molekularbiologie stand Geschichte der Charité bisher (Abb. 6). Eine molekularpa- einmaliger Vorgang, der den thologische Arbeit sucht man politischen Umständen ge- Abb. 6: Im Verlag der Deutschen Akademie der Wis- deshalb unter den 97 Vorträ- senschaften erschienen 1970 sämtliche Vorträge des schuldet war. gen dieses Symposiums ver- Internationalen Symposium über „Die Stellung der Viele Kollegen ha- Morphologie in Biologie und Medizin“ 1968 in Berlin. gebens, wenn man von ei- Daran nahmen auch zahlreiche Wissenschaftler aus ben damals versucht, an lieb der Bundesrepublik Deutschland und anderen west- nem Beitrag über molekulare europäischen Ländern teil. Das Symposium fand un- gewonnen Gewohnheiten Grundlagen der Amyloidosen ter der Leitung von Prof. Louis-Heinz Kettler, Direktor und Methoden festzuhalten, des Instituts für Pathologie der Charité von 1953 bis von Günter Bruns () ab- 1976, in der neuen Kongresshalle am Alexanderplatz wenngleich ihnen theore- sieht. statt tisch klar war, dass den Me- Mangels neuer Metho- thoden der Molekularpatho- den verlegte man sich vielmehr auf das Messen logie die Zukunft gehören würde. Als Sie, lieber und Zählen zellulärer Strukturen, was eine unge- Herr Dietel, dann 1994 die Leitung des Instituts heure Flut von Daten verursachte, die für die kli- übernahmen, war es wichtig, dass sofort die rich- nische Anwendung in der Regel irrelevant waren. tigen Weichen gestellt und das Konzept für die Die Ära der Morphometrie und Stereologie und der zukünftige Forschung und Diagnostik rasch umge- automatischen Bildanalyse als morphologische setzt wurden. Ich kann bezeugen, wie schwer der Methoden zur lichtmikroskopischen und ultra- Anfang war, denn zunächst mussten notwendige strukturellen Vermessung von Zellen und Zellorga- bauliche Maßnahmen ergriffen werden, um die nellen wurde in den achtziger Jahren jedoch rasch speziellen Labore überhaupt etablieren zu können.

48 VON DER ZELLULARPATHOLOGIE­ ZUR MOLEKULARPATHOLOGIE­ · HANS GUSKI

Schon zu Beginn Ihrer Tätigkeit in unserem Institut versitärer Forschung erreicht, die immer noch dem haben Sie in einem Übersichtsartikel die Möglich- Diktat der „schwarzen Null“ huldigen. keiten beschrieben, welche die Molekularpatholo- Wenn Sie nun nach dem im Vortragstitel ange- gie damals bot (Dietel 1996). Welche Herausforde- kündigten Ausblick fragen, so muss ich feststellen, rungen sich in den ersten 10 Jahren stellten und in dass heute niemand Voraussagen machen kann, welchem Umfang diese trotz aller Schwierigkeiten die sich erfüllen. Im Gegensatz zu denjenigen, die gemeistert wurden, ist in dem 2004 erstellten Leis- in die tägliche wissenschaftliche Arbeit eingebun- tungsbericht nachzulesen. den sind, dürfen pensionierte Ihre in den letzten Jahren Professoren aber, um mit den erschienenen Übersichtsar- Worten von Helmut Schmidt beiten zeigen, welche Be- zu sprechen, Visionen haben, deutung die molekularpa- ohne gleich zum Arzt gehen thologischen Verfahren in der zu müssen, und Sie, lieber Aufklärung kompliziertester Herr Dietel, gehören ab heute zellulärer Mechanismen bei auch zu diesem privilegierten onkologischen und anderen Kreis. Krankheiten haben (Dietel Wir wissen, dass der et al. 2013, 2015). Die von eingeschlagene Weg richtig Ihnen herausgegebene aktu- ist und weitergegangen wer- elle Schrift „Current Analysis den muss, aber auch, dass die of Molecular 2016“ prädiktive Molekularpatho- (Abb. 7) enthält das gesamte logie noch nicht der Weisheit derzeit verfügbare methodi- letzter Schluss ist. Wir denken, sche Rüstzeug der Moleku- dass es irgendwann möglich larpathologie, das nunmehr sein wird, programmierbare sinnvoll eingesetzt werden Abb. 7: Die Broschüre über Molekularpathologie Manipulationen der Materie 2016 aus dem Institut für Pathologie der Charité Ber- muss. Der gegenwärtige Wis- lin enthält alle gegenwärtigen technischen Metho- auf molekularer und atoma- sensstand erlaubt uns aber den für die molekulare Analyse von Geweben rer Ebene durchzuführen. Für schon heute, folgendes Fazit die Verarbeitung der riesigen zu ziehen: Datenmengen ist der Quantencomputer schon Die Pathologie als medizinisches Fachgebiet heute im Gespräch. Welche Entdeckungen die Zu- hat mit der Molekularpathologie und ihrem Me- kunft für die Medizin tatsächlich bereit hält, wissen thodenspektrum nicht nur einen neuen, vielver- wir nicht, aber es ist nicht vermessen, schon heute sprechenden Vorstoß in die Grundlagenforschung folgende programmatische Thesen zu formulieren: unternommen, sondern durch ihre Bedeutung für die klinische Praxis auch die einzigartige Chan- Zukünftig müssen über molekulare Tumorklassifi- ce erhalten, das immer noch existente Image der kationen hinaus postmortalen Besserwisserei und der Labordienst- 1. Analyse- und Eingriffstechniken entwickelt wer- leistungsmedizin endgültig abzustreifen und defi- den, um die Tumorprogression und das Potenzial nitiv ein essentieller Bestandteil der klinischen Di- einer Angioinvasion nicht nur zu erkennen, son- agnostik und Therapie zu werden. Wir hoffen, dass dern auch zu verhindern, wofür neue Informatio- diese geistige Haltung, die bei den heutigen On- nen über die Ansprechbarkeit auf spezifische Anti- kologen angekommen sein dürfte, auch die Köpfe körper und Inhibitoren erforderlich sind. der Entscheidungsträger für die Finanzierung uni- 2. Im Hinblick auf die anderen weltweit häufigsten

49 Krankheiten und Todesursachen müssen die mole- view focussing on clinical relevance. Cancer Gene kularen Prozesse entschlüsselt werden, welche die Therapy 20 (2013), 211 – 221 Progression der frühen arteriosklerotischen Läsio- → 6. Dietel, M. et al.: A 2015 update on predictive nen bewirken. Dadurch wird es vermutlich mög- molecular pathology and its role in targeted can- lich sein, die tödlichen stenosierenden Gefäßpro- cer therapy: a review focussing on clinical rele- zesse aufzuhalten und schließlich vance. Cancer Gene Therapy 22 (2015), 417 – 430 3. muss es nach und nach gelingen, die immer → 7. Huzella, T.: Histologische Grundlagen einer noch als Folge von Klima, Armut und Hunger gras- Interzellularpathologie. Wiener klin. Wschr. 50 sierenden Infektionskrankheiten nicht nur zu diag- (1937), 1571 – 1575 nostizieren, sondern auch therapeutisch zu beherr- → 8. Koelliker, A.: Handbuch der Gewebelehre des schen. Menschen für Aerzte und Studirende. Verlag von Wilhelm Engelmann, Leipzig 1852, 6. Auflage, Fortschritte in der Lösung dieser grundlegenden Leipzig 1889 Probleme, die schon seit Jahrzehnten auf der → 9. Kugler, E.: Die Vorlesungen Rudolf Virchows Agenda der wissenschaftlichen Forschung stehen, über Allgemeine Pathologische Anatomie aus erfordern zwingend mehr Geld und eine interdis- dem Wintersemnester 1855/56 in Würzburg. ziplinäre und internationale Kooperation. Für die Hrsg. Von R. Rössle, Fischer, Jena 1930 Zukunft dürfen wir hoffen, dass als Resultat welt- → 10. Lepeschinskaja, O. B.: Die Entstehung von Zel- weiter Bemühungen eine allgemein gültige Mo- len aus lebender Materie und die Rolle der leben- lekulartheorie der Krankheit und schließlich eine den Materie im Organismus. Sowjetwissenschaft kausale Therapie heute noch unheilbarer Krank- 1952, 32. Beiheft heiten stehen werden. → 11. Mayer, C.: Über Histologie und eine neue Ein- theilung der Gewebe des menschlichen Körpers. Bei Adolph Marcus, Bonn 1819 LITERATUR → 12. Meyen, F.J.F.: Anatomisch-physiologische Un- → 1. Bargmann, W.: Über Wesen und Ziele der tersuchungen über den Inhalt der Pflanzen-Zel- modernen Morphologie. In: Abhandlungen der len. Bei Hirschwald, Berlin 1828 Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Ber- → 13. Remak, R.: Üeber extracellulare Entstehung lin, Jahrgang 1969: Internationales Symposium thierischer Zellen und über Vermehrung dersel- Die heutige Stellung der Morphologie in Biologie ben durch Theilung. Müllers Arch. Anat. Physiol. und Medizin (Hrsg. Louis-Heinz Kettler). Akade- Jahrgang 1852, 47 – 57 mie-Verlag, Berlin 1970, S. 13 – 18 → 14. Ricker, G.: Entwurf einer Relationspathologie. → 2. David, H.: Rudolf Virchow und die Medizin des Fischer, Jena 1905. 20. Jahrhunderts. In: Hamburger Beiträge zur Ge- → 15. Ricker, G.: Pathologie als Naturwissenschaft – schichte der Medizin (Hrsg. Werner Selberg und Relationspathologie. Julius Springer, Berlin 1924 Hans Hamm). Quintessenz-Verlag, München 1993 → 16. Schade, H.: Die Molekularpathologie in ih- → 3. Dhom, G.: Geschichte der Histopathologie. rem Verhältnis zur Zellularpathologie und zum Springer, Berlin Heidelberg 2001 klinischen Krankheitsbild am Beispiel der Entzün- → 4. Dietel, M. et al.: Diagnostische Molekularpa- dung. Münch. Med. Wschr. 71 (1924), 1 – 4 thologie. Deutsches Ärzteblatt 93 (1996), A2856- → 17. Schwann, Th.: Mikroskopische Untersuchun- 2863 gen über die Uebereinstimmung in der Struktur → 5. Dietel, M. et al.: Predictive molecular patholo- und dem Wachsthum der Thiere und Pflanzen. gy and ist role in targeted cancer therapy: a re- Verlag der Sander’schen Buchhandlung (G.E. Rei- mer), Berlin 1839

50 VON DER ZELLULARPATHOLOGIE­ ZUR MOLEKULARPATHOLOGIE­ · HANS GUSKI

→ 18. Shinkin, L.N., Michailow, W.P.: Über die „Neue Zelltheorie.“ Sowjetwissenschaft. Naturwiss. Beitr. 1965, 176-182 → 19. Virchow, R.: Zur Entwicklungsgeschichte des Krebses nebst Bemerkungen über Fettbildung im thierischen Körper und pathologische Resorpti- on. Arch. patholog. Anat. u. Physiol. u. klin. Med. 1 (1847), 94-201 → 20. Virchow, R.: Specificer und Specifisches. Arch. pathol. Anat. u. Physiol. u. klin. Med. 6 (1854), 3 – 33 → 21. Virchow, R.: Cellular-Pathologie. Arch. pathol. Anat. u. Physiol. u. klin. Med. 8 (1855), 3 – 39 → 22. Virchow, R.: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und patholo- gische Gewebelehre. August Hirschwald, Berlin 1858

ANSCHRIFT DES VERFASSERS Prof. em. Dr. med. Hans Guski vormals Institut für Pathologie Universitätsklinikum Charité Charité-Platz 1 10117 Berlin [email protected]

51 PERSPEKTIVEN DER PATHOLOGIE IN INTERVIEWS

VON TILL BRAUNSCHWEIG OBERARZT AM INSTITUT FÜR PATHOLOGIE DER UNIKLINIK RWTH AACHEN INTERVIEWS

SEITE 54 → PROF. DR. MED. FALKO FEND Institut für Pathologie, Direktor des Instituts für Pathologie am Universitätsklinikum­ Tübingen, Mitglied des Vorstandes der DGP

SEITE 57 → PROF. DR. MED. FERDINAND HOFSTÄDTER ehem. Direktor am Institut für Patho- logie der Universität Regensburg (bis 2009) und ehem. DGP-Vorsitzender

SEITE 60 → PROF. DR. MED. K.-F. BÜRRIG Präsident Bundesverband Deutscher Pathologen e.V.

SEITE 64 → PROF. DR. MED. RUTH KNÜCHEL-CLARKE Direktorin des Instituts für Pathologie der RWTH Aachen, DGP-Tagungspräsi- dentin 2016

Das folgende Kapitel stellt aktuelle Themen der Pa- SEITE 68 → PROF. DR. MED. thologie als Momentaufnahme mit Zukunftsaspek- KONRAD MÜLLER-HERMELINK ten in Form von Interviews vor. ehem. Leiter des Pathologischen Insti- Die Themen sind breit gestreut und umfas- tuts der Julius-Maximilians-Universität sen neben den klinischen Obduktionen die The- Würzburg (bis 2009) men Biobanken, Subspezialisierung und Refe- renzpathologie, Qualitätssicherung innerhalb der SEITE 72 → PROF. DR. MED. HOLGER MOCH Pathologie und die digitale Pathologie (inkl. Bild­ Institut für Klinische Pathologie am analyse). Als weiteres wichtiges Thema ist die Mo- UniversitätsSpital Zürich, stellvertre- lekularpathologie vertreten. tender Vorsitzender der DGP Bei der Suche nach Interviewpartnern wurde darauf geachtet, den deutschsprachigen Raum ab- SEITE 75 → PROF. DR. MED. zudecken, sowohl Frauen als auch Männer zu Wort ANDREA TANNAPFEL kommen zu lassen und Pathologen mit langer Be- Direktorin des Instituts für Pathologie rufserfahrung zu befragen. der Ruhr-Universität Bochum Die Interviews führte Till Braunschweig, Ober- arzt am Institut für Pathologie der Uniklinik RWTH SEITE 77 → PROF. DR. MED. Aachen. PETER SCHIRMACHER Die hier geführten Gespräche stellen erst den Direktor des Instituts für Pathologie Auftakt einer Reihe von Interviews dar. Es ist ge- am Universitätsklinikum Heidelberg, plant, diese Arbeit fortzusetzen. Vorsitzender der DGP

53 INTERVIEW MIT

PROF. DR. MED. FALKO FEND INSTITUT FÜR PATHOLOGIE, DIREKTOR DES INSTITUTS FÜR PATHOLOGIE AM UNIVERSITÄTSKLINIKUM TÜBINGEN, MITGLIED DES VORSTANDES DER DGP

TILL BRAUNSCHWEIG: Wie sehen Sie die Pers- de Anzahl der Obduktionen ist sicherlich Ausdruck pektive und Entwicklung der klinischen Obduktio- des Zeitgeistes, aber spiegelt auch einen geringen nen in der Pathologie? Willen der Kliniker wider, sich für Obduktionen bei den Angehörigen stark zu machen. Der fehlende PROF. DR. MED. FALKO FEND: Wir haben eine Einschluss von Verpflichtungen zur Obduktion im relativ niedrige Sektionsfrequenz von 10 – 15%, Rahmen von Tumorzentren und klinischen Studien wobei die Hälfte davon pränatale Fälle darstellen. ist ein Versäumnis, vor allem bei Mortalitäts- und Wir haben viel für eine steigende Sektionszahl ge- Morbiditätskonferenzen. Auch wenn das Struktur- tan: Neben einer Broschüre für Angehörige haben gesetz eine Regelung in Angriff nimmt, bedarf es wir im Klinikumsrat und in Tumorboards immer weiteren Engagements der Fachvertreter. wieder nachgebohrt und mit Statistiken versucht, die Kliniker zu überzeugen. Außerdem ist die Mo- Wie sehen Sie die Entwicklung und die Pers- lekularpathologie in die Obduktionsbefundung pektive der Biobanken? eingeschlossen. Dabei darf man nicht die Ausbil- dung der Medizinstudenten aus den Augen lassen Die Entwicklung der Biobanken sehe ich zwie- und muss die Relevanz der Obduktion lehren. Auch spältig, da sie sehr aufwändig organisiert sind und wenn die Regelung der Bezahlung und Anzahl die Finanzierung in der Regel nicht großzügig aus- der Sektionen über das Krankenhausstrukturge- fällt. Darüber hinaus ist die Zahl der Anfragen nicht setz helfen würde, wäre ein Hauptproblem die so hoch, wie man es sich wünscht. Das Liquidbio- fehlende Expertise der vorhandenen Pathologen. banking ist, gegenüber den Gewebebanken, nicht Zukünftig wäre es wahrscheinlich verstärkt nötig, zwingend mit der Pathologie verbunden, sollte einen Facharzt / Oberarzt zu haben, der das als re- aber, falls innerhalb eines Standortes aufgebaut, levantes klinisches Standbein hat und die Ausbil- dieselbe IT-Plattform benutzen und darüber ver- dung innerhalb der Pathologie weiterentwickelt. knüpft sein. Im Rahmen der Gewebe-Biobanken Den Klinikern ist die Sektion als qualitätssichernde können unterschiedliche Wege beschritten wer- Maßnahme am ehesten über die Präsentation ex- den. Das Sammeln der Gewebeproben kann „quer- emplarischer Fälle näher zu bringen. Auch der Ein- beet“ oder nach Indikationen, standortbezogen schluss von Methoden aus der Rechtsmedizin, wie oder standortübergreifend erfolgen, wobei sich der Virtopsie mit Biopsiegewinnung bei fehlender hier das Konzept „querbeet“ mit Schwerpunkten Zustimmung durch Angehörige wäre als ein zu- etabliert hat. Aus konkreten Forschungsprojekten sätzlicher Zugangsweg zu diskutieren. Die sinken- oder Forschungsverbünden kann auch eine über-

54 INTERVIEW MIT PROF. DR. MED. FALKO FEND

greifende Biobank entstehen, wo auch niederge- Wie sehen Sie die momentane Qualitätssiche- lassene Pathologen und kleinere Krankenhäuser rung in der Pathologie? Proben beisteuern. Hier könnte die Vergabe von Prämien ein Anreiz sein. Die Entwicklung zeigt, Bezüglich der Qualitätssicherung hat Deutsch- dass der Stellenwert der Biobanken mit Gefrier- land gut aufgeholt, aber es bleibt Platz nach oben. proben sinkt, da inzwischen sehr viele Methoden Die Entwicklung der letzten Jahre /des letzten Jahr­ auch an Paraffingewebe durchführbar sind, bis hin zehnts ist für die Glaubwürdigkeit und Verlässlich- zu proteomischen Anwendungen. Abschließend zu keit des Faches sehr wichtig. Die Bemühungen des erwähnen bleibt, dass, als Hindernis für eine über- Bundesverbandes und der Deutschen Gesellschaft regionale Vernetzung, die ethischen und legalen für Pathologie, bei neu aufkommenden Biomar- Probleme immer standortspezifisch gelöst werden. kern einen Ringversuch zu organisieren, ist sehr wichtig und richtig. Dennoch bleibt bislang unklar, Wie sehen sie die Entwicklung der Subspezi- was geschieht, wenn jemand die Standards (z. B. alisierung innerhalb der Pathologie und der Refe- wiederholtes Durchfallen bei Ringversuchen) nicht renzzentrenbildung? einhält, denn Konsequenzen (z. B. durch Regeln der Krankenkassen) folgen nicht. Im Vergleich mit den Die Tendenz zur Subspezialisierung muss wei- restlichen europäischen Ländern ist Deutschland ter fortschreiten, vor allem an universitären Institu- sehr gut aufgestellt, was die Ringversuche betrifft. ten. Unser Institut ist breit aufgestellt für die Rou- Im Vergleich mit den USA brauchen wir uns eben- tinediagnostik, was bedeutet, dass jeder Oberarzt falls im Hinblick auf Komplexität und Qualität nicht neben der fundierten Kenntnis der Befundung des zu verstecken. Der Stellenwert der Ringversuche allgemeinen Eingangsmaterials auch einen be- dehnt sich auch auf den Zusammenhalt des Faches sonderen Bereich mit Expertise hat. Die Aufstel- aus, vor allem im Bereich der Molekularpatholo- lung mit der Abdeckung gängiger Subspezialitäten gie, denn dort kommt es neben der technischen hat, neben dem fachlichen Aspekt gegenüber den Bearbeitung auch auf die Interpretation und Ein- Klinikern, auch eine Auswirkung auf die Argumen- ordnung der Daten an. Die Frequenz von Ringver- tation für die Aufrechterhaltung der Personaldecke. suchen war und ist hoch, so dass inzwischen die Weiterhin ist es standespolitisch und für die trans- Kosten für die Ringerversuche im Budget abgebil- lationale Forschung notwendig. Auch wenn Sub- det sein müssen – dennoch denke ich, dass man spezialitäten abgedeckt werden, sollte es immer dieses „Spiel“ vor allem dort mitspielen muss, wo einen Vertreter geben. Das Thema der Referenzpa- man den sehr standardisierten Labormedizinfä- thologien ist standespolitisch schwierig. Referenz- chern nah ist, wie mit der Molekularpathologie. pathologien sind absolut erforderlich, sollten aber universitär verhaftet sein, da der wissenschaftliche Wie sehen Sie die Entwicklung und das Poten- Aspekt Platz einnehmen sollte. Daher gehen meine tial der Digitalisierung der Pathologie und die Bil- Anfragen eher an Referenzpathologen in Universi- danalyse? täten, da dort eher ein Register aufgebaut und dia- gnostische Forschung (z. B. Weiterentwicklung im- Ich denke doch, dass wir in den nächsten Jah- munhistochemischer Biomarker) betrieben wird. ren eine Welle der Digitalisierung sehen werden. Weiterhin sehe ich die Referenzpathologie im Be- Wir haben gerade ein Projekt gestartet, bei drei reich der Niedergelassenen kritisch, da dort meist Standorten mit Schnellschnitten und Pathologen keine Ausbildung im Sinne einer möglichen Nach- vor Ort, die bislang mit Mappen beliefert wurden, folge / Vertretung erfolgt. jetzt aber die Umstellung auf die digitale Befun-

55 INTERVIEW MIT PROF. DR. MED. FALKO FEND

dung erfolgen soll, um den Transport von Schnitten thologischen Befundung in der Pathologie sind einzusparen. Die aufkommenden Scanzeiten wür- schwierig, wobei abermals betont werden muss, den dabei etwa den Transportzeiten entsprechen, dass der zusammenführende Befund nur in der so dass kein Zeitverlust auftritt. Ich persönlich Pathologie möglich ist. Die Liquid Biopsy ist wahr- glaube, dass wir in 10 bis 20 Jahren nicht mehr in scheinlich eher nicht in der Pathologie zu halten, das Mikroskop schauen werden. Die Systeme zur wobei ich den zukünftigen Stellenwert in der Pri- Betrachtung sind mittlerweile sehr zügig und er- märdiagnostik als nicht sehr hoch einschätze. Auch lauben die parallele Betrachtung von Färbungen. Forschungsthemen, wie Tumorbiologie, Grundla- Für die Universität wäre ein digitalisiertes Arbeiten genforschung und gewebsbasierte Molekularpa- in einzelnen Teilbereichen sehr praktisch und zeit- thologie ist nur suffizient in der Pathologie mög- sparend, wie die Suche nach Fällen im Archiv, und lich. Zum Beispiel ist die molekularpathologische so für die Wirtschaftlichkeit sicher ein Fortschritt. Untersuchung von präneoplastischen Läsionen Dieses Jahr beginnen wir mit der Digitalisierung, nur in der Pathologie – aufgrund des vorhandenen dabei muss ich gestehen, dass auch hier die Leute morphologischen Verständnisses – möglich. nicht vom Mikroskop wegwollen. Die Imageanaly- Für die Weiterentwicklung des Faches allge- se hat einen hohen Stellenwert für die Forschung mein liegt mir noch eins am Herzen: Die Leistungs- und setzt die Digitalisierung voraus. Eine automa- fähigkeit, die wir haben, ist sehr gut, trotz perso- tisierte Diagnosestellung über die Bildanalyse hal- neller Unterbesetzung. Im europäischen Vergleich te ich für nicht machbar, die Erhebung unterstüt- mit Pathologe pro Einwohner liegt Deutschland zender Daten, wie der Tumorgröße oder andere auf dem vorletzten oder drittletzten Platz. Daher Quantifizierungen, ist realistisch. muss, gerade im akademischen Bereich, eine Auf- stockung der Stellen erfolgen, da das vorhandene Wie sehen Sie die Entwicklung und Perspekti- Personal nahezu vollständig für die Diagnostik ve der Molekularpathologie? eingesetzt wird. Für die Forschung und Lehre bleibt wenig. Als Teufelskreis bedingt diese Situation we- Das Fach kann nur mit der Molekularpatholo- niger Nachwuchs, da sich potentielle Interessenten gie überleben, sonst werden wir zu Gewebeliefe- abwenden, wenn sie merken, dass sie trotz einer ranten. Dabei sollte betont werden, dass die Mole- Stelle an der Universität nicht zum Forschen kom- kularpathologie nur ein Splitter in der Befundung men. Eine Überlegung könnte sein, den Niederge- darstellt und der Pathologe der einzige ist, der ei- lassenenbereich der Pathologie in die Ausbildung nen synoptischen Befund erstellen kann. In diesem von Pathologen einzubeziehen, und eine Ausbil- Rahmen müssen wir mit neuen, besseren Geräten dungspauschale oder eine direkte Stellenfinanzie- die Leistung in vernünftigem Umfang und Preis an- rung zu diskutieren. bieten. Zusätzlich existiert die Immunhistochemie, mit deren Einsatz mittlerweile auch aktivierte Sig- nalwege gefunden werden können, deren Ergeb- nisse ebenfalls häufig in den Abschlussbefund ein- fließen. Parallel wird die Flüssigbiopsie beworben, deren genetische Analyse von onkologischen bzw. internistischen Laboren durchgeführt werden soll, und ohne Kontext oder Hintergrund der Patholo- gie auf rein genetischen Beobachtungen beruht, was meiner Meinung nach nur fehlerbehaftet sein kann. Prognosen zum Verbleib der molekularpa-

56 INTERVIEW MIT

PROF. DR. MED. FERDINAND HOFSTÄDTER EHEM. DIREKTOR AM INSTITUT FÜR PATHOLOGIE DER UNIVERSITÄT REGENSBURG (BIS 2009) UND EHEM. DGP-VORSITZENDER

TILL BRAUNSCHWEIG: Wie sehen Sie die Pers- Wie sehen Sie die Entwicklung und die Pers- pektive und Entwicklung der klinischen Obduktio- pektive der Biobanken? nen in der Pathologie? Bei der großen Anzahl an Biobanken ist es PROF. HOFSTÄDTER: Die klinische Sektion er- nicht möglich, dass alle sämtliche Qualitätskrite- fährt momentan eine Anerkennung als qualitäts- rien und Anforderungen erfüllen können. Daher sichernde Maßnahme für die Pathologie als Basis kann, bei einem hohen Anspruch an ein umfas- für die Finanzierung. Unter untergesetzlichen Ge- sendes und breites Spektrum, eine Zentralisierung sichtspunkten der bisherigen qualitätssichernden sinnvoll sein, was schwierig umzusetzen ist. Ein Maßnahmen, zum Beispiel im Rahmen der Zentren, weiteres Problem stellt meines Erachtens der ge- spielt sie kaum eine Rolle und ist im Erhebungsbo- ringe Nutzungsgrad dar. Die Biobanken werden gen der Pathologie nur als Option gelistet. In Mel- formal und strukturell korrekt aufgebaut und sind deanlässen wird bei Verstorbenen nur die Angabe mitunter eine erforderliche Basis für Anträge, wer- der klinischen Ursache, aber kein Bezug auf ein den jedoch - nach meiner Erfahrung - nicht in spür- Obduktionsergebnis gefordert. Auch in den Morbi- barem Ausmaß genutzt. Daher könnte es sinnvoll ditäts- und Mortalitätskonferenzen gibt es in den sein, die Zahl der Biobanken zu begrenzen und als Zertifizierungsvorgaben keinen Bezug zur klini- Aufgabe weniger Zentren zu sehen. Dabei sollte schen Sektion. Die Konsequenz aus der Aufnahme die Motivation zur Gewebegewinnung seitens der in das Krankenhausstrukturgesetz sollte sein, dass klinischen Kollegen und der Sammlung von Pati- die klinische Sektion standardisiert, die Qualität entendaten nicht darin bestehen, nur die eigene verbessert und die Sektion wieder in die QM-Regu- Forschung zu unterstützen, sondern eine Biobank larien der Zentren aufgenommen wird. mit großer Bandbreite und guter Datengrundlage In Österreich ist die Tendenz ähnlich. In den dort aufzubauen und zu unterhalten. geringer ausgebauten Organzentren spielen die klinischen Obduktionen keine Rolle, auch wenn sie Wie sehen Sie die Entwicklung der Subspezi- aus historischen Gründen eine höhere Frequenz als alisierung innerhalb der Pathologie und der Refe- in Deutschland aufweisen und eher den Charakter renzzentrenbildung? einer Abseitskultur innehaben.

57 Die Subspezialisierung ist sowohl im Rah- Bei diesem Punkt gibt es zwei unterschied- men der Weiterbildung als auch in Bezug auf das liche Aspekte: die Informatik und die Digitalisie- Selbstverständnis der Pathologie problematisch. rung. Ich erinnere mich an die Anfänge, als es An Zentren braucht es, wie auch bei den klinischen Morphometrie mit visueller Analyse an den ersten Kollegen, Spezialisten. Da Deutschland ein freier digitalen Bildern gab, die riesige Datenmengen Rechtsstaat ist, existiert keine zentral strukturierte erzeugten. Das stellt heute kein Problem mehr dar. Organisation und es gibt keine Vorgaben zur Zahl Aus meiner Sicht ist die Digitalisierung nicht mehr solcher Spezialisten. Die Spezialisten finden ihren aufzuhalten. Ich habe die Digitalisierung früh in Raum, aber sie müssen dafür sorgen, dass Nachfol- die Lehre und die Qualitätszirkel eingeführt. Einer ger ausgebildet werden. Das Vorhalten von Spezi- Übernahme in die Routine steht die noch nicht aus- alisten in Zentren, wie auch bei der Referenzpatho- reichende Geschwindigkeit im Wege. Bisher ist die logie, sollte innerhalb des Fachbereichs Pathologie Befundung am Mikroskop deutlich schneller, da gehalten werden. Es muss verhindert werden, dass das Aufrufen der Fälle am Rechner Zeit kostet. Es sich Subspezialisierungen abkoppeln oder in klini- ist dennoch machbar, aber zeitaufwändig, kom- sche Fachbereiche abwandern. Eine Regulierung plexere Fälle am Computer, wie zum Beispiel ein von Referenzzentren kann es nicht geben, aber die Lymphom, zu diagnostizieren. Die AG der DGP, die DGP kann vorsichtig steuern und behutsam bera- sich darum kümmert, ist für die Wegbereitung und tend tätig sein. Formalisierung sehr wichtig. Die Bildanalyse an eingescannten Präparaten Wie sehen Sie die momentane Qualitätssiche- ist im Rahmen der Zytologie eine ältere Idee. Die rung in der Pathologie? Bildanalyse der Schnittpathologie sehe ich sehr kritisch. Bei der Immunhistochemie ist aufgrund Die Akkreditierung mit Audits ist eine gute der Unterschiede der Schnittdicke und uneinheitli- Maßnahme und ich bin von Anfang an ein großer chen Färbereaktionen eine autochtone Diagnose- Anhänger dieser Qualitätssicherung. Es fehlt mir je- stellung nicht durchführbar. Die Analysen können doch im Qualitätsmanagement, obschon die Struk- für die Diagnostik unterstützend sein. Eine Diagno- turen in der Pathologie intensiv geprüft werden, sestellung aufgrund der Bildanalyse sehe ich selbst dass die Frage nach dem „Outcome“ nicht regelhaft an Biopsien kritisch. Es stellt sich die Frage, ob die thematisiert wird. Was ist in Folge der pathologi- Färbungen und Methoden, die teilweise noch aus schen Diagnose herausgekommen? Es wäre sinn- dem 19. Jahrhundert stammen, für die Bildanalyse voll nachzufragen, ob eine Diagnose so stimmig zeitgemäß sind. Außerdem sollte man in die Über- ist, dass das eintritt, was aufgrund der Diagnose legung mit einbeziehen, ob andere Verfahren, wie erwartet wird. nicht-destruktive 3D-Scanverfahren, der Histologie Die QuIP findet Anerkennung bei der Deut- überlegen sein könnten. schen Krebsgesellschaft, in geringerem Maße bei Als Nebenpunkt im Rahmen einer Compu- den Kostenträgern. Es ist zu hoffen, dass ihre Be- ter-gestützten Befunderstellung wäre meiner Mei- deutung durch die gegenwärtige Umstrukturie- nung noch wichtig: Es ist nicht nur die Gestaltung rung und Anerkennung noch zunimmt. der Befunde von Bedeutung, sondern auch die Semantik; es herrscht ein Durcheinander an Be- fundtexten und Diagnosen, sodass die Krebsregis- Wie sehen Sie die Entwicklung und das Po- ter Mühe haben, alles in eine standardisierte Form tential der Digitalisierung der Pathologie und die zu bringen. Eine Standardisierung anhand zum Bildanalyse? Beispiel strukturierter Befunde über die Patholo- gie-Management-Systeme wäre eine Abhilfe.

58 INTERVIEW MIT PROF. DR. MED. FERDINAND HOFSTÄDTER

Wie sehen Sie die Entwicklung und Perspekti- ve der Molekularpathologie?

Zur Molekularpathologie sind zwei Gesichts- punkte zu betrachten. Zum einen das expandie- rende, offene Gebiet der Diagnostik, das für den Stellenwert der Pathologie eine große Rolle spielt. Sie sollte an die Gewebekunde und Morphologie, also an die Pathologie, geknüpft sein. Der Idee, dass die Molekularpathologie die morphologische Diagnostik ersetzt, stehe ich sehr zurückhaltend gegenüber. Zum Zweiten war die Molekularpa- thologie von Anfang an auch molekulare patho- logische Biologie. Mir fehlen bei all der Euphorie und dem Wertzuwachs der Aspekt der molekular- biologischen Forschung und die Erforschung von Krankheitsmodellen. Die Diagnostik, Targets und Medikamente werden selten von den Pathologen entwickelt. Die Bedeutung der Pathologie wird da- durch nicht geschmälert, aber die Grundlagenar- beit dazu hat ein anderer geleistet. Im Rahmen der molekularpathologischen Forschung sollte der Fo- kus nicht nur auf der Verbesserung der diagnosti- schen Tools, die nicht aus der Pathologie stammen, gerichtet sein, sondern auch auf die Grundlagen- forschung. Dabei könnten Themen der allgemei- nen Pathologie, der Pathogenese und von Krank- heitsmodellen aufgenommen werden. Stellt die Molekularpathologie nur ein diagnostisches Tool in der Pathologie dar, besteht die Gefahr der Über- nahme durch Labormediziner und Genomiker und wir werden zu Lieferanten ohne eigenen Beitrag.

59 GRUSSWORT DES BDP-VORSTANDS ZUM 120-JÄHRIGEN JUBILÄUM DER DGP

Einige relevante Themen und ihre Entwicklung unter dem Aspekt der Weiterbildung und der Berufsausübung in der Krankenversorgung

INTERVIEW MIT

PROF. DR. MED. K.-F. BÜRRIG PRÄSIDENT BUNDESVERBAND DEUTSCHER PATHOLOGEN E.V.

Einheit des Fachgebiets, Einheit der Pathologen – flächendeckende Versorgung der Patientinnen der Erfolgsfaktor eines Fachgebiets. Die Arbeit des und Patienten …“. Respekt und Zusammenarbeit Bundesverbandes hat sich in den vergangenen zwischen den Pathologen aller Versorgungsebe- Jahrzehnten an den Ergebnissen der 2006 durch- nen ermöglichen heute einen raschen Transfer geführten „Strategiekonferenz der deutschen Pa- von Innovationen in die breite dezentrale Versor- thologie“ orientiert. gung und sind ein wichtiger Grund für die Vitalität Die These Nr. 2 lautete: „Eine im Rahmen der und die Erfolgsgeschichte unseres Fachgebiets in Grundlagenforschung und in der klinischen Diag- Deutschland. Wir gratulieren der Deutschen Gesell- nostik starke Universitätspathologie ist unverzicht- schaft für Pathologie zum 120-jährigen Jubiläum. bare Basis der zukünftigen Pathologie. Die Innova- tionen aus dem universitären Beriech integrieren Prof. Dr. med. K.-F. Bürrig, Präsident Bundesver- das Fach in die Spitzenmedizin und werden seine band Deutscher Pathologen e.V. Vitalität auch im außeruniversitären Bereich durch die Entwicklung neuer diagnostischer Ansätze si- Prof. Dr. med. T. Kirchner, Vizepräsident Bundesver- chern.“ band Deutscher Pathologen e.V. Die These 3 schließt sich an: „Leistungsstarke Institute in freiberuflicher Trägerschaft und in Kran- kenhäusern garantieren die Umsetzung der ste- tigen Weiterentwicklung des Fachgebietes in die

60 STATEMENTS DES BUNDESVERBANDES DEUTSCHER PATHOLOGEN

Die Obduktion: Entwicklung, Stellenwert, ihr der Standardisierung ausdrücken. Sie muss nicht Gestaltungswandel und ihre Perspektive nur die Ausübung der Sektion, sondern auch die Befundabfassung erfassen. Hier wird die soeben PROF. DR. MED. K.-F. BÜRRIG: Die Entwicklung herausgekommene Überarbeitung der Leitlinie der Obduktionszahlen, auch im europäischen Maß- Obduktion hoffentlich wirksam werden. Dem sich stab, zeigt in den letzten Jahrzehnten anscheinend wandelnden Wissensbedarf der klinischen Kolle- unumkehrbar eine negative Tendenz. 1979 wur- gInnen muss Rechnung getragen werden. Patho- den in Deutschland noch 17 % der im Krankenhaus logInnen müssen die komplexen Geschehnisse Verstorbenen obduziert, 1999 waren es noch 11 %. der Therapie umfänglich verstehen und würdigen Wie eine Umfrage des Bundesverbandes in 2016 können. Auf neue Fragen darf es nicht nur alte Ant- ergeben hat, ist die Quote derzeit bei ca. 3 % ange- worten geben. kommen. Dies hat multiple Gründe. Zu einem: Die Vielleicht ist es zu früh, von einer Renaissance Vergütung der Obduktionen wurde jahrzehntelang der klinischen Sektion zu sprechen. Aber wesentli- aus dem Qualitätssicherungsfonds der Kranken- che Parameter haben sich positiv geändert. häuser getragen. Jetzt soll sich die Finanzierungs- frage insofern entspannen, als die Kassen durch Subspezialisierung innerhalb der Pathologie – die Änderung des Krankenhausfinanzierungsge- wann? setzes mit Wirkung ab 2017 verpflichtet wurden, für klinische Sektionen einen krankenhausindivi- Fachlich ist die Pathologie das letzte unge- duellen DRG-Zuschlag zu zahlen. Dafür müssen die teilte medizinische Fachgebiet. Die großen Fächer Häuser bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Dem Innere und Chirurgie haben „nur“ noch Rahmen- von allen unbestrittenen Stellenwert der Obdukti- funktion für sieben, acht selbstständige Fachge- on für die Qualitätssicherung in der Medizin könnte biete. Auch die Methodik der Pathologie ist kons- insofern jetzt auch die Vergütung folgen. tant. Zwar wurde sie bis hin ins Molekulare und die Der Stellenwert der Obduktion für die Wei- Proteomics ständig erweitert, aber keine Methode terbildung in der Pathologie ist groß. Allgemeine wurde je über Bord geworfen. Es traf und trifft für Pathologie und Obduktion als Einübung in die Sys- die Pathologie schon immer der Schlake-Satz zu tematik des Fachgebiets sind unverzichtbar, weil „Es gibt nur eine Pathologie“. Das hat er sowohl konstitutiv. Zwar hat das Fachgebiet die für den fachlich als auch strukturell gemeint. Generell gilt Abschluss der Weiterbildung geforderte Zahl der wie schon unter dem Aspekt Obduktion beschrie- Obduktionen von 300 von vor 20 Jahren auf derzeit ben, dass die allgemeine Pathologie und die Ob- 150 gesenkt, auch zugunsten konkurrierender neu- duktion die Grundlage des fachlichen Wissens sind. er Bereiche in der Pathologie, aber gerade die Kran- Frühe Spezialisierung, etwa in der Weiterbildung, kenhauspathologie hat sich einer weiteren Sen- ist für die Patientenversorgung kein Vorteil. Im kung verweigert. In den letzten Jahrzehnten wurde Jahr 2005 veranstaltete Prof. Mihatsch ein Sympo- auch die ablehnende Haltung gegenüber Teilsekti- sium „150 Jahre Pathologie Basel – Struktur und onen relativiert. Die 14 Thesen der „Strategiekon- Funktion einer modernen Pathologie“, in dem die ferenz der deutschen Pathologie“ verzeichnete un- Frage der Subspezialisierung ausgiebig thema- ter 10: „Eine modifizierte Obduktionspathologie … tisiert wurde. Es war ein Brainstorming der (nicht wird neben die klassische Obduktionspathologie nur) deutschsprachigen Pathologie über die zu- als weiterhin unverzichtbarer Bestandteil im Wer- künftigen Aufgaben des Fachs und vor allem die degang und der Berufsausübung von Pathologen Strukturen, die ihnen gerecht werden könnten. treten.“ Der Gestaltungswandel wird sich auch in Der Spezialisierung der Medizin müsse ein spezi-

61 alisiertes Fachwissen der Pathologie gegenüber- und erst der Gesetzgeber sie 2005 verpflichtend stehen – so die These. Es wurde aber schnell klar, machen musste, hatte sich die Pathologie freiwil- dass selbst die in dem großen Baseler Institut dafür lig an diesem Thema abgearbeitet. Bereits 1999 gegründeten „Mikroteams“ nicht alle Spezialisie- wurde das erste Institut für Pathologie (Prof. Dr. rungen abdecken konnten. Auch die Furcht junger Falk, Frankfurt) akkreditiert! Heute sind rund 100 PathologInnen,­ durch ein spezielles Wissensgebiet Einrichtungen von ca. 450 akkreditiert, erfüllen nicht ausgelastet oder allgemein einsetzbar zu er- also den höchstmöglichen extern abgeprüften scheinen, wurde geäußert. Die Lösung liegt eher Kompetenzstandard. Damit liegen in Deutschland in der gut gepflegten Netzbildung, in der Verbin- mehr Akkreditierungen vor als in ganz Europa zu- dung von pathologischen Einrichtungen mit sol- sammen. Wichtig erscheint die Nachhaltigkeit – chen anderer Spezialisierung, der Verbindung von fast alle erstakkreditierten Institute unterziehen Fläche und Zentrum, von Grundversorgern und sich der Reakkreditierung. Erfreulich ist, dass die Experten. Die Digitalisierung der Pathologie wird Universitäten in Abkehr von ersten abwehrenden diese Entwicklung befeuern. Und solange die Wei- Aussagen „unsere Diagnostik ist sowieso letztins- terbildung mit der Obduktion und der allgemeinen tanzlich“ mittlerweile führend beteiligt sind. Die Pathologie eine belastbare Grundlage bildet, wird Anfänge dieser Entwicklung sind in der Zertifizie- eine darauf aufbauende Spezialisierung unter den rung der Universitätspathologie in Dresden unter Versorgungsnotwendigkeiten vor Ort gut erfolgen Prof. Baretton dokumentiert. Standard ist auch können. das richtige Stichwort für den Start der QuIP im Auch hier stellt die Tradition in der Pathologie Jahr 2004. Dort hieß und heißt es: „Standardisie- das richtige, alte Verhaltensmuster für neue Bedin- rung vor Zentralisierung“. Die Gelegenheit für alle gungen bereit: nirgends gibt es den Usus eines so versorgenden Einrichtungen für Pathologie, ihre ausgedehnten Konsiliarsystems wie in der Patho- Qualität abzuprüfen und zu dokumentieren, trägt logie. wesentlich dazu bei, „gefühlte“ Qualität in zent- ralen oder großen oder eminenten Einrichtungen Qualitätssicherung in der Pathologie – wichti- mit der Realität abzugleichen und für sich und die ge Elemente im Fokus Öffentlichkeit zu dokumentieren. Zur Molekularpa- thologie und zur Voraussetzung der Leistungser- Im Fokus stehen bei der Qualitätssicherung bringung nach Abschnitt 19.4 EBM werden in den die Akkreditierung und die QuIP GmbH, demnächst nächsten Monaten durch die Vertragspartner GKV auch die zu erwartende QS-Richtlinie Molekular- und KBV neue Vorgaben ausgearbeitet. pathologie. Qualitätssicherung in der Pathologie Es sollte dürfen, wer kann, das ist auch in der ist Voraussetzung für Qualitätssicherung durch Molekularpathologie die Richtschnur. Pathologie. Eine heute noch aktuelle und zent- rale Aussage aus den Anfängen der QS, die zwei Perspektive für das digitale Imaging bzw. In- Elemente beinhaltet: a) die ehrliche Selbstver- formatik und Bildgebung pflichtung „vor der eigenen Tür zu kehren“ und b) der Anspruch, auch zur QS der Medizin insgesamt Die digitale Pathologie, hier vorrangig die Kom- beitragen zu wollen. In vielen Fällen klinischer Tä- ponente Imaging, ist noch unterentwickelt, aber tigkeit ist die Histologie / Zytologie tatsächlich die für die Zukunft zwingend notwendig. Die Interdis- einzige qualitätssichernde Maßnahme. Während ziplinarität, die Kommunikation, die diagnostische die Einführung von QS-Systemen im ärztlichen Be- und methodische Qualität, die Dokumentation, die reich auf hinhaltenden Widerstand gestoßen war Bioinformatik, der Workflow, die Krebsregister –

62 STATEMENTS DES BUNDESVERBANDES DEUTSCHER PATHOLOGEN erfordern die Digitalisierung. BDP, DGP und IAP Entwicklung, Stellenwert und Perspektive der haben zu Beginn dieser Bewegung im Jahr 2000 Molekularpathologie „Feststellungen und Fragen zur Telepathologie“ gemeinsam herausgegeben. Dort wurde noch aus Im Jahr 2014 organisierte der Bundesverband heutiger Sicht zaghaft formuliert: „Die Telepatho- ein „Brennpunktgespräch“ zur Einleitung von So- logie als wichtiger Teilbereich der Telemedizin fortmaßnahmen zu diesem Thema. „Die Zukunft eröffnet neue Möglichkeiten für das Fachgebiet hängt vom Gelingen der morpho-molekularen Pathologie und kann darüber hinaus zu Verbesse- Einheit ab,“ lautete die Zusammenfassung. Für rungen in der Patientenbehandlung führen. Denk- alle Teilnehmer unbestreitbar war und ist die Mo- bar ist der sinnvolle Einsatz der Telepathologie z. lekularpathologie wichtiger Wachstumsbereich B. in der Weiterbildung zum Facharzt für Patho- des Faches. Das gilt selbstverständlich auch für logie bzw. in der kontinuierlichen Fortbildung Methoden, wie zum Beispiel für die Liquid Biopsy. (CME) und in der Einholung von Zweitmeinungen Die Pathologie muss sich den potenziell ihre Dia- zwischen Pathologen.“ Das digitale Empower- gnostik ergänzenden Methoden gegenüber offen ment erscheint dringender als damals, darf aber zeigen und das Terrain besetzen. In Zukunft wird nicht nur in sehr großen Einheiten stattfinden. sich die Methodik von der DNA zu Proteintechni- Im Fokus sollte die Idee stehen, dass z.B. das di- ken bewegen – so die Einschätzung. Die Frage wird gitale Imaging seinen Beitrag dazu leisten kann, immer bleiben: Wie kann man das Alleinstellungs- dass die aus Versorgungsgründen notwendig in merkmal der Pathologie in diesem Bereich fest- der Fläche verankerten Institute unproblematisch schreiben? Gelingt es, auch die gewebeferneren untereinander und mit Spezialisten kommuni- Methoden der Arbeit am morphologischen Subs- zieren können. Digitalisierung und regionale An- trat zuzuordnen? Der Pathologe, so der Anspruch, wesenheit bedingen einander. Netzwerken ist verantwortet nicht nur die morphologische, son- ohne digitale Pathologie nicht mit vertretbarem dern auch die morphologiebezogene Krankheits- Aufwand möglich. Noch ist z. B. in der Konsilpa- diagnostik. Sein diagnostisches Denken kann nicht thologie das Einpacken und Versenden über den mit der Genetik aufhören. Er bringt sich ein in die Postweg der übliche Weg von Untersuchungs- klinische Entscheidung, Entitätsdefinition und Pro- gut. Nicht nur das Konsiliarwesen profitiert vom gnose liegen bei ihm. Die Pathologie wird im Ver- Digital Imaging. Die heutigen standortübergrei- lauf der präziseren und diversifizierten Diagnostik fenden (Teil-)Gemeinschaftspraxen sind be­reits immer wichtiger. besser ausgerüstet und agieren miteinander auf Um auf der Höhe der Zeit zu bleiben und den gemeinsamen Plattformen. Anspruch der Pathologie zu wahren, braucht es ne- Die Aufgabe der Kommission Digitale Patholo- ben Anstrengungen in der Forschung leistungsstar- gie des Bundesverbandes besteht in der Förderung ke Versorgungsstrukturen in der Fläche. der Verbreitung der digitalen Pathologie durch ei- nen systemischen Ansatz, durch die Ausgestaltung von Rechtssicherheit in diesem Bereich, durch die Definition von technischen und organisatorischen Rahmenbedingungen und durch die Konzentrati- on auf die Interoperabilität und die Standardisie- rung.

63 INTERVIEW MIT

PROF. DR. MED. RUTH KNÜCHEL-CLARKE DIREKTORIN DES INSTITUTS FÜR PATHOLOGIE DER RWTH AACHEN, DGP-TAGUNGSPRÄSIDENTIN 2016

TILL BRAUNSCHWEIG: Wie sehen Sie die Pers- der Organzentren, bei der vorhandenen Belastung pektive und Entwicklung der klinischen Obduktio- des Alltages, nicht bewusst. Daneben haben die nen in der Pathologie? Obduktionen im Rahmen der universitären Aus- bildung einen zweifelsfreien Stellenwert. Unsere Prof. Knüchel-Clarke: Für die klinische Ob- Erfahrungen aus der Lehre zeigen den hohen di- duktion sehe ich eine große Perspektive, weil der daktischen Wert der Auseinandersetzung mit dem Mensch nicht gläsern ist. Ich denke, dass die Klini- Tod, einschließlich der Obduktion. Wenn man die ker sich im Austausch mit den Pathologen wieder klinische Sektion nicht aus der Pathologie heraus über den Wert der Obduktion als Instrument der propagiert, in Konferenzen der Organzentren, der Qualitätssicherung bewusst werden müssen. Da Klinikumskonferenz, Direktoriumskonferenz, dann die Pathologie durch die differenzierten Aufga- fehlt die Motivation bei den Klinikern. Denn ich bin ben im Rahmen von Organzentren und Molekular- überzeugt, dass es nur weniger, überzeugter Kli- pathologie gut ausgelastet ist, ist es schwer, eine niker bedarf, um es primär anzustoßen. Ich weiß solche Initiative „mal eben“ nebenbei auf den Weg nicht, wer die politischen Hebel in Gang setzen zu bringen. Daher wäre es schön - und meine Un- kann, aber ich hoffe, dass die AG Obduktionen der terstützung wäre diesem Vorhaben gewiss - wenn DGP und des BV etwas in diese Richtung bewegt. wir mit dem geplanten bundesweiten Pool für die Was mir in diesem Zusammenhang wenigstens ge- Qualitätssicherung diese wichtige Aufgabe um- lungen ist, ist, dass in den DKG-Richtlinien eine Ak- setzen können. Die Umsetzung sollte pragmatisch kreditierung nur erteilt werden kann, wenn vor Ort getrieben sein und neben der klassischen Sektion die Möglichkeit besteht, Obduktionen durchführen weitere technische Möglichkeiten einbringen, die zu können. zum Beispiel darauf abzielen, ein CT und gezielte Biopsieentnahmen durchzuführen, falls eine regu- Wie sehen Sie die Entwicklung und die Pers- läre Obduktion nicht gewünscht ist. Deshalb muss pektive der Biobanken? für diese Initiative ein nachvollziehbares Gesamt- konzept aufgestellt werden, in dem Methoden der Die Initiative des BMBF war ja die, dass nicht Pathologie mit Methoden der Bildgebung kombi- jeder nur an sich denkt, sondern dass konforme niert werden. Wenn man den Begriff der „Mortali- Strukturen in Deutschland geschaffen werden, täts- und Morbiditätskonferenz“ wörtlich nehmen was als Grundlage nötig ist, um Biobankbestände würde, wären wir auch ohne die Initiative schon zu Kollektiven zusammenzuführen, um mit dieser da, wo wir sein wollen. Aber das ist den Beteiligten gegenseitigen Hilfe seltene Krankheiten besser

64 INTERVIEW MIT PROF. DR. MED. RUTH KNÜCHEL-CLARKE

zu untersuchen. Diesen Grundgedanken möchte lichkeiten so breit wie möglich und im Rahmen der ich sehr gerne leben, um die Qualität zu verbes- Weiterbildung so speziell wie möglich bleiben. sern. Wenn dazu die Patientenaufklärung einer- Ich denke, dass Internet und Computer-Austausch seits vorhanden ist und die Minimalbereitschaft und Telemedizin sicher dazu beitragen, auch über kommt, diese Schritte für die Deutsche Forschung andere Wege zu lernen und sich zu spezialisieren. und seltene Erkrankungen zu gehen, dann haben Beispielsweise ist es nicht mehr kompliziert ein wir schon ganz viel geschafft. Ich denke, das ist Netzwerk, wie zum Beispiel für Nephropatholo- nicht teurer, als eine persönliche Tumorbank in der gie, für Konsultationszwecke und interne Lehre Ecke aufzubauen und den 500sten Kühlschrank zu aufzubauen. Aber ich möchte trotzdem, dass die kaufen. Im Rahmen einer Kollektivbildung muss Universität so breit bleibt, dass sie ihrer Ausbil- man sehen, wer welche Aufgaben übernimmt, dungsfunktion gerecht wird. Die Aufstellung bzgl. mit Liquid Biobanking und Gewebe; da darf sich Referenzpathologien ist nicht ganz konsequent. In die Pathologie nicht übernehmen. Aber man spart, diesem Zusammenhang wären zwei Punkte auf- wenn man regional die Ressourcen bündelt. Eine zuführen: 1. Referenzzentren ohne Nachhaltigkeit einzelne, zentrale Biobank wäre, denke ich, für sind Sackgassen; 2. Referenzpathologen sollten Deutschland sicher zu wenig. Wir probieren in NRW forschungsgetrieben entstehen. Wenn man for- eine Vernetzung von Befunden über das Krebsre- schungsgetriebenen Instituten eine Referenzrolle gistergesetz. Wenn das Ansätze zeigt, die funktio- einräumt, ist die Wahrscheinlichkeit einer Nachhal- nal sind, könnte man eine Biobank andocken. Aber tigkeit am höchsten. Das ist immer noch nicht mit es ist eine feine Linie zwischen Pragmatismus und zusätzlichem Budget verbunden, aber es macht Träumen und ich denke, mit dem, was man plau- eine finanzielle Unterstützung plausibler für Insti- sibel vor Ort machen kann, kann man auch leben. tutionen, wie die Krebshilfe, DFG oder private För- Bezüglich der Finanzierung ist mein Eindruck, dass derer. Ich sehe es auch als Aufgabe der DGP danach DFG und BMBF die Notwendigkeit von Biobanken zu gucken, wo Versorgungslücken entstehen, um erkannt haben. Im Rahmen von Anträgen war und sich zu engagieren. Diese Themen werden nach ist es ganz normal für z.B. die Zellkultur einen fi- meiner Erfahrung in den Vorstandssitzungen ange- nanziellen Grundbedarf mitzubeantragen. Das sprochen und diskutiert. Zusätzlich ist es auch nicht lässt sich bei heutigen Anträgen auf die Kosten der mehr so schwer wie früher, über die Landesgren- Biobank sicher übertragen. zen hinaus diagnostische Hilfe zu einzuholen.

Wie sehen sie die Entwicklung der Subspezi- Wie sehen Sie die momentane Qualitätssiche- alisierung innerhalb der Pathologie und der Refe- rung in der Pathologie? renzzentrenbildung? Zertifizierungen sind notwendig, die inhaltli- Das ist eine Thematik, die inhaltlich und finan- che Kontrolle durch die Fachvertreter ist dabei sehr ziell getrieben ist. In Deutschland hab ich nie die wichtig und die Vorgänge müssen praktikabel blei- Situation erlebt, dass so viel Geld da wäre, eine ben. Für unser Fach, für die Pathologie, genieße ich Subspezialisierung in sinnvoller Weise so mal eben es sehr, dass diese Art der Bemühungen zur Stan- leben zu können. Darüber hinaus fange ich in mei- dardisierung angegangen wird. Auch weil es der nem eigenen Denken immer an der Universität an, einzige Weg ist, um so standardisiert zu sein, dass die ihre Aufgabe in möglichst optimaler Lehre und man auch Automatisierungen von Vorgängen vor- Weiterbildung hat. Um eine vernünftige Ausbil- antreiben kann. Meines Erachtens verbringen wir dung zu gestalten, muss man im Rahmen der Mög- als Ärzte 50% der Arbeitszeit mit eher anspruchsar-

65 men, repetitiven Tätigkeiten, gemessen an der Zeit Wie sehen Sie die Entwicklung und Perspek- und an dem, was um uns herum an technischen tive der Molekularpathologie? Möglichkeiten existiert. Durch qualitätsgesicherte Automatisierung freiwerdende Valenzen würde Ich finde es sehr gesund für unser Fach, Ge- ich gerne nutzen. In diesem Rahmen wäre es si- netik zu lernen, insbesondere in Bezug auf das cher zunächst mehr Arbeit, diese Qualität wie bei Gewebe, das wir untersuchen. In diesem Kontext Akkreditierungsprozessen herzustellen. Bei konse- kann es niemand anderes so gut wie wir. Was wir quenter Umsetzung wäre es eine Grundlage, wei- an Analytik durchführen, müssen wir im interdiszi- tere Prozesse in der Pathologie zu automatisieren. plinären Kontext entscheiden und auch daran fest- Bezüglich einer Standardisierung der H&E Färbung machen, wie es letztlich wirtschaftlich ist. Über das beispielsweise ist ein Blick auf Archivschnitte ein- Wirtschaftliche hinaus ist es aber so, dass die Be- drucksvoll, um sich bewusst zu machen, welche mühung um das Verständnis die Grundlage dafür Entwicklung stattgefunden hat. Auf dem Feld der ist, an der Universität auszubilden und zu lernen Qualitätssicherungsmaßnahmen, zum Beispiel wieder abzugeben und auf neuestem Stand mit- Ringversuche, habe ich nicht den Überblick, aber es denken zu können. Im Moment genieße ich unser muss ein konkretes Ziel geben, um diese Maßnah- Konzept, dass wir interdisziplinär versuchen, das men einzuordnen und beurteilen zu können. Mei- Wissen, das für eine gute Molekulare Diagnostik ne Wünsche bei Qualitätssicherungsmaßnahmen nötig ist, zusammenzubringen, damit nicht auf- wären die Arbeitssicherheit und Patientensicher- grund von auf Unwissenheit basierenden Einzel- heit. Das testet meines Wissens bislang niemand entscheidungen der Patient doch wieder leidet, aus der Pathologie. weil jemand nicht genug weiß. Ich möchte auch dafür offen sein, dass die Aufgaben anders verteilt Wie sehen Sie die momentane Qualitätssiche- werden, wenn es wirtschaftlich nicht zu leisten ist rung in der Pathologie? und es gute Möglichkeiten gibt, einzelne Analysen abzugeben und dadurch wieder zu lernen. Dabei Ich habe vor 30 Jahren mit der Bildanalyse möchte ich nicht in den Wettstreit treten, dass ich angefangen und habe gesehen, wie illusorisch es auf eine Nische beschränkt werde und bei den war, im Verhältnis zu dem, was ein menschlicher anderen Sachen nicht mehr mitdenken kann. Die Kopf kann. Das stimmt heute nicht mehr. Daher bin Mehrheit derer, die ein Auto kaufen, wissen nicht, ich sehr offen und überzeugt, dass sich diese Mög- wie ein Motor funktioniert. Solange ich mitdenken lichkeiten gerade für die Qualitätssicherung und kann, und auch das Ökonomische berücksichtige, Standardisierung (z.B. Karzinomanteil in der Stan- möchte ich alles mitnehmen und in der Lage sein, ze, Karzinomanteil für die Mikrodissektion für die das umfassende Wissen auch an Studierende zu Molekularpathologie) nutzen lassen. Die Digitali- vermitteln, damit differenziert gedacht wird. Denn sierung ist mittlerweile realistisch. Ein Leben ohne die Gefahr ist, das „Differenziertsein“ zu verlieren, Smartphone kann sich heute auch keiner mehr vor- und bei der Abwägung von Diagnostik für den Pa- stellen, damals hat man sich schwer an Handys ge- tienten nicht den Überblick zu haben, und z.B. eine wöhnt. Bzgl. der Digitalisierung gibt es Abläufe, an PD-L1 Testung für einen Gen-Array zu halten. Ich die sich der menschliche Kopf adaptieren kann; die glaube, es ist unsere intrinsische Aufgabe in der Technik ist da, um es freundlich genug zu machen. Universität, das Fach so zu leben, dass Spielraum Darüber hinaus sind die Serverleitungen und Kapa- für Entwicklung bleibt. Wir sollten sehen, dass zitäten der Datenverarbeitung auch ausreichend. wir es so bewältigen, dass wir gute Lehre machen Es geht so viel – es lohnt sich diesen Entwicklungen als Pathologe offen gegenüber zu treten.

66 INTERVIEW MIT PROF. DR. MED. RUTH KNÜCHEL-CLARKE

und eine hochwertige Patientenversorgung nie aus dem Auge verlieren, um dann zu sehen, wie das Geld verteilt wird. Dann kann sich jeder auch weiterentwickeln – ob das Klinische Chemie heißt, Pathologie, Radiologie, etc. – da muss sich noch einiges ändern. Diese Wettstreite zwischen ver- schiedenen Disziplinen und Partikularinteressen schaden der Versorgung.

67 INTERVIEW MIT

PROF. DR. MED. KONRAD MÜLLER-HERMELINK EHEM. LEITER DES PATHOLOGISCHEN INSTITUTS DER JULIUS-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT WÜRZBURG (BIS 2009)

TILL BRAUNSCHWEIG: Wie sehen Sie die Pers- men eines Tumorboards beschlossen wird. Der Vor- pektive und Entwicklung der klinischen Obduktio- stoß der Bezahlung führt zu einem gesteigerten In- nen in der Pathologie? teresse bei den Pathologen, jedoch von klinischer Seite ist zu befürchten, dass das Interesse sinkt, da Prof. Müller-Hermelink: Das Einbrechen der die Obduktionen zu Lasten der Budgets der klini- Obduktionszahlen ist ein viel diskutiertes und schen Fachgebiete gehen. Meines Erachtens sollte länger bestehendes Problem, das Kliniker und Pa- es verpflichtende Obduktionen bei verschiedenen thologen betrifft. Früher gab es auch für Kliniker klinischen Situationen geben, beispielsweise bei Vorgaben für die Weiterbildung zum Facharzt be- Organspendern oder im Rahmen klinischer Studi- züglich der Frequenz von Obduktionen in den zur en. Bei Organspendern ist die Kenntnis des Zustan- Weiterbildung zugelassenen Kliniken. Das Inter- des der Restorgane von immenser Bedeutung, da esse der Kliniker an der Obduktion ist bis auf Ein- unbekannte neoplastische Erkrankungen vorlie- zelfälle gering. Das fußt auch auf der Problematik, gen können, die übertragen werden können. Bei dass häufig, aufgrund vorangegangener bildge- prospektiven klinischen Studien in Phase I und II, bender Verfahren und intensivmedizinischer Be- manchmal auch III, werden die verstorbenen Pati- handlung, initial vorhandene und aufkommende enten nicht regulär obduziert, was im Hinblick auf Fragen durch die Sektion nicht oder nicht mehr be- Nebenwirkungen und die reale Todesursache und antwortet werden können. Die Obduktion nimmt die Studienauswertung eine nicht nachvollziehba- innerhalb der Weiterbildung zum Pathologen ei- re Konstellation darstellt. In den veröffentlichten ner Sonderrolle ein, so dass die Assistenten mittler- Studienergebnissen wird das Überleben darge- weile, bei eingeschränkter Erfahrung, im Rahmen stellt, aber Angaben zu den Todesursachen fehlen der Fallvorstellung gegenüber dem Kliniker nicht in der Regel. Ein abschließender Punkt wäre noch mehr Rede und Antwort stehen können. Diese der Wunsch, dass im Rahmen der rechtsmedizini- Ausbildung und überzeugende Erfahrung lässt schen Obduktionen neben der reinen Todesursa- sich nur durch höhere Sektionszahlen erreichen – che auch klinisch-pathologische Aspekte koope- eine Möglichkeit zur Erhöhung der Sektionszahlen rativ und gründlich aufgearbeitet werden. Hier könnte die Einführung verpflichtender Sektionen ergeben sich auch neue Perspektiven mit den in sein, wenn beispielsweise eine Obduktion im Rah- der Rechtsmedizin etablierten sog. Virtopsien, der

68 INTERVIEW MIT PROF. DR. MED. KONRAD MÜLLER-HERMELINK

Verbindung von Bildgebung mit pathologisch au- die finanzielle Ausstattung der akademischen Ins- toptischer Abklärung. titute eine durchgehende Subspezialisierung in al- len Bereichen der pathologischen Diagnostik nicht Wie sehen Sie die Entwicklung und die Pers- zu. Die zweitbeste Lösung ist daher die Bildung pektive der Biobanken? von überregionalen Referenzzentren. In den 90er Jahren ergab eine Umfrage unter den Universitäts- Ich bin mit Biobanken in Kiel und Lübeck be- instituten, dass kaum jemand ein Referenzzentrum fasst gewesen, wobei es sich dort um ein bevölke- bilden wollte, da die meisten keine Einschränkung rungsbasiertes Projekt handelte. Meiner Erfahrung auf ein referenzpathologisches Feld eingehen nach ist ein standortübergreifendes einheitliches wollten. Die häufig realisierte Strategie, zu den Biobankenkonzept aufgrund lokaler Probleme meisten Subspezialisierungen jeweils bestimm- und Rahmenbedingungen schwierig. Das Heidel- te Mitarbeiter als Ansprechpartner zu benennen, berger Konzept hat eine sehr große Effizienz, und kommt den Klinikern entgegen, mit jedoch fragli- auch in Würzburg wurde für das CCC eine ähnliche cher Kompetenz. Als problematisch schätze ich ein, Struktur angelegt. Es muss ein dezentrales, aber dass mancher Teilbereich, zum Beispiel die Der- nach Qualitätsrichtlinien aufgebautes Biobanken- matohistologie, standortabhängig vollständig in konzept gefordert werden, damit ein überregiona- die Dermatologie abgewandert ist, so dass die Pa- ler Austausch ermöglicht werden kann. Es müssen thologie diagnostisch und wissenschaftlich keine die lokalen Interessen bedient werden können, führende Funktion und Kompetenz mehr innehat. damit die Sammeltätigkeit der Kliniker und Pa- In dieser Form ist sie kaum in anderen Teilberei- thologen nicht zurückgeht. Ich sehe momentan chen etabliert, aber ich sehe kritisch, dass manche zwei diskussionswürdige Problemzonen an/von Teilgebiete besonders hinsichtlich der molekular- Biobanken: zum einen stellt sich die Aufgabe, ob pathologischen Diagnostik durch andere klinische neben einer reinen Gewebebank bioptischer Pro- oder labormedizinische Bereiche übernommen ben auch flüssige Patientenproben gesammelt werden. Das bringt uns zu der derzeit ungelösten werden. Da denke ich, dass sich dies aufgrund der Situation einer fehlenden Versorgung durch Refe- Probenmenge effektiv nur an einzelnen Standor- renzzentren in Teilgebieten der Gynäkopathologie, ten etablieren lässt. Zum zweiten sollten der Zu- ausgenommen der Mammapathologie. Referenz- griff und die Finanzierung der Biobanken geklärt zentren, dies möchte ich betonen, sind im Allge- sein: werden die Proben auch Firmen kommerziell meinen eine akademische Aufgabe, und es muss angeboten oder dienen sie ausschließlich akade- realisiert sein, dass der Bereich als Referenz nur mischen Zwecken? Inwieweit sich in diesem Feld dann deklariert wird, wenn neben der diagnosti- niedergelassene Pathologen einbinden lassen, ist schen Expertise ein Zentrum für die wissenschaft- eine ungeregelte Situation. liche Bearbeitung des Fachbereiches existiert. Das ermöglicht neben der Befundung eine fundierte Wie sehen sie die Entwicklung der Subspezi- Ausbildung bzw. Weiterbildung (z. B. IAP) und auch alisierung innerhalb der Pathologie und der Refe- eine wissenschaftliche Beteiligung auf internati- renzzentrenbildung? onalem Niveau und eine Möglichkeit der Bildung von kooperativen Projekten. Die Kooperation zwi- Subspezialisierungen sind ein wichtiges The- schen Referenzzentren mit dem gleichen Themen- ma; in meinem Institut habe ich diese Aufgabe gebiet ist bisher nur vereinzelt realisiert worden, durch eine breite Repräsentanz von Spezialinter- und die Bildung der Arbeitsgemeinschaften der essen der Mitarbeiter versucht zu lösen. Dabei lässt DGP sind eine gute Grundlage für zukünftige Ko-

69 operationen und ein Forum für die Präsentation gerade bei komplizierten Fällen, eine Notwendig- und Entwicklung neuer Richtlinien und Ergebnisse. keit, mit dem Gewebeschnitt eine persönliche und Für mein Empfinden ist die diagnostische Qualität taktile Beziehung aufzubauen. Dabei ist für mich bei einigen Referenzzentren gut, aber es fehlt an die Diagnostik am Bildschirm kein Problem und der wissenschaftlichen Weiterentwicklung, um eine schon länger bestehende Routine, da wir mit auch auf internationalem Niveau in die europäi- einer Benediktinerklinik in Tansania in dieser Form sche und außereuropäische pathologische Welt zu Schnellschnittdiagnostik betreiben. Ein von uns wirken. Beispielsweise wäre eine Kooperation und ausgebildeter Pfleger fertigt dort Kryoschnitte an, Koordination der Referenzinstitute für Weichge- scannt diese ein und wir diagnostizieren online, webstumoren für die wissenschaftliche Weiterent- bislang in ca. 1.500 Fällen pro Jahr seit 2002. Be- wicklung gerade im Hinblick auf das europäische merkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Feld wünschenswert. Als Vorbild empfinde ich die wir vor 20 Jahren überwiegend Tropenkrankheiten Entwicklung bei den Lymphomzentren, da frühzei- diagnostiziert haben und mittlerweile die typi- tig durch gemeinsame Treffen mit Aufstellung von schen westlichen Tumorerkrankungen, vor allem Absprachen und „Spielregeln“ überregionale Zent- HPV-abhängige gynäkologische Tumoren, befun- ren geschaffen werden konnten. den. Abschließend stellt für mich das Konzept der Telepathologie und digitaler Pathologie eine gute Wie sehen Sie die momentane Qualitätssiche- Lösung für Sondersituationen und Konsiliarzentren rung in der Pathologie? dar, ist aber für die klinische Routinediagnostik nicht anwendbar und hat den Nachteil, dass Ge- Die Zertifizierung/Akkreditierung ist der größ- webe- und Zellmaterial für weitergehende wis- te Fortschritt, da ein Qualitätsmanagement vorge- senschaftliche Themen nicht zur Verfügung stehen. schrieben ist und der QM-Beauftragte mit den Mit- Eine automatisierte Bildanalyse könnte mit allen arbeitern Standards aufstellt und überwacht. Die immunhistochemischen Färbungen möglicher- Entwicklung der QUIP in diesem Rahmen ist einma- weise realisiert werden, aber hier fehlt es an der lig und hat, z. B. mit Teilnehmern aus China, auch Standardisierung der Färbungen, da die Anforde- über die Grenzen von Deutschland hinaus eine rungen an die Immunhistologie an den verschie- hohe Resonanz. Auch sehr positiv sehe ich den Ein- denen Pathologiestandorten sehr unterschiedlich satz der akademischen Zentren für die neue mole- ist. kulare Diagnostik und personalisierte Medizin. Mit diesen qualitätssichernden Maßnahmen sind wir Wie sehen Sie die Entwicklung und Perspek- in diesem Gebiet europaweit sicherlich führend. tive der Molekularpathologie?

Wie sehen Sie die Entwicklung und das Die augenblickliche Entwicklung ist positiv, Potential der Digitalisierung der Pathologie und die und insbesondere unter dem Aspekt der vorhan- Bildanalyse? denen qualitätssichernden Maßnahmen befinden wir uns auf einem guten Weg. Hier spielen aus- Speziell bezüglich dieser Fragestellung bin reichende Fallzahlen, um den aktuellen Standard ich möglicherweise nicht auf dem neuesten Stand. zu halten, eine wichtige Rolle, was jedoch auch Die Digitalisierung ist in der Routine noch nicht dazu führen kann, dass ein neuartiges, logisti- angekommen und für mich gesprochen, stellt die sches Überweisungsprinzip aufgebaut wird, in Befundung eine persönliche Interaktion zwischen dem überregional Leistungen erbracht werden. Gewebeschnitt und Pathologe dar. Für mich ist es, Die Abwanderung von den analytischen Verfah-

70 INTERVIEW MIT PROF. DR. MED. KONRAD MÜLLER-HERMELINK

ren in nicht-pathologische Labore lässt sich nicht aufhalten und ist in manchen Ländern schon gän- gige Praxis, wie in den USA oder der Schweiz. Im Rahmen dieses Themas möchte ich betonen, dass die personalisierte Diagnostik sich nicht erst jetzt herausbildet, sondern bereits seit 50 Jahren als in- dividualisierte Maximaldiagnostik an jeder einzel- nen Probe existiert und von Pathologen praktiziert wird.

71 INTERVIEW MIT

PROF. DR. MED. HOLGER MOCH INSTITUT FÜR KLINISCHE PATHOLOGIE AM UNIVERSITÄTSSPITAL ZÜRICH, STELLVERTRETENDER VORSITZENDER DER DGP

TILL BRAUNSCHWEIG: Wie sehen Sie die Pers- die Virtopsie (postmortale CT-Untersuchung) kann pektive und Entwicklung der klinischen Obduktio- in der Zukunft für verschiedene Fragestellungen an nen in der Pathologie? Bedeutung gewinnen. Wir haben Virtopsie-Projek- te mit der Rechtsmedizin und Radiologie, jedoch Prof. Moch: Die Entwicklung der klinischen sehen wir die Virtopsie nur unter ganz streng ge- Obduktion ist in der Schweiz ähnlich wie in stellten Indikationen als Ergänzung zur konven- Deutschland. Um dem Trend der abnehmenden tionellen Autopsie. Ähnlich wie in Deutschland Autopsie-Zahlen entgegenzuwirken, haben wir bestehen in der Schweiz keine Verpflichtungen verschiedene Aktivitäten entwickelt, um die Zah- zur Obduktion. Allgemein müssen wir Pathologen len zumindest zu halten. Es wurde in verschiede- vermehrt auch die Kliniker vom Wert der Obdukti- nen Publikationen gezeigt, dass die Autopsie als on überzeugen. Es muss eine gute Korrelation zu Instrument der Qualitätssicherung eine hohe Qua- den klinischen Befunden und Radiologiebefunden lität der Diagnostik dokumentieren kann. Die Ob- – vor allem zeitnah, als unmittelbares Feedback - duktionszahlen fließen zum Beispiel in unserem erfolgen. In Zürich existieren einzelne Forschungs- Krankenhaus in den Qualitätsbericht ein, indem die programme, die in den letzten Jahren das Interesse Rate der diagnostischen Diskrepanzen der Katego- der Kliniker an mehr Autopsien geweckt haben. Im rie 1 erwähnt wird. Damit gewinnt auch die Kran- Rahmen neuer zielgerichteter Therapien werden kenhausadministration ein gesteigertes Interesse dabei Resistenzmutationen z. B. bei malignem an einer hohen Obduktionsrate. Die Vorstellung Melanom in verschiedenen Metastasen bestimmt. der Obduktionen ist bei uns eine wöchentliche Ver- Bei vielen neuen Therapien weiß man auch we- anstaltung für die gesamte Klinik und wird als Wei- nig über das Spektrum der Nebenwirkungen in ter- und Fortbildungsinstrument wahrgenommen. den inneren Organen. Ohne Obduktionen verpasst Trotz der sinkenden Obduktionszahlen darf die man dezidierte Todesursachen – hier muss man die Qualität der Obduktionen nicht sinken, da sie auch Gesundheitspolitik überzeugen, dass ein bestimm- ein internes Instrumentes zur Qualitätssicherung tes Minimum an Autopsien notwendig ist, um als ist. Es muss eine schnelle Berichterstellung der Au- Qualitätsinstrument relevante Daten zu erbringen. topsieberichte erreicht werden und es muss eine Jedoch sollten die Gelder der Autopsien nicht zu ausgesprochen seriöse und kompetente Befun- Lasten der Klinik gehen, sondern müssten über die dung erfolgen. Eine Ergänzung der Autopsie durch Gesundheitsadministration im Rahmen eines Bud-

72 INTERVIEW MIT PROF. DR. MED. HOLGER MOCH

gets zur Qualitätssicherung zur Verfügung gestellt Fraglich ist, ob mit den vorhandenen Referenz- werden. Darüber hinaus muss die Obduktion wei- pathologien die gesamte Studienlandschaft ab- terhin in der Studentenausbildung einen hohen gedeckt werden kann. Möglicherweise wäre hier Stellenwert einnehmen, damit diese als zukünfti- eine zentrale Steuerung über die Arbeitsgruppen ge Ärzte den Sinn und Stellenwert erkennen und sinnvoll, so dass die Betreuung klinischer Studien schätzen. fachlich sicherstellt werden kann.

Wie sehen Sie die Entwicklung und die Pers- Wie sehen Sie die momentane Qualitätssiche- pektive der Biobanken? rung in der Pathologie?

Die Biobanken sind für die Forschung in der Die verschiedenen Aktivitäten zur Qualitätssi- akademischen Pathologie ein unverzichtbarer Be- cherung in der Pathologie, angestossen von DGP standteil. Viele Gewebebiobanken sind historisch und BV, sind sehr positiv zu bewerten. Viele Insti- in den Pathologien gewachsen, jedoch wird deren tute sind bereits akkreditiert bzw. zertifiziert. Die- Finanzierung durch zunehmende qualitative und se Zertifizierungen und Akkreditierungen sind mit finanzielle Anforderungen über die Pathologie- einem großen Aufwand verbunden, aber es lohnt budgets immer schwieriger. Bei der Zentralisie- sich in jedem Fall, um interne Prozesse zu hinter- rung von Gewebebiobanken müssen jedoch die fragen und zu optimieren. Trotzdem dürfen die Pathologieinstitute einbezogen werden. In der formalen Aspekte der Akkreditierung nicht ausu- Schweiz gibt es große Aktivitäten seitens des Bun- fern. Auch für die Zentrenbildung ist diese Form der des zur Vernetzung der Biobanken. Zusätzliche „Li- Qualitätssicherung eine sehr gute Entwicklung, da quid“-Biobanken sind immens wichtig, brauchen es eine Standardisierung der Vorgänge und Diag- aber eine entsprechende Finanzierung, welche nosen gibt. Eine Strukturierung der Befunde wird über andere, nicht in der Pathologie lokalisierte ebenfalls zunehmend wichtiger. Die Teilnahme an Budgets realisiert werden muss. Ringversuchen (QuIP, UK NEQAS etc.) im Rahmen der Akkreditierung ist unumgänglich, aber auch Wie sehen Sie die Entwicklung der Subspezi- Budget-relevant. alisierung innerhalb der Pathologie und der Refe- renzzentrenbildung? Wie sehen Sie die Entwicklung und das Potential der Digitalisierung der Pathologie und die Die Subspezialisierung in den klinischen Fä- Bildanalyse? chern hat auch Konsequenzen für die Pathologie. Die Kliniker erwarten kompetente Partner in der Ich denke, die Digitalisierung der Patholo- Pathologie, was die Ausbildung von Subspezialis- gie wird kommen, aber der Zeitpunkt und die ten notwendig macht. In Zürich haben wir für fast Form der Umsetzung sind offen. Vor Jahren haben alle Spezialgebiete spezialisierte Oberärzte, die wir begonnen, die Studentenkurse mit digitalen aber neben dem Vertiefungsgebiet auch die allge- Schnitten aufzustellen. Die Digitalisierung wird meine Pathologie beherrschen. Referenzzentren momentan in Bereichen des Schnellschnittes und sind notwendig, aber in ihrer Akzeptanz sehr per- der Forschung eingesetzt, jedoch noch nicht in der sonenabhängig. Da würde ich die Aufgabe der DGP täglichen Routine, da die Scanningzeiten noch zu sehen, dieses Feld zu lenken. In der Schweiz gibt lang sind. Das Gebiet der Computational Patholo- es nur noch für wenige Register mit zugeordnetem gy sehe ich aber als ein zukunftsträchtiges Gebiet Referenzzentrum eine finanzielle Unterstützung, an und denke, dass sie z. Bsp. als „decision support

73 INTERVIEW MIT PROF. DR. MED. HOLGER MOCH

system“ in naher Zukunft die breitflächige Digita- lisierung histologischer Schnitte beschleunigen wird.

Wie sehen Sie die Entwicklung und Perspekti- ve der Molekularpathologie?

Die Molekularpathologie ist mittlerweile für alle Spezialgebiete der Pathologie zentral. Die momentane Situation bietet eine einmalige Chan- ce, da die Pathologen z. Bsp. im Rahmen der Tu- morboards zentraler Ansprechpartner der Kliniker werden. Man muss sich jedoch den intellektuellen und akademischen Herausforderungen dieser mo- lekularen Methoden stellen. Dies beinhaltet die Schaffung von seriösen Ausbildungsmöglichkei- ten für junge Pathologen, die Einbeziehung von Naturwissenschaftlern und zunehmend auch von Bioinformatikern sowie die Integration der neuen molekularen Methoden. Die Verbindung von Mor- phologie mit molekularen Analysen unter Einbe- ziehung der klinischen Befunde ist und bleibt die große Stärke der Pathologie.

74 INTERVIEW MIT

PROF. DR. MED. ANDREA TANNAPFEL DIREKTORIN DES INSTITUTS FÜR PATHOLOGIE DER RUHR-UNIVERSITÄT BOCHUM

TILL BRAUNSCHWEIG: Wie sehen Sie die Pers- Wie sehen Sie die Entwicklung und die Pers- pektive und Entwicklung der klinischen Obduktio- pektive der Biobanken? nen in der Pathologie? Die Organisation muss initiativ geregelt und Prof. Tannapfel: Hier in Bochum gibt es viele als Kooperation aufgebaut werden, sonst sind Obduktionen, vor allem BG-Obduktionen. Die Dis- Biobanken kaum zu zahlen. In Bochum gibt es die kussion um klinische Obduktionen ist scheinheilig: Sondersituation mit vier Kliniken ohne Landeszu- Auf der einen Seite brauchen wir die Sektion als schüsse. Eine Kooperation z.B. mit Essen wäre sehr Mittel und wichtiges Instrument der Qualitätssi- willkommen, da wäre aber die Identifikation eines cherung, aber es ist schlecht bezahlt. Die Sektion Modus vivendi ohne Besitzstandsängste sehr wich- dient nicht nur der Ausbildung. Man muss den Kli- tig. Man sollte den Aufbau von Biobanken restrik- nikern den Wert der klinischen Sektion näher brin- tiver regeln. Biobanken können nur mit externen gen. Dabei muss die Obduktion qualitätsgesichert Geldern, wie Zuschüssen oder Grants, aufgebaut erfolgen. Es darf nicht nur eine halbe DINA4 Seite werden. Dabei ist ein Konzept mit einer Biobank als Bericht an die Kliniker zurückgehen, da muss es für jeden, im dem Sinne, dass jeder „einen Kübel ein Wandel in der Befundung geben. Sie muss vor im Keller“ hat, kein gutes zukunftsträchtiges Kon- allem schnell gehen, innerhalb einer Woche sollte zept. Die Organisation der Gewebsentnahme ist der fertige Befund den Klinikern vorliegen. Dabei aufwendig. Eine zentralisiertere Organisation muss auf die klinische Fragestellung eingegangen wäre nicht schlecht. Man könnte zumindest als ers- und es müssen gut fassbare Diagnosen für den ten Schritt der Zentralisierung seine Materialien zu Kliniker formuliert werden. Die Initiative des Bun- manchen zentralen Großbanken melden. desverbandes für eine Kalkulationsmatrix für eine Bezahlung ist gut. Bislang ist die Obduktion nicht Wie sehen Sie die Entwicklung der Subspezi- Gegenstand der Vorgaben im Rahmen der Akkre- alisierung innerhalb der Pathologie und der Refe- ditierung und Zertifizierung, dort wären Obdukti- renzzentrenbildung? onen ebenfalls ein wichtiges qualitätssicherndes Instrument. Ich sehe manche Aussagen zur Obduk- Naturgemäß bin ich für Subspezialisierungen tion, wie beispielsweise, dass es Körperverletzung und Ausbildung von Referenzzentren, deren Wert sei, als kontraproduktiv an. ich besonders hier erfahren habe, da es ein Meso-

75 INTERVIEW MIT PROF. DR. MED. ANDREA TANNAPFEL

theliomregister gibt. Die Landschaft der Referenz- dung am Bildschirm hat deutlich länger gedauert zentren ist ausreichend und gut. Eine Verpflichtung und war ziemlich nervig. So hat das keinen Sinn. zur Zweitmeinung, wie sie bei manchen momen- Aber das elektrische Licht hatte auch Feinde…also tan diskutiert wird und wie sie hier zum Beispiel wird auch die Digitale Pathologie kommen. mit Ovarialkarzinomen und Barrett stattfindet, ist schlecht. In jedem Fall müssen die Kosten an den Wie sehen Sie die Entwicklung und Perspek- anfordernden Kliniker weitergeleitet werden. Bei tive der Molekularpathologie? manchen Entitäten, wie z.B. Lymphomen oder Or- phan-Diseases, ist es in Ordnung, auch aktuell bei Für die Molekularpathologie ist der Ceiling Borderline-Tumoren des Ovars. Dabei sollte in je- Effect erreicht. Jetzt kommt die Zeit der Liquid Biopsy dem Fall zunächst versucht werden, die Fälle selbst und Resistenztestung. Aktuelle Fortschritte gibt es zu lösen. in Bezug auf Hochdurchsatz, Paneldesign, Chipau- slastung sowie Optimierung der Auswertungssoft- Wie sehen Sie die momentane Qualitätssiche- ware. Die Zukunft wird sein, dass der Primarius und rung in der Pathologie? möglicherweise noch eine Metastase mit Panels getestet werden, um eine generelle Information Die Organisation von Ringversuchen über die zur „genetischen Grundausstattung“ zu erhalten. QuIP für die Molekularpathologie ist in Ordnung. Dann folgen Resistenztestungen mit Liquid Biopsy. Alles andere braucht man nicht. Ringversuche zur Die Markerbestimmung für Checkpointinhibitoren „Routine“-Immunhistochemie müssen nicht sein wird keine Rolle spielen. Zukünftig wird es nicht und sollten über interne qualitätssichernde Maß- funktionieren, die Liquid Biopsy in der Pathologie nahmen kontrolliert werden. Allenfalls wären zu halten. Die Labormediziner rivalisieren, auch solche Ringversuche bei manchen Organ-/Tumor- die Internisten sind in den Startlöchern. Kompli- zentren sinnvoll – eine enge Taktung, wie bis vor zierte Testungen wie T790M werden eher den kurzem von der DKG gefordert, helfen nicht. Dieser Pathologen bleiben. Verpflichtungskatalog wurde dankenswerterwei- se aufgeweicht. Man ist selbst verantwortlich für die Sachen, die man herausgibt.

Wie sehen Sie die Entwicklung und das Poten- tial der Digitalisierung der Pathologie und die Bild- analyse?

Ich halte von der Digitalisierung und digitalen Befundung nicht viel, aber es wird kommen. Natür- lich ist es besser, die Befunde selbst mit dem Mikro- skop anzuschauen. Hier in Bochum ist eine gewis- se digitale Anbindung per Telepathologie bei drei Außenstellen nötig, allerdings nur als „Notlösung“ für Schnellschnitte, damit der Facharzt vor Ort „Hil- fe holen kann“. Wir haben die Volldigitalisierung (Schnittscanner) versucht, stießen bezüglich der Speicherkapazitäten an Grenzen und die Befun-

76 INTERVIEW MIT

PROF. DR. MED. PETER SCHIRMACHER DIREKTOR DES INSTITUTS FÜR PATHOLOGIE AM UNIVERSITÄTSKLINIKUM HEIDELBERG, VORSITZENDER DER DGP

TILL BRAUNSCHWEIG: Wie sehen Sie die Pers- sich aus der Obduktion ergibt, sehr eingeschränkt; pektive und Entwicklung der klinischen Obduktio- damit wird man nicht mehr glänzen. Beispielswei- nen in der Pathologie? se hat die kardiale Forschung von vor 50 Jahren bei meinem Vorgänger Dörr, bei der auch die hohen Prof. Schirmacher: Wir haben bei den Sekti- Zahlen pro Herzerkrankung zu einer signifikanten onen zwei Entwicklungsrichtungen: zum einen Aussage geführt haben, noch von der Obduktion sind die Zahlen beständig sinkend. Es gibt nur eine gelebt. Damit wird klar, dass man da aktuell nicht Handvoll Einrichtungen, die Obduktionszahlen ha- viel gewinnen kann. Das neue Krankenhausstruk- ben, die man als „ausreichend“ bezeichnen kann. turgesetz schafft jetzt allerdings eine paradoxe Si- So kann man nicht das Obduzieren lernen oder tuation: die Krankenhäuser kommen unter Druck, beherrschen. Obduktionszahlen von 100 – 200 pro wieder mehr Obduktionen durchzuführen, aber Jahr reichen nicht aus, damit die Assistenten das die Pathologien können darauf vielleicht nicht notwendige Befundspektrum sehen und um eine mehr überall angemessen reagieren. Die Zahl der umfassende Obduktionsausbildung zu garantie- Prosekturen ist zurückgegangen, niedergelasse- ren. Auch die Prosektoren-Seite kann oft nicht mehr ne Pathologen obduzieren nur noch in Ausnah- kompetent vertreten werden. In Bezug auf den mefällen. Bei manchen fehlt es auch gänzlich an gesamten Workload in der Pathologie stellen die Ausstattung und Personal, so dass dann die Ob- Obduktionen andererseits betriebswirtschaftlich duktionen zu den universitären Zentren kommen und bzgl. des Arbeitsaufwandes einen Anteil von und dort durchgeführt werden sollen. Das ist eine 1 – 2% dar. Man sollte auch berücksichtigen, dass neue Herausforderung, die wir meines Erachtens wir als klinische Partner seit Jahrzehnten die Pa- produktiv dafür nutzen könnten, uns auch mittels thologie als klinischer Leistungserbringer am le- M&M-Konferenzen klinisch und strukturell vorne benden Patienten und mit behandlungsrelevanten zu positionieren. Wir sollten Treiber der Konferen- Befunden in den Konferenzen in den Vordergrund zen sein und nicht nur ab und zu da sein, wenn wir stellen. Das Herumlaufen mit einem Schild „Ob- in Folge einer Obduktion dazu gerufen wurden. duziert mehr“ wird da nicht zielführend sein. Wir Das würde ich als sinnvoll im Bereich der klinischen sollten uns nicht bei der Obduktion verkämpfen, Versorgung verankert und als attraktiv bewerten. das heißt, die in vivo Diagnostik muss weiter im Vielleicht ist daher mit einem leichten Anstieg zu Vordergrund bleiben. Zudem ist die Forschung, die rechnen, aber wir werden nicht mehr die Zahlen

77 erreichen, von denen wir gekommen sind. In mei- der Gewebebank nötig sind. Ich denke, dass diese ner Weiterbildungszeit hatten wir noch 4-stellige Struktur zukunftsfähig ist. Es ist möglich, eine Ge- Sektionszahlen, jeder Assistent hatte täglich eine webebank als Teil der Pathologie zu etablieren, Obduktion und drei bis vier liefen nebenan. Man aber es wird nicht gelingen, solch eine Biobank hat mehr Tumorbefunde, seltene Tumoren und auf die Größe einer eigenständig agierenden und ganze Befundspektren gesehen und sich außer- nachhaltigen Struktur zu bringen. An einem gro- dem noch eine gewisse manuelle Kompetenz an- ßen Standort braucht es mindestens 20 Personal- geeignet. Dahin kommen wir nicht mehr zurück. kräfte für das Biobanking: sie brauchen technische Wir müssen uns dauerhaft auf die niedrigeren Zah- Assistenten/innen, Dokumentare, administratives, len einstellen. QM- und IT-Fachpersonal und letztendlich ärztliche Ressourcen, die nicht aus der Substanz der Patho- Wie sehen Sie die Entwicklung und die Pers- logie geschnitten werden dürfen. So kann man die pektive der Biobanken? kritische Masse erreichen, mit der bedarfsabhän- giges Wachstum möglich ist und eine professio- Jede Universitätsklinik oder biomedizinisch nelle Struktur geboten werden kann, die ja auch forschende Einrichtung braucht ein konklusives, Basis für weitere Anträge auch von Forschungs- zentrales Biobankkonzept, das Gewebe - unser verbünden ist. Dieses Ziels muss sich die Patholo- klarer Turf, wo wir uns engagieren – und Flüssig- gie annehmen und das Biobanking als wichtiges keitsproben in qualitätsgesicherter und effizienter Zukunfts- und Verantwortungsfeld erkennen. Hier Form für die Forschung bereitstellt. In Heidelberg, kann auch enorme wissenschaftliche Entwicklung wie auch in einigen anderen Zentren, haben wir in der Kooperation mit vielen Projekten erfolgen. eine zentrale Biobankstruktur, die beiden Bio- So werden bei uns in der Gewebebank allein im bankbereichen übergeordnet ist. Wir als Patholo- Jahr etwa 350 Projekte realisiert. Ferner arbeiten gie sind sowohl für den Gewebebereich als auch wir mit elf Zentren in einem interaktiven nationa- für den Flüssigkeitsbereich verantwortlich. Ziel len Knotenpunkt daran, standardisiertes, qualitäts- einer Gewebebank unter Verantwortung der Pa- gesichertes Biobanking und überregionale For- thologie muss sein, als zentrale Infrastruktur an schung und Kooperationen zwischen Biobanken, den wissenschaftlich aktiven Standorten platziert auch auf europäischer Ebene, zu verwirklichen. zu sein. Das bedeutet für die Pathologie, dass sie Das darf nicht dahin führen, dass die lokale Verant- sich auf der einen Seite engagieren muss, aber wortung ausgehebelt wird, aber wir gehen diesen dass sie sich auch damit auseinandersetzen muss, nächsten Schritt, um Projekte über Standorte hin- dass eine solche Biobank nicht allein als Eigentum aus unter vergleichbaren Bedingungen unterstüt- der Pathologie angesehen werden kann. Denn zen zu können. Es war von Anfang an auch ein Teil sonst werden Probleme mit der nachhaltigen Fi- unserer Politik, dass die Biobank nicht eine Samm- nanzierung, den Ressourcen und natürlich mit der lung darstellt, sondern Projekt-orientiert und For- Unterstützung der anderen Beteiligten entstehen. schungs- und Forscher-orientiert sein muss. Diese Unsere Biobank steht unter der Fakultät, im onko- Überlegungen beinhalten auch das Paraffinarchiv logischen Bereich unter der Ägide des Nationalen der Pathologie. Über die Hälfte unserer Projekte Zentrums für Tumorerkrankungen, also als unab- sind Paraffinprojekte. Eine umfassende Technolo- hängige Einheit unter definierter Betreuung der gie-Plattform einschließlich der Herstellung der Pathologie. Sie kann nicht ohne Pathologie funkti- TMAs ist der Biobank zugeordnet. Auf diese Weise onieren, da neben der Expertise Maßnahmen wie entsteht über die Zeit eine TMA-Bank mit guten Kontrakte mit der Pathologie und Akkreditierung klinischen Daten. Es gehört auch zu den zentralen

78 INTERVIEW MIT PROF. DR. MED. PETER SCHIRMACHER

Leistungen der Biobank, jedes Projekt zu evalu- mit einem eigenen Experten bestücken. Das funkti- ieren, wenn Frischgewebe oder Paraffinmaterial oniert nicht, jeder muss neben einer Spezialexper- benötigt werden. Das sind Leistungen, die diese tise auch die Breite der Pathologie mit betreuen. Core-Funktion sehr stärken. Wer sich da versperrt Außerdem halte ich die reine diagnostische Sub- oder nicht die richtigen strukturellen Maßnahmen spezialisierung für die Ausbildung für nachteilig. ergreift, verpasst den Zug und es springen ande- Es ist klar, dass dies auf der anderen Seite in re in die Lücke ein. Das ist auch als „good scienti- der Referenzpathologie Lücken bedingen kann. fic practice“ unsere Verpflichtung und entspricht Aber das System ist offen, es gibt keine Möglichkeit, auch der wissenschaftlichen Verantwortung, der das zu regulieren und Referenzpathologie ist ein wir uns als Fach stellen müssen. Die Biobanken großer Aufwand, kann sehr undankbar sein und sind ein immenser Entwicklungsbereich, der der lebt sehr vom persönlichen Engagement. Obwohl Pathologie enorme zusätzliche wissenschaftliche die Frage immer wieder an die DGP herangetragen Bedeutung bringen wird. Mit unserer Expertise, wird, ist die Referenzpathologie kein geschützter mit unserer Plattform werden wir als Fach breit in Bereich, und die DGP hat in dieser Hinsicht kei- der Forschung wahrgenommen und stützen den ne normative oder exekutive Befugnis. Es ist kein Standort. Umgekehrt kommen auch viele Ressour- Gütekriterium, das verliehen und überprüft wird. cen und viel Know-How in die Pathologie zurück. Die DGP muss hier neutral sein: in einem Bereich gibt es vier renommierte Konsiliarii, in einem an- Wie sehen Sie die Entwicklung der Sub– deren keinen, wollen Sie dann einen Referenzpa- spezialisierung innerhalb der Pathologie und der thologen benennen? In der Regel gibt es keinen Referenzzentrenbildung? Support für den Aufbau einer Referenzpathologie. Es gibt noch nicht einmal eine konsentierte oder Ich halte persönlich wenig von eigenständi- gar regulierte Vergütung für die Referenzbefun- gen Abteilungen. Sie erzeugen nicht genug Nach- dung seitens der Krankenkassen. Es ist ja auch so, wuchs. Zum anderen erzeugen sie nicht die kriti- dass die Bereitschaft, ein Referenzzentrum als sche Masse und laufen sich tot. Im Gegensatz zur Basis für die wissenschaftliche Arbeit zu nehmen, britischen Pathologie, die ja akademisch am Bo- abnimmt. Es geht doch mehr in den Studienbe- den liegt, haben wir noch die Stärke, die kritische reich hinein, in dem die Verfügbarkeit guter kli- Masse. Das mag man zwar als Machtanhäufung bei nischer Daten gegeben ist. Das bekommt man in den Institutsdirektoren kritisieren, aber unsere Zu- der Referenzpathologie, bei der man meist wenig kunftsbereiche, in die wir investieren müssen, wie klinische Daten hat, nicht zusammen. Wir sollten Molekularpathologie, Proteomics, Biobanken und im Fach froh über Kollegen/innen sein, die bereit Digitalisierung brauchen viel Investitionen. Und sind, sich der Konsilfälle anzunehmen. Reglemen- wenn Pathologien kleinteilig sind, haben sie nicht tierung bringt uns nicht weiter und es gibt auch die kritische Masse, um das zu stemmen. Aus die- keine Grundlagen. sem Grunde kann es für die weitere Entwicklung des Faches nicht der richtige Weg sein. Es ist wich- Wie sehen Sie die momentane Qualitätssiche- tig, auch an kleineren Standorten mit auf Lehrstuh- rung in der Pathologie? lebene vollwertigen Instituten vertreten zu sein, die auch die Chance haben, wissenschaftlich zu Wir haben die QuIP auf eine neue organisa- florieren. Jede Fragmentierung, die das untermi- torische Basis gestellt, so dass sie als unabhängi- niert, sollten wir nicht unterstützen. Wir können ge Einrichtung immer professioneller aufgebaut nicht an einem Institut jedes Organsystem exklusiv wird, was notwendig ist, um weitere Ringversuche

79 aufzustellen, in bestimmten Fragen auch mit der für die Diagnostik herstellen, selbst mit optimaler Industrie als Partner. Die neue QuIP-Struktur ist auf Scanzeit, zum Beispiel 1 Minute am Schnitt - wir einem guten Weg und wird bereits dieses Jahr in reden bei der Digitatilisierung dann von 1.500 Mi- allen Bereichen voll funktionsfähig arbeiten. Das nuten - den bisherigen Tagesablauf und die Befun- Akkreditierungssystem in Deutschland ist sehr auf- dungszeiten aufrechterhalten, geschweige denn wändig, aber auch sehr gut und ein Pluspunkt für verbessern. Sie können natürlich fünf Geräte auf- unser Fach. Die Weiterbildungsmöglichkeit über stellen, aber die müssen sie unterbringen, kaufen die IAP ist beispielhaft und sichert ebenfalls Qua- und auch personell bestücken. Dann müssen Sie lität. Das alles ist freiwillig und es funktioniert am berücksichtigen, dass die Technologie gut ist, aber besten, wenn es freiwillig bleibt und über positive auch Nachteile hat, z.B. ist ein rationelles Z-Sta- Anreize von Kostenträger und Politik gestärkt wür- cking nicht möglich. Digitales Arbeiten ist immer de. Ich glaube, es gibt darüber hinaus an den Ins- etwas langsamer. Primäre Vorteile sind das Remo- tituten ein wachsendes Verständnis für die Bedeu- te-Arbeiten und der Zugriff auf ein Archiv, aber da tung der Qualitätssicherung und ihre Umsetzung stoßen wir auch rasch auf Grenzen der Speicher- hat zugenommen. Auch bei Biobanken haben Ak- platzmöglichkeiten. Und wir müssen trotzdem ein kreditierungen und Zertifizierungen zugenommen Archiv für Paraffinblöcke vorhalten, denn mit der und der QM-Bereich entwickelt sich dort enorm. VM können keine neuen Schnitte gemacht werden. QuIP hat mit dem Thema Molekularpathologie in- Wie gesagt, die Anbieter kommen mit dem Aspekt, ternational Fuß gefasst, und ist auch auf europäi- dass mit der Umstellung viele Abläufe optimiert scher Ebene aktiv. Die Entwicklung in der Qualitäts- werden können, aber sie verbrennen Ressourcen: sicherung geht in die richtige Richtung, aber wir das Argument der Archiveinsparung zieht nicht, das müssen dabei immer pragmatisch das Machbare amortisiert sich nicht. Das tatsächliche Potential im Auge behalten. sind die Situationen mit realen logistischen Prob- lemen, wie zum Beispiel in der Immunhistologie: Wie sehen Sie die Entwicklung und das Po- als Off-Loop Laborbereich könnten Sie elektronisch tential der Digitalisierung der Pathologie und die ordern und im Labor digitalisieren, direkt scannen Bildanalyse? und absortieren. Ein weiterer guter Einsatz ist, Schnitte für Externe zu digitalisieren, so dass Wege Das Potential ist prinzipiell riesig groß, dabei und Wartezeiten vermieden werden. So muss man liegen die Probleme für den Routinebereich mei- sich meines Erachtens in die verschiedenen Indi- nes Erachtens bei der primären Umsetzung und so kationen einarbeiten und „use cases“ definieren, bei den Providern, die aus dem Bereich der Bilda- anhand derer sich schnell ein Erfolg einstellt. Aber nalytik und virtuellen Mikroskopie kommen. Das hier warten wir gespannt auf die weiteren Ent- Verständnis für die Möglichkeiten in der Routine- wicklungen. Die besondere Bedeutung der virtuel- diagnostik und für die praktische Implementierung len Mikroskopie in der Lehre ist seit vielen Jahren ist nicht groß, daher ist momentan die Digitalisie- klar und hier hat sie sich ihren festen Platz längst rung für den wissenschaftlichen Einsatz sehr nütz- erobert. lich, für den klinischen Einsatz jedoch nicht. Wir nutzen die virtuelle Mikroskopie beispielsweise Wie sehen Sie die Entwicklung und Perspek- häufig in der Biobank und in wissenschaftlichen tive der Molekularpathologie? Projekten, für die Dokumentation, das remote-Ar- beiten und die Bildanalyse. Es kann mir niemand Das ist das „Make-It oder Break it“ in der Pa- erzählen, dass wenn Sie 1.500 Schnitte pro Tag thologie. Das ist die Möglichkeit, in andere Dimen-

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sionen vorzustoßen. Wir haben hier dramatische Versorgung nicht harmonisiert und nicht verzahnt Zuwächse in den letzten Jahren und können uns ist. Da müssen wir als Pathologen besonders aus tatsächlich enorm entwickeln; in anderen diag- medizinischer Überzeugung und Kompetenz ge- nostischen Bereichen wachsen wir ein bisschen, gensteuern, da nur die in unseren Instituten er- pro Jahr 2 – 3% mehr, und in Bezug auf Ressourcen stellten Befunde vom Kliniker im Kontext veran- mit wenig Luft nach oben, in der Molekularpa- lasst werden und im Rahmen der Tumorboards das thologie sind es – getriggert durch den enormen weitere Vorgehen konsentiert bestimmt werden therapeutischen Bedarf - regelrechte Sprünge in sollte. Ich bin aber, trotz der verbreiteten Sorge der Menge und in der methodischen Innovation. sicher, dass die Molekularpathologische Diagnos- Die Molekularpathologie ist ein Bereich, bei dem tik erfolgreich in der Pathologie gehalten und wei- wir beständig am Puls der Zeit sein müssen. Auch terentwickelt wird. wenn wir hier international gut aufgestellt sind, ist es eine große Herausforderung, immer wie- der genügend Institute in Deutschland zu haben, die neue Methoden schnell umsetzen und sie da- mit flächendeckend anbieten. Außerdem ist es eine kritische Herausforderung, die quantitativen Sprünge mitzugehen, die wir in der Molekularpa- thologie verzeichnen. Es ist weiterhin eine deutli- che methodische Innovation zu erwarten, die eine ausreichende Finanzierung voraussetzt, und man muss den Weg gehen wollen. Damit wir diesem Innovationsbedarf standhalten können, sind nicht nur die Technologie, sondern auch Personal, wie molekularbiologisch ausgebildete Diagnostiker, Bioinformatiker, spezifisch ausgebildete techni- sche Assistentinnen/en und Mediziner mit mehr als nur molekularen Kenntnissen nötig. Eine mo- lekulare Testung über kommerzielle Einrichtungen außerhalb des klinisch-diagnostischen Workflows ist keine Lösung und stellt einen medizinischen Para-Weg ohne die notwendige Transparenz und Integration dar. Das ist keine medizinische Befun- dung und nicht abgestimmt mit der Klinik. Erste Publikationen zeigen bei derselben Probe bei verschiedenen externen kommerziellen Providern deutlich unterschiedliche Ergebnisse und somit erhebliche Probleme. Zudem ist meist kein Zugriff auf die Daten möglich, es entstehen proprietäre für kommerzielle Zwecke genutzte Proben und Datenbanken und es findet ein auch kommerzi- ell motiviertes Spiel mit Erwartungen und Ängs- ten der Patienten statt, das mit der medizinischen

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VERTRETUNGSBERECHTIGTER VORSTAND NACH § 26 BGB VORSITZENDER Prof. Dr. med. Peter Schirmacher

STELLVERTRETENDER VORSITZENDER Prof. Dr. med. Holger Moch

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REFERENTIN FÜR ÖFFENTLICHKEITSARBEIT Nora Enzlberger, M.A.

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