Plenarprotokoll 16/105

Deutscher

Stenografischer Bericht

105. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord- d) Beschlussempfehlung und Bericht des neten Wolfgang Zöller ...... 10701 A Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Benennung des Abgeordneten in den Stiftungsrat der Stiftung – zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe CAESAR ...... 10701 B Schummer, , , weiterer Abgeordneter Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- und der Fraktion der CDU/CSU sowie nung ...... 10701 B der Abgeordneten , Jörg Tauss, Nicolette Kressl, weiterer Ab- Absetzung der Tagesordnungspunkte 12, 16 b geordneter und der Fraktion der SPD: und 29 ...... 10702 A Weiterentwicklung der europäi- schen Berufsbildungspolitik – zu dem Antrag der Abgeordneten Tagesordnungspunkt 3: Priska Hinz (Herborn), Grietje Bettin, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter a) Antrag der Abgeordneten Uwe und der Fraktion des BÜNDNIS- Schummer, Ilse Aigner, Michael SES 90/DIE GRÜNEN: Den Europäi- Kretschmer, weiterer Abgeordneter und schen Bildungsraum weiter gestal- der Fraktion der CDU/CSU sowie der Ab- ten – Transparenz und Durchlässig- geordneten Willi Brase, Nicolette Kressl, keit durch einen Europäischen Jörg Tauss, weiterer Abgeordneter und der Qualifikationsrahmen stärken Fraktion der SPD: Junge Menschen för- – zu dem Antrag der Abgeordneten dern – Ausbildung schaffen und Quali- Cornelia Hirsch, Dr. , Volker fizierung sichern Schneider (Saarbrücken), weiterer Ab- (Drucksache 16/5730) ...... 10702 A geordneter und der Fraktion der LIN- KEN: Anforderungen an die Gestal- b) Antrag der Abgeordneten Priska Hinz tung eines europäischen und eines (Herborn), Britta Haßelmann, Brigitte nationalen Qualifikationsrahmens Pothmer, Josef Philip Winkler und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE (Drucksachen 16/2996, 16/1063, 16/1127, GRÜNEN: Perspektiven schaffen – An- 16/5760) ...... 10702 C gebot und Struktur der beruflichen Bil- dung verbessern e) Zweite und dritte Beratung des von den (Drucksache 16/5732) ...... 10702 B Abgeordneten Cornelia Hirsch, Dr. Petra Sitte, Volker Schneider (Saarbrücken), c) Unterrichtung durch die Bundesregierung: weiteren Abgeordneten und der Fraktion Berufsbildungsbericht 2007 der LINKEN eingebrachten Entwurfs ei- (Drucksache 16/5225) ...... 10702 C nes Achtundzwanzigsten Gesetzes zur II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Änderung des Berufsbildungsgesetzes b) Erste Beratung des von den Abgeordneten (Drucksachen 16/2540, 16/5761) ...... 10702 D (Köln), Irmingard Schewe- Gerigk, , weiteren Abgeord- f) Beschlussempfehlung und Bericht des neten und der Fraktion des BÜNDNIS- Ausschusses für Bildung, Forschung und SES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Technikfolgenabschätzung Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Lebenspartnerschaftsgesetzes und – zu dem Antrag der Abgeordneten anderer Gesetze (Lebenspartnerschafts- Priska Hinz (Herborn), Britta gesetzergänzungsgesetz – LPartGErgG) Haßelmann, Ekin Deligöz, weiterer (Drucksache 16/3423) ...... 10725 D Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: c) Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Neue Wege in der Ausbildung – Höll, Dr. , Sevim Strukturen verändern Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der – zu der Unterrichtung durch die Bun- Fraktion der LINKEN: Vielfalt der Le- desregierung: Berufsbildungsbericht bensweisen anerkennen und rechtliche 2006 Gleichbehandlung homosexueller Paare sicherstellen (Drucksachen 16/2630, 16/1370, 16/5762) 10703 A (Drucksache 16/5184) ...... 10726 A Dr. , Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger BMBF ...... 10703 B (FDP) ...... 10726 B

Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) ...... 10704 D (CDU/CSU) ...... 10727 B

Patrick Meinhardt (FDP) ...... 10705 C Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ Jörg Tauss (SPD) ...... 10706 D DIE GRÜNEN) ...... 10728 A Franz Müntefering, Bundesminister Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 10728 D BMAS ...... 10707 C , Bundesministerin Dr. (DIE LINKE) ...... 10709 D BMJ ...... 10730 C

Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 10711 A DIE GRÜNEN) ...... 10732 A

Katherina Reiche (Potsdam) Daniela Raab (CDU/CSU) ...... 10734 B (CDU/CSU) ...... 10713 C (FDP) ...... 10735 D (FDP) ...... 10714 D Nicolette Kressl (SPD) ...... 10716 B Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 10736 D Dirk Niebel (FDP) ...... 10716 C (SPD) ...... 10737 C Cornelia Hirsch (DIE LINKE) ...... 10718 D (CDU/CSU) ...... 10738 B (FDP) ...... 10719 B Uwe Schummer (CDU/CSU) ...... 10720 D Dr. (FDP) ...... 10739 D Willi Brase (SPD) ...... 10722 B (SPD) ...... 10740 C Ilse Aigner (CDU/CSU) ...... 10723 D (Heidelberg) (SPD) ...... 10741 C Michael Kauch (FDP) ...... 10743 A

Tagesordnungspunkt 4: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Tagesordnungspunkt 33: Jörg van Essen, Sabine Leutheusser- Schnarrenberger, Dr. , weite- a) Erste Beratung des von der Bundesregie- ren Abgeordneten und der Fraktion der rung eingebrachten Entwurfs eines Zwei- FDP eingebrachten Entwurfs eines Geset- ten Gesetzes zur Änderung des Pflicht- zes zur Änderung des Erbschaftsteuer- versicherungsgesetzes und anderer und Schenkungsteuergesetzes versicherungsrechtlicher Vorschriften (Drucksache 16/2087) ...... 10725 D (Drucksache 16/5551) ...... 10743 B Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 III b) Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting- rung weiterer Rechtsvorschriften Uhl, Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, weite- (Drucksachen 16/5384, 16/5614, 16/5767) 10744 C rer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Deut- c) Zweite und dritte Beratung des von der sches Mobilfunk Forschungsprogramm Bundesregierung eingebrachten Entwurfs fortsetzen eines Gesetzes zu den Internationalen (Drucksache 16/4762) ...... 10743 C Gesundheitsvorschriften (2005) (IGV) vom 23. Mai 2005 c) Antrag der Abgeordneten Patrick Döring, (Drucksachen 16/5387, 16/5651) ...... 10744 D Hans-Michael Goldmann, (Bayreuth), weiterer Abgeordneter und d) Zweite und dritte Beratung des von der der Fraktion der FDP: Überregulierung Bundesregierung eingebrachten Entwurfs in der Sport- und Freizeitschifffahrt eines Gesetzes zur Aufhebung des Frei- verhindern hafens (Drucksache 16/5269) ...... 10743 C (Drucksachen 16/5580, 16/5750) ...... 10745 B d) Antrag der Abgeordneten , e) Beschlussempfehlung und Bericht des , Hüseyin-Kenan Aydin, weite- Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt- rer Abgeordneter und der Fraktion der entwicklung zu dem Antrag der Abgeord- LINKEN: Überwachung von Abgeord- neten Patrick Döring, Horst Friedrich neten durch den Verfassungsschutz be- (Bayreuth), Hans-Michael Goldmann, enden weiterer Abgeordneter und der Fraktion (Drucksache 16/5455) ...... 10743 D der FDP: Schienenanbindung des Jade- Weser-Ports sicherstellen (Drucksachen 16/2091, 16/3670) ...... 10745 B

Zusatztagesordnungspunkt 2: f)–o) Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- a) Erste Beratung des von der Bundesregie- schusses: Sammelübersichten 232, 233, 234, rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- 235, 236, 237, 238, 239, 240 und 241 zu zes zur Neuregelung des Rechts der Petitionen Verbraucherinformation (Drucksachen 16/5637, 16/5638, 16/5639, (Drucksache 16/5723) ...... 10743 D 16/5640, 16/5641, 16/5642, 16/5643, 16/5644, b) Antrag der Abgeordneten Mechthild 16/5645, 16/5646) ...... 10745 C Dyckmans, Sabine Leutheusser- Schnarrenberger, Jörg van Essen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Zusatztagesordnungspunkt 3: Verfahrensrechte in Strafverfahren in der Europäischen Union Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion (Drucksache 16/5606) ...... 10744 A der FDP: Haltung der Bundesregierung zu den wirtschafts- und finanzpolitischen Vor- c) Antrag der Abgeordneten Jens stellungen von Bundeswirtschaftsminister Ackermann, Dr. Karl Addicks, Christian Glos Ahrendt, , Hüseyin- Kenan Aydin und weiterer Abgeordneter: Rainer Brüderle (FDP) ...... 10746 C Ergänzung des Untersuchungsauftrages des 1. Untersuchungsausschusses (Hamm) (Drucksache 16/5751) ...... 10744 A (CDU/CSU) ...... 10747 C Dr. Herbert Schui (DIE LINKE) ...... 10748 C

Tagesordnungspunkt 34: Dr. (SPD) ...... 10749 D a) Zweite und dritte Beratung des von der Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ Bundesregierung eingebrachten Entwurfs DIE GRÜNEN) ...... 10750 D eines Dritten Gesetzes zur Änderung (CDU/CSU) ...... 10752 A des Rindfleischetikettierungsgesetzes (Drucksachen 16/5338, 16/5739) ...... 10744 B Ulrike Flach (FDP) ...... 10753 A b) Zweite und dritte Beratung des von der Hartmut Schauerte, Parl. Staatssekretär Bundesregierung eingebrachten Entwurfs BMWi ...... 10754 B eines Gesetzes zur Ablösung des Abfall- verbringungsgesetzes und zur Ände- (SPD) ...... 10756 A IV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) ...... 10756 D und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten , (SPD) ...... 10758 A Dr. , Dr. Rainer Wend, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der (CDU/CSU) ...... 10759 C SPD: Für eine zukunftsgerichtete euro- (SPD) ...... 10760 C päische Meerespolitik (Drucksache 16/5731) ...... 10771 B b) Beschlussempfehlung und Bericht des Tagesordnungspunkt 5: Ausschusses für Wirtschaft und Technolo- gie zu dem Antrag der Abgeordneten – Beschlussempfehlung und Bericht des Laurenz Meyer (Hamm), Eckhardt Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag Rehberg, Wolfgang Börnsen (Bönstrup), der Bundesregierung: Fortsetzung der weiterer Abgeordneter und der Fraktion deutschen Beteiligung an der Interna- der CDU/CSU sowie der Abgeordneten tionalen Sicherheitspräsenz im Kosovo Dr. Margrit Wetzel, , zur Gewährleistung eines sicheren Um- Dr. Rainer Wend, weiterer Abgeordneter feldes für die Flüchtlingsrückkehr und und der Fraktion der SPD: Maritime zur militärischen Absicherung der Frie- Wirtschaft in Deutschland stärken densregelung für das Kosovo auf der (Drucksachen 16/4423, 16/5437) ...... 10771 C Grundlage der Resolution 1244 (1999) des Sicherheitsrates der Vereinten c) Antrag der Abgeordneten Rainder Nationen vom 10. Juni 1999 und des Steenblock, (Bremen), Militärisch-Technischen Abkommens Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordne- zwischen der Internationalen Sicher- ter und der Fraktion des BÜNDNIS- heitspräsenz (KFOR) und den Regie- SES 90/DIE GRÜNEN: Für eine nach- rungen der Bundesrepublik Jugosla- haltige und umfassende Meerespolitik wien (jetzt: Republik Serbien) und der für die Europäische Union Republik Serbien vom 9. Juni 1999 (Drucksache 16/5428) ...... 10771 C (Drucksachen 16/5600, 16/5753) ...... 10761 D – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß in Verbindung mit § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 16/5763) ...... 10762 A , Staatsminister Zusatztagesordnungspunkt 4: AA ...... 10762 B Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Dr. Rainer Stinner (FDP) ...... 10763 A schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwick- lung zu dem Antrag der Abgeordneten Hans- (CDU/CSU) ...... 10764 C Michael Goldmann, , Patrick Döring, weiterer Abgeordneter und Monika Knoche (DIE LINKE) ...... 10765 D der Fraktion der FDP: Schutz und Nutzung Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ der Meere – Für eine integrierte maritime Politik DIE GRÜNEN) ...... 10766 D (Drucksachen 16/4418, 16/5764) ...... 10771 C (SPD) ...... 10768 A Eckhardt Rehberg (CDU/CSU) ...... 10771 D Dr. , Bundesminister BMVg ...... 10769 A Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 10775 A Gerd Höfer (SPD) ...... 10770 A Uwe Beckmeyer (SPD) ...... 10776 D Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 10778 A Namentliche Abstimmung ...... 10771 A Uwe Beckmeyer (SPD) ...... 10778 B Ergebnis ...... 10772 D Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) ...... 10779 A Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 10779 D Tagesordnungspunkt 6: Dagmar Wöhrl, Parl. Staatssekretärin a) Antrag der Abgeordneten Laurenz Meyer BMWi ...... 10781 B (Hamm), Dirk Fischer (Hamburg), Eckhardt Rehberg, weiterer Abgeordneter Garrelt Duin (SPD) ...... 10782 C Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 V

Enak Ferlemann (CDU/CSU) ...... 10783 B ter und der Fraktion der SPD: Stärkung der Menschenrechtspolitik der Europäi- Dr. Margrit Wetzel (SPD) ...... 10784 A schen Union (Drucksachen 16/3607, 16/4497) ...... 10794 C b) Beschlussempfehlung und Bericht des Tagesordnungspunkt 7: Ausschusses für Menschenrechte und Hu- manitäre Hilfe zu der Unterrichtung durch a) Antrag der Abgeordneten Paul Schäfer die Bundesregierung: EU-Jahresbericht (Köln), Monika Knoche, Hüseyin-Kenan 2006 zur Menschenrechtslage Aydin, weiterer Abgeordneter und der Ratsdok. 5779/07 Fraktion der LINKEN: Keine neuen Ra- (Drucksachen 16/4635 Nr. 2.2, 16/5603) 10794 D keten in Europa – stattdessen Stärkung der globalen Sicherheit durch Rüs- c) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und tungskontrolle und Abrüstung der SPD: Den Europäischen Gerichtshof (Drucksache 16/5456) ...... 10785 C für Menschenrechte reformieren und durch die konsequente Befolgung seiner b) Beschlussempfehlung und Bericht des Urteile stärken Ausschusses für Wirtschaft und Technolo- (Drucksache 16/5734) ...... gie zu dem Antrag der Abgeordneten Paul 10795 A Schäfer (Köln), Monika Knoche, Hüseyin- d) Beschlussempfehlung und Bericht des Kenan Aydin, weiterer Abgeordneter und Ausschusses für Menschenrechte und Hu- der Fraktion der LINKEN: Stopp von manitäre Hilfe staatlichen Bürgschaften für Rüstungs- exporte – zu dem Antrag der Abgeordneten (Drucksachen 16/3697, 16/4602) ...... 10785 C Holger Haibach, , Eduard Lintner, weiterer Abgeordneter c) Beschlussempfehlung und Bericht des und der Fraktion der CDU/CSU sowie Verteidigungsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Christoph Strässer, der Abgeordneten Paul Schäfer (Köln), , , weiterer Monika Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin, Abgeordneter und der Fraktion der weiterer Abgeordneter und der Fraktion SPD: Den Erfolg des Europäischen der LINKEN: Verzicht auf den Verkauf Gerichtshofes für Menschenrechte und das Überlassen von überschüssi- durch die konsequente Befolgung gem Wehrmaterial seiner Urteile sichern (Drucksachen 16/3350, 16/5353) ...... 10785 D – zu dem Antrag der Abgeordneten Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) ...... 10786 A Dr. , Sabine Leutheusser- Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Schnarrenberger, Burkhardt Müller- (CDU/CSU) ...... 10787 A Sönksen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Den Europäi- Dr. Werner Hoyer (FDP) ...... 10788 A schen Gerichtshof für Menschen- rechte vor dem Kollaps bewahren Dr. Rolf Mützenich (SPD) ...... 10789 B – zu dem Antrag der Abgeordneten Gert Winkelmeier (fraktionslos) ...... 10791 C Volker Beck (Köln), , Rainder Steenblock, weiterer Abge- (BÜNDNIS 90/ ordneter und der Fraktion des BÜND- DIE GRÜNEN) ...... 10792 B NISSES 90/DIE GRÜNEN: Den Erich G. Fritz (CDU/CSU) ...... 10793 B Europäischen Gerichtshof für Men- schenrechte stärken (Drucksachen 16/4417, 16/4062, 16/4405, Tagesordnungspunkt 8: 16/5768) ...... 10795 A a) Beschlussempfehlung und Bericht des in Verbindung mit Ausschusses für Menschenrechte und Hu- manitäre Hilfe zu dem Antrag der Abge- ordneten Erika Steinbach, Holger Haibach, Carl-Eduard von Bismarck, wei- Zusatztagesordnungspunkt 5: terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Antrag der Abgeordneten Dr. Werner Hoyer, Christoph Strässer, Angelika Graf (Rosen- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, heim), , weiterer Abgeordne- Burkhardt Müller-Sönksen, weiterer Abge- VI Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 ordneter und der Fraktion der FDP: Den Tagesordnungspunkt 10: Europäischen Gerichtshof für Menschen- rechte vor dem Kollaps bewahren Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten: (Drucksache 16/5738) ...... 10795 B Jahresbericht 2006 (48. Bericht) (Drucksache 16/4700) ...... 10812 D in Verbindung mit Reinhold Robbe, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages ...... 10813 A Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU) ...... 10814 D Zusatztagesordnungspunkt 6: (FDP) ...... 10816 A Antrag der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Omid Nouripour, Rainder Steenblock, Hedi Wegener (SPD) ...... 10817 B weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Den Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) ...... 10818 C Europäischen Gerichtshof für Menschen- Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/ rechte stärken DIE GRÜNEN) ...... 10819 D (Drucksache 16/5735) ...... 10795 B Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister Christoph Strässer (SPD) ...... 10795 C BMVg ...... 10820 D

Burkhardt Müller-Sönksen (FDP) ...... 10796 D Petra Heß (SPD) ...... 10822 A

Alois Karl (CDU/CSU) ...... 10798 A Tagesordnungspunkt 11: (DIE LINKE) ...... 10799 B a) Beschlussempfehlung und Bericht des Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ Ausschusses für Ernährung, Landwirt- DIE GRÜNEN) ...... 10800 C schaft und Verbraucherschutz zu dem An- trag der Abgeordneten Hans-Michael Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD) ...... 10802 A Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer Abge- Holger Haibach (CDU/CSU) ...... 10803 B ordneter und der Fraktion der FDP: Eck- punktevereinbarung zum Einsatz von Erntehelfern in der Landwirtschaft grundlegend überarbeiten Tagesordnungspunkt 9: (Drucksachen 16/2685, 16/5170) ...... 10823 B

Große Anfrage der Abgeordneten Kai b) Beschlussempfehlung und Bericht des Gehring, Marieluise Beck (Bremen), Volker Ausschusses für Arbeit und Soziales zu Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der dem Antrag der Abgeordneten Brigitte Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Pothmer, Ulrike Höfken, Kerstin Andreae, NEN: Jugendliche in Deutschland: Per- weiterer Abgeordneter und der Fraktion spektiven durch Zugänge, Teilhabe und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Generationengerechtigkeit Qualifizierung statt Quoten – Vermitt- lungsagenturen für landwirtschaftliche (Drucksachen 16/1554, 16/4818) ...... 10805 C und andere grüne Berufe (Drucksachen 16/2991, 16/3376) ...... 10823 C (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 10805 C (CDU/CSU) ...... 10823 D

Dr. , Dr. Edmund Peter Geisen (FDP) ...... 10824 B Bundesministerin BMFSFJ ...... 10806 D Elvira Drobinski-Weiß (SPD) ...... 10825 D Miriam Gruß (FDP) ...... 10808 D Dr. (DIE LINKE) ...... 10827 A

Kerstin Griese (SPD) ...... 10809 C Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 10828 A Diana Golze (DIE LINKE) ...... 10810 D (CDU/CSU) ...... 10828 D Jürgen Kucharczyk (SPD) ...... 10811 D Rolf Stöckel (SPD) ...... 10829 D Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 VII

Tagesordnungspunkt 14: der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Annette Faße, Gabriele Hiller-Ohm, a) Erste Beratung des von den Fraktionen der Renate Gradistanac, weiterer Abgeordne- CDU/CSU und der SPD eingebrachten ter und der Fraktion der SPD: Den Fahr- Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Än- radtourismus in Deutschland umfas- derung des Dritten Buches Sozialgesetz- send fördern buch – Verbesserung der Qualifizierung (Drucksachen 16/3609, 16/5635) ...... 10845 A und Beschäftigungschancen von jünge- ren Menschen mit Vermittlungshemm- nissen (Drucksache 16/5714) ...... 10831 A Tagesordnungspunkt 15: b) Erste Beratung des von den Fraktionen der Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- CDU/CSU und der SPD eingebrachten wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Ab- Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Än- geordneten Dr. Uschi Eid, Marieluise Beck derung des Zweiten Buches Sozialge- (Bremen), Volker Beck (Köln), weiterer Ab- setzbuch – Verbesserung der Beschäfti- geordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- gungschancen von Menschen mit SES 90/DIE GRÜNEN: Politische Lösungen Vermittlungshemmnissen sind Voraussetzung für Frieden in Somalia (Drucksache 16/5715) ...... 10831 B (Drucksachen 16/4759, 16/5754) ...... 10845 C Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) ...... 10831 C

Jörg Rohde (FDP) ...... 10833 A Tagesordnungspunkt 18: Dr. (CDU/CSU) ...... 10834 B Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Kornelia Möller (DIE LINKE) ...... 10836 A schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwick- lung Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 10837 A – zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD: Schienen- lärm ursächlich bekämpfen

Tagesordnungspunkt 13: – zu dem Antrag der Abgeordneten Michael Kauch, Horst Friedrich (Bay- Große Anfrage der Abgeordneten Kersten reuth), Patrick Döring, weiterer Abge- Naumann, , , weite- ordneter und der Fraktion der FDP: rer Abgeordneter und der Fraktion der LIN- Lärmschutz im Schienenverkehr KEN: Förderung der demokratischen Teil- verbessern – Marktwirtschaftliche habe und Stärkung des Petitionsrechts Anreize nutzen, Schienenbonus (Drucksache 16/2181) ...... 10838 A überprüfen

Kersten Naumann (DIE LINKE) ...... 10838 A – zu dem Antrag der Abgeordneten , Kerstin Andreae, Günter Baumann (CDU/CSU) ...... 10839 B , weiterer Abgeord- neter und der Fraktion des BÜNDNIS- (FDP) ...... 10841 A SES 90/DIE GRÜNEN: Aktionspro- gramm gegen Schienenlärm auf den (SPD) ...... 10842 A Weg bringen Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 10843 B (Drucksachen 16/4562, 16/675, 16/2074, 16/5293) ...... 10845 D Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) ...... 10844 B

Tagesordnungspunkt 17: Tagesordnungspunkt 16: Antrag der Abgeordneten , a) Beschlussempfehlung und Bericht des Mechthild Dyckmans, Jens Ackermann, wei- Ausschusses für Tourismus zu dem Antrag terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: der Abgeordneten Klaus Brähmig, Jürgen Die Schaffung einer Europäischen Privat- Klimke, Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof), gesellschaft forcieren weiterer Abgeordneter und der Fraktion (Drucksache 16/5423) ...... 10846 B VIII Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Tagesordnungspunkt 20: durch die Bundesregierung: Sonderbericht Nr. 9/2006 über Ausgaben für Überset- a) Antrag der Abgeordneten Carsten Müller zungsleistungen bei der Kommission, beim (Braunschweig), Ilse Aigner, Michael Parlament und beim Rat Kretschmer, weiterer Abgeordneter und Ratsdok. 12861/06 der Fraktion der CDU/CSU sowie der Ab- (Drucksachen 16/5329 Nr. 2.9, 16/5766) . . . . 10847 C geordneten René Röspel, Jörg Tauss, Willi Brase, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Innovationsnetzwerk für Europa – Europäisches Technolo- Zusatztagesordnungspunkt 7: gieinstitut (Drucksache 16/5733) ...... 10846 C Antrag der Abgeordneten Dr. Herbert Schui, Werner Dreibus, Dr. Barbara Höll, weiterer b) Beschlussempfehlung und Bericht des Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN: Ausschusses für Bildung, Forschung und Für ein Europäisches Kartellamt Technikfolgenabschätzung (Drucksache 16/5360) ...... 10847 D

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. , Cornelia Hirsch, Dr. Lukrezia Jochimsen, weiterer Tagesordnungspunkt 22: Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN: Einrichtung des Euro- Antrag der Abgeordneten Laurenz Meyer päischen Technologieinstituts ver- (Hamm), Andreas G. Lämmel, Klaus hindern Hofbauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeord- – zu dem Antrag der Abgeordneten neten Andrea Wicklein, Doris Barnett, , Kai Gehring, Priska Hinz Engelbert Wistuba, weiterer Abgeordneter (Herborn) und der Fraktion des und der Fraktion der SPD: Die wirtschaftli- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: chen und arbeitsplatzschaffenden Erfolge Einrichtung des Europäischen Tech- der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung nologieinstituts abwenden – Beste- der regionalen Wirtschaftsstruktur“ nut- hende europäische Förderstruktu- zen – Regionales Wachstum und Beschäfti- ren stärken und weiterentwickeln gungseffekte intensivieren (Drucksache 16/5607) ...... 10848 A (Drucksachen 16/4625, 16/5254, 16/5765) 10846 C c) Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach, , Markus Löning, weiterer Tagesordnungspunkt 23: Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Das Europäische Institut für Technolo- Zweite und dritte Beratung des vom Bundes- gie zum Erfolg führen rat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes (Drucksache 16/5605) ...... 10846 D zur Reduzierung und Beschleunigung von immissionsschutzrechtlichen Genehmigungs- verfahren (Drucksachen 16/1337, 16/5737) ...... 10848 B Tagesordnungspunkt 19:

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Abge- Tagesordnungspunkt 24: ordneten Heidrun Bluhm, Katrin Kunert, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter Erste Beratung des vom Bundesrat einge- und der Fraktion der LINKEN: Öffentlichen brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Verkehr in den neuen Bundesländern nicht rung des Waffengesetzes gefährden – Verkehrsflächenbereinigungs- (Drucksache 16/1991) ...... 10848 C gesetz verlängern (Drucksachen 16/4856, 16/5168) ...... 10847 B Nächste Sitzung ...... 10848 D

Tagesordnungspunkt 21: Anlage 1 Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 10849 A Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 IX

Anlage 2 Anlage 5

Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung (Essen) (SPD) zur namentlichen der Beschlussempfehlung und des Berichts zu Abstimmung über die Beschlussempfehlung den Anträgen: zu dem Antrag: Fortsetzung der deutschen – Schienenlärm ursächlich bekämpfen Beteiligung an der Internationalen Sicher- heitspräsenz im Kosovo zur Gewährleistung – Lärmschutz im Schienenverkehr verbes- eines sicheren Umfeldes für die Flüchtlings- sern – Marktwirtschaftliche Anreize nut- rückkehr und zur militärischen Absicherung zen, Schienenbonus überprüfen der Friedensregelung für das Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244 (1999) des Si- – Aktionsprogramm gegen Schienenlärm cherheitsrates der Vereinten Nationen vom auf den Weg bringen 10. Juni 1999 und des Militärisch-Techni- (Tagesordnungspunkt 18) schen Abkommens zwischen der Internatio- nalen Sicherheitspräsenz (KFOR) und den (CDU/CSU) ...... 10860 B Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien (jetzt: Republik Serbien) und der Republik Heinz Paula (SPD) ...... 10861 A Serbien vom 9. Juni 1999 (Tagesordnungs- Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP) ...... 10862 C punkt 5) ...... 10849 B Lutz Heilmann (DIE LINKE) ...... 10863 B Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/ Anlage 3 DIE GRÜNEN) ...... 10864 A

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Den Fahrradtourismus in Anlage 6 Deutschland umfassend fördern (Tagesord- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung nungspunkt 16) des Antrags: Die Schaffung einer Europäi- schen Privatgesellschaft forcieren (Tagesord- Ernst Hinsken (CDU/CSU) ...... 10850 B nungspunkt 17) Gabriele Hiller-Ohm (SPD) ...... 10851 C Dr. Günter Krings (CDU/CSU) ...... 10864 D

Ernst Burgbacher (FDP) ...... 10852 D (SPD) ...... 10866 A Mechthild Dyckmans (FDP) ...... 10867 A Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) ...... 10853 C Martin Zeil (FDP) ...... 10867 D Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 10854 B Ulla Lötzer (DIE LINKE) ...... 10868 C Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 10869 B Anlage 4 Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ ...... 10869 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Politische Lösungen sind Vo- raussetzung für Frieden in Somalia (Tages- Anlage 7 ordnungspunkt 15) Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: (Lübeck) (CDU/CSU) ...... 10854 D – Antrag: Innovationsnetzwerk für Europa – Europäisches Technologieinstitut Brunhilde Irber (SPD) ...... 10856 A – Beschlussempfehlung und Bericht zu dem (FDP) ...... 10857 C Antrag: Einrichtung des Europäischen Technologieinstituts verhindern Dr. (DIE LINKE) ...... 10858 B – Beschlussempfehlung und Bericht zu dem Dr. Uschi Eid (BÜNDNIS 90/ Antrag: Einrichtung des Europäischen DIE GRÜNEN) ...... 10859 B Technologieinstituts abwenden – Beste- X Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

hende europäische Förderstrukturen stär- Anlage 10 ken und weiterentwickeln Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung – Antrag: Das Europäische Institut für Tech- des Antrags: Für ein Europäisches Kartellamt nologie zum Erfolg führen (Zusatztagesordnungspunkt 7)

(Tagesordnungspunkt 20 a bis c) (Weiden) (CDU/CSU) ...... 10885 C Carsten Müller (Braunschweig) (CDU/CSU) ...... 10870 B Christian Lange (Backnang) (SPD) ...... 10886 C René Röspel (SPD) ...... 10872 B Martin Zeil (FDP) ...... 10887 C Ulrike Flach (FDP) ...... 10873 C Dr. Herbert Schui (DIE LINKE) ...... 10888 C Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) ...... 10874 A Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ Krista Sager (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 10889 B DIE GRÜNEN) ...... 10875 C

Anlage 11 Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Die wirtschaftlichen und arbeits- der Beschlussempfehlung und des Berichts zu platzschaffenden Erfolge der Gemeinschafts- dem Antrag: Öffentlichen Verkehr in den aufgabe „Verbesserung der regionalen neuen Bundesländern nicht gefährden – Wirtschaftsstruktur“ nutzen – Regionales Verkehrsflächenbereinigungsgesetz verlän- Wachstum und Beschäftigungseffekte inten- gern (Tagesordnungspunkt 19) sivieren (Tagesordnungspunkt 22) (CDU/CSU) ...... 10876 B Klaus Hofbauer (CDU/CSU) ...... 10890 A Dr. (SPD) ...... 10877 A Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) ...... 10891 A Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) ...... 10878 A Andrea Wicklein (SPD) ...... 10892 D

Heidrun Bluhm (DIE LINKE) ...... 10878 C Gudrun Kopp (FDP) ...... 10893 C

Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/ Sabine Zimmermann (DIE LINKE) ...... 10894 A DIE GRÜNEN) ...... 10879 B Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 10894 C

Anlage 9

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Anlage 12 der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Sonderbericht Nr. 9/2006 über Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Ausgaben für Übersetzungsleistungen bei der des Entwurfs eines Gesetzes zur Reduzierung Kommission, beim Parlament und beim Rat und Beschleunigung von immissionsschutz- (Tagesordnungspunkt 21) rechtlichen Genehmigungsverfahren (Tages- ordnungspunkt 23) Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU) ...... 10880 A (Konstanz) Michael Roth (Heringen) (SPD) ...... 10881 C (CDU/CSU) ...... 10895 C

Klaus Hagemann (SPD) ...... 10882 B Dr. (SPD) ...... 10896 A

Michael Link (Heilbronn) (FDP) ...... 10883 B Horst Meierhofer (FDP) ...... 10897 A

Roland Claus (DIE LINKE) ...... 10884 A Lutz Heilmann (DIE LINKE) ...... 10897 D

Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/ Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 10884 C DIE GRÜNEN) ...... 10898 D Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 XI

Anlage 13 Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) ...... 10901 B Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Waffengesetzes (Tagesordnungspunkt 24) Petra Pau (DIE LINKE) ...... 10902 B (CDU/CSU) ...... 10899 C (BÜNDNIS 90/ (SPD) ...... 10900 C DIE GRÜNEN) ...... 10902 C

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10701

(A) (C) Redetext

105. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Beginn: 9.01 Uhr

Präsident Dr. : Überweisungsvorschlag: Die Sitzung ist eröffnet. Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle Innenausschuss herzlich und wünsche allen Anwesenden im Plenarsaal Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie und auf den Tribünen einen schönen guten Morgen und Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit uns gute Beratungen. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Vor Eintritt in die Tagesordnung gibt es zwei Mittei- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Mechthild Dyckmans, lungen: zunächst den Hinweis darauf, dass der Kollege Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Jörg van Essen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Wolfgang Zöller am Montag dieser Woche seinen 65. Geburtstag gefeiert hat. Verfahrensrechte in Strafverfahren in der Europäischen Union (Beifall) – Drucksache 16/5606 – (B) Der Beifall bringt offenkundig die guten Wünsche für Überweisungsvorschlag: (D) Rechtsausschuss (f) die nächsten Lebensjahre nicht nur des Präsidenten, son- Innenausschuss dern des ganzen Hauses zum Ausdruck. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Außerdem müssen wir, bevor wir in unsere Tagesord- c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jens Ackermann, nung eintreten können, noch das vom Deutschen Bun- Dr. Karl Addicks, , Kerstin Andreae, Hü- destag zu benennende Mitglied im Stiftungsrat der Stif- seyin-Kenan Aydin und weiterer Abgeordneter tung CAESAR wählen. Die Fraktion der CDU/CSU Ergänzung des Untersuchungsauftrages des 1. Untersu- schlägt den Kollegen Uwe Schummer vor. Er ist sogar chungsausschusses persönlich anwesend und könnte sich notfalls noch ein- – Drucksache 16/5751 – mal kurz vorstellen. Wird das gewünscht? – Das ist nicht Überweisungsvorschlag: der Fall. Sind Sie mit seiner Benennung einverstan- Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und den? – Dies findet eine breite Zustimmung. Es fängt Geschäftsordnung heute Morgen also gut an. Damit ist interfraktionell ver- ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: einbart, dass der Kollege Uwe Schummer in den Stif- Haltung der Bundesregierung zu den wirtschafts- und fi- tungsrat der Stiftung CAESAR einzieht. nanzpolitischen Vorstellungen von Bundeswirtschaftsmi- nister Glos Im Übrigen haben wir wiederum eine Vereinbarung ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Aus- zwischen den Fraktionen, die verbundene Tagesord- schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (15. Aus- nung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Michael zu erweitern: Goldmann, Angelika Brunkhorst, Patrick Döring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN: Schutz und Nutzung der Meere – Für eine integrierte ma- ritime Politik Notwendigkeiten einer zukunftsfesten Pflegereform im Verhältnis zu den pflegepolitischen Vorschlägen der Ko- – Drucksachen 16/4418, 16/5764 – alition Berichterstattung: (siehe 104. Sitzung) Abgeordneter Uwe Beckmeyer ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Werner Hoyer, (Ergänzung zu TOP 33) Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Burkhardt Müller- a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach- Sönksen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP ten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vor Rechts der Verbraucherinformation dem Kollaps bewahren – Drucksache 16/5723 – – Drucksache 16/5738 – 10702 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck (Köln), c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- (C) Omid Nouripour, Rainder Steenblock, weiterer Abgeordneter gierung und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte stär- Berufsbildungsbericht 2007 ken – Drucksache 16/5225 – – Drucksache 16/5735 – Überweisungsvorschlag: ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Herbert Schui, Ausschuss für Bildung, Forschung und Werner Dreibus, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und Technikfolgenabschätzung (f) der Fraktion der LINKEN Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Für ein Europäisches Kartellamt Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – Drucksache 16/5360 – Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Tourismus Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Haushaltsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so- d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- weit erforderlich, abgewichen werden. richts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) Die Tagesordnungspunkte 12, 16 b und 29 werden ab- gesetzt. In der Folge werden die Tagesordnungspunkte 13 – zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Schum- und 14, 15 und 16, 17 und 18 sowie 19 und 20 jeweils mer, Ilse Aigner, Michael Kretschmer, weiterer getauscht. Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Willi Brase, Jörg Das scheint keine besonderen Irritationen hervorzuru- Tauss, Nicolette Kressl, weiterer Abgeordneter fen. Auch dazu gibt es offenkundig Einvernehmen. Dann und der Fraktion der SPD ist das so beschlossen. Weiterentwicklung der europäischen Be- Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 3 a rufsbildungspolitik bis 3 f: – zu dem Antrag der Abgeordneten Priska Hinz a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe (Herborn), Grietje Bettin, Ekin Deligöz, weite- Schummer, Ilse Aigner, Michael Kretschmer, rer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der NISSES 90/DIE GRÜNEN (B) CDU/CSU sowie der Abgeordneten Willi Brase, (D) Den Europäischen Bildungsraum weiter ge- Nicolette Kressl, Jörg Tauss, weiterer Abgeord- stalten – Transparenz und Durchlässigkeit neter und der Fraktion der SPD durch einen Europäischen Qualifikations- Junge Menschen fördern – Ausbildung schaf- rahmen stärken fen und Qualifizierung sichern – zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia – Drucksache 16/5730 – Hirsch, Dr. Petra Sitte, Volker Schneider (Saar- brücken), weiterer Abgeordneter und der Frak- Überweisungsvorschlag: tion der LINKEN Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Innenausschuss Anforderungen an die Gestaltung eines eu- Finanzausschuss ropäischen und eines nationalen Qualifika- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie tionsrahmens Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – Drucksachen 16/2996, 16/1063, 16/1127, Ausschuss für Tourismus 16/5760 – Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Berichterstattung: b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Priska Abgeordnete Uwe Schummer Hinz (Herborn), Britta Haßelmann, Brigitte Poth- Willi Brase mer, Josef Philip Winkler und der Fraktion des Patrick Meinhardt BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Cornelia Hirsch Priska Hinz (Herborn) Perspektiven schaffen – Angebot und Struktur der beruflichen Bildung verbessern e) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- neten Cornelia Hirsch, Dr. Petra Sitte, Volker – Drucksache 16/5732 – Schneider (Saarbrücken), weiteren Abgeordne- ten und der Fraktion der LINKEN eingebrachten Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Entwurfs eines Achtundzwanzigsten Gesetzes Technikfolgenabschätzung (f) zur Änderung des Berufsbildungsgesetzes Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – Drucksache 16/2540 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10703

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- denschaft für junge Talente in unseren Unternehmen in (C) ses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- Deutschland. Wir müssen alles tun – das haben wir mit schätzung (18. Ausschuss) dem Ausbildungspakt vereinbart –, damit jeder Jugendli- che in Deutschland seine Chance bekommt. – Drucksache 16/5761 – Berichterstattung: (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Abgeordnete Uwe Schummer bei Abgeordneten der FDP) Willi Brase Es sind bei näherer Betrachtung drei Aufgaben, denen Patrick Meinhardt wir uns zu stellen haben: Cornelia Hirsch Priska Hinz (Herborn) Die erste, bereits genannte Aufgabe – so steht es auch f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- im Koalitionsvertrag; das ist für uns eine ganz bedeut- richts des Ausschusses für Bildung, Forschung same Aufgabe, und zwar gerade in Zeiten, in denen Dy- und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) namik in der Wirtschaft zu verzeichnen ist – besteht da- rin, dafür zu sorgen, dass jeder Jugendliche qualifiziert, – zu dem Antrag der Abgeordneten Priska Hinz gebildet und ausgebildet werden kann. Dazu gehören die (Herborn), Britta Haßelmann, Ekin Deligöz, schulische Bildung als Voraussetzung für die Ausbil- weiterer Abgeordneter und der Fraktion des dung sowie der Einstieg in die Ausbildung und die Per- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN spektive, nach einer qualifizierten Ausbildung Be- schäftigung zu bekommen. Neue Wege in der Ausbildung – Strukturen verändern Zweitens. Berufsbildungspolitik heißt heute auch, – zu der Unterrichtung durch die Bundesregie- dem prognostizierten Fachkräftemangel entgegenzu- rung wirken. Berufsbildungsbericht 2006 Drittens. Wir müssen Voraussetzungen für europäi- sche Mobilität durch Transparenz und Vergleichbarkeit – Drucksachen 16/2630, 16/1370, 16/5762 – der Bildungsgänge schaffen. Dazu gibt es den Kopen- Berichterstattung: hagenprozess in der Europäischen Union, der in der Zeit Abgeordnete Uwe Schummer unserer Ratspräsidentschaft weiter vorangetrieben wer- Willi Brase den konnte. Auch hier gilt: Wir dürfen nicht nur von Mo- Patrick Meinhardt bilität sprechen, wenn es um Studierende geht. Für Aus- (B) (D) Cornelia Hirsch zubildende, gerade in bestimmten Grenzregionen in Priska Hinz (Herborn) Deutschland, ist Mobilität ebenso wichtig, um die Chan- cen, die sich in Europa bieten, auch tatsächlich wahrneh- Die Fraktionen haben sich darauf verständigt, dass die men zu können. Aussprache zu diesen Vorlagen eineinhalb Stunden dau- ern soll. – Auch das trifft offenkundig auf Einverständ- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) nis. Dann ist das so beschlossen. Um alle drei Aufgaben gemeinsam zu sehen und um Ich eröffne die Aussprache zu den aufgeführten Bera- die verschiedenen notwendigen Strategien aufeinander tungsunterlagen. Das Wort erhält zunächst die Frau Bun- abzustimmen, wird die Bundesregierung unter dem Titel desministerin Dr. Annette Schavan. „Jugend, Ausbildung und Arbeit“ im Herbst eine natio- nale Qualifizierungsinitiative vorlegen, die alle Stufen, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) nämlich Bildung, Ausbildung und den Übergang in den Arbeitsmarkt, betrifft. Diese Initiative betrifft die Aktivi- Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil- täten des Bundes, der Länder und der Sozialpartner. Es dung und Forschung: ist also eine Initiative, die deutlich machen soll, dass Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen viele Akteure gefragt sind, in den nächsten Jahren sehr und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! konsequent eine Weiterentwicklung der Berufsbildungs- Erfolgreiche Berufsbildungspolitik ist ein wirksamer politik im engeren und weiteren Sinn zu leisten. Weg zur Sicherung der Zukunftschancen der jungen Ge- neration. Wenn wir von Talenten sprechen, dann meinen Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Lage ist derzeit wir nicht nur Akademiker. Heute geht es um die Talente, durchaus differenziert. Schauen wir uns die Zahlen an: denen wir gerecht werden müssen, aus dem weiten Feld Der Berufsbildungsbericht 2007 zeigt auf der einen Seite und dem international hoch anerkannten Bereich der be- einen Anstieg der Zahl der abgeschlossenen Ausbil- ruflichen Bildung in Deutschland. dungsverträge um 4,7 Prozent. Für 2007 sind weitere Steigerungen zu erwarten. Das heißt in einem Satz – das Herzstück der beruflichen Bildung ist die duale Aus- wissen auch alle Insider –: Dynamik auf dem Arbeits- bildung, also die Zusammenarbeit von Schulen und Un- markt ermöglicht Dynamik auf dem Ausbildungsmarkt. ternehmen, weshalb wir immer, wenn wir von Berufsbil- Alles, was für den Arbeitsmarkt gut ist, ist auch gut für dungspolitik sprechen, Leidenschaft in politischen und den Ausbildungsmarkt. den damit verbundenen Weichenstellungen brauchen. Aber, meine Damen und Herren, wir brauchen auch Lei- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) 10704 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Bundesministerin Dr. Annette Schavan (A) Der Berufsbildungsbericht zeigt aber auf der anderen dern auf diese Weise die Ausbildung zu Spezialberufen, (C) Seite, dass derzeit 1,3 Millionen Schulabgänger im Alter die nahe beieinanderliegen, bündeln, indem das gemein- bis zu 29 Jahren ohne abgeschlossene Berufsausbildung same berufliche Fundament in einer ersten Phase ge- sind. Das ist eine Gruppe, auf die wir uns, beide Koali- meinsam vermittelt wird und die Spezialisierung in der tionspartner, in besonderer Weise konzentrieren, weil zweiten Phase getrennt erfolgt. Ich sage voraus: Das – damit komme ich zum dritten Punkt, der zur Lage ge- wird auch in struktureller Hinsicht bedeutsam sein, weil hört – uns schon heute gesagt wird, dass es erste deutli- wir, angesichts der Bevölkerungsentwicklung, schon che Anzeichen für einen prognostizierten Fachkräfte- jetzt die Weichen dafür stellen müssen, dass auch in fünf mangel in den Unternehmen gibt. Wenn das so ist, dann oder zehn Jahren gewährleistet ist, dass in allen Regio- ist es umso wichtiger, diese 1,3 Millionen Menschen in nen in Deutschland gut ausgebildet werden kann. Des- den Blick zu nehmen und ihnen auf unterschiedlichen halb müssen die Verbundausbildung gefördert und die Wegen, über die wir ja in Beratung sind, eine Chance zu überbetrieblichen Werkstätten stärker in die Erstausbil- geben. dung hineingenommen werden, damit im Zweifelsfall Ausbildungsbausteine angeboten werden können, die ein Ich möchte an dieser Stelle sagen: Die Koalitionsar- Unternehmen vor Ort nicht anbieten kann. beitsgruppe Arbeitsmarkt und der Innovationskreis Berufliche Bildung, das Arbeitsministerium und das Bil- Fünftens. Die Zahl der Schulabbrecher muss redu- dungsministerium arbeiten im Bereich der Berufsbil- ziert werden. Jeder Jugendliche braucht einen Ab- dungspolitik und im Bereich des Ausbildungspaktes des schluss, eine Qualifikation als Voraussetzung für berufli- Wirtschaftsministeriums außerordentlich gut zusammen. che Bildung. Das ist mit einem besonderen Appell an die Ich bin überzeugt, wir kommen gerade deshalb gut Länder verbunden. Wir sind im Gespräch über konkrete voran, weil wir in diesen Fragen einen hohen Konsens Strategien, um in einem überschaubaren Zeitraum eine und eine gute Zusammenarbeit haben. Reduzierung der Zahl der Schulabbrecher zu erreichen. Damit komme ich zu den Maßnahmen und Impulsen im Einzelnen: Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Ministerin, gestatten Sie, bevor Sie zum nächs- Erstens haben wir die Möglichkeit – schon zu Beginn ten Thema kommen, noch eine Zwischenfrage des Kol- der Legislaturperiode eingeführt, sodass uns bereits erste legen Seifert? Erfahrungen vorliegen – der Einstiegsqualifizierung geschaffen. Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil- Diese entwickeln wir – das ist der zweite Punkt – dung und Forschung: (B) gerade weiter. Wir haben das Bundesinstitut für Berufs- Ich dachte, ich müsste schon zum Ende kommen. (D) bildung beauftragt, in einer Reihe von relevanten Be- rufsbildern Ausbildungsbausteine zu entwickeln, um Präsident Dr. Norbert Lammert: Altbewerbern, die in die Gruppe der 1,3 Millionen Ja, auch das ist richtig. Schulabgänger ohne Ausbildung fallen, aber auch Ausbil- dungsabbrechern, die bestimmte Kompetenzen erworben (Heiterkeit im ganzen Hause) haben und möglicherweise mit einzelnen Ausbildungs- bausteinen noch zu einem Abschluss geführt werden Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil- können, eine Chance zu geben. Die Einstiegsqualifizie- dung und Forschung: rung wird jetzt also strukturelle Unterstützung erhalten. Das ist nicht richtig; ich habe die Uhr im Blick. – Damit werden den besonders gefährdeten Gruppen neue Bitte schön. Möglichkeiten gegeben. Ich nenne drittens das Ausbildungsstrukturpro- Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): gramm „Jobstarter“. In der Befragung der Bundesre- Frau Ministerin, Sie haben hier verschiedene Strate- gierung war gestern die Situation in den neuen Ländern gien genannt. Ich warte die ganze Zeit darauf, dass Sie ein Thema. In das Programm „Jobstarter“ werden darauf zu sprechen kommen, dass es bestimmte Gruppen 125 Millionen Euro investiert, vor allem in den neuen von Jugendlichen gibt, deren Talente zu fördern nicht Ländern und Berlin. Bis 2010 sollen 22 000 betriebsnahe ganz so einfach ist. Ich denke an Migrantinnen und Mi- Ausbildungsplätze geschaffen werden. Wir wissen, dass granten, aber auch an Menschen mit Behinderungen. wir hier andere Wege gehen müssen. Das, was in ande- Können Sie mir vielleicht erklären, wieso die Finanzmit- ren Regionen Deutschlands in einer selbstverständlichen tel, die für berufsfördernde Bildungsmaßnahmen ausge- Kooperation zwischen Unternehmen und Schule ge- geben werden, in den letzten Jahren kontinuierlich sin- schieht, muss hier stärker unterstützt werden: durch Ver- ken, und können Sie mir zweitens erklären, wieso der bundausbildung, überbetriebliche Werkstätten und an- relative Anteil an Berufsausbildung für behinderte Men- dere mögliche betriebsnahe Wege. schen im Osten dreimal so hoch ist wie im Westen? Viertens muss die vorhandene Überspezialisierung in dem Bereich der dualen Ausbildung abgebaut werden. Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil- „Dual mit Wahl“ lautet der Vorschlag des Deutschen dung und Forschung: Industrie- und Handelskammertages. Ich halte ihn für Was Migranten angeht, so werde ich gerade heute gut. Wir wollen natürlich keine Berufe abschaffen, son- Nachmittag ein sehr positives Beispiel erleben, indem Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10705

Bundesministerin Dr. Annette Schavan (A) ich eine große Gruppe türkischstämmiger Abiturienten Lassen Sie mich abschließend sagen: Wir sollten in (C) empfangen werde. Ich rate uns sehr diesen Debatten nicht vergessen, dass die Berufsbildung in Deutschland trotz aller identifizierten Schwächen (Zuruf des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]) – Stichwort: Lehrstellenmarkt während vieler Jahre – er- – Sie haben von Migranten und Behinderten gesprochen; folgreich und die beste Vorbeugung gegen Jugend- jetzt bleibe ich zunächst einmal bei der ersten Gruppe –, arbeitslosigkeit ist. Das bestätigt bis heute der europäi- diese Gruppe der Jugendlichen nicht immer nur als Pro- sche Vergleich. Das wird am Interesse anderer Länder blemgruppe darzustellen. Wir haben im Dialog mit Un- deutlich, diesen Bereich des Bildungssystems zu stärken. ternehmenschefs mit Migrationshintergrund – vor allem Ich sage auch: Ich mache keinen Hehl daraus, dass die türkischen Wirtschaftsverbände sind dabei angespro- wir uns angesichts unserer Bevölkerungsentwicklung chen – 10 000 zusätzliche Ausbildungsplätze geschaf- dauerhaft Gedanken darüber machen müssen, wie wir fen. Dazu gibt es Regionalkonferenzen. Wir wissen, dass Talente aus anderen Ländern nach Deutschland holen diese Unternehmen in den Kreis der Ausbildungsunter- können. Aber eine Priorität muss sein – auch dazu gibt nehmen aufgenommen werden müssen. Da wird also es Konsens in der Koalition –, Jugendlichen hier in vieles getan. Deutschland eine Chance zu geben, das Potenzial, das Im Bereich der Förderung von beruflicher Qualifi- wir haben, zu nutzen. Deshalb ist die Berufsbildungs- kation Behinderter hat es Veränderungen gegeben, die politik ein wirksamer Weg für die Zukunftschancen der nicht allein mit Umschichtungen oder finanziellen Pro- jungen Generation. blemen in früheren Jahren zu tun hatten. Da gilt jetzt Vielen Dank. vielmehr das exakt Gleiche, was ich eben gesagt habe: Auf der Ebene der Länder und im Zusammenwirken mit (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) vielen freien Trägern, die in diesem Bereich engagiert sind, wird man sich auch in diesem Bereich mit Blick Präsident Dr. Norbert Lammert: auf die Entwicklungen der letzten Jahre um eine Wende Das Wort erhält nun der Kollege Patrick Meinhardt bemühen müssen. Ich habe jetzt keinen exakten Über- für die FDP-Fraktion. blick über die entsprechenden Zahlen. Diese will ich aber gerne in meinem Haus aufarbeiten lassen und Ihnen (Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Vor- zur Verfügung stellen. sichtig, ich frage Sie gleich wieder nach Nie- bel!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Patrick Meinhardt (FDP): (B) (D) Der europäische Qualifikationsrahmen ist ein Aspekt, Sie bekommen auch gleich wieder die richtige Ant- den ich im Zusammenhang mit dem vor der Zwischen- wort, Herr Tauss. frage von mir genannten Punkt für wichtig halte. Des- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau halb entwickeln wir auch in Deutschland einen nationa- Ministerin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! len Qualifikationsrahmen. Da der Handel 5 Prozent mehr Ausbildungsplätze anbietet Der sechste Punkt ist die bessere Verzahnung von und das Handwerk trotz eines Verlusts von 60 000 Ar- Erst- und Weiterbildung. Weiterbildungssparen ist ein beitsplätzen mit einer Steigerung von annähernd 4 Pro- erster Schritt und nicht der letzte Schritt. Es werden wei- zent weit über den Bedarf ausbildet, fehlt mir wirklich tere Schritte folgen. jedes Verständnis dafür, dass wir in dieser Sitzung heute wiederum den Entwurf eines Gesetzes zur Einführung Schließlich zu den benachteiligten Jugendlichen. einer Ausbildungsplatzabgabe beraten, der von der Wir haben in 75 Berufen in Deutschland zweijährige Linken vorgelegt worden ist und aus der Mottenkiste der Bildungsgänge eingerichtet. Es zeigt sich, dass der Ein- politischen Ideologie stammt. Wir brauchen so etwas in stieg über einen zweijährigen Bildungsgang für viele der der Bundesrepublik Deutschland nicht. richtige Weg ist, um sich weiterzuentwickeln. Meine Position ist: Da, wo nach einem zweijährigem Bildungs- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gang gewährleistet ist, dass eine Weiterentwicklung hin der CDU/CSU) zu einem dreijährigem möglich ist, sollten wir dies of- Da die Koalition jetzt ein enormes Problem mit dem fensiv angehen. Wir sollten dies nicht tun, wenn dies zu Mindestlohn hat, erfindet sie über Nacht einen so- Sackgassen für die Jugendlichen führt. genannten Bonus für ausbildungswillige Betriebe. Das hört sich zunächst einmal gut an. Das wollten Sie auch (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie erreichen. bei Abgeordneten der FDP) (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die nationale Quali- fizierungsinitiative wird uns Gelegenheit geben, Berufs- Was läuft aber über den Ticker, Herr Kollege Tauss? Auf bildungspolitik in Gänze darzustellen, einen Zusammen- den Arbeitgeberbeitrag zur Arbeitslosenversicherung hang auch zu dem herzustellen, was für junge Leute im soll es einen Rabatt geben. Kleine Einzelheiten wie die Bereich des Arbeitsmarktes wichtig ist. Dies wird uns Höhe des Rabatts und der Ausbildungsbedarf seien zwar die Gelegenheit geben, eine strukturelle, konzeptionelle noch nicht geklärt, angesichts der Unterschiede zwi- Weiterentwicklung zu leisten. schen SPD und CDU, so die Tickermeldung, sei diese 10706 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Patrick Meinhardt (A) Einigung aber bemerkenswert. – Meine Damen und Her- europäische Ebene für die volle Anerkennung des dualen (C) ren, das einzig Bemerkenswerte ist, dass Sie mit einer so Systems und für die volle Anerkennung des Meisters substanzlosen Ankündigung überhaupt an die Öffent- kämpft. lichkeit gehen. (Ilse Aigner [CDU/CSU]: Machen wir!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten In einer Pressemeldung vom 12. Juni ist sehr deutlich der LINKEN – Jörg Tauss [SPD]: Nur Neid, zum Ausdruck gekommen, dass noch nicht klar ist, ob keine Gestaltungsvorschläge!) der Meisterbrief, der in Deutschland Teil des dualen Ich halte es mit dem DIHK, der Ihnen vorwirft – das Ausbildungssystems ist, auf europäischer Ebene voll an- steht heute in einer Tickermeldung –, dass der Vorschlag erkannt wird. Bis zum 20. Oktober – Stichwort: EU- nicht zu Ende gedacht ist. Allein die Ermittlung dessen, Richtlinie zur gegenseitigen Anerkennung von Berufs- was „überdurchschnittlich“ eigentlich konkret heißt, qualifikationen – haben wir aber nicht mehr viel Zeit. würde zu unendlichen Diskussionen und noch mehr Bü- Das ist eine Hausaufgabe, die diese Bundesregierung im rokratie führen. Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft zu leisten hat. (Willi Brase [SPD]: Da spricht jemand, der in (Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Aber der Praxis nicht verhaftet ist!) selbstverständlich!) Auch ordnungspolitisch ist das Ganze fragwürdig. Wer Wer der jungen Generation Chancen bieten will, der entscheidet? Etwa die Bundesagentur für Arbeit? Daraus muss neue Ausbildungsberufe schaffen, der muss neue würde sich eine neue Bewilligungsbürokratie entwi- Wege gehen, aber auch kürzere Ausbildungszeiten vo- ckeln. Gerade die kleinen Unternehmen würden dadurch rantreiben. Es ist richtig, dass wir dringend mehr zweijäh- benachteiligt. Nein, das ist der falsche Weg. Wir brau- rige Ausbildungsgänge brauchen. Nicht nur in der Auto- chen weniger bürokratische Bevormundung der ausbil- werkstatt zeigt sich das: Die dreijährige Ausbildung zum dungswilligen Betriebe. Kfz-Mechatroniker ist inzwischen in allererster Linie auf Realschülern und Gymnasiasten ausgerichtet, während (Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Wir die zweijährige Ausbildung zum Kfz-Servicemechaniker brauchen Belohnung für die ausbildungswilli- fast ausschließlich von Hauptschülern aufgenommen gen Betriebe!) wird. Wir brauchen also kürzere Ausbildungszeiten in Frau Ministerin, eine gute Bildung ist die Basis für al- einem neuen, modernisierten, modularen System. Auf les. Bildung muss von Anfang an in ein Konzept le- diesem Weg müssen wir gemeinsam weiter vorangehen. benslangen Lernens eingegliedert sein. In einer libera- (Beifall bei der FDP) (B) len Bürgergesellschaft haben wir dafür zu sorgen, dass (D) jeder entsprechend seinen Fähigkeiten gefördert wird. Präsident Dr. Norbert Lammert: Das ist unsere Verantwortung. Gerade deswegen können Überraschend spät, aber immerhin noch vor Schluss wir nicht hinnehmen, dass jährlich 80 000 Schüler die Ihrer Rede, wünscht der Kollege Tauss, Ihnen eine Zwi- Hauptschule ohne Abschluss verlassen, dass Jahr für schenfrage zu stellen. Jahr 250 000 Schüler sitzen bleiben, sich aber trotzdem keine nachhaltige Verbesserung ihrer Leistungen ein- stellt, dass 160 000 junge Menschen in berufsvorberei- Patrick Meinhardt (FDP): tenden Maßnahmen geparkt werden und 240 000 Be- Ich gestehe, dass es mich gewundert hätte, wenn rufsschüler die Berufsschule ohne Abschluss verlassen. keine Zwischenfrage gekommen wäre, Herr Kollege Fast eine Dreiviertelmillion junger Menschen erhält Tauss. keine optimale Förderung. Das ist für ein Bildungsland wie die Bundesrepublik Deutschland ein nicht hinnehm- Präsident Dr. Norbert Lammert: barer Zustand. Bitte, Herr Tauss. (Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Rich- tig! Deswegen ändern wir das!) Jörg Tauss (SPD): Lieber Kollege Meinhardt, für Erkenntnisgewinn Frau Ministerin, deswegen brauchen wir aber keine engagiere ich mich ohne Ende. neue europaweite PISA-Studie für den Bereich der Be- rufsschulen. Die Schulen kommen aus den Studienerhe- (Dirk Niebel [FDP]: Das ist auch bitter nötig!) bungen ja gar nicht mehr heraus. Nicht nur angesichts Deswegen stelle ich an dieser Stelle eine Frage. Sie ha- des Fachkräftemangels muss doch festgestellt werden, ben soeben beklagt, dass die Ergebnisse der deutschen dass wir in Deutschland kein Erkenntnisproblem haben, Berufsausbildung bis hin zur Meisterausbildung – da sondern es in diesem Land an der Umsetzung hapert. gebe ich Ihnen recht – im europäischen System noch (Beifall bei der FDP) nicht so anerkannt werden, wie wir es uns wünschen. Gleichzeitig plädieren Sie jetzt dafür, eine Berufsausbil- Es gibt eine ganze Reihe von sehr konkreten Aufga- dung light zu machen. Frage: Sind Sie wirklich der Auf- ben: Wir brauchen ein klares Bekenntnis zum dualen fassung, dass die Akzeptanz des deutschen Berufsbil- System und zur Notwendigkeit der Modernisierung des dungssystems im europäischen Vergleich steigt, wenn dualen Systems. Ganz bewusst sage ich hier und heute: wir systematisch auf verkürzte Ausbildungsgänge, die ja Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie auf der möglich sind, setzen? Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10707

Jörg Tauss (A) (Cornelia Pieper [FDP]: Das ist Quatsch! Sie Franz Müntefering, Bundesminister für Arbeit und (C) haben es nicht verstanden!) Soziales: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Besteht nicht vielmehr die Gefahr, dass sie sinkt? Diesen Kolleginnen und Kollegen! Ich will Ihnen zunächst ei- Widerspruch müssen Sie auflösen und mir gegebenen- nen Gruß von den Personen draußen in den weißen Zel- falls erklären. ten bestellen, die uns eingeladen haben, Blut zu spen- den. Ich soll Ihnen sagen, Sie möchten vorbeikommen. Patrick Meinhardt (FDP): Ich war heute Morgen schon da und habe Frau Enkel- Herr Kollege Tauss, ich sehe den Widerspruch nicht. mann getroffen und festgestellt: Das Blut ist kein Stück- (Nicolette Kressl [SPD]: Das haben wir chen mehr rot als meins. befürchtet!) (Heiterkeit) – Nein, nein, ich bin auf der Linie dessen – wenn man auf einer gemeinsamen Linie ist, sollte man das auch sa- Präsident Dr. Norbert Lammert: gen –, was die Ministerin hier gerade gesagt hat. Herr Minister, darf ich mir eine geschäftsleitende An- merkung erlauben: Es wäre gut, wenn diejenigen, die oh- (Jörg van Essen [FDP]: Es zeigt sich wieder nehin nicht im Plenarsaal sind, von diesem Angebot vor- einmal: Die Koalition ist nicht einer Mei- rangig Gebrauch machten. nung!) (Heiterkeit und Beifall) Wir wollen eine Stärkung der Ausbildungsgänge im Bereich der zweijährigen Ausbildung. Es gibt bereits 75 bzw. 77 dieser Ausbildungsgänge. Ich glaube, Sie Franz Müntefering, Bundesminister für Arbeit und und ich sind ein und derselben Meinung, dass wir damit Soziales: im modularen System noch nicht am Ende sind, dass Ich nehme an, die sitzen alle in ihren Büros und hören durchaus noch mehr zweijährige Ausbildungsgänge zu. Ich lade auch die Besucher auf den Tribünen dazu möglich sind. Hier besteht überhaupt kein Widerspruch. ein. Man sagte mir, gestern sei eine Prinzessin dagewe- Das Gegenteil ist der Fall: Mit den zweijährigen Ausbil- sen, und sie habe kein blaues Blut gehabt. Kollege Kau- dungsgängen schaffen wir genau für die Jugendlichen der war auch dort. Ich konnte aber nicht sehen, ob sein Ausbildungsmöglichkeiten, denen wir eine zweite Blut schwarz ist oder rot. Chance eröffnen müssen, und nichts anderes. ( [CDU/CSU]: Knallrot!) (Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Lei- Ganz im Ernst – ich will ja nicht ablenken –: Ich (B) der keine Übereinstimmung! – Jörg van Essen finde, dass wir den Frauen und Männern, die heute un- (D) [FDP]: Das ist vernünftig, aber Vernunft hat sere Gäste sind und die viel ehrenamtliches Engagement Herr Tauss noch nie verstanden!) investieren, ein Dankeschön sagen sollten. Sie leisten Einen wichtigen Punkt möchte ich an dieser Stelle ganz tolle Arbeit. noch einmal exponiert ansprechen: Die Weiterbildung (Beifall) muss in einem solchen System von nachhaltiger Bedeu- tung sein. Deswegen halten wir als FDP es für äußerst Zum Thema. Frau Kollegin Schavan hat es angespro- fragwürdig, dass für ein System des Bildungssparens auf chen, und ich will das noch einmal aufgreifen. Der An- drei Jahre 45 Millionen Euro zur Verfügung gestellt wer- trag, der von den Koalitionsfraktionen vorgelegt worden den. Sie müssen sich Folgendes vorstellen: 45 Millionen ist, beinhaltet die Fragen: Was machen wir am Ausbil- Menschen als Zielgruppe sollen in drei Jahren 45 Millio- dungsmarkt? Was machen wir für die jungen Menschen nen Euro zur Verfügung gestellt werden. Ein Jahr in ei- insgesamt? Deshalb sind der Wirtschaftsbereich, Arbeit ner Weiterbildungsmaßnahme ist vorgesehen, und und Soziales sowie Bildung und Forschung in besonde- 1 Euro pro Person wird auf drei Jahre verteilt zur Verfü- rer Weise herausgefordert, ein gemeinsames Konzept zu gung gestellt. Soll das die neue Weiterbildungsinitiative schaffen. In dem Antrag steht die Herausforderung an der Bundesregierung sein? – Das ist ein politisches Ar- uns, an die Koalition, aber auch an die Bundesregierung, mutszeugnis. unsere Arbeit in diesem Bereich zu konkretisieren und weiter voranzutreiben. Dazu wollen wir in diesem (Beifall bei der FDP) Herbst in aller Deutlichkeit beitragen. Wir hoffen, dass die Wählerinnen und Wähler dieser so- Wenn man die Situation junger Menschen in Deutsch- genannten Großen Koalition dies merken werden. Wir land mit der in anderen europäischen Ländern ver- wollen für jeden jungen Menschen in unserem Bildungs- gleicht, kommt man zu dem Ergebnis, dass es in system eine zweite Chance. Deutschland gut aussieht. Die anderen europäischen (Beifall bei der FDP) Länder gucken ziemlich neidisch auf Deutschland. (Ilse Aigner [CDU/CSU]: So ist es!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Trotzdem dürfen wir nicht zufrieden sein. Bei den unter Das Wort hat nun der Bundesminister für Arbeit und 20-Jährigen läuft das sehr gut, aber zwischen 20 und Soziales Franz Müntefering. 25 ist das schon eine kritische Altersgrenze. Wer da (Beifall bei der SPD) zwei-, drei- oder viermal nicht in den Beruf kommt, 10708 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Bundesminister Franz Müntefering (A) nicht in die Ausbildung kommt, gilt schon als zu alt, als sengeld-I-Bezieher oder in normaler Beschäftigung sind, (C) Altbewerber und schon ein bisschen als aussortiert. Und gehen zur BA. deshalb müssen wir uns diesem Komplex insgesamt nä- (Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE hern. GRÜNEN]: Das haben wir schon vor einem Meistens diskutieren wir darüber unter volkswirt- Jahr beantragt!) schaftlichen Gesichtspunkten: Was liegt in unserem Inte- Das ist für die jungen Menschen nicht gut. Deswegen resse? Was braucht unsere Gesellschaft? Dazu muss man finde ich gut, was die Koalitionsfraktionen aufgeschrie- allerdings einen Satz sagen: Jeder einzelne Mensch hat ben haben: dass wir prüfen, dass der ganze Bereich von einen Anspruch darauf, Bildung und Ausbildung zu er- der Schule über die Berufsvorbereitung bis in die erste fahren. Das ist ein Stück Grundlage der Demokratie und Ausbildung, bis in den ersten Job hinein in den Zustän- der Freiheitsidee überhaupt. digkeitsbereich der Bundesagentur für Arbeit kommt, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten damit es keine Separierung von solchen Jugendlichen der CDU/CSU und des Abg. Dr. Ilja Seifert mehr gibt, die aus schwierigen Situationen in der Fa- [DIE LINKE]) milie heraus auf die Ausbildung zugehen. Das ist ein gu- ter Gedanke, den wir vertiefen sollten. Jeder Mensch hat das Recht, unabhängig davon, ob es sich heute oder morgen volkswirtschaftlich rechnet, die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Chance zu haben, Bildung zu erfahren. Deshalb finde ich der CDU/CSU) die Feststellung in dem vorliegenden Antrag interessant, Wir müssen uns mehr als bisher mit der Situation der dass wir die Länder dringend bitten zu veranlassen, dass besonders benachteiligten Jugendlichen befassen. Zu nicht mehr so viele junge Menschen ohne Abschluss aus diesem Zweck haben wir den Qualifizierungskombi ge- den Schulen kommen. Das kann so nämlich nicht blei- schaffen. Das ist keine Kleinigkeit. Hier geht es um die ben. Frage, was wir mit den Jugendlichen unter 25 Jahren (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem machen, die eine Ausbildung abgeschlossen haben und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) danach lange arbeitslos waren oder aber ohne Ausbil- dung bzw. ohne Ausbildungsstelle dahindümpeln und Das richtet sich an die Bildungsministerin, aber auch an keine Möglichkeit haben, ins Erwerbsleben einzutreten. den Arbeitsminister und den Wirtschaftsminister. Das betrifft die zweite Schwelle, aber auch diejenigen, Jungen Leuten, die die Schule mit 16, 17 oder die von Anfang an gescheitert sind. 18 Jahren ohne Abschluss verlassen, zu sagen: „Jetzt or- Mit dem Qualifizierungskombi, mit Eingliederungs- (B) ganisieren wir für euch soziale Gerechtigkeit“, ist ganz zuschüssen und anderen Hilfen versucht die Koalition, (D) schwer. diesen jungen Menschen eine Chance zu geben, ins Be- (Dr. Peter Struck [SPD]: Ja!) rufsleben hineinzuwachsen, und dafür zu sorgen, dass sie in den Unternehmen eine Qualifizierung erhalten, um Wir müssen früher anfangen. Deshalb ist die Debatte, sie möglicherweise doch noch ausbildungsfähig zu ma- die in der Koalition über die Bedeutung der vorschuli- chen. Es ist eine Lebensweisheit, dass es Früh- und Spät- schen Erziehung geführt wird, sehr wichtig. Hier fängt starter gibt. Mancher, der mit 16 oder 17 Jahren noch das Ganze an. Das ist ein Gesamtkomplex, den wir sehen nicht in der Lage war, eine Ausbildung zu machen, müssen. Wir werden das Problem der Jugendlichen, die schafft das vielleicht, wenn er 18 oder 19 Jahre alt ist. auch Schwierigkeiten haben, Ausbildung zu finden und Die jungen Menschen haben einen Anspruch auf eine Beruf zu finden, nur lösen können, wenn wir das Ganze zweite und auf eine dritte Chance. Wir müssen uns ge- im Gesamtkonzept der Bildungspolitik vernünftiger- meinsam dafür einsetzen, das zu organisieren. weise angehen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich möchte noch einen Satz zu den Paten sagen, die im Antrag erwähnt sind. Ich finde, dass das eine gute Natürlich müssen wir im Interesse der Leistungsfä- Idee ist. In der Regel fangen wir mit der Berufsvorberei- higkeit unseres Landes alle Potenziale, die wir haben, tung zu spät an. Junge Menschen, die in der achten, nutzen und vergrößern. Dazu gehört, im Interesse der neunten oder zehnten Klasse einer Hauptschule sind, ler- jungen Menschen dazu beizutragen – so verstehe ich nen Mathematik nicht mehr vor der Tafel. Wenn die aber eine der Anregungen des Antrags –, dass nicht mehr un- Berufspraktika machen können, wenn wir sie an das terschieden wird zwischen den Kindern von Eltern, die praktische Leben heranführen wollen, dann wissen sie Arbeitslosengeld-II-Empfänger sind, und den Kindern nach einer Woche genau, was ein Quadratmeter ist. Wir von Eltern, die das nicht sind. müssen mit ihnen früh darüber sprechen, wo denn ihre Lebenschancen sind. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schon vorher!) Es kann doch nicht sein, dass wir bei der Berufsvorberei- tung den jungen Menschen zunächst einmal vermitteln: Ich will versuchen zu schauen, ob wir nicht einige Tau- Du gehst zur Arge; denn deine Eltern sind Arbeitslosen- send Menschen in Deutschland haben, die berufserfah- geld-II-Empfänger. Die anderen, deren Eltern Arbeitslo- ren und hinreichend pädagogisch ausgewiesen oder ta- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10709

Bundesminister Franz Müntefering (A) lentiert sind, die diese jungen Menschen früh, in sich rechtzeitig darum kümmern, diese Menschen auszu- (C) Klasse acht, in Klasse neun, ansprechen und ihnen zei- bilden, sie zu qualifizieren. gen, wohin der Weg gehen kann, die diese jungen Men- schen begleiten und ihnen eine Chance geben, ins Er- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten werbsleben, in die Ausbildung hineinzuwachsen, die der CDU/CSU) also ganz praktisch solche Patenschaften übernehmen. Sie muss dafür sorgen, dass wir die Potenziale, die wir in Wieso soll es keine 50-jährigen Arbeitslosen oder 60-jäh- diesem Lande haben, nutzen, damit daraus Gutes werden rigen Frührentner geben, die so etwas kennen und kön- kann. nen, die ein paar Jahre lang fünf oder zehn solcher jun- gen Leute begleiten und ihnen zeigen, wie sie den Weg Ich bedanke mich noch einmal bei den Koalitions- finden? Denn diese jungen Leute bekommen von zu fraktionen. Ich glaube, dass wir in diesem Sommer, in Hause oft keinen Impuls für duale Ausbildung, dort weiß diesem Herbst miteinander – Frau Schavan, Herr Glos man gar nicht um die Möglichkeiten der dualen Ausbil- und ich und andere aus dem Kabinett sicherlich auch – dung. Denen müssen wir zeigen, wohin die Reise gehen in der Gesamtverantwortung für die jungen Menschen in kann. diesem Land noch einen entscheidenden Schritt tun kön- nen. Diese Koalition hat die Chance, in diesen beiden (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Jahren noch einen entscheidenden Schritt zu machen und der CDU/CSU) die Langzeitarbeitslosigkeit bei den jungen Menschen Ich will ein Wort zu der Idee sagen, zu prüfen, ob wir abzubauen. Keiner soll von der Schule kommend in die nicht die Arbeitgeber, die überdurchschnittlich ausbil- Arbeitslosigkeit fallen, und junge Menschen, die später den, belohnen, ob wir ihnen nicht eine Vergünstigung arbeitslos werden, sollen nicht länger als drei Monate geben. draußen sein. Das ist ein Ziel, das wir uns setzen können und das wir auch erreichen können. Dazu bitte ich um (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ihre Unterstützung. Natürlich muss man so etwas möglichst unbürokratisch (Anhaltender Beifall bei der SPD sowie des gestalten. Aber wenn ich mir die Gesamtlage in Abg. Volker Kauder [CDU/CSU] – Beifall bei Deutschland ansehe, muss ich mich schon wundern, dass der CDU/CSU) die Wirtschaft insgesamt so gnädig miteinander umgeht: 25, 30, 35 Prozent strengen sich an und schaffen noch ei- Präsident Dr. Norbert Lammert: nen Ausbildungsplatz und noch einen, während 60 bis Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke ist der nächste 70 Prozent der Unternehmen mit Ausbildung nichts zu Redner. (B) tun haben wollen. Wenn die jungen Leute dann ausgebil- (D) det sind, werben sie sie den anderen für zehn Cent mehr (Beifall bei der LINKEN) ab. Das kann so nicht sein. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): der CDU/CSU) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, dass kein Grund zur Selbstbeweihräucherung vor- Deshalb sage ich: Diejenigen, die ausbilden, sollten da- liegt, wie wir sie bisher anhören durften. von einen Vorteil haben. Wenn wir darüber sprechen, wie wir die Arbeitslosenversicherung an dieser Stelle in (Beifall bei der LINKEN) Zukunft gestalten, sollten wir – ohne dass ich mich jetzt Schauen wir doch einmal, wie sich die Zahlen entwi- auf Details festlegen wollte – unvoreingenommen darü- ckelt haben: Die Zahl derer, die sich um einen Ausbil- ber sprechen, wie man es erreichen kann, dass diejeni- dungsplatz bewerben, ist von 2002 bis heute von gen, die überdurchschnittlich ausbilden, einen Vorteil 480 000 auf 590 000 gestiegen. In derselben Zeit ist die gegenüber denen bekommen, die das ganze System hin- Zahl der betrieblichen Ausbildungsplätze um 100 000 terher ausbeuten. zurückgegangen. Das ist ein riesiges Problem, unter dem (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten jährlich Tausende Jugendliche, die keinen Ausbildungs- der CDU/CSU) platz bekommen, leiden. Das ist so unvernünftig nicht, und diesen Weg sollten (Beifall bei der LINKEN) wir zusammen zu gehen versuchen. Da hilft es Ihnen auch nicht weiter, dass Sie die Jugend- (Jörg Tauss [SPD]: Sehr vernünftig!) lichen, die Sie in die Warteschleife schicken, aufgrund eines Tricks einfach nicht mehr mitzählen. Wir stehen in Europa und in Deutschland vor einer Qualifizierungsproblematik; das wissen wir alle. Schon Ich weiß nicht, ob Sie schon einmal Jugendliche, die heute sagen manche Branchen, es fehlten ihnen die sich in der Warteschleife befinden, besucht haben. Es Fachkräfte, sie bräuchten eigentlich 20 000 Auszubil- mag hier und da auch etwas Vernünftiges passieren, aber dende, hätten aber nur 12 000. Weshalb gucken die uns der 16-jährige Junge, den ich besucht habe, wickelte die an? Dann sollen die ausbilden! Die Wirtschaft muss wis- ganze Zeit Puppen. Na, der war vielleicht bedient. Das sen, sie kann nicht einfach die schönsten, besten Maschi- tat er schon den dritten Tag. Trotzdem würde ich ihm nen kaufen und dann zur Politik kommen und fragen: kein Baby anvertrauen. Sie müssen verstehen, dass ihm Wo sind die Leute, die die bedienen können? Sie muss das nicht weiterhilft. Das demütigt ihn. Das ist doch kein 10710 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Dr. Gregor Gysi (A) Ausbildungsplatz, sondern eine Perspektive ohne Zu- – Ich wusste, dass Sie herumschreien. Nicht einmal auf (C) kunft. diesen Punkt können Sie einen objektiven Blick werfen. Wir können die DDR gemeinsam kritisieren, aber akzep- (Beifall bei der LINKEN) tieren Sie doch: Jeder Jugendliche bekam damals einen Ich habe in den letzten Jahren häufig daran gedacht, Ausbildungsplatz. Das ist heute nicht der Fall. Das ist dass die allgemeine Schulpflicht zum Glück ja schon seit die Wahrheit. vielen Jahrzehnten besteht. Wann sie eingeführt wurde, (Beifall bei der LINKEN – Patrick Meinhardt ist für die einzelnen Bundesländer unterschiedlich. Stel- [FDP]: Dafür keine Freiheit!) len Sie sich einmal ernsthaft vor, dass nur die Hälfte un- serer Kinder zur Schule ginge und wir vorschlagen wür- Die SPD hatte einmal eine gute Idee. Ich erinnere den, dass alle Kinder zur Schule gehen müssen. Dann mich, dass ich mit Frau Nahles auf einer Kundgebung würden Sie uns sagen: Unbezahlbar, populistisch, gar gesprochen habe. Damals nannten wir das noch Ausbil- nicht machbar. – Bei der Schule besteht der große Vor- dungsplatzabgabe, inzwischen sagen wir Ausbildungs- teil, dass das Ob überhaupt nicht mehr zur Debatte steht, platzumlage. Sie reden vom Bonus. Es wäre doch ganz sondern nur noch das Wie. Warum bekommen wir es einfach. Beispiel: Ein Handwerksmeister, der ausbilden dann nicht hin, dass eine Ausbildung nach Schulab- könnte, tut das nicht. schluss eine völlige Selbstverständlichkeit wird und wir (Patrick Meinhardt [FDP]: Wer legt das denn nicht mehr über das Ob, sondern nur noch über das Wie fest?) diskutieren? Daneben gibt es einen, der mehr ausbildet, als er (Beifall bei der LINKEN) braucht. Dafür gäbe es eine ganz einfache Möglichkeit. Wir (Nicolette Kressl [SPD]: Das Handwerk bildet bekommen hier doch zwei Drittel zusammen. Beschlie- doch aus!) ßen wir doch einfach, das Grundgesetz zu ändern und Sie haben das ja beschrieben. Wenn es eine Ausbil- hineinzuschreiben, dass jede Abgängerin und jeder Ab- dungsplatzumlage gäbe, müsste der eine etwas bezahlen, gänger einer Schule einen Anspruch auf Ausbildung hat! was wir dem anderen geben könnten, der mehr ausbildet. Lassen Sie uns das doch im Grundgesetz verankern! (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Zurzeit passiert aber Folgendes: Der eine Handwerks- Das wollen Sie aber natürlich nicht, weil Sie einen sol- meister bildet fünf Lehrlinge aus, obwohl er im An- chen Anspruch nicht wollen. Das ist das Problem. Herr schluss an die Ausbildung nur zwei braucht. Der andere (B) Müntefering, Sie haben von einem Anspruch gespro- bildet gar nicht aus, stellt sie aber ein, und zwar kosten- (D) chen, aber Sie sind nicht bereit, ihn ins Grundgesetz auf- los. Das ist doch einfach nicht hinnehmbar und innerhalb zunehmen. der Wirtschaft grob ungerecht. Deshalb: Führen Sie die Ausbildungsplatzumlage ein! Lassen Sie mich noch etwas zu den Kosten sagen. Im- mer wieder höre ich das Argument: Was das alles kostet! (Beifall bei der LINKEN) – Es kann ja sein, dass Ausbildung teuer ist, aber ich Zwei Parteien haben das auf ihren Parteitagen be- sage Ihnen: Jugendgefängnisse sind viel teurer. schlossen, nämlich die Grünen und die SPD. Sie haben (Beifall bei der LINKEN) sieben Jahre lang regiert. Niemand hat Sie daran gehin- dert, das einzuführen. Wenn man jungen Leuten keine Perspektive gibt, dann zahlt man immer zu. (Zuruf von der SPD: Sie vergessen da etwas!) (Jörg Tauss [SPD]: Wir haben heute Morgen – Nein, nein, nein, nein. – Dann haben Sie ein Gesetz ge- schon von den Kosten gesprochen!) macht. (Jörg Tauss [SPD]: Das ist hier sogar einge- Lassen Sie mich noch etwas sagen, auch wenn Sie das bracht worden!) besonders ärgert: In der DDR wurde jede Jugendliche und jeder Jugendliche ausgebildet, wobei die Wirtschaft Herr Müntefering, kurz, bevor es in Kraft treten konnte, viel maroder war. Nicht alle bekamen den Beruf, den sie hat die Wirtschaft bei Ihnen gebettelt. Sie haben dann sich wünschten, aber alle bekamen eine Ausbildung. gesagt: Na gut, wir setzen es nicht in Kraft, wir machen mit der ewigen Bettelei bei der Wirtschaft, dass sie Aus- (Beifall bei der LINKEN) bildungsplätze bereitstellt, weiter. Wenn die DDR das bezahlen konnte, dann können Sie (Beifall bei der LINKEN – Jörg Tauss [SPD]: mir nicht erklären, dass die reiche Bundesrepublik Das ist Geschichtsklitterung!) Deutschland außerstande ist, das zu finanzieren. Seit 1990 bin ich mit einer Unterbrechung im Bun- (Jörg Tauss [SPD]: Margot Honecker hat darü- destag. Seit 1990 erlebe ich Jahr für Jahr dasselbe – erst ber entschieden, wer das Abitur machen durfte war es Kohl, dann Schröder, jetzt Merkel –: Es wurden oder wer nicht! – Willi Brase [SPD]: Wenn die immer Briefe an die Unternehmen geschrieben, mit der DDR das Zukunftsmodell sein soll, dann gute Bitte, noch ein paar Ausbildungsplätze bereitzustellen. Nacht!) Diese gab es dann nicht. Jedes Mal blieben Tausende Ju- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10711

Dr. Gregor Gysi (A) gendliche ohne Ausbildung und damit ohne Perspektive Herr Müntefering, Sie verweisen auf die Länder, mit (C) und Zukunft. Ich sage Ihnen: Das bezahlen wir teuer. denen man ein gemeinsames Konzept erarbeiten müsse. Sie haben seinerzeit für die SPD die Föderalismusreform Lassen Sie uns hier einfach einmal die Weichen um- im Bildungswesen verbockt. stellen und sagen, dass die Ausbildung zur Selbstver- ständlichkeit und im Grundgesetz festgeschrieben wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dann würden wir die Gesellschaft positiv verändern. Jetzt können Sie doch nicht darauf verweisen, dass Bund Danke. und Länder gemeinsam in der Verantwortung stehen und ein gemeinsames Konzept erarbeiten müssen. Hören Sie (Beifall bei der LINKEN) mir damit auf! Präsident Dr. Norbert Lammert: (Willi Brase [SPD]: Die Schulpolitik ist nach Nächste Rednerin ist die Kollegin Priska Hinz, Bünd- dem Grundgesetz Sache der Länder, Frau Kol- nis 90/Die Grünen. legin!) Gestern wurde von der SPD die Nachricht verbrei- Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tet, dass besonders ausbildungswillige Betriebe einen NEN): Rabatt beim Arbeitgeberbeitrag zur Arbeitslosen- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will versicherung erhalten sollen. Das ist Ihr konkreter kurz in Erinnerung rufen, um wen es in unserer heutigen Wunsch, den Sie gestern über die Ticker verbreiten Debatte eigentlich geht. Es geht um 17 400 junge Men- ließen. Lassen Sie mich an dieser Stelle aus Ihrem schen, die in diesem Ausbildungsjahr keine Ausbil- Antrag zitieren: dungsstelle bekommen haben. 40 000 sind zwar zu- Bei dem Gesamtkonzept sollen … folgende An- nächst versorgt worden, suchen aber weiterhin einen sätze auf Umsetzbarkeit geprüft und in möglichem regulären Ausbildungsplatz. Des Weiteren gibt es Maße und Umfang einbezogen werden: 386 000 Altbewerberinnen und -bewerber aus den Jah- ren vor 2006, die nach wie vor einen Ausbildungsplatz (Jörg Tauss [SPD]: Was haben Sie denn gegen suchen. die Prüfung?) Jeder einzelne junge Mensch in diesem Land muss Das ist der Wortlaut, dem dann der Vorschlag folgt, den aus unserer Sicht eine qualifizierte Ausbildung bekom- Betrieben einen Rabatt bei den Beiträgen zur Arbeitslo- men, damit er an unserer Gesellschaft teilhaben kann senversicherung zu gewähren. und sein ökonomisches Auskommen hat. Es gibt aber – das hat die Koalition auch anerkannt – keine Entspan- Bei so viel Selbsttäuschung der SPD finde ich es ver- (B) nung auf dem Ausbildungsmarkt; zudem gibt es Jugend- wunderlich, (D) liche, die besonders benachteiligt sind. Vor allem sind (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das Jugendliche mit Migrationshintergrund. sowie des Abg. Dirk Niebel [FDP]) Das duale System, das im Antrag der Koalition als dass Sie es als Highlight hinausposaunen, dass damit die tragende Säule bezeichnet wird, nimmt inzwischen nur Ausbildungsplatzsituation verbessert werden soll. noch weniger als 50 Prozent der Jugendlichen eines Jahrgangs auf. Vor dieser Situation stehen wir heute. (Jörg Tauss [SPD]: Das ist ein weiteres High- light!) Der Ausbildungspakt kann nicht alle Probleme lö- sen. Das hat die Koalition in ihrem Antrag zu Recht fest- Der Ansatz zur qualifizierten Stufenausbildung in gestellt. Die 60 000 Ausbildungsplätze, die in diesem Ihrem Antrag ist zwar gut, aber wir waren 2005 schon Jahr geschaffen werden sollen, sind im letzten Jahr weiter. Die Unionsfraktion stimmte damals dem Antrag schon mit dem alten Pakt übererfüllt worden. Von daher der Grünen und der SPD zu, in dem die Stufenausbil- ist dieses Ziel nicht gerade ehrgeizig. Dieser Ausbil- dung als Ziel formuliert war. Sie regieren seit fast zwei dungspakt enthält zudem keine Vorgaben hinsichtlich Jahren. Seitdem liegt das Vorhaben auf Halde. Jetzt ho- der Förderung von Migranten. len Sie mit Ihrem Antrag diese „olle Kamelle“ wieder hervor. Wir führen heute eine Debatte, an der zwei Kabinetts- mitglieder beteiligt sind. Insofern könnte man konkrete (Ilse Aigner [CDU/CSU]: 2005 waren Sie Ansätze und Lösungsvorschläge für diese Ausbildungs- schon sieben Jahre in der Regierung!) misere erwarten. Anscheinend sind Ihnen die Innovationsstuhlkreise (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – inzwischen auch etwas zu langsam. Frau Schavan hätte Jörg Tauss [SPD]: Das machen wir doch!) schon längst handeln können. Sie hätte das, was damals beschlossen wurde, durchsetzen und umsetzen können. – Die Analysen waren zwar richtig, aber dem Antrag merkt man nicht an, dass Sie schon zwei Jahre regieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Als eine der wenigen konkreten Maßnahmen in dem DIE GRÜNEN – Nicolette Kressl [SPD]: Das ist langen Antrag wird gefordert, nicht wahr!) (Jörg Tauss [SPD]: Jetzt müssen Sie Ihre Mä- In dem Antrag werden keine Lösungsansätze vorgestellt, keleien schon erfinden! Ihnen fällt nichts mehr die die reale Situation verbessern würden. ein!) 10712 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Priska Hinz (Herborn) (A) dass die Vermittlung in außerbetriebliche Ausbildung Dann wäre es eine gute Maßnahme. (C) nicht mehr zwingend davon abhängen soll, dass Bewer- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) berinnen oder Bewerber vorher mindestens sechs Mo- nate lang in einer Warteschleife waren. Super; klasse! Aber so, wie es jetzt läuft, ist es keine gute Maßnahme. Das haben wir zwar schon länger gefordert, aber jetzt scheinen Sie es umsetzen zu wollen. Aber das gilt nur (Zuruf von der CDU/CSU: Lesen!) bis zum Ende des Jahres 2007. Warum wollen Sie diese Mit Ihrem Kombilohn, Ihrem Qualifizierungszu- Vorbedingung überhaupt aufrechterhalten, wenn Frau schuss für jüngere Arbeitnehmer, entsteht wieder eine Ministerin Schavan permanent erklärt: „Wir müssen neue Maßnahme. Warteschleifen beenden“? (Jörg Tauss [SPD]: Der verzweifelte Versuch, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) noch einmal zu mäkeln!) Dann tun Sie es doch! Nehmen Sie diese Vorbedingung Für ein Jahr sollen Jugendliche in einem Betrieb zu ei- aus dem Gesetz heraus! Sie hatten in diesem Frühjahr nem Kombilohn beschäftigt werden können, wenn sie bereits die Möglichkeit dazu. dabei einen Qualifizierungsanteil von 15 Prozent errei- chen. Hier tritt doch wieder das Problem auf, dass damit Das EQJ – – Mitnahmeeffekte entstehen. Es ist nicht geklärt, dass die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jugendlichen hinterher ein Zertifikat bekommen. Es ist Jörg Tauss [SPD]: Gerade haben Sie gesagt, nicht geklärt, dass sie eine Berufsschule besuchen kön- Sie hätten es gefordert! Jetzt lösen Sie mal den nen. Es ist nicht geklärt, dass sie hinterher in eine Aus- Widerspruch auf! – Nicolette Kressl [SPD]: bildung übernommen werden. Sie haben es gefordert!) Meine Damen und Herren, auch dies bedeutet die – Natürlich. Wir haben gefordert, das herauszunehmen. Ausweitung des schlechten Übergangssystems, das aller- orten beklagt wird. Damit bekommen wir mehr Altbe- (Jörg Tauss [SPD]: EQJ rausnehmen? – Nico- werberinnen und Altbewerber, die nicht ausreichend für lette Kressl [SPD]: Danach haben Sie es kriti- eine Ausbildung qualifiziert sind. siert!) (Jörg Tauss [SPD]: Dann lassen Sie uns doch – Ja, ich kritisiere, dass diese Ausnahme nur bis 2007 darüber reden! Das wäre doch nicht unver- gilt. Das ist der Punkt. nünftig!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie können nicht behaupten, dass Ihr Antrag tatsäch- (B) (D) Sie agieren doch wieder nur halbherzig, meine Damen lich eine Strukturreform oder eine Minimierung des und Herren von der SPD. Übergangssystems bedeutet. Im Gegenteil: Es festigt die schlechten Strukturen, die wir im Ausbildungssystem (Jörg Tauss [SPD]: Dann müssen Sie einmal haben. die Ergebnisse angucken!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jörg Die Einstiegsqualifizierung – das EQJ – könnte eine Tauss [SPD]: Unfug! Wirklich Unfug!) gute Maßnahme sein, wenn sie bestimmten Kriterien un- terworfen wäre. Bislang wird das EQJ in der Hauptsache Zur Strukturreform. Wir sind in der Diskussion – auch von Schulabgängerinnen und Schulabgängern besucht, unter den Bildungspolitikern – schon einmal weiter gewe- die einen höheren Bildungsabschluss oder einen Real- sen, was das Übergangssystem angeht – und vor allen Din- schulabschluss haben. Die Zielgruppe der Hauptschüler gen auch, was die Strukturreform angeht. oder der Jugendlichen ohne Abschluss wird nur im ge- (Jörg Tauss [SPD]: Wo haben wir denn Bei- ringen Maße erfasst. tragsmittel?) (Jörg Tauss [SPD]: Deswegen gucken wir es Dies ist im Antrag genauso hasenfüßig ausgedrückt, wie uns an!) Frau Schavan in der Umsetzung ist. In Ihrem Antrag steht wörtlich, es sei Zielsetzung der Bundesregierung, 50 Prozent gehen während des EQJ nicht in eine Be- rufsschule. Dies wäre aber Voraussetzung dafür, dass das die duale Berufsausbildung zur Deckung des zu- EQJ hinterher auf eine Ausbildung anerkannt wird. künftigen Fachkräftebedarfs unter Beibehaltung des Berufsprinzips und der bundeseinheitlichen Ab- Sie sollten jetzt einmal die kritisierten Mitnahmeef- schlussprüfung zukunftssicher zu fördern. Zu die- fekte, die dadurch bei den Betrieben entstehen, ausschal- sem Zweck können auch strukturelle Reformen und ten. Aber was machen Sie? Sie wollen die Maßnahme verbesserte Übergänge … in Pilotprojekten erprobt EQJ – so schlecht, wie sie derzeit noch läuft – als Ermes- werden; sensspielraum ins Gesetz aufnehmen. Das ist der Vor- schlag des Arbeitsministers. Sie wollen eine schlechte (Willi Brase [SPD]: Richtig!) Warteschleife jetzt also auch noch gesetzlich normieren. Da sagen wir: Das ist der falsche Weg. Sie müsste zerti- Meine Damen und Herren, seit zwei Jahren redet ein fiziert und auf Ausbildungsschritte anerkannt werden. Innovationskreis der Ministerin über Modularisierung, Zertifizierung, Strukturreform und Anerkennung von (Jörg Tauss [SPD]: Das steht drin!) Ausbildungsabschnitten in reguläre Ausbildung. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10713

Priska Hinz (Herborn) (A) (Willi Brase [SPD]: Sie wollen genau das Gegen- Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) teil! Das zerstört das System, Frau Hinz!) NEN): Nicht nur die Grünen, sondern vor allen Dingen die Es gibt kein Konzept dafür. Es gibt nichts als Presse- Jugendlichen und die jungen Erwachsenen in diesem erklärungen, die Interviews folgen und umgekehrt. Sie Lande werden es Ihnen danken, wenn Sie zumindest die- müssen schon einmal springen, wenn Sie eine echte sem unseren Antrag zustimmen. Strukturreform wollen! Vielen Dank. (Beifall der Abg. Krista Sager [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) In den Diskussionen sind wir doch viel weiter. Wir sind uns doch einig – das sagen wir ganz ausdrücklich –: Präsident Dr. Norbert Lammert: Wir brauchen innerhalb der Ausbildung eine breite Das Wort erhält nun die Kollegin , Grundausbildung und dann eine Spezialisierung. Berufs- CDU/CSU-Fraktion. vorbereitende Maßnahmen müssen zertifiziert werden. (Beifall bei der CDU/CSU – Hartmut Koschyk Die Ausbildung muss bei Beibehaltung des Berufsprin- [CDU/CSU]: Endlich wieder einmal Substanz zips modularisiert werden. Nur dann können Ausbil- in der Debatte! – Gegenruf des Abg. Jörg dungsabschnitte, die vor einer regulären Ausbildung be- Tauss [SPD]: Wir wollen nie vor den Worten gonnen wurden, anerkannt werden. Dann haben wir die loben!) Anschlussfähigkeit bei der Weiterbildung. Dann ist es möglich, einzelne Ausbildungsabschnitte schneller zu modernisieren. Die Unternehmen beklagen doch dau- Katherina Reiche (Potsdam) (CDU/CSU): ernd, dass die Ausbildung nicht so schnell reformiert Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! werden kann, wie sich die Berufsbilder ändern. Frau Hinz, ich empfehle Ihnen: Erst lesen, dann reden. Alles, was Sie aufgezählt haben, steht in unserem frak- (Jörg Tauss [SPD]: Die sind unberechtigt!) tionsübergreifenden Antrag, und zwar Punkt für Punkt. – Natürlich sind die Klagen teilweise gerechtfertigt. (Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE (Jörg Tauss [SPD]: Die haben wir schon unter GRÜNEN]: Ich habe Ihnen doch vorgelesen, Rot-Grün zurückgewiesen!) was drinsteht!) – Es ist zwar schön, dass Sie das für uns vortragen. Aber Vor allen Dingen könnten wir dann neue Ausbildungs- es wäre hilfreich gewesen, darauf hinzuweisen, dass das plätze schaffen; denn bestimmte Betriebe sind so sehr (B) bereits in Angriff genommen wird. Dann hätten Sie das (D) spezialisiert, dass sie eine ganze Ausbildung über drei, nicht kritisieren müssen. dreieinhalb Jahre gar nicht mehr anbieten können. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Jörg Tauss [SPD]: Deshalb haben wir die Ver- neten der SPD) bundausbildung hineingeschrieben!) Die berufliche Ausbildung in Deutschland wird ge- Wenn wir stärker modularisierten, könnten sich mehr rade im Ausland immer als beispielhaft gelobt. Im In- Betriebe, die sich zurzeit weigern, bereit erklären, einen land nehmen wir dieses Thema insbesondere dann wahr, Teil der Ausbildung zu übernehmen. wenn wir über fehlende Ausbildungsplätze sprechen. (Willi Brase [SPD]: Das zerstört die hohe Qua- Aber die duale Ausbildung ist auch ein Erfolgsmodell. lität der Berufsausbildung!) So richtig es ist, darüber zu sprechen, dass es viele gibt, die noch keinen Ausbildungsplatz haben, so richtig ist es Wir erreichten so eine Flexibilisierung von Lernorten. auch, darüber zu sprechen, dass wir ein einzigartiges Er- Das ist in der heutigen Zeit durchaus sinnvoll. folgssystem in Deutschland haben; denn die duale Aus- (Beifall der Abg. Krista Sager [BÜNDNIS 90/ bildung ermöglicht Auszubildenden gleichermaßen eine DIE GRÜNEN]) solide praktische und berufsnahe Ausbildung in den Be- trieben, verbunden mit fachgerechten theoretischen Wir haben Ihnen in den letzten zwei Jahren in vielen Kenntnissen über das Berufsbild. Anträgen umfassende Vorschläge über Migrantenförde- Herr Gysi, was im Hinblick auf den Ausbildungs- rung, Genderaspekte, Berufsberatung und -orientierung, markt wenig hilft, ist eine komplett undifferenzierte Kri- Produktionsschulen und sozialpädagogische Begleitung tik an den Betrieben, die nicht ausbilden; denn diese gemacht, Herr Müntefering. Aber Sie haben alle unsere Vorwürfe schrecken ab. Sie führen nicht zur Bereit- Anträge abgelehnt. In unserem nun vorliegenden Antrag schaft, mehr für junge Leute zu tun. Sie verkennen mit konzentrieren wir uns auf die Beseitigung der Miss- Ihrer Kritik die weltweit anerkannte Qualität der fundier- stände des Übergangssystems – diese habe ich genannt – ten Berufsausbildung in Deutschland, die sich – das hat und auf eine Strukturreform, die in diesem Jahr endlich der Arbeitsminister bereits erwähnt – in einer im begonnen werden muss. europäischen Vergleich noch immer relativ geringen Ju- gendarbeitslosigkeit manifestiert. Im Vergleich zum Vor- Präsident Dr. Norbert Lammert: jahr wurde bei den Ausbildungsverträgen ein Plus von Frau Kollegin, denken Sie an Ihre Redezeit. 4,7 Prozent erreicht. Das sind 26 000 Ausbildungsplätze 10714 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Katherina Reiche (Potsdam) (A) mehr als zuvor, und das ist der höchste Stand seit Beste- sorgt das Bildungssystem für die Verteilung von Lebens- (C) hen des Ausbildungspaktes. Das ist ein Erfolg. chancen. Das mag sich banal anhören, hat aber weit- reichende Konsequenzen. Ich bin überzeugt, dass es (Beifall bei der CDU/CSU) Chancen beinhaltet. Aber dafür braucht es gute Rahmen- Der Anteil an Altbewerbern bei den Jugendlichen, die bedingungen. eine Lehrstelle suchen, ist aber spürbar angestiegen. Zum Somit ist die Modernisierung des Systems der Stichtag 30. September 2006 waren rund 49 500 Jugendli- beruflichen Bildung ein wichtiger Punkt. Nicht um- che ohne Ausbildungsplatz. Aber es ist den Partnern im sonst hat Annette Schavan gleich nach Amtsantritt die- Ausbildungspakt in den vergangenen Monaten gelungen, ses Thema ganz oben auf ihre Agenda gesetzt. Sie hat er- diese Lehrstellenlücke noch einmal deutlich zu verrin- folgreich den Innovationskreis berufliche Bildung ins gern. Die Handwerkskammern und die Industrie- und Leben gerufen mit Praktikern aus Wirtschaftsverbänden, Handelskammern in Deutschland werben erfolgreich in Unternehmen, Gewerkschaften, Schulen, Ländern und ihren Betrieben um Ausbildungs- und Praktikumsplätze. der Wissenschaft. Dafür sind wir ihnen dankbar. Die Ziele sind vielfältig. Es geht um Modernisierung (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) und um verbesserte Kooperationsstrukturen zwischen Wir haben in der Wirtschaft, im DIHK und in den beruflichen Schulen und betrieblicher Ausbildung. Es Kammern verlässliche Partner. Die Kammern unterstüt- geht auch um die Stärkung der Benachteiligtenförde- zen verstärkt die Pilotinitiative des BMBF im Rahmen rung. Aber wir müssen uns auch um junge Erwachsene der regionalen Umsetzung, damit ausbildungsfähige Ju- kümmern, die ohne Schulabschluss oder Ausbildungsab- gendliche so schnell wie möglich in die Ausbildung schluss sind. Es gilt dafür Sorge zu tragen, dass wir die kommen. Gruppe der Altbewerber beobachten und passgenau mit Angeboten bedienen. Denn Altbewerber ist nicht gleich Ich möchte an dieser Stelle aber auch eine Ausbil- Altbewerber. Es geht also um eine Gesamtstrategie zur dungsbremse ansprechen. Die Besetzung offener Lehr- Verzahnung und Optimierung der Förderstrukturen und stellen scheitert immer häufiger auch am Bewerber um den Abbau von Warteschleifen. selbst. Die Ausbildungsfähigkeit der Schulabgänger wird von Jahr zu Jahr leider nicht besser, eher schlechter. Ich möchte noch einmal das Ausbildungsprogramm Die Betriebe sind immer weniger in der Lage, diese De- Jobstarter erwähnen. Die Mittel wurden mittlerweile fizite auszugleichen. Hier sind neben den Elternhäusern um 25 Millionen Euro auf 125 Millionen Euro angeho- vor allem die Schulen in der Pflicht. Es muss grundle- ben. Das ist ein wichtiges Signal für junge Menschen mit gende Verbesserungen insbesondere in den naturwissen- schlechteren Startbedingungen. (B) schaftlichen Fächern geben. Mein Appell richtet sich an (D) die Länder, das zu thematisieren. Denn ohne Mathema- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und tik und ohne Physik geht es in den zunehmend techni- der SPD) scher werdenden Berufen eben nicht. Unser Antrag beinhaltet ein ganz konkretes Maßnah- Nach wie vor gilt: von der Schule in die Lehre. menpaket, wie wir die Ausbildungs- und Arbeitschancen 58 Prozent eines Altersjahrgangs durchlaufen die duale für Altbewerber und benachteiligte Jugendliche voran- Berufsausbildung. Es gibt viele regionale Initiativen. treiben können. Wir setzen vor allem auf die Stufenaus- Ich möchte die Initiative der IHK aus meinem Heimat- bildung und auf Ausbildungsbausteine. Es bleibt unser land Brandenburg „Auf die Plätze. Fertig. Zukunft!“ er- gemeinsames Ziel, dass jeder ausbildungswillige und wähnen. Das sind wichtige Maßnahmen, um jungen ausbildungsfähige Jugendliche einen Ausbildungsplatz Leuten klarzumachen, welche beruflichen Chancen sich erhält. eigentlich bieten. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Aber hier müssen auch die regionalen Arbeitsagentu- Benjamin Franklin bemerkte einst: Eine Investition in ren besser werden. Wir haben 350 Berufe in unserem Land. Wissen bringt immer noch die besten Zinsen. – Das gilt Das ist eine Vielfalt von Berufen für eine Vielfalt von Ta- nicht nur für den Einzelnen, sondern für die gesamte Ge- lenten. Aber nur die wenigsten Jugendlichen – dazu gehö- sellschaft. Er hatte recht. ren vor allem die, auf die wir zielen – wissen, worum es ei- gentlich geht und welche Vielfalt und welche Auswahl sie (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) haben. Hier muss es eine noch stärkere Vernetzung geben. Das heißt, wir müssen frühzeitig in die Schulen gehen und Präsident Dr. Norbert Lammert: informieren, damit wir die Jugendlichen erreichen. Der Kollege Dirk Niebel ist der nächste Redner für (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Jörg die FDP-Fraktion. Tauss [SPD]: Deshalb stärken wir auch die Be- (Beifall bei der FDP – [Spandau] rufsberatung!) [SPD]: Das ist doch der mit dem Betreuungs- Die demografische Entwicklung zeigt: Wir müssen geld!) uns um jeden Einzelnen bemühen. Wir müssen Talente erkennen und sie gewinnen. Jeder wird gebraucht, und Dirk Niebel (FDP): jeder soll sich mit seinen Fähigkeiten in die Gesellschaft Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und einbringen können. Denn eines gilt: Stärker als früher Herren! Qualifikation, Leistungsbereitschaft und die be- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10715

Dirk Niebel (A) gründete Hoffnung auf sozialen Aufstieg sind die Basis (Jörg Tauss [SPD]: Nein! Ich stelle keine Zwischen- (C) für den Wohlstand weiter Bevölkerungsteile. Für Libe- frage! Es wäre schade um die Zeit!) rale ist auch deshalb Bildung ein Bürgerrecht. Eine Nun haben wir die Rede von Herrn Kollegen Gysi gute Bildung führt zu guten Teilhabechancen, zu der hier gehört. Jetzt könnte man meinen, es seien allein die Möglichkeit, ein selbstgestaltetes Leben führen und Kommunisten, die eine Ausbildungsplatzumlage for- seine Wünsche erfüllen zu können. Eine gute Bildung ist dern würden. Das ist aber mitnichten der Fall. Auch die auch ein Wettbewerbsfaktor in einer internationalen Sozialdemokraten fordern sie. Wirtschaft. Deswegen ist es wichtig, dass wir uns hier nicht nur über Berufsbildung, sondern insgesamt über (Zurufe von der LINKEN) Bildung unterhalten. Ich erinnere mich an die Worte Ihrer designierten stell- (Beifall bei der FDP) vertretenden Bundesvorsitzenden, Frau Nahles. Sie ist leider nicht hier. Frau Nahles hat in ihrer Funktion als Ich möchte trotzdem mit der Berufsbildung begin- Juso-Bundesvorsitzende einmal gesagt – Zitat –: Wer nen. 376 000 junge Menschen waren Ende Mai arbeits- nicht ausbildet, wird umgelegt. – los gemeldet. Wir dürfen und müssen – gerade wir in diesem Hause – uns schon die Frage stellen, warum trotz (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) der guten konjunkturellen Situation der Aufschwung an Ich sage Ihnen: Wer umgelegt worden ist, kann nicht diesen Jugendlichen und an den Langzeitarbeitslosen mehr ausbilden. vorbeigeht. Das sind die Personengruppen, die offenkun- dig von der konjunkturellen Situation im Moment am (Beifall bei der FDP – Zurufe von der SPD: wenigsten profitieren. Man muss sich die Frage stellen, Oh!) welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit Das Entscheidende ist, dass trotz der konjunkturellen Ausbildungsplätze zur Verfügung gestellt werden, und Situation viele Betriebe in Deutschland eine fundamen- welche gegeben sein müssen, damit sie besetzt werden tale Eigenkapitalschwäche haben. Sie werden durch ein können. Umlagesystem, das die Liquidität der Betriebe zusätz- (Jörg Tauss [SPD]: Das werden Sie uns jetzt lich einschränkt, Ausbildungsplätze vernichten und nicht sagen!) zusätzliche Ausbildungsplätze schaffen. – Das werde ich Ihnen sagen, Herr Tauss; denn es ist im- (Beifall bei der FDP) mer gut, wenn auch Sie etwas dazulernen. Interessant ist es, wenn Sie durch die Republik reisen (Beifall bei der FDP) und mit Betrieben, die ausbilden, und mit solchen, die (B) nicht ausbilden, reden und fragen, warum das so ist. Sie (D) Die Rahmenbedingungen für den Ausbildungsstellen- werden feststellen, dass, egal in welcher Region und in markt sind genau die gleichen, die auch am Arbeitsmarkt welcher Branche Sie sich bewegen, über die geringer ge- wirken. Wenn man durch zu viel Regulierung Freiräume wordene Ausbildungsfähigkeit der jungen Menschen einengt, dann wird es schwieriger, Menschen in Be- geklagt wird. Nun mag dahingestellt sein, ob die Men- schäftigung, aber auch Menschen in Ausbildung zu brin- schen dümmer oder die Schulen schlechter geworden gen. Wir wollen aber dafür sorgen, dass die Menschen sind. Eines ist auf jeden Fall klar: Die Berufsbilder sind eine gute Grundbildung bekommen, damit sie die Mög- komplexer geworden. Vergleichen Sie einmal den heuti- lichkeiten für ihr eigenes Leben nutzen können. Deswe- gen Mechatroniker mit dem Mechaniker und dem Elek- gen ist es wichtig, dass der Staat etwas schafft, was Herr troniker. Sie werden feststellen, dass die Welt kompli- Tauss leider bisher noch nicht verstanden hat: Chancen- zierter geworden ist gerechtigkeit am Start und nicht Ergebnisgleichheit am Ziel. Das ist das Entscheidende, was wir schaffen müs- (Jörg Tauss [SPD]: Oh!) sen. und dass es immer mehr Menschen gibt, die nicht in der (Beifall bei der FDP) Lage sind, einen Abschluss auf Kammerniveau zu errei- chen. Hier ist es zwingend notwendig und eine echte Anders formuliert: Der Staat muss dafür sorgen, dass Hilfe nicht nur für die betroffenen jungen Menschen, wie bei einem Wettlauf die Läufer zum gleichen Zeit- sondern auch für die Wirtschaft, für die der Fachkräfte- punkt am Start sind, dass sie die gleichen Startblöcke ha- mangel eine Wachstumsbremse darstellt, über modulare ben und dass die Laufbahnen gleich lang sind, aber der Ausbildung und lebenslanges Lernen den Einstieg in Staat muss nicht dafür sorgen, dass die Läufer zur glei- qualifizierte Berufe unterhalb des Kammerniveaus zu chen Zeit am Ziel sind. Das ist der Unterschied zwischen schaffen. Ihrer politischen Einstellung und unserer politischen Einstellung. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Aber Wenn dann im Beruf, in der Arbeitswelt persönliche Rei- Sie wollen denen noch Gewichte mitgeben! fung und Kompetenzgewinn hinzukommen, dann muss Das ist der Unterschied!) das nächste Modul daraufgesetzt werden. Das darf nicht nur in der Erstqualifizierung so gesehen werden, sondern – Sie können sich zu einer Zwischenfrage melden. Dann im Rahmen lebenslangen Lernens muss man das auch in werde ich sie beantworten. Ansonsten will ich meine Re- den Bereich der Weiterbildung einbeziehen. Es ist doch dezeit nicht mit Ihnen verschwenden, Herr Tauss. schlechterdings nicht möglich, dass diese Bundesregie- 10716 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Dirk Niebel (A) rung über die Rente mit 67 redet, aber die letzte Weiter- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Volker (C) bildung für Arbeitnehmer mit 42 bis 44 Jahren stattfin- Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – det. Jörg Tauss [SPD]: Herr Niebel, ein wirklicher Liberaler! Man nennt es auch Herumgeeiere!) (Zurufe von der SPD) Das wird nie funktionieren. Deswegen gehört das zwin- Präsident Dr. Norbert Lammert: gend dazu. Frau Kressl, möchten Sie schon zu diesem frühen Bildung ist auch eine staatliche Aufgabe – eine ganz Zeitpunkt eine Frage Ihres Vorredners beantworten? wichtige –, aber nicht nur eine staatliche Aufgabe. Jeder einzelne Mensch muss ein fundamentales Eigeninteresse Nicolette Kressl (SPD): daran haben, seine Wettbewerbsfähigkeit zu stärken und Wenn der Herr Niebel die Chance braucht, sich zu dadurch seine Arbeitsplatzsicherheit zu erhöhen. Deswe- rechtfertigen, gern. gen ist Weiterbildung auch eine private Aufgabe, und sie ist eine Aufgabe der Wirtschaft. Weiterbildung führt Dirk Niebel (FDP): nämlich dazu, dass die Menschen gegenüber ihren Mit- Liebe Kollegin Kressl, sind Sie bereit, zur Kenntnis bewerbern im Vorteil sind. Wir werden im internationa- zu nehmen, dass ich von Anfang an für das Gutschein- len Wettbewerb nur dann erfolgreich bleiben können, system war und dass es nur in einer Detailfrage, bei der wenn wir kompetente und leistungsfähige Arbeitnehme- Betreuung durch die eigenen Eltern, einen inhaltlichen rinnen und Arbeitnehmer haben. Dissens gegeben hat? Ich habe mir sagen lassen, dass (Beifall bei der FDP) man auch in der Sozialdemokratie ab und zu über Inhalte streitet. Es ist schade, dass Sie das offenkundig verges- Bildung als Bürgerrecht bedeutet, dass man mit der sen haben. Aber nehmen Sie zur Kenntnis, dass wir Vermittlung von Bildung möglichst früh beginnen muss. Liberale an der Sache arbeiten und uns daher auch aus- Deswegen sind wir für Bildungs- und Betreuungsgut- einandersetzen. scheine, auch im frühkindlichen Bereich. (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Lachen (Lachen bei Abgeordneten der SPD) bei Abgeordneten der SPD) – Ja, ja. – Diese Gutscheine führen dazu, dass junge Menschen eine möglichst gute Ausbildung bekommen. Nicolette Kressl (SPD): Wir wollen mit Betreuungsgutscheinen und Bildungs- Sehr geehrter Herr Kollege Niebel, ich nehme gern gutscheinen dafür sorgen, dass Chancengerechtigkeit am zur Kenntnis, dass Sie während des Bundesparteitags (B) Start gewährleistet ist und dass die Wahlfreiheit der El- offensichtlich von Teilen Ihrer eigenen Partei davon (D) tern gesichert wird. Das führt auch dazu, dass Familie überzeugt worden sind, dass die Umsetzung Ihres Vor- und Beruf besser miteinander vereinbar sind. Hier sind schlags, ein Betreuungsgeld auszuzahlen, bildungspoli- die Liberalen Vorreiter. Die Rede des Arbeitsministers tisch eine Katastrophe gewesen wäre; denn man hätte hat gezeigt – das ist Fakt –, dass unsere Regierung blut- Anreize geschaffen, jungen Kindern keine Frühförde- arm ist. Es wäre besser, wenn Sie sich mehr um die Pro- rung zukommen zu lassen. bleme der Menschen als um Ihre internen Streitereien Wie gesagt, wundere ich mich über Ihre Flexibilität, kümmerten. dies hier als Ihren Vorschlag darzustellen. Wenn Sie da- Vielen herzlichen Dank. zulernen, dann ist das in Ordnung. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Jörg (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jörg Tauss Tauss [SPD] – Jörg Tauss [SPD]: Nur fürs Pro- [SPD]: So sind die Generalsekretäre!) tokoll: Ich habe der Frau Kollegin Pieper zu- Wir diskutieren heute über Möglichkeiten und Lö- geklatscht! Nur damit keine Missverständnisse sungsansätze, jungen Menschen, die seit mehreren Jah- entstehen!) ren keinen Ausbildungsplatz gefunden haben, mehr Chancen zu eröffnen. Um solche Lösungsansätze tat- Präsident Dr. Norbert Lammert: sächlich auf den Weg zu bringen, muss man als Erstes Die Kollegin Kressl erhält nun das Wort für die SPD- eine ehrliche Analyse vornehmen. Zu dieser ehrlichen Fraktion. Analyse gehören zwei Punkte: Erstens. Der Ausbildungsmarkt an sich – es ist gut, Nicolette Kressl (SPD): dass wir das feststellen können – entwickelt sich positiv. Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Zu (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Beginn möchte ich meiner Verwunderung darüber Aus- druck verleihen, dass Herr Niebel von der Forderung Im Berufsbildungsbericht wird darauf hingewiesen, dass nach Betreuungsgeld – bildungspolitisch wäre es ein wir in diesem Jahr zum ersten Mal damit rechnen kön- Rückschritt im Vergleich zu dem, was Frau Pieper dann nen, dass es über 600 000 betriebliche Ausbildungs- durchgesetzt hat, nämlich die Forderung, tatsächlich in plätze geben wird. Die Zwischenmeldungen der Kam- Bildung zu investieren – Abstand genommen hat. Ich mern zeigen, dass die Entwicklung positiv sein wird: finde das erstaunlich. Aber eine gewisse Flexibilität sind bisher 12,7 Prozent mehr Ausbildungsverträge im Hand- wir bei der FDP ja gewohnt. werk, 9,8 Prozent mehr Ausbildungsverträge bei der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10717

Nicolette Kressl (A) IHK. Ich halte es für falsch – ich wende mich an alle Op- will hier sechs konkrete Punkte nennen, damit Sie nicht (C) positionsparteien –, diese gute Lage schlechtzureden. behaupten können, das sei nur ein vager Text: (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Priska Erstens. Wir wollen, dass der Vorschlag des Verwal- Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tungsrats der Bundesagentur für Arbeit – damals unter- NEN]: Das steht so in Ihrem Antrag!) stützt von Arbeitgebern und Arbeitnehmern – aufgegrif- fen wird. Im Antrag der Grünen steht, dass wir dieses Jahr wie- der weniger betriebliche Ausbildungsplätze haben wer- (Beifall bei der SPD) den. Frau Hinz, Sie beziehen sich wahrscheinlich wider Unternehmen, die zusätzliche Ausbildungsplätze für besseres Wissen auf die reine Meldestatistik der BA, ob- benachteiligte junge Menschen schaffen, sollen finan- wohl Sie wissen, dass BA-Statistik und tatsächliche Ent- ziell unterstützt werden. wicklung seit mehreren Jahren auseinanderklaffen. Ehr- lich gesagt, halte ich das für unredlich. Es dient einer (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Uwe sachlichen Diskussion über diese Frage überhaupt nicht. Schummer [CDU/CSU]) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich halte das für einen ganz wichtigen und sehr konkre- der CDU/CSU – Priska Hinz [Herborn] ten Schritt. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In Ihrem An- trag steht doch, dass es keine Entspannung (Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE gibt!) GRÜNEN]: Das haben Sie im Ausschuss im- mer abgelehnt! – Gegenruf des Abg. Jörg Zweitens. Zu dieser ehrlichen Analyse gehört natür- Tauss [SPD]: Was? – Gegenruf der Abg. lich auch, dass wir uns vor Augen führen müssen, dass Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE seit Ende der 90er-Jahre immer mehr Bewerberinnen GRÜNEN]: Sie haben alle unsere Anträge ab- und Bewerber auf dem Ausbildungsmarkt sind, die län- gelehnt!) ger als ein Jahr nach einem Ausbildungsplatz suchen. – Frau Hinz, Ihre Anträge – um das aufzugreifen – haben Ich will bewusst nicht den technischen Begriff „Alt- sich vor allem auf außerbetriebliche Ausbildungsplätze bewerber“ verwenden, weil es um junge Menschen bezogen. geht. Dennoch: Von 300 000 Altbewerber im letzten Jahr konnten wieder 170 000 keinen betrieblichen Ausbil- (Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dungsplatz finden. NEN]: Nein, nein! Das stimmt nicht!) In der Analyse, die nicht so ganz einfach und schema- Die haben wir, wie ich finde, zu Recht abgelehnt. Hier (B) tisch zu machen ist, stellen wir fest: Es ist eine neue geht es um betriebliche Ausbildungsplätze. (D) Dynamik auf dem Ausbildungsmarkt entstanden. Ich bin sicher, dass der Ausbildungspakt dazu beigetragen hat. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Aber es sind auch Zeit und Raum notwendig, um sich der CDU/CSU – Priska Hinz [Herborn] über die jungen Menschen Gedanken zu machen, die ei- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Völliger nen besonderen Förderbedarf haben. Dazu gehört eben Humbug!) auch ein bestimmter Anteil der Altbewerberinnen und Zweitens. Der Einsatz von Paten – Herr Müntefering Altbewerber. hat das angesprochen – soll ausgebaut werden. Wenn wir (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Uwe Hauptschülerinnen und Hauptschüler im Besonderen Schummer [CDU/CSU]) rechtzeitig und frühzeitig begleiten, setzen wir natürlich viel früher an und verbessern die Situation dergestalt, In diesem Zusammenhang – ich habe dazu heute dass wir in Zukunft nicht mehr über so viele Altbewer- Morgen etwas im Ticker gelesen – will ich mich aus- ber reden müssen. Ich bin ganz fest der Überzeugung: drücklich bei der Wirtschaft und den Unternehmen be- Die Begleitung, die individuelle Förderung von jungen danken, die sich da engagieren. Ich appelliere von dieser Menschen, deren Elternhaus das manchmal nicht leisten Stelle aus aber auch ausdrücklich zum Beispiel an Herrn kann, ist ein entscheidender Ansatz, um hier zu einer Braun – er hat heute Morgen die Tatsache, dass es junge verbesserten Situation zu kommen. Menschen mit Förderbedarf gibt, eine „Qualitätslücke“ (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten genannt –: Ich würde mir wünschen, dieser technische der CDU/CSU) Begriff würde nicht benutzt, Drittens. Wir bitten die Bundesregierung zu prüfen, (Beifall bei der SPD) wie überdurchschnittliches Ausbildungsangebot ho- und wir würden uns gemeinsam mehr Gedanken darüber noriert werden kann, machen, wie wir diesen jungen Menschen helfen kön- (Jörg Tauss [SPD]: Ja! Sehr gut!) nen. auch gerade mit Blick auf die Beiträge zur Arbeitslosen- Wir schlagen in dem heute vorliegenden Antrag ein versicherung. Das ist noch nicht im Detail durchdacht. sehr konkretes Maßnahmenpaket vor. Auch da täu- Aber hier einen Stein ins Wasser zu werfen, ist span- schen Sie sich, Frau Hinz. Darin sind sehr viele konkrete nend. Maßnahmen aufgeführt. Zum Teil sind sie schon auf den Weg gebracht, zum Teil sind sie noch in der Prüfung. Ich (Beifall bei der SPD) 10718 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Nicolette Kressl (A) Viertens. Wir wollen mit dem Antrag weiter erreichen Antrag enthalten. Es lohnt sich also wirklich, diese jun- (C) – das ist uns ganz besonders wichtig –, dass ein besonde- gen Menschen zu unterstützen. res Augenmerk auf die Berufsberatung und die Ausbil- dungsvermittlung gerichtet wird, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) Diese sechs Punkte stellen nur ausgewählte Beispiele auch was die Frage der Zusammenführung angeht – auf aus dem großen Maßnahmenbündel dar, das wir im vor- der einen Seite sind junge Menschen, die Arbeitslosen- liegenden Antrag geschnürt haben. Ich bedanke mich geld II erhalten, und auf der anderen Seite solche, die ausdrücklich, wie schon gesagt, für die gute Zusammen- von der Bundesagentur betreut werden –; da gibt es eine arbeit zwischen den beiden Koalitionsfraktionen und den Schnittstellenproblematik, die im Interesse der jungen Berichterstattern. Ich bin nämlich der Überzeugung, dass Leute gelöst werden muss. wir alle bei dem Vorhaben, jungen Menschen Chancen zu eröffnen, aus Verantwortung für die jungen Menschen Wir wollen ferner, dass auch genau auf die personelle an einem Strang ziehen müssen. Ich appelliere erstens an Ausstattung der Berufsberatung geschaut wird; denn hier die Länder und an die Wirtschaft, sich an dieser gemein- gilt das Gleiche wie für die Paten: Da rechtzeitig anzu- samen Anstrengung zu beteiligen. setzen, richtig zu begleiten, gut zu beraten, ist besser, als nachher Berufsvorbereitung zu bezahlen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Ich appelliere zweitens ausdrücklich an die Opposition, sich hier von dem Politikritual, alles schlechtzureden, zu Fünftens. Wir unterstützen ausdrücklich die geplante verabschieden. Den jungen Menschen ist damit nämlich, Pilotinitiative des Bundesbildungsministeriums zur Er- wie ich glaube, überhaupt nicht gedient. probung von Ausbildungsbausteinen, besonders des- halb – das halte ich für den entscheidenden Punkt –, weil (Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE sie ausdrücklich mit der gezielten Förderung von Altbe- GRÜNEN]: Machen Sie konkrete Vor- werbern verbunden wird. schläge!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Den jungen Menschen ist damit gedient, wenn wir die heutige Debatte zum Anlass nehmen, gemeinsam zu Da unterscheidet sich das, was Frau Schavan vorhat, von überlegen, wie wir die Chancen für junge Leute verbes- dem, was die FDP einfordert, nämlich eine allgemein sern können. Das wäre ein lohnenswertes Ziel. Bringen niedrigere Qualifikation. Sie deshalb gemeinsam mit uns in den Beratungen dieses (B) (Jörg Tauss [SPD]: So ist es!) Antrages etwas Positives auf den Weg. (D) Wir sind uns in diesem Punkt mit der Union absolut ei- Vielen Dank. nig. Es geht darum, zum Schluss für die jungen Men- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schen, die Förderbedarf haben, mehr Qualifikation und der CDU/CSU) eben nicht eine allgemein niedrigere Qualifikation zu er- reichen. Ich lege sehr großen Wert darauf, dass wir uns da von der FDP deutlich unterscheiden. Präsident Dr. Norbert Lammert: Cornelia Hirsch ist die nächste Rednerin für die Frak- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tion Die Linke. der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN) Das Unterstützen von jungen Menschen, die Förde- rung brauchen – das ist der sechste konkrete Punkt –, muss vor der Ausbildung ansetzen. Es ist aber auch ganz Cornelia Hirsch (DIE LINKE): besonders wichtig, dass das während der Ausbildung Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! weiter fortgesetzt wird. Deshalb haben wir im Antrag Liebe Frau Kressl, wenn den Jugendlichen irgendetwas auch noch einmal ein besonderes Augenmerk auf die ganz sicherlich nicht hilft, dann ist das der Antrag, den Verstärkung der ausbildungsbegleitenden Hilfen ge- Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen von der Union legt. Wichtig ist, dass wir diesen Bereich noch einmal uns heute vorlegen. Man kann das, was Sie da machen, verstärkt auch finanziell fördern und unterstützen. Ich kurz zusammenfassen: Es handelt sich um eine Fortset- appelliere aber auch an alle Unternehmen, einen jungen zung der bisher wirklich schlechten Berufsbildungspoli- Mann oder eine junge Frau zu qualifizieren. Häufig wis- tik. Sie trampeln auf dem Recht der Jugendlichen auf sen sie ja nicht, dass es ausbildungsbegleitende Hilfen Ausbildung herum und buckeln vor den Arbeitgebern. gibt, wenn sie einen jungen Menschen mit Förderbedarf (Beifall bei der LINKEN – Willi Brase [SPD]: einstellen. Das ist aber die Chance, denn damit verbun- Das ist unverschämt! Wenn wir 60 000 Plätze den sind sozialpädagogische Begleitung oder auch Hil- schaffen, ist das eine Unverschämtheit gegen- fen in der Theorie für den Fall, dass man sich hier über- über den Jugendlichen, die solche Plätze an- fordert sieht. Hier können politische Rahmensetzungen nehmen!) und Engagement der Unternehmen ausgezeichnet zu- sammenspielen. Das ist ein guter Weg; den wollen wir – Sie brauchen sich jetzt hier gar nicht künstlich aufzure- weiter ausbauen. Auch dieser konkrete Vorschlag ist im gen. Wir können einfach den Antrag durchgehen. Ich Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10719

Cornelia Hirsch (A) möchte Ihnen drei Punkte nennen, bei denen das offen- Unternehmen in Deutschland bilden mit einer Quote von (C) sichtlich wird: 4,9 Prozent aus. Die durchschnittliche Ausbildungsquote in Deutschland beträgt 6,5 Prozent, woran der Mittel- Erstens. In diesem Antrag steht wiederum Ihr absolu- stand bekanntermaßen einen großen Anteil trägt. Der tes Lieblingsinstrument, das jedes Jahr von neuem ge- DGB – das ist eine Zahl aus dem Jahresbericht des DGB – nannt wird, nämlich der Ausbildungspakt. Ich habe es hat die stolze Ausbildungsquote von 1,95 Prozent. hier schon wiederholt ausgeführt: Das offensichtlichste Ergebnis von diesem Pakt ist, dass die Ausbildungssitua- (Zurufe von der CDU/CSU und der SPD: tion in den letzten Jahren von Jahr zu Jahr schlechter ge- Aha!) worden ist. Wir streiten uns jetzt nicht darüber, ob es wünschens- (Nicolette Kressl [SPD]: Das ist nicht wahr! – wert ist, dass sich junge Menschen beim DGB ausbilden Willi Brase [SPD]: Das ist gar nicht wahr! Die lassen. Zahl der Ausbildungsstellen steigt!) (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der SPD – Sie aber schreiben in Ihrem Antrag: Zuruf von der SPD) Der Ausbildungspakt hat sich als ein Instrument zur Aber würden Sie nicht meiner Einschätzung folgen, Verbesserung der beruflichen Bildungschancen jun- dass es hier ein eklatantes Missverhältnis zwischen An- ger Menschen erwiesen. spruch und Wirklichkeit gibt? Liebe Kolleginnen und Kollegen, erzählen Sie das einmal den Jugendlichen, die auf der Straße stehen. Sie Cornelia Hirsch (DIE LINKE): geben in Ihrem Antrag selber zu, dass mittlerweile Die Zahlen, die Sie hier vortragen, sind mir nicht be- 50 Prozent sogenannte Altbewerberinnen und -bewer- kannt. Darum möchte ich zunächst infrage stellen, ob ber sind. Diesen zu erzählen, Ihr Pakt sei ein Erfolg, ist diese in irgendeiner Form ihre Richtigkeit haben. einfach eine Lüge. Das ist auch für die ganz große Mehr- heit der Jugendlichen mittlerweile offensichtlich. (Zurufe von der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Dirk Niebel [FDP]) (Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei der SPD) Es ist aber auf jeden Fall richtig, dass die Gewerk- Wir als Linke sagen: Eine freiwillige Selbstverpflich- schaften eine gesetzliche Ausbildungsplatzumlage ein- tung und der damit verbundene bloße Appell an die Un- fordern. Dies ist die richtige Grundlage, denn dann ginge ternehmen stellen die falsche Grundlage dar. Es muss es nicht nur um Appelle und Selbstverpflichtungen, son- Schluss gemacht werden mit diesem Pakt. dern um einen Rechtsanspruch, sodass es ein entspre- (B) chendes Angebot an Ausbildungsplätzen geben muss. (D) Präsident Dr. Norbert Lammert: (Dirk Niebel [FDP]: Anspruch und Frau Kollegin Hirsch, gestatten Sie eine Zwischen- Wirklichkeit!) frage des Kollegen Barth? Das fordert der DGB ein. Dafür kämpft der DGB. Von daher halte ich Ihr Fingerzeigen auf andere Leute, um Cornelia Hirsch (DIE LINKE): damit die Ausbildungsplatzumlage oder das gewerk- Ja, können wir machen. schaftliche Engagement schlechtzureden, für komplett unangemessen. Uwe Barth (FDP): Frau Kollegin, Sie sagten gerade, die Koalition würde (Beifall bei der LINKEN – Jörg van Essen vor den Arbeitgebern buckeln – ich bin jetzt nicht hier, [FDP]: Peinlich hoch drei!) um die Koalition zu verteidigen –, und riefen auf, den Es bleibt bei unserer Feststellung, dass der Ausbildungs- jungen Menschen etwas zu erzählen. Ich erzähle nun pakt die falsche Grundlage ist und dass mit diesem Pakt Folgendes und schließe, Herr Präsident, eine Frage an. Schluss sein muss. (Heiterkeit) (Jörg Tauss [SPD]: Was ist mit den Steigerungszahlen?) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich schlage vor, mit der Frage relativ zügig aufzuwar- Der zweite Punkt – auch darauf ist bereits heute Mor- ten. gen eingegangen worden – sind die sogenannten Ein- stiegsqualifizierungen. Für die Kolleginnen und Kolle- gen, die hier oben mithören und die Abkürzung nicht Uwe Barth (FDP): kennen: Wenn Frau Hinz von EQJ spricht, dann meint Das mache ich. Dann beginne ich mit der Frage. sie die sogenannten Einstiegsqualifizierungen. Es geht (Heiterkeit) darum, dass Jugendlichen nach ihrer Schulausbildung gesagt wird: Ihr bekommt jetzt keinen Ausbildungsplatz, Liebe Frau Kollegin, Sie tragen hier einen Anspruch sondern Ihr könnt erst einmal für einige Monate ein vor und sind selbst, wie ich weiß, Mitglied in einigen Praktikum in einem Unternehmen machen. Gewerkschaften. Ich möchte Sie nun fragen, wie Sie mir folgende Zahlen erklären wollen: Die IG Metall for- (Jörg Tauss [SPD]: Vermittlungsquote von dert eine Ausbildungsquote von 7 Prozent. Die DAX- 60 Prozent!) 10720 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Cornelia Hirsch (A) Das hat für die Unternehmen den Vorteil, dass sie sich (René Röspel [SPD]: Geht es Ihnen eigentlich (C) erst einmal ansehen können, was diejenigen im Einzel- um die Chancen der Jugendlichen oder um die nen leisten, um dann zu entscheiden, ob sie sie überneh- Bestrafung der Arbeitgeber?) men oder nicht. Das Arbeitsministerium hat in der Fra- Wie Sie mit der Ausbildungsplatzumlage umgegan- gestunde klar zum Ausdruck gebracht, dass es das für gen sind, ist bekannt. Es gab – darauf ist hingewiesen sinnvoll, gut, richtig und für nicht verwerflich hält, wenn worden – klare Beschlüsse von den Bundesparteitagen Jugendliche auf diese Art und Weise erst einmal eine der Grünen und auch der SPD. Herr Tauss, Sie behaup- Zeit lang ausprobiert werden. Wir halten das für falsch. ten hier immer wieder, Sie hätten das Gesetz entspre- Die Linke sagt: Ausbildungsplätze statt Praktika! Darum chend beschlossen, und die Ausbildungsplatzumlage sei ist die Aufstockung der Mittel für die Einstiegsqualifi- eingeführt. zierungen definitiv der falsche Weg. (Jörg Tauss [SPD]: Ich behaupte das nicht; das (Beifall bei der LINKEN) ist so!) In Ihrem Antrag gibt es – drittens – ein neues Instru- Was Sie hier beschlossen haben, ist ein Gesetz, in dem ment – besser als der Rest ist es aber trotzdem nicht –, unter Punkt zwei und drei etwas von einer Ausbildungs- nämlich den Qualifizierungskombilohn. Auch hierbei platzumlage steht. geht es um eine Zuwendung an die Arbeitgeberseite, also nicht um eine Unterstützung der Jugendlichen. Die (Nicolette Kressl [SPD]: Das stimmt über- Arbeitgeber bekommen einen Zuschuss dafür, dass sie haupt nicht!) die Jugendlichen zu Niedrigstlöhnen beschäftigen. Nur Aber unter Punkt eins steht: Wenn es gelingt, einen Aus- ein minimaler Anteil der Jugendlichen geht in Qualifi- bildungspakt mit den Spitzenverbänden der Wirtschaft zierungsmaßnahmen. Dieses Instrument führt also nicht zu schließen, dann kann man auf den ganzen Rest ver- zum wirklichen Berufsabschluss. Das heißt, diese Ju- zichten. – Was dabei herauskommt, ist bekannt, nämlich gendlichen sind dauerhaft im Niedrigstlohnbereich ge- Ihr Ausbildungspakt, der nicht die zentrale Anforderung, parkt. Das kann nun wirklich nicht die Lösung der Aus- die Ausbildungspflicht der Unternehmen, in den Blick bildungsplatzmisere sein. nimmt; aber anders können wir die Ausbildungsmisere nicht lösen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Diese drei Punkte in Ihrem Antrag bilden den Schwerpunkt. Zu allen drei Punkten kann man sagen, Deshalb fordert die Linke – auch wenn es der FDP dass es falsch ist, das fortzusetzen, was Sie schon vorher nicht passt und die SPD sich ein bisschen peinlich be- (B) falsch gemacht haben, und nun noch einen Punkt drauf- rührt anschaut, weil es ursprünglich eigentlich auch ihre (D) zugeben. Offensichtlich haben Sie das selber gemerkt, Forderung war – weshalb Sie einen vierten Punkt in den Antrag aufge- (Jörg Tauss [SPD]: Wegen Ihrer Rede schauen nommen haben. Das ist nun wirklich ein „Riesenerfolg“. wir uns peinlich berührt an! Diese Rede ist Sie sagen, die Bundesregierung möge bitte ein Konzept peinlich!) entwickeln. Herzlichen Glückwunsch, liebe Kolleginnen und Kollegen! Sagen Sie doch einmal der jungen Frau, eine gesetzliche Ausbildungsplatzumlage. Dazu haben die vor zwei Jahren den Hauptschulabschluss gemacht wir einen konkreten Gesetzentwurf vorgelegt, dem Sie hat, im ersten Jahr danach komplett auf der Straße stand, hier zustimmten könnten. Im Ausschuss haben alle Frak- im zweiten Jahr in irgendeiner Warteschleife geparkt tionen außer der Linken konsequent dagegen gestimmt. war, in diesem Jahr wieder unglaublich viele Bewerbun- Sie halten eine gesetzliche Ausbildungsplatzumlage für gen geschrieben, aber immer noch nichts gefunden hat: verkehrt; aber damit könnte ein Schritt auf dem Weg zu „Machen Sie sich keine Sorgen. Wir haben ja schließlich einer guten Perspektive für die Jugendlichen in diesem die Bundesregierung aufgefordert, ein Konzept zu ent- Land gemacht werden. Deshalb bitten wir nach wie vor wickeln. Alles wird gut.“ Das ist wirklich albern. Auf um Unterstützung. Den ersten Teil haben Sie in Ihrem diese Weise kann man keine erfolgreiche Berufbildungs- Antrag schon umgesetzt. Wenn Sie die Ausbildungs- politik machen. pflicht der Unternehmen noch hinzunehmen, dann kom- men wir hier ein gutes Stück weiter. (Beifall bei der LINKEN) Danke schön. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, da (Beifall bei der LINKEN) hilft es auch nichts, wenn Sie es als einen großen Erfolg hinstellen, dass Sie eine Hälfte der Ausbildungsplatzum- lage untergemogelt haben, indem Unternehmen, die aus- Präsident Dr. Norbert Lammert: bilden, unterstützt werden sollen. Sie haben vergessen, Das Wort erhält nun der Kollege Uwe Schummer, dass der zentrale Teil bei der Ausbildungsplatzumlage CDU/CSU-Fraktion. der erste Satz ist: Wer nicht ausbildet, soll zahlen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN) Uwe Schummer (CDU/CSU): Das fällt bei Ihnen einfach weg, wenn Sie diejenigen, die Kollegin Hirsch, noch so jung, aber schon so voller ausbilden, weiter mit Steuermitteln unterstützen wollen. Hass. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10721

Uwe Schummer (A) (Beifall bei der CDU/CSU – Heiterkeit bei der glied im Ausbildungspakt geworden ist. Den stärksten (C) SPD) Einbruch bei den Ausbildungsplätzen hatten wir in den letzten beiden Jahren bei den freien Berufen. Sie haben Zur Umlagefinanzierung möchte ich Ihnen nur ein Bei- 9 Prozent weniger ausgebildet; im Handwerk, bei der spiel nennen: Es gibt sie tariflich vereinbart in der Bau- IHK, wurde das aber ansatzweise aufgefangen. Dass wirtschaft seit den 70er-Jahren. jetzt auch die freien Berufe am Ausbildungspakt teilneh- (Cornelia Hirsch [DIE LINKE]: Aber sonst men und unterzeichnet haben, mehr auszubilden, ist ein nirgendwo!) wichtiges Zeichen, ein wichtiges Signal, dass in diesem Jahr allen Schulabgängern im Rahmen des Ausbildungs- Wir wissen, dass der stärkste Ausbildungsplatzabbau in paktes eine Qualifizierungsmaßnahme angeboten wer- der Bauwirtschaft seit 1998 stattgefunden hat, den kann. (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Das hat doch völlig andere Gründe (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – gehabt!) Jörg Tauss [SPD]: Der Beifall war zwar spät, ist aber okay!) von 110 000 Plätzen auf 40 000 Plätze. Das heißt, eine rein fiskalische Maßnahme wird die Zukunft der Jugend Aber der Ausbildungspakt allein wird das Problem nicht sichern. der sogenannten Altbewerber nicht lösen können. Es gibt über 300 000 junge Menschen, die vor mehr als ei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nem Jahr aus der Schule entlassen wurden und jetzt auf Wir brauchen ein Bündel an Maßnahmen. Im Be- den Ausbildungsmarkt drängen. Ihnen müssen gezielte rufsbildungsbericht steht, dass 1,3 Millionen Schulab- Angebote unterbreitet werden. gänger bis 29 Jahre keine berufliche Qualifizierung ha- Es ist gut, dass die Wirtschaft im Rahmen des dualen ben. Das sind, politisch betrachtet, die Kinder der FDP, Systems 30 Milliarden Euro in die Ausbildung inves- der Union, der Grünen und der Sozialdemokraten, die tiert. In kaum einem anderen Land wird die Wirtschaft Kinder der demokratischen Opposition und der Regie- mit in die Haftung genommen. Die duale Ausbildung hat rung hier im Parlament. Deshalb müssen wir gemeinsam eine große Integrationskraft. Bei uns liegt die Jugendar- versuchen, ein Bündel an Maßnahmen zu entwickeln, beitslosigkeit im europäischen Vergleich bei etwa um die Probleme zu lösen. 9 Prozent, in Frankreich bei 24 Prozent und selbst im (Ilse Aigner [CDU/CSU]: So ist es!) hochgelobten Finnland bei 19 Prozent. Die betriebliche duale Ausbildung bewirkt also eine große Integrations- Nur wenn die Probleme nicht gelöst werden, haben die kraft. (B) Kolleginnen und Kollegen aus der Meckerecke von links (D) außen eine Chance. Was Ausbildung bedeutet, zeigt der Fachkräfteman- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der gel. Angesichts dessen, dass uns heute vonseiten des Ins- FDP) titutes der deutschen Wirtschaft vorgerechnet wird, dass Aufträge in Höhe von 3,5 bis 5 Milliarden Euro verloren Wenn wir sie lösen, sind wir die starken Kräfte im Parla- gehen, weil keine Fachkräfte vorhanden sind, müssen ment und in der Bevölkerung. wir alle Kräfte mobilisieren, damit jeder Jugendliche, je- Der Antrag „Junge Menschen fördern“ durchbricht der junge Mensch, jetzt eine Chance bekommt. einen ewigen Kreislauf, der im Frühjahr beginnt: drama- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) tische Zahlen, die sich steigern bis zur parlamentarischen Sommerpause; die einen fordern die Umlagefinanzie- Das vorgelegte Maßnahmenbündel ist auch deswegen rung, die anderen wollen die Ausbildungsvergütungen sinnvoll, weil die Gruppe der Altbewerber sehr unter- senken. Wenn im September das Ausbildungsjahr endet schiedlich ist. In meiner Heimatstadt in Willich am lin- und ein neues beginnt, folgen Relativierungen, und auf ken Niederrhein die Schnelle werden Instrumente nachgeschoben. Dieser Antrag enthält, frühzeitig von der Wirtschaft und den Mi- (René Röspel [SPD]: Wie ist das mit „linken“ nisterien für Arbeit und Soziales, Bildung und Forschung, gemeint?) Jugend und Familie sowie Union und SPD entwickelt, ein liegt die Arbeitslosigkeit wie in Baden-Württemberg bei Maßnahmenbündel, das den Berufsberatern, den Schu- 5 Prozent. Aber 30 Kilometer weiter in Duisburg-Marx- len, den Auszubildenden und den Betrieben schon vor der loh liegt sie bereits bei 16 Prozent. In Bautzen liegt sie parlamentarischen Sommerpause, vor Beginn des Berufs- bei weit über 20 Prozent. Das heißt, dort, wo wenige Be- ausbildungsjahres vorliegt, sodass sie sicher wissen, auf triebe sind, muss man überbetriebliche bzw. außerbe- welche Instrumente sie sich verlassen und bauen können, triebliche Maßnahmen fördern. Deshalb brauchen wir wenn sie zusätzlich ausbilden. ein Bündel an Maßnahmen. Es gibt keinen Königsweg, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) indem man meint, alle Probleme mit messianischem Blick nach oben lösen zu können. Der Ausbildungspakt ist verbessert worden. Eine entscheidende Verbesserung ist, dass auch der dritt- Entscheidend ist, dass Einstiegspraktika endlich ein- stärkste Ausbilder in diesem Lande, die freien Berufe, mal mit Ausbildungsbausteinen verbunden werden, dass wir und damit der Bundesverband der Freien Berufe Mit- sagen: Es muss auch qualifiziert werden. Dass immerhin 10722 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Uwe Schummer (A) 70 Prozent der Jugendlichen, die ein Einstiegspraktikum (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (C) machen, anschließend weitervermittelt werden, Über das Problem der Altbewerber haben wir hier (Jörg Tauss [SPD]: 70 Prozent!) diskutiert. Die SPD-Fraktion, die Koalition insgesamt ist dem Bundesarbeitsminister dafür dankbar, dass er den ist ein wesentlicher Fortschritt. Dies zeigt, dass betriebli- Weg mitgehen will, um die Sache voranzubringen. che Maßnahmen besser sind als Parallelmaßnahmen, die schulisch oder außerbetrieblich entwickelt werden. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Es gibt junge Leute, die seit mehreren Jahren arbeitslos sind. Der Begriff „langzeitarbeitslose junge Leute“ ist Die Einstiegspraktika sind eine Brückenmaßnahme in schlecht, beschreibt aber leider einen Zustand. Deswe- die reguläre betriebliche Ausbildung. gen sage ich: Es ist richtig, dass wir so etwas wie Quali- Zum Bonus für Betriebe. Wenn Betriebe bereit sind, fizierungskombi auf den Weg bringen. Er resultiert ein sich aktiv am Abbau der Zahl der Altbewerber von über Stück weit aus den Erkenntnissen, die wir in dem Pro- 300 000 zu beteiligen, wenn sie nachweislich der letzten gramm „Jugend mit Perspektive“ gesammelt haben. Wir drei Jahre zusätzlich ausbilden oder anfangen, auszubil- sollten nicht vergessen, dass wir damals junge Leute da- den, dann ist es auch richtig, ihnen eine Unterstützung in mit aus dem Nirwana geholt und ihnen eine Perspektive Form eines Bonus von bis zu 5 000 Euro zukommen zu gegeben haben. lassen. Dies ist preiswerter, als eine Parallelmaßnahme (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zu finanzieren. Dies hat auch eine Brückenfunktion für der CDU/CSU) die betriebliche Ausbildung. Herr Braun vom DIHK hat darauf hingewiesen – Kol- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) legin Kressl hat das eben schon gesagt –, dass es eine Wir haben in Deutschland im Zweijahresvergleich Qualitätslücke gibt. 1 Million weniger Arbeitslose. Das sind 1 Million gute (Jörg Tauss [SPD]: Das ist nicht die Möglich- Gründe für die Große Koalition. Mit unserem Antrag keit!) werden wir dafür sorgen, dass dieser Prozess weitergeht. Ich finde, es macht Sinn, sich kurz zu vergegenwärtigen, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) was das heißt: Das unterstellt doch, dass viele junge Leute nicht ausbildungsfähig und nicht ausbildungswil- Präsident Dr. Norbert Lammert: lig sind. Da fällt mir ein, was wir in meiner Heimat mit Hauptschulabsolventen machen: In der 10. Klasse absol- (B) Für die SPD-Fraktion erhält nun das Wort der Kollege (D) Willi Brase. vieren sie freiwillig – 580 Stunden im Jahr, freitagnach- mittags, samstagmorgens, sechs Wochen in den Ferien – (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jörg ein Praktikum in Unternehmen und Ausbildungseinrich- Tauss [SPD]: , alles klar jetzt, tungen. 95 Prozent dieser Jugendlichen finden einen nicht?) Ausbildungsplatz. Angesichts dessen kann ich nur sa- gen: Lieber Herr Braun, es gibt keine Qualitätslücke, Willi Brase (SPD): sondern leider immer noch zu wenig betriebliche Ausbil- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es dungsplätze. ist gut, dass wir in der Koalition und im Parlament nicht (Beifall bei der SPD) darüber streiten, was ideologisch vielleicht der richtige Weg wäre, sondern dass wir den jungen Leuten hier und Es ist wichtig, dass wir solche Maßnahmen nicht nur heute eine konkrete Perspektive ermöglichen. in einzelnen Regionen, sondern überall dort, wo das möglich ist, vorantreiben. Man muss sich vergegenwärti- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) gen, dass Ausbildungsmärkte regionale Märkte sind. Die Debatte wird, um bei den Beispielen von Uwe Mit einer solchen Perspektive machen wir ihnen den Schummer zu bleiben, in Bautzen anders zu führen sein Weg frei in eine vernünftige Zukunft. Wir sorgen dafür, als in Willich oder in Siegen-Wittgenstein. dass sie mit daran wirken, dass die Stärke und Wettbe- werbsfähigkeit unserer Gesellschaft und unserer Wirt- (Dirk Niebel [FDP]: Wie ist denn die DGB- schaft vorangetrieben werden. Das ist gut. Ausbildungsquote in Siegen?) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Die Strukturen sind regional unterschiedlich. Wichtig ist, dass man miteinander redet, sich die Problemfälle an- Ich will deutlich sagen – das wurde von einigen of- schaut und den jungen Leuten ein konkretes, klares und fensichtlich nicht gelesen, oder sie haben es schon wie- sauberes Angebot macht. Man darf nicht darauf verwei- der vergessen –: Wenn wir schon jetzt, zu einem Zeit- sen, dass irgendwann die Umlagefinanzierung kommt, punkt, wo wir uns mitten im Ausbildungsjahr befinden, und den jungen Leuten sagen: Vielleicht bekommst du für das kommende Ausbildungsjahr mehrere zehntau- 2015 einen Ausbildungsplatz. – Dann ist der Jugendliche send Ausbildungsplätze zusätzlich schaffen, dann sind 30, dann braucht er ihn nicht mehr. wir – da hat der Kollege Schummer recht – ein ganzes Stück weitergekommen; denn damit bieten wir den jun- (Beifall bei der SPD – Cornelia Hirsch [DIE gen Menschen in unserem Land eine Perspektive. LINKE]: Die können wir jetzt einführen!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10723

Willi Brase (A) Ich möchte noch einen Punkt ansprechen, den ich für verkürzt – machen. Das macht Sinn, weil wir Fachkräfte (C) sehr wichtig halte: die hohe Qualität der betrieblichen brauchen. Insofern werden wir EQJ an dieser Stelle wei- Berufsausbildung. In diesem Jahr haben wir erstmals terentwickeln. wieder über 600 000 neu eingetragene Ausbildungsver- Der zweite Punkt. Wir wollen, dass nicht zu viele hältnisse. Das war 2000/2001 zum letzten Mal der Fall. Realschüler oder Gymnasiasten am EQJ-Programm teil- Das ist gut so. Wenn die Zahl noch weiter nach oben nehmen. Wir brauchen EQJ für diejenigen jungen Leute, geht, umso besser. für die der Weg in die berufliche Qualifizierung ein Wenn man sich Untersuchungen über die Wettbe- Stück weit über betriebliche Zugehörigkeit, über betrieb- werbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft anschaut, stellt liches Lernen führt. Ich denke, dass wird die Regierung man fest, worauf sie basiert. Die Wettbewerbsfähigkeit in der gebotenen Grundsätzlichkeit und Güte so machen. hat demnach nicht nur mit der steuerlichen Situation, der (Beifall bei der SPD – Priska Hinz [Herborn] finanziellen Ausstattung der Unternehmen und deren [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Meine Wettbewerbsbedingungen zu tun, sondern es geht auch Rede!) um Innovationsfähigkeit und um die Beschäftigungsfä- higkeit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. In Nicolette Kressl wies darauf hin, dass es richtig ist, diesen Untersuchungen wird festgestellt, dass die Wett- die Berufsberatung im Sinne von Berufsorientierung bewerbsfähigkeit Deutschlands vor allen Dingen in der auszuweiten. Wenn Sie in den Berufsbildungsbericht hohen Einsatzflexibilität der Arbeitnehmerinnen und Ar- schauen, wenn Sie sich vergegenwärtigen, wie die am beitnehmer begründet ist. Die Arbeitnehmerinnen und meisten besetzten Ausbildungsplätze aussehen und wie Arbeitnehmer haben eine breite berufliche Qualifikation wir uns wirtschaftspolitisch weiterentwickeln, dann er- und haben ihr Handwerk in Arbeits- und Beschäfti- kennen Sie eine Differenz. Das heißt, es muss durch gungsprozessen erlernt. Der entscheidende Punkt ist, mehr Berufsberatung möglich gemacht werden, die dass wir Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben, Wünsche der jungen Leute – teilweise auch die ihrer El- die mit unterschiedlichen Fähigkeiten und einer hohen tern – ein Stück weit breiter zu streuen, damit wir den Qualifikation in vielen Unternehmen tätig sein können. Nachwuchs, den wir für die wirtschaftliche Entwicklung Es wäre eine Schande, wenn wir diesen Ansatz durch brauchen, tatsächlich bekommen. Deshalb begrüßen wir falsche Modularisierung vorschnell aufgeben würden; ausdrücklich, dass die Berufsberatung ausgeweitet wird. denn darunter würde die ganze Gesellschaft leiden. (Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD) GRÜNEN]: Seit wann ist die Regierung im Amt?) Thema Fachkräftemangel. Ich halte es für ebenso (B) wichtig, dass wir nicht zu schnell den Rufen mancher Es ist – ich sage das in aller gebotenen Zurückhaltung – (D) Unternehmen erliegen, die behaupten: Wir haben nicht ein guter Tag, an dem wir den jungen Leuten und den be- genügend qualifizierte junge Leute; wir müssen schauen, troffenen Organisationen – von der Bundesagentur für wie wir sie aus dem Ausland zu uns holen. Arbeit bis hin zu den Kammern – sagen, was wir vorha- ben, welche Maßnahmen wir auf den Weg bringen wer- Solange wir so einen hohen Anteil an Altbewerbern den und wo sie Möglichkeiten haben, die Programme haben, solange wir eine leider noch relativ hohe Anzahl nach dem 30. September oder spätestens nach dem jugendlicher Arbeitsloser haben, bin ich dafür, dass wir 31. Dezember umzusetzen. Das ist eine entscheidende diese hier ausbilden, bevor wir einen Schritt außerhalb Verbesserung gegenüber dem, was in vielen Debatten in des Landes gehen und uns von dort Fachkräfte holen. der Vergangenheit über Ausbildungsplätze und die Zu- Das wäre der falsche Weg; den sollten wir nicht gehen. kunft der Jugendlichen gesagt wurde. Lassen Sie uns ge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten meinsam in diesem Sinne fortfahren. Es ist der richtige der CDU/CSU) Weg. Zur Einstiegsqualifizierung Jugendlicher. Ja, es ist Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. richtig, sich den Bericht des Bundesrechnungshofes an- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zusehen. Aber wenn man sich einen Bericht ansieht, der CDU/CSU) muss man auch beachten, wann er erstellt wurde und welches Jahr er zum Inhalt hat. Er betrifft die erste Zeit von EQJ. Wir haben das Programm damals über den Präsident Dr. Norbert Lammert: Ausbildungspakt auf den Weg gebracht. Heute stellen Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist wir fest, dass wir EQJ ein bisschen verbessern wollen. die Kollegin Ilse Aigner, CDU/CSU-Fraktion. Deshalb ist es richtig, dass wir die Ausbildungsbausteine (Beifall bei der CDU/CSU) nicht nur in den angedachten Projekten zur Schaffung von Ausbildungsplätzen und Qualifizierung in Betrie- Ilse Aigner (CDU/CSU): ben, sondern auch bei EQJ auf den Weg bringen. Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- Ich kann mir durchaus vorstellen, dass junge Leute, nen und Kollegen! Als Erstes möchte ich darauf hinwei- die heute in Einstiegsqualifizierungen sind und dort nach sen, dass heute auch aus meiner Sicht, sehr geehrter Herr dem Modell der Ausbildungsbausteine qualifiziert wer- Kollege Brase, ein erfreulicher Tag ist, weil wir weitere den, danach relativ schnell eine Ausbildung – nicht mehr gute Nachrichten zu verkünden haben. Die wirtschaftli- für drei, sondern zweieinhalb Jahre oder entsprechend che Entwicklung ist die wesentliche Voraussetzung 10724 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Ilse Aigner (A) dafür, dass betriebliche Ausbildungsplätze zur Verfü- Ich möchte noch auf einen Aspekt eingehen, der mir (C) gung gestellt werden. Die Zahl der Ausbildungsplätze äußerst wichtig erscheint – dieser Punkt steht auch auf steigt. Wir haben bei der Jugendarbeitslosigkeit einen der heutigen Tagesordnung –: auf den europäischen Rückgang um 30 Prozent. Ich finde, es ist eine sensatio- Qualifikationsrahmen. Der Kollege Meinhardt hat be- nelle Botschaft, wenn wir den jungen Menschen sagen reits darauf hingewiesen, dass die Bedeutung der berufli- können: Wir tun etwas für euch, und es wirkt sich dem- chen Ausbildung in Deutschland in der Anerkennungs- entsprechend aus. richtlinie der EU in hohem Maße unterbewertet ist. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Patrick Meinhardt [FDP]: Richtig!) der SPD) Das geht sogar so weit, dass Meister in die gleiche Stufe Deshalb ist es für uns von der Union immer wichtig, wie Angelernte eingruppiert werden. Das ist ein unhalt- dass die wirtschaftliche Entwicklung vorangetrieben barer Zustand. Dass es dazu kam, war nur deshalb mög- wird. Für alle Bereiche liegen positive Daten vor. Die lich, weil das System unserer beruflichen Ausbildung Wirtschaftskraft steigt. Wir verzeichnen Wachstum. Des- von Menschen beurteilt wurde, die damit offensichtlich halb werden sich auf dem Ausbildungsmarkt positive nichts anfangen konnten und allein an der schulischen Entwicklungstendenzen zeigen. Leistung gemessen haben, wie die Ausbildung in Wir werden aber auch immer wieder darauf drängen, Deutschland zu bewerten ist. dass wir alle in die Pflicht nehmen, und sie daran erin- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie nern, dass betriebliche Ausbildung das Erste und das bei Abgeordneten der SPD) Prä ist. Das gilt für alle. Gerade wurden Zahlen vom DGB angezweifelt, die von Kollegen Barth genannt Dies soll mit dem europäischen Qualifikationsrahmen wurden. Mir liegen hier von der Berliner Regierung, aus von Grund auf verändert werden. Es sollen acht Leis- der Sie, sehr geehrter Herr Gysi, ja nach wenigen Mona- tungs- bzw. Niveaustufen eingeführt werden. Bei der ten aus der Verantwortung geflüchtet sind, veröffent- Eingruppierung geht es nicht nur um die Stundenzahl, lichte Zahlen vor. sondern auch um die Qualifikation, also darum, was der- oder diejenige können muss. Das schließt auch die (Zurufe von der LINKEN) Handlungskompetenz ein, die man sich in den Betrieben Sie fordern eine Ausbildungsquote von 7 Prozent. aneignen kann und über die man verfügen muss, um in eine bestimmte Stufe eingeordnet zu werden. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Bei Gysi nützt auch Ausbildung nichts mehr!) Das Entscheidende ist, dass nicht irgendeine europäi- (B) In der Berliner Regierung beträgt die Ausbildungsquote sche Institution über die nationalen Regularien entschei- (D) 0,25 Prozent. det und die Festlegungen trifft, sondern dass wir in Deutschland selbst einen nationalen Qualifikationsrah- (Dirk Niebel [FDP]: Ja, die Linken! Das ist men entwerfen können. Dann können wir entscheiden, in furchtbar! Pfui! – Volker Kauder [CDU/CSU]: welche Stufe wir unsere Ausbildung einordnen. Das ist So ein Großmaul!) ein Quantensprung. Ich hoffe, dass wir hierfür von allen Seiten Unterstützung erfahren werden. Sie sollten, bevor Sie Forderungen aufstellen, erst ein- mal Ihrer Pflicht in den Bereichen, in denen Sie Verant- Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich kann es wortung tragen, nachkommen. Ich glaube, das wäre ein nicht oft genug sagen – Herr Kollege Schummer hat das richtiges Zeichen. bereits angesprochen –: In Deutschland liegt die Jugend- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie arbeitslosigkeit bei 9 Prozent, in Frankreich beträgt sie bei Abgeordneten der SPD – Jörg van Essen 25 Prozent. In unserem Land gibt es eine Alternative [FDP]: Das ist typisch für die Kommunisten! zum Studium, nämlich die berufliche Ausbildung. Zwei Da klappt nichts!) Drittel der jungen Menschen durchlaufen eine berufliche Ausbildung. Zur Qualifizierungsinitiative ist schon sehr viel ge- sagt worden. Sie wird zwischen allen Ressorts abge- (Jörg Tauss [SPD]: Das haben wir früher auch stimmt und gebündelt, und das, sehr geehrte Frau Hinz, mal gemacht!) schon nach zwei Jahren. Bis das Berufsbildungsgesetz In anderen Ländern gibt es praktisch keine Alternative verabschiedet wurde, hat es, als Sie an der Regierung zum Studium, keine Lehre. Entweder ist man Akademi- waren, sieben Jahre gedauert: Verabschiedet wurde es im ker, oder man hat keine Ausbildung. Jahre 2005, an die Regierung kamen Sie im Jahre 1998. Ich finde, unser System ist hervorragend. Viele benei- (Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE den uns darum. In vielen anderen Ländern wäre es aller- GRÜNEN]: Aber Sie haben schon drei An- dings gar nicht möglich, ein System wie in Deutschland träge von uns abgelehnt!) zu entwickeln und es so auszugestalten, wie es bei uns Insofern sind wir wohl doch etwas schneller. Ich denke, ausgestaltet ist. Denn Deutschland verfügt im Gegensatz das wesentliche Element ist die Bündelung. Ich bedanke zu manch anderen Ländern über eine Wirtschaft, die fä- mich ausdrücklich bei allen beteiligten Häusern, dass sie hig ist, auszubilden. Diesen Schatz sollten wir bewahren. ihren Beitrag dazu leisten, eine abgestimmte Initiative Das ist letztlich das, was den Standort Deutschland aus- auf den Weg zu bringen. macht. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10725

Ilse Aigner (A) (Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der (Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Das ist sehr (C) FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) traurig!) Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die wei- Präsident Dr. Norbert Lammert: tere Beratung. Ich schließe die Aussprache. Tagesordnungspunkt 3 f. Es geht um die Beschluss- Wir kommen nun zu den Überweisungen und Abstim- empfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung mungen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 16/5762. auf den Drucksachen 16/5730, 16/5732 und 16/5225 an Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis des Berufsbil- die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- dungsberichts 2006 auf Drucksache 16/1370 den Antrag schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist so. der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Drucksache 16/2630 mit dem Titel „Neue Wege in der Ausbildung – Strukturen verändern“ abzulehnen. Wer Zu Tagesordnungspunkt 3 d liegt eine Beschlussemp- stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ich habe nicht fehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und den Eindruck, dass alle den Gegenstand der jetzt stattfin- Technikfolgenabschätzung auf der Drucksache 16/5760 denden Abstimmung auf Anhieb verstanden haben. vor. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be- schlussempfehlung auf Drucksache 16/5760, den Antrag (Heiterkeit – Dr. [CDU/CSU]: der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf der Das liegt am Präsidenten!) Drucksache 16/2996 mit dem Titel „Weiterentwicklung Wir stimmen über die Beschlussempfehlung des Aus- der europäischen Berufsbildungspolitik“ in der Ausschuss- schusses ab, der unter Bezugnahme auf den Berufsbil- fassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussemp- dungsbericht die Ablehnung des Antrags der Fraktion fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – des Bündnisses 90/Die Grünen empfiehlt. Die Beschlussempfehlung ist mit großer Mehrheit ange- nommen. (Jörg Tauss [SPD]: Das habe selbst ich jetzt begriffen! – Heiterkeit – Beifall bei der FDP – Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt Volker Kauder [CDU/CSU], zum Abg. Jörg der Ausschuss, den Antrag der Fraktion des Bünd- Tauss [SPD] gewandt: Selbsterkenntnis ist der nisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/1063 mit dem beste Weg zur Besserung! – Gegenruf des Titel „Den Europäischen Bildungsraum weiter gestalten Abg. Jörg Tauss [SPD]: Darin unterscheiden – Transparenz und Durchlässigkeit durch einen Europäi- wir uns!) schen Qualifikationsrahmen stärken“ für erledigt zu erklä- (B) ren. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer – Nach dieser bemerkenswerten Protokollerklärung des (D) stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss- Kollegen Tauss steht einer unfallfreien Abstimmung ei- empfehlung ist einstimmig so angenommen. gentlich nichts mehr im Wege. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 sei- (Heiterkeit) ner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Ausschus- der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/1127 mit dem ses? – Sage ich doch! – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Titel „Anforderungen an die Gestaltung eines europäi- hält sich der Stimme? – Die Beschlussempfehlung ist schen und eines nationalen Qualifikationsrahmens“. Wer mit der Mehrheit des Hauses angenommen. stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe? – Enthaltungen? – Das Erste war die Mehrheit. Die Be- Damit sind wir am Ende dieses Tagesordnungspunk- schlussempfehlung ist angenommen. tes. Tagesordnungspunkt 3 e. Wir stimmen ab über den Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf: Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke zur Änderung des a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jörg Berufsbildungsgesetzes. Der Ausschuss für Bildung, van Essen, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Forschung und Technikfolgenabschätzung empfiehlt in Dr. Karl Addicks, weiteren Abgeordneten und seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5761, der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs ei- diesen Gesetzentwurf auf Drucksache 16/2540 abzuleh- nes Gesetzes zur Änderung des Erbschaft- nen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim- steuer- und Schenkungsteuergesetzes men wollen, um das Handzeichen. – Das wird nicht rei- chen. – Drucksache 16/2087 – Überweisungsvorschlag: (Heiterkeit) Finanzausschuss (f) Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Innenausschuss Rechtsausschuss Ich stelle in der Feststellung der Mehrheitsverhältnisse Ausschuss für Wirtschaft und Technologie breite Übereinstimmung im Hause fest. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Cornelia Hirsch [DIE LINKE]: Aber knapp! – Haushaltsausschuss Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Wir werden immer mehr!) b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck (Köln), Irmingard Schewe-Gerigk, Birgitt Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Bender, weiteren Abgeordneten und der Fraktion 10726 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- (Beifall bei der FDP) (C) brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergän- zung des Lebenspartnerschaftsgesetzes und Die FDP setzt sich seit vielen Jahren für die recht- anderer Gesetze (Lebenspartnerschaftsgesetz- liche Gleichstellung von Lesben und Schwulen ein. ergänzungsgesetz – LPartGErgG) Bereits in der 14. und 15. Legislaturperiode haben wir einen Gesetzentwurf für eine eingetragene Lebenspart- – Drucksache 16/3423 – nerschaft in den Bundestag eingebracht, und auch in der Überweisungsvorschlag: letzten Legislaturperiode haben wir einen Entwurf von Rechtsausschuss (f) Rot-Grün zur Überarbeitung des Lebenspartnerschafts- Auswärtiger Ausschuss gesetzes unterstützt und im Bundesrat dazu beigetragen, Innenausschuss dass das Gesetz ohne Anrufung des Vermittlungsaus- Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie schusses pünktlich in Kraft treten konnte. Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Beifall bei der FDP) Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Wir haben immer zum Ausdruck gebracht, dass der Technikfolgenabschätzung jetzige Rechtszustand – das gilt bis heute – alles andere Haushaltsausschuss als befriedigend ist. Für Lebenspartner gibt es nach wie vor ein Ungleichgewicht zwischen Pflichten und Rech- c) Beratung des Antrags der Abgeordneten ten: mehr Pflichten als Rechte. Es bedarf Änderungen im Dr. Barbara Höll, Dr. Martina Bunge, Sevim Einkommensteuerrecht, Erbschaftsteuerrecht, Beamten- Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Frak- recht und Adoptionsrecht. Wir haben es leider auch in tion der LINKEN der letzten Legislaturperiode bei einer Mehrheit von Vielfalt der Lebensweisen anerkennen und Rot-Grün nicht hinbekommen – obwohl eine Mehrheit rechtliche Gleichbehandlung homosexueller vorhanden war –, hier im Bundestag noch weitere Ände- Paare sicherstellen rungen vorzulegen. – Drucksache 16/5184 – (Beifall bei der FDP) Überweisungsvorschlag: Wir legen heute einen Gesetzentwurf vor, bei dem es Rechtsausschuss (f) Innenausschuss um das Erbschaftsteuerrecht geht. Dies tun wir nicht, Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend weil wir nicht noch mehr Änderungen wollen – ich habe Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe eben die Bereiche genannt –, sondern weil wir glauben, dass es am ehesten möglich ist, Veränderungen zu errei- (B) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für (D) die Aussprache wiederum anderthalb Stunden vorgese- chen, wenn wir in einzelnen Schritten vorgehen. hen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so be- In Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen und schlossen. durch Beiträge hier im Bundestag – gerade auch von Ich eröffne die Aussprache. Kollegin Frau Granold von der CDU/CSU – habe ich er- fahren, dass der Gesetzgeber sehr wohl ein Stück weit Das Wort erhält als erste Rednerin die Kollegin Sa- mehr Anpassungen vornehmen muss und dass sehr wohl bine Leutheusser-Schnarrenberger für die FDP-Fraktion. Gesprächs- und Kompromissbereitschaft besteht. Ich (Beifall bei der FDP) hoffe, dass mit einem solchen schrittweisen Vorgehen jetzt die Chance besteht, hier noch zu weiteren notwen- digen Entscheidungen zu kommen. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- (Beifall bei der FDP) gen! Gesellschaftliche Freiheit zeigt sich besonders im Im Grundsatzprogramm der CDU heißt es im einlei- Umgang mit Menschen anderer Herkunft und mit Men- tenden Kapitel: schen, die sich zu ihrer sexuellen Identität bekennen. Das ist gelebte Toleranz. Ohne Gerechtigkeit gibt es keine Freiheit … Im Rechtsstaat heißt Gerechtigkeit gleiches Recht für Familien, in denen Kinder von zwei Männern oder alle. von zwei Frauen aufgezogen werden, sind heute nichts Besonderes mehr. Insbesondere nachdem für eingetra- Ich frage Sie: Ist es gerecht, dass zwei Männer oder gene Lebenspartner die Möglichkeit der Stiefkindadop- zwei Frauen, die eine langjährige Beziehung führen, in tion besteht, ist es an der Zeit, den Familienbegriff den der sie gemeinsam Verantwortung füreinander haben, Entwicklungen der letzten Jahre anzupassen. nach dem Ableben eines Partners vom Staat wie Fremde behandelt werden? (Beifall bei der FDP) (Beifall des Abg. Michael Kauch [FDP]) Aufgabe der Politik ist es, die unterschiedlichen Formen von Familien, von Verantwortungsgemeinschaften zu Ist es gerecht, dass Lebenspartner, die wie Eheleute ge- akzeptieren und dafür geeignete Rahmenbedingungen zu genseitig unterhaltspflichtig sind, nach dem Ableben ei- schaffen. Ziel von verantwortungsbewusster Politik ist nes Partners nur einen Erbschaftsteuerfreibetrag von es, dafür zu sorgen, dass jeder Mensch seinen eigenen 5 200 Euro geltend machen können? Ist es gerecht, dass Lebensentwurf frei und unabhängig leben kann. der Staat es nach dem Ableben des einen Partners in kei- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10727

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (A) ner Weise steuerrechtlich berücksichtigt, wenn ein Part- schaftsbesteuerung auch im Sinne des Urteils des Bun- (C) ner den anderen bei Krankheit und Gebrechen bis zum desverfassungsgerichts? Tode pflegt und für ihn sorgt und damit gleichzeitig die Solidargemeinschaft entlastet? (Michael Kauch [FDP]: Sie schlagen sich doch bei beiden Themen hinter die Büsche!) (Vorsitz: Vizepräsidentin ) Wenn Sie diese Frage ehrlich beantworten, dann bin ich Wir als FDP-Fraktion sagen: Nein. mir sicher, dass wir zu demselben Ergebnis kommen. Deshalb fordern wir mit unserem Gesetzentwurf zum Aber die Forderung, gleichgeschlechtliche Lebens- Erbschaftsteuerrecht gerade auch im Hinblick auf die partner erbschaftsteuerlich genauso zu behandeln wie Steuerklassen, die persönlichen Freibeträge, den beson- Ehegatten, ist zu kurz gesprungen. Mit der Union, der deren Versorgungsbeitrag und die vermögensrechtlichen CDU/CSU, ist das nicht zu machen. Auswirkungen die gleichen Regelungen wie bei Ehegat- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ten. Denn für die Union haben Ehe und Familie einen be- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Volker Beck sonderen Rang, der sich auch in einer besonderen recht- [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) lichen und steuerrechtlichen Privilegierung nieder- Ich sage deutlich: Das ist für uns ein Schritt zu weite- schlägt. ren notwendigen Änderungen. Gerade in Zeiten, in de- Durch das Inkrafttreten des Gesetzes über die einge- nen wir immer mehr die Vereinzelung von Menschen tragene Lebenspartnerschaft im Jahr 2001 ist in beobachten, ist die Stärkung von Verantwortungs- Deutschland ein rechtlicher Rahmen für gleichge- gemeinschaften ein wichtiges und bewusstes Zeichen schlechtliche Beziehungen geschaffen worden. des Staates an die Gesellschaft. Wir wollen heute mit un- serem Gesetzentwurf dazu beitragen. ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Und ihr wart dagegen!) Vielen Dank. Auf Wunsch kann ein gemeinsamer Familienname be- (Beifall bei der FDP) stimmt werden. Im Sozialrecht – dazu zählen unter ande- rem die gesetzliche Renten-, Kranken- und Pflegeversiche- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: rung – sowie im Ausländerrecht werden Lebenspartner Nächster Redner ist nun der Kollege Georg Fahren- genauso behandelt wie Eheleute. schon für die CDU/CSU-Fraktion. Bei einer Trennung kann ein Partner vom anderen (B) (Beifall bei der CDU/CSU) entsprechend der vorherrschenden Erwerbs- und Vermö- (D) genslage angemessenen Unterhalt verlangen. Auch beim Georg Fahrenschon (CDU/CSU): Erbrecht bestehen keine Unterschiede mehr. Wir als Union akzeptieren diese Entscheidung, obwohl wir da- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und mals mit guten Gründen dagegengestimmt haben. Herren! Liebe Frau Leutheusser-Schnarrenberger, ken- nen Sie das Gleichnis von Buridans Esel? In diesem Aber im Kern bleibt die CDU/CSU-Fraktion dabei: Gleichnis steht ein Esel genau in der Mitte von zwei Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz Heuhaufen. Weil er sich nicht entscheiden kann, von des Grundgesetzes und sind mit nichts vergleichbar. Das welchem Haufen er nun fressen soll, verhungert er jäm- Urteil des Bundesverfassungsgerichts gibt uns darin merlich. Recht. Wir werden sogar aufgefordert, die Privilegie- rung der Ehe entsprechend zu hinterlegen und keine Ab- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Was hat das mit striche daran vorzunehmen. der Großen Koalition zu tun?) (Beifall bei der CDU/CSU – Michael Kauch Bei der Erbschaftsteuer geht es Ihnen offensichtlich [FDP]: Das stimmt doch überhaupt nicht! Das genauso wie Buridans Esel: Sie wissen nicht, was Sie ist doch absurd!) wollen. Am vergangenen Wochenende haben Sie auf Ih- rem Parteitag beschlossen, den Ländern im Rahmen der – Das stimmt, lieber Herr Kollege. Denn das Bundesver- Föderalismuskommission II die komplette Gesetzge- fassungsgericht hat in seinem Urteil vom 17. Juli 2002 bungs- und Verwaltungskompetenz bei der Erbschaft- über die Verfassungsmäßigkeit des Lebenspartner- steuer zu übertragen. Keine Woche später fordern Sie schaftsgesetzes zwar die eingetragene Lebenspartner- jetzt schnell eine Gesetzesänderung für eine bundesein- schaft als zulässig neben dem Institut der Ehe anerkannt; heitliche Änderung des Erbschaftsteuer- und Schen- ausdrücklich wird jedoch darauf verwiesen, dass eine kungsteuergesetzes. Was wollen Sie denn jetzt eigent- eingetragene Lebenspartnerschaft keine Ehe ist, sondern lich? ein Aliud. Dieser Begriff bedeutet „ein anderes“. Es ist also nicht das Gleiche und schon gar nicht dasselbe. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wollen Sie jetzt eine Gesetzesänderung vornehmen, um dann im Rahmen der Föderalismusreform eventuell Deshalb widersprechen Sie mit Ihrem Gesetzentwurf wieder nachzusteuern, oder wollen Sie langfristig eine den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, da Sie mit vernünftige und tragfähige Lösung zur künftigen Erb- Ihrem Vorschlag die grundgesetzlich vorgesehene und 10728 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Georg Fahrenschon (A) auch begründete Privilegierung der Ehe komplett aushe- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) beln. NEN]: Sie haben nicht verstanden!) Aus diesem Grunde sind wir nicht mehr bereit, bei Ihrem Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Vorhaben mitzumachen. Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beck? Ich denke allerdings, das gesamte Hohe Haus begrüßt es, wenn sich Menschen dazu entschließen, füreinander einzustehen und einander Unterhalt zu gewähren – Georg Fahrenschon (CDU/CSU): gleich in welcher Lebensform das geschieht. Die Ehe Ja, gerne. – ich kann es nur noch einmal betonen – ist aber ein Wert für zwei Menschen, die auf Dauer füreinander ein- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): stehen wollen. Dieses Füreinander ist Grundlage jeder Ich will nur sichergehen, dass Sie das Urteil ganz ge- sozialen Gesellschaft. lesen haben, und fragen, ob Sie auch weitere Sätze des Urteils wie den folgenden zur Kenntnis genommen ha- Der Staat schützt daher in Art. 6 unseres deutschen ben: Grundgesetzes die Ehe und die Familie, weil er um die- sen speziellen hohen Wert weiß. Dieser hohe Wert Der besondere Schutz der Ehe in Art. 6 Abs. 1 GG kommt zum Beispiel im Ehegattensplitting zum Aus- hindert den Gesetzgeber nicht, für die gleichge- druck, aber auch in der erbschaftsteuerlichen Regelung. schlechtliche Lebenspartnerschaft Rechte und Pflichten vorzusehen, die denen der Ehe gleich oder Deshalb ist für CDU und CSU klar: Daran wollen wir nahe kommen. auch künftig nichts ändern. Das begründet das Bundesverfassungsgericht mit Herzlichen Dank. dem Aliud und sieht an dieser Stelle kein Problem des (Beifall bei der CDU/CSU) Abstandsgebots in Bezug auf die Ehe, weil das Lebens- partnerschaftsgesetz ein Aliud zur Ehe ist und insofern denklogisch nicht in Konkurrenz zur Ehe treten kann. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Denn die Lebenspartnerschaft bezieht sich auf einen an- Nun hat die Kollegin Dr. Barbara Höll für die Frak- deren Adressatenkreis, und deshalb wird die Gleichstel- tion Die Linke das Wort. lung vom Verfassungsgericht ausdrücklich für möglich (Beifall bei der LINKEN) gehalten. Beim Steuerrecht wird sie angedeutet und wo- möglich sogar für nötig gehalten. (B) Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! und bei der FDP) „Fremdgehen macht glücklich!“ – so der Titel eines Bu- ches, das Micha Schulze und Christian Scheuß zusam- Georg Fahrenschon (CDU/CSU): mengestellt haben. Lieber Herr Kollege Beck, ich gehe davon aus, dass In diesem Buch fand ich die Lebens- und Liebes- alle, die an der heutigen Debatte teilnehmen, das Urteil geschichte von Fritz und Josef. ganz gelesen haben und wir alle darauf verzichten, das gesamte Urteil vorzulesen. Im Kern bleibt die Problem- Am 1. August 2001, als auch in Köln alle Fernsehka- lage bestehen. Das Bundesverfassungsgericht hat uns meras schon abgebaut waren und die Presse schöne Bil- auch mit auf den Weg gegeben, dass wir aufgrund des der über die ersten „Homo-Trauungen“ hatte: besonderen Instituts der Ehe ihre Privilegierung sicher- Da erklommen, um kurz vor halb vier, zwei … ganz stellen müssen. in identisches Weiß gekleidete ältere Herren die (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Stufen zum Regierungspräsidium. Nach 46 Jahren NEN]: Wo finden Sie das im Urteil?) legalisierten Fritz Schäfer und Josef Fischer ihre „wilde“ und dabei sehr unkonventionelle „Ehe“. – Ich werde Ihnen das gerne zukommen lassen. Stellen Sie sich das bitte vor! Nach fast 50 Jahren ge- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE meinsam gelebten Lebens haben diese beiden Herren GRÜNEN]: Ich war bei der Urteilsverkündung nun endlich – spät, aber nicht zu spät – die Möglichkeit zugegen!) erhalten, in ihrem 71. und 69. Lebensjahr ihre Liebe Wir werden dann in Kontakt treten, und ich freue mich amtlich anerkennen und beglaubigen zu lassen. darauf, wie Sie in Ihrer Antwort darauf Bezug nehmen. An einem solchen Bild wird meines Erachtens deut- (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE lich, welch großen Schritt die Verabschiedung des Le- GRÜNEN]: Lesen reicht nicht! Verstehen!) benspartnerschaftsgesetzes 2001 bedeutete. Sie führte tatsächlich zu einer neuen Akzeptanz für schwul-lesbi- Im Kern bleiben wir dabei, Herr Kollege Beck: Wenn sches Leben. wir die gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften angleichen und genauso privilegieren wie die Ehe, dann Vergegenwärtigen wir uns noch einmal ein Stück bun- ist die Ehe nicht mehr besonders privilegiert. Das müs- desdeutscher Geschichte. Fritz Schäfer und Josef Fischer sen Sie anerkennen. lernten sich im Februar 1956 kennen und lieben. Davon Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10729

Dr. Barbara Höll (A) durfte zu dieser Zeit aber niemand erfahren. Es galten verleihen. Ich möchte im Namen meiner Fraktion die (C) immer noch die §§ 175 und 175 a, und zwar der §175 in Aktivistinnen und Aktivisten herzlich grüßen, die sich der durch die Faschisten verschärften Form. Coming-out aufgemacht haben, uns noch einmal ein bisschen voran- und unzüchtige Handlungen konnten zu Gefängnisstra- zutreiben. Man kann es nicht oft genug wiederholen: fen und sozialer Deklassierung führen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 17. Juli 2002 die Gleichstellung von Ehe und Le- Viele Menschen waren davon betroffen. Es dauerte bekanntermaßen sehr lange, bis Juni 1969, ehe im Rah- benspartnerschaft für mit dem Grundgesetz vereinbar er- men der Strafrechtsreform sexuelle Handlungen zwi- klärt. Wir, die Linke, positionieren uns mit unserem An- schen erwachsenen Männern straffrei gestellt wurden. trag eindeutig. Es ist notwendig, die Gleichstellung von Allerdings war das Schutzalter damals auf 21 Jahre fest- Ehe und Lebenspartnerschaft endlich zu vollziehen. gelegt, während es bei heterosexuellen Menschen bei Das betrifft das Einkommensteuerrecht, das Schenkung- 18 Jahren lag. und Erbschaftsteuerrecht, das Beamtenrecht, das Sozial- recht und das Adoptionsrecht. 1988 verschwand der Begriff Homosexuelle aus dem Strafgesetzbuch der DDR. Erst 1994 verabschiedeten Daraus ergibt sich, dass wir den Gesetzentwurf von wir hier im Bundestag die endgültige Streichung – nach Bündnis 90/Die Grünen unterstützen, der diese Forde- 123 Jahren. rungen detailliert unterlegt, bis auf das Adoptionsrecht. Von den Liberalen liegt uns der Entwurf eines Gesetzes Man muss natürlich auch sagen – das darf man nicht zur Änderung des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteu- vergessen –, dass viele Menschen, die während der Zeit ergesetzes vor. Das heißt, wir haben eine große Schnitt- des Faschismus mit rosa Winkel im KZ saßen und viel- menge. Wenn Sie sich die Postkartenaktion genau an- fach diskriminiert und verfolgt wurden, von der Wieder- schauen, dann stellen Sie fest, dass die Schwusos sowie gutmachung ausgeschlossen waren. 1957 schloss das die Lesben und Schwulen in der Union das unterstützen. Bundesentschädigungsgesetz Homosexuelle explizit von Alles zusammen haben wir in diesem Punkt eigentlich der Wiedergutmachung aus. Auch jetzt gibt es immer eine Mehrheit im Bundestag. noch keine materielle Wiedergutmachung. Als Fritz Schäfer und Josef Fischer 1975, nach (Beifall bei der LINKEN) 15 Jahren, das erste Mal tatsächlich in einer Wohnung Ich glaube, Menschen wie Fritz und Josef interessiert zusammenleben wollten, hatten sie bei der Anmietung die Koalitionsvereinbarung etwas weniger. Sie möchten noch mit etlichen rechtlichen Problemen zu kämpfen. vielmehr Klarheit in den Fragen, die sie betreffen. Das Nun sind sie verheiratet. Nein, sie sind nicht verheira- ist nur recht und billig. Ich bekenne, dass ich Fritz und (B) tet. Sie sind verpartnert. Fritz und Josef dürfen ihr Be- Josef nicht persönlich kenne, dass ihre Namen nicht ihre (D) kenntnis nun zwar öffentlich machen. Sie durften es richtigen sind. Ich denke, sie werden heute nicht aus amtlich besiegeln lassen, aber nicht ohne Wenn und Köln nach Berlin gekommen sein. Aber vielleicht ver- Aber. Sie dürfen dies nur zweiter Klasse. folgen sie die Debatte vor dem Fernseher. Beiden geht es gut. Sie werden sicherlich mit der heutigen Debatte Sehr ernüchtert haben sie festgestellt: Hoffnung schöpfen. Seien Sie versichert: Wir werden Was für uns relevant werden könnte, wäre das Aus- unser Möglichstes tun. kunftsrecht im Krankheitsfall oder die Möglichkeit, lebensverlängernde Geräte abzuschalten, wenn man Nehmen wir als Beispiel die konkreten Umstände, un- weiß, dass der andere das nicht wollte. ter denen die Lebenspartnerschaft vollzogen werden kann. Seit dem 1. August 2001 gibt es diese Möglich- Beide sind enttäuscht: keit. In Sachsen hat es hingegen bis zum Oktober 2005 Von der Homoehe hätten wir uns mehr erhofft. Du gedauert, bis eine Vereinbarung getroffen wurde, die er- bist zwar erbberechtigt, musst darauf aber Steuern laubt, dass die Zeremonie im Standesamt stattfindet. Ne- zahlen, als wärst du ein Fremder. benbei gesagt: In einzelnen sächsischen Kommunen muss man für die eingetragene Lebenspartnerschaft noch Warum stehen verpartnerten Menschen im Erbfall nur immer mehr Gebühren zahlen, als wenn man die Ehe- 5 200 Euro steuerfrei zu, während Ehegatten bis zu schließung vollzieht. Das ist doch nicht normal. Es ist 307 000 Euro steuerfrei zustehen? Warum wird Fritz notwendig, dass wir uns in diesen Punkten verständigen, oder Josef kein Versorgungsfreibetrag gewährt, während und zwar vorwärtsweisend. Ehegatten einen solchen bis zu einer Höhe von 256 000 Euro nutzen können? Auch der Freibetrag für Ich möchte darauf hinweisen, dass wir in unserem Hausrat und andere bewegliche Dinge ist bei verpartner- Antrag nicht nur die Gleichstellung von Ehe und Le- ten Menschen um 41 000 Euro niedriger als bei Ehegat- benspartnerschaft fordern, sondern dass wir darüber hi- ten. Das alles können Sie bei einer sehr schönen Post- nausgehen. Dies kann nur der erste notwendige Schritt kartenaktion nachlesen, getragen von verschiedenen sein. Wir müssen weitergehen. Wir müssen zu einer Ent- politischen Kräften, mit dem Titel „Keine halben Sa- privilegierung der Ehe kommen und ein Konzept erar- chen! Gleiche Liebe, gleiches Recht“. beiten, das neue Gestaltungsmöglichkeiten erlaubt und der Vielfalt der realen Lebensweisen Rechnung trägt. (Beifall bei der LINKEN) Ehe und Lebenspartnerschaft sind die öffentliche Doku- Vor dem Reichstag findet heute eine Demonstration mentation von Verantwortungsübernahme. Aber Verant- statt, um diesen berechtigten Forderungen Nachdruck zu wortung übernehmen auch andere Menschen. 10730 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Dr. Barbara Höll (A) Was ist zum Beispiel mit der alleinstehenden, kinder- Ich danke Ihnen. (C) losen Dame, die ein Zimmer an eine Studentin vermietet hat, woraus sich eine Wahlverwandtschaft entwickelt? (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Mi- Dieses Verhältnis kann dazu führen, dass die Studentin chael Kauch [FDP]) die ältere Dame im Alter pflegt. Sollen sie sich jetzt ver- partnern? Ziehen wir damit die Institution der Ehe und Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: die Lebenspartnerschaft nicht ein wenig in die Lächer- Für die Bundesregierung hat nun Frau Bundesminis- lichkeit? terin Brigitte Zypries das Wort. Was ist mit einem Bekannten von mir, der seit 20 Jahren in einer glücklichen Partnerschaft lebt? Seine Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: Gefährtin ist arbeitslos geworden und ist nun in Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Hartz IV. Sie haben geheiratet, weil sie es sich nicht an- Herren! Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal ders leisten können. Denn wenn sie nicht verheiratet wä- meinen herzlichen Dank an die Regie von Bundestags- ren, wäre sie nicht mitversichert und müsste den Kran- präsidium und Ältestenrat. Wir haben heute die Gelegen- kenversicherungsbeitrag extra zahlen. Kann es sein, dass heit, drei Gesetzentwürfe von drei Oppositionsparteien Menschen heiraten, um in den Genuss des Ehegatten- auf einmal zu behandeln. Daran können wir sehen, wie splittings zu kommen und um den Krankenkassenbeitrag sich die Opposition einen Wettlauf um die Gunst der Be- zu sparen? Nein, das kann nicht sein. troffenen liefert. (Beifall bei der LINKEN) Aber das ist nicht das, um was es geht. Es geht nicht darum, schöne Anträge zu schreiben, Dieses Durcheinander im Sozial- und Steuerrecht kann man nur aufheben, indem man die Menschen als (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Individuen innerhalb der Ehe und innerhalb der Lebens- NEN]: Das muss man einmal Müntefering er- partnerschaft mit eigenen Ansprüchen wahrnimmt und zählen nach den Erfahrungen der letzten Tage, dem auch Rechnung trägt. Einen konkreten Vorschlag wenn man von Wettlauf spricht!) machen wir in unserem Antrag zum Erbschaftsteuer- zumal nicht zu Gegenständen, die man hätte behandeln recht, über den wir bereits einmal diskutiert haben und können, als man selbst jahrelang an der Regierung war. auf den wir noch zurückkommen werden. Es geht vielmehr darum, etwas für die Menschen zu tun. Ich glaube, wir haben eine große Verantwortung, aber Was man da erreicht, zeigt sich im Bundesgesetzblatt auch die Möglichkeit, das Leben ein Stück fröhlicher zu und nirgendwo anders. gestalten, indem wir dafür sorgen, dass Menschen lieben (B) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (D) und leben können, wie sie es selbst bestimmen, dass sie Verantwortung übernehmen und sie dabei unterstützt Wir haben bei den Verhandlungen mit der Union im werden, unabhängig davon, ob sie verheiratet sind oder Koalitionsvertrag festgeschrieben: nicht. Unsere Gesellschaft ist toleranter geworden. Sie Zur Verdeutlichung, um was es geht, möchte ich mit nimmt auf Minderheiten Rücksicht. Sie akzeptiert dem Gedicht „Was es ist“ von Erich Fried schließen: unterschiedliche Lebensentwürfe. Unsere Rechts- politik wird diese Entwicklung weiter begleiten und Es ist Unsinn fördern. sagt die Vernunft Es ist was es ist Diese Verpflichtung aus dem Koalitionsvertrag nehmen sagt die Liebe wir – wie auch den gesamten Vertrag – sehr ernst. Es ist Unglück Wir haben mit dem Allgemeinen Gleichbehand- sagt die Berechnung lungsgesetz im vergangenen Jahr eindeutig festgestellt, Es ist nichts als Schmerz dass auch Diskriminierungen wegen der sexuellen Iden- sagt die Angst tität unzulässig sind. Das betrifft das Arbeitsrecht, aber Es ist aussichtslos auch die zivilrechtlichen Massengeschäfte und die pri- sagt die Einsicht. vatrechtlichen Versicherungen. Wir haben damit die ein- Es ist was es ist deutige Botschaft ausgesandt: Bei uns herrscht Chancen- sagt die Liebe gleichheit. Es ist lächerlich Diese Entscheidung der Koalition ist insbesondere ei- sagt der Stolz nem Koalitionspartner weiß Gott nicht leichtgefallen. Es ist leichtsinnig Aber wir haben sie getroffen. Ich habe mich gefreut, sagt die Vorsicht dass die Kollegin Granold in diesem Zusammenhang Es ist unmöglich konstatiert hat: Wir leben in einer Zeit, in der sich die sagt die Erfahrung Lebensentwürfe geändert haben. Sie begrüßt, wenn sich Es ist was es ist Menschen dazu entschließen, füreinander einzustehen. sagt die Liebe Dazu gehört dann auch, dass es eine Gesprächsbereit- Menschen sollten sich danach entscheiden können – schaft bei der Union, wenigstens in Teilen der Union, frei von Erwägungen im Steuer- oder im Sozialrecht. gibt, damit es im Steuer- und Beamtenrecht gegebenen- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10731

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) falls zu Verbesserungen für die Lebenspartnerschaften Standesamt für alle. Das Bundesrecht sieht vor, dass (C) kommen kann. Das hat ein bisschen auch mit den recht- Lebenspartnerschaften künftig genauso wie Ehen in al- lichen Voraussetzungen zu tun. Den Disput darüber ha- len Bundesländern vor dem Standesamt geschlossen ben wir eben hier verfolgen können. Das hat auch etwas werden. Es ist Sache der FDP, dafür zu sorgen, dass in damit zu tun, ob man bereit ist, einen Schritt weiterzuge- den Ländern, in denen sie mitregiert, nicht von diesem hen. Ich glaube, es ist wichtig, dass die Union sagt, dass Bundesrecht abgewichen wird. sie bereit ist, darüber zu reden (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE DIE GRÜNEN) GRÜNEN]: Bravo! Ist ja toll!) Das können die Länder nämlich nach der Föderalismus- und gegebenenfalls noch zu Ergebnissen zu kommen. reform. Das ist eine echte Aufgabe zur Verwirklichung Das ist besser, als hier Schaufensterreden zu Anträgen zu der Gleichbehandlung. Mit dieser Regelung des Perso- halten, von denen jeder weiß, dass es für sie aus nahelie- nenstandsrechts setzen wir das fort, was wir mit dem genden Gründen keine Mehrheiten gibt. Lebenspartnerschaftsrecht 2001 begonnen haben. Wir (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Sollen wir auf- schaffen ein solides rechtliches Fundament, um Lebens- hören, einen Antrag zu stellen, weil wir keine entwürfe zu verwirklichen und Diskriminierungen zu Mehrheit haben?) verhindern. – Nein. Aber es ergibt Sinn, dann Anträge zu stellen, Dieses solide Fundament muss man, so meine ich we- sehr verehrter Herr Westerwelle, wenn man sie durchset- nigstens, im Rahmen der Diskussion über das Adoptions- zen kann. – Frau Leutheusser-Schnarrenberger, Sie ha- recht erschaffen. Wir haben bereits die Stiefkindadop- ben vorhin kritisiert, dass man unter Rot-Grün nicht tion. Dagegen wird beim Bundesverfassungsgericht mehr machen konnte. Ich frage mich, was Sie für die geklagt. Deswegen, so glaube ich, kann auch im Hin- Gleichstellung von Schwulen und Lesben unter Schwarz- blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse so leicht Gelb gemacht haben. niemand sagen, dass man die Adoption von Kindern durch ein lesbisches oder schwules Paar generell erlau- (Beifall bei der SPD) ben sollte. Einer der Einwände besteht darin, dass die Er- Solange Sie in der Regierung waren, gab es keinen einzi- ziehungssituation so kompliziert ist. Deswegen haben gen Fortschritt. wir jetzt einen Forschungsauftrag erteilt, um wissen- schaftliche Erkenntnisse über die Situation in Regenbo- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ genfamilien zu gewinnen. Dieses Forschungsvorhaben DIE GRÜNEN) wird im Laufe der Legislaturperiode beendet sein. Ich hoffe sehr, dass wir dann eine rationale Debatte auf der (B) Was hier dargestellt wird, ist sehr an den Haaren herbei- (D) gezogen. Wenn man die Gelegenheit hat zu regieren, Grundlage der Ergebnisse dieser Forschung führen kön- sollte man sie nutzen. Denken Sie an die Vergangenheit. nen. Man muss schon konstatieren, dass es diesbezüglich keine einhellige Überzeugung gibt. Die Ansicht des (Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]: Herrn Bundespräsidenten, der gesagt hat, dass die Vor- Diese Erkenntnis kommt Ihnen früh!) bereitung der Kinder auf das Leben auch in Familien von Homosexuellen gelingen kann, wird weiß Gott noch Wir setzen uns – ich als Vertreterin des Justizbereichs nicht von allen Menschen geteilt. ganz besonders – beim Steuer- und beim Beamten- recht konsequent für die Gleichstellung von Lebenspart- Das europäische Übereinkommen über die Adop- nerschaften ein. Es ist ein besonderes Ärgernis – das tion von Kindern haben wir inzwischen geändert. Das sehe ich ganz genauso –, dass Lebenspartner zwar ein heißt, die rechtlichen Voraussetzungen für eine Adoption gesetzliches Erbrecht und ein gesetzliches Pflichtteils- durch Lesben und Schwule sind inzwischen auf interna- recht haben, dass sie steuerrechtlich im Erbfall aber als tionaler Ebene gegeben. Dieses Übereinkommen muss Fremde behandelt werden. Es ist auch wenig konsequent, jetzt von Deutschland gezeichnet und ratifiziert werden. dass wir die Lebenspartner zwar in die Hinterbliebenen- versorgung in der gesetzlichen Rentenversicherung ein- Dieses letzte Beispiel zeigt, wie weit wir bei der bezogen haben, nicht aber in die Beamtenversorgung. rechtlichen Gleichstellung von schwulen und lesbischen Menschen schon gekommen sind. Es bedarf, so meine (Beifall des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜND- wenigstens ich, keiner symbolischen Debatte mehr, um NIS 90/DIE GRÜNEN]) Tabus zu brechen oder um Weckrufe hören zu lassen. Deswegen teile ich die Einschätzung, dass wir den Weg, Wir sind längst bei der gesetzgeberischen Kärrnerarbeit den wir mit der Einführung der eingetragenen Lebens- angekommen. Das wird sich bei der anstehenden De- partnerschaft beschritten haben, konsequent weitergehen batte über das Erbschaftsteuerrecht bald wieder zeigen. sollten. Ich persönlich werde mich dafür einsetzen, dass wir auch da an der rechtlichen Gleichstellung schwuler und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lesbischer Menschen weiterarbeiten. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD) Es ist nicht so, dass wir in dieser Legislaturperiode neben dem AGG keine weiteren Erfolge erzielt hätten. Wir haben beispielsweise mit der Reform des Personen- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: standsrechts, die wir im Dezember 2006 verabschiedet Nächster Redner ist nun der Kollege Volker Beck für haben, eine alte Forderung endlich verwirklicht: Das die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. 10732 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) (Iris Gleicke [SPD]: Aber bitte nur im Rahmen derlanden, in Kanada und Südafrika können homo- (C) der Geschäftsordnung!) sexuelle Paare sogar die Ehe schließen und müssen nicht auf ein Ersatzinstitut, ein Aliud, zurückgreifen. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir wären schon froh, wenn sich hier im Hohen Haus Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau eine Mehrheit – eigentlich gibt es sie – für die Abschaf- Ministerin, Sie haben zu Recht das Allgemeine Gleich- fung der Benachteiligung auf den verschiedenen Rechts- behandlungsgesetz erwähnt, in dem vom Bürger verlangt gebieten fände. Wir haben mit unserem Lebenspartner- wird, im Rechtsgeschäft niemanden aufgrund seiner schaftsgesetzergänzungsgesetz ein Gesetz vorgelegt, sexuellen Identität und anderer Kriterien zu benachteili- durch das all diese Rechtsfragen minutiös abgearbeitet gen. Wir haben dieses Gesetz zu Recht so ausgestaltet. werden. Frau Ministerin, da braucht man nicht mehr viel Ein Gesetzgeber, der solche Gesetze macht, muss sich Kärrnerarbeit zu leisten. Man muss nur sein Herz über auch selber an diese Vorgaben halten, und darum geht es die Hürde werfen. Wenn Sie es mit der CDU/CSU nicht heute beim Lebenspartnerschaftsgesetzergänzungsge- zustande bringen, dann treten Sie dafür ein, dass die Ab- setz. stimmung in der Koalition freigegeben wird. Ich bin si- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) cher, dass viele Kolleginnen und Kollegen der Union bei uns wären. Wir haben 2001 mit der Verabschiedung des Lebens- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) partnerschaftsgesetzes einen großen gesellschaftlichen Erfolg für die lesbischen und schwulen Paare erreicht. Herr Kollege Fahrenschon, was Sie vorhin zu Art. 6 Das war eine symbolische Aktion der Integration dieser Abs. 1 des Grundgesetzes gesagt haben, war die alte Minderheit in die Gesellschaft. Wir haben ganz viele Leier der Union. Dasselbe haben Sie uns vor der Verab- rechtliche Probleme praktisch gelöst. Ich erinnere in die- schiedung des Lebenspartnerschaftsgesetzes erzählt. Da- sem Zusammenhang an die Probleme binationaler Le- mals haben Sie gesagt, unser Gesetz sei verfassungswid- bensgemeinschaften, die ihre Liebe daraufhin überhaupt rig. erst leben konnten. In der zweiten rot-grünen Wahl- periode haben wir dieses Gesetz mit Blick auf die Ren- (Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: Was vorher tenversicherung und die Krankenversicherung im zu- richtig war, ist auch jetzt richtig!) stimmungsfreien Bereich verbessert. Außerdem haben Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt, dass Sie un- wir eine Regelung zur Stiefkindadoption eingeführt. Bei recht haben: There is no Abstandsgebot. sämtlichen zustimmungspflichtigen Fragen – Beamten- recht und Steuerrecht – haben wir nichts zustande ge- Es gibt keinen Grund, die Lebenspartnerschaften schlechter zu stellen als die Ehe, (B) bracht. (D) Das, was wir für die Ehe im Erbschaftsteuerrecht, im (Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: Offensicht- Einkommensteuerrecht, aber auch bei der Beamtenver- lich haben Sie das Urteil nicht ganz gelesen!) sorgung bezüglich Hinterbliebenenversorgung und Bei- weil sie zwei verschiedene Adressatenkreise haben und hilfeberechtigung des Lebenspartners vorsehen, ist eine weil die Rechtsfolgen, um die es hier geht, Ausfluss des Rechtsfolge der ehelichen Unterhaltsverpflichtung. Wir ehelichen bzw. partnerschaftlichen Unterhaltsrechts können nicht sagen: Da, wo es uns passt, bei der Sozial- sind. hilfe, beim Unterhaltsrecht, nehmen wir die Unterhalts- verpflichtung zur Kenntnis, und zwar zulasten der Le- (Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: Offensichtlich bensgemeinschaften; aber da, wo es ihnen einmal zugute haben Sie das Urteil nicht ganz gelesen!) kommt, wo ein Ausgleich für die gesetzliche Verantwor- Sie müssen also schon sagen, dass Sie Schwule und Les- tungsübernahme vorgesehen ist, schauen die Betroffenen ben diskriminieren wollen. gänzlich in die Röhre. Das ist nicht fair. (Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: Nein, wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wollen die Ehe privilegieren!) sowie des Abg. Michael Kauch [FDP]) Aber verstecken Sie sich bitte nicht hinter Art. 6 Abs. 1 Nur wer nach der Übernahme bestimmter Pflichten Grundgesetz. gleiche Rechte hat, wird wirklich gleich behandelt. Der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gesetzgeber hat sich in einen Widerspruch zu seinem sowie bei Abgeordneten der SPD – Georg gesetzgeberischen Programm begeben, das er sich mit Fahrenschon [CDU/CSU]: Sagen Sie mir, wie der Verabschiedung des Allgemeinen Gleichbehand- Sie die Ehe privilegieren wollen!) lungsgesetzes zu Recht zu eigen gemacht hat. Die Konservativen haben das Urteil nicht zu Ende ge- Von 2001 bis 2005 gab es ständig Fortschritte bei der lesen. Genauso wenig gelingt es ihnen in der Regel, den Gesetzgebung für gleichgeschlechtliche Lebensgemein- Art. 6 zu Ende zu lesen. Der hat nämlich noch einen schaften. 2001 war Deutschland noch Vorreiter in Eu- Absatz 5, und darin geht es um die Gleichberechtigung ropa bei der rechtlichen Anerkennung der Lebensge- von ehelichen und, wie man 1949 formulierte, „uneheli- meinschaften. Deutschland war das erste große EU- chen“ Kindern. Das ist ein Auftrag an den Gesetzgeber. Land, das ein solches Gesetz auf den Weg gebracht hat. Heute haben uns viele Länder überholt, zum Beispiel Auch in den Lebenspartnerschaften leben Kinder. – als letztes Land – Tschechien. In Spanien, in den Nie- Wenn Sie diese Familien steuerrechtlich benachteiligen, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10733

Volker Beck (Köln) (A) beeinträchtigen Sie auch die Lebenschancen der Kinder, In der Gesellschaft sind diese Fragen durch. Sie miss- (C) die in diesen Lebensgemeinschaften leben. Deshalb rate brauchen Ihre Position in der Großen Koalition faktisch ich Ihnen, bald gesetzgeberisch zu handeln, bevor Ihnen dazu, den Fortschritt in dieser Frage zu blockieren. Aber Karlsruhe das erneut aufgibt. Sie haben kürzlich mit Ih- die Lesben und Schwulen in Ihrer eigenen Partei, in der rer Unterhaltsrechtsnovelle hier im Hohen Hause Schiff- Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, in der libera- bruch erlitten, weil Sie bei der Rangfolge nichteheliche len Partei, in der grünen Partei und in der Linkspartei Kinder erneut schlechter behandeln wollten als eheliche. sind sich einig: Sie wollen gleiche Rechte, sie wollen die steuerrechtliche Gleichstellung, und sie wollen, dass mit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Diskriminierung Schluss gemacht wird. Deshalb gab sowie bei Abgeordneten der SPD – Zurufe von es heute vor dem Reichstag eine Allparteienallianz. der CDU/CSU: Das stimmt gar nicht!) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Fürs Blutspen- Das sieht das Grundgesetz nicht vor. Die von der Ehe ge- den!) prägte Familie ist nur eine der möglichen Familienfor- men. Unser Verfassungsgericht musste Sie immer dazu Sozusagen draußen vor dem Bundestag ist sie möglich. treiben – so bei der Kindschaftsrechtsreform, jetzt bei Es wäre schön, wenn sie auch hier möglich wäre. der Unterhaltsrechtsreform –, auch die verfassungsrecht- Ich will Ihnen das einmal zeigen – mit Erlaubnis der lichen Vorgaben zugunsten der Kinder, die nicht die kon- Präsidentin selbstverständlich –: Auf dem Plakat steht servative Ideologie widerspiegeln, zu beachten. „Keine halben Sachen“. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Zuruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]) Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da ist der Herr Seehofer auf unse- Es ist unterschrieben vom Lesben- und Schwulenver- rer Seite!) band, vom FDP-Bundesverband, vom grünen Bundes- verband, von den schwulen Sozialdemokraten, von den Dass Konservativismus auch anders geht als in der Lesben und Schwulen in der Union und von der Arbeits- CDU/CSU, erkennt man, wenn man ins Nachbarland gruppe „Queer“ der Linkspartei. So viel Einigkeit ist Frankreich schaut. Herr Sarkozy und Ségolène Royal möglich – außerhalb des Hauses. Lassen Sie uns dafür hatten einen Disput über die Frage: Was machen wir mit sorgen, dass zur Beseitigung von Diskriminierung dieser den gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften? Frau Menschen auch hier im Bundestag endlich etwas getan Royal hat gesagt, sie wolle die Ehe für sie öffnen. Herr wird! Der jetzige Rechtszustand ist einfach nicht zu hal- Sarkozy hat versprochen, ein Gesetz auf den Weg zu ten. bringen, das einen anderen Namen für das Rechtsinstitut Wir werden über das Erbschaftsteuerrecht reden. (B) vorsieht, aber rechtlich identische Inhalte hat. Lassen Sie (D) sich einmal von Ihrer französischen Bruderpartei bera- Haben Sie sich einmal überlegt, was das in realen Le- ten! Vielleicht hilft das bei den Gesprächen, die Sie mit benssituationen bedeutet? Da hat sich ein schwules oder der Justizministerin führen. lesbisches Paar eine Eigentumswohnung zusammenge- spart. Dann stirbt einer vor dem anderen, was im Leben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) vorkommt. Auf einmal gehört ein ganz großer Teil die- Was im Entwurf Ihres neuen Grundsatzprogramms zu ser Eigentumswohnung nicht etwa der buckligen Ver- diesen Fragen steht, zeigt das ganze Dilemma Ihrer ideo- wandtschaft – erbberechtigt ist der Partner ja –, sondern logischen Position auf. Darin heißt es: dem Finanzamt. Da müssen die Leute ihre Wohnung ver- kaufen und verlassen, weil das Erbschaftsteuerrecht sie Wir werben für Toleranz und wenden uns gegen benachteiligt. Ein Ehepaar hat in dieser Situation einen jede Form von Diskriminierung. Steuerfreibetrag in Höhe von 563 000 Euro; so viel muss (Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: Das ist man erst einmal haben. Die Lebenspartner haben gerade nicht falsch!) einmal einen Steuerfreibetrag in Höhe von 5 200 Euro. Dann kommt der höchste Steuersatz zur Anwendung, Eine Gleichstellung mit der Ehe zwischen Mann den wir im Erbschaftsteuerrecht kennen. Das ist einfach und Frau als Kern der Familie lehnen wir jedoch nicht fair. Das ist Enteignung von Staats wegen. So et- ebenso ab wie ein Adoptionsrecht für Homosexu- was dürften Sie als christlich-demokratische Partei ei- elle. gentlich nicht weiter zulassen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: Da haben und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Sie recht! Danke schön!) der FDP) Ja, was denn nun? Sie können nicht einerseits sagen, – Das gefällt selbst dem Herrn Westerwelle. wir sind gegen Diskriminierung, und andererseits sagen, Schwule und Lesben wollen wir diskriminieren. Alles Wir allerdings sagen, wir wollen Gleichberechtigung andere als Gleichberechtigung ist erneute Diskriminie- bei der Erbschaftsteuer schaffen, aber die Erbschaft- rung. steuer durchaus belassen und auch größere Erbschaften etwas stärker belasten. Das ist aber ein anderes Thema (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – als die Frage: Darf man im Erbschaftsteuerrecht be- Widerspruch des Abg. Georg Fahrenschon stimmte Gruppen dauerhaft anders behandeln bzw. be- [CDU/CSU]) nachteiligen? Diese Benachteiligung ist nicht fair. Sie 10734 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Volker Beck (Köln) (A) kann keinen Bestand haben. Deshalb fordere ich Sie, Wir tragen insbesondere nach wie vor nicht mit, dass im (C) liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, auf: Re- Gesetz die Möglichkeit zur Stiefkindadoption festge- den Sie ernsthaft mit uns in den Ausschüssen über diese schrieben wurde; aber wir müssen das notgedrungen so Frage, und überlegen Sie sich einmal, was jenseits des hinnehmen. Alle weiteren Ansätze, die darüber hinaus- Vorurteils ein vortragbarer Grund für die Aufrechterhal- gehen und die insbesondere dazu führen, dass es keiner- tung des jetzigen Rechtszustandes wäre. lei Unterschied mehr zwischen Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft geben soll, halten wir für gesell- (Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: Eheprivile- schaftspolitisch verfehlt und außerdem für verfassungs- gierung!) widrig. – Ich glaube, dass Sie intelligent genug sind, Herr Kol- (Beifall bei der CDU/CSU) lege, um festzustellen, dass es einen solchen Grund für die Beibehaltung der jetzigen Rechtslage einfach nicht Werfen wir trotzdem einen kurzen Blick auf den An- mehr gibt. trag und die zwei Gesetzentwürfe, die vorliegen. Die Da- men und Herren der Linken schreiben in ihrem Antrag, Machen Sie deshalb den Weg frei – notfalls durch sie fänden zwar die eingetragene Lebenspartnerschaft Freigabe des Abstimmungsverhaltens in der Koalition –, ganz prima, meinen aber, sie sei nun doch der Ehe wie- damit sich die gesellschaftliche Mehrheit, die auch im der zu ähnlich, um wirklich gut zu sein. Das verstehe ich Parlament vorhanden ist, endlich zugunsten der Betrof- intellektuell nicht. Vielleicht entscheiden Sie sich, ob Sie fenen durchsetzen kann. nun eine Angleichung wollen oder nicht, ob Sie etwas (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie ganz anderes wollen oder was auch immer. Aber wahr- bei Abgeordneten der LINKEN) scheinlich verfahren Sie auch hier nach dem bei Ihnen üblichen Motto: Alles kann, aber nichts muss. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Sie müssen Nun hat das Wort die Kollegin Daniela Raab für die einfach nur zuhören!) CDU/CSU-Fraktion. Liest man dann weiter, stößt man auf die schier weg- (Beifall bei der CDU/CSU) weisende Feststellung, dass die eingetragene Lebens- partnerschaft der Lebensweise von zum Beispiel Singles Daniela Raab (CDU/CSU): nicht gerecht werde. Wer hätte jetzt das gedacht? Das ist Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- sehr interessant. Vielleicht überarbeiten Sie Ihren An- gen! Ich möchte mich gar nicht bemühen, nachzuzählen, trag, um logische Brüche zu vermeiden. Dann können (B) wie oft wir wegen dieser Thematik nun schon hier zu- wir noch einmal darüber reden. Jedes weitere Wort an (D) sammengekommen sind. Um es gleich vorwegzu- dieser Stelle wäre, mit Verlaub, Zeitverschwendung. schicken – das dürfte keinem neu sein; ich sage es auch Die Grünen haben den weitestgehenden Gesetzent- ausdrücklich in Richtung unserer Bundesjustizministerin –: wurf vorgelegt. Es war nicht anders zu erwarten, Das Vorgehen nach dem Motto „Steter Tropfen höhlt den Stein“ funktioniert bei dieser Thematik mit der Union si- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- cher nicht. Ein noch Mehr an Gleichstellung zwischen NEN]: Danke für das Kompliment! Endlich Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft wird es mit haben Sie es gemerkt!) uns nicht geben. dass er mich logischerweise nicht überzeugt. Er ist aber (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Guido Wes- zumindest erheblich intelligenter formuliert als der An- terwelle [FDP]: Das warten wir einmal ab!) trag der Linken. Und der FDP geht es nur um die Erb- schaft- und Schenkungsteuer. Wir akzeptieren die bisherige Gesetzgebung dazu, mehr aber auch nicht. (Zuruf der Abg. Renate Künast [BÜND- Wir wollen auch eines nicht verkennen – der Kollege NIS 90/DIE GRÜNEN]) Fahrenschon hat es, wie ich finde, schon sehr ausführlich – Bitte, gerne. Wenn Sie weitere Beratung brauchen, dargestellt –: Es hat sich einiges getan. Am 1. Januar stehe ich zur Verfügung. 2005 trat das schon viel zitierte Gesetz zur Überarbei- tung des Lebenspartnerschaftsrechts in Kraft. Seither ha- Lassen Sie mich aber noch einen Punkt herausgreifen, ben wir die weitgehende Anwendung des ehelichen Gü- der für uns von ungeheurer Wichtigkeit ist. Die Union ter- und Unterhaltsrechts auf die Lebenspartnerschaft, hat sich schon in der letzten Legislaturperiode klar gegen die Einführung des Versorgungsausgleichs, die Einbezie- die Stiefkindadoption ausgesprochen. Ein noch weiter- hung der Lebenspartner in die Hinterbliebenenversor- gehendes Adoptionsrecht für homosexuelle Paare gung sowie die Möglichkeit zur Stiefkindadoption. Zu kommt für uns definitiv nicht infrage. Letzterer liegt – Gott sei Dank, möchte ich sagen – ein (Beifall bei der CDU/CSU) Normenkontrollantrag des Freistaates Bayern beim Bun- desverfassungsgericht vor. Wir werden noch sehen, wie Das Wohl des Kindes – es geht nicht um das Wohl ei- das Gericht da entscheidet. nes schwulen oder lesbischen Paares, sondern einzig und allein um das Wohl des Kindes – Also noch einmal: Es hat sich viel getan. Wir als Union haben diese Entwicklungen nicht mitgetragen. (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10735

Daniela Raab (A) ist für uns in dieser Konstellation in keiner Weise ge- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE (C) währleistet. GRÜNEN]: Aber das ist die Sicht der Union und nicht die Sicht des Verfassungsgerichts! Daneben – Herr Beck, Sie werden sicherlich gleich Daran werden Sie sich gewöhnen müssen!) versuchen, Urteilsstellen zu finden – gibt es Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz, der Ehe und Familie nach wie vor So hat es im Übrigen auch ein nicht ganz unwesentli- in unveränderter Weise unter den besonderen Schutz der cher Verfassungsrichter namens Papier in seiner beacht- staatlichen Ordnung stellt. lich abweichenden Meinung zum damaligen Urteil gese- hen. Ich meine, diese abweichende Meinung, Herr Beck, (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE können auch Sie nicht ganz ignorieren. GRÜNEN]: Der aber unter Ehe und Familie etwas anderes versteht als Sie!) Die Begründung für diesen besonderen Schutz der Ehe liegt doch schlicht und ergreifend auf der Hand, Diese Verfassungsbestimmung enthält nach ständiger auch wenn Sie es nicht gerne hören: Der Verfassungsge- Rechtsprechung sowohl ein Grundrecht auf Schutz vor ber hat die Ehe deshalb unter eine besondere Schutz- Eingriffen des Staates in die Ehe als auch eine Instituts- norm gefasst, weil eine Ehe zwischen Mann und Frau garantie der Ehe und – das ist für uns ganz wichtig – eine zumindest die potenzielle Möglichkeit bietet, Kinder zu wertentscheidende Grundsatznorm. Dem fühlen wir uns bekommen. Allein aufgrund dieser von der Natur gege- als Union verpflichtet. benen Voraussetzung ist die Ehe exklusiv und deswegen Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom Gesetzgeber zu privilegieren. So einfach ist das. vom Juli 2002 zwar entschieden, dass das damalige Le- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE benspartnerschaftsgesetz verfassungsgemäß sei. Es hat GRÜNEN]: So einfach machen Sie es sich! Es aber auch deutlich gemacht – der Kollege Fahrenschon ist lange nicht so einfach!) hat es, wie ich finde, in richtiger Art und Weise betont –: Lebenspartnerschaft ist nicht gleich Ehe. Kurzum: Wir halten uneingeschränkt am Abstandsge- bot zwischen Ehe und allen weiteren Lebensformen fest. (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig! – Vol- Wir akzeptieren und schätzen andere Lebensformen und ker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Lebensentwürfe, aber Gleichmacherei in dieser so ent- NEN]: Das hat auch keiner behauptet!) scheidenden gesellschaftspolitischen Frage wollen wir Es ist etwas anderes. Deswegen ist auch die andere definitiv nicht. gesetzgeberische Behandlung der Ehe und Lebenspart- Vielen Dank. nerschaft gerechtfertigt. (B) (Beifall bei der CDU/CSU) (D) (Beifall bei der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat aber Karlsruhe wiederum nicht gefordert! Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Dafür werden Sie keine Stelle finden!) Das Wort hat nun der Kollege Michael Kauch für die FDP-Fraktion. – An keiner Stelle des Urteils, Herr Beck, findet sich die Aufforderung des Verfassungsgerichts an den Gesetzge- (Beifall bei der FDP) ber, eine völlige Angleichung dieser beiden Lebensfor- men herbeizuführen. Michael Kauch (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man kann (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE die Inhalte der Reden der beiden Unionsabgeordneten GRÜNEN]: Haben Sie gelesen, was die zur wie folgt zusammenfassen: jung an Jahren, aber alt im Einkommensteuer gesagt haben?) Denken. – Ich habe alles gelesen, Herr Beck, ich bin dessen (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ mächtig. – Vielmehr hat die Senatsmehrheit erklärt, dass DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der es Aufgabe des Staates ist, einerseits alles zu unterlas- SPD und der LINKEN) sen, was die Ehe schädigt, und sie andererseits in geeig- neter Weise zu fördern. Sagen Sie mir doch einmal, wie Ich finde es sehr bemerkenswert, dass bisher nur Abge- Sie in Zukunft, wenn Sie alles gleichstellen wollen, die ordnete der CSU gesprochen haben Ehe besonders privilegieren und fördern wollen! (Zuruf von der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU – Georg Fahren- schon [CDU/CSU]: Fehlanzeige, Herr Beck!) – ich weiß, da kommt gleich noch einer – und dass die Rechtspolitiker, die für dieses Thema eigentlich zustän- Aber darauf warten wir bei Ihnen lange. dig sind, nämlich Frau Granold und Herr Gehb, heute lieber gleich fehlen. Die Union im Norden dieser Repu- Die Ehe ist also etwas Besonderes und deswegen et- blik wundert sich wahrscheinlich gerade, welches Ge- was besonders Schützenswertes. Wenn man nun etwas sellschaftsbild hier als Position der Union insgesamt ver- schafft, das einen anderen Namen trägt, aber exakt die breitet wird. In Hamburg werden Sie mit den Positionen, gleichen Rechte und Strukturen aufweist, dann ent- die Sie hier vortragen, keine Wahlen gewinnen können. spricht das aus Sicht der Union nicht den verfassungs- rechtlichen Vorgaben. (Beifall bei der FDP) 10736 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Michael Kauch (A) Es gibt in diesen Minuten eine Aktion des Lesben- dig. Eine Partei, die sich dem Anstand verpflichtet fühlt, (C) und Schwulenverbandes vor dem Bundestag; der Kol- sollte das erkennen. lege Beck hat darauf hingewiesen. Der Bundesverband (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der FDP unterstützt diese Aktion. Ich versichere Ihnen, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNIS- es gibt nicht nur grüne, sondern auch gelbe Plakate. SES 90/DIE GRÜNEN) Ich möchte an dieser Stelle Herrn Kauder eine kleine Auch in der Hinterbliebenenversorgung kommt es Information mit auf den Weg geben. Sie haben gesagt, zu absurden Situationen. Wenn der verstorbene Lebens- die sollten lieber Blut spenden. Ich weise Sie darauf hin, partner Mitglied in der gesetzlichen Rentenversicherung dass das in dieser Republik verboten ist. Das Gesund- war, dann gibt es eine Hinterbliebenenrente. Wenn er heitsministerium hat eine Richtlinie herausgegeben, aber Bundesbeamter war, dann gibt es nichts. Jetzt nach der Schwule kein Blut spenden dürfen. Auch das könnte man denken, das habe wieder die Union oder der können wir gerne einmal politisch besprechen. Bundesrat beschlossen; aber nein, es war der SPD-In- (Beifall bei der FDP) nenminister , der in der letzten Wahlperiode eine Angleichung dieses Rechts verhindert hat. Deshalb Herr Fahrenschon hat die Frage der Erbschaftsteuer- muss sich auch die SPD fragen, was sie in der letzten beschlüsse unseres Parteitages angesprochen. In der Tat, Wahlperiode gemacht hat. der Parteitag hat die Forderung beschlossen, dass die Gesetzgebungskompetenz auf die Länder übergeht. Ich (Beifall bei der FDP – Lachen bei der SPD) habe bisher nicht erkannt, dass die Union dieser Forde- Es gibt immer noch kein gemeinsames Adoptions- rung, die eine Zweidrittelmehrheit benötigt, zustimmt. recht. Sie können zwar sagen, eine Adoption von Kin- Wenn das ein Angebot war, freuen wir uns darüber. Aber dern durch schwule oder lesbische Paare schade dem unabhängig davon werden Sie im Herbst noch die Ge- Kindeswohl. Aber ich würde Ihnen, Frau Raab, einmal setzgebungskompetenz im Bundestag haben. Sie werden empfehlen: Schauen Sie in die einschlägigen erziehungs- eine Erbschaftsteuerreform beschließen. Die Frage ist, wissenschaftlichen Studien. Sehen Sie sich die Evaluie- mit welchen Inhalten. Vielleicht können Sie über den rung der Programme an, die es seit vielen Jahren ermög- Baustein, den wir Ihnen diesbezüglich heute vorschla- lichen, dass schwule und lesbische Paare hier in Berlin gen, noch einmal nachdenken. Pflegeeltern sein können. Sie werden feststellen: Das hat (Beifall bei der FDP) den Kindern nie geschadet.

Am Wochenende ist der Christopher Street Day in Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Berlin, und viele weitere in der Republik werden folgen. Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des (B) Überall werden die Vertreter der Regierung und der Koa- (D) Kollegen Beck? lition heucheln, wie sehr sie die Anliegen der Schwulen und Lesben unterstützen. Doch die Wahrheit sehen wir heute, insbesondere vonseiten der Union. Michael Kauch (FDP): Ja. Es wurde schon viel über die ungleiche Verteilung der Pflichten und Rechte gesagt. Am ungerechtesten – des- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): halb bringen wir das heute hier auf den Tisch – ist die Situation im Erbschaftsteuerrecht. Das Erbrecht Herr Kollege Kauch, ich bin ja bekanntermaßen nicht – Pflichtteil und gesetzliche Erbfolge – ist gleich. Bei der der engste Freund von Otto Schily gewesen. Erbschaftsteuer hingegen bekommen Ehegatten gegen- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- über eingetragenen Lebenspartnern den 59-fachen Frei- NEN]: Bravo!) betrag. Selbst wenn Sie der Meinung sind, es müsse ei- nen Unterschied geben, muss dieser aber nicht 59-fach – Das halte auch ich eher für ein Kompliment. – Aber sein. Das ist ungerecht. Ehre, wem Ehre gebührt. In diesem Fall gebührt ihm diese Ehre nicht. Noch dreister: Der Staat kassiert weniger Erbschaft- Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass das in steuer, wenn ich etwas von meiner Tante erbe, als wenn den Jahren 2000 und 2001 geplante Lebenspartner- ich etwas von meinem eingetragenen Lebenspartner schaftsergänzungsgesetz, das auch im Bundesrat beraten erbe, mit dem ich mein Leben verbracht habe. Wenn ich wurde, diese rechtlichen Folgen beinhaltete und es leider meinen Lebenspartner bis zum Tode gepflegt habe, die mit von der FDP regierten Länder waren, die dieses werde ich bei der Erbschaftsteuer wie ein Fremder be- Gesetz gemeinsam mit CDU- bzw. CSU-regierten Län- handelt. Der Kollege Beck hat ausgeführt, was das be- dern verhindert haben? deutet. Es ist eine ganz existenzielle Frage für die Men- schen: Können sie beispielsweise in der Wohnung, die (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sie gemeinsam angeschafft haben, wohnen bleiben? NEN]: Das ist ja jetzt peinlich!) Wenn wir ein Recht haben, das dazu führt, dass je- Dies gilt übrigens auch für das sozial-liberal regierte mand nach dem Tod seines Lebenspartners aus der Woh- Rheinland-Pfalz. Dies hat also nicht an der SPD gelegen, nung herausmuss, nachdem das Paar über Jahrzehnte zu- sondern eher an konservativen Kräften in Ihrer Partei. sammengelebt hat und der eine den anderen in guten und Ich finde, man sollte auch in solch einer Debatte der in schlechten Tagen begleitet hat, dann ist das unanstän- Wahrheit die Ehre geben. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10737

Volker Beck (Köln) (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN halb haben wir die Erbschaftsteuer, die das größte Un- (C) sowie bei Abgeordneten der SPD – Renate recht darstellt, in den Mittelpunkt gestellt. Es ist eine Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frage des Anstands von Politik, den Menschen, die Ver- Mann, Mann, die Bürgerrechtspartei FDP! antwortung füreinander übernehmen, auch die Fairness Wieder schiefgegangen!) zu gewähren, die sie verdienen. Unbeschadet des jetzigen Gesetzentwurfes gilt für Michael Kauch (FDP): uns Liberale: Wer gleiche Pflichten hat, muss auch glei- Frau Künast, Sie können zetern, wie Sie wollen; aber che Rechte haben. Das ist und bleibt unser Ziel bei den wir werden die historischen Fakten schon auf den Tisch Steuern, beim Beamtenrecht und beim Adoptionsrecht. legen. Vielen Dank. Die Situation ist inzwischen eine andere. Es gibt das Verfassungsgerichtsurteil, das Sie angeführt haben. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Bleiben Sie ruhig stehen, Herr Beck!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: – Ich beantworte gerade Ihre Frage, Herr Beck. Nächster Redner ist der Kollege Florian Pronold für (Florian Pronold [SPD]: Sie weichen gerade die SPD-Fraktion. der Frage aus!) – Herr Pronold, möchten Sie vielleicht zuhören? Florian Pronold (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Tut er nie!) Kollegen! Herr Kauch, ich glaube, Sie haben gezeigt, Sie haben die entsprechende Entscheidung des Bun- worum es in dieser Debatte geht. Es geht darum, die Ta- desverfassungsgerichts angeführt. Seitdem ist die ten der Länder, in denen man mitregiert, vergessen zu Rechtslage klar. 2001 war sie noch nicht klar. Die FDP machen, indem man einen Schaufensterantrag einbringt. hat sich immer für die eingetragene Lebenspartnerschaft Es ist eine Inszenierung! Sie haben kein Interesse daran, ausgesprochen. Wir haben uns zu dieser Zeit angesichts wirklich etwas voranzubringen. Die FDP hätte nämlich der damals unklaren Verfassungslage nur mit der Ausge- schon vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts staltung auseinandergesetzt. Im Jahr 2004 – das hat die dazu beitragen können, dass das, was der Bundestag zur Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger bereits gesagt – Zeit von Rot-Grün beschlossen hat, nicht im Bundesrat blockiert wird; schließlich hat sie in einigen Ländern (B) hat die FDP dem Überarbeitungsgesetz nicht nur im (D) Bundestag, sondern auch im Bundesrat zugestimmt. Da- mitregiert. Wenn das, was wir damals vorgelegt haben, mals war es in der Tat die SPD, die an dieser Stelle keine heute Gesetz wäre, müssten wir diese Debatte nicht füh- Gleichstellung vorgesehen hat. ren; dann wären wir schon weiter. Jetzt komme ich zurück zur Union. Sie sollten sich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ einmal die einschlägigen Studien anschauen. Vielleicht DIE GRÜNEN) kommen Sie dann zu dem Ergebnis, dass das, was dort Sie sollten hier nicht so scheinheilig tun, wenn Sie das, niedergelegt ist, nicht völliger wissenschaftlicher Unsinn wofür Sie die Verantwortung tragen, in den Mantel des ist. Ich frage Sie: Ist es dem Kindeswohl denn tatsäch- Schweigens hüllen und nichts dafür tun, dass es besser lich zuträglicher, Frau Raab, wenn Kinder im Heim auf- wird. wachsen und nicht in einer stabilen Zweierbeziehung, in der sie ein behütetes Heim und Menschen haben, die Vor uns liegt die Reform des Erbschaftsteuerrechts. sich um sie kümmern? Frau Raab, so wie Sie hier argu- Da sind erst einmal die Vorgaben des Bundesverfas- mentieren, geht es doch nur um Ihre verstaubte Ideologie sungsgerichts zu erfüllen. Wir werden vermutlich eine und nicht um das Wohl der Kinder. ganze Menge machen; eine Kommission ist schon einge- setzt worden. Die SPD will die Gleichbehandlung von (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ Lebenspartnerschaften und Ehen auch im Erbschaftsteu- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der errecht implementieren. Das haben wir unter Rot-Grün LINKEN) schon versucht, sind damals aber im Bundesrat geschei- Wir Liberale werden uns mit der Untätigkeit dieser tert. Das Bundesverfassungsgericht schreibt in dem Ur- Regierung nicht zufriedengeben. Sie können unsere An- teil ganz eindeutig – das ist vorhin schon vorgetragen träge im Rechtsausschuss monatlich vertagen, wie Sie worden –, dass es keinen Grund gibt, die Lebenspartner- das bisher tun, weil Sie keine Entscheidung herbeiführen schaften nicht genauso zu behandeln wie die Ehe. Das ist wollen. Jetzt ist ein weiterer Ausschuss mit unserem Ge- keine Schlechterstellung der Ehe. setzentwurf befasst. Sie haben neue Chancen. Ich würde mich freuen, wenn sich die Kräfte in der Union, die libe- Frau Raab hat gesagt, man dürfe all das nicht zulas- raler sind, in dieser Debatte einmal zu Wort melden wür- sen, was die Ehe schädigt. Das klingt zwar schön, aber den. wenn ich mir die Medienberichterstattung anschaue, klingt das nur lustig. Das soll wahrscheinlich nicht nur Aus unserer Sicht ist es jetzt zunächst einmal an der für die Gesetzgebung gelten, sondern auch für andere Zeit, zu praktischen Verbesserungen zu kommen. Des- Verhaltensweisen. 10738 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Florian Pronold (A) (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der Deshalb sage ich gleich zu Beginn dieser Debatte: (C) SPD – Volker Kauder [CDU/CSU]: Wie put- Wie auch immer Sie die Entwicklung in der Bevölke- zig! Richtig süß!) rung einschätzen, die Ehe ist nach wie vor die häufigste Lebensgemeinschaft. Ich bin sicher: Das wird auch so Mir ist wichtig, dass wir zu einer tatsächlichen bleiben. Gleichbehandlung kommen. Das ist möglich. Das Bun- desverfassungsgericht hat ausdrücklich festgestellt, dass (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- das möglich ist. Seitens der Grünen und der Linkspartei neten der SPD und der FDP) wird uns vorgeschlagen, den Koalitionsvertrag einfach Davon müssen wir bei allen unseren Überlegungen aus- nicht zu berücksichtigen und „richtig“ abzustimmen; gehen. dann werde alles gut. Wir hatten aber schon einmal eine Mehrheit im Bundestag, sind damals aber an den Mehr- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das hat keiner heitsverhältnissen im Bundesrat gescheitert. Es ist also bestritten!) nicht damit getan, im Bundestag für Mehrheiten zu sor- gen. Ausgangspunkt für die Debatte ist das Gesetz aus dem Jahre 2001, das die eingetragenen Gemeinschaften Ich gehe davon aus, dass es gelingen wird, weil es in ermöglicht hat. Wir haben es damals gemeinsam mit den dem vor uns liegenden Prozess so sein wird, wie es bei Freien Demokraten abgelehnt. Die rot-grüne Regierung anderen Themen war, zum Beispiel beim Antidiskrimi- hatte das Gesetz vorgelegt und verabschiedet. Inzwi- nierungsgesetz – jetzt: Allgemeines Gleichbehandlungs- schen hat es in Richtung Annäherung manche Entschei- gesetz – oder bei der Schulpolitik. Ich schaue einmal dung durch den Gesetzgeber, aber auch durch höchste nach Bayern: Bis vor wenigen Jahren galten Ganztags- Gerichte gegeben. Auch wenn wir diese Entwicklung schulen dort als Teufelszeug, und jetzt werden Lobreden abgelehnt haben und das in der Debatte immer deutlich darauf gehalten, wenn man eine neue eröffnet. Ich zum Ausdruck gebracht haben, ist selbstverständlich glaube, dass das auch bei der Gleichbehandlung von Le- auch für uns bindend und wird von uns toleriert, was per benspartnerschaften und Ehe so sein wird. Wir werden Gesetz beschlossen wurde oder vom Verfassungsgericht die Dinge Schritt für Schritt so voranbringen, dass wir kommt. nicht nur im Bundestag, sondern auch im Bundesrat eine Wenn wir uns einmal die Frage stellen, wie weit wir Mehrheit für die dringend notwendige Gleichstellung heute bei der Annäherung sind, kann ich der Justizminis- haben. terin nur zustimmen: Wir sind schon erheblich weit, um Herzlichen Dank. das einmal klar zu sagen. Es gibt heute im Wesentlichen in drei Bereichen noch Unterschiede: zum einen im (B) (Beifall bei der SPD) Adoptionsrecht, zum anderen im Beamtenrecht und zu (D) einem erheblichen Umfang im Steuerrecht. Das sind Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: zentrale Bereiche. Nun hat das Wort der Kollege Otto Bernhardt für die Wenn wir uns die Rechtslage ansehen – ich bin kein CDU/CSU-Fraktion. Jurist; ich habe also klaren Menschenverstand –, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Na, na! Nichts ge- Otto Bernhardt (CDU/CSU): gen Juristen!) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und dann sage ich sehr deutlich: Das ist nicht so sehr ein ju- Herren! Von der Union reden in dieser Debatte nicht nur ristisches Problem. Abgeordnete aus dem Süden der Republik. Ich komme aus dem schönsten Bundesland Deutschlands, und das (Volker Kauder [CDU/CSU]: Stimmt!) heißt Schleswig-Holstein. Ich begründe dies wie folgt. Das Verfassungsgericht gibt uns weitere Möglichkeiten. Das ist für mich unbestritten. (Beifall der Abg. Irmingard Schewe-Gerigk Hier gibt es einen politischen Entscheidungsraum. Die [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Kernfrage ist: Wie weit wollen wir diesen Entschei- In dieser Debatte geht es wieder einmal um die Frage dungsraum nutzen? Es handelt sich also um eine politi- einer weiteren Annäherung der Rechte der eingetra- sche Entscheidung. Das Verfassungsgericht steht uns da- genen Partnerschaften an die der Ehe. Uns liegen drei bei nicht im Wege, um das klar zu sagen. unterschiedliche Anträge vor. Die Freien Demokraten (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des wollen bei der anstehenden Erbschaftsteuerrefom einen BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Schritt in diese Richtung machen. Sie wollen auf diesem Gebiet eine Gleichbehandlung herbeiführen. Die Grünen Jetzt müssen wir uns natürlich mit folgender Frage wollen mit ihrem Antrag im Grunde in allen Bereichen auseinandersetzen: Was ist aus der eingetragenen Le- die Gleichbehandlung herstellen. Wenn man den Antrag bensgemeinschaft geworden? Es gibt für Deutschland der Linken genau liest, dann stellt man fest, dass es den keine verbindlichen Zahlen, wenn ich das richtig sehe. Linken darum geht – so heißt es in ihrem Antrag –, „die Aber wir können von einer Größenordnung von etwa Privilegierung der Ehe“ ein Stück weit abzubauen. Die 10 000 eingetragenen Lebensgemeinschaften ausgehen. gehen also noch einen deutlichen Schritt weiter. Für Berlin wird die Zahl 4 000 veröffentlicht. Für Schles- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10739

Otto Bernhardt (A) wig-Holstein liegt die Zahl 170 vor. Also: 10 000 in noch in diesem Jahr eine Reform des Erbschaftsteuer- (C) Deutschland. Wenn wir uns einmal den Kreis der Poten- rechts verabschieden wollen. ziellen ansehen, die für eine solche Gemeinschaft infrage Nur, ich kann mir nicht vorstellen, dass es dafür in der kommen, dann werden Sie mir zustimmen: Diese Union eine Mehrheit gibt; das sage ich an dieser Stelle 10 000 sind nur ein ganz kleiner Teil, den wir jetzt sehr deutlich. Wir haben diese Diskussion noch nicht ab- enorm privilegieren. geschlossen. Aber ich sage schon jetzt: Ich glaube, die Dazu können Sie sagen: Jeder kann ja diese Form meisten Kollegen aus meiner Fraktion nehmen in ihren wählen. Wahlkreisen wahr, dass wir die bestehenden Möglich- keiten schon in erheblichem Umfang ausgeschöpft ha- ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ben. Sie übernehmen auch Pflichten!) (Zuruf von der SPD: Wahrnehmungsverlust!) Wir müssen uns aber die Frage stellen: Gehen wir mit dieser Gemeinschaft, die so wenig genutzt wird, viel- Meiner Einschätzung nach sind sie nicht bereit, noch leicht an den Empfindungen und an dem, was die Betrof- weiter zu gehen. Ich sage erneut: Unter rechtlichen Ge- fenen wirklich wollen, ein Stück vorbei? sichtspunkten könnten wir wahrscheinlich weiter gehen; das ist aber nicht das Problem. Es geht um die Frage, ob (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE wir das wollen und ob wir das für richtig halten. GRÜNEN]: Hören Sie sich einmal an, was die Betroffenen dazu sagen!) Meine Damen und Herren, allen drei Fraktionen, die entweder einen Antrag oder einen Gesetzentwurf vorge- Wir müssen uns auch immer die Frage stellen: Wie weit legt haben, kann ich nur sagen: Wir werden uns an einer ist der gesellschaftliche Kontext in Deutschland? Meine konstruktiven Diskussion natürlich beteiligen. Aber un- Wahrnehmung ist, dass wir hier im Bundestag schon viel sere Bereitschaft, auf diesem Weg weiter zu gehen, hält weiter sind als das Empfinden der Bevölkerung. Ich sich in engen Grenzen, weil wir nach wie vor davon glaube, vielen in der Bevölkerung sind wir schon viel zu überzeugt sind – ich wiederhole das –, dass die Ehe die weit gegangen, als wir uns sogar in den Grenzbereich vorherrschende Form des Zusammenlebens ist und dass Adoption gewagt haben. Das ist mein Eindruck. sie vom Grundgesetz besonders geschützt wird. Dies ist Ich sage an die FDP: Wenn wir jetzt bei der Erb- ein Grundsatz unserer politischen Arbeit, zu dem wir schaftsteuer die Gleichheit einführten – ich vermute, auch in Zukunft stehen werden. mit dem Verfassungsgericht bekommen wir dabei keine Herzlichen Dank. Probleme –, dann wäre das die erste Öffnung im Steuer- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (B) recht. Als Nächstes müsste dann auch das Ehegatten- (D) splitting erweitert werden. Dazu sagen Sie: Prima! neten der SPD – Volker Beck [Köln] [BÜND- Okay! NIS 90/DIE GRÜNEN]: Art. 3 des Grundge- setzes ist auch ein Grundsatz!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich sage aber: Wir müssen uns genau überlegen, ob wir Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: das wollen. Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich nun dem Kollegen Guido Westerwelle. (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ja!) Dr. Guido Westerwelle (FDP): Entspricht das dem Diskussionsstand in der Bevölke- Herr Kollege Bernhardt, ich möchte mich ausdrück- rung? Ich nehme ihn anders wahr, um das klar zu sagen. lich dafür bedanken, dass Sie als möglicherweise letzter Ich meine also: Wer die Tür öffnet, muss sich über die Redner der Unionsfraktion in dieser Debatte für die Konsequenzen im Klaren sein. CDU das Wort ergriffen haben. Ich finde, Sie haben sehr ehrlich argumentiert. Meine Vorredner von der Union haben schon gesagt: Wir sind den bisherigen Weg nicht mit großer Begeiste- (Zuruf von der CDU/CSU: Das macht er rung gegangen. Wir akzeptieren allerdings, was verein- immer!) bart wurde. In den Koalitionsverhandlungen ist über die- Das ist wohltuend. Denn bisher haben die Redner Ihrer ses Thema diskutiert worden. Wenn Sie sich den Fraktion gesagt: Wir können nicht anders, weil uns das Koalitionsvertrag ansehen, stellen Sie fest: Darin steht Bundesverfassungsgericht nicht mehr erlaubt. zu diesem Thema nichts. Wir sind uns in dieser Frage nämlich nicht einig geworden. Das heißt, im Koalitions- (Daniela Raab [CDU/CSU]: Nein! Wir wollen vertrag wird kein Rahmen vorgegeben, um sich in dieser nicht!) Frage weiter zu bewegen. Sie haben gerade gesagt: Sie wollen nicht anders, weil Ich bin mir allerdings darüber im Klaren, dass die das Ihrer Meinung nach nicht den Empfindungen weiter Meinungsbildung und die Diskussionen in der Bevölke- Teile der Bevölkerung entspricht. Das ist schon ein ganz rung und in den Parteien fortgesetzt werden. Der vorlie- bemerkenswerter Fortschritt. Wenn wir gemeinsam zu gende Gesetzentwurf der FDP ist als einziger sehr aktu- dem Ergebnis kommen, dass wir auch vor den Augen ell. Wir werden über dieses Thema zu einem späteren des Bundesverfassungsgerichts mehr machen könnten, Zeitpunkt erneut ernsthaft diskutieren müssen, weil wir wenn wir dies wollten, dann ist das der erste wichtige 10740 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Dr. Guido Westerwelle (A) Fortschritt in dieser Debatte. Wir können nämlich mehr Christine Lambrecht (SPD): (C) tun. Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- legen! Nach dem Beitrag von Herrn Kauch war klar, wa- Ich möchte einen Aspekt aufgreifen, der unter ande- rum wir uns heute zu so prominenter Zeit und mehr als rem vom Kollegen Beck bereits angesprochen worden 90 Minuten lang diesem Thema widmen. Wenn Sie ehr- ist – auch ich habe in diesem Hause bereits mehrfach zu lich sind, müssen Sie zugeben, es geht Ihnen nicht um diesem Thema gesprochen –: die Rechtsentwicklung. die Sache, sondern darum, dass am Wochenende Chris- Der Unterschied der heutigen Debatte zu früheren De- topher-Street-Day-Veranstaltungen stattfinden und dass batten ist, dass mittlerweile rechtliche Klarheit besteht. sich die FDP mit großen Plakaten als Kämpfer für die Darauf wollte ich auch Sie, Herr Kollege, hinweisen. Als Rechte der Lesben und Schwulen darstellen will. Solche die Regelung im Jahre 2001 getroffen wurde, gab es sehr Schaufensteranträge werden wir hier nicht durchgehen unterschiedliche Einschätzungen, wie das Bundesverfas- lassen, Herr Kauch. sungsgericht entscheiden und ob diese Regelung vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand haben würde. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Auch ich hatte damals übrigens juristische Zweifel, dass der CDU/CSU) die Standesamtslösung beim Bundesverfassungsgericht Ihre Vorwürfe an uns Sozialdemokraten lasse ich mir durchgeht. nicht gefallen. Ich war nämlich bei dem Gesetzgebungs- Jetzt ist die Lage eine andere. Mittlerweile liegt eine verfahren in der 14. und der 15. Legislaturperiode dabei Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vor. Nun und habe mitbekommen, wie Sie – der Kollege Wester- kann man nicht mehr ernsthaft behaupten, man würde welle hat es angesprochen – hier im Bundestag gegen die Ehe „abschaffen“, indem man die Diskriminierung dieses Gesetz gestimmt haben und wie Sie dafür gesorgt von Menschen, die in anderen, nämlich nichtehelichen haben, dass auch im Bundesrat dagegen gestimmt Lebensgemeinschaften leben und sich für die eingetra- wurde; wie Sie sich an einer Klage vor dem Bundesver- gene Partnerschaft entscheiden, aufhebt. Das ist für mich fassungsgericht beteiligt haben. All das, was in diesen eine politische Frage. Anträgen steht – mit Ausnahme der Volladop-tion –, wäre längst Realität, wäre längst Gesetzeslage, wenn Sie es Sie sagen: Die Empfindungen der Bevölkerung las- damals nicht verhindert hätten. Das stand nämlich im ur- sen nicht mehr zu. Ich möchte Ihnen meinen persönli- sprünglichen Gesamtentwurf alles drin. Wir haben es chen Eindruck, der ein anderer ist, schildern: Ich glaube, dann aufsplitten müssen, weil es auch an der FDP ge- dass es die allermeisten Menschen in Deutschland nicht scheitert ist. Ich finde, das muss deutlich gesagt werden. als Werteverlust empfinden, wenn zwei Menschen für- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (B) (D) einander Verantwortung übernehmen, sondern als einen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ganz klaren Wertegewinn. Die Bevölkerung weiß: Ge- rade in einer Gesellschaft, in der die Vereinzelung zu- Wenn jetzt der Kollege Westerwelle sagt: „Wir woll- nimmt, ist es gut, wenn sich Menschen zueinander be- ten erst einmal schauen, ob das mit dem Bundesverfas- kennen und in guten wie in schlechten Zeiten sungsgericht klappt, ob das verfassungsgemäß ist“, muss Verantwortung füreinander übernehmen. Daher bin ich ich sagen: Ein bisschen mehr Mut in der Politik darf es der Überzeugung, dass die Mehrheit, die es in dieser schon sein! Man kann doch nicht jedes Mal abwarten, Frage in diesem Hause gibt, die Mehrheit in der Bevöl- was das Bundesverfassungsgericht dazu sagt. kerung widerspiegelt. An die Bürgerinnen und Bürger, (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des die Sorge haben, die sagen: „Das geht uns zu weit!“, BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sollten wir aufgeklärte Bürgerinnen und Bürger uns wenden und ihnen sagen: Die Ehe, die Familie steht un- Wir sind doch dafür da, Entwicklungen aufzunehmen ter dem besonderen Schutz des Staates, und niemand und politisch zu gestalten; wir sind nicht dafür da, ledig- will das ändern. Aber es ist nicht schlecht, wenn gleich- lich das nachzuvollziehen, was uns die Richter aus zeitig andere, in unserer modernen Zeit neu entstandene Karlsruhe vorgeben. Da haben wir ein anderes Politik- Lebensgemeinschaften den Respekt des Staates bekom- verständnis und hatten es auch schon damals. Vielleicht men, den auch sie verdie-nen – weil Menschen ganz sind wir schon damals näher an den Leuten dran gewe- persönlich füreinander Verantwortung übernehmen. sen als Sie. Ich finde, das muss einmal gesagt werden, damit hier nicht der Eindruck entsteht, die FDP sei schon Ich glaube, die Hinwendung des Menschen zum Men- immer dafür gewesen und würde das Ganze unterstüt- schen entspricht auch Ihrem Menschenbild. Wir sollten zen. Nein, Sie sind aufgesprungen, als Rot-Grün den dann am gesellschaftlichen Fortschritt arbeiten und nicht Weg bereitet hat. meinen, da sei nicht mehr drin! Ein weiterer Punkt, Herr Kauch: Wenn Sie heute tat- (Beifall bei der FDP, der SPD, der LINKEN sächlich mit Leib und Seele dabei sind und dieses Anlie- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gen unterstützen wollen, dann frage ich mich, wieso bei- spielsweise in einem Land wie Baden-Württemberg, wo die FDP immerhin mit in der Regierung sitzt, Menschen, Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: die eine eingetragene Lebenspartnerschaft eingehen wol- Nächste Rednerin ist nun die Kollegin Christine Lam- len, heute noch zum Landratsamt oder zur Stadtverwal- brecht für die SPD-Fraktion. tung gehen müssen und nicht, wie in anderen Ländern, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10741

Christine Lambrecht (A) zum Standesamt. Da könnten Sie doch einmal Ihren Ein- geht um keine Privilegierung, es geht um keine Abschaf- (C) fluss geltend machen! Spielen Sie das doch einmal den fung und es geht um keine Einschränkung der Ehe. Es Kollegen zu, damit die da, wo sie es können, all das, was geht nur darum, dass Menschen, die Verantwortung für- Sie hier fordern, entsprechend umsetzen! einander übernommen haben, diese Rechte zugestanden bekommen. Deswegen werden wir hier weiter bohren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das wird kein einfacher Weg. Das sind wir gewohnt. Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen. Vielleicht kom- Des Weiteren muss ich sagen, ich bin heute sehr über- men wir am Ende doch zu einem guten Ergebnis. rascht über den Verlauf der Debatte in Bezug auf die Kolleginnen und Kollegen von der CDU und der CSU. Vielen Dank. Da waren wir aber schon deutlich weiter; das ist auch an- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Silke Sto- gesprochen worden. Die Kolleginnen, die ansonsten zu kar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- diesem Thema reden und die entsprechenden Bericht- NEN]) erstatterinnen sind, sind heute nicht einmal anwesend. Ich kann mir gut vorstellen, warum: weil sie sich für die Einstellung, die zumindest bei den ersten beiden Debat- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: tenbeiträgen zum Ausdruck gekommen ist, wahrschein- Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege lich schämen. Lothar Binding für die SPD-Fraktion.

(Daniela Raab [CDU/CSU]: Das ist eine un- Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): verschämte Unterstellung!) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Granold hat in den beiden Reden zu dieser Debatte, Sehr verehrte Damen und Herren! Komischerweise hat die sie in den letzten Jahren gehalten hat, klargemacht, sich heute in dieser Debatte sehr viel auch um die FDP dass sehr wohl etwas zu machen ist, dass man die Hin- gedreht. Ich habe mich gefragt, woran das eigentlich lie- weise aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts in gen könnte. Das liegt natürlich zum einen daran, dass Sie Bezug auf Steuerrecht, in Bezug auf Beamtenrecht auf- Ihre Meinung im Laufe der gesamten Entwicklung greifen will. Bei der Adoption ist das etwas anderes; ich mehrfach geändert haben. Zum anderen hängt das auch glaube, da braucht es tatsächlich noch eine umfassende damit zusammen, dass wir immer wieder versuchen, die Diskussion. Wir waren, wie gesagt, viel weiter. Deswe- FDP ernst zu nehmen. gen bin ich verwundert und frage mich: Wohin geht die (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) Reise bei der Union? Werden sich die konservativen (B) Kräfte durchsetzen, wie sie es beim Unterhaltsrecht ver- Ich will das an einem Beispiel verdeutlichen: Ange- (D) sucht haben? Ich weiß nicht, wie da die Mehrheitsver- nommen, wir nehmen die FDP ernst und schaffen die hältnisse sind. Ich kann nur sagen: Halten Sie sich an Erbschaftsteuer ab. Dann brauchen wir auch kein Erb- das, was Sie in mehreren Beiträgen versprochen haben – schaftsteuerrecht mehr. Dieses Recht würde es dann daran werden Sie gemessen! Diese Debatte haben wir nicht mehr geben. Wenn wir die FDP weiter ernst neh- mittlerweile im Halbjahresrhythmus; aber das ist gut: men, dann würden wir die Kompetenz hinsichtlich die- Von der Wiederholung lernt man. Das hat man auch bei ses Rechts, das es dann nicht mehr gibt, in die Länder Ihnen von der FDP gesehen: Irgendwann hat es Früchte verweisen. Gleichzeitig würden wir ungerechte Freibe- getragen. Vielleicht klappt es ja auch bei der Union. tragsregelungen anpassen. Das wäre natürlich ein Pro- blem. Deswegen kann ich Sie nur auffordern: Lassen Sie uns wirklich noch einmal sachlich darüber sprechen, wie Wir könnten auch zuerst die Freibetragsregelungen die Lebenssituation dieser Menschen aussieht. Es gibt ändern, dann die Kompetenz in die Länder geben und eine Ungleichbehandlung. Es kann nicht sein, dass man anschließend das Gesetz abschaffen. akzeptiert, dass Menschen Pflichten füreinander über- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) nehmen und über Jahre hinweg bereit sind, das zu tun, ihnen aber entsprechende Rechte versagt. Ich finde, diese Ungleichbehandlung liegt so offensichtlich auf der Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Hand, dass man nicht einfach mit dem Hinweis darüber Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des hinweggehen kann, dass die Ehe doch etwas anderes ist. Kollegen Kauch? Natürlich ist die Ehe etwas anderes. Das soll sie auch bleiben. Kein Mensch will das ändern. Wir wollen aber Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): nicht, dass Menschen, die Verantwortung füreinander Nein, ich möchte erst zu Ende vortragen. übernommen und das durch eine eingetragene Lebens- partnerschaft zum Ausdruck gebracht haben, weiterhin Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: ihrer Rechte beraubt werden. Diese Rechte stehen ihnen Heißt das, dass Sie grundsätzlich keine Zwischen- zu. frage zulassen? Zumindest für die Sozialdemokraten kann ich sagen: Wir werden weiter an diesem Thema arbeiten, weil wir Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): wollen, dass es hier zu einer Gleichbehandlung und ge- Nein, aber ich glaube, es ist immer gut, wenn man rechten Behandlung kommt; denn nur darum geht es. Es Widersprüchlichkeiten aufzeigt. Ich wollte vermeiden, 10742 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Lothar Binding (Heidelberg) (A) dass die Widersprüchlichkeiten dadurch konterkariert Wie wir wissen, führt die weitgehende Übernahme (C) werden, dass man die Darlegung der logischen Folge der Steuerbilanzwerte bei der Bewertung von Betriebs- dieser in sich widersprüchlichen Konsequenzen stört. vermögen systematisch an einer korrekten Lösung vor- bei. Wir könnten ja auch sagen, dass wir die Kompetenz erst in die Länder geben und dann das Recht auf Bundes- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE ebene abschaffen, um hinterher den Vorschlag zu ma- GRÜNEN]: Das hat mit den Vorlagen über- chen, uns die Freibetragsregelungen anzuschauen. haupt nichts zu tun! Sie sind in der falschen Debatte!) Genau daran erkennt man, dass Herr Fahrenschon mit seinem schönen Eselbeispiel sehr recht hat und dass wir Wenn wir im Gesetzentwurf eine systematische Fehlbe- deshalb nicht auf diese Fährte kommen sollten. Das wertung zugrunde legen, dann widerspricht das einer würde nämlich genau zu dem führen, was Sie heute auch vernünftigen Steuergesetzgebung. Differenzen zwi- wieder reklamieren: Sie wollen die angebliche Untätig- schen dem Verkehrswert eines Wirtschaftsguts und sei- keit der Regierung überwinden, geben sich damit aber nem niedrigeren Buchwert müssen gesetzlich abgebildet nicht zufrieden. Ich glaube, man merkt sehr schön, dass und aufgefangen werden. man nicht gleichzeitig Beschleuniger und Bremser sein Ähnlich komplex stellt sich die Rechtslage bei bebau- kann. Das zeigt auch eine gewisse Unehrlichkeit. Umso ten Grundstücken dar. Denn das Ertragswertverfahren, wichtiger war es Herrn Westerwelle wahrscheinlich, in das wir mit einem Einheitsvervielfältiger versehen, führt dieser Debatte das Wort Ehrlichkeit zu benutzen. ebenfalls systematisch zu ungerechten Bewertungszu- (Beifall des Abg. Georg Fahrenschon [CDU/ sammenhängen. Auch das muss überwunden werden. CSU]) Wenn wir unser Ziel quasi systematisch verfehlen, In den Anträgen der Opposition geht es um zwei fach- dann wird deutlich, wie komplex die Aufgabe ist, die wir liche Schwerpunkte: Erstens geht es um das Urteil des den Ländern übertragen haben. Noch komplizierter wird Bundesverfassungsgerichts vom 17. Juli 2002 hinsicht- es bei Erbbaurechten und mit Erbbaurechten belasteten lich der erbschaftsteuerlichen Unterschiede zwischen Grundstücken. Denn der Grundbesitz wird auch hier Ehepartnern und Lebenspartnern, zweitens geht es um mit einem konstanten Faktor von 18,6 bewertet. die Beschlussfassung des Bundesverfassungsgerichts (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE vom 7. November 2006 hinsichtlich der Bewertungs- GRÜNEN]: Wo steht davon etwas im Gesetz- unterschiede unterschiedlicher Vermögensarten. Ich glau- entwurf?) be, dass das auch die beiden Dinge sind, die wir angehen müssen. (B) Auch damit wird das Ziel systematisch verfehlt. Die Re- (D) gelung führt an einer gerechten Besteuerung vorbei. Auf Daraus ergibt sich auch etwas hinsichtlich der Ar- die unbebauten Grundstücke will ich an dieser Stelle beitsfolgen. Im ersten Schritt hat man nämlich zunächst nicht näher eingehen. die Bewertungsgesetze zu ändern, um überhaupt he- rauszufinden, worauf man eine Erbschaftsteuer erhebt; Sie wundern sich und regen sich auf, aber Sie müssen denn dort gibt es heute fundamentale Probleme hinsicht- Verständnis dafür haben, dass ich als Finanzpolitiker lich der Fragen, was ein Betriebsvermögen ist, was ein rede und mich deshalb mit der Erbschaftsteuer befasse. Grundvermögen ist und wie es bewertet wird und wie Unsere Rechtspolitiker haben die anderen Sachverhalte man land- und forstwirtschaftliches Vermögen definiert. bereits hinreichend beleuchtet. Beim Kapitalvermögen ist es etwas einfacher, weil das heute schon anhand des Verkehrswertes ermittelt wird. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber wir haben keine allgemeine Erst im zweiten Schritt, nachdem also diese Bewer- erbschaftsteuerrechtliche Debatte!) tungsfragen geklärt wurden, lohnt es sich, über die An- passung des Erbschaftsteuerrechts in allen anderen Fäl- Ich konzentriere mich im Regelfall auf die Themen, in len nachzudenken. Erst in dieser Phase lohnt es sich denen ich mich etwas auskenne. Ich glaube, es ist auch auch, Spezialfälle, wie die Freibeträge bei eingetrage- klug, dazu Stellung zu nehmen. nen Lebenspartnerschaften, zu regeln. Ich glaube, dass (Beifall bei Abgeordneten der SPD) es auch klug ist, so vorzugehen. Noch komplizierter verhält es sich bei den Anteilen Apropos Beschleunigen des Regierungshandelns: an Kapitalgesellschaften, bei denen es die zu schätzen- Heute ist tatsächlich ein guter Tag; denn heute tagt im den, nicht börsennotierten Anteile zu beachten gilt. Auch Bundesrat der Finanzausschuss. Im Anschluss daran tagt dabei reicht gegenwärtig die Rechtsgrundlage nicht aus. die Finanzministerkonferenz der Länder. Gerade heute wird die Arbeitsgruppe der 16 Länder, die sich mit die- Deshalb glaube ich, dass wir gut beraten sind, uns mit sen Bewertungsfragen befasst, der FMK ihre ersten Vor- diesen Themen auseinanderzusetzen und uns mit den schläge zu einer soliden erbschaftsteuerlichen Regelung Vorschlägen der Arbeitsgruppe zur Schaffung der ge- setzlichen und strukturellen Voraussetzungen für eine der Bemessungsgrundlage vorlegen. Ich glaube, dass kluge zukünftige Erbschaftsteuerregelung zu befassen. heute ein guter Tag ist, um dieses Thema zu diskutieren. Ich glaube, dann können wir alle weiteren Probleme in Aber man sollte sich auf diesen Schwerpunkt beschrän- diesem Kontext lösen. ken, statt beliebig alles mit einzubeziehen, was einem dazu einfällt. Schönen Dank. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10743

Lothar Binding (Heidelberg) (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und (C) CDU/CSU – Zuruf von der FDP: Das war nichts!) Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich nun Kotting-Uhl, Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, wei- dem Kollegen Michael Kauch. terer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN Michael Kauch (FDP): Deutsches Mobilfunk Forschungsprogramm Herr Kollege, da Sie leider keine Zwischenfrage zu- fortsetzen gelassen haben, möchte ich Ihnen – weil Sie die FDP ernst nehmen, wie Sie gesagt haben – – Drucksache 16/4762 – Überweisungsvorschlag: ( [SPD]: Wir versuchen es!) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie auf diesem Wege mitteilen, welche Beschlüsse wir auf Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und dem Bundesparteitag gefasst haben. Verbraucherschutz Ausschuss für Gesundheit Wir haben erstens beschlossen, dass wir die Gesetz- Ausschuss für Bildung, Forschung und gebungskompetenz für die Erbschaftsteuer auf die Län- Technikfolgenabschätzung der übertragen wollen. Dazu ist eine Zweidrittelmehrheit Ausschuss für Kultur und Medien in beiden Häusern des Parlaments notwendig. Haushaltsausschuss Zweitens ist ein Änderungsantrag abgelehnt worden, c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Patrick in dem die Abschaffung der Erbschaftsteuer gefordert Döring, Hans-Michael Goldmann, Horst Fried- wurde. rich (Bayreuth), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Drittens wird die FDP-Bundestagsfraktion in Anbe- tracht der Gesetzgebungskompetenz des Bundes, die für Überregulierung in der Sport- und Freizeit- eine Reform der Erbschaftsteuer genutzt werden soll, ei- schifffahrt verhindern gene Vorschläge zur Erbschaftsteuerreform vorlegen. Dazu gehören viele Punkte. Sie haben schon einige an- – Drucksache 16/5269 – gesprochen. Dazu gehört aber auch das Thema, über das Überweisungsvorschlag: wir heute schon gesprochen haben. – So viel zur Klar- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) stellung, was die FDP möchte. Sportausschuss (B) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (D) (Beifall bei der FDP) Ausschuss für Tourismus d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bodo Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ramelow, Ulla Jelpke, Hüseyin-Kenan Aydin, Herr Kollege, wollen Sie etwas erwidern? weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LIN- KEN Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Überwachung von Abgeordneten durch den Nein, ich verzichte. Verfassungsschutz beenden – Drucksache 16/5455 – Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Dann schließe ich die Aussprache. Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und den Drucksachen16/2087, 16/3423 und 16/5184 an die Geschäftsordnung Rechtsausschuss in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ZP2a)Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlos- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neure- sen. gelung des Rechts der Verbraucherinforma- Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 d tion sowie die Zusatzpunkte 2 a bis 2 c auf: – Drucksache 16/5723 – 33 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Überweisungsvorschlag: gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Änderung des Pflichtversicherungsgesetzes Verbraucherschutz (f) Innenausschuss und anderer versicherungsrechtlicher Vor- Rechtsausschuss schriften Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit – Drucksache 16/5551 – Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Mecht- Finanzausschuss hild Dyckmans, Sabine Leutheusser-Schnarren- 10744 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) berger, Jörg van Essen, weiterer Abgeordneter dritten Beratung (C) und der Fraktion der FDP und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ge- Verfahrensrechte in Strafverfahren in der Eu- setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer ropäischen Union stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Dann ist der Gesetz- entwurf auch in der dritten Beratung einstimmig ange- – Drucksache 16/5606 – nommen. Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Tagesordnungspunkt 34 b: Innenausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jens regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Ackermann, Dr. Karl Addicks, Christian Ah- zur Ablösung des Abfallverbringungsgesetzes rendt, Kerstin Andreae, Hüseyin-Kenan Aydin und zur Änderung weiterer Rechtsvorschrif- und weiterer Abgeordneter ten Ergänzung des Untersuchungsauftrages des – Drucksachen 16/5384, 16/5614 – 1. Untersuchungsausschusses Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- – Drucksache 16/5751 – ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit (16. Ausschuss) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und – Drucksache 16/5767– Geschäftsordnung Berichterstattung: Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- Abgeordnete Michael Brand ten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an Horst Meierhofer die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu Eva Bulling-Schröter überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Sylvia Kotting-Uhl Fall. Dann ist auch das so beschlossen. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor- Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 34 a bis o auf. sicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Dabei handelt es sich um Beschlussfassungen zu Vorla- Drucksache 16/5767, den Gesetzentwurf der Bundes- gen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. regierung auf den Drucksachen 16/5384 und 16/5614 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte nun dieje- (D) (B) Tagesordnungspunkt 34 a: nigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt regierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf Gesetzes zur Änderung des Rindfleischetiket- in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitions- tierungsgesetzes fraktionen und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion und Enthaltung der – Drucksache 16/5338 – Fraktion Die Linke angenommen. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Wir kommen zur ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- cherschutz (10. Ausschuss) dritten Beratung – Drucksache 16/5739 – und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ge- Berichterstattung: setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer Abgeordnete Franz-Josef Holzenkamp stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Ge- Dr. Marlies Volkmer setzentwurf mit dem gleichen Stimmenverhältnis ange- Hans-Michael Goldmann nommen. Dr. Kirsten Tackmann Tagesordnungspunkt 34 c: Ulrike Höfken Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- zu den Internationalen Gesundheitsvorschrif- lung auf Drucksache 16/5739, den Gesetzentwurf der ten (2005) (IGV) vom 23. Mai 2005 Bundesregierung auf Drucksache 16/5338 in der Aus- schussfassung anzunehmen. Ich bitte nun diejenigen, die – Drucksache 16/5387 – dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Ent- ses für Gesundheit (14. Ausschuss) haltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be- ratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenom- – Drucksache 16/5651 – men. Berichterstattung: Wir kommen zur Abgeordnete Elisabeth Scharfenberg Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10745

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt in seiner Be- Berichterstattung: (C) schlussempfehlung auf Drucksache 16/5651, den Gesetz- Abgeordneter Enak Ferlemann entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/5387 an- zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt lung auf Drucksache 16/3670, den Antrag der Fraktion dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf der FDP auf Drucksache 16/2091 abzulehnen. Wer in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitions- stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – fraktionen, der Fraktion der FDP und der Fraktion Bünd- Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist damit mit nis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion Die den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim- Linke angenommen. men der Oppositionsfraktionen angenommen. Wir kommen zur Tagesordnungspunkte 34 f bis 34 o: Das sind die Be- schlussempfehlungen des Petitionsausschusses. dritten Beratung Tagesordnungspunkt 34 f: und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ge- setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Ge- ausschusses (2. Ausschuss) setzentwurf mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie in der zweiten Lesung angenommen. Sammelübersicht 232 zu Petitionen Tagesordnungspunkt 34 d: – Drucksache 16/5637 – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Wer stimmt dafür? – Ist jemand dagegen? – Enthal- regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes tungen? – Die Sammelübersicht 232 ist damit mit den zur Aufhebung des Freihafens Bremen Stimmen des ganzen Hauses angenommen. – Drucksache 16/5580 – Tagesordnungspunkt 34 g: Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- schusses (7. Ausschuss) ausschusses (2. Ausschuss) – Drucksache 16/5750 – Sammelübersicht 233 zu Petitionen Berichterstattung: – Drucksache 16/5638 – (B) Abgeordneter Ortwin Runde (D) Wer stimmt dafür? – Ist jemand dagegen? – Enthal- Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- tungen? – Die Sammelübersicht 233 ist mit den Stim- empfehlung auf Drucksache 16/5750, den Gesetzent- men des ganzen Hauses angenommen. wurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/5580 an- zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf Tagesordnungspunkt 34 h: zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses ausschusses (2. Ausschuss) angenommen. Sammelübersicht 234 zu Petitionen Wir kommen zur – Drucksache 16/5639 – dritten Beratung Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem tungen? – Die Sammelübersicht 234 ist ebenfalls mit Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetz- entwurf auch in dritter Beratung mit den Stimmen des Tagesordnungspunkt 34 i: ganzen Hauses angenommen. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Tagesordnungspunkt 34 e: ausschusses (2. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Sammelübersicht 235 zu Petitionen richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag – Drucksache 16/5640 – der Abgeordneten Patrick Döring, Horst Fried- Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- rich (Bayreuth), Hans-Michael Goldmann, weite- gen? – Die Sammelübersicht 235 ist damit mit den Stim- rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP men der Koalitionsfraktionen, der Fraktion der FDP und Schienenanbindung des Jade-Weser-Ports der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion sicherstellen Bündnis 90/Die Grünen angenommen. – Drucksachen 16/2091, 16/3670 – Tagesordnungspunkt 34 j: 10746 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- (C) ausschusses (2. Ausschuss) ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 236 zu Petitionen Sammelübersicht 241 zu Petitionen – Drucksache 16/5641 – – Drucksache 16/5646 – Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- gen? – Die Sammelübersicht 236 ist damit mit den Stim- gen? – Die Sammelübersicht 241 ist mit den Stimmen men der Koalitionsfraktionen, der FDP und der Fraktion der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi- Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/ tionsfraktionen angenommen. Die Grünen angenommen. Damit kommen wir zum Zusatzpunkt 3: Tagesordnungspunkt 34 k: Aktuelle Stunde Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- auf Verlangen der Fraktion der FDP ausschusses (2. Ausschuss) Haltung der Bundesregierung zu den wirt- Sammelübersicht 237 zu Petitionen schafts- und finanzpolitischen Vorstellungen – Drucksache 16/5642 – von Bundeswirtschaftsminister Glos Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- tungen? – Die Sammelübersicht 237 ist mit den Stim- ner dem Kollegen Rainer Brüderle für die FDP-Fraktion men der Koalitionsfraktionen, der Fraktion der FDP und das Wort. der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen (Beifall bei der FDP) der Fraktion Die Linke angenommen.

Tagesordnungspunkt 34 l: Rainer Brüderle (FDP): Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der ausschusses (2. Ausschuss) Bundeswirtschaftsminister hat mit seinem Papier „Gol- dener Schnitt 2012“ die Zeichen der Zeit im Kern richtig Sammelübersicht 238 zu Petitionen erkannt. – Drucksache 16/5643 – (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- CDU/CSU) (B) tungen? – Die Sammelübersicht 238 ist damit mit den (D) Die derzeitige gute wirtschaftliche Entwicklung erfor- Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Bünd- dert es, dass wir steuerliche Entlastungen und Haushalts- nis 90/Die Grünen, der Fraktion Die Linke bei Gegen- sanierungen vornehmen. Man muss es nur schneller ma- stimmen der Fraktion der FDP angenommen. chen. Tagesordnungspunkt 34 m: Haushaltssanierung und steuerliche Entlastung – Stich- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- wort Steuerreform – sind zwei Seiten einer Medaille. ausschusses (2. Ausschuss) Jetzt müssen auch die Arbeitnehmer und die Selbststän- digen durch eine einfache, gerechte und niedrigere Sammelübersicht 239 zu Petitionen Steuer eine Entlastung erfahren. Sie dürfen nicht mit ei- – Drucksache 16/5644 – ner Fata Morgana jenseits der nächsten Bundestagswahl vertröstet werden. Jetzt muss man entsprechende Maß- Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- nahmen anpacken, weil die wirtschaftliche Entwicklung gen? – Die Sammelübersicht 239 ist damit mit den Stim- dies jetzt hergibt. men der Koalitionsfraktionen und der FDP bei Gegen- stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der (Beifall bei der FDP) Fraktion Die Linke angenommen. Unser Goldener Schnitt ist, die eine Hälfte der Steuer- Tagesordnungspunkt 34 n: mehreinnahmen zur Steuersenkung und die andere Hälfte zur Haushaltssanierung zu verwenden, und zwar Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- jetzt und nicht in ferner Zukunft. ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 240 zu Petitionen Herr Glos hat recht: Die Sozialabgaben müssen redu- ziert werden. Aber die Große Koalition macht das Ge- – Drucksache 16/5645 – genteil. Sie müsste zur Entlastung bei den Lohnneben- kosten die sozialen Sicherungssysteme intelligenter, Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- zukunftsfähiger und effizienter organisieren. Aber genau gen? – Die Sammelübersicht 240 ist damit mit den Stim- das tut sie nicht; sie erhöht nur die Beiträge. Man kann men der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Bünd- daher nur mahnend feststellen: Die Regierung schafft es nis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion der noch nicht einmal bei guter Konjunktur, eine Entlastung FDP und der Fraktion Die Linke angenommen. bei den Lohnnebenkosten in nennenswertem Umfang Tagesordnungspunkt 34 o: auf den Weg zu bringen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10747

Rainer Brüderle (A) Äußerste Vorsicht ist bei dem geboten, was Herr Glos Ihr Kollege Glos geschrieben hat. Das ist im Kern rich- (C) fordert, nämlich ein Programm für zusätzliche Ausga- tig. Er muss es nun umsetzen. Wenn Sie ihn dabei unter- ben, quasi ein Investitionsprogramm. Wir haben kein stützten, würden Sie etwas Vernünftiges tun. Ausgabenproblem; wir haben ein Strukturproblem auf der Ausgabenseite. Die Schwerpunkte sind falsch ge- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) setzt. Die Investitionen wurden zu wenig vorangebracht; Dann hätte ich großen Respekt vor Ihnen. Aber ich man geht nicht an die Subventionen und an den Kon- fürchte, Sie weigern sich wie immer, das Richtige zu tun. sumsektor heran. Deshalb muss es auf der Ausgaben- Ich gebe die Hoffnung nicht auf: Irgendwann beugen seite eine Umstrukturierung geben. Man sollte aber nicht auch Sie sich der Wahrheit. an eine Steigerung der Ausgaben denken. Hier liegt der Bundeswirtschaftsminister falsch. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Aber immerhin hat Minister Glos eine Zielmarke ge- setzt. Es ist eine Art Selbstverpflichtung, die er öffent- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: lich kundgetan hat. Daran wird man ihn noch messen Nächster Redner ist der Kollege Laurenz Meyer für müssen. Bloße Ankündigungen helfen nicht weiter. Es die CDU/CSU-Fraktion. bedarf der konkreten Umsetzung. Man darf nicht bei Handlungsanweisungen stehen bleiben, die erst in (Beifall bei der CDU/CSU) 30 Jahren gelten. Jetzt muss angepackt werden. Herr Glos spricht in seinem Papier davon, dass ein Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU): Tugendkreislauf eingeleitet werden soll. Für Tugend Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe kann es nie zu früh sein. Er soll ruhig schon einmal an- Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Brüderle, ich fangen, in Tugend die Strukturen zu verändern, damit es kann nachempfinden, dass das für Sie verdammt schwie- gibt, was wir brauchen, nämlich ein auf Dauer höheres rig ist: Da kommt etwas auf den Tisch, was Sie eigent- Wachstum und eine wirtschaftliche Dynamik, die lang- lich ganz gut finden, und dann sollen Sie immer noch da- fristig angelegt ist und unser Land voranbringt. ran herumkritisieren. Es ist klar, dass Ihnen das schwerfällt. Sie sprachen vorhin von der goldenen Ana- Herr Glos will mit seinem Konzept dem Kabinett eine nas. Ich habe den Eindruck, Sie haben vorhin extra in Art Keuschheitsgürtel gegen falsche politische Emp- eine Zitrone gebissen, damit Sie überhaupt so ein Ge- fängnis anlegen. Seine Kollegen verweigern sich aber sicht hingekriegt haben. offenbar. Man hört, dass die Kanzlerin dagegen ist. Die (B) (D) SPD betrachtet das Papier als Provokation, und die (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und CDU/CSU ist damit beschäftigt, ihre angebliche Verhin- der SPD – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sauer derung des Mindestlohns zu feiern, obwohl sie ihn durch macht lustig!) die Hintertür einführt. Sie sollten sich mit den Kernüber- Worum geht es eigentlich wirklich bei dem, was hier legungen von Herrn Glos, die – ich wiederhole es – rich- vorliegt? Ich finde, es ist gut, dass wir uns vor dem Hin- tig sind, beschäftigen. Es muss aber mehr sein als eine tergrund der Vorschläge von einmal Medieninszenierung. grundsätzlich und, wie ich hoffe, nicht nur heute, son- (Beifall bei der FDP) dern über längere Zeit mit der Frage beschäftigen: Wie können wir das, was wir angefangen haben, was Teil der Es muss eine Umsetzung erfolgen – und zwar jetzt –, Koalitionsvereinbarung und Teil der Genshagener Be- sonst wird aus seinem goldenen Schnitt schnell eine gol- schlüsse ist, verstetigen und dafür Sorge tragen, dass die dene Ananas. Entwicklung, die sich im Wachstum der Volkswirtschaft, Die Überlegungen sind also richtig. Die Regierung auf dem Arbeitsmarkt und bei den öffentlichen Finanzen weigert sich aber, wirtschaftspolitischen Sachverstand zeigt, fortsetzt und nicht eine konjunkturell bedingte walten zu lassen. Episode bleibt? (Lachen des Abg. Ortwin Runde [SPD]) Herr Brüderle, ich bitte Sie, an der Stelle ganz ernst- haft nachzudenken; das meine ich keinesfalls polemisch. Das ist leider so. Deshalb muss der Wirtschaftsminister Wir müssen darüber nachdenken, wann zusätzliche auf den Tisch hauen. Franken gelten als mutige Men- Maßnahmen greifen müssen. Für welche Zeitpunkte schen. Ich wünsche ihm den Mut, nicht nur Papiere in müssen wir Überlegungen anstellen? Genau darum geht die Öffentlichkeit zu bringen, sondern sie auch umzuset- es. Wir haben jetzt eine gute wirtschaftliche Entwick- zen. Gemessen werden Sie an den Taten. lung. In Genshagen ist übrigens beschlossen worden, mit (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) öffentlichen Investitionsprogrammen Forschung und Entwicklung zu fördern. Darauf möchte ich Sie auf- Auch für Christdemokraten gilt: Diejenigen, die das merksam machen. An anderer Stelle begrüßen Sie das, nicht schaffen, erreichen das Himmelsreich nicht. und hier kritisieren Sie es. Sie haben das Papier von Mi- (Beifall bei der FDP) chael Glos doch sicher gelesen; das unterstelle ich zu- mindest. Herr Andres, Sie verstehen es anscheinend nicht; es ist immer das Gleiche. Sie sollten einmal nachlesen, was (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Natürlich!) 10748 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Laurenz Meyer (Hamm) (A) Darin schlägt er eine Ausgabensteigerung von 0,1 Pro- Es besteht ein eindeutiger Zusammenhang zwischen (C) zent vor. Wenn wir 3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes den Beiträgen zu den sozialen Sicherungssystemen und für den Bereich Forschung und Entwicklung ausgeben dem Wirtschaftswachstum. Wir sind auf dem richtigen wollen, dann ist das nur möglich, wenn wir ein kontinu- Weg: Wachstum, mehr Beschäftigung, mehr öffentliche ierliches Wirtschaftswachstum und steigende Steuerein- Ausgaben in den Bereichen Forschung und Entwicklung nahmen verzeichnen können. Darauf ist die Aussage – dort werden die Weichen für die Zukunft gestellt – und ausdrücklich bezogen. Wenn die Einnahmen steigen, weitere Reformen. Dadurch haben wir einen Prozess in dann können auch die Ausgaben steigen, wenn wir nicht Gang gesetzt, den wir über diese Wahlperiode hinaus unglaubwürdig werden wollen. Es ist übrigens eine Rie- verstetigen müssen, wenn wir für unsere Bevölkerung senaufgabe für unsere Haushälter hier im Bundestag, da- das Beste erreichen wollen. Das hat Michael Glos vorge- ran mitzuwirken und diese Erwartungen zu erfüllen. Wir tragen, nicht mehr und nicht weniger. Das ist aus meiner sind sehr dafür, dass die entsprechenden Vorgaben einge- Sicht völlig unstrittig. Wir sollten uns alle mit den Ein- halten werden. zelheiten beschäftigen, wenn wir uns für die Menschen dieses Landes einsetzen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vielen Dank. Michael Glos schlägt vor, den Prozess zu verstetigen. Wir müssen zusätzliche Entlastungen bei den Beiträgen (Beifall bei der CDU/CSU – Kerstin Andreae zur Sozialversicherung erreichen. Wir haben immer den [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eisiges Zusammenhang zwischen sinkender Arbeitslosigkeit, Schweigen bei der SPD!) mehr Beschäftigung, Mehreinnahmen in den sozialen Sicherungssystemen und Steuermehreinnahmen betont. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Es zeigt sich, dass der Vorrang für Arbeit, den wir immer Nun hat der Kollege Dr. Herbert Schui für die Frak- wieder gepredigt haben und der immer wieder von ver- tion Die Linke das Wort. schiedenen Leuten infrage gestellt wurde, der entschei- dende Faktor schlechthin ist. Die beste Sozialpolitik be- (Beifall bei der LINKEN) steht darin, die Menschen in Arbeit zu bringen, und die beste Finanzpolitik ist das darüber hinaus auch noch. Dr. Herbert Schui (DIE LINKE): Das gilt es zu beachten. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebha- (Beifall bei der CDU/CSU) ber politischer Lyrik kommen bei Minister Glos’ Papier „Goldener Schnitt 2012“ auf ihre Kosten. Bis 2012 wol- Wir sollten über eines grundsätzlich in diesem Haus len Sie mit einem imaginären Koalitionspartner einen über die Parteigrenzen hinweg weiter diskutieren. Mi- „Tugendzirkel“ in Gang setzen; Staat und Wirtschaft be- (B) (D) chael Glos sagt, dass wir in den Jahren ab 2010 Steuer- fänden sich schon jetzt in einem „Tugendkreislauf“. senkungen vornehmen und den Menschen zurückgeben müssen, was ihnen insbesondere durch die Inflation ge- Denken wir dagegen ganz traditionell weiter in Wirt- nommen wird. Ich bin im Prinzip dafür, dass man eine schafts- und nicht in Tugendkreisläufen, dann kommen Anpassungsklausel in unser Steuerrecht einführt. wir zu folgenden Schlüssen: Die Konjunkturzyklen in Deutschland haben eine Länge von sieben bis zehn Jah- (Ortwin Runde [SPD]: Indexierung!) ren. Der letzte Zyklus von 1993 bis 2003 war außerge- – Ich bin dafür, dass wir über eine Indexierung reden, wöhnlich lang. Was wird geschehen, wenn der nächste Tiefpunkt schon 2010 eintritt, der Abschwung also be- (Beifall bei der FDP) reits im Herbst 2008 einsetzt? weil in unserem System inflationsbedingt dauerhafte Loslegen wollen Sie im kommenden Jahr mit einer Steuererhöhungen angelegt sind. Das ist eine Sache, die Verringerung des Staatsanteils am Bruttoinlandsprodukt. wir nicht für gut halten können, wenn wir den Leuten Welche tugendsame Koalition soll das beschließen? Die nicht ständig mehr Steuern abverlangen wollen. Das ist Staatsausgaben für die Infrastruktur, also die öffentli- völlig klar. chen Investitionen, und für die Berufsausbildung sollen trotz der Senkung dieses Anteils steigen. Folglich müs- Ich glaube, dass wir in diesem Parlament über einen sen die Ausgaben für den öffentlichen Dienst und für So- Punkt einmal grundsätzlich reden sollten, nämlich über ziales allgemein erheblich gekürzt werden. „Entlastun- die richtige Reihenfolge. Ich persönlich bin dafür, dass gen, z. B. im Bereich der sozialen Vorsorge“ sind in wir zunächst darüber sprechen, die versicherungsfrem- Ihrem Papier „Goldener Schnitt 2012“ ausdrücklich vor- den Leistungen nicht mehr über die Sozialversicherungs- gesehen. Es stellt sich die Frage, ob das familien- und systeme, sondern über Steuern zu finanzieren. kinderpolitische Programm von Frau von der Leyen un- (Ulrike Flach [FDP]: Davon redet Glos nicht!) geschoren bleibt. – Natürlich. Diese Frage wird im dem Glos-Papier im- Ein Investitionsprogramm legen Sie bei dieser Gele- plizit behandelt. Es ist die Rede davon, dass man die So- genheit allerdings nicht vor. Sie planen vielmehr eine in zialabgaben senken will. – jeder Beziehung unsoziale Haushaltskonsolidierung. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Aber doch nicht (Beifall bei der LINKEN) durch Umfinanzierung!) Sie wird die Armen ärmer machen und die Hilfsbedürfti- Ich glaube, dass das die richtige Reihenfolge wäre. gen noch weniger versorgen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10749

Dr. Herbert Schui (A) Diese Methode der Haushaltskonsolidierung wird das beitsanreiz nicht senkt; sonst würden Sie den gesetzli- (C) Wirtschaftswachstum abbremsen – das ist der entschei- chen Mindestlohn ja befürworten. dende Punkt –; denn wenn Sie die Staatsausgaben im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt absenken, dann Weiter: Wenn wegen Hartz IV vor allem die vormali- fehlt es an gesamtwirtschaftlicher Nachfrage. Damit ar- gen Bezieher von Arbeitslosenhilfe auf halbe Rationen beitet Ihre Politik darauf hin, dass der Konjunkturab- gesetzt werden, dann nennen Sie das „Anreizverbesse- schwung tatsächlich schon nach sieben Jahren einsetzt, rungen am Arbeitsmarkt“. Damit behaupten Sie: Die Ar- also im Herbst 2008. Die Arbeitslosigkeit nimmt dann beitsbereitschaft der einen Gruppe nimmt bei höherem wieder zu. Wollen Sie in dieser Lage tatsächlich die Bei- Einkommen offenbar zu, die Arbeitsbereitschaft der an- träge zur Arbeitslosenversicherung absenken? deren nimmt bei höherem Einkommen ab.

(Dr. h. c. [CDU/CSU]: Ja!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Schließlich sind mehr Arbeitslose zu versorgen. Werden Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit. Sie dann das Arbeitslosengeld absenken? Ich traue Ihnen das zu. Dr. Herbert Schui (DIE LINKE): Ich bin sofort am Schluss. – Worin sehen Sie den (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wo Grund für diesen fundamentalen Unterschied zwischen leben Sie denn?) den beiden Gruppen? Welche sozialwissenschaftliche Die Frage ist nur, ob Ihr Koalitionspartner das mitmacht, Theorie haben Sie dafür? weil er sich an schlechte Umfrageergebnisse vielleicht (Beifall bei der LINKEN – Dr. bereits restlos gewöhnt hat, weil ihn also im Grunde ge- [DIE LINKE]: Gar keine!) nommen nichts mehr erschüttern kann. Ich bin sicher: Wenn Sie bei den Geistes- und Sozialwis- Im Jahr 2009 wollen Sie die Sozialabgaben um senschaften weiter kürzen, dann werden Sie erreichen, 1,75 Prozentpunkte senken. Das bedeutet: Wer im Monat dass nur noch Ihre Theorie vorkommt. brutto 3 500 Euro verdient, der hat dann monatlich netto rund 30 Euro mehr. Wird er aber arbeitslos oder geht er Danke. in Rente, dann hat er weniger, weil die Sozialkassen (Beifall bei der LINKEN – Christian Freiherr eben kein Geld haben. von Stetten [CDU/CSU]: Das war eine schöne (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Vorlesung!) Die Rede müssen Sie selber noch mal nachle- (B) sen! Das gibt es ja nicht!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (D) Nun hat das Wort der Kollege Dr. Rainer Wend für – Ich habe von „eindreiviertel Prozent“ gelesen. Aber die SPD-Fraktion. kleiden Sie das bitte in eine Frage, damit mir die Rede- zeit nicht flöten geht! – Dr. Rainer Wend (SPD): (Beifall bei der LINKEN – Carl-Ludwig Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Thiele [FDP]: Nein, wir sind in der Aktuellen Herren! Herr Staatssekretär Schauerte, ich weiß nicht, ob Stunde!) Sie oder Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schon Wer aber Unternehmer ist und 100 Leute beschäftigt, den Mut hatten, dem Bundeswirtschaftsminister die öf- spart jeden Monat 3 000 Euro Sozialabgaben. Ihre Rech- fentlichen Reaktionen auf sein Papier vorzulegen. nung ist jetzt, dass die Beschäftigten sich für 30 Euro im (Beifall der Abg. Ulrike Flach [FDP] – Hartmut Monat dafür einsetzen, dass ein Unternehmer mit Koschyk [CDU/CSU]: Na, na, na!) 100 Leuten eine Entlastung von 3 000 Euro im Monat erfährt. – Ich hoffe sehr, dass sich da niemand einseifen Vielleicht beginnen wir mit den positiven Äußerun- lässt. gen. Positiv haben sich die FDP und namentlich der Kol- lege Brüderle geäußert. Herr Brüderle hat heute noch Überhaupt – letzter Punkt – haben Sie eine wirklich einmal gesagt: Das Papier ist in den Kernüberlegungen merkwürdige Theorie. Sie schreiben: richtig; das bewegt sich in eine vernünftige Richtung. Günstige Steuern schaffen Arbeitsanreize – gerade (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr konstruk- für die Fach- und Führungskräfte und die mittel- tiv!) ständische Wirtschaft, die im Kern die wirtschaftli- Parallel dazu hat Die Linke durch Gesine Lötzsch er- che Dynamik mitverantworten. klärt: Glos nimmt Kurs auf Die Linke. Damit behaupten Sie, Fach- und Führungskräfte sowie (Heiterkeit bei der SPD) die mittelständischen Unternehmer hätten bei geringem Einkommen weniger Anreiz, zu arbeiten. Und umge- Es ist richtig, dass der Wirtschaftsminister ein Investi- kehrt: Viele Leute verdienen 3 Euro in der Stunde oder tionsprogramm fordert. Die Bundesrepublik ist im inter- – allgemein gesagt – viel weniger als den von uns, von nationalen Vergleich im Rückstand damit. Der Bundes- der Linken, geforderten gesetzlichen Mindestlohn. Da minister übernimmt damit eine alte Forderung der behaupten Sie offenbar, dass ein geringer Lohn den Ar- Linken. – Oder: Es ist gut, dass der Wirtschaftsminister 10750 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Dr. Rainer Wend (A) vor allem die unteren Einkommensgruppen entlasten quote weiter reduzieren. Ich will nur darauf hinweisen, (C) will. Auch das ist eine alte Forderung der Linken. dass wir im Vergleich aller EU-Länder inzwischen an fünftletzter Stelle bei der Staatsquote liegen, also bereits (Ulrike Flach [FDP]: Ja, er schillert!) Erfolge im Sinne des Wirtschaftsministers erzielt haben. Herr Staatssekretär, ich glaube, der Bundeswirt- Es stellt sich aber die Frage, ob es wirklich einen auto- schaftsminister muss sich Gedanken machen, wenn ein matischen Zusammenhang zwischen der Höhe der Papier gleichzeitig von der FDP und von der Linkspartei Staatsquote und der Höhe des Wirtschaftswachstums gelobt wird. Dafür kann es nur zwei Erklärungen geben. gibt. So gibt es durchaus Länder mit einer hohen Staats- Die eine Erklärung ist: Eine der beiden Fraktionen hat es quote und einem hohen Wirtschaftswachstum wie auch verpasst, die inhaltliche Tiefe dieses Papiers richtig zu Länder mit niedriger Staatsquote und niedrigem Wirt- erfassen. schaftswachstum. Die Höhe der Staatsquote zu einem erstrangigen Faktor bei der Wirtschaftspolitik zu ma- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der chen, halten wir Sozialdemokraten nach wie vor für ver- CDU/CSU) fehlt. Die andere Erklärung ist: Das Papier enthält so viele Dritter Punkt: Steuern und Abgaben. Ja, wer wünscht Pirouetten, dass es für viele politische Meinungsträger in sich nicht niedrigere? Senkungen werden sicherheitshal- diesem Saal möglich ist, es zu unterstützen. – Ich will ber erst für die nächste Legislaturperiode angekündigt. einmal offenlassen, welche Erklärung zutrifft. Aber hier ist doch eine Schwerpunktsetzung gefragt, (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: meine Damen und Herren: Was wollen wir in erster Li- Oder es ist einfach gut!) nie? Wir Sozialdemokraten wollen in erster Linie zwei Dinge: So viel zu den Befürwortern. Das Erste ist Haushaltskonsolidierung. Was für ein Jetzt zu den Gegnern. Ich habe gelesen, gestern Erfolg der Großen Koalition wäre es, wenn wir am Ende Abend habe Merkel in der Koalitionsrunde unmissver- dieser Legislaturperiode sagen könnten, wir müssen kei- ständlich klargemacht, was sie von Glos’ Wachstums- nen einzigen Euro für neue Schulden mehr aufnehmen; konzept halte: Nichts. – Das ist, finde ich, unfair, Herr unser Staatshaushalt ist ausgeglichen. Das wäre ein gro- Staatssekretär. Dem, der von Tugendzirkel spricht, der ßer wirtschaftspolitischer Erfolg, der bei uns hohen Vor- vom Goldenen Schnitt spricht, kann man doch nicht sa- rang genießt. gen, dass man von einem solchen Papier gar nichts hält. Deshalb würde ich dem Bundeswirtschaftsminister (Beifall bei der SPD – Dr. Michael Fuchs gerne ein bisschen entgegenkommen, nachdem ich drei [CDU/CSU]: Das steht im Papier von Glos (B) (D) ideologische Punkte aufgegriffen habe, die ich nicht drin!) teile. Das Zweite ist die Stärkung von Zukunftsinvestitio- Erster Punkt. Der Bundeswirtschaftsminister erklärt, nen. Hier greift, wie ich finde, Herr Glos etwas Richtiges die Erfolge, die wir gegenwärtig bei der Wirtschafts- auf. Wir stehen in der EU an drittletzter Stelle in Bezug politik zu verzeichnen haben, seien ausschließlich auf auf die Ausgaben für Bildung im Vergleich zum Brutto- angebotspolitische Maßnahmen zurückzuführen. Das inlandsprodukt und an vorletzter Stelle in Bezug auf die überrascht mich. Wir haben damals in den Koalitions- Investitionen. verhandlungen – ich war ja dabei – auf Drängen von Deswegen sagen wir: Lasst uns, bevor wir den Bürge- SPD und CSU ein 25-Milliarden-Euro-Programm für In- rinnen und Bürgern für die nächste Legislaturperiode vestitionen in die Koalitionsvereinbarung aufgenom- wieder viel versprechen, erst einmal den Haushalt kon- men, unter anderem für Häusersanierung, was im Hand- solidieren und die Gelder, die uns dann noch als Spiel- werk viele Arbeitsplätze geschaffen hat. Das als eine raum bleiben, für Zukunftsinvestitionen ausgeben. Das angebotspolitische Maßnahme zu bezeichnen, wäre ja ist eine vernünftige Politik. Wenn der Bundeswirt- wohl gänzlich absurd. Das ist ein klassisches Beispiel schaftsminister das vorher mit uns besprochen hätte, hät- für eine nachfragepolitische Maßnahme. ten wir ihm das auch erklärt. (Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben es doch Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. angeboten!) (Beifall bei der SPD) Wenn wir uns von ideologischer Argumentation wegbe- wegen, stellen wir fest: Die Erfolge, die wir zurzeit zu verzeichnen haben, resultieren, soweit sie überhaupt auf Vizepräsident Dr. h. c. : politische Maßnahmen zurückzuführen sind, aus einer Ich erteile das Wort Kollegin Kerstin Andreae, Frak- Kombination von Angebots- und Nachfragepolitik. Da- tion des Bündnisses 90/Die Grünen. bei sollten wir bleiben und nicht wieder alte ideologische Gräben ausheben. Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und (Vorsitz: Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Herren! Herr Wend, Sie haben gesagt, der Bundeswirt- Thierse) schaftsminister müsse sich Gedanken machen, wenn so- Zweiter Punkt: Staatsquote. Der Bundeswirtschafts- wohl die FDP als auch Die Linke sein Konzept loben. minister fordert wieder einmal, wir müssten die Staats- Ich glaube eher, der Bundeswirtschaftsminister muss Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10751

Kerstin Andreae (A) sich Gedanken machen, wenn der Koalitionspartner in kungen an und machen das Gegenteil. Ich bin nicht der (C) einer derartigen Art und Weise, unter anderem mit den Meinung, dass im Augenblick die Zeit für Steuersenkun- Worten „gänzlich absurd“, einen Vorschlag aus dem gen ist. Verstehen Sie mich da nicht falsch. Dieser Mei- Wirtschaftsministerium kommentiert und beurteilt. nung bin ich nicht. (Dr. Rainer Wend [SPD]: So weit würde ich (Beifall bei Abgeordneten der SPD) nicht gehen!) Ich will nur darauf hinweisen, dass auf der einen Seite Das lässt wirklich tief blicken, was den Zustand der Gro- angekündigt und auf der anderen Seite etwas ganz ande- ßen Koalition angeht. Ich befürchte, dass da noch einiges res gemacht wird. Wir glauben, Konsolidierung und In- auf uns zukommt. vestitionen sind der richtige Weg. Deswegen möchte ich auf diesen dritten Punkt zu sprechen kommen: Sie sagen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie wollen den Anteil öffentlicher Investitionen erhöhen, Tatsächlich finden auch wir es erstaunlich, was aus und wollen Prioritäten setzen. Das ist ein bisschen ver- dem Hause Glos kommt. Wenn man die letzten andert- schwiemelt, das heißt, Sie wollen nicht nur in Beton, halb Jahre überblickt, erstaunt man noch mehr über die sondern auch in Bildung und berufliche Förderung in- Ankündigungen und Vorschläge, mit denen der Minister vestieren. Wir erkennen immer wieder, dass Sie sehr viel Glos immer wieder losgezogen ist, die er aber letztlich mehr in den Bereich des Straßenbaus und der Infrastruk- nicht durchsetzen konnte. Was, bitte, ist in den letzten tur investieren, anstatt wirklich in Bildung und For- anderthalb Jahren tatsächlich aus dem Wirtschaftsminis- schung zu investieren. Dies fänden wir richtig. Investie- terium gekommen und wurde umgesetzt? Es wurde der ren Sie in Bildung und Forschung. Hier sind wir weit Vorschlag gemacht, die Einkommensteuer zu senken; hinten dran. Hier müssen wir die Prioritäten setzen. Wir tatsächlich ist die Mehrwertsteuer erhöht worden. Es müssen unseren Standort als Wissensökonomie aus- wurde klar gesagt, das Wirtschaftsministerium stehe zur bauen. Das ist unser Kapital, unsere Ressource. Mit Abschaffung des Briefmonopols; es steht nicht dazu. Es Blick auf den Fachkräftemangel, der auf uns zukommt, wurde versucht, sich gegen Tiefensee beim Börsengang ist es ganz wichtig, dass wir in Bildung und Forschung der Bahn zu stellen. Das funktionierte nicht. Es wurde investieren. die Mittelstandslücke bei der Unternehmensteuerreform Die 70 Milliarden Euro, die Sie in dem Programm an- angesprochen. Wir haben sie genau so umgesetzt. Im sprechen, sind eine Luftbuchung, das sind ungedeckte Bereich der Abgeltungsteuer sind Änderungen vorge- Schecks. Ich finde es sehr erstaunlich, dass Sie bis zum schlagen worden. Sie sind nicht durchgesetzt worden. Jahre 2012 eine Wachstumsrate von 3 Prozent anlegen. Wir müssen konstatieren, dass die Vorschläge aus dem Das lässt zunächst einmal jegliche ökonomische, kon- Wirtschaftministerium – manche sind gut, manche sind (B) junkturelle Grundvoraussetzung außer Acht. Über die- (D) nicht gut – nicht durchsetzungsfähig sind, dass die sen langen Zeitraum können Sie überhaupt nicht kalku- Koalition dem Wirtschaftsminister Glos keine Rücken- lieren, was die Wachstumsrate angeht. Das funktioniert deckung gibt. nicht. Wenn wir als Rot-Grün das gemacht hätten, wenn (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – wir es gewagt hätten, über einen solchen Zeitraum in Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Das ist so dieser Größenordnung Wachstumsraten anzusetzen, was von falsch!) dann hätte ich Ihre Rede hören wollen. Einige Punkte aus dem Programm unterstützen wir ja. (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Bei Ihnen waren Es ist richtig, die Defizite abzubauen. Aber fangen Sie die kurzfristigen Zahlen schon falsch!) beim Bundeshaushalt an. Unter den jetzigen Bedingun- gen könnten Sie den Bundeshaushalt bis zum Jahr 2009 Ich habe bereits erwähnt, dass Sie keine Rückende- ausgleichen. Aber was erleben wir? – Wir erleben den ckung haben. Wir haben gerade vom Kollegen Wend ge- absurden Zusammenhang von Ankündigung, Anspruch schildert bekommen, dass die SPD nicht dahintersteht. und Wirklichkeit. Jedes Ressort des Kabinetts hat tolle Gleichlautende Meldungen gab es ja heute auch von der Vorschläge für weitere Ausgaben. Fangen Sie beim Bun- Kanzlerin und vom Finanzministerium. deshaushalt an. Den können Sie bis 2009 ausgleichen. Lassen Sie mich noch auf einen Punkt eingehen, der Das wäre ein realistisches Ziel. Die gesamtstaatliche Be- – das verblüfft mich – immer wieder fehlt: Wenn man trachtung ist richtig, aber der Bundeshaushalt ist der ei- heute Wirtschaftspolitik bespricht, sich Gedanken da- gentliche Defizittreiber. Fangen Sie hier an. rüber macht, wie die wirtschaftliche Entwicklung eines (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Landes vonstatten gehen soll, dann muss man zwingend die Ökologie mit berücksichtigen. Mich erstaunt es im- Der zweite Punkt, den Sie in dem Konzept vorschla- mer wieder, dass Sie ein Programm bis zum Jahr 2012 gen, bezieht sich auf die Belastung durch Steuern und auflegen, eine Perspektive aufzeigen, sich aber keine Abgaben. Die Mehrwertsteuer habe ich bereits ange- Gedanken darüber machen, was es eigentlich heißt, jähr- sprochen. Es ist immer gut, zu sagen, man wolle die lich ein dreiprozentiges Wachstum zugrunde zu legen. Steuern senken. Das kommt gut an und freut die Leute. Was ist der Preis, der für dieses Wachstum gezahlt wird? De facto haben Sie mit der Mehrwertsteuererhöhung Wie kommen wir hin zu einem ressourcenschonenden eine der größten Steuererhöhungen auf den Weg ge- Wirtschaften? Wie kommen wir hin zu einer vom bracht. Sie kündigen immer wieder Steuersenkungen an Wachstum unabhängigeren Wirtschaft, damit wir nicht und machen das Gegenteil. Sie kündigen Abgabensen- in die Knie gehen, wenn es einmal nicht so gut läuft? 10752 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Kerstin Andreae (A) Wie schaffen wir es, von endlichen Ressourcen unab- gnädig mit Ihnen, weil wir in einer gemeinsamen Koali- (C) hängiger zu werden? Wie bekommen wir die Ener- tion sind. Aber wer sieben Jahre Rot-Grün erlebt hat, giewende hin? Wir sagen: Eine gesunde ökonomische weiß, was ungedeckte Schecks, warme Worte und fal- Entwicklung schaffen Sie nur mit einer gesunden ökolo- sche Versprechungen sind. gischen Entwicklung. Jedes Wirtschaftsprogramm, das heute geschrieben wird, muss die Ökologie mit berück- (Beifall bei der CDU/CSU) sichtigen, denn sonst greift es zu kurz und sonst nehmen Herr Brüderle, der Grund für eine Aktuelle Stunde Sie die wichtigen notwendigen Herausforderungen, vor über dieses Thema erschließt sich mir auch nach Ihrer denen wir stehen, nicht mehr an. Rede ehrlich gesagt noch nicht ganz. Sie haben den Deswegen können wir, was dieses Programm aus dem Wirtschaftsminister mehr gelobt als kritisiert. Vielleicht Hause Glos angeht, nur sagen: Es ist eine Ankündigung, war es ein kleiner Versuch einer Bewerbungsrede als es ist nicht seriös gerechnet, und vor allem lässt es den Parlamentarischer Staatssekretär bei Minister Glos; entscheidenden Punkt der Ökologie außer Acht. (Zurufe von der FDP: Oh! – Vielen Dank. [FDP]: Jeder blamiert sich selbst, so gut er kann!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) aber ich bin mir nicht ganz sicher. In früheren Aussagen bezüglich unserer Politik, gerade nach Genshagen, ha- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: ben Sie deutlich gemacht, dass wir die Konjunktur Ich erteile das Wort Kollegen Alexander Dobrindt, abwürgen und das kleine Pflänzchen Wachstum nieder- CDU/CSU-Fraktion. treten würden und dass sich bei unserem Wirtschaftspro- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Rainer Wend gramm nichts mehr entwickeln würde. Die Geschichte [SPD]: Schmeiß dich richtig in die Bresche!) hat gezeigt, dass Sie da vollkommen falsch gelegen ha- ben. Das Investitionsprogramm der Bundesregierung, die Mittelstandsförderung und auch die Reduzierung der Alexander Dobrindt (CDU/CSU): Lohnnebenkosten Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Andreae, Sie (Otto Fricke [FDP]: Alles mit dem Glos! – wollten hier darstellen, dass es keine Rückendeckung für Rainer Brüderle [FDP]: Alles mit dem Berg- Michael Glos gibt. Falscher kann man die Situation ei- führer!) gentlich nicht einschätzen, als Sie das gemacht haben. sind für den Aufschwung, den die Menschen in Deutsch- (B) (Beifall bei der CDU/CSU) land heute erleben, zum großen Teil verantwortlich. Das (D) ist das, was Wirtschaftsminister Glos in der Bundes- Deutschland ist Gipfelstürmer beim wirtschaftlichen regierung durchgesetzt hat. Wachstum, und Michel Glos ist der Bergführer des Auf- schwungs; das muss man hier festhalten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen beim Auf dieser Basis will der Wirtschaftsminister weiter- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) arbeiten. Konsolidieren, investieren und entlasten Damit nicht genug: Mit dem Programm, das er vorge- (Otto Fricke [FDP]: Reformieren!) legt hat – konsolidieren, investieren und die Bürger ent- heißt natürlich auch, die Probleme in der jetzigen Zeit zu lasten –, ist für alle deutlich geworden – das zeigen auch lösen, statt sie auf die Zukunft und die nächste Genera- die Reaktionen der Menschen vor Ort –, dass Michel tion zu verschieben. Das ist ein entscheidender Punkt, Glos der wirtschaftliche und finanzpolitische Vordenker den man sich merken muss. Die Menschen haben früher dieser Bundesregierung ist. Auch das muss man festhal- immer gern gesagt: Ich will, dass es meinen Kindern ein- ten. mal besser geht. – Der Leitgedanke des Papiers von Lieber Kollege Wend, ich muss hier auch auf Sie ein- Michel Glos ist, dass wir die bestehenden Probleme gehen. Wir sind ja zurzeit in einer gemeinsamen Koali- heute angehen und lösen, statt sie auf die Zukunft zu ver- tion. schieben. Es ist notwendig, sie in der Gegenwart zu lö- sen, damit wir eine bessere Zukunft für die Generation (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- unserer Kinder erwirtschaften können. NEN]: Man glaubt es nicht!) Dafür stehen die Vorschläge von Michel Glos: öffent- Der Kollege Poß hat in den Medien verkünden lassen, liche Verschuldung abbauen, Steuern und Abgaben dau- dass es sich hier unter Umständen um eine „Provokation erhaft senken und öffentliche Investitionen erhöhen. Ich des sozialdemokratischen Regierungspartners“ handeln kann nicht verstehen, wenn Kolleginnen und Kollegen könnte. Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn Sie sich jetzt sagen, das sei aber beim aktuellen Regierungshandeln schon von guten Ideen provozieren lassen, dann wird es nicht festzustellen. Wir sind dabei, die Verschuldung ab- in den nächsten Wochen vielleicht noch schwer für Sie, zubauen; das ist hier deutlich dargestellt worden. Diesen denn Sie müssen mit weiteren guten Ideen aus der Union Weg werden wir konsequent weitergehen. Das hat rechnen. Aber wir werden damit zurechtkommen. Ihr Michel Glos eingefordert. Kollege hat auch gesagt: „warme Worte, falsche Ver- sprechungen und ungedeckte Schecks“. Ich bin heute (Ulrike Flach [FDP]: Aha!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10753

Alexander Dobrindt (A) Wir sind dabei, die Lohnnebenkosten zu senken. Wir (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ (C) haben dies bei der Arbeitslosenversicherung bewiesen. DIE GRÜNEN) Wir haben sehr deutlich klargemacht, welche Wirkungen Dass die Kanzlerin das für unvereinbar mit den Etat- das auf das Wirtschaftswachstum und auf die Beschäfti- plänen für 2008 und der Finanzplanung bis 2011 hält, ist gung hat. Diesen Weg wollen wir weiter beschreiten. nun wirklich nicht verwunderlich. Unsere Priorität – das In allen Beschlüssen, die zurzeit getroffen werden, haben wir Liberale in den letzten Monaten immer wieder steht deutlich: Öffentliche Investitionen werden er- klargemacht – muss in der qualitativen Sanierung liegen. höht. – Auch Michel Glos fordert das weiterhin ein. Des- Gerade dann, wenn es uns gut geht, gerade dann, wenn wegen ist sein Programm ein echtes Zukunftsprogramm. die Konjunktur sprudelt, müssen wir dafür sorgen, dass Deswegen ist es ein Programm, das über die jetzige der Haushalt endlich ins Reine kommt. Denn wann sonst Wahlperiode hinausreicht. Deswegen ist es ein Pro- wollen Sie dies tun? Das ist doch genau der Punkt. Der gramm, das die Wählerinnen und Wähler bestätigen Glos’sche Tugendkreislauf – boomende Wirtschaft, stei- werden. gende Steuereinnahmen, sinkende Schulden und damit wachsende Gestaltungsspielräume – entbehrt vor diesem Danke schön. Hintergrund, in der derzeitigen Konstellation, jeglicher (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Peter Ramsauer Realität. [CDU/CSU]: Es ist ein Manifest!) (Beifall bei der FDP) Haushalt sanieren, Lohn- und Einkommensteuer senken Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: und oben drauf mehr investieren, das ist in dieser politi- Ich erteile das Wort Kollegin Ulrike Flach, FDP-Frak- schen Konstellation nicht machbar. Das wäre übrigens tion. auch mit uns nicht machbar, lieber Herr Schauerte. Ich kann Herrn Müntefering eigentlich nur zustimmen, der Ulrike Flach (FDP): in diesem Zusammenhang von einem sehr theoretischen Impuls gesprochen hat. Ich bin einmal gespannt, wie er Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! das in den nächsten Koalitionsgesprächen umsetzt. Herr Dobrindt, es wäre ja schön, wenn Herr Glos als Bergführer die Verschuldung abbauen würde. Nur, diese 3 Prozent des BIP für Forschung und Entwicklung Regierung kann froh sein, wenn sie überhaupt die Neu- auszugeben, hat Herr Glos vorgeschlagen. Bei dieser verschuldung in den Griff bekommt; das ist doch der Konjunktur sind das bis 2010 75 Milliarden Euro; denn Punkt. Sie machen den Bürgern vor, Sie würden an die wir haben ja eine nach oben gehende Konjunktur. Vor Verschuldung herangehen und sie nach unten drücken. ein paar Jahren waren es noch deutlich weniger. Das ist (B) (D) In Wirklichkeit kämpfen Sie aber jeden Tag gegen die haushalterisch – das muss man an dieser Stelle sagen – verschiedenen Ansprüche der Minister – diese sind übri- absolut illusorisch und hat mit dem schönen Goldenen gens Ihre eigenen – und müssen dafür sorgen, dass die Schnitt absolut nichts zu tun. Herr Steinbrück, auf den Neuverschuldung, das, was neu aufgenommen wird, ich mich an dieser Stelle beziehen möchte, hat das sehr endlich auf null zurückgefahren wird. So stelle ich mir richtig als kein aktuelles Regierungshandeln bezeichnet. einen Bergführer nicht vor – und offensichtlich auch die (Otto Fricke [FDP]: Hört! Hört! – Carl-Lud- gesamte Regierung nicht, wenn ich die Resonanz dazu wig Thiele [FDP]: Aha!) so höre. Wenn Sie denn schon etwas Gutes tun wollen, meine (Beifall bei der FDP – Alexander Dobrindt Damen und Herren von der CDU/CSU, dann bleiben Sie [CDU/CSU]: Grundlegend falsch!) doch bei seinen ursprünglichen Vorschlägen. Er hat ja Wenn es ein Wort gibt, welches auf Herrn Glos besser einmal ganz gut angefangen: erst den Haushalt sanieren zutrifft als die Bezeichnung „Bergführer“, dann ist es das und dann die Bürger entlasten; das hat auch Rainer Brü- Stichwort „Beständigkeit“. Er hat in den letzten Mona- derle eben vorgetragen. Jetzt macht er einen schönen ten – da stimme ich Ihnen, Frau Andreae, völlig zu – in Sprung, greift den Bürgern in die Tasche und meint, er dieser Koalition immer wieder als Brandbombenwerfer müsse ihnen noch etwas schenken. Lassen Sie den Leu- gewirkt. ten doch das Geld! Dann boomt auch die Wirtschaft. Das war bisher eigentlich immer die Politik der CDU/CSU. (Zurufe von der CDU/CSU und der SPD: Oh!) (Beifall bei der FDP) – Das hat jetzt einen großen Erfolg bei Ihnen hervorge- Es ist für mich etwas neu, dass wir an dieser Stelle von rufen – das freut mich –, führt aber nicht so richtig zum der SPD hören müssen, wie man solider mit Steuergel- Ziel. – Diesmal ist es ein 70-Milliarden-Programm mit dern umgeht. kräftigen Investitionsspritzen und einem eleganten Schwung von der qualitativen Haushaltssanierung, Herr Seit zehn Monaten leben wir übrigens mit der Umset- Staatssekretär Diller, die Herr Steinbrück uns immer vor- zung Ihres ersten Versuches – lassen Sie mich diesen trägt, zur reinen Ausnutzung der derzeit guten Konjunk- kleinen Schlenker in diesem Zusammenhang noch ma- tur und nichts anderes. Es geht hier nicht um einen quali- chen –, Arbeitsplätze im wissensorientierten Bereich zu tativen Schritt, den ich von einem Wirtschaftsminister schaffen: mit der Hightechstrategie. Ich will an dieser erwarten würde, sondern darum, dass Sie etwas ausnut- Stelle die Antwort der Bundesbildungs- und -for- zen, was Ihnen sozusagen von selbst in die Kassen fließt. schungsministerin zitieren, die auf unsere Frage, ob 10754 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Ulrike Flach (A) überhaupt schon ein Erfolg zu merken ist und ob die Ar- haben, Frau Andreae, sondern, weil wir vor der Wahl ge- (C) beitsplätze, die mit solchen Investitionsprogrammen ge- sagt haben, dass wir die Mehrwertsteuer erhöhen. Diesen schaffen werden sollen, schon bestehen, klipp und klar Mut hat noch keine Partei in einem Wahlkampf gehabt. gesagt hat: Dies ist nicht messbar. Nun setzt Minister Das hätte uns fast das Leben gekostet. Wir haben es ge- Glos ein Programm auf, das messbare Erfolge hervor- tan, weil es notwendig und richtig war. bringen soll. Nein, so geht das nicht. Dieses Perspektiv- papier, das mit der Kanzlerin Gott sei Dank nicht abge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und stimmt war, wird ein Flop werden; davon gehen wir aus. der SPD – Heiterkeit bei der FDP – Ulrike Flach [FDP]: So kann man es auch sagen!) Lassen Sie mich zum Abschluss noch etwas sagen: Da ich schon etwas länger in der Politik bin, erinnere ich Der Bundesfinanzminister hat unsere volle Unterstüt- mich sehr gut an ein anderes Perspektivpapier, und zwar zung, wenn es darum geht, den Haushalt zu konsolidie- von jemandem aus unseren Reihen, von Graf Lambsdorff. ren und einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. Da- Nun kann man zwar sagen, dass Michel Glos Meilen von gibt es überhaupt kein Abweichen. oder sogar Lichtjahre von Graf Lambsdorff entfernt ist; (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des es ist aber wieder einmal so, dass an einer entscheiden- Abg. Hartmut Koschyk [CDU/CSU] sowie bei den Stelle der deutschen Geschichte plötzlich ein Papier Abgeordneten der SPD) auf den Tisch gelegt wird und man davon ausgehen muss, dass es eine Bedeutung hat. Hier ist ein Signal ge- Über diese Priorität brauchen wir nicht zu diskutieren. geben worden. Seitdem dieses Papier auf dem Tisch Es steht fest, dass die Konsolidierung der Staatsfinanzen liegt, können wir die Stunden dieser Koalition zählen. höchste Priorität hat. Erstmals können wir einen Bundes- Darüber sind wir erfreut. Das einzig gute Signal ist: haushalt mit null Verschuldung erreichen. Einige Sach- Deutschland braucht eine neue Bundesregierung. Ich verständige sagen, das sei schon 2009 möglich, andere denke, das Perspektivpapier war ein guter Schritt dahin. sagen, es sei 2010 möglich. Ich hoffe, dass es so früh wie möglich der Fall sein wird. Darüber sollten wir nicht (Beifall bei der FDP – Dr. Rainer Wend [SPD]: groß diskutieren. Es ist klar, dass das Priorität hat. Lassen Sie mich raten: Mit der FDP!) Jetzt komme ich zu der entscheidenden Veränderung, über die wir uns unterhalten müssen. Hohe Steuerein- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: nahmen und volle Kassen der Sozialversicherungssys- Nun erteile ich dem Parlamentarischen Staatssekretär teme führen in diesem unserem Lande stets zu neuen Be- Hartmut Schauerte das Wort. gehrlichkeiten.

(B) Hartmut Schauerte, Parl. Staatssekretär beim Bun- (Ulrike Flach [FDP]: Das ist richtig!) (D) desminister für Wirtschaft und Technologie: Die Begehrlichkeiten wachsen schneller als die Einnah- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- men. ren! Es ist schon erstaunlich, welche unterschiedlichen Stellungnahmen, Erklärungen, Interpretationsversuche (Beifall der Abg. Ulrike Flach [FDP]) und Deutungen vorgebracht und welche historischen Zu- Dass diese Situation so schnell eintreten würde, haben sammenhänge hergestellt werden, wenn der Wirtschafts- wir zu Beginn unserer Regierungszeit nicht geglaubt. minister einen Brief an die Abgeordneten schickt, in Der Turnaround kam schneller als angekündigt. Dass wir dem er ein Modell für eine in der gegenwärtigen Situa- weitergekommen sind, als wir am Anfang gedacht ha- tion vernünftige Kombination aus Wirtschafts- und ben, stellen Sie fest, wenn Sie sich unsere Planungen und Finanzpolitik vorstellt. Zusagen ansehen. Da ist es absolut legitim und geboten (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: So ist es!) zu überlegen, mit welcher Strategie man ein Signal aus- senden kann, damit die neuen Gestaltungsmöglichkeiten Er schickt dieses Papier zu einem Zeitpunkt, wo wir nicht zerfleddert werden, nicht in neue Programme um- seit 18 Monaten an der Regierung sind. Wir haben gegossen werden, sondern man hart an der Linie bleibt. 1 Million Arbeitslose weniger, 1 Million Beschäftigte Damit befasst sich dieses Modell in besonderem Maße; mehr als zu Beginn, die Zahl der offenen Stellen hat sich das sollte man bitte nicht verkennen. verdoppelt, die Zahl der Pleiten ist um ein Viertel zu- rückgegangen, Es gibt einen zweiten Ansatz. Wir erklären ja im Zu- sammenhang mit diesem Modell, wie man mit der elen- (Otto Fricke [FDP]: Die Schulden?) den, wachsenden Staatsverschuldung endlich einmal ins die Staatsquote ist von 47 auf 45 Prozent gesunken, die Reine kommen kann. Das ist eine Sorge, die viele Bür- Nettoneuverschuldung ist kraftvoll zurückgeführt wor- ger umtreibt. Ich glaube, da müssen wir Vertrauen dahin den und das Staatsdefizit ist von 3,7 Prozent auf 1,7 Pro- gehend signalisieren, dass wir das beherrschen können. zent gesenkt worden; all das nach 18 Monaten. (Otto Fricke [FDP]: Sehr gut!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Otto Fri- Wenn Sie sich das Modell einmal anschauen, dann sehen cke [FDP]: Die Verschuldung gesunken?) Sie, dass es zu diesem Punkt eine klare und gute Bot- Erstmals ist ein Staatsdefizit von null möglich; es ist schaft gibt. Dort steht, dass es möglich ist, in einem in greifbarer Nähe. Die Steuereinnahmen sprudeln kräf- überschaubaren Zeitraum von fünf oder sechs Jahren – je tig, und zwar nicht, weil wir widersprüchlich gehandelt nachdem, welche Zahlen wir dem Modell zugrunde le- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10755

Parl. Staatssekretär Hartmut Schauerte (A) gen – von einer Staatsverschuldung in Höhe von 67 Pro- Wir gehen davon aus, dass wir aufgrund unserer guten (C) zent auf etwa 60 Prozent zu kommen. Das wäre ein Position im Wettbewerb – oder aus welchen Gründen enorm wichtiges Signal. Wir müssen dies den Bürgern auch immer – ein etwas stärkeres Wachstum erwarten kommunizieren, damit das Vertrauen in die Stabilität un- dürfen. Wir wollen dafür arbeiten. Dann sind wir bei Re- seres Gemeinwesens wieder wachsen kann. Das ist eine formen. In dem Modell spielt das keine Rolle. wichtige Voraussetzung für einen anhaltend guten kon- (Ulrike Flach [FDP]: Ein kleiner Nebensatz!) junkturellen und wirtschaftlichen Verlauf. – Entschuldigen Sie einmal, das ist nicht die Kernaus- (Beifall bei der CDU/CSU) sage des Papiers. Es ist so schon lang genug! Ich hätte es Genau das will Michel Glos mit dem Papier errei- mir lieber kürzer gewünscht. chen. Wir wollen den Begehrlichkeiten nicht nachgeben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Wir wollen sagen: Wir müssen die Schuldenrückführung der SPD – Lachen bei der FDP) und die intelligenten Investitionen und Umschichtungen in den Haushalten konsequent gestalten. Da sind wir – Entschuldigen Sie einmal, es macht doch keinen Sinn, doch völlig einer Meinung. Man kann sich jetzt viel- jetzt zusätzlich all das hineinzuschreiben, was man auch leicht über das Zustandekommen des Papiers ärgern. noch hätte schreiben können. Hätte man es erst im Kabinett vorlegen sollen? Hätte es In aller Klarheit: Das sind ausgesprochen realistische der Finanzminister schreiben sollen? Möglicherweise Daten. Wir sprechen von einer Ausgabenlinie für den wäre dann aus dem Wirtschaftsressort Widerstand ge- Gesamtstaat von 2 Prozent. Das ist für eine Planung re- kommen. Möglicherweise gibt es da ganz viele Ele- alistisch und immerhin höher als die erwartete Infla- mente. Ich bin nur nicht gefragt worden. In der Sache tionsrate. Darin ist Wachstum enthalten. Wir sind bisher sehe ich den Widerspruch, der hier zum Teil künstlich einheitlich davon ausgegangen, dass das staatliche Aus- geschaffen wird, nicht. gabeverhalten nicht überproportional zum Wachstum or- ganisiert werden soll. Das soll doch so bleiben. Nichts (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr richtig!) anderes steht in dem Papier. Das ist eine der Annahmen. Die Prioritäten heißen: erstens, weiter konsolidieren; Ich komme zum Punkt. Das Modell ist seriös gerech- zweitens mehr investieren – vor allem durch richtige net. Es ist plausibel. Es zeigt – das habe ich schon gesagt – Prioritätensetzungen in den Haushalten bei Bund und zum Beispiel hinsichtlich der Staatsverschuldung ein Ländern; das kann man auch strukturelle Konsolidierung Bild, das für die Menschen nachvollziehbar ist. Dadurch nennen; die kommt immer wieder vor in unseren ge- sehen sie: Ich muss mir keine Sorgen machen, was mit meinsamen Papieren – und drittens, Abgaben und Steu- meiner Rente und meinem Ersparten passiert. (B) ern senken. Dabei gibt es keinen Widerspruch. Wir wer- (D) (Otto Fricke [FDP]: Die Rente ist sicher!) den einige Steuern umschichten, um Abgaben senken zu können. Die Diskussion darüber läuft ja zum Beispiel in Diese Regierung geht die Staatsverschuldung an. Das der Gesundheitspolitik. Das ist unvermeidbar. kann man mit einem solchen Modell erläutern. Es zeigt einen realistischen, wünschenswerten und vor allen Din- Aber trotzdem: Wenn Gestaltungsräume da sind, wol- gen notwendigen Weg, um unser Land in eine nachhaltig len wir Aufgaben des Staates nicht aufblähen, sondern stabile Zukunft zu führen. wir wollen sie zurückführen und die Mittel, die frei wer- den, den Bürgern zurückgeben, entweder in Form von Wer ein besseres Modell zur Erklärung dieser Zusam- Abgabensenkungen oder Steuersenkungen. Ich gebe menhänge hat, ist herzlich gebeten, es vorzustellen. Wir Laurenz Meyer völlig recht: Für die Wettbewerbsfähig- würden gerne mit Ihnen über eine Optimierung des Mo- keit der Arbeitsplätze in Deutschland hat die Abga- dells und über seine verschiedenen Stellschrauben disku- bensenkung Vorrang vor der Steuersenkung. tieren. Warum nicht? Dieses Modell steht jetzt als Werk- stück in der politischen Debatte. Es lohnt sich, sich (Beifall bei der CDU/CSU) weiter damit zu beschäftigen. Aber deswegen verzichte ich doch nicht einfach auf das Was die Beteiligung an dieser Debatte heute angeht: Gestaltungselement Steuersenkung. Wir haben hier schon Debatten über wirtschaftspoliti- sche Themen geführt, die noch wichtiger waren. Aber (Ulrike Flach [FDP]: Na! Das wäre richtig!) damals war die Beteiligung deutlich schlechter. Auf welcher Ebene diskutieren wir hier eigentlich mit- (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- einander? Die Reihenfolge ist auch da klar. NEN]: Wo ist eigentlich der Minister? – Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Das vorgelegte Modell beruht auf Wachstumsannah- NEN]: Herr Schauerte, wo ist Herr Glos?) men und Annahmen für die Einnahmen- und Ausgaben- entwicklung. Das sind keine neuen Zahlen; das sind die Daran zeigt sich: Ganz offensichtlich haben wir bei vie- Zahlen der Finanzplanung. Sie sind realistisch. Wir neh- len von Ihnen den richtigen Punkt getroffen, der Sie da- men ein Wachstum von nominal 3 Prozent an. Das ist ein ran erinnert hat, dass es wichtig ist, offen und in Model- reales Wachstum von 1,75 Prozent. len über Wirtschaftspolitik zu diskutieren. Herzlichen Dank. (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Die können brutto und netto nicht unterscheiden!) (Beifall bei der CDU/CSU) 10756 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Zuruf von der CDU/CSU: Warum schickt die (C) Ich erteile das Wort Kollegen Ortwin Runde, SPD- SPD denn die Philosophen zum Reden?) Fraktion. Wir müssen feststellen: Wir befinden uns gegenwärtig (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- in den sieben fetten Jahren. Ich glaube, es liegt nicht NEN]: Jetzt kommt die Opposition in der Koa- nahe, 70 Milliarden Euro auszugeben, wenn man weiß, lition! – Ulrike Flach [FDP]: Na, dann legen dass nach sieben fetten Jahren – es sei denn, man hängt Sie mal los, Herr Runde! – Kerstin Andreae dem Glauben des immerwährenden Aufschwungs an – [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist die in aller Regel sieben magere Jahre folgen. wahre Opposition!) (Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: So schnell kommen Sie nicht wieder alleine in die Ortwin Runde (SPD): Regierung!) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man sollte die Dinge des Lebens, erst recht in so heiß- Wenn man in den sieben fetten Jahren 70 Milliarden schwülen Tagen wie diesen, mit Humor nehmen. Dazu Euro ausgibt, wie viel will man dann in den sieben ma- hat der Bundeswirtschaftsminister einen besonderen geren Jahren ausgeben? Bei diesem Beispiel wäre Herrn Beitrag geleistet. Ein besonderes Amüsement bietet da- Glos, einem alten Müller, deutlich geworden, dass es bei der Gedanke, die Wirtschaft lasse sich in einer Art viel klüger ist, in den fetten Jahren mehr Geld für die Tugendkreislauf bewegen. Bundesminister Glos führt in kommenden mageren Jahre zurückzulegen. Das wäre seinem Brief für die Altsprachler unter uns freundlicher- auch unter makroökonomischen Gesichtspunkten der na- weise eine lateinische Bezeichnung an, die ein regel- heliegende Ansatz gewesen. rechter Pointentreiber ist: Ein Circulus virtuosus soll Die Debatten, die wir führen, sind ja teilweise mitei- das, was er in der deutschen Wirtschaft anstrebt, sein. Da nander verzahnt: die Debatte über die Schuldenbremse liegt der Circulus vitiosus, der Zirkelschluss, nicht nur und die Diskussion, die wir im Rahmen der Föderalis- grammatikalisch ziemlich nahe. Die letzten Intellektuel- musreform über die Staatsverschuldung führen. Jeder, len, die entdeckt haben wollten, dass sich gesellschaftli- der sich die Fakten ansieht, wird feststellen, dass che Prozesse in Kreisläufen vollziehen, waren die deut- Deutschland kein Ausgabenproblem hat, Herr Brüderle, schen Romantiker um 1820. (Ulrike Flach [FDP]: Selbstverständlich gab es Wenn man das weiß, kann man diese Überhöhung im auch ein Ausgabenproblem!) Brief des Bundeswirtschaftsministers mit einem Augen- zwinkern mal als starken Verweis auf die tief konserva- sondern dass Deutschland in der gesamten Zeit nach der (B) tive Struktur seines Denkens begreifen, mal als Tribut an Wiedervereinigung ein Einnahmeproblem hatte. Dieses (D) seine fränkische Heimat, von der die Straße der Roman- Einnahmeproblem hat zu der hohen Staatsverschuldung tik nicht sehr weit entfernt ist, mal als Honneurs an den geführt. Wir sind, was die Ausgabenseite angeht, in den bayerischen Ministerpräsidenten in der Warteschleife, letzten Jahren Weltmeister gewesen: Wir hatten die nied- der ja auch aus dieser romantischen Ecke, aus Franken, rigsten Ausgabenquoten in den öffentlichen Haushalten. kommt. Damit lagen wir noch vor der Schweiz. Das muss man bei solchen Verschuldungsdebatten immer bedenken. In- (Otto Fricke [FDP]: Nein! Herr Seehofer sofern ist die Ankündigung von Entlastung als viertem kommt aus Ingolstadt!) Punkt, als Annex, als Anhängsel an das, was die Regie- rungspolitik ist, konjunkturpolitisch und auch vom Dass die FDP beim Goldenen Schnitt leuchtende Au- Denkansatz her ein Stück weit verfehlt, und es wäre gut, gen bekommt, ist nachvollziehbar, wenn Herr Glos die Bilder mehr seinen christlichen Ur- (Edelgard Bulmahn [SPD]: Ja! Das verstehen sprüngen entlehnt hätte und sich etwas in der Disziplin wir!) der Dame geübt hätte. aber nur, wenn man den Goldenen Schnitt nicht histo- Schönen Dank. risch betrachtet, sondern wenn man an den Schnitter (Beifall bei der SPD – Laurenz Meyer [Hamm] denkt, der etwas für seine Klientel einfährt. [CDU/CSU]: Circulus „witzuosus“!) (Otto Fricke [FDP]: Endlich habe ich wieder ein Vorurteil entdeckt! – Ulrike Flach [FDP]: Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Oh! Oh!) Nun hat Kollege Michael Fuchs, CDU/CSU-Fraktion, Das war Herrn Brüderle deutlich anzusehen. das Wort. Herr Schauerte sagte, Herr Glos hätte das Papier auch (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) selbst schreiben können. Hätte er es selbst geschrieben, hätte er vielleicht ein anderes Bild gewählt, nämlich das Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): von der Josephslegende, also das von den sieben mage- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und ren und den sieben fetten Jahren. Das hätte ihn dann Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Werter vielleicht sogar auf eine makroökonomisch richtigere Herr Kollege Runde, Sie sprachen von den sieben fetten Spur gebracht, als es die Anleihe bei der Romantik getan und den sieben mageren Jahren. Die sieben mageren hat. Jahre hatten wir: unter Rot-Grün, sie liegen hinter uns. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10757

Dr. Michael Fuchs (A) (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ten um 1 Prozentpunkt bedeutet 100 000 zusätzliche Ar- (C) NEN]: Also wirklich! Keine Ahnung!) beitsplätze. Zwei der sieben fetten Jahre, Frau Kollegin Andreae, ha- (Lachen bei Abgeordneten der LINKEN) ben jetzt begonnen. Wir befinden uns auf dem richtigen Weg. Wir müssen die Lohnzusatzkosten senken, wo immer wir das können. Ich bin unbedingt dafür, dass wir die (Beifall bei der CDU/CSU – Ulrich Maurer Beiträge für die Arbeitslosenversicherung um mehr als [DIE LINKE]: Fuchs, wo hast du denn das ge- die 0,3 Prozentpunkte, die der Koalitionsbeschluss vom stohlen?) Montag vorsieht, senken. 0,3 Prozentpunkte sind zu we- Deswegen ist es richtig, jetzt von einem „goldenen nig. Schnitt“ zu sprechen und darüber nachzudenken, welche (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Visionen wir für die Zukunft haben. Es macht doch kei- NEN]: Ich dachte, Sie wollen das in die Pflege nen Sinn, in der Situation, die wir jetzt haben, nicht in stecken!) die Zukunft zu denken. Ich finde es richtig, dass Michel Glos eine Planung bis zum Jahr 2012 machen will. Das Ich habe mir die Zahlen aus Nürnberg besorgt: Im letz- ist die Aufgabe des Wirtschaftsministers. Das Wort „gol- ten Jahr hatten wir einen Überschuss von dener Schnitt“, Sectio aurea, kommt aus der Architektur 11 Milliarden Euro. Für dieses Jahr war mit einem Mi- und bezeichnet das Verhältnis zweier Größen zueinan- nus von 4,3 Milliarden Euro gerechnet worden. Nun der, sozusagen die richtige Proportion. geht es dieses Jahr bereits in Richtung eines Plus von 6 Milliarden Euro. Das heißt, wir haben durchaus Spiel- (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- raum für eine deutlichere Senkung der Beiträge, wir NEN]: Jetzt aus der Architektur! Wir lernen können in die Größenordnung von 3,5 Prozentpunkten hier dazu! – Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/ kommen. Ich würde es als einen gewaltigen Erfolg der CSU]: Als Althumanist strahle ich!) Großen Koalition betrachten, wenn es uns gelingt, die Diese richtige Proportion hat Michel Glos in seinem Pa- Lohnzusatzkosten allein bei der Arbeitslosenversiche- pier gefunden: rung innerhalb von zwei Jahren von 6,5 auf 3,5 Prozent- punkte zu senken. Daran sollten wir gemeinsam arbei- Erstens. Dauerhafte Vermeidung von Defiziten in öf- ten. fentlichen Haushalten. Ich denke, wir sind uns einig, das es nicht so weitergehen kann, dass wir eine Politik nach Es ist richtig, wenn Michel Glos in seinem Papier dem Motto „Kinder haften für ihre Eltern“ machen und schreibt – ich möchte zitieren –: (B) dass unsere Kinder irgendwann für die Schulden, die wir (D) machen, weil wir nicht in der Lage sind, unsere Pro- Auch der Bund muss bei Forschung und Entwick- bleme jetzt zu lösen, aufkommen müssen. Das kann so lung … mehr tun, damit sein Haushalt nicht allein nicht weitergehen, das müssen wir ändern. von sozialer Umverteilung geprägt ist, sondern sich Wachstums- und Beschäftigungszielen unterordnet. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/ Genau das müssen wir tun: Investitionen in For- DIE GRÜNEN]: Machen Sie es doch!) schung und Entwicklung, Investitionen in die Bildung, Investitionen in diese Ressourcen. Das bedeutet nämlich, Zweitens. Erhöhung der öffentlichen Investitionen. dass wir Deutschland voranbringen. Natürlich brauchen wir Investitionen der öffentlichen Hand, vor allen Dingen in Bildung und Forschung, aber Wir haben in Deutschland keine Ölquellen; wir haben auch in Hardware: Wir brauchen auch mehr Investitio- keine Natural Resources, wie das so schön heißt. Die nen in die Infrastruktur. Ich habe mir vom ADAC die Kohle können wir gleich vergessen. Es kostet uns jedes Zahlen besorgt: Die Deutschen stehen im Jahr 67 Stun- Jahr 2,5 Milliarden Euro, sie aus dem Boden zu bekom- den im Stau und vergeuden dabei 14 Milliarden Liter men. Gott sei Dank hat diese Koalition hier einen ver- Sprit. Da müssten Sie als Grüne als Allererste sagen: nünftigen Weg des Ausstiegs gefunden. „Verdammt noch mal, da müssen ein paar vernünftige Straßen gebaut werden, damit sich das bessert!“ Wir haben nur eine Ressource, nämlich die Köpfe un- serer Menschen. Das sind die Unternehmer in Deutsch- (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- land, die innovativ sind und bleiben müssen, damit die NEN]: Die Schiene!) Exportfähigkeit unseres Landes weiter gegeben ist. Gott sei Dank ist das so. Durch die neuesten Zahlen, die Sie – Wir haben erhebliche Investitionen in die Schiene: je- heute und gestern in den Zeitungen lesen konnten, wird des Jahr 2,5 Milliarden Euro. Das müsste Ihnen bekannt gezeigt, dass es weiter aufwärts geht – auch beim Ex- sein. port. Wir sind nach wie vor Exportweltmeister. Wir ha- (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ben eine Reihe von guten Forschern. Die Zahlen der Pa- NEN]: Das ist doch eine Milchmädchenrech- tentanmeldungen gehen nach oben; auch das ist eine nung!) positive Botschaft. Wir müssen dafür sorgen, dass unsere jungen Menschen eine vernünftige Ausbildung erhalten, Drittens. Senkung der Lohnzusatzkosten. Jeder von damit sie im internationalen Wettbewerb bestehen kön- uns hier im Saal weiß: Eine Senkung der Lohnzusatzkos- nen. 10758 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Dr. Michael Fuchs (A) Dafür müssen Gelder in die Hand genommen werden. gemacht, aber wir haben sie noch nicht gelöst. Wir wer- (C) Das ist wichtig. Deswegen sind die Wege, die Michel den sie in den kommenden Monaten und Jahren aber lö- Glos hier aufgezeigt hat, richtig. Wir sollten ihn dabei sen müssen. möglichst alle gemeinsam unterstützen. (Beifall bei der SPD – Kerstin Andreae (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da wünsche Dr. Uwe Küster [SPD]) ich viel Erfolg!) Dazu gehört aber auch, dass wir die Sozialversiche- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: rungsbeiträge weiterhin stabil halten. Wir haben sie Ich erteile Kollegin Edelgard Bulmahn, SPD-Frak- leicht gesenkt und müssen sie jetzt stabil halten. tion, das Wort. (Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Jetzt Dazu gehört schließlich eine solide und vernünftige wird endlich das große Lob kommen!) Finanz- und Steuerpolitik. Ich finde, das, was wir hier erreicht haben, dass nämlich unser Staatshaushalt end- lich wieder auf festem Boden steht, sollten wir nicht Edelgard Bulmahn (SPD): durch einseitige Positionierungen wieder kleinreden, Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und sondern wir sollten alles dafür tun, dass wir das auch er- Kollegen! Man könnte ja versucht sein, zu sagen: Die halten. Darauf, dass wir die Sorgen der vielen Menschen Philosophen haben ihn nur unterschiedlich interpretiert. ernst nehmen müssen, haben meine Vorredner ja hinge- (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Wie geht wiesen. es weiter? – Gegenruf des Abg. Dr. Rainer Wir wissen, dass zu einem langfristigen Wachstum Wend [SPD]: Ihr seid textsicher!) schließlich auch eine solide Haushaltspolitik gehört. Lassen Sie uns aber mit der Realität auseinanderset- (Beifall bei der SPD) zen. Die Konjunktur in unserem Land befindet sich im Aufschwung. Dies kann und muss uns zuversichtlich Deshalb will ich das noch einmal ausdrücklich unter- stimmen. Gerade dadurch wird von der Politik aber ein streichen: Das ist notwendig, und entsprechend werden konsequentes und zielgerichtetes Handeln gefordert, um wir auch in Zukunft handeln. die Früchte dieses Erfolges auch für die Zukunft zu er- halten. (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Das ist mit Schwarz schwer!) (Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Politik der ruhigen Hand!) Da das so ist, müssen wir uns allerdings auch gemein- (B) sam die Frage stellen, ob Wünsche tatsächlich die Basis (D) Es reicht nicht aus, einfach nur von einem anhaltenden für seriöses Regierungshandeln sein können. Lassen Sie Wirtschaftswachstum zu träumen. mich hierzu noch auf zwei Punkte eingehen. Unsere Politik muss es erstens sein, dafür zu sorgen, In dem Positionspapier wird behauptet, die verbes- dass dieses Wirtschaftswachstum, das wir jetzt haben, serte Wirtschaftslage der letzten Monate sei das Ergebnis wirklich langfristig stabil ist. einer konsequenten Angebotspolitik. (Beifall bei der SPD) (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Das hat er noch Zweitens müssen wir dafür sorgen, dass alle Menschen nicht durchschaut!) von diesem Wirtschaftswachstum profitieren. Wenn uns dies gelingt, dann wäre das tatsächlich ein ganz wesent- Wir haben in den Koalitionsverhandlungen gemein- licher und wichtiger Erfolg der Großen Koalition. sam beschlossen – auch wenn der Kollege Wend zu Recht darauf hingewiesen hat, dass die SPD und vor allen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Dingen die CSU darauf gedrängt haben –, ein 25-Milliar- der CDU/CSU) den-Investitionsprogramm durchzuführen. Der Finanz- Wir haben heute ein gutes Wirtschaftswachstum. Das minister hat zu Recht darauf gedrungen und auch dafür liegt vor allen Dingen daran, dass wir eine gute Balance gesorgt, dass dieses Programm umgesetzt wurde, weil es zwischen Angebot auf der einen Seite und Nachfrage auf notwendig war, um die Wirtschaft anzukurbeln. Das ist der anderen Seite gefunden haben. Wir wissen: Nur uns auch gelungen. dann, wenn die Menschen Geld in der Tasche haben, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) profitieren auch die Unternehmen – gerade die kleinen und mittleren – davon. Deshalb war es richtig, dass wir diesen Schritt gegangen sind, durch ein großes Investitionsprogramm den so Dazu gehört, dass die Menschen für ihre Arbeit auch dringend benötigten Wirtschaftsaufschwung auch auf vernünftig und gut bezahlt werden. dem Binnenmarkt zu erreichen. (Beifall bei der SPD) Exportweltmeister sind wir seit vielen Jahren. Wir Das gilt gerade für diejenigen, die zurzeit mit Hunger- wissen aber, dass ein stabiles Wirtschaftswachstum zu löhnen abgespeist werden. Wir als Koalition haben hier wackeln beginnt, wenn es sozusagen nur auf einem Bein eine wichtige und schwierige Aufgabe vor uns, die wir steht. Wir brauchen ein stabiles Wirtschaftswachstum, noch nicht gelöst haben. Wir haben zwar einen Schritt das auf beiden Beinen steht. Daher ist die Stärkung des Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10759

Edelgard Bulmahn (A) Binnenmarktes ein wichtiger Schritt, den wir auch in den das nicht einfach ist, weil der Bund auf diesem Gebiet (C) kommenden Jahren tun werden und tun müssen. wenig Handlungsmöglichkeiten hat. Aber das ist die Schlüsselaufgabe, vor der wir stehen. Wir sollten versu- Sicherlich werden auch Sie von der FDP das leisten chen, sie gemeinsam zu bewältigen. können, was in den USA schon längst geschafft wurde. Die starren ideologischen Vorstellungen, die alleinige (Beifall bei der SPD) dogmatische Betonung der Angebotspolitik sind dort längst ad acta gelegt worden. Selbst die politischen Er- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: ben Reagans haben sich davon getrennt. Auch Sie soll- Ich erteile das Wort Kollegen Eckhardt Rehberg, ten das endlich tun, meine Damen und Herren von der CDU/CSU-Fraktion. FDP. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wenn wir auch weiterhin ein stärkeres und stabiles Eckhardt Rehberg (CDU/CSU): Wachstum des Binnenmarktes wollen, dann müssen wir Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- die bereits begonnenen Investitionen verstärken – das ren! Ich denke, der eine oder andere in der Regierungsko- werden wir auch tun –, um ein nachhaltiges wirtschaftli- alition hätte sich zu diesem Zeitpunkt – wir regieren seit ches Wachstum zu erreichen. 18 Monaten gemeinsam – fragen sollen: Wo kommen wir An die Adresse der Grünen gerichtet will ich darauf her? Wo sind wir heute? Wo wollen wir hin? hinweisen, dass rund 10 Milliarden Euro aus dem gro- Wir kommen von 5 Millionen Arbeitslosen und ei- ßen Investitionsprogramm in den Klimaschutz und die nem Haushaltsdefizit von über 3 Prozent; das Wirt- energetische Gebäudesanierung fließen. Das ist ein sehr schaftswachstum tendierte mehrere Jahre gegen null. wichtiges Programm, von dem viele kleine und mittlere Heute erzielen wir nicht vorhergesehene Steuermehrein- Unternehmen profitieren. nahmen. (Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Das ist doch was!) (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Die waren sehr vorhersehbar! Durch Aber auch diejenigen, die ihre monatliche Energiekos- die Mehrwertsteuererhöhung!) tenrechnung senken konnten, profitieren davon. Das Programm kommt also beiden Seiten zugute. Wir wer- Der Finanzplanungsrat prognostiziert uns die Möglich- den es fortsetzen. Dies ist ein wichtiger Investitionsbe- keit, schon vor dem nächsten Haushaltsplan eine reich. schwarze Null zu erreichen. Drei Länder haben das be- (B) reits erreicht: Bayern, Sachsen und Mecklenburg-Vor- (D) Die Industrie profitiert von unseren Investitionen in pommern. regenerative Energien. Auch diese werden wir fortset- zen. Alles in allem brauchen wir eine qualitativ gute In- In dieser Debatte wird die Gesamtverantwortung, die frastruktur. Bund, Länder und Kommunen bei der Finanz- und Haushaltspolitik haben, völlig außen vor gelassen. Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen, den ich ausdrücklich in den Mittelpunkt stellen will. Bei vie- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- len Fragen, über die wir uns streiten, ist eines klar: Stabi- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) les wirtschaftliches Wachstum hängt heute nicht von der Herr Kollege Brüderle, diese Koalition kann die Ak- Regulierung oder Deregulierung des Arbeitsmarktes ab. zente nicht falsch gesetzt haben. Schauen Sie sich nur Das geht aus allen wissenschaftlichen Untersuchungen einmal die neuen Bundesländer an. Ich habe vor einigen hervor. Es hängt auch nicht von der Höhe der Staats- Monaten hier gesagt, dass wir keine abgekoppelte Wirt- quote ab. schafts- und Arbeitsmarktentwicklung haben. Die Ent- wicklung verläuft in West und in Ost parallel. Das besa- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: gen alle Zahlen. Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen. Daher kann es nicht falsch gewesen sein, die Investi- tionszulage in den neuen Bundesländern zu verlängern Edelgard Bulmahn (SPD): und die Wirtschaftsförderung um 42 Millionen Euro auf- Es hängt allein davon ab, ob es uns gelingt, in die zustocken. Die ERP- und KfW-Programme wurden in den Köpfe der Menschen zu investieren. letzten zwei Jahren um 66 Prozent mehr in Anspruch ge- Deswegen ist das 6-Milliarden-Euro-Programm rich- nommen. tig. Es reicht aber bei weitem nicht aus. (Dr. Rainer Wend [SPD]: Das ist Nachfrage- politik!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen. Frau Kollegin Andreae, wenn man von Ökonomie und Ökologie redet, ist das CO2-Gebäudesanierungspro- gramm doch das allerbeste Beispiel. Edelgard Bulmahn (SPD): Ja. – Da wir im Vergleich zu anderen wichtigen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Ker- OECD-Ländern viel zu wenig in Bildung investieren, stin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: müssen wir zu einer Umkehr kommen. Ich weiß, dass Das taucht nur hier nicht auf!) 10760 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Eckhardt Rehberg (A) Manche Beiträge haben mich ein bisschen an das der einkommensschwachen Gruppen. Bei 1 000 Euro (C) Motto „Lyrik, Jazz und Prosa“ erinnert, Herr Kollege brutto macht 1 Prozent weniger 10 Euro mehr im Porte- Wend und Herr Kollege Runde. Für die Technologie- monnaie, meine sehr verehrten Damen und Herren. und Wirtschaftsprogramme ist das Bundeswirtschaftsmi- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. An- nisterium verantwortlich, für das CO2-Gebäudesanie- rungsprogramm das Bundesverkehrs- bzw. das Bundes- drea Wicklein [SPD]) bauministerium. Wenn wir das miteinander in Einklang bringen, kön- (Ute Berg [SPD]: Es wäre schön, wenn Sie in nen wir, glaube ich, nächstes Jahr über eine Arbeitslo- der Atomfrage auch so denken würden!) senzahl von deutlich unter 3 Millionen reden. Wir sollten unsere gemeinsamen Erfolge nicht Herzlichen Dank. schlechtreden, sondern eine positive Bilanz ziehen. Das (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sollten wir alle miteinander tun. neten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: In Bezug auf das Glos-Papier werden hier teilweise Nun hat Frau Kollegin Ute Berg von der SPD-Frak- Legenden gebildet, die so überhaupt nicht haltbar sind. tion das Wort. Dort steht – ich zitiere wörtlich –: (Dr. Rainer Wend [SPD]: Jetzt sind wir wieder Zeitlichen Vorrang hat in jedem Fall der Defizitab- auf einem Dampfer! – Kerstin Andreae bau. Solange die öffentlichen Haushalte sich zu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt kommt Lasten der Zukunft zusätzlich verschulden, um lau- wieder die Opposition!) fende Ausgaben zu finanzieren, sind höhere Ausga- ben oder Steuer- und Abgabenentlastungen nicht verantwortbar und auch nicht zweckmäßig. Die Ute Berg (SPD): Schulden von heute müssten durch zusätzliche Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zinsausgaben in der Zukunft finanziert werden und Lieber Herr Rehberg, ich hätte es gut gefunden, wenn reduzierten damit künftige Handlungsspielräume. Sie am Anfang Ihrer Rede die Erfolge, die in der Ar- beitsmarkt- und der Wirtschaftspolitik in der Tat zu ver- Meine sehr verehrten Damen und Herren, diesen Sät- zeichnen sind, nicht für sich reklamiert hätten, sondern zen ist doch nichts, aber auch gar nichts hinzuzufügen. fairerweise auch das Vorspiel erwähnt hätten, Das ist doch der richtige politische Ansatz. (B) (Dr. Uwe Küster [SPD]: Das Vorspiel ist im- (D) Ich habe hier vier Programme angeführt. Wir müssen mer wichtig!) uns an dieser Stelle doch Gedanken für die Zukunft ma- chen. Nehmen wir einmal die Technologieprogramme; das tatsächlich vonseiten der rot-grünen Regierung statt- Frau Kollegin Bulmahn ist darauf eingegangen. Wie gefunden hat. Dieser Hinweis hätte dazugehört. Das können wir sie noch effizienter gestalten? Wie können wäre anständig gewesen. wir sie ausbauen? (Beifall bei der SPD) Das ist in dieser Situation doch das eigentlich Ent- scheidende. Hier müssten wir miteinander tätig werden. Aber zurück zu Wirtschaftsminister Michael Glos. Er ist ja immer wieder für Überraschungen gut. Unabge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) stimmte Vorstöße werden allmählich zu seinem Marken- zeichen. Ein Qualitätssiegel ist das allerdings nicht. Die FuE, Verkehrsinfrastruktur, Investitionen in die Köpfe – Überraschung in dieser Woche ist sein wirtschafts- und das ist nach meinem Dafürhalten in der Tat das Gebot finanzpolitisches „Grundsatzpapier“. Es basiert – das der Stunde. wurde hier schon mehrfach gesagt – auf der irrigen An- Ich sage Ihnen aber auch eines, meine sehr verehrten nahme, dass die Erfolge bei Wachstum und Beschäfti- Damen und Herren: Herr Kollege Schui, es lohnt sich gung, die es wirklich gibt und auf die wir alle stolz sind, normalerweise nicht, auf Sie einzugehen. Wer wie Sie nur einer konsequenten angebotsorientierten Wirt- behauptet, wer Sozialabgaben senke, sorge für Mehrein- schaftspolitik geschuldet sind. Wie das eben von Edel- nahmen bei den Unternehmern, der entfacht eine Neid- gard Bulmahn erwähnte 25-Milliarden-Euro-Programm, debatte. mit dem die Große Koalition gestartet ist und das sehr segensreich auf Wachstum und Beschäftigung gewirkt (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) hat und noch wirkt, in dieses Angebotsschema passt, er- Wir müssen uns für diesen Bereich schon Gedanken ma- schließt sich mir allerdings nicht. chen. Ich stimme mit dem Kollegen Laurenz Meyer völ- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) lig darin überein, dass wir eine Debatte über die Steuer- finanzierung versicherungsfremder Leistungen führen Meiner Fraktion ist klar, dass wir beides brauchen: Re- müssen. formen auf der Angebotsseite und Reformen, die zu stei- gender Nachfrage führen. Das Senken von Sozialabgaben senkt nämlich die Ar- beitskosten und stärkt den Standort Deutschland, bringt Zur von Herrn Glos geforderten Senkung der Staats- aber insbesondere mehr Geld ins Portemonnaie gerade quote und zu weiteren Steuer- und Abgabensenkungen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10761

Ute Berg (A) haben meine Kollegen schon einiges gesagt. Deswegen F-und-E-Ausgaben übernimmt, wie es in der Vergangen- (C) brauche ich das nicht weiter zu vertiefen. heit der Fall war. Das ist auch für den Arbeitsmarkt der Zukunft entscheidend. Gerade Firmen, die viel für For- (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schung und Entwicklung tun, sorgen für Beschäftigung NEN]: Das ist angekommen! – Laurenz Meyer und bringen den Standort Deutschland voran. [Hamm] [CDU/CSU]: Das ist typische Nach- frageseite!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich möchte mich daher besonders auf das für unser Ich würde mich freuen, wenn sich der Wirtschaftsmi- Land existenziell wichtige Thema Zukunftsinvestitionen nister etwas stärker um die Herausforderungen, die er konzentrieren, jetzt stemmen muss, kümmerte, statt in einem sehr spe- kulativen Papier, in dem zum Beispiel Haushaltsrisiken (Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Das ist gar nicht aufgeführt sind, der erstaunten Öffentlichkeit Nachfrageseite!) zu erklären, dass er es schaffen kann, gleichzeitig den die ohne soliden Finanzrahmen nicht machbar sind, Gesamthaushalt zu konsolidieren, die staatlichen Inves- nämlich Investitionen in Bildung, Forschung und Tech- titionen zu steigern sowie Steuern und Abgaben weiter nologie. Das unterstreicht Herr Glos zwar. Aber er sagt zu senken. leider nicht, woher er das Geld neben allem anderen, was (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Der soll nicht er auch noch vorhat, nehmen will. Der Minister schreibt träumen, der soll handeln!) in seinem neunseitigen Papier dazu kurz, dass die öffent- lichen Investitionen in Bildung und berufliche Fähigkei- Nach der Lektüre seines Papiers hat man jedenfalls den ten erhöht werden müssen. Eindruck, endlich den Erfinder der eierlegenden Woll- milchsau ausfindig gemacht zu haben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- wie der Abg. Andrea Wicklein [SPD]) Das Konzeptpapier des Wirtschaftsministers hält lei- der nicht das, was er verspricht. Aber was ist auch von Damit hat er natürlich recht. Darin sind wir uns alle ei- einem Papier zu halten, das zunächst über die Medien nig. So investiert Deutschland beispielsweise ganze lanciert und dann erst den Ministerkollegen und den 4 Prozent des Bruttoinlandsproduktes in Bildung. Nur Wirtschaftspolitikern der eigenen Koalition präsentiert die Slowakei und Griechenland geben im europäischen wird? Die Kanzlerin hatte darauf die passende Antwort, Vergleich dafür noch weniger aus. Die Dänen hingegen nämlich: nichts. setzen dafür – um eine andere Vergleichszahl zu nennen – 8,3 Prozent des BIP ein. Unstrittig ist: Wir müssen die (B) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (D) Qualität unseres Bildungswesens verbessern. Das ist Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen. nicht nur, aber auch eine Frage des Geldes. Investitionen in diesen Bereich müssen also absolute Priorität haben. Ute Berg (SPD): Hier liegen wir auf einer Linie. Ich komme zum Schluss. Ein wichtiger Punkt, der zunehmend in den Fokus der Es wäre schön, wenn Herr Glos mehr Teamgeist be- Öffentlichkeit gerät, ist in diesem Zusammenhang das wiesen, sich abgestimmt hätte und in der Regierung als Fehlen qualifizierter Fachkräfte. Schon im vergangenen Mannschaftsspieler aufgetreten wäre. So wäre sicher ein Jahr fehlten laut Deutschem Institut für Wirtschaftsfor- schlüssigeres Konzept entstanden, hinter dem sich dann schung 48 000 Ingenieure. Die Wirtschaftsleistung wur- vielleicht alle Koalitionäre hätten versammeln können. de so um 3,5 Milliarden Euro gedrückt. Der Fachkräfte- Aber wieder einmal hat er eine Chance vertan. Allein- mangel wird also zu einer direkten Gefahr für den gänge à la Glos können diese Regierung, diese Koalition Boom. Unternehmen aus fast allen Bereichen klagen und dieses Land nicht länger verkraften. darüber, dass ihr Geschäft ausgebremst wird. Verstärkte Anstrengungen im Ausbildungs- und Weiterbildungsbe- (Beifall bei der SPD) reich sind also aktive Wirtschaftspolitik. Bei den Ausgaben für Forschung und Entwicklung Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: müssen wir uns – das wurde schon erwähnt – noch Die Aktuelle Stunde ist beendet. enorm anstrengen; das ist unstrittig. Wenn wir es tatsäch- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: lich schaffen wollen, bis 2010 zusätzlich 6 Milliarden Euro für Forschung und Entwicklung auszugeben, dann – Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- gilt auch hier die Devise „Nicht kleckern, sondern klot- richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- zen“. Unser Augenmerk als Wirtschaftspolitiker muss schuss) zu dem Antrag der Bundesregierung besonders auf dem Technologiesektor liegen, für den das Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der Wirtschaftsministerium originär zuständig ist. Wir müs- Internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo sen alles daransetzen, dass marktfähige Produkte in den zur Gewährleistung eines sicheren Umfeldes Markt integriert werden und sich dort halten. Auf die für die Flüchtlingsrückkehr und zur militäri- Wirtschaft allein können wir uns in diesem Zusammen- schen Absicherung der Friedensregelung für hang nicht verlassen. Wir müssen verstärkt darauf das Kosovo auf der Grundlage der Resolution hinwirken, dass die Wirtschaft weiterhin zwei Drittel der 1244 (1999) des Sicherheitsrates der Vereinten 10762 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) Nationen vom 10. Juni 1999 und des Militä- Sicherheitspräsenz im Kosovo garantiert werden. KFOR (C) risch-Technischen Abkommens zwischen der wird weiter gebraucht, und KFOR braucht den deut- Internationalen Sicherheitspräsenz (KFOR) schen Beitrag; denn wir stellen das bedeutendste Kontin- und den Regierungen der Bundesrepublik Ju- gent für die Schutzmacht. goslawien (jetzt: Republik Serbien) und der Das Ziel der internationalen Gemeinschaft, die Republik Serbien vom 9. Juni 1999 Grundlagen für dauerhaften Frieden und dauerhafte De- – Drucksachen 16/5600, 16/5753 – mokratie in der Region zu schaffen, die eine Präsenz in- ternationaler militärischer Kräfte nicht länger erforder- Berichterstattung: lich machen, bleibt unverändert bestehen. Gleichzeitig Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Gut- gilt es, ein mögliches Sicherheitsvakuum durch eine vor- tenberg schnelle Reduzierung der internationalen Präsenz zu ver- Detlef Dzembritzki meiden. Dr. Werner Hoyer Monika Knoche (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Marieluise Beck (Bremen) der CDU/CSU und der Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Eine Truppenreduzierung oder Mandatsverände- rung wäre in der jetzigen delikaten Phase der Verhand- – Drucksache 16/5763 – lungen über eine UN-Resolution in New York das fal- Berichterstattung: sche Signal und könnte negative Auswirkungen auf den Abgeordnete politischen Prozess im Kosovo und auf die Stabilität der (Erfurt) gesamten Region haben. Jürgen Koppelin (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE Alexander Bonde GRÜNEN) Hierzu liegen je ein Entschließungsantrag der Frak- Gerade jetzt ist es wichtig, Kontinuität bei der inter- tion der FDP sowie der Fraktion des Bündnisses 90/Die nationalen Truppenpräsenz zu signalisieren. Deshalb Grünen vor. Über die Beschlussempfehlung des Auswär- hat die Bundesregierung dem Bundestag einen Antrag tigen Ausschusses werden wir später namentlich abstim- zur zunächst inhaltlich unveränderten Fortschreibung men. der deutschen Beteiligung an KFOR zur konstitutiven (B) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Zustimmung vorgelegt. Wir hoffen nach wie vor auf eine (D) Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich zeitnahe Verabschiedung einer neuen Resolution des höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. UN-Sicherheitsrates für das Kosovo. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Im Vorschlag des UN-Vermittlers Ahtisaari ist auch Staatsminister Gernot Erler. eine Übergangsphase von 120 Tagen vorgesehen, wäh- rend derer das alte UN-Mandat aus Resolution 1244 weiter gelten soll. Da die Geltung des Bundestagsman- Gernot Erler, Staatsminister im Auswärtigen Amt: dats an die Fortgeltung eines Sicherheitsratsmandats ge- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im knüpft ist, bedeutet das, dass diese Übergangsfrist zeitli- Sicherheitsrat der Vereinten Nationen wird seit dem chen Spielraum für die eventuell notwendige Anpassung 26. März um einen Konsens über den zukünftigen Status des Mandats an eine neue Sicherheitsratsresolution ge- des Kosovo gerungen. Grundlage dieser Bemühungen ist ben würde. Dieses neue Mandat würde dann selbstver- die Empfehlung des UN-Vermittlers Martti Ahtisaari. ständlich erneut dem Bundestag zur Beschlussfassung Die Beratungen gestalten sich schwierig. Bisher ist es vorgelegt werden. nicht gelungen, Russland für das vorgelegte Statuspapier zu gewinnen, sodass wir keine vernünftige Alternative Eines bleibt klar: Deutschland wird gemeinsam mit sehen. der internationalen Staatengemeinschaft die Menschen in der Region auf dem Weg zu nachhaltigem Frieden im Die Bundesregierung setzt sich nachdrücklich für Rahmen einer gemeinsamen europäischen Perspektive eine baldige Sicherheitsratsresolution zur Zukunft des begleiten. Kosovo ein als Ablösung der Resolution 1244 aus dem Jahr 1999. Aber noch ist kein Ergebnis absehbar. Mögli- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) cherweise gibt es weitere mehrmonatige Verhandlungen. Wir stehen zu den Zusagen, die von der Europäischen Das führt – wenig überraschend – im Kosovo selbst zu Union erstmals 2003 gemacht und danach immer wieder Reaktionen der Frustration und der Nervosität. bestätigt wurden. In diesem Zusammenhang freuen wir Vor diesem Hintergrund entscheidet der Bundestag uns darüber, dass die jüngsten Fortschritte Serbiens bei heute über die Fortsetzung des deutschen Beitrages zu der Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafge- der Internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo, richtshof für das ehemalige Jugoslawien es der EU erlau- abgekürzt KFOR. Man braucht, so glaube ich, nicht be- ben, die seit Mai 2006 ausgesetzten Verhandlungen über sonders zu betonen, wie wichtig gerade jetzt die Sicher- ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen seit heit und die Stabilität sind, die von der Internationalen dem 13. Juni fortzuführen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10763

Staatsminister Gernot Erler (A) Ich bitte Sie um Ihre Zustimmung zu dem vorliegen- hergestellt haben, ist das Kosovo nicht mehr isoliert zu (C) den Antrag der Bundesregierung. Dies ist eine wichtige sehen; er ist vielmehr Teil einer gesamtrussischen Au- Entscheidung für die Menschen im Kosovo sowie in der ßen- und Sicherheitspolitik. ganzen Region. Diese Entscheidung ist auch wichtig als Zeichen der Unterstützung für den Auftrag, den unsere (Uta Zapf [SPD]: Das ist wahr! Das hätte man Soldatinnen und Soldaten in einer schwierigen Zeit vor schon früher wissen können!) Ort in einer von allen Seiten anerkannten Weise hervor- Deshalb, so glaube ich, müssen wir heute hier klare Ant- ragend erfüllen. worten auf klar zu formulierende Fragen bekommen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Eine Denkpause hilft da nicht weiter. Denn eine Denk- pause wäre eher eine Pause vom Denken und nicht eine (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Pause zum Denken. Es ist genug gedacht worden. Wir bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE müssen jetzt handeln. GRÜNEN) (Beifall bei der FDP – Uta Zapf [SPD]: Ge- nau!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile nun Kollegen Rainer Stinner, FDP-Frak- In aller Bescheidenheit darf ich Ihnen sagen, dass tion, das Wort. meine Fraktion vor dreieinhalb Jahren den Vorschlag ge- macht hat, das Problem des Status des Kosovo zu euro- (Beifall bei der FDP) päisieren, einen stärkeren europäischen Footprint, wie man so schön sagt, anzubringen. Dr. Rainer Stinner (FDP): (Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]: Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- Genau!) gen! Gleich vorweg: Wir, die FDP-Fraktion, werden heute dem Antrag der Bundesregierung zustimmen, weil Wir wären heute gemeinsam besser dran, wenn Sie da- es aus unserer Sicht völlig unverantwortlich wäre, in der mals diesen Antrag nicht abgelehnt hätten. Aber das ist jetzigen kritischen Situation etwas an dem Mandat zu Geschichte. ändern. (Beifall bei der FDP – Volker Kauder [CDU/ (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der CSU]: Eben!) SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) – Herr Kauder, auch Sie können klüger werden. Das schließe ich auch bei Ihrer Fraktion nicht aus. – (B) Wir befinden uns vor einer wichtigen Weichenstel- (D) lung im Kosovo. Ich habe seit Monaten vor einem Hor- (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ rorszenario gewarnt und bin dafür hier und auch woan- DIE GRÜNEN]: Oh, bei Kauder stehen die ders abgewatscht worden. Aber das Horrorszenario ist Chancen nicht gut!) nahe davor, einzutreten. Was passiert nämlich, wenn es In unserem heutigen Entschließungsantrag stellen wir keine UN-Resolution gibt, die Vereinigten Staaten, wie vier Forderungen: von Bush in Tirana angedeutet, Erstens. Wir erwarten von der Bundesregierung – sie (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- hat das zugesagt, aber der Bundestag sollte es bestätigen –, NEN]: Angedeutet?) dass weiterhin aktiv für den Ahtisaari-Vorschlag gewor- eine einseitige Unabhängigkeitserklärung des Kosovo ben wird. anerkennen würden und einige europäische Staaten dem Zweitens. Wir fordern die Bundesregierung auf, eine folgen würden und einige nicht? Es gibt bisher keine gemeinsame europäische Position zu definieren. Ich Aussagen darüber, wie die deutsche Bundesregierung in stimme Ihrer Aussage, Herr Staatsminister, zu, dass Sie diesem Falle handeln darf. Ganz im Gegenteil: Auf wie- und die Bundesregierung daran aktiv gearbeitet haben. derholte Nachfragen und Beschreibungen dieses Szena- Das kritisieren wir überhaupt nicht. Wir möchten aller- rios habe ich von der Bundesregierung immer eher aus- dings deutlich machen, wie wichtig genau diese Frage weichende, schönfärberische Antworten nach dem Motto für die Funktionsfähigkeit einer Europäischen Außen- bekommen: Na ja, wird schon irgendwie klappen. – und Sicherheitspolitik ist und welche negativen Auswir- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist kungen es hätte, wenn es nicht gelänge, eine gemein- noch immer gut gegangen!) same europäische Position zu entwickeln. Das heißt, es galt bisher das Motto: Es kann nicht sein, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten was nicht sein darf. Das ist die Position der Bundesregie- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) rung. Das reicht zum heutigen Zeitpunkt nicht aus; Die europäische Politik wäre dann leider – das ist im Be- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten wusstsein der Öffentlichkeit leider noch nicht angekom- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) men – ein Scherbenhaufen. Wie können wir Europäer glauben, dazu in der Lage zu sein, weltweit Verantwor- denn sowohl durch die Rede von Bush als auch durch tung wahrzunehmen, wenn wir noch nicht einmal in der den neuen Kontext, den die Russen durch die Putin-Rede Lage sind, in Europa gemeinsam zu handeln? 10764 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Dr. Rainer Stinner (A) Ich glaube, bei diesen beiden Punkten herrscht hier im (Beifall bei der FDP – Marieluise Beck [Bre- (C) Hause weitestgehend Einigkeit. Wir fordern darüber hi- men] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und die naus – das sind die Forderungen drei und vier – zwei wei- Antwort?) tere Klarstellungen von der Bundesregierung – diese Klarstellungen sind politisch bedeutsam, und ich bin ge- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: spannt, wie sich die Bundesregierung darauf einlässt –: Als nächster Redner hat Kollege Ruprecht Polenz, Drittens. Wir fordern eine klare, eindeutige Aussage, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. dass die Bundesrepublik Deutschland eine einseitige und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- unkonditionierte Selbstständigkeitserklärung des Ko- neten der SPD) sovo nicht anerkennen wird. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ruprecht Polenz (CDU/CSU): der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! So GRÜNEN) wie es aussieht, geht von dieser Parlamentsdebatte ein Konditionierungen sind bei dem, was Herr Ahtisaari sehr klares Signal an die internationale Öffentlichkeit tut, ganz wichtig. Es ist völlig undenkbar, dass der und auch an unsere Soldatinnen und Soldaten im Kosovo Kosovo ohne jede Konditionierung hinsichtlich der Min- aus: Die weit überwiegende Mehrheit dieses Hauses, derheitenrechte und der großalbanischen Idee in die Un- auch die CDU/CSU-Fraktion, unterstützt den Antrag der abhängigkeit entlassen wird. Wir müssen dafür sorgen, Bundesregierung. dass das klar ist. Ich fordere die Bundesregierung auf, Gerade weil die Situation im Augenblick schwierig hierzu eindeutig Stellung zu nehmen. Das wäre übrigens ist – der Herr Staatsminister hat auf die Beratungen im auch ein Signal an andere europäische Staaten. Sicherheitsrat hingewiesen –, halte ich nichts davon, alle ( [Wiesloch] [SPD]: Aber möglichen hypothetischen Fragen und hypothetischen das wissen Sie doch, Herr Stinner!) Antworten hier mit der Emphase zu erörtern, wie das mein Vorredner getan hat. Viertens. Wir erwarten hier und heute eine Klarstel- lung, was den Einsatz deutscher KFOR-Soldaten be- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und trifft. Diesem Einsatz stimmen wir, wie ich eingangs ge- der SPD – Dr. Rainer Stinner [FDP]: Wir sind sagt habe, zu. Wenn dieses Szenario eintritt, was heißt halt engagiert!) das dann für unsere deutschen KFOR-Soldaten? Eine Wir sollten klar Position zu dem beziehen, was anliegt. einseitige Unabhängigkeitserklärung des Kosovo wäre Es ist wichtig, sich an die Anfänge zu erinnern. (B) ein Bruch der Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrats, (D) die wiederum die Basis für die Existenz und für die Sta- Als der Einsatz deutscher Streitkräfte im Kosovo be- tionierung deutscher Soldaten ist. Was sollen deutsche gann, gab es kein Mandat der Vereinten Nationen. Die- Soldaten dann tun? Sollen sie die kosovarische Regie- sem Einsatz ging eine schwere Entscheidung voraus. Ich rung festnehmen? Sollen sie vielleicht sogar – um es ein- erinnere an die Aussage des damaligen Außenministers mal auf die Spitze zu treiben – den amerikanischen Bot- Fischer – ich zitiere –: schafter festnehmen? Ich habe nicht nur gelernt: Nie wieder Krieg. Ich (Beifall der Abg. Monika Knoche [DIE habe auch gelernt: Nie wieder Auschwitz. LINKE] – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE Ich halte von solchen historischen Vergleichen nicht so GRÜNEN]: Das wäre doch eine Idee!) viel. Ich schließe mich im Rückblick mehr der Bewer- Oder aber wäre durch einen solchen Schritt die völker- tung von Wolfgang Schäuble an, der damals gesagt hat: rechtliche Legitimierung unseres Einsatzes dahin? Worum es geht, ist, Morden zu verhindern und zu Müsste das nicht automatisch den Rückzug deutscher helfen, daß der Friede so rasch wie möglich überall Soldaten bedeuten? in Europa, auch in Jugoslawien und vor allem im (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Kosovo, wiederhergestellt wird … daß eine Tragö- NEN]: So ist es!) die für Hunderttausende von Menschen so rasch wie möglich beendet wird. Darum … geht es. Ich finde, die Öffentlichkeit und vor allen Dingen un- sere deutschen Soldaten, die im Kosovo stationiert sind, Den Terror, das Leid, die Massengräber, die Verge- haben ein Anrecht darauf, von der Bundesregierung zu waltigungen, die über eine Million Flüchtlinge – dieses erfahren, für wie hoch sie die Wahrscheinlichkeit des Elend hat der KFOR-Einsatz im Kosovo beendet. Das Eintretens dieses Szenarios hält. sollten wir als Erstes festhalten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Fragen wer- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem den Ihnen nicht nur von uns als FDP, sondern auch von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Bürgern in Ihren Wahlkreisen und auch von Soldatinnen Wenn man eine Mandatsverlängerung beschließt, und Soldaten gestellt. Daher rechnen wir heute selbst- muss man auch eine Zwischenbilanz ziehen und fragen: verständlich mit einer großen Zustimmung dieses Hau- Wie weit sind wir jetzt gekommen? Die Europäische ses. Union hat eine solche Bilanz gezogen. Sie beschreibt die Ich bedanke mich ganz herzlich. Sicherheitslage als ruhig, aber nicht stabil. Es gibt Fort- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10765

Ruprecht Polenz (A) schritte bei der Aufgabenübertragung auf die Institutio- die russische Position eine dauerhafte Verfestigung des (C) nen der Selbstverwaltung. Allerdings wird auch kritisch Status quo. Das ist nicht akzeptabel. Das müssen wir angemerkt, die Verwaltung sei überbesetzt und wenig auch den russischen Partnern klarmachen. leistungsfähig, Nepotismus herrsche vor, die Justiz sei Die Art und Weise, wie Russland sich bei diesem Pro- nicht unabhängig, die Zahl unbearbeiteter Fälle wachse, blem verhält, hat zwingend Rückschlüsse darauf zur es gebe große Defizite bei der Korruptionsbekämpfung, Folge, wie Russland sein Verhältnis zur Europäischen und das Verhältnis zwischen Kosovo-Albanern und Ko- Union sieht. Daran können wir nicht vorbei. sovo-Serben sei nach wie vor spannungsgeladen. – Diese Defizite beim Wiederaufbau sind nach meiner fes- Die USA engagieren sich mit uns bei KFOR als ten Überzeugung allerdings auch – nicht nur, aber auch – Hauptpartner. Auch von ihnen erwarten wir, dass sie Folge der ungeklärten Statusfrage. keine einseitigen Schritte unternehmen und dass sie diese Gemeinschaft nicht aufkündigen. Wir erwarten ein Nehmen Sie das Beispiel der Flüchtlingsrückkehr! entsprechendes Einwirken der Bundesregierung auf un- Der Bürgermeister einer Gemeinde entscheidet sich, mit sere amerikanischen Partner. Zuschüssen der internationalen Gemeinschaft 50 Häuser für rückkehrwillige Serben zu bauen, und setzt das um. Last, but not least: Priština bleibt auch nach einer Die Serben kommen dann aber nicht, weil sie sich noch Statusänderung ganz entscheidend auf die Hilfe der Eu- unsicher fühlen oder aus welchen Gründen auch immer. ropäischen Union angewiesen. Deshalb erwarten wir Die Häuser stehen leer. Der Geldgeber fragt: Was ist von den Verantwortlichen in Priština, dass sie einseitige jetzt eigentlich mit unserem Geld? Die Albaner fragen: Schritte unterlassen; denn diese würden die Lage Können nicht wir jetzt in diese Häuser einziehen? – Da schlechter und komplizierter machen. Das könnte sich haben Sie nur einen kleinen Eindruck von den Proble- wie der Funke an einem Pulverfass auswirken. Auch die- men, die die ungeklärte Statusfrage aufwirft. ser Appell an Priština muss von unserer Debatte heute hier ausgehen. Ein anderer Fall: Bei einer Investitionsförderung für neue Arbeitsplätze, etwa auch für rückkehrwillige Ser- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem ben, kann der gleiche Effekt entstehen. Es wird die An- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) siedlung einer Hühnerfarm gefördert, und die serbischen Natürlich bleibt die KFOR-Präsenz in dieser sen- Arbeitskräfte, für die sie eigentlich gebaut wird, bleiben siblen und kritischen Phase unabdingbar. Die jetzige aus. Rechtsgrundlage – völkerrechtlich einwandfrei – ist die Also: Vieles hängt von der Statusfrage ab. Erst wenn Sicherheitsratsresolution 1244. Es ist klar, dass bei einer die geklärt ist, weiß jeder, woran er in Zukunft sein wird. Veränderung eine rechtzeitige neue Befassung des Bun- (B) destages erfolgen muss. Es ist genauso klar, dass der (D) Nicht zuletzt hängen natürlich auch all die Investitio- Bundeswehreinsatz in jedem Fall und zu jedem Zeit- nen des Auslandes, die das Land dringend braucht, sehr punkt eine eindeutige rechtliche Grundlage haben muss. stark von der Klarheit in der Statusfrage ab. Deshalb wird eine Entscheidung über den Status auch bei der All das sicherzustellen, ist die Aufgabe der Bundes- weiteren Verbesserung der politischen und demokrati- regierung. Ich bin überzeugt, dass das gelingen kann, schen Standards helfen. und danke für Ihre Aufmerksamkeit. Der Herr Staatsminister hat die Vorschläge des UN- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem Sondervermittlers Ahtisaari bereits skizziert. Es ist im BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Grunde die Politik als Kunst des Möglichen, die diesen Vorschlägen zugrunde liegt. Ideallösungen gibt es nicht. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Man kann sich nur – das muss man nüchtern anerkennen – Ich erteile das Wort Kollegin Monika Knoche, Frak- über schlechte und weniger schlechte Lösungen unter- tion Die Linke. halten. (Beifall bei der LINKEN) Jetzt sollten wir als Bundestag schon klar sagen, dass der Weg zu einer Statusänderung über den UN-Sicher- Monika Knoche (DIE LINKE): heitsrat führen muss. Sehr geehrter Herr Präsident! Herr Polenz, sehen Sie, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie so verschieden können die Auffassungen sein: Während bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE wir der Meinung sind, Russland bewegt sich auf dem GRÜNEN) Boden des internationalen Völkerrechts, verlangen Sie, dass Russland die kosovarische Position, die sich jen- Das ist die gemeinsame Position der Europäischen seits der völkerrechtlichen Position bewegt, anerkennt. Union. Grundsätzlich verschiedener kann man an die Problema- Wir sind jetzt mit einer Weigerung Russlands kon- tik wohl gar nicht herangehen. frontiert. Russland sagt: Wir stimmen nur einer Lösung (Beifall bei der LINKEN) zu, die zwischen den Serben und den Kosovo-Albanern einvernehmlich verhandelt ist, der also beide Seiten Ich sehe auch die großen Widersprüche, die Unge- zustimmen. – Weil die serbische Seite der Unabhängig- reimtheiten und sogar Sinnverkehrungen, die in der keit nie zustimmen wird und Priština weniger als der Un- heute dargelegten Position der Regierung zum Ausdruck abhängigkeit die Unterschrift nicht geben wird, bedeutet gekommen sind. Ignorieren Sie doch bitte nicht die 10766 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Monika Knoche (A) ungeheuer großen rechtlichen, politischen, menschen- (Beifall bei der LINKEN) (C) rechtlichen, aber auch staatsrechtlichen Fragen, die wir im europäischen Kontext zu spüren bekommen werden, Wir sind der Auffassung, dass nach wie vor Chancen für wenn wir hier eine Position vertreten würden, die der Se- eine Neuaufnahme der Verhandlungen bestehen. Das zession des Kosovo das Wort redet. Die Regierung kann geht natürlich nicht so, wie Präsident Sarkozy es in Hei- doch nicht ernsthaft erwarten, dass alle im Bundestag ligendamm dargestellt hat, als er die Absicht äußerte, vertretenen Parteien dieser Position zustimmen, wenn einfach 120 Tage weiterzuverhandeln und dann auf Ba- gleichzeitig klar ist, dass der Ahtisaari-Plan gescheitert sis der bisherigen Intention weiterzumachen. Wir sind ist. vielmehr der Meinung, dass es richtig und wichtig ist, Neuverhandlungen aufzunehmen und seitens der UN Die Bundesregierung – Herr Erler, Sie haben es deut- eine Neuzusammensetzung der Kontaktgruppe herzu- lich gesagt – will unbedingt zeitnah eine neue UN-Reso- stellen, in der alle Mitglieder des Sicherheitsrates vertre- lution. Aber welche Rechtsgrundlage sollte damit ge- ten sind. Das wäre eine neue Initiative. Wir im Auswärti- schaffen werden? Die müsste sich doch von der der gen Ausschuss sprechen ja auch darüber, dass sich in Resolution 1244 unterscheiden. Europa eine international – selbst bis nach Südafrika – hoch beachtete Entwicklung abspielt. Es kann letztlich (Uta Zapf [SPD]: Eine neue Resolution! Ist nichts anderes herauskommen als die territoriale Integri- Ihnen das nicht bekannt?) tät und ein hoher Grad an Autonomie des Kosovo. Dabei ist uns doch klar, dass eine neue Resolution völ- Nun noch ein Wort zum KFOR-Mandat. Welches kerrechtlich gar nichts anderes zu leisten vermag, als Szenario würde entstehen? – Es käme infolge einer uni- ebenso wie die Resolution 1244 darauf zu bestehen, dass lateralen Unabhängigkeitserklärung und einzelstaatli- beide Seiten, Kosovo und Serbien, sich einvernehmlich chen Anerkennungen des Staates Kosovo dennoch so, einigen. Das ist doch die Grundlage, auf der verhandelt dass die UN-Resolution 1244 gelten würde. Die dort sta- werden muss. tionierten Soldaten müssten die Resolution 1244 dann (Beifall bei der LINKEN) gegen die neue Regierung im Kosovo durchsetzen, unter Umständen mit gewaltsamen Mitteln. Nichts ist also klar, aber Sie wollen weiter Soldaten hinschicken. Für uns ist das irgendwie eine paradoxe Si- (Beifall bei der LINKEN) tuation. Was für eine Logik! Man hat gegen Jugoslawien ei- (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Das liegt an nen Krieg geführt, um die Multiethnizität sicherzustel- euch, nicht an dem Entwurf!) len, und müsste jetzt auf der Seite Serbiens auf der Basis der Resolution 1244 gegen Kosovo vorgehen. Was ist (B) Sie können nicht erwarten, dass wir dem einfach zustim- (D) das für eine Logik, was würde das für eine Problematik men. Sie sagen ja selbst, dass nach wie vor die UN-Re- heraufbeschwören? solution 1244 gilt. Gerade diese sollte doch eine neue Nachkriegsordnung schaffen. (Beifall bei der LINKEN) (Uta Zapf [SPD]: Eben, eben, eben! Das ist es Stünde ein solches Szenario an – ich bin der Auffas- ja gerade!) sung, hier müssten wir alle einer Meinung sein –, müss- Dabei wurde in den vergangenen acht Jahren im Hin- ten die deutschen Truppen sofort abgezogen werden, da- blick auf dieses Ziel nahezu nichts erreicht. Sie wissen mit sie nicht in gewaltsame Auseinandersetzungen das genau. Sie selber sprechen doch von der Allmacht verwickelt werden. Warum wollen Sie jetzt die Soldaten der UÇK, von der Allmacht der nationalistischen albani- in eine so hochgradig ungeklärte Situation hineinschi- schen Bestrebungen, von der Kriminalität, der Korrup- cken, wo nicht klar ist, auf welcher neuen internationa- tion und dem Frauenhandel, für den das Kosovo eine len völkerrechtlichen Grundlage Sie dann agieren wol- wichtige Drehscheibe ist; ganz abgesehen von den hohen len? Das halten wir für paradox. Einer solchen Politik sozialen Problemen, die in diesem Land bestehen, weil können wir nicht zustimmen. keine wirtschaftliche Entwicklung stattfindet. Wohin ist (Beifall bei der LINKEN) all das Geld geflossen, das die Jahre über investiert wor- den ist? Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Das Wort hat nun Kollegin Marieluise Beck, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Genau diese Situation aber hat der Ahtisaari-Plan zu manifestieren versucht, indem er auf eine faktische Un- abhängigkeit hin orientiert war. Wie kann eine neue UN- Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE Resolution das notwendige beidseitige Einverständnis GRÜNEN): herstellen, wenn allenthalben davon gesprochen wird, es Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und solle die Unabhängigkeit des Kosovo erreicht werden? Kollegen! Hätte diese Position Macht, dann würde das den Abzug der KFOR-Truppen in einer Situation höchs- Wir erwarten von der Bundesregierung auf jeden Fall, ter Angespanntheit zwischen den Serben und den Ko- dass sie – ebenso argumentiert ja auch die FDP – keiner sovo-Albanern bedeuten. einseitigen Unabhängigkeitserklärung zustimmt. Das darf Deutschland nicht tun. (Uta Zapf [SPD]: So ist es!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10767

Marieluise Beck (Bremen) (A) Das heißt, man würde in Kauf nehmen, dass morgen vor Wir wissen, dass wir es in Darfur faktisch mit einer (C) Ort kriegerische und gewaltsame Auseinandersetzungen sehr ähnlichen Situation zu tun haben. – Heute kann man stattfinden. sagen, dass Ahtisaari quasi vor der Quadratur des Krei- ses stand angesichts der Aufgabe, eine Lösung zu finden, (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- die dem Völkerrecht entspricht und die gleichzeitig das SES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der FDP: Selbstbestimmungsrecht des kosovarischen Volkes – und Das ist denen doch egal!) zwar nachdem Vertreibung und Übergriffe durch die, im Die Truppen, die durch die UN mandatiert dort eine Grunde eigene, Staatsmacht stattgefunden hatten – und höchst brisante und gefährliche Situation beruhigen, sol- das Recht Serbiens auf territoriale Integrität sichert. len gehen, damit freies Feld für Nationalismus, Extre- Auch das ist ein Dilemma, das es zu bewältigen galt. mismus und Gewaltexzesse entsteht. Das kommt heraus, Eine erzwungene Abspaltung ist keine gute Lösung; aber wenn wir Ihre Vorschläge, Frau Knoche, die Sie heute Krieg ist eine noch schlechtere. gemacht haben, konsequent zu Ende denken. Wir brauchen also – da sind wir uns einig – eine neue (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, UN-Resolution. Wir sehen, dass der Druck im Kessel bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) wächst. In der Tat muss man auch an die Bundesregie- Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wird der Verlän- rung die Frage richten: Wie waren die Ergebnisse der gerung des KFOR-Mandats zustimmen. Abstimmungen in der Kontaktgruppe, die Ahtisaari auf den Weg der Kompromisssuche mitbekommen hat? Was (Zuruf von der LINKEN: Welche Über- waren die Rahmenbedingungen? Wer hatte wem zuge- raschung!) stimmt, und wo war nicht zugestimmt worden? Denn wir Um es noch einmal klar zu sagen: Diese Entscheidung müssen uns doch heute fragen: Was will Russland? Wie bewegt sich auf völkerrechtlich glasklarem Boden, näm- kann es passieren, dass im letzten Moment in nicht abge- lich der UN-Resolution 1244. sprochener Weise gehandelt wird? Denn Russland ist ganz offensichtlich bereit, die Abkühlung des Verhältnis- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei ses zur Europäischen Union auf dem Rücken der Ko- der CDU/CSU, der SPD und der FDP) sovo-Albaner auszutragen, während auf der anderen Ich möchte kurz daran erinnern, womit wir es zu tun Seite Präsident Bush in unverantwortlicher Weise in Ti- haben. Es geht um Geschichte und damit um Menschen rana einseitige Schritte vorschlägt. Beide Seiten handeln und nicht um irgendwelche Soldaten und Institutionen, unverantwortlich. Auch das muss hier gesagt werden. die man auf dem Papier hin- und herschieben kann. Un- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (B) ter den Augen der OSZE hat die jugoslawische Armee (D) innerhalb von wenigen Tagen 170 000 Albaner vertrie- sowie bei Abgeordneten der SPD) ben – das sind im Übrigen fast 10 Prozent der kosovo- Der Deutsche Bundestag muss deutlich machen, dass albanischen Bevölkerung –, und der Sicherheitsrat war – das hat auch Herr Polenz eben hervorgehoben – dieses handlungsunfähig. Damit gab es in der Tat ein völker- Haus bei einer Änderung der Geschäftsgrundlage neu rechtliches Dilemma. Die UN-Charta setzt zwei Aufga- entscheiden muss. Das KFOR-Mandat gilt nur in Verbin- ben, nämlich das Verbot eines Angriffskrieges, aber auch dung mit der UN-Resolution 1244. das Gebot zum Schutz der Menschenrechte. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) der SPD) Zwischen diesen beiden völkerrechtlichen Setzungen Ein kurzer Satz noch an uns selber. Seit Miloševic’ war zu entscheiden. Rede auf dem Amselfeld 1989 hat sich das Problem Ko- sovo vor unseren Augen entfaltet, von Jahr zu Jahr mehr. (Frank Spieth [DIE LINKE]: Wie viele Serben Europa war nicht handlungsfähig. Die Großmächte USA wurden zu diesem Zeitpunkt vertrieben?) und Russland haben ihre Rivalität auf dem Rücken des Ich bin übrigens sehr froh, dass die Mütter von Sreb- Kosovo ausgetragen. Der UN-Sicherheitsrat war ge- renica vor den Internationalen Gerichtshof gezogen sind, lähmt. Wir wissen, dass es Nationalismus auf beiden um genau diese Frage klären zu lassen: Wie ist es mit der Seiten gibt. Wir wissen auch, dass die Opfer nicht vor Verantwortung der internationalen Völkergemeinschaft, Fehlern und Verbrechen gefeit sind. Aber wir dürfen einzugreifen und aktiv zu werden, wenn Gewalt gegen dem Nationalismus nicht nachgeben. Serbien muss ver- die Menschen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit stehen, dass es umdenken muss, und die ehemalige Min- und Völkermord stattfinden? Das ist die von Kofi Annan derheit der Kosovo-Albaner muss verstehen, dass Min- uns sehr zu Recht mitgegebene „responsibility to pro- derheiten im eigenen Land Rechte haben müssen. tect“, die im Völkerrecht der UN weiterentwickelt wer- den muss. Schönen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Ab- ten der SPD) geordneten der FDP) 10768 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: ren und in der sich die einzelnen Teilnehmerstaaten ganz (C) Ich erteile das Wort Kollegin Uta Zapf, SPD-Fraktion. bestimmt nicht mehr die Köpfe einhauen. (Beifall bei der SPD) Uta Zapf (SPD): Ich möchte uns gegenüber noch zwei Dinge kritisch Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und anmerken. Ich glaube, wir hatten zwei Fehleinschätzun- Kollegen! Herr Stinner, Sie sind so ungestüm, und des- gen. Eine Fehleinschätzung bezog sich auf Serbien. Von halb schießen Sie immer ein bisschen über das Ziel hi- Serbien haben wir gedacht, dass es mit einer aufoktroy- naus. ierten Lösung schon leben könne, dass man ihm nur ge- (Dr. Rainer Stinner [FDP]: Ach nein! – Jürgen nügend anbieten müsse. Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ junge Wilde der FDP!) DIE GRÜNEN]: Wir haben das nicht gesagt!) Ich denke, die Abfolge der geschichtlichen Ereignisse bis Aber wir haben unterschätzt, dass es eine ganze Reihe hin zu dem Ahtisaari-Plan und zu dem, was die Europäi- von Empfindlichkeiten und gesellschaftlichen Spannun- sche Union im Rahmen dieses Ahtisaari-Planes bereits als gen zwischen denjenigen gibt, die Reformen wollen, und Planung vorgelegt hat, was vom Gipfel in Thessaloniki denjenigen, die radikal-nationalistisch rückwärtsge- bis zum heutigen EU-Gipfel immer wieder bestätigt wird, wandt sind. Da hat es ganz offensichtlich nicht ausge- entspricht durchaus Ihrem Anliegen – wenn es Ihnen viel- reicht, dass wir Serbien trotz nicht ganz ausreichender leicht auch ein bisschen zu langsam ging –: Es geht um Compliance, also trotz nicht ausreichender Übereinstim- eine europäische Perspektive und um eine europäische mung mit den Forderungen des Tribunals, PfP, also eine Verantwortung. Also brauchen Sie jetzt niemanden zu kri- Partnerschaft für den Frieden und damit eine Annähe- tisieren und schlechtzumachen. rung an die NATO, angeboten und die Verhandlungen im Rahmen des Stabilitätsabkommens wieder aufgenom- Ich finde allerdings, dass eine einseitige, unkonditio- men haben. nierte Anerkennung des Kosovo – eine solche brauchen Sie eigentlich überhaupt nicht zu erwähnen; alle Redner Serbien fühlt sich als Verlierer. Ich fordere uns auf, haben das bisher so gesehen – über den Horizont des noch einmal darüber nachzudenken, wie wir dieses Ge- Denkens hinausgeht. Eine solche Anerkennung kann fühl vermeiden können, welche Zuwendung wir geben nicht infrage kommen. müssen, damit die Serben selber spüren: Europa ist et- was Positives, das unsere Lebensbedingungen voran- Sie haben es sich dann aber wieder zu leicht gemacht bringt und uns nicht nur ein Drittel unseres Territoriums (B) – denn wir befinden uns ja in einer Catch-22-Situation, wegnimmt. (D) in einer Zwickmühle; völkerrechtlich gesehen verlän- gern wir heute auf der Grundlage der Resolution 1244 (Beifall bei der SPD) das Mandat für das Kosovo; das, was Herr Polenz gesagt Eine zweite Fehleinschätzung ist – ein bisschen klang hat, gilt selbstverständlich –: Ich halte es für nicht rich- es bei Herrn Polenz an; aber ich setze den Akzent etwas tig, dass manche leugnen, Frau Knoche, dass der UN-Si- anders –: Warum haben wir geglaubt, dass Russland im cherheitsrat in der Lage sei, eine neue Legitimations- Rahmen der Kontaktgruppe am Ende den Ahtisaari-Plan grundlage für eine andere Lösung im Kosovo zu finden im Sicherheitsrat ohne Veto passieren lassen würde? und auszusprechen. Denn in der Resolution 1244 steht Plötzlich kommt sukzessive ein Bündel an Motiven auf ausdrücklich, dass eine Lösung gefunden werden soll. den Tisch, sodass wir merken, dass Russland auch diese Die Völkergemeinschaft war sich einig: Dies kann nicht Möglichkeit nutzt, um zu zeigen: Russland ist noch im- der Status quo ante sein. mer ein Staat, der auch in Europa mitzureden hat. Es ist (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Monika eine große Macht. Es ist weiterhin eine Weltmacht und Knoche [DIE LINKE]: Wer spricht denn von lässt sich in seinen Interessen zum Beispiel in Bezug auf einem Status quo ante? Wir sprechen von die Raketenabwehr, die KSE-Verträge, darauf, dass wir 1244!) mehr und mehr Staaten in die NATO aufnehmen, und in Bezug auf andere Fragen der internationalen Staatenge- Wir haben in der Tat sehr lange damit zugebracht, eine meinschaft, wie zum Beispiel die Kosovofrage, nicht Lösung zu finden, die wir alle für gut halten. übergehen. Ich glaube, es ist kein Wunder, dass wir noch nicht zu einem strategischen Abkommen zwischen der Warum halten wir sie für gut, Frau Knoche? Erstens EU und Russland gekommen sind; dafür ist das Verhält- sind in ihr die Minderheitenrechte ausdrücklich und sehr nis zwischen der EU und Russland noch nicht gut genug. gut verankert. Zweitens werden die serbischen Kulturgü- ter geschützt. Drittens ist das, was den Kosovaren – viele Wir sollten die Frist, die jetzt möglicherweise für Ver- von uns meinen, mit Recht – als unzumutbar erscheint, handlungen eingeräumt wird, nutzen, um diese beiden nämlich unter der Ägide von Serbien zu bleiben, ausge- Felder zu bearbeiten. Wir können nicht hoffen, dass Ser- schlossen. Gleichzeitig ist aber eine überwachte Souve- bien von sich aus sagt: Jawohl, es ist alles prima. Wir ränität vorgesehen. Das heißt, es gibt einen Übergangs- können aber auch nicht verlangen, dass die Kosovaren prozess im Hinblick auf eine gute Entwicklung. Wenn von sich aus sagen: Na ja, dann eben nicht. Es kann nicht der Prozess nach allen Seiten gut verläuft, dann entsteht sein, dass sich alle weigern, sich auf neue Verhandlun- hier eine Region, die wir an die Werte Europas heranfüh- gen einzulassen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10769

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: alle Anstrengungen zu unternehmen, um genau diesen (C) Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen. Prozess zu einem guten Ende zu führen. Wir haben sowohl im Rahmen der Konferenz der eu- Uta Zapf (SPD): ropäischen Verteidigungsminister als auch im Rahmen Ich weiß. Jetzt kommt mein letzter Satz. der Konferenz der NATO-Verteidigungsminister in der letzten Woche einstimmig unterstrichen, dass wir den Eines ist sicher: Wir müssen eine neue, legitime Ahtisaari-Vorschlag für eine gute Grundlage für die Grundlage für das schaffen, was die internationale Staa- Lösung der Statusfrage durch den Sicherheitsrat der Ver- tengemeinschaft im Kosovo tut. Wir wollen nämlich einten Nationen halten. Herr Ahtisaari, der in der ver- nicht, dass diese Region im Chaos versinkt, sondern wir gangenen Woche die Manfred-Wörner-Medaille erhalten wollen zur Stabilität in dieser Region beitragen. hat, hat uns gegenüber noch einmal versichert, wie wich- (Beifall bei der SPD) tig es für den Prozess ist, dass die NATO und die Euro- päische Union diese Position gemeinsam unterstützen. So tragen sie zu einer friedlichen und guten Lösung der Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Statusfrage bei. Das Wort hat nun der Bundesminister der Verteidi- gung, Franz Josef Jung. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister der Verteidi- Ich denke, jetzt sind drei Dinge erforderlich: gung: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Erstens. Wir müssen die Diskussion auf allen Ebenen Herren! Die Beteiligung der Bundeswehr am KFOR- intensivieren, um eine positive Lösung erreichen zu kön- Einsatz im Kosovo erfolgt auf der Grundlage der nen. Das beinhaltet auch Gespräche mit Serbien. Die Resolution 1244 des Sicherheitsrats der Vereinten Natio- NATO hat Serbien jetzt „Partnership for Peace“ angebo- nen. Diese Resolution ist zwar wie das auf ihr beruhende ten. Ich denke, wir müssen auch über die europäische Bundestagsmandat unbefristet, die Bundesregierung hat Perspektive nachdenken. Wir müssen unseren Beitrag sich aber gegenüber dem Deutschen Bundestag ver- leisten, um zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen. pflichtet, jährlich vor den Deutschen Bundestag zu tre- ten, um eine Verlängerung zu erbitten, wenn eine Frak- Zweitens. Ich denke, es gilt, alles daranzusetzen, dass tion dies verlangt. hier unilaterale Schritte unterlassen werden. Herr Kol- lege Stinner, ich habe die herzliche Bitte: Wir sollten von (B) Im Bundeskabinett haben wir am 13. Juni den diesbe- unserer Warte aus keine Diskussion über unilaterale (D) züglichen Beschluss gefasst. Heute bitten wir das Parla- Schritte führen. Das würde ein völlig falsches Signal ment um Zustimmung zur Fortsetzung des Einsatzes der senden. Wir brauchen eine multilaterale, eine gemein- Bundeswehr im Rahmen der NATO-geführten Mission same Lösung. Denn andere Lösungen würden nur in eine KFOR, weil diese Mission für die Stabilität und die falsche, schlechte Entwicklung im Kosovo führen. friedliche Entwicklung gerade in der jetzigen Situation im Kosovo notwendig ist. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD – Dr. Rainer Stinner [FDP]: (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Richtig! Da sind wir uns einig!) FDP) Vielleicht gibt es nach dem Gespräch am 1. und Wir befinden uns mitten im Entscheidungsprozess 2. Juli dieses Jahres der Präsidenten in Maine noch eine hinsichtlich der Statusfrage; das wurde schon angespro- weitere Perspektive. Ich kann nur hoffen und wünschen, chen. Deshalb ist es notwendig, dass wir jetzt keine fal- dass die Lösung nicht allzu lange auf sich warten lässt. schen Signale setzen. Im Rahmen der Verhandlungen ha- Denn eine alsbaldige Lösung ist – das ist auch die Beur- ben wir unser Kontingent teilweise durch Reservekräfte teilung unseres kommandierenden Generals Kather vor verstärkt, damit diese Statusverhandlungen in einer Ort – im Interesse einer friedlichen Entwicklung von Be- friedlichen und stabilen Situation stattfinden können. deutung. Hier ist vorhin gesagt worden, dass sich im Kosovo Drittens. Herr Ahtisaari hat gesagt: Auch wenn wir nichts getan habe. Dazu muss ich deutlich sagen: Wer so eine Statuslösung haben, brauchen wir eine Übergangs- etwas sagt, ist in der letzten Zeit offensichtlich nicht im zeit von vier Monaten. Wir brauchen dann auf jeden Fall Kosovo gewesen. noch weitere sechs Monate für den Einsatz von KFOR. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Ich denke, wir brauchen darüber hinaus auch den Einsatz der SPD) von KFOR zur Unterstützung der Entwicklung im Ko- sovo. Das will ich hier deutlich sagen. Denn dann ist die Erstens. Es gibt eine durchaus stabile und friedliche Ent- Überführung in die Polizei- und Rechtsstaatsmission der wicklung. Zweitens. Ich habe selten ein Land gesehen, Europäischen Union und die weitere Ausbildung bei- in dem so viele neue Häuser gebaut werden. Es gibt fer- spielsweise der Sicherheitskräfte im Kosovo vorgesehen, ner eine positive Entwicklung im wirtschaftlichen Be- damit der Kosovo nachher in der Lage ist, in eigener reich. Die Zukunftsperspektive hängt aber davon ab, Verantwortung für seine Sicherheit und damit für eine dass die Statusfrage positiv gelöst wird. Deshalb gilt es, friedliche Entwicklung im Land zu sorgen. 10770 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Bundesminister Dr. Franz Josef Jung (A) Wir haben jetzt rund 2 200 Soldaten im Kosovo. Sie General Kather soll hier nicht seiner Nationalität beraubt (C) leisten, wie ich finde, einen hervorragenden Einsatz. werden. Er ist Deutscher, aber er ist im Auftrag der Wenn Sie mit den Soldaten in Prizren oder Priština in die KFOR, der NATO dort. Stadt gehen, dann merken Sie, wie die Bevölkerung sie positiv aufnimmt, wie sie freudig darauf reagiert, dass Die Soldatinnen und Soldaten, die schon zwei- oder unsere Soldaten diesen Beitrag leisten. dreimal im Kosovo waren, sagen: Die Art und Weise, wie man dort miteinander umgeht, hat sich eindeutig Deshalb bitte ich Sie um Ihre Zustimmung zur Ver- verändert. Der Stab von General Kather hat klar zum längerung dieses Mandates. Denn es ist im Hinblick auf Ausdruck gebracht: Das, was im Jahre 2004 passiert ist Stabilität und eine friedliche Entwicklung im Kosovo und seinen Niederschlag darin gefunden hat, dass sich wichtig. Es ist aber auch wichtig zur Unterstützung un- der Verteidigungsausschuss in einen Untersuchungsaus- serer Soldatinnen und Soldaten, die im Interesse unserer schuss umgewandelt hat, könne und werde sich so nicht Sicherheit, aber auch im Interesse einer friedlichen Ent- wiederholen. Der Ansatz, bestimmte Probleme kriege- wicklung in Europa einen bedeutenden Beitrag leisten. risch zu lösen, ist zurzeit auf keiner der beiden Seiten, Besten Dank. weder bei den Kosovaren noch bei den Serben, vorhan- den. Dass in der „delikaten Phase“, wie sie der Kollege (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Erler bezeichnet hat, kleinere Demonstrationen oder Un- ruhen nicht auszuschließen sind, wissen die im Rahmen Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: von KFOR Verantwortlichen. Sie wissen darauf auch in Als letzter Redner in dieser Debatte hat Kollege Gerd einer Art und Weise zu reagieren, die den Grundsätzen Höfer, SPD-Fraktion, das Wort. des Peacekeeping sehr nahe kommt. Ich denke, es ist viel zu kurz gesprungen, die Anwe- Gerd Höfer (SPD): senheit der Soldatinnen und Soldaten aus den verschie- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und densten Nationen nur auf haushalterische Gründe Herren! Der Bundesverteidigungsminister hat die Bitte zurückzuführen. Dafür gibt es auch andere Gründe. Im ausgesprochen, der Verlängerung des Mandats im Ko- Zusammenhang mit dem, was dort geschehen ist, habe sovo zuzustimmen. Dieser Bitte wird die SPD-Fraktion ich, als ich in Belgrad und im Kosovo war, eines festge- entsprechen. stellt – das hat mich verblüfft –: Die Serben sagen, sie brauchten ihr Territorium, und das Kosovo gehöre dazu. Er hat eine Randbemerkung gemacht, auf die ich Von der Bevölkerung haben sie allerdings überhaupt gerne zurückkomme. Er hat gesagt, dass viele über das nicht gesprochen. Ich hatte das Gefühl, sie wollen das Kosovo reden, aber nur wenige schon einmal dort gewe- (B) Territorium, aber nicht die Bevölkerung. Die Serben ha- (D) sen sind. Ich war seit 1999 sehr oft dort, das letzte Mal ben mir gesagt: Für die Sicherheit sorgt die NATO, und vor sechs Wochen. die Flüchtlingsfragen klärt die EU. Wir erwarten, bis Zu den Kosten. Diese wurden heute in der Bericht- zum Jahre 2008 zu Verhandlungen über einen Beitritt erstattung in den Zeitungen etwas übermächtig darge- zur EU aufgefordert zu werden, und im Jahre 2012 wol- stellt. Es gibt keinen Grund, im Deutschen Bundestag len wir mit Sicherheit Mitglied der EU sein. die Kosten der Verlängerung des Mandats um ein Jahr, Die Kosovaren haben mir gesagt: Wir sind vorberei- die auf zwei Haushaltsjahre verteilt sind, nicht zu nen- tet. Wir haben eine eigene Regierung. Es ist sogar ein nen. Sie sind mit 154 Millionen Euro veranschlagt. britischer Generalmajor im Kosovo, der dort quasi den Wenn man diese 154 Millionen Euro streichen würde, Verteidigungsminister darstellt. Die Kosovaren denken: dann wären im Kosovo keine deutschen und auch keine Wenn wir frei und selbstständig sind, wird sich schon anderen Soldaten mehr. Wie das Szenario dort dann aus- während des ungefähr 120 Tage dauernden Monitorings sehen würde, haben die Vorredner zum Teil schon be- alles zum Guten wenden. Dann wird die EU für die schrieben, obwohl Wahrheit und Realität auf der äußers- Schaffung geeigneter Strukturen und für die Behebung ten linken Seite dieses Hauses nicht wahrgenommen der noch vorhandenen Defizite zahlen. Daran wird deut- werden. lich: Beide Seiten sind zurzeit in bestimmten Bereichen Wahrheit und Realität sind – man kann sie aus be- äußerst naiv. stimmten Zahlen, die in der Presse immer wieder falsch wiedergegeben werden, ableiten –: Wir haben einmal Da sowohl die Serben als auch die Kosovaren ein sehr mit einem Idealmandat von 8 500 Soldaten begonnen. großes Bestreben haben, in die EU aufgenommen zu Die größte Stärke, die von der Bundesrepublik Deutsch- werden, habe ich zu beiden Seiten gesagt: Tut doch so, land jemals entsendet worden ist, waren 6 440. Ich be- als wärt ihr bereits Mitglieder der EU. Überlegt euch richtige den Bundesverteidigungsminister ungern, aber einmal, was ihr tun müsstet, um die Standards, deren nach meinen Daten ist es so, dass zurzeit 2 167 Soldatin- Einhaltung die EU verlangt, zu erreichen. Fangt bitte an, nen und Soldaten im Kosovo sind. Das ist eine Differenz in dieser Reihenfolge zu denken. Ihr wollt im Jahre 2012 von 3 Soldatinnen und Soldaten; das werden wir aber Mitglieder der EU werden. Im Jahre 2012 bestünde dann noch auseinanderdividieren können. Freizügigkeit zwischen Serbien und dem Kosovo, egal welcher Status vorhanden ist. Darüber hinaus stünde die Das heißt, schon allein an der Zahl der Soldatinnen Rückführung der Flüchtlinge an. Außerdem wäre zu klä- und Soldaten kann man einen Fortschritt feststellen. Ich ren, wie Minderheiten zu behandeln sind. All das wäre habe vor sechs Wochen mit General Kather gesprochen. kein Problem. Ihr müsst allerdings mit diesem Gedanken Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10771

Gerd Höfer (A) beginnen. Sonst funktioniert das nicht. Ohne die Zustim- Uwe Beckmeyer, Dr. Margrit Wetzel, Dr. Rainer (C) mung der Bevölkerung beider Teile des Landes, der Ser- Wend, weiterer Abgeordneter und der Fraktion ben und der Kosovaren, wird das nicht funktionieren. der SPD Ich hoffe – das ist mir bei meinen Besuchen gesagt Für eine zukunftsgerichtete europäische Mee- worden –: Egal wie die Statusfrage geklärt wird, die respolitik KFOR-Truppen sind vorbereitet, das Mandat so lange – Drucksache 16/5731 – nach den Grundsätzen des Peacekeeping fortzuführen, bis eine neue Resolution verabschiedet wurde. b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge- ordneten Laurenz Meyer (Hamm), Eckhardt Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Rehberg, Wolfgang Börnsen (Bönstrup), weite- Ich schließe die Aussprache. rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti- sowie der Abgeordneten Dr. Margrit Wetzel, gen Ausschusses auf Drucksache 16/5753 zu dem An- Garrelt Duin, Dr. Rainer Wend, weiterer Abge- trag der Bundesregierung auf Fortsetzung der deutschen ordneter und der Fraktion der SPD Beteiligung an der internationalen Sicherheitspräsenz im Maritime Wirtschaft in Deutschland stärken Kosovo. Der Ausschuss empfiehlt, dem Antrag auf Drucksache 16/5600 zuzustimmen. Es ist namentliche – Drucksachen 16/4423, 16/5437 – Abstimmung verlangt. Zu dieser namentlichen Abstim- Berichterstattung: mung liegt eine schriftliche Erklärung der Kollegin Petra Abgeordneter Patrick Döring Hinz vor.1) c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die Steenblock, Marieluise Beck (Bremen), Volker vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind die Plätze an Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der den Urnen besetzt? – Es fehlt noch ein Schriftführer von Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN der Opposition. Ich eröffne die Abstimmung. Für eine nachhaltige und umfassende Meeres- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: politik für die Europäische Union Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine – Drucksache 16/5428 – Stimme noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- (B) Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schrift- (D) führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag später bekannt gegeben. der Abgeordneten Hans-Michael Goldmann, An- gelika Brunkhorst, Patrick Döring, weiterer Ab- Wir setzen die Abstimmungen fort. geordneter und der Fraktion der FDP Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie- Schutz und Nutzung der Meere – Für eine ßungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag integrierte maritime Politik der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/5778? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungs- – Drucksachen 16/4418, 16/5764 – antrag ist mit den Stimmen von SPD und CDU/CSU bei Berichterstattung: Gegenstimmen der FDP und Enthaltung der Fraktionen Abgeordneter Uwe Beckmeyer des Bündnisses 90/Die Grünen und Die Linke abgelehnt. – Die Linke hat nicht abgelehnt. – Also, ich revidiere: Die Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Fraktion Die Linke hat abgelehnt. Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Druck- Ich gebe das Wort dem Kollegen Eckhardt Rehberg, sache 16/5779? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – CDU/CSU-Fraktion. Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von SPD, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) CDU/CSU und Fraktion Die Linke bei Enthaltung der FDP und Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. Eckhardt Rehberg (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c sowie Herren Abgeordnete! Manche werden fragen, was ein Zusatzpunkt 4 auf: Grünbuch Meerespolitik soll. 6 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Laurenz Seit einem Jahr liegt das Grünbuch zur Beratung im Meyer (Hamm), Dirk Fischer (Hamburg), Eck- Deutschen Bundestag. Durch das Grünbuch wurde be- hardt Rehberg, weiterer Abgeordneter und der wirkt, dass sich über das Parlament, den Deutschen Bun- Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten destag, hinaus auch die Landesparlamente und der Bun- desrat in vielfältiger Art und Weise mit dem Ansatz der 1) Anlage 2 Europäischen Kommission befasst haben, die Meerespo- 10772 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Eckhardt Rehberg (A) litik zum ersten Mal nicht nur sektoral zu betrachten. (Beifall bei der SPD – Rainder Steenblock (C) Das heißt, die Schiffbauindustrie, der Seeverkehr, der [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kann man Küstenschutz, die Offshorefischerei und die Meeresum- auch recyceln!) welt wurden nicht separat, sondern mit einem integrati- – Herr Kollege Steenblock, das kann man tun. Ich habe ven Ansatz betrachtet. das bewusst überspitzt gesagt: Schrott gehört auf den Deswegen, glaube ich, ist es wichtig und gut, dass der Müll. – Daneben nenne ich die Lotsenpflicht für die Ka- Deutsche Bundestag eine eigene Stellungnahme erarbei- detrinne, feste Seerouten für Öltanker und andere ge- fährliche Schiffe, Einführung des Weitbereichsradars. tet hat, was zeitlich leider erst nach der Bremer Konfe- Wir müssen auch über ein internationales Küstenzonen- renz möglich war, die ich als sehr erfolgreich bezeichne management reden und die Nutzungskonflikte nicht nur – ich bin hier den Kolleginnen und Kollegen der SPD für national, sondern auch international lösen. Wir brauchen die schnelle und konstruktive Zusammenarbeit ganz aus- eine integrierte Meeresforschung. Wir sind Technolo- drücklich dankbar –, und dass wir auch noch einmal un- gieführer zum Beispiel im Schiffbau und haben durch ef- terstrichen haben, dass wir erst durch diesen ganzheitli- fiziente Schiffsantriebstechniken die Chance, sehr stark chen Ansatz, also diese ganzheitliche Betrachtung der dafür zu sorgen, dass die Energieeffizienz auf den Schif- Ozeane und Meere, nicht nur die wirtschaftlichen und fen steigt. Schließlich nenne ich auch das Thema Clean- sozialen Aspekte, sondern zugleich auch die ökologi- ship-Entsorgung. Auch hier können und sollten wir mit schen Aspekte sehen. Dies muss ein Dreiklang sein: deutscher Technologie ganz einfach nach vorne schrei- wirtschaftlich, sozial und ökologisch. ten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Lassen Sie mich zum Schluss noch zwei Dinge anfü- neten der SPD und des Abg. Hans-Michael gen. Ich denke, wir sollten alle gemeinsam – hier sind Goldmann [FDP]) nicht nur die Küstenländer gefordert – den Stellenwert maritimer Technologien nach vorne stellen. Es kann Meine sehr verehrten Damen und Herren, warum ha- nicht sein, dass der Umfang der maritimen Technologien ben Meere und Ozeane in Deutschland möglicherweise nur 0,4 Prozent gegenüber den Raumfahrttechnologien nicht die Aufmerksamkeit – sie stehen nicht so im Fokus – und nur 0,75 Prozent gegenüber den Energietechnolo- wie in Großbritannien, Spanien, Portugal oder Frank- gien ausmacht. Wenn wir diese ganzheitliche Betrach- reich? Ich glaube, dass dem einen oder anderen gar nicht tung wirklich ernst meinen, dann müssen wir in diesem klar ist, dass zum Beispiel 40 Prozent des Bruttoinlands- Bereich auch mehr investieren. produkts der Europäischen Union an den Küsten erzeugt Ich will zum Schluss einen Satz aus dem Grünbuch werden, dass durch 400 000 Beschäftigte in der mariti- zitieren: „Die Eindämmung des Klimawandels ist für (B) men Wirtschaft in Deutschland 54 Milliarden Euro an den Schutz unserer Wirtschaft entscheidend.“ (D) Bruttowertschöpfung erbracht werden – das ist fast das Dreifache wie in der Luft- und Raumfahrtindustrie – und Wer unseren Antrag als unausgewogen kritisiert, den dass 95 Prozent des interkontinentalen Warenverkehrs bitte ich: Lesen Sie ihn von vorne bis hinten durch! über den Seeweg erfolgen. Ich sage ganz ausdrücklich, Herzlichen Dank. dass ich sehr froh darüber bin, dass neben unserer Stel- lungnahme zum Grünbuch auch der Antrag „Maritime (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wirtschaft in Deutschland stärken“ verabschiedet wer- neten der SPD) den soll. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich will noch auf den einen oder anderen Punkt einge- Ich komme zurück zu Tagesordnungspunkt 5 und hen. Man kann in der Kürze von fünf Minuten nicht alle gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern Aspekte ansprechen. Ich will noch einmal deutlich ma- ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung chen, dass wir uns gerade in der Nord- und in der Ostsee über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Aus- – in zwei relativ kleinen Meeren – zunehmend mehr dem schusses zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fort- Thema Schiffssicherheit widmen müssen. setzung der deutschen Beteiligung an der Internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo, Drucksachen 16/5600 Ich nenne einige Stichworte und sage das sehr dras- und 16/5753, bekannt: Abgegebene Stimmen 576. Mit tisch und ausdrücklich: Die Schrott- und Seelenverkäu- Ja haben gestimmt 515, mit Nein haben gestimmt 58, fer – Stichwort: Einhüllentanker – gehören runter von Enthaltungen 3. Die Beschlussempfehlung und damit den Weltmeeren. Schrott gehört auf den Müll. der Antrag der Bundesregierung sind angenommen.

Endgültiges Ergebnis Ja Abgegebene Stimmen: 576; Dorothee Bär Dr. davon CDU/CSU Thomas Bareiß Otto Bernhardt ja: 515 Günter Baumann Carl-Eduard von Bismarck nein: 58 Ilse Aigner Ernst-Reinhard Beck enthalten: 3 (Reutlingen) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10773

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Susanne Jaffke Dr. Peter Ramsauer Doris Barnett (C) Dr. Maria Böhmer Dr. Peter Rauen Dr. Hans-Peter Bartels Dr. Hans-Heinrich Jordan Eckhardt Rehberg Dr. Franz Josef Jung Sören Bartol Klaus Brähmig Andreas Jung (Konstanz) Dr. Sabine Bätzing Michael Brand Bartholomäus Kalb Franz Romer Hans-Werner Kammer Johannes Röring Uwe Beckmeyer Dr. Ralf Brauksiepe Kurt J. Rossmanith Klaus Uwe Benneter Monika Brüning Bernhard Kaster Dr. Norbert Röttgen Dr. Siegfried Kauder (Villingen- Dr. Christian Ruck Ute Berg Schwenningen) Albert Rupprecht (Weiden) Volker Kauder Anita Schäfer (Saalstadt) Lothar Binding (Heidelberg) Jürgen Klimke Hermann-Josef Scharf Alexander Dobrindt Julia Klöckner Dr. Wolfgang Schäuble Kurt Bodewig Thomas Dörflinger Hartmut Schauerte Marie-Luise Dött Kristina Köhler (Wiesbaden) Dr. Annette Schavan Gerd Bollmann Maria Eichhorn Manfred Kolbe Dr. Dr. Anke Eymer (Lübeck) Norbert Königshofen Karl Schiewerling Willi Brase Georg Fahrenschon Dr. Norbert Schindler Hartmut Koschyk Georg Schirmbeck (Hildesheim) Dr. Hans Georg Faust Thomas Kossendey Andreas Schmidt (Mülheim) Edelgard Bulmahn Enak Ferlemann Michael Kretschmer (Berlin) Marco Bülow Ingrid Fischbach Dr. Hartwig Fischer (Göttingen) Dr. Günter Krings Dr. Ole Schröder Dirk Fischer (Hamburg) Dr. Martina Krogmann Bernhard Schulte-Drüggelte Dr. Michael Bürsch Axel E. Fischer (Karlsruhe- Johann-Henrich Uwe Schummer Land) Krummacher Wilhelm Josef Sebastian Marion Caspers-Merk Dr. Dr. Hermann Kues Kurt Segner Dr. Peter Danckert Klaus-Peter Flosbach Dr. Norbert Lammert Bernd Siebert Dr. Herta Däubler-Gmelin Herbert Frankenhauser Dr. Hans-Peter Friedrich Dr. Max Lehmer Martin Dörmann (Hof) Dr. Carl-Christian Dressel Erich G. Fritz Erika Steinbach Elvira Drobinski-Weiß Jochen-Konrad Fromme Eduard Lintner Christian Freiherr von Stetten Garrelt Duin (B) Dr. Michael Fuchs Dr. Klaus W. Lippold Detlef Dzembritzki (D) Hans-Joachim Fuchtel Andreas Storm Dr. Jürgen Gehb Dr. Michael Luther Siegmund Ehrmann (Altötting) (Heilbronn) Wolfgang Meckelburg Lena Strothmann Gernot Erler Ralf Göbel Dr. Michael Stübgen Petra Ernstberger Dr. Reinhard Göhner Laurenz Meyer (Hamm) Hans Peter Thul Karin Evers-Meyer Josef Göppel Dr. Hans-Peter Uhl Annette Faße Peter Götz Dr. h. c. Hans Michelbach Elke Ferner Dr. Wolfgang Götzer Philipp Mißfelder Volkmar Uwe Vogel Gabriele Fograscher Dr. Eva Möllring Andrea Astrid Voßhoff Rainer Fornahl Reinhard Grindel Marlene Mortler Gerhard Wächter Gabriele Frechen Hermann Gröhe Dr. Gerd Müller Marco Wanderwitz Michael Grosse-Brömer Hildegard Müller Peter Friedrich Markus Grübel Carsten Müller Martin Gerster (Braunschweig) Peter Weiß (Emmendingen) Iris Gleicke Monika Grütters Stefan Müller (Erlangen) Gerald Weiß (Groß-Gerau) Renate Gradistanac Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Bernward Müller (Gera) Angelika Graf (Rosenheim) Guttenberg (Bremen) Karl-Georg Wellmann Dieter Grasedieck Dr. Georg Nüßlein Annette Widmann-Mauz Holger Haibach Franz Obermeier Klaus-Peter Willsch Gerda Hasselfeldt Elisabeth Winkelmeier- Gabriele Groneberg Ursula Heinen Becker Achim Großmann Uda Carmen Freia Heller Rita Pawelski Dagmar Wöhrl Wolfgang Grotthaus Michael Hennrich Dr. Peter Paziorek Wolfgang Zöller Wolfgang Gunkel Jürgen Herrmann Ulrich Petzold Willi Zylajew Hans-Joachim Hacker Dr. SPD Ernst Hinsken Sibylle Pfeiffer Klaus Hagemann Robert Hochbaum Dr. Lale Akgün Alfred Hartenbach Klaus Hofbauer Gerd Andres Michael Hartmann Franz-Josef Holzenkamp Ruprecht Polenz Niels Annen (Wackernheim) Joachim Hörster Daniela Raab Ingrid Arndt-Brauer Nina Hauer Anette Hübinger Hubert Hüppe Hans Raidel (Neuruppin) Reinhold Hemker 10774 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Rolf Hempelmann Dr. Engelbert Wistuba Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (C) Dr. Barbara Hendricks Dr. Martin Zeil Gustav Herzog (Cottbus) Waltraud Wolff Petra Heß Maik Reichel (Wolmirstedt) BÜNDNIS 90/ Gabriele Hiller-Ohm Gerold Reichenbach Heidi Wright DIE GRÜNEN Uta Zapf Stephan Hilsberg Dr. Carola Reimann Kerstin Andreae Gerd Höfer Christel Riemann- Manfred Zöllmer Marieluise Beck (Bremen) (Wismar) Hanewinckel Brigitte Zypries Volker Beck (Köln) Frank Hofmann (Volkach) Eike Hovermann Sönke Rix FDP Birgitt Bender Klaas Hübner René Röspel Jens Ackermann Grietje Bettin Dr. Christel Humme Dr. Karl Addicks Alexander Bonde Michael Roth (Heringen) Lothar Ibrügger Christian Ahrendt Dr. Thea Dückert Ortwin Runde Brunhilde Irber (Münster) Dr. Uschi Eid Anton Schaaf Johannes Jung (Karlsruhe) Uwe Barth Hans-Josef Fell Axel Schäfer (Bochum) Rainer Brüderle Kai Gehring Johannes Kahrs Bernd Scheelen Angelika Brunkhorst Ulrich Kasparick Dr. Britta Haßelmann Dr. h. c. Susanne Kastner Patrick Döring Winfried Hermann Otto Schily Mechthild Dyckmans Peter Hettlich Dr. Frank Schmidt Jörg van Essen Priska Hinz (Herborn) Hans-Ulrich Klose (Aachen) Ulrike Höfken Astrid Klug Silvia Schmidt (Eisleben) Ulrike Flach Otto Fricke Dr. Dr. Bärbel Kofler Heinz Schmitt (Landau) Bärbel Höhn Carsten Schneider (Erfurt) Paul K. Friedhoff Horst Friedrich (Bayreuth) Thilo Hoppe Fritz Rudolf Körper Ute Koczy Dr. Karin Kortmann Renate Künast Hans-Michael Goldmann Rolf Kramer Reinhard Schultz Markus Kurth Joachim Günther (Plauen) (Everswinkel) Undine Kurth (Quedlinburg) Ernst Kranz Swen Schulz (Spandau) Dr. Christel Happach-Kasan Monika Lazar Nicolette Kressl Heinz-Peter Haustein Dr. Reinhard Loske Volker Kröning Elke Hoff Anna Lührmann Dr. Hans-Ulrich Krüger Dr. Angelica Schwall-Düren Birgit Homburger Nicole Maisch Angelika Krüger-Leißner Dr. Martin Schwanholz Dr. Werner Hoyer Jerzy Montag Michael Kauch (B) Jürgen Kucharczyk Kerstin Müller (Köln) (D) Helga Kühn-Mengel Rita Schwarzelühr-Sutter Dr. Heinrich L. Kolb Winfried Nachtwei Ute Kumpf Wolfgang Spanier Hellmut Königshaus Omid Nouripour Dr. Uwe Küster Dr. Margrit Spielmann Gudrun Kopp Brigitte Pothmer Christine Lambrecht Jörg-Otto Spiller Heinz Lanfermann Krista Sager Christian Lange (Backnang) Dr. Ditmar Staffelt Elisabeth Scharfenberg Dr. Dieter Steinecke Harald Leibrecht Rainder Steenblock Waltraud Lehn Ina Lenke Silke Stokar von Neuforn Helga Lopez Rolf Stöckel Sabine Leutheusser- Dr. Harald Terpe Gabriele Lösekrug-Möller Christoph Strässer Schnarrenberger Jürgen Trittin Dirk Manzewski Dr. Peter Struck Michael Link (Heilbronn) Wolfgang Wieland Lothar Mark Joachim Stünker Markus Löning Josef Philip Winkler Dr. Rainer Tabillion Horst Meierhofer Jörg Tauss Patrick Meinhardt Nein Jella Teuchner Jan Mücke Dr. h. c. Wolfgang Thierse Burkhardt Müller-Sönksen CDU/CSU Petra Merkel (Berlin) Jörn Thießen Dirk Niebel Dr. Matthias Miersch Franz Thönnes Hans-Joachim Otto Wolfgang Börnsen Ursula Mogg Rüdiger Veit (Frankfurt) (Bönstrup) Marko Mühlstein Simone Violka Cornelia Pieper Willy Wimmer (Neuss) Detlef Müller (Chemnitz) Jörg Vogelsänger Gisela Piltz Michael Müller (Düsseldorf) Dr. Marlies Volkmer Jörg Rohde SPD Gesine Multhaupt Hedi Wegener Frank Schäffler Franz Müntefering Andreas Weigel Dr. Petra Hinz (Essen) Dr. Rolf Mützenich Petra Weis Marina Schuster Gunter Weißgerber Dr. FDP Gert Weisskirchen Dr. Holger Ortel (Wiesloch) Dr. Rainer Stinner Jürgen Koppelin Heinz Paula Dr. Rainer Wend Carl-Ludwig Thiele DIE LINKE Johannes Pflug Lydia Westrich Joachim Poß Dr. Margrit Wetzel Christoph Waitz Hüseyin-Kenan Aydin Christoph Pries Andrea Wicklein Dr. Guido Westerwelle Dr. Dr. Wilhelm Priesmeier Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Claudia Winterstein Florian Pronold Dr. Dieter Wiefelspütz Dr. Volker Wissing Dr. Lothar Bisky Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10775

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Heidrun Bluhm Dr. Lukrezia Jochimsen Elke Reinke Fraktionslose Abgeordnete (C) Eva Bulling-Schröter Dr. Hakki Keskin Paul Schäfer (Köln) Henry Nitzsche Dr. Martina Bunge Volker Schneider Gert Winkelmeier Monika Knoche (Saarbrücken) Sevim Dağdelen Dr. Herbert Schui Dr. Katrin Kunert Dr. Ilja Seifert Enthaltung Dr. Dagmar Enkelmann Dr. Petra Sitte Michael Leutert Frank Spieth CDU/CSU Dr. Kirsten Tackmann Wolfgang Gehrcke Ulla Lötzer Dr. Dr. Gregor Gysi Dr. Gesine Lötzsch Dr. Jörn Wunderlich Heike Hänsel Ulrich Maurer FDP Lutz Heilmann Dorothée Menzner Sabine Zimmermann Hans-Kurt Hill Kornelia Möller Dr. Edmund Peter Geisen Cornelia Hirsch Kersten Naumann BÜNDNIS 90/ Inge Höger Dr. Norman Paech DIE GRÜNEN BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Dr. Barbara Höll Petra Pau Sylvia Kotting-Uhl Ulla Jelpke Bodo Ramelow Hans-Christian Ströbele Irmingard Schewe-Gerigk

Nächster Redner in unserer Debatte ist der Kollege eingebunden sehen und weil wir es für klug halten, die in Hans-Michael Goldmann, FDP-Fraktion. einzelnen Punkten erzielte Übereinstimmung auch ge- meinsam zum Ausdruck zu bringen. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Hans-Michael Goldmann (FDP): bei Abgeordneten der SPD) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir werden uns bei Ihrem Antrag zum Grünbuch der Vielleicht interessiert es auch die Zuhörer: Es geht heute Stimme enthalten, Herr Rehberg, obwohl auch dieser um zwei Anträge. Ein Antrag trägt den Titel „Maritime Antrag viele wichtige Punkte enthält. Es ist aber ein bis- Wirtschaft in Deutschland stärken“. In dem anderen An- schen blamabel, Herr Rehberg trag geht es um das Grünbuch der Europäischen Kom- mission „Die künftige Meerespolitik der EU“. (Widerspruch des Abg. Eckhardt Rehberg (B) [CDU/CSU]) (D) Nicht jeder weiß, was ein Grünbuch ist. – doch, Herr Rehberg; es ist blamabel –, wenn Sie darauf (Widerspruch bei der CDU/CSU) hinweisen, dass das Vorhaben seit einem Jahr auf dem – Es ist gut, dass Sie das wissen. Das freut mich. – Auf Weg ist. Ich weiß, dass die Konferenz in Bremen nicht europäischer Ebene werden aus Grünbüchern Weißbü- ein Jahr zurückliegt, sondern später war. Sie haben aber cher entwickelt, die sich dann in Gesetzen und Verord- erst zwei Tage vor der Abstimmung im Parlament, am nungen niederschlagen. Dabei muss man gut aufpassen, Dienstagabend, eine Vorlage eingebracht, die ich im Üb- dass die maritimen Interessen so zum Tragen kommen, rigen in vielen Bereichen für sehr qualifiziert halte. Ich wie wir es uns wünschen. Das machen die FDP und auch habe sie intensiv gelesen. ich persönlich, seit ich die Aufgabe des Sprechers für (Zuruf des Abg. Eckhardt Rehberg [CDU/ diesen Bereich wahrnehme. CSU]) Wir haben über 50 parlamentarische Initiativen einge- – Warum verzichten Sie dann auf eine Beratung im Aus- bracht. Dabei war uns immer wichtig, gleiche Wettbe- schuss, Herr Rehberg? Warum sind Sie mit Ihrer Leis- werbschancen zu schaffen. Sie erinnern sich sicherlich tungsfähigkeit als Große Koalition nicht in der Lage, ein an den Kampf um die Tonnagesteuer. Des Weiteren geht geordnetes Verfahren auf den Weg zu bringen, bei dem es uns um den Meeres- und Küstenschutz, um die wir dann gemeinsam feststellen könnten, dass wir auch Schiffssicherheit und um eine leistungsfähige Wasser- mit dem Grünbuch auf einem guten Weg sind? Ihren und Schifffahrtsverwaltung, die ihre Aufgaben erfüllen Vorschlägen kann man inhaltlich in vielen Punkten zu- kann. Sie nimmt gerade in dieser Zeit besondere Aufga- stimmen, aber der Verfahrensweg, den Sie beschritten ben wahr, zum Beispiel im Zusammenhang mit der Rea- haben, ist eine Blamage für Ihre Arbeit. lisierung des Jade-Weser-Portes in Wilhelmshaven. Ein weiterer wichtiger Punkt ist aus unserer Sicht der akti- (Beifall bei der FDP) vierende Staat. Das bedeutet, dass möglichst viele Auf- gaben des Staates an Private übertragen werden. Auch Lassen Sie mich einige Punkte ansprechen, die uns si- darüber können wir noch sprechen, wenn es um Ret- cherlich gemeinsam am Herzen liegen und die auch die tungskonzepte geht. Außerdem geht es uns um eine be- Staatssekretärin beim Deutschen Seeschifffahrtstag in darfsgerechte Infrastruktur. Emden und der Herr Bundespräsident angesprochen ha- ben. Es gibt Personalprobleme, was die Qualifikation Wir werden dem Antrag zur Stärkung der maritimen derjenigen angeht, die auf den Schiffen beschäftigt sind. Wirtschaft zustimmen, weil wir uns in dieses Vorhaben Das ist kein neues Phänomen. Wir haben schon 1990 im 10776 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Hans-Michael Goldmann (A) Ausschuss für Häfen und Schifffahrt des Niedersächsi- Raumordnungspläne auflegen und sagen: Das ist un- (C) schen Landtags Klagen darüber gehört, dass Personal in sere europäische Zielsetzung. diesem Bereich unterqualifiziert ist. Daraus erwachsen Sicherheitsprobleme auf den Seewegen. Ich bin aber strikt dagegen, dass die europäische Ebene bestimmt, welcher Hafen übernationale Bedeu- Ich glaube, dass wir gemeinsam Anstrengungen un- tung hat und welcher Hafen möglicherweise nur natio- ternehmen müssen, um hierbei Verbesserungen zu errei- nale Bedeutung hat. Einen solchen Eingriff der europäi- chen. Das gilt auch für die Länder. Ich finde es gut, dass schen Ebene in unsere Gestaltungsmöglichkeiten sollten in Niedersachsen – auch durch die Seefahrtsschule in wir auf jeden Fall abwenden. Leer und mit Ihrer Unterstützung, Herr Duin – erreicht wurde, dass sich die Reeder engagieren, damit qualifi- (Beifall bei der FDP – Eckhardt Rehberg [CDU/ zierter Nachwuchs gesichert werden kann. Dann können CSU]: Das haben wir ja getan!) wir auch ernst machen mit dem Zurückflaggen der – Sie haben ihn nicht abgewendet. In Ihrem Antrag steht, Schiffe, die bis jetzt zum Teil im Ausland registriert dass das auf den Weg gebracht werden soll. Bisher haben sind. Sie gar nichts abgewendet, Herr Rehberg. In Bezug auf die Realisierung des Schiffbaus in Auch an anderen Stellen – zum Beispiel bei ILO-Ver- Deutschland haben wir nach wie vor ein Problem. Das einbarungen – haben Sie die Dinge nicht so auf den Weg Problem der Zinsschranke ist für das eine oder andere gebracht, wie Sie es hier eben darzustellen versucht ha- Werftunternehmen auch im Zuge der Beratungen zur ben. Unternehmensteuerreform nicht bereinigt worden. Ich habe gehört, dass es in diesem Zusammenhang ein Om- Wir können uns sehr gerne über gemeinsame nibusgesetz geben soll, das manches einsammeln will, Schritte in diesem Bereich einigen. Ich biete das noch was in diesem Bereich falsch gelaufen ist. Ich bitte Sie einmal ausdrücklich an. Der maritime Bereich eignet noch einmal, sehr genau darauf zu achten, dass man ge- sich dafür, dass wir uns gemeinsam aufstellen; denn er rade Unternehmen, die hohe kreditfinanzierte Investitio- ist extrem chancenreich. Ich bin dafür, dass wir diese nen auf den Weg bringen, nicht das Wasser abgräbt; Dinge gemeinsam abklären. denn das wäre jammerschade. Allerletzter Punkt: Das gilt zum Beispiel auch für den (Beifall bei der FDP) Fischfang. Ich bin froh darüber, dass es dort jetzt – auch mit Unterstützung des Bundesministeriums, auch durch Heute ist ja ein Jubeltag. Endlich ist die Notfall- Herrn Minister Seehofer – zu Verbesserungen kommt. schlepper-Ausschreibung auf den Weg gebracht.

(B) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (D) wie des Abg. Rainder Steenblock [BÜND- Herr Kollege Goldmann! NIS 90/DIE GRÜNEN]) – Dazu können wir uns gerne selbst gratulieren, liebe Hans-Michael Goldmann (FDP): Kollegen. Aber warum haben Sie so lange dafür ge- Wir müssen klipp und klar sagen: Die Überfischung braucht? Mir ist auch wirklich schleierhaft, warum die ist nicht hinzunehmen. Gemeinsam kriegen wir es aber Verwaltung in diesem Bereich einiges vereumelt hat. hin. Lassen Sie uns jetzt aber froh und glücklich sein. Hof- fentlich kommen die Schlepper dann auch nach den An- Ich hoffe, dass wir in diesen Fragen weiterhin an ei- sprüchen, die wir gestellt haben, die wir in diesem Be- nem Strang ziehen können. reich vielleicht ein bisschen mehr Ahnung haben als der Herzlichen Dank. eine oder andere Verwaltungsbeamte. Es ist gut, dass das jetzt auf den Weg gebracht ist; (Beifall bei der FDP) denn nichts ist für unsere Meere so schlimm wie Unsi- cherheit und Gefährdung durch Schiffsunfälle. Das ha- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: ben wir erlebt. Jeder, der Leistungsfähigkeit im Hafen- Ich gebe dem Kollegen Uwe Beckmeyer, SPD-Frak- bereich will, will auch auf den Zufahrtswegen und auf tion, das Wort. den Binnenwasserstraßen Sicherheit haben. Wer die Deutsche Bucht ein bisschen kennt, der weiß, Uwe Beckmeyer (SPD): dass Sicherheit dort eine der größten Herausforderungen Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und ist; denn ansonsten ist der Nationalpark Wattenmeer – dem- Herren! Ein Wort vorweg zu Herrn Goldmann: Dieser nächst wahrscheinlich sogar Weltnaturerbe – überhaupt Antrag des Deutschen Bundestages ist heute eine Pre- nicht mit unseren Vorstellungen von der Nutzung der miere. Wir wenden uns als Deutscher Bundestag nämlich Häfen und der Nutzung der Chancen in den Häfen in zum ersten Mal direkt an die Europäische Kommission. Einklang zu bringen. Das ist in dieser Frage auch absolut angemessen, denke ich. Die europäische Ebene geht jetzt mit dem Grünbuch in bestimmte Bereiche hinein. Das begrüße ich sehr. Die- Natürlich erwartet der Deutsche Bundestag von der sen integrativen Ansatz haben Sie auch zum Ausdruck Bundesregierung, dass sie diesen Beschluss auch an die gebracht, Herr Rehberg. Ich bin ebenfalls dafür, dass wir Europäische Kommission weiterleitet. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10777

Uwe Beckmeyer (A) Wir haben in diesem klaren Text auch zum Ausdruck Wenn es um Beschäftigung, Wettbewerbsfähigkeit, (C) gebracht, welche besonderen Erwartungen wir an die Forschung und Innovation sowie das Leben an der Küste Diskussion haben, die sich auf der europäischen Ebene und die gemeinsame Verantwortung für die Meere geht, an das Grünbuch anschließt. müssen wir gemeinschaftlich handeln. Richtig ist: Kaum ein anderer Wirtschaftszweig muss sich in gleichem Wir wollen nicht, dass es – wie Sie es in Ihrem Antrag Maße im globalen Wettbewerb behaupten wie der mari- teilweise formuliert haben – in diesem Prozess zu weiter time Sektor. Insofern ist es wichtig, unsere Konkur- gehenden Kompetenzverlagerungen kommt. renzfähigkeit auf internationaler Ebene zu sichern, in- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: An wen?) dem wir bisher isoliert betrachtete einzelstaatliche Politiken künftig stärker miteinander verzahnen und ge- – An die EU. meinsam vorantreiben. Die Europäische Union kann uns (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Quatsch!) hier helfen. Dafür ist sie weltweit in den entsprechenden Gremien tätig. Sie ist die Instanz, die die jeweiligen na- – Nein. tionalen Interessenlagen vertreten muss. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: An welcher In den Bereichen Seeverkehr, Schiffbautechnik, Off- Stelle steht das denn?) shore-Energien und maritime Dienstleistungen sind wir auf einem guten Wege. Hier ist Europa hilfreich. Wir Wir sind der festen Überzeugung: Einiges muss kon- brauchen in der Frage, wie wir uns national aufstellen solidiert, zusammengeführt und abgestimmt werden. und wie wir ökonomische Interessen durchsetzen kön- Dies soll auch erfolgen. nen, im Hinblick auf die Menschen sowie die Arbeits- (Zuruf des Abg. Hans-Michael Goldmann plätze und die Dienstleister an der Küste abgestimmte [FDP]) Strategien. Diese müssen unser Politikverständnis und unsere Gestaltungskraft widerspiegeln. Wir betreiben Dabei sollte Folgendes nicht außer Acht gelassen wer- Politik vor Ort. Das ist wichtig. Wir wollen mit einer sol- den: Verlagerungen von wichtigen Entscheidungen an chen Politik unsere Stärken stärken. Das ist der entschei- die EU sind – auch nach dem Subsidiaritätsprinzip – dende Punkt. nicht einfach hinzunehmen. Wir haben in Europa 27 Kommissare und entsprechende Aufgabenfelder. Den Europaskeptikern, die kritisch fragen, ob wir Wenn nun ein neues Aufgabenfeld kreiert werden soll, überhaupt Meerespolitik betreiben müssen, sage ich: Ja. dann müssen wir aufpassen, dass wir unsere nationalen Einige sagen, Deutschland sei ein – das habe ich erst ge- und landespolitischen Handlungsspielräume behalten. lernt – Kurzküstenstaat. Das stimmt aber nicht; denn ma- (B) thematisch gesehen ist Küste ohnehin ein fraktales Ge- (D) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: bilde und insofern unendlich. Das ist sicherlich nur Mathematik. Aber man darf nicht vergessen, dass an der Herr Kollege Beckmeyer, gestatten Sie eine Zwi- schenfrage des Kollegen Goldmann? Küste Menschen leben. Wenn man sich die Karte Euro- pas anschaut, dann stellt man fest, dass Europa eine große Halbinsel ist, umgeben von Wasser, und zwar von Uwe Beckmeyer (SPD): Mittelmeer, Nordostatlantik und Ostsee, dem Baltischen Nein, Frau Präsidentin. Meer. Und wir sind mitten drin. Wir sollten gemein- schaftlich alles tun – das haben auch wir in der Koalition (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Können Sie verabredet –, dass die genannten Bereiche eine Zukunft einmal eine Stelle nennen, die Sie bestätigt?) haben und dass die Profilbildung, die Spezialisierung Lieber Herr Goldmann, zum Verfahren selbst: Der und das Schaffen von Netzwerken auf diesem Gebiet un- Antrag Ihrer Fraktion ist eigentlich ein Reflex auf eine terstützt werden. Insofern ist der Plan der Europäischen Konferenz, die schon fast ein Jahr zurückliegt. Wir ver- Kommission hinsichtlich der Zukunft und des Cluste- treten in unserem Koalitionsantrag Positionen, die deut- rings, der dazu dient, Synergien zu verstärken, der rich- lich machen, was wir von der Europäischen Kommission tige Ansatz. Die deutschen Seehäfen verfolgen diese erwarten. Strategie. Sie sind hier zu einem großen Erfolg gekom- men. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Was sollen denn diese Unaufrichtigkeiten?) Ich habe die Hoffnung, dass wir – auch mit Unterstüt- zung der Europäischen Kommission – die enormen Zu- Wir wollen zeigen, dass die Meerespolitik und der mari- kunftspotenziale, die wir auf diesen Feldern haben, aus- time Sektor insgesamt für Europa und insbesondere für schöpfen werden. Das ist unsere Aufgabe. Wir bitten Deutschland eine große Bedeutung haben, und zwar auf Brüssel, sich hier einzubringen, den Informationsaus- den verschiedenen ökonomischen Feldern, nicht nur im tausch zu verbessern und unsere Interessen international Außenhandel, im Seehandel, in der Hafenwirtschaft und zu vertreten. Alle politischen Seiten sollten sich bemü- der maritimen Wirtschaft. Es gibt Hunderttausende Ar- hen, ein gutes Ergebnis zu erzielen. beitsplätze, die davon direkt abhängig sind, und eine vielfache Zahl mehr, die davon indirekt abhängig sind. Herzlichen Dank. Das machen die im Grünbuch aufgezeigten Schwer- punktthemen deutlich. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) 10778 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Erstens. Die Maritime Konferenz in Bremen, von der (C) Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem Sie gesprochen haben, fand vor zweieinhalb Jahren statt. Kollegen Goldmann. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das war un- sere eigene! Sie waren doch gar nicht da!) Hans-Michael Goldmann (FDP): – Die letzte Maritime Konferenz hat in Hamburg stattge- Lieber Kollege Beckmeyer, ich bin schon erstaunt funden. und auch ein bisschen traurig darüber, dass Sie das An- gebot der FDP, in dieser Frage zusammenzuarbeiten, so- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Nein!) zusagen mit Füßen treten. Angesichts der Tatsache, dass Bremen und Niedersachsen – in Niedersachsen haben Was in Bremen stattgefunden hat, war eine Anhörung wir eine CDU/FDP-geführte Landesregierung – zum Grünbuch der Europäischen Kommission. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ja!) (Zurufe von der SPD: Noch!) Daran habe ich teilgenommen und einen Arbeitskreis ge- gemeinsam den Jade-Weser-Port auf den Weg bringen, leitet. Insofern weiß ich schon, wovon ich rede. mit dem Bremer Interessen berührt werden, finde ich Ihr Verhalten nicht sehr geschickt. Angesichts der Tatsache, (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Nein! Das dass wir gemeinsam versuchen, an der Elbe eine Lösung merkt man ja!) zu finden, die der Metropole und dem Seehafenstandort Hamburg gerecht wird, bedaure ich sehr, dass Sie hier Zweitens. Wenn ich Ihren Antrag richtig gelesen mit Unterstellungen arbeiten. habe, dann fordern Sie die Gründung einer maritimen Agentur, Weil Sie meine Zwischenfrage nicht zugelassen ha- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Es gibt sie ben, möchte ich Sie an dieser Stelle herzlich bitten, mir schon!) die Frage zu beantworten, an welcher Stelle der FDP- Antrag Kompetenzen auf die europäische Ebene zum die mit zusätzlichen Kompetenzen ausgestattet ist. Man Nachteil nationaler Interessen verlagern will. Das wer- muss da genau unterscheiden und aufpassen, was man den Sie an keiner einzigen Stelle finden. Wir sind näm- tut. lich für Ausgewogenheit. Wir unterstützen die auf Brüsseler Ebene vorhande- Ich will noch etwas zu den Häfen sagen, die auch Sie nen Tendenzen, in Europa quasi einen Aufgabenklau angesprochen haben. Herr Kollege Beckmeyer, ich gehe vorzunehmen, nicht. Die Kommissare sollen sich viel- (B) davon aus, dass Sie das Grünbuch intensiv studiert ha- mehr auf ihre Aufgaben konzentrieren und ihre Arbeits- (D) ben. Es liegt schon lange Zeit vor. Aber es ist nicht rich- felder entsprechend abgrenzen. Was national zu entwi- tig, dass sich unser Antrag auf das Jahr davor bezieht. In ckeln ist und was national zu erledigen ist, bleibt auch Ihrer schönen Hansestadt haben wir zu diesem Bereich zukünftig auf nationaler Ebene. eine Maritime Konferenz durchgeführt und einen ent- sprechenden Antrag vorgelegt, der Ihnen seit langem be- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie haben kannt ist. Ihren eigenen Antrag nicht gelesen! – Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wissen doch hoffentlich genauso gut wie ich, dass Wollen Sie nun eine Zusammenarbeit oder die Häfen nicht im Grünbuch aufgenommen wurden. nicht, Herr Goldmann?) Oder ist Ihnen das entgangen? Sie wissen doch, dass die Zum Thema Häfen, Herr Goldmann. Ich weiß, was europäische Ebene nach dem Desaster, das wir bei Port Hafenpolitik ist. Sie sprechen von einer Konzentration Package zweimal erlebt haben, die Häfen ausgespart hat. auf Mainports. Dabei wissen Sie ganz genau, dass die Sie bringen mit Ihrem Antrag zum Ausdruck, dass Sie Seehafenpolitik in unserem Land eine Mainport-Strate- die Häfen in eigener Regie betreiben wollen. Sie wollen gie nicht zulässt. Denn eine Mainport-Strategie wird in also genau das, was Sie uns unterstellen. Denn in Ihrem der Szene als eine Strategie zugunsten von Rotterdam Antrag heißt es auf Seite 6: „... dass es keine europäische und Antwerpen verstanden. Politik der Konzentration auf wenige ‚mainports’ gibt“. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das habe Weil ich Sie in dieser Frage in meinen Ausführungen ich doch gesagt!) unterstützt habe, weiß ich also wirklich nicht, was Ihre Unterstellungen sollen, wir würden den Grundvorstel- Wir haben in Deutschland klipp und klar gesagt, eine lungen kluger maritimer Politik mit unserem Antrag ent- solche Konzentration werden wir nicht mitmachen. Wir gegenstehen. wollen unter anderem, dass Hamburg, die bremischen Häfen und zukünftig auch Wilhelmshaven im Fokus ste- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: hen. Herr Kollege Beckmeyer, bitte. Jetzt zu den nachgelagerten Häfen mit vielfältigen Feederfunktionen: Die brauchen wir alle in Europa an Uwe Beckmeyer (SPD): der Küste dieses Kontinents. Da gibt es kein Vertun. Diese Position haben wir deutlich beschrieben. Lieber Kollege Goldmann, ich antworte Ihnen wie folgt: (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10779

Uwe Beckmeyer (A) Sie sagen, wir hätten dazu nichts gesagt. Schauen Sie könnte man argumentieren, das Grünbuch sei nur eine (C) hinsichtlich der Gestaltung der Spielräume der regiona- Säule im EU-Meeresschutz, die eigentliche Umwelt- len und nationalen Ebene doch einmal auf Seite 5 unse- säule sei die Meeresstrategierichtlinie, welche gerade res Antrags. Da schreiben wir, „dass die inhaltlichen und auf die abschließende Lesung im EU-Parlament wartet. administrativen Vorgaben durch die EU-Meerespolitik (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das ist richtig!) auf den notwendigen Umfang beschränkt und Gestal- tungs- und Handlungsspielräume auf regionaler und na- Da kann ich nur antworten: Erstens, was nutzt die tionaler Ebene erhalten werden“ sollen. Das ist die Posi- Umweltsäule, wenn über das Grünbuch und die folgen- tion der Koalition in dieser Frage, ganz eindeutig und den Aktionsprogramme Fakten geschaffen werden, die klipp und klar. die Meeresumwelt nachhaltig schädigen? Was nutzt eine isolierte Umweltpolitik für die europäischen Meere, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – wenn wachsender Seeverkehr, Rohstoffförderung, im- Hans-Michael Goldmann [FDP]: Dann müssen mer mehr Gentechnik sowie zunehmender Fischerei- Sie das Grünbuch ablehnen, Herr Beckmeyer!) druck immer stärker in die ohnehin gestresste Meeres- umwelt einwirken? Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich gebe das Wort der Kollegin Eva Bulling-Schröter, (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Gentech- Fraktion Die Linke. nik? Wo denn?) (Beifall bei der LINKEN) Zweitens möchte ich darauf hinweisen, dass die be- rühmte Umweltsäule reichlich brüchig ist. Der Meeres- schutz wird mit dem Richtlinienvorschlag der Kommis- Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): sion weitgehend zurück in die Verantwortung der Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und einzelnen Mitgliedsländer gelegt. Absurderweise sind Kollegen! Es ist schön, dass wir im Bundestag bis zur genau jene Politikfelder aus der Richtlinie ausgeklam- Sommerpause zweimal Gelegenheit haben, uns mit dem mert, in denen die EU über die Kompetenzen verfügt. Meeresschutz zu beschäftigen. Ich denke, in der Debatte Das betrifft zum Beispiel die gemeinsame Fischerei- zu unserer Großen Anfrage in der nächsten Sitzungswo- politik. Dabei ignoriert beispielsweise der Fischereimi- che können wir uns detailliert damit befassen, was zu tun nisterrat seit Jahren die Empfehlungen des Internationa- ist, um die anhaltende Überfischung der Weltmeere zu len Rates für Meeresforschung, die Kabeljau- bzw. stoppen, und auch darüber, wie wir mit der Versauerung Dorschfischerei in der Nord- und Ostsee zu stoppen. der Meere umgehen. Wenn es heute vorrangig um einen integrierten Ansatz, also einen übergreifenden EU-Mee- Ausgeklammert ist auch die EU-Landwirtschaftspoli- (B) resschutz, gehen soll, dann dürfen wir nicht den gleichen tik, die etwa bezüglich der Problematik Überdüngung (D) Fehler machen wie den, der sich durch das EU-Grün- und Algenblüte sehr viel mit dem Schutz der Meere zu buch zum Meeresschutz durchzieht. tun hat. Das EU-Parlament hat im Zuge der ersten Le- sung einige Verbesserungen am Richtlinienvorschlag Die Kommission schreibt dort eingangs, sie wolle in vorgenommen. Leider wurden sie alle vom Umwelt- der EU-Meerespolitik einem integrativen Ansatz fol- ministerrat wieder kassiert. Ich kann nur hoffen, dass das gen, einem Ansatz, der die Meere nicht nur als Wirt- EU-Parlament seine Einwände nach der Sommerpause schaftsraum, sondern auch als Ökosystem begreift. In erneut erhebt. der Logik des übrigen Textes geht es aber fast nur noch um Anforderungen zur Nutzung an das Meer: Es soll der (Beifall bei der LINKEN) Schifffahrt dienen, Rohstofflager sein, Energie liefern, Wenn wir bis 2021 einen guten Zustand der Meere er- Erholung bieten und natürlich vor allem der Fischerei reichen wollen, so geht das nur mit einer wirklich inte- zur Verfügung stehen. In dem Grünbuch geht es ledig- grierten Meeresschutzpolitik. Diese muss den Schutz der lich darum, die konkurrierenden Nutzungsansprüche an Ozeane über die wirtschaftliche Nutzung stellen. Ist dies die Ozeane besser aufeinander abzustimmen. Die Mee- gesichert – nächste Woche werden wir uns darüber sehr resumwelt ist den Autoren eher fremd. Das Problem ist intensiv unterhalten –, werden auch die Fische zurück- aber gerade: Das Meer wird nicht als Ökosystem nach- kehren. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, nennt man haltig genutzt, sondern rücksichtslos ausgebeutet. Der dann Nachhaltigkeit. schutzwürdige Eigenwert der Meeresökosysteme und ihrer Tier- und Pflanzenwelt spielt jenseits einiger spek- (Beifall bei der LINKEN) takulärer Tierarten so gut wie keine Rolle. Dass im Grünbuch irgendwo auch etwas zur Eindäm- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: mung der illegalen Fischerei steht, ist begrüßenswert. Nächster Redner ist der Kollege Rainder Steenblock, Im Kontext dürfte der Passus aber eher dem Schutz der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. legalen Fischerei als einem Umweltgedanken geschuldet sein. Konsequenterweise lautet die erste der gestellten Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Fragen im Grünbuch, welchen Mehrwert eine integrierte NEN): Meerespolitik in der EU gegenüber nationalen Maßnah- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! men haben könnte. Da werden dann jede Menge marine Es ist sicherlich ein gutes Zeichen – auch im Hinblick Wirtschafts- und Wachstumspotenziale aufgezeigt, um auf die Europatauglichkeit unseres Parlaments –, dass eine gemeinsame EU-Politik zu rechtfertigen. Nun wir uns hier mit diesem Grünbuch beschäftigen und dass 10780 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Rainder Steenblock (A) wir versuchen, den Prozess der Beteiligung nationaler sen die Fangquoten bei null liegen. Die Grundnetz- (C) Parlamente an europäischen Entscheidungen durch sol- schlepperei muss verboten werden. che Beratungen zu stärken. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Lassen Sie mich vorausschicken: Ich wünsche mir al- SES 90/DIE GRÜNEN) lerdings, dass das Zusammenspiel zwischen parlamenta- rischer Diskussion und Stellungnahme gegenüber der Unsinnige Subventionen müssen abgebaut werden. Au- Europäischen Union ein bisschen professioneller wird. ßerdem brauchen wir – auch das ist noch nicht erwähnt Wir Grünen haben in den Konsultationsprozess der worden – Meeresschutzgebiete, wenn wir das Meer für Europäischen Union eine ausführliche Stellungnahme – sie uns und die nachfolgenden Generationen erhalten wol- umfasst über 50 Seiten; damit können wir uns hier nicht len. befassen – eingespeist. Ich stelle fest, dass die Bundes- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – regierung bisher überhaupt nichts vorgelegt hat. Die Hans-Michael Goldmann [FDP]: Da sind wir Koalition hat wirklich auf den letzten Drücker ein Papier doch auf dem Weg!) vorgelegt, das man in den Konsultationsprozess nicht einbringen kann. Zweites Beispiel: Schiffsemissionen. Das Schiff hat das Potenzial zum ökologisch verträglichsten Verkehrs- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!) mittel. Wenn wir uns einmal anschauen, was die Schiffe Angesichts dessen muss ich sagen: Wir behandeln zwar zurzeit noch emittieren, dann erkennen wir, dass das das richtige Thema; aber die im Hause praktizierten Ver- echte Dreckschleudern sind. Das muss man so sagen. Es fahren lassen sich insgesamt durchaus noch verbessern, gibt Schiffe, auf denen Kraftstoffe verbrannt werden, die wenn wir in Brüssel bezüglich dieser zentralen Fragen an Land als Sondermüll entsorgt werden müssten. Wir Gehör finden wollen. brauchen mehr Forschung und Entwicklung. Wir brau- chen alternative Kraftstoffe und alternative Antriebe. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das hat Herr Beckmeyer nicht verstanden!) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Da sind wir doch dabei!) Das Grünbuch, das die EU vorgelegt hat, verdient Kritik. Wir sind da schon sehr weit. Deutschland kann auf die- sem Gebiet sehr gut sein. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ja!) „European Clean Ship“ ist eine Strategie, die wir un- Dieses Grünbuch wird seinem Anspruch nicht gerecht; terstützen. Hier können wir technologisch vorangehen. (B) da stimme ich dem, was die Kollegin der Linken gerade Notwendig ist, dass die CO2-Emissionen von Schiffen in (D) gesagt hat, ausdrücklich zu. Ich will das an drei Beispie- den Handel mit Emissionszertifikaten einbezogen wer- len deutlich machen. den. Erstes Beispiel: Fischerei. Die Kabeljaubestände in (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Nord- und Ostsee sind nahezu leergefischt. Das weiß je- Einverstanden!) der. Alle Wissenschaftler sagen, dass wir ein Verbot des Fangs von Kabeljau brauchen, wenn sich diese Bestände Dafür muss sich die Bundesregierung einsetzen. Herr überhaupt wieder regenerieren sollen. Tiefensee hat das einmal angesprochen. Das ist aber wie- der untergegangen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Nein, das steht in den Anträgen drin! In unserem Antrag Trotzdem hat der EU-Ministerrat für Landwirtschaft und steht das drin! – Eckhardt Rehberg [CDU/ Fischerei unter Vorsitz von Herrn Seehofer für das nächste CSU]: In unserem Antrag steht das auch drin!) Jahr eine Fangquote für Kabeljau von 23 000 Tonnen be- schlossen. Es ist immer wieder das gleiche Spiel. Wir Das ist etwas, was beim Thema Meer häufiger passiert. haben praktische, konkrete Vorstellungen über die Nut- So etwas sollte in der Bundesregierung aber seltener pas- zung des Meeres. Wenn es aber um den Schutz des Mee- sieren. res geht, dann benutzen wir häufig nur Worthülsen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das stimmt Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das steht in nicht!) dem Antrag!) Sieht man einmal von dem ab, was die Kollegin der Lin- Drittes Beispiel: Offshorewindenergie. Die Off- ken gesagt hat, ging es in der ganzen bisherigen Debatte shorewindparks sichern nachhaltige Energiegewinnung, zu etwa 5 Prozent um den Schutz des Meeres und zu und sie sichern Arbeitsplätze. In Werften und im Ma- 95 Prozent um Nutzungsstrategien. Mit diesem Vorge- schinenbau werden dadurch in den nächsten Jahren hen werden wir das Meer kaputt machen. 20 000 neue Jobs an der Küste entstehen. Der Exportan- teil in Deutschland ist enorm. Das Investitionsvolumen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) beträgt 50 Milliarden Euro. Wir brauchen eine europäische Fischereipolitik, die (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Aber nicht die Fangquoten reduziert. In bestimmten Bereichen müs- bei Offshore!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10781

Rainder Steenblock (A) – Halten Sie doch endlich einmal Ihr Sprechwerkzeug Mai 2005, als es das Licht der Welt erblickt hat, ein ab- (C) ruhig! gestimmtes Positionspapier vorgelegt. (Heiterkeit) (Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE Sie können sich immer gern zu einer Zwischenfrage GRÜNEN]: Aber keine Stellungnahme! Frau melden; dann habe ich mehr Redezeit. Wöhrl, eine Stellungnahme der Regierung ge- hört ins Parlament, bevor sie nach Brüssel (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ich habe geht! – Gegenruf des Abg. Hans-Michael überhaupt nicht mit Ihnen geredet!) Goldmann [FDP]: Was ist jetzt mit Ihrem Sprechwerkzeug, Herr Steenblock?) Dieses Potenzial an Dualität, was reden angeht, Herr Goldmann, ist wirklich unter Ihrer Würde. Wir sprechen über das Meer, über einen Wirtschafts- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Danke sektor mit einer sehr großen Zukunft. Wir als Regierung schön!) haben das Ziel, die Wirtschaftspotenziale der Küsten- regionen und der Meere zu erschließen. Kollege Rehberg Gerade der Offshorebereich macht deutlich, dass wir hat zu Recht darauf hingewiesen: Dass wir Exportwelt- technologische Innovationen brauchen. Wir brauchen meister sind, haben wir zum großen Teil der deutschen Forschung auf diesem Gebiet. Im maritimen Bereich ist maritimen Wirtschaft zu verdanken. Man muss sich vor eine ganze Menge an ökologischer Forschung, gerade im Augen führen, dass über 90 Prozent des Welthandels Energiebereich, über die Windenergie möglich. Ich über die Meere gehen und dass die maritime Wirtschaft nenne Gezeitenkraftwerke und Strömungskraftwerke. In Potenziale auch im Bereich von Entwicklung und Be- diesem Bereich haben wir enorme Potenziale. Deutsch- schäftigung hat. land und die Europäische Union können hier Vorreiter sein. Es ist kaum bekannt, dass zwei Drittel der Grenzen der Europäischen Union Küste sind. Das ist bei weitem Wenn wir in diese Richtung Politik machen, wenn wir mehr als bei Russland oder den Vereinigten Staaten. Meeresschutz ernst nehmen – nur dann – und die wirt- schaftlichen Potenziale zusammenführen, Was denken wir, wenn wir an die Meere denken? Manche denken vielleicht an Urlaub. Man denkt auch an (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Offshore ist Nahrungsquellen, an Transportwege. Aber denkt man an Meeresschutz?) Hochtechnologie? Eher selten. Dabei sind die Ozeane werden wir eine Perspektive haben, bei der wir das Meer inzwischen Standorte von Hochtechnologiewindkraft- den nachfolgenden Generationen so überlassen können, anlagen. Wir fördern submarin lagernde Öl- und Gasvor- (B) dass auch sie noch eine Nutzungsmöglichkeit haben. räte – mit steigender Tendenz. Allein in dem Bereich (D) wird sich die Förderung von 2005 bis 2019 verdoppeln. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das ist machbar. Dafür steht unser Antrag. Ich bitte Wir wollen in diesen komplexen Hightechbereichen um Zustimmung zu diesem Antrag. weiter forschen und Entwicklung betreiben. Es gibt ge- zielte Forschungsförderung in maritimen Zukunftsfel- Wenn ich zum Schluss noch Folgendes sagen darf: dern mit hohen Innovationspotenzialen. Wir wollen auch Frau Merkel hat in Bremen auf der Grünbuch-Konferenz die maritime Wissensbasis noch mehr erweitern, zum eine Rede gehalten – Herr Beckmeyer, Sie waren da –, Beispiel wenn es um die Förderung von Öl und Gas in die ausgesprochen gut war. den eisbedeckten Gebieten der Arktis geht (Ute Kumpf [SPD]: Bremen oder Hamburg?) (Lutz Heilmann [DIE LINKE]: Ölförderung – In Bremen. – Ihr Antrag ist leider nur ein Abklatsch im Wattenmeer!) davon. Die Rede von Frau Merkel müsste Sie eigentlich oder um die Gasgewinnung aus Methanhydrat, auch in dazu zwingen, unserem Antrag zuzustimmen; denn er Verbindung mit der Deponierung von CO2. Wir sind auf entspricht genau der Intention ihrer Rede damals. einem guten Weg. Wir haben in Deutschland ein sehr Vielen Dank. großes Potenzial, ein sehr großes Know-how. Wir haben unwahrscheinlich leistungsfähige Forschungseinrichtun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gen in diesem Bereich.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Die Meerestechnologie ist also ein Bereich, der sehr Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin große Zukunftschancen hat. Weltweite Nachfrage wird Dagmar Wöhrl. es in der Zukunft in diesem Bereich geben. Damit birgt diese wichtige Zukunftsbranche große Beschäftigungs- potenziale. Das heißt natürlich für uns: Wir müssen da- Dagmar Wöhrl, Parl. Staatssekretärin beim Bundes- für werben – diese Botschaft müssen wir vermitteln –, minister für Wirtschaft und Technologie: dass junge Leute in dieser Zukunftsbranche aktiv werden Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- und sich beruflich auf diese Branche hin orientieren. gen! Kollege Steenblock, ich glaube, auch Ihnen ist be- kannt, dass die Bundesregierung von Anfang an aktiv (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- am Grünbuch mitgearbeitet hat. Wir haben schon im neten der FDP) 10782 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Parl. Staatssekretärin Dagmar Wöhrl (A) Es ist etwas Weiteres sehr wichtig – ich bin froh, dass Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) das angesprochen worden ist –: Neben unseren Bemü- Nächster Redner ist der Kollege Garrelt Duin, SPD- hungen um Optimierung der wirtschaftlichen Nutzung Fraktion. der Ozeane – das heißt im Rahmen der Lissabonstrategie Stärkung von Wachstum und Beschäftigung – müssen Garrelt Duin (SPD): wir auch Verantwortung für den Schutz der Meere Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! übernehmen. In dem Zusammenhang sage ich aber auch, Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, es wird in dass sich diese beiden Ziele nicht gegenseitig ausschlie- dieser Debatte ein falscher Gegensatz aufgebaut, indem ßen, sondern sich gegenseitig ergänzen. Es ist nämlich, sehr unterschiedliche Schwerpunkte gelegt werden: zum wie ich glaube, wichtig, zu erkennen, dass die Verfol- einen auf wirtschaftliche, zum anderen auf ökologische gung leistungsfähiger Umweltstrategien nur auf der Ba- Fragestellungen. Das Grünbuch übrigens bezieht auch sis einer gesunden wirtschaftlichen Entwicklung mög- soziale Fragestellungen ein. lich ist. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Hans- Nehmen wir das Beispiel Schiffbau. Schiffbau ist bei Michael Goldmann [FDP]: Richtig!) beiden Komponenten unwahrscheinlich stark: Er bildet Ich denke, gerade darin besteht der Vorteil dieses Grün- nicht nur in einigen strukturschwachen Küstenländern buchs, dass endlich ein integrierter Ansatz vorliegt. Es das industrielle Rückgrat, sondern er stellt auch einen wird nicht versucht, die verschiedenen Politikbereiche Aktivposten beim Umweltschutz und beim Klimaschutz gegeneinander auszuspielen, sondern danach gesucht, dar. Der Schiffbau in Deutschland macht in Bezug auf wie sie miteinander statt jeweils auf Kosten der anderen Schutzbestimmungen weit mehr, als es gesetzlich vorge- nach vorne gebracht werden können. schrieben ist. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!) der CDU/CSU und der FDP) Zu Recht fragen sich aber unsere Schiffbauer, die die Ich will Ihnen das an ein paar Beispielen deutlich ma- europäischen Vorschriften einhalten oder sogar übertref- chen. fen, wieso es auf internationaler Ebene nicht diese Vor- Wir alle sind stolz, wenn auf unseren Werften – die schriften gibt. Staatssekretärin hat gerade noch einmal darauf hinge- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ihr müsst wiesen – hochmoderne Schiffe gebaut werden. Als Bei- unterschreiben!) spiel nehme ich nur noch einmal, weil sie relativ häufig in der „Tagesschau“ erwähnt wird, die Meyer Werft in (B) (D) Hier müssen wir zusehen, dass wir weltweit gleiche Papenburg, die Luxusliner baut. Alle sind begeistert, Wettbewerbsbedingungen schaffen, damit nicht durch dass Deutschland in diesem Bereich marktfähig ist. europäische Vorschriften ein Wettbewerbsnachteil für Gleichzeitig gibt es aber große Probleme bei der Über- den europäischen Schiffbau entsteht. führung der Schiffe von der Werft bis zur Nordsee. Das führt immer wieder zu Diskussionen über die ökologi- Es ist richtig – das ist schon angesprochen worden –, sche Verträglichkeit von Flussvertiefungen. dass wir zu einer integrierten Meerespolitik kommen Zurzeit wird eine Gaspipeline durch das Watten- müssen. Eine integrierte Meerespolitik kann nicht ein meer gelegt. Diese ist Voraussetzung für eine Milliar- Mitgliedstaat allein machen. Nichtsdestoweniger muss deninvestition im Bereich der chemischen Industrie, die trotzdem auch in Zukunft das Subsidiaritätsprinzip be- wir uns sehr wünschen, weil das für die Arbeitsplätze in achtet werden. Deswegen sollten wir in Deutschland einer extrem strukturschwachen Region von großer Be- Einfluss auf den weiteren Werdegang nehmen; die Kom- deutung ist. Gleichzeitig wissen wir aber um die ökolo- mission wird ja jetzt im Oktober ein Maßnahmenpapier gischen Probleme, die eine solche Verlegung durch das vorlegen. Die zwei Anträge der Regierungsfraktionen, Wattenmeer mit sich bringt. die heute hier zur europäischen Meerespolitik und zur maritimen Wirtschaft vorliegen, kann man diesbezüglich Wir wissen, um ein drittes Beispiel zu nennen, welche eigentlich schon als ein einheitliches Positionspapier be- Entwicklung der Containerumschlag weltweit, aber zeichnen. Neben der Einflussnahme auf europäischer auch an den deutschen Häfen nehmen wird. Wir sind da- Ebene – das möchte ich noch dazusagen – ist es aber bei, den Jade-Weser-Port zu realisieren. Natürlich wird auch ganz wichtig, dass wir hier ein eigenes nationales auch Hamburg nach Möglichkeiten suchen, an diesem Meerespolitikkonzept erarbeiten. wachsenden Markt teilzuhaben. Von daher wissen wir, dass bei der Realisierung eines solch neuen Hafens wie Ich möchte mich ganz herzlich bei den Kollegen be- auch bei Flussvertiefungen ökologische Probleme und danken, die hier mitgearbeitet haben. Es handelt sich um Probleme zu berücksichtigen sind, die zum Beispiel die gute Anträge. Ich glaube, auf diesen Anträgen kann man Menschen betreffen, die an der Elbe wohnen. aufbauen und weiterarbeiten. Als vorletztes Beispiel möchte ich Ihnen die Fische- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. rei nennen. Auch in Deutschland hängen viele Arbeits- plätze an der Fischerei. Es ist nicht nur Folklore, wenn in (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der kleinen Orten wie Greetsiel und andernorts ein paar Kut- FDP) ter liegen. Aber das ist, was den Tourismus angeht, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10783

Garrelt Duin (A) natürlich auch ein Anziehungspunkt. Wir müssen uns (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ich muss (C) fragen, ob wir die Fischerei ausreichend gegen interna- das heute Nacht alles lesen!) tionale Konkurrenz unterstützen. Ich gebe Herrn Steen- block recht, wenn er sagt, wir müssen etwas gegen die Ich finde es gut, dass Sie sich dazu bekennen, dass die Überfischung tun und dort konsequenter werden. Aber Politik, die die Große Koalition auf diesem Feld betreibt, wir dürfen nicht unsere Fischer im Regen stehen lassen, richtig ist. wenn die internationale Konkurrenz ihnen bei Verstoß Es ist wirklich ein Tag der großen Freude, dass die gegen internationale Regeln das Leben so schwer macht. Ausschreibung für den Notschlepper jetzt endlich in (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Gang gesetzt worden ist. Natürlich waren wir Politiker FDP – Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Illegale viel besser als die Verwaltung. Aber dafür gibt es ja auch Fischerei ist das!) die Politik, denn sonst würde die Verwaltung alles al- leine machen, Der letzte Punkt – er ist bereits angesprochen worden – (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) ist das Thema Offshore. Das ist energiepolitisch absolut sinnvoll. Allerdings spielen die Sicherheit und die Frage, was nicht im Sinne der Bürger wäre. Die Bürger wählen wie die gewonnene Energie an Land weitergeleitet wird, uns ja deswegen, damit wir aufpassen und bei notwendi- eine große Rolle. Deswegen ist es so wichtig, dass wir es gen Dingen Druck machen, das voranzubringen. Das ha- integriert machen. Wir schaffen es nicht im Ressortden- ben wir, wie ich finde, alle gemeinsam an der Küste ken. Wir brauchen eine bessere Verknüpfung von Wirt- beim Notschlepper in beeindruckender Weise geschafft. schaft, Umwelt, Forschung, Verkehr und Sozialem in diesen Fragen. Ebenso wenig lösen wir diese Probleme Wenn man sich vor Augen hält, dass etwa 95 Prozent nur rein national. Vielmehr brauchen wir die europäische des interkontinentalen Warenverkehrs über den Seeweg Herangehensweise. Deswegen sollten wir den Ansatz, abgewickelt werden, dann weiß man, dass im Zeitalter der in dem Grünbuch vorgegeben ist, unterstützen. der Globalisierung gerade die maritime Politik einen be- sonderen Stellenwert hat und haben muss. Der interna- Wir selbst haben in Deutschland seit 1999 – ausgelöst tionale Handel wächst doppelt so stark wie das weltweit durch Gerhard Schröder – durch die erste maritime Kon- wachsende Bruttoinlandsprodukt. Das macht deutlich, ferenz die maritime Koordination. Wir sind froh, dass es wie intensiv wir uns, als Exportnation Deutschland vom sie nach einer kleinen Phase der Abstinenz wieder gibt. Welthandel abhängig, über den Seeweg unterhalten müs- Ich finde, wir sind mit der jetzigen Amtsinhaberin auf ei- sen. Der Seeverkehr spielt eine große Rolle für uns. nem guten Weg. Diese Koordinierung brauchen wir aber auch auf europäischer Ebene, und zwar ohne Substanz- Vorhin ist vom Kollegen Duin zu Recht angesprochen (B) verlust, was die nationalen politischen Möglichkeiten worden, dass wir uns sehr freuen, dass das Grünbuch ei- (D) angeht. Das steht für uns fest, und das haben wir in die- nen integrierten Ansatz für die verschiedenen Felder der sem Antrag zum Ausdruck gebracht. Deswegen bitten maritimen Politik findet, ob es der Tourismus, die wir um Zustimmung. Fischerei, die Fischwirtschaft, der Schiffbau, die Off- shoreenergie oder Verkehr und Logistik sind; auch Um- Vielen Dank. weltschutz und vieles andere mehr sind dazu zu zählen. Diese integrierte Politik muss dafür sorgen, dass das, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie was über die Weltmeere geschickt wird, auch ankommt bei Abgeordneten der FDP) bzw. abgesendet werden kann.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Damit sind wir bei einem Problemschwerpunkt, den auch unsere Anträge beinhalten, nämlich dem der See- Ich gebe das Wort dem Kollegen Enak Ferlemann, hafenpolitik. Es gibt zwar Fazilitäten an den Seehäfen, CDU/CSU-Fraktion. aber nicht die entsprechenden Hinterlandanbindungen. (Beifall bei der CDU/CSU) In unserem Antrag machen wir deutlich, dass wir ver- besserte Hinterlandanbindungen auf der Schiene – dies muss zu einer stärkeren Berücksichtigung in Form einer Enak Ferlemann (CDU/CSU): besseren Dotierung im Rahmen der transeuropäischen Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Verkehrsnetze führen –, auf der Straße und auch auf den Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Gold- Wasserwegen brauchen, um die Waren vom Binnenland mann, Sie haben ja heute schon sehr viel Schelte bekom- zu den Häfen und von den Häfen zum Binnenland zu men. Nun bekommen Sie von mir ein Lob: Ich finde es bringen. gut, dass Sie inhaltlich unsere Politik unterstützen und deutlich zum Ausdruck gebracht haben, dass Sie mit Hierzu braucht man intermodale Verkehrssysteme. dem, was wir erarbeitet haben, einverstanden sind. Dass Ich will auf die Details nicht eingehen; das haben wir im Sie hier und da das Verfahren kritisieren, verstehe ich in- Ausschuss getan. Die genannten Strategien „Motorways soweit nicht ganz. Wir unterhalten uns doch immer über of the Sea“ und „Short Sea Shipping“ sind sicherlich maritime Politik; gerade wir beide tun das in Nieders- zwei Ansätze, die sehr zu begrüßen sind. Wir müssen sie achsen immer. Insofern ist das, was wir beraten, nicht allerdings noch von vielen bürokratischen Hemmnissen neu, sondern es ist in einer wirklich lesbaren Art und befreien. Ich denke, dass wir den Seeverkehr als Schlüs- Weise durch die Große Koalition zusammengefügt wor- selbindeglied durch die angesprochenen Maßnahmen den. fördern müssen. 10784 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Enak Ferlemann (A) Auch ich darf mich herzlich bei unserer maritimen nannten Bereichen. Wir brauchen qualifizierte Arbeits- (C) Koordinatorin für die exzellente Arbeit bedanken, für plätze, hohe Qualifikationen an der Küste. Das gilt nicht die Stellungnahme zum Grünbuch durch unsere Fraktion nur für den Schiffbau, sondern für alle wirtschaftlichen und insbesondere bei meinem sehr geschätzten Kollegen Bereiche an der Küste. Auch im Bereich der Meeresfor- Eckhardt Rehberg, der die Dinge mit viel Engagement schung wird sich ein Potenzial erschließen, dessen vorangetrieben hat. Ich bitte Sie alle herzlich, die An- Dimensionen wir heute noch nicht absehen können. träge zu unterstützen, denn sie sind unterstützenswert. Ein Problem im Bereich der Seefahrt – es ist genannt Herzlichen Dank. worden – ergibt sich bei den Seeleuten. Wir können nur über die Gemeinschaft versuchen, die maritime Ausbil- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dung sowohl in der Quantität als auch in der Qualität zu neten der SPD und der FDP) verbessern. Das werden wir alleine nicht schaffen. Dazu beitragen wird sicherlich die gemeinschaftliche Bemü- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: hung um das konsolidierte Seearbeitsübereinkommen. Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Margrit Wetzel, SPD-Fraktion. Wir müssen in jedem Fall – auch das wird nur in der Gemeinschaft gehen – die Sicherheit auf den Meeren (Beifall bei der SPD) erhöhen, das heißt zum einen die Sicherheit des Standor- tes Küste und zum anderen die Sicherheit beim Küsten- Dr. Margrit Wetzel (SPD): schutz. Das betrifft die Sicherheit am Meer und die Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sicherheit des Meeres als Ökosystem. Ökosystem Meer Ich freue mich, dass ich zum Abschluss dieser Debatte bedeutet aktiver Klimaschutz. Zudem geht es um die Si- ein bisschen zusammenfassen kann, was schon gesagt cherheit auf dem Meer; das ist schon erwähnt worden. wurde. Hier geht es gerade um die Ostsee und die dortigen Schrotttanker; ich verkürze und vereinfache ein biss- (Heiterkeit bei der CDU/CSU) chen. Das ist das gemeinschaftliche Bemühen bei dem schweren Unterfangen, im Überseebereich eine Lotsen- – Das ist das Los der letzten Redner. annahmepflicht zum Beispiel in der Kadetrinne oder für Zum einen zu Herrn Goldmann und gleichzeitig zu Tankerrouten zu erreichen. Herrn Steenblock: Sie haben sich ein bisschen über das Wir müssen aber auch aufpassen, dass die EU nicht Verfahren beklagt, dass wir hier im Parlament sozusagen überzieht, zum Beispiel in Bezug auf ISPS. Dabei geht in letzter Minute eine Debatte führen und eine eigene es darum, dass man vernünftige Kosten-Nutzen-Analy- Stellungnahme abgeben wollen. Wir haben das sehr be- (B) sen aufstellt, um festzustellen: Wo besteht noch Nutzen, (D) wusst gemacht, weil wir gesehen haben, wie viele Stel- und wo besteht ein Schaden? Da geht es zum Beispiel lungnahmen abgegeben werden und wie der Konsulta- um die ewig gleiche Forderung in der EU nach einer tionsprozess abläuft. Wir haben das für wichtig gehalten, EU-Küstenwache. Auch da brauchen wir eine Chancen- nachdem wir erfahren haben, dass die EU-Kommission und Risikoabwägung. Auch da brauchen wir eine Nut- auf das Grünbuch kein Weißbuch folgen lässt, sondern zen- und Kostenanalyse, einen Aktionsplan, dass sie also sehr konkret aktiv wer- den wird. Aus diesem Grund war es uns wichtig, Schlag- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Da wollen lichter zu präsentieren und mit Blick auf den Aktions- Sie ein Gutachten!) plan deutlich zu machen, wo wir Schwerpunkte gesetzt haben wollen. um zu sehen, dass wir nicht etwas kaputt machen. Denn eine Bündelung von Kompetenzen ist zwar gut und rich- Es ist zweifellos wichtig, isoliertes Ressortdenken zu tig überwinden, aber gleichzeitig die nationalen Kompeten- zen zu bewahren und die Instrumente der Gemeinschaft (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie wollen ein nur dort zu nutzen, wo es darum geht, unsere Interessen europäisches und nationales Gutachten!) besser durchzusetzen oder mehr Effizienz zu erreichen. Dafür brauchen wir Transparenz, fairen Wettbewerb und – halten Sie doch einmal den Mund, Herr Goldmann; das gute Marktinformationen. Programme wie „Leader- ist ja wirklich schrecklich –, ship 2015“ zeigen zum Beispiel für den Bereich Schiffs- (Beifall bei der SPD) bau, wie erfolgreich die gemeinschaftliche Arbeit sein kann. aber diese Bündelung darf nicht dazu führen, dass man plötzlich nicht mehr weiß, wer zuständig ist; denn diese Maritime Wirtschaft stärken heißt gleichzeitig Be- Gefahr ist viel größer. schäftigung sichern. Herr Rehberg hat die Zahlen schon genannt: 54 Milliarden Euro Umsatz, 400 000 Beschäf- In der Meeresforschung liegt sowohl für die Umwelt tigte. Im maritimen Bereich gibt es sichere Arbeits- als auch für die Wirtschaft eine ganze Menge Zukunft. plätze. Wenn wir unsere Führungsrolle in der EU in Be- Hier kommt es darauf an, dass wir die Wirtschafts-, die zug auf maritime Technologien weiter ausbauen, wenn Wissenschafts- und die Umweltbelange gut verzahnen, wir weiter in Forschung und Entwicklung aktiv sind, dass wir Forschernetzwerke unterstützen und eigene dann schaffen wir automatisch sichere Arbeitsplätze im Förderprogramme für die Tiefseeforschung, die Polar- Bereich Produktion und Logistik, nicht nur in den ge- meerforschung, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10785

Dr. Margrit Wetzel (A) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ach, Frau fehlung auf Drucksache 16/5764, den Antrag der Frak- (C) Wetzel! Das hätten Sie schon lange machen tion der FDP auf Drucksache 16/4418 abzulehnen. Wer können!) stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung die sichere CO2-Speicherung und für den Energiebereich ist mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke, der SPD, auflegen. Das heißt, wir brauchen vor allem vernünftige des Bündnisses 90/Die Grünen und der CDU/CSU bei Datenbasen, Gegenstimmen der Fraktion der FDP angenommen. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Prüfen, prü- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 c auf: fen, prüfen!) a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Paul um dann auf europäischer Ebene unsere Stärken auszu- Schäfer (Köln), Monika Knoche, Hüseyin-Kenan spielen. Aydin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Deshalb bitte ich um Zustimmung zu unserem Antrag der LINKEN und zur Beschlussempfehlung zu unserer Stellungnahme Keine neuen Raketen in Europa – stattdessen zum Grünbuch. Stärkung der globalen Sicherheit durch Rüs- Vielen Dank. tungskontrolle und Abrüstung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten – Drucksache 16/5456 – der CDU/CSU) Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Verteidigungsausschuss Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ich schließe die Aussprache. b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge- 16/5731 mit dem Titel „Für eine zukunftsgerichtete eu- ordneten Paul Schäfer (Köln), Monika Knoche, ropäische Meerespolitik“. Wer stimmt für diesen An- Hüseyin-Kenan Aydin, weiterer Abgeordneter trag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der An- und der Fraktion der LINKEN trag ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü- Stopp von staatlichen Bürgschaften für Rüs- nen und der Fraktion Die Linke und Enthaltung der tungsexporte (B) Fraktion der FDP angenommen. (D) – Drucksachen 16/3697, 16/4602 – Tagesordnungspunkt 6 b: Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu dem An- Berichterstattung: trag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD mit dem Abgeordnete Gudrun Kopp Titel „Maritime Wirtschaft in Deutschland stärken“. Der c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf richts des Verteidigungsausschusses (12. Aus- Drucksache 16/5437, den Antrag der Fraktionen der schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Paul CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/4423 anzu- Schäfer (Köln), Monika Knoche, Hüseyin-Kenan nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Aydin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss- der LINKEN empfehlung ist mit den Stimmen der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU und der FDP bei Gegenstimmen der Verzicht auf den Verkauf und das Überlassen Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der Frak- von überschüssigem Wehrmaterial tion Die Linke angenommen. – Drucksachen 16/3350, 16/5353 – Tagesordnungspunkt 6 c: Abstimmung über den An- trag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Berichterstattung: Drucksache 16/5428 mit dem Titel „Für eine nachhaltige Abgeordnete Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) und umfassende Meerespolitik für die Europäische Andreas Weigel Union“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt Birgit Homburger dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Inge Höger Stimmen der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU und Winfried Nachtwei der FDP bei Gegenstimmen der Fraktion des Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich abgelehnt. höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Zusatzpunkt 4: Beschlussempfehlung des Ausschus- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem An- Paul Schäfer, Fraktion Die Linke. trag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Schutz und Nutzung der Meere – Für eine integrierte maritime Poli- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert tik“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp- Winkelmeier [fraktionslos]) 10786 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

(A) Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE): Wer sich unangreifbar macht, will auch allein herr- (C) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die schen. Schwert und Schild gehören zusammen. Oder hat Linke beantragt, dass sich Deutschland ganz energisch man gehört, dass die USA ihre Offensivwaffensysteme der Aufstellung neuer Raketen in Osteuropa widerset- abrüsten wollen? Im Gegenteil: Es werden die Möglich- zen und alle Möglichkeiten nutzen möge, um diese Sta- keiten ausgebaut, überall auf der Welt militärisch zu in- tionierung zu verhindern. tervenieren. Es ist allerhöchste Zeit, dass dieser Irrweg der Politik Der Antrag meiner Fraktion beginnt mit dem Satz: beendet wird. Die Bundesregierung muss eine eindeu- „Die Welt ist durch Massenvernichtungswaffen be- tige Position beziehen. Es reicht nicht aus, Bedenken droht.“ Die Situation ist in der Tat brandgefährlich: Die vorzubringen und Eiertänze zu veranstalten. Es geht ein- Welt könnte noch immer mehrfach durch Atombomben deutig darum, dafür zu sorgen, dass es keine neuen Ra- vernichtet werden, Atomsprengköpfe werden moderni- keten gibt. Hierzu erwarten wir eine eindeutige Position siert, wie jüngst in Großbritannien, und die Zahl der der Bundesregierung. Atomwaffenmächte wächst. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Wir unterscheiden dabei allerdings nicht zwischen NIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Gert guten und bösen Atomraketen. Das ist genau der Punkt. Winkelmeier [fraktionslos]) Die gegenwärtigen Atommächte, die sogenannten Gu- ten, wollen ihr Monopol an diesen Terrorwaffen behal- Angesichts der Gefahr eines neuen Wettrüstens sind ten, weil sich nicht zuletzt daraus ihre weltpolitische drei Dinge hilfreich: mit gutem Beispiel vorangehen, Geltung ableitet. Damit verletzen sie aber ständig und also abrüsten, den Dialog suchen, also mit Teheran zäh eklatant den Nichtverbreitungsvertrag und schaffen eine verhandeln, und drittens Kooperationen anbieten. Der Situation, die zu neuen Rüstungsrunden und Gefähr- Konflikt mit Nordkorea hat gezeigt, dass es möglich ist, dungslagen führen muss. durch Dialog und Kooperation gefährliche Entwicklun- gen abzublocken und Spannungen aufzulösen. Milliar- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert den in neue Radar- und Raketensysteme zu stecken, Winkelmeier [fraktionslos]) macht die Welt nicht friedlicher, im Gegenteil. Das gilt auch für die weltweit wieder ansteigenden Wer so elementare Verträge wie den Nonprolifera- Zahlen im Zusammenhang mit dem Rüstungsexport. tionsvertrag verletzt, kann nicht von anderen deren Ein- Deutschland ist leider ganz vorne dabei. Es ist Augenwi- haltung verlangen, geschweige denn erzwingen. Im scherei, wenn Sie davon reden, wir würden eine äußerst Gegenteil: Er fordert andere geradezu heraus, nachzuzie- restriktive Politik bei der Ausfuhr von Waffen verfolgen. hen. Die Antwort auf die neuen Risiken, die es durchaus (B) Die neuesten Zahlen belegen eindeutig das Gegenteil: (D) gibt, lautet also: strikte Einhaltung und Durchsetzung Wir sind auf Rang drei der Weltrangliste hochgerutscht. des Völkerrechts und energischer Einstieg in die Ab- An dieser Stelle wären wir besser Schlusslicht. Im ver- rüstung aller Massenvernichtungswaffen in Ost, West, gangenen Jahr hat die Bundesrepublik – nach SIPRI – Nord und Süd. Rüstungsgüter in einem Umfang von 3,9 Milliar- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert den Dollar geliefert. Gegenüber 2005 ist das eine Ver- Winkelmeier [fraktionslos]) doppelung. Ich finde, das ist eine Schande. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Das ist der Maßstab, an dem auch die deutsche Haltung Winkelmeier [fraktionslos]) zu den Raketenabwehrplänen gemessen werden muss. Deshalb beantragt die Fraktion Die Linke zwei Dinge, Russland sieht sich durch die Aufstellung neuer Ra- die von der Regierung unmittelbar umgesetzt werden ketenabwehrsysteme in Tschechien und Polen heraus- könnten: Exportbürgschaften, die diese immensen gefordert. Das ist zwar nicht die alles entscheidende Waffengeschäfte überhaupt erst möglich machen, müs- Frage, aber gewiss eine sehr wichtige. Es ist das Gegen- sen gestoppt werden, und zweitens muss die Überlas- teil von kluger, vorausschauender Politik, wenn die sung von Wehrmaterial, das aus den Beständen der NATO Russland erst mit militärischer Infrastruktur und Bundeswehr ausgemustert wird und an einer anderen Waffen immer mehr auf den Pelz rückt und dann mit Un- Stelle der Welt zu einer Aufrüstung führt, beendet wer- schuldsmiene verkündet, man bedrohe ja niemanden. den. Bei den Bürgschaften geht es zum Beispiel um Russland muss reagieren. Natürlich ist der Vorschlag Großaufträge wie die Lieferung von U-Booten an Israel Putins, statt der einseitigen Stationierung in Osteuropa oder Pakistan. Hiermit wird doch systematisch gegen die aserbaidschanische Radaranlage gemeinsam zu nut- den Grundsatz verstoßen, keine Waffen in Spannungsge- zen, ein taktischer Schachzug. Er trifft aber den entschei- biete zu liefern. Das gilt im Übrigen auch für die Über- denden Punkt: die zu erwartende Ablehnung. Die Ableh- lassung von Wehrmaterial. Da geht es um Kampfpanzer nung zeigt nämlich, dass es den USA im Grunde nicht so und Kampfflugzeuge, die auch in Krisenregionen gelie- sehr um die vermeintliche iranische Bedrohung im fert werden. Jahr 2020 geht, sondern vor allem darum, sich in Ost- Deshalb ist es allerhöchste Zeit, mit diesem Unfug europa treue Verbündete zu sichern, die EU durcheinan- Schluss zu machen. Genau das fordert die Linke in ihren derzubringen und zu schwächen und zu demonstrieren, drei Anträgen, die wir hier behandeln. dass die USA als einziges Land der Welt unverwundbar sind. Das ist der grundlegende Irrtum. Danke. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10787

Paul Schäfer (Köln) (A) (Beifall bei der LINKEN) gend anders als Sie. Ich glaube nämlich, dass man in (C) Russland durchaus imstande und bereit ist, einzuräumen, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: dass es ein Bedrohungspotenzial gibt. Ich gebe das Wort dem Kollegen Freiherr Dr. Karl- Aber das Wort Unterstellung muss man sich einmal Theodor zu Guttenberg, CDU/CSU-Fraktion. auf der Zunge zergehen lassen. Ist es denn eine Unter- stellung, dass der Iran seit Jahren die Staatengemein- Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (CDU/ schaft in Fragen der Aufrüstung und der Nukleartechno- CSU): logie hintergangen hat? Ist es eine Unterstellung, dass Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und der Iran seit Beginn der 80er-Jahre den Bau und den Be- Herren! Herr Kollege Schäfer, Sie sprachen von Eiertän- trieb von Nuklearanlagen und Nukleartechnologie ver- zen und Irrwegen. Das ist eine treffende Beschreibung schleiert hat? Ist es eine Unterstellung, wenn behauptet Ihrer Anträge. Mir hat sich nicht einmal der innere Zu- wird, dass die Hamas und die Hisbollah von Teheran un- sammenhang dieser drei Anträge erschlossen. Man terstützt werden? Ist es eine Unterstellung, dass der Prä- musste sich Mühe geben, den Kernantrag zum geplanten sident des Irans, Ahmadinedschad, aufruft, einen Staat Raketenabwehrsystem, der, glaube ich, der Ausgangs- von der Landkarte zu tilgen, und den Holocaust leugnet? punkt Ihrer Rede war, mit Grundverständnis zu beglei- Herr Kollege Schäfer, das sind keine Unterstellungen, ten. das sind Fakten. Der Eingangssatz ist richtig: „Die Welt ist durch Mas- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- senvernichtungswaffen bedroht.“ Das können wir als neten der SPD – Paul Schäfer [Köln] [DIE solches gänzlich unterschreiben. Die Welt ist allerdings LINKE]: Darum geht es doch überhaupt auch durch das Streben nach Massenvernichtungswaf- nicht!) fen bedroht. Das meine ich, wenn ich sage, dass hier antiisraelische (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!) Grundtöne nicht nur durchscheinen, sondern mittler- weile sehr klar geäußert werden. Diesen Aspekt blenden Sie aus. Sie scheinen ihn be- wusst auszublenden, weil er nicht in Ihr Konzept passt. (Zuruf von der CDU/CSU: Das kennen wir ja von der PDS!) (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) Ich unterstelle Ihnen nichts, wenn ich behaupte, dass Dieses Konzept rückt eben nicht nur abrüstungspolitische Sie mit solchen Fragen ein Regime unterstützen, dessen Motive und Ideale in den Vordergrund. Wäre es anders, Präsident sich derart verhält, ein Regime – ich komme (B) hätte man über diesen Einleitungssatz hinaus gerade mit jetzt noch einmal zu den abrüstungspolitischen Motiven (D) Blick auf das Raketenabwehrsystem doch eine intellek- –, das gerade hoch ehrgeizige Aktivitäten entwickelt, an tuell herausfordernde Auseinandersetzung mit dieser Raketenträgertechnologie heranzukommen, und diese wichtigen und bewusst streitigen Fragestellung erwarten auch selbst auf den Weg bringt und entwickelt und das können. Aber das geschah nicht. Wäre es anders, hätten auf den Proliferationsmärkten tätig ist. Sie unterstützen die Einleitungssätze nicht zwangsläufig wieder in eine damit ein Regime – damit greife ich einen aktuellen Betonung bereits bekannter Einstellungen – das ist nichts Punkt dieser Tage auf; das hängt jetzt nicht mit der Ab- Überraschendes – gegenüber den Vereinigten Staaten ge- rüstung zusammen –, das laut Presseberichten öffentli- führt. che Steinigungen offenbar wieder aufgenommen hat; auch Eines besorgt mich derzeit noch mehr: Ein Unterton das muss einmal gesagt werden. wird immer deutlicher. Ich weiß, dass Sie, Kollege Schä- Es gibt, wie in Ihrem Antrag zu lesen ist, keinen fer, nicht so denken, aber Sie müssen versuchen, diesen Nachweis einer Bedrohung. Jetzt kann man natürlich die Unterton aus einem solchen Antrag herauszubekommen. Grundsatzdebatte führen – wir müssen sie auch führen –: Denn in Ihren Anträgen kann man zunehmend antiisrae- Sprechen wir von realen derzeitigen Bedrohungen, und lische Töne lesen und vernehmen. wie stellen wir uns auf potenzielle künftige Bedrohun- (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es! – Zuruf von gen ein? Den Nachweis potenzieller Bedrohungen ha- der LINKEN: Das ist ja wohl lächerlich!) ben Sie mit Ihrem Antrag eigentlich selbst geliefert. Sie werden sehr genau darauf achten müssen, dass Sie sich Das sollte man mit aller Klarheit benennen. Die Bevöl- durch die Vergabe eines Persilscheins an die Ahmadine- kerung in diesem Lande hat es verdient, dies zu erfahren. dschads dieser Erde nicht selbst zur Triebfeder späterer realer Bedrohungen machen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]) Wie wäre es sonst möglich, dass Sie von „Unterstel- lungen der US-Regierung hinsichtlich der Intentionen Wir alle teilen die Zielsetzung, dass die nukleare Ab- und Handlungen des Iran“ sprechen? Das umfasst im rüstung zwingend auf friedlichem Wege erreicht wer- Übrigen nicht nur – in Ihrem Sinne – Unterstellungen den muss. Wir teilen allerdings auch das Bedürfnis nach der Vereinigten Staaten, sondern auch die der Europäi- dem Schutz unserer eigenen Bevölkerung, auch für schen Union und mittlerweile auch Russlands. Ich deute den Fall, dass der Vernunftmaßstab, den wir anlegen, die Situation im Hinblick auf Aserbaidschan grundle- manchen Irrlichtern auf dieser Welt möglicherweise 10788 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (A) nicht als Maßstab gilt; auch darauf müssen wir Antwor- lich die Chance, die alten Planungen in der Versenkung (C) ten finden. Dieser Aspekt ist sicherlich einer der schwie- verschwinden zu lassen, völlig neu anzufangen und ratio- rigsten Punkte in dieser Debatte. Aber auch das gehört nal über die Fragen zu diskutieren: Was brauchen wir, zu unserer Verantwortung. und wie können wir dieses Thema gemeinsam angehen? Von daher ist es dringend geboten, mit unseren Part- Meine Damen und Herren, es ist nicht illegitim, da- nern und denen, die sich als unsere Partner bezeichnen, rüber nachzudenken, ob es Bedrohungen gibt, die eines eine gemeinsame Sicherheitsanalyse vorzunehmen. Ich Tages akut werden könnten und etwas damit zu tun ha- nehme Russland an dieser Stelle ausdrücklich mit ins ben, dass sich Massenvernichtungswaffen in den Hän- Boot. Wir müssen gemeinsam in der Lage sein, eine Si- den von unverantwortlich handelnden Regimen oder von cherheitsanalyse durchzuführen, durch die nicht nur die Non-State-Actors, von nichtstaatlichen Akteuren, befin- Gegenwart abgebildet wird, sondern durch die wir auch den. Aber wir müssen immer darauf hinweisen: Ein in die Lage versetzt werden, einige Jahre in die Zukunft Grund, warum wir uns heute mit diesem Thema beschäf- zu blicken. Wir müssen aufgestellt sein, falls einmal ein tigen müssen, ist, dass in der Abrüstungspolitik und in Ereignis eintritt, das nicht mehr von unserem Vernunft- der Rüstungskontrollpolitik zehn Jahre lang eigentlich maßstab gedeckt ist. Denn guter Glaube, den wir heute nichts geschehen ist. Der erste Schritt, den wir machen, an den Tag legen, könnte irgendwann einmal in Naivität muss darin bestehen, dass wir der Rüstungskontrollpoli- abgleiten. tik und der Abrüstungspolitik wieder mehr Schwung Vielen Dank. verleihen. Danach können und müssen wir auch über die anderen Fragen diskutieren. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Werner Hoyer, Wenn es nicht gelingt, die Rüstungskontrollpolitik FDP-Fraktion. wieder auf Kurs zu bringen, werden wir es eines Tages nicht nur mit Iran und Nordkorea zu tun haben, sondern (Beifall bei der FDP) mit einer unbeherrschbar großen Anzahl von Mächten, die über Massenvernichtungswaffen verfügen, ganz ab- Dr. Werner Hoyer (FDP): gesehen von nichtstaatlichen Organisationen. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für Europa ist es unverzichtbar, dass ein Raketenab- Wir behandeln heute drei Anträge. Ich kann mich ange- wehrsystem, so dieses für erforderlich gehalten wird, auf (B) sichts meiner kurzen Redezeit allerdings nur zu einem einer gemeinsamen Bedrohungsanalyse Europas – das (D) Antrag ausführlicher äußern, nämlich zu dem Antrag, in heißt der EU –, der europäischen NATO-Staaten, der dem es um das Hauptthema Raketenabwehr geht. Die Amerikaner und der Russen basiert. Darin sehe ich den übrigen Themen werden, wie ich denke, von anderen Charme des Aserbaidschanvorschlags: dass Russland zu Kollegen intensiv erörtert. erkennen gibt, dass es grundsätzlich nicht unvernünftig Vermutlich werden sie zu dem Ergebnis kommen, ist, darüber nachzudenken, ob es Bedrohungen gibt, vor dass es nicht ausreicht, nur zu sagen, dass es gut ist, ge- denen man sich mit einer Raketenabwehr schützen muss; gen Rüstungsexporte zu sein, sondern dass man präzi- diesen Hoffnungsschimmer sollten wir erkennen. ser definieren muss, was man damit meint. Es geht dabei Eine erneute Spaltung Europas in dieser Frage wäre mit Sicherheit immer wieder um die schwierige Frage: fatal. Ich trage am heutigen Tage bewusst die Krawatte Geraten Rüstungsgüter, die aus Deutschland stammen, der deutschen Ratspräsidentschaft. Ein großes Ziel, das in die falschen Hände? Dann müssen Bundesregierung in dieser Woche erreicht werden muss, ist, die Euro- und Bundestag dagegen vorgehen. Wenn man aber gene- päische Union in der Außen- und Sicherheitspolitik rell sagt, Rüstungsexporte sind zu dämonisieren, macht handlungsfähig zu machen. Wenn wir in einer so wesent- man damit eine vernünftige Ausrüstung und Bewaffnung lichen Frage wie der Raketenabwehr wieder wie ein auf- unserer eigenen Streitkräfte unmöglich bzw. völlig unbe- gescheuchter Hühnerhaufen dastehen, dann ist das für zahlbar; die Zukunft der europäischen Integration eine Katastro- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) phe. ich empfehle daher dringend, einen differenzierteren An- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten satz zu verfolgen. Daher können wir die Anträge der der SPD) Linksfraktion nicht mittragen. Deswegen ist das Erste: Haltet Europa an dieser Stelle Zur Raketenabwehr. Meine Damen und Herren, sel- zusammen! ten hatte man das Gefühl, dass ein Thema so unprofessio- Das haben auch unsere amerikanischen Freunde nicht nell und unsensibel angegangen worden ist, wie es bei hinreichend beachtet. Der Vorschlag, das Abwehrsystem der amerikanischen Raketenabwehr der Fall war. Umge- mit Polen und Tschechien aufzubauen, ist zwar mit kehrt hat es selten ein Thema gegeben, bei dem die Re- technischen und geografischen Erwägungen begründbar, aktionen so bedenklich waren wie im Falle der Reaktion und der Satz von Präsident Bush, dass sich das System ja Russlands auf die Vorschläge Amerikas. Vielleicht be- nicht gegen Russland richtet, trifft zu. Das bestreitet hier steht jetzt, nach dem G-8-Gipfel in Heiligendamm, end- auch keiner. Nur, wenn Sie mit den Kolleginnen und Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10789

Dr. Werner Hoyer (A) Kollegen in Warschau und Prag darüber diskutieren, Deswegen ist es richtig, zu sagen: Ja, wir haben eine (C) werden Sie wenig über iranische und nordkoreanische Krise der Abrüstung und Rüstungskontrolle, und Bedrohungen hören, aber viel über russische. Das hat et- zwar nicht erst seit den letzten Monaten. Im Grunde ge- was zu tun mit nicht lange zurückliegender Geschichte, nommen haben wir sie – das ist eigentlich verwunderlich – von Russland und anderen übrigens auch nicht aufgear- seit dem Ende des Ost-West-Konflikts. Eigentlich wäre beiteter Geschichte und daraus resultierenden Traumata. es gerade nach dem Ende des Ost-West-Konflikts not- wendig gewesen, die Chance zu nutzen, für Abrüstung Ich halte es auch für einen Fehler, dass die Illusion und Rüstungskontrolle zu sorgen. genährt wurde, dass die USA für Warschau und Prag, wenn diese mit ihnen ein solches Abkommen schließen, (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Ist nicht passiert!) Sicherheitsgarantien übernähmen, die über das hinaus- Es geht aber nicht um eine einseitige Abrüstung und gehen, was die Beistandsverpflichtungen des NATO- Rüstungskontrolle, sondern wir wollen eine verabredete, Vertrages umfassen. Das setzt die Axt an den Zusam- verbindliche, überprüfbare und in die Zukunft gerichtete menhalt des Bündnisses. Deswegen ist das gefährlich. Abrüstung und Rüstungskontrolle. (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/ (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten CSU und der SPD) der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN) Es wird sicherlich erforderlich sein, Russland zu be- teiligen, aber nicht, weil sich Russland sonst bedroht Ich glaube, das Problem ist, dass wir nicht nur eine fühlen müsste, sich Gedanken machen müsste, dass die Krise der Abrüstung und Rüstungskontrolle haben, son- stationierten Raketen umgewidmet werden könnten. Es dern dass auch die noch bestehenden Verträge nicht darf nicht der Eindruck entstehen – der Begriff ist heute mehr angewandt werden oder auslaufen. Auf diese Ver- schon gefallen, Herr Schäfer –, es gehe hier um die Her- träge wird man sich in wenigen Jahren nicht mehr bezie- stellung von Unverwundbarkeit. Ich bin davon über- hen können. Auch das ist ein großes Problem. Ich meine, zeugt, dass die Zusammenarbeit zwischen Russland, den dass wir über diesen Aspekt reden müssen. Vereinigten Staaten und Europa in dieser Frage deshalb Der zweite Aspekt, über den wir hier im Deutschen so wichtig ist, weil jeder Versuch eines dieser drei Blö- Bundestag sprechen müssen, ist: Kernwaffen spielen cke, auf Kosten eines oder mehrerer anderer exklusiv für plötzlich eine neue Rolle, und zwar unabhängig von den sich Sicherheit zu reklamieren, einen vermeintlich un- jeweiligen Ländern, also den Kernwaffenbesitzern. Dies einholbaren Vorsprung zu reklamieren, zu Misstrauen muss zu denken geben. Früher waren Kernwaffen Waf- führt und scheitern muss. Denn so etwas wird die über- fen, die nicht eingesetzt werden sollten. Sie waren vor- wunden geglaubten Reflexe des Kalten Krieges und da- handen und dienten im Grunde genommen zur Abschre- (B) (D) mit auch die Rüstungswettläufe wieder in Gang setzen. ckung, sollten aber nicht eingesetzt werden. Das war Wir müssen gemeinsam vorgehen; denn wir wissen, die zumindest die Logik. Ob man sich ihr unterwerfen Logik der Entspannungspolitik basiert auf der Erkennt- wollte, war eine politische Frage. Dieser Aspekt wurde nis, dass Sicherheit unteilbar ist und dass es darum geht, aber zumindest von denjenigen, die Kernwaffen befür- wieder Vertrauen zu schaffen. Auf dieser Basis müssten wortet haben, vertreten. vernunftbegabte, verantwortliche Politiker in Amerika, in Russland, in Europa eigentlich in der Lage sein, über Davon lösen sich mehr und mehr Länder. Das sind dieses wichtige Thema rational zu diskutieren. nicht die USA alleine, das sind auch Russland und die Volksrepublik China. Leider modernisieren auch unsere Danke sehr. europäischen Partner Frankreich und Großbritannien ihre Waffen. Auch darüber muss man offen reden. Das dient (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nach meinem Dafürhalten nicht dem guten Gedeihen ge- der CDU/CSU und der SPD) meinsamer Sicherheitsinteressen in unserer Region.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ Ich gebe das Wort dem Kollegen Rolf Mützenich, DIE GRÜNEN) SPD-Fraktion. Zu einem anderen Punkt, bei dem ich das unterstütze, (Beifall bei der SPD) was mein Kollege Guttenberg gesagt hat – ich verstehe nicht, warum Sie in Ihrem Antrag die Augen davor ver- Dr. Rolf Mützenich (SPD): schlossen haben –: Wenn man schon über die Kernwaf- fenländer spricht, dann muss man auch über die Länder Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sprechen, die Kernwaffen anstreben, die also darüber Mir scheint, es ist richtig, dass wir im Deutschen Bun- nachdenken und alles dafür unternehmen, sie zu erhal- destag erneut über lebenswichtige Fragen, insbesondere ten. Das haben Sie in Ihrem Antrag leider nicht getan. über Abrüstung und Rüstungskontrolle und über Frieden Im Gegenteil! Es verwundert mich weiterhin, dass zum und Sicherheit, sprechen. Denn diese vier Elemente ge- Beispiel der Kollege Lafontaine vom unmittelbaren hören zusammen. Es war gute Tradition Europas und da- Recht Irans auf die gesamte Beherrschung des Brenn- mit auch Deutschlands, dies gemeinsam zu denken, um stoffkreislaufes spricht, die Blockkonfrontation zu überwinden und um eine Per- spektive für Europa zu schaffen, aber auch um Vorbild (Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg [CDU/ für andere Regionen in der Welt zu sein. CSU]: Richtig! Unglaublich schlüssig!) 10790 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Dr. Rolf Mützenich (A) obwohl er doch weiß – nicht nur, weil die USA das sa- Thema gehört ins Plenum des Deutschen Bundestages (C) gen; das muss er ja nicht glauben –, dass die Internatio- und in die Ausschüsse, aber auch bei den Regierungs- nale Atomenergiebehörde vor einer Woche in ihrem konferenzen muss hinter verschlossenen Türen offen Gouverneursbericht über die Frage, ob Sicherheits- darüber geredet werden. garantien eingelöst worden sind, dem Iran erneut ein Extrakapitel gewidmet hat. Die Internationale Atom- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) energiebehörde sagt doch die ganze Zeit: Der Iran ver- Ich akzeptiere die militärischen Reaktionen Russ- stößt dagegen. Er benutzt sein Programm zu militäri- lands in dieser Frage nicht. Sie sind empörend. schen Zwecken. – Dass Sie das nicht zur Kenntnis nehmen, verwundert mich wirklich. Man kann nicht ins- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der gesamt für Abrüstung und Rüstungskontrolle streiten, FDP) wenn man davor die Augen verschließt. Man kann nicht den KSE-Vertrag sozusagen als Geisel (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der nehmen und ein Moratorium verkünden. Das ist in dem FDP) Vertrag gar nicht vorgesehen. Aber allein das Ausspre- chen dieser Drohung ist fatal. Sie kann aus unserer Sicht Ein anderer Punkt ist – das muss man genauso benen- auch nicht unsere Unterstützung finden. Wir können al- nen –, dass es nicht nur um den Iran, sondern beispiels- lenfalls eine Diskussion über die Frage unterstützen, wie weise auch um Brasilien, Pakistan und Indien geht. Man der KSE-Vertrag möglicherweise ratifiziert oder ange- könnte eine ganze Palette aufzählen. Wenn man sich hier passt werden kann. Das ist ein wichtiger Punkt. im Deutschen Bundestag ernsthaft über Rüstungskon- trolle und Abrüstung unterhalten will, dann hätte man (Zuruf von der SPD: Richtig!) das nach meinem Dafürhalten zumindest benennen müs- sen. Umso empörender war, dass Russland angekündigt hat, vielleicht mit russischen Atomraketen neue Ziele in Ein weiterer Punkt, über den man diskutieren sollte Europa in den Blick zu nehmen. Eine solche Reaktion – das sind ja auch wichtige Erfahrungen in der interna- erwarten wir meines Erachtens zu Recht nicht von Russ- tionalen Politik –, lautet: Wie gehen wir mit denjenigen land. Staaten um, die Kernwaffen anstreben? In den letzten Jahren haben wir zwei Erfahrungen machen können. Die (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie bei beiden Länder Libyen und Nordkorea haben auf ihre der CDU/CSU und der FDP) Kernwaffenprogramme verzichtet – das eine nachprüf- bar, das andere hoffentlich bald nachprüfbar. Festzustellen ist – das meine ich nicht ironisch –, dass (B) wir im Zusammenhang mit der Diskussion über den Ra- (D) Ich glaube, der wichtigste Ansatz, aufgrund dessen ketenschirm eine lupenreine Krise in Europa haben. Das diese diplomatischen Erfahrungen gemacht werden ist nicht nur gegenüber Russland eine Herausforderung, konnten, war, dass insbesondere auch die USA die Re- sondern insbesondere auch gegenüber den europäischen gime anerkannt und einen Dialog geführt haben. Sie ha- Staaten und den Staaten, die sich verpflichtet haben, in- ben zwar keine Sicherheitsgarantien gegeben – das kann nerhalb eines Verteidigungsbündnisses – nämlich der man auch nicht unmittelbar verlangen –, aber sie haben NATO – nach gemeinsamer Sicherheit zu streben. zumindest akzeptiert, dass auf der anderen Seite jemand sitzt, mit dem man versuchen muss zu sprechen. Das ent- Es ist fatal, dass die USA mit ihrem unsensiblen Vor- spricht auch unserer Erwartungshaltung gegenüber der gehen bilateral mit Ländern über die Frage sprechen, wie Bundesregierung, und das unterstützen wir: Sie muss Sicherheit hergestellt werden kann. Das mag zwar für versuchen, die USA auch an den Iran heranzuführen. deren diplomatisches Vorgehen wichtig sein; es ist aber falsch. Es widerspricht den Erfahrungen mit Europa und Es war ein wichtiger Punkt, dass sich Delegierte der unseren Erfahrungen mit der deutschen Außenpolitik. US-Administration mit iranischen Regierungsvertretern zusammengesetzt haben. Dazu hat unter anderem die Ein weiterer Punkt, der mir Sorge bereitet, ist die Be- Bundesregierung mit beigetragen. gründung. Es sind hauptsächlich militärische Gründe, die wahlweise immer wieder angeführt werden. Vor eini- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gen Monaten galt Nordkorea als besondere Herausforde- der CDU/CSU) rung, was den nationalen Raketenschirm angeht. Jetzt hat man mit diplomatischen Mitteln versucht, Nordkorea Das war wichtig und ist Teil des Entspannungsprozesses. mit ins Boot zu holen, und sieht den Iran als Herausfor- Dann wurden zum Beispiel bei Verwandtenbesuchen derung an. im Iran amerikanische Staatsbürger inhaftiert, und dieses Wenn es aber Bedrohungen gibt – das haben wir letzte zarte Pflänzchen der Hoffnung wurde wieder zerstört. Woche im Auswärtigen Ausschuss gelernt –, dann ist Aber deswegen dürfen wir nicht aufgeben, den Versuch diese Herausforderung durch Pakistan gegeben. Dieses einer diplomatischen Lösung weiter zu unterstützen. Land ist politisch sehr instabil, rüstet auf, verfügt über (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Raketen und exportiert diese Raketentechnologie. Das sind besondere Herausforderungen, die nach meinem Ich möchte noch auf den Raketenschirm eingehen, Dafürhalten die USA sensibilisieren müssten, mit den weil wir in Europa davon besonders betroffen sind. Das pakistanischen Verbündeten darüber zu sprechen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10791

Dr. Rolf Mützenich (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Bundesregierung hat weiterhin den Vorsitz in der G 8. (C) der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ Ich hielte es für gut, wenn man gemeinsam mit den Part- DIE GRÜNEN) nern in der G 8 noch einmal über die hier besprochenen Herausforderungen nachdenken würde, und zwar nicht Zurzeit können nur wenige europäische Länder den nur über die Frage des Raketenschirms. Versuch machen, sich mit Empathie in den anderen hi- neinzuversetzen und mit Rücksicht auf dessen Sicher- Ich glaube, dass wir auf einem guten Weg sind. Die heitsempfinden zu diskutieren. Ich glaube, dabei ist Bundesregierung hat in der Vergangenheit gute Vor- Deutschlands Rolle gegenüber Russland sehr wichtig. schläge gemacht. Sie beteiligt sich an dem Verbot von Wir sollten uns vielleicht mit antirussischen Reflexen Streumunition. Außenminister Steinmeier hat einen Vor- zurückhalten. Wir dürfen nicht in die alte Wortwahl ver- schlag für den internationalen Brennstoffkreislauf unter- fallen. Vielmehr sollten wir durchaus mit Respekt ge- breitet. Die deutsche Bundesregierung bereitet die Über- genüber einem Nachbarn, der auch unsere Sicherheit in prüfungskonferenz zum Nichtweiterverbreitungsvertrag Europa in Zukunft mitverantwortet, den Versuch ma- 2010, wie ich denke, sehr gut vor. Dabei haben Sie un- chen, ihm zuzuhören. Ich glaube, das hat die Bundes- sere Unterstützung. regierung in den vergangenen Wochen und Monaten ge- tan. Das muss man unterstützen. Es geht sicherlich nicht (Beifall bei Abgeordneten der SPD) darum, dass nur irgendwelche kritischen Geister darüber Nach meinem Dafürhalten sind vier Punkte von Ihnen nachdenken. Vielmehr hat sich auch Ulrich Weisser, den positiv abgearbeitet. man nicht in eine bestimmte Ecke einordnen kann – er schreibt für die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Vielen Dank. Politik interessante Artikel über Russland –, entspre- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der chend geäußert. FDP) Ich glaube, das sollten wir an dieser Stelle überneh- men. Dabei handelt es sich um sehr kluge Hinweise. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Darunter ist ein wichtiger Punkt, den wir in diesem Zu- Ich gebe dem Kollegen Gert Winkelmeier das Wort. sammenhang bedenken müssen: Wir brauchen Russland für vielfältige Fragen der Sicherheit auch in Europa. (Beifall bei der LINKEN) Wir haben eben über den Kosovo gesprochen; wir Gert Winkelmeier (fraktionslos): brauchen ihn für den Iran. Russland aber war das Land, das letzte Woche versucht hat, die nordkoreanische Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! (B) Atomkrise über Bankengeschäfte ein wenig zu entpro- Albert Einstein sagte einmal: Die Zuflucht zum Militär (D) blematisieren. Das war wichtig. Daran sieht man, wo ist die ultimative Dummheit der Politik. – Wenn ich ihn Russland wichtig ist. beim Wort nehme, muss ich feststellen: Seit 1990 ist Deutschland wieder Wegbereiter in diese ultimative Ich glaube – da unterstütze ich Sie, Herr Kollege Ho- Dummheit. Wie die jüngsten Zahlen des Friedeninstituts yer –, dass wir genügend Zeit haben zu versuchen, an SIPRI belegen, ist Deutschland auf dem dritten Platz der dieser Stelle wieder zur Rationalität zurückzufinden, Waffenexporteure. Das ist falscher olympischer Ehrgeiz. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Mit Waffenexporten heizt die Bundesregierung Spannungen in der Welt an. So schaffen Sie internatio- um mit Russland – aber auch mit anderen Ländern; nale Probleme und rechtfertigen damit eine weitere China fühlt sich durch die unterschiedlichen Systeme, Hochrüstung der Bundeswehr. Die bevorstehende Be- die vonseiten der USA aufgestellt werden, genauso he- schaffung von vier Fregatten der 125er-Klasse für die of- rausgefordert – im NATO-Russland-Rat, aber auch in fensive Hochseekriegsführung, die den Steuerzahler in anderen Institutionen zu reden. Der Punkt ist doch, dass den nächsten Jahren fast 3 Milliarden Euro kosten wird, Verträge, gemeinsame Sicherheit, aber natürlich auch ist ein Beleg dafür. Verteidigungsfähigkeit die Wiedervereinigung Europas möglich gemacht haben. Dieses Geschenk muss man be- Es verwundert nicht, dass die CDU/CSU für den of- wahren. Ich glaube, dass wir es zusammen mit Russland fensiven Rüstungsexport ist. bewahren müssen. Das ist nach meinem Dafürhalten an dieser Stelle der Auftrag. (Erich G. Fritz [CDU/CSU]: So ein Quatsch!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich freue mich zwar, dass die SPD an einer restriktiven Rüstungspolitik festhalten will. Das ist aber zu wenig. Lassen Sie mich zum Schluss einen Vorschlag unter- Ausgemusterte Waffensysteme müssen verschrottet wer- breiten – dass ich der Regierungskoalition angehöre, be- den. Sie dürfen nicht in Spannungs- oder andere Gebiete deutet ja nicht, dass ich nicht auch einmal einen Vor- geliefert werden. Dass die FDP nach Einzelfallprüfung schlag in Richtung der Regierungsbank machen kann –: einen kurzfristigen Exporterlös erzielen will, ist uner- Ich hätte mir schon gewünscht, dass bei dem G-8-Gipfel träglich. Daraus resultierende Konflikte, die dann inter- in Heiligendamm das Thema „Abrüstung und Rüs- national gelöst werden müssen, kosten den deutschen tungskontrolle“ aufgenommen worden wäre. Wir wer- Steuerzahler ein Vielfaches dieses Erlöses. Die SPD han- den die Chance, dieses Thema aufzugreifen, allerdings delt heute in der Waffenexportfrage leider nicht nach den noch in den nächsten Monaten haben; denn die deutsche Worten ihres ehemaligen Vorsitzenden Brandt, der 10792 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Gert Winkelmeier (A) immer betonte, dass von deutschem Boden nie wieder zum Stationierungszeitpunkt in keiner Weise erprobt und (C) Krieg ausgehen dürfe. nachgewiesen sein wird. Selbst die Grünen schließen sich dem Antrag der Lin- Es ist aber kein Antiamerikanismus, sondern Realis- ken nur in der Forderung an, dass die Bundesregierung mus, dieses Vorhaben nicht als einen Akt der Nächsten- veröffentlichen soll, welche Waffen in den nächsten fünf liebe unter Verbündeten zu bewerten, sondern in den Jahren ausgemustert werden und was mit ihnen passie- Kontext der Gesamtstrategie der USA zu stellen. Das ist ren soll. Für ein generelles Waffenexportverbot treten sicherlich nicht der einzige, aber auch ein Aspekt. Mir ist auch sie nicht ein. auf der NATO-Parlamentarierversammlung aufgefallen, was ein norwegischer Delegierter sagte. Er verwies auf Die Linke hat in der konsequenten Forderung nach ei- das schlichte Weltmachtinteresse der USA. Die Defen- nem Waffenexportverbot ein Alleinstellungsmerkmal, siv- und die Offensivpotenziale müssen also im Zusam- und das werden die Wähler honorieren. Warum liefert menhang gesehen werden. Es geht um Unverwundbar- die Bundesregierung U-Boote nach Pakistan, ein Land, keiten, Handlungsfreiheit und Dominanz. Es liegt auf das für die Weitergabe von Rüstungstechnologie an frag- der Hand, dass das Wirkung auf die Perzeption anderer würdige Abnehmer berüchtigt ist, ein Land, das Nukle- hat. Diese fühlen sich vielleicht ins Visier genommen. armacht ist und den Atomwaffensperrvertrag nicht un- Das fördert also Misstrauen und verstärkt die Rüstung. terzeichnet hat? Frieden und Sicherheit gibt es in der Welt nur gemeinsam oder gar nicht. Vertrauensbildende Das nun angebahnte Projekt scheint mir insgesamt Maßnahmen sind erste Schritte zum Frieden. Das wusste Ausdruck einer falschen Prioritätensetzung in der Si- die Politik einst in Deutschland. Daran sollten Sie sich cherheitspolitik zu sein. Es kommt vielmehr darauf an, erinnern, anstatt Vertrauen zu verspielen, wie Sie das ge- eine andere Prioritätensetzung vorzunehmen. Der Kol- rade in Afghanistan praktizieren. lege Mützenich hat, genauso wie die Bundesregierung, deutlich betont, dass man – vertragsgestützt und diplo- Die Rüstungsausgaben und die Rüstungsexporte der matisch – eine Politik mit dem Ziel der Nichtverbreitung Industriestaaten sind im Vergleich zur Entwicklungshilfe verfolgen muss. einfach obszön. In unserer Welt sterben täglich 40 000 Kinder an Hunger. Machen Sie sich bewusst, Nun zu dem Antrag „Stopp von staatlichen Bürg- dass während meiner Redezeit 85 Kinder an Hunger ge- schaften für Rüstungsexporte“. Wie zu hören war, unter- storben sind! richtete das Finanzministerium den Haushaltsausschuss darüber, dass für drei U-Boote an die pakistanische Vielen Dank. Marine eine Exportbürgschaft über 1,2 Milliarden Euro (Beifall bei der LINKEN) gewährt werden soll. Ich muss zugeben: Auch unter Rot- (B) Grün hat es einige sehr fragwürdige Rüstungsexporte ge- (D) geben. Aber der jetzt beabsichtigte Export verstößt so Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: eindeutig und massiv gegen die geltenden Rüstungs- Nächster Redner ist der Kollege Winfried Nachtwei, exportrichtlinien wie wohl kein anderer zuvor. Bündnis 90/Die Grünen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sowie des Abg. Paul Schäfer [Köln] [DIE LINKE]) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich nun zu den drei Anträgen Stellung nehme, Dieser Export geht nicht nur in ein eindeutiges Span- kann ich dazu selbstverständlich nicht mehr als nur ei- nungsgebiet; mit ihm würde auch das Risiko weiterer nige Anmerkungen machen. Spannungen steigen. Der Export geht nämlich in ein Land – Kollege Mützenich hat es selbst angesprochen –, In den letzten Jahrzehnten wurde in Europa eine Ab- das in Sachen Verbreitung von Nukleartechnologie und rüstungsarchitektur gebaut, die weltweit einmalig ist. Raketentechnologie äußerst unzuverlässig ist und dessen Wer kann sich heute noch vorstellen, welche Lager an Perspektive mehr als ungewiss ist. Hier besteht also Atomwaffen es in West- und Ostdeutschland gab, die für schlichtweg die Gefahr, dass die großen Fehler der 70er- Einsätze sogar im eigenen Land vorgesehen waren? Das und 80er-Jahre, als Militärgüter in den Irak und in den war heller Wahnsinn! Es ist fantastisch, zu sehen, wie Iran geliefert wurden, wiederholt werden. Das heißt, mit viel sich verändert hat. einem solchen Handeln konterkariert die Bundesregie- Die Befürworter der geplanten Raketenabwehrsys- rung das, was sie sonst zu Recht als Ziel deutscher Au- teme in Polen und Tschechien behaupten, damit auch ßen- und Sicherheitspolitik benennt, die ja Friedenspoli- der europäischen Sicherheit zu dienen. Diese Behaup- tik sein soll. tung ist, wie wir alle – auch in diesem Haus – mitbekom- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) men haben, auf breiten Widerspruch gestoßen, zuletzt sogar auf der NATO-Parlamentarierversammlung in Por- Für Rüstungsexporte sollte es generell keine Hermes- tugal. Einige kritische Anmerkungen dazu: Es wird Bürgschaften geben. Insofern besteht Übereinstimmung Schutz vor Raketenbedrohungen versprochen, die es mit dem Antrag der Linksfraktion. Wir stoßen uns aller- zurzeit nicht gibt und in den nächsten Jahren nicht geben dings an einer Empfehlung, die darin enthalten ist, näm- wird. Vielmehr kommt es darauf an, das Anwachsen sol- lich dass die Veröffentlichung über Exportbürgschaften cher Bedrohungen politisch zu verhindern. Man ver- erst nach der Beschlussfassung im Interministeriellen spricht sich Schutz von Systemen, deren Wirksamkeit Ausschuss geschehen soll. Wir halten uns da an die ent- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10793

Winfried Nachtwei (A) sprechende OECD-Richtlinie, die besagt, das solle bis zu die alle anderen Maßnahmen wirkungslos wären, und (C) 30 Tagen vorher geschehen, damit noch die Möglichkeit drittens das diplomatische Bemühen um Lösungen dort, zur Einwirkung besteht. Deswegen werden wir dem An- wo es Konflikte gibt und neue Gefahren drohen. Wenn trag nicht zustimmen. Sie der Auffassung sind, Sie könnten einen Pfeiler he- rauslösen, dann gefährden Sie damit den Erfolg jeder eu- Nun zum Antrag „Verzicht auf den Verkauf und das ropäischen Sicherheitspolitik. Überlassen von überschüssigem Wehrmaterial“. Wir ha- ben in den 90er-Jahren gesehen, dass es unter der Kohl- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Regierung ein großes Problem war, dass NVA-Material neten der FDP) an die Türkei geliefert wurde, weil dies zum Teil gegen die Kurden eingesetzt wurde. Eine pauschale Absage an Zu dem ersten Antrag ist schon genug gesagt worden. die Abgabe von Wehrmaterial ist allerdings nach unse- Ich will mich deshalb den beiden anderen Anträgen zu- rer Auffassung nicht sinnvoll. Ein solches Verbot würde wenden. auch die Weitergabe an verlässliche Verbündete aus- Da gibt es einen Antrag, in dem gefordert wird, Bürg- schließen, ebenso Lieferungen an die Vereinten Natio- schaften für Rüstungsexporte gänzlich zu verbieten. In nen und an Peacekeeping-Truppen. Es schlösse sogar die diesem Antrag wird der Eindruck erweckt, als setze die Abgabe von Sanitätsmaterial aus. Bundesregierung bewusst zur Steigerung eines mögli- chen Rüstungsexports Hermes-Kreditbürgschaften ein. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Gert Winkelmeier [fraktionslos]: Genau das Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. macht sie!) Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist falsch; das trifft in keinem Fall zu. Ich will Ihnen Ja, ich komme jetzt zum Schluss. – Insofern ist die einmal sagen, wie groß dieser Anteil ist, damit wir wis- Unterrichtung in diesem Punkt, die Sie schon angespro- sen, wovon wir sprechen: Die Gesamtexporte lagen chen haben, sehr angebracht. 2004 bei 733,5 Milliarden Euro. Davon waren durch Hermes-Bürgschaften 21,1 Milliarden Euro gedeckt; das Ich fasse zusammen. sind 2,9 Prozent. Der Anteil gedeckter Militärexporte an allen Hermes-Bürgschaften, die es gibt, betrug 0,62 Pro- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: zent. Der Anteil gedeckter Militärexporte an den Ge- Nein, Herr Kollege. Eine Zusammenfassung lasse ich samtexporten lag bei 0,0002 Prozent. – Das ist eine De- jetzt nicht mehr zu. Ich lasse nur noch einen Schlusssatz batte, die keine reale Bedeutung hat. Wenn Sie dann zu. noch wissen, dass es sich in den meisten Jahren aus- (B) schließlich um den Export von Schiffen gehandelt hat, (D) Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): die nun einmal eine wesentlich längere Vertragslaufzeit, Gerade in diesem Zusammenhang kommt es darauf Produktionszeit und Bereitstellungszeit als andere Güter an, dass wir als Parlament unsere Verantwortung auch haben, dann können Sie vielleicht nachvollziehen, dass auf diesem Feld der Sicherheitspolitik endlich mehr im Verhältnis zweier Staaten, die mit diesen Rüstungsak- wahrnehmen und an der Kontrolle mitwirken. – Das war tivitäten zu tun haben, solche Bürgschaften von Bedeu- mein Schlusssatz. tung sind. Sie sind kein Exportförderinstrument. Danke schön. Wollen Sie eigentlich Südafrika in der jetzigen Situa- tion den Erwerb von drei Schiffen, die wir geliefert ha- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ben und die im Wesentlichen der Verhinderung von sowie bei Abgeordneten der SPD) Raubfischerei dienen, wirklich verwehren? Sprechen Sie eigentlich souveränen Staaten völlig ab, dass sie selbst Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: entscheiden müssen, was für ihre Sicherheit, die Sicher- Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Erich heit ihrer Küsten und ihrer Fischereigewässer notwendig Fritz, CDU/CSU-Fraktion. ist? (Paul Schäfer [Köln] [DIE LINKE]: Wir ent- Erich G. Fritz (CDU/CSU): scheiden doch auch souverän, ob wir Rüs- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen tungsgüter liefern oder nicht!) und Kollegen! Die Anträge der Linksfraktion sind nach dem Motto gestrickt „Ich male mir eine Welt“. Da wird – Tatsächlich ist das so. – Es gibt im zwischenstaatlichen ausgeblendet, da wird überpointiert, da werden Dinge so Verhältnis viele Gründe, auch die Interessen anderer zusammengestellt, wie man es benötigt, um ein be- Staaten anzuerkennen. Jetzt aus diesem Handel auszu- stimmtes Bild zu zeichnen. steigen, so zu tun, als ob wir einen eigenen Weg gehen, und zu sagen, dass wir damit nichts mehr zu tun haben, Dabei ist jedem klar, dass im Bereich der internatio- gleichzeitig aber den Anspruch zu erheben, eine gemein- nalen Sicherheit drei Punkte zusammengehören: erstens same europäische Rüstungspolitik und eine Gemein- die Stärkung internationaler Regime – da kann man same Außen- und Sicherheitspolitik zu betreiben, ist Deutschland nun wirklich nichts vorwerfen; damit hat auch falsch. Im Gegenteil: Wir haben das Interesse – des- sich die deutsche Politik immer schon lange und intensiv halb ist die Bundesregierung seit Jahren eine der inten- beschäftigt –, zweitens die militärische Sicherheit, ohne sivsten Verfechterinnen gemeinsamer europäischer Rege- 10794 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Erich G. Fritz (A) lungen –, dass wir Grundsätze haben, die für Frankreich, Tagesordnungspunkt 7 b. Beschlussempfehlung des (C) für Großbritannien, für Spanien und für Italien genauso Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu dem An- gelten wie für uns. Sie wissen, wie schwierig dieser Weg trag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Stopp von ist und dass Deutschland keine Rüstungswirtschaft be- staatlichen Bürgschaften für Rüstungsexporte“. Der treibt, die von vornherein auf Export angelegt ist, Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4602, den Antrag der Fraktion Die Linke (Beifall des Abg. Dr. Andreas Schockenhoff auf Drucksache 16/3697 abzulehnen. Wer stimmt für [CDU/CSU] und des Abg. Gert Weisskirchen diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – [Wiesloch] [SPD]) Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den sondern dass unser Bestreben immer war, durch die ge- Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU meinsame Politik dazu beizutragen, dass die Kapazitäten und FDP bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke an- so angepasst werden, dass es diesen Exportdruck nicht genommen. gibt und Rüstungsexport als Teil einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik rational im Interesse Eu- Tagesordnungspunkt 7 c. Beschlussempfehlung des ropas betrieben werden kann. Verteidigungsausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Verzicht auf den Verkauf und Was Sie ganz ausblenden – das hat auch etwas mit das Überlassen von überschüssigem Wehrmaterial“. Der Rüstungsexport zu tun –, ist, dass wir in verstärktem Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Maße Nation Building betreiben, dass wir dazu beitra- Drucksache 16/5353, den Antrag der Fraktion Die Linke gen, dass Staaten, in denen staatliche Gewalt überhaupt auf Drucksache 16/3350 abzulehnen. Wer stimmt für nicht mehr vorhanden ist, wieder eigenständig Sicherheit diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – gewährleisten können. Wie sollen wir Polizei und Mili- Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit dem- tär ausbilden, wenn wir nicht gleichzeitig das Material, selben Stimmergebnis wie zuvor angenommen. das man dafür braucht, liefern können? Die Welt hat sich ein bisschen geändert. Sie können doch nicht die glei- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 d sowie chen Sätze wie vor 20 Jahren aufschreiben. Sie müssen die Zusatzpunkte 5 und 6 auf: doch die veränderte Rolle, auch die veränderte Sicher- 8 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- heitslage, zur Kenntnis nehmen. Wenn Sie das nicht tun, richts des Ausschusses für Menschenrechte und dann sind Sie hier, so glaube ich, falsch am Platz oder humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag sprechen nur Stammtischforderungen nach, die ohne Re- der Abgeordneten Erika Steinbach, Holger Hai- levanz bleiben. bach, Carl-Eduard von Bismarck, weiterer Abge- Der dritte Antrag gehört eigentlich ins Kuriositäten- ordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie (B) kabinett. Schon die Grundannahmen darin sind falsch; der Abgeordneten Christoph Strässer, Angelika (D) deshalb können auch die Forderungen, die daraus abge- Graf (Rosenheim), Niels Annen, weiterer Abge- leitet werden, nur falsch sein. ordneter und der Fraktion der SPD Darüber hinaus ist der Antrag von einer unglaubli- Stärkung der Menschenrechtspolitik der Eu- chen Unkenntnis geprägt. Können Sie mir einmal sagen, ropäischen Union wie die buchstabengetreue Umsetzung der Grundsätze des Rüstungsgüterexports funktionieren soll? Wissen Sie – Drucksachen 16/3607, 16/4497 – denn nicht, dass sowohl in der Außen- und Sicherheits- politik als auch in der Exportpolitik in jedem Einzelfall Berichterstattung: abgewogen werden muss und dass es an keiner Stelle Abgeordnete Alois Karl eine einfache Entscheidung gibt? Aus diesem Grund Christoph Strässer dauern die Entscheidungsfindungsprozesse unserer ver- Burkhardt Müller-Sönksen antwortlich handelnden Regierung zum Teil viel länger, Michael Leutert als man es sich eigentlich wünscht. Wenn Sie das ein- Volker Beck (Köln) fach leugnen und so tun, als gäbe es einfache Lösungen b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- und als könne man vor der Verantwortung fliehen, indem richts des Ausschusses für Menschenrechte und man sagt: „Wir beschäftigen uns damit gar nicht mehr“, humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu der Unter- dann tut mir das leid. So werden Sie jedenfalls nicht richtung durch die Bundesregierung ernst genommen werden können. EU-Jahresbericht 2006 zur Menschenrechts- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- lage neten der SPD und der FDP) Ratsdok. 5779/07

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: – Drucksachen 16/4635 Nr. 2.2, 16/5603 – Ich schließe die Aussprache. Berichterstattung: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Abgeordnete Holger Haibach Drucksache 16/5456 an die in der Tagesordnung aufge- Christoph Strässer führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Burkhardt Müller-Sönksen verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Michael Leutert so beschlossen. Volker Beck (Köln) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10795

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) c) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (C) CSU und der SPD Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Den Europäischen Gerichtshof für Menschen- rechte reformieren und durch die konsequente Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem Befolgung seiner Urteile stärken Kollegen Christoph Strässer, SPD-Fraktion. – Drucksache 16/5734 – Christoph Strässer (SPD): d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe richts des Ausschusses für Menschenrechte und Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren in dieser De- humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) batte unter anderem über den achten Jahresbericht der EU zur Menschenrechtslage. Dieses Dokument beschäf- – zu dem Antrag der Abgeordneten Holger Hai- tigt sich mit der internen und der externen Menschen- bach, Erika Steinbach, Eduard Lintner, weiterer rechtspolitik der Europäischen Union. Es hat ein stolzes Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Volumen von weit über 250 Seiten. Ich möchte mich auf sowie der Abgeordneten Christoph Strässer, drei Bereiche beschränken, die mit der Umsetzung men- Doris Barnett, Kurt Bodewig, weiterer Abge- schenrechtlicher Grundsätze und Standards in den euro- ordneter und der Fraktion der SPD päischen Staaten mittelbar und unmittelbar zu tun haben. Den Erfolg des Europäischen Gerichtshofes Der erste Bereich wird in diesem Bericht zwar nicht für Menschenrechte durch die konsequente ausdrücklich erwähnt; dennoch glaube ich, dass er ge- Befolgung seiner Urteile sichern rade angesichts der zu Ende gehenden deutschen EU- – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Werner Ratspräsidentschaft eine ganz wichtige Rolle spielt. Ich Hoyer, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, meine damit zumindest einen Teil des sogenannten Ver- Burkhardt Müller-Sönksen, weiterer Abgeord- fassungsprozesses. neter und der Fraktion der FDP In diesen Tagen sind in unseren Wahlkreisen die soge- Den Europäischen Gerichtshof für Men- nannten Europabusse unterwegs. Durch diese Busse schenrechte vor dem Kollaps bewahren wird Europa vielen jungen Leuten, vielen Schülerinnen und Schülern vorgestellt. Man spricht über Grundsätze – zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Beck des Zusammenlebens auf unserem Kontinent. Als Ergeb- (Köln), Omid Nouripour, Rainder Steenblock, nis meiner eigenen Erfahrungen kann ich nur sagen: Den weiterer Abgeordneter und der Fraktion des jungen Leuten geht es nicht um Quadratwurzeln und an- (D) (B) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN dere Dinge – so wichtig das für uns und für das Funktio- nieren der Europäischen Union ist –; vielmehr stellen sie Den Europäischen Gerichtshof für Men- die Frage: Wie leben wir eigentlich materiell in diesem schenrechte stärken europäischen Verbund? – Drucksachen 16/4417, 16/4062, 16/4405, 16/ Das Allerwichtigste ist aus meiner Sicht – ich glaube, 5768 – das gilt für viele andere auch – die Verbindlichmachung Berichterstattung: der sogenannten Grundrechtecharta, die wir bereits be- Abgeordnete Holger Haibach schlossen haben. Wenn man Europa an dieser Stelle für Christoph Strässer die Menschen lebbar, erfahrbar und greifbar machen Burkhardt Müller-Sönksen will, dann gilt es, sich verbindlich auf die gemeinsamen Michael Leutert Werte Demokratie, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Volker Beck (Köln) Menschenrechte zu berufen. Dafür sollten wir uns auch heute noch einsetzen. Ich bitte die Bundesregierung ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Werner herzlich, an dieser Stelle nicht nachzugeben und klarzu- Hoyer, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Burk- stellen, dass die Europäische Union eine verbindliche hardt Müller-Sönksen, weiterer Abgeordneter und Grundrechtecharta braucht; sonst wird vieles unglaub- der Fraktion der FDP würdig. Den Europäischen Gerichtshof für Menschen- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem rechte vor dem Kollaps bewahren BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Drucksache 16/5738 – Ich möchte einen zweiten Bereich ansprechen, der in diesem Bericht, der sich auf die Zeit von Mitte 2005 bis ZP 6Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Juni 2006 bezieht, eine große Rolle spielt. Das ist die Beck (Köln), Omid Nouripour, Rainder Steenblock, Handlungsfähigkeit der Europäischen Union in den Ver- weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- einten Nationen in internationalen Zusammenhängen. NISSES 90/DIE GRÜNEN Ich möchte einen Bereich herausgreifen, der gerade in Den Europäischen Gerichtshof für Menschen- den letzten Tagen in unseren Debatten eine große Rolle rechte stärken gespielt hat, nämlich die Einrichtung und die Arbeit des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen. Wir alle, – Drucksache 16/5735 – die wir uns mit diesem Thema befassen, sind nicht in 10796 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Christoph Strässer (A) letzter Konsequenz glücklich mit dem, was dort passiert. ich noch nicht beurteilen kann. Wenn es aber so ist, dass (C) Aber – das sollten wir zur Kenntnis nehmen und gebüh- es in Europa, im Europa der 27, Gefängnisse gibt, in de- rend werten – dass es einen Menschenrechtsrat gibt und nen gefoltert wird, wenn es zutrifft, dass es von europäi- dass er sich jetzt auf verbindliche Arbeitsformen ver- schem Boden aus, gegebenenfalls mit Zustimmung der ständigt hat, ist ein Verdienst der Ratspräsidentschaft, Regierung, zu Überstellungen in Länder kommt, in de- ein Verdienst der westlichen Staaten. Deshalb sage ich nen gefoltert wird und die Todesstrafe gilt, dann ist das für unsere Fraktion einen ganz besonders herzlichen ein Thema, vor dem wir in der Europäischen Union nicht Dank an Michael Steiner, der das in ganz harter Arbeit die Augen verschließen dürfen. Diese Vorwürfe müssen durchgesetzt hat. aufgeklärt werden. Ich hoffe und erwarte, dass dies ge- lingt und dass auch wir hier im Deutschen Bundestag (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Winfried mit den Ausschüssen, mit den Mitteln, die uns zur Verfü- Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) gung stehen, Klarheit schaffen. Von europäischem Bo- Da ist nicht alles Gold, was glänzt. Aber wir haben den dürfen keine Menschen in Systeme überführt wer- uns darauf verständigt, im Menschenrechtsrat weiterhin den, in denen es eine menschenrechtswidrige Praxis gibt. Länderberichterstattungen durchzuführen. Dabei gehen Das sollte für uns ganz selbstverständlich sein. wir von einem Quorum aus, das es nicht von vornherein (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie unmöglich macht, sich mit menschenrechtswidrigen bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- Vorfällen zu befassen. Das ist für uns ganz wichtig. NISSES 90/DIE GRÜNEN) Ohne das System der sogenannten Peer-Reviews zur Überprüfung menschenrechtlicher Standards, ohne die Einen letzten Punkt möchte ich noch ansprechen – ich Aufrechterhaltung des Systems der Berichterstatter wäre habe mir geschworen, dass er bei allen menschenrechtli- der Menschenrechtsrat ein zahnloser Tiger. Das ist das chen Debatten eine Rolle spielen soll –: Auf Seite 65 des Einzige, was im Moment von dem großen Reformpro- hier zu diskutierenden Berichtes heißt es unter der Über- zess der Vereinten Nationen übrig geblieben ist. Wenn schrift „Strategische Ziele 2005–2009“ – es geht hier um der Menschenrechtsrat keine vernünftige Arbeit im die EU-Kommission –: Die Rechte des Kindes sind uns Sinne der Menschen in der ganzen Welt machte, dann ein vorrangiges Anliegen. Im April 2005 wurde eine be- würde den Vereinten Nationen ein wichtiges Standbein sondere Initiative mit Blick auf die weitere Förderung, genommen. Deshalb sind wir sehr froh darüber, dass un- den Schutz und die Berücksichtigung der Rechte des ter unserer Führung, unter der Führung der westlichen Kindes bei den internen und externen Maßnahmen der Staatengemeinschaft, diese Werte verankert worden sind EU auf den Weg gebracht. – Das ist gut. Ich interpretiere und der Menschenrechtsrat in Zukunft, so hoffe ich, eine das so: Das ist ein Auftrag an uns, an die Bundesregie- erfolgreiche Arbeit leisten kann. rung. (B) (D) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms) bei Abgeordneten der FDP) Es wäre ein grandioser Erfolg für die deutsche Menschen- Ich möchte einen dritten Bereich ansprechen. Da wird rechtspolitik, wenn die Bundesregierung zum Schluss ih- ein Stück weit Selbstkritik und auch Blick über den eige- rer Ratspräsidentschaft erklären würde, dass die noch nen Horizont hinaus vermittelt. Die europäischen Werte existierenden Vorbehalte zur Kinderrechtskonvention zu- der Aufklärung, der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit rückgenommen werden. und der allgemeinen Geltung der Menschenrechte sind für viele Menschen in anderen Teilen der Welt eine Herzlichen Dank. große Hoffnung. Deshalb ist es sehr gut, dass es gelun- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem gen ist, in der Arbeit der Europäischen Kommission die BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sogenannten Leitlinien zur Menschrechtspolitik in be- stimmten Bereichen weiterzuentwickeln. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich finde es ausgesprochen gut, dass in diesen Tagen Das Wort hat der Kollege Burkhardt Müller-Sönksen von Italien ein Angebot zur Ächtung der Todesstrafe von der FDP-Fraktion. weltweit gekommen ist. Wir sollten uns dieser Initiative anschließen und sie massiv unterstützen. Das ist eines (Beifall bei der FDP) der zentralen Anliegen deutscher Menschenrechtspoli- tik. Burkhardt Müller-Sönksen (FDP): Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gen! Wir beraten heute unter dem Tagesordnungspunkt 8 der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS- nicht nur den EU-Jahresbericht 2006 zur Menschen- SES 90/DIE GRÜNEN) rechtslage, sondern auch einen wahren Wust von Anträ- Das Gleiche gilt für die Leitlinien zur Verhütung von gen und Beschlussempfehlungen. Allein zum Europäi- Folter und erniedrigender Behandlung. Auch dazu ha- schen Gerichtshof für Menschenrechte finden wir auf ben wir klare Positionen. Ich möchte an dieser Stelle et- der Tagesordnung drei Anträge und außerdem eine Be- was Selbstkritisches sagen: Wir müssen uns nach dem schlussempfehlung zu drei weiteren Anträgen, die be- Wertekanon der Europäischen Union fragen lassen, ob in reits für erledigt erklärt wurden. Der Grund für dieses unseren eigenen Strukturen alles in Ordnung ist. Ich heillose Durcheinander besteht darin, dass wir im Men- habe bestimmte Berichte gelesen, deren Wahrheitsgehalt schenrechtsausschuss den Versuch unternommen haben, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10797

Burkhardt Müller-Sönksen (A) auf der Basis des ursprünglichen FDP-Antrags „Den (Holger Haibach [CDU/CSU]: 44,1 Millionen! Wenn (C) Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vor dem Sie schon Zahlen nennen, dann richtig!) Kollaps bewahren“ auf Drucksache 16/4062 zu einem fraktionsübergreifenden Antrag zur Stärkung des Euro- Nur zum Vergleich: Der G-8-Gipfel in Heiligendamm päischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu kommen. hat Kosten von mehr als 100 Millionen Euro verursacht. Dieser Versuch ist in letzter Minute gescheitert; denn der Herausgekommen ist als eines der wichtigsten Ergeb- zuständige Berichterstatter der CDU/CSU im Haushalts- nisse eine Fußnote zum Klimaschutz. Der Europäische ausschuss meldete an, dass er eine Kernforderung des Gerichtshof für Menschenrechte hat allein im Jahr 2005 gemeinsamen Antrags nicht mittragen könne. Es handelt in 1 105 Fällen – Herr Kollege Haibach, ich kann auch sich dabei um die Forderung, eine – ich zitiere aus dem die Zahlen ganz genau vorlesen – Recht gesprochen und ursprünglichen Antrag – „angemessene Erhöhung der damit einen wesentlichen und unmittelbaren Beitrag finanziellen Mittel“ für den Gerichtshof vorzusehen, da- zum Schutz der Menschenrechte von 800 Millionen mit dieser in die Lage versetzt wird, seine jetzige und Menschen in 47 Mitgliedstaaten des Europarates geleis- künftige Arbeitslast zu bewältigen. tet. Verstehen Sie, meine Damen und Herren, mich bitte nicht falsch: Ich möchte die guten Ergebnisse des Heili- Meine Damen und Herren, der Europäische Gerichts- gendammer G-8-Gipfels nicht kleinreden oder gar die hof für Menschenrechte ist – da sind wir uns alle einig – Bedeutung des Klimawandels infrage stellen. Vielmehr die bedeutendste Einrichtung für den Menschen- geht es mir darum, zu zeigen, welch wichtigen Beitrag rechtsschutz in Europa. In seiner Aufgabe und seinen der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ange- Mechanismen ist der Gerichtshof weltweit einzigartig. sichts seiner extrem knappen Finanzausstattung leistet. Er ist nicht nur Symbol, sondern auch Maßstab und Be- Das muss hier erlaubt sein. wahrer des hohen Menschenrechtsstandards in Europa. Ebendieser Gerichtshof befindet sich allerdings auch in Ich finde es schon sehr erstaunlich, wenn die Regie- der tiefsten Krise seit seiner Errichtung. Diese tiefe rungskoalition mit ihrem nunmehr eingebrachten Antrag Krise wurde auch durch den Menschenrechtskommissar zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte so- des Europarates, Thomas Hammarberg, bei einer An- gar hinter das zurückfällt, wozu sie sich vorher bereits sprache letzte Woche in Berlin konstatiert. selbst bekannt hatte. In ihrem Antrag zur Stärkung der Menschenrechtspolitik in der Europäischen Union, der Um es etwas bildhafter auszudrücken: Der Europäi- vor Beginn der deutschen EU-Ratspräsidentschaft einge- sche Gerichtshof für Menschenrechte droht in absehba- bracht wurde, lässt die Regierungskoalition durchaus rer Zeit zu kollabieren, weil er durch eine immer größer mehr Problembewusstsein erkennen, was die dürftige werdende Flut an Klagen geradezu erstickt wird. Sie alle Finanzierung des Gerichtshofes angeht. (B) kennen die schier unglaubliche Zahl von 90 000 anhän- (D) gigen Verfahren. Jedes Jahr kommen 50 000 hinzu. In diesem Antrag wird die Bundesregierung unter 50 000 neue Verfahren jährlich – auch das wissen Sie – Punkt 25 aufgefordert – ich zitiere –, „sich für eine sind mit kleineren Reformen, wie etwa dem kürzlich ra- finanzielle Stärkung des Europäischen Gerichtshofs für tifizierten 14. Zusatzprotokoll, überhaupt nicht zu be- Menschenrechte einzusetzen“. Der Rückschritt, der seit wältigen. Das war ein Tropfen auf den heißen Stein. Das der Einbringung dieses Antrags bei der Regierungskoali- wirkungsvollste und deshalb entscheidende Mittel zur tion eintrat, ist beachtlich. Denn der angestrebte frak- Stärkung des Gerichtshofes besteht darin, die enorme tionsübergreifende Antrag ist – ich erwähnte es bereits – Unterfinanzierung des Gerichtshofes schnellstmöglich daran gescheitert, dass ein Haushaltspolitiker aus der zu beenden. Koalition die finanzielle Stärkung des Gerichtshofes nicht mittragen wollte. Das ist das genaue Gegenteil von (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten konsequenter Politik! Eine solche Politik ist angesichts der SPD) der großen Bedeutung des Europäischen Gerichtshofes Wer eine deutliche Erhöhung der finanziellen Mit- für Menschenrechte unwürdig und für meine Fraktion tel für den Gerichtshof ablehnt, ist bereit, sehenden Au- nicht hinnehmbar. ges die fortschreitende Paralysierung des Gerichtshofes in Kauf zu nehmen. Ein anderes Beispiel, bei dem die hier regierende Koalition ein eklatantes Maß an Inkonsequenz gezeigt (Holger Haibach [CDU/CSU]: Wer lehnt die hat, ist Usbekistan. Im Antrag der Regierungskoalition denn ab? – Gegenruf des Abg. Jürgen Trittin zur Stärkung der EU-Menschenrechtspolitik wird die [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: CDU/CSU!) Bundesregierung unter Punkt 8 aufgefordert, „bei der re- gionalen Schwerpunktsetzung ,Zentralasien‘ während Er spielt damit Staaten wie Russland in die Hand, die of- ihrer Ratspräsidentschaft auf die Achtung der Men- fenbar zielgerichtet das Interesse verfolgen, den Ge- schenrechte großes Gewicht zu legen“. Wir haben in die- richtshof schlicht durch quantitative Überbeanspruchung sem Hause bereits häufig darüber gesprochen. Auch hier auszuschalten. sind Sie hinter Ihren eigenen Vorgaben und Wertvorstel- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten lungen zurückgeblieben. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren, mit einer solchen Politik, Über welche Beträge reden wir hier eigentlich? Das die selbst vor so offensichtlichen Inkonsequenzen nicht Jahresbudget des Gerichtshofes belief sich für das Jahr zurückschreckt, untergraben wir die Glaubwürdig- 2006 auf 44 Millionen Euro. keit der Menschenrechtspolitik unseres Landes, der 10798 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Burkhardt Müller-Sönksen (A) Bundesrepublik Deutschland. Meine Fraktion wird sich fassungsvertrages wieder flott zu bekommen. Wir wis- (C) daran nicht beteiligen. sen, so lange die Charta der Grundrechte nicht in einem irgendwie gearteten Verfassungsvertrag steht, so lange (Beifall bei der FDP) die Grundrechte in Europa nicht kodifiziert sind, kom- men sie gleichsam hinkend daher. Das muss jede Regie- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: rung in Europa erkennen. Die Bemühungen um eine eu- Das Wort hat nun der Kollege Alois Karl von der ropäische Einigung einerseits und die Stärkung der CDU/CSU-Fraktion. Menschenrechte in der Europäischen Union andererseits lassen sich nicht trennen. Auch sie sind quasi eineiige Alois Karl (CDU/CSU): Zwillinge. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Das sollten auch unsere östlichen Nachbarn erkennen. ren! Wir befassen uns heute zum wiederholten Male im Wenn es in deren Hymne heißt „Noch ist Polen nicht Deutschen Bundestag mit dem Querschnittsthema Men- verloren“, rufen wir ihnen zu: Auch der europäische schenrechtspolitik, mit einem Thema, das weit über die Grundlagenvertrag darf nicht verloren gehen! Im Gegen- flüchtige Tagespolitik hinausgeht. Es war daher gut, dass teil, er muss gerade um der Menschenrechte willen vor- die deutsche EU-Ratspräsidentschaft im letzten halben angebracht werden. Jahr das Thema Menschenrechtspolitik häufig aufgegrif- fen hat. Themen der Menschenrechtspolitik sind vielfach an- gesprochen worden. Ich erwähne ausschnittsweise den Das vergangene halbe Jahr war ein gutes Jahr für EU-Russland-Gipfel in Samara, bei dem Bundeskanz- Europa, gerade auch aus der Sicht der Menschenrechte. lerin Merkel gegenüber Putin ganz offen die Gewalttä- Manches wurde im ersten Halbjahr 2007 erfüllt; vieles tigkeiten russischer Sicherheitsbehörden gegen friedli- hat die deutsche Ratspräsidentschaft in Bewegung ge- che Demonstranten angesprochen hat. Diese Offenheit bracht. Die Arbeit der Ratspräsidentschaft, der Bundes- und dieser Mut haben ihr Respekt eingebracht. Die regierung und der Kanzlerin auf diesem Feld verdienen Kanzlerin blieb ihrer Linie treu. So wie sie gegenüber unseren Respekt. George Bush auf die Unerträglichkeit des Lagers von In unsere Ratspräsidentschaft fiel der 50. Jahrestag Guantánamo hingewiesen hatte, hat sie dem russischen der Römischen Verträge und die Berliner Erklärung. Der Präsidenten unmissverständlich die Meinung gesagt, und Weg von Rom nach Berlin war weit. Die europäische Ei- das war, wie ich denke, die Meinung des Deutschen nigung, 1957 durch die Staatsmänner Europas begonnen, Bundestages insgesamt. Auch die Reisebeschränkungen ist eine Erfolgsgeschichte für unseren Kontinent, gleich- zulasten des früheren Schachweltmeisters Garri (B) sam ein goldenes Zeitalter. Wir können auf 50 Jahre Kasparow sind deutlich angesprochen worden. (D) Frieden und Freiheit im westlichen Europa zurück- In Heiligendamm haben die Repräsentanten der acht schauen. Die vom Kommunismus ihrer Freiheit beraub- Länder bekräftigt, dass sie die grundlegende Bedeutung ten Völker Mittel- und Osteuropas sind heute ganz natür- des Schutzes und der Förderung der Menschenrechte an- lich Glieder der Europäischen Union. In Deutschland erkennen. Bemerkenswert ist, dass sie nicht bloß finan- haben wir wirtschaftlichen Wohlstand erleben dürfen, zielle Entwicklungshilfe leisten wollen, sondern die dazu die deutsche Wiedervereinigung. Der Weg von der Menschenrechte in Afrika an oberste Stelle setzen. Wir Wirtschaftsgemeinschaft zur Europäischen Union wurde sehen darin eine Chance, Bürgerkriege zu vermeiden in logischen Schritten zurückgelegt. Die positive wirt- und uns eines der unseligsten Kapitel der Gegenwart, der schaftliche Entwicklung ging Hand in Hand mit einer Kindersoldaten, anzunehmen. Bis zu 300 000 Kinder stärkeren Respektierung der Menschenrechte. Sie sind weltweit sollen als Soldaten missbraucht werden. Wir heute stärker denn je im Fokus unserer Politik. danken der Bundesregierung, dass sie diese massive In diesem Zusammenhang ist die Berliner Erklärung Form der Menschenrechtsverletzung ausdrücklich ange- vom März 2007 wertvoll. Ein Meilenstein ist es, dass sprochen hat, zuletzt bei der Pariser Konferenz am sich die 27 Staats- und Regierungschefs feierlich zu den 5. Februar dieses Jahres. Bürger- und Freiheitsrechten bekannt haben. Sie haben (Beifall bei Abgeordneten der SPD) zum Beispiel proklamiert, dass die abscheulichsten Feinde der Menschenrechte, nämlich Rassismus und In Heiligendamm haben sich die acht Staaten ver- Fremdenfeindlichkeit, nie wieder auf unserem Kontinent pflichtet, 60 Milliarden Dollar für bessere Gesundheits- eine Chance erhalten sollen. Allein dies rechtfertigt es, systeme in afrikanischen Staaten aufzuwenden. Das ist von einem guten Halbjahr zu sprechen. ein augenscheinlicher Erfolg. HIV/Aids, Tuberkulose und Malaria können auf diese Art und Weise einge- Unser Ziel bleibt es nach wie vor, die Charta der dämmt werden. Viele Flüchtlinge der Bürgerkriege, de- Grundrechte in einen europäischen Verfassungsver- ren Bürgerrechte mit Füßen getreten werden, können so trag aufzunehmen. wenigstens medizinische Versorgung erlangen. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) In diesem Zusammenhang denke ich auch an die furchtbare Situation in Darfur. Um dort menschenwür- Wir wissen, dass dieser Vorgang ins Stocken geraten ist. dige Zustände herbeizuführen, haben die Machthaber Wir erkennen die Bemühungen der Bundesregierung zugestimmt, jetzt endlich internationalen Beobachtern und der Kanzlerin an, den dümpelnden Tanker des Ver- und Friedenstruppen Zugang zu gewähren. Die von Hei- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10799

Alois Karl (A) ligendamm ausgehende Darfurerklärung hat offensicht- Die Europäische Union hat mehrfach bekräftigt, (C) lich den internationalen Druck auf das Regime im Sudan dass Terrorismusbekämpfung unter Wahrung von entscheidend erhöht. Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit erfolgen muss. Die EU sollte deshalb der Welt ein Vorbild (Beifall bei der CDU/CSU) sein. Wir hoffen, dass die Machthaber dort ihre Zusagen nicht Weiter: widerrufen, wie das schon häufiger der Fall war. Die deutsche EU-…Ratspräsidentschaft sollte ihren Manches ist in Bewegung gekommen: Der Internatio- Einfluss geltend machen, damit weder innerhalb nale Strafgerichtshof wurde gestärkt. Die Zusammenar- Europas noch mit Wissen oder Mitwirkung von beit mit der serbischen Regierung ist in Gang gekom- EU-Staaten außerhalb Europas Menschen im Na- men; der gesuchte General Tolimir wurde ausgeliefert. men des Anti-Terror-Kampfes entführt, gefoltert Die Europäische Agentur für Grundrechte, also oder erniedrigend behandelt und illegal an gehei- das Kompetenzzentrum für Menschenrechte, hat in Wien men Orten festgehalten werden. ihre Arbeit aufgenommen. (Christoph Strässer [SPD]: Das können wir Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte be- alle unterschreiben!) darf einer Reform; Herr Müller-Sönksen hat es ange- Dies ist ein klarer Verstoß gegen die EMRK. sprochen. 40 000 neue Klagen pro Jahr (Christoph Strässer [SPD]: Zustimmen!) (Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: 50 000!) – Ja, das ist zustimmungsfähig. machen dieses Gericht in der Tat fast handlungsunfähig. Weiterhin liegt uns eine Beschlussempfehlung zum Vor einer neuen Aufgabe stehen wir dadurch, dass mit EU-Jahresbericht 2006 zur Menschenrechtslage vor. Ich der Aufnahme von Rumänien und Bulgarien zitiere wieder: 10 Millionen Sinti und Roma in die Europäische Union Der Deutsche Bundestag anerkennt die Bemühun- gekommen sind. Ihre Situation ist, auch in menschen- gen der EU für ein weltweites Folterverbot. Er for- rechtlicher Hinsicht, bedenklich. dert die Bundesregierung auf, gemeinsam mit den Die Menschenrechtsdialoge mit China vor den Olym- EU-Partnern weiterhin für eine weltweite Ratifizie- pischen Spielen, mit Russland und Iran müssen fortge- rung des VN-Übereinkommens gegen Folter bzw. setzt werden. Ebenso müssen die Zustände in Usbekistan des Zusatzprotokolls sowie für Maßnahmen der (B) und Turkmenistan weiterhin auf der Tagesordnung blei- Verhütung von Folter und der Rehabilitierung von (D) ben. Folteropfern einzutreten. Mit Sorge hat der Deut- sche Bundestag eine aktuelle Studie von amnesty Zusammenfassend darf ich sagen: Das letzte halbe international zur Kenntnis genommen, in der Defi- Jahr unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft war ein gu- zite der EU-Verordnung … für den Handel mit zur tes halbes Jahr, gerade aus Sicht der Menschenrechts- Folter geeigneten Elektroschockgeräten festgestellt politik. Wir haben gute Entwicklungen gesehen. Rück- wurden. Der Deutsche Bundestag empfiehlt der blickend können wir problemlos festhalten: Die deutsche EU, die Verordnung auf ihre Wirksamkeit hin zu EU-Ratspräsidentschaft war auf dem Feld der Men- überprüfen. schenrechtspolitik erfolgreich. Der Einsatz der Bundes- regierung und der Kanzlerin verdienen ausdrücklich un- So weit das, was auf dem Papier steht. seren Respekt und unsere Anerkennung. (Christoph Strässer [SPD]: Unterschreiben!) Vielen herzlichen Dank. Ich komme jetzt zu den Fakten. In einer der letzten (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Menschenrechtsausschusssitzungen war dieser Amnesty- International-Report Anlass, uns vom Bundesministe- rium für Wirtschaft und Technologie unterrichten zu las- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: sen. Auf zweimalige Nachfrage von mir wurde mir dann Das Wort hat der Kollege Michael Leutert von der bestätigt: Jawohl, es wurden Fußfesseln nach Saudi- Fraktion Die Linke. Arabien geliefert, die wohl unter das Exportverbot fal- (Beifall bei der LINKEN) len. Ich habe mir das schriftlich geben lassen. Die schrift- Michael Leutert (DIE LINKE): liche Antwort der Bundesregierung ist es meines Erach- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! tens wert, hier ebenfalls zitiert zu werden: Mein Beitrag heute wird vielleicht etwas unkonventio- Frage … nell, aber, so denke ich, angemessen sein. Uns liegen heute mehrere Beschlussvorlagen vor, unter anderem ein Wann und mit welcher Begründung genehmigte die Antrag der Koalition mit dem Titel „Stärkung der Men- Bundesregierung … die Ausfuhr von 69 Fußfesseln schenrechtspolitik der Europäischen Union“. Ich darf zi- nach Saudi-Arabien im Jahre 2002 (Bescheid als tieren: Anlage beifügen)? 10800 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Michael Leutert (A) Antwort: Für den Fall, dass diese Amnesty-Berichte im Minis- (C) terium nicht bekannt sind, können wir sie gern weiterlei- Die Genehmigung zur Ausfuhr von 69 … Fußfes- ten. seln zur Endverwendung in Saudi-Arabien im Wert von 3.140 EURO wurde am 22. März 2002 Vielleicht ist auch etwas anderes noch nicht bekannt – dies ist der Amnesty-Bericht für 2003 –: – leider zu Zeiten von Rot-Grün, muss ich hinzufügen – Saudische Gerichte verhängten weiterhin routine- durch das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhr- mäßig Körperstrafen bis hin zu körperlichen Ver- kontrolle … erteilt. Es handelte sich um eine Zulie- stümmelungen, die ebenso routinemäßig vollstreckt ferung an eine schweizerische Firma, die ihrerseits wurden. von einem anderen schweizerischen Unternehmen Und weiter: beauftragt worden war. Die ausgeführten Fußfes- seln dienten der Ausbildung und dem Training von Ein im März freigelassener gewaltloser politischer Einheiten staatlicher Sicherheitskräfte in Saudi- Gefangener gab an, man habe ihn in der Haft an Arabien und wurden an ein entsprechendes Trai- Händen und Füßen gefesselt, geschlagen und am ningszentrum geliefert. Eine Endverbleibserklärung Schlafen gehindert. lag vor. Die beantragte Ausfuhr wurde genehmigt, Auch wenn das etwas unkonventionell war, so glaube da dem BAFA das Gesamtprojekt der Ausrüstung ich doch, dass all diese Zitate für sich sprechen. Im Na- der Trainingszentren bekannt und die Verwendung men der Linken sage ich: Solange solche Tatsachen nicht der Fußfesseln im Rahmen des Projekts plausibel in unseren Papieren stehen, sind die Papiere es nicht waren. Anhaltspunkte für Menschenrechtsverlet- wert, hier behandelt und womöglich beschlossen zu wer- zungen im Rahmen des Trainingsprojektes den. Die Linke lässt sich an Taten und nicht an Worten messen. Wir werden die Vorlagen deshalb ablehnen. – es wäre ja auch absurd, wenn es im Trainingsprojekt zu Menschenrechtsverletzungen kommt – (Beifall bei der LINKEN)

oder Anhaltspunkte für eine zweckwidrige Verwen- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: dung bestanden nicht. Das Wort hat der Kollege Volker Beck von Bündnis 90/Die Grünen. Der Genehmigungsbescheid unterliegt … als Be- triebs- und Geschäftsgeheimnis der Geheimhaltung. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (B) Deutschland ist also nicht bloß bei Waffen Exportwelt- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kurz vor (D) meister, sondern auch bei Dingen, die zur Folter verwen- Ende der EU-Ratspräsidentschaft der Bundesrepublik det werden können. Deutschland diskutieren wir heute über die Menschen- rechtspolitik in der Europäischen Union. Nun fragt man sich natürlich: Was trainieren saudi- arabische Sicherheitskräfte in einem Trainingslager mit Man muss leider sagen, dass die EU-Ratspräsident- Fußfesseln? schaft in Sachen Menschenrechte etwas unglücklich ge- startet ist. In dem einschlägigen Dokument zur Ratsprä- (Christel Riemann-Hanewinckel [SPD]: Nach- sidentschaft taucht das Thema Menschenrechte nicht ein fragen!) einziges Mal auf. Auf unsere Nachfrage hin hat man uns gesagt, das sei ein Versehen gewesen, das Thema werde Im Jahresbericht 2002 von Amnesty International steht selbstverständlich berücksichtigt, man habe aber leider zu Saudi-Arabien unter der Überschrift „Folterungen in vergessen, es in dem Text aufzuführen. der Haft“ – Zitat –: Gerettet werden soll das Ganze durch den Antrag der Kalesh, ein indischer Staatsangehöriger, der des Koalition, der heute zur Beschlussfassung vorliegt. Da- Diebstahls beschuldigt und ohne Kontakt zur Au- durch soll der Bundesregierung gesagt werden, was im ßenwelt in Haft gehalten worden war, gab nach sei- Rahmen der Ratspräsidentschaft hinsichtlich der Men- ner Freilassung im Dezember 2000 Folgendes an: schenrechtspolitik zu tun ist. Die Bundesregierung hat „Da waren drei Personen in Zivilkleidung (…) Sie nicht mehr viel Zeit, das umzusetzen. hatten einen Knüppel mit Seilen an jeder Seite (…) (Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Neun Ich wurde aufgefordert, mich auf den Boden zu set- Tage!) zen (…) Während ich mit Handschellen und Fuß- ketten gefesselt war, wurde der Knüppel mit den Das ist vom Parlament nicht ganz fair. Seilen durch meine Kniekehlen hindurchgeführt Insgesamt zeigt das, dass es bei der Priorisierung in (…) und die Seile an meine mit Handschellen ge- Sachen Menschenrechte offensichtlich Mängel gibt. Das fesselten Hände gebunden. Ich wurde so zu einem sieht man auch, wenn man sich die konkrete Politik der Fußball (…) Ich saß bzw. lag auf dem Boden und EU-Ratspräsidentschaft anschaut, zum Beispiel zu Us- diese drei Teufel (…) begannen, mich zu treten und bekistan. Mitglieder der Koalition haben bei der Abstim- brutal mit einer Stange auf mich einzuschlagen (…) mung über unseren Änderungsantrag im Ausschuss Es gibt noch immer Spuren (…) von diesem Tag durch ihr Abstimmungsverhalten deutlich gemacht, dass auf meinem Körper …“ sie das eigentlich so sehen wie wir. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10801

Volker Beck (Köln) (A) Dass man der usbekischen Regierung eine Erleichte- nen und Bürger Grundlagen zu geben. Diese kann man (C) rung der Sanktionen angeboten und in Brüssel durchge- ihnen nur geben, wenn die Grundrechtseingriffe gleich- setzt hat, ist mir unerklärlich. Es gibt zwar jede Menge zeitig verfassungsrechtlich beschränkt sind. Das wäre Absichtserklärungen der usbekischen Regierung, sich mit der Grundrechtecharta zu erreichen. künftig menschenrechtskonformer zu verhalten, aber nicht eine einzige Tat, die in diese Richtung deutet, we- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der bei der Kontrolle der Gefängnisse durch das Interna- Die Bundesregierung hat sich bei der Menschen- tionale Rote Kreuz, noch gibt es bei den Menschen- rechtspolitik in der EU unter anderem für neue Leitlinien rechtsdialogen mehr als Blabla. zum Schutz der Rechte von Kindern eingesetzt. Dazu sage ich: Wunderbar, das wäre eine schöne Sache, wenn (Beifall des Abg. Burkhardt Müller-Sönksen man gleichzeitig im Inland glaubwürdig gewesen wäre [FDP]) und die Vorbehalte gegen die UN-Kinderrechtskonven- Wir würden gerne etwas Konkretes sehen. Die vielen po- tion zurückgenommen hätte. litischen Gefangenen, die seit dem Massaker von Andi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schan einsitzen, müssen es als Hohn empfinden, dass die sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP Bundesregierung für einen Teil der Verantwortlichen in und der LINKEN) Brüssel die Einreise nach Europa erkämpft hat. Das ist kein gutes Kapitel der deutschen EU-Ratspräsident- Man kann nicht nach außen predigen, was man innen schaft. nicht vollzieht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Lassen Sie mich, Herr Präsident, vielleicht noch einen und bei der FDP) Satz zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sagen; das betrifft den zweiten Teil der Debatte. Der Euro- Amnesty International hat gestern in einer Presse- päische Gerichtshof für Menschenrechte ist für die Bür- konferenz die Arbeit der deutschen Ratspräsidentschaft gerrechtler und Menschenrechtler vieler Länder im Euro- in diesem Bereich bewertet: außen hui, innen pfui. „Au- parat die einzige Remedur gegen Willkür und Repression. ßen hui“ bezieht sich auf die Erwähnung der Menschen- Unter den Menschenrechtlern in Russland erzählt man rechte im Rahmen der Zentralasienstrategie. sich immer den Witz: Was ist der beste Gerichtshof in der (Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Kostet ja Russischen Föderation? – Der Europäische Gerichtshof nichts!) für Menschenrechte in Straßburg. Denn das ist das einzige Gericht, das nach rechtsstaatlichen Grundsätzen urteilt, zu Das ist zwar gut und schön, zumindest auf dem Papier, dem russische Staatsbürger Zugang haben. aber an der Tatsache, dass die Sanktionen für Usbekistan (D) (B) erleichtert wurden, zeigt sich, dass Papier und tatsächli- Deshalb müssen wir ein Interesse daran haben, die che Politik nicht zusammenpassen. Boykottpolitik der Russischen Föderation gegen das 14. Zusatzprotokoll – ohne dieses Protokoll ersäuft der An der Kritik von Amnesty International – innen Gerichtshof in Arbeit, und es gibt keine schnellen Ur- pfui – zeigt sich, dass die Europäische Union Defizite teile – abzustellen, hat, wenn es um die Menschenrechte im Innern der EU geht. Bisher fehlen uns die Instrumente, um das aufzuar- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie beiten. Bei beitrittswilligen Ländern schauen wir sehr bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) genau hin, aber nur bis zum Beitritt. Danach fehlen uns indem wir sagen: Wenn das Zusatzprotokoll nicht unter- die Möglichkeiten, um kontrollieren zu können. Wir schrieben wird, müssen wir den Gerichtshof finanziell brauchen ein Monitoring, damit Menschenrechtsstan- und personell so ausstatten, dass er dieser Arbeit Herr dards auch innerhalb der Europäischen Union eingehal- werden kann und den Menschenrechten zum Durch- ten werden. Amnesty International erwähnt mehrere bruch verhilft. Das sind wir gerade den mutigen Men- Minderheiten, die in zahlreichen Mitgliedsländern der schen in Russland und in anderen Staaten, die sich an Europäischen Union Probleme haben: Das sind die den Gerichtshof wenden, schuldig. Deshalb finde ich es Roma, über die wir morgen reden werden, Muslime, an- traurig, dass wir hier einen Streit über Formulierungen in dere ethnische Minderheiten und Homosexuelle. den Anträgen hatten. Ich hoffe, dass diese Debatte am Ich hoffe, dass die neue EU-Grundrechteagentur, die Ende dazu führt, dass wir bei den Haushaltsberatungen von vielen eher erduldet als mit Begeisterung begrüßt gemeinsam – darauf kommt es mehr an als auf das Pa- wird, zu einer neuen Qualität führt. Wir müssen genauer pier hier – mehr Geld aufbringen. auf die Entwicklung hinsichtlich der Menschenrechte in- nerhalb der Europäischen Union achten. Auch die justi- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zielle und polizeiliche Zusammenarbeit innerhalb der Herr Beck. Europäischen Union muss genau unter die Lupe genom- men werden. Denn bei der gemeinsamen Bekämpfung Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): des internationalen Terrorismus brauchen wir – wir Ansonsten würden wir Herrn Putin unnötigerweise ei- haben vorhin alle beschworen, wie wichtig die Grund- nen Gefallen tun. rechtecharta ist; darüber sind wir uns in diesem Haus ei- nig – eine europäische verfassungsrechtliche und grund- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rechtliche Basis, um kooperierenden europäischen sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Institutionen bei Eingriffen in die Rechte der Bürgerin- SPD und der FDP) 10802 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: einer Erhöhung der finanziellen Unterstützung des Euro- (C) Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Herta Däubler- päischen Gerichtshofes für Menschenrechte aufgestellt. Gmelin. Lieber Herr Müller-Sönksen, auch ich finde es ziemlich peinlich, dass man manchmal Seitenwind von Leuten Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): bekommt, die eine andere Auffassung vertreten. Wir sollten uns als Deutscher Bundestag vornehmen, über Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die die Fraktionsgrenzen hinweg eine größere finanzielle heute vorliegenden Anträge, über die wir beraten, ent- Unterstützung des Europäischen Gerichtshofes für Men- halten in der Tat eine Fülle von Menschenrechtsfragen. schenrechte durchzusetzen. Allein durch die Bündelung Das ist gut so. Wir werden diese Beratungen sehr viel unserer Kräfte könnten wir eine ganze Menge erreichen. häufiger durchführen müssen, weil wir alle – ich glaube, Dazu möchte ich heute einen Beitrag leisten. das eint uns – davon ausgehen, dass Menschenrechtspo- litik eben kein Sahnehäubchen auf dem Kuchen, sondern Aber wir brauchen noch mehr: Ich meine die Verfah- ein essenzieller Pfeiler jeder stabilen und menschenwür- rensänderungen, die in unseren Anträgen enthalten sind. digen Gesellschaft ist. Sie gehört in jeden Politikbereich. Sie wurden von der Gruppe der Weisen erarbeitet, der wir für ihre Vorschläge sehr danken. Dadurch wird ge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der währleistet, dass der Gerichtshof nicht total überfordert FDP) wird. Dies gilt – lassen Sie mich das sagen – nicht nur na- Auch dadurch, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist tional, sondern selbstverständlich auch für die Europäi- nicht sichergestellt, dass der Gerichtshof auf Dauer das sche Union. Ich würde gern im Anschluss an Kollegen ist, was er sein muss, nämlich ein Leuchtturm der Men- Beck sagen: Wir haben im Bereich der Europäischen schenrechte und der Rechtsstaatlichkeit. Das kann er nur Union eine ganze Menge während unserer EU-Ratsprä- dann sein, wenn geeignete Persönlichkeiten als Richter sidentschaft erreicht. Das finde ich gut. Als eines der gewählt werden. Es müssen Juristen sein, die eine hohe Beispiele will ich die EU-Zentralasienpolitik erwäh- juristische Qualifikation haben, die unabhängig sind und nen, die jetzt einen außerordentlich starken und, wie ich die den Menschenrechten und Europa verpflichtet sind. finde, auch guten Menschenrechtsteil hat. Er muss jetzt Das ist heute noch nicht durch alle Verfahren zur Aus- umgesetzt werden. Ich erwähne das nicht allein, um die wahl gewährleistet. Dazu werden wir nicht nur im Deut- Regierung zu loben, obwohl ich es gut finde, wenn man schen Bundestag und im Ministerrat des Europarates, sie da lobt, wo man sie loben kann. Ich erwähne das viel- sondern auch in der Parlamentarischen Versammlung mehr deshalb, weil es durch unser gemeinsames Eintre- des Europarates, der in dieser Hinsicht eine ganz beson- ten im Ausschuss über alle Fraktionsgrenzen hinweg er- dere Aufgabe zu erfüllen hat, Überlegungen anstellen (B) reicht werden konnte. (D) müssen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Lassen Sie mich auf einen weiteren Punkt hinweisen, CDU/CSU) der politisch noch nicht hinreichend durchdacht worden Das ist unser Erfolg. Meiner Ansicht nach sollte man das ist, den wir allerdings genau deshalb in den Mittelpunkt nicht kleinreden. rücken müssen: Kein europäisches Gericht kann, auch wenn es noch so gute Arbeit macht, ein Menschenrechts- Ich würde jetzt sehr gerne einiges zum Europäischen schutzsystem auf nationaler Ebene ersetzen. Menschenrechtsgerichtshof sagen. Lieber Herr Müller- Sönksen, wir, das ganze Haus, sind uns alle einig, dass (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie dieser Gerichtshof eine einzigartige Institution ist. Wir bei Abgeordneten der FDP) wissen, dass der Europäische Gerichtshof für Menschen- rechte für 850 Millionen Europäerinnen und Europäer Das, was der Kollege Beck gerade als Witz dargestellt die einzige Möglichkeit darstellt, ihre Menschenrechte hat, ist leider Gottes kein Witz, sondern die bittere Wahr- geltend zu machen. Sie können sich an den Gerichtshof heit. Manchmal vermisse ich, dass die Regierungen, de- wenden und ihren Staat bzw. seine Behörden verklagen, ren Vertreter sich im Europarat, aber auch im Rahmen wenn diese in ihre Menschenrechte eingegriffen haben der Europäischen Union – auch hier gibt es in dieser oder sie ihnen vorenthalten. Das ist außerordentlich Frage Ansprechpartner – regelmäßig treffen, mit dem wichtig. nötigen Durchsetzungsvermögen darauf hinwirken, dass in den einzelnen Staaten nationale Menschenrechts- Für uns Deutsche ist das selbstverständlich, weil es schutzsysteme errichtet und funktionierende, effiziente die Möglichkeit, sich auf dem Wege der Verfassungsbe- und unabhängige Gerichte geschaffen werden. Wenn das schwerde an das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe nicht gelingt, dann wird der Europäische Gerichtshof für zu wenden, bei uns schon lange gibt. In anderen Staaten Menschenrechte in Straßburg immer weniger den Ein- ist das längst nicht üblich, auch nicht in allen Staaten Eu- fluss geltend machen können, den er haben könnte und ropas. In einigen Ländern hält man das auch heutzutage haben müsste. Immerhin vertritt er die Interessen von immer noch für ein gewisses Sakrileg, übrigens auch in 850 Millionen Europäern und hat Vorbildfunktion für solchen Staaten, die der Europäischen Menschenrechts- die ganze Welt. konvention beigetreten sind. Hinzu kommt Folgendes: Es geht nicht an, dass Ur- Weil wir dieser Auffassung sind, haben wir in den teile des Europäischen Gerichtshofes für Menschen- vorliegenden Anträgen gemeinsam die Forderung nach rechte in Straßburg nicht umgesetzt werden. Wir müssen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10803

Dr. Herta Däubler-Gmelin (A) uns Gedanken darüber machen, wie wir das ändern kön- glaube, der Kollege Strässer hat die richtige Formulie- (C) nen. Wir alle wissen, wie es in Deutschland ist: Eine rung gefunden: Wir können nicht mit allem glücklich Entscheidung, die das Bundesverfassungsgericht trifft, sein. Wir sind zufrieden, dass sich die Prozeduren in ei- hat Gesetzeskraft. Sie gilt für und gegen alle. Wehe, man nem Rahmen bewegen, mit dem wir leben können. hält sich nicht daran! Dann kommt der Gerichtsvollzie- her, und es folgt die Zwangsvollstreckung. Was den Eu- Wir können sicherlich nicht damit leben, dass Länder ropäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg wie Belarus oder Kuba von der Liste der zu beobachten- betrifft, ist das noch nicht so. Seine Entscheidungen gel- den Länder gestrichen worden sind. Das ist ein Angriff ten nur für oder gegen das betreffende Land. Wenn sich auf die Glaubwürdigkeit dieses Gremiums, und da müs- dieses Land nicht an die Entscheidung hält, kann man le- sen wir nacharbeiten. diglich eine individuelle Entschädigung verlangen, mehr (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nicht. Das heißt, auch hier muss die Durchsetzung stär- neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- ker vorangetrieben werden. Ich habe die Bitte an die SES 90/DIE GRÜNEN) Bundesregierung und an die beteiligten Ministerien, in Straßburg, aber auch in den anderen Bereichen, wo man Kollege Strässer hat zu Recht Herrn Botschafter das kann, auf diese beiden notwendigen Veränderungen Steiner gedankt, der dort, wie wir wissen, schon seit Jah- zu drängen. Sie sind genauso wichtig wie die personelle ren eine sehr wichtige Arbeit macht. Ich möchte in die- oder die finanzielle Verstärkung. sen Dank ausdrücklich Herrn Rothen vom Auswärtigen Amt und unseren Menschenrechtsbeauftragten, Günter (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Nooke, mit einschließen, der an dieser Stelle auch eine der CDU/CSU) wichtige Arbeit geleistet hat. Lassen Sie mich noch einen kleinen Punkt erwähnen, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und den ich bei allen vorliegenden Anträgen nicht gut finde: der SPD) die Verwendung des Wortes „Klageflut“. Das ist meiner Ansicht nach kein gutes Wort, es ruft negative Eindrücke Der Kollege Müller-Sönksen hat am Anfang dieser hervor. Doch es geht nicht um etwas Negatives. Im Ge- Debatte die Genese der verschiedenen Anträge zum genteil, die 850 Millionen Bürgerinnen und Bürger, de- Thema Menschenrechtsgerichtshof aus seiner Sicht dar- ren Länder Mitglied im Europarat sind, haben verstan- gestellt und – ich erlaube mir die Bemerkung – ein biss- den, dass sie die Menschenrechte brauchen, dass die chen Geschichtsklitterung betrieben. Ich würde das Menschenrechte ihnen persönlich zustehen, und wollen gerne an dieser Stelle richtigstellen, damit kein falscher sie wahrnehmen. Zungenschlag bleibt, nach dem Motto: Die FDP ist die (B) (Beifall des Abg. Burkhardt Müller-Sönksen Partei des Europäischen Gerichtshofs für Menschen- (D) [FDP]) rechte, ansonsten setzt sich keiner dafür ein. – Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass wir schon in unserem Wenn sie das tun, ist das keine „Klageflut“, sondern ist Antrag zur Stärkung der Menschenrechtspolitik der Eu- das eine hohe Anerkennung der Werte, die uns in Europa ropäischen Union vom November hereingeschrieben ha- verbinden. Dabei soll es bleiben. ben: Ganz herzlichen Dank. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rung auf, … sich für eine finanzielle Stärkung des der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte GRÜNEN) einzusetzen; Ich bitte Sie, darüber hinaus Punkt 7 auf Seite 3 des An- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: trags, den Sie so heftig kritisiert haben, zu lesen: Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort der Kollege Holger Haibach von der CDU/ Letztlich bleibt aber als elementare Voraussetzung CSU-Fraktion. für eine wirkungsvolle Arbeit des Gerichtshofs die Anpassung der finanziellen und personellen Aus- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) stattung des Gerichtshofs.

Holger Haibach (CDU/CSU): Wenn wir sagen, elementar ist die finanzielle Ausstat- Herr Präsident! Meine liebe Kolleginnen und Kolle- tung, was, mein lieber Kollege Müller-Sönksen, meinen gen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich wir dann, wenn wir über notwendige Grundlagen spre- glaube, es ist richtig und wichtig, dass wir am Vorabend chen? Doch genau das. des Endes der deutschen EU-Ratspräsidentschaft zu- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und rückblicken und, wie es viele Rednerinnen und Redner der SPD – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/ schon getan haben, schauen, was im letzten halben Jahr DIE GRÜNEN]: Warum sagen Sie nicht, was im Bereich der Menschenrechte geschehen ist. Sie meinen?) Die Europäische Union hat im letzten halben Jahr si- Insofern finde ich diese Debatte, mit Verlaub, scheinhei- cherlich viele wichtige Entscheidungen erlebt. Nicht zu- lig, letzt hat uns die Entscheidung, wie es mit dem Men- schenrechtsrat weitergeht, lange beschäftigt. Ich (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 10804 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Holger Haibach (A) vor allen Dingen vor dem Hintergrund, dass die Kollegin schenrechte überwachen und bei denen die Menschen (C) Däubler-Gmelin darauf hingewiesen hat, dass die Sache Beschwerde einlegen können. Der Menschenrechtsge- komplizierter ist richtshof ist ein solches Gremium, es gibt aber auch noch viele andere. Ich finde, wenn man etwas despek- (Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: In Ihrer tierlich über die Menschenrechtspolitik der Europäi- Koalition!) schen Union redet, dann muss man zumindest das zur und nicht „nur“ eine Geldfrage. Kenntnis nehmen. Denn, Herr Kollege Müller-Sönksen, es geht natürlich (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) auch darum, andere Staaten davon zu überzeugen. Sie wissen, dass der Europarat ein internationales Gremium Natürlich stellt sich bei der Würdigung einer Ratsprä- ist. Da macht nicht nur Deutschland mit, am Schluss sidentschaft immer die Frage, wo man die Schwerpunkte müssen auch 46 andere Staaten sagen: Jawohl, wir sind setzt. In sechs Minuten Redezeit kann man nun beileibe bereit, uns nicht nur finanziell, sondern auch personell nicht alles abdecken. Es ist auch schon vieles genannt mehr zu engagieren. – Da hat der Kollege Beck recht, worden, zum Beispiel der Menschenrechtsrat und der wenn er sagt: Wir sind ja nicht einmal so weit, dass wir Gerichtshof. das 14. Zusatzprotokoll haben, reden aber schon darü- (Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Viel zu ber, wie wir weitere Verbesserungen erreichen können. viel gelobt worden!) An dieser Stelle möchte ich auch sagen: Die Erhö- Es gibt aber natürlich noch sehr vieles zu tun. Ich hung des Budgets des Gerichtshofs im letzten Jahr ist wünsche der Bundesregierung beim jetzt anstehenden nicht zuletzt auf das Drängen dieser Koalition und dieser Gipfel sehr viel Glück; denn ich glaube, dass es richtig Bundesregierung zurückgegangen. Auch das hätten Sie ist, dass wir die europäische Grundrechtecharta als in dieser Debatte ruhig erwähnen können! wichtigen und unerlässlichen Bestandteil des europäi- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und schen Grundlagenvertrages erhalten müssen, egal wel- der SPD) che Stimmen wir sonst dazu hören. Ich glaube, das sollte eines der herausragenden Ziele sein. Weil es ja auch um die Zahlen ging, will ich im Übri- gen darauf hinweisen, dass es sehr interessant ist, festzu- Es gibt Länder, die über Quadratwurzeln oder den stellen, dass bis zum 1. Januar 2007 – das geht aus einer Tod diskutieren. Ich finde, wir sollten die Menschen- gerade herausgekommenen Studie der Universität Biele- rechte weiterhin zu einem unserer wichtigsten Punkte feld hervor – 3 950 Fälle gegen Deutschland anhängig machen und uns nicht den Kopf über Quadratwurzeln (B) waren, wobei zum Schluss aber tatsächlich nur acht Ver- zerbrechen. (D) urteilungen erfolgt sind. Deutschland gehört zu den Län- dern, die die Urteile regelmäßig sofort und im geforder- Herzlichen Dank. ten Umfang umsetzen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Der Bereich Menschenrechtsgerichtshof ist sicher- lich ein wichtiger Teil der Dinge, über die wir heute dis- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: kutieren. Wir werfen den Blick aber auch auf die Men- Ich schließe die Aussprache. schenrechtspolitik der Europäischen Union insgesamt. Das hat auch der Herr Kollege Leutert in seiner ihm ei- Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- genen Art und Weise getan. schusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD Ich will nur auf zwei Dinge hinweisen, Herr Kollege mit dem Titel „Stärkung der Menschenrechtspolitik der Leutert: Diejenigen, die sich hier als die Hüter der Men- Europäischen Union“. Der Ausschuss empfiehlt in sei- schenrechte gerieren, waren, als wir das letzte Mal über ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4497, den den Menschenrechtsgerichtshof diskutiert haben, nicht Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf in der Lage, auch nur einen Redner oder einen präsenten Drucksache 16/3607 anzunehmen. Wer stimmt für diese Abgeordneten oder eine präsente Abgeordnete zu stel- Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun- len. Deshalb finde ich es schon ganz beachtlich, dass Sie gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen sich heute hier hinstellen und uns erklären, wie wir das der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Ge- tun sollen. genstimmen der Fraktionen Die Linke und des Bündnis- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP ses 90/Die Grünen angenommen. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Beschlussempfehlung des Ausschusses für Men- Ich glaube übrigens auch – ich denke, darin sind wir schenrechte und Humanitäre Hilfe auf Drucksache uns alle in diesem Hause einig –, dass es kein Land gibt, 16/5603 zu der Unterrichtung durch die Bundesregie- in dem es keine Menschenrechtsverletzungen gibt. Es rung über den EU-Jahresbericht 2006 zur Menschen- gibt auch nicht das Europa, in dem es keine Menschen- rechtslage. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Un- rechtsverletzungen gibt. Hoffentlich kommen sie dort terrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt weniger vor als in anderen Staaten. Was uns aber unter- für diese Empfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun- scheidet – ich glaube, das verpflichtet uns auch –, ist, gen? – Die Beschlussempfehlung ist wiederum mit den dass wir Gremien haben, die die Einhaltung der Men- Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10805

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und des Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: (C) Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der Kai Gehring, Marieluise Beck (Bremen), Volker CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/5734 mit Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der dem Titel „Den Europäischen Gerichtshof für Men- Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN schenrechte reformieren und durch die konsequente Be- Jugendliche in Deutschland: Perspektiven folgung seiner Urteile stärken“. Wer stimmt für diesen durch Zugänge, Teilhabe und Generationenge- Antrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der An- rechtigkeit trag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der FDP-Fraktion und der Fraktion des – Drucksachen 16/1554, 16/4818 – Bündnisses 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen vor. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschen- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die rechte und Humanitäre Hilfe auf Drucksache 16/5768. Der Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be- Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fünf Minuten schlussempfehlung auf Drucksache 16/5768, den Antrag erhalten soll. Gibt es Widerspruch dagegen? – Das ist der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Drucksache 16/4417 mit dem Titel „Den Erfolg des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte durch Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem die konsequente Befolgung seiner Urteile sichern“ für Redner das Wort dem Kollegen Kai Gehring von Bünd- erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschluss- nis 90/Die Grünen. empfehlung? – Das scheint einstimmig gewesen zu sein. Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): fehlung ist einstimmig angenommen. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp- ist erfreulich, dass wir heute endlich über unsere Große fiehlt der Ausschuss, den Antrag der Fraktion der FDP Anfrage zu „Jugendlichen in Deutschland“ und die bis- auf Drucksache 16/4062 mit dem Titel „Den Europäi- herige Jugendpolitik der Bundesregierung debattieren schen Gerichtshof für Menschenrechte vor dem Kollaps können. Wir haben sehr lange auf Ihre Antwort gewartet, bewahren“ für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Frau von der Leyen. Ich muss Ihnen leider sagen: Das Warten hat sich überhaupt nicht gelohnt. (B) Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun- (D) gen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig ange- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nommen. Welches Bild haben wir vor Augen, wenn wir an Ju- Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchsta- gendliche denken? Denken wir an Killerspiele, Koma- be c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5768, saufen, Happy Slapping, Gewaltexzesse, Pornorapper den Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und Werteverfall, oder denken wir an hohe Engagement- auf Drucksache 16/4405 mit dem Titel „Den Europäi- bereitschaft, gute Zukunftsaussichten und das Revival schen Gerichtshof für Menschenrechte stärken“ eben- von Familienwerten? falls für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Als jugendpolitischer Sprecher sage ich deutlich: Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig ange- Beide Bilder sind Zerrbilder. Die Jugend ist wesentlich nommen. vielfältiger, als sie wahrgenommen wird. Wenn ich als jüngster Abgeordneter meine vielen Gespräche mit Ju- Zusatzpunkt 5. Abstimmung über den Antrag der gendlichen reflektiere, dann kann ich feststellen, dass die Fraktion der FDP auf Drucksache 16/5738 mit dem Titel heutige Jugendgeneration viel besser ist als ihr Ruf. Ich „Den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vor bin von der Zielgruppe ja noch nicht allzu weit entfernt. dem Kollaps bewahren“. Wer stimmt für diesen Antrag? – (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Ich auch nicht!) Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist abge- lehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zu- – Sie auch nicht? Das ist erfreulich. – Jugendliche wol- stimmung der FDP-Fraktion, der Fraktion Die Linke und len vor allem ernster genommen werden. Sie brauchen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. Freiräume und gute Angebote. Zusatzpunkt 6. Abstimmung über den Antrag der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Ich stelle fest: Die von der Shell-Jugendstudie vorge- Drucksache 16/5735 mit dem Titel „Den Europäischen nommene Beschreibung „pragmatische Generation unter Gerichtshof für Menschenrechte stärken“. Wer stimmt Druck“ passt sehr gut. Denn noch überwiegt der Opti- für diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – mismus; gefühlte und echte Perspektivlosigkeit nehmen Der Antrag ist wiederum abgelehnt mit den Stimmen der aber zu. Koalitionsfraktionen bei Zustimmung der FDP-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion des Bündnis- Genau an diesem Punkt muss Jugendpolitik anset- ses 90/Die Grünen. zen. Die Potenziale einerseits und die Problemlagen 10806 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Kai Gehring (A) andererseits von Jugendlichen gehören in den Mittel- „Aktionsplan für mehr Teilhabe“ von Jugendlichen (C) punkt der Debatte. vorzulegen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sorgen Sie dafür, dass arbeitslose Jugendliche nicht in 1-Euro-Jobs und in Ersatzmaßnahmen gesteckt werden, Ihrem eigenen richtigen Anspruch „Jugendpolitik als sondern dass ihnen echte Qualifizierung und echte Job- Querschnittsaufgabe“ werden Sie, Frau von der Leyen, perspektiven offenstehen! Sorgen Sie dafür, dass aus der leider nicht gerecht. Ihre Antwort zeigt: Statt ein jugend- Generation Warteschleife nicht eine Generation Sack- politisches Gesamtkonzept vorzulegen, liefern Sie nichts gasse wird! Sorgen Sie dafür, dass das bestehende Aus- als einen Flickenteppich. bildungssystem von einem Engpass hin zu einem System Überall dort, wo Exklusion droht oder stattfindet und mit breiten Zugängen entwickelt wird! Und sorgen Sie wo Jugendliche zurückgelassen werden, ist Jugendpoli- dafür, dass sich die Beteiligung Jugendlicher auch auf tik besonders gefordert. der Bundesebene verbessert – unter anderem mit einer Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre, Was aber bietet diese schwarz-rote Koalition benach- teiligten Jugendlichen an? Welche Perspektiven schaffen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie für Schulabbrecher und für Jugendliche ohne Ausbil- mit starken Jugendverbänden und einer starken Unter- dungs- oder Arbeitsplatz? Wie stärken Sie eigentlich die stützung dieser Jugendverbände sowie mit mehr Freiwil- Rechte und Chancen von Jugendlichen mit Migrations- ligendiensten! hintergrund? Ich möchte an dieser Stelle ganz deutlich Folgendes Die Situation benachteiligter Jugendlicher ist beschä- sagen: Ich würde mir wünschen, dass Sie auch eine klare mend. Ihre Antworten darauf sind mehr als dürftig. Die Anwältin der Kinder- und Jugendhilfe werden. Die Analyse ist oft richtig; die Lösungen sind aber mangel- Kinder- und Jugendhilfe ist ein sehr wichtiges gesell- haft. schaftliches Frühwarnsystem und auch ein Problemlöser in dieser Gesellschaft. Sie steht nicht erst im Fokus, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wenn spektakuläre Einzelfälle und Ereignisse nach einer Es ist überaus bezeichnend: Auf unsere zentrale Frage Feuerwehr rufen. nach konkreten Maßnahmen für benachteiligte Jugendli- Deshalb ist es mir so wichtig, dass die Strukturen und che antwortet die Bundesregierung mit dem Ausbau der Verfahren der Kinder- und Jugendhilfe in den einzelnen Kinderbetreuung. Der Ausbau der Kinderbetreuung ist Bundesländern auch nach der Föderalismusreform nicht zwar ein richtiges und lohnenswertes Ziel; der heutigen zerschlagen werden, so wie es gerade in Niedersachsen (B) Jugendgeneration hilft dies jedoch überhaupt nicht. passiert. Das ist der falsche Weg. (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es ist doch offensichtlich so, dass in diesem Bundes- Die Eltern wollen auch künftig wissen, an wen sie sich kabinett eine engagierte Jugendministerin fehlt. Frau wenden können, wenn es Probleme gibt. von der Leyen, solange Sie sich im Konflikt um Krip- penplätze in den eigenen Reihen abmühen müssen, wer- Deshalb wünsche ich mir, dass Sie endlich auch An- den Jugendliche die „vergessene Generation“ dieser wältin der Generation der Zwölf- bis 20-Jährigen wer- Großen Koalition bleiben. den, Frau von der Leyen. Werden Sie Anwältin der Ju- gendlichen in diesem Land! Stellen Sie nicht nur Kinder, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – sondern auch Jugendliche in den Mittelpunkt Ihres Han- Zurufe von der SPD: Oh! – Zuruf von der delns! Jugendliche dürfen nicht länger die vergessene CDU/CSU: Das ist aber schade!) Generation von Schwarz-Rot sein. Zwischen Krippenplätzen und Mehrgenerationenhäu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sern klafft eine ganz gewaltige Lücke. Eine starke Ju- gendpolitik findet kaum statt – und die muss es endlich Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: geben. Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Dr. Ursula Sie ignorieren, dass es offenkundig akute Probleme von der Leyen. von Jugendlichen gibt. Sie reagieren kaum auf neue He- rausforderungen. Man muss sich doch anschauen, wel- Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für che Auswirkungen der demografische Wandel und der Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Klimawandel auf heutige und künftige Jugendgeneratio- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beide nen haben. Vor diesem Hintergrund kann man nur sagen: scheinen in der Tat die Shell-Jugendstudie gelesen zu ha- Sie vernachlässigen die Chancen auf Teilhabe dieser Ge- ben. Als ich Ihnen eben zuhörte, wie Sie den durch- neration und künftiger Generationen. schnittlichen Jugendlichen bzw. die durchschnittliche Wir brauchen endlich eine Jugendpolitik, die Exklu- Jugendliche gezeichnet haben, wurde mir aber angst und sion, Armut und Bildungsbenachteiligung bekämpft. bange. Wenn man die Shell-Jugendstudie genau liest, dann stellt man fest, dass der bzw. die Jugendliche eher Frau von der Leyen, daher fordern wir Sie in unserem pragmatisch ist, etwas erreichen will und seine Familie Entschließungsantrag auch auf, im Herbst hier einen schätzt. Die größte Sorge ist, keinen Arbeitsplatz zu fin- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10807

Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen (A) den. Das sind die groben Umrisse, die die Shell-Jugend- möglichen. Das ist eine hervorragende Quote. Das zeigt, (C) studie ganz deutlich macht. Aber in der Tat wissen wir, dass das richtig ist. dass die Gruppe der Zwölf- bis 20-Jährigen enorm hete- rogen ist, was Lebenslagen, Probleme, Gefährdungen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- oder Erfolge angeht. Genau deshalb muss eine aktivie- neten der SPD) rende Jugendpolitik gleichermaßen Querschnitts- und Zweitens. Ein weiterer Schwerpunkt, der mir wichtig Ressortpolitik sein. Sie muss auf diese vielfältigen An- ist, ist, dass wir die Zivilgesellschaft und die Beteili- forderungen reagieren. gung Jugendlicher, also ihre Eigeninitiative, stärken. Ich will Ihnen gerne konkret sagen, welches die ein- Wir wissen aus Befragungen, dass Jugendlichen Werte zelnen Schwerpunkte sind und welche konkreten Maß- wie Offenheit, Ehrlichkeit, Toleranz und vor allem Ge- nahmen wir getroffen haben. Für mich sind in diesem waltfreiheit nicht nur im Privaten sehr wichtig sind, son- Zusammenhang die wichtigsten Schlüsselbegriffe: dern dass sie sich auch gesellschaftlich dafür einsetzen. Chancengerechtigkeit, Teilhabe und Integration sowie Wir wissen aber auch, dass es bei den Jugendlichen heut- der Schutz von Kindern und Jugendlichen. Sie brauchen zutage eine große Distanz und Skepsis gegenüber eta- von Anfang an gleiche Chancen, um ihre vielfältigen Fä- blierten Organisationen und Verbänden gibt. Das heißt, higkeiten zu entwickeln. Die Ausgangslagen sind aber wir müssen neue Wege und Programme finden, um sie unterschiedlich. Deshalb haben wir uns drei zentrale anzusprechen und zum Mitmachen zu gewinnen. Das Handlungsschwerpunkte gesetzt, die ich gerne ausführen gilt vor allem auch für junge Migrantinnen und Migran- möchte. ten, die bereit sind, sich einzumischen und mitzuma- chen. Erstens. Die soziale und berufliche Integration der Jugendlichen muss gestärkt werden. Hier gilt für uns auf (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ Bundesebene, im Bundesfamilienministerium und in Zu- DIE GRÜNEN]: Was wollen Sie als Ministe- sammenarbeit mit den anderen Ressorts und Ebenen, rin denn machen?) dass die Jugendlichen an den Übergängen, an den Diese brauchen dafür die richtigen Strukturen. Schnittstellen von Schule, Ausbildung und Beruf nicht scheitern dürfen. Genau das ist der Grund, warum wir Zur Erreichung dieses Ziels haben wir die generatio- explizit sagen: Dort haben die Bundesländer zwar große nenübergreifenden Freiwilligendienste eingeführt. In Aufgaben. Aber wir kümmern uns gemeinsam mit diesem Zusammenhang sind auch die inzwischen über Ländern und Kommunen sowie den Eltern und Jugend- 200 Mehrgenerationenhäuser zu nennen, die gerade ämtern. Das geschieht zum Beispiel mit dem Modell- auf Jugendliche zugehen, und die Möglichkeit, ein frei- (B) programm „Die 2. Chance“ für hartnäckige Schulver- williges soziales oder ökologisches Jahr zu absolvieren. (D) weigerer, die aus der Schule längst heraus sind und den Mit diesen Angeboten, die anders sind als die klassi- Kontakt verloren haben. Wir sorgen dafür, dass diese schen Angebote, bekommen die Jugendlichen die Mög- wieder den Weg in die Schule finden, und bringen sie lichkeit, mitzumachen und sich einzumischen. mithilfe vernetzter Strategien dazu, Anschluss zu finden und einen Schulabschluss zu machen. Damit bauen wir (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- eine Brücke, um Ausbildung und Berufseinstieg zu neten der SPD) schaffen. Beim Thema Zivilgesellschaft ist ein wichtiger (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Punkt, sich mit dem Teil der Jugendlichen zu beschäfti- neten der SPD) gen, die nicht mehr erreicht werden können und die sich von den Grundpfeilern unserer demokratischen Gesell- Genau denselben Ansatz der vernetzten Strategie schaft immer weiter entfernen. Die Bekämpfung von – das ist in der Jugendpolitik richtig – verfolgen wir mit Extremismus jeglicher Art muss gesamtgesellschaftlich dem Modellprogramm „Lokales Kapital für soziale und von allen demokratischen Kräften geschlossen vo- Zwecke“. Mithilfe von 5 000 Mikroprojekten wurden im rangetrieben werden. Die Prävention muss bereits an den vergangenen Jahr Beschäftigungspotenziale in sozialen Wurzeln von Radikalisierungsprozessen ansetzen, die Brennpunkten erschlossen. Da vor Ort die Bedingungen wir sehr ernst nehmen. Deshalb hat die Koalition den ganz unterschiedlich sind, setzen wir uns mithilfe dieser Kampf gegen den Rechtsextremismus in den Fokus ei- Mikroprojekte für benachteiligte Jugendliche ein. Dabei nes neuen, auf Dauer angelegten Programms gestellt. gilt vor allem: Keine Angebote von der Stange! Die Pro- bleme sind so unterschiedlich und vielfältig, dass wir vor Ich möchte mich an dieser Stelle besonders bei den Ort passgenaue, maßgeschneiderte und individuelle An- Abgeordneten aller Fraktionen bedanken, die ganz ent- gebote brauchen. Ein Beispiel dafür sind die 200 Kom- scheidend mitgeholfen haben, dass hier eine gemein- petenzagenturen, die wir für benachteiligte Jugendliche same Linie zwischen Bund, Ländern und Kommunen aufgebaut haben. Diese Agenturen kümmern sich pass- gefunden worden ist. Aber wir brauchen nicht nur die genau und individuell um Jugendliche, die ein echtes gemeinsame Linie zwischen den staatlichen Ebenen, Problem haben, den Übergang von der Schule zum Be- sondern auch das Engagement der Zivilgesellschaft. Wir ruf zu schaffen. Wir hatten in der Modellphase 15 sol- brauchen die Verantwortung der Bürgerinnen und Bür- cher Kompetenzagenturen. Diese haben es immerhin ge- ger vor Ort, angefangen beim Feuerwehrmann über die schafft, 90 Prozent der Jugendlichen – 90 Prozent! –, die Lehrerin in der Schule bis hin zum Bürgermeister in der von ihnen betreut wurden, eine Berufsausbildung zu er- Gemeinde. Das heißt, alle sind hier gefordert: die 10808 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen (A) Kommunen und Jugendverbände, die staatlichen Ebe- Schließlich und endlich ist der Schutz vor Drogen, (C) nen, aber genauso die Schulen und die Kirchen. Tabak und Alkohol ein vorrangiges Ziel. Dabei gilt es, den Einstieg – den Anfang – zu verhindern oder, bei Ta- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) bak und Alkohol, zumindest so weit wie irgend möglich Der dritte Schwerpunkt umfasst die Verbesserung des hinauszuzögern. Hier sind und bleiben die Erwachsenen Schutzes von Kindern und Jugendlichen. Hier sind das wichtigste Vorbild. Deshalb habe ich mich sehr ge- die Übergänge fließend. Wir können an dieser Stelle freut, dass das Nichtraucherschutzgesetz am 1. Septem- nicht nur von Jugendlichen sprechen; das betrifft auch ber dieses Jahres in Kraft tritt. Das ist ein richtiger schon Kinder. Schritt. Jugend bedeutet unbeschwert sein und vieles auspro- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- bieren. Das ist in Ordnung; das muss auch so sein. Das neten der SPD) ist eine spannende bis gefährliche Phase und braucht deshalb Leitplanken. Wenn wir uns die kritischen Stellen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: anschauen, dann können wir erkennen, dass es vor allen Frau von der Leyen, Sie dürfen nach der Geschäfts- Dingen den Schutz vor Gewalt, Missbrauch und Ver- ordnung so lange reden, wie Sie wollen, aber das geht nachlässigung betrifft, aber auch den Schutz vor Alko- auf Kosten der Regierungsfraktionen. Da die CDU/CSU hol, Drogen und jugendgefährdenden Medieninhalten. keine Redezeit mehr hat, ginge Ihre Redezeit auf Kosten der SPD-Fraktion. Ich möchte mit den Kindern anfangen. Wir wissen, dass es in Deutschland Familien gibt, in denen Kindern Gefahr durch ihre eigenen Eltern droht, weil diese mit Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für ihren eigenen Problemen vollkommen überfordert sind. Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Wir haben gemeinsam ein Frühwarnsystem entwickelt. Das werde ich jetzt nicht machen. Ich habe das Pro- Ich kann Ihnen berichten, dass das Nationale Zentrum gramm dargelegt. Frühe Hilfen im April seine Arbeit aufgenommen hat. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Hier ist also etwas ganz Konkretes entstanden, um auf Bundesebene das Wissen um ein gut funktionierendes (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Kai Frühwarnsystem, das auf kommunaler Ebene gesammelt Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei worden ist, aufzubereiten und vor Ort zur Verfügung zu dieser Rede versteht man die Politikverdros- stellen. Damit können Gemeinden und Kommunen diese senheit!) Hilfesysteme mit Blick auf Jugendhilfe und Gesund- (B) heitssystem zum Schutz der Kinder effizient aufbauen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Das Wort hat die Kollegin Miriam Gruß von der FDP- neten der SPD – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/ Fraktion. DIE GRÜNEN]: Jetzt aber zum Thema!) (Beifall bei der FDP) Wenn die Kinder älter werden, spielt das Thema Jugendmedienschutz eine Rolle. Dies ist ein ganz aktu- Miriam Gruß (FDP): elles Thema. Wir haben deshalb mit dem Land Nord- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten rhein-Westfalen, das den Vorsitz bei diesem Thema in Kolleginnen und Kollegen! Wir reden hier zwar über der USK innehat, im Frühjahr ein Sofortprogramm zum 289 Seiten, aber jedenfalls meiner Meinung nach zählt in wirksamen Schutz von Kindern und Jugendlichen vor diesem Hohen Haus nicht die Quantität, sondern die extrem gewalthaltigen Computerspielen ins Leben geru- Qualität. Ich kann Herrn Gehring nur zustimmen: Es fen. fehlte bisher schon an einer eigenständigen Jugendpo- litik, und auch in diesem Dokument reihen sich nur Un- Dieses Programm basiert auf vier Säulen: erstens die konkretes und Unschlüssiges aneinander. Verschärfung des Jugendschutzgesetzes, zweitens – das ist fast der wichtigste Punkt – die Verbesserung des ge- (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ setzlichen Vollzuges – was im Gesetz steht, muss vor Ort DIE GRÜNEN) auch umgesetzt werden –, drittens die Verbesserung der Ich bin den Kolleginnen und Kollegen von den Grü- Qualitätssicherung bei den Jugendschutzentscheidun- nen insofern dankbar, als sie mit ihrer Großen Anfrage gen – dazu gehören die Fragen: was wird auf den Index den Finger in eine Wunde gelegt haben, die seit Amtsan- gesetzt, wo erfolgt eine Altersbegrenzung und was wird tritt der Bundesfamilienministerin klafft. All Ihren Eifer, freigegeben?; da müssen wir genauer hinschauen – und Frau Ministerin, Ihre Ideen und Ihr Engagement für die schließlich viertens die verbesserte Information von El- zahlreichen „Babys“ aus Ihrem Ministerium in Ehren, tern, aber auch von Händlern darüber, wie das Gesetz aber die Jugendpolitik vernachlässigen Sie stiefmütter- gestrickt ist und wie Verstöße geahndet werden. lich. Darüber hinaus gilt es, die Jugendlichen selber fähig (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: zu machen, verantwortungsbewusst mit Computern, Me- Das ist ein Stiefkind!) dien und dem Internet umzugehen. Deshalb stärken wir die Medienkompetenz der Jugendlichen, aber auch der Das wird schon gleich in der Beantwortung der ersten Eltern und der pädagogischen Fachkräfte. Frage deutlich. Das wird uns schwarz auf weiß in der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10809

Miriam Gruß (A) Antwort auf die Große Anfrage dokumentiert. Dort zäh- Wir setzen auf frühestmögliche Bildung und auf Sen- (C) len Sie als gelungene Beispiele für die Förderung von sibilisierung für Politik. Nur so schaffen wir die Grund- Kindern und Jugendlichen das Elterngeld, die ange- voraussetzung für verantwortungsbewusste Wähler. Kin- strebte Verbesserung der Kinderbetreuungssituation und der und Jugendliche müssen für Politik gewonnen und das Aktionsprogramm „Mehrgenerationenhäuser“ auf. dürfen nicht von ihr abgeschreckt werden. Mit diesem Ganz ehrlich, das erschließt sich mir nicht. Nennen Sie Mammutwerk gewinnen Sie keinen einzigen Jugendli- mir einen Jugendlichen in Deutschland, der von diesen chen, weder für Ihre – allenfalls spärlichen – Inhalte Programmen auch nur ein Stückchen weit profitiert noch für die Politik als Ganzes. hätte. Ich lasse eine halbe Minute Redezeit schweigend ver- (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ streichen. Sie können diese Zeit nutzen, um über das DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der nachzudenken, was ich soeben gesagt habe. LINKEN) (Heiterkeit und Beifall bei der FDP sowie bei Genau das ist die Krux Ihrer Politik. Sie verstehen un- Abgeordneten der CDU/CSU) ter Kinder- und Jugendpolitik die Förderung der Eltern. Das wird auf jeder einzelnen Seite der Antwort deutlich. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Sie begreifen Kinder- und Jugendpolitik als Anhängsel Wir müssen unsere kostbare Zeit vor dem Sommer- der Familienpolitik, nicht aber als die Unterstützung der fest der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft aber Kinder und Jugendlichen selbst. Es mangelt an einer ei- nutzen, und deswegen erteile ich jetzt das Wort der Kol- genständigen Jugendpolitik und an einem Gesamtkon- legin Kerstin Griese von der SPD-Fraktion. zept, das sich auf die Lebenswirklichkeit und die tatsäch- lichen Bedürfnisse der jungen Menschen konzentriert. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Vertrauen in die zukünftigen Generationen, Glaubwür- digkeit und Wertschätzung signalisiert man meines Er- Kerstin Griese (SPD): achtens anders. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um über die Antwort (Beifall bei der FDP) auf die Große Anfrage „Jugendliche in Deutschland“ zu Die FDP-Bundestagsfraktion denkt in der Kinder- diskutieren. Ich möchte nicht allein Programme aufzäh- und Jugendpolitik vom Kind und vom Jugendlichen aus, len, sondern den roten Faden unserer Jugendpolitik auf- und wir denken gemeinsam mit den Kindern und Ju- zeigen. gendlichen in Deutschland. Der Entschließungsantrag (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) (B) der Grünen geht in die richtige Richtung und spricht (D) wichtige Aspekte der Gegenwart von Jugendlichen an. Dieser rote Faden – er ist mir ganz wichtig – orientiert Die FDP ist allerdings in einigen Punkten anderer Mei- sich an der Stärkung von Jugendlichen durch mehr Be- nung und wird sich deshalb enthalten. Aber im Grund- teiligung und mehr Chancen. sätzlichen sind wir beisammen. Wir müssen mit den Ich glaube, dass wir in der Kinder- und Jugendpolitik Kindern reden, nicht nur über sie. Partizipation heißt Kontinuität an den Tag legen. Liebe Kolleginnen und das Zauberwort. Daher müssen wir meines Erachtens Kollegen von den Grünen, ich habe mich ein bisschen vor allen Dingen die Verbände und die Jugendarbeit in gewundert, dass Sie diese Kontinuität in Ihrem Ent- Deutschland stärken; denn sie leisten unersetzliche Ar- schließungsantrag kritisieren. Ich darf an das erinnern, beit. was wir gemeinsam auf den Weg gebracht haben. Wir haben auch schon einmal gemeinsam eine Große An- Gerade heute wurde eine dimap-Studie veröffentlicht, frage zum Thema Jugend gestellt, nämlich im Jahr 2001. die uns Politikern vorwirft, wir würden insbesondere im Die Große Anfrage damals beinhaltete nur 81 qualitativ Internet nicht angemessen mit Jugendlichen kommuni- anspruchsvolle Fragen. Ihre Große Anfrage beinhaltet zieren. Die FDP-Bundestagsfraktion ist hier schon einen 230 Fragen. Die Beantwortung dieser Fragen hat dazu Schritt weiter. Wir machen den Jugendlichen ein Ange- geführt – ich will mich bei der Bundesregierung dafür bot. Dieses Angebot heißt www.jugendfraktion.de und ganz herzlich bedanken –, dass wir nun ein sehr umfang- ist seit gut einer Woche online. reiches Nachschlagewerk zur Kinder- und Jugendpolitik (Beifall bei der FDP) in Deutschland haben. Als erste Fraktion im Deutschen Bundestag machen wir (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Politik verständlich, diskutieren mit den Jugendlichen CDU/CSU) und lassen sie zu Wort kommen. Wir wollen ihre Mei- Aus dieser Antwort wird deutlich: Jugendpolitik ist nung hören und diese in unsere Entscheidungen einflie- eine Querschnittsaufgabe: Sie reicht von der Arbeits- ßen lassen. Wir dürfen die politische Kommunikation und Sozialpolitik über die internationale Politik und über nämlich nicht den rechten und linken Lagern in diesem die Innenpolitik bis hin zur Stadtentwicklung. Mit all Lande überlassen. diesen Bereichen sind Fragen zur Zukunft von Kindern (Beifall bei der FDP) und Jugendlichen verknüpft. Ich will an ein paar Punk- ten deutlich machen, warum gerade uns als SPD-Frak- Die demokratischen Parteien sind aufgefordert, hier tätig tion das Thema „Partizipation Jugendlicher“ so wich- zu werden. tig ist. Partizipation heißt: Chancen für Kinder und 10810 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Kerstin Griese (A) Jugendliche. Unsere Bundesregierung tut viel im Be- dern ein wichtiges Feld, auch für diese Regierungskoali- (C) reich der gesellschaftlichen Teilhabe, des Engagements tion. in der Zivilgesellschaft, des Freiwilligendienstes von Ju- gendlichen und des Einsatzes für Demokratie und Tole- Ganz wichtig ist mir, dass wir noch mehr tun – An- ranz. sätze dafür haben wir –, um Jugendliche aus bildungs- fernen Schichten, Jugendliche, die von zu Hause nicht (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der unbedingt mitbekommen, dass sie sich engagieren könn- CDU/CSU) ten oder sollten, oder auch Jugendliche mit Migrations- hintergrund zu erreichen. Deshalb ist es wichtig, dass Ich glaube, wir alle sind uns einig, dass es für den Le- wir zielgenau hinschauen und neue Engagementformen bensweg von jungen Menschen von ganz entscheidender ermöglichen. Bedeutung ist, dass sie früh erleben können, dass sie be- teiligt, gehört und ernst genommen werden. Gerade die Wir haben auch in einem anderen Bereich Kontinuität Arbeit der Jugendverbände – deren Prinzip ist ja die gezeigt – darüber bin ich sehr froh –, nämlich in der Ar- Selbstorganisation Jugendlicher – ist für den weiteren beit gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus und Lebensweg sehr prägend. Fremdenfeindlichkeit. Wir weiten diese Arbeit durch die Förderung von Beratungsnetzwerken mit zusätzlich Ich bin der festen Überzeugung – das hat auch die 5 Millionen Euro noch aus. Was in den neuen Bundes- Shell-Jugendstudie gezeigt –: Jugendliche interessieren ländern schon gut funktioniert – ich sage das ausdrück- sich für politische Themen. Ich habe das gerade wieder lich –, ist sozusagen ein Angebot an die alten Bundeslän- intensiv auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag der, in der Beratung fortzufahren. – das ist das größte regelmäßige Jugendtreffen in Deutschland – in Köln erlebt, wo ich mit vielen Jugend- (Beifall bei der SPD – Dr. Werner Hoyer lichen diskutieren konnte. Ich habe dort auch mit Ju- [FDP]: So schnell, wie Sie reden, ist das ein gendlichen gesprochen, die im In- oder im Ausland ein Anschlag auf die Stenografen!) freiwilliges soziales Jahr gemacht haben. Ich will aus- Mein Fazit ist: Kinder und Jugendliche zu stärken, ih- drücklich sagen: Es ist ein großer Fortschritt, dass wir es nen Chancen zu geben, sie als Subjekt mit ihren Anlie- geschafft haben, dass inzwischen mehr Jugendliche ein gen ernst zu nehmen und ihre Zukunftschancen in den solches Jahr absolvieren können. Mittelpunkt zu stellen, sie ganz besonders zu schützen, (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der das ist Schwerpunkt unserer Politik, und das ist der rote CDU/CSU) Faden, der uns leitet. Wir engagieren uns mit Jugendli- chen und für Jugendliche. Es ist begrüßenswert, dass diese Dienste ausgeweitet (B) werden. Demnächst wird es für junge Menschen auch im Ich will mich an dieser Stelle einmal ganz herzlich bei (D) Bereich der Entwicklungspolitik bis zu 10 000 entspre- allen bedanken, die sich in der Zivilgesellschaft in die- chende Plätze geben. Aber ich teile auch die Kritik, dass sem Bereich engagieren. Das ist wichtig für den sozialen wir dort noch mehr machen müssen. Der Bedarf ist hö- Zusammenhalt. Das wird weiterhin ein Schwerpunkt un- her: Noch mehr Jugendliche möchten sich auf diesem serer Arbeit sein. Gebiet engagieren. Mein Traum ist – ich weiß, dass der Vielen Dank. Bundestag darüber aufgrund des Föderalismus keine Entscheidung treffen kann –, dass sich die Schulen daran (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) beteiligen, jedem Jugendlichen ein Angebot für ein frei- williges Jahr, Halbjahr oder Vierteljahr zu machen. Nur Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: dann erreichen wir nämlich wirklich alle Jugendlichen Das Wort hat jetzt die Kollegin Diana Golze von der aus allen Bereichen der Gesellschaft. Fraktion Die Linke. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN) Die Fragesteller fordern in Ihrer Anfrage, im Herbst ein neues Programm zum Thema Partizipation aufzule- Diana Golze (DIE LINKE): gen. Ich sage ganz deutlich: Wir tun schon etwas. Das Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- Aktionsprogramm für mehr Jugendbeteiligung ist ein nen und Kollegen! Die heutige Debatte zur Antwort der gutes Programm. Es ist das Ergebnis der Programme der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Grünen und letzten beiden Wahlperioden und kam in Kooperation zu deren Entschließungsantrag als Reaktion darauf ist mit dem Deutschen Bundesjugendring, der Bundeszen- wirklich schon etwas paradox. Ich hätte mir, nicht nur im trale für politische Bildung und dem Bundesministerium Interesse der Fragesteller, eine etwas inhaltsvollere und für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zustande. zum Teil etwas aktuellere Antwort gewünscht. Das Da- Viele, die zum Beispiel über „Come in Contract“ mit Ju- tenmaterial ist löchrig und zum Teil auch veraltet. Da gendverbänden einen Vertrag geschlossen haben, haben stellt sich die Frage: Warum ist das so? erlebt, wie eine gute Zusammenarbeit zwischen Politik und Jugendverbänden aussehen kann. Die Antwort der Bundesregierung macht einmal mehr deutlich, dass die Bundesregierung ohne einen Hauch Ich betone auch deshalb, dass dies der rote Faden un- von Innovation oder neuen Ideen eine Jugendpolitik be- serer Jugendpolitik ist, um hervorzuheben, wie wichtig treibt, die ohne Gesamtkonzept und ohne einen roten Kontinuität ist. Jugendpolitik ist kein Strohfeuer, son- Faden ist. Es ist eine Politik, in der jenseits der beiden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10811

Diana Golze (A) Leuchtturmprojekte – Elterngeld und Mehrgenerationen- tät Lügen gestraft. Seit Jahren sind nicht genügend Aus- (C) häuser – nicht viel mehr zu finden ist als halbfertige bildungsplätze vorhanden. Das zeigt auch die Antwort Baustellen, an denen seit Jahren nur Stückwerk betrie- der Bundesregierung, wonach 40 Prozent der Haupt- ben wird. schülerinnen und Hauptschüler keinen Ausbildungsplatz bekommen. Das muss sich endlich ändern. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN – Kai Gehring Schlimmer noch: Der Bauherr selbst kürzt seit Jahren [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dazu hat sogar das Budget für die eigenen Vorhaben, indem er Frau von der Leyen nichts gesagt!) zum Beispiel kontinuierlich die Zuwendungen für die Jugendhilfe senkt – Wir brauchen ein sofortiges Umdenken und neue Handlungsansätze in vielen Bereichen. Das betrifft na- (Frank Spieth [DIE LINKE]: Hört! Hört!) türlich auch das vorschulische Angebot. Die Ministerin und das leider unabhängig davon, ob die aktuelle Mode- hat ohne weiteres Recht damit, dass wir mit den Ange- farbe rot-grün oder schwarz-rot ist. boten ganz früh anfangen müssen. Wir sagen: Wir brau- chen eine gebührenfreie Kita mit Bildungscharakter. Soziale, kulturelle, politische und ökonomische Teil- Ganztagsschulangebote müssen flächendeckend vorhan- habe sollte das Recht eines jeden und einer jeden sein den sein. Die Stärkung der Jugendverbände wird meines und nicht als Chance gesehen werden, die man nur zufäl- Erachtens in dieser Antwort zu wenig betont. lig bekommt, wenn man im richtigen Staat, im richtigen Bundesland oder sogar in der richtigen Familie geboren Wir brauchen eine Stärkung der Kinder- und Jugend- wird. hilfe. Da haben die Grünen mit der Forderung in ihrem Entschließungsantrag, dass wir da mehr tun müssen und (Beifall bei der LINKEN) weitere Kürzungen verhindern müssen, recht. Die Forderung nach Teilhabe sollte sich auch nicht al- Es geht aber auch darum – darüber sollten wir nach- lein darauf gründen, dass der demografische Wandel ein- denken –, wie wir mit dem Begriff „Gerechtigkeit“ um- zelne Gruppen zu Minderheiten in der Gesellschaft gehen. Darauf möchte ich zum Schluss noch eingehen. macht, wie es sich in Ihrem Antrag, sehr geehrte Kolle- Dieses Thema wird ja auch im Antrag der Grünen wie- ginnen und Kollegen von den Grünen, wiederfindet. der aufgegriffen. Wie so häufig wird das Wort „Genera- (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: tionengerechtigkeit“ sozusagen als Feststellung für ei- Da stehen sechs Punkte! Haben Sie die alle ge- nen angeblichen Kampf zwischen den Generationen lesen?) missbraucht. Dabei berücksichtigt man nicht, dass die (B) wirklichen Widersprüche in der Gesellschaft nicht zwi- (D) Die Realität ist dadurch gekennzeichnet, dass sich die schen Alt und Jung, sondern zwischen Arm und Reich Schere zwischen Arm und Reich immer weiter öffnet, liegen. was sich unmittelbar auf die Teilhabemöglichkeiten und Zukunftschancen in der Gesellschaft auswirkt. Die stän- (Beifall bei der LINKEN) dig steigende Ungleichheit erhielt mit Hartz IV und mit Die Forderung nach Generationengerechtigkeit ist des- der Schröder’schen Agenda 2010 zusätzliche Dynamik. halb kein Ersatz für die Forderung nach sozialer Gerech- Daran haben auch Sie, verehrte Kolleginnen und Kolle- tigkeit, sondern oftmals nur ein ideologischer Versuch gen von den Grünen, Ihren Anteil. zur Instrumentalisierung der Generationen. Das ist mit (Beifall bei der LINKEN) uns, der Linken, nicht zu machen. Sie haben mit Ihrer Zustimmung zu diesen Gesetzen Vielen Dank. Schulkindern die staatliche Absicherung auf Säuglings- (Beifall bei der LINKEN) niveau gekürzt, nämlich auf 60 Prozent des Regelsatzes eines alleinstehenden Erwachsenen. Wie können Sie von Teilhabe oder auch nur von der Chance darauf reden, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: wenn durch wachsende Kinder- und Jugendarmut Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat zum Beispiel Nachhilfe, Musikschulunterricht oder Ver- jetzt der Kollege Jürgen Kucharczyk von der SPD-Frak- einsbeiträge nicht mehr bezahlbar sind? tion das Wort. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wie ist das in Berlin mit den Kindergartenbei- der CDU/CSU) trägen?) Jürgen Kucharczyk (SPD): Ich sage dies auch, um deutlich zu machen, dass die rich- tige Forderung in Ihrem Entschließungsantrag nach Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Rücknahme der Verschärfungen für die unter 25-jähri- Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die gen Erwerbslosen wohl eher nur ein kleiner Schritt sein vorliegende Antwort auf die Große Anfrage beschreibt kann, wenn auch, zugegebenermaßen, endlich in die die gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Teil- richtige Richtung. habe von Jugendlichen als entscheidende Voraussetzung für eine gerechte Jugendpolitik. Die Opposition greift Ihre Forderung nach einer Systemumstellung in Rich- damit ein wichtiges Thema schon aus der letzten Legis- tung modulare Berufsausbildung wird durch die Reali- laturperiode auf. 10812 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Jürgen Kucharczyk (A) Das Fehlen von Chancen und Perspektiven und die (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) (C) damit verbundene Zukunftslosigkeit stellt die größte Ge- Der korrekte Umgang mit elektronischen Medien gehört fahr für die nachfolgende Generation dar. Deshalb stellt heutzutage zur Basisqualifikation und ist die Grundlage die Koalition nicht nur Fragen, sondern baut konkret auf für einen selbstständigen und verantwortlichen Umgang die erfolgreiche Kinder- und Jugendpolitik der Vorgän- der Jugendlichen mit den neuen Medien. Dazu gehört gerregierung auf. Ich erinnere an drei Maßnahmen: Das ein eng geflochtenes soziales Netz in den Stadtteilen. Es TAG legt den Grundstein für eine gute und bedarfsge- muss so eng geknüpft sein, dass keine Kinder und Ju- rechte Kinderbetreuung für die unter Dreijährigen. Das gendlichen durchfallen. Das ist der beste Schutz vor ge- Ganztagsschulprogramm sorgt dafür, dass jedes Kind walttätigen Handlungen. gleiche Zukunftschancen hat. Die bundesweite Initiative „Lokale Bündnisse für Familie“ stärkt die Familien- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) freundlichkeit in den Kommunen. – So weit, in Ansät- zen, das bereits Realisierte. Die Aufnahme der Kinder- und Jugendrechte ins Grundgesetz, wie von der Kinderkommission gefordert, Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle unterstüt- wäre ein weiterer Schritt, zen das politische und soziale Engagement von Kindern und Jugendlichen und wollen, dass sie die aktive Beteili- (Beifall bei der SPD und der LINKEN) gung an der Demokratie und am Gemeinwesen ernst der auch den Jugendlichen deutlich signalisiert: Hier nehmen. Mit der Unterstützung von gezielten Projekten kümmert sich jemand um euch! Wir nehmen euch ernst! zur Förderung von Beteiligung – ich erinnere hier bei- spielsweise an das „Projekt P“ – investieren wir bereits Das deutsche Schulsystem hat nicht nur durch die in die berufliche wie gesellschaftliche Zukunft der Ju- PISA-Studie schlechte Noten bekommen. Auch der UN- gend. Politische Beteiligung ist nur eine von vielen Sonderbeauftragte für das Recht auf Bildung hat die feh- Möglichkeiten. Das Wahlalter nach unten zu setzen, lende Chancengleichheit und das verschenkte Bildungs- stellt dabei sicherlich nicht die alleinige Lösung dar. Jün- potenzial in unserem Land deutlich kritisiert. gere Jugendliche dürfen keineswegs außen vor stehen, Wir sind uns sicherlich einig, dass wir an dieser Stelle wenn es darum geht, sich gesellschaftlich zu engagieren. noch viele Punkte anführen könnten. Ich möchte zum Dass dies funktioniert, erlebe ich am Beispiel der Ju- Schluss noch Folgendes ausführen: Kinder und Jugendli- gendstadträte in Solingen und Remscheid. Mit einer che gehören in den Mittelpunkt unserer Gesellschaft. Wahlbeteiligung von über 65 Prozent haben hier Kinder Das sicherzustellen, ist unsere Aufgabe. Packen wir es und Jugendliche ihre Vertretung selbst gewählt. gemeinsam an! Fakt ist auch: Wir können es uns gesellschaftlich und (B) Danke für Ihre Aufmerksamkeit. (D) menschlich nicht leisten, dass Jugendliche beruflich oder sozial auf der Strecke bleiben. Wir müssen den jungen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Menschen die Möglichkeit zur Integration sowie Aufga- ben und Perspektiven geben. Die Bereiche Jugendar- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: beitslosigkeit und Ausbildungsplatzmangel brauchen Ich schließe die Aussprache. unsere besondere Aufmerksamkeit. Jeder einzelne Ju- gendliche, der heute keine Lehrstelle findet und nicht Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- ausgebildet wird, ist einer zu viel. Die derzeitige Situa- ßungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/5780. Wer stimmt für diesen Ent- tion können wir so nicht hinnehmen. schließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) hält sich? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stim- men der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung von Langzeitpraktika oder Qualifizierungsschleifen sind für Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der FDP-Frak- Bewerber ohne Lehrstelle nicht ausreichend. Hier er- tion und der Fraktion Die Linke abgelehnt. warte ich etwas mehr Kreativität von den Arbeitsagentu- ren sowie den Industrieverbänden vor Ort. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Mit der Ausweitung und Verlängerung des Ausbil- Beratung der Unterrichtung durch den Wehrbe- dungspaktes gehen wir einen praktikablen Weg. Mit auftragten dem Koalitionsantrag „Junge Menschen fördern – Aus- Jahresbericht 2006 (48. Bericht) bildung schaffen und Qualifizierung sichern“ von heute Morgen verstärken wir die notwendigen Maßnahmen. – Drucksache 16/4700 – Der aktuelle Gesetzentwurf zur Änderung des Dritten Überweisungsvorschlag: Buches Sozialgesetzbuch flankiert unser gemeinsames Verteidigungsausschuss Ziel: Jungen Menschen muss eine berufliche Perspektive Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die geboten werden. Das muss Politik, aber insbesondere Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich auch die Wirtschaft leisten. höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. (Beifall bei der SPD) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Wehrbe- Auch die Stärkung der Medienkompetenz von Kin- auftragte des Deutschen Bundestages, Reinhold Robbe. dern und Jugendlichen gehört zum Thema Jugendliche Bevor Herr Robbe das Wort nimmt, bitte ich die Kolle- in Deutschland. ginnen und Kollegen, die an der Aussprache nicht teil- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10813

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) nehmen wollen, zügig den Saal zu verlassen, sodass die Ich bin davon überzeugt, dass es auch Ihre Zustimmung (C) anderen der Aussprache folgen können. findet, dass ich den Deutschen Presserat zwischenzeit- lich aufgefordert habe, sich dieser Sache anzunehmen. Herr Robbe, bitte schön. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN sowie des Abg. Gert Win- Reinhold Robbe, Wehrbeauftragter des Deutschen kelmeier [fraktionslos]) Bundestages: Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Auch ein zweites Thema war für die in Kunduz einge- Damen und Herren! Liebe Soldatinnen und Soldaten auf setzten Soldaten Anlass für – auch aus meiner Sicht – der Zuschauertribüne! berechtigte Empörung. Im Zusammenhang mit der poli- tischen Auseinandersetzung um den Bundeswehreinsatz (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ in Afghanistan wurde den Soldatinnen und Soldaten in CSU, der FDP, der LINKEN und des BÜND- einem Beitrag vorgeworfen, an – so wörtlich – terroristi- NISSES 90/DIE GRÜNEN) schen Aktivitäten zumindest mittelbar beteiligt zu sein. Diese Äußerungen haben nicht nur Kopfschütteln und Vor ziemlich genau drei Monaten habe ich dem Deut- Ratlosigkeit hervorgerufen. Die Soldatinnen und Solda- schen Bundestag und damit gleichzeitig der deutschen ten haben mich ausdrücklich gebeten, in geeigneter Öffentlichkeit meinen jüngsten Tätigkeitsbericht vorge- Weise deutlich zu machen, dass derartige Entgleisungen legt. Vorweg will ich mich ganz herzlich bei Ihnen allen, inakzeptabel sind, gerade dann, wenn wir tote und insbesondere beim Verteidigungsausschuss, dafür be- schwerverletzte Soldaten zu beklagen haben. danken, dass wir bereits heute Gelegenheit haben, diesen Tätigkeitsbericht zu behandeln. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zu- (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) ruf des Abg. Frank Spieth [DIE LINKE]) Bevor ich auf die wichtigsten Punkte meines Berichts In meinem letzten Tätigkeitsbericht habe ich die zu sprechen komme, gestatten Sie mir einige Hinweise schlechten Unterkünfte und zum Teil desolaten Bundes- zur Situation unserer Soldatinnen und Soldaten im Ein- wehrkasernen in den alten Bundesländern in den Mit- satzgebiet Afghanistan. Vor wenigen Tagen bin ich von telpunkt gestellt. Dies hat zu einem breiten Echo inner- einem Truppenbesuch aus den Einsatzgebieten Afgha- halb, aber auch außerhalb des Deutschen Bundestages nistans zurückgekehrt. Deshalb stehe ich, wie Sie sich geführt. Viele Abgeordnete, aber auch Regierungsmit- vorstellen können, noch sehr unter dem Eindruck dieses glieder und insbesondere zahlreiche Bundeswehrange- (B) Besuches, insbesondere mit Blick auf die Situation in hörige haben meine Aussagen in jeder Hinsicht bestätigt (D) Kunduz, wo – das wissen wir alle – drei Bundeswehrsol- und für eine Lösung dieses Problems plädiert. Inzwi- daten durch einen schrecklichen Terroranschlag der Tali- schen liegt ein Bericht des Bundesverteidigungsminis- ban ums Leben kamen. Wie Sie sich vorstellen können, ters vor, der im Grundsatz meine Feststellungen bestätigt trauern die in Kunduz stationierten Soldatinnen und Sol- und im Detail Stellung zum Finanzbedarf für notwen- daten nach wie vor um ihre gefallenen Kameraden, und dige Instandsetzungs- und Sanierungsarbeiten in den die Stimmung bei allen Gesprächen, die ich vor Ort füh- deutschen Kasernen nimmt. ren konnte, war verständlicherweise gedrückt. Sie werden Verständnis dafür haben, wenn ich an die- Unabhängig davon haben mir die Soldaten in aller ser Stelle die dringende Bitte an Sie als Mitglieder dieses Offenheit zwei Punkte genannt, die sie in gar keiner Parlaments richte, die notwendigen Mittel im Haushalt Weise nachvollziehen können und die bei ihnen in glei- 2008 und in den Folgejahren zur Verfügung zu stellen. chem Maße Enttäuschung und Wut hervorgerufen ha- Es geht hierbei nicht nur um die Verbesserung der Unter- ben. Zum einen bezieht sich der Unmut der Soldaten auf bringungssituation für unsere Soldatinnen und Soldaten; die Art und Weise, wie über den jüngsten Anschlag in vor allem geht es um Glaubwürdigkeit. In den letzten Kunduz berichtet wurde. Die Veröffentlichung von Fo- Jahren wurden – das wird mir bei fast jedem Truppenbe- tos, auf denen die schmerzverzerrten Gesichter der such vor Augen geführt – immer wieder Sanierungen schwerverletzten deutschen Soldaten zu sehen sind, hat und Instandsetzungen angekündigt und kurze Zeit später nicht nur bei den Bundeswehrangehörigen, sondern weit doch wieder auf die lange Bank geschoben. Mit einem darüber hinaus Empörung und Proteste hervorgerufen. Sofortprogramm für die Modernisierung der westdeut- Erstmalig wurde in deutschen Medien auf eine Unkennt- schen Kasernen könnte an dieser Stelle verloren gegan- lichmachung der Gesichter offensichtlich ganz bewusst genes Vertrauen schnell zurückgewonnen werden. verzichtet. Einen weiteren Aspekt meines Tätigkeitsberichtes Meine Damen und Herren, ich denke, es ist in jeder möchte ich in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt Hinsicht nachvollziehbar, wenn sich sowohl die Solda- lassen. Der Bundeswehreinsatz im Kongo im vergan- tinnen und Soldaten wie auch deren Angehörige über genen Jahr war nach überwiegender Meinung ein politi- diese – gestatten Sie mir den Ausdruck in diesem Zu- scher Erfolg. Das gilt aber nicht für die Einsatzplanung sammenhang – unmenschliche Form der Berichterstat- und Durchführung. Die Zustände in den Feldlagern, ins- tung empören. besondere in Kinshasa, waren teilweise wirklich kata- strophal. Im Tätigkeitsbericht habe ich dazu ausführlich (Beifall im ganzen Hause) Stellung genommen. Erstmals wurde eine private Firma 10814 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Wehrbeauftragter Reinhold Robbe (A) mit der Errichtung eines Feldlagers beauftragt. Mit die- und bleibenden Behinderungen verbunden sind, leisten (C) ser Aufgabe war sie aber ganz offensichtlich überfordert. unsere Soldatinnen und Soldaten ihren Dienst professio- nell, hoch motiviert und loyal. (Jörg Tauss [SPD]: So ist es mit der Privatisie- rung!) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die von ihr errichteten Zelte waren undicht und setzten Schimmel an. Eine Klärgrube lief nach starkem Regen Aus meiner Sicht, meine sehr verehrten Damen und mehrfach über, was dazu führte, dass die Fäkalien durch Herren, sind unsere Soldatinnen und Soldaten die besten die Zelte der Soldaten schwammen. Solche Verhältnisse Botschafter, die wir uns wünschen können. Auch heute sind unzumutbar, gerade weil sie vermeidbar gewesen besteht Anlass, ihnen dafür ganz herzlich Dank zu sa- wären. gen. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Aus meiner Sicht ergibt sich aus den geschilderten Ich komme zum Schluss. Danken will ich aber auch Missständen eine ganz entscheidende Frage: Sollen die dem Präsidenten und dem Präsidium des Deutschen aus den Grundsätzen der inneren Führung abgeleiteten Bundestages, dem Verteidigungsausschuss im Besonde- bewährten Standards für Schutz und Sicherheit der Sol- ren und dem Bundesminister der Verteidigung sowie al- datinnen und Soldaten, ihre sanitätsdienstliche Versor- len nachgeordneten Dienststellen für das ausgezeichnete gung sowie ihre Unterbringung und Verpflegung in Zu- Zusammenwirken und die Unterstützung. Schließlich kunft ihre Gültigkeit behalten, oder sollen die Standards danke ich selbstverständlich meinen Mitarbeiterinnen im Einsatz eingeschränkt, relativiert oder sogar abge- und Mitarbeitern, ohne die ich meine Arbeit nicht leisten schafft werden? In meiner Eigenschaft als Wehrbeauf- könnte. tragter dieses Parlaments warne ich davor, diese Stan- dards der Bundeswehr auch nur anzutasten. Die (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP Fürsorgepflicht muss uneingeschränkt gelten, ganz be- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie sonders im Einsatz. bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP In der Bundeswehr würde man sagen: Meine Leute sind und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schon eine tolle Truppe. Dafür danke ich ihnen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, weitere Auch Ihnen herzlichen Dank. (B) Schwerpunkte meines Berichts sind die sanitätsärztli- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP (D) che Versorgung der Soldatinnen und Soldaten, Fälle von und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Defiziten im Führungsverhalten und spektakuläre Be- richte über Ausschweifungen und Exzesse, bei denen – dies muss man hinzufügen – fast immer Alkohol im Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Spiel war. Aber auch die immer wiederkehrenden Pro- Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, bleme mit Blick auf fehlende Dienstposten, übermäßige möchte ich im Namen des ganzen Hauses dem Wehrbe- dienstliche Belastungen, Schwierigkeiten bei der Verein- auftragten sowie seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbei- barkeit von Familie und Dienst sowie die unzureichende tern für die Vorlage des Jahresberichts 2006 und die vor- Würdigung der Reservisten finden sich im Jahresbericht züglich geleistete Arbeit besonders danken. 2006 wieder. (Beifall im ganzen Hause) Wenn ich gefragt werden sollte, welche große Über- Das Wort hat jetzt die Kollegin Anita Schäfer von der schrift ich über meinen Tätigkeitsbericht setzte, dann CDU/CSU-Fraktion. fiele meine Antwort eindeutig aus: Die Bundeswehr ist nach wie vor unterfinanziert. Fehlendes Geld bedeutet im Bereich Personal auch fehlende Planstellen und damit Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU): Beförderungsstaus. Fehlendes Geld bedeutet, dass es seit Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und acht Jahren keine Wehrsolderhöhung für Wehrdienstleis- Kollegen! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter, ich tende gegeben hat. Fehlendes Geld bedeutet Fähigkeits- danke Ihnen für den 48. Jahresbericht und spreche die- lücken insbesondere beim Heer und bei der Luftwaffe sen Dank auch im Namen meiner Fraktion aus. Die Auf- und für die Zukunft Probleme bei der Nachwuchsgewin- merksamkeit des Bundestages für die Soldatinnen und nung. All dies muss man wissen, wenn es darum geht, Soldaten der Bundeswehr muss eine verlässliche Größe die Bundeswehr insgesamt zu bewerten. sein und bleiben. Unser Dank gilt auch Ihren Mitarbei- tern, die im Berichtsjahr viele Eingaben zu betreuen hat- Umso bemerkenswerter ist es, dass, von Ausnahmen ten. abgesehen, die Soldatinnen und Soldaten sowohl in der Heimat als insbesondere auch in den zahlreichen Ein- Im Blickpunkt stehen vor allem drei Bereiche, welche satzgebieten in bewundernswerter Art und Weise ihren die Fürsorgepflicht des Staates gegenüber seinen Solda- Dienst verrichten. Trotz Engpässen, trotz zunehmender ten in besonderer Weise berühren: erstens die Auslands- Belastungen und trotz immer wieder zu beklagender einsätze, zweitens die Infrastruktur und drittens die sani- Schicksalsschläge, die mit Tod, schwersten Verletzungen tätsdienstliche Versorgung. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10815

Anita Schäfer (Saalstadt) (A) Die Einsätze der Bundeswehr sind schwierig, he- weist der 48. Jahresbericht des Wehrbeauftragten völlig (C) rausfordernd und gefährlich. Der Jahresbericht zeigt, zu Recht hin. dass die Soldaten ihren Einsatz vielerorts unter schwieri- Im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit ste- gen Rahmenbedingungen erfolgreich durchführen. Al- hen außerdem die militärische Infrastruktur und die lerdings sind immer wieder Defizite hinsichtlich der Pla- sanitätsdienstliche Versorgung. Der Bericht dokumen- nung und Organisation, Mängel in der Ausstattung und tiert zahlreiche Fälle von Mängeln bei Truppenunter- übertriebene Bürokratie zu beklagen. Ich nenne exem- künften, vornehmlich in den alten Bundesländern. plarisch die teilweise unzumutbare Unterbringung von Außerdem wirkt sich die Einsatzbelastung des sanitäts- deutschen Soldaten im Rahmen der Mission dienstlichen Personals mittlerweile spürbar auf die Qua- EUFOR RD Congo, fehlende Lufttransportkapazitäten lität der Bundeswehrkrankenhäuser und die truppenärzt- und Defizite beim Schutz des deutschen Einsatzkontin- liche Versorgung aus. Für mich steht fest: Dieses Bild ist gents in Afghanistan. mit dem Selbstverständnis einer modernen und leis- Die Einsatzplanung und Einsatzdurchführung der tungsfähigen Armee unvereinbar. Mission EUFOR RD Congo ist durch das BMVg umfas- Der Bericht des Wehrbeauftragten zeigt eindringlich, send bewertet worden. Es ist begrüßenswert, dass sich dass die Attraktivität der Streitkräfte nicht nur ein das Ministerium seiner Verantwortung stellt. Der Vertei- Schlagwort sein darf. Die Bundeswehr muss in Anbe- digungsausschuss wird diesen Bericht kritisch prüfen. tracht der demografischen Herausforderungen substan- Wir sind uns alle einig, dass die hohen nationalen zielle Maßnahmen ergreifen. Sie muss im Wettbewerb Standards für die Bundeswehr auch in multinationalen auf dem externen Arbeitsmarkt um die besten Köpfe be- Einsätzen Bestand haben müssen. Insbesondere darf es stehen können. Das erfordert eine ebenso kreative wie nicht zu Abstrichen bei der Verpflegung, der medizini- nachhaltige Nachwuchsgewinnung. So hält der Bericht schen Versorgung und der Unterbringung der Soldaten fest, dass die Beförderungssituation bei Unteroffizieren kommen. Aber auch auf den Bereich Menschenführung immer noch durch lange Wartezeiten sowie unverständ- müssen wir Parlamentarier unser besonderes Augenmerk liche Beurteilungsmaßstäbe geprägt ist. Deswegen sind richten. die Bemühungen des BMVg, durch ein neues, seit Januar 2007 geltendes Beurteilungssystem für mehr Durch die Entsendung von Schützenpanzern des Typs Transparenz zu sorgen, zu begrüßen. Marder sowie von Tornado-Aufklärungsflugzeugen konnte der Schutz des deutschen Kontingents der ISAF- Ein weiterer ganz zentraler Baustein für die Attrakti- Truppen in Afghanistan spürbar verbessert werden. Ei- vität der Bundeswehr ist eine bessere Vereinbarkeit von nes müssen wir uns aber klarmachen: In riskanten Missi- Familie und Beruf. Mit der Einführung neuer Arbeits- (B) onen kann es keinen hundertprozentigen Schutz geben. zeitmodelle setzt sich die Bundeswehr für familien- (D) Das hat der schlimme Selbstmordanschlag in Kunduz, freundliche Strukturen ein. Weitere wichtige Eckpfeiler der vor kurzem drei unserer Soldaten in den Tod gerissen sind die Lokalbündnisse für Familien und die Familien- hat, schmerzhaft in Erinnerung gerufen. Herr Verteidi- betreuungszentren. gungsminister Dr. Jung, ich wünsche mir sehr, dass wir Trotzdem belegen die steigenden Eingabezahlen in endlich ein zentrales Ehrendenkmal zur würdigen Erin- diesem Bereich, dass Handlungsbedarf besteht. Gerade nerung an die Soldaten, die im Einsatz ihr Leben gelas- wenn wir junge, fähige Frauen für den Dienst in den sen haben, schaffen. Streitkräften gewinnen wollen, sind sichtbare Maßnah- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- men dringend geboten. Vor allem müssen wir die Bun- neten der SPD) deswehr unterstützen, überzeugende Modelle für die Betreuung von Kindern aus Soldatenfamilien zu entwi- Deutschland hat mit seinem zivil-militärischen Ein- ckeln. satz im Norden von Afghanistan kluge Aufbauarbeit ge- leistet und viele Pluspunkte in der afghanischen Zivilbe- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- völkerung gesammelt. Ohne militärische Absicherung neten der SPD) ist zivile Aufbauarbeit nicht denkbar; das muss an dieser Die soziale Absicherung ist ein weiteres Kernthema, Stelle deutlich gesagt werden. Wer jetzt, wie die Damen das die Soldaten stark beschäftigt. Ausdrücklich würdigt und Herren der Linksfraktion, vorschnell „Abzug der der Wehrbeauftragte den Entwurf eines Einsatzweiter- Bundeswehr!“ ruft, der gibt den Extremisten der Taliban verwendungsgesetzes. Damit soll im Einsatz verletzten und ihrem Zerstörungswerk neuen Auftrieb. Das hätte Soldaten die gesundheitliche und berufliche Rehabilita- fatale Konsequenzen für die Region und unsere natio- tion im Soldatenstatus ermöglicht werden. Es ist wichtig, nale Sicherheit. dass wir dieses Gesetz jetzt zügig auf den Weg bringen, Unsere Soldaten brauchen Rückendeckung für ihren um Betroffenen rasch und unbürokratisch helfen zu kön- Auftrag, und wir müssen ihnen selbstverständlich den nen. Das ist auch ein klares Signal für unsere Soldaten bestmöglichen Schutz im Einsatz gewähren. im Einsatz, die wie in Afghanistan beträchtlichen Risi- ken für Leib und Leben ausgesetzt sind. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Viele der angesprochenen Defizite sind schon seit Jahren Dauerbrenner im Jahresbericht des Wehrbeauf- Knapp bemessene Haushaltsmittel dürfen nicht als tragten. Auch der aktuelle Bericht zeigt, dass die Fürsor- Rechtfertigung für Mängel im Einsatz herhalten. Darauf gepflicht des Staates gegenüber seinen Soldaten durch 10816 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Anita Schäfer (Saalstadt) (A) knapp bemessene Haushaltsmittel limitiert wird. Auf die wir auch im Rahmen dieser Debatte aus tiefem Her- (C) Dauer leiden darunter die Motivation der Soldaten im zen denken sollten. Einsatz, der Zusammenhalt und das innere Gefüge der Streitkräfte. Dies hat die Bundesregierung erkannt. Wir Herr Wehrbeauftragter, Sie haben in diesem Jahr in nehmen die Bundeskanzlerin beim Wort, die angekün- Ihrem Bericht den Fokus insbesondere auf den Zustand digt hat, dass 2008 mehr Geld in die innere und äußere der Kasernen, die Missstände im Sanitätsdienst und die Sicherheit investiert werden soll. Ein klares Signal bei Ausrüstungs- und Ausbildungsdefizite in der Bundes- der Entwicklung des Einzelplans 14 ist überfällig. wehr gelenkt. Der untragbare Zustand in vielen Bundes- wehrkasernen scheint einer der wenigen Bereiche zu Zum Schluss möchte ich sagen: Meine teilweise kriti- sein, in denen die Bundesregierung nicht versucht, die schen Anmerkungen sollen insbesondere uns Politikern eklatanten Mängel zu beschönigen. zeigen, dass wir die Sorgen und Nöte unserer Soldaten ernst nehmen und wir im Verteidigungsausschuss be- Das Bundesverteidigungsministerium hat auf eine müht sind, unserer Verantwortung gerecht zu werden. schriftliche Frage von mir mitgeteilt, dass der planeri- sche Bedarf für die nächsten 15 Jahre 7,3 Milliarden Vielen Dank. Euro beträgt. Jedoch hat die Bundesregierung 2007 von den 1,13 Milliarden Euro, die allein für den Bauerhalt (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nötig wären, lediglich 425 Millionen Euro in den Vertei- neten der SPD) digungshaushalt eingestellt. Die Bugwelle der Unterhal- tungsmaßnahmen, wie es bei der Bundesregierung heißt, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: wird auch in den nächsten Jahren nicht zu stoppen sein, Das Wort hat jetzt die Kollegin Elke Hoff von der da im Bundeswehrplan 2008 nur die Hälfte der notwen- FDP-Fraktion. digen Mittel für Bauerhaltungsmaßnahmen eingestellt sind. (Beifall bei der FDP) Es wäre daher aus Sicht der FDP-Fraktion wesentlich zielführender, im Ministerium mehr als bisher konkrete Elke Hoff (FDP): Public-Private-Partnership-Projekte zu prüfen, die eine Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! schnellere Sanierung der Kasernen ermöglichen. Diese Liebe Kollegen! Herr Wehrbeauftragter Robbe, ich Projekte mögen im Ergebnis vielleicht nicht billiger danke Ihnen sehr für Ihren Bericht, den Sie heute vorle- sein, aber sie sind schneller. Eine menschenwürdige Un- gen. Er spricht in diesem Jahr eine deutliche Sprache terbringung der Soldatinnen und Soldaten muss wesent- und setzt klare Schwerpunkte. Ich bin Ihnen auch sehr licher Teil eines Attraktivitätsprogramms Bundeswehr (B) dankbar, dass Sie Stellung genommen haben zu den sein; denn sonst sieht es mit der Nachwuchsgewinnung (D) schlimmen Ereignissen in Kunduz und zur Berichterstat- düster aus. tung, die ihnen gefolgt ist. Die Defizite im Sanitätsdienst sind Gott sei Dank Auf der einen Seite ist es bemerkenswert geschmack- nicht mehr wegzudiskutieren. Ich kann bisher nicht er- los, wie die Presse teilweise mit unseren Soldatinnen kennen, dass die Bundesregierung die offensichtlichen und Soldaten umgeht. Auf der anderen Seite vermisse und eingestandenen Missstände konsequent abstellt. Wir ich die Entschuldigung des Vorsitzenden der Linkspar- brauchen aber dringend Lösungen, durch die die Situa- tei. Sie, Paul Schäfer, wissen, dass ich Sie als Kollege im tion im Sanitätsdienst wirksam verbessert und men- Verteidigungsausschuss schätze. Ich wäre sehr froh, schenwürdige Arbeitsbedingungen für die Sanitätsärzte wenn zumindest von Ihrer Seite heute ansatzweise eine und das Zivilpersonal geschaffen werden. Diese Lösun- Entschuldigung für die Entgleisung käme, die Ihr Partei- gen dürfen allerdings nicht zulasten der Ausbildung, der vorsitzender in der Öffentlichkeit vorgetragen hat. Qualifikation und des laufenden Betriebs in den Kran- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: kenhäusern zu Hause gehen. Ich hoffe, dass wir nachher Das ist unfair gegenüber Paul Schäfer!) in den Ausführungen von Herrn Minister Jung auch dazu etwas hören werden. Denn die Aussagen, die bisher aus Ich finde es entsetzlich. dem Ministerium zu vernehmen waren, stimmen nicht gerade optimistisch. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ Herr Wehrbeauftragter, ich bin froh, dass Sie die man- DIE GRÜNEN]: Schäfer spricht Gott sei Dank gelhafte Ausbildung und Ausrüstung hervorgehoben nur für sich! – Winfried Nachtwei [BÜND- haben. Die Bereitschaft der Bundesregierung, die hier NIS 90/DIE GRÜNEN]: Im Ausschuss war er vorhandenen Defizite einzuräumen, ist deutlich geringer differenziert!) ausgeprägt. Nachdem ich im letzten Jahr den Vorwurf geäußert habe, dass unsere Soldaten weit davon entfernt Die heutige Debatte darf ich als Vertreterin der FDP- seien, im Auslandseinsatz über eine optimale Ausrüs- Fraktion natürlich dazu nutzen, unseren Soldatinnen und tung zu verfügen, hat Minister Jung immer wieder be- Soldaten für den gefährlichen Einsatz im Ausland und kundet, dass dies falsch sei. auch für den Einsatz hier vor Ort zu danken. Erst vor we- nigen Wochen hatten wir durch den schrecklichen An- Nach seiner Wahrnehmung sei alles in bester Ord- schlag in Kunduz erneut Opfer unter unseren Soldaten nung, wir hätten schon heute die optimale Ausrüstung und der afghanischen Zivilbevölkerung zu beklagen, an und Ausbildung im Einsatz, und es sei eine gute Grund- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10817

Elke Hoff (A) lage geschaffen, um den Anpassungs- und Modernisie- von Menschen meines Erachtens nicht gegeneinander (C) rungsbedarf der Bundeswehr weiter voranzutreiben. aufgerechnet werden darf. Ich will damit sagen, dass der Diese Wahrnehmung scheint mir recht exklusiv zu sein. Tod eines Engländers oder einer afghanischen Familie So spricht die militärische Führung des Bundesverteidi- nicht weniger tragisch ist als der Tod eines deutschen gungsministeriums davon, dass die Mindestausrüstung Soldaten oder eines deutschen Entwicklungshelfers. Mit für heutige Einsätze teilweise nicht einmal bis 2010 be- einem kleinen Unterschied – vielleicht sogar mit einem schafft werden kann. großen Unterschied –: Denn ich habe an der Entschei- dung, dass sich deutsche Soldaten in Afghanistan befin- Durch das Fortschreiben einer nicht einsatzorientier- den und dort ihren Dienst tun, mitgewirkt. ten Beschaffungspolitik sind alle finanziellen Spiel- räume aufgezehrt, die es ermöglichen würden, kurzfris- Nach dem Sinn und nach dem Zweck, nach dem Er- tig auf neue Bedarfe zu reagieren. Dies entspricht nicht folg und nach der Einstellung der Bevölkerung zu die- den Anforderungen an einen dynamischen Prozess, der sem Einsatz fragen sich auch viele Soldaten; das hat der die Transformation der Bundeswehr eigentlich sein Bericht des Wehrbeauftragten deutlich gemacht. Seit sollte. fünf Jahren sind 30 000 Soldaten in Afghanistan. Die Zivilbevölkerung gerät immer mehr in die Schusslinie: (Beifall bei der FDP) Afghanische Polizisten werden von US-Truppen er- Herr Minister Jung, mit dieser Einschätzung befinde schossen, Schüler sterben durch Beschuss von OEF- ich mich in guter Gesellschaft mit dem sicherheitspoliti- Truppen. Da ist es klar, dass auch die ISAF-Truppen den schen Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, auf Rückhalt in der Bevölkerung verlieren. dessen lesenswerten Artikel in der „Loyal“ ich Sie an Ich frage mich aber ernsthaft: Welchen Beitrag leisten dieser Stelle noch einmal hinweisen möchte. Allerdings die afghanischen Machthaber eigentlich selber? Ich be- ist es schade, dass die Fraktion der Kanzlerin ihre Mög- tone: Machthaber, weil es dort einige wenige gibt, die lichkeiten innerhalb der Koalition, bereits heute für eine die Macht haben, sich selber gut versorgen, ihre Clans bessere materielle und finanzielle Ausrüstung der Bun- einbinden, aber ansonsten reichlich korrupt sind. deswehr zu sorgen, so wenig nutzt. (Beifall bei der FDP) Der deutsche General Ramms hat in einem Interview gesagt: Wir müssen dem Einsatz ein afghanisches Ge- Wieso, liebe Kollegen, lösen Sie die Vereinbarung des sicht geben. – Ich frage mich auch: Welchen Beitrag leis- Koalitionsvertrages nicht ein, die zahlreichen neuen ten eigentlich die Staaten, die den gleichen Glauben und Auslandseinsätze der Bundeswehr nicht weiterhin aus eine ähnliche Kultur, Geschichte und Sozialisation wie dem Verteidigungsetat, sondern aus dem allgemeinen die Afghanen haben? Diese Fragen scheinen auch in den (B) Haushalt zu finanzieren? Die Koalition muss endlich Köpfen der deutschen Bevölkerung und der Soldaten im (D) deutlich machen, was ihr die zahlreichen Einsätze der Einsatz zu schwirren. Ein immer größerer Teil der deut- Bundeswehr im Ausland als Instrument der Außenpoli- schen Bevölkerung lehnt den Einsatz in Afghanistan ab. tik wert sind und welche Zukunft die Bundeswehr haben Gut, wir machen keine Politik für den Stammtisch – aber soll. Auch die finanzielle Ausstattung muss der Realität zu denken gibt mir das schon. Vermitteln wir nicht ge- heutiger Einsätze und den Anforderungen der Transfor- nug den Sinn und Zweck? Im Moment überschlagen sich mation genügen. die Darstellungen der Befürworter des Afghanistanein- satzes. Es gibt Schilderungen, welche Katastrophen ein- Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, es ist eine ge- träten, zögen sich die deutschen Soldaten zurück. Ange- meinsame Aufgabe, die Bundeswehr auf dem schwieri- sichts der Situation müssen wir aber über die Strategie, gen Weg ihrer Transformation zu begleiten und ihr dabei vor allem über die unserer Partner, sprechen. Wir führen den Rücken zu stärken. Das sind wir unseren Soldatin- diese Diskussion natürlich auch im Ausschuss und in der nen und Soldaten schuldig. Fraktion. Danke für die Aufmerksamkeit. Der Wehrbeauftragte hat berichtet, wie Soldaten – auch (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Vorgesetzte! – über Politiker denken: Das Vertrauen geht der CDU/CSU und der SPD) gegen null. – Das hat uns alle sehr erschreckt. Die Truppe bekommt offensichtlich den Eindruck, wir Politi- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ker würden unsere Soldatinnen und Soldaten gedanken- Das Wort hat jetzt die Kollegin Hedi Wegener von der los in die Einsätze schicken. Das ist nicht so: Wir ma- SPD-Fraktion. chen uns immerzu Gedanken über Sinn und Zweck dieses Einsatzes. Hedi Wegener (SPD): Häufig kritisiert wurde gegenüber dem Wehrbeauf- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen tragten auch die inhaltliche Vorbereitung und die Nach- und Herren! Lieber Herr Wehrbeauftragter, Sie haben bereitung. Es gebe keine Informationen, keine Schu- Ihre Rede mit dem Stichwort „Afghanistan“ begonnen; lung, keine politische Bildung zu den Einsätzen, das tue auch ich. Vor einigen Tagen hat mich eine Schul- zumindest aber nicht genug; schuld daran sei wieder ein- klasse gefragt, ob sich meine Einstellung zu Auslands- mal die Politik. Politische Bildung gehört zu den Unter- einsätzen geändert habe, seitdem vor kurzem drei deut- richtseinheiten, die oft ausfallen – diesen Eindruck be- sche Soldaten ums Leben gekommen sind. Ich habe mit stätigte mir der Präsident der Bundeszentrale für meiner Antwort gezögert, dann aber gesagt, dass der Tod politische Bildung. Genauso ist es eine Tatsache, dass 10818 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Hedi Wegener (A) bei der Vor- und Nachbereitung der Einsätze vieles ver- gesprochen wird und dass sich die Krankenhäuser der (C) bessert werden kann und muss: Zwei bis drei Tage rei- Bundeswehr dieses Themas annehmen. Auch hier müs- chen zur Nachbereitung eines Einsatzes wie in Afghanis- sen die Einsatzvorbereitung und insbesondere auch die tan nicht aus. Einsatznachbereitung verbessert werden. Vor allem aber müssen wir für diejenigen Lösungen finden, die aus der Nicht verstehen kann ich die Kritik durch Führungs- Bundeswehr ausgeschieden sind. Posttraumatische Stö- kräfte der Bundeswehr. Ich bitte Sie, meine Herren Vor- rungen können auch erst Jahre später auftreten. gesetzten: Sie alle sind nach den Grundsätzen der inne- ren Führung für viel Geld zu mitdenkenden, Zum Schluss noch einmal unseren – ich sage bewusst selbstständig handelnden Angehörigen der Streitkräfte „unseren“, nämlich den der Bundeswehr und des Parla- ausgebildet worden. Sie können doch nicht darauf war- ments – Dank an den Wehrbeauftragten und sein Team. ten, dass die Politik Ihnen Material zur Vorbereitung auf Herr Robbe, Sie sind ein wichtiger Mittler für uns. Sie das Einsatzland liefert. Berechtigte Fragen der Soldaten transportieren die Sorgen der Soldaten nicht nur zu uns mit dem Hinweis zu beantworten, die Politiker lieferten ins Parlament, sondern auch in die Öffentlichkeit. Blei- keine Informationen, reicht nicht. Bitte befördern Sie ben Sie weiterhin emphatisch, aber auch hartnäckig und nicht die Stimmung gegen die Politik! Die Kritik, es beharrlich. mangele an Informationen, steht außerdem in einem Vielen Dank. krassen Widerspruch zu dem, was wir im Unteraus- schuss „Innere Führung“ gehört haben: Dort wird immer (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) wieder von ausgezeichnetem Material und von ausge- zeichneten Kursen gesprochen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Meine Herren und Damen, es gibt hier augenschein- Das Wort hat jetzt der Kollege Paul Schäfer von der lich einen Widerspruch zu dem, was wir Politiker erfah- Fraktion Die Linke. ren. Es besteht offensichtlich ein Mangel an einsatzvor- (Beifall bei der LINKEN) bereitenden Informationen. Dieser Missstand sollte beseitigt werden. Ich empfehle eine stärkere Koopera- tion mit der Bundeszentrale für politische Bildung. Wir Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE): müssen gemeinsam zu einer verbesserten Kommunika- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe tion kommen. In dieser Situation sind bei den Soldaten Kolleginnen und Kollegen! Der Wehrbeauftragte hat Vorgesetzte gefragt, die zuhören, die sich die Mühe ma- zwei Grundentscheidungen getroffen, die ich für die chen, zu diskutieren und Fragen zu beantworten. Wir be- Fraktion Die Linke nachdrücklich unterstützen will: Ers- tens wird er grundsätzlich nur unangemeldete Truppen- (B) zeichnen das als Menschenführung. Genau dazu gibt es (D) sehr viele Fragen, wie der Wehrbeauftragte festgestellt besuche durchführen; denn der Wehrbeauftragte muss hat. die ungeschminkte Wahrheit kennen, um Missstände be- nennen zu können. Zweitens wird er sich mehr um Aus- Wir bekommen als Abgeordnete immer nur die Sah- landseinsätze kümmern, das heißt: Truppenbesuche in nestücke serviert. Wir hören von ausgewählten Soldaten, den Einsatzgebieten. die, wenn sie Kritik äußern, dies verhalten und gut ein- gepackt tun. Da ist es schon sehr erhellend, sich jedes Vor allem, wenn man gegenüber den Auslandseinsät- Jahr aufs Neue den Bericht des Wehrbeauftragten anzu- zen grundsätzlich kritisch ist, was ja für die Linke gilt, sehen und sich mit der Kritik der Soldaten zu befassen. ist es besonders wichtig, genau hinzusehen, ob die Ein- Der Wehrbeauftragte hat es sich zum Prinzip gemacht, satzarmee und die Prinzipien der inneren Führung zu- immer unangemeldet aufzutauchen. Das ergibt ein we- sammenpassen oder wo es Widersprüche gibt. Wir haben sentlich realistischeres Bild als die gut vorbereiteten Be- die Vorfälle in Coesfeld gesehen, wo es ja um die Vorbe- suche der Abgeordneten. reitung auf Einsätze ging. Dort kam es zu Verletzungen der Menschenwürde. Daneben gab es das Problem der Neben der Kritik der Soldaten an der Menschenfüh- Totenschädel in Afghanistan. Diese Verhaltensweisen rung, der Unterkünfte – der Wehrbeauftragte hat es ge- sind mit unseren Wertmaßstäben nicht vereinbar. Das sagt – und der Organisation des Kongoeinsatzes sind die heißt, hier ist es wichtig, dass der Wehrbeauftragte auch Langzeitwirkungen von persönlichen problematischen im Auftrag des Parlaments genau hinsieht und dass wir Erlebnissen und deren Verarbeitung bedrückend. Im Vorschläge dafür entwickeln, dass das abgestellt werden Info-Brief Heer des Deutschen Heeres las ich in der letz- kann. ten Woche Folgendes – ich zitiere –: In dem letztgenannten Fall geht es sicherlich auch um Das Beherrschen des militärischen Handwerks, kör- die Personalauswahl und nicht zuletzt um die politische perliche Robustheit und die Befähigung zum Bildung der Vorgesetzten. Jenseits individueller Schuld- Kampf sind untrennbare Faktoren, die den Solda- zuschreibungen müssen wir uns aber immer vergegen- tenberuf wesentlich bestimmen. wärtigen, inwieweit das kriegerische Umfeld Menschen verroht und entzivilisiert. Deshalb muss man das insge- Das stimmt. Aber auch die mentale, also die psychische samt infrage stellen. Vorbereitung ist wichtig. Das wird zunehmend durch posttraumatische Störungen deutlich, mit denen Sol- Hiermit komme ich zur Sinnhaftigkeit der Auslands- daten aus den Auslandseinsätzen zurückkommen. Es ist einsätze. Der Wehrbeauftragte hat es angesprochen und sehr gut, dass auch bei den Soldaten inzwischen darüber auch durch die Studie des Bundeswehrverbandes wird Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10819

Paul Schäfer (Köln) (A) deutlich, dass es ein wachsendes Unbehagen hinsichtlich haben das mit dem Hinweis auf ihren Status als Nicht- (C) des militärischen Engagements Deutschlands out of area kombattanten abgelehnt. Der Wehrbeauftragte hat vorge- gibt. Die gesellschaftliche Debatte darüber hat erst be- schlagen, sie aus diesem Bereich herauszunehmen. Ich gonnen. Wenn eine Mehrheit gegen den Afghanistanein- finde, die Bundesregierung ist jetzt am Zug, eine klare satz der Bundeswehr ist, dann kann die Politik nicht ein- Grenze zu ziehen und künftig anders zu verfahren. fach so weitermachen. Ich finde, dann muss man das auch einmal infrage stellen. Wenn der Einsatz militäri- (Beifall bei der LINKEN) scher Gewalt zu mehr Gewalt führt, dann muss man das Schließlich bin ich dem Wehrbeauftragten dafür auch einmal thematisieren. dankbar, dass er die ungenügenden sozialen und infra- (Beifall bei der LINKEN) strukturellen Bedingungen in der Truppe – zum Beispiel den Zustand der Kasernen – festgestellt hat. Die Re- Gestatten Sie mir an dieser Stelle eine klare Aussage gierung sagt, dass er damit offene Türen einrennt. Das zu der Vorhaltung des geschätzten Wehrbeauftragten wie nützt aber nichts, wenn dann an den Regierungsschreib- auch der Kollegin Hoff. Ich meine, politische Kontrover- tischen nichts passiert. Vielleicht liegt es auch daran, sen im Parlament über die deutsche Beteiligung am Ein- dass falsche Prioritäten gesetzt werden – Stichwort Eu- satz in Afghanistan dürfen nicht auf dem Rücken der rofighter und neue Fregatten – und deshalb kein Geld deutschen Soldatinnen und Soldaten ausgetragen wer- vorhanden ist, um für die Menschen zu investieren. Der den. Sie sollten aber auch nicht zur parteilichen Vorteils- Vorsitzende des Bundeswehr-Verbandes hat deutlich ge- nahme genutzt werden, um gegen einzelne Parteien macht, dass es um Menschen geht. Daran muss man den- Stimmung zu machen. ken. Das gilt auch für den Verteidigungsausschuss. Was ist vorgetragen worden? Vorgetragen wurde, dass Ich meine, wir sollten die überfällige Wehrsolderhö- Luftangriffe, denen Unschuldige zum Opfer fallen – wie hung beschließen und die Angleichung der Gehälter im kürzlich sieben Kinder in Afghanistan –, mit Terror Osten an die im Westen zu Ende bringen. Das haben die gleichzusetzen ist. Vor diesem Hintergrund muss man Betroffenen nötig. Wir sollten – auch das hat der Wehrbe- sich die Frage stellen: Sollen wir Deutschen uns daran auftragte angeschoben – endlich Stiftungen für die beteiligen? Radarstrahlenopfer einrichten. Damit ist der geschätzte Kollege Robbe dicht dran an den Themen, die aufgegrif- (Beifall bei der LINKEN) fen werden müssen. Für die Regierung gilt das meines Das war nicht die Frage der Soldatinnen und Soldaten, Erachtens leider noch nicht. Deshalb sind wir als Parla- sondern der politischen Führung. Das sollte man sehr ge- ment gefragt. nau auseinanderhalten. Ich halte diese Debatte aber für (B) Einer allgemeinen Laudatio auf den Wehrbeauftrag- (D) notwendig. ten schließe ich mich gerne an. Noch besser wäre es (Beifall bei der LINKEN – Hans Raidel aber, glaube ich, seine Kritik und Vorschläge zu beach- [CDU/CSU]: Paul, bleib ein anständiger ten. Mensch!) Danke. Der Wehrbeauftragte hat völlig zu Recht drei Punkte (Beifall bei der LINKEN) angesprochen, denen wir nachgehen müssen. Dabei geht es erstens um sogenannte Aufnahmerituale und Feiern in der Bundeswehr. Was die Vorfälle in Zweibrücken an- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: geht, hat der Wehrbeauftragte zu Recht festgestellt, dass Jetzt spricht Winfried Nachtwei für Bündnis 90/Die wir den Blick wieder verstärkt auf den Kernbereich der Grünen. inneren Führung – den Schutz der Rechte der Soldaten und eine zeitgemäße Menschenführung – richten müs- Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sen. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Vorsitz: Vizepräsidentin Katrin Göring-Eck- Auch ich begrüße ausdrücklich, wie sehr der Wehrbeauf- ardt) tragte, der geschätzte Kollege Robbe, seine Besuchstä- tigkeit in der Bundeswehr durch unangemeldete Besu- Das ist der entscheidende Punkt. Es ist schon oft bei In- che und jeweils etwas längere Aufenthalte in den formationen in den Truppen über Soldatenrechte gespro- Einsatzgebieten intensiviert hat. Das ist ausgesprochen chen worden, aber es sind keine Taten gefolgt. Deshalb hilfreich. müssen wir – die Aussagen des Wehrbeauftragten zu diesem Punkt sind sehr klar – diesem Anliegen viel stär- Sie haben zu Recht die Zustände in etlichen Bundes- keren Nachdruck verleihen. wehrliegenschaften im Westen herausgestellt, die in der Tat katastrophal und unzumutbar sind. Dieses Thema Ich bin dem Wehrbeauftragten auch dankbar für den wird seit etlichen Jahren immer wieder in den Berichten zweiten Punkt, den er angesprochen hat. Dabei geht es des Wehrbeauftragten angesprochen, ohne dass es zu ei- um den Fall der Sanitätssoldatin Christiane Ernst-Zettl, ner merklichen Besserung gekommen ist. Als Verteidi- den ich schon 2005 vorgetragen habe. Der Wehrbeauf- gungsausschuss wollen wir – darüber besteht, glaube ich, tragte hat den Fall aufgegriffen. Es geht darum, dass sich Konsens – nicht bis zum nächsten Jahresbericht warten, Sanitätssoldaten geweigert haben, bei Auslandseinsät- in dem dann – wenn auch vielleicht mit leichten Abstri- zen Wach- und Sicherungsaufgaben zu übernehmen. Sie chen – wieder dasselbe Problem angesprochen würde. 10820 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Winfried Nachtwei (A) Sie haben auch die katastrophalen Verhältnisse bei dernorts um die Köpfe und Herzen der Bevölkerung (C) der Unterbringung der Soldaten im Rahmen der Kongo- kämpfen sollen. mission in Libreville und Kinshasa angesprochen. Diese Der Bericht des Wehrbeauftragten und auch die Mit- sind auch nicht damit zu begründen, dass es sich um eine gliederbefragung des Bundeswehr-Verbandes sind nach neue Mission in ganz neuen Verhältnissen handelte. Sie meiner Ansicht ein Alarmruf an das Parlament. waren noch weit darunter. In der Tat war die beauftragte Privatfirma völlig überfordert, und es gelang nicht, das Hier müssen wir erstens deutlich mehr Klarheit schaf- rechtzeitig auszugleichen. fen: Was wollen wir mit den Streitkräften? Was sollen sie in Zukunft konkret tun? – Da sind wir noch viel zu Allerdings ist auch ausgesprochen bedauerlich, dass allgemein. im Zusammenhang mit der berechtigten Markierung die- ser Mängel der Zweck, die Wirkung und das Ergebnis Zweitens brauchen wir auch selbst mehr Klarheit über der Kongomission in der Öffentlichkeit weit in den die latenten Prozesse, die nicht so direkt sichtbar sind, Schatten gestellt wurden. Insgesamt war es nämlich tat- die sich aber in den Streitkräften mit der Zeit entwickeln. sächlich eine gute und erfolgreiche Gemeinschaftsleis- An dieser Stelle halte ich es für sehr angebracht, wie- tung. Das wird zwar immer wieder mal vermerkt, aber der die schon seit längerer Zeit im Raum stehende For- mehr nicht. Im Ergebnis war es dann leider eine derung aufzunehmen, dass der Wehrbeauftragte erwei- Schräglage. Das liegt nicht an Ihnen, ist aber bedauer- terte Möglichkeiten bekommt, auch diese strukturellen lich. Veränderungen, Einstellungsveränderungen und Wahr- Lassen Sie mich nun ein Kapitel ansprechen, das nehmungsveränderungen in den Streitkräften genauer zu mich sehr beunruhigt hat, als der Bericht vorgelegt analysieren und auch auf Erkenntnisse des Sozialwis- wurde, das in der öffentlichen Wahrnehmung aber prak- senschaftlichen Instituts der Bundeswehr und des tisch keine Rolle spielte – auch Sie haben es heute eher Truppenpsychologischen Dienstes zurückzugreifen. nur am Rande angesprochen, lieber Kollege Robbe –, Dies ist zwingend notwendig, damit wir dem Risiko, nämlich Mängel beim Führungsverhalten. dass innere Führung von oben ausgehöhlt wird, entge- genwirken können. Ich zitiere aus Ihrem Bericht: In diesem Zusammenhang danke ich Ihnen und Ihren Fehlverhalten von Vorgesetzten ist nicht auf Einzel- Mitarbeitern umso mehr für Ihre Arbeit. Sie ist für uns fälle beschränkt. Es wird auch nicht immer konse- von entscheidender Bedeutung. quent verfolgt und geahndet. … Danke. Mich erschreckt, mit welcher Selbstverständlichkeit (B) manche Vorgesetzte selbst über die Stränge schla- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D) gen, Vorschriften missachten und die Rechte von und der SPD sowie bei Abgeordneten der Kameraden und Untergebenen verletzen. CDU/CSU) Es gibt noch weitere Zitate, die Sie auch kennen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Besonders irritieren mich diese Feststellungen, die Der Herr Bundesminister Dr. Franz Josef Jung hat das deutlich über die Markierung eines Einzelfalles hinaus- Wort. gehen, deshalb, weil wir als diejenigen, die viel mit der Bundeswehr und Offizieren zu tun haben, insgesamt Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister der Verteidi- Gott sei Dank ein sehr positives Bild haben. Diese gung: Schattenseite ist also äußerst unerfreulich. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Hier spannt sich für mich auch der Bogen zur Mit- Herren! Lassen Sie mich zu Beginn dem Wehrbeauftrag- gliederumfrage des Bundeswehr-Verbandes. Eine sol- ten sowie seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ers- che Gesamtbefragung, bei der ein Viertel der 210 000 tens für den Bericht und zweitens für die gute Zusam- Mitglieder antwortet, kann man nicht mehr als nicht re- menarbeit herzlich danken. Es ist zwar richtig, dass der präsentativ bezeichnen. Das ist ein Basiswert, der sich Wehrbeauftragte im Auftrag des Bundestages tätig ist. gewaschen hat. Deshalb muss man die Ergebnisse sehr, Aber er befördert auch die Interessen der Bundeswehr. sehr ernst nehmen. Herzlichen Dank für die Wahrnehmung Ihrer Aufgabe und Ihre Arbeit, Herr Wehrbeauftragter. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der FDP und der LINKEN) Lassen Sie mich zwei weitere Bemerkungen machen, bevor ich auf die Einzelheiten des Berichtes kurz eingehe. Ich nenne noch einmal einige von ihnen: 74 Prozent Die Institution des Wehrbeauftragten ist eine Errungen- der Berufssoldaten würden ihnen nahestehenden Perso- schaft unserer Demokratie. Er hat eine klare Kontroll- nen nicht mehr empfehlen, in die Bundeswehr zu gehen. funktion – in Unterstützung des Deutschen Bundestages – 64 Prozent finden, dass die Politik den Sinn der Aus- im Hinblick auf die Beachtung der Grundrechte der Sol- landseinsätze nicht ausreichend vermittelt. Jetzt eine daten und die Umsetzung der Grundsätze der inneren „positive“ Zahl: 3,9 Prozent fühlen sich von der Politik Führung. Das sind wichtige Gesichtspunkte, die immer unterstützt. wieder hervorzuheben sind, wenn es um die Bewältigung Mit anderen Worten: Die Politik – pauschal gesagt: der Aufgaben durch die Bundeswehr geht. Das Amt hat wir – verliert die Köpfe und Herzen derjenigen, die an- sich großes Vertrauen bei den Soldatinnen und Soldaten Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10821

Bundesminister Dr. Franz Josef Jung (A) erworben. Es ist Voraussetzung für die Arbeit des Wehr- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP (C) beauftragten, dass sich die Angehörigen der Bundeswehr und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) an ihn wenden und ihm sagen, was ihnen unter den Nä- geln brennt, damit wir die Chance haben, nicht nur über Drittens. Wir werden selbstverständlich die Kasernen einen solchen Bericht zu diskutieren, sondern auch auf in die Prioritätenliste aufnehmen und für Verbesserungen die Einzelheiten einzugehen und die berechtigten Kritik- sorgen. punkte aufzunehmen und abzubauen. Eines ist schon wahr: Man kann nicht immer mehr Leistungen von unseren Soldaten verlangen, wenn die Ich will auf einzelne Bereiche eingehen. Erstens. sozialen Rahmenbedingungen nicht stimmen. Um hier zu Wenn unsere Soldatinnen und Soldaten wie beispiels- Verbesserungen zu kommen, brauchen wir eine zusätzli- weise im Afghanistaneinsatz – dieser wurde bereits an- che finanzielle Unterstützung. Ich bitte den Deutschen gesprochen – auf bewundernswerte Art und Weise einen Bundestag – wir werden alsbald in die Haushaltsberatun- Beitrag zur Gewährleistung von Stabilität, Frieden und gen eintreten – um eine entsprechende Unterstützung, letztlich unserer Sicherheit leisten, ist es wichtig, dass weil wir nur dann unsere Aufgaben ordnungsgemäß er- sie ausreichend ausgebildet und gut ausgerüstet sind und füllen und unserem Auftrag gerecht werden können, die Grundvoraussetzungen für solche Einsätze erfüllt wenn wir die notwendigen finanziellen Grundlagen ha- sind. ben. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) des Abg. Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]) Ich will nun einen Gesichtspunkt ansprechen, der im Bericht Erwähnung findet, der hier aber noch nicht ange- Ich habe im letzten Jahr angeordnet, dass man in Afgha- sprochen wurde. In den vergangenen Jahren wurde ent- nistan nur noch mit geschützten Fahrzeugen fährt. Dies schieden, dass sich Frauen über den Bereich Sanitäts- war ein richtiger Schritt, gerade wenn ich mir die aktuel- dienst hinaus in der Bundeswehr engagieren können. len Anschläge vor Augen führe. Ich sage das, weil Sie Wir haben eine sehr gute Entwicklung. Es gibt mittler- vorgetragen haben, wir hätten nicht die notwendigen weile fast 13 000 Frauen in der Bundeswehr, die in her- Schutzmaßnahmen ergriffen und die Soldaten verfügten vorragender Art und Weise ihren Dienst leisten. Wir sind nicht über die entsprechende Ausrüstung. selbstverständlich jetzt gefordert, das Thema Familie Ich möchte das aufgreifen, was der Wehrbeauftragte und Beruf voranzutreiben. Durch die Frauen erfahren gesagt hat. Auch ich habe Kunduz besucht. Im PRT in wir in den Auslandseinsätzen eine beispielhafte Unter- Kunduz ist unsere Arbeit auf hervorragende Art und stützung. Deshalb möchte ich an dieser Stelle deutlich (B) Weise im Hinblick auf vernetzte Sicherheit umgesetzt. sagen, dass sich das Engagement der Frauen in der Bun- (D) Dort gibt es – bis in das einzelne Dorf – Projekte, die der deswehr positiv auf die Arbeit der Bundeswehr ausge- afghanischen Bevölkerung deutlich zeigen, dass wir un- wirkt hat. terstützend tätig sind und den Menschen helfen wollen. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Nach dem Anschlag hat es eine breite Solidarisierung FDP sowie der Abg. Marieluise Beck [Bre- mit unseren Soldaten gegeben. Wir haben nach Einschät- men] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) zung unserer Soldaten 95 Prozent der Bevölkerung auf unserer Seite. Das ist der richtige Weg, die Arbeit in Af- Bei all den Mängeln, die hier zu Recht angesprochen ghanistan fortzusetzen. worden sind, darf nicht das vergessen werden – wir re- den hier über den Jahresbericht 2006 –, was an zusätzli- Ich kann nur unterstreichen, was der Wehrbeauftragte chen Aufgaben auf die Bundeswehr zukam. Als wir die im Hinblick auf die Veröffentlichung der Fotos von ver- Regierung gebildet haben, hat noch niemand daran ge- wundeten Soldaten gesagt hat. Diese Fotos haben Be- dacht, dass im Jahr 2006 ein Einsatz im Kongo zu be- troffenheit bei den Soldaten hervorgerufen. Ich habe wältigen war. Dieser wurde hervorragend durchgeführt. mich an alle Zeitungen und öffentlich-rechtlichen Me- dien gewandt, die diese Fotos veröffentlicht haben. Ei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- nige haben deutlich reagiert und sich entschuldigt. An- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dere haben versucht, das zu rechtfertigen. Ich finde, die Trotz der Punkte, die man unter „lessons learned“ fas- Art und Weise der Veröffentlichung dieser Bilder ist sen kann, will ich unterstreichen, was Herr Nachtwei ge- nicht zu rechtfertigen. Wir müssen in Zukunft mehr sagt hat. Wir haben die demokratischen Wahlen abgesi- Rücksicht auf die Gefühle der Menschen nehmen. chert und unsere Mission in dem vorgesehenen Zeitraum abgeschlossen. Wir haben erfolgreich dafür gesorgt, dass (Beifall im ganzen Hause) es keinen Rückfall in den Bürgerkrieg gab. Es war also Zweitens. Mit Betroffenheit und Entsetzen haben die eine erfolgreiche Mission im Kongo, die vonseiten Euro- Soldaten aufgenommen, dass Herr Lafontaine, Vorsit- pas durchgeführt wurde und an der die Bundeswehr be- zender der Linken, ihre Tätigkeit mit den Aktivitäten teiligt war. von Terroristen gleichgesetzt hat. Ich finde, Herr La- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: fontaine müsste sich sofort entschuldigen. Das ist ver- Das sieht Herr Bisky genauso!) antwortungslos. Er betreibt damit das Geschäft derjeni- gen, die sich terroristisch gegen uns wenden. Das ist mit Es gab einen weiteren zusätzlichen Einsatz, nämlich allem Nachdruck zurückzuweisen. die UNIFIL-Mission vor der Küste des Libanons. Es 10822 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Bundesminister Dr. Franz Josef Jung (A) gab auch im Innern Einsätze. Ich nenne beispielsweise handlungen mussten mitunter verschoben, oftmals weit (C) die Stichworte Schneekatastrophe, Vogelgrippe, Hoch- verschoben werden. wasser und Fußballweltmeisterschaft, wo wir auf dem Neben den personellen Engpässen im klinischen Be- Gebiet der Sicherheit mitgeholfen haben. Dies bedurfte reich kommt es mittlerweile auch zu Engpässen im Be- eines enormen zusätzlichen Engagements der Bundes- reich der truppenärztlichen Versorgung und in den re- wehr. Man kann daran erkennen, dass unsere Bundes- gionalen Sanitätseinrichtungen. Grund ist auch hier die wehr leistungsfähig und einsatzfähig ist und ihren Auf- starke Beanspruchung der medizinischen Mitarbeiterin- trag im Hinblick auf eine friedliche Entwicklung gerade nen und Mitarbeiter durch Auslandseinsätze. Grund ist in den Auslandseinsätzen hervorragend erfüllt. aber auch – der Minister ist gerade darauf eingegangen –, Bei all den Mängeln, die noch abzustellen sind, soll- dass es gerade im Sanitätsdienst eine verhältnismäßig ten wir für das Engagement dankbar sein, das unsere hohe Anzahl von Frauen gibt, teilweise über 50 Pro- Soldatinnen und Soldaten für unsere Sicherheit und da- zent. Das ist gut so, und das ist politisch gewollt. Aber mit für Frieden und Freiheit in der Welt zeigen. auch hier muss man sagen: Den Spiegel vor das Gesicht halten, heißt, dass wir bei der Dienstpostenbesetzung Besten Dank. entsprechende Rahmenbedingungen schaffen und diese (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie ändern müssen, wenn wir weiterhin einen entsprechend der Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜND- hohen Frauenanteil in den Streitkräften wünschen; denn NIS 90/DIE GRÜNEN]) da, wo viele Frauen sind, hat man eine wesentlich gerin- gere Tagesantrittsstärke. Frauen in den Streitkräften ent- scheiden sich nämlich auch während ihrer Dienstzeit für Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Kinder. Das ist gut so, das ist richtig, und das wollen wir. Zum Abschluss der Debatte spricht Petra Heß für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ Petra Heß (SPD): DIE GRÜNEN) Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Robbe! Liebe Sie sind aber damit für Auslandseinsätze über Jahre hi- Kolleginnen und Kollegen! Es ist wohl allen klargewor- naus erst einmal nicht verfügbar, oder sie nehmen nach den, dass auch der 48. Bericht des Wehrbeauftragten der Gründung der Familie Teilzeit in Anspruch. Auch zeigt, dass die Angehörigen der Bundeswehr sehr großes das ist politisch gewünscht, aber man muss dann bei der Vertrauen in diese Institution haben. Das ist gut so. Denn notwendigen Dienstpostenbesetzung entsprechend re- unsere Soldatinnen und Soldaten wenden sich sehr agieren. (B) selbstbewusst und mit einer großen Portion Selbstver- (D) ständlichkeit mit ihren Anliegen an unseren Wehrbeauf- Mit der aktuell stattfindenden Reduzierung der Zahl tragten. Mit ihrem Eingabeverhalten unterstreichen sie, der Bundeswehrkrankenhäuser auf vier Bundeswehr- dass sie verantwortungsvolle Staatsbürger in Uniform krankenhäuser und ein Kooperationsmodell wird eine sind. Bündelung der medizinischen Ressourcen einhergehen, die insbesondere eine bessere personelle Ausstattung er- Unsere Soldatinnen und Soldaten erfüllen in dieser warten lässt. Auch die Personalstruktur im Bereich der schwierigen Phase der Transformation, in der sie sich Sanitätsoffiziere zeigt Gott sei Dank in den letzten Jah- jetzt befinden, nicht nur ihre Pflicht, sondern sie beglei- ren ein kontinuierliches Wachstum. Im Berichtsjahr wa- ten den Prozess kritisch und tragen dazu bei, dass sich ren das genau 11 Prozent. Die Anpassung der Qualifika- bei der Bundeswehr vieles im positiven Sinne entwi- tion des Rettungs- und Pflegepersonals an die Standards ckelt. Der Bericht gibt Einblick in das Innenleben der im zivilen Gesundheitswesen macht eine zweijährige Streitkräfte, und – auch das will ich nicht verhehlen – er Aus- und Weiterbildung der Sanitätsunteroffiziere not- hält damit nicht nur der militärischen Führung, sondern wendig. Auch das verschärfte im Berichtsjahr die Perso- auch der Politik den Spiegel vors Gesicht. nalsituation zusätzlich. Die Rückkehr der Sanitätsunter- offiziere von ihrer zweijährigen zivilen Ausbildung im Ich will zunächst den Fokus auf den Sanitätsdienst Laufe der nächsten Jahre wird die personelle Situation richten. Wie schon in den vergangenen Jahren ist die sa- hingegen weiter verbessern. Sie sehen, es gibt viel Be- nitätsdienstliche Lage der Bundeswehr im Inland weiter- wegung in diesem gesamten Prozess. hin sehr angespannt. Die medizinische Versorgung der Soldatinnen und Soldaten im Inland, insbesondere die Ich will nicht unerwähnt lassen, dass die Umgliede- klinische Versorgung, war im Berichtsjahr zum Teil er- rung der Krankenhäuser auf einsatzorientierte Strukturen heblich beeinträchtigt. So waren zum Beispiel im Jahres- auch in Zukunft weiter erhebliche Engpässe auch beim mittel etwa 135 Ärzte permanent in Auslandseinsätzen zivilen Pflegepersonal mit sich bringen wird. Von ehe- gebunden. Besonders in den Bundeswehrkrankenhäu- mals 5 500 Pflegekräften sieht die Zielstruktur des sern führte dies zu ganz problematischen Personaleng- Personalmodells 2010 gerade einmal 2 650 verbleibende pässen bei Ärzten und bei Sanitätern. Erneut mussten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor. Notwendig wären auch im zurückliegenden Jahr in allen Bundeswehrkran- aber aus Sicht des Sanitätsdienstes mehr als 3 200. Hier kenhäusern Operationssäle vorübergehend geschlossen muss man sich schon fragen: Können wir die Transfor- werden. Das heißt nicht, dass Notfälle nicht behandelt mation an den tatsächlichen Bedürfnissen der Soldaten werden konnten oder unbehandelt blieben. Aber es ge- vorbei durchsetzen, oder müssen verschiedene Punkte hört auch hier zur Ehrlichkeit, zu sagen: Nicht akute Be- eventuell neu verhandelt werden? Hier sind natürlich Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10823

Petra Heß (A) auch die militärischen Führer aufgerufen, die im Rah- dem Antrag der Abgeordneten Hans-Michael (C) men der Transformation notwendigen Maßnahmen und Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, Veränderungen immer wieder zu kommunizieren und zu Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer Abgeordne- erklären. Auch an dieser Stelle möchte ich sagen: Trotz ter und der Fraktion der FDP der hohen Belastung, trotz der schwierigen Situation, die die Sanitätsoffiziere und Sanitätsunteroffiziere haben, Eckpunktevereinbarung zum Einsatz von macht der Sanitätsdienst ganz besonders im Ausland ei- Erntehelfern in der Landwirtschaft grundle- nen hervorragenden Job und ist international anerkannt. gend überarbeiten Das verdient unseren Respekt. – Drucksachen 16/2685, 16/5170 – (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Berichterstattung: bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- Abgeordnete Marlene Mortler NISSES 90/DIE GRÜNEN) Elvira Drobinski-Weiß Einige wenige Ausführungen noch zur Unterbrin- Hans-Michael Goldmann gung: Hier wurde erneut ein massiver Sanierungsbedarf Dr. Kirsten Tackmann festgestellt, besonders bei den Unterkunftsgebäuden. Ulrike Höfken Ich kann hier für meine Fraktion erklären, dass wir uns b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- sehr engagiert in die Haushaltsverhandlungen einbringen richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales werden und deutliche Signale aussenden werden, um ge- (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten rade im Bereich der Unterbringung dazu beizutragen, Brigitte Pothmer, Ulrike Höfken, Kerstin An- dass der Soldatenberuf attraktiver und für die zukünfti- dreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion gen Generationen ein Beruf wird, der hoch anerkannt des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN wird. Qualifizierung statt Quoten – Vermittlungs- agenturen für landwirtschaftliche und andere Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: grüne Berufe Frau Heß, Sie hätten schon zum Ende kommen müs- sen. – Drucksachen 16/2991, 16/3376 – Berichterstattung: Petra Heß (SPD): Abgeordnete Gitta Connemann Unzumutbare Unterkünfte und mangelnde Sanitärein- richtungen transportieren wahrlich nicht das gewünschte Nach einer Verabredung zwischen den Fraktionen soll (B) Bild der Bundeswehr nach außen. die Aussprache eine halbe Stunde dauern. – Damit sind (D) Sie einverstanden. Dann ist es so beschlossen. Ich möchte dem Wehrbeauftragten noch einmal ganz herzlich danken. Besonders danke ich allen Soldatinnen Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der und Soldaten, die ihren Dienst sehr pflichtbewusst leis- Kollegin Marlene Mortler für die CDU/CSU-Fraktion. ten. Viele wissen es: Ich bin zugleich Reservistin. Marlene Mortler (CDU/CSU): Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Frau Heß, Sie haben jetzt keine Zeitreserve mehr. Damen und Herren! Eine Aussage unserer Großen Ko- alition lautete 2005: Bei 5 Millionen bisherigen Arbeits- Petra Heß (SPD): losen in Deutschland muss es locker möglich sein, dass Es beruhigt mich ungemein, dass ich im Falle eines 20 Prozent der ausländischen Saisonarbeitskräfte vom Falles – wenn ich bei der Bundeswehr bin und in eine deutschen Arbeitsmarkt kommen. Wie ist die Situation schwierige Situation komme – auf die Institution des heute? Trotz größter politischer Anstrengungen, trotz ge- Wehrbeauftragten setzen kann. änderter und verbesserter Dienstanweisungen vonseiten der Bundesagentur für Arbeit an die Argen, trotz williger Vielen Dank. Arbeitskräfte, trotz Probe und Vorbereitungskursen, trotz (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Durchhalteprämien und Shuttleservice, trotz Bewerber- pool, trotz der hervorragenden Vermittlungsbemühungen der Argen ist die tatsächliche Vermittlungsquote ernüch- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: ternd. Ich schließe die Aussprache. (Gerd Andres, Parl. Staatssekretär: Rekord- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf ernten!) Drucksache 16/4700 an den Verteidigungsausschuss vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Eine neue, eine grüne Vermittlungsagentur ist aus mei- Dann ist das so beschlossen. ner Sicht überflüssig. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b auf: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Auch wenn wir hier nicht in der Fragestunde sind, richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- frage ich mich schon, ob der bisherige personelle Auf- schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu wand der Behörden in einem angemessenen Verhältnis 10824 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Marlene Mortler (A) zum Ergebnis steht. Laufen wir der Entwicklung des Die FDP hat stets das Scheitern der Erntehelferrege- (C) Marktes nicht ständig hinterher? Verfehlen wir nicht die lung vorausgesagt. Eckpunkte? Wir Praktiker wissen, dass das Zeitfenster, innerhalb dessen über Wohl und Wehe einer Ernte ent- (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Das ist schieden wird, verdammt eng ist. überhaupt nicht wahr!) (Peter Bleser [CDU/CSU]: Richtig!) Die Koalitionsfraktionen haben stets das Verfahren ver- teidigt und unsere Hinweise ignoriert. So war das bisher. Der Markt ist gnadenlos. Die Frage, wie man erntet, wann man erntet, mit wem man erntet und wie viel man (Manfred Zöllmer [SPD]: Völlig zu Recht!) erntet, hängt eben nicht nur vom Wetter ab, sondern von Seit die schwarz-rote Regierung im Amt ist, ist die unserer politischen Beweglichkeit. Deshalb plädiere ich Zahl der ausländischen Arbeitnehmer in diesem Bereich für mehr Beweglichkeit im Sinne von mehr Planungssi- um 18 Prozent gesunken. Das hat den Sonderkulturbe- cherheit für unsere Sonderkulturbetriebe. trieben sehr geschadet – und den in- und ausländischen Der polnische Saisonarbeitnehmer geht inzwischen Saisonarbeitern ebenso. lieber nach Holland oder nach Großbritannien. Das mag (Beifall bei der FDP) an der Bezahlung liegen. Die Eckpunkteregelung ist ein Skandal. Wenn die Bun- (Gustav Herzog [SPD]: Das liegt an der Be- desregierung noch ein Jahr an diesem missratenen Expe- zahlung!) riment festhält, wird das viele Sonderkulturbetriebe in diesem unserem Land die Existenz kosten. Es liegt sicherlich aber auch daran, dass er in diesen Ländern unbefristet arbeiten und zwischen den Arbeitge- (Beifall bei der FDP – Zurufe von der SPD: bern wechseln kann; Stichwort Flexibilität. Oh!) (Peter Bleser [CDU/CSU]: Richtig! So ist es!) Wir brauchen geeignete Erntehelfer und -helferinnen in ausreichender Zahl, frühzeitig planbar, ohne Bürokratis- Aufgrund der Kenntnis der Praxis habe ich eine Bitte mus. an die Bundesregierung – ich habe noch heute mit meh- reren betroffenen Betrieben gesprochen, und ich bin mit (Beifall bei der FDP) ihnen ständig in Kontakt –: Bitte sorgen Sie schnell da- für, dass dort, wo die Arbeitslosenquote unter dem Bun- Die FDP fordert die Bundesregierung auf, schon jetzt, desdurchschnitt liegt, automatisch die 100-Prozent- also frühzeitig, alles daranzusetzen, damit dies in der Zu- (B) Regelung gilt und dass der Austausch von Saisonarbeits- kunft gelingt. Viele Verbraucherinnen und Verbraucher (D) kräften zwischen den Betrieben möglich wird. Überprü- wollen weiterhin gesundes und gutes Obst, Gemüse und fen Sie außerdem eine Verlängerung des Beschäfti- Weintrauben vom heimischen Boden, auch aus Klima- gungszeitraums! schutzgründen. Das ist aber nur möglich, wenn die Son- derkulturbetriebe weiter produzieren können. Ich bedanke mich ganz herzlich. Ich hoffe, dass nun endlich alle meine Kritiker von (Beifall bei der CDU/CSU) CDU/CSU und SPD erkannt haben, dass wir von der FDP das Scheitern der bisherigen Regelung zu Recht vo- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: rausgesagt haben. Schade, dass Sie die Suche nach bes- seren Lösungen stets blockiert haben. Dr. Edmund Geisen bekommt das Wort für die FDP- Fraktion. (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Herr Geisen, hören Sie doch auf!) (Beifall bei der FDP) Nun ist es fünf vor zwölf. Dr. Edmund Peter Geisen (FDP): (Widerspruch bei der SPD) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Drängen Sie Ihre verantwortlichen Minister Müntefering Es ist für mich überraschend – das gebe ich zu –, aber und Seehofer, deren Werk diese verkorkste Erntehelfer- wahrscheinlich auch für alle erstaunlich, dass die Damen regelung ist, endlich so zu handeln, dass die Betriebe und Herren des Ministeriums für Ernährung, Landwirt- weitermachen können und dass von weither importiertes schaft und Verbraucherschutz hier nicht vertreten sind. Obst und Gemüse sowie importierte Weintrauben unsere Märkte nicht vollständig erobern. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Der Mi- nister ist bei Greenpeace!) (Beifall bei der FDP) Das war bei diesem Thema bisher anders. Ich habe aber Es ist ein Witz, die Probleme des deutschen Arbeits- sehr gut verstanden, dass Sie das jetzt auf eine andere markts auf den Spargelfeldern lösen zu wollen. Schiene bringen wollen; das weiß ich nun. Ich wollte Sie (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Das ist absurd!) nur darauf hinweisen: Obwohl der Antrag aus unserem Agrarausschuss kommt, ist niemand aus dem Ministe- Staatliche Zwangsmaßnahmen auf dem Rücken der rium mehr daran interessiert. Landwirte sind doch keine Lösung. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10825

Dr. Edmund Peter Geisen (A) Während der heute zu diskutierende FDP-Antrag von (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Ziem- (C) CDU/CSU und SPD wieder abgeschmettert werden lich verdächtig!) wird, spielen immer mehr Vertreter dieser Parteien in Auch der vorliegende Antrag von Bündnis 90/Die Bund und Ländern Opposition und fordern selbst eine Grünen ist nicht zielführend. Die Institutionen zur Quali- Korrektur. fizierung sind da; ich erinnere an die Landwirtschafts- (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Das ist ja nicht kammern oder die Maschinen- und Betriebshilfsringe als wahr! Wo das denn? – Waltraud Wolff [Wol- Dienstleister für die Landwirtschaft. Noch mehr Agentu- mirstedt] [SPD]: Wo denn?) ren brauchen wir nicht. Das wäre gleichbedeutend mit mehr Bürokratie. Das lehnt die FDP ab. Es müssen viel- Sogar gestern im Ausschuss standen fast alle Unionspo- mehr Rahmenbedingungen geschaffen werden, die den litiker und -politikerinnen hinter uns. Anbau von Obst, Gemüse und Wein wie bisher in (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Wo? – Deutschland ermöglichen. Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Die sa- ßen ordnungsgemäß auf ihren Plätzen!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende. Das ist doch blanker Populismus. (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Ja, Dr. Edmund Peter Geisen (FDP): wirklich!) Ich komme zum Schluss. – Andernfalls kommt es zur Auf einmal kritisiert die CDU/CSU die Missstände, die Produktionsaufgabe im Inland und zur Verlagerung des sie selbst geschaffen hat. Diese Doppelzüngigkeit dürfen Anbaus ins Ausland. Damit ist dem deutschen Arbeits- sich die Landwirte nicht länger gefallen lassen. markt erst recht nicht gedient. Die Verantwortung in die- ser Frage liegt allein bei Schwarz-Rot. (Beifall bei der FDP) Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Koalition, Schöne Worte bringen rein gar nichts. Praxisferne und zwingen Sie Ihre Minister, endlich die Wirklichkeit in planwirtschaftliche Erntehelferregelungen müssen end- der Landwirtschaft anzuerkennen und den Weg für lich weg. grundlegende Korrekturen frei zu machen! Heben Sie die Arbeitsbeschränkungen für Erntehelfer aus den EU- (Peter Bleser [CDU/CSU]: Herr Dr. Geisen, Ländern endlich auf! wir haben viel verbessert!) Ich fordere die Kritiker aus Ihren eigenen Reihen auf, Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (B) (D) endlich Farbe zu bekennen. Werden Sie wenigstens mit Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende. einer Bundesratsinitiative aktiv! Die hohen bürokratischen Hürden schrecken nicht Dr. Edmund Peter Geisen (FDP): nur die deutschen Landwirte und Winzer ab, auch für die Vielen Dank für Ihren Hinweis und danke für die polnischen Saisonarbeiter ist es inzwischen einfacher, in Aufmerksamkeit. den Nachbarstaaten zu arbeiten. (Beifall bei der FDP) (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Da krie- gen sie auch mehr Geld! – Rolf Stöckel [SPD]: Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Weil es da Mindestlöhne gibt! Da bekommen Elvira Drobinski-Weiß spricht jetzt für die SPD-Frak- die Mindestlöhne! – Weiterer Zuruf von der tion. SPD: Wenn man genug Geld verdient, ist das einem ziemlich egal!) Elvira Drobinski-Weiß (SPD): Dort werden sie mit offenen Armen empfangen. Hier Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! müssen sie sich erst durch einen Bürokratiedschungel Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß schon, wa- kämpfen. Hier könnte Minister Seehofer übrigens seinen rum das BMELV hier nicht vertreten ist: Wir diskutieren Willen, den versprochenen Bürokratieabbau vorzuneh- nämlich zum wiederholten Male über diese olle Kamelle men, konkret unter Beweis stellen. Saisonarbeitskräfte. Der Kollege Geisen trägt hierzu die immer gleichen Ausführungen bei. Nur weil er sie wie- Meine Damen und Herren, die jetzige Regelung passt derholt, werden sie aber ganz gewiss nicht richtiger. Das überhaupt nicht in ein Europa der offenen Grenzen. Die haben wir auch gestern im Ausschuss so festgestellt. Ich FDP fordert erneut, die verschärfte Kontingentierung der kann mich nicht erinnern, dass wir alle uns hinter Ihren ausländischen Saisonarbeitskräfte aufzuheben. Statt ei- Antrag gestellt hätten. Ich weiß nicht, in welchem Aus- ner Kontingentierung muss die Arbeitnehmerfreizügig- schuss Sie waren. keit auch in Deutschland möglichst schnell, vor 2011, umgesetzt werden. (Beifall bei der SPD – Dr. Edmund Peter Geisen [FDP]: Nichts haben Sie geregelt!) (Beifall bei der FDP) Also schon wieder das Thema Saisonarbeitskräfte: Das fordert inzwischen auch der Bauernverband, wie Der Zeitpunkt, darüber zu reden, könnte günstiger nicht heute der Presse zu entnehmen ist. sein; denn sowohl die Spargel- als auch die Erdbeerern- 10826 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Elvira Drobinski-Weiß (A) ten sind aufgrund der diesjährigen Witterung entweder Alle diese Punkte spielen eine Rolle, wenn man wie (C) bereits abgeschlossen oder liegen in den letzten Zügen. jetzt seitens des Bundesministeriums für Arbeit und So- Wir müssen uns also nicht wie im letzten Herbst in Pro- ziales die vorgelegten Daten betrachtet. Darin heißt es: zentrechnung üben, sondern können die bereits vorhan- denen Daten analysieren. Die Zahl der Zulassungen von ausländischen Ar- beitskräften in der Landwirtschaft wird dieses Jahr Zuvor möchte ich noch einmal kurz auf Folgendes voraussichtlich genauso hoch ausfallen wie 2006. hinweisen: erstens auf die Ziele der Eckpunkteregelung, Während die Zahl der polnischen Saisonarbeits- zweitens auf die Ergebnisse der Monitoringgruppe für kräfte das Jahr 2006 und drittens auf den Handlungsbedarf, der – die Gründe sind uns alle mittlerweile bekannt – sich daraus für das Jahr 2007 ergab. weiter rückläufig ist, ist eine Zunahme der Zahl der In Anbetracht der nach wie vor hohen Arbeitslosen- rumänischen Arbeitskräfte zu verzeichnen. zahlen in Deutschland war und ist es unser Ziel, das inländische Beschäftigungspotenzial für landwirt- Hier möchte ich an die skandalösen Beschäftigungsver- schaftliche Saisontätigkeiten stärker zu erschließen hältnisse, geschehen in Donauwörth, wo mehr als 100 rumänische Arbeitskräfte für 1 Euro bis 1,20 Euro (Dr. Edmund Peter Geisen [FDP]: Wie viele (Dr. Edmund Peter Geisen [FDP]: Das habe haben Sie denn eingestellt?) ich auch gesagt!) und trotzdem den Betrieben die notwendige Sicherheit gearbeitet haben, erinnern. für ihre Personalplanungen zu geben. Im Jahr 2006 fie- len die Ergebnisse regional sehr verschieden aus. Es gibt Für viel bedeutender für die heutige Diskussion halte genug Beispiele, wo es bereits im ersten Jahr geklappt ich, Herr Kollege Geisen, Folgendes: 33 500 Arbeitslose hat. Ich habe schon im Oktober 2006 unter anderem die sind im Bewerberpool erfasst. In diesem Jahr fehlen Erfolge der Arbeitsfördergesellschaft Ortenau aus mei- aber die Stellenangebote aus der Landwirtschaft und nem Wahlkreis vorgestellt. Es handelt sich wohlgemerkt dem Gartenbau. 33 500 Arbeitslose, die bewusst ausge- um einen Kreis mit einer Arbeitslosenquote von aktuell sucht und oft bereits durch die Agenturen qualifiziert unter 5 Prozent. Die Vermittlungsbemühungen waren wurden, werden gar nicht nachgefragt. So ist es. Gleich- hier trotz geringen bürokratischen Aufwands erfolg- zeitig bekundeten einige Betriebe lautstark in der Presse reich. Im April dieses Jahres haben wir die Arbeitsagen- – denen sind Sie auf den Leim gegangen –, dass der tur in Neuruppin besucht und gesehen, dass es auch in Spargel auf dem Feld bleiben muss und die Erdbeeren dieser Region möglich ist, die Quote von 20 Prozent vergammeln, weil angeblich nicht genügend Saisonar- (B) nichtausländischer Erntehelfer zu erreichen. – Sie brau- beitskräfte zur Verfügung stehen. Gebetsmühlenartig (D) chen nicht den Kopf zu schütteln, Herr Kollege Geisen. wird sofort wieder die Abschaffung der Eckpunkterege- Das waren die Ergebnisse unseres dortigen Besuchs. lung verlangt. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Die (Dr. Edmund Peter Geisen [FDP]: Also gibt es Quote wurde locker erreicht!) nach Ihrer Meinung keine Probleme?) In geprüften Einzelfällen waren weder das Kontingent Gleichwohl wissen wir, dass es insbesondere in Re- an ausländischen Beschäftigten ausgeschöpft noch wa- gionen mit relativ niedriger Arbeitslosigkeit zu Proble- ren freie Stellen für Inländer gemeldet. Das sind die Zah- men kam. So wurde als Handlungsbedarf für dieses Jahr len, die stimmen. festgehalten, dass die öffentlichen Vermittlungstellen ihre Anstrengungen im Hinblick auf eine passgenaue Sehr geehrte Damen und Herren, das zeigt deutlich: Vermittlung weiter verstärken sollen und die Möglich- Die Agenturen nehmen ihre Aufgaben mit viel Engage- keit zur Beauftragung Dritter intensiver genutzt werden ment wahr. Die Einrichtung zusätzlicher grüner Agentu- soll. Außerdem müssen die Kontakte zu bzw. die Koope- ren, wie von Bündnis 90/Die Grünen gefordert, halte ich rationen mit den Arbeitgebern verbessert werden. deswegen zumindest derzeit noch nicht für zielführend. Die Arbeitgeber ihrerseits bekannten sich zur Not- Wie wir mit der Eckpunkteregelung nach 2007 umge- wendigkeit der vertrauensvollen und konstruktiven Zu- hen werden, entscheiden wir nach Analyse der Ergeb- sammenarbeit mit den öffentlichen Arbeitsvermittlun- nisse der Obsternte und Weinlese in intensiven Diskus- gen. Insbesondere wurde die rechtzeitige Meldung des sionen. Klar ist jedoch: Die Eckpunkteregelung ist bes- saisonalen Kräftebedarfs vereinbart. Das hat auch ge- ser als ihr Ruf. Ich appelliere an die Arbeitgeber, ihrer klappt. Anfang April wies die Bundesagentur für Arbeit gesellschaftlichen Verpflichtung nachzukommen und ihre Agenturen zusätzlich an, insbesondere in Regionen verstärkt wieder freie Stellen für inländische Arbeits- mit geringer Arbeitslosigkeit und hohem Bedarf an Sai- kräfte zu melden. sonarbeitskräften die Vermittlung von ausländischen Dass wir natürlich den Antrag der FDP ablehnen, ist Erntehelfern zu erleichtern. völlig klar. (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Hört! Danke für Ihre Aufmerksamkeit. Hört!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich weiß nicht, ob Ihnen das entgangen ist. der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10827

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Gestern konnten wir erfahren, dass bei den Milchbauern (C) Es spricht jetzt Kirsten Tackmann für Die Linke. sogar bei Familienbetrieben der nicht faire Milchpreis zur Selbstausbeutung führt. (Beifall bei der LINKEN) (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Über den Kündigungsschutz müssen Sie auch noch re- Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): den!) Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol- legen! Sehr geehrte Gäste! Das Problem Saisonarbeit ist Die Linke fordert außerdem Überlegungen zur Ver- Teil eines sehr zentralen Themas: Wir brauchen dringend stetigung von saisonaler Arbeit. Auch Saisonarbeits- Arbeitsplätze in den Dörfern, und zwar existenzsi- kräfte brauchen schließlich eine soziale Absicherung. chernde. Wenn wir alles so weiterlaufen lassen, dann ste- Wir haben dazu einen Antrag vorgelegt, der die sehr gu- hen wir zunächst in Ostdeutschland, aber später auch ten Erfahrungen mit Arbeitgeberzusammenschlüssen in woanders vor der ernsthaften Frage: Wollen wir uns da- Frankreich aufgreift. Darüber sollten wir nach der Som- mit abfinden, dass Dörfer aufgegeben werden? Die reale merpause dringend reden. Abwanderung von jungen Frauen war ja gerade Thema. Zum Antrag der FDP. Inzwischen ist doch völlig klar, Meine These ist: Sie wandern nicht nur der Arbeit hin- dass nicht die 10 Prozent einheimischen Arbeitskräfte, terher. Sie gehen auch, weil der Abbau der sozialen und die für die Saisonarbeit eingestellt werden müssen, kulturellen Infrastruktur ihre Teilhabe an der Gesell- schuld sind, wenn die Ernte nicht eingeholt werden schaft nicht mehr ermöglicht. kann. Viele Betriebe in Brandenburg, die mit 100 Pro- Zu dieser Debatte gehört ein weiterer Trend: die stei- zent Einheimischen die Ernte in die Scheuer fahren, zei- gende Zahl nur noch saisonal verfügbarer Arbeitsplätze gen doch, dass das geht. Das Problem ist: Die zugelasse- in den Dörfern. Wollen wir die Dörfer erhalten, muss die nen 90 Prozent Erntehelfer aus der EU kommen nur Arbeit so organisiert werden, dass sie zur Existenzsiche- noch begrenzt, weil die Löhne zu niedrig sind. rung in der Region beitragen kann. Jetzt die Lohndumpingkarawane weiterziehen zu las- (Beifall bei der LINKEN) sen, ist aus unserer Sicht völlig absurd. Wir Linken fragen außerdem: Mit welchem Recht sollten für ukrainische Das gilt auch und besonders für die Arbeitsplätze in der oder rumänische Saisonarbeitkräfte andere Bedingungen Ernte von Sonderkulturen. gelten als für unsere eigenen? Für uns Linke ist die Grundforderung klar: Von Ar- (Beifall bei der LINKEN) beit muss man leben können. (B) Die Gewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt hat gerade (D) (Beifall bei der LINKEN) ein Zertifizierungssystem für faire Saisonarbeit erarbei- tet. Das halten wir für den richtigen Weg. Selbst der hes- Das ist leider nicht selbstverständlich. Im Mai 2007 be- sische Bauernverband gesteht ein, dass es wohl mittel- richtete die Bundesagentur für Arbeit, dass mindestens fristig darauf hinauslaufen wird, dass die Löhne steigen 500 000 Menschen in diesem Lande trotz Arbeit ALG II müssen. beziehen. Die Linke teilt die Forderungen aus dem Antrag der Wohin es führt, wenn man die Verhandlungen über Grünen: Wir brauchen ein Anreizsystem, eine faire Ent- den Preis der Arbeitskraft dem Markt überlässt, zeigt der lohnung, faire Unterbringungs- und Arbeitsbedingun- Fall aus Donauwörth, über den gerade meine Kollegin gen, eine Verbesserung der Vermittlung von Saisonar- Drobinski-Weiß berichtet hat. 118 Rumänen wurden für beitskräften und eine koordinierte, bedarfsgerechte Aus- 1 Euro pro Stunde unter unwürdigen Bedingungen zur und Weiterbildung. Die Linke spricht sich klar für eine Ernte eingesetzt. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen branchenübergreifende Vernetzung saisonaler Arbeits- Verdachts des Menschenhandels zur Ausbeutung von möglichkeiten in den Dörfern aus, vom Forstbetrieb über Arbeitskräften. Sicher, das ist ein Extrembeispiel. Aber Gartenbau und Landwirtschaft bis zum Hotel oder zu auch 3,80 oder 6 Euro sind angesichts der Schwere die- Kfz-Werkstätten. Dazu können die vorgeschlagenen grü- ser Arbeit und der Kurzzeitigkeit des Verdienstes kein nen Agenturen durchaus beitragen. fairer und schon gar kein existenzsichernder Lohn. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns (Beifall bei der LINKEN – Dr. Edmund Peter nach der Sommerpause dringend über Arbeitgeberzu- Geisen [FDP]: Woher wissen Sie das denn? sammenschlüsse reden! Das ist sicherlich der bessere Die sind doch in dem Bewusstsein gekommen, Weg. dass sie das bekommen!) Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Die Hauptfaktoren für das Fehlen der Saisonarbeits- kräfte sind aus unserer Sicht erstens die geringen Löhne (Beifall bei der LINKEN) und zweitens die schweren Arbeitsbedingungen. Daher bleibt für Die Linke die Forderung nach einem gesetzli- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: chen Mindestlohn, und zwar in allen Bereichen der Brigitte Pothmer spricht jetzt für Bündnis 90/Die Landwirtschaft. Grünen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 10828 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

(A) Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Anders und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten als die FDP-Fraktion und – wenn ich mir die Rede von der SPD) Frau Mortler noch einmal in Erinnerung rufe – ganz of- ebenso dringend notwendig ist die Ausweitung des fensichtlich auch anders als die CDU/CSU-Fraktion hal- Arbeitnehmer-Entsendegesetzes. Wir müssen doch ten wir das Ziel, deutsche Arbeitslose auch für die Ernte- einmal begreifen, dass wir in Deutschland keine Angst arbeit zu gewinnen, im Prinzip für richtig. davor haben müssen, dass wir von Arbeitskräften aus (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) osteuropäischen Ländern überschwemmt werden. Wir glauben allerdings, dass die Wege, die von der Gro- (Dr. Edmund Peter Geisen [FDP]: Diese Ar- ßen Koalition und von dieser Regierung eingeschlagen beitskräfte wollen auch leben! Das gönnen sie worden sind, letztlich ungeeignet sind. Diesen Versuch denen nicht!) gab es ja immer wieder einmal, in den vergangenen Jah- Künftig werden wir nicht nur bei qualifizierten Arbeit- ren. Ich finde es eigentlich schade, dass Sie aus den Er- nehmerinnen und Arbeitnehmern eher vor der Situation fahrungen vergangener Versuche so wenig gelernt ha- stehen, dass wir die Konkurrenz mit anderen europäi- ben. schen Ländern um diese Arbeitsplätze positiv bestehen Auch landwirtschaftliche Betriebe sind zum Teil müssen. hochtechnisiert und müssen sehr effektiv arbeiten, weil (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Wie sie sonst ihre wirtschaftliche Grundlage gefährden. Aus lange dauern eigentlich vier Minuten?) diesem Grund brauchen sie wie jeder andere Betrieb mo- tivierte und qualifizierte Beschäftigte. Deswegen glaube Angesichts dessen muss die Eckpunktevereinbarung ich, dass eine Sonderregelung für landwirtschaftliche weg. Es muss ein Mindestlohn her, und es muss eine Betriebe in der Sache nicht richtig ist. Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes geben. Wenn selbst das Landvolk Sie dazu schon auffordert, Auch wenn ich hier nicht alle Schlagzeilen, die es ge- dann können Sie Ihre Ohren nicht länger davor ver- geben hat – zum Beispiel „Spargel verfault auf den Fel- schließen. dern“, „Erdbeeren werden nicht abgeerntet“ –, wiederge- ben will, lässt sich aber doch nicht bestreiten, dass die Ich danke Ihnen. derzeitige Regelung nicht wirklich funktioniert und dass es immer wieder zu erheblichen Problemen kommt. Das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) können auch Sie nicht bestreiten. Es ist sogar durch den (B) Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundeslandwirt- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (D) schaftsminister Gerd Müller – wenn Sie so wollen: re- Michael Hennrich hat für die CDU/CSU-Fraktion das gierungsamtlich – festgestellt worden. Frau Mortler hat Wort. dies im Grunde hier bestätigt. (Beifall bei der CDU/CSU) Weil wir uns in dem Ziel einig sind und es im Prinzip richtig finden, was Sie da versuchen, haben wir Ihnen ei- Michael Hennrich (CDU/CSU): nen Vorschlag vorgelegt, der aufzeigt, wie mit grünen Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Agenturen andere Wege beschritten werden können. Die Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute ist der grünen Agenturen greifen die Erfahrungen der Regionen kalendarische Sommeranfang. In drei Tagen wird der auf, in denen das Konzept erfolgreich gewesen ist. Des- Abschluss der Spargelernte sein, auch die Erdbeeren wegen kann ich nicht verstehen, dass Sie dieses Konzept sind weitestgehend geerntet, und die Grünen und die ablehnen und nicht übernehmen wollen. Nach meinem FDP kommen passend mit einem Antrag, der angeblich Eindruck gehen Ihre Argumente hier nicht sehr tief; weil das Ziel verfolgt, den Landwirten bei der Ernteeinbrin- dieses Konzept leider den Oppositionsmakel hat, lehnen gung zu helfen. Sie es reflexartig ab. Das ist für die Sache allerdings sehr schlecht. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Der liegt schon ganz lange vor!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es sind Anträge, die wir im vergangenen Jahr schon be- Die Probleme, die die Landwirtschaft mit den Ernte- handelt haben helfern hat, werden wirklich regierungsamtlich herbei- geführt. Erstens nutzen Sie unzureichend die vorhande- (Dr. Edmund Peter Geisen [FDP]: Immer ab- nen Chancen, auch deutsche Arbeitnehmer in diesen gelehnt!) Arbeitsmarkt zu integrieren und ihnen dort eine Perspek- und die mit einer Mehrheit von 80 bzw. 90 Prozent abge- tive zu geben. Zweitens liegt die Ursache des Problems lehnt wurden. – dies wird jetzt immer deutlicher –, das wir insbeson- dere mit den polnischen Saisonarbeiterinnen und -arbei- (Dr. Edmund Peter Geisen [FDP]: Abgelehnt tern haben, in den Restriktionen der Arbeitnehmerfreizü- gegen besseres Wissen!) gigkeit in Deutschland. Ich will nicht die Augen vor den Problemen der Land- In dieser Branche werden dringend Mindestlöhne ge- wirtschaft verschließen. Wir alle haben die Berichte über braucht; faulende Erdbeeren und nicht eingebrachte Spargel- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10829

Michael Hennrich (A) ernten verfolgen können. Die „FAZ“ hat in dieser Woche Alle Arbeitskräfte aus Osteuropa, die wir hier einset- (C) getitelt: „Getrübtes Spargelidyll“. zen, fehlen in den Herkunftsländern. Das sollten vor al- lem die Grünen bedenken. (Dr. Edmund Peter Geisen [FDP]: Glauben Sie das nicht?) (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ich bin doch dafür, Deutsche hier ein- – Das glaube ich teilweise schon. – Wir haben diverse zusetzen!) Fernsehsendungen dazu gesehen. Aber dies waren Ein- Ich glaube nicht, dass es eine Lösung wäre, Arbeitskräfte zelfälle, aus denen pauschale Verallgemeinerungen ge- aus der Ukraine und Rumänien einzusetzen. Wer macht wurden. 3,7 Millionen Arbeitslose hat, sollte die Erntehelfer aus Nach meiner Überzeugung stellt sich die Situation diesem Arbeitskräftereservoir schöpfen. differenzierter dar. Es hat viele Fälle gegeben, in denen (Beifall bei der CDU/CSU) die Einbringung der Ernte gut geklappt hat; dies war lei- der Gottes keiner Berichterstattung wert. In Niedersach- Es gibt genug erfolgreiche Modelle. Ich erinnere an sen haben polnische Saisonarbeitskräfte in der Tat ge- die Kooperation von Eberswalde mit Darmstadt – aus fehlt. Ich räume ein, dass es auch Probleme bei der Brandenburg wurden 200 Saisonarbeiter nach Südhessen Integration inländischer Arbeitskräfte bei der Erntehilfe vermittelt – und an die Modelle der Arbeitnehmerüber- gibt. lassung in Germersheim. Wir brauchen keine zusätzli- chen grünen Agenturen. Es reicht, dass die Grünen im Einen Aspekt aber haben Sie alle bei der Diskussion Deutschen Bundestag vertreten sind. vollkommen unberücksichtigt gelassen: Wir hatten ein Wenn alle Beteiligten den Willen haben, im Sinne von gutes Erntejahr. Auch dies wäre einer Erwähnung wert Best Practice aus guten Beispielen zu lernen, wenn ver- gewesen. nünftige Löhne gezahlt werden und der Arbeit der Ernte- (Beifall bei der CDU/CSU) helfer Wertschätzung entgegengebracht wird, werden wir auch im nächsten Jahr einen guten Schritt vorankom- Am Montag fand eine Tagung zum Thema „Arbeits- men. Ich glaube, unser Modell funktioniert. Der Vor- kräfte in Europa“ statt. Die FDP und die Grünen haben schlag der FDP, die in Bezug auf Saisonarbeiter beste- gefehlt. Es hätte ihnen gut getan, an dieser Tagung teil- hende Quote aufzuheben, läuft meines Erachtens, da sie zunehmen; dann hätten sie nämlich ein wenig hinzuge- nicht einmal ausgeschöpft wird, vollkommen ins Leere. lernt. Herzlichen Dank. (B) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (D) Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Genau!) neten der SPD) Vertreter aus Polen, Dänemark und Österreich waren an- wesend. Sie haben uns die Situation in ihren Ländern Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: geschildert: In Dänemark und Österreich herrscht ein Jetzt spricht Rolf Stöckel für die SPD-Fraktion. Fachkräftemangel, aber auch ein Mangel an geringquali- fizierten Kräften. In der Folge werden Löhne von bis zu Rolf Stöckel (SPD): 10 Euro gezahlt. Es ist natürlich bei Stundenlöhnen von Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der 5,50 Euro oder 6 Euro hier bei uns relativ schwierig, da- letzte Spargel – Herr Hennrich hat es gesagt – ist fast ge- mit zu konkurrieren. Dafür brauchen wir keinen Min- gessen. Der Antrag der FDP passt zur Kritik in den Me- destlohn. Da vertraue ich auf den Markt; der Markt wird dien an der Eckpunkteregelung, die angeblich verhin- das regulieren. dert, dass die deutschen Bauern nicht genügend ausländische Saisonarbeitskräfte rekrutieren können. (Dr. Edmund Peter Geisen [FDP]: Sehen Sie es doch einmal von der anderen Seite!) Frau Mortler hat von einem gnadenlosen Markt ge- sprochen. Frau Mortler, lassen Sie uns gemeinsam über- In Polen ist die Konjunktur gut und die Arbeitslosen- legen, wie wir ihn – als Sozialpolitiker sehe ich das je- quote rückläufig. Viele polnische Arbeitskräfte haben denfalls so – zu einem fairen Markt entwickeln können. schlicht und ergreifend keine Motivation, als Saisonar- Herr Dr. Geisen, bei Ihrer Rede fiel mir eine Schmon- beiter tätig zu sein. Das hat zu den Problemen, die Sie zette von Robert Gernhardt ein, der einmal sinngemäß geschildert haben, geführt. festgestellt hat: „Früher war alles besser“, sagte der Großgrundbesitzer, als seine Flinte den Bauern ver- Ich bin bereit, darüber nachzudenken, was neu gere- fehlte. gelt werden muss. Brauchen wir mehr Flexibilisierung? (Heiterkeit bei der SPD – Dr. Edmund Peter Ich will Sie daran erinnern, dass die Europäische Union Geisen [FDP]: Wir müssen auch an die Land- im Herbst vier Richtlinien zum Thema Arbeitsmigration wirtschaft denken! Sonst gehen noch mehr Ar- erlassen wird. Das Thema der zirkulären Migration, der beitsplätze verloren! Sie vernichten gute Ar- Saisonarbeitskräfte, wird dabei unter anderem eine Rolle beitsplätze, deutsche Arbeitsplätze!) spielen. Ich bin strikt gegen nationale Alleingänge. Wir sollten auf die Regelungskompetenz und die Regelungs- Hier sind schon einige Beispiele und gute Modelle fähigkeit der Europäischen Union vertrauen. genannt worden. Ich erinnere an die Zusammenarbeit 10830 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Rolf Stöckel (A) von Arbeitsagenturen und Bauernverbänden, zum Bei- Es gibt das Modell des Landesbauernverbandes (C) spiel den Westfälisch-Lippischen Landwirtschaftsver- Schleswig-Holstein mit den Argen, in dessen Rahmen band, bei dem ich öfter zu Besuch bin. Auch ich habe die mit Landesunterstützung wesentlich mehr deutsche, Spargel- und Erdbeerbauern in diesem Jahr besucht, weil mehr inländische Arbeitssuchende für einen Stundenlohn ich gerne ernte. von 7,50 Euro eingestellt werden. Natürlich brauchten wir mehr solcher guten Projekte in den Argen; ich habe (Dr. Edmund Peter Geisen [FDP]: Haben Sie etwas einige Beispiele genannt. Deswegen halte ich die grünen gegen die Bauern? Dann sagen Sie es!) Sonderagenturen in diesem Bereich für überflüssig. Es – Ich habe überhaupt nichts gegen die Bauern. Aber ich kommt darauf an, dass wir die konkrete Aktivierung der habe etwas gegen Bauern, die nicht begreifen, dass sie Langzeitarbeitslosen vor Ort verbessern und sie qualifi- sich im Zuge der Globalisierung vielleicht einmal mit zieren. Die Bauernverbände im Kreis Unna zum Beispiel denen zusammensetzen sollten, die für faire Arbeitsbe- sind selbstverständlich mit im Boot und im Beirat der dingungen, für faire Märkte, für faire Verbraucherpreise Arge vertreten. und insgesamt für soziale Mindeststandards kämpfen, Aber es geht natürlich auch um Mindestlöhne. (Dr. Edmund Peter Geisen [FDP]: Und für die Arbeitnehmer, die Arbeit in Europa suchen!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Frank Spieth [DIE LINKE]: Na damit wir nicht auf die Ärmsten der Armen zurückgrei- endlich!) fen müssen, die bereit sind, die härteste Arbeit zu nied- rigsten Löhnen zu machen. Dies ist hier mehrmals angesprochen worden. Dass we- niger polnische Saisonarbeitskräfte zu uns kommen – die (Dr. Edmund Peter Geisen [FDP]: Die sind Bauernverbände sprechen von 30 Prozent –, liegt arm, die da kommen!) schlicht daran, dass sie in Großbritannien mehr verdie- Es wird nicht nur klar, dass der Antrag der FDP auf nen – knapp 8 Euro – die zu fällende Entscheidung über eine mögliche Ände- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN- rung der Eckpunkteregelung zielt. Auch Ihr Welt- und KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Menschenbild wird hier deutlich: eine Welt mit einigen NEN) Besserverdienenden und vielen herumwandernden Ar- beitern, die bereit sind, zu niedrigsten Löhnen und zu so- und dass in Polen die Löhne steigen. Wer diese Realität zialen Mindeststandards, die man nicht mehr menschen- nicht anerkennen will, immer noch der Meinung ist, dass würdig nennen kann, jede Arbeit anzunehmen, wenn sie wir in Deutschland keine Mindestlöhne brauchen, und gebraucht werden. denkt, das alles mache schon der Staat, während die Ar- (B) (D) beitgeber die sozialen Mindeststandards weiter senken (Dr. Edmund Peter Geisen [FDP]: Gönnen Sie könnten, ist auf dem Holzweg. dem polnischen Arbeitnehmer die paar Euro nicht?) (Dr. Edmund Peter Geisen [FDP]: Stimmt Das ist aber nicht unsere Vorstellung von einem fairen doch gar nicht!) Markt. Das wollte ich Ihnen einmal sagen. Wir lehnen Ihren An- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) trag ab. Sie behaupten, der Spargel sei auf den Feldern verrot- Herzlichen Dank. tet. Es gibt in der Tat in Einzelfällen Probleme; darüber (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten will ich nicht hinwegreden. Aber Ihre Behauptung ent- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ spricht nicht den Zahlen, die uns von der BA geliefert DIE GRÜNEN – Dr. Edmund Peter Geisen und von den Arbeitgeberverbänden bestätigt werden. In [FDP]: Das wird Ihnen noch leidtun!) diesem Jahr sind annähernd genauso viele ausländische Saisonarbeitskräfte gemeldet wie im letzten Jahr. Es gibt in der Tat weniger polnische Saisonarbeiter. Dafür gibt Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: es mehr rumänische. Die Anmeldezahlen zeigen uns, Ich schließe damit die Aussprache. dass es bis Ende dieses Jahres – jetzt wird ja noch nicht abgerechnet – zu einer fast 100-prozentigen Bedarfsde- Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- ckung kommt, auch deswegen, weil Härtefallregelungen schusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- und die Regelungen bei Betriebserweiterungen voll grei- cherschutz zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem fen. Titel „Eckpunktevereinbarung zum Einsatz von Ernte- helfern in der Landwirtschaft grundlegend überarbeiten“. Außerdem sagt die BA: 33 500 Arbeitssuchende ste- Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung hen zur Verfügung. auf Drucksache 16/5170, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/2685 abzulehnen. Wer stimmt (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Qualifizierte!) für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Diese wollen die Arbeit machen. Sie sind nicht unquali- Enthaltungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung mit fiziert oder unwillig. Sie wollen auch zu Löhnen arbei- den Stimmen der Koalition, des Bündnisses 90/Die Grü- ten, die nicht über der Leistungsgrenze des ALG II lie- nen und der Linken gegen die Stimmen der FDP ange- gen. nommen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10831

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): (C) Soziales zu dem Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/ Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Grünen mit dem Titel „Qualifizierung statt Quoten – Meine Damen und Herren! Ich glaube, der Aufruf dieser Vermittlungsagenturen für landwirtschaftliche und an- Tagesordnungspunkte hat deutlich gemacht: Beide Ge- dere grüne Berufe“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner setzentwürfe benötigen schlüssige Titel. Es hat lange ge- Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3376, den An- dauert, bis klar war, worüber wir jetzt überhaupt reden. trag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Ich fasse es wie folgt zusammen: Wir diskutieren über Drucksache 16/2991 abzulehnen. eine Perspektive Arbeit. Darum geht es. Das ist die kür- zeste Formel für beide Gesetzentwürfe, die wir heute in Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge- erster Lesung beraten. genstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist diese Be- schlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition und Ein Aufschwung – das wissen wir – ist etwas Wun- der FDP gegen die Stimmen des Bündnisses 90/ derbares. Noch schöner ist er, wenn Mann und Frau da- Die Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen. von profitieren. Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b (Beifall bei Abgeordneten der SPD) auf: Ich stelle fest: Der Aufschwung in unserem Land ist a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ kräftig, die Wirtschaft brummt, und die Auftragsbücher CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines sind voll. Es gibt sogar sichtbare Lücken beim Arbeits- Vierten Gesetzes zur Änderung des Dritten kräfteangebot. Buches Sozialgesetzbuch – Verbesserung der Qualifizierung und Beschäftigungschancen Eine besonders gute Nachricht ist: Der Aufschwung von jüngeren Menschen mit Vermittlungs- ist stabil. Er ist kein Strohfeuer und keine Eintagsfliege, hemmnissen sondern er ist nachhaltig. Deshalb fragen sich vielleicht einige von Ihnen: Warum brauchen wir dann überhaupt – Drucksache 16/5714 – noch eine Perspektive Arbeit als steuerfinanziertes Ar- beitsmarktinstrument? Regierung und Koalition sagen: Überweisungsvorschlag: Wir wollen dieses Instrument; denn es ist notwendig. Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Rechtsausschuss Wir möchten, dass der Startschuss am 1. Oktober dieses Finanzausschuss Jahres fällt. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wir wissen, dass bestimmte Zielgruppen Starthilfe (B) Ausschuss für Gesundheit brauchen, um in Beschäftigung zu kommen, insbeson- (D) Ausschuss für Bildung, Forschung und dere junge Menschen. Das wurde auch in der bildungs- Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus politischen Debatte, die wir heute Vormittag geführt ha- Haushaltsausschuss ben, deutlich. Die jungen Leute liegen uns besonders am Herzen. Für sie, die U 25, schaffen wir zwei neue För- b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ derinstrumente und verstetigen ein bereits sehr erfolgrei- CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines ches Instrument, das EQJ-Programm; damit sind weitere Zweiten Gesetzes zur Änderung des Zweiten Regelungen verbunden. Buches Sozialgesetzbuch – Verbesserung der Beschäftigungschancen von Menschen mit In gleichem Maße engagiert sich die Koalition für die Vermittlungshemmnissen Ü 25 – so sagt man das heute –, für jene, die arbeits- marktfern sind und deren Vermittlung an mehr als nur ei- – Drucksache 16/5715 – nem Hindernis scheitert. Auch dieser Gruppe wollen wir die Option auf einen Arbeitsplatz eröffnen. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Lassen Sie mich zunächst auf das eingehen, was jun- Rechtsausschuss Finanzausschuss gen Menschen dabei helfen soll, den Start ins Arbeitsle- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ben erfolgreich zu meistern. Bei beiden Vorhaben han- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend delt es sich um Arbeitgeberzuschüsse, die im SGB III Ausschuss für Gesundheit vorgesehen sind, beide sehen eine Förderung für die Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Dauer von bis zu zwölf Monaten vor, und beide sind je- Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung nen Jugendlichen vorbehalten, die seit mindestens sechs Ausschuss für Tourismus Monaten – leider erfolglos – eine Arbeitsstelle suchen. Haushaltsausschuss Der Unterschied zwischen den Vorhaben besteht da- Es ist verabredet, hierüber eine halbe Stunde zu de- rin, dass das eine Instrument jenen helfen soll, die ohne battieren. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann Berufsausbildung starten. Deshalb ist es naheliegend, ist das so beschlossen. dass wir die Auflage machen, dass ein bestimmter Anteil der Zuschüsse, nämlich 15 Prozent, der Qualifizierung Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der dienen muss. Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller für die SPD-Frak- tion. (Beifall bei der SPD) 10832 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Gabriele Lösekrug-Möller (A) Nur wenn diese Bedingung erfüllt ist, kann ein Zuschuss nicht leben können. Dann bleiben immer noch viele. (C) von bis zu 500 Euro pro Monat gewährt werden. Diese Gruppe ist allerdings nicht statisch und sie ist auch nicht homogen. Denn viele kommen neu hinzu, während Ein paar Zahlen zur Zielgruppe – damit niemand denkt, andere ausscheiden. Dennoch bleibt ein bestimmter Per- es handele sich um wenige Versprengte –: Wir gehen da- sonenkreis über lange Zeit fest im Bezug von Arbeitslo- von aus, dass zurzeit knapp 100 000 Jugendliche länger sengeld II. als sechs Monate arbeitslos sind. Circa 60 Prozent von ihnen verfügen nicht über einen Berufsabschluss. Dieses Was sind die Merkmale dieses Personenkreises? Vorhaben ist das richtige Angebot, diese jungen Men- Diese Personen sind älter als 25. Sie sind zwar erwerbs- schen zu erreichen. fähig, aber arbeitsmarktfern, also lange arbeitslos, und sie haben oftmals schwere, in der Person liegende Ver- Das zweite Förderinstrument richtet sich an die übri- mittlungshemmnisse. Zudem haben zurückliegende Ak- gen 40 Prozent, an jene, die bereits eine Berufsausbil- tivierungen – so schränken wir das ein – nicht zu einem dung abgeschlossen, den Start ins Berufsleben aber noch Eingliederungserfolg geführt. Das heißt, diese Personen nicht geschafft haben. Auch sie brauchen Unterstützung, haben Maßnahmen bekommen; dennoch hat nicht ge- um den Berufseinstieg zu schaffen. Hier ist die Förder- klappt, was wir ihnen wünschen, nämlich Beschäftigung kulisse nicht ganz so üppig. Dennoch ist auch in diesem im ersten Arbeitsmarkt zu finden. Hinzu kommt, dass Bereich eine Förderung notwendig. Denn wir sind der wir im Hinblick auf den Personenkreis, den wir ins Auge Meinung, dass ein guter Start ins Arbeitsleben die beste fassen und der all diese Merkmale mitbringt, leider sa- Hilfe ist, die wir jungen Menschen überhaupt geben kön- gen müssen: Die Prognose, in den nächsten 24 Monaten nen. Deshalb sage ich: Beide Vorhaben sind kluge Inves- in Arbeit zu kommen, ist negativ. titionen. Das ist die richtige Verwendung der Gelder. Was haben wir in der Vergangenheit mit diesen Perso- Beide Maßnahmen sind bis zum Jahre 2010 angelegt. nen gemacht? Sie haben eine Maßnahme nach der ande- Starten sollen sie – das sagte ich schon – am 1. Oktober ren bekommen, unterbrochen von Zeiten der Arbeitslo- dieses Jahres. sigkeit. Das ist kein gut angelegtes Geld, und das ist für Auch das EQJ-Programm – ich sprach es an; es ist die Betroffenen keine gute Entwicklung. Wir wollen mit ein Erfolgsprogramm – wird mit diesem Gesetzesvorha- der Beschäftigungsperspektive, die wir heute auf den ben verstetigt. Sie alle wissen: Wir haben es seit 2006 Weg bringen, einen neuen Zugang wählen. Wir sagen: auf 40 000 Plätze aufgestockt. Wir wollen, dass dieses Für diese Personengruppe, die weitaus mehr als 100 000 Programm dauerhaft guten Dienst leistet. Die Begleitfor- umfasst, muss es ein Instrument geben, das eine langfris- schung hat nämlich ergeben, dass es Sinn macht: Zwei tiger Förderung ermöglicht. Ich glaube, darüber besteht in diesem Hause Konsens. (B) Drittel der EQJ-Teilnehmer haben die Chance zu einer (D) Ausbildung und bekommen damit die berufliche Per- Wir haben uns im Vorfeld dieses Gesetzgebungsver- spektive, die wir allen jungen Menschen wünschen. fahrens intensiv mit Experten aus der Praxis beraten. Wir (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der haben wichtige Impulse aus den Integrationsbetrieben CDU/CSU) bekommen, Anregungen aus dem Bereich der sozialen Betriebe aufgenommen und kommunale Vertreter kon- Im Übrigen räume ich mit dem Vorurteil auf, die EQJ sultiert. Sie alle haben uns zu diesem Schritt ermutigt. verdränge Ausbildungsplätze. Das Gegenteil ist der Fall: Wir stellen fest: Die Richtung stimmt. Wir wissen, dass Es wurden sogar neue geschaffen. dieser Weg steinig ist. Herr Staatssekretär, ich glaube der eine oder andere Kiesel muss noch beiseitegeräumt wer- Meines Erachtens haben wir jetzt hinreichend über den, damit das gesamte Projekt gelingt. Dennoch sind die unter 25-Jährigen gesprochen. Wir haben auch ein wir zuversichtlich. Tritt das Gesetz in Kraft, können wir Vorhaben, das die Älteren betrifft, und zwar den harten in dieser Legislaturperiode bis zu 100 000 Menschen auf Kern der Langzeitarbeitslosen, dem wir besondere Hilfe diesem Weg in Arbeit bringen – eine Perspektive, die sie bieten wollen. Das haben wir in unserer Koalitionsver- ohne diese Maßnahme nicht hätten. Deswegen werbe ich einbarung so niedergelegt, und jetzt wollen wir zur Tat dafür. schreiten. Wir haben in der AG „Arbeitsmarkt“ des Ministeriums für Arbeit und Soziales intensiv gearbeitet. Der Erfolg steht und fällt mit passgenauer Vermitt- Die SPD-Fraktion hat an ihrem Ansatz „Jobperspektive“ lung vor Ort. Diese Möglichkeit sieht das Gesetz vor. gefeilt. Heute bringen wir den Entwurf eines Gesetzes Der Zuschuss fällt – so sage ich einmal – angemessen zur Verbesserung der Beschäftigungschancen von Lang- satt aus, weil wir wollen, dass viele Arbeitgeber die zeitarbeitslosen ein. „Was ist das Besondere an diesem Chance nutzen, ihrem Engagement und ihrer Bereit- Ü-25-Angebot?“, werden Sie fragen. Manche nennen es schaft, diesem Personenkreis zu Arbeit zu verhelfen, den sozialen Arbeitsmarkt. Ich meine, der Name ist nicht Form zu geben. Wir wissen, dass diese Maßnahme Geld entscheidend. Entscheidend ist, dass dieser Personen- kostet. Wir sehen allerdings auch, dass dadurch an ande- kreis einen neuen Zugang bekommt und ihm eine ange- ren Stellen gespart wird. Denn wir reden über sozialver- messene und zielführende Förderung zuteilwird. sicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse, die den Sozialversicherungen Einnahmen bringen. Stellen Sie sich einmal gemeinsam mit mir die viel zu große Gruppe der Menschen vor, die Arbeitslosengeld II Ich will schließen, weil meine Redezeit leider zu beziehen. Betrachten Sie dabei nicht den erheblichen Ende ist. Ich hätte gerne noch mehr zu diesem Thema Teil der Aufstocker, also jene, die von ihrem Arbeitslohn ausgeführt; aber eine wichtige Sache möchte ich noch Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10833

Gabriele Lösekrug-Möller (A) formulieren: Mein Dank geht an das zuständige Ministe- falsche Weg, von Beitragszahlern aufgebrachte Mittel (C) rium. Ich weiß, dass wir in kürzester Zeit eine erhebliche der Arbeitslosenversicherung für die Beseitigung schuli- fachliche und wirklich gute Zuarbeit erhalten haben. Ich scher Defizite auszugeben. bedanke mich an dieser Stelle ausdrücklich dafür. Enga- gierte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen haben dazu bei- Ich begrüße deshalb die geplante Befristung der Maß- getragen, dass wir, sofern wir guten Willens sind, diesen nahmen ausdrücklich; denn mittel- und langfristig müs- Gesetzentwurf noch vor der Sommerpause verabschie- sen wir andere Wege finden, um die Qualifizierung den können. Jugendlicher sicherzustellen. Unbenommen davon muss für diejenigen Jugendlichen, die die Schule bereits Vielen Dank. hinter sich und auf dem Arbeitsmarkt keinen Fuß gefasst (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) haben, etwas getan werden. Zahlreiche Integrationsfachdienste sowie kommu- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nale Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften Jetzt spricht Jörg Rohde für die FDP-Fraktion. beweisen tagtäglich, dass eine individuelle Betreuung und Unterstützung dieser schwer in Arbeit zu vermitteln- Jörg Rohde (FDP): den Klientel der einzig erfolgversprechende Weg in den Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Arbeitsmarkt ist. Die FDP wird deshalb nicht müde, im- Herren! Frau Lösekrug-Möller, zunächst zu Ihnen: Der mer wieder auf eine Kommunalisierung der Arbeitsver- Aufschwung, von dem Sie wieder einmal sprechen, geht mittlung zu drängen. im Wesentlichen an den Langzeitarbeitslosen vorbei. (Beifall bei der FDP) Das ist mit ein Grund dafür, warum wir heute hier ste- hen. Je direkter der Kontakt zwischen Arbeitsuchenden, Ver- mittlern und Arbeitgebern ist, umso eher lassen sich Wir befassen uns mit den Sorgenkindern des Arbeits- Hindernisse überwinden und Probleme lösen. Dies gilt marktes, mit Menschen, denen die Türen zum Arbeits- besonders dann, wenn nach der Vermittlung das neue markt aus den verschiedensten Gründen bisher Arbeitsverhältnis vom Jobcenter oder von der zuständi- verschlossen blieben. Die – gelegentlich auch vorgescho- gen kommunalen Stelle begleitet werden muss. benen – Gründe dafür sind vielfältig: keine ausreichende Schulbildung und Berufsqualifikation, Sprachprobleme, Deshalb schlagen beim Betrachten der vorliegenden Krankheit, Behinderung, ein hohes Lebensalter und vie- Gesetzentwürfe zwei Herzen in meiner Brust. Als Ver- les mehr. Je schwerwiegender diese Vermittlungshemm- treter einer Optionskommune freue ich mich über die nisse sind, umso intensiver, persönlicher und eben auch neuen Instrumente. Ich weiß die Mittel beim Erlanger (B) (D) betriebsnäher muss die Betreuung dieser Arbeitsuchen- Integrationsfachdienst ACCESS und bei der GGFA, ei- den sein. ner Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft, in guten Händen. Zweifel habe ich jedoch, ob der Einsatz So verwundert es nicht, dass sich Union und SPD mit der Mittel auch bei den Arbeitsagenturen und Argen zu den vorliegenden Gesetzentwürfen wieder einmal den den gewünschten, positiven Effekten führt. Die FDP Liberalen annähern. wird nicht nur deshalb die Vermittlungserfolge der (Lachen bei der SPD) Agenturen, Argen und Optionskommunen weiterhin kri- tisch begleiten. Schon seit Jahren predigen wir Ihnen von der Regie- rungskoalition und den Kolleginnen und Kollegen von Lassen Sie mich noch einige Fragen zu Details der noch weiter links, dass der Schlüssel zur Integration in vorliegenden Gesetzentwürfe stellen. Die sozialpädago- den Arbeitsmarkt allein in der betrieblichen Ausbildung gische Begleitung der Jugendlichen unter 25 Jahren und Qualifizierung liegt. Außerbetriebliche Qualifizie- bleibt unklar. Welche sozialpädagogischen Maßnahmen rungsmaßnahmen haben sich weitgehend als wirkungs- liegen der Prognose von Kosten in Höhe von circa los erwiesen. Sie schaden den Arbeitsuchenden oft mehr, 200 Euro pro Person und Monat zugrunde? Wie soll si- als sie ihnen nützen. chergestellt werden, dass die sozialpädagogische Beglei- tung und die betriebliche Qualifizierung aufeinander ab- (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist falsch!) gestimmt sind und sinnvoll ineinandergreifen? Deswegen ist jeder Ansatz, durch den Arbeitsuchende Wünschenswert ist meines Erachtens eine Art regel- mit der betrieblichen Praxis konfrontiert und dort geför- mäßige Fallkonferenz unter Beteiligung des Jugendli- dert und gefordert werden, ein Schritt in die richtige chen, seines Jobvermittlers und des Arbeitgebers. Nur so Richtung. kann sichergestellt werden, dass dem Grundsatz des För- (Beifall bei der FDP) derns und Forderns vollumfänglich Rechnung getragen wird. Vor allem den Gesetzentwurf zum SGB III müsste es aber nicht geben – und das ist entscheidend –, wenn Zudem rege ich an, Anreize für eine Übernahme des nicht so viele Jugendliche die Schule ohne Abschluss Jugendlichen in ein reguläres Arbeitsverhältnis nach dem oder ohne eine ausreichende Qualifikation zur Auf- Auslaufen der Förderung zu schaffen. Es muss verhindert nahme einer Berufsausbildung verlassen würden. Das werden, dass Jugendliche nach Auslaufen der Förderung SGB III ist nicht dafür da, die Versäumnisse der Bil- wieder in die Arbeitslosigkeit entlassen werden, zumal dungspolitik in Deutschland zu kompensieren. Es ist der eine hinreichende Qualifizierung der Jugendlichen in vielen 10834 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Jörg Rohde (A) Unternehmen binnen zwölf Monaten neben einer eventu- Sie haben Erlangen angesprochen. Der Abgeordnete (C) ellen zusätzlichen sozialpädagogischen Begleitung kaum Stefan Müller ist in Erlangen direkt gewählt worden. Die zu bewerkstelligen sein wird. CSU sorgt dafür, dass vor Ort eine ordentliche Politik gemacht wird. Wir sind dankbar, dass das anerkannt Beim SGB II bereitet mir die Begrenzung der Förde- wird. rung auf Arbeitsverhältnisse mit mindestens 50 Prozent bzw. möglichst sogar 100 Prozent der vollen Arbeitszeit (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Rohde Bauchschmerzen. Wer drei Stunden am Tag arbeiten [FDP]: In Erlangen ist die Welt in Ordnung! kann, gilt in Deutschland als erwerbsfähig, selbst wenn Schwarz-Gelb regiert die Stadt!) nicht viel mehr als diese drei Stunden möglich ist. In der Begründung des Gesetzentwurfs wird sogar explizit auf Wir haben zwei Gesetzentwürfe vorgelegt, mit denen die im internationalen Vergleich niedrige Schwelle zur wir das umsetzen, was wir in der Arbeitsgruppe „Ar- Erwerbsfähigkeit verwiesen und die Vermittlung deut- beitsmarkt“ verabredet haben. Dabei geht es um jeweils lich leistungsgeminderter Erwerbsloser deshalb zur be- beschränkte und sehr zielgruppenorientierte Modelle für sonders großen Herausforderung erklärt. Kombilöhne, das heißt um eine intelligente Kombina- tion aus dem Einkommen, das jemand am Markt als Ar- Für viele Arbeitslose mit mehrfachen Vermittlungs- beitslohn erwirtschaften kann, und Transferelementen, hemmnissen wird eine volle Stelle ohnehin kaum zu be- die seitens des Staates dazukommen. wältigen sein. Der Mindestumfang von 50 Prozent der vollen Arbeitszeit sollte deshalb gestrichen werden. Nur Die Große Koalition setzt – angespornt von den be- so können viele behinderte und gesundheitlich einge- reits erzielten Erfolgen bei der Bekämpfung der Arbeits- schränkte Arbeitslose mithilfe des Beschäftigungszu- losigkeit – zielgenau bei einzelnen Gruppen an, um an schusses und begleitender Qualifizierung wieder an den diese Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt anzuknüpfen. Arbeitsmarkt herangeführt werden. Ich denke, damit sind wir auf einem guten Weg. Für beide Programme entscheidend ist schließlich die (Beifall bei der CDU/CSU) Frage, ob die zusätzlichen Mittel den Kommunen auch Wir haben vor allem zwei Zielgruppen im Blick; die sofort zur Verfügung stehen oder erst vorfinanziert wer- Kollegin Lösekrug-Möller hat völlig zu Recht darauf den müssen. Denn viele kommunale Jobvermittlungen hingewiesen. Wir wollen zusätzlich zu dem, was wir bis- arbeiten schon jetzt am Rande ihrer finanziellen Mög- her getan haben, gezielt etwas für Jugendliche tun, weil lichkeiten. es extrem wichtig ist, dass die jungen Menschen zu Be- Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen. Bei ginn ihrer Berufsphase nicht als Erstes die Erfahrung der Kostenabschätzung wurden die Optionskommunen machen, dass sie nicht gebraucht werden. Deswegen tun (D) (B) wegen der fehlenden Datenbasis zum personellen Um- wir etwas dafür, dass junge Menschen in Arbeit kom- fang der Zielgruppen nicht erfasst. Auf welcher Grund- men, indem sie – wenn sie noch keine Berufsausbildung lage sollen den Optionskommunen die Mittel für die haben – zunächst einmal qualifiziert werden. Dazu dient neuen Maßnahmen zur Verfügung gestellt werden? der Qualifizierungszuschuss. Diese Fragen sollten bei der Anhörung zu diesen Ge- Der Eingliederungszuschuss ist ein zielgenaues In- setzentwürfen und spätestens bis zur zweiten und dritten strument für diejenigen, die zwar eine Berufsausbildung Beratung noch geklärt werden. abgeschlossen haben, aber trotzdem arbeitslos werden. Vielen Dank. Wir alle werden gelegentlich eingeladen, wenn die Kammern die Besten auszeichnen, die eine Ausbildung (Beifall bei der FDP) abgeschlossen haben. Wie jeder weiß, gibt es nicht nur die Besten, sondern auch andere. Viele Unternehmen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: folgen dem Appell der Politik, über den Bedarf hinaus Der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe hat jetzt das Wort. auszubilden, und übernehmen deshalb nicht alle. Noch (Beifall bei der CDU/CSU) immer gehen viele Firmen pleite. Es sind weniger als früher, aber immer noch so viele, dass junge Menschen nach der Ausbildung zum Teil völlig ohne eigenes Zutun Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): auf der Straße stehen. Auch an sie müssen wir denken Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- und uns darum bemühen, dass sie wieder in Arbeit kom- gen! Zunächst einmal meine Gratulation, Herr Kollege men. Häufig reicht ein Anschub über eine begrenzte Rohde: Sie haben die Abwesenheit Ihres Kollegen Kolb Zeit. Deswegen ist dieses Instrument befristet. genutzt, um sich ein Herz zu fassen und sich differen- ziert mit unseren Vorschlägen auseinanderzusetzen, Aber wir sagen den jungen Menschen damit: Wir las- sen euch nicht im Regen stehen. Wir helfen euch mit ei- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und ner passgenauen Förderung, damit ihr eine Ausbildung der SPD – Jörg Rohde [FDP]: Ich hätte das abschließen könnt, wenn ihr das noch nicht getan habt, auch gesagt, wenn Herr Kolb da gewesen damit ihr wieder in Arbeit kommt. wäre!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ganz im Gegensatz zu dem, was Ihre Fraktion sonst übli- neten der SPD) cherweise tut. Dazu gratuliere ich Ihnen, und dafür bin ich dankbar. Das ist das Ziel, das wir mit diesem Gesetz verfolgen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10835

Dr. Ralf Brauksiepe (A) Das EQJ-Programm wird in das Arbeitsförderungs- gionen, in denen die Arbeitslosigkeit ansonsten sehr (C) recht aufgenommen. Damit lösen wir die im Rahmen des niedrig ist. Wir finden eine solche besondere Arbeits- bis zum Jahr 2010 verlängerten Ausbildungspakts ge- marktferne in vielen Teilen des Landes. Deswegen ma- machte Zusage ein, für die kommenden drei Jahre die chen wir das Angebot, überall im Land Menschen auf Förderung von jeweils 40 000 Plätzen sicherzustellen. diese Weise in Arbeit zu bringen. Mit diesem Gesetz ermöglichen wir auch die sozialpäda- gogische Begleitung und organisatorische Unterstützung Wir wissen, dass das viel Verantwortung vor Ort er- bei betrieblicher Berufsausbildung und Berufsausbil- fordert. Wir können nicht von Berlin aus zentralistisch dungsvorbereitung. Das ist ebenfalls ein wichtiges Ele- sagen: Das sind diejenigen, welche! ment. Von daher bieten wir jungen Menschen unter (Jörg Tauss [SPD]: Das haben wir noch nie ge- 25 Jahren eine Perspektive, in Arbeit zu kommen. macht!) Wir wissen, dass wir auf diesem Gebiet Erfolge Wir wollen ein Programm für insgesamt 100 000 Men- vorzuweisen haben. Die Arbeitslosigkeit der unter schen auflegen. Es wird darum gehen, dass vor Ort 25-Jährigen ist innerhalb eines Jahres um fast 25 Prozent geprüft wird, ob es andere Möglichkeiten gibt, diese zurückgegangen, deutlich stärker als die allgemeine Ar- Menschen innerhalb der nächsten 24 Monate in Beschäf- beitslosigkeit. Das macht uns Mut, an diesem Thema tigung zu bringen. Wenn dies nach menschlichem Er- dranzubleiben und etwas für die zu tun, die noch unver- messen nicht zu erwarten ist, werden wir bis zu sorgt sind. 75 Prozent der Kosten tragen, damit die Menschen in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Beschäftigung kommen. Dieses Instrument setzt verant- neten der SPD) wortungsvolle Entscheidungen vor Ort voraus. Das wird immer eingefordert, und genau das setzen wir mit die- Ich will nun etwas zum zweiten Gesetzentwurf sagen, sem Instrument um. in dem es um die Verbesserung der Beschäftigungschan- cen von Menschen mit Vermittlungshemmnissen geht, Wir werden damit nicht alle Probleme in diesem Be- wie es im Gesetzentwurf heißt. Die Menschen mit be- reich beseitigen können; das ist völlig klar. Die Arbeits- sonders großen Vermittlungshemmnissen bezeichnet losigkeit in Deutschland geht zwar zurück; sie ist aber man gelegentlich auch als besonders arbeitsmarktfern. noch lange nicht bei null. Wir haben eine Akademikerar- beitslosigkeit. Diese werden wir auch weiterhin haben. Wir von CDU/CSU und SPD haben uns schon im Ko- Es wäre ja seltsam, wenn wir ausgerechnet bei den be- alitionsvertrag dazu bekannt: Auch ein noch so nachhal- sonders schwer Vermittelbaren plötzlich zu einer Vollbe- tiger und starker wirtschaftlicher Aufschwung wird nicht schäftigung von 100 Prozent kämen. Das werden wir (B) dazu führen, dass der Markt automatisch alle Menschen nicht erreichen. Mit dieser Maßnahme können wir aber (D) in Beschäftigung bringt. – Wir sind froh, dass wir diesen einer großen Zahl von Menschen eine Perspektive bie- nachhaltigen und starken wirtschaftlichen Aufschwung ten. Deswegen bin ich dankbar, dass wir uns in der Gro- haben. Uns ist aber klar, dass wir die Hände nicht in den ßen Koalition darauf haben verständigen können. Schoß legen können. Es gibt Hunderttausende von Ar- beitslosen, die ohne zusätzliche Maßnahmen nicht in Be- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- schäftigung gebracht werden können; das sage ich nicht neten der SPD) nur für meine Fraktion. Für uns ist das nicht nur ein Akt Viele haben dazu beigetragen, dass wir diese Gesetz- der Arbeitsmarktpolitik, sondern leitet sich aus unserem entwürfe heute in erster Lesung in die Beratung einbrin- christlichen Menschenbild ab. Wir können die Men- gen können. schen, die sich nicht selbst helfen können, nicht am Wegesrand stehen lassen. Deswegen freue ich mich, dass Frau Lösekrug-Möller hat völlig zu Recht den Beitrag wir dies haben gemeinsam vereinbaren können. des Ministeriums sowie der dort tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zum Gelingen hervorgehoben. Ich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- denke, wir können als Vertreter der Großen Koalition sa- neten der SPD) gen, dass wir hier gut und völlig ohne ideologische Wir wollen Menschen, die besonders arbeitsmarktfern Scheuklappen zusammengearbeitet und uns an den Be- sind, in den Arbeitsmarkt integrieren und dafür mehr dürfnissen der Menschen orientiert haben. Mittel in die Hand nehmen als bei anderen arbeitmarkt- Mein besonderer Dank gilt den beiden, die dieses politischen Instrumenten. Thema federführend bearbeitet haben und mit dem von (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ihnen erarbeiteten Papier die Grundlage für die vorliegen- NEN]: Es gibt gar kein zusätzliches Geld!) den Gesetzentwürfe gelegt haben. Das sind der Kollege Klaus Brandner und unser ehemaliger Kollege Karl-Josef Die bisherigen Erfahrungen bei der Umsetzung der Laumann, nun nordrhein-westfälischer Arbeits- und So- Regelungen des Sozialgesetzbuches II zeigen, dass es im zialminister. Die beiden haben die wesentlichen Vorarbei- Verantwortungsbereich der Arbeitsgemeinschaften, der ten für die vorliegenden Gesetzentwürfe geleistet. Wir Agenturen für Arbeit und bei getrennter Aufgabenwahr- können feststellen: Obwohl Karl-Josef Laumann diesem nehmung auch bei den zugelassenen kommunalen Trä- Haus nicht mehr angehört, bewirkt er auch in seiner gern eine nennenswerte Zahl von Menschen gibt, für die neuen Funktion Gutes für die Arbeitsmarktpolitik in ganz die bisherigen Instrumente nicht ausreichen. Diese Men- Deutschland, und das gemeinsam mit unserem Koali- schen sind überall im Land anzutreffen, auch in den Re- tionspartner. Dafür können wir dankbar sein. 10836 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Dr. Ralf Brauksiepe (A) Ich freue mich auf die weiteren Beratungen in den mit den Gesetzen, die nicht nur sozial unverantwortlich (C) Ausschüssen. Wir sind für konstruktive Hinweise dank- und volkswirtschaftlich dumm sind, sondern zumindest bar, wie wir diese Instrumente zielgenau ausgestalten in Teilen auch nicht verfassungskonform. können. Ich bin mir sicher, dass wir in zwei Wochen feststellen werden: Wir haben den Menschen, die Hilfe Auch der Scherbenhaufen bei der Ausbildung junger brauchen, neue Instrumente bereitgestellt. Ab Oktober Leute, den Sie mit dem Festhalten am untauglichen Aus- wird diese Hilfe anlaufen. bildungspakt und dem Verzicht auf eine Ausbildungs- platzabgabe seit Jahren aufhäufen, Herzlichen Dank. (Jörg Tauss [SPD]: Waren Sie heute Morgen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) nicht bei der Debatte?) gehört in die Rubrik mangelnder Glaubwürdigkeit; denn Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: der sogenannte Qualifizierungskombi für 50 000 junge Jetzt hat Kornelia Möller von der Fraktion Die Linke Leute – so unterstützenswert jeder Fortschritt ist, jungen das Wort. Menschen eine Zukunftsperspektive zu geben – (Beifall bei der LINKEN) (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) – hören Sie weiter zu, Herr Tauss! – wird sich am Ende Kornelia Möller (DIE LINKE): als ein Herumdoktern an Symptomen herausstellen. Frau Präsidentin! Sehr geehrten Damen und Herren! Dass Sie die wirklichen Krankheitsursachen kennen, Herr Rohde, Sie haben recht: CDU/CSU und SPD nä- aber nicht beseitigen wollen, beweisen Überlegungen hern sich mit den vorliegenden Gesetzentwürfen den Li- über einen Bonus für auszubildende Betriebe. Aber das beralen an. reicht angesichts einer Zahl von jährlich 300 000 Altbe- werberinnen und Altbewerbern nicht. Vielmehr müssen (Zurufe von der SPD: Oh! Oh!) diejenigen Unternehmen in die Pflicht genommen wer- Vermutlich haben Sie, meine Damen und Herren von den – Sie wissen das genau, Herr Stöckel –, die nicht CDU/CSU und SPD, deshalb die beiden Gesetzentwürfe ausbilden, obwohl sie wirtschaftlich dazu in der Lage zu dieser späten Tageszeit in das Plenum eingebracht, sind. Dazu fordere ich Sie heute wieder auf. Hier können quasi im Schutz der Dunkelheit. Wahrscheinlich haben Sie Glaubwürdigkeit gewinnen. Sie Angst um Ihre Glaubwürdigkeit. Das sollten Sie Ihre Vorhaben werden der Größe der gesellschaftli- auch. Seit nunmehr neun Monaten blockieren Sie von chen Probleme in keiner Weise gerecht. So gleicht das (D) (B) der schwarz-roten Koalition unseren Antrag auf öffent- Ergebnis einer Alibiveranstaltung. Unter dem Strich lich finanzierte Beschäftigung. Sie verhindern also, dass bleiben Sie auch heute wieder in allen Formulierungen 500 000 Menschen eine Perspektive bekommen. Nur Ihrem Begründungsansatz treu, Langzeiterwerbslosig- weil Gewerkschaften, Sozialverbände, Arbeitslosenini- keit auf individuelle Ursachen zu reduzieren. So ist es tiativen, Die Linke und die Grünen Druck machen, müs- natürlich immer leicht, die gesellschaftlichen Ursachen sen Sie trotz aller Aufschwungseuphorie die Langzeit- und den Anteil der heutigen Koalitionsfraktionen daran erwerbslosigkeit zur Kenntnis nehmen. zu vernebeln. (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Sie über- Meine Damen und Herren von der Koalition, wenn schätzen sich da ein bisschen!) Sie wirklich etwas Nachhaltiges gegen Langzeiterwerbs- Nun reagieren Sie von Schwarz-Rot. Aber Sie tun das losigkeit tun wollen, müssen Sie an den Ursachen anset- Falsche. Gegenüber dem Rat der Sachverständigen blei- zen. Kehren Sie Ihren arbeitsmarkt- und sozialpoliti- ben Sie starrköpfig, zum Beispiel beim Zwang zur Ar- schen Scherbenhaufen der Hartz-Gesetze auf, und fangen beitsaufnahme und bei der Lohnhöhe. Bei fast 1,5 Mil- Sie neu an! lionen Langzeitarbeitslosen schaffen Sie es gerade, (Katja Mast [SPD]: Sie lachen ja selbst!) 100 000 Menschen eine Perspektive zu geben. Das sind noch nicht einmal 10 Prozent. Was sagen Sie den ande- – Ja, weil Sie mich so freundlich anlächeln. Ich bin näm- ren, fast 1,4 Millionen langzeitarbeitslosen Frauen und lich ein netter Mensch. – Wir von der Linken sind alle Männer, denen, die am Sinn des Lebens zweifeln, und nette Menschen. Wir sind gerne bereit, Ihnen unsere denen, die die Langzeitarbeitslosigkeit krank macht? Sie Fachkompetenz zum Wohle der Bürgerinnen und Bürger wenden sich von den Problemen der Menschen ab und in diesem Land zur Verfügung zu stellen. versuchen stattdessen, mit beiden Gesetzentwürfen die Folgen schlechter Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspo- (Lachen bei der CDU/CSU) litik zu verschleiern, ohne die Ursachen auszuschalten. Ich danke Ihnen. Die Ursachen für den in den letzten Jahren gewachsenen und verfestigten Sockel an Langzeiterwerbslosigkeit ha- (Beifall bei der LINKEN) ben Sie von der CDU/CSU und Sie von der SPD – im Bund mit den Grünen – mit den Hartz-Gesetzen selbst Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: geschaffen, Es spricht Brigitte Pothmer für Bündnis 90/Die Grü- (Beifall bei der LINKEN) nen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10837

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Sie verwöhnen Die psychosoziale Betreuung findet in Ihrem Konzept (C) uns heute wieder, Frau Pothmer!) überhaupt nicht statt. Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zu Ihren Fi- Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nanzierungsvorschlägen machen. Ganz im Gegensatz Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr zu dem, was Sie hier gesagt haben, nehmen Sie keinen Brauksiepe und Frau Lösekrug-Möller, wir sind uns, was Cent zusätzlich in die Hand. die Analyse angeht, darin einig, dass Langzeitarbeits- lose, insbesondere Langzeitarbeitslose mit zusätzlichen (Jörg Rohde [FDP]: Genauso ist es!) Vermittlungshemmnissen, bis auf weiteres nicht vom Alles soll aus dem Integrationsbudget finanziert werden. Aufschwung profitieren werden und kaum Chancen ha- Wenn Sie 100 000 Leute fördern wollen, dann kommen ben werden, auf dem ersten Arbeitsmarkt einen Arbeits- Sie auf eine Summe von 1,4 Milliarden Euro. Die Agen- platz zu finden. Ich bin mir nur nicht sicher – ich zweifle turen werden sich genau überlegen, ob sie ihr knappes, ernsthaft daran –, ob Sie mit dem vorgelegten Konzept von Ihnen noch einmal um 1 Milliarde Euro gekürztes Ihr Ziel erreichen. Integrationsbudget für diese teure Maßnahme verwen- Herr Brauksiepe, im Übrigen handelt es sich bei die- den werden. ser identifizierten Gruppe um circa 400 000 Personen, wie Sie überall nachlesen können. Auch das IAB hat Wissen Sie, was der Treppenwitz der Geschichte ist? jüngst diese Zahl genannt. Es geht also nicht um 100 000 Sie wollen demnächst die Zuweisung der Mittel an die Personen. Anzahl der Langzeitarbeitslosen knüpfen. (Jörg Tauss [SPD]: Es ist doch keine homo- Die Leute, die in diesen Programmen sind, sind aber gene Gruppe! Deshalb differenzierte Maßnah- keine Arbeitslosen mehr. Das heißt, genau diejenigen, men! – Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Es die sich in ihrem Programm besonders engagieren, ge- geht um 100 000, die gefördert werden, Frau ben viel Geld aus und kriegen hinterher noch weniger. Kollegin!) Dass das kein Anreiz ist, werden sogar Sie verstehen. Ich sage Ihnen: Für die Agenturen ist es interessanter, wei- – Die Langzeitarbeitslosen und die Geringqualifizierten terhin 1-Euro-Jobs anzubieten, als dieses Programm bilden wirklich keine homogene Gruppe. Aber die durchzuführen. Ich glaube, das wird auch die Anhörung Größe der Gruppe, für die dieses Konzept vorgesehen zeigen. Es sind sehr detaillierte Kritikpunkte, die ich hier wird, wird in Fachkreisen auf mindestens 400 000 Perso- vorgetragen habe. nen geschätzt. Lassen Sie mich abschließend noch etwas zu dem Ge- (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: 100 000 setzentwurf zur Verbesserung der Qualifizierung und (B) davon werden gefördert! Sie dürfen nicht zwei Beschäftigungschancen von jüngeren Menschen mit (D) Reden an einem Abend halten, Frau Kollegin! Vermittlungshemmnissen sagen. EQJ kommt jetzt ins Das ist zu viel für Sie!) SGB III. Das Einzige, was Sie damit erreichen, ist die Ich zweifle, wie gesagt, daran, ob Sie Ihr Ziel mit dem Verschiebung der Mittel, nämlich vom Bundeshaushalt vorliegenden Konzept erreichen. Nehmen wir einmal die in den Haushalt der BA. Ich finde das offen gesagt unan- Begrenzung der Zuschüsse auf 75 Prozent. Frau Löse- ständig. Im Übrigen glaube ich auch, dass das EQJ-Pro- krug-Möller hat gesagt, es komme darauf an, dass sehr gramm kein zielgerichtetes Programm ist. Der Erfolg schnell und sehr passgenau vor Ort vermittelt wird. Die des EQJ-Programms beruht im Wesentlichen darauf, gemeinnützigen Institutionen – auf die Gemeinnützig- dass es die Zielgruppe, um die es geht, nicht erreicht. In keit legen Sie zu Recht Wert – werden größte Schwierig- den EQJ-Programmen sind im Wesentlichen Realschüler keiten haben, die 25 Prozent Kofinanzierung aufzubrin- und Schüler mit noch besseren Abschlüssen. Von 2005 gen. Das heißt, die Kofinanzierung muss über bis 2006 lag der Anteil der Hoch- und Fachhochschulab- Ländermittel und über den ESF erfolgen. Das bedeutet solventen in diesem Programm bei 6,7 bzw. 7,5 Prozent. einen riesigen bürokratischen Aufwand. Ich prognosti- Jugendliche mit Realschulabschluss und Gymnasiasten ziere Ihnen, dass die Institutionen noch nicht einmal sind in dem Programm. Deswegen ist dieses Programm 100 000 Plätze anbieten. unzureichend und wirklich nicht zielführend. Mit dem Qualifizierungszuschuss für zwölf Monate (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) verzichten Sie im Grunde genommen auf die Möglich- keit, dass diese Menschen tatsächlich qualifiziert wer- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: den, um dann aus dieser geschützten Beschäftigung her- Frau Pothmer, kommen Sie zum Schluss, bitte. aus in den ersten Arbeitsmarkt zu kommen. Sie wollen sozusagen nur die Eingliederung kurzfristig unterstützen. Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Ich glaube, Ich muss jetzt leider zum Schluss kommen. Ich emp- Sie haben noch einen Teil von Ihrem Erntehel- finde es übrigens als Unverschämtheit, dass Sie diese ferredemanuskript vorliegen!) beiden Gesetzentwürfe in ein Beratungsverfahren von – Haben Sie nicht zugehört? Es geht hier um Menschen einer halben Stunde pressen. Eine Große Koalition hat und nicht um Spargel, Herr Brauksiepe. viele Stimmen, aber deswegen noch keine Qualität. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zu- und bei der LINKEN) rufe von der CDU/CSU und der SPD: Oh!) 10838 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Süßmuth Anfang der 90er-Jahre nach öffentlichen Ta- (C) Ich schließe die Aussprache. gungen des Petitionsausschusses ist im Sande verlaufen. Meine Damen und Herren der Koalition, der Ball liegt Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent- jetzt bei Ihnen. würfe auf den Drucksachen 16/5714 und 16/5715 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- Wie ein roter Faden ziehen sich bestimmte Probleme gen. Außerdem soll die Vorlage auf Drucksache 16/5715 an durch die Zeit, ohne dass sie jemals zu einer einver- den Haushaltsausschuss gemäß § 96 der Geschäftsord- nehmlichen Lösung geführt worden sind. Dazu gehören nung überwiesen werden. Gibt es dazu anderweitige auch die zersplitterten Regelungen zum Petitionsrecht, Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist so be- die einer Zusammenführung bzw. Überarbeitung bedür- schlossen. fen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 13 auf: Obwohl sich alle Fraktionen schon in der 14. Wahl- periode mit der Einbringung eines Petitionsgesetzes der Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten PDS-Fraktion darauf verständigten – ich zitiere –, „in Kersten Naumann, Heidrun Bluhm, Petra Pau, der nächsten Wahlperiode interfraktionell über mögliche weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Änderungen zum Petitionsrecht und -verfahren zu bera- LINKEN ten, kam es mit Ausnahme der Internet- und öffentlichen Förderung der demokratischen Teilhabe und Petitionen nicht dazu. Stärkung des Petitionsrechts Die Fraktion Die Linke möchte zu einer einheitlichen – Drucksache 16/2181 – Regelung zum Petitionsrecht auf Bundesebene und zu einer vorwiegend öffentlichen Behandlung von Petitio- Es ist verabredet, auch hierzu eine halbe Stunde zu nen kommen. Wir haben dazu erst kürzlich eine Aus- debattieren. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann arbeitung vom Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen ist so beschlossen. Bundestages zur „Zusammenfassung des Petitionsrechts Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin in einem neuen Gesetz“ erhalten. Darin wird festgestellt: Kersten Naumann für Die Linke das Wort. Die Mehrheit der Bundesländer hat, um Rechtsklarheit zu erreichen, bereits seit längerem Petitionsgesetze auf (Beifall bei der LINKEN) Landesebene geschaffen. Während auf der einen Seite das Petitionsrecht als ausdrücklich wünschenswertes de- Kersten Naumann (DIE LINKE): mokratisches und auch politisches Beteiligungsrecht Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und stets gewürdigt wird, wird die Bedeutung, Ausübung (B) Herren! Die Fraktion Die Linke hat im Juni 2006 eine und Effektivität dieses Rechts von Bundesregierung, (D) Große Anfrage zur Stärkung des Petitionsrechts einge- Parlament und Medien unterschätzt und von Rechtswis- reicht. Die Bundesregierung will sich bis Oktober dieses senschaftlern bemängelt. Jahres, also 16 Monate, Zeit lassen, um diese zu beant- Auch für den Petitionsausschuss gilt: Transparenz ist worten. Auch wenn der Präsident, Herr Lammert, dabei nur möglich, wo Öffentlichkeit herrscht. In der Regel von einem „singulären Ausnahmefall“ spricht, ändert herrscht aber die Meinung vor, dass die Interessen der das nichts an der unangemessen langen Bearbeitungszeit Einreicher geschützt werden müssen. Allerdings sehen und beschleunigt das Verfahren nicht. das die Petentinnen und Petenten selbst ganz anders. Erst Öffentlichkeit, Transparenz und Bürgernähe sollten kürzlich haben die Ergebnisse der Untersuchungen des der Normalfall des parlamentarischen Verfahrens im TAB-Büros zum Modellversuch „öffentliche Petitionen“ Petitionsausschuss werden. Obwohl das Bundesverfas- ergeben, dass mehr als zwei Drittel der Petentinnen und sungsgericht schon 1986 ausführte – ich zitiere –: „Öf- Petenten eine öffentliche Behandlung ihrer Anliegen fentliches Verhandeln von Argument und Gegenargu- wünschen. Der EU-Beauftragte, die nordischen Länder, ment, öffentliche Debatte und öffentliche Diskussion Bremens Ombudsstelle und auch der Petitionsausschuss sind wesentliche Elemente des demokratischen Parla- des Bayerischen Landtags tagen öffentlich. Sie machen mentarismus“, sind wir von diesen Grundsäulen im Peti- uns vor, dass es und wie es geht. tionsrecht noch weit entfernt. Auf der einen Seite werden Petitionen von allen Frak- (Beifall bei der LINKEN) tionen als spannende politische Erkenntnisquelle aner- kannt und werden im Plenum harte Diskussionen zu Ge- Kaum eine parlamentarische Materie ist rechtlich so setzesvorlagen und Anträgen parteipolitisch geführt; kompliziert gestaltet und steht auf so vielen Füßen wie wenn es auf der anderen Seite dazu Bürgeranliegen im das Petitionsrecht, und dieses soll dann noch für die Bür- Petitionsausschuss gibt, sollen sie im stillen Kämmerlein gerinnen und Bürger nützlich und durchschaubar sein. diskutiert werden. Das ist schon ein sehr eigenartiges Schon vor 30 Jahren hat sich die SPD – damals in der Phänomen. Opposition – im Rahmen der ersten Enquete-Kommis- sion für eine Verfassungsreform eingesetzt. Auf der Zum Jahresende ist zu erwarten, dass sich seit Beginn Agenda standen mehr Bürgernähe, mehr Transparenz, des Modellversuchs circa 1 Million Menschen allein an mehr Kontrollmöglichkeiten und ein Selbstaufgriffs- den öffentlichen Petitionen in der Mitzeichnung beteiligt recht. Keine Frage, diese Stichworte sind so aktuell wie haben werden. Hinzu kommt jährlich eine weitere halbe nie zuvor. Aber auch der Wunsch von Frau Rita Million Bitten, Beschwerden und Anfragen. Von der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10839

Kersten Naumann (A) vielzitierten Politikverdrossenheit lässt sich im Hinblick frage ich mich: Wissen Sie es wirklich nicht besser, oder (C) auf den Petitionsausschuss wahrlich nicht sprechen. beginnt schon hier Ihre für mich nicht nachvollziehbare Öffentlichkeit herzustellen, macht Demokratie für die Deutung unserer Demokratie? Bürgerinnen und Bürger erlebbarer und wirkt gegen Po- Noch kurioser ist Ihre daraus folgende Schlussfolge- litikverdrossenheit. Nicht zuletzt schafft es weitere Syn- rung. Nach Ihrer Meinung gibt es eine Art Zuschauerde- ergieeffekte für den Ausschuss, für den Ausschussdienst mokratie, weil nach Wahlen regelmäßig von Vertreterin- und für die Abgeordneten. nen und Vertretern der Parteien die Souveränität Natürlich muss der Datenschutz für jeden Petenten, übernommen wird. Offenbar haben Sie auch 17 Jahre sofern er es wünscht, gewahrt sein; aber ein Argument nach der Wiedervereinigung nicht verstanden, wie das gegen mehr Öffentlichkeit und Transparenz ist er nicht. System der Demokratie funktioniert. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Überlegenswert ist eine Zusammenführung der Weiterhin fordern Sie, dass nicht nur die im Deut- Ausschusssitzungen, der öffentlichen Beratungen und schen Bundestag vertretenen und durch demokratische der Berichterstattergespräche zu einer Veranstaltung, Wahlen legitimierten Vertreter des deutschen Volkes Ge- möglicherweise mit einem öffentlichen und einem nicht- setze einbringen können. Sie schreiben: Jeder Bürger öffentlichen Teil, wie es auch die Fachausschüsse prakti- und jede Bürgerinitiative soll Gesetze einbringen kön- zieren. Natürlich ergeben sich hierbei technisch-organi- nen. – Das wäre eine völlige Veränderung unseres demo- satorische Fragen. Alle damit verbundenen Probleme kratischen Systems. sind aber diskutabel und lösbar, sofern der politische Beim Lesen Ihrer Großen Anfrage kommt man Wille da ist. schnell darauf, was Sie eigentlich wollen: Sie wollen das Uns geht es darum, das Petitionssystem insgesamt ef- repräsentative demokratische System in Deutschland fektiver, attraktiver, durchschaubarer und bürgerfreund- über das System des Petitionsrechts verändern. licher zu gestalten. Da dies nach eigenen Aussagen alle (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das ist ja unge- Fraktionen im Petitionsausschuss wollen, lade ich Sie heuerlich!) ein, aktiv zu werden und dafür zu sorgen, den Ansprü- chen an eine verbesserte Petitionsgesetzgebung gerecht Aber nun zu den einzelnen Fragen. Auch hier kommt zu werden. sehr deutlich zum Ausdruck, dass Sie die Demokratie, die wir jetzt haben, abschaffen wollen. Danke schön. (Kersten Naumann [DIE LINKE]: Ausdrück- (Beifall bei der LINKEN) (B) lich verbessern wollen!) (D) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: – Sie wollen das System, das wir jetzt haben, abschaffen. – Es spricht Günter Baumann für die CDU/CSU-Frak- Sie fragen die Bundesregierung zum Beispiel, was sie tion. von parlamentarischen Initiativen hält, was sie von den Grundsätzen des Petitionsausschusses hält, was sie vom (Beifall bei der CDU/CSU) Selbstbefassungsrecht des Ausschusses hält usw. usf. Im Klartext muss ich sagen, auch zum Verständnis der Günter Baumann (CDU/CSU): Linksfraktion: Das Parlament kontrolliert die Regierung Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und und nicht umgekehrt. Herren! Die ersten beiden Sätze der Großen Anfrage der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Fraktion Die Linke lauten: bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Demokratie lebt von dem Engagement und der tat- DIE GRÜNEN) sächlichen Beteiligung der Bürgerinnen und Bür- Genau zu diesem Zweck hat das Grundgesetz dem Par- ger. Nur wo sich Bürgerinnen und Bürger einbrin- lament umfassende Rechte eingeräumt. gen, wo sie mitreden und mitentscheiden können, kann eine Demokratie auf Dauer funktionieren. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Ein Grundkurs in Staatsrecht für Die Linke!) Diese Sätze kann man durchaus unterstreichen, weil sie richtig sind. Kollegin Naumann, leider sind es die einzi- Das Volk selbst wählt das Parlament alle vier Jahre neu gen beiden Sätze Ihrer Großen Anfrage, die ich unter- und hat damit Einfluss auf Veränderungen. Die im Parla- streichen kann. Alles andere, auch die 108 Einzelfragen, ment vertretenen Abgeordneten haben die Pflicht, ihr kann ich einfach nicht nachvollziehen. Mandat aktiv auszuüben. Ich persönlich jedenfalls fühle mich nicht als Teil eines in Ihrer Anfrage als „Zuschau- Schon in der Einleitung werden Versuche unternom- erdemokratie“ abqualifizierten Systems. men, das Grundgesetz neu zu deuten und daraus gewagte Thesen abzuleiten. Danach ruhe die Demokratie auf Der Petitionsausschuss ist keineswegs nur der Kum- mehreren Säulen. Eine davon sei das Recht der Bürge- merkasten der Nation, wie immer wieder behauptet wird. rinnen und Bürger, sich in die Gesetzgebung, in Geset- Vielmehr gibt er den Bürgerinnen und Bürgern die Mög- zesänderungen und in die Rechtsprechung aktiv einzu- lichkeit, sich aktiv in die Politik einzuschalten. Auf der schalten und sie selbst mitzugestalten. Die Bürgerinnen anderen Seite erfahren Parlament und Bundesregierung und Bürger sollen also Gesetze mitgestalten. Bereits hier durch die Eingaben und Beschwerden, sozusagen durch 10840 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Günter Baumann (A) die Stimme des Volkes, dringend zu lösende Probleme, (Jörg Tauss [SPD]: Onlinepetitionen! Tolle (C) abzustellende konkrete Missstände, und sie erfahren Geschichte!) eben, wo im Einzelnen Handlungsbedarf ist. – Selbst Herr Tauss weiß hier Bescheid; ganz hervorra- Im Jahr wenden sich etwa 500 000 Bürgerinnen und gend. Bürger mit Bitten, Wünschen und Anregungen an diesen Ausschuss des Bundestages. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Jörg Tauss [SPD]: Das ist gut!) Außerdem möchte ich ansprechen, dass wir das sehr Darauf können wir stolz sein; denn das heißt: Das Sys- gute System wesentlich erweitert haben: So war der Peti- tem wird angenommen. tionsausschuss in den letzten Jahren auf mehreren gro- ßen Messen vertreten; seine Arbeit wurde so öffentlich (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der präsentiert, und der Ausschuss stand gleichsam für die FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Bürgerinnen und Bürger zum Anfassen bereit. Auch ha- SES 90/DIE GRÜNEN) ben wir an den Tagen der Ein- und Ausblicke im Deut- Dies führt zu etwa 20 000 Petitionsvorgängen pro Jahr, schen Bundestag teilgenommen. Da sind viele Bürger zu die wir im Ausschuss, in welcher Form auch immer, be- uns gekommen und haben mit uns gesprochen. Es ist arbeiten müssen. Sie werden im Ausschuss beraten, und also eine ganze Reihe an positiven neuen Dingen einge- im Plenum wird dann endgültig Beschluss gefasst. führt worden. Nicht zuletzt aufgrund vieler Eingaben der Bürgerin- (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne nen und Bürger sind Vorschriften und Gesetze, die wir Kastner) beschlossen hatten, verändert worden. Wenn ich an die Jedes einzelne Anliegen der Bürgerinnen und Bürger letzten Jahre denke und daran, welch große Anzahl von liegt uns am Herzen, ob die Eingabe eines Einzelnen, Petitionen wir als Material oder zur Kenntnisnahme der eine Massenpetition oder eine öffentliche Petition. Alles Fraktionen überwiesen haben, muss ich sagen: Das zeigt wird gleich behandelt. Es handelt sich einfach um alte eigentlich, dass das System funktioniert. Wir haben al- Hüte, wenn die Linken in der Großen Anfrage die Bun- lein im letzten Jahr 6 400 Petitionen – das waren desregierung fragen, was diese vom Selbstbefassungs- 40 Prozent – an die Bundesregierung weitergegeben, recht des Petitionsausschusses und von einem neuen weil in irgendeiner Form Gesetze zu verändern, zu korri- Petitionsgesetz hält. Das hieße ja, das jetzige würde gieren waren. Es gibt also eine sehr starke positive Reso- nicht funktionieren. nanz der Bürgerinnen und Bürger auf unsere Gesetzge- (B) bungsverfahren. (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE (D) LINKE]: Dann wundert man sich, dass es so In einer nicht geringen Anzahl von Fällen führen die lange braucht!) Eingaben direkt dazu, dass die Abgeordneten im Aus- schuss Gesetzeslücken und mangelnde Praxis- Dass mit diesen Vorschlägen das Petitionsrecht umfunk- tauglichkeit erkennen und beschlossene Regelungen tioniert werden soll, um zu einer anderen Staatsform zu verändern. Daran zeigt sich: Das System des Petitions- kommen, wird in der Einleitung zur Großen Anfrage ausschusses hat sich bewährt. Die Bürgerinnen und Bür- auch ganz deutlich. Fast dieselben Vorschläge wurden ja ger nehmen es an. Es funktioniert. in der 14. Wahlperiode schon einmal hier eingereicht und vom damaligen Plenum eindeutig abgelehnt. Es (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP gibt, wie ich denke, auch heute für derartige Vorschläge und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) keine Mehrheit. Die Aussage in Ihrer Anfrage, Kollegin Naumann, Der Petitionsausschuss ist gerade kein Fachausschuss das Petitionssystem sei seit 1952 unverändert, ist einfach und soll keinen zweiten Weg für Gesetzesinitiativen falsch. eröffnen. Es bedarf auch keines zusätzlichen Kontrollor- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE gans neben dem, was wir haben. Wir haben ein Parla- GRÜNEN]: Das stimmt nicht, ja!) ment mit gewählten Abgeordneten und einen Peti- tionsausschuss, der die Bundesregierung und die Auch dass in der 15. Wahlperiode angemahnt worden ist, Bundesverwaltung kontrolliert; und das funktioniert. das Petitionsrecht zu verändern, kann ich nicht nachvoll- ziehen. Ich finde keine solche Initiative. Sie haben von (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) früheren Anträgen abgeschrieben, was einfach nicht Der Petitionsausschuss hat die ureigene Aufgabe, sich stimmt. So wurde gerade in der letzten Wahlperiode eine mit den Sorgen und Nöten der Menschen in konkreten Modernisierung des Petitionsrechts vorgenommen. Fällen zu beschäftigen, und leistet hierbei eine gute Ar- Wir haben E-Mail-Petitionen eingeführt. Nach dem Vor- beit. bild des schottischen Parlaments gibt es öffentliche Peti- tionen. Wir haben als Petitionsausschuss bereits dreimal Schließlich und endlich ist Die Linke zu fragen, ob öffentlich getagt. Das ist etwas vollkommen Neues. An- die Bundesregierung uns Parlamentariern etwa Noten gesichts dessen kann man nicht sagen, das Petitionsrecht geben soll. Soll sie etwa unsere Arbeit bewerten? Dahin- sei seit 1952 unverändert. Wir haben eine ganze Reihe ter steckt ein vollkommen falsches Verständnis von De- neuer Sachen eingeführt. mokratie. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10841

Günter Baumann (A) (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE recht kann Schritt für Schritt für mehr Bürgernähe und (C) GRÜNEN]: Sehr richtig!) mehr Transparenz sorgen. Von einer Fraktion, die den Vorsitz im Petitionsaus- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten schuss innehat, darf man wohl die Kenntnis erwarten, der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS- dass die Bundesregierung nicht zu bewerten hat, ob die SES 90/DIE GRÜNEN) Regelungen des Petitionsausschusses angemessen, rich- Wie kann das Petitionswesen gestärkt werden? Hierzu tig oder überarbeitungsbedürftig sind. nun fünf Vorschläge: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Erstens. Es muss mehr in die öffentliche Wahrneh- neten der SPD) mung. Hier sind wir mit den öffentlichen Petitionen auf Eine Instrumentalisierung des Petitionsrechts, um zu einem guten Weg, leider nicht heute zu dieser späten einer anderen staatlichen Ordnung zu kommen, lehnen Stunde. wir kategorisch ab. Das System der Demokratie in unse- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE rem Lande hat sich bewährt. Es bedarf keiner Verände- GRÜNEN]: Es gehen nicht alle so früh ins rung. Bett wie Sie!) Herzlichen Dank. Zweitens. Die Stellung des Petenten muss gestärkt (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie werden. Auch eine noch so gute Petition führt leider bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- nicht automatisch zum Erfolg, weil sich eine Petition im NISSES 90/DIE GRÜNEN) Ausschuss Mehrheiten suchen muss. Drittens. Die Rechte des Ausschusses gegenüber Drit- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ten müssen gestärkt werden. Das Wort hat der Kollege Jens Ackermann, FDP- Viertens – ganz wichtig –. Das Petitionsrecht muss Fraktion. auch im Unterricht, in den Schulen behandelt werden. Jeder junge Mensch, jeder Schüler – das ist oft nicht be- Jens Ackermann (FDP): kannt – kann sich an uns wenden. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Fünftens. Der Vorsitz des Petitionsauschusses ist so Herren! Die vorliegende Große Anfrage umfasst zwei attraktiv zu gestalten, dass jede Fraktion bemüht ist, auf Elemente: Petitionsrecht und Bürgerbeteiligung. diesen Vorsitz zuzugreifen. (B) Zur Bürgerbeteiligung: Volksinitiativen, Volksbe- In der Einleitung der Großen Anfrage führt die Linke (D) gehren und Volksentscheide wären glaubwürdige Instru- an, dass sich 500 000 Menschen an uns gewandt haben. mente, um die Distanz zwischen den Menschen und der Es gibt keinen besseren Beweis dafür, dass die Bürger Politik zu verringern. Auf diese Art und Weise hätte das mit dem parlamentarischen System zufrieden sind. Ja, Volk unmittelbaren Einfluss auf die politische Willens- die Petenten üben Kritik und wünschen sich eine Verbes- bildung. Ein Gesetzentwurf der FDP-Fraktion fordert, serung des Systems. Sie wollen daran mitarbeiten, das dies ins Grundgesetz aufzunehmen. Die Bürger hätten System zu verbessern. Sie von den Linken wollen jedoch mehr Vertrauen und mehr Klarheit. Demokratie lebt da- das System abschaffen, Sie wollen es umdrehen. Wirk- von, dass alle mitmachen und jeder sich einbringt. lich glaubhaft macht das Ihren Einsatz für die Stärkung (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE des Petitionsrechts leider nicht. GRÜNEN]: Von uns gibt es auch einen Ge- (Beifall bei der FDP, der SPD und dem setzentwurf!) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Unser Petitionsrecht bietet dafür keinen Ersatz. Sinn- Ihr Fraktionsvorsitzender hat den Systemwechsel als voll genutzt kann es jedoch zu einem lebendigen Dialog Ziel. Ich frage Sie: Was bleibt vom Petitionsrecht übrig, zwischen Politik und den Menschen beitragen. Die Pe- sollte es dazu kommen? tenten zeigen uns, wo unser Rechtsstaat und wo unser Sozialstaat unvollkommen sind, wo Handlungsbedarf Werte Frau Naumann, ich komme – das ist das Di- besteht, etwa bei Notfällen, die durch das Raster fallen, lemma – mit Ihnen im Ausschuss sehr gut zurecht, aber oder bei Unrecht, das im komplizierten Rechtssystem diejenigen, die in Ihrer Partei und in Ihrer Fraktion etwas nicht ausgeglichen werden kann. Petenten machen deut- zu sagen haben, wollen den Systemwechsel. Die Linke lich: Nicht alles kann gesetzlich geregelt werden, nicht – das ist eine nicht zu leugnende Tatsache – steht in der alles kann durch Gerichtsentscheide bewältigt werden. Tradition der SED. In der DDR gab es weder Meinungs- freiheit noch Mitbestimmung. Ja, es gab ein Petitionswe- Im Berichterstattergespräch heute Morgen haben wir sen. Die Ostdeutschen waren in Richtung Staatsratsvor- festgestellt, dass es Grauzonen im Rechtsstaat und sitzenden und Politbüro sehr eingabefreudig. Es hat aber auch in unserem demokratischen System gibt. Das Peti- leider nichts genutzt. Wir brauchen auch nicht die Ver- tionsrecht ist ein Lichtstrahl in dieser Grauzone und für gangenheit zu bemühen. Wir brauchen nur in Staaten zu die Petenten oft ein letzter Hoffnungsschimmer. Alle schauen, die heute sozialistisch regiert werden. Wie sieht Fraktionen sind verpflichtet, sich der Nöte und Sorgen es denn mit dem Petitionswesen in Venezuela oder auf der Petenten anzunehmen. Ein klug genutztes Petitions- Kuba aus? – Die Bürgerinnen und Bürger dort – auch 10842 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Jens Ackermann (A) das muss einmal angesprochen werden – haben nicht die trag vorgesehen ist. Der Kollege Maik Reichel hat zu (C) Möglichkeiten, die wir hier in Deutschland haben. De- den Themen Volksbegehren, Volksinitiative, Volksent- nen geht es nicht so gut wie uns. scheid hier erst vor ein paar Wochen in einer Rede die entsprechende Positionierung der SPD-Fraktion klar dar- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD gelegt. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zweitens. Sie unterstellen uns in Ihrer Großen An- Meine Damen und Herren, das Petitionsrecht zu för- frage, dass die Große Koalition gerade im Bereich bür- dern, heißt, Demokratie zu leben, und das ist mein Ziel. gerschaftlichen Engagements nichts unternimmt. Aber (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD besonders in diesen Wochen wird noch einmal ganz und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) deutlich, dass wir über die Reform des Gemeinnützig- keitsrechts sehr viel tun, um ehrenamtliches, bürger- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: schaftliches Engagement zu stärken. Ich gebe das Wort dem Kollegen Martin Gerster, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten SPD-Fraktion. der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD) Ich nenne nur die geplante und so gut wie beschlossene Anhebung der Übungsleiterpauschale und die Erhöhung Martin Gerster (SPD): der Steuerfreibeträge für Vereine. Ich glaube, das ist ein Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und großer Wurf der Großen Koalition auf Vorschlag des Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten Bundesfinanzministers Steinbrück. heute die Große Anfrage der Fraktion Die Linke vom Juni 2006. Natürlich ist es nicht schön, Herr Staatssekre- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tär, dass die Antworten noch nicht vorliegen. der CDU/CSU) (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE Dritter Punkt. Sie fragen nach der Funktion des Nor- LINKE]: Wo es sich doch um olle Kamellen menkontrollrats. Diese Frage können Sie sich doch sel- handelt!) ber beantworten. Ich weiß gar nicht, warum es eine so große Empörung gibt, dass viele Fragen noch nicht be- Aber es ist auch nicht schön, dass die Fraktion Die antwortet sind. Zum Teil ist es wirklich sehr einfach, sie Linke heute dies auf die Tagesordnung bringt, ohne dass zu beantworten. wir die Antworten kennen. Es geht Ihnen deswegen, glaube ich, rein um die Show, um ein bisschen Aufmerk- (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE (B) samkeit in dieser Stunde, um zu sagen, die Antworten LINKE]: Deshalb braucht man auch sechs (D) liegen noch nicht vor. Es wäre viel besser gewesen, Sie Monate!) hätten die paar Wochen, bis die Antworten vorliegen, Punkt vier: Petitionsrecht. Aus meiner Sicht ist das noch abgewartet. Ziel einer Petition, einem Anliegen von allgemeinem In- (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE teresse Gehör zu verschaffen, Schwachstellen offenzule- LINKE]: Monate!) gen und auch Gesetzeslücken aufzudecken. Ich glaube, das funktioniert ganz gut. Die Kollegen haben entspre- Dann hätten wir hier eine sinnvolle Diskussion führen chend berichtet, und Sie als Ausschussvorsitzende haben können. selbst darauf hingewiesen, wie gut das funktioniert. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich darf Sie als Vorsitzende einmal aus der Broschüre DIE GRÜNEN) des Petitionsausschusses zitieren: Ich möchte auf das Sammelsurium, auf Ihren Ge- Der Petitionsausschuss in eine verlässliche und bür- mischtwarenladen in der Großen Anfrage gerne einge- gernahe Anlaufstelle im Bundestag. hen und habe mir dafür ein paar Punkte herausgegriffen. Da frage ich mich: Wie passt das mit dem zusammen, Erstens. In der Einleitung, bevor die 108 Fragen mit was Sie hier in Ihrer Rede vorgetragen haben und was in Unterpunkten kommen, reden Sie sehr viel über die Ein- Ihrem Antrag steht? führung von Elementen direkter Demokratie. Interes- santerweise findet sich anschließend dazu keine einzige Ich habe noch ein wichtiges Anliegen bezüglich des- Frage. sen, was in Punkt V Ihres Antrages durchscheint. Ich glaube, dass das Petitionsrecht auf keinen Fall zum juris- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE tischen Winkelzug verkommen darf, um asylrechtliche GRÜNEN]: So ist es!) Entscheidungen hinauszuzögern. Wer begehrt, dass das Ich sage: Wir von der SPD sind ganz klar dafür, mehr Petitionsverfahren aufschiebende Wirkung hat, wird aus Elemente direkter Demokratie auf Bundesebene einzu- meiner Sicht zum Totengräber des Petitionsrechts in führen. Deutschland. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Wir als Fraktion waren es, die durchgesetzt haben, dass Der Ausschuss würde aus meiner Sicht schlicht in An- im Koalitionsvertrag dazu ein entsprechender Prüfauf- fragen ertrinken. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10843

Martin Gerster (A) Deswegen lehnen wir Ihre – versteckte oder offene – Auch in diesem Fall gilt: Gut gemeint ist noch lange (C) Forderung nach einer Härtefallkommission beim Peti- nicht gut gemacht. Ich werde Ihnen dies anhand weniger tionsausschuss ab. Härtefälle sind aufenthaltsrechtliche Beispiele belegen. Fragen und entstehen nicht im Asylverfahren an sich. Eine Verbesserung des Petitionsrechts – dies wurde Deswegen ist diese Frage aus meiner Sicht deplatziert, eben schon gesagt – ist eine Aufgabe des Parlaments und zumal einige Bundesländer, beispielsweise Baden- des Verfassungsgebers, nicht aber der Bundesregierung. Württemberg, entsprechende Härtefallkommissionen ein- Sie fragen die Bundesregierung zum Beispiel, welche gerichtet haben. Auffassung sie zu einem Selbstbefassungsrecht des Pe- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Richtig!) titionsausschusses habe, Diese können inzwischen zum Teil sehr gute Erfolge (Volker Kauder [CDU/CSU]: Absolut dane- vorweisen. ben!) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das „zum Teil“ also dem Recht, Themen aufzugreifen, die gerade inter- können Sie streichen!) essant sind, zu denen aber gerade keine Petitionen vor- Herr Staatssekretär, es wäre schön gewesen, wenn die liegen. Ich leugne nicht, dass dies interessant und span- Antworten bereits vorliegen würden, dann könnten wir nend ist. Aber ich möchte nicht, dass sich die Regierung die Unklarheiten, Missverständnisse und so manch Un- dazu äußert. Das geht sie überhaupt nichts an. sinniges in der Großen Anfrage heute entsprechend fun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei dierter debattieren. der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Herzlichen Dank. Wenn Sie das regeln wollen, dann können Sie in die- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) sem Hause einen entsprechenden Antrag oder Gesetzent- wurf einbringen. Bisher liegen uns solche Anträge nicht vor. Anschließend wird dieser Antrag oder Gesetzent- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: wurf eine Mehrheit finden oder nicht. Nächster Redner ist der Kollege Josef Winkler, Bünd- nis 90/Die Grünen. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Eher nicht!) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Jetzt aber! – Ar- Jedenfalls hat es mit der Exekutive nichts zu tun. Nicht nold Vaatz [CDU/CSU]: Zeig mal, dass das die Bundesregierung, auch nicht das Bundesinnenminis- auch in zwei Minuten geht!) terium, Herr Staatssekretär Altmaier, kontrolliert oder bestimmt das Petitionsrecht, sondern wir, die wir hier (B) Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sitzen. Das Parlament kontrolliert die Regierung. (D) NEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Als im Juni letzten Jahres die Große Anfrage der Frak- tion Die Linke auf meinen Schreibtisch kam, fiel mir Darum also, Herr Altmaier, der Sie heute Abend die eine Bemerkung des Dramatikers Henrik Ibsen ein, der Bundesregierung vertreten: Finger weg vom Petitions- einmal gesagt hat: „Ich kenne wenige Weltverbesserer, recht! die imstande sind, einen Nagel richtig einzuschlagen.“ (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU, der DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD SPD und der FDP) und der FDP) Nach dem Motto „Was ich schon immer über das Pe- Werte Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, titionsrecht wissen wollte, aber bisher nicht zu fragen Sie wissen, dass wir seit 2005 sehr intensiv an der Fort- wagte“ legen Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von entwicklung und den Reformmöglichkeiten des Peti- der Linkspartei, hier ein kurioses Sammelsurium von tionsrechts arbeiten; dies tun wir partei- und fraktionsü- 108 Fragen vor, die manchmal ein wenig, aber meistens bergreifend. Ein Grundrecht wie das Petitionsrecht, das gar nichts mit dem Petitionsrecht zu tun haben. in Art. 17 des Grundgesetzes niedergelegt ist, sollte (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei nicht wie heute Abend im Parteienstreit, sondern mög- der CDU/CSU, der SPD und der FDP) lichst im Konsens weiterentwickelt werden. Deshalb mein Fazit direkt am Anfang: Diese Große (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei Anfrage stellt die falschen Fragen zur falschen Zeit am der CDU/CSU, der SPD und der FDP) falschen Ort an den falschen Adressaten. Ich hätte es gut gefunden, wenn Sie Ihre Punkte und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) die FDP die anderen fünf Punkte vielleicht erst einmal in der Runde der Obleute oder im Ausschuss mit uns disku- Ich bedaure das, denn ich gehe – im Gegensatz zu man- tiert hätten; dann hätten wir uns möglicherweise auf et- chem, was wir jetzt gehört haben – davon aus, dass das was einigen können. So aber zerstreiten wir hier öffent- nicht alles rückwärts, in die DDR weisen sollte. Ich un- lich ein Grundrecht. Das ist wirklich bedauerlich. terstelle einmal die besten Absichten, auch wenn ich jetzt die Enttäuschung auf der Unionsseite akzeptieren (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, muss. bei der CDU/CSU und der SPD) 10844 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Josef Philip Winkler (A) Zum Abschluss meiner Rede erinnere ich an das, was persönlich gegen die Vorsitzende. Vielmehr hat uns das (C) wir bereits gemacht haben: Wir haben E-Mail-Petitionen Verständnis von Parlament und Demokratie, das hin- sowie öffentliche Petitionen mit Diskussionsforen im In- ter diesem Antrag steckt – das haben viele Kolleginnen ternet eingeführt, wir wollen Massenpetitionen besser und Kollegen zu Recht angesprochen –, zutiefst bestürzt. behandeln, und wir machen jetzt schon erweiterte öffent- Ich bin darüber sehr ins Grübeln gekommen. Ebenso wie liche Ausschusssitzungen am laufenden Band, könnte viele meiner Vorredner bin ich bei dem Begriff „Zu- man fast sagen. schauerdemokratie“ hängen geblieben. Ich habe mich gefragt: Wie kann es sein, dass jemand, der ein Mandat (Jörg Tauss [SPD]: Sehr gut! – Paul Lehrieder in einem Parlament wahrnimmt, einen solchen Begriff [CDU/CSU]: Der war noch gar nicht bei uns!) ins Spiel bringt? Das macht mir ernsthaft Sorgen. Ich Es ist auch eine gute Sache, dass wir das eingeführt ha- finde, wir dürfen nicht den Eindruck erwecken, wir hät- ben. Wir hören Petenten persönlich an. Dies alles hat ten das Gefühl, auf einer Bühne zu stehen, und die ande- früher nicht stattgefunden; aber Sie sagen, es habe sich ren seien die Zuschauer. Vielleicht kämen wir dann ir- nichts getan. 1975 wurde geregelt, dass alle Petitionen, gendwann auf die Idee, Eintritt zu nehmen. Das führt in die beim Bundestag eingehen, dem Petitionsausschuss eine völlig falsche Richtung. zuzuweisen sind und der Präsident keine Ausnahmen machen darf. Diese gute Idee ist in § 109 unserer Ge- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und schäftsordnung geregelt und 2005 weiterentwickelt wor- dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) den. Insoweit liegen Sie mit Ihrer Anfrage ziemlich da- Diejenigen, die hier sitzen, sind ja fast ausschließlich neben. Mitglieder im Petitionsausschuss. Herr Baumann, Sie haben zu Recht darauf hingewie- (Zuruf von der CDU/CSU: Herr Tauss noch sen, dass wir keine Zuschauerdemokratie sind. Diesem nicht! – Gegenruf des Abg. Jörg Tauss [SPD]: Begriff, mit dem gemeint ist, dass wir Abgeordneten von Explizit noch nicht!) den Bürgern die Souveränität übernommen hätten, wie es in der Einleitung Ihrer Anfrage steht – gemeint ist Einige haben gerade quasi ihre Bewerbung abgegeben; wohl, dass Sie das ändern wollen –, halte ich ein Zitat auch darüber freuen wir uns natürlich. unseres ersten Bundespräsidenten Prof. Dr. Heuss entge- Ich will einen Punkt anschneiden, nach dem in der gen: Anfrage zwar nicht gefragt wurde, der es aber lohnt, er- Demokratie heißt nicht Massenherrschaft, sondern wähnt zu werden. Im Mittelpunkt vieler Beschwerden, Aufbau, Sicherung und Bewährung der selbst ge- die uns erreichen, steht das Verhalten von Behörden. wählten Autoritäten. Wir müssen feststellen, dass wir eine große Anzahl von (B) Petitionen gar nicht im Ausschuss bearbeiten, weil der (D) Herzlichen Dank. kompetente Ausschussdienst im Vorfeld Abhilfe schaf- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei fen kann. Er kann die richtige Information und den kor- der CDU/CSU, der SPD und der FDP) rekten Hinweis geben. Wenn wir eines Tages keine Be- schwerden mehr bekommen, die Bundesbehörden Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: betreffen, dann sind wir einen Schritt näher am Paradies. Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Deshalb bin ich sehr zufrieden, wenn Behörden auf Bun- Gabriele Lösekrug-Möller, SPD-Fraktion. desebene selbst dafür sorgen, dass das Beschwerdema- nagement in ihrem Haus funktioniert. (Jörg Tauss [SPD]: Noch eine Steigerung! – Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN) Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Kolle- Ich habe nicht die Sorge, dass der Petitionsausschuss ginnen und Kollegen! Es ist schon etwas Besonderes, dann ohne Arbeit ist. Dann können wir uns frohgemut wenn man über Petitionen redet und dann feststellt – die jenen Petitionen zuwenden, die Vorschläge zur Verbesse- Stenografen verzeichnen dies ja korrekt –, dass der Ap- rung von Gesetzen beinhalten. Dazu erhalten wir täglich plaus fast aus dem ganzen Hause kommt. Es ist aber ty- viel Post. Da sind wirklich gute Anregungen bei. Wenn pisch für Petitionsarbeit, weil wir zum Wohle derer, die wir uns ausschließlich dem zuwenden können, wird es sich beschweren oder Bitten einreichen, in unserer tägli- uns gut gehen. chen Arbeit stark konsensorientiert sind. Dies zeichnet Über eine Feststellung sollten wir alle einmal nach- uns aus und stellt eine Qualität dar, die wir auf keinen denken: Das Petitionsrecht umfasst auf Bundesebene die Fall verlieren wollen, auch nicht in einem Zusammen- Gesetzgebung und die Behörden. In den letzten Jahren hang wie heute Abend, an dem wir eine Anfrage disku- gab es die Tendenz zur Privatisierung bzw. Teilprivati- tieren, die außerordentlich umfänglich ist. Allerdings be- sierung ganz wesentlicher Elemente. Bei unserer Peti- treffen von den 108 Fragen nur 33 das im Grundgesetz tionsarbeit stellen wir aber fest, dass unser Arm so weit verankerte Petitionsrecht. nicht reicht. Das ist für viele Bürger schwer zu verste- An dieser Stelle breche ich eine Lanze für die Vorsit- hen. Wir Ausschussmitglieder fragen uns natürlich, wie zende des Petitionsausschusses, der ich eine exzellente es da mit der Interessenvertretung aussieht. Hier sind Sitzungsführung attestiere. Die Kritik richtet sich nicht noch einige Aufgaben zu erledigen. Wir müssen uns Ge- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10845

Gabriele Lösekrug-Möller (A) danken darüber machen, wie wir uns dazu verhalten Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: (C) wollen. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Wir haben in den letzten Jahren festgestellt, dass die richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- Bürgerinnen und Bürger Vertrauen in unsere Petitionsar- schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Uschi beit gewonnen haben. Das ist kein Selbstlob; das liegt an Eid, Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck allen anderen außer mir. Ich bin aber stolz darauf. Das (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion sollten wir in Ehren halten und nicht durch Anfragen ge- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN fährden, über die man schmunzeln oder an denen man Politische Lösungen sind Voraussetzung für zweifeln kann. Ich bin aber guter Dinge, dass wir trotz- Frieden in Somalia dem gemeinsam weiterarbeiten werden, und zwar an der Stelle, die uns besonders am Herzen liegt: Die Arbeit des – Drucksachen 16/4759, 16/5754 – Petitionsausschusses soll transparenter werden und die Berichterstattung: Öffentlichkeit erreichen. Das ist es, was Bürgerinnen Abgeordnete Anke Eymer (Lübeck) und Bürger von diesem Ausschuss und diesem Parla- Dr. Herta Däubler-Gmelin ment erwarten. Marina Schuster Vielen Dank. Monika Knoche Dr. Uschi Eid (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Kolleginnen Anke Eymer (Lübeck), Brunhilde Ir- ber, Marina Schuster, Dr. Uschi Eid sowie der Kollege Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Dr. Norman Paech haben ihre Reden zu Protokoll gege- ben.2) Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 a auf: gen Ausschusses zum Antrag der Fraktion des Bündnis- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- ses 90/Die Grünen mit dem Titel „Politische Lösungen richts des Ausschusses für Tourismus (20. Aus- sind Voraussetzung für Frieden in Somalia“. Der Aus- schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Brähmig, Jürgen Klimke, Dr. Hans-Peter Friedrich Drucksache 16/5754, den Antrag der Fraktion des (Hof), weiterer Abgeordneter und der Fraktion Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4759 in der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Annette der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für Faße, Gabriele Hiller-Ohm, Renate Gradistanac, diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – (B) weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den (D) Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Den Fahrradtourismus in Deutschland umfas- send fördern Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: – Drucksachen 16/3609, 16/5635 – Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Berichterstattung: Stadtentwicklung (15. Ausschuss) Abgeordnete Jürgen Klimke Gabriele Hiller-Ohm – zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU Ernst Burgbacher und der SPD Dr. Ilja Seifert Schienenlärm ursächlich bekämpfen Nicole Maisch – zu dem Antrag der Abgeordneten Michael Die Kollegen Ernst Hinsken, Ernst Burgbacher, Kauch, Horst Friedrich (Bayreuth), Patrick Dö- Dr. Ilja Seifert sowie die Kolleginnen Gabriele Hiller- ring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Ohm und Nicole Maisch haben ihre Reden zu Protokoll der FDP gegeben.1) Lärmschutz im Schienenverkehr verbes- Wir kommen deshalb zur Beschlussempfehlung des sern – Marktwirtschaftliche Anreize nut- Ausschusses für Tourismus zu dem Antrag der Fraktio- zen, Schienenbonus überprüfen nen der CDU/CSU und SPD mit dem Titel „Den Fahr- radtourismus in Deutschland umfassend fördern“. Der – zu dem Antrag der Abgeordneten Winfried Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Hermann, Kerstin Andreae, Alexander Bonde, Drucksache 16/5635, den Antrag der Fraktionen der weiterer Abgeordneter und der Fraktion des CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/3609 anzuneh- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer Aktionsprogramm gegen Schienenlärm auf stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- den Weg bringen fehlung ist mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke, SPD und CDU/CSU bei Enthaltung des Bündnisses 90/ – Drucksachen 16/4562, 16/675, 16/2074, Die Grünen und der FDP angenommen. 16/5293 –

1) Anlage 3 2) Anlage 4 10846 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Berichterstattung: führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- (C) Abgeordnete Heinz Paula verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Winfried Hermann so beschlossen. Die Kollegen Enak Ferlemann, Heinz Paula, Horst Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a bis 20 c auf: Friedrich (Bayreuth), Lutz Heilmann und Winfried Her- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Carsten mann haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) Müller (Braunschweig), Ilse Aigner, Michael Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Frak- schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten René Drucksache 16/5293. Der Ausschuss empfiehlt unter Röspel, Jörg Tauss, Willi Brase, weiterer Abge- Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5293 ordneter und der Fraktion der SPD die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU Innovationsnetzwerk für Europa – Europäi- und SPD auf Drucksache 16/4562 mit dem Titel „Schie- sches Technologieinstitut nenlärm ursächlich bekämpfen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent- – Drucksache 16/5733 – haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- men der Koalition bei Gegenstimmen der Opposition an- b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- genommen. richts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Lothar der FDP auf Drucksache 16/675 mit dem Titel „Lärm- Bisky, Cornelia Hirsch, Dr. Lukrezia Jochimsen, schutz im Schienenverkehr verbessern – Marktwirt- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der schaftliche Anreize nutzen, Schienenbonus überprüfen“. LINKEN Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer Einrichtung des Europäischen Technolo- stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- gieinstituts verhindern fehlung ist mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke, SPD, CDU/CSU bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die – zu dem Antrag der Abgeordneten Krista Sager, Grünen und FDP angenommen. Kai Gehring, Priska Hinz (Herborn) und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 sei- ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5293 die Einrichtung des Europäischen Technolo- Ablehnung des Antrags der Fraktion des Bündnisses 90/ gieinstituts abwenden – Bestehende europäi- (B) Die Grünen auf Drucksache 16/2074 mit dem Titel „Ak- sche Förderstrukturen stärken und weiter- (D) tionsprogramm gegen Schienenlärm auf den Weg brin- entwickeln gen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – – Drucksachen 16/4625, 16/5254, 16/5765 – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Diese Be- schlussempfehlung ist ebenfalls mit den Stimmen der Berichterstattung: Fraktionen Die Linke, SPD, CDU/CSU bei Gegenstim- Abgeordnete Carsten Müller (Braunschweig) men von Bündnis 90/Die Grünen und FDP angenom- René Röspel men. Cornelia Pieper Dr. Petra Sitte Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Krista Sager Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Zeil, Mechthild Dyckmans, Jens Ackermann, Flach, Cornelia Pieper, Markus Löning, weiterer weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Abgeordneter und der Fraktion der FDP Die Schaffung einer Europäischen Privatge- Das Europäische Institut für Technologie zum sellschaft forcieren Erfolg führen – Drucksache 16/5423 – – Drucksache 16/5605 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Ausschuss für Bildung, Forschung und Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Technikfolgenabschätzung (f) Die Redner Dr. Günter Krings, Klaus Uwe Benneter, Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Martin Zeil und der Parlamentarische Staatssekretär Al- fred Hartenbach sowie die Kolleginnen Ulla Lötzer, Ker- Die Kollegen Carsten Müller (Braunschweig), René stin Andreae und Mechthild Dyckmans haben ihre Re- Röspel sowie die Kolleginnen Ulrike Flach, Petra Sitte den zu Protokoll gegeben.2) und Krista Sager haben ihre Reden zu Protokoll gege- ben.3) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/5423 an die in der Tagesordnung aufge- Wir kommen deshalb zur Abstimmung über den An- trag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf 1) Anlage 5 2) Anlage 6 3) Anlage 7 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10847

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Drucksache 16/5733 mit dem Titel „Innovationsnetz- Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Rechts- (C) werk für Europa – Europäisches Technologieinstitut“. ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – dem Titel „Öffentlichen Verkehr in den neuen Bundeslän- Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen der dern nicht gefährden – Verkehrsflächenbereinigungsge- Koalition bei Gegenstimmen der Fraktionen Die Linke setz verlängern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be- und Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion schlussempfehlung auf Drucksache 16/5168, den Antrag der FDP angenommen. der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/4856 abzuleh- nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer Tagesordnungspunkt 20 b. Beschlussempfehlung des stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgen- fehlung ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mit abschätzung zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit den Stimmen des restlichen Hauses angenommen. dem Titel „Einrichtung des Europäischen Technologiein- stituts verhindern“. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf: seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5765, Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache richts des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) 16/4625 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluss- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit Stimmen der SPD, der Sonderbericht Nr. 9/2006 über Ausgaben für CDU/CSU und der FDP bei Gegenstimmen des Übersetzungsleistungen bei der Kommission, Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke beim Parlament und beim Rat angenommen. Ratsdok. 12861/06 Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt – Drucksachen 16/5329 Nr. 2.9, 16/5766 – der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Berichterstattung: des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/5254 Abgeordnete Klaus-Peter Willsch mit dem Titel „Einrichtung des Europäischen Technolo- Klaus Hagemann gieinstituts abwenden – Bestehende europäische Förder- strukturen stärken und weiterentwickeln“. Wer stimmt Die Kollegen Klaus-Peter Willsch, Klaus Hagemann, für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dage- Michael Roth (Heringen), Michael Link (Heilbronn), gen? – Enthaltungen? – Diese Beschlussempfehlung ist Roland Claus sowie Omid Nouripour haben ihre Reden ebenfalls mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und zu Protokoll gegeben.2) FDP bei Gegenstimmen des Bündnisses 90/Die Grünen Wir kommen deshalb zur Beschlussempfehlung des und der Fraktion Die Linke angenommen. Haushaltsausschusses auf Drucksache 16/5766 zu der (B) (D) Tagesordnungspunkt 20 c. Interfraktionell wird Über- Unterrichtung durch die Bundesregierung über den Son- weisung der Vorlage auf Drucksache 16/5605 an die in derbericht über Ausgaben für Übersetzungsleistungen der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- bei der Kommission, beim Parlament und beim Rat. Der gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Dann ist die Überweisung so beschlossen. Stellungnahme nach Art. 23 Abs. 3 des Grundgesetzes anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf: lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Diese Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung der Grünen mit richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. dem Antrag der Abgeordneten Heidrun Bluhm, Ich rufe Zusatzpunkt 7 auf: Katrin Kunert, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der LINKEN Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Herbert Schui, Werner Dreibus, Dr. Barbara Öffentlichen Verkehr in den neuen Bundeslän- Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der dern nicht gefährden – Verkehrsflächenberei- LINKEN nigungsgesetz verlängern Für ein Europäisches Kartellamt – Drucksachen 16/4856, 16/5168 – – Drucksache 16/5360 – Berichterstattung: Überweisungsvorschlag: Abgeordnete Marco Wanderwitz Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Dr. Peter Danckert Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Mechthild Dyckmans Die Kollegen Albert Rupprecht (Weiden), Martin Jörn Wunderlich Zeil, Dr. Herbert Schui und Christian Lange (Backnang) Jerzy Montag sowie die Kollegin Kerstin Andreae haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.3) Die Kollegen Marco Wanderwitz, Dr. Peter Danckert und Peter Hettlich sowie die Kolleginnen Sabine Leut- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf heusser-Schnarrenberger und Heidrun Bluhm haben ihre Drucksache 16/5360 an die in der Tagesordnung aufge- Reden zu Protokoll gegeben.1) 2) Anlage 9 1) Anlage 8 3) Anlage 10 10848 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Wir kommen deshalb zur Abstimmung über den vom (C) verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Bundesrat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Re- so beschlossen. duzierung und Beschleunigung von immissionsschutz- rechtlichen Genehmigungsverfahren. Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Laurenz Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor- Meyer (Hamm), Andreas G. Lämmel, Klaus Hof- sicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf bauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Drucksache 16/5737, den Gesetzentwurf des Bundesra- der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Andrea tes auf Drucksache 16/1337 in der Ausschussfassung an- Wicklein, Doris Barnett, Engelbert Wistuba, wei- zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die wirtschaftlichen und arbeitsplatzschaffen- Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den den Erfolge der Gemeinschaftsaufgabe „Ver- Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstim- besserung der regionalen Wirtschaftsstruk- men von Bündnis 90/Die Grünen und Fraktion Die tur“ nutzen – Regionales Wachstum und Linke angenommen. Beschäftigungseffekte intensivieren Dritte Beratung – Drucksache 16/5607 – Überweisungsvorschlag: und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Finanzausschuss Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und wurf ist damit in dritter Beratung mit demselben Stim- Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung menergebnis wie in zweiter Beratung angenommen. Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Die Kollegen Andreas G. Lämmel, Klaus Hofbauer Waffengesetzes sowie die Kolleginnen Andrea Wicklein, Gudrun Kopp, Sabine Zimmermann und Kerstin Andreae haben ihre – Drucksache 16/1991 – Reden zu Protokoll gegeben.1) Überweisungsvorschlag: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Innenausschuss (f) (D) (B) Drucksache 16/5607 an die in der Tagesordnung aufge- Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Die Kollegen Reinhard Grindel, Hartfrid Wolff so beschlossen. (Rems-Murr) sowie die Kolleginnen Gabriele Fograscher, Petra Pau und Silke Stokar von Neuforn haben ihre Re- Ich rufe Tagesordnungspunkt 23 auf: den zu Protokoll gegeben.3) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Re- Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- duzierung und Beschleunigung von immis- wurfs auf Drucksache 16/1991 an die in der Tagesord- sionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfah- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es ren anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. – Drucksache 16/1337 – Wir sind damit am Schluss unser heutigen Tagesord- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- nung. ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit (16. Ausschuss) Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- destages auf morgen, Freitag, den 22. Juni 2007, 9 Uhr, – Drucksache 16/5737 – ein. Berichterstattung: Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen, allen Abgeordnete Andreas Jung (Konstanz) Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, aber auch den Zu- Dr. Matthias Miersch schauern auf der Tribüne noch einen schönen Abend. Horst Meierhofer Lutz Heilmann Die Sitzung ist geschlossen. Sylvia Kotting-Uhl (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP Die Kollegen Andreas Jung (Konstanz), Dr. Matthias und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Miersch, Horst Meierhofer und Lutz Heilmann sowie die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl haben ihre Reden zu Pro- (Schluss: 21.36 Uhr) tokoll gegeben.2) 2) Anlage 12 1) Anlage 11 3) Anlage 13 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10849

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 rung der Friedensregelung für das Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244 (1999) des Liste der entschuldigten Abgeordneten Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Technischen Abkommens zwischen der Internationalen entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Sicherheitspräsenz (KFOR) und den Regierun- gen der Bundesrepublik Jugoslawien (jetzt: Republik Serbien) und der Republik Serbien Deligöz, Ekin BÜNDNIS 90/ 21.06.2007 vom 9. Juni 1999 (Tagesordnungspunkt 5) DIE GRÜNEN Ich stimme mit dem Antrag der Bundesregierung Gabriel, Sigmar SPD 21.06.2007 überein, dass der im Jahr 2005 von den Vereinten Natio- nen initiierte Prozess zur Bestimmung des zukünftigen Gloser, Günter SPD 21.06.2007 Status des Kosovo schnellstmöglich zu einem erfolgrei- chen Abschluss gebracht werden muss. Die politische Hintze, Peter CDU/CSU 21.06.2007 Lösung dieses Konfliktes an den Grenzen der Europäi- schen Union ist ein entscheidender Schritt für die end- von Klaeden, Eckart CDU/CSU 21.06.2007 gültige Befriedung ganz Europas. Dazu ist es unabding- bar, dass die Vereinten Nationen, die Europäische Union Kuhn, Fritz BÜNDNIS 90/ 21.06.2007 und die Regierungen in Belgrad und Pristina schnellst- DIE GRÜNEN möglich eine für alle Seiten zufriedenstellende Lösung finden. Dr. Lamers (Heidelberg), CDU/CSU 21.06.2007 Karl Die harte Arbeit aller Seiten an dieser politischen Lö- sung kann aber nicht bedeuten, dass die militärische Prä- Leutert, Michael DIE LINKE 21.06.2007 senz der NATO-Truppen im Kosovo immer wieder auf unbestimmte Zeit verlängert wird. Am 18. Oktober 1998 Merten, Ulrike SPD 21.06.2007 beschloss der Deutsche Bundestag, sich an der NATO- geführten Operation ALLIED FORCE im Kosovo mit Merz, Friedrich CDU/CSU 21.06.2007 (B) deutschen Streitkräften zu beteiligen. Dieser Einsatz war (D) Nešković, Wolfgang DIE LINKE 21.06.2007 eine Zäsur in der Verteidigungspolitik der Bundesrepu- blik Deutschland. Seit dem 24. März 1999 beteiligten Roth (Augsburg), BÜNDNIS 90/ 21.06.2007 sich deutsche Tornado-Kampfflugzeuge an Luftangriffen Claudia DIE GRÜNEN auf die damalige Bundesrepublik Jugoslawien und führ- ten die Bundeswehr damit in ihren ersten Kampfeinsatz. Roth (Esslingen), Karin SPD 21.06.2007 Nach Abzug der jugoslawischen Truppen aus dem Kosovo beschloss der Deutsche Bundestag am 11. Juni Scheel, Christine BÜNDNIS 90/ 21.06.2007 1999 die Stationierung deutscher Soldatinnen und Solda- DIE GRÜNEN ten im Kosovo, um den erreichten Frieden aufrechtzu- Dr. Schick, Gerhard BÜNDNIS 90/ 21.06.2007 erhalten. Acht Jahre später hat sich die Lage im Kosovo DIE GRÜNEN entspannt. Ein Gesamtkonzept für die Beendigung der militärischen Präsenz der NATO im Kosovo wurde aber Seehofer, Horst CDU/CSU 21.06.2007 bisher noch nicht vorgelegt. Dem Antrag der Bundesregierung fehlt es deshalb Tillmann, Antje CDU/CSU 21.06.2007 einmal mehr an Präzision und Perspektive. Es reicht nicht aus, den Einsatz deutscher Soldatinnen und Solda- Ulrich, Alexander DIE LINKE 21.06.2007 ten im heutigen Umfang erneut um ein Jahr zu verlän- gern. Es ist an der Zeit, eine Strategie zu entwickeln, wie der Kosovo und seine Nachbarstaaten gemeinsam für ein Anlage 2 friedliches Nebeneinander sorgen können. Die Unter- Erklärung nach § 31 GO stützung der internationalen Gemeinschaft ist dabei selbstverständlich. Es muss verstärkt in die Schaffung der Abgeordneten Petra Hinz (Essen) (SPD) zur und Ausbildung selbstständiger Sicherheitsorgane im namentlichen Abstimmung über die Beschluss- Kosovo investiert werden. Gleichzeitig muss aber auch empfehlung zu dem Antrag: Fortsetzung der ein Konzept für den schrittweisen Abzug der NATO- deutschen Beteiligung an der Internationalen Einheiten erarbeitet werden. Schon deshalb muss ein Sicherheitspräsenz im Kosovo zur Gewährleis- Antrag auf Verlängerung des Mandates eine Perspektive tung eines sicheren Umfeldes für die Flücht- für den Abzug der deutschen Einheiten aus dem Kosovo lingsrückkehr und zur militärischen Absiche- beinhalten. 10850 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

(A) Das Ziel der Europäischen Union muss es sein, auch ADFC haben im Jahr 2006 44,7 Prozent der Deutschen (C) an ihren Außengrenzen politische und wirtschaftliche das Fahrrad im Urlaub genutzt. Dies entspricht rund Stabilität zu schaffen, welche nicht durch eine massive 22 Millionen Reisenden. Auch die Prognosen für die Zu- militärische Präsenz künstlich aufrechterhalten wird. Die kunft sehen gut aus: 2,2 Millionen Bundesbürger planen deutsche Bundesregierung sollte als Ratspräsident mit in den nächsten drei Jahren „ziemlich sicher“ eine gutem Beispiel vorangehen, indem sie den zukünftigen Radreise. Bei deutschen Fahrradtouristen ist der Urlaub Einsatz deutscher Soldaten an klare Bedingungen knüpft im eigenen Land und hier vor allem in landschaftlich at- und ihr ziviles Engagement beim Aufbau eigener Sicher- traktiven Gebieten abseits der Ballungsräume sehr be- heitsorgane verstärkt. liebt. Der Fahrradtourismus unterstützt zunehmend die wirtschaftliche Entwicklung vieler strukturschwacher Ich merke weiterhin an, dass sich der Deutsche Bun- Regionen. destag bis heute immer noch keiner Debatte über die zu- künftige Ausrichtung der Bundeswehr gestellt hat. Wel- Wir müssen alle Kräfte zukünftig noch mehr bündeln, che Aufgaben sollen international übernommen werden? um die Potenziale des Fahrradtourismus weiter realisie- Wo sind die Grenzen des deutschen militärischen ren zu können. Hierbei sind natürlich die Zuständig- Engagements? Und vor allem, wie schaffen wir eine keiten im föderativen System zu berücksichtigen. Die klare und eindeutige verfassungsrechtliche Grundlage Förderung des Fahrradtourismus liegt grundsätzlich in für Auslandseinsätze der Bundeswehr? Diese Fragen der Zuständigkeit der Länder und Kommunen. Der Bund sind vom Plenum des Bundestages zu debattieren und kann hierbei nur eine koordinierende Funktion wahrneh- Antworten müssen gefunden werden. Eine Legitimie- men. rung von Einsätzen deutscher Soldatinnen und Soldaten im Ausland durch Art. 24 Abs. 2 GG ist nach meiner In- Ich begrüße sehr, dass die Bundesländer innerhalb ih- terpretation nicht gegeben. Sollte der Bundestag mehr- rer Landesgrenzen im Bereich des Fahrradtourismus be- heitlich der Überzeugung sein, dass ein weltweites mili- reits sehr aktiv sind. Das Potenzial kann jedoch nur dann tärisches Engagement Deutschlands notwendig ist, sollte umfassend erschlossen werden, wenn alle Länder für dies auch verfassungsrechtlich eindeutig verankert wer- eine koordinierte Zusammenarbeit gewonnen werden den. Dies sind wir der Bevölkerung und vor allem den können. Es gilt, die Länder auch für länderübergreifende Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr schuldig. Im- Aktivitäten im Bereich des Fahrradtourismus zu gewin- merhin beschließen wir gemeinsam, welchen Gefahren nen. Es gilt, Deutschland als Urlaubsland für Fahrrad- wir die deutschen Streitkräfte aussetzen können und wel- fahrer noch attraktiver zu machen und zum Beispiel chen nicht. Auch für uns selbst ist es notwendig, unsere durch Vernetzung mit anderen europäischen Radwege- Entscheidungen durch das Grundgesetz zu legitimieren. netzen auch die Anzahl der ausländischen Gäste zu erhö- (B) hen. Es gilt, bald zu handeln, um den Imagegewinn, den (D) Ich hoffe, dass sich jedes Mitglied des Hauses dieser unser Land durch die Fußballweltmeisterschaft erzielt hohen Verantwortung bewusst ist. Bei der aktuellen ver- hat, hier im Inland in bare Münze umzusetzen. fassungsrechtlichen Lage und aufgrund des fehlenden Gesamtkonzeptes für die Beendigung des Einsatzes im Auch das bundesweite Radfernwegenetz – kurz: Kosovo kann ich nicht mit meinem Gewissen vereinba- D-Netz – auf das sich Vertreter der Länder und der Tou- ren, deutsche Soldatinnen und Soldaten weiterhin in ei- rismusorganisationen sowie des ADFC vor gut sechs nen Einsatz ohne klare Perspektive zu schicken. Ich Jahren verständigt haben, leistet dazu seinen Beitrag so- stimme dem Antrag der Bundesregierung daher nicht zu. wohl in nationaler, aber auch in europäischer Sicht. So sind sieben Routen des D-Netzes auch Teil des europäi- schen Radfernwegenetzes (EuroVeloNetz). Die Umset- Anlage 3 zung des D-Netzes mit hohem Qualitätsanspruch ist ein wichtiges Ziel des Nationalen Radverkehrsplans. Erste Zu Protokoll gegebene Reden wichtige Schritte sind hier schon erfolgt. zur Beratung der Beschlussempfehlung und des So würde mit finanzieller Unterstützung des Bundes- Berichts zu dem Antrag: Den Fahrradtouris- ministeriums für Wirtschaft und Technologie bereits mus in Deutschland umfassend fördern (Tages- 2001 der Oder-Neiße-Radweg, der mit einer Gesamt- ordnungspunkt 16) länge von 460 km als einziger Radfernweg durch die neuen Bundesländer Sachsen, Brandenburg und Meck- Ernst Hinsken (CDU/CSU): Der Tourismusaus- lenburg-Vorpommern verläuft, als Modellroute ausge- schuss und die mitberatenden Ausschüsse empfehlen, baut. den Antrag „Den Fahrradtourismus in Deutschland um- fassend fördern“ anzunehmen. Er gibt einen wichtigen Im März dieses Jahres habe ich gemeinsam mit dem Impuls, um den Fahrradtourismus in Deutschland weiter Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie und zu stärken und seine Potenziale zu realisieren. dem Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtent- wicklung eine Konferenz zum Thema „Fahrradtouris- Der Fahrradtourismus in Deutschland ist eine Wachs- nius – Neue Wege, in Deutschland“ durchgeführt. Zu der tumsbranche und trägt – nach Schätzungen des Allge- Konferenz waren Entscheidungsträger aus Politik, Tou- meinen Deutschen Fahrradclubs (ADFC) – circa 5 Mil- rismus und Verkehr eingeladen. Neben einer Bestands- liarden Euro zum touristischen Umsatz in Deutschland aufnahme haben wir insbesondere Strategien für die Zu- bei. Nach dem Ergebnis der Radreiseanalyse 2007 des kunft diskutiert. Hierbei haben wir den Blick auch über Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10851

(A) den Tellerrand gewagt und uns Erfahrungen aus der dellprojekt durch eine geeignete Begleitevaluierung zu (C) Schweiz und Österreich berichten lassen. unterstützen. Die Konferenz hat großen Anklang gefunden und der Ich bin überzeugt, mit diesem Maßnahmenkatalog Wille der Länder, sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten und den im Antrag angeregten Maßnahmen wird es uns zu beteiligen, ist deutlich geworden. Die Konferenz hat gelingen, den Fahrradtourismus in Deutschland nachhal- zum einen gezeigt, dass es sehr gewinnbringend ist, tig zu stärken. wenn die Aktivitäten im Bereich des Fahrradtourismus in einer Hand gesteuert werden und so überregionale Gabriele Hiller-Ohm (SPD): „Deutschland ist ein Kooperationen gefördert werden können. Sie hat zum Fahrrad-Entwicklungsland.“ So betitelt ein namhafter anderen aber auch gezeigt, dass zur tatsächlichen Erfas- deutscher Fahrrad-Verband eine aktuelle Pressemittei- sung der wirtschaftlichen Bedeutung des Fahrradtouris- lung. Ob diese Analyse für den Alltagsverkehr zutrifft, mus eine fundierte Datenlage fehlt. mögen die Verkehrspolitiker beurteilen. Die Konferenz hat konkrete Projektvorhaben zur Der Fahrradtourismus – und um den geht es in unse- Folge, die diese beiden Handlungsfelder aufgreifen. So rem Antrag – kann jedenfalls nicht damit gemeint sein. ist kürzlich gemeinsam vom Bundesministerium für Hier verzeichnen wir seit Jahren einen stetigen Wirtschaft und Technologie und dem Bundesministe- Aufwärtstrend. Fast 22 Millionen Deutsche nutzen in ih- rium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung die Initi- ren Ferien das Fahrrad, rund 2,6 Millionen Deutsche ha- ierung eines weiteren Pilotprojekts vereinbart worden. ben in den vergangenen drei Jahren eine Radreise unter- Es ist beabsichtigt, die quer durch Deutschland von der nommen. Und dabei haben sie ordentlich Geld niederländischen bis zur polnischen Grenze verlaufende ausgegeben: Mehr als die Hälfte der Radreisenden inves- D-Netz-Route 3, die auf der Strecke des Europaradwegs tierte über 1 000 Euro in ihren Fahrradurlaub. Der Um- R 1 verläuft, im Rahmen eines von beiden Ministerien satz in dieser Branche liegt bei geschätzten 5 Milliarden und den beteiligten Ländern – Nordrhein-Westfalen, Euro. Da die Reisenden ganz überwiegend im eigenen Niedersachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Ber- Land bleiben, profitiert der Deutschlandtourismus als lin – finanziell getragenen Pilotprojektes als weitere Mo- Ganzes von diesem Boom. dellroute auszubauen. Die Radwegeinfrastruktur und die Zu dieser erfreulichen Entwicklung hat der vor fünf Jah- Beschilderung, aber auch das touristische Serviceange- ren verabschiedete Nationale Radverkehrsplan maßgeblich bot und Marketing auf dem 915 km langen Radweg soll beigetragen. Viele der Maßnahmen des Radverkehrsplanes verbessert werden. kommen dem Radtourismus zugute, allen voran der durch das D-Netz angestoßene Ausbau regionaler und überregio- (B) Des Weiteren ist es ein Anliegen des Wirtschafts- naler Radwege sowie die Wegweisung der Routen. (D) ministeriums, im Segment Fahrradtourismus auf eine bessere Datenlage zurückgreifen zu können, um auch für Klar ist aber: Auf diesen Lorbeeren dürfen wir uns zukünftige Investitionen mit schlagkräftigen Argumen- nicht ausruhen! Bei den Radreisen liegen immer noch ten werben zu können. Das Wirtschaftsministerium hat Potenziale brach, die es zu erschließen gilt. Die Privat- sich daher entschlossen, eine Grundlagenuntersuchung haushalte in Deutschland besitzen rund 67 Millionen zum Segment Fahrradtourismus durchführen zu lassen. Fahrräder, aber nur ein Bruchteil davon geht mit dem Mit einer fundierteren Datenlage wird es für alle Betei- Velo auch auf Reisen. Hier müssen wir ansetzen! Recht- ligten einfacher sein, innerhalb ihrer Institutionen für zeitig zur Halbzeit des Radverkehrsplanes haben wir eine verstärkte Förderung des Fahrradtourismus zu wer- deshalb einen Antrag vorgelegt, der dessen Ziele noch- ben. mals unterstreicht und weiter vorantreiben soll. Aber auch im Bereich der Transportmöglichkeiten für Richtig ist, dass einige der von uns angesprochenen Fahrräder gibt es noch deutlichen Verbesserungsbedarf. Maßnahmen bereits in Angriff genommen wurden oder Zur Förderung des Fahrradtourismus gehört auch, die zumindest in Planung sind, so etwa der weitere Ausbau Mitnahme von Fahrrädern in den Fernzügen der Deut- des D-Netzes. Unser Antrag soll hier als Unterstützung sche Bahn AG zu ermöglichen. Die schon bestehenden und gleichzeitig als Mahnung dienen, die begonnenen Angebote an Mitnahmemöglichkeiten im Regionalver- Vorhaben zügig um- oder fortzusetzen. kehr, im IC-Bereich und rund um den Fahrradtransport Dass unsere Forderungen bereits vor der Verabschie- sind sehr zu begrüßen. Es ist allerdings auch festzustel- dung des Antrages Beachtung gefunden haben, zeigt ein len, dass mit der sukzessiven Umstellung verschiedener Beispiel: Fahrradwege in der Nähe von Flüssen und IR-, EC- und IC-Linien auf den Hochgeschwindigkeits- Wasserstraßen sind besonders beliebt. Für den Ausbau zug ICE zunehmend Angebotslücken für die Fahrradmit- von Radwegen an Bundeswasserstraßen stellt der Bund nahme entstanden sind. Gemeinsam mit der DB AG sind deshalb jährlich 10 Millionen Euro zur Verfügung. Diese die Möglichkeiten für eine Verbesserung des Mitnahme- Mittel wurden jedoch in der Vergangenheit nur zu einem angebots von Fahrrädern im Fernverkehr zu prüfen. geringen Teil abgerufen. Wir fordern daher in unserem Hierfür werde ich mich gemeinsam mit Herrn Staats- Antrag, den Abfluss der Gelder zu verbessern. Ein wich- sekretär Kasparick gegenüber der Bahn AG noch einmal tiger Schritt dahin ist die verstärkte Ansprache der Kom- persönlich einsetzen. Die Einrichtung einer ICE-Pilot- munen, die für die Unterhaltung der Wege zuständig strecke könnte hier neue Erkenntnisse bringen, und die sind. Seit Anfang dieses Jahres gibt es nun eine Neue- Diskussion versachlichen. Der Bund ist bereit, ein Mo- rung im Antragsverfahren: Nicht mehr nur die Wasser- 10852 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

(A) und Schifffahrtsämter, sondern auch die Städte und Ge- Zwar hat der Bund beim Fahrradtourismus in erster (C) meinden können direkt Mittel aus diesem Topf beantra- Linie nur koordinierende Funktionen. Das darf aber kein gen. Das erhöht die Chance auf den Ausbau der Wege. Grund für uns sein, das Thema in diesem Hause über- Wir werden genau beobachten, ob die Mittel jetzt besser haupt nicht mehr zu behandeln. Wir wollen, dass die abgerufen werden und so die Infrastruktur weiter ge- Bundesregierung ihre koordinierenden Möglichkeiten in stärkt wird. Zukunft noch stärker ausschöpft. Eine wesentliche Auf- gabe sehen wir in der Zusammenführung, Bündelung Unser Antrag soll jedoch nicht nur das forcieren, was und Abstimmung der Aktivitäten zur Förderung des bereits angelaufen ist. Es geht darum, den Druck auf die Fahrradtourismus. Vertreterinnen und Vertreter der Rad- Akteure zu erhöhen, die dem Radtourismus Steine in den verkehrsverbände haben mir bestätigt, dass im Bereich Weg legen. Auch hier ein Beispiel: Die Fahrradmit- der bundesweiten Vereinheitlichung von Fahrradrouten nahme im Fernverkehr der Deutschen Bahn AG ist, wie und Beschilderung noch große Defizite bestehen. Wir Sie alle wissen und oft kritisiert haben, immer noch un- schlagen daher zweierlei vor. zureichend. Der öffentliche Druck auf die Bahn wächst, das Europäische Parlament hat die verpflichtende Ein- Erstens. Wir brauchen eine länderübergreifende Ko- führung von Multifunktionsabteilen in allen Zügen be- ordinierungsstelle. Es soll geprüft werden, ob diese beim schlossen und Bundesverkehrsminister Tiefensee fordert Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwick- Teststrecken für die Fahrradmitnahme. Dennoch stehen lung eingerichtet werden kann. Sie soll sich insbeson- die Signale bei der Bahn auf Rot – das zeigt die Blo- dere um die Weiterentwicklung und Vereinheitlichung ckade der Radmitnahme im grenzüberschreitenden der Infrastruktur sowie um die notwendige Abstimmung Hochgeschwindigkeitszug TGV. Wir müssen Herrn zwischen den Bundesministerien und mit Ländern und Mehdorn also weiter einheizen. Daher ist es gut, dass wir Kommunen kümmern. Wir würden dadurch den Über- die Radmitnahme in unserem Antrag aufgreifen. blick über die bestehende Infrastruktur und bereits er- folgte oder laufende Maßnahmen verbessern, mehr Wir sprechen also mit unserem Antrag Themen an, Transparenz schaffen und auch den Erfahrungsaustausch die für den Fahrradtourismus von großer Bedeutung zwischen den Ebenen optimieren. Die Etablierung von sind. Die Oppositionsfraktionen kritisieren den vorlie- bundesweit einheitlichen Standards könnte erleichtert genden Antrag dennoch wahlweise als „überflüssig“ werden. oder „zu unverbindlich“ und bemängeln, dass wir in vie- len Punkten fordern, es solle auf Länder und Kommunen Zweitens. Wir halten die Schaffung einer zentralen „eingewirkt werden“. Vermarktungsstelle des Fahrradtourismus für nötig, die bei einem Verein oder Verband angesiedelt werden (B) Liebe Kolleginnen und Kollegen aus der Opposition: könnte. Wir sind nämlich der Meinung, dass sich nicht (D) Wir haben selbst darauf hingewiesen, dass viele Maß- alle Maßnahmen zur Förderung des Radtourismus am nahmen zur Förderung des Fahrradurlaubs in der Verant- besten durch eine staatliche Stelle regeln lassen. Bei der wortung von Ländern und Kommunen liegen. In vielen Vermarktung der Angebote setzen wir daher auf das Bereichen können wir nur gemeinsam mit den Ländern Know-how, das im Verbandsbereich bereits besteht und und Kommunen Fortschritte erzielen oder auf sie einwir- seit Jahren erfolgreich eingesetzt wird. Ziel ist, dass die ken, damit sie aktiv werden. Gerne würden wir auch touristischen Angebote und das Marketing für den Tou- stärkeren Einfluss auf die Bahn nehmen, endlich bei der rismusstandort Deutschland verstärkt auf die Bedürf- Fahrradmitnahme in Fernzügen voranzukommen. Da es nisse der Fahrradtouristinnen und -touristen abgestimmt sich hier aber nicht mehr um einen Staatsbetrieb handelt, werden. sind uns enge Grenzen gesetzt. Ein kluger englischer Lord hat einmal den Satz ge- Es wundert mich in diesem Zusammenhang sehr, dass prägt: „Wer auch immer das Fahrrad erfunden hat – ihm gerade Sie, Herr Burgbacher von der FDP, uns im Tou- gebührt der Dank der Menschheit.“ In Anlehnung an rismusausschuss vorgeworfen haben, mit dem Antrag diese Worte sage ich: Wer auch immer dazu beiträgt, den nicht genügend Druck auf die Bahn auszuüben. Sonst ist Fahrradtourismus voranzubringen – ihm gebührt unsere die FDP doch immer gegen Einflussnahme des Staates Unterstützung. In diesem Sinne bitte ich um Zustim- auf Wirtschaftsbetriebe. Und hier plötzlich die Kehrt- mung zu unserem Antrag. wende! Gut finde ich aber, dass wir uns bei der Fahrrad- mitnahme in Fernzügen grundsätzlich über alle Fraktio- Ernst Burgbacher (FDP): Der jährliche Umsatz aus nen hinweg einig sind. Wir sollten deshalb die Bahn dem Fahrradtourismus liegt bei über 5 Milliarden Euro weiter in die Verantwortung nehmen und Sie, Herr und stellt damit eine bedeutende Wachstumsbranche und Burgbacher, sollten unserem Antrag zustimmen, damit einen wichtigen Wirtschaftsfaktor dar. Der Fahrradtou- eine gemeinsame Linie des Parlamentes erkennbar wird. rismus ist eine umweltschonende und gesundheitsför- dernde Urlaubsform. Radreiseveranstalter verbuchten Von Bündnis 90/Die Grünen kam die Kritik, dass sich beispielsweise im Jahr 2005 zweistellige Zuwachsraten. der Antrag ausschließlich auf den Tourismus beziehe. Die touristischen Angebote für Fahrradtourismus haben Liebe Kollegin Maisch, ich erinnere Sie daran, dass wir sich in den vergangenen Jahren erheblich vergrößert und Tourismuspolitikerinnen und -politiker sind und sich verbessert. deshalb unser Antrag natürlich auf den Fahrradtourismus und nicht – wie Sie es wünschen – auf sämtliche Berei- Diese positive Entwicklung wird im Antrag der Ko- che des Fahrradverkehrs bezieht. alitionsfraktionen „Den Fahrradtourismus in Deutschland Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10853

(A) umfassend fördern“ richtig und ausführlich beschrieben. Durch die Schaffung attraktiver Fahrradangebote kön- (C) Allerdings werden keine konkreten politischen Hand- nen insbesondere in strukturschwachen Gebieten, die lungsfelder in dem Antrag aufgezeigt. Die Initiative be- sich für diese Urlaubsform besonders anbieten, Arbeits- schränkt sich darauf, Sachverhalte „zu prüfen“, auf Län- plätze geschaffen werden. Der jährliche Umsatz aus dem der und Kommunen oder auch Tourismusorganisationen Fahrradtourismus liegt über 5 Milliarden Euro. So haben und Verbände „hinzuwirken“ bzw. „einzuwirken“ oder rund 80 Prozent der vom ADFC Befragten im vergange- etwas „nachzufragen“. nen Jahr über 500 Euro für die von ihnen getätigten Radreisen und Kurzurlaube ausgegeben. Bei 51,3 Prozent Weiterhin ist im Punkt l des Forderungskatalogs die der Radreisenden waren es sogar mehr als l 000 Euro, Forderung nach einer länderübergreifenden Koordinie- Durchschnittlich wurden für eine Radreise 1 169 Euro rungstelle beim Bundesministerium für Verkehr, Bau ausgegeben. Durch eine bessere Koordinierung des und Stadtentwicklung aufgeführt. Dies ist befremdlich deutschlandweiten Radfernwegenetzes kann der Umsatz und abzulehnen, da es – zumindest aus Sicht der FDP- weiter gesteigert werden. Fraktion – die Aufgabe des dazu berufenen Tourismus- beauftragten der Bundesregierung im Wirtschaftsminis- Selbstverständlich gilt es, den Fahrradtourismus wie terium sein sollte, die Aktivitäten der Bundesregierung auch andere Urlaubsformen im Interesse des Tourismus- im Bereich der Tourismuspolitik stärker zu koordinieren standorts Deutschland politisch zu fördern und zu unter- und konzeptionell auszubauen. In Punkt 7 des Antrags stützen, doch ich sehe nicht, dass der Antrag der Koali- wird die Bundesregierung aufgefordert, die Realisie- tionsfraktionen hierfür das geeignete Instrument ist. rungsmöglichkeit einer zentralen Stelle für die Vermark- Deshalb wird sich die FDP-Bundestagsfraktion bei der tung des Fahrradtourismus zu prüfen. Vor allem die Abstimmung über diesen Antrag enthalten. Deutsche Zentrale für Tourismus wirbt gemeinsam mit dem ADFC sehr erfolgreich für Radreisen in Deutsch- Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Der Fahrradtourismus land. Ein Blick auf die Homepage der DZT illustriert ist wichtig, wachsend und förderwürdig. Die Fortbewe- dies. Informationen zu Bahn & Bike, Bett & Bike, auch gung zu Fuß und mit dem Fahrrad, ob im Alltag oder im Wellness per Rad, um nur einige Stichworte zu nennen, Urlaub, ist gesund und gut für die Umwelt. Man lernt werden informativ präsentiert, ebenso Tourenvorschläge Land und Leute besser kennen, als wenn man Stadt und und eine Fülle weiterer Tipps für den informations- und Land überfliegt oder in Höchstgeschwindigkeit mit der ratsuchenden Radler. Das erfolgreichste Marketingin- Bahn oder dem Auto durchquert. strument für den deutschen Radtourismus ist laut ADFC Radreiseanalyse 2006 der gemeinsame Katalog „Deutsch- Unbestritten ist, dass auf dem Gebiet des Fahrradtou- land per Rad entdecken“, dessen 5. Auflage mit 500 000 rismus und der Entwicklung von Radwegenetzen einiges (B) deutschen und englischen Exemplaren 140 Radrouten in in den letzten Jahren passiert ist. Dies ist vor allem Ver- (D) Deutschland präsentiert und in 26 Ländern vertrieben dienst der Radfahrerinnen und Radfahrer, des Allgemei- wird. Für eine „zentrale Fahrradtourismusvermarktungs- nen Deutschen Fahrrad Clubs, ADFC, und vieler weite- stelle“ besteht daher kein Bedarf. Auch unter Wettbe- rer Vereine und Initiativen. Trotzdem kommen wir bei werbsgesichtspunkten lehnt die FDP eine solche Zentral- bestimmten Problemen nicht oder nur sehr langsam stelle ab. voran. Deutschland ist ein beliebtes Radreiseziel. 2006 Natürlich geht es – wenn wir wirklich etwas bewegen konnte der Fahrradtourismus das hohe Niveau des Vor- wollen – nicht nur um die Förderung des Fahrradtouris- jahres halten. 44,7 Prozent aller Deutschen nutzen das mus, sondern um eine umfassende Förderung des Fahr- Rad im Urlaub, 14,9 Prozent von ihnen sogar „häufig“ radverkehrs im Alltag. Beides bedingt einander. bis „sehr häufig“. Für 64 Prozent der Radreisenden war der Ohne den Blick über den Tellerrand, also eine inter- Fahrradurlaub die Haupturlaubsreise. Dies geht aus den kommunale bzw. länderübergreifende Zusammenarbeit, „Zahlen-Daten-Fakten – Tourismus in Deutschland 2006“ lassen sich attraktive Angebote für Fahrradtouristen des Deutschen Tourismusverbands hervor. 2 Millionen nicht entwickeln. Insofern ist die mit der sogenannten Deutsche planen in den nächsten drei Jahren laut ADFC Föderalismusreform weiter forcierte Kleinstaaterei nicht Radreiseanalyse 2006 „ziemlich sicher“ mindestens eine hilfreich und die von der Bundesregierung geforderte Radreise. Für weitere 3,4 Millionen Deutsche kommt ein Koordinierungsstelle nur eine sehr begrenzt wirkende Fahrradurlaub generell in Frage. 89 Prozent der Rad- Hilfe. urlaube sind Haupturlaubsreisen. Wenn wir den Fahrradverkehr fördern wollen, brau- Die Angebote für Fahrradtourismus haben sich in den chen wir überall Planungen und Investitionen, die an vergangenen Jahren erheblich vergrößert und verbessert. administrativen Grenzen nicht enden, sowie fahrrad- Die Branche hat sich auf die gestiegene Nachfrage nach freundliche Städte und Gemeinden mit entsprechenden fahrrad- und radlerfreundlichen Unterkünften und Ange- Wegen, Verkehrswegeeinrichtungen und Abstellplätzen. boten eingerichtet, und das größere, vielfältige Angebot Mich ärgert, wenn ich immer wieder neue oder erneuerte gewinnt neue, zusätzliche Fahrradtouristen. Radreisever- Straßen sehe, bei denen der Radweg „vergessen“ wurde. anstalter verbuchten beispielsweise im Jahr 2005 zwei- stellige Zuwachsraten. Auch Busreiseveranstalter, die Gleichermaßen indiskutabel ist, dass immer mal wie- sich auf die Bedürfnisse dieser Klientel eingestellt ha- der „vergessen“ wird, eine ausreichende Anzahl von ben, erzielten mit speziellen Fahrradanhängern und be- Fahrradabstellplätzen bei Gebäuden und Einrichtungen sonderen Pauschalangeboten deutliche Zuwachsraten. zu scharfen. Das Ergebnis sind hoffnungslos zugeparkte 10854 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

(A) Bürgersteige. Rund um den Reichstag haben wir dafür Viele Worte, leere Forderungen. Altbekanntes wird in (C) viele Anschauungsmöglichkeiten. neue Phrasen verpackt, und die Unverbindlichkeit wird als Tugend postuliert. Nichts bewegt sich. Es ist, als Eine durchgängige barrierefreie Infrastruktur in den würde im Leerlauf in die Pedale getreten. Aber ich Kommunen – als Nutzer eines Rollstuhls weiß ich, wo- stimme mit Ihnen überein, dass die Stärkung des Fahr- von ich rede – braucht es zu allererst den Willen aller radtourismus positive Auswirkungen auf den Tourismus- Beteiligten und kreative Lösungen, dann sicher auch standort Deutschland hat. Allein in diesem Teilsegment noch das nötige Kleingeld. können jährliche Steigerungsraten von 5 Prozent ver- Eine wichtige Frage für Fahrradtouristen ist, wie sie zeichnet werden. Fahrradfahren ist umweltfreundlich, bzw. er mit dem eigenen Rad in die gewünschte Region gut für die Gesundheit und spricht unterschiedliche Ziel- kommt. Laut Koalitionsantrag Punkt 6 fordert der Bun- gruppen an. Alles richtig. Ihre Analyse kann ich teilen. destag die Bundesregierung auf: „bei der Deutschen Ich kann auch die Forderungen teilen. Nur leider er- Bahn AG nachzufragen, ob und unter welchen Voraus- wächst aus Ihrer Erkenntnis kein echter Gewinn für den setzungen eine Steigerung bei der Fahrradbeförderung Fahrradtourismus. Die notwendigen Schritte für eine insbesondere im Fernverkehr erreicht werden kann …“ konzeptionelle Förderung des Fahrradtourismus fehlen in Ihrem Antrag. Mehr könne man nicht machen – so die Kollegen von der Koalition im Tourismusausschuss –, da die Bahn ein Ich frage mich, wie die Bundesregierung den Fahrrad- privates Unternehmen sei. Dies ist ein Argument gegen tourismus fördern will, wenn ihr außer hinwirken, ein- die immer weiter voranschreitende Privatisierung und wirken, nachfragen und prüfen nichts einfällt. Ich wage Ausdünnung von Bahnen und anderen öffentlichen Ver- die Prognose, dass allein durch bloßes Hinwirken kein kehrsträgern. Auch deswegen fordert Die Linke einen schneller Ausbau des Bundesradroutennetzes erfolgt. Privatisierungsstopp bei Bahn und anderen Infrastruktur- Die Wachstumspotenziale dieser umweltschonenden betrieben. Form des Reisens, die es ja definitiv gibt, werden so ganz sicher nicht ausgeschöpft. Davon abgesehen gibt es durchaus Möglichkeiten, mehr für die Mitnahme von Fahrrädern zu tun, als nur Es freut mich, dass sich Herr Tiefensee persönlich um mal nachzufragen: Die Linke fordert deshalb die Bun- die Mitnahmemöglichkeiten von Fahrrädern in ICEs desregierung auf, das Allgemeine Eisenbahngesetz zu kümmert. Allerdings zeigt ein Blick in die Historie die- ändern, damit für alle Eisenbahnbetreiber feststeht, in ses Dauerthemas schnell, dass wohl auch der ministeri- welchem Umfang Fahrräder mitgenommen werden müs- elle Beistand wenig an der Fahrradfeindlichkeit der ICEs sen und in welchem Zeitraum dafür die Voraussetzungen ändern wird. Probestrecke hin oder her. (B) zu schaffen sind. Zum Schluss lassen sie mich noch einen Appell an (D) Sicher wird in jeder heute zu später Stunde zu Proto- Sie richten: Rücken Sie die richtigen Verkehrsträger in koll gegebenen Rede deutlich, dass alle Fraktionen für den Fokus ihres Interesses. Die 7 Prozent aller Wege, die die umfassende Förderung des Fahrradtourismus sind. heute mit dem Fahrrad zurückgelegt werden, sind ein- Da der Antrag auch noch von den „richtigen“ Fraktio- deutig steigerungsfähig: Mit einer fahrradfreundlichen nen, also von der Koalition kommt, ist diesmal die Straßenverkehrsordnung, entsprechender Infrastruktur Mehrheit für den Antrag gewiss. Vielen der aufgeführten und einem Höchstmaß an Sicherheit für die Radfahrerin- Punkte kann die Fraktion Die Linke beipflichten, und da nen und Radfahrer. Klimafreundliche Mobilität im Ur- die Richtung stimmt, werden wir dem Antrag auch ins- laub und im Alltag – da fördern Sie richtig. Umfassend. gesamt zustimmen. Eines muss aber auch klar sein: Dadurch ist das Anlage 4 Thema nicht erledigt. Die Bundesregierung ist nunmehr gefordert, dafür zu sorgen, dass es nicht bei zahnlosen Zu Protokoll gegebenen Reden Appellen in Richtung Länder und Kommunen sowie zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Bahn und touristischen Einrichtungen bleibt. Taten sind Berichts zu dem Antrag: Politische Lösungen erforderlich. sind Voraussetzung für Frieden in Somalia (Ta- gesordnungspunkt 15) Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Als Nordhessin liegt mir der Fahrradtourismus besonders am Anke Eymer (Lübeck) (CDU/CSU): Die Lage in So- Herzen. Für die nordhessische Region ist der Tourismus malia und besonders in Mogadischu ist immer noch kri- ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor. Jährlich können tisch. Im März haben wir im Bundestag über die Lage in wir rund sieben Millionen Übernachtungen verbuchen. Somalia gesprochen. Ich begrüße es sehr, dass es in der Mit 40 000 Arbeitsplätzen leistet der Tourismus einen Zwischenzeit eine intensive und konstruktive Zusam- bedeutenden Beitrag zur regionalen Wertschöpfung. Mit menarbeit und eine gemeinsame Entschließung der Ko- über 2 000 km Radwegen ist die Region auch für Rad- alitionsfraktionen, der FDP und der Grünen gegeben hat. touristen attraktiv. Über ein schnelles und effektives Mehr an Fahrradfreundlichkeit würde ich mich freuen. Dass sich trotz der angelaufenen Mission AMISOM der Afrikanischen Union – African Union Mission to Ihr Beitrag zum Fahrradtourismus hingegen ist ein Somalia – die Lage für Hunderttausende immer noch schönes Beispiel für die Arbeit der Großen Koalition: nicht wesentlich verbessert hat, ist erschreckend. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10855

(A) AMISOM ist in einer kritischen Lage. Dafür gibt es Zusicherung sein, dass sie den Terrorismus verurteilen, (C) verschiedene Faktoren. Noch immer ist die Sollstärke sich zur territorialen Integrität der Nachbarstaaten be- von 8 000 Mann nicht erreicht, zu wenige afrikanische kennen und keine ausländischen, bewaffneten Gruppen Staaten haben sich bisher mit einem Truppenkontingent in Somalia dulden. beteiligt. Aber auch die internationale Gemeinschaft ist weiter Internationale Unterstützung bei der Logistik, dem gefordert, diesen Prozess sinnvoll zu begleiten, damit am Transport der Truppen und der Ausrüstung scheint drin- Ende eine repräsentative und wirklich handlungsfähige gend notwendig. Dass sich der Weltsicherheitsrat der Regierung gebildet werden kann. Vereinten Nationen für die schnelle Einsetzung einer UN-Friedenstruppe ausgesprochen hat, eröffnet eine Op- Die EU und im Besonderen Deutschland gehören zu tion. Man darf aber nicht verkennen, dass es in Somalia jenen internationalen Akteuren, die von den Konfliktpar- vorrangig um eine politische Lösung geht. Und es muss teien in Somalia nicht einseitig einer Partei zugeordnet schnell gehandelt werden, weil die Lage der betroffenen werden. Von dieser Akzeptanz hängt wesentlich die Fä- Bevölkerung sich zusehends verschlechtert. higkeit und Wirksamkeit ab, den Dialog und Friedens- prozess in Somalia zu begleiten und zu moderieren. Ich Die UNHCR-Beobachter (United Nations High Com- begrüße es daher, dass die Bundesregierung schon in den missioner for Refugees) beschreiben die Situation als vergangenen Monaten intensive Gespräche mit Nachbar- sehr ernst. Der UNHCR hatte seit Februar 391 000 Ver- ländern und verschiedenen Konfliktparteien geführt hat. triebene aus Mogadischu registriert. Trotz der relativ ho- hen Zahl der Rückkehrer bleiben die Bedingungen Auch Mitgliedern der Arabischen Liga, zu der auch schwierig. Die Hauptstadt verfügt in weiten Teilen we- Somalia gehört, könnte und sollte hier eine wichtige der über sanitäre Anlagen und Strom noch über Trink- Rolle zukommen. wasser. Viele Gebäude sind stark einsturzgefährdet. Die Durch eine internationale Zusammenarbeit kann man Krankheits- und Todesfälle auch wegen der schlechten auch zeigen, dass die in der islamischen Welt weit ver- hygienischen Versorgung nehmen zu. breitete Phobie einer christlich-westlichen Vorherrschaft unbegründet ist. Für eine politische Lösung ist der Dialog aller Kon- fliktparteien unverzichtbar. Dazu zählen auch Vertreter Es kann auf der anderen Seite auch ein wichtiges Zei- der Zivilbevölkerung. Das sind nicht nur Repräsentanten chen für den Westen sein, dass das Wort von der Scharia der Clans. In einem Kommuniqué der EU vom Anfang und ihrer Vertreter seinen Platz in einem konstruktiven dieses Jahres wird zu Recht darauf hingewiesen, dass Aussöhnungsprozess haben kann. auch Vertreter der Frauen an diesem Dialog zu beteiligen (B) sind. Frauenrechte sind Menschenrechte. Und die Aner- Der Islam in Afrika stellt sich, wie auch in anderen is- (D) kennung der Menschenrechte muss Fundament des Pro- lamischen Gebieten, als ein facettenreiches Gebilde dar. zesses der Aussöhnung sein. Diese Vielfalt ist bis heute erhalten geblieben, wird aber in einer westlichen Einschätzung oft nicht differenziert Die sogenannte Versöhnungskonferenz ist bereits wahrgenommen. Ebenso wird auf islamischer Seite nicht mehrfach verschoben worden. Der Übergangsregierung selten aus demagogischen Gründen fälschlich das Phan- von Präsident Yusuf muss deutlich gemacht werden, tom einer in sich geschlossenen christlichen westlichen dass diese Konferenz die Conditio sine qua non für eine Welt heraufbeschworen. friedliche Lösung in Somalia darstellt. Weitere Halbher- zigkeiten oder Lippenbekenntnisse können nicht hinge- Daher wird es nicht zu einer dauerhaften Lösung und nommen werden. Der Dialog auf der Konferenz muss einem stabilen Frieden kommen, wenn Somalia weiter- alle relevanten politischen und zivilen Kräfte einschlie- hin als Austragungsort externer Konflikte genutzt wird. ßen, damit er breite Akzeptanz findet. Es ist unbedingt notwendig, bei der anzustrebenden Lö- sung nicht nur die Grenzen des heutigen Somalia sicher- In einem Aufruf auf dem nationalen Forum muslimi- zustellen. scher Führer, die am 26. November 2006 in Kenia abge- halten wurde, hieß es: Die teilweise schwierige Situation der Somalis, die über verschiedene Staaten in der Region aufgeteilt sind, Wir werden eine dauerhafte Lösung in Somalia nie- ist nicht zuletzt der europäisch-afrikanischen Geschichte mals ohne oder gar gegen die Islamischen Gerichte und einer willkürlichen Grenzziehung durch europäische erreichen können. Kolonialmächte geschuldet. Traditionell gehören die Somalis einem gemäßigten, Gleichwohl kann es heute nur um eine Lösung inner- sunnitischen Islam an. Von den ungefähr elf Islamischen halb der bestehenden Grenzen Somalias gehen. Stellte Gerichtshöfen werden von Experten nur zwei als explizit man die territoriale Integrität der Nachbarn infrage, öff- extremistisch eingestuft. Die große Mehrzahl ist mode- nete man ein Pulverfass. Die friedliche Entwicklung in rat. Es darf nicht verkannt werden, dass durch die Islami- Somaliland im Norden Somalias und sein bisher unge- schen Gerichtshöfe in ihrem jeweiligen Einflussbereich klärter internationaler Status sind hier ein Sonderfall. Es zumindest ein Grundlevel an sozialer Versorgung und wäre fatal, wenn die friedliche Entwicklung zu einer sta- Struktur sichergestellt wurde. Es könnte der Bevölke- bilen Demokratie hier durch den Konflikt beeinträchtigt rung nicht vermittelt werden, wenn sie nicht am Aussöh- würde. Dennoch ist es unverzichtbar, die gesamte Re- nungsdialog beteiligt würden. Grundlage muss aber die gion am Horn von Afrika im Blick zu haben. 10856 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

(A) Das bezieht sich zum einen auf die Einhaltung des außerhalb Somalias gewährleistet und könnten sich (C) UN-Waffenembargos und auf den internationalen Kampf Khartoum als Tagungsort vorstellen. gegen den Terrorismus. Es bezieht sich aber vor allem Nun hat die somalische Übergangsregierung vorges- auf den ungelösten Grenzkonflikt zwischen dem Nach- tern eine weitreichende Amnestie für Islamisten verfügt, barland Äthiopien und Eritrea. Äthiopien, das in seiner die Ende 2006 von äthiopischen Truppen und der Regie- Grenzregion Ogaden eine große somalische und islami- rung vertrieben worden waren. Dennoch will Scheich sche Minderheit hat, steht auf der Seite der Übergangsre- Sharif Ahmed von der Union der islamischen Gerichts- gierung. Das weitgehend islamische Eritrea unterstützt höfe nicht an Friedensgesprächen teilnehmen. die Islamischen Gerichtshöfe. Diese Interventionen sind im höchsten Maß kontraproduktiv im Hinblick auf eine Am 12. Juni war der Vizepremier Somalias, friedliche Entwicklung in Somalia. Dr. Abdullahi Sheikh Ismail Ali, hier in Berlin zu Gast. Er steht auf dem Standpunkt, dass es keine moderaten Die Anerkennung der Ergebnisse der Grenzkommis- Vertreter der UIC gäbe. Wenn Deutschland oder der sion ist ein unverzichtbares Element, um für die gesamte Westen insgesamt moderate Kräfte benennen würde, so Region eine tragbare Lösung zu finden und den Stellver- wäre die Übergangsregierung bereit, sie zur Versöh- treterkonflikt in Somalia zu beenden. nungskonferenz einzuladen. Somalia darf nicht wie in den 90er-Jahren zu einem Damit sind wir schon am entscheidenden Punkt des traurigen Beispiel des Scheiterns der internationalen Problems. Ohne einen Dialogprozess, der alle relevanten Friedensbemühungen werden. Dafür tragen wir alle Mit- Kräfte mit einbezieht, wird es keinen umfassenden und verantwortung. vor allem keinen tragfähigen Friedensprozess geben. Das muss allen klar sein. Deshalb ist die Einbeziehung Brunhilde Irber (SPD): Es entspricht schon fast ei- der Vertreter der islamischen Gerichtshöfe eine zwin- ner guten Tradition, dass sich die meisten Fraktionen im gende Voraussetzung dafür. Hause einig sind, wenn es um Themen geht, die die Sicherheitslage auf dem afrikanischen Kontinent betref- Erforderlich ist jedoch ein klares Bekenntnis gegen fen. Deshalb freue ich mich, dass wir den vorliegenden jede Form des Terrorismus, und die Anerkennung der Antrag interfraktionell beschließen werden. territorialen Integrität der Nachbarstaaten ist unabding- bar. Darauf wird im Antrag zu Recht hingewiesen. Am Dienstag haben alle Fraktionen die Gelegenheit genutzt, den führenden Oppositionspolitiker in Sim- Die Bundesregierung hat frühzeitig den Dialog mit babwe, Morgan Tsvangirai, zu sprechen. Für die afrika- den gemäßigten islamischen Kräften aufgenommen. nischen Staaten im Allgemeinen traf er eine bemerkens- Ende März hat es eine Reihe von Gesprächen der EU in (B) werte Aussage: „Der Demokratisierungsprozess in den Nachbarstaaten Somalias gegeben. Bei weiteren (D) Afrika ist irreversibel.“ Es klingt fast wie Wunschden- politischen Gesprächen wurde Übergangspräsident ken. Ich meine, es handelt sich um eine Vision, für die es Yusuf nachdrücklich aufgefordert, sich konstruktiv am sich einzusetzen lohnt. Versöhnungsprozess zu beteiligen. Die Situation in Somalia – und darüber wollen wir Die Bundesregierung sollte diesen richtigen Ansatz heute sprechen – lässt indes weniger Freude aufkom- konsequent fortsetzen. In der Afrikapolitik spielt men. Eine amerikanische Studie bescheinigt Somalia ei- Deutschland inzwischen eine wichtige Rolle. Dies soll- nen der Spitzenplätze gescheiterter Staaten und weist auf ten wir auch einmal anerkennen! eine weitere Verschlechterung der Lebensbedingungen Ein Dialog kann sich allerdings nur dort entwickeln, hin. wo die Sicherheitslage es zulässt. Deshalb gilt es, die Friedensmission der Afrikanischen Union in Somalia Eines steht unmissverständlich fest, und so steht es AMISOM und damit die Afrikanische Union selbst zu auch im vorliegenden Antrag: „Alle internationalen Ver- unterstützen. Am 19. Januar dieses Jahres hat die AU das suche, eine friedliche Entwicklung Somalias zu beför- AMISOM-Mandat beschlossen. Von der geplanten Ge- dern, können nur eine unterstützende Rolle einnehmen. samttruppenstärke von 8 200 Soldaten ist derzeit etwa Ein tragfähiger Friedensprozess kann nur von innen ein Fünftel vor Ort. Das ist natürlich bei weitem nicht kommen.“ ausreichend. Nun wurde die für den 15. Juni geplante nationale Neben wie immer schwierigen Finanzierungsfragen Versöhnungskonferenz um einen weiteren Monat auf geht es vor allem darum, dass die Soldaten vor Ort will- den 15. Juli verschoben. Am 23. Mai diskutierten wir kommen sind. Niemandem ist geholfen, wenn die Frie- auf Einladung von Frau Eid mit Vertretern der islami- denstruppen quasi als weitere Konfliktpartei denunziert schen Gerichtshöfe. Nicht nur sie, sondern auch die di- und – wie schon geschehen – auch angegriffen werden. versen Vertreter der Clans sind mit den Rahmenbedin- Deshalb ist die Fortsetzung und Intensivierung des Dia- gungen der Konferenz noch nicht einverstanden. Es soll logs der Bundesregierung, der EU und insbesondere fair, transparent und vor allem sicher zugehen. Eine ge- auch der USA mit den Akteuren vor Ort absolut notwen- meinsame Agenda muss gefunden werden, der richtige dig. Tagungsleiter sollte die mehr als 1 000 Delegierten durchs Programm führen. Es gibt dann nach wie vor Die Afrikanische Union ist derzeit noch nicht in der Vorbehalte, was den Tagungsort anbelangt. Die Vertreter Lage, ihre eigenen Sicherheitsziele zu 100 Prozent zu er- der UIC sehen ihre Sicherheit nur an einem Tagungsort füllen. Aber sie ist auf einem guten Weg. Die Europäi- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10857

(A) sche Union unterstützt die AU beim Aufbau einer Frie- zienter überwacht werden muss. Mir ist bewusst, dass (C) dens- und Sicherheitsarchitektur in Afrika. Seit 2006 die wirksame Umsetzung der Resolution 1725, die es ja liegt das „Konzept der Europäischen Union zur Stärkung nicht erst seit gestern gibt, leichter gesagt als getan ist. der afrikanischen Fähigkeiten für die Verhütung, Bewäl- Wenn es aber zusätzliche Möglichkeiten gäbe, zum Bei- tigung und Beilegung von Konflikten“ vor. Dieses Kon- spiel von der Seeseite her, dann sollte man sie auch nut- zept soll insbesondere die Effizienz der Zusammenarbeit zen. Papierdiplomatie ist hin und wieder hilfreich. Aber mit der AU verbessern. Im Rahmen der Ausarbeitung ei- den Waffenschmugglern muss man einfach mehr entge- nes Konzeptes für die künftige afrikanische Stand-by- gensetzen! Truppe hat sich diese Zusammenarbeit bereits bewährt. Die Übergangsregierung plant einen Staatsaufbau Die AU könnte helfen, einen Teilkonflikt in Somalia nach dem föderalen System. Innerhalb von sechs Mona- friedlich beizulegen. Würde Somaliland, das bereits ten soll das Parlament eine entsprechende föderale Ver- 1991 seine Unabhängigkeit erklärt hat, durch die AU an- fassung erarbeiten, die nach einer weiteren dreimonati- erkannt werden, könnte eine weitere afrikanische Er- gen Arbeitsphase der somalischen Bevölkerung folgsgeschichte fortgesetzt werden. Für die Übergangs- vorgestellt werden soll. Diesen konkreten Ansatz sollte regierung unter Präsident Yusuf ist die Statusfrage die Bundesregierung unterstützen. Somalilands nicht geklärt. Sie wünscht, dass alle Teile Somalias, einschließlich Somaliland, eine Nation bilden. Marina Schuster (FDP): Die Uhrzeit unserer De- Angeblich habe sich bei einer Umfrage die Mehrheit der batte entspricht erneut nicht der Bedeutung des Themas Bürger von Somaliland dafür ausgesprochen. Derweil Somalia. Dies ist umso bedauerlicher, als dass hier eine hat sich eine Erkundungsmission der AU für die Unab- interfraktionelle Entschließung des Auswärtigen Aus- hängigkeit ausgesprochen. Die Entscheidung steht noch schusses vorliegt, die sich der komplexen Lage vor Ort aus. Eine Verschlechterung der Sicherheitslage Somali- und in der Region annimmt und dieser Situation wirklich lands wäre kontraproduktiv und muss verhindert wer- Rechnung trägt. den. Ich schicke vorweg: Ich freue mich, dass diese Ent- Die Stärkung der AU, der afrikanischen Regionalor- schließung von allen Fraktionen – mit Ausnahme der ganisationen und mithin der panafrikanischen Idee ist Linken – getragen wird. Ich danke der Kollegin Uschi der einzige gangbare Weg, um die Konfliktherde auf Eid gleich an dieser Stelle für diese wirklich fundierte dem afrikanischen Kontinent wirkungsvoll und von in- und sachkundige Initiative; denn sie hebt sich ab von ei- nen heraus zu reduzieren. Der geplante Afrikagipfel im nigen vereinfachenden Medienberichten. Denn in der öf- Dezember 2007 in Lissabon wird mit der „Gemeinsamen fentlichen Berichterstattung über Somalia erleben wir oft EU-Afrika-Strategie“ Akzente setzen. Damit würde die (B) unzulässige Vereinfachungen, zum Beispiel dass es sich (D) europäische Afrikastrategie sinnvoll ergänzt und erwei- einzig und allein um einen Konflikt zwischen Islam und tert werden. Christentum handelt. Das wird der komplexen Lage am In Somalia hat die Spirale der Gewalt einmal mehr Horn von Afrika nicht gerecht, und es ist sogar gefähr- Flüchtlingsströme ausgelöst. Im Zusammenhang mit den lich. Denn wir müssen, ganz gleich, welchen Konflikt schweren Kämpfen in Mogadischu sind nach Angaben wir uns diesbezüglich auf der politischen Landkarte an- der Vereinten Nationen allein zwischen Februar und schauen, einen differenzierten Blick auf den politischen April 2007 mehr als 365 000 Menschen geflohen. Die Islam legen. Wir müssen uns heterogene Organisationen humanitäre Lage hat sich im Vergleich zum vergangenen genau anschauen, uns für eine wissenschaftliche und his- Jahr noch verschlechtert. torische Analyse Zeit nehmen. Die Bundesregierung hat 2006 für humanitäre Hilfe Gerade am Horn von Afrika, aber auch in der gesam- rund 6,3 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Seit De- ten Region ist dies erforderlicher denn je – und jede vor- zember 2006 sind weitere 4 Millionen Euro für Hilfs- schnelle Schwarzweißmalerei ist gefährlich. maßnahmen nach Somalia geflossen. Weitere 750 000 Euro wurden zur Versorgung somalischer Es ist daher zu begrüßen, dass die Bundesregierung Flüchtlinge in Äthiopien und Kenia eingesetzt. Deutsch- bereits Gespräche mit gemäßigten Vertretern der Union land ist damit der zweitgrößte Geber humanitärer Hilfe. Islamischer Gerichtshöfe geführt hat. Denn eine Lösung des Konflikts in Somalia, der ja in Wirklichkeit das ge- Der Dialogprozess und eine erfolgreiche Friedens- samte Horn von Afrika und große Teile Ostafrikas be- mission AMISOM sind wichtige Bausteine in Richtung trifft, kann nur gelingen, wenn alle Parteien einbezogen einer besseren Zukunft Somalias. Wie im Sudan und im werden. Kongo gilt aber auch für Somalia: Die internationale Staatengemeinschaft sollte sich am Aufbau sozialer und Ich habe allerdings nach wie vor den Eindruck, dass wirtschaftlicher Strukturen des Landes beteiligen. So- die regionale Dimension und die Interessen der angren- lange aber der nationale Versöhnungsprozess nicht in zenden Staaten zu wenig beachtet werden. Es handelt Gang kommt, wird sich in dieser Richtung nicht viel be- sich eben nicht nur um ein innersomalisches Problem, es wegen. geht um die Instabilität des gesamten Horns von Afrikas. Besondere Bedeutung hat dabei der Konflikt zwischen Der Dialog lässt sich nicht mit Waffengewalt gestal- Äthiopien und Eritrea. Ich erwähne dies deswegen, weil ten. Deshalb sind wir fraktionsübergreifend der Mei- ich selbst im Dezember in Addis Abeba war und mir die nung, dass die Einhaltung des UN-Waffenembargos effi- Eindrücke von dieser Reise noch präsent sind. Solange 10858 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

(A) dieser Konflikt nicht gelöst ist, werden sich die Bezie- Gewalt und der Vertreibung erschreckend. Nun aber ha- (C) hungen zwischen Eritrea und Äthiopien nicht normali- ben die Zustände in Mogadischu und in anderen Teilen sieren. Es ist daher wichtig, diese Staaten in künftige Lö- des Landes apokalyptische Ausmaße erreicht, wie sie sungsansätze einzubeziehen, sie gleichzeitig aber auch seit der Vertreibung Siad Barres 1991 nicht mehr in So- in die Pflicht zu nehmen. Dazu gehört auch die Frage der malia geherrscht haben. Grenzziehung; daran führt kein Weg vorbei. Zahllose Tote, tausende zerstörte Wohnhäuser und Manch einer weiß vielleicht gar nicht, dass zwei deut- mehr als 400 000 Menschen auf der Flucht. Die Verein- sche Militärbeobachter an der Grenze zwischen Äthio- ten Nationen sprechen vom derzeit schlimmsten Flücht- pien und Eritrea im Rahmen des UNMEE-Mandats in lingselend auf der Welt. Weder in Darfur noch im Irak dem staubigen Grenzort Badme ihren Dienst tun. Das habe es in jüngster Zeit so viele Vertriebene gegeben wie sind wahrlich keine einfachen Bedingungen vor Ort. in Somalia. Die Presse berichtet von marodierenden Umso mehr möchte ich heute diesen Soldaten ganz herz- Banden, die die Versorgung der Notleidenden verhin- lich und ausdrücklich für ihren Einsatz danken. dern, und von sich ausbreitenden Seuchen. Weder die so- In Somalia selbst ist die Sicherheitslage weiterhin ex- genannte Übergangsregierung, noch die sie stützenden trem angespannt: Anfang des Monats gab es ein Atten- äthiopischen Truppen oder die Soldaten der AMISOM tatsversuch auf Regierungschef Ghedi. Aus Mogadischu aus Uganda können die mindeste Ordnung und Sicher- wird beinahe täglich von Kämpfen berichtet, von An- heit garantieren. schlägen islamistischer Kämpfer, von Militäraktionen Wie sollten sie auch? Denn gerade sie sind ein großer der Übergangsregierung oder ihrer äthiopischen Unter- Teil des Problems. Die sogenannte Übergangsregierung, stützer. Erst gestern kamen nach Zeitungsmeldungen die in Nairobi eingesetzt wurde, besitzt keine demokrati- fünf Jugendliche durch Schüsse von äthiopischen Solda- sche Legitimität. Schlimmer noch, nur der Intervention ten ums Leben. Das zeigt, wie dringend Sicherheit her- der äthiopischen Armee im vergangenen Dezember hat gestellt werden muss, wie dringend das AMISOM-Man- sie es zu verdanken, dass sie die islamischen Gerichte dat gebraucht wird, damit auch die äthiopischen Truppen aus Mogadischu vertreiben konnte. Die Bombardierung abziehen. Doch die Truppenentsendung für das von Wohnquartieren und die Behinderung von Hilfsor- AMISOM-Mandat der AU kommt wegen finanzieller ganisationen haben ihr ebenso viel Hass eingebracht wie und organisatorischer Lücken kaum voran – nur Uganda den äthiopischen Invasoren. bildet mit 1 300 entsandten Soldaten eine Ausnahme. Was den politischen Prozess angeht, gibt es ähnlich Hinter beiden steht unübersehbar die USA. Sie haben schwierige Bedingungen: Die seit langem geplante Kon- die Äthiopier bei ihrem Überfall unterstützt, sie haben (B) ferenz für nationale Versöhnung wurde bereits mehrfach Satellitenbilder und Waffen zur Verfügung gestellt, sie (D) um einen Monat verschoben. Die Übergangsregierung haben eine Schlüsselrolle bei der Planung und Durchfüh- zeigt bislang keine Bereitschaft, alle relevanten Gruppen rung der Invasion eingenommen und auch selbst Gebiete in die Konferenz einzubeziehen, die UIC-Vertreter leh- im Süden Somalias bombardiert. Jüngst haben die USA nen Gespräche ab, solange sich noch äthiopische Trup- von einem Kriegsschiff aus ein Dorf nahe der puntländi- pen im Land befinden. schen Stadt Bargal beschossen. Das alles geschah im Na- men des Kampfs gegen den internationalen Terror. Die höchste Glaubwürdigkeit genießt zurzeit offenbar die Somaliakontaktgruppe. Daher ruhten und ruhen ver- Dahinter liegen indes strategische Interessen am Horn ständlicherweise viele Hoffnungen auf der Ratspräsi- von Afrika zur Sicherung begehrter Rohstoffe und wich- dentschaft der EU. Wir begrüßen, dass Gespräche vor tiger Transportrouten. Nicht zuletzt das von den USA Ort stattgefunden haben. Aber es muss auch die Frage geplante Regionalkommando AFRICOM diskreditiert gestattet sein, wie die Bundesregierung während der die USA und ihre Verbündeten als neutrale Vermittler Doppelpräsidentschaft ihren internationalen Spielraum und macht sie völlig ungeeignet, so etwas wie Stabilität genutzt hat. Denn es ist augenscheinlich, dass die inter- und Frieden in Somalia herzustellen. nationale Gemeinschaft in dieser Frage nicht mit einer Stimme spricht. Sie müssen sich ebenso wie Äthiopien und Eritrea aus denn Konflikt zurückziehen und ihre einseitige Unter- Der Konflikt am Horn von Afrika birgt unglaublichen stützung der Übergangsregierung oder der Union islami- Zündstoff. Das zeigt die Geschichte, aber auch die aktu- scher Gerichte aufgeben. Dies muss ihnen unmissver- elle Situation. ständlich zum Ausdruck gebracht werden. Solange Wenn wir nicht wollen, dass sich Geschichte wieder- Eritrea und Äthiopien ihre Grenzstreitigkeiten auf dem holt, müssen wir uns stärker denn je für eine stabile poli- Rücken der Somalis austragen und solange die USA ihre tische Lösung einsetzen. Das kann Deutschland mit Si- strategischen und Rohstoffinteressen an Somalia unge- cherheit nicht alleine; gleichwohl sind wir für unseren hindert verfolgen können, wird es in Somalia keinen Nachbarkontinent gefordert. Die Menschen am Horn Frieden geben. von Afrika brauchen wieder eine sichere Heimat. Schon der letzte Versuch der UN, mit einer militäri- schen Mission das Land zu stabilisieren und demokrati- Dr. Norman Paech (DIE LINKE): Seit unserer letz- sche Strukturen mit einer funktionierenden Regierung zu ten Debatte Ende März hat sich die Lage in Somalia wei- installieren, wurde nach drei Jahren 1995 als gescheitert ter verschlechtert. Schon damals war das Ausmaß der aufgegeben. Nun soll eine weitere Mission den Schaden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10859

(A) beheben und es deutet nichts darauf hin, dass diese er- desregierung, dass sie den Forderungen des Deutschen (C) folgreicher sein wird als die vorangegangene. Bundestages Rechnung trägt. Einige davon seien hier hervorgehoben: Sie müssen sich schon entscheiden. Wollen Sie Poli- tik und Dialog oder Militär? Wollen Sie die Einbezie- Erstens. Die Bundesregierung soll sich aktiv an inter- hung aller politischen Kräfte in einen Friedensprozess nationalen Initiativen, vor allem der Norwegens, beteili- oder den Ausschluss vieler zugunsten einer nicht legiti- gen, um den Konflikt zwischen Äthiopien und Eritrea ei- men Übergangsregierung, die von den USA und Äthio- ner dauerhaften friedlichen Lösung zuführen, denn pien dirigiert wird? Wollen Sie eine langfristige Perspek- dieser ist der gordische Knoten zur längerfristigen Stabi- tive auf Stabilität oder langjährige militärische Präsenz lisierung der Region, speziell Somalias, aber auch des in einem Krieg à la Afghanistan und Irak? Beides zu- Sudan. sammen bringt keine realen Friedensperspektiven, wes- Zweitens soll sie initiativ werden, um einen umfas- wegen wir dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen senden Dialog zwischen Somalia, seinen Nachbarstaaten nicht zustimmen können. und den Regionalmächten zu erreichen. Nur so kann ein Noch gibt es ein Zurück aus der militärischen Logik. fairer Ausgleich der Sicherheitsinteressen aller Staaten AMISOM sollte zurückgezogen und nicht in eine an- gelingen. schließende UN-Mission überführt werden. Stattdessen Drittens muss die regionale EU-Partnerschaft mit müssen alle verfeindeten Gruppen, also auch die UIC, an dem Horn von Afrika aktiv unterstützt werden. den Verhandlungstisch gebracht werden, wie mit der auf zwei Monate angesetzten Versöhnungskonferenz ge- Für die Befriedung von Somalia muss eine Grundvo- plant. raussetzung erfüllt sein: Die militärischen Aktivitäten der internationalen Gemeinschaft müssen von den rele- Die internationale Staatengemeinschaft muss sich vanten somalischen Gruppierungen akzeptiert sein. dazu bekennen, dass sie einen offenen Verhandlungspro- Ohne einen aufrichtigen und alle relevanten politischen zess begrüßt, in dem sie keine Gruppe bevorzugt und an Kräfte umfassenden Dialogprozess ist dies nicht zu er- den sie keine Vorbedingungen stellt. Gleichzeitig sollte reichen. Leider erweckt die somalische Übergangsregie- die Bundesregierung Somalia in die Liste der Koopera- rung den Eindruck, als mache sie aus der Versöhnungs- tionsländer für die deutsche Entwicklungszusammenar- konferenz, der sie ohnehin nur unter erheblichem beit aufnehmen und dies nicht lediglich in Aussicht stel- internationalem Druck zugestimmt hat, eine Farce: Aus- len, wie der vorliegende Antrag es formuliert. Des reichende Vorbereitungen waren in keiner Weise zu er- Weiteren müssen sofort und in enger Abstimmung mit kennen. Die Konferenz wurde mehrfach vertagt – jetzt den verschiedenen politischen Kräften und der Bevölke- (B) auf den 15. Juli –, ihre Dauer von 45 Tagen auf zunächst (D) rung Somalias die zivilen Maßnahmen in dem Maße auf- einen zusammengekürzt. Eine Tagesordnung liegt nicht gestockt werden, wie benötigt, insbesondere für die vor. Dies zeigt, dass die somalische Übergangsregierung medizinische Versorgung, und die Nahrungsmittelver- in der Tat handlungsunfähig, nicht dialogbereit und vor sorgung und die Versorgung mit sauberem Wasser. allem am eigenen Machterhalt interessiert ist. Allerdings begrüße ich die von der somalischen Übergangsregie- Dr. Uschi Eid (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich rung verkündete Amnestie für jene, die in den letzten begrüße sehr, dass unser grüner Antrag von den Koali- Monaten gegen die Regierung gekämpft haben. Sie ist tionsfraktionen und der FDP mitgetragen wird und un- ein richtiger erster Schritt. sere Initiative zu einem interfraktionellen Antrag führte. Dies ist ein starkes Signal an die Konfliktparteien in So- All dies zeigt die Dringlichkeit der Forderungen des Antrags zur Versöhnungskonferenz: malia, die wir gemeinsam aufrufen, aufeinander zuzuge- hen und einen ernsthaften Versöhnungsversuch zu begin- Erstens. Die Versöhnungskonferenz benötigt eine nen, damit die Region am Horn von Afrika zu Ruhe und externe, internationale Moderation. Stabilität zurückfindet. Zweitens. Nicht nur die Klans, sondern auch Vertreter Derzeit dauern die Anschläge und Kämpfe in Moga- der islamischen Gerichtshöfe, der UIC, sind einzubezie- dischu an. Dies verurteilen wir. Doch wir müssen auch hen. Hier fordert der Bundestag, dass auch die radikale zur Kenntnis nehmen, dass die Eskalation der Gewalt Minderheitenströmung vertreten sein soll, da sie ein ho- eine Folge des umstrittenen Einmarschs der äthiopischen hes Störpotenzial hat – unter einer Voraussetzung: Sie Truppen ist. Ende 2006 marschierte das äthiopische muss ihre Erklärung einhalten und erneuern, Terror zu Militär in Somalia ein, um die mit internationaler Unter- verurteilen und die territoriale Integrität der Nachbar- stützung in Kenia gebildete Übergangsregierung zu stüt- staaten zu respektieren. zen. Dieser ist es leider nicht gelungen, in Somalia Ver- trauen zu gewinnen, mit der Folge, dass eine Mehrheit Nun zur Frage internationaler Friedenstruppen in So- der Somalis sowohl die Übergangsregierung als auch die malia. Es ist offensichtlich, dass die somalische Über- Äthiopier als Gegner betrachtet. gangsregierung den Verbleib der Äthiopier im Land oder eine internationale Militärpräsenz befürwortet. Denn Wenn in der Region und in Somalia selbst nicht diese Militärpräsenz könnte sie trotz mangelnder Legiti- schnelle, entschlossene Schritte unternommen werden, mation bei den Bürgern an der Macht halten. Zur Erinne- droht das strategisch wichtige Horn von Afrika weiter rung: Die somalische Übergangsregierung hat es zu ver- destabilisiert zu werden. Ich erwarte daher von der Bun- antworten, dass im April von äthiopischen Truppen 10860 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

(A) geleitete, völkerrechtswidrige Angriffe auf Wohnviertel 2007 sogar auf 100 Millionen Euro erhöht worden. Er- (C) in Mogadischu stattfanden, über 400 000 Menschen aus kannt und unstrittig ist, dass ein wesentlicher Teil der der Stadt vertrieben wurden und überlebensnotwendige vom Schienengüterverkehr ausgehenden und subjektiv humanitäre Hilfe blockiert wurde. Lassen Sie mich an empfundenen Lärmbelastung aus dem Zusammenwirken dieser Stelle sagen, dass meine Fraktion von der Bundes- herkömmlicher Graugussbremssohlen mit dem Rad- regierung erwartet, sich bei der EU dafür einzusetzen, Schiene-System im Bereich der Güterwagen resultiert. dass Verletzungen des humanitären Völkerrechts schnellstmöglich untersucht und Täter zur Rechenschaft Wir kennen also die Ursache. Sie zu bekämpfen, muss gezogen werden. daher oberste Priorität haben. Und wir wissen, wie es ge- hen kann. Mit dem Einsatz moderner Verbundstoffbrem- Für uns steht fest: Es darf keine Militärmission ohne sen, den sogenannten K-Sohlen können die Rollgeräu- breite Zustimmung in Somalia geben. In dieser Logik sche von Güterwagen spürbar gesenkt und in der liegt auch die Forderung nach einem Abzug der Äthio- Wahrnehmung nahezu halbiert werden. pier. Das Gegenargument des Sicherheitsvakuums ist da- bei nicht unbedingt einleuchtend, da die äthiopische Prä- In der ersten Konsequenz sind auf europäischer senz ein wesentlicher Teil des Problems ist. Solange die Ebene über die TSI Noise Grenzwerte für neue breite Zustimmung für eine ausländische Friedensmis- Güterwagen eingeführt worden, mit denen der Einsatz sion fehlt, halte ich die kürzliche Zusage der NATO, von K-Sohlen oder vergleichbar lärmarmer Technik bei Lufttransport von Truppen für AMISOM zur Verfügung Neufahrzeugen obligatorisch wird. Diese Entscheidung zu stellen, für verfrüht. Ich fordere die Bundesregierung der Kommission war zweifellos gut, löst allerdings das auf, ihren Einfluss geltend zu machen, damit der UN-Si- Problem der Nachrüstung des vorhandenen Fahrzeugbe- cherheitsrat nicht vor der Zeit eine UN-Mission für So- standes nicht. Allein im deutschen Bestand sind das malia erwägt, sondern sich erst um eine Zustimmung al- circa 40 000 Güterwagen mit einer mittleren Laufzeit ler Somalis bemüht. von 40 Jahren. Aber nationale Insellösungen machen letztlich keinen Sinn, weil die Güterwagen im internatio- Ich meine, dass die Intransigenz der Übergangsregie- nalen Verkehr eingesetzt werden. Wir haben europaweit rung derzeit das größte Friedenshindernis ist. Wir müs- Handlungsbedarf und brauchen ein Anreizsystem, das sen unsere Anstrengungen intensivieren, diese zu durch- die schnelle Nachrüstung interessant macht. brechen. Mit dem Antrag der Koalitionsfraktionen fordern wir die Bundesregierung daher auf, im Rahmen ihrer EU- Anlage 5 Ratspräsidentschaft darauf hinzuwirken, dass die auf (B) europäischer Ebene eingeführten lärmreduzierten Grenz- (D) Zu Protokoll gegebene Reden werte für neue Güterwagen auch von Bestandsgüter- zur Beratung der Beschlussempfehlung und des wagen schnellstmöglich eingehalten werden, damit Berichts zu den Anträgen: Bestandsgüterwagen schnell mit modernen Verbund- stoffbremsensohlen, K-Sohlen, ausgerüstet werden. Die – Schienenlärm ursächlich bekämpfen Bundesregierung ist angetreten, die nationalen Hausauf- – Lärmschutz im Schienenverkehr verbes- gaben zu machen. Dabei hat sie die volle Unterstützung sern – Marktwirtschaftliche Anreize nut- der Koalitionsfraktionen. Eine interministerielle Arbeits- zen, Schienenbonus überprüfen gruppe soll eingerichtet werden, die nicht nur auf die noch offenen Fragen um die Nachrüstung Antworten fin- – Aktionsprogramm gegen Schienenlärm auf den soll. den Weg bringen Wir fordern die Bundesregierung auf, im Rahmen der (Tagesordnungspunkt 18) geplanten interministeriellen Arbeitsgruppe zum Thema Lärmsanierung Schiene folgende Gesichtspunkte zu be- Enak Ferlemann (CDU/CSU): Der Güterverkehr rücksichtigen: auf der Schiene wächst. Diese positive Entwicklung im Vollzug der verkehrspolitischen Zielvorgabe „Mehr Ver- Erstens soll ein mögliches Lärmsanierungsprogramm kehr auf die Schiene“ ist gut. Gerade die Schiene ist ein wettbewerbsneutral sein und Bürokratie vermeiden, umweltfreundlicher und sicherer Verkehrsträger. zweitens sollen geeignete nationale Maßnahmen zur Nachrüstung von Verbundstoffbremsen an Güterwagen Leider hat diese Entwicklung aber auch eine Schat- mit deutschem und europäischen Recht vereinbar sein, tenseite, und zwar für diejenigen, die mit dem Problem drittens soll ein nach Lärmemissionen gespreiztes Tras- der wachsenden Lärmbelästigung konfrontiert sind. Das senpreissystem auf dem Verordnungsweg unter Anwen- sind die Anwohner, insbesondere an den Hauptstrecken. dung des Verursacherprinzips eingeführt werden. Vier- Erfreulicherweise hat die CDU/CSU geführte Bundes- tens. Es sollen mögliche Anreize für die Nachrüstung regierung das Problem schon beizeiten erkannt und zu von Verbundstoffbremsen an Güterwagen geschaffen seiner Lösung bereits deutliche Akzente gesetzt. Im werden und viertens sollen mögliche Anreize für die Haushaltsjahr 2006 sind die „Maßnahmen der Lärmsa- Nachrüstung von Verbundstoffbremsen an Güterwagen nierung an bestehenden Schienenwegen der Eisenbah- geschaffen werden. Schub wollen wir aber auch dadurch nen des Bundes“ von ursprünglich 50 Millionen Euro geben, dass die DB Netz AG ihre Möglichkeiten bei der auf 76 Millionen Euro und nunmehr im Haushaltsjahr Trassenpreisgestaltung nutzt. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10861

(A) Die Koalitionsfraktionen fordern die Bundesregie- wurde uns im vergangenen Monat bei einer Testfahrt in (C) rung daher auch auf, an die DB Netz AG heranzutreten. Bingen eindrucksvoll vorgeführt. Um bis zu 10 Dezibel Die DB Netz AG soll aufgefordert werden, ihr Trassen- können die Emissionen gesenkt werden. Dies bedeutet preissystem so zu gestalten, dass Lärmauswirkungen des die Halbierung des wahrgenommenen Lärms – enorm! Schienenverkehrs bei der Preisgestaltung berücksichtigt Deshalb bietet die Umrüstung des Güterwagenbestan- werden. des auf die lärmarmen K-Sohlen eine Chance, den Gü- Ich bin sicher, dass wir es auf dem beschriebenen terzuglärm kosteneffektiv und flächendeckend zu sen- Weg schaffen können, den Lärm an den Schienenwegen ken. Diese Chance wollen wir nutzen. Das macht zu mindern. allerdings nur bei einer einheitlichen Lösung für ganz Europa Sinn. Eine Förderung der Umrüstung nur auf na- Ich möchte Sie bitten, dem Antrag der Koalitionsfrak- tionaler Ebene ist zudem beihilferechtlich nicht unbe- tionen von CDU/CSU und SPD zuzustimmen. denklich. Die Bundesregierung wird sich bei der EU- Kommission dafür einsetzen, dass auf europäischer Heinz Paula (SPD): Aufgrund des zunehmenden Ebene eine Lösung gefunden wird, alle in Europa ver- Warenverkehrs nimmt der Güterverkehr stetig zu. Auch kehrenden Güterwagen mit K-Sohlen umzurüsten. Nur der Schienengüterverkehr steigt von Jahr zu Jahr an, so- so können die auf europäischer Ebene eingeführten dass sich der Modalsplit im vergangenen Jahr erstmalig Grenzwerte auch eingehalten werden. So steht es auch in zugunsten der Schiene verlagert hat. Dies begrüßen wir – Kapitel 7.4 des Anhangs zur TSI Noise. Ohnehin hat die so kommen wir unserem verkehrspolitischen Ziel näher, EU mit der TSI Noise im Dezember 2005 auf europäi- mehr Verkehr von der Straße auf die Schiene zu verla- scher Ebene Grenzwerte festgelegt, die die Ausrüstung gern. Der Verkehr auf der Schiene ist umweltfreundlich, von Neuwaggons mit K-Sohlen obligatorisch machen. sicher und zuverlässig. Die DB AG beschafft seit dem Jahr 2001 ausschließ- Er ist aber auch laut. Dies geht zulasten der Anwoh- lich Nutzfahrzeuge mit der Verbundstoffbremse. 3 100 ner. Der Lärm, der bei steigendem Verkehr von der sind schon im Einsatz und jährlich kommen neue dazu. Schiene ausgeht, mindert deshalb die Akzeptanz des Auch bei den Planungen für Neubaustrecken werden Schienenverkehrs in der Bevölkerung. Daher müssen Lärmschutzmaßnahmen mit einbezogen, die den Grenz- wir alle Lärmminderungspotenziale ausschöpfen, um die werten gerecht werden. Durch beide Maßnahmen wer- Lärmbelästigung der Bevölkerung deutlich zu reduzie- den die Lärmemissionen bereits heute hörbar gesenkt. ren. Der Verkehrsträger Schiene muss als zukunftsfähig Eine interministerielle Arbeitsgruppe beschäftigt sich anerkannt, er muss vor allem akzeptiert werden. mit dem Thema Lärmsanierung der Schiene. Dieser wer- (B) Die Bundesregierung hat deshalb im Februar dieses den mit unserem Antrag klare Aufträge zugewiesen. Sie (D) Jahres ein nationales Verkehrslärmschutzpaket aufge- wird über ein weiteres Lärmsanierungsprogramm disku- legt. Es bündelt laufende und neue Maßnahmen zum tieren. Sie wird sich mit der Vereinbarkeit von nationa- Schutze der Bevölkerung vor Verkehrslärm. Dabei kon- len Maßnahmen zur Nachrüstung von Güterwagen mit zentriert es sich vornehmlich auf die Vermeidung bzw. K-Sohlen mit deutschem und europäischem Recht ausei- Begrenzung des Lärms an der Quelle. Dies ist technisch nandersetzen. Sie wird über mögliche Anreize für die und ökonomisch sinnvoll. Die Vermeidung des Lärms an Nachrüstung nachdenken. Sie wird sich auch mit der der Quelle bedeutet einen erheblich geringeren Aufwand Einführung eines nach Lärmemissionen gespreizten und ist schneller und wirtschaftlicher einsetzbar. Trassenpreissystems auf dem Verordnungsweg beschäf- tigen; denn auch wir sind der Meinung, dass die durch Bereits 1999 hat die Bundesregierung ein Lärmsanie- Lärm entstehenden externen Kosten vom Verursacher rungsprogramm für bestehende Strecken aufgelegt. Da- getragen werden müssen. Zudem fordern wir die Bun- bei handelt es sich allerdings um ein Schienenwege- desregierung auf, bei der EU-Kommission darauf hinzu- Investitionsprogramm. Fördermaßnahmen für Fahrzeuge wirken, dass kurzfristig geeignete Maßnahmen ergriffen können damit bisher nicht finanziert werden. Für die werden, damit die auf europäischer Ebene eingeführten Schiene wurden mit diesem Programm bis 2005 jährlich Grenzwerte für neue Güterwagen auch von den Be- 50 Millionen Euro in die Lärmsanierung investiert. 2006 standsgüterwagen schnellstmöglich eingehalten werden. wurde es auf 75 Millionen und 2007 auf 100 Millionen Euro aufgestockt. Dies ist erledigt, liebe Kolleginnen Die K-Sohle ist eine Möglichkeit, den Schienenlärm und Kollegen der Grünen, hier läuft Ihr Antrag ins einzudämmen. Aber sie ist nicht die einzige. Die Be- Leere! kämpfung von Lärm umfasst eine Reihe von Einzelmaß- nahmen, die nur als Gesamtpaket ihre Wirksamkeit ent- Wir wissen, dass ein großer Teil des Schienenlärms falten können. Um alle Potenziale der Lärmminderung aus dem Zusammenwirken der herkömmlichen Grau- auszuschöpfen, bedarf es der Forschung! Deshalb hat die gussbremsen mit dem Rad-Schiene-System resultiert. Bundesregierung bereits mehrere Gutachten in Auftrag Graugussbremsen sorgen für Verriffelungen, das Rad gegeben. Zudem unterstützt sie einige Forschungspro- wird beschädigt, in Folge auch die Trasse. Dies ist die jekte Dritter finanziell. zentrale Ursache des Anstiegs der Geräuschemissionen. Zur Erforschung der Auswirkungen des Schienenver- Wissenschaftler haben nachgewiesen, dass der Ein- kehrslärms auf die Gesundheit des Menschen werden im satz moderner Verbundstoffbremssohlen, der K-Sohlen, Auftrag des BML gerade mehrere Studien erstellt. Lärm die Rollgeräusche von Güterwagen spürbar senkt. Dies wird immer subjektiv wahrgenommen, dennoch müssen 10862 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

(A) Grenzwerte festgelegt werden; denn schon jetzt gilt als nahmen auf den Weg gebracht. Wir unterstützen mit un- (C) gesichert, dass eine anhaltende hohe Lärmbelastung serem Antrag die Bemühungen – zugunsten der von Auswirkungen auf die Gesundheit hat. Lärm geplagten Bürgerinnen und Bürger. Das Umweltbundesamt betreut gerade die Bell-Stu- die, eine Studie zur Lärmwirkung. Sie beschäftigt sich Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Es ist wieder mit lärmbasierten Belästigungen und Auswirkungen des einmal bezeichnend, dass die große Koalition ständig Lärms auf das Schlafverhalten. Im Rahmen des Gutach- um Verschiebung unseres Antrags zum Schienenlärm tens wurden in unterschiedlichen Belastungsklassen sta- vom 15. Februar 2006 im Ausschuss gebeten hat und tistisch auswertbare Befragungen konzipiert. Es gab dann, nach erst 15 Monaten, im Mai dieses Jahres einen Komplikationen bei den Berechnungsverfahren, daher eigenen Antrag zu diesem Thema vorlegt. Wir wären ja verzögert sich der Abschluss des Gutachtens. Auf zufrieden, wenn dieser Antrag nach einer solch langen Grundlage dieses Gutachtens werden die Grenzwerte des Entstehungsphase wenigstens auf die entscheidenden BImSchG auf den Prüfstand gestellt und gegebenenfalls Probleme einginge und konkrete Möglichkeiten aufzei- angepasst. gen würde, welche den lärmgeplagten Anwohnern tat- Im Rahmen der Ressortforschung des BMVBS stehen sächlich kurz- bis mittelfristig helfen würden. Dies je- mehrere Forschungsvorhaben an. Angemeldet ist ein doch ist nicht der Fall. Ihr Antrag beinhaltet Gutachten zur Erfassung und Bewertung der Kumulation unverbindliche Forderungen und Bekräftigungen ohne- von Lärm an Bundesfernstraßen und Schienenwegen der hin bereits beschlossener Maßnahmen. Es ist keine Be- Eisenbahnen des Bundes. Die Ergebnisse dieses Gutach- reitschaft zu erkennen, die vorhandenen Güterwaggons ten werden der weiteren technologischen Entwicklung in das Lärmsanierungsprogramm aufzunehmen. zur Vermeidung von Lärm dienen. Angemeldet ist eben- Ich kann darin auch keinen Hinweis finden, wie man falls ein Forschungsvorhaben zu Schall- und Erschütte- mit dem überholten Schienenbonus für Lärm umgehen rungsmessungen zur Erprobung eines neuartigen einge- will. In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass die schäumten Schotteroberbaus. Im Rahmen der eben Festlegung des Schienenbonus auf sozialwissenschaftli- erwähnten interministeriellen Arbeitsgruppe steht die chen Studien beruht, die Ende der 70er-Jahre/Anfang der Auswahl eines Gutachters bevor, der offene Fragen zu 80er-Jahre erstellt wurden. Vor dem Hintergrund des der Umrüstung der Güterwagen auf K-Sohlen klären Schienenverkehrs und neuer Betriebsformen wie dem soll. Ein Gutachten zu Schallberechnungsverfahren im Hochgeschwindigkeitsverkehr oder dichterer Zugfolgen Rahmen von Schall 03 ist bereits abgeschlossen, ein stellt sich die sehr ernsthafte Frage, ob die damals er- weiteres zur Überprüfung von EDV-Programmen zur Umsetzung der Schall 03 ist angemeldet. langten Wertungen nach heutigen Erkenntnissen noch (B) zeitgemäß sind. Auch wenn Studien jüngeren Datums (D) Die Entwicklung lärmarmer Komponenten ist Auf- auf eine Vergleichbarkeit der Schienenlärmsituation zwi- gabe der Bahnindustrie. Dennoch unterstützt die Bun- schen damals und heute hinweisen, ist es zum Schutz der desregierung – namentlich das BMWi – auch hier einige Bevölkerung vor vermeidbarem Lärm dringend erforder- Forschungsvorhaben finanziell. So soll die Vergabe ei- lich zu prüfen, ob die Anwendung des Schienenbonus nes Projektes zur Entwicklung von Maßnahmen für ei- gemäß Anlage 2 zu § 3 der 16. Bundes-Immissions- nen leisen Zug auf realem Gleis (LZarG) noch in diesem schutzverordnung noch gerechtfertigt ist. Es lässt sich Jahr stattfinden. Dabei geht es um die Entwicklung ge- doch nur glaubhafte Politik machen, wenn man aus tat- räuscharmer Komponenten sowohl am Fahrzeug als sächlichem Wissen entscheidet und sich nicht auf veral- auch am Oberbau. Diese Maßnahmen sollen die Emis- tete Untersuchungen verlässt. Der Schwachpunkt Ihres sionen noch einmal um 7 Dezibel gegenüber den Anfor- Antrags ist, dass Sie das Problem zwar erkannt haben, derungen von TSI Noise senken. aber keine Lösung anbieten. Hier wird nur auf die Er- Im EU-Verbundvorhaben Silence werden Schienen- gebnisse von Arbeitsgruppen und Gutachten verwiesen. stegdämpfer überprüft. Kleine Resonanzkörper, die in Kurz gesagt: Es fehlt Substanz und Hilfe für die vom eine Kunststoffmasse eingebettet sind, werden beidseitig Lärm Betroffenen. Dabei gibt es Möglichkeiten, wie das an den Schienensteg montiert. In Gersthofen bei Augs- Problem des Schienenlärms, welcher größerenteils durch burg betreibt die DB AG dazu einen Versuchsabschnitt. den Güterschienenverkehr verursacht wird, angegangen werden kann. Im Zuge des Forschungsvorhabens SchleiV wird ein neues Schleifverfahren entwickelt, das eine schnelle und Sie stellen zu Recht fest, dass der wahrgenommene regelmäßige Pflege der Schienen ermöglicht. Die Lärm nahezu halbiert werden kann, wenn die Waggons Arbeitsgeschwindigkeit soll 120 Kilometer pro Stunde von der herkömmlich verwendeten Graugussbremssohle betragen. So können die Fahrzeuge im Fahrplan mit- auf die sogenannte K-Sohle umgerüstet werden. Die schwimmen und verursachen nur sehr geringe Betriebs- neuen K-Sohlen können den Lärm um bis zu 15 dB (A) störungen. reduzieren. Darüber hinaus sollten in Deutschland auch leisere Loks und Drehgestelle zum Einsatz kommen, wie Nicht zuletzt wird die Erhöhung der Wirksamkeit von sie beispielsweise mit Erfolg schon in Österreich und der Lärmschutzwänden durch speziell geformte Oberkanten Schweiz zur Anwendung kommen. Die Erhöhung der überprüft. Fördermittel für „Maßnahmen der Lärmsanierung an be- Sie sehen, die Bundesregierung ist auf einem guten stehenden Schienenwegen der Eisenbahnen des Bundes“ Weg. Sie hat eine Reihe wichtiger und nützlicher Maß- war zumindest ein richtiger Schritt. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10863

(A) Ein besonders Augenmerk gilt aber weiter dem Lärm- den Lärm zwar. Lärmschutzfenster wirken aber nur (C) schutz an der Quelle. Hinzu kommt, dass etwa nur die dann, wenn sie geschlossen sind – und wer will den Hälfte der auf dem deutschen Schienennetz fahrenden Sommer schon drinnen bei geschlossenen Fenstern ver- Güterwaggons der Railion gehört. Die zweite Hälfte be- bringen? Zweitens können und werden Lärmschutz- findet sich im Besitz anderer in- und ausländischer Wag- wände nicht lückenlos gebaut. Im Rheintal ist es sehr gonvermietungsgesellschaften. Wie marktwirtschaftli- eng. Dort verschandeln Lärmschutzwände auch Land- che Konzepte genutzt werden können, um einen Anreiz schaft und Orte. für Lärmminderungsmaßnahmen zu geben, macht uns Deswegen begrüßen wir es, dass auch die Koalition die Schweiz vor. Dort wurde ein unbürokratisches Sys- langsam erkennt, dass es eine viel bessere, billigere und tem einer lärmabhängigen Trassenpreisdifferenzierung schnellere Lösung gibt, den Schienenlärm deutlich zu re- eingeführt und etabliert. Auch in Deutschland könnte der duzieren. Die Umrüstung von Güterwagen mit der soge- Einsatz leiserer Fahrzeuge der Höhe der Trassenpreise nannten K-Sohle reduziert den entstehenden Lärm um nach den Bestimmungen der Eisenbahninfrastruktur-Be- 10 Dezibel. Wegen der langen Lebensdauer von mindes- nutzungsverordnung berücksichtigt werden. Nach § 21 tens 30 Jahren würde die natürliche Erneuerung der über Abs. 2 Satz 1 Eisenbahninfrastruktur-Benutzungsverord- 130 000 älteren Güterwagen sehr lange dauern – zu nung kann das Wegeentgelt einen Entgeltbestandteil um- lange, wenn ich an die Menschen im Rheintal und an- fassen, der den Kosten umweltbezogener Auswirkungen derswo denke. des Zugbetriebs Rechnung trägt. Danach wäre ein emis- sionsabhängiges Trassenpreissystem mit dem Kriterium Deswegen müssen die vorhandenen Güterwagen um- Lärm gesetzlich möglich. Denn die Zuständigkeit liegt gerüstet werden. Die Kosten betragen etwa 600 Millio- bei dem Betreiber der Eisenbahninfrastruktur. Die DB nen Euro, das ist nur ein Viertel der Kosten der Lärm- Netz AG nutzt die gesetzlichen Spielräume jedoch nicht, sanierung. Denn selbst mit den 100 Millionen Euro, die und es ist somit erforderlich, dass § 21 Abs. 2 Satz 1 Ei- jetzt jährlich zur Verfügung stehen, würde es 20 Jahre senbahninfrastruktur-Benutzungsverordnung von einer dauern, bis das Lärmsanierungsprogramm abgeschlos- Kann- in eine Mussvorschrift geändert wird. sen wäre. Nur durch ein schnelles Handeln und eine konse- Ich freue mich im Übrigen, dass die Koalition unseren quente Umsetzung der von mir angesprochenen Punkte Antrag zum Bundeshaushalt 2007 aufgegriffen hat und wird es mittel- bis langfristig möglich sein, die Lärm- die Erhöhung der Mittel beschlossen hat. Wir hatten al- emissionen für die Betroffenen auf ein erträgliches Maß lerdings auch gefordert, dass daraus auch die Umrüstung zu senken. Deshalb appelliere ich noch einmal an Sie: von Güterwagen gefördert wird. Darin sind Sie uns lei- Haben Sie den Mut zur Umsetzung eines nachhaltigen der nicht gefolgt. (B) Lärmschutzes auf breiter Basis, und sprechen Sie nicht (D) Eine einzige Einschränkung gibt es: 85 Prozent der nur leere Worte. Güterwagen eines Zuges müssen mit der K-Sohle ausge- stattet sein, um eine wirkliche Lärmentlastung zu brin- Lutz Heilmann (DIE LINKE): Wer schon einmal im gen. Deswegen muss ein Förderprogramm so ausgestat- Rheintal war, weiß, dass Schienenlärm eine wirkliche tet werden, dass spätestens innerhalb von zehn Jahren Belastung für die Menschen sein kann. 400 000 Men- alle Güterwagen umgerüstet sind. Das ist machbar, ohne schen haben sich dort in verschiedenen Bürgerinitiativen dass der Schienengüterverkehr zusammenbrechen zusammengeschlossen, um mehr Lärmschutz zu errei- würde. Und davon würden die Anwohnerinnen und An- chen. Es reicht nicht aus, diesen Menschen zu sagen, wohner aller Schienenstrecken profitieren, nicht nur die, dass der Schienenverkehr umwelt- und vor allem klima- die an besonders belasteten Strecken wohnen. freundlich ist. Nein, wir müssen dafür sorgen, dass diese Menschen nachts wieder ruhig schlafen können. Sonst Gerade im Rheintal fahren viele ausländische Eisen- sagen sie irgendwann – einige tun das leider schon bahnverkehrsunternehmen. Deswegen begrüßen wir ein heute: Weg mit dem Schienenverkehr. – Das wäre aber EU-weit abgestimmtes Vorgehen. Allerdings sind 80 Pro- definitiv die falsche Lösung. Der Lärm würde dann nur zent der in Deutschland verkehrenden Güterwagen für an die Straßen oder die Flughäfen verlagert. nationale Bahnunternehmen unterwegs. Und weiterge- hende nationale Anstrengungen sind zulässig – das ha- Während es für neue Strecken immerhin Lärmschutz- ben wir von Herrn Großmann schriftlich. anforderungen gibt, gilt dies nicht für bestehende Stre- cken – wie die im Rheintal, wo schon seit 1859 Züge rol- Deswegen enttäuscht der Koalitionsantrag letztlich len. doch. Sie wiederholen nur das, was Herr Tiefensee be- reits verkündet hat. Warum schreiben Sie der Bundes- Mit dem Lärmsanierungsprogramm des Bundes wur- regierung nicht ins Stammbuch, dass sie schnellstmög- den seit 1999 erst 360 Kilometer Schienenstrecken lärm- lich ein nationales Förderprogramm auflegen soll? saniert – durch Lärmschutzwände und den Einbau von Lärmschutzfenstern. Das sind 10 Prozent der gesamten Natürlich müssen dabei EU-rechtliche Bestimmungen Strecken, die lärmsaniert werden sollen – und nur eingehalten werden. Ich glaube aber nicht, dass diese 1 Prozent aller Schienenstrecken in Deutschland. Förderung den Beihilfetatbestand erfüllen würde. Die Bahnunternehmen hätten doch keinen Vorteil davon – Auch deswegen ist der Widerstand der Menschen selbst bei einer 100-Prozent-Förderung. Denn nicht sie, nicht weniger geworden. Aber auch aus anderen Grün- sondern die Anwohnerinnen und Anwohner würden von den: Diese passiven Lärmschutzmaßnahmen mindern dem geringeren Lärm profitieren. Dies könnte sich aller- 10864 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

(A) dings ändern, wenn – wie es eine breite Allianz hier for- Nachtschlafs durch den Schienenlärm untersuchen. Auf (C) dert – lärmabhängige Trassenpreise eingeführt werden. der Grundlage aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse Dann würden umgerüstete Güterwagen finanziell profi- sollten schnellstmöglich neue gesetzliche Regelungen tieren. und Grenzwerte für Lärmemissionen im Schienenver- kehr sowie Lärmgrenzwerte für Schienenfahrzeuge per Nicht, dass Sie mich falsch verstehen. Ich habe nichts Rechtsverordnung nach § 38 Abs. 2 BImSchG geschaf- gegen lärmabhängige Trassenpreise als zusätzlichen An- fen werden. Auch ist der als „Schienenbonus“ bezeich- reiz. Ich befürchte aber, dass einige dadurch die Kosten nete Abschlag von 5 dB(A) für den Schienenverkehr als für die Umrüstung auf die Bahnunternehmen abwälzen Sondertatbestand bei der Lärmbewertung zu prüfen. Ge- wollen, um dem Bund zusätzliche Ausgaben zu erspa- rade an hochfrequentierten Schienengüterstrecken wie ren. Dies ist aber der falsche Weg. Die etwa 600 Millio- der Rheintalstrecke ist der Schienenbonus so nicht mehr nen Euro – wohlgemerkt verteilt über zehn Jahre – wä- zu rechtfertigen. Wir fordern eine umfassende Prüfung ren wirklich gut angelegt. und bis zu dem Zeitpunkt, an dem Ergebnisse vorliegen, Die lärmgeplagten Menschen würden es Ihnen dan- eine differenzierte Anwendung. ken. Nachdem es die Koalition also nach langem Anlauf geschafft hat, ein Lärmsanierungsaktionsprogramm und Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): einen eigenen Antrag vorzulegen, durfte man gespannt Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hatte vor nunmehr auf den Inhalt sein. einem Jahr einen Antrag zum besseren Schutz vor Schie- Dennoch wurde man enttäuscht, der Antrag der Ko- nenlärm eingebracht. Die FDP war sogar noch ein biss- alitionsfraktionen beinhaltet wenig Neues, wenig Kon- chen früher. Die Koalition hielt die Beratung beider An- kretes und legt den Schwerpunkt auf die Aufzählung be- träge mehr als zehn Sitzungswochen lang auf, weil sie reits durchgeführter Maßnahmen. Vor allem auf die lange Zeit selbst keine konkreten politischen Vorhaben Frage, wie man zukünftig mit dem stetig zunehmenden in dieser Sache vorweisen konnte – abgesehen davon, Problem des Schienenlärms, vor allem an den Hot spots, dass sie die Mittel für die Lärmsanierung an Schienen- umgehen wolle, bleibt der Antrag die Antwort schuldig. wegen aufgestockt hat. Wichtiger aber ist der aktive Wir sind der Auffassung, dass die Probleme nur im Dia- Lärmschutz. Wir müssen den Lärm da bekämpfen, wo er log mit den Anliegern der betroffenen Schienenwege ge- entsteht, am rollenden Material, an den Schienen und löst werden können. Dies ist aus gesundheits- und um- Waggons. weltpolitischer Sicht bedeutsam, denn eine Politik der Deshalb haben wir in dem Antrag die Bundesregie- Verlagerung des Verkehrs auf die Schiene ist zum Schei- (B) rung aufgefordert, ein Förderprogramm des Bundes für tern verurteilt, wenn der Schienenverkehr von den An- (D) die Umrüstung des rollenden Materials im Schienenver- wohnern nur als unzumutbare Belästigung empfunden kehr (Einbau von K-Sohlen) aufzulegen und dieses In- wird. Der Koalition gelingt es nicht, die Deutsche Bahn vestitionsprogramm diskriminierungsfrei zu gestalten. AG dazu zu veranlassen, endlich lärmabhängige Tras- Weil die Züge im Binnenmarkt durch ganz Europa rol- senpreise einzuführen. Auch werden schnelle und len, müssen wir Regelungen finden für ausländische umfassende Investitionen in das rollende Material nicht Züge und uns dafür einsetzen, dass EU-weit ein Umrüs- vorgenommen, stets mit dem Hinweis, es gäbe europa- tungsprogramm für die lärmarme K-Sohlen-Bremse auf- rechtliche Bedenken. Wir können dies nicht akzeptieren, gelegt wird. Brüssel hat die Vorgaben für neue Züge ver- denn es gibt Mittel und Wege – und andere europäische schärft, indem Lärmgrenzwerte vorgeschrieben werden, Länder machen uns das vor –, wie man eine diskriminie- aber nur für Neuwagen oder wesentlich umgebaute Wa- rungsfreie und EU-kompatible Lösung findet. gen. Gegenüber den zahlreichen Bürgerinitiativen entlang Der Bund muss als Eigentümer die DB Netz AG dazu der Rheinstrecke, an der wahrscheinlich mehr als 1 Mil- veranlassen, die bestehenden gesetzlichen Möglichkei- lion Menschen vom Schienenlärm belästigt werden, ver- ten zu nutzen und lärmbezogene Trassenpreise einzufüh- künden die ansässigen Abgeordneten von CDU und SPD ren. Wenn die Bahn dies verweigert, muss der Bund eine mit schöner Regelmäßigkeit, alles würde anders. Ihre gesetzlich verpflichtende Regelung zu lärmbezogenen Berliner Politik sieht nicht danach aus. Trassenpreisen schaffen.

Wir begrüßen, dass das Lärmsanierungsprogramm Anlage 6 des Bundes deutlich aufgestockt wurde. Gleichwohl gibt es hier ein Mittelabflussproblem, das Sanierungspro- Zu Protokoll gegebene Reden gramm kommt nicht schnell genug voran. Auch gibt es Klagen über die DB AG, sie würde zu viel von den Mit- zur Beratung des Antrags: Die Schaffung einer teln für die Programmabwicklung in die eigene Tasche Europäischen Privatgesellschaft forcieren (Ta- stecken. Der Bund muss die Erkenntnislage zu den Ge- gesordnungspunkt 17) sundheitswirkungen des nächtlichen Lärms verbessern und die schon länger angekündigte Studie zu den Aus- Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Was Deutschland wirkungen des Schienenverkehrslärms auf die Gesund- im letzten Jahr im Fußball verwehrt geblieben ist, hat es heit vorlegen sowie neue Forschungsvorhaben fördern, im Bereich des Exports erreicht: Deutschland ist Welt- die die gesundheitlichen Belastungen vor allem des meister. Der Wert der ausgeführten Waren ist 2006 ge- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10865

(A) genüber dem Vorjahr um 13,7 Prozent auf 894 Milliar- Kommission eine Untersuchung durchführte, ob eine (C) den Euro gestiegen. Den größten Anteil an diesen derartige europäische Gesellschaftsform tatsächlich für Ausfuhren haben immer noch mit deutlichem Abstand klein- und mittelständische Unternehmen nutzbringend die übrigen EU-Mitgliedstaaten: Insgesamt 556,1 Mil- sei. Die Ergebnisse der Voruntersuchung waren alles an- liarden Euro machen die Ausfuhren in diese Länder aus. dere als euphorisch. Etwa 2 000 Unternehmen wurden Die erfolgreiche Wirtschaftspolitik der großen Koalition mit der Frage konfrontiert, ob sie ein derartiges europäi- zeigt ihre Wirkung. Die positive Entwicklung auf dem sches Statut auch in der Praxis nutzen würden. 80 Pro- Arbeitsmarkt unterstreicht dies zudem eindrucksvoll. In zent der Befragten lehnten dies ab. Deutschland geht es wieder bergauf. Sicherlich sind 2 000 Unternehmen auf die gesamte Anlässlich dieser Zahlen mag es schon ein wenig ver- Europäische Union verteilt nur bedingt als repräsentativ wundern, wenn die FDP in ihrem Antrag davon spricht, anzusehen. Interessanter sind in diesem Zusammenhang dass die deutsche Wirtschaft die Vorteile des Binnen- die Antworten auf die Frage, welche Maßnahmen sich marktes nicht voll nutzen kann. Anscheinend konnte die Unternehmer alternativ vorstellen könnten. Dass es noch nicht einmal das deutsche Gesellschaftsrecht ver- grenzüberschreitende Mobilitätsprobleme gibt, wird hindern, dass wir Exportweltmeister werden. auch von Ihnen nicht bestritten, aber die Lösungs- vorschläge sehen eben keine neue Gesellschaftsform Wenn wir über die Stärkung unserer heimischen mit- vor, sondern bevorzugen eher Regelungen für das telständischen Wirtschaft für den Export sprechen, dann Verschmelzen und zur Harmonisierung der Sitzverlage- möchte ich dabei einen Artikel nicht außen vor lassen: rung. die deutsche GmbH. Gerade hat das Gesetz zur Moder- nisierung des GmbH-Rechts das Bundeskabinett pas- Das Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts siert. Ziel dieser Novelle ist es, die GmbH nicht nur für beseitigt hier eine Hürde, nämlich die bestehende Un- Unternehmen aus Deutschland attraktiv zu machen, son- gleichbehandlung der GmbH gegenüber anderen euro- dern gleichfalls europaweit als eine überzeugende Alter- päischen Gesellschaften im Hinblick auf die Sitzverlage- native insbesondere zur englischen Gesellschaftsform rung. Darf eine Limited ihren effektiven Verwaltungssitz der Limited anzubieten. auch in einem Land außerhalb Englands nehmen, ist diese Möglichkeit einer deutschen GmbH zum jetzigen Viele Kleinunternehmen und in besonderer Zahl Exis- Zeitpunkt verwehrt. Das MoMiG schafft nun Wettbe- tenzgründer haben den Weg aus dem deutschen Gesell- werbsgleichheit zu gleichwertigen europäischen Gesell- schaftsrecht gewagt und dabei Kontinentaleuropa verlas- schaftsformen, indem die Hauptverwaltung in einem sen. Dabei wurde auch schon einmal von Kanzleien mit Land ihren Sitz haben darf, der nicht mit dem im Gesell- der Hilfestellung für die Gründung einer „EU-GmbH“ schaftsvertrag gewählten Sitz übereinstimmen muss. Die (B) geworben, obwohl es sich dabei lediglich um eine engli- (D) GmbH wird somit flexibler einsetzbar und passt sich da- sche Limited handelte. Glücklicherweise hat die Recht- mit heutigen Anforderungen an eine moderne Gesell- sprechung diesem Geschäftsgebahren ein wenig Einhalt schaftsform an. Der nationale Rahmen des Gesell- geboten. Allein im Jahr 2005 sollen es 12 000 deutsche schaftsrechts wird so gestärkt. Unternehmer gewesen sein, die als Gesellschaftsform die Limited wählten. Auch in einem anderen Punkt sprechen Sie nicht das Diesen Trend müssen wir umkehren und die deutsche aus, was Sie wirklich wollen. Zwar führen Sie in ihrem GmbH nicht nur attraktiver für den eigenen Markt ma- Antrag aus, dass sich die Verhandlungen um das Statut chen, sondern gleichfalls für die anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gesellschaft vorwiegend auf Fragen der Europäischen Union. Interessanterweise hält sich die des Gesellschafsrechts konzentrieren sollen. Aber damit FDP in ihrem Antrag bedeckt, wie genau die Europäi- drücken Sie sich zugleich um die Frage, wie Sie es denn sche Gesellschaft aus ihrer Sicht verfasst sein sollte. mit den Mitbestimmungs-, Unterrichtungs- und Anhö- Wollen Sie lieber das deutsche Gesellschaftsrecht als rungsrechten der Arbeitnehmer in der neuen Europäi- Maßstab für die Schaffung der neuen Europäischen Ge- schen Gesellschaft halten wollen. sellschaft nehmen oder favorisieren Sie das angelsächsi- Hier möchten Sie sich anscheinend lieber nicht den sche Modell? Entsprechende Aussage vermisse ich in Ih- Mund verbrennen, sondern überlassen dies geflissentlich rem Antrag. der Regierung. Es ist doch nun wirklich etwas dünn, le- Die deutsche GmbH haben sich viele andere Länder diglich einen Antrag zu formulieren, der sich darin er- als Vorbild für ihre Gesellschaftsstatuten genommen. schöpft, die Bundesregierung aufzufordern, bei der EU- Durch das Modernisierungsgesetz passen wir die GmbH Kommission Druck zu machen, ohne genauer zu formu- den Anforderungen unserer Zeit an und machen sie da- lieren, in welcher Hinsicht der Druck ausgeübt werden mit in ganz Europa wieder konkurrenzfähig. Dies sollten soll. Es geht doch auch Ihnen nicht allein darum, ir- wir dann allerdings genauso offensiv nach außen verkau- gendeine europäische Gesellschaftsform zu installieren; fen. vielmehr haben sie – das hoffe ich zumindest – klare Vorstellungen darüber, wie diese Gesellschaft aussehen Die Begeisterung für eine Europäische Privatgesell- soll. Ihrem Antrag kann ich da leider nichts entnehmen. schaft erstreckt sich keineswegs über die ganze Europäi- Ansonsten darf ich mich aber als Koalitionsfraktion über sche Union. Zu einem überraschenden Ergebnis kommt das weite Mandat bedanken, das sie hier der Regierung nämlich eine Machbarkeitsstudie des französischen Be- mit auf den Weg geben, und werde Sie bei späteren De- ratungsbüro AETS, das im Auftrag der Europäischen batten gerne darauf verweisen. 10866 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

(A) Die Europäische Aktiengesellschaft (SE) und die Eu- auf Dauer eine Anwaltskanzlei beschäftigen, die die je- (C) ropäische Genossenschaft (SCE) existieren bereits. Da- weilige Tochter gesellschaftsrechtlich am Laufen hält. her scheint es nur folgerichtig, kleineren und mittleren Überall ist beispielsweise anders geregelt, welche Be- Unternehmen ebenfalls die Möglichkeit einzuräumen, fugnisse der Geschäftsführer hat, wie die Bilanzen zu er- unter einem europäischen Dach zu firmieren. Das Euro- stellen sind, ob die Gesellschaft rücklagepflichtig, ob die päische Parlament hat bereits Anfang des Jahres die Gesellschafter entnahmeberechtigt oder ob die Ge- Europäische Kommission aufgefordert, noch in diesem schäftsführer insolvenzantragsverpflichtet sind. In je- Jahr einen Vorschlag für das Statut einer Europäischen dem Land muss gesondert geklärt werden, wie zu Ge- Privatgesellschaft vorzulegen. Dieses Anliegen können sellschafterversammlungen eingeladen werden muss, wir ohne Vorbehalte unterstützen. Aus unserer Sicht wie Gesellschafterbeschlüsse gefasst werden, wie Ge- reicht dies allerdings auch aus und es bedarf keines Ar- schäftsführer bestellt und abberufen werden, welche An- beitsauftrages an die Regierung, gegenüber der Kom- gaben auf Geschäftsbriefen stehen müssen usw. Das ist mission die Daumenschrauben anzusetzen, damit das ziemlich kompliziert. Das ist mit rechtlichen Risiken Vorhaben schneller vorankommt. verbunden. Und diese Kompliziertheiten und die Ver- meidung der Risiken sind aufwändig und teuer. Klaus Uwe Benneter (SPD): Um es ganz einfach zu Die Alternative dazu ist derzeit: Deutsche Unterneh- sagen: Wir unterstützen die Schaffung einer Europäi- men lassen sich mit GmbHs nach deutschem Recht in schen Privatgesellschaft. anderen Mitgliedsstaaten nieder. Die Rechtsprechung Gute Gründe sprechen dafür, dass viele solide, mittel- des Europäischen Gerichtshofs erlaubt dies ausdrück- ständische, international tätige Unternehmen in Deutsch- lich. Deshalb müssen wir zum Beispiel überlegen, ob land von einer solchen europäischen Gesellschaftsform und wie wir mit unserem GmbH-Recht auf die nach bri- enorm profitieren könnten. tischem Recht gegründeten und bei unseren Handelsre- gistern angemeldeten Limiteds reagieren wollen. Einen Beschluss, wie er mit dem Antrag der FDP ge- fordert wird, benötigen wir allerdings nicht. Weder muss Diese Alternative klingt zunächst gut: Unsere export- die Bundesregierung – wie die FDP fordert – dafür orientierten mittelständischen Unternehmen könnten Sorge tragen, dass die Europäische Kommission hier tä- doch auf diesem Wege die ihnen vertraute, gute, alte und tig wird. Denn die Europäische Kommission ist bereits bewährte GmbH ins europäische Ausland mitexportie- von dem dafür zuständigen Europäischen Parlament auf- ren. gefordert worden, bis Ende des Jahres einen entspre- Die Wahrheit aber ist: In der Praxis funktioniert es chenden Regelungsentwurf vorzulegen – und zwar mit eben nicht gut. Was in Deutschland vielleicht gesicherte (B) recht detaillierten Vorgaben. Die Bundesregierung unter- und ausgeklügelte GmbH-Rechtsprechung ist, weiß der (D) stützt diese Bemühungen ausdrücklich. Auch ein Bericht britische Richter oder auch der Richter in Estland nicht. – wie ihn die FDP will – der Bundesregierung an den Er hat schon Schwierigkeiten, sich ein GmbH-Gesetz in Bundestag über die Auswirkungen, die eine eventuelle seiner Sprache zu beschaffen, geschweige denn kann er europäische Regelung zur Schaffung einer europäischen einen Kommentar hinzuziehen: Er beurteilt den Gläubi- Privatgesellschaft hätte, wäre nicht recht weiterführend. gerschutz unter Umständen ganz anders, als die Unter- Erstens müsste ein solcher Bericht reichlich spekulativ nehmen in Deutschland das gewohnt sind, er unterstellt ausfallen, und zweitens wäre er auch folgenlos. die deutsche GmbH den nationalen Insolvenzantrags- pflichten, er beurteilt die Stellung des Geschäftsführers Trotzdem können wir heute im Bundestag natürlich anders, er sieht nationale Formvorschriften nicht ge- darüber sprechen, dass gesellschaftsrechtlicher Fort- wahrt, etc. schritt nicht nur auf nationaler, sondern auch auf europä- ischer Ebene möglich und anzustreben ist. Die Europäi- Unseren Richtern ginge es mit einer lettischen oder sche Privatgesellschaft ist hier ein gutes Beispiel. Sie bulgarischen GmbH auch nicht anders. Auch auf diese wäre eine gute Gesellschaftsrechtsform für mittelständi- Weise müssen also in jedem Tochterland Kanzleien gut sche Unternehmen, die ihre Geschäftstätigkeit über die beschäftigt werden. Vor allem aber: Eine deutsche nationalen Grenzen hinaus ausweiten. Diese Unterneh- GmbH im Ausland hat Akzeptanzprobleme. Das ist ganz men könnten mit der Europäischen Privatgesellschaft in klar. Kunden und Geschäftspartner reagieren auf eine ih- allen EU-Mitgliedsstaaten rechtsfähige Tochterunterneh- nen unvertraute Rechtsform unsicher und eher misstrau- men nach gleichem Muster bilden. Heute haben wir eine isch. Das geht uns mit einer ausländischen Gesell- solche Gesellschaftsrechtsform leider nicht. schaftsform nicht anders. Man kann sie schlecht einschätzen, man weiß nicht, wo man Informationen Daher haben deutsche mittelständische Unternehmen, über sie bekommt, wer richtigerweise für sie handelt, die im europäischen Ausland rechtsfähige Töchter in- wer am Ende haftet, ob sie ein Startkapital benötigt hat stallieren wollen, nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie oder nicht und wenn ja, in welcher Höhe. gründen in jedem Mitgliedsstaat die dort geregelte natio- nale „GmbH“, in Großbritannien also die Private Li- Die Europäische Privatgesellschaft wäre deshalb ge- mited Company, in Spanien eine „SL“, also eine Socie- nau für diesen Adressatenkreis eine gute Lösung. Die dad de Responsabilidad Limitada, in Frankreich eine Idee ist im Rechtsausschuss des Europäischen Parla- S.A.R.L., in Polen eine „sp. z. o. o.“, also eine „spölka z ments sehr gut aufgegriffen und näher ausgearbeitet ograniczon odpowiedzialnoscia“, usw. Was das bedeutet, worden: Die Europäische Privatgesellschaft soll nach ist klar: In jedem Land muss das deutsche Unternehmen diesen Vorstellungen eine solide Gesellschaftsform für Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10867

(A) einen geschlossenen Gesellschafterkreis sein, die euro- wir den Erhalt und die Schaffung von Arbeitsplätzen för- (C) parechtlich abschließend geregelt ist und deshalb mög- dern! lichst gar nicht auf nationales Recht verweist. Jeder Eu- ropäer kann dann durch einen Blick in die Europäische Ich möchte kurz umreißen, wie wir uns ein Statut für Verordnung und, ohne 27 nationale Gesetzessammlun- die Europäische Privatgesellschaft vorstellen: Wichtig gen zu sehen, verstehen, wie diese europäische Gesell- ist, dass sie einfach zu nutzen sein muss. Umständliche schaft aufgebaut ist und überall in Europa funktioniert. und langwierige Gründungsverfahren wären von vorn- Ein Unternehmen könnte dann in jedem Mitgliedsstaat herein der falsche Weg. Es sollte möglich sein, diese Un- rechtsfähige Tochterunternehmen nach gleichem Muster ternehmensform ohne jahrelange juristische Prüfung zu gründen, die in gleicher Weise aufgebaut sind, gelenkt nutzen. Denkbar ist hier eine Mustersatzung, ähnlich wie werden und agieren können. Für diese europäische Ge- in den Ideen zur GmbH-Reform. sellschaftsform könnte sich dann eine europäisch ein- Sinnvoll scheint mir eine weitgehend gesellschafts- heitliche Handhabung, Gesetzeskommentierung und rechtliche Lösung zu sein, die auf nicht zwingend not- Rechtsprechung herausbilden. wendige Verweise auf nationales Recht verzichtet. Da- mit würde für ganz Europa und damit alle europäischen Die Bundesregierung, das Bundesjustizministerium Unternehmen, die sich für die EPG entscheiden, ein na- unterstützen diese Idee. Der Parlamentarische Staatssek- hezu einheitliches und abschließendes Statut gelten. retär Alfred Hartenbach hat das soeben überzeugend dar- Dies fördert das gegenseitige Verständnis und Vertrauen gelegt. bei alltäglichen grenzüberschreitenden Geschäften. Deshalb, meine sehr geehrten Kolleginnen und Kolle- Im derzeitigen Stadium der Diskussion sehen wir eine gen von der FDP: Sie müssen weder uns noch die Bun- Notwendigkeit darin, das Statut vorwiegend auf die Klä- desregierung bei diesem Thema zum Jagen tragen! Wir rung gesellschaftsrechtlicher Fragen zu beschränken. haben den röhrenden Hirsch schon im Visier! Ziel sollte eine baldige Einführung der EPG sein – 20 Jahre weitere Diskussion wären hier ein falsches Si- Mechthild Dyckmans (FDP): Einige Meilensteine in gnal! Deswegen wäre die kurzfristige Vorlage eines Vor- der Debatte um die Einführung einer Europäischen Ge- schlags seitens der EU-Kommission ein wichtiger weite- sellschaft gibt es schon, angefangen von einem Entwurf rer Schritt. der Pariser Handelskammer im Jahre 1998 über Positio- Alle, die meinen, ein Statut der Europäischen Privat- nen der Europäischen Kommission bis hin zu Vorschlägen gesellschaft sei nicht machbar, weise ich auf die Mach- des Europäischen Parlaments vom Februar 2007. Alle ha- barkeitsstudie der Europäischen Kommission aus dem ben eines gemeinsam: Sie streben die Einführung einer (B) Jahr 2005 hin. Diese zeigte auf, dass die Lösung der be- (D) neuen europäischen Gesellschaftsform an – die Europäi- stehenden Probleme der kleinen und mittleren europäi- sche Privatgesellschaft, kurz EPG. schen Unternehmen bei grenzüberschreitenden Tätigkei- Es gibt bereits andere europäische Gesellschaftsfor- ten unter anderem in der Einführung der EPG liegen men, etwa die Europäische Gesellschaft und die kann. Auch das Europäische Parlament hat sich zwi- Europäische Genossenschaft. Diese können aber nicht schenzeitlich für die Einführung einer EPG ausgespro- von jedem europäischen Unternehmer genutzt werden. chen. So beträgt zum Beispiel das gezeichnete Kapital der Eu- Ich hatte Hoffnung, dass Frau Bundesjustizministerin ropäischen Gesellschaft – Societas Europeae – nach Zypries dieses Thema in Zeiten der deutschen Ratspräsi- Art. 4 der Verordnung über das Statut der Europäischen dentschaft etwas höher auf die Tagesordnung setzen und Gesellschaft 120 000 Euro. Gegründet werden kann schneller anschieben würde. Nur eine Konferenz in der diese Gesellschaft nur durch Umwandlung, Verschmel- kommenden Woche unter anderem zu diesem Themen- zung oder durch Gründung einer Holding- oder Tochter- komplex – zum Ende der deutschen Ratspräsidentschaft gesellschaft. Damit ist diese Gesellschaftsform gerade wohlgemerkt – ist meines Erachtens etwas wenig und für mittelständische und nicht im Konzern organisierte kommt auch zu spät für ihren Vorsitz. Kleine und mittlere Unternehmen nicht nutzbar oder geeignet. Unternehmen brauchen unsere Unterstützung. Beschrän- Es gibt aber die Notwendigkeit für eine europäische ken Sie Ihre Initiativen nicht nur auf strafrechtliche As- Gesellschaftsform, die gerade auch für mittelständische pekte und Fragen des Internationalen Privatrechts, son- Unternehmen konzipiert ist, die grenzüberschreitenden dern unterstützen sie deutsche Unternehmen bei Themen Geschäften nachgehen und den europäischen Binnen- wie der grenzüberschreitenden Sitzverlegung sowie der markt nutzen wollen; denn gerade der Mittelstand ist in Schaffung des Statuts der Europäischen Privatgesell- Deutschland die tragende Säule der Wirtschaft und der schaft. wichtigste Arbeitgeber. Es ist nicht nur wichtig – wie wir nicht müde werden zu fordern –, den Mittelstand zu un- Martin Zeil (FDP): Wenn ein kleines oder mittelstän- terstützen mit einer Senkung der Lohnnebenkosten und disches deutsches Unternehmen heute in einem anderen Steuerlast, der Befreiung von überflüssiger Bürokratie EU-Staat eine Tochtergesellschaft oder ein Joint Venture sowie einer Reform des verkrusteten Arbeitsrechts. Die gründen will, dann steht es beim Einsatz von nationalen Einführung der Europäischen Privatgesellschaft ist eine Rechtsformen vor vielen schwer lösbaren Fragen und ergänzende Stütze für europaweite Geschäftstätigkeiten Unwägbarkeiten: Soll die zu gründende Gesellschaft ih- unserer deutschen Unternehmen. Auch damit können ren Sitz im Heimat- oder im Gründungsland haben? 10868 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

(A) Entscheidet sich das Unternehmen für sein Heimatland, Wenn wir den europäischen Binnenmarkt befördern (C) weil ihm dies vertrauter, näher ist, könnte dies bei aus- wollen, dann müssen wir Alternativen zu dem schaffen, ländischen Geschäftspartnern auf Misstrauen stoßen, was derzeit oft nur unbefriedigend funktioniert. Es geht weil sie vermuten, es lediglich mit einer betrügerischen uns wohlgemerkt nicht darum, die existierenden nationa- Briefkastenfirma zu tun zu haben. len Rechtsformen zugunsten einer neuen europäischen Rechtsform abzuschaffen. Für rein nationale Vorhaben Auch wenn im Rahmen der Niederlassungsfreiheit werden die Unternehmer weiter ihre nationalen Rechts- Verwaltungs- und Registersitz auseinanderfallen kön- formen wählen. nen, so ist doch nicht eindeutig geklärt, wo die Grenze zwischen Heimatrecht der Gesellschaft und dem Recht Unser Anliegen ist es aber, eine Alternative gerade am Tätigkeitsort verläuft. Der Unternehmer begibt sich für die grenzüberschreitende Tätigkeit zu schaffen, die also in eine rechtliche Grauzone, was unter Umständen allen offensteht und allen die gleichen Chancen bietet. unangenehme Folgen für ihn haben kann. Die Unternehmen können frei entscheiden, ob sie von dieser neuen Möglichkeit Gebrauch machen wollen oder Warum ist das so? Es gibt eine Art „Gummiparagra- nicht. Die EPG kann und soll bei grenzüberschreitenden fen“, der es den Mitgliedstaaten erlaubt, ausländischen Gründungen in Konkurrenz zu den nationalen Rechtsfor- Gesellschaften Beschränkungen im Interesse des Gläubi- men treten, dann wird sich erweisen, ob sie diesen über- gerschutzes zu verordnen, „wenn sie geeignet und erfor- legen ist. Daran haben wir, wenn denn das Statut gut ge- derlich sind“. Diese Bestimmung kann man sehr restrik- macht und mit einer einfach zu übernehmenden tiv handhaben und damit einem ausländischen Mustersatzung kombiniert ist, wenig Zweifel. Unternehmen jede Menge Steine in den Weg legen. Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, dafür Auch im Falle der gerichtlichen Auseinandersetzung Sorge zu tragen, dass die Kommission möglichst bald gibt es Unsicherheiten. Selbst wenn ein Gericht das Hei- den Entwurf für ein EPG-Statut vorlegt. Sie haben schon matrecht der Gesellschaft akzeptiert, ist man keinewegs so oft davon gesprochen, dass Sie Hindernisse für die davor gefeit, dass es aus Unkenntnis das Heimatrecht Mobilität von KMU in der Europäischen Union beseiti- falsch auslegt. gen wollen, hier können Sie etwas dafür tun! Diese Art von Zufall ist nicht akzeptabel, weil sie den Wettbewerb verzerrt. Kleine und mittlere Unternehmen, Ulla Lötzer (DIE LINKE): Im Nebel sollte man lang- die grenzüberschreitend tätig werden wollen, brauchen sam fahren, auf keinen Fall das Tempo forcieren. Ebenso einen verlässlichen Rechtsrahmen. sind wir Abgeordnete gut beraten, bei nebulösen Anträ- gen sehr genau hinzuschauen. Die FDP möchte – das ist (B) Werden andererseits Unternehmensgründungen in ande- der Kernpunkt ihres Antrages – eine neue, einfach zu (D) ren Mitgliedstaaten nach dem dortigen Gesellschaftsrecht handhabende Rechtsform für kleine und mittlere Unter- vorgenommen, führt das in der Regel für die Unternehmen nehmen vorantreiben, die nur auf EU-Regelungen beruht zu einem erheblichen rechtlichen Beratungsbedarf, über und keine Verweise auf nationales Recht enthält. Der den sich zwar die Anwälte freuen, der die Betriebe aber Mittelstand soll – so lautet die Begründung – mit der neu teuer zu stehen kommt. Diese Kosten multiplizieren sich, zu schaffenden „Europäischen Privatgesellschaft“ die wenn ein Unternehmen in mehreren Staaten tätig werden Chance bekommen, kostengünstig und unbürokratisch will. grenzüberschreitend tätig zu werden. Klingt gut, aber Diese Probleme sollten und könnten durch die Euro- welche Folgen hätte diese sogenannte EPG? Welche ju- päische Privatgesellschaft, auch Europa-GmbH genannt, ristischen Risiken und welche ökonomischen Nebenwir- gelöst werden. Sie muss sicherstellen, dass Tochterge- kungen? Kein Wort von der FDP. Keine Abwägung. sellschaften in allen Mitgliedstaaten nach denselben Re- Kein Gefahrenhinweis. Im Nebel mögen Sie auf Ihren geln gegründet und geführt werden können und dass bei Glauben vertrauen, dass Unternehmen vom Recht und Joint Ventures keiner der beiden Geschäftspartner Start- seinen nationalen Besonderheiten möglichst unbehelligt vorteile aufgrund besserer Rechtskenntnisse hat. sein sollten. Wir hätten gern etwas mehr Licht und vor allem Antworten auf die naheliegenden Fragen. Wenn Um dieses Ziel zu erreichen, würde es Sinn machen, eine neue Unternehmensform geschaffen wird, die sich ein einheitliches europäisches Statut vorzulegen, das von im Wesentlichen auf Gemeinschaftsrecht gründet und allen genutzt werden kann. Wer sich dafür entscheidet, von nationalem Recht unberührt bleibt, dann ergeben befindet sich auf der sicheren Seite. Hat ein nationales sich Konsequenzen, die weit über den proklamierten Gericht aus Sicht des Unternehmers eine falsche Ent- Zweck, die Förderung des Mittelstandes, hinausgehen. scheidung getroffen, so wäre künftig der Rechtsweg zum Europäischen Gerichtshof eröffnet. Denn eine neue, auf Minimalanforderungen redu- zierte und dem nationalen Recht enthobene Unterneh- Man kann und muss in diesem Statut nicht alles re- mensform wird dem Missbrauch Tür und Tor öffnen. geln – dafür gibt es in Europa noch zu viele Unter- Erstens durch die nicht an der Börse notierten Großun- schiede, beispielsweise im Steuer- und Arbeitsrecht. ternehmen, die den komfortablen Rechtsstatus EPG für Aber man kann sehr wohl das Gesellschaftsrecht regeln sich entdecken werden. Zweitens durch das organisierte und damit den Rahmen schaffen, dessen es bedarf, um Verbrechen, das die minimalen Publizitätspflichten und Firmen im grenzüberschreitenden Geschäft nachhaltig eingeschränkten Kontrollmöglichkeiten dankbar anneh- zu entlasten und Rechtssicherheit zu geben. men wird. Drittens durch die Steuerhinterzieher, die ei- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10869

(A) nen neuen Verschiebebahnhof willkommen heißen. Und Allerdings darf die Europäische Gesellschaft nicht (C) viertens durch die Unternehmen, die das Sozial- und Ar- dazu missbraucht werden, Mitbestimmungsrechte auszu- beitsrecht ihrer Heimatländer loswerden wollen. hebeln. Deshalb sollten analoge Regelungen zu denen bei der Schaffung der Europäischen Gesellschaft Nun könnte man natürlich diese Gefahren eindäm- (SEEG) gelten. In großen GmbHs mit mehr als men, indem man die „Europäischen Privatgesellschaf- 500 Beschäftigten gilt die Mitbestimmung nach dem ten“ missbrauchsfester definiert. Sie, meine Damen und Drittelbeteiligungsgesetz, in Betrieben mit mehr als Herren von der FDP, müssten dann angeben, für welche 2 000 Beschäftigten das Mitbestimmungsgesetz. Kapitalgröße, welchen Umsatz, welche Beschäftigten- zahl die EPG in Anspruch genommen werden darf. Sie Fragwürdig ist die Notwendigkeit eines Stammkapi- könnten beispielsweise die nach wirtschaftlichen Krite- tals von 10 000 Euro. Für die britische Limited ist ein rien vorgenommene KMU-Defintion der EU als Rechts- Eurokapital notwendig. 10 000 Euro Stammkapital bie- norm vorschlagen. Nur was passiert dann mit den dyna- ten keine Sicherheit für Gläubiger. Kein Vertragspartner mischen Unternehmen, die aus dieser Definition weiß, ob zum Zeitpunkt eines Vertragsabschlusses das herauswachsen? Sie könnten außerdem die Transparenz Kapital noch vorhanden ist. Besser wären verschärfte der EPG verbessern, indem Sie Veröffentlichungen vor- Pflichten zur Offenlegung von Informationen über die schreiben und Kontrollorgane schaffen. Sie könnten für wirtschaftliche Situation eines Unternehmens. Das betrugsfeste Regeln der Besteuerung sorgen. Sie könnten würde die Sicherheit bei Vertragsschluss deutlich erhö- die Rechte der Mitarbeiter klären. Wie Sie es auch dre- hen. hen und wenden: Sie landen immer wieder bei der Not- wendigkeit, die EPGs in verträgliche Bahnen zu lenken Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der und an ein durchsetzungsfähiges Recht zu binden. Durch Bundesministerin der Justiz: „Die Schaffung einer Euro- die Hintertür kommt also das immer wieder rein, was sie päischen Privatgesellschaft forcieren“ – so lautet der Ti- loswerden wollen, das nationale Recht des jeweiligen tel des Antrags, über den wir hier sprechen. Dieser For- Unternehmenssitzes. Zu Recht kommt deshalb die derung kann ich nur mit Nachdruck zustimmen. Denn Machbarkeitsstudie, die im FDP-Antrag genannt wird, die Bundesregierung unterstützt bereits seit langem die zu dem Schluss, dass bei den EPGs das Verhältnis zwi- Schaffung einer solchen „Europa-GmbH“. Die Europäi- schen europäischem und nationalem Recht völlig unklar sche Privatgesellschaft würde es auch kleinen und mitt- ist. Insbesondere warnt diese Studie vor ungezügeltem leren Unternehmen ermöglichen, eine europäische Sozialdumping und verlangt eindeutig geregelte Arbeit- Rechtsform zu wählen. Und das bedeutet nicht nur, dass nehmerrechte. Und nicht zuletzt – auch das sagt die Stu- sie ihrer gesellschaftsrechtlichen Organisation einfach die – sind die EPGs zumindest dann, wenn sie nur recht- ein „europäisches Etikett“ aufkleben können. Eine euro- (B) liche Minimalanforderungen zu erfüllen haben, gegen päische Rechtsform eröffnet Unternehmen vielmehr (D) Betrug und Kriminalität nicht gewappnet. Wer über all neue und unbürokratische Chancen, ihr Engagement im diese Einwände hinweggeht, sie nicht einmal erwähnt, Ausland zu verstärken. Es entfällt die oftmals kosten- gibt sich als Ideologe zu erkennen, dem die Realität der und zeitaufwendige Notwendigkeit, hierfür stets eine Marktwirtschaft fremd ist. Wer nüchtern die Wirklich- Tochtergesellschaft zu gründen. keit zur Kenntnis nimmt, kann vor den Europäischen Privatgesellschaften nur warnen. Die Erfahrungen mit den bisher bestehenden europäi- schen Rechtsformen sind denn auch sehr gut. Nennen Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): möchte ich insbesondere die Europäische Aktiengesell- Wir unterstützen das Projekt der Schaffung einer Euro- schaft, auch unter dem Kürzel „SE“ bekannt. Diese päischen Privatgesellschaft, denn wir brauchen nach der Rechtsform steht seit Dezember 2004 für deutsche Ge- Europäischen Aktiengesellschaft (SE) die Europäische sellschaften zur Verfügung. Mehrere deutsche Unterneh- GmbH. Auch kleine und mittlere Unternehmen sollten men von Weltruf haben sich seitdem in eine SE umge- die Möglichkeit bekommen, eine von vornherein euro- wandelt oder planen dies ganz konkret. Ich erwähne hier paweit agierende Gesellschaft zu gründen. nur die Namen Allianz, BASF und Porsche. Dies zeigt, dass ein Bedürfnis für europäische Rechtsformen be- Wir würden gern von der Bundesregierung erfahren, steht. Und hierzu gehört eben auch eine Rechtsform für wie sie dieses Projekt, über das ja in der EU schon seit kleine und mittlere Unternehmen. längerem diskutiert wird, in der EU-Ratspräsidentschaft vorangetrieben hat. Außer einer Ankündigung im Feb- Wir haben uns daher in vielfältiger Weise für die ruar haben wir nichts gehört. Schaffung einer Europäischen Privatgesellschaft einge- setzt. Wiederholt hat Bundesministerin Zypries persön- Bei der Schaffung der Europäischen Privatgesell- lich das Kommissionsmitglied McCreevy auf die Fort- schaft sollten nicht die Fehler wiederholt werden, die bei schritte bei diesem Vorhaben angesprochen. der Europäischen Aktiengesellschaft gemacht wurden. In vielen schriftlichen Stellungnahmen der Bundesre- Wir brauchen Gründungsvoraussetzungen, die einfa- gierung gegenüber der Kommission, wie zum Beispiel che Gründungen erlauben und zugleich ausreichend zum Aktionsplan Gesellschaftsrecht, ist die Bedeutung Schutz der Gläubiger und Gläubigerinnen bieten. Dazu des Projekts immer wieder hervorgehoben worden. Und ist ein hohes Maß an Transparenz erforderlich. Gerade das gilt ebenso für die Gespräche, die Mitarbeiter des kleine und mittlere Unternehmen benötigen einfache Re- Ministeriums in den zuständigen Gremien in Brüssel gelungen. oder auf internationalen Konferenzen geführt haben. Die 10870 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

(A) Förderung dieses Vorhabens ist natürlich auch Teil des reichung diese Ziels sind enorme Anstrengungen auf na- (C) Programms für unsere EU-Ratspräsidentschaft. Die Eu- tionaler und europäischer Ebene notwendig. ropäische Privatgesellschaft ist ferner ein zentrales Thema der großen Konferenz zum Europäischen Gesell- Die EU-Kommission hat deshalb im Rahmen der schaftsrecht, die der BDI in der kommenden Woche un- Halbzeitüberprüfung der Lissabonstrategie im Februar ter der Schirmherrschaft von Bundesministerin Zypries 2005 angeregt, ein Europäisches Technologieinstitut, veranstalten wird. Über 300 Teilnehmer aus fast allen EIT, zu schaffen. Das EIT soll das gemeinsame Leis- Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben ihre Teil- tungspotenzial von Ausbildung, Forschung und Innova- nahme angekündigt. tion ausschöpfen und so die Wettbewerbsgrundlage der EU-Mitgliedstaaten entscheidend verbessern. Der Er- Auch Kommissionsmitglied McCreevy wird anwe- kenntnis- und Technologietransfer zwischen Wissen- send sein. Trotz der Entschließung des Europäischen schaft und Wirtschaft soll gestärkt und der Übergang von Parlaments vom Februar dieses Jahres zögert er leider Forschungsergebnissen in die anwendungsorientierte noch, einen Vorschlag vorzulegen. Wir hoffen aber, dass Wertschöpfungskette erleichtert werden. er von unserer Konferenz ein weiteres Signal für die Schaffung einer „Europa-GmbH“ mitnehmen wird. Dieses grundsätzliche Ziel, die Innovationsfähigkeit des europäischen Wirtschaftsraumes durch exzellente Solange kein konkreter Vorschlag der Kommission Forschungs- und Innovationsnetzwerke zu verbessern, vorliegt, ergibt allerdings die Aufforderung der FDP- ist zunächst einmal unabhängig von der letztendlichen Fraktion keinen Sinn, die Auswirkungen der Schaffung Ausgestaltung zu begrüßen. Vor dem Hintergrund dieses einer Europäischen Privatgesellschaft auf deutsche Un- Ziels ist mir unverständlich, wie alleine schon die Idee, ternehmen zu untersuchen. Wir wissen seit langem, dass den Informationsfluss zu bündeln und besser nutzbar zu die Wirtschaftsverbände im Namen der Unternehmen machen, von Bündnis 90/Die Grünen bzw. Der Linken die Schaffung einer Europäischen Privatgesellschaft kategorisch abgelehnt wird. Gerade bei dem Thema In- nachdrücklich fordern. Von dieser Einschätzung sind wir novationsfähigkeit muss doch die Verwirklichung neuer in der Vergangenheit ausgegangen und werden wir auch Ideen eine Chance haben und dabei müssen auch neue in Zukunft ausgehen. Konkretere Aussagen lassen sich Ansätze gefördert werden. Wir werden versuchen, die aber erst auf der Basis eines ausdrücklichen Kommis- Chancen wahrzunehmen und ihnen zum Erfolg zu ver- sionsvorschlags treffen. helfen. Innovationsfeindlichkeit bringt uns jedoch – so Ich kann Ihnen zusichern, dass wir uns auch weiterhin viel ist sicher – auf keinen Fall weiter. intensiv für die Schaffung einer Europäischen Privat- gesellschaft einsetzen werden! Auch die deutsche EU-Ratspräsidentschaft unter Füh- (B) rung unserer Bundeskanzlerin hat der Förderung von In- (D) novationen auf europäischer wie auch auf nationaler Anlage 7 Ebene großen Stellenwert eingeräumt. Die Betonung liegt dabei ebenfalls auf anwendungsorientierter For- Zu Protokoll gegebene Reden schung und dem Transfer von Forschungsergebnissen in die Wirtschaft. Um die Nutzung von Forschungsergeb- zur Beratung: nissen zu verbessern und Innovationen zu fördern, muss – Antrag: Innovationsnetzwerk für Europa – der Austausch zwischen Forschung und Wirtschaft un- Europäisches Technologieinstitut terstützt und das Potenzial von Hochschulen, For- schungseinrichtungen und Unternehmen miteinander – Beschlussempfehlung und Bericht zu dem verknüpft werden. Die deutsche Ratspräsidentschaft ist Antrag: Einrichtung des Europäischen zu Recht der Ansicht, dass für die Erreichung dieser Technologieinstituts verhindern Ziele auch die Einrichtung eines EITs sinnvoll sein kann. – Beschlussempfehlung und Bericht zu dem Antrag: Einrichtung des Europäischen Im Oktober 2006 hat die EU-Kommission hierzu ei- Technologieinstituts abwenden – Bestehende nen Vorschlag vorgelegt, wie sie sich die Struktur und europäische Förderstrukturen stärken und den Aufbau des EITs vorstellt. Die Bundesregierung und weiterentwickeln der Deutsche Bundestag haben die Einrichtung eines EITs, insbesondere was die Inhalte des jetzt überholten – Antrag: Das Europäische Institut für Tech- Kommissionsvorschlages anging, eher zurückhaltend nologie zum Erfolg führen begleitet. Auch die deutschen Wissenschaftsorganisatio- (Tagesordnungspunkt 20 a bis c) nen haben diesen ersten Vorschlag skeptisch kommen- tiert. Carsten Müller (Braunschweig) (CDU/CSU): Die Aufgrund der deutschen Ratspräsidentschaft ist drei Bereiche Bildung, Forschung und Innovation bilden Deutschland aber in einer besonderen Verantwortung, das Fundament für Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit was die zu treffenden Entscheidungen auf europäischer im globalen Umfeld. Die Europäische Union hat sich im Ebene angeht. Dieser Rolle kommt die Bundesregierung Rahmen der Lissabonstrategie auf das zugegebenerma- mit ihrem Kompromissvorschlag nach. Der erarbeitete ßen sehr ehrgeizige Ziel verständigt, bis zum Jahr 2010 Vorschlag erhielt beim Informellen Rat Wettbewerbsfä- die Investitionen für Forschung und Entwicklung auf higkeit bereits viel Unterstützung von den EU-For- 3 Prozent des Bruttoinlandprodukts zu erhöhen. Zur Er- schungsministerinnen und -ministern. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10871

(A) Der Kompromissvorschlag sieht vor, Universitäten, Anwendung kommen. Vorbild muss auch das 7. For- (C) Forschungsinstitute und Unternehmen in Wissens- und schungsrahmenprogramm sein. Darin wird eindeutig al- Innovationsgemeinschaften zusammenzuführen. Exzel- lein auf die Exzellenz als maßgebliches Kriterium abge- lenzzentren in ganz Europa sollen durch Vernetzung ge- stellt. stärkt werden. Im Rahmen der Netzwerke werden Ideen Die Auswahl der Teilnehmer muss auf Grundlage einer für innovative Produkte, Prozesse und Dienstleistungen mittel- bis langfristigen strategischen Innovationsplanung entwickelt und so die Wettbewerbskraft Europas im glo- vom Verwaltungsrat des EITs nach dem Exzellenzprinzip balen Kontext gestärkt. Der Vorschlag ist ein wichtiger erfolgen, um auf zukunftsträchtigen Gebieten integrier- Schritt, um hinsichtlich des EITs noch unter deutscher ten Innovations-, Forschungs- und Ausbildungsaktivitä- Ratspräsidentschaft Ende Juni 2007 zu den notwendigen ten nachzugehen. Diese Zielsetzung muss umgesetzt politischen Grundsatzentscheidungen zu kommen. werden, um klare Antworten auf aktuelle Herausforde- In diesem Zusammenhang begrüße ich sehr, dass die rungen und Entwicklungen zu geben. Vor diesem Hinter- EU-Kommission nicht mehr an ihrem ursprünglichen grund wäre eine bereits angedachte Schwerpunktsetzung Ansatz einer zentralen Institutsneugründung festhält und auf die Bereiche Klima- und Energieforschung aus- von ihren weiteren Überlegungen, die Wissensgemein- drücklich zu begrüßen. Diese für die erste Phase des schaften aus bestehenden Universitäten, Forschungsein- EITs angedachten Themenfelder wurden während des richtungen und Unternehmen herauszulösen und in eine Informellen Rats Wettbewerbsfähigkeit von den For- eigene Rechtsform zu überführen, abgerückt ist. Wäre schungsministern ebenfalls mehrheitlich positiv bewer- dem nicht so, könnte man die grundsätzliche Kritik aus ei- tet. nigen politischen Lagern zumindest teilweise nachvollzie- Drittens. Die Finanzierung des EITs muss im Rahmen hen. Denn neue, zentrale Strukturen auf europäischer der derzeit geltenden finanziellen Vorausschau erfolgen. Ebene sind abzulehnen, solange sie keinen wirklichen Sie darf keinesfalls zulasten des 7. Forschungsrahmen- europäischen Mehrwert schaffen. Parallele Strukturen programms oder anderer existierender europäischer För- sind nicht mit dem Subsidiaritätsgrundsatz vereinbar und derprogramme gehen. Vielmehr ist erforderlich, dass die würden in diesem Bereich die Entscheidungshoheit der EU-Kommission ein klares Bekenntnis dazu abgibt, in Mitgliedstaaten verletzen. Genau aus diesem Grund hat welcher Größenordnung sie sich die Finanzierung vor- die unionsgeführte Bundesregierung einen eigenen Vor- stellt und aus welchen Bereichen die Mittel für die finan- schlag unterbreitet, der diesen Bedenken zum großen zielle Ausstattung des EITs kommen sollen. Denn zu- Teil Rechnung trägt. sätzliche Beiträge der Mitgliedstaaten stehen keinesfalls Einige weitere wichtige Kriterien sind jedoch noch zur Verfügung und ein eigener Haushaltstitel für das EIT im Gemeinschaftshaushalt existiert bisher nicht. (B) für eine erfolgreiche Umsetzung des EIT-Projekts zu be- (D) rücksichtigen und müssen erfüllt werden: Hierbei muss ebenfalls eindeutig klargestellt werden, Erstens. Um einen wirklichen europäischen Mehrwert dass die zu bildenden Wissens- und Innovationsgemein- zu schaffen, dürfen unsere funktionierenden nationalen schaften maßgeblich durch substanzielle Beiträge der Strategien, Programme und Strukturen keinesfalls durch Wirtschaft oder privater Organisationen finanziert wer- die Einrichtung des EITs sowie der Wissens- und Inno- den müssen. Nur so wird sichergestellt, dass der Privat- vationsgemeinschaften beeinträchtigt werden. Die Orga- wirtschaft eine entscheidende Rolle zukommt. Die Ziel- nisation und Funktionsweise des EITs müssen uneinge- setzungen Wissenstransfer und anwendungsorientierte schränkt dem Subsidiaritätsprinzip entsprechen. Deshalb Forschung werden nur durch maßgebliche Beteiligung muss im Rahmen der zu treffenden Entscheidungen über der Wirtschaft erfüllt. Ergänzende Finanzierungsbeiträge den Aufbau und die Organisation des EITs besonderes für die Wissens- und Innovationsgemeinschaften aus Augenmerk auf eine effiziente und flexible Verwaltung, dem Gemeinschaftshaushalt dürfen nur in Übereinstim- klare Strukturen und Ausschreibungsverfahren sowie mung mit den Beteiligungsregeln existierender Gemein- eindeutige Zuständigkeits- und Aufgabenbereiche ge- schaftsprogramme bereitgestellt werden. Hierzu enthält richtet werden. In diesem Zusammenhang darf es insbe- der Kompromissvorschlag der unionsgeführten Bundes- sondere nicht zu Überschneidungen mit dem neu ge- regierung klare Richtlinien. gründeten Europäischen Forschungsrat, ERC, kommen. Viertens. Dem EIT darf weder eine eigene Rechtsper- Denn nur so erreichen wir eine verstärkte Profilbildung sönlichkeit zuerkannt werden, noch darf ihm ein Recht der europäischen Forschungslandschaft. Zudem würde zur Vergabe eigener akademischer Titel eingeräumt wer- sonst das wichtige Alleinstellungsmerkmal des ERCs den. Die Verleihung von Titeln erfolgt allein nach natio- gefährdet. nalen Vorgaben und ist originäre Aufgabe der an den Wissens- und Innovationsgemeinschaften beteiligten Zweitens. Um größtmöglichen Erfolg zu haben, muss und dazu allein nach nationalem Recht berechtigten Ein- die Auswahl der Institutionen, innovatorischen Netz- richtungen. Die Möglichkeit zum Beispiel eines speziel- werke und Partnerschaften für die Teilnahme am EIT len EIT-Labels, das auf den eigentlichen Zeugnissen der ausschließlich an Exzellenzkriterien ausgerichtet sein am EIT beteiligten Institutionen erscheint, könnte jedoch und anhand des bestehenden Innovationspotenzials im in Betracht kommen. Rahmen eines Wettbewerbsverfahrens erfolgen. Vorbild müssen hierfür die Auswahlverfahren unserer nationalen Fünftens. Der Umsetzungsprozess sowie das gesamte Exzellenzinitiative sein; das auf europäischer Ebene EIT-Projekt müssen so zeitnah wie möglich, jedoch nach lange Zeit „bewährte“ Gießkannenprinzip darf nicht zur einer gewissen Anlaufzeit durch externe Sachverstän- 10872 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

(A) dige kritisch, aber absolut ergebnisoffen evaluiert wer- Forschungsförderungen sowie neue erfolgversprechende (C) den, um eventuellen Handlungsbedarf aufzuzeigen. Die Projekte. Warum also eine weitere Einrichtung? Evaluierung sollte spätestens bis 2012 stattfinden. Die- Das EIT als künftiges „Flaggschiff der Innovation in ser Zeitraum erscheint angemessen, um dem EIT die Europa“, wie es Kommissionspräsident Barroso be- Möglichkeit zu geben, Fuß zu fassen und so überhaupt zeichnete, hat das Ziel, die europäische Wettbewerbsfä- belastbare Ergebnisse erwarten zu können. Die Evalua- higkeit weiter ausbauen. Dabei geht es insbesondere um tionsergebnisse müssen kritisch ausgewertet werden und die ermittelte Lücke zwischen Forschung und Umset- in die Strategie Innovation Agenda eingehen. Über einen zung. Denn Europa genauso wie Deutschland mangelt es möglichen weiteren Ausbau bzw. über ein unter Umstän- nicht an guten Ideen und klugen Köpfen – das sieht man den ersatzloses Auslaufen des EIT-Projektes muss aus- zum Beispiel bei den Patentanmeldungen. Es hapert an schließlich anhand der Evaluationsergebnisse und des der Umsetzung in Produkte. Auf nationaler Ebene disku- Maßstabes, einen signifikanten Mehrwert für Innova- tieren wir dazu derzeit verschiedene Ansätze, auf euro- tion, Forschung und Bildung in Europa zu erreichen, ent- päischer Ebene soll das EIT ein Schritt zur Schließung schieden werden. dieser Lücke darstellen. Das EIT soll darüber hinaus das Die Errichtung des EITs bietet eine große Chance für Leistungspotenzial im „Wissensdreieck“ Innovation, den europäischen Forschungsraum. Sollte es zu einem Ausbildung und Forschung ausschöpfen und die Berei- Erfolg werden, muss in diesem Zusammenhang selbst- che stärker miteinander verzahnen. Denn ohne Bildung verständlich auch über mögliche Szenarien der Weiter- ist keine Forschung und ohne Forschung keine Innova- entwicklung diskutiert werden. Es ist durchaus möglich, tion möglich. dass selbst eine dem amerikanischen MIT entsprechende Die Idee, ein EIT zu errichten, kam 2005 von Kom- Ausrichtung noch erfolgversprechender sein könnte. Al- missionspräsident Barroso. Er wollte damit ursprünglich lerdings kann die Evaluierung genauso gut dazu führen, ein „europäisches“ Massachusetts Institute of Techno- dass die Idee eines EITs nicht weitergeführt wird, da der logy, MIT, auf der grünen Wiese errichten, also eine unbedingt notwendige Mehrwert nicht erreicht werden europäische Universität mit Spitzenforschung. Aber eine kann. Alleine die Evaluierung wird darüber entscheiden, Spitzenuniversität kann man eben nicht von oben aus welche Schlussfolgerungen und Maßnahmen ergriffen dem Boden stampfen. So etwas muss sich langsam ent- werden müssen. Klar muss jedoch sein, dass wir dem wickeln. Mitgliedstaaten wie Großbritannien, Portugal EIT beste Startvoraussetzungen mit auf den Weg geben und Deutschland, aber auch Forschungsorganisationen müssen, um es zu einem erfolgreichen Baustein europäi- wie die DFG zweifelten deshalb von Beginn an an dem scher Innovations- und Forschungspolitik zu machen. Konzept. Wäre die Idee nicht direkt von Herrn Barroso Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, im Rah- gekommen, wäre der Entwurf sicher schnell wieder in (B) (D) men der deutschen Ratspräsidentschaft ihren Kompro- den Schubladen verschwunden. missvorschlag mit der Maßgabe weiterzuverfolgen, dass die im Antrag der Großen Koalition aufgeführten Forde- Mittlerweile ist das Konzept stark überarbeitet wor- rungen Eingang in die Grundsatzentscheidung zur Er- den. Die Universität „auf der grünen Wiese“ ist vom richtung des EITs finden. Tisch; auch Studienabschlüsse sollen nicht mehr durch das EIT vergeben werden. Die einzurichtenden „KICs“, Knowledge and Innovation Communities, sollen sich René Röspel (SPD): EIT – mit dieser Abkürzung beschäftigen wir Forschungspolitiker uns seit fast zwei nun aus bereits vorhandenen Netzwerken und Partner- Jahren. Wie man sich bei dem Anfangsbuchstaben „E“ schaften virtuell zusammenschließen. Sie bleiben somit schon denken kann, geht es dabei um Europa. EIT steht weiterhin Teil ihrer Universitäten, Forschungseinrich- für das neu einzurichtende „European Institut of Techno- tungen oder Unternehmen. Wichtige deutsche Forderun- logy“, im Deutschen für das „Europäische Technolo- gen sind somit übernommen worden. gieinstitut“. Am 25. Juni 2007 soll die endgültige Entscheidung über die Einrichtung eines EITs beim Ministerrat für Die Europäische Union hat uns bereits viel Positives Wettbewerbsfähigkeit beschlossen werden. Dies fällt in gebracht. Das gilt für viele Bereiche, so auch für den Be- die letzte Woche der deutschen Ratspräsidentschaft. reich Forschung. Mit dem jetzt laufenden 7. Europäi- Deutschland trägt bei diesem Thema somit eine beson- schen Forschungsrahmenprogramm werden zum Bei- dere Verantwortung. Denn eine Ratspräsidentschaft ist spiel bis 2013 mehr als 50 Milliarden Euro in die eben nicht die Position, um eigene nationale Meinungen Forschung in Europa investiert. Es wird davon ausge- durchzusetzen, sondern eher die eines ehrlichen Mak- gangen, dass 20 Prozent dieser Gelder nach Deutschland lers, der Kompromisse aufzeigt und Verhandlungsergeb- fließen werden. Wir sind also auf jeden Fall ein Profiteur nisse erreicht, mit denen alle Beteiligten zufrieden sind. der europäischen Forschungsfinanzierung. In diesem Insofern befindet sich die deutsche Bundesregierung, be- Jahr ist auch der Europäische Forschungsrat, ERC, ein- kannt für ihre Kritik am EIT, bei dem Thema in einer gerichtet worden. Damit wird ein neuer Weg im Bereich nicht ganz einfachen Rolle. der Förderung europäischer Grundlagenforschung betre- ten. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft, DFG, hat Ganz nach dem Motto „Was man nicht verhindern dabei bei Arbeitsweise und Strukturen Pate gestanden. kann, sollte man wenigstens in die richtige Richtung len- Auch hier erhoffen wir uns einen guten Rücklauf im Ex- ken“ hat die Bundesregierung deshalb ein Kompromiss- zellenzwettbewerb mit internationalen Wissenschaftlern. papier vorgestellt, das die Kritikpunkte am EIT aufrecht- Bereits jetzt gibt es also gute ausgebaute europäische erhält, gleichzeitig aber den Einstellungen anderer Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10873

(A) Mitgliedsländer Rechnung trägt. Das EIT soll danach ab dieses Projekt ist sehr vielversprechend. Nach einem er- (C) 2008 in einer Pilotphase mit zwei KICs beginnen. Die zu folgreichen Anlaufen hätte man sich dann dem Thema bearbeitenden Themen könnten Energie und der Klima- Innovation näher zuwenden können. Vom ERC bin ich wandel sein. Auch zu anderen Punkten wurden Kompro- überzeugt, von Konzeption und Konstruktion des EIT missformulierungen vorgeschlagen. Ich glaube, das nicht. Hoffen wir, dass beide Projekte trotzdem erfolg- Kompromisspapier ist eine gute Arbeitsgrundlage und reich werden und Europa im internationalen Wettbewerb wird den unterschiedlichen Meinungen innerhalb der EU um die besten Ideen weiter nach vorn bringen. Die SPD- gerecht. Bundestagsfraktion wird diesen Prozess auch weiterhin mit der nötigen Aufmerksamkeit verfolgen und kritisch Ich will an dieser Stelle nur zwei Punkte herausstel- begleiten. len, bei denen ich hoffe, dass die Minister nächste Wo- che eine belastbare Lösung finden werden: das weitere Verfahren nach der Pilotphase und die Finanzierung des Ulrike Flach (FDP): Das Europäische Technolo- EITs. gieinstitut kann ein Erfolg werden. Es ist aber kein Selbstläufer, und viel hängt davon ab, am Anfang eine Der erste Punkt ist das Verfahren für die Weiterfüh- Konstruktion zu wählen, die das EIT als zentrale Ein- rung des EITs nach der Pilotphase. Wir als SPD-Bundes- richtung zur Exzellenzförderung im Dreieck Wissen- tagsfraktion stimmen dem Konzept eines EITs nur zu, schaft – Staat – Wirtschaft positioniert. Das sollte sich weil zugesichert wurde, dass das EIT bis spätestens 2012 auch darin ausdrücken, dass das EIT sowohl in der Kon- durch externe Sachverständige evaluiert werden soll und zeption als auch in der Finanzierung deutlich als öffent- danach auf Grundlage dieser Ergebnisse und dem Errei- lich-private Partnerschaft erkennbar wird. Die Wirt- chen der Zielsetzung eines signifikanten Mehrwerts für schaft muss von Beginn an mit ins Boot. Das EIT sollte Innovation, Bildung und Forschung in Europa über die die Möglichkeit erhalten, sich um Fördergelder aus den Zukunft des EITs entschieden wird. Das kann in letzter EU-Programmen zu bewerben. Wir teilen nicht die Instanz auch bedeuten, dass das EIT wieder geschlossen Angst, hier würde man sich gegenseitig die Gelder weg- wird. Eine weitere Institution auf europäischer Ebene schnappen, sondern gerade wenn das EIT im Wettbe- ohne zusätzlichen Nutzen brauchen wir nicht. Regelmä- werb steht, kommt der nötige Druck auf, exzellente Pro- ßige Evaluierung, die im Extremfall auch zur Schließung jekte einzureichen. führen kann, sollte der Normalfall für alle Forschungs- institute sein. Die Evaluierung zum Beispiel innerhalb Der Antrag der Koalitionsfraktionen ist ein Doku- der Leibniz-Gesellschaft zeigt, dass dies auch praktika- ment des Kleinmuts und der Furchtsamkeit. Sie begrü- bel ist. ßen zwar das EIT, aber umstellen, ja umzingeln das EIT (B) mit einer Fülle von Einschränkungen und Regulierun- (D) Zur Finanzierung. Die Kommission sieht für die Er- gen. Es soll Abstand zum Forschungsrat wahren, die füllung der EIT-Ziele einen Bedarf von über 2,3 Milliar- Autonomie der Wissensgemeinschaften sollen bestehen den Euro für den Zeitraum 2007 bis 2013 vor. Als ein- bleiben. Sie schreiben die Aufgaben detailliert vor, es zige klar genannte Finanzquelle gibt es bisher die soll keine akademischen Titel vergeben können, auch 308 Millionen Euro aus nicht zugewiesenen Margen der nicht gemeinsam mit Hochschulen, und es soll detail- Teilrubrik 1 a des EU-Haushaltes. Aber auch diese lierte Regelungen für die Antragsberechtigung geben. Summe ist bisher noch nicht gesetzt. Selbst nach einer Nationale Ansätze und Forschungsstrategien dürfen Zusage bleiben noch 2 Milliarden Euro übrig, die nicht durch das EIT nicht geschwächt werden. Das ist alles gegenfinanziert sind. Herr Barroso verkündet immer kleinlich und zeugt von einem starken Ressentiment ge- wieder, dass ein maßgeblicher Teil davon aus der Wirt- genüber dieser zu gründenden Institution. schaft kommen wird. Auch wir fordern in unserem An- trag eine finanzielle Mindestbeteiligung der Wirtschaft Allerdings wollen auch Sie das EIT zu einem „strate- von 50 Prozent. Bisher ist aber immer noch vollkommen gischen Instrument für die Interessen der Wirtschaft in unklar, ob überhaupt, und, wenn ja, von wem wie viel Europa“ machen. Ich frage mich, wie dies bei all dem Geld kommen wird. Ein belastbares Finanzierungskon- Misstrauen, das aus Ihrem Antrag spricht, erfolgreich zept ist aber das A und O einer jeden Institution. Bei geschehen soll? Glauben Sie wirklich, dass ein EIT zum dem europäischen GALILEO-Projekt haben wir gerade Leuchtturm der Spitzenforschung im weltweiten Ver- erst wieder gesehen, wie problematisch es sein kann, gleich werden kann mit einem so engen Korsett und ei- wenn man sich auf Zusagen aus der Wirtschaft verlässt. ner misstrauischen Grundstimmung dieser Koalition? Schwierig finde ich dies insbesondere unter dem Aspekt, Ich glaube, dass die Bundesregierung in den Verhand- dass es doch gerade die Wirtschaft ist, die aus verstärkter lungen mit den europäischen Partnern dem EIT schwere Innovationskraft den größten Gewinn zieht. Das finan- Hürden aufbaut, die Sie auf EU-Ebene dann nicht über- zielle Risiko soll hingegen anscheinend doch lieber der winden können. Ein Institut, das mit dem renommierten Staat tragen und damit der Steuerzahler. So, meine lie- MIT konkurrieren soll, braucht vor allem Freiheit und ben Unternehmen, geht es nicht. Flexibilität. Ihr Antrag schränkt das EIT ein und schmä- lert seine Erfolgschancen. Ich hoffe deshalb, dass nächste Woche, insbesondere zu diesen beiden Punkten, eine tragfähige Lösung gefun- Wir sehen mit großer Freude, dass sich die EU der den wird. Ich persönlich hätte mir gewünscht, dass man Forschungs- und Innovationspolitik viel stärker als frü- erst einmal den Europäischen Forschungsrat hätte anlau- her annimmt. Das 7. Forschungsrahmenprogramm, der fen lassen und seine Arbeit abgewartet hätte. Denn Europäische Forschungsrat und das EIT können starke 10874 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

(A) Stützen einer exzellenten europäischen Forschungs- und vernunftbegabt zu beenden, wird versucht, durch Verän- (C) Technologieförderung sein. Nur gemeinsam haben wir derungen innerhalb des Projektes die unschöne politi- Europäer eine Chance, mit den USA und – zunehmend – sche Demontage eines ach so verdienten Politikers und mit China und dem asiatischen Raum mitzuhalten. Wer Vorführeffekte gegenüber potenziell betroffenen Län- die Dynamik dort sieht, der weiß, dass wir wenig Zeit dern zu vermeiden. Man geht auf diese Weise offenen für langwierige Verfahrensdiskussionen haben. Deshalb Konfrontationen aus dem Weg, schließlich könnten sich sollten wir das EIT entschlossen und mutig auf den Weg daraus später auch Nachteile für eigene ehrgeizige politi- bringen. sche Vorhaben ergeben. Diese Strategie zum Umgang und zur Beilegung von Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Seit 2005 bemüht sich Konflikten kostet die europäischen Steuerzahlerinnen EU-Kommissionspräsident Barroso darum, ein neues dann schon einmal Millionen oder wie im vorliegenden Flaggschiff der europäischen Technologieforschung auf Fall des Europäischen Technologieinstituts sogar Mil- Kiel zu legen. Dieses sollte seiner Idee nach in einem liarden – konkret 2,4 Milliarden. Das wissen alle poli- Europäischen Technologieinstitut bestehen. Als Vorbild tisch Verantwortlichen. Auch die Bundesregierung hat schwebte ihm das Massachusetts Institut of Technology, ganz offensichtlich nicht die Kraft gefunden, sich die- MIT, vor. An einem neuen Standort auf grüner Wiese sem völlig unberechenbaren Projekt entgegenzustellen. sollte eine Eliteschmiede entstehen, die ihre Kadetten in Sie hat sich innerhalb ihrer Ratspräsidentschaft an einem ganz Europa rekrutieren sollte. Milliarden sollten in de- Formelkompromiss abgearbeitet. Und für den 25. Juni ren Ausstattung fließen, ohne dass zum Zeitpunkt der 2007 soll nun der Stapellauf beschlossen werden. Alles Idee Barrosos nur annähernd geklärt war, welche Diszi- andere wäre eine echte, wenngleich gute Überraschung. plinen angesiedelt werden sollten. Keiner weiß genau, ob der Kahn die georderte Fracht Nun legen Reeder in der Regel nur dann neue Schiffe, überhaupt tragen kann. Der Wirtschaft soll gedient wer- insbesondere dieser Großklasse, auf Kiel, wenn sie dafür den. Wissensproduktion und -transfer sollen massiv mit echten Bedarf sehen, ist doch bekannt, dass die Unter- öffentlichen Geldern forciert werden. Es fehlen jedoch haltungskosten dieser Schiffsklassen immens sind. präzise Angaben sowohl zu Inhalt und Form als auch zur Welchen Bedarf Herr Barroso konkret gesehen hat, ist Finanzierung dieser Passage. über weite Strecken den beteiligten Akteuren unklar ge- Dabei sollten alle Verantwortlichen gewarnt sein. Ein blieben. Ich halte es schon für bemerkenswert, dass sich anderes großes Flaggschiff der europäischen Forschung nicht einmal der EU-Forschungskommissar Jan Potocnik – nämlich das Weltraumforschungsprojekt GALILEO – öffentlich für diese Idee einsetzte. Es ist für mich daher ist gerade kläglich gestrandet. Dabei gab es für dieses (B) wenig verwunderlich gewesen, dass neben Kritik, größ- Projekt im Vergleich zum Europäischen Technologie- (D) ter Skepsis auch offene Ablehnung artikuliert wurde. institut immerhin deutlich verbindlichere Festlegungen. Bezogen auf Deutschland reichten Ablehnung und Und dennoch ist ein Mitzeichner – die Wirtschaft näm- Vorbehalte von Wissenschaftsorganisationen, über die lich – ausgestiegen. Die Risiken waren ihr im Verhältnis Hochschulrektorenkonferenz bis zu Bundesrat und der zum kalkulierbaren Nutzen zu wenig abschätzbar. Und Bundesregierung höchst selbst. Im Bundestag hat meine schließlich, so die Selbstauskunft, müsse ja nicht alles Fraktion Die Linke durch einen entsprechenden Antrag von privater Ebene finanziert werden. und Kleine Anfragen ihre Ablehnung deutlich gemacht. Mit Blick auf GALILEO muss nun festgestellt wer- An der allseitigen und umfassenden Skepsis hat sich den: Die „Himmelsschiffe“ anderer Länder bzw. Regio- nicht wirklich etwas geändert. Warum hat die Bundes- nen – wie beispielsweise das neue GPS III – schicken regierung trotz vielfältiger Bedenken und breiter Ableh- sich an, vorbeizufliegen. Im Flug erfahren diese Verbes- nung aus der Wissenschaft diesem Projekt immer noch serungen ihrer Leistungsfähigkeit. Es wäre seitens der keine klare Absage erteilt? EU eine sinnvolle Form der Schadensbegrenzung gewe- sen, sich an diesen Missionen zu beteiligen. Stattdessen Ganz offensichtlich hat sie auch im Rahmen ihrer versuchen die beteiligten Länder, den eigenen Kahn wie- Ratspräsidentschaft nicht die Kraft gefunden, einen Neu- der flottzumachen. Und das wird die Steuerzahlerinnen ansatz zu verfolgen. Dieser sollte darin bestehen, an den und Steuerzahler insgesamt 13 Milliarden Euro kosten. zum Teil gerade erst neu aufgelegten Programmen und Strukturen des Siebten Forschungsrahmenprogramms Man hat also eben erst einen Schiffbruch erfahren und anzuknüpfen und diese zu stärken. Das wäre inhaltlich lässt sich mit dem Europäischen Technologieinstitut konsistent und begründbar. schon wieder auf ein neues Großprojekt ein. Dessen so- genannter europäischer Mehrwert wird noch schlechter Alle Seiten sind unzufrieden. Und doch verzettelt als bei GALILEO prognostiziert – und das für alle Betei- man sich in einer Kompromissdebatte. Und das ist ty- ligten: für die Länder, für die Wirtschaft aber auch für pisch für EU-Entscheidungen. die Wissenschaft. Was war bzw. ist das eigentliche Problem? Dieses er- Besonders unverständlich ist dabei, dass weder die gibt sich wieder einmal daraus, dass sich ein Politiker zusätzlichen Kosten von GALILEO noch die zusätzli- vor seinem Abschied ein Denkmal setzen wollte. Adres- chen Kosten des Europäischen Technologieinstituts in saten und politisch Verantwortliche halten eigentlich der aktuellen Finanzplanung der EU berücksichtigt sind. nichts von dieser Kopfgeburt. Statt nun aber die Sache Wenn also nicht neues Geld aus den Ländern kommt und Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10875

(A) das ist absolut ausgeschlossen, dann wird man die Sum- dem Rahmenprogramm für Wettbewerbsfähigkeit und (C) men nur durch Umschichtungen im EU-Haushalt auf- Innovation, CIP, abgezogen werden. Doppelstrukturen bringen können. Das geplante Technologieinstitut jeden- sind im Verhältnis zu den bestehenden Technologieplatt- falls schlägt schon allein mit 308 Millionen im ersten formen gar nicht zu vermeiden. Auch Überschneidungen Jahr zu Buche. und Kollisionen zum erst unlängst begründeten Europäi- schen Forschungsrat können angesichts der konzeptio- Da jedoch die Finanzplanung der EU ein noch größe- nellen Unschärfe gar nicht vermieden werden. Welche rer und noch zerbrechlicherer Kompromiss ist, ist derzeit Wirkungen sich für Hochschulen und Wissenschaftsor- eine saubere Lösung gar nicht absehbar. Man wird sich ganisationen ergeben, ist unklar. Diese werden nun in vermutlich mit der weichen Formulierung einer Zielstel- eine weitere Fahrrinne geschickt, auf der neue For- lung zufrieden geben. schungsmittel erreichbar werden sollen. Der Hinweis, Das alles ist sowohl der Bundesregierung als auch der man stütze sich ohnehin nur auf Erfahrene der Koalition bekannt. Nicht umsonst versucht die Koalition Exzellenzinitiative, grenzt zugleich den Teilnehmerkreis in ihrem Antrag zum Europäischen Technologieinstitut, ein. ein paar Ankerwürfe vorzubereiten. Die Linke hat bereits im März dieses Jahres mit ihrem So soll sich die Bundesregierung dafür einsetzen, dass Antrag gezeigt, dass die Initiativen zum Europäischen Unternehmen und private Organisationen einen substan- Technologieinstitut eingestellt werden müssen. Wir ha- ziellen Beitrag von mindestens 50 Prozent an dessen Ge- ben auf einen Ausbau und eine Qualifizierung bestehen- samtkosten aufbringen. Nur auf Basis belastbarer finan- der Strukturen und Initiativen verwiesen. zieller Zusagen könne das Technologieinstitut seine Daran haben weder der Koalitionsantrag noch die von positive Wirkung entfalten. Und nur dann dürfe mit der der Bundesregierung eingeschlagene Kompromisslinie Errichtung begonnen werden. Im Grunde genommen ist das der wichtigste Punkt Ihres Antrages. So wie er im auf europäischer Ebene etwas geändert. Antrag steht, haben Sie ihn eigentlich als K.-o.-Krite- Um im Bild zu bleiben, sei abschließend angemerkt: rium formuliert. Der Wassereinbruch ist bereits vorprogrammiert. Und Die Wirtschaft wird in „zentraler Rolle“ gesehen, weil das Kommando „Schotten dicht“ hat bekanntlich nicht das Technologieinstitut – ich zitiere – „als strategisches einmal die „Titanic“ vor dem Untergang gerettet. Instrument für die Interessen der Wirtschaft in Europa be- griffen wird“. Zitat Ende. Vor diesem Hintergrund ist eine Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Beteiligung insbesondere von kleinen und mittelständi- grüne Fraktion hat sich klar gegen die Einrichtung des (B) schen Unternehmen – vorsichtig ausgedrückt – als höchst EIT ausgesprochen. Wir halten das EIT für ein vollkom- (D) unwahrscheinlich einzustufen. men ungeeignetes Mittel, um die Ziele der Förderung wissenschaftlicher Exzellenz und Beschleunigung von Die Linke ist ganz und gar nicht der Auffassung, dass Innovation und Marktzugang für Forschungsergebnisse sich die EU auf ein Projekt einlassen sollte, bei dem jetzt zu erreichen. schon klar ist, dass weder die Wirtschaft noch private Organisationen eine solche verbindliche Finanzbeteili- Das wesentliche Problem mit dem geplanten Institut gung eingehen werden. Alles wird sich wieder in der – das ja in seiner jetzigen Form „nur“ noch ein dezentra- Preislage von freiwilligen Erklärungen oder unverbindli- les Netzwerk wäre – ist, dass es damit zur Schaffung chen Selbstverpflichtungen abspielen. einer ineffizienten und konkurrierenden Struktur in der europäischen Forschungslandschaft käme, die in Kon- Mit der Bestimmung der beiden ersten Leitthemen kurrenz zu bestehenden Instrumenten tritt. Es gibt be- des Technologieforschungsinstituts zu Energie- und Kli- reits eine Reihe von europäischen Initiativen und neuen maforschung steckt man doch schon mitten drin. Und Instrumenten, die sich den genannten Zielen widmen – gerade auch diese beiden Felder sind beredte Beispiele nämlich vor allem das 7. Forschungsrahmenprogramm dafür, wie man in den vergangenen Jahren bei der Kar- mit dem Europäischen Forschungsrat und gemeinsamen tierung freiwilliger Verpflichtungen in unsicherem Fahr- Technologieplattformen und daraus entwickelten Tech- wasser gestrandet ist. Allein eine Vernetzung vorhande- nologieinitiativen. Es haben sich längst zahlreiche euro- ner Einrichtungen und Akteuren der Spitzenforschung päische Kooperationsnetzwerke herausgebildet, deren zu diesen Themen wird die Wirtschaft nicht hinreißen, Stärkung und Weiterentwicklung unser zentrales Ziel sich auf verbindliche Finanzierungszusagen einzulassen. sein sollte. Das EIT wäre demgegenüber im über viele Dessen sind sich natürlich auch die Koalitionsfraktio- Jahre gewachsenen System der europäischen For- nen bewusst. Daher setzen sie in ihrem Antrag auch schungsförderung ein Fremdkörper, der die bestehenden schon Rettungsboote aus. Bis spätestens 2012 soll das Strukturen schwächen würde. Technologieinstitut durch externe Sachverständige ge- prüft werden. Danach soll nochmals über die Fortfüh- Hinzu kommt, dass die Finanzierung des EIT bisher rung entschieden werden. vollkommen unklar ist. Deshalb steht zu befürchten, dass sie zulasten der bereits bestehenden Instrumente, Bis dahin finden sich Bundesregierung und Koali- insbesondere dem 7. FRP erfolgt. Außerdem hält sich tionsfraktionen damit ab, dass Gelder und Ressourcen die Privatwirtschaft, die das Institut zum überwiegenden aus anderen Bereichen, wie dem Programm Lebenslan- Teil finanzieren soll, bisher mit verbindlichen Zusagen ges Lernen, dem 7. Forschungsrahmenprogramm und – um es vorsichtig zu formulieren – sehr bedeckt. Die 10876 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

(A) Erfahrungen, die wir derzeit mit GALILEO machen, las- etwa bei den Beratungen im federführenden Rechtsaus- (C) sen eher befürchten, dass am Ende doch die öffentliche schuss, in irgendeiner Form die dünne, pauschale, von Hand auf den Kosten sitzen bleibt. unbewiesenen Behauptungen getragene Begründung des Antrages verdichten können. Gegen die zu Recht ableh- Einige dieser Sorgen teilt man offensichtlich auch in nende Stellungnahme der Bundesregierung habe ich kein der Koalition. In Ihrem Antrag fordern Sie die Bundes- Argument vernommen. Was die PDS betreibt, und dieser regierung auf, dass sie sich unbedingt dafür einsetzen Antrag ist nur eines von vielen Beispielen, ist nichts an- solle, dass es weder zu inhaltlichen Überschneidungen deres als reine populistische Klientelpolitik ohne jegli- mit bestehenden europäischen Förderstrukturen noch zu che Substanz. Das kostet das Parlament wertvolle Zeit Querfinanzierungen aus diesen Programmen kommt, und schadet unserer parlamentarischen Demokratie. Ihr und dass die Errichtung an verbindliche Finanzierungs- Verhalten ist unkollegial und einfach nur schäbig. zusagen der Privatwirtschaft geknüpft wird. Bisher ist es der Regierung aber keineswegs gelungen, plausibel dar- Ich habe mir überlegt, ob ich, da es keinerlei neuen zustellen, wie sie diese Bedingungen erfüllen will. Kon- Sachstand gibt, gleich nur auf meine umfängliche Rede sequent wäre es deshalb, wenn die Koalitionsfraktionen aus der ersten Lesung verweise. Das tue ich hiermit. das ganze Projekt – so wie wir es tun – ablehnen würden. Dennoch möchte ich die wichtigsten Punkte unserer Po- sition noch einmal kurz umreißen. Anders dagegen die FDP, die als einzige Fraktion im Bundestag das EIT unvoreingenommen begrüßt. Beson- Seit der Wiedervereinigung gibt es für die Vielzahl ders bemerkenswert ist, dass Sie darüber hinaus die ein- von Grundstücken privater Eigentümer, die zu Zeiten der zige Stimme in ganz Europa sind, die immer noch dafür ehemaligen DDR zum Teil ohne bzw. auf zweifelhafter plädiert, das EIT als zentrale Einrichtung entsprechend Rechtsgrundlage für öffentliche Zwecke in Anspruch ge- den ursprünglichen Kommissionsplänen einzurichten – nommen wurden, ohne dass ihre förmliche Überführung und das entgegen den Stellungnahmen, die von allen re- in sogenanntes Volkseigentum oder eine rechtlich ver- levanten Akteuren, insbesondere auch den Wissen- bindliche Regelung der Nutzungsverhältnisse erfolgt schaftsorganisationen, zu dieser Idee abgegeben worden wäre, eine Übergangsvorschrift. Diese regelt, dass trotz sind. Hinzu kommt, dass Sie sich in Ihrem Antrag dafür des durchaus zweifelhaften Besitzanspruches der öffent- aussprechen, dass das EIT sich nicht alleine an wissen- lichen Hand eine weitere Nutzung bzw. der Erwerb sol- schaftlichen Kriterien messen lassen solle, sondern da- cher Grundstücke durch die öffentliche Hand möglich rüber hinaus auch wirtschaftliche Erwägungen bereits in ist. Die öffentlichen Nutzer haben ein für weiterhin zu die Exzellenzdefinition einfließen sollen. Das lehnen wir öffentlichen Zwecken benötigte Flächen bis zum ab. 30. Juni 2007 befristetes Ankaufsrecht zu besonders (B) günstigen Konditionen, die erheblich unterhalb des Ver- (D) kehrswerts liegen. Mit dieser Übergangslösung sollte Anlage 8 vermieden werden, dass die Kommunen in den neuen Ländern mit Ankaufsforderungen durch private Grund- Zu Protokoll gegebene Reden stückseigentümer überfordert würden. Durch die lang- zur Beratung der Beschlussempfehlung und des fristige Übergangsregelung wurde den Kommunen die Berichts zu dem Antrag: Öffentlichen Verkehr Möglichkeit eingeräumt, zunächst zu überprüfen, welche in den neuen Bundesländern nicht gefährden – Grundstücke im Privateigentum dauerhaft weiter für öf- Verkehrsflächenbereinigungsgesetz verlängern fentliche Zwecke benötigt werden und in der Folge ent- (Tagesordnungspunkt 19) sprechend die zum verbilligten Erwerb dieser Liegen- schaften notwendigen Haushaltsmittel über mehrere Jahre in die jeweiligen Planungen einzustellen. Marco Wanderwitz (CDU/CSU): Dem vorliegenden Antrag der Fraktion Die Linke, die Übergangsregelung Künftig kann nun, falls der öffentliche Nutzer sein des Verkehrsflächenbereinigungsgesetzes über den Frist- Ankaufsrecht bis zum 30. Juni 2007 nicht ausgeübt hat, ablauf zum 30. Juni 2007 hinaus zu verlängern, wird die der private Eigentümer ab diesem Zeitpunkt den Ankauf CDU/CSU-Bundestagsfraktion nicht zustimmen. Damit seines Grundstücks zum Verkehrswert verlangen oder habe ich am 29. März 2007 meine Rede zur ersten Le- ein marktgerechtes Nutzungsentgelt für die Eintragung sung dieses reinen Schaufensterantrages der PDS begon- einer Dienstbarkeit fordern. Mit Ablauf der Übergangs- nen. Zur Begründung komme ich noch. Ich kann aber frist wird für die nach so vielen Jahren immer noch un- auch heute gleich zu Beginn sagen, dass sich an dieser geklärten Fälle in der Folgezeit nun die endgültige Klä- Sicht meiner Fraktion nichts geändert hat. rung der Rechtsverhältnisse an den Grundstücken herbeigeführt, die zu diesem Zeitpunkt trotz fortdauern- Woran liegt das nun? Sie, meine Damen und Herren der öffentlicher Nutzung noch immer im Privateigentum von der PDS, haben nichts, aber auch gar nichts ausfüh- sind. ren können, was diesen Antrag begründen würde. Alle Fraktionen des Hauses haben Sie dazu in der ersten Le- Im Jahre 17 der deutschen Einheit ist das für die sung aufgefordert. Mit einer Begründung ist, damit klar Kommunen zumutbar. Wir werden nicht durch eine wei- wird, was ich darunter verstehe, und wo das diesbezügli- tere Fristverlängerung das gewachsene Vertrauen der be- che Problem der PDS liegt, nicht gemeint, Umstände zu troffenen Grundeigentümer enttäuschen. Rechtssicher- behaupten, sondern diese durch Fakten zu substantiieren. heit ist ein hohes Gut. Eine sachgrundlose Verlängerung Sie haben weder in der ersten Lesung, noch in der Folge, von mit Sachgrund versehenen Übergangsfristen wird es Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10877

(A) mit uns nicht geben. Eigentum verpflichtet nicht nur, verbleiben einige unbereinigte Fälle, in denen der (C) meine Damen und Herren von der PDS, wir leben Gott Grundstückseigentümer die Wahl hat, ob er von der Ge- sei Dank nicht im sogenannten Sozialismus! meinde den Ankauf verlangt oder aber ein Nutzungsent- gelt fordert, das so lange zu zahlen wäre, wie die öffent- Zudem ist ja weiterhin die Rechtsbereinigung zuguns- liche Nutzung fortbesteht. ten der öffentlichen Hand möglich. Bei Vorliegen der entsprechenden spezialgesetzlichen Voraussetzungen ist Die Linke ist der Ansicht, dass eine Vielzahl der be- eine Enteignung für öffentliche Zwecke nicht ausge- troffenen Kommunen nicht in der Lage sein wird, den schlossen. Allerdings wäre dann entsprechend der Grundstückseigentümern bis zu diesem Stichtag ihr no- grundgesetzlichen Eigentumsgarantie der volle Ver- tarielles Kaufvertragsangebot zu übermitteln, und strebt kehrswert als Ausgleich zu zahlen. Und gerade dieser deshalb eine Fristverlängerung an. Punkt ist der Entscheidende. Wir stehen unverrückbar zur Eigentumsgarantie als zentralem Punkt des Grundge- Gestatten Sie mir hierzu folgende Anmerkungen: Das setzes. Gesetz mit der konkreten Abschlussfrist ist das Ergebnis von Beratungen einer auf Initiative der Ost-Justizminis- terkonferenz 1999 gebildeten Bund-Länder-Arbeits- Dr. Peter Danckert (SPD): Bereits am 29. März gruppe. Diese Abschlussfrist nach § 8, die man auch als 2007 habe ich an dieser Stelle zu diesem Thema Folgen- eine Ausschlussfrist werten kann, war ein Kompromiss des gesagt: Die Linke fordert in ihrem Antrag die Bun- zwischen den widerstreitenden Interessen der Beteilig- desregierung auf, das Gesetz zur Bereinigung der ten. Zu bedenken war, dass die Grundstückseigentümer Rechtsverhältnisse an Verkehrsflächen und anderen öf- bei Ablauf der Frist über einen Zeitraum von fast fentlich genutzten privaten Grundstücken, kurz Ver- 17 Jahren nach der Wiedervereinigung keinen Zugriff kehrsflächenbereinigungsgesetz, über die gegenwärtig auf das Grundeigentum hatten. geltende Frist bis 30. Juni 2007 hinaus um drei weitere Jahre zu verlängern. Zugleich war den öffentlichen Nutzern bereits bei der Das Verkehrsflächenbereinigungsgesetz vom 26. Ok- Erarbeitung des Gesetzes das Problem der noch ausste- tober 2001 regelt die Rechtsverhältnisse an Grundstü- henden sachenrechtlichen Bereinigung seit langem be- cken in den neuen Bundesländern, die im Privateigen- kannt. Zur Durchführung der notwendigen vorbereiten- tum stehen, aber zu öffentlichen Zwecken genutzt den Maßnahmen – Vermessungsarbeiten, Feststellung werden. Die gesetzliche Neuregelung erfolgte seinerzeit der Eigentumsverhältnisse – zur rechtlichen Bereinigung aufgrund einer Initiative der neuen Länder. Vor dem stand ausreichend Zeit, nämlich sechs Jahre, zur Verfü- Hintergrund von Art. 14 des Grundgesetzes war eine gung. (B) (D) nicht einfache Abwägung zwischen dem Eigentum und Darüber hinaus impliziert der Ablauf der Frist nicht dem Wohle der Allgemeinheit vorzunehmen. Dieses Ge- die Notwendigkeit, alle Verträge bis zum Stichtag fertig setz räumt dem öffentlichen Nutzer unter bestimmten abzuwickeln. Auch nach Fristablauf ist die Rechtsberei- Voraussetzungen ein Erwerbsrecht an Verkehrsflächen nigung möglich, wenn auch der Grundstückseigentümer gegenüber dem Grundstückseigentümer ein. Dies betrifft damit einverstanden ist. Nach Ablauf der Abschlussfrist in erster Linie Verkehrsflächen, aber auch für Verwal- kann allerdings der Grundstückseigentümer alleine da- tungszwecke genutzte Flächen und Gebäude. rüber entscheiden, ob er die Fläche an den öffentlichen Handlungsbedarf ergab sich aus dem Umstand, dass Nutzer verkauft, die Zahlung eines Nutzungsentgeltes in der DDR oftmals private Grundstücke für öffentliche fordert oder schlicht nichts unternimmt. Wenn der öf- Zwecke in Anspruch genommen worden sind, ohne dass fentliche Nutzer an der Erlangung des Eigentums am eine förmliche Überführung des Grundstücks in Volks- Grundstück gegen den Willen des Grundstückseigen- eigentum stattgefunden hätte oder die Nutzung des tümers interessiert ist, kommt gegebenenfalls eine Ent- Grundstücks gegenüber dem Eigentümer sonst auf eine eignung nach den jeweiligen Spezialvorschriften, unter rechtliche Grundlage gestellt worden wäre. Diese anderen den Straßengesetzen der Länder – allerdings ge- Grundstücke blieben in Privateigentum und sind es auch gen Entschädigung in Höhe des Verkehrswertes –, in Be- heute noch. tracht. Das Gesetz ermöglichte den Kommunen, vom Eigen- Einer Fristverlängerung stehen – dies ist nicht ganz tümer bis zum 30. Juni 2007 den Verkauf des Grund- unerheblich – verfassungsrechtliche Bedenken entgegen: stücks zu stark abgesenkten Preisen zu verlangen. Der Die trotz der öffentlich-rechtlichen Nutzung der Grund- Gesetzgeber hat seinerzeit ganz bewusst in § 8 eine Ab- stücke bestehenden eingeschränkten Eigentumsrechte schlussfrist normiert, um, wie es in der Begründung der Grundstückseigentümer fallen unter den Schutz von hieß, „den baldigen Ankauf der für öffentliche Zwecke Art. 14 Abs. l Satz l des Grundgesetzes. Jede Änderung genutzten Grundstücke zu bewirken“ und damit auch der Ausgestaltung der Rechtsverhältnisse muss sich da- eine „zügige Bereinigung“ zu realisieren. her insbesondere an den Grundsätzen des Vertrauens- schutzes und der Verhältnismäßigkeit messen lassen. Diese Regelung entspricht dem sich aus Art. 14 des Grundgesetzes ergebenden Grundsatz der Verhältnismä- Die erhebliche Belastung der Grundstückseigentümer, ßigkeit. Das heißt konkret eine Abwägung zwischen die über einen langen Zeitraum zur Passivität gezwun- dem grundgesetzlichen Schutz des Eigentums und dem gen sind, und die Tatsache, dass den öffentlichen Nut- Wohl der Allgemeinheit. Nach Ablauf der Abschlussfrist zern der Ablauf der Abschlussfrist frühzeitig bekannt 10878 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

(A) war, begründen ernsthafte verfassungsrechtliche Beden- Wer etwas anderes will, darf die Belastung der (C) ken gegen die Verlängerung der Frist. Grundstückseigentümer im Wege der Fristverlängerung nicht einfach fortschreiben und die Tatsache, dass den Zu dem, was ich am 29. März 2007 gesagt habe, ste- öffentlichen Nutzern der Ablauf der Frist frühzeitig be- hen wir als SPD-Fraktion. Der Antrag ist so überflüssig kannt war, ausblenden. Wer etwas anderes will, muss wie nur wenig anderes. Deshalb gibt es hierzu nichts we- vielmehr ein Konzept vorlegen, das einen gerechten sentlich Neues zu ergänzen. Weder hat es eine Initiative Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen der des Bundesrates gegeben, noch haben die weiteren Bera- Grundstückseigentümer und der öffentlichen Nutzer vor- tungen signifikante Gründe ergeben, die für eine Ver- sieht. Ein solches Konzept ist dem Antrag der Fraktion längerung des Verkehrsflächenbereinigungsgesetzes Die Linke nicht zu entnehmen. sprechen. Fast sechs Jahre sind nunmehr verstrichen, in denen ausreichend Gelegenheit bestanden hätte, die Der Antrag ist weit davon entfernt, den geschützten Grundstücks- und Eigentumsverhältnisse endgültig zu Interessen beider Seiten Rechnung zu tragen. Das ist mit klären. Aus diesen Erwägungen heraus kann und wird unserem Verständnis des Eigentumsschutzes nicht ver- die SPD-Bundestagsfraktion dem Antrag der Fraktion einbar. Die Fristverlängerung liefe darauf hinaus, die Ei- Die Linke nicht zustimmen. gentümer von Grundstücken, die dem Verkehrsflächen- bereinigungsgesetz unterliegen, für weitere drei Jahre zu Eigentümern zweiter Klasse zu machen. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Die Beratung des Antrags im federführenden Rechtsaus- Da in den Beratungen auch nicht erkennbar wurde, schuss und im mitberatenden Ausschuss für Verkehr, dass die Kommunen in den neuen Ländern aus Gründen, Bau und Stadtentwicklung hat ergeben, dass es keinen die sie nicht zu vertreten haben, an einer Rechtsbereini- Anlass gibt, die Abschlussfrist nach § 8 des Verkehrs- gung gehindert waren, bleibt es bei dem Nein der FDP- flächenbereinigungsgesetzes um drei Jahre bis zum Bundestagsfraktion zu dem Antrag der Fraktion Die 30. Juni 2010 zu verlängern. Linke. Bleibt es beim Fristablauf zum 30. Juni 2007, bedeu- tet das jedoch nicht, dass die zugrunde liegenden Rechts- Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Ich werbe hier für die verhältnisse nicht mehr einer Rechtsbereinigung zuge- Zustimmung zu einer Fristverlängerung für ein Über- führt werden könnten. Der Fristablauf hat zunächst nur gangsgesetz für die neuen Bundesländer, das von den zur Folge, dass nunmehr der Grundstückseigentümer heutigen Koalitionären seinerzeit mit großer Mehrheit selbst darüber entscheiden kann, ob er die Fläche an den beschlossen wurde, weil sie selbst von der Notwendig- öffentlichen Nutzer verkauft, die Zahlung eines Nut- keit dieser Regelung überzeugt waren. Die Flächensi- (B) zungsentgelts fordert oder aber schlicht nichts unter- cherung ist zum Fristende 31. Juni 2007 durch die Kom- (D) nimmt. Damit wird dem Grundstückseigentümer ein munen in der vorgesehenen Zeit nicht zu realisieren Stück Entscheidungsfreiheit zurückgegeben. Damit tritt gewesen. Dafür gibt es objektive Gründe: Aufgrund der der eigentumsrechtliche Normalfall ein. Vielzahl der bisher bekannt gewordenen Fälle sowie der Schwierigkeiten bei den Recherchen zu den betroffenen Dies ist auch geboten, wenn man bedenkt, dass der Grundstücken hat sich gezeigt, dass eine Vielzahl der be- Eigentümer bei Ablauf der Frist Ende Juni 2007 über ei- troffenen Kommunen ihr notarielles Kaufvertragsange- nen Zeitraum von insgesamt fast 17 Jahren seit der Wie- bot nicht bis zu dem vorgesehenen Stichtag an die dervereinigung keinen Zugriff auf sein Eigentum hatte Grundstückseigentümer übermitteln kann. Dies ist unter und die Fremdnutzung hinnehmen musste, also zu Passi- anderem dem Umstand geschuldet, dass es sich bei den vität verurteilt war. Grundstückseigentümern oft um große Erbengemein- schaften handelt, noch nicht vollständig aktualisierte Der öffentliche Nutzer hatte in all den Jahren genug Grundstückskataster in den Gemeinden vorliegen oder Zeit, vorbereitende Maßnahmen zur rechtlichen Bereini- noch strittige Rückübertragungsansprüche vorliegen gung in Angriff zu nehmen und durchzuführen. Wenn bzw. sich erst im Rahmen von Vermessungen für Bau- der öffentliche Nutzer dies nicht getan hat, gleichwohl maßnahmen herausstellt, dass zum Beispiel öffentliche aber an der Erlangung des Eigentums am Grundstück ge- Straßen zum Teil über private Grundstücke verlaufen. gen den Willen des Grundstückseigentümers interessiert ist, besteht im begründeten Einzelfall und zum Wohle Die Beschlussfassung zum vorliegenden Antrag mei- der Allgemeinheit immer noch die Möglichkeit einer ner Fraktion ist ein weiterer Gradmesser dafür, welchen Enteignung nach den jeweiligen Spezialvorschriften, Stellenwert öffentliches Interesse und Gemeinwohl so- insbesondere den Straßengesetzen der Länder. Diese wie Verantwortung für handlungsfähige Kommunen für setzte dann allerdings die Zahlung einer Entschädigung die in diesem Hause vertretenen Fraktionen haben. Die in Höhe des Verkehrswerts voraus. Bundesregierung und die große Mehrheit in diesem Ho- hen Hause argumentiert, dass dieses Gesetz und seine Alles andere wäre mit der Eigentumsgarantie des Fristenregelung nur eine Übergangslösung seien. Das ist Art. 14 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes auch nicht ver- richtig und soll auch so bleiben. einbar. Mit der von den Antragstellern geforderten Frist- verlängerung ohne Ausgleichsmaßnahmen würde die Auch wir, Die Linke, wollen dieses Gesetz als Über- Grenze des den Grundstückseigentümern Zumutbaren gangsregelung sehen. Aber wir alle gemeinsam müssen überschritten. Die Grundsätze des Vertrauensschutzes zur Kenntnis nehmen, dass regional unterschiedlich 30 und der Verhältnismäßigkeit wären dann verletzt. bis 40 Prozent aller für die Gemeinden notwendigen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10879

(A) Grundstücke für die Sicherung der öffentlichen Aufga- einem Schnellschuss! Wir können nur froh sein, dass (C) ben noch nicht im Besitz der Kommunen sind. Die Flä- dieser Tagesordnungspunkt so spät angesetzt worden ist, chenzuordnung ist also längst nicht erfolgt und schon gar sodass wir den Wählerinnen und Wählern vor den Fern- nicht abgeschlossen. Deshalb sollte es möglich sein, sehern die Behandlung dieses belanglosen Antrages er- diese Übergangsregelung um einen angemessenen Zeit- sparen können. raum einmal zu verlängern. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, mit Der Übergang des Initiativrechtes zum Kaufvertrags- diesem Antrag können Sie keinen Blumentopf gewin- abschluss von den Kommunen auf die Eigentümer führt nen. zur Erhöhung des finanziellen Aufwandes für die Kom- munen, die nun zum Verkehrswert erwerben müssen. Schon zur ersten Lesung im März sind Sie die Be- Sollte eine Fristverlängerung nicht erreicht werden, gründung für eine Verlängerung des Verkehrsflächenbe- bleibt den Gemeinden nur die Möglichkeit des ordentli- reinigungsgesetzes schuldig geblieben. Ich kann weiter- chen Ankaufs der Grundstücke zum Verkehrswert, was hin nur feststellen, dass ein Schreiben des Städte- und die öffentlichen Haushalte weiter belasten würde und Gemeindebundes Thüringen unkritisch und ohne Ände- das Risiko birgt, dass der private Grundstückseigentü- rungen in einen parlamentarischen Antrag übernommen mer sich einem Verkauf auch verweigern oder den Pro- wurde. Von einer Bundestagsfraktion hätte ich mehr po- zess einer Einigung zeitlich in die Länge ziehen kann. litische Intuition und Geschick erwartet. Es ist noch Oft haben wir es doch auch an anderen Stellen erleben nicht lange her, da musste ich übrigens die gleiche Vor- müssen, dass die privaten Verkäufer utopische Kauf- gehensweise Ihrer Fraktion bei einem Anliegen des Bun- preisforderungen stellen, wenn die öffentliche Hand desverbandes der Deutschen Binnenschiffer feststellen. Grundstücke erwerben will. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, so machen Sie sich zu Handlangern einzelner Interessen- Das wäre ein weiterer Schritt, die finanziellen Hand- vertreter. Ich hoffe, dass Ihr politischer Anspruch größer lungsspielräume der Kommunen einzuschränken und potenzielle kommunale Investitionen zu be- wenn nicht ist und rate Ihnen, die Anliegen einzelner Interessenver- sogar zu verhindern. treter ernsthafter zu prüfen und zu bewerten. Nach dem Fristablauf würde auch die Sicherung kom- Obgleich die Argumente bereits zur ersten Lesung im munaler Daseinsvorsorge, soweit es Flächen betrifft, auf Plenum bekannt waren, will ich nochmals kurz auf den denen Schulen, Kindergärten, Spiel- und Sportplätze ge- Antrag zum Verkehrsflächenbereinigungsgesetz eingehen. baut wurden bzw. gebaut werden sollen, zeitlich erheb- Es gibt vor Ort keinen Bedarf für eine Verlängerung. Bis- lich schwerer werden. Es besteht also in mehrfacher lang sind mir aus den anderen Bundesländern – mit Aus- (B) Hinsicht ein dringender Bedarf für eine Fristverlänge- nahme des Städte- und Gemeindebundes Thüringen – (D) rung. Eine Umfrage ergab allein in Thüringen 2006 bei keine Fälle bekanntgeworden, die eine Verlängerung des 13 Gemeinden einen Rückstand von 691 Grundstücken Verkehrsflächenbereinigungsgesetzes hätten begründen mit rund 167 000 Quadratmetern Fläche. In Mecklen- können. Ich bin als Sprecher unserer AG Ost häufig vor burg-Vorpommern sind die Zahlen ähnlich. Ort und dadurch mit kommunalpolitischen Problemen be- fasst. Würden ostdeutsche Kommunen tatsächlich einen Außerdem wird der Übergang des Rechts auf Verlan- Bedarf für eine Verlängerung sehen, wären sicher längst gen zur Flächenbereinigung auf den oder die Grund- entsprechende Initiativen über die Parteien, kommunalen stückseigentümer als Investitionshemmnis und entgegen Spitzenverbände oder/und die Länder ergriffen worden. dem öffentlichen Interesse wirken, da die Kommune ihr Initiativrecht verliert. All dem liefern wir die Gemeinden Schließlich ist seit langem klar, dass dieses Gesetz aus, wenn die Fristverlängerung nicht beschlossen wird. ausläuft. Die Kommunen konnten bis jetzt auch schwie- rige Immobilienfragen klären. Selbst nach dem 30. Juni Die begrüßenswerten Ziele des Gesetzes, nämlich werden Rechtsbereinigungen möglich sein. Das Argu- Rechtssicherheit für Nutzer und Eigentümer zu schaffen, ment, dass Eigentumsfragen immer noch nicht geklärt Eigentümer angemessen zu entschädigen sowie Grund- werden konnten, kann ich so nicht gelten lassen. stücksnutzung und Grundstückseigentum für die öffent- Schließlich sind mittlerweile 17 Jahre verstrichen. Soll- liche Hand zusammenzuführen, ist unter den gegebenen ten tatsächlich Eigentumsfragen in kritischen Größen- Bedingungen und der gesetzten Frist nicht erreichbar. ordnungen noch unklar sein, dürfte das an den staatli- Damit ist die Wahrnehmung der öffentlichen Aufgaben chen Stellen und nicht an den Eigentümern liegen. Nach auf den betroffenen Grundstücken zukünftig in Gefahr. 17 Jahren ist es Zeit, sich von den ganzen Sonderrechten Aus den genannten Gründen ist eine Fristverlängerung zu verabschieden. Selbst als linker Grüner sage ich hier: des Gesetzes dringend geboten. Diese Rechtssicherheit sind wir auch den Eigentümern schuldig. Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aus meiner Sicht kommt die Bau- und Stadtentwicklungspo- Danach kann sich der Eigentümer selbst um die Klä- litik im Bundestag viel zu kurz. Vor dem Hintergrund der rung der Rechtsposition seines Grundstücks kümmern. absehbaren demografischen Entwicklung, der dramati- Die Laufzeit des Gesetzes bis zum 30. Juni 2007 war schen Klimaveränderungen und der sozialen Verschie- meines Wissens schon ein Kompromiss einer Bund-Län- bungen müssten unsere Themen viel öfter auf der Tages- der-Arbeitsgruppe. Wie sich heute herausstellt – mit Au- ordnung des Plenums stehen. Aber bitte nicht mit so genmaß. 10880 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

(A) Außerdem muss ich nochmals auf die verfassungs- 2007 bis 2013 mit 15 Seiten in Deutsch als Zusammen- (C) rechtlichen Probleme hinweisen. Das Grundgesetz for- fassung, 77 Seiten in Englisch und 32 Seiten in Franzö- dert, dass sowohl das Eigentum als auch das Erbrecht zu sisch vorgelegt. gewährleisten sind. Eine Fristverlängerung verstößt je- doch sowohl gegen den Vertrauensschutz als auch gegen Die beiden letztgenannten Abschnitte sind laut Kom- die Verhältnismäßigkeit. mission lediglich Anhänge und Arbeitspapiere. Was soll man als gewissenhafter Abgeordneter damit anfangen? Provisorische Lösungen halten bekanntermaßen ewig, Es wäre ja nicht das erste Mal, dass eine Verwaltung un- doch das darf nicht für dieses Gesetz gelten. Am Ende liebsame oder unangenehme Wahrheiten in Berichten zu dieses Monats muss daher das Verkehrsflächenbereini- verstecken versucht, indem diese in die Anlagen gescho- gungsgesetz auslaufen. ben werden und dann darauf gehofft wird, dass der ge- Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion, neigte Leser nach dem Hauptteil die Lektüre einstellt. ich sehe daher weiterhin keinen Grund, Ihren Antrag Auch die Kollegen im EU-Ausschuss und Finanzaus- mitzutragen. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wird schuss sind mit dieser Problematik bereits mehrfach in Ihre Initiative daher ablehnen. Berührung gekommen. Unser Bundestagspräsident, Dr. Norbert Lammert, und das Auswärtige Amt waren auch bereits in dieser Frage aktiv und haben sich unter Anlage 9 anderem in schriftlicher Form an die Kommission Zu Protokoll gegebene Reden gewandt, um diese von der Notwendigkeit einer voll- ständigen Übersetzung zu überzeugen. Unsere Bundes- zur Beratung der Beschlussempfehlung und des kanzlerin hat in einem persönlichen Gespräch mit Kom- Berichts zu dem Antrag: Sonderbericht Nr. 9/ missionspräsident Barroso ebenfalls auf die Problemlage 2006 über Ausgaben für Übersetzungsleistun- hingewiesen. Leider hat sich trotz dieser vielen Bemü- gen bei der Kommission, beim Parlament und hungen noch keine Änderung bei den Verfahrensweisen beim Rat (Tagesordnungspunkt 21) der Kommission ergeben. Dabei muss man eines fest- stellen: Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): Deutsch ist für rund 90 Millionen EU-Bürger ihre Muttersprache und Die derzeitige Praxis der Kommission widerspricht nach dem Englischen die zweitwichtigste Fremdsprache der geltenden Rechtslage. Gemäß der Verordnung 1 von in der Europäischen Union. 1958 ist Deutsch eine von mittlerweile 22 gleichberech- tigten Amtssprachen der EU, so weit so gut. Art. 6 der (B) Wir wollen die Bedeutung der deutschen Sprache in Verordnung 1 erlaubt den Organen der Gemeinschaft (D) der Europäischen Union stärken. Leider müssen wir aber eine Sprachenregelung festzulegen. Davon wurde Ge- feststellen, dass uns umgekehrt ständig Drucksachen aus brauch gemacht und ein Dreisprachenregime aus dem Bereich der Europäischen Union erreichen, die nur Deutsch, Englisch und Französisch als Arbeitssprachen zum Teil in Deutsch gehalten sind, zum anderen aber eingeführt. Es sollte doch eigentlich selbstverständlich umfangreiche Abschnitte in Englisch und Französisch sein, dass sich die EU-Kommission an diese rechtlichen enthalten. Vorgaben hält. Der Unterausschuss zu Fragen der Europäischen Union Die „formalen“ Kriterien haben auch dazu geführt, im Haushaltsausschuss ist nicht bereit, dies länger hinzu- dass beispielsweise Fortschritts- und Monitoringberichte nehmen. Seit März 2006 weisen wir Ratsdokumente, die im Zusammenhang mit der Erweiterungs- und Nachbar- nicht vollständig ins Deutsche übersetzt wurden, zurück schaftspolitik der EU in zehnseitigen Zusammenfassun- und beraten diese damit vorläufig nicht. Mittlerweile wur- gen vorgelegt wurden und als Zugabe hundert Seiten in den 27 EU-Vorlagen mit 2 271 englisch- bzw. franzö- englischer und französischer Sprache beigelegt wurden. sischsprachigen Seiten zurückgewiesen. Mit diesem Beispiel möchte ich nur deutlich machen, Nötig wurde dies, nachdem die Europäische Kommis- dass die Kommission mit dem Ausschluss politischer sion dazu übergegangen ist, immer weitere beratungs- und dem Anlegen rein formaler Kriterien bei der Festle- und entscheidungsrelevante EU-Dokumente ganz oder gung der Übersetzungsleistung einen schweren Fehler teilweise zu Arbeitsdokumenten oder Anhängen herab- begeht. zustufen, um sich dadurch ihrer bindenden Verpflichtung zur vollständigen Übersetzung der Vorlagen in die Ar- In einer Diskussion mit dem für Vielsprachigkeit zu- beitssprache Deutsch zu entziehen. Dabei wird nach rein ständigen Kommissar, Leonard Orban, im EU-Aus- formalen Kriterien beschlossen, was teilweise zu absur- schuss im April, habe ich deutlich gemacht, dass sich die den Situationen führt. Ich darf Ihnen dies an einem Bei- Problematik der Übersetzungsleistungen einfach lösen spiel deutlich machen: lässt. Entweder muss die Kommission mit den vorhande- Die EU-Vorlagen zu gefrorenen Erdbeeren, Sätteln nen Mitteln eine komplette Übersetzung der vorliegen- aus China und Zuckermais aus Thailand wurden dem den Dokumente sicherstellen. Es gibt keinen Mangel an Deutschen Bundestag vollständig übersetzt zugeleitet. Dolmetschern bei den Sprachen Englisch und Franzö- sisch. Oder, wenn denn die Mittel für die hohe Seiten- Demgegenüber wurde die Mitteilung der Kommis- zahl nicht ausreichen, sollte man sich beim Verfassen der sion zur verbraucherpolitischen Strategie der EU von Dokumente auf das Wesentliche beschränken, um die Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10881

(A) Übersetzungsseitenzahl den vorhandenen Dolmetscher- Haushaltsausschusssekretariats bedanken, die unsere (C) kapazitäten anzupassen. klare Linie in dieser Frage unterstützt und mitgetragen haben. Ich habe Herrn Orban in diesem Zusammenhang auch ein Angebot unterbreitet: Sollte die Kommission nicht in der Lage sein, das Problem zu meistern, soll sie uns das Michael Roth (Heringen) (SPD): Seit heute tagt der sagen. Wir können dann selbst entsprechende Überset- Europäische Rat in Brüssel. Das Ergebnis der Beratun- zungskapazitäten beim Bundestag aufbauen und die ent- gen in Brüssel wird für die Handlungs- und Zukunftsfä- stehenden Kosten gegen sonstige Forderungen der Euro- higkeit der Europäischen Union entscheidend sein. Der päischen Union an Deutschland verrechnen. vorliegende Verfassungsvertrag, dessen Inhalt wir erhal- ten wissen wollen, sieht auch eine Stärkung der nationa- Vielleicht mag es dem Außenstehenden seltsam vor- len Parlamente vor. Und wenngleich vieles bedauerli- kommen, dass der Deutsche Bundestag bzw. seine Aus- cherweise zur Disposition gestellt worden ist: An dieser schüsse sich seit Monaten mit dieser Frage beschäftigen. Stärkung wird festgehalten. Wir Parlamentarierinnen Schließlich leben wir in einer Zeit, in der wir unseren und Parlamentarier in allen Mitgliedstaaten der EU wol- Kindern immer früher Fremdsprachen beibringen und in len an der Zukunft Europas verantwortungsbewusst und der Mehrsprachigkeit als besondere Qualifikation gilt. konstruktiv mitwirken. Deshalb hat der Deutsche Bun- Doch darum geht es nicht. Wir als deutsches Parlament destag im Herbst vergangenen Jahres eine Vereinbarung können einfach erwarten, dass uns die zu beratenden Un- mit der Bundesregierung über die Zusammenarbeit in terlagen in unserer Muttersprache vorgelegt werden. Angelegenheiten der Europäischen Union geschlossen. Deutschland ist der größte EU-Nettobeitragszahler, Neben der verstärkten Informationspflicht der Bundesre- und wir können dafür auch erwarten, dass Zusagen ein- gierung gegenüber dem Bundestag sieht sie auch vor, gehalten werden. Denn eines muss bei dieser Diskussion dass der Deutsche Bundestag zu den Gesetzesvorschlä- jeder wissen: Es geht nicht darum, zusätzliche Wünsche gen der EU vermehrt Stellung bezieht. Die Verhand- zu äußern, sondern darum, dass Zugesagtes eingehalten lungsposition der Bundesregierung im Rat wird somit wird. demokratisch abgesichert. Wir tragen zur besseren Rechtsetzung in der Europäischen Union bei. Die Pflicht Auch die Große Koalition hat sich in ihrem Vertrag zur intensiveren Beratung wichtiger Dokumente und dazu verpflichtet, die Bedeutung der deutschen Sprache Rechtsakte in allen Gremien des Bundestages setzt vo- innerhalb der Europäischen Union zu stärken. „Wir wer- raus, dass alle Kolleginnen und Kollegen daran teilhaben den dafür sorgen, dass die Stellung der deutschen Spra- können. Entsprechende Übersetzungen ins Deutsche che in Europa ihrer Bedeutung entsprechend berücksich- sind daher zwingend – und zwar frühzeitig und umfas- tigt wird.“ (B) send. (D) Bereits seit vielen Monaten wird gegenüber den euro- Die stärkere Befassung des Bundestages mit EU-Vor- päischen Institutionen durch die Bundesregierung und lagen wurde von der Kommission kürzlich ausdrücklich Vertreter des Bundestages die unzulängliche Überset- gelobt. In der Praxis wird die Kommission ihrer Verant- zungspraxis beklagt. Bisher hat sich jedoch leider kein wortung aber nicht gerecht. Schließlich ist sie es, die für Erfolg eingestellt, man hat den Eindruck, die Kommis- die notwendige Übersetzung in alle 23 Amtssprachen sion stellt sich stur. Sorge zu tragen hat. Das bereitet sicher viel Arbeit. Die Der Deutsche Bundestag kann mit dem vorliegenden Sprachenvielfalt gilt es jedoch zu erhalten. Sie ist ein Antrag ein Zeichen setzen und die Regierung in dem Be- wertvolles Kulturgut Europas. Daher erwarten wir von mühen unterstützen, eine vernünftige Übersetzungspra- der Kommission, dass sie ihren vielen hehren Worten xis in der EU herbeizuführen. endlich Taten folgen lässt. Selbstverständlich sehe auch ich die große Herausforderung, der sich die Kommission Wobei man eines auch nicht übersehen darf, die Stär- zu stellen hat: Sie vermag nicht jedes Dokument unver- kung der deutschen Sprache innerhalb der EU wird auf züglich und vollständig in alle 23 Sprachen zu über- mittlere Sicht nur gelingen, wenn wir als Deutsche auch setzen. Deshalb spricht vieles dafür, dass sich die bereit sind, mit unserer Sprache offensiv umzugehen. Kommission in der tagtäglichen Praxis für ein Dreispra- In der Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung chenregime entschlossen hat: Deutsch, Englisch und vom 16./17. Juni dieses Jahres beschäftigte sich der Französisch sind die Verfahrens- bzw. Arbeitssprachen Journalist Martin Winter mit dem Verhalten deutscher der Europäischen Kommission. Es sind die drei am häu- Delegationen und Bürokraten in Brüssel. Beim Lesen figsten gesprochenen Sprachen in der EU. konnte ich teilweise nur ungläubig den Kopf schütteln. Tatsächlich aber zeigt die Übersetzungspraxis der Der Autor berichtet, dass aus falscher Zurückhaltung Kommission eine andere Tendenz. Zwar werden formal oder Bescheidenheit heraus selbst unsere Landsleute alle offiziellen Dokumente übersetzt. Immer häufiger fin- sich nicht in ihrer Muttersprache unterhalten, sondern den sich darin aber nur Zusammenfassungen. Die Details, auf das Englische ausweichen. Wie wollen wir die deut- auf die es auch in unseren parlamentarischen Beratungen sche Sprache innerhalb der EU stärken, wenn wir noch häufig ankommt, werden immer häufiger als Anhang ab- nicht einmal selbst zu unserer Sprache stehen? gestuft und auch auf Nachfrage nicht mehr übersetzt. Die An dieser Stelle möchte ich mich ganz herzlich bei Frage der politischen Relevanz spielt bei der Entschei- meinen Kollegen im Unterausschuss, Haushaltsaus- dung, ob ein Text übersetzt wird oder nicht, für die Kom- schuss und Europaausschuss sowie dem Mitarbeiter des mission eine immer geringere Rolle. Ich kann mich leider 10882 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

(A) des Eindrucks nicht erwehren, als trickse die Kommission Alltag diesen Ansprüchen genügen. Das gilt unter ande- (C) herum. Wenn wir uns ernsthaft an der Gestaltung der deut- rem auch für die sogenannte „Sprachencharta der EU“. schen Europapolitik beteiligen wollen, muss sich die Kommission von ihrer rigiden und unsinnigen Überset- Nach der Verordnung 1 von 1958 sind alle offiziellen zungspraxis endlich verabschieden. Es geht mir jedoch Sprachen der EU-Mitgliedstaaten als Amtsprachen nicht allein nur um den Respekt gegenüber der deutschen gleichberechtigt. Dementsprechend sollen auch alle Vor- Sprache. Nein, alle 23 Amtssprachen müssen bei der lagen der EU-Gesetzgebung in jede Sprache übersetzt Übersetzungspraxis angemessen berücksichtigt werden. werden. So fußt diese Amtsprachenregelung auf dem Wir haben uns dieser Problematik schon mehrmals hier Prinzip der Vielsprachigkeit und ermöglicht allen Mit- im Bundestag mit aller Ernsthaftigkeit angenommen. gliedern den gleichberechtigten Zugang zum Entschei- Viele Briefe wurden geschrieben, zahlreiche Gespräche dungsfindungsprozess innerhalb der Union. Deutsch ist geführt. Sowohl Bundestagspräsident Lammert als auch eine der drei „Arbeitsprachen“ der Gemeinschaft, die die die Bundeskanzlerin und unser Bundesaußenminister ha- Organe im Verkehr untereinander und im internen Ge- ben sich über die Übersetzungspraxis bei Kommissions- brauch verwenden sollen. präsident Barroso beschwert. Es hat bislang nichts gehol- Dennoch wird in zunehmendem Maße eine Vielzahl fen. Der für die Mehrsprachigkeit zuständige EU- von Unterlagen aus Brüssel dem Deutschen Bundestag Kommissar Leonard Orban zeigte bei seinem Besuch im zugeleitet, die nicht vollständig ins Deutsche übersetzt Europaausschuss des Bundestages vor knapp zwei Mona- sind oder gar nur in Englisch vorgelegt werden. Denn ten zwar Verständnis für diese Beschwerden. Eine Verbes- die EU-Kommission hat – angeblich aus finanziellen serung der Übersetzungsleistung konnte er aber nicht zu- Gründen – beschlossen, politisch relevante EU-Doku- sagen. mente zu „Arbeitsdokumenten“ oder „Anhängen“ herab- zustufen, um sich damit der bindenden Verpflichtung auf Der Bericht des Rechnungshofes macht eines deut- vollständige Übersetzung zu entziehen. Dabei geht es lich: Die Leistungsfähigkeit und Kosten der Überset- zum Beispiel um Finanzberichte, Politikfolgenabschät- zungsdienste in Kommission, Rat und Europäischem zungen und Forschritts- und Monitoringberichte. Zudem Parlament könnten durch eine bessere Organisations- plant die Kommission eine grundlegende Umstrukturie- struktur und eine verstärkte Nutzung von modernen rung ihres Übersetzungsdienstes, die eine weitere Ein- Technologien erheblich verbessert werden. Solche Ver- schränkung der Übersetzungskapazitäten sowie eine besserungen wären auch in unserem Interesse. Aber die Verschlechterung der Übersetzungsqualität befürchten Frage der Effizienz kann nicht im Vordergrund dieser lässt. Debatte stehen. Dass die Kommission sich bemüht effi- zient zu arbeiten, sollte selbstverständlich sein. Hier geht (B) Die beiden letzten Erweiterungsrunden der Europäi- (D) es vielmehr um die grundsätzliche Frage der politischen schen Union haben zwar zu einem nicht unerheblichen Relevanz, die bei der Übersetzungspraxis der Kommis- Zuwachs an Mehrkosten für den Übersetzungsdienst ge- sion als Leitfaden dienen sollte. Und es geht im Kern da- führt, was offensichtlich für die Kommission die Frage rum, wie ernst die Kommission die nationalen Parla- nach der Finanzierung der Mehrsprachigkeit aufwirft. So mente überhaupt nimmt. Die EU-Kommission hat viel ist aber gewiss, dass die jetzige Praxis der Kommis- knappe finanzielle Ressourcen als wesentlichen Grund sion dem Deutschen Bundestag die Bewertung wichtiger für begrenzte Übersetzungskapazitäten genannt. Es europapolitischer Vorgänge erschwert und die Vermitt- scheint also um haushälterische Argumente zu gehen. lung der europäischen Beschlüsse gegenüber den Bür- Dies greift der Ihnen vorliegende Antrag offensiv auf. gern beeinträchtigt! Deutliche, aber im Ton stets freundliche Bitten zeigen Ausgerechnet in einer Zeit, in der die Notwendigkeit bislang keine Wirkung. Daraus gilt es Konsequenzen zu einer besseren Einbeziehung der nationalen Parlamente ziehen. Eine möglichst breite Zustimmung dieses Hau- in den europäischen Entscheidungsprozess immer mehr ses würde die Erfolgsaussichten zweifellos verbessern. Bedeutung zukommt, verschlechtert die neue Sichtweise Daher bitte ich Sie um Ihre Unterstützung. und Praxis der Kommission die Mitwirkungs- und Kon- trollrechte des Deutschen Bundestags. Der europäische Verfassungsvertrag, den die Kommission unterstützt, Klaus Hagemann (SPD): Dieses Wochenende wird sieht bezeichnenderweise dagegen eine Ausweitung die- erneut vom politischen Geschehen auf europäischer ser Rechte vor. Ebene geprägt werden: Die Debatte um die Verhandlun- gen über eine neue EU-Charta und die Wiederaufnahme Wir unterstützen deshalb die Bundesregierung und des Verfassungsprozesses beschäftigen die Menschen, werden gemeinsam, dem Vorstoß der Kommission ent- sind Thema im Deutschen Bundestag und nehmen be- gegenwirken. Wir fordern die EU-Organe auf, die not- rechtigterweise einen großen Raum in den Medien ein. wendigen Übersetzungen vollständig und in angemesse- Die Europäische Union steht heute am Scheideweg: Die ner Qualität vorzulegen und ein neues Konzept für ein EU und ihre Institutionen müssen sich ehrgeizige Ziele zufriedenstellendes Übersetzungsregime vorzustellen. in Sachen Transparenz und Demokratie setzen, um den Deutschland ist der größte Nettozahler in der EU, die Erwartungen der Bürger gerecht zu werden. Parallel zu Deutschen stellen die größte Bevölkerungsgruppe, und den Gesprächen auf dem laufenden EU-Gipfel in Brüssel wir sind der größte Sprachenraum. Deutsch kann des- über das neue Institutionengefüge der Gemeinschaft halb als Arbeitssprache in Brüssel nicht nur unter einer muss die Arbeit der Europäischen Union aber auch im rein kostenorientierten Betrachtung behandelt werden. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10883

(A) Die notwendigen Finanzmittel müssen dafür zur Verfü- gen – terminologisch korrekt müssten wir hier eigentlich (C) gung stehen. von EG-Vorlagen reden –, die ganz oder teilweise nur auf Englisch vorliegen – und dies oftmals in einer büro- In den Mitteilungen der Kommission ist oftmals das kratisch verdrehten Brüsseler Terminologie, dass selbst Wort „Synergieeffekte“ zu lesen. Es wäre schön, wenn englische Muttersprachler oft Mühe haben, diese beim diese Synergieeffekte auch bei der Erzeugung von ersten Lesen zu verstehen. Da diese politisch oftmals Rechtsakten zustande kämen. So sollten EU-Dokumente hochbrisanten Vorlagen aus Brüssel oft Vorgaben be- kürzer gefasst oder auf manche gar ganz verzichtet wer- inhalten, die den Alltag unserer Bürgerinnen und Bürger den; damit wären auch die ersehnten Ersparnisse mög- direkt betreffen, ist es umso wichtiger, dass wir für deren lich. Neil Kinnock, ehemaliger Verwaltungskommissar, Interessenswahrnehmung und zur Erfüllung unserer hatte ja bereits – bislang vergeblich – zu einer Beschrän- Kontrollfunktion gegenüber der Bundesregierung alle kung der Schriftstücke der Kommission auf eine Maxi- zur Mitwirkung nötigen Dokumente in der Arbeitsspra- mallänge von 15 Seiten gemahnt, um den Papierberg zu che Deutsch vorliegen haben. reduzieren. In unserem gemeinsamen Antrag betonen wir, dass Aber vielleicht sind wir Deutschen auch selbst mit- Deutsch mit rund 90 von 493 Millionen Sprechern die verantwortlich für die schleichende Verdrängung unserer meistgesprochene Muttersprache in der Europäischen eigenen Sprache im europäischen Kräftespiel! Ich habe Union ist. Auch unterstreichen wir, dass Deutsch seit dazu einen sehr aufschlussreichen Artikel in der „Süd- dem Beitritt der mittel- und osteuropäischen Länder mit deutschen Zeitung“ vom 16. Juni 2007 gelesen, in dem rund 63 Millionen Sprechern nach dem Englischen die darüber berichtet wird, dass Deutsch auch von den Deut- zweitwichtigste Fremdsprache in der EU geworden ist. schen vor Ort in Brüssel nicht wirklich „verteidigt“ wird. Damit soll keine Bewertung, geschweige denn eine Viele unserer Repräsentanten trauen sich offensichtlich Hierarchisierung der Sprachen vorgenommen werden. nicht, ihre Muttersprache zu sprechen, manchmal – so Damit wird schlicht die Sprachenrealität in Europa dar- wird süffisant berichtet – auch wenn sie miteinander re- gestellt. Diese Zahlen sollte die Kommission in ihrem den oder ein Dolmetscherdienst den Nichtdeutschspra- Hinterkopf behalten, wenn es ihr immer noch darum chigen zur Verfügung steht! Auf diesem Gebiet ließen geht, ihren Plan D für mehr Demokratie, Dialog und Dis- und lassen wir in den EU-Zirkeln immer noch den ande- kussion innerhalb der Europäischen Union mit Leben zu ren den Vortritt. In der „Süddeutschen Zeitung“ heißt es erfüllen. Denn je mehr Dokumente sie ins Deutsche kurz und bündig: „Deutsch spielt eine Nebenrolle, weil übersetzt, desto mehr Bürgerinnen und Bürger kann sie es die Hauptrolle nie wollte.“ Aus dieser Feststellung erreichen! Die Gleichwertigkeit aller europäischen Spra- kann jeder Deutsche – ob im Parlament, der Kommis- chen ist für uns Liberale dabei selbstverständlich. So wie (B) sion oder der Verwaltung tätig – jederzeit die richtige wir es für den Deutschen Bundestag einfordern, hat na- (D) Konsequenz ziehen. Die SPD-Fraktion unterstützt auch türlich auch jedes andere nationale Parlament ein An- weiterhin die Bemühungen von Bundesminister recht darauf, relevante Dokumente in seiner Mutterspra- Steinmeier und dem Auswärtigen Amt und dankt für die che beraten zu können. Denn die Europäische Union hat bisherigen Aktivitäten. 23 Amts- und Arbeitssprachen. Natürlich steht es jeder europäischen Institution frei, sich in ihrer Geschäftsord- Michael Link (Heilbronn) (FDP): Bei der heutigen nung für ihre internen Arbeitsverfahren – zur Steigerung Diskussion über die Übersetzungsleistungen der drei der Effizienz – auf eine Begrenzung auf bestimmte Spra- politischen europäischen Institutionen Kommission, Par- chen zu verständigen. – An dieser Stelle sei mir eine lament und Rat sowie unsere Forderung, Deutsch als kleine Anmerkung gegenüber der Kommission erlaubt: Arbeitssprache in der Europäischen Union stärker durch- Offiziell ist Deutsch immer noch eine ihrer drei internen zusetzen, geht es bei weitem nicht um eine Neiddebatte Arbeitssprachen! – Sobald die Kommission jedoch nach gegenüber der französischen oder englischen Sprache. außen tätig wird, wenn sie Initiativen veröffentlicht, Auch geht es nicht um einen „hegemonialen“ Versuch, sollte sie nicht vergessen, dass es eindeutige Rechtsvor- eine Hierarchie der europäischen Sprachen herzustellen. schriften zur Regelung der Sprachenfrage mit 23 Amts- Nein – vielmehr muss diese Debatte vor dem Hintergrund sprachen gibt, die die Kommission als Hüterin der Ge- der Bemühungen des Deutschen Bundestages betrachtet setze bestimmt auch kennt und die sie zu respektieren werden, seine „Europafähigkeit“ zu steigern. hat. Der Sonderbericht Nr. 9/2006 über Ausgaben für Die heutige Stellungnahme des Bundestages ist ein Übersetzungsleistungen bei der Kommission, beim Par- weiterer Schritt bei der konkreten Umsetzung der im lament und beim Rat, der heute ebenfalls zur Debatte vergangenen Jahr getroffenen Vereinbarung zwischen steht, erwähnt nicht nur die teilweise unzureichenden in- Bundestag und Bundesregierung zur Steigerung der ternen Kapazitäten der Übersetzungsdienste, sondern be- Europafähigkeit des Parlaments, der BBV. Denn damit scheinigt auch dem EPSO, dem Europäischen Amt für der Bundestag seine Rechte nach Art. 23 GG auch prak- Personalauswahl, ein Unvermögen, bei den EU-10-Spra- tisch wahrnehmen kann, müssen die politisch beratungs- chen, den zehn Sprachen der Beitrittsländer von 2004, und entscheidungsrelevanten Dokumente auch auf rechtzeitig das erforderliche Übersetzungspersonal ein- Deutsch vorliegen. Während häufig durch und durch gestellt zu haben. technische Vorlagen der Europäischen Gemeinschaft bis zur letzten Fußnote übersetzt werden, gibt es anderer- Welche Schritte sollte nun der Bundestag ergreifen, seits häufig politisch entscheidungsrelevante EU-Vorla- bis die Kommission diese Versäumnisse, teilweise sogar 10884 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

(A) Missstände, beseitigt hat? Für uns Liberale scheint das ständlichkeit der Beschlüsse und Entscheidungen für (C) Prinzip, Dokumente zurückzuweisen, die nicht in deut- jeden. Wieso gehen wir denn davon aus, dass die Bürge- scher Sprache vorliegen, grundsätzlich richtig zu sein, da rinnen und Bürger kleinerer EU-Mitglieder mit Selbst- diese Zurückweisung den politischen Druck auf die verständlichkeit eine der Hauptsprachen der EU kom- Kommission und den Rat erhöht, Beratungsgrundlagen plett beherrschen müssen – denn das Verständnis der in vorzulegen, die alle Abgeordneten verstehen können. Je- komplizierter Amtssprache verfassten Dokumente ist doch möchte ich meine Kolleginnen und Kollegen auf- nur mit Komplettbeherrschung möglich –, wir Deut- fordern, bei politisch hochbrisanten Dokumenten nicht schen aber nicht? Nein, die Betonung der eigenen Spra- stur auf diesem Prinzip zu behalten, sondern in Einzel- che als besonders wichtig führt im hier diskutierten Zu- fallentscheidungen bei brisanten Vorlagen eine Aus- sammenhang der Übersetzungspflicht in eine Sackgasse. nahme zu machen. Die Grenze sollte dort verlaufen, wo Sie löst das Problem nicht, sondern schichtet es nur um. uns eine Nicht-Wahrnehmung unserer Beratungsrechte inhaltlich-materiell schadet – und damit die Interessens- Die Sprachen- und Übersetzungsfrage ist in der Tat vertretung der deutschen Bürgerinnen und Bürger beein- eine Art Nagelprobe: Gibt die EU mehr Geld für die trächtigt würde. Übersetzung aus – und damit für die gleichberechtigte Hinbeziehung aller ihrer Mitglieder –, oder konzentriert Wir Liberale begrüßen ausdrücklich, dass die Bundes- sie es auf elitäre Projekte wie das vorgeschlagene Euro- regierung in dieser Frage mit uns Parlamentariern an ei- päische Technologieinstitut? Meine Fraktion lehnt das nem Strang zieht und unseren heutigen Beschluss für Technologieinstitut ab und fordert ein Maß an Überset- ihre Verhandlungsführung in Brüssel zur Stärkung der zungsleistung, das dem hohen Anspruch der EU, die deutschen Sprache als sehr wichtig ansieht. Sprachenvielfalt als Konstituante ihrer selbst zu begrei- fen und zu pflegen, gerecht wird. Roland Claus (DIE LINKE): In der Sache sind wir uns ja einig: Ja, wir brauchen natürlich eine vollständige Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Übersetzung der beratungs- und entscheidungsrelevan- Gerade als einer, der die deutsche Sprache von der Pike ten EU-Dokumente ins Deutsche. Die Praxis, wichtige auf lernen musste, kann ich Ihnen versichern, dass es mir Dokumente ganz oder teilweise zu „Arbeitsdokumen- ein besonderes Anliegen und eine besondere Freude ist, ten“ oder „Anhängen“ herabzustufen, um sich damit der heute hier die Rede meiner Fraktion zu diesem Thema bindenden Verpflichtung auf vollständige Übersetzun- halten zu dürfen. Denn hinter dem sehr technokratischen gen zu entziehen, erschwert Zusammenarbeit und Ent- Titel dieses Tagesordnungspunktes verbirgt sich eine scheidungsfindung erheblich. Das kann so nicht bleiben. überaus wichtige Frage. (B) Und ich freue mich auch, dass sich meine Kollegin- Es geht um nicht weniger als darum, dass die Euro- (D) nen und Kollegen aus den anderen Fraktionen gegen die päische Union und ihre Politik verständlicher werden „rein kostenorientierte Betrachtung“ dieser Überset- müssen und dass die EU ihre eigenen Regeln einhält. zungsangelegenheit wehren, wie sie offensichtlich in der Die EU muss verständlich sein, nicht nur für uns Politi- EU-Kommission waltet. Denn da haben wir es natürlich kerinnen und Politiker, sondern vor allem für die Bürge- mit einer Grundproblematik der Politik überhaupt zu rinnen und Bürger Europas. Dafür ist unerlässlich, dass tun: Wenn alles nur noch betriebswirtschaftlich bewertet alle wichtigen Dokumente der EU in den 22 Amtspra- wird, verliert Politik ihren Sinn. Das wird an diesem chen verfügbar sind. Dies ist zurzeit nicht der Fall. Das Beispiel besonders deutlich, und ich fände es gut, wenn erleben wir tagtäglich in unserer Arbeit in den Gremien die Kolleginnen und Kollegen aus den Koalitionsfraktio- und Ausschüssen. nen ihren Protest gegen das „rein kostenorientierte“ nun Viel wichtiger aber ist, dass die Menschen die EU nie- auch bei der Bildung, im Gesundheitswesen und auf an- mals als ihre Institution verstehen werden, wenn sie ihre deren Feldern der öffentlichen Daseinsvorsorge, auf de- Beschlüsse und Initiativen nicht in ihren eigenen Spra- nen der Ruf nach Privatisierung immer lauter und lauter chen lesen können. Nun wissen wir alle, dass es bei der wird, geltend machen würden. Denn es ist ja richtig: Die Summe der vielen tausend Dokumente, die die EU pro- Sprachenvielfalt ist ein grundlegender Bestandteil des duziert, kaum möglich ist, ohne eine riesige Überset- europäischen Erbes, und Ausgaben für den Sprachen- zungsapparatur alle Dokumente zeitnah in alle 22 Amts- dienst sind politische Kosten. Wer Europa will, muss die sprachen zu übersetzen. Einige Unterlagen sind Sprachenvielfalt wollen, und wer die Sprachenvielfalt außerdem in einzelnen Mitgliedstaaten weniger relevant, durch Sparen am Übersetzen einschränkt, handelt fahr- wie beispielsweise Dokumente zur EU-Meerespolitik in lässig und macht Europa nicht attraktiver, sondern un- der Slowakei. Letztlich muss sich die Kommission auch verständlicher. fragen lassen, ob nicht das eine oder andere Dokument schlicht verzichtbar ist. Aber ganz und gar nicht einverstanden bin ich mit Versuchen, aus der entstandenen Situation eine beson- Gerade weil ein solch großes Maß an Übersetzungs- dere Benachteiligung der Deutschen herauszulesen, dies leistungen derzeit nicht leistbar ist, hat sich die EU- mit allerlei Zahlenmaterial zu begründen und dann eine Kommission drei Arbeitssprachen gegeben: Englisch, besondere Heraushebung der deutschen Sprache zu Französisch und eben auch Deutsch. Aber leider wird fordern. Nein, es geht hier nicht um Mengen und Grö- diese Regel zu wenig eingehalten. Wenn Sie sich zum ßenordnungen: Es geht um das Grundprinzip der Spra- Beispiel im Internet über EU-Vorgänge informieren wol- chenvielfalt, und es geht um das Grundprinzip der Ver- len, stoßen Sie dort allzu oft nicht auf deutschsprachige Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10885

(A) Texte. Die Europäische Kommission benutzt dabei einen Es geht hier nicht um Deutschtümelei. Es geht hier (C) formalen Trick. Sie stuft manche durchaus hochbrisante um „Rule of Law“ – in diesem Fall übersetzt: um die Dokumente in ihrer Relevanz tiefer ein, als sie eigentlich Einhaltung der Verfahrensregeln – in der EU; es geht um in Wahrheit sind. Aufgrund der bisher starren Verfah- Transparenz, und es geht um eine Erhöhung der Akzep- rensregeln müssen sie diese dann nicht übersetzen las- tanz der Bürgerinnen und Bürger für die EU. sen. Ich hoffe, dass wir sehr bald einen neuen Anlauf neh- So läuft das völlig falsch. Was die Kommission da men können, bei dem durch ein gescheites parlamentari- macht, ist ein Westentaschentrick. Hier muss die Bun- sches Verfahren diese Punkte in eine Stellungnahme desregierung klar auftreten und der Kommission gegen- hineinkommen können. Denn an Konsens fehlt es uns an über verdeutlichen, dass diese ihre eigenen Regeln ernst diesem Punkt eigentlich nicht. nehmen muss, ohne die Wenns und Abers, die wir vom EU-Kommissar für Mehrsprachigkeit, Herrn Leonard Orban, in einer Sitzung des Europaausschusses gehört Anlage 10 haben. Auch wir Abgeordnete sollten uns dies nicht bie- ten lassen. Ich möchte Sie daran erinnern, dass das däni- Zu Protokoll gegebene Reden sche Parlament bei dieser Frage eine sehr rigorose Hand- zur Beratung des Antrags: Für ein Europäi- habe beschlossen hat. Liegt ein für die dänischen sches Kartellamt (Zusatztagesordnungspunkt 7) Kolleginnen und Kollegen relevantes Dokument nicht übersetzt vor, dann wird die nationale Regierung per Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU): Ihrer For- Parlamentsbeschluss aufgefordert, in Brüssel dagegen- derung fehlt es leider an Praxisnähe. Das Ziel formulie- zustimmen. Das meine ich, wenn ich von Klarheit spre- ren Sie in Ihrem Antrag richtig: che. … den Missbrauch marktbeherrschender Stellun- Die vorliegende Stellungnahme soll sich dieses Pro- gen effektiv einzudämmen und die Konzerne an der blems annehmen. Sie verfolgt dabei im Kern den richti- Durchsetzung überhöhter Preise zu hindern. gen Weg. Doch sie wurde beim Marsch durch die Aus- schüsse insbesondere von den Kolleginnen und Kollegen Nur der Weg der Lösung ist der falsche. der großen Koalition sprachlich und vor allem in der Ihre Einschätzung der schlechten Wettbewerbslage Stoßrichtung leider verschlechtert und nicht verbessert. insbesondere auf dem Energiesektor ist ebenso richtig. Kurz: Sie ist ein gutes Beispiel dafür, wie es im Parla- Minister Glos – auch das haben Sie zutreffend einge- mentsbetrieb nicht sein sollte. Das ist sehr bedauerlich; schätzt – ist jetzt auf dem richtigen Weg: mit dem um- schließlich ist dieses Thema zu wichtig, um hier nicht (B) fangreichen Maßnahmenpaket aus Anreizregulierung, (D) einstimmig verabschiedet zu werden. Außerdem hatten Netzanschlussverordnung etc. den Weg für mehr Wett- wir im Europaausschuss immer Konsens darüber, dass bewerb frei zu machen. wir mit der Vorgehensweise der Europäischen Union nicht einverstanden sind. Den ersten Entwurf der nun Die jetzt vom Hause Glos auf den Tisch gebrachte vorliegenden Stellungnahme haben wir im Unteraus- Verschärfung der Missbrauchsaufsicht in der GWB-No- schuss Europa des Haushaltsausschusses noch einstim- velle stellt ebenfalls einen wichtigen Beitrag im Kampf mig verabschiedet. gegen Vermachtung dar. Künftig müssen die Stromkon- zerne beweisen, dass ihre Preise gerechtfertigt sind. Der vorliegende Entwurf aber ist an einer aus unserer Wenn sie das nicht können, wird eine sofortige Preissen- Sicht relevanten Stelle nicht zustimmungsfähig. Hier kung angeordnet. Bei marktmächtigen Unternehmen geht es um die erste Forderung, also darum, die Bundes- kann das Kartellamt künftig wirksam dagegen vorgehen. regierung aufzufordern, sich für die allgemeine Stellung Die Regelung ist befristet und wird den privaten Ver- der deutschen Sprache in Europa einzusetzen. braucher, aber auch den unternehmerischen Kunden ent- So verhunzt man einen Konsens. Die allgemeine Stel- lasten. lung der deutschen Sprache in Europa verbessern zu Wir haben derzeit in Deutschland aber auch auf euro- wollen, indem man sie nebenbei in einer Stellungnahme päischer Ebene ein bewährtes System der Wettbe- über die Übersetzungsdienste der EU erwähnt, wird we- werbshüter. Dies ist positiv, daran sollten wir im Wesen der der Stellung der deutschen Sprache gerecht, noch un- festhalten. terstreicht dieses Vorgehen unser aller Anliegen, die Kommission dazu zu bringen, sich an ihre eigenen Re- Es gilt, die zwischen nationalen und europäischen geln zu halten. Deshalb wird sich meine Fraktion bei der Wettbewerbshütern herrschende Koexistenz mit klar ab- Abstimmung zu dieser Stellungnahme enthalten. gestimmten Zuständigkeiten durch präzise Festlegung der Aufgreifschwellen zu wahren. Die EU-Wettbewerbs- Ich hätte mir gewünscht, die Stellungnahme würde politik ist relativ unabhängig vom Einfluss einzelner zudem das Effizienzproblem der EU-Sprachdienste Mitgliedstaaten und stellt in weiten Bereichen ein kon- deutlich ansprechen. Denn hier liegt ein nicht unwesent- sistentes Bild innerhalb Europas dar. Dies muss auch licher Teil des Problems, auf den uns der Sonderbericht weiterhin gewährleistet bleiben. des Rechnungshofs ebenfalls hinweist. Die EU-Sprach- dienste müssen effizienter und produktiver werden. Da- Seit 2005 gibt es das Europäische Netzwerk, dessen für ist eine Aufschlüsselung von Kosten und Umfang der Verteilung je nach Schwellenwerten sehr gut funktio- zu tätigenden Übersetzungen ein erster Schritt. niert. Darüber hinaus gibt es eine sehr gute Vernetzung: 10886 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

(A) Der ECN, das neu geschaffene europäische Netzwerk Ohne Zweifel ist eine personelle Aufstockung zwin- (C) der Kartellbehörden – European Competition Network –, gend notwendig – insbesondere, wenn durch die GWB- ist anerkannt und wird von Wettbewerbsbehörden als Novelle neue Aufgaben auf das Bundeskartellamt zu- Basis für verstärkte Zusammenarbeit effektiv genutzt. kommen. Ob ebenso die GD Wettbewerb personell ge- Eine solche Kooperation hat sich auch im Bereich der stärkt werden muss, ist nicht die Entscheidung des Deut- Telekommunikation bereits bewährt. Hier haben wir schen Bundestages. Das muss anderswo entschieden eine weitestgehende Öffnung des Marktes bereits er- werden. reicht, was einen erheblichen Fortschritt bei der Be- kämpfung von grenzüberschreitenden Wettbewerbsbe- Die enge Zusammenarbeit der europäischen Wettbe- schränkungen darstellt. werbshüter ist notwendig. Wir brauchen auch eine punk- tuelle Europäisierung. Was wir aber nicht brauchen, sind Zu Ihrem Antrag: Sie fordern – ich zitiere –: neue Institutionen, die Kompetenzen an sich ziehen, un- nötig vereinheitlichen oder zentralisieren. Das Europäische Kartellamt muss sowohl eigenini- tiativ als auch auf Initiative der nationalen Parla- mente sowie des Europäischen Parlaments tätig Christian Lange (Backnang) (SPD): Der Antrag der werden. Fraktion Die Linke auf Schaffung eines Europäischen Kartellamtes erstaunt mich. Bei erstem Hinsehen geht es Wenn das Kartellamt auf Initiative des Parlaments tä- um den Erhalt eines funktionierenden Wettbewerbs in tig werden muss, so ist dies eine Politisierung des Wett- Deutschland und Europa. Diesen Antrag ausgerechnet bewerbsrechts. Das gefährdet die Unabhängigkeit der von der Fraktion Die Linke, die sich sonst nicht gerade europäischen Wettbewerbshüter. Diese Politisierung durch besonderes Vertrauen in den Markt hervortut, ist lehne ich entschieden ab. Es muss dabei bleiben, dass bemerkenswert. der Gesetzgeber Grundlagen schafft, die Wettbewerbs- behörde dann jedoch unabhängig entscheidet. Alles an- Die Kompetenzen der Generaldirektion Wettbewerb, dere würde zu einer gefährlichen Politisierung führen. die derzeit für die Europäische Kommission Fusions- und Kartellüberwachung betreibt, soll auf ein europäi- Weiterhin haben die Erfahrungen in der Vergangen- sches Kartellamt übertragen werden. Es wird beklagt, heit gezeigt, welche Sogwirkung die Schaffung einer dass die vorhandenen Instrumente, wie Preiskontrollen, neuen europäischen Behörde mit sich bringen kann. Es strukturelle Maßnahmen oder beispielsweise die Ent- ist zu befürchten, dass ein neues Europäisches Kartell- flechtung von Konzernen, nicht ausreichend genutzt amt weitere zusätzliche Kompetenzen an sich ziehen würden. In der Tat tut mehr Wettbewerb in Europa not. wird, was wiederum dem Subsidiaritätsprinzip wider- Wir müssen uns nur mal den Energiesektor als besonders (B) (D) sprechen würde. Eine solche Sogwirkung könnte zu dramatisches Beispiel anschauen: nicht gewollten Verlagerungen der Kompetenzen führen, wodurch die Beachtung nationaler Besonderheiten der Zunächst ein Blick nach Deutschland: Hier kontrol- deutschen Fusionskontrolle, zum Beispiel die Berück- lieren vier große Anbieter – RWE, Eon, Vattenfall und sichtigung des Marktbeherrschungskriteriums, gefähr- EnBW – fast die komplette Stromerzeugung und alle det wäre. Aufgrund der unterschiedlichen Rahmenbedin- Transportnetze. Das hat die Folge, dass die Chancen gungen und spezifischen Strukturen der einzelnen neuer Anbieter auf dem Markt wegen der hohen Netzge- Industriezweige in einzelnen EU-Ländern sind nationale bühren, sehr gering sind. Eon und RWE wachsen bei- Lösungen nach wie vor angesagt. spielsweise, vor allem im Ausland. Der geplante Kauf des spanischen Stromkonzerns Endesa durch Eon ist nur Ich ziehe daher folgendes Fazit: Es gibt derzeit keinen ein Teil im Streben der deutschen Stromkonzerne nach Grund, ein bewährtes und ausgefeiltes System, das funk- Größe. tioniert und weltweit anerkannt ist, abzulösen und einen zusätzlichen Verwaltungsapparat ohne Mehrwert zu Es ist sicherlich eine Realität, dass nicht nur deutsche schaffen. Der Wettbewerb ist das größte und genialste Energiekonzerne nach Größe streben: Der französische Entmachtungsinstrument der Geschichte – so hat es der Konzern EdF kaufte sich mit dem Unternehmen Edison Vordenker der sozialen Marktwirtschaft, Franz Böhm, auf den italienischen Markt ein und will mit dem franzö- formuliert Der Wettbewerb braucht aber wohlüberlegte sischen Anbieter Suez zusammengehen, der die belgi- und wirksame Regeln und funktionsfähige Institutionen. sche Electrabel übernommen hatte. Experten sehen dann die zweite große Welle von Fusionen, nachdem sich in Im Ergebnis fordere ich daher die Beibehaltung des den vergangenen Jahren zuerst die Anbieter in den ein- bewährten Systems der Kooperation und die Sicherung zelnen Ländern zusammengeschlossen hatten. Eine all- der reibungslosen Zusammenarbeit der bestehenden na- gemeine Strategie scheint zu sein: Überhöhte Gewinne tionalen und europäischen Behörden in dem ECN. Rich- aus zu hohen Strompreisen werden genutzt, um poten- tig ist an Ihrem Antrag, dass Wettbewerbsbehörden an- zielle Konkurrenten zu kaufen. Damit wird etwas in gemessen personell ausgestattet sein müssen, um ihrem Gang gehalten, was den Wettbewerb gerade auf dem Auftrag gerecht zu werden. Das gilt für die europäische Energiesektor in Europa gar nicht erst aufkommen lässt. Ebene genauso wie für das Bundeskartellamt in Wir alle, Bürger wie Unternehmer, zahlen die Zeche. Deutschland. Dies haben wir bereits im vergangenen Wir alle leiden unter der Last zu hoher Strom- und Gas- Jahr gefordert und sind leider gegenüber dem Finanzmi- preise. An dieser Stelle wird sehr deutlich, welche Kon- nister nur begrenzt erfolgreich gewesen. sequenzen nicht ausreichender Wettbewerb hat. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10887

(A) Es ist sicher auch eine Tatsache, dass derzeit die Wett- wie Unternehmen, werden gleichermaßen davon profi- (C) bewerbspolitik in Europa noch sehr stark von nationalen tieren. Interessen geprägt wird. Die EU-Kommission ist eben- falls beunruhigt. Wettbewerbskommissarin Neelie Kroes Für Europa gilt Wir müssen und wir werden die euro- hat beispielsweise harte Kartellverfahren gegen Strom- päischen und die nationalen Wettbewerbsrechtsordnun- und Gaskonzerne angekündigt. Und Energiekommissar gen in Europa schrittweise weiter annähern, wobei sich Andris Piebalgs beklagte, von einem Energiebinnen- diejenigen Regelungen durchsetzen werden, die sich in markt mit transparenter Preisgestaltung sei Europa weit der Praxis am besten bewährt haben und die den Wettbe- entfernt. Wir sind uns alle darüber einig, dass Hand- werb am wirksamsten schützen. lungsbedarf besteht. Martin Zeil (FDP): Wir debattieren heute einen An- Nur über das Wie besteht sicher Diskussionsbedarf. trag der Fraktion Die Linke zum Thema Wettbewerb. Es Ich wage zu bezweifeln, dass der Aufbau einer eigenen ist schon sehr erstaunlich, dass gerade die Linke, die ein Behörde, einem europäischen Kartellamt – wie von den eher gestörtes Verhältnis zum Wettbewerb hat und nach Linken gefordert – dem Ziel, mehr Wettbewerb durchzu- deren Auffassung „der internationale Wettbewerb dafür setzen, gerecht werden kann. Wir sollten die Kirche im sorgt, dass Deutschland verarmt“, diesen Antrag ein- Dorf lassen und nicht für wenige Einzelfälle, die es kar- bringt. Es ist genau die Linke, die den Systemwechsel tellrechtlich zu beurteilen gilt, gleich wieder eine neue hin zu Sozialismus und Planwirtschaft will, die sich hier Behörde mit entsprechendem Aufbau von neuer Büro- für mehr Wettbewerb einsetzt. kratie als Lösungsmodell herbeiwünschen. Gegen die fallweise Hinwendung der Linken zu ord- An dieser Stelle zeigt sich mal wieder, wes Geistes nungspolitisch vernünftigen Prinzipien ist nichts einzu- Kind Die Linke ist. Nur vordergründig soll der Wettbe- wenden. Wir werden dem Antrag dennoch nicht zustim- werb in Europa hochgehalten werden, das wollen wir men; denn die Linke legt ein zu großes Augenmerk auf alle ebenfalls. Die Wahl der Mittel ist aber wieder ganz die Kartelle, die sowieso verboten sind, und auf den rei- typisch: mehr Bürokratie, mehr Staat, mehr Regulierung. nen Preismissbrauch bei Marktmacht. Sie vernachlässigt Das „vorläufige Programm“ der Linken in Sachen Wirt- dabei aber den Missbrauch beispielsweise von natürli- schaftspolitik spricht dazu eine deutliche Sprache: Die chen Monopolen und die reine Missbrauchsaufsicht bei Wirtschaftspolitik ziele … marktbeherrschenden Unternehmen. … auf ein starkes Gewicht sozialstaatlicher Politik Die Generaldirektion Wettbewerb, aus der ein gegen deren Unterordnung unter Marktzwänge. … europäisches Kartellamt hervorgehen könnte, hat derzeit (B) Gewinnorientiertes unternehmerisches Handeln ist den Auftrag, die Durchsetzung des Wettbewerbsrechts (D) wichtig für Innovation und betriebswirtschaftliche der EU zu gewährleisten. Sie soll somit dafür sorgen, Leistungsfähigkeit, führt jedoch zur Zerstörung un- dass der Wettbewerb in der EU nicht verfälscht wird und serer Lebensgrundlagen, zunehmender sozialer Un- dass die Märkte der EU so effizient wie möglich funktio- gleichheit und Spaltung, wenn es nicht gesellschaft- nieren, zum Schutz der Verbraucherinteressen und zur lichen Schranken und Regeln unterworfen wird. Förderung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft. Der Generaldirektion fehlt aber im Moment Die Linke will also ein europäisches Amt zur Verhin- noch die Unabhängigkeit, Größe und Schlagkraft. derung von Wettbewerb, nicht um diesen zu ermögli- chen. Insgesamt muss alles getan werden, damit das europäische Wettbewerbsrecht streng und kompromiss- In dieser konkreten Situation, in der es darum geht, los angewendet wird. Die FDP als Partei der sozialen den Wettbewerb zu sichern und Preisnachteile aufgrund Marktwirtschaft und damit des Wettbewerbs hat ein Kar- der hohen Unternehmenskonzentration gegenüber den tellamt auf europäischer Ebene schon seit langem gefor- Kunden zu verhindern, ist die Bundesregierung aktiv ge- dert: Ich verweise exemplarisch auf den Antrag meines worden. Die Bundesregierung hat ein Maßnahmenpaket Kollegen Rainer Brüderle „Für einen wirksamen Wett- beschlossen, mit dem der Wettbewerb im Energiebereich bewerbsschutz in Deutschland und Europa“ aus der letz- die notwenigen Impulse erhalten und gleichzeitig die ten Legislaturperiode. Diesen Antrag hatten wir Liberale Position der Verbraucher gestärkt werden soll. Gegen- im Jahr 2003 – damals noch mit der Unterstützung der stand des Pakets sind die kurzfristig wirkende und zeit- Union – in den Deutschen Bundestag eingebracht. lich befristete Kartellrechtsnovelle sowie die auf lang- Ferner war das Anliegen, „ein von der Europäischen fristige Strukturverbesserungen zielende Kraftwerks- Kommission unabhängiges Europäisches Kartellamt auf Netzanschluss-Verordnung. Zudem wurde die Ressort- europäischer Ebene zu schaffen“, eine Forderung der abstimmung hinsichtlich der Anreizregulierungsverord- FDP für die Europawahl 2004. nung eingeleitet. Auch wenn wir den europäischen Markt stärken müssen und klar ist, dass in einem ge- Noch einige Worte über das mögliche Vorbild für ein meinsamen Europa auch eine gemeinsame europäische europäisches Kartellamt: Das deutsche Bundeskartell- Wettbewerbspolitik das Ziel sein muss, so sind wir als amt als oberster Wettbewerbshüter in diesem Land. Wir Nationalstaat dennoch nicht machtlos. Gerade der Ener- würden es begrüßen, wenn dieser Pfeiler der sozialen giesektor wird durch die geplante Novellierung des Ge- Marktwirtschaft eine weitere Stütze des Hauses Europa setzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen und andere wird. Aufgrund der unterschiedlichen Rechtstraditionen Maßnahmen wieder gestärkt. Die Verbraucher, Bürger im Kartell- und Wettbewerbsrecht innerhalb der 10888 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

(A) Europäischen Union wird es keine leichte, aber eine wettbewerbspolitischen Entscheidungen so lange und (C) umso notwendigere Aufgabe sein, ein europäisches Kar- enden häufig in einem weichgespülten Kompromiss? tellamt mit der Unabhängigkeit und der eigenständigen Die Europäische Kommission ist hier viel mutiger und Kompetenz, wie sie das deutsche Kartellamt hat, zu entschlossener mit Vorschlägen, auch wenn diese im schaffen. Einzelnen noch diskutiert werden müssen. Wir Liberale haben auch hier bereits unsere Vorschläge vor Monaten Grundlage der Tätigkeit des Kartellamtes ist das Ge- auf den Tisch gelegt und dazu einen entsprechenden An- setz gegen Wettbewerbsbeschränkungen. Das GWB ist trag bezüglich der Entflechtung als Ultima Ratio in den ein Instrument, um den Wettbewerb auf nationaler wie Deutschen Bundestag eingebracht. auch europäischer Ebene zu implementieren. Denn schon heute wendet das Bundeskartellamt neben dem In einer globalisierten Welt sind Wettbewerb und so- deutschen auch das europäische Wettbewerbsrecht an, ziale Marktwirtschaft allein auf nationaler Ebene nicht soweit die Europäische Kommission als aktuelle Wettbe- mehr sicherzustellen. Es bedarf hierzu internationaler, werbsbehörde auf EU-Ebene nicht zuständig ist. mindestens aber europäischer Hüter des Wettbewerbs, die mit entsprechenden Kompetenzen und der entspre- „Der Erfolg der europäischen Wettbewerbs-Strategie chenden Unabhängigkeit ausgestattet sind. Es ist ein hängt in erster Linie von den Mitgliedstaaten und ihrer weiteres Zeichen der Schwäche dieser Bundesregierung, Reformbereitschaft ab.“ dass wir während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft Das sind die Worte des Koalitionsvertrags der in dieser wichtigen Frage keinen weiteren Schritt voran- schwarz-roten Koalition. Und welche Taten sind diesen gekommen sind. Worten bisher gefolgt? Das Bekenntnis zum Wettbewerb ist bei näherem Dr. Herbert Schui (DIE LINKE): Der in der EU – und Hinsehen nur vorgegeben: Das zeigt ein Blick auf den auch weltweit – völlig freie Kapitalverkehr fördert die Kommunikationsmarkt, wo einzelne Unternehmen in wirtschaftliche Konzentration. Nicht zuletzt lässt sich Regulierungsferien geschickt wurden. Und wie ist es zu diese Konzentration an den Direktinvestitionen ablesen. verstehen, dass ausgerechnet die SPD besondere Rück- Denn zunehmend ist der Zweck der Direktinvestitionen sicht auf die Interessen der Mono- und Oligopole in die- nicht der Aufbau neuer Betriebe und zusätzlicher Pro- sem Lande nimmt und sich vehement für die Verlänge- duktion in den Aufnahmeländern. Vielmehr handelt es rung des Postmonopols und den Schutz der sich vermehrt um Fusionen und Übernahmen. In diesem Energieriesen einsetzt? Diese Bundesregierung betrach- Rahmen wiederum nimmt die Bedeutung der Beteili- tet den Wettbewerb und das Wettbewerbsrecht als Instru- gungsgesellschaften, also auch der Private-Equity-Ge- (B) ment der Beliebigkeit, das man dann heranzieht, wenn es sellschaften, zu. Auch hier steigt die Konzentration an. (D) in die Interessen der jeweils zu begünstigenden Gruppen Einige Zahlen können dies verdeutlichen: Allein in und Verbände hineinpasst, aber genauso gut ad acta legt, den Jahren von 1993 bis 2005 hat der Bestand der deut- wenn die politische Druckkulisse es als opportun er- schen Direktinvestitionen in der EU von rund 63 auf scheinen lässt. Der Wettbewerb, das Wettbewerbsrecht 342 Milliarden Euro zugenommen. Hierbei geht es um sowie die Wettbewerbsbehörden sind aber mehr als ir- unmittelbare und mittelbare deutsche Direktinvestitio- gendwelche beliebigen Gesetze oder Institutionen: Sie nen ohne Kreditverflechtungen. Besonders rasch ist der sind ein zentraler Teil unserer freiheitlichen Wirtschafts- Bestand deutscher Direktinvestitionen im Wirtschafts- und Gesellschaftsverfassung und dürfen nicht zum zweig Beteiligungen angewachsen, nämlich von 27 Mil- Spielball politischer Interessen werden. liarden im Jahr 1993 auf 63 Milliarden Euro im Jahr Das muss auch Die Linke zur Kenntnis nehmen, die 2005. Ein ähnliches Bild zeigt sich bei den Fusionen und Fraktion, die sich hier für mehr Freiheit einsetzt, ansons- Übernahmen: Kumuliert betragen die jährlichen Fusio- ten aber die Monopole dieses Landes verteidigt und im nen und Übernahmen, die von EU-Unternehmen ausge- Bereich der Telekommunikation sogar zur Staatswirt- hen und auf Nicht-EU-Unternehmen gerichtet sind, in schaft zurückkehren will. Zusammenfassend lässt sich den Jahren 1992 bis 1998 rund 600 Milliarden US-Dol- damit sagen, dass die Politik der Linken nicht in gesamt- lar, in der Zeitspanne von 1999 bis 2005 sind es bereits wirtschaftlichen Zusammenhängen denkt und nach ord- 2 085 Milliarden US-Dollar. nungspolitischen Grundsätzen handelt. Sie richtet ihr Denken und Handeln zu stark an einzelnen Betrieben, Sicherlich belegen diese Zahlen nicht unmittelbar die Konzernen und Einzelinteressen aus. Damit verrät sie Konzentration in der EU. Aber wenn es um die Aufga- ihre Interessen und ihre Wähler. Unsozialer und wider- ben eines EU-Kartellamtes geht, ist das allein nicht ent- sprüchlicher kann eine Politik gar nicht sein. scheidend. Wichtig ist vielmehr die wirtschaftliche Ver- flechtung in der EU – und diese wird durch die Eine wirklich soziale Politik muss darauf ausgerichtet Direktinvestitionen und durch die Fusionen und Über- sein, den Wettbewerb und damit die soziale Marktwirt- nahmen recht gut dargestellt. Mehr als die Hälfte aller schaft zu stärken. Ordnungspolitische Zusammenhänge Auslandsbeteiligungen deutscher Unternehmen finden und eine wirksame Wettbewerbspolitik sind auch bei der sich in der EU – und zwar in den am meisten industriali- Bundesregierung Fremdwörter. Die angekündigte No- sierten Mitgliedsländern. Unter diesen Bedingungen vellierung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschrän- sind die Kompetenzen eines deutschen Kartellamtes, kungen steht seit einem halben Jahr im Raum und ist al- ebenso wie die anderer nationaler Wettbewerbsbehör- les andere als ein großer Wurf. Warum dauern die den, zu gering. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10889

(A) Grundsätzlich hat die Europäische Kommission das lerdings der falsche Schritt und führt zu mehr Bürokra- (C) Recht, strukturelle Maßnahmen anzuordnen, so die Ent- tismus und mehr staatlichem Dirigismus. flechtung von Konzernen bei Verstößen gegen Art. 81 und Art. 82 EG-Vertrag, und zwar laut Verordnung Auch international wird sie wenig Unterstützung für Nr. 1/2003 des Rates, Art. 7 (1). Sie nutzt diese Mög- die Schaffung einer europäischen Kartellbehörde finden. lichkeit selbst bei wiederholten Verstößen nicht. Statt- Ein Fortschritt wäre es allerdings, gemeinsame Leit- dessen beschränkt sie sich – so im Fall Microsoft – da- linien nationaler und internationaler Wettbewerbspolitik rauf, geringe Geldstrafen zu verhängen. Der Grund und Grundsätze internationalen Wettbewerbsrechtes zu hierfür ist zum Teil fehlender Wille, zum Teil aber auch entwickeln. Die Kompetenzen nationaler und internatio- eine mangelnde rechtliche und personelle Ausstattung naler wettbewerbspolitischer Institutionen müssten klar der europäischen Wettbewerbsbehörden. Die Europäi- abgegrenzt werden. sche Kommission räumt selbst ein, mit der Beaufsichti- Allerdings wollen auch wir das Kartellrecht ändern: gung des Wettbewerbs in Europa überfordert zu sein. Für die Ministererlaubnis muss zurückgenommen werden Abhilfe sollte hier der Wechsel vom Anmeldesystem können. Es macht keinen Sinn, dass der Wirtschafts- zum Legalausnahmeprinzip in der Fusionskontrolle sor- minister eine Fusion gestatten kann, nachdem die Kar- gen, überdies eine verstärkte Dezentralisierung bei der tellbehörde sie abgelehnt hat. Anwendung europäischen Rechts. Wirkliche materielle Erfolge aber sind bislang nicht erzielt worden. Beson- Wir brauchen auch die Möglichkeit der Entflechtung ders problematisch ist das Fehlen einer Missbrauchsauf- von Unternehmen, die eine marktbeherrschende Stellung sicht bei der Preisbildung in der EU: Die Vereinigung errungen haben. Diese Möglichkeit gibt es im amerika- der nationalen Regulierer, ERGEG, in der EU hat keine nischen Kartellrecht, nicht aber im deutschen. Wir be- Entscheidungsbefugnis. grüßen daher die Initiative der EU-Kommission auch in ihrer Schärfe. Die eigentumsrechtliche Entflechtung der Die institutionellen Wettbewerbsregelungen in der Konzerne von den Stromnetzen ist der Schlüssel zu mehr EU reichen also nicht aus, um Marktmacht und ihre Fol- Wettbewerb und fairen Verbraucherpreisen. Hier erwar- gen zu verhindern. Stets zu beachten ist hierbei: Wettbe- ten wir von der Bundesregierung, dass sie sich weiterhin werb ist nicht ein Zweck in sich, sondern ein Mittel, um konsequent dafür einsetzt, wohl wissend, dass die Zei- die folgenden Ziele zu erreichen: chen derzeit schlecht für eine wirksame Trennung von Netz und Erzeugung stehen. Erstens. Marktmacht darf nicht die Verteilung des Volkseinkommens auf Lohn und Gewinn bestimmen, Wer die europäische Integration will, darf wirtschafts- das heißt, den privaten Konsum beschränken. politisch nicht in die Kleinstaaterei zurückfallen und (B) muss sich an europäische Verträge halten. Die EU-Kom- (D) Zweitens. Marktmacht ist zu verhindern, weil sie zu missarin für Informationsgesellschaft und Medien, einer ungleichen Verteilung der Kapitalrentabilität auf Viviane Reding, hat in einem Brief an Bundeswirt- die einzelnen Unternehmen führt. schaftsminister Glos klargestellt, dass der Gesetzentwurf Drittens. Wirtschaftliche Macht strebt stets politische der Bundesregierung zur Novelle des Telekommunika- Macht an. Demokratie nur zu bewahren heißt, wirt- tionsgesetzes mit europäischem Telekommunikations- schaftliche Macht zu beschränken. recht nicht vereinbar ist. Inzwischen läuft ein Vertrags- verletzungsverfahren. Es ist jetzt an der Zeit, dass die Ein europäisches Kartellamt hat demnach weitrei- Bundesregierung klarmacht, dass sie europäisches Recht chenden Aufgaben nachzukommen: Seine Aufgabe respektiert. muss Fusions- und Preiskontrolle sein, des Weiteren Ent- flechtung. Dies – das ist zu betonen – nicht einzig, um Die Reform des europäischen Wettbewerbsrechts von Missbrauch bei der Preissetzung zu unterbinden, son- 2004 hat zu einer besseren europäischen Integration und dern nicht zuletzt auch, um Übergriffe der wirtschaftli- Vereinheitlichung geführt, das Anmeldegenehmigungs- chen Macht auf die politische Sphäre zu verhindern, um verfahren für Kartellabsprachen wurde abgeschafft. Sie die Konzernlobby auszuschalten. war außerdem ein wichtiger Impuls zur Europäisierung, dieser muss fortgesetzt werden.

Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In einem gebe ich der Linken aber Recht: Wir brau- Wir brauchen ein verlässliches und integriertes System chen tatsächlich schlagkräftige Wettbewerbsbehörden. regionaler, nationaler und europäischer Wettbewerbs- Die Personalsituation des Bundeskartellamtes hält mit politik. Für nationale Regierungen ist es immer verlo- seinen Aufgaben schon lange nicht mehr Stand. Das ckend, nationalen Unternehmen auf dem Heimatmarkt Bundeskartellamt hat 300 Beschäftigte und 250 Vollzeit- Fusionen zu gestatten, auch wenn Wettbewerbsbeschrän- stellen. Jahr für Jahr gehen durch die von der Bundes- kungen damit verbunden sind, damit diese Unternehmen regierung beschlossene jährliche Reduzierung der Perso- dann mit Monopolrenten im Rücken global akquirieren nalmittel vier bis fünf Stellen verloren. 60 Prozent des können. Dieses führt zu Handelsverzerrungen; deswegen Amtes werden über Gebühren finanziert. Um seine Auf- ist es notwendig, ein integriertes System des Wettbe- gaben effizient erfüllen zu können, würde das Amt werbsrechts bis zur globalen Ebene zu entwickeln. 28 zusätzliche Stellen benötigen. Wir fordern die Bun- desregierung auf, dafür zu sorgen, dass die dafür not- Die Gründung eines europäischen Kartellamtes, wie wendigen Mittel in den Haushalt 2007 eingestellt wer- es die Fraktion Die Linke in ihrem Antrag fordert, ist al- den. 10890 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

(A) Statt die Gründung eines neuen Bürokratenmonsters hige Dauerarbeitsplätze geschaffen und bestehende Ar- (C) zu fordern, sollten wir uns lieber gemeinsam für die Ver- beitsplätze gesichert werden. besserung der internationalen Zusammenarbeit der Wett- bewerbsbehörden, die Schaffung international verbindli- Die GA enthält spezielle Fördermöglichkeiten für cher Mindeststandards und für die Weiterentwicklung kleine und mittlere Unternehmen auch im Dienstleis- eines weltweiten Wettbewerbsrechts einsetzen. tungsbereich: Die regionale Wirtschaftsförderung im Rahmen der GA leistet ihren Beitrag zum Umweltschutz. Maßnah- Anlage 11 men dürfen nur genehmigt werden, wenn die umwelt- rechtlichen Voraussetzungen im Einzelfall erfüllt sind. Zu Protokoll gegebene Reden Sie leistet einen Beitrag zu Forschung, Entwicklung, zur Beratung des Antrags: Die wirtschaftlichen Technologietransfer und Innovation. und arbeitsplatzschaffenden Erfolge der Ge- meinschaftsaufgabe „Verbesserung der regiona- Die Gemeinschaftsaufgabe fordert das Entwicklungs- len Wirtschaftsstruktur“ nutzen – Regionales potenzial in Städten und im ländlichen Raum gleicher- Wachstum und Beschäftigungseffekte intensi- maßen. vieren (Tagesordnungspunkt 22) Entscheidend ist, dass die GA auch kurzfristig zeitlich begrenzte Sonderprogramme auflegen kann, um Regio- Klaus Hofbauer (CDU/CSU): Vor kurzem hat der nen bei besonderen Problemlagen zu unterstützen. Unterausschuss „Regionale Wirtschaftspolitik“ eine De- legationsreise nach Ostbayern durchgeführt. In den Or- Strukturpolitik und Raumordnung gehören unzertrenn- ten Waldmünchen, Schönsee, Weiden und Hof konnten lich zusammen. Auf nationaler und europäischer Ebene ist wir uns davon überzeugen, dass die Strukturförderung eine umfangreiche Diskussion über Leitbilder und Hand- insgesamt und die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung lungsstrategien der Raumentwicklung in Deutschland ent- der regionalen Wirtschaftsstruktur“ im Besonderen vor standen. Ort sehr erfolgreich eingesetzt wird. Bei Gesprächen mit In dieser Diskussion geht es natürlich auch um die regionalen Akteuren bzw. Besichtigungen in Unterneh- Herausforderung für Räume in strukturschwachen Ge- men wurde an praktischen Beispielen aufgezeigt, dass bieten bzw. Gebiete, die vom Strukturwandel betroffen die Strukturförderung der Europäischen Union und des sind. Deshalb muss die Gemeinschaftsaufgabe „Verbes- Landes erfolgreich sind. serung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ in diesen Die Unterrichtung der Bundesregierung mit dem Diskussions- und Entscheidungsprozess einbezogen (D) (B) 36. Rahmenplan für den Zeitraum 2007 bis 2010 zeigt werden. eindrucksvoll, dass die wesentlichen Ziele erreicht Es ist von Anfang an zu verhindern, dass zukünftige werden. Primäre Zielsetzung der Regionalpolitik im Schwerpunkt dieser Leitbilddiskussion sich nur auf die Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe ist es, dass struktur- Metropolregionen konzentrieren. Der ländliche Raum schwache Regionen durch Ausgleich ihrer Standortnach- darf nicht Anhängsel der Zentren sein. Beide Bereiche teile Anschluss an die allgemeine Wirtschaftsentwicklung sind gleichwertig und müssen auch so behandelt werden. halten können und regionale Entwicklungsunterschiede abgebaut werden. In Deutschland gibt es einen wirtschaftlichen Auf- schwung. Dies muss auch für strukturschwache Regio- Im Wesentlichen ist für Ostbayern das Steuer-, Lohn- nen genutzt werden. Nach meinen Informationen gibt es und Fördergefälle zwischen Bayern und Tschechien zu bei der Gemeinschaftsaufgabe eine überdurchschnittli- minimieren. Es besteht sogar die Gelegenheit, dass mit che Anzahl von Förderanträgen. Insbesondere mittel- den Mitteln der Strukturförderung die Chancen der EU- ständische Unternehmen sichern und schaffen zukunfts- Osterweiterung konsequent genutzt werden. Die Ge- orientierte Ausbildungsplätze. Die Unternehmer bringen meinschaftsaufgabe hat sich auch als wichtiges gesamt- damit auch ein klares Bekenntnis zu diesen Regionen deutsches Projekt entwickelt. Die GA wird in den neuen zum Ausdruck. und alten Bundesländern nach gleichen Grundsätzen umgesetzt. Für die praktische Politik der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD bedeutet dieser Antrag ein klares Es bewährt sich, dass im Rahmen der Föderalismus- Bekenntnis zur Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe reform I dieses Programm als Bund-Länder-Programm „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“. Sie erhalten bleibt. Die Länder sind zwar primär für die ist ein zentrales Instrument der regionalen Wirtschafts- Strukturpolitik zuständig. Der Bund fühlt sich aber mit- politik in Deutschland. verantwortlich. Er übernimmt koordinierende Aufgaben unter den Ländern. Wichtigste Aufgabe des Bundes ist Aufgrund der vielen Anträge muss bei den kommen- es, die europäische Strukturpolitik im Interesse der Län- den Haushaltsberatungen wohlwollend geprüft werden, der zu gestalten. Die EU prägt die Strukturpolitik inhalt- ob die Mittelausstattung verbessert werden kann. lich und gibt finanzielle Hilfen. Eine Abstimmung der GA ist deshalb sehr wichtig. Die Fraktionen bringen deutlich zum Ausdruck, dass sie sich dem Auftrag des Grundgesetzes verpflichtet füh- Das Programm fördert unmittelbar Investitionen der len, in Deutschland für gleichwertige Lebensverhältnisse Unternehmer und sorgt dafür, dass neue wettbewerbsfä- zu sorgen. Sie ermutigen die Regionen, regionale Ent- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10891

(A) wicklungsstrategien und Konzepte aufzustellen, um die fahrtindustrie in Berlin und Brandenburg sowie die Me- (C) eigenen Potenziale zu stärken. dizin- und Biotechnologie in Berlin oder Greifswald, um einige beispielhaft zu nennen. Die Gemeinschaftsaufgabe hat sich bewährt und muss weiterhin bestehen bleiben. Ein entscheidender Wachstumsmotor der letzten Jahre waren darüber hinaus Investitionen von ausländischen Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Wir diskutieren Unternehmen in Ostdeutschland. Insgesamt führen die heute in erster Lesung den Koalitionsantrag über die ausländischen sowie die inländischen Investitionen ins- wirtschaftlichen und arbeitsplatzschaffenden Erfolge der besondere im verarbeitenden Gewerbe dazu, dass inzwi- Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen schen in einzelnen Branchen im Osten eine höhere Pro- Wirtschaftsstruktur“, kurz GA genannt. duktivität als in den alten Bundesländern erzielt wird. Das sind die guten Nachrichten, welche ohne die Mittel Die GA bildet zusammen mit der Investitionszulage der Gemeinschaftsaufgabe nicht zu vermelden wären. und den europäischen Fördermitteln das Kernstück des Aufbaus Ost im Bereich der betrieblichen Investitionen Fakt ist aber auch, dass das über die positiven Ent- und wirtschaftsnahen Infrastruktur. Sie war und ist aber wicklungsfortschritte der ostdeutschen Kommunen ge- kein rein ostdeutsches Förderinstrument. Die Neuabgren- zeichnete Bild leider zu häufig noch unzutreffend ist. zung des künftigen Fördergebiets für den Zeitraum 2007 Die „Vorzeigekommunen“ im Osten wie Dresden, Pots- bis 2013 erfolgte auf der Grundlage neuer regionalbeihil- dam oder Jena befinden sich gerade einmal auf gleichem ferechtlicher Vorgaben durch die Europäische Kommis- Niveau mit „Problemfällen“ im Westen wie Gelsen- sion. Siebzehn Jahre nach der deutschen Einheit basiert kirchen oder Duisburg. Neben dem Ost-West-Gefälle die Fördergebietsabgrenzung damit erstmals auf einer ge- vorhandene weitere interregionale Unterschiede recht- samtdeutschen Bewertung der Regionen. Dies geschieht fertigen nicht das Wegdefinieren dieser Ost-West-Unter- anhand von vier aussagekräftigen und nachvollziehbaren schiede. Im Gegensatz zu den „Wachstumsinseln“ im Indikatoren: der durchschnittlichen Arbeitslosenquote, Osten sind die „Problemstädte“ im Ruhrgebiet von äu- dem Bruttojahreslohn je sozialversicherungspflichtig Be- ßerst wirtschafts- und finanzkräftigen Regionen umge- schäftigtem, einer Erwerbstätigenprognose und eines In- ben. Zudem gibt es keine Kommunen im Westen, auf die frastrukturindikators. die Merkmale „geringes BIP, geringes Einkommen, hohe Arbeitslosigkeit, geringe Steuerkraft“ gleichermaßen zu- Von einer Förderung nach Himmelsrichtung, wie dies treffen. Im Osten ist das aber die Regel. Die Steuerkraft in letzter Zeit wieder häufiger in irreführender Art und der ostdeutschen Kommunen liegt im Durchschnitt im- Weise kritisiert wird, kann also bei der GA keine Rede mer noch ganz erheblich unter der der westdeutschen, sein. Der Umfang der ehemaligen C-Fördergebiete der (B) genauer bei etwa 40 Prozent. (D) GA in den alten Bundesländern wurde auch in der lau- fenden Förderperiode beibehalten, um strukturelle Aus all diesen Gründen und weil der Osten von 2009 Problemlagen in Westdeutschland regionalpolitisch ab- an aus dem Solidarpakt Jahr für Jahr rund 700 Millionen zufedern. Diese jetzt als D-Fördergebiete bezeichneten Euro weniger erhalten wird, ist es wichtig, dass die Ge- Regionen umfassen 7,7 Prozent der gesamtdeutschen meinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirt- Bevölkerung oder 6,35 Millionen Einwohner. In D-Ge- schaftsstruktur“ wie im Koalitionsvertrag festgeschrie- bieten können Maßnahmen wie die Förderung von klei- ben, fortgesetzt wird. Dort heißt es: nen und mittleren Unternehmen, von wirtschaftsnaher Die Bundesregierung wird in Abstimmung mit den Infrastruktur und von Clustermanagement-Projekten aus neuen Ländern und Partnern aus der Wirtschaft die Mitteln der GA finanziert werden. Wenn trotzdem sechs Förderstrategie für Ostdeutschland weiterentwi- Siebentel der Mittel der GA in die neuen Bundesländer ckeln mit dem Ziel, die Wirtschaft in Ostdeutsch- fließen, so liegt das daran, dass die neuen Länder trotz land auf eine breite zukunftsfähige Basis zu stellen positiver Entwicklungsfortschritte noch immer spezifi- und eine selbst tragende Entwicklung zu ermögli- sche strukturelle Standortnachteile aufweisen, durch die chen. sie in ihren Wachstumsperspektiven behindert werden. Wegen ihres nach wie vor vorhandenen Aufholbedarfs Die GA ist dafür das geeignete Instrument. Mit unse- sind die neuen Bundesländer weiterhin in Gänze Höchst- rem Antrag setzen wir die Vorgaben des Koalitionsver- fördergebiet. trages um. Die Bundesregierung wird darin aufgefordert, am grundgesetzlich verankerten Ziel der Gleichwertig- Lassen Sie mich an dieser Stelle nach vorne schauen keit der Lebensverhältnisse festzuhalten und das erfolg- und kurz die positiven Entwicklungen in Ostdeutschland reiche Konzept der Bund-Länder-Gemeinschaftsauf- darstellen, die uns alle hoffnungsfroh stimmen sollten. gabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ Die Wirtschaft in den neuen Bundesländern wuchs im als Instrument der gezielten Regionalförderung für letzten Jahr mit durchschnittlich 2,8 Prozent erstmals strukturschwache Regionen in Deutschland weiterzufüh- seit zehn Jahren wieder stärker als die im Westen mit ren. durchschnittlich 2,7 Prozent. Sachsen belegte im vergan- genen Jahr mit einem Wirtschaftswachstum von 4 Pro- Die Erfolge der wirtschaftsnahen Infrastrukturförde- zent übrigens den Spitzenplatz von allen Bundesländern. rung sollen darüber hinaus intensiver als bisher evaluiert Innovative Branchen siedeln sich seit geraumer Zeit ver- werden. Die Entscheidung über die Ausrichtung ihrer stärkt in den neuen Ländern an. Ich denke dabei etwa an Förderpolitik auf regionale oder sektorale Schwerpunkte die Mikroelektronik in Dresden, die Luft- und Raum- obliegt aber auch künftig den einzelnen Ländern. Mit 10892 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

(A) einer differenzierten Förderstrategie sollen Fördermaß- beitsplätze in der Region geschaffen und soll die Verfes- (C) nahmen verschiedener Politikbereiche, wie Innovations- tigung von regionalen Disparitäten verhindert werden. und Investitionsförderung, Arbeitsmarkt- und Infrastruk- turpolitik, besser miteinander verzahnt werden. Ziel ist Lassen Sie mich, bevor ich zum Schluss komme, es, die wirtschaftlichen Profile der neuen Länder, die noch auf einen anderen regionalen Aspekt von Wirt- Vorteile im nationalen und internationalen Wettbewerb schaftspolitik eingehen, der nur mittelbar etwas mit dem um Investoren bieten, weiter zu schärfen. Antrag zu tun hat, den wir heute diskutieren. Ein Groß- teil der Unternehmen im Osten sind kleine Familien- Lassen Sie mich kurz begründen, warum ich die GA unternehmen, in denen sich die Mitarbeiter mit dem Un- für das zentrale und wirkungsvollste Instrument der re- ternehmen identifizieren und eher zu Zugeständnissen gionalen Wirtschaftspolitik in Deutschland halte. Schät- bereit sind, wenn es für die Zukunftsfähigkeit des Unter- zungen des DIW aus dem Jahre 2003 zufolge führte die nehmens nötig ist. Insofern ist im Osten der Gegensatz Teilnahme an der GA-Förderung in einem „durchschnitt- von Kapital und Arbeit nicht so stark ausgebildet, wie in lichen“ Betrieb zu dreimal so hohen Investitionen, wie so manchem westdeutschen Bundesland. Im Zusammen- ohne GA-Förderung. Die Mitnahmeeffekte sind ver- spiel mit einem nach wie vor im Vergleich niedrigeren gleichsweise gering, auch weil auf die GA-Förderung im Preisniveau, etwa bei Mieten, Bauland und Löhnen, ha- Gegensatz zur Investitionszulage kein Rechtsanspruch ben die neuen Länder hierin einen echten Standortvor- besteht. Es handelt sich bei der GA also um ein sehr ef- teil. Ich sehe es sehr kritisch, wenn dieser Wettbewerbs- fektives Förderinstrument. Die Zahlen belegen das: In vorteil durch zentrale Regulierungen kaputt gemacht Unternehmen, die GA-Fördermittel in Anspruch genom- wird, etwa durch einen deutschlandweiten Mindest- men haben, sind im vergangenen Jahr in den neuen Län- lohn – und sei er auch durch die Hintertür über ein Ge- dern und in Berlin 34 675 Dauerarbeitsplätze neu ge- setz aus den 50er-Jahren zur Festsetzung von Mindestar- schaffen und 75 234 gesichert worden. Die meisten beitsbedingungen eingeführt. Fördermittel, nämlich 794,27 Millionen Euro, sind im Jahr 2006 in Kleinstunternehmen mit bis zu neun Mit- Für mich steht fest: Der Wirkungsgrad von Förder- arbeitern geflossen. 453,96 Millionen Euro sind an Un- maßnahmen für Wachstum und Beschäftigung hängt ternehmen mit 50 bis 249 Mitarbeitern gegangen, und auch ganz erheblich mit der Ausgestaltung anderer Poli- die Unternehmen mit zehn bis 49 Mitarbeitern haben tikbereiche zusammen. Wirtschaftsförderung, Bildungs- 216,16 Millionen Euro Förderung erhalten. Die Investo- politik, Forschungspolitik und Arbeitsmarktpolitik müs- ren sind verpflichtet, in den Antragsformularen die mit sen in einem integrativen Ansatz miteinander verzahnt dem Vorhaben vorhandenen Arbeitsplätze zum Investi- werden. tionsbeginn und die geplanten zusätzlichen sowie gesi- (B) cherten Dauerarbeitsplätze nach Abschluss des Vorha- (D) bens anzugeben. Zudem müssen sie diese Arbeitsplätze Andrea Wicklein (SPD): Die Gemeinschaftsaufgabe in der geförderten Betriebsstätte mindestens fünf Jahre „Regionale Wirtschaftsstruktur“ ist das wichtigste För- lang besetzt halten. derinstrument für strukturschwache Regionen in Deutschland. Über die Gemeinschaftsaufgabe werden Mit unserem Antrag wollen wir erreichen, dass die Investitionen in der gewerblichen Wirtschaft und wirt- Mittel für die regionale Wirtschaftspolitik – auch auf eu- schaftsnahe Infrastruktur gefördert. Mit dem vorliegen- ropäischer Ebene – auf strukturschwache Regionen kon- den Antrag wollen wir die GA unterstützen. zentriert werden. Der Fokus muss dabei auf dauerhafte Standortaufwertung insbesondere durch Investitionen in Die Bundesregierung hat vor kurzem den 36. Rah- die wirtschaftsnahe Infrastruktur gelegt werden. Dazu menplan der Gemeinschaftsaufgabe vorgelegt. Sehr zählen die Erschließung von Gewerbegelände sowie der erfreulich ist für uns, dass die Förderinstrumente Clus- Ausbau von Gewerbezentren, der Ausbau von Verkehrs- termanagement, Kooperationsnetzwerke und Regional- verbindungen, Versorgungsanlagen und Anlagen der management fortgeführt werden und in den generellen Abwasser- und Abfallbeseitigung, die Förderung von Förderkatalog übergehen. Wir begrüßen ausdrücklich, Fremdenverkehrseinrichtungen und Aus- bzw. Fortbil- dass die neuen Transparenzregeln, die Bund und Länder dungsstätten und nicht zuletzt die Unterstützung von Re- verabredet haben, im Rahmenplan ihren Niederschlag gionalmanagementvorhaben und Kooperationsnetzwer- finden. Damit setzt der Planungsausschuss die Vorgaben ken. um, die der Bundesrechnungshof zu Recht angemahnt Ein anderer wichtiger Punkt ist die Verbesserung der hatte. So sollen im Rahmen der GA-Statistik in Zukunft Innovationsfähigkeit. Ich begrüße es sehr, dass der die Arbeitsplatzeffekte nicht nur zum Zeitpunkt der In- Bund-Länder-Planungsausschuss zum 1. Januar 2006 vestition selbst, sondern auch nach Abschluss der Bin- die Erweitung des GA-Förderangebots um die Marktein- dungsfrist von fünf Jahren erfasst werden. Darüber hi- führung von innovativen Produkten erweitert hat. Au- naus müssen zukünftig Angaben über den Empfänger ßerdem wurde zum ersten Mal eine verlässliche Grund- der Zuwendung, über das Vorhaben und die Höhe des lagenfinanzierung für die Forschungs-GmbHs in den Zuschusses veröffentlicht werden. Hervorzuheben ist au- neuen Bundesländern sichergestellt. Ziel der GA-Förde- ßerdem, dass das Bundeswirtschaftsministerium ge- rung ist es nicht, dass strukturschwache Regionen dauer- meinsam mit den Ländern im Zuge der neuen Transpa- haft am Subventionstropf hängen, sondern die Hilfe zur renzregeln die Wirkungs- und Zielerreichungsanalyse Selbsthilfe. Über die Stärkung der regionalen Investi- der GA verbessert und im Rahmenplan dokumentiert tionstätigkeit sollen dauerhaft wettbewerbsfähige Ar- hat. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10893

(A) Die Gemeinschaftsaufgabe „Regionale Wirtschafts- Gudrun Kopp (FDP): Nach der Lektüre des heute zu (C) struktur“ trägt maßgeblich dazu bei, regionale Disparitä- beratenden Antrages kann ich nur feststellen: Die beiden ten in Deutschland abzubauen. Sie ist unverzichtbar bei Koalitionsfraktionen haben ihre Gemeinsamkeiten of- der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in strukturschwa- fenkundig vollständig aufgebraucht und sollten schleu- chen oder vom Strukturwandel betroffenen Regionen. nigst den Weg für Neuwahlen freimachen. Ich freue mich daher, dass der Haushaltsausschuss am Es ist schon fast eine Frechheit gegenüber dem Hohen 27. April die Sperre von 50 Millionen Euro im diesjähri- Hause, dass Sie, meine Herren und Damen von CDU/ gen Haushalt aufgehoben hat. Damit stehen der GA neue CSU und SPD, es wagen, hier einen solches Jubelpapier Bundesmittel in Höhe von 644 Millionen Euro in diesem vorzulegen, dem es an jedweder fachlicher Substanz Jahr zur Verfügung. Gemeinsam mit den Mitteln aus fehlt. Es muss doch schon sehr schlimm bestellt sein um dem EFRE hat der Bewilligungsrahmen 2007 ein Volu- die koalitionären Gemeinsamkeiten, wenn Sie wirklich men von rund 1,75 Milliarden Euro. Die GA kann damit nichts mehr finden, über das Sie sich einig sind – abge- ihre Funktion erfüllen, zusätzliche Investitionen anzu- sehen von solchen Plattitüden und Selbstbeweihräuche- stoßen und noch mehr Arbeitsplätze zu schaffen. rungsarien. Der Erfolg der Gemeinschaftsaufgabe steht außer In jeder Sitzung des Unterausschusses wurde zudem Frage: Allein von 2004 bis 2006 konnten in Ostdeutsch- überdeutlich, dass es tief greifende Differenzen zwi- land 22,7 Milliarden Euro an Investitionen in der gewerbli- schen dem Finanz-, Wirtschafts- und Verbraucherminis- chen Wirtschaft mit nur 4,1 Milliarden Euro Fördermitteln terium über Ziele und Kriterien von regionaler Wirt- angestoßen werden. Damit wurden 77 000 zusätzliche schaftsförderung gibt. Dieses Land hat aber noch immer 3,7 Millionen offiziell arbeitslos gemeldete Bürger – in Dauerarbeitsplätze geschaffen und 183 000 Arbeits- Wahrheit also noch viel mehr –, marode Sozialsysteme, plätze gesichert. In Westdeutschland konnten in den letz- einen überregulierten Arbeitsmarkt, überbordende Büro- ten beiden Jahren 4,3 Milliarden Euro an Investitionen kratie und jetzt auch noch eine handlungsunfähige Re- ausgelöst werden bei einem Fördervolumen von gierung. Angesichts derartiger Probleme legen die sie 802 Millionen Euro. Damit wurden in den alten Bundes- tragenden Fraktionen nämlich dem deutschen Parlament ländern über die GA 18 000 zusätzliche Arbeitsplätze ein Papier vor, in dem auf zwei Seiten die schier unbe- geschaffen und 30 000 gesichert. Ohne Zweifel ist die greifliche Großartigkeit nationaler Strukturprogramme, Gemeinschaftsaufgabe, die vom Bund mitfinanziert, an- sprich Subventionsprogramme, über den grünen Klee sonsten in der Verantwortung der Länder liegt, eine der gelobt wird. erfolgreichsten überhaupt. Dies sage ich auch ganz be- wusst als ostdeutsche Abgeordnete. Ohne die GA würde Ihr Anliegen haben Sie dann die Güte uns im Forde- (B) (D) Ostdeutschland nicht solch hohe Wachstumsraten im rungsteil des Antrages mitzuteilen. Dort heißt es ebenso fantasievoll wie aussagearm: Man möge am Ziel der verarbeitenden Gewerbe erzielen. Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse festhalten, das Mit dem vorliegenden Antrag wollen wir die Bedeu- erfolgreiche Konzept der GA weiterführen, die regionale tung der Gemeinschaftsaufgabe für das Wirtschafts- Wirtschaftsförderung als Priorität stärken, die Interessen wachstum in Deutschland und den Aufholprozess von benachteiligter Wirtschaftsräume in Brüssel vertreten, strukturschwachen Regionen und Regionen im Struktur- ineffizienter Umverteilung vorbeugen, besondere Situa- wandel hervorheben. Wir wollen am grundgesetzlich tionen in strukturschwachen Regionen berücksichtigen und schließlich die Ergebnisse der Infrastrukturförde- verankerten Ziel der Gleichwertigkeit der Lebensver- rung evaluieren. hältnisse festhalten und die Bundesregierung auffordern, dessen Ausgestaltung zwischen den Fachpolitiken zu ko- Festhalten, Berücksichtigen, Weiterführen – als Parla- ordinieren. Wichtig ist nach unserer Auffassung dabei mentarier komme ich nicht umhin, mich von diesem vor allem, dass die Regionen aufgefordert werden, regio- „Weiter-so-Alles-ist-prima-Antrag“ auf den Arm nale Entwicklungsstrategien und -konzepte aufzustel- genommen zu fühlen. Ist das wirklich alles, was die Re- len. Die regionalpolitische Handlungsfähigkeit vor Ort gierungskoalition uns zu diesem Thema zu sagen hat? darf nicht verloren gehen. Die Bundesregierung soll sich Dann hätten Sie wohl besser geschwiegen, um Philoso- deshalb gegenüber der EU-Kommission dafür einsetzen, phen zu bleiben. Ich kann mich nicht erinnern, jemals dass die Spielräume für die Regionen erhalten bleiben. während meiner Mitgliedschaft in diesem Hohen Hause In Bezug auf die Infrastrukturförderung aus der Gemein- einen so inhaltsarmen, ja dürftigen Antrag gelesen zu ha- schaftsaufgabe wollen wir auf eine bessere Evaluation ben. Ein Verzicht darauf wäre wahrscheinlich wenigs- tens ein Beitrag zum Bürokratieabbau. der Maßnahmen drängen. Für die FDP ist klar, dass zu einer Fortentwicklung Die Gemeinschaftsaufgabe ist erfolgreich. Sie hilft, des deutschen Föderalismus hin zu einem leistungsstar- Investitionen anzustoßen und Arbeitsplätze zu schaffen. ken Wettbewerbsföderalismus langfristig auch der Ver- Sie leistet einen wichtigen Beitrag, um Kapital in struk- zicht auf Mischfinanzierungen gehört. In diesem Sinne turschwachen Regionen zu fördern. Die GA baut regio- haben auch die Gemeinschaftsaufgaben dann ausge- nale Unterschiede ab und trägt damit dazu bei, das Ziel dient. Letztlich ist es doch mit der Strukturförderung wie der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in ganz mit allen Subventionen. Es macht Bürokraten sicherlich Deutschland zu verfolgen. Wir hoffen, dass sie alle die- großen Spaß, die Erfolge ihrer Förderpolitik großspre- ses Ziel mit uns weiterhin verfolgen. cherisch vorzurechnen. Das Problem ist nur: Die 10894 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

(A) Arbeitsplätze, die gar nicht erst entstanden sind, weil der Im letzten Jahr wurden auch in den westlichen Bun- (C) Staat, um derartige Subventionen zahlen zu können, den desländern mehr Fördermittel bewilligt als ursprünglich Bürgern immer tiefer in die Tasche greift, rechnet nie- geplant. Das zeigt, es gibt einen großen Bedarf. mand vor. Das ist wie bei den Windkraftanlagen, wo uns die Lobbyisten jedes Jahr neue Rekordzahlen über die Meine Damen und Herren von der Großen Koalition, würden Sie es mit ihrem Antrag ernst meinen, dann Beschäftigten der Branche vorlegen, aber verschweigen, müssten Sie darin festschreiben, dass die Gemein- wo das Geld für die Subventionierung derselben her- schaftsaufgabe nicht weiter gekürzt wird. Ansonsten ist kommt, nämlich aus den Taschen der Bürger, die sich dieser Antrag nicht mehr als ein Lippenbekenntnis. Wei- deshalb andere Dinge nicht mehr leisten können. tere Punkte wären anzusprechen: Wie soll verhindert Nein mit derartigen Anträgen werden Sie Ihrem Re- werden, dass Fördermittel einseitig Metropolen oder „in- gierungsauftrag nicht gerecht. Derartige Papiere zeigen dustrielle Leuchttürme“ zugutekommen und struktur- nur eines: Sie sind als Regierung am Ende. Möglicher- schwache Regionen hinten runterfallen? Wie ist bei ge- förderten Investitionsprojekten die Einhaltung von weise schaffen Sie es noch, sich bis ans Ende der Legis- Tarifverträgen und sonstigen Standards sicherzustellen? latur in ihren Ministersesseln zu halten, aber die Pro- Wie wird gewährleistet, dass das Geld wirklich bei klei- bleme des Landes haben Sie nicht mehr im Blick, weil nen und mittleren Unternehmen ankommt und damit sie selber das Problem sind. nicht Großbetriebe subventioniert werden? All dies sind wichtige Fragen. Letztendlich steht der eigentliche Cha- Sabine Zimmermann (DIE LINKE): Wie heißt es so rakter der Gemeinschaftsaufgabe auf dem Spiel. Aber schön: Nicht an den Worten, an den Taten sollt ihr sie der Antrag enthält nichts dazu. Dass die Reden heute zu messen. Dem Antrag, den heute Union und SPD vorle- Protokoll gehen, scheint ein Omen für diesen Antrag zu gen, könnte vielleicht auch die Linke zustimmen. Nur, sein. Er wird schnell in der Schublade verschwinden, leider steht sein Inhalt im totalen Gegensatz zum Han- und die Regierung wird weitermachen wie bisher, näm- deln dieser beiden Parteien. lich die Fördermittel kürzen.

Worum geht es? Im Antrag betonen die Koalitions- Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): parteien die zentrale Rolle der sogenannten Gemein- Wir diskutieren einen Antrag der Koalitionsfraktionen, schaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirt- der die Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe „Verbesse- schaftsstruktur“, also dem wichtigsten Förderinstrument rung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ zum Thema für strukturschwache Regionen. Ich zitiere: Die Gemein- hat. Die Gemeinschaftsaufgabe ist, da erzähle ich nichts schaftsaufgabe „trägt maßgeblich dazu bei, dass in struk- (B) Neues, ein zentrales Instrument der Regionalpolitik in (D) turschwachen Regionen das Wirtschaftswachstum beför- Deutschland. Seit 1969 nimmt der Bund im Rahmen der dert und durch Investitionen neue Arbeitsplätze GA seine Mitverantwortung für eine ausgewogene regio- geschaffen oder vorhandene gesichert werden.“ Und nale Entwicklung in Deutschland wahr. weiter: „Gleichzeitig gibt sie den Menschen eine Per- spektive und dient damit auch unmittelbar dem grundge- Die GA ist mehr als ein Förderinstrument. Sie ist für setzlich verankerten Ziel der Herstellung gleichwertiger die deutsche Regionalpolitik zugleich Strategie-, Ord- Lebensverhältnisse.“ Das ist alles richtig. Nur fragen wir nungs- und Koordinierungsrahmen. Die GA setzt den uns von der Linken: Warum haben Union und SPD die- Rahmen für die nationale Regionalpolitik und stellt die innerstaatlich abgestimmte Umsetzung europäischen ses wichtige Förderinstrument über das letzte Jahrzehnt Rechts, insbesondere der beihilferechtlichen Bestim- so massiv gekürzt? 1993 betrug der Etat der Gemein- mungen, sicher. Im Rahmen der GA legen Bund und schaftsaufgabe noch 2,1 Milliarden Euro. 2006 liegt er Länder gemeinsam die Fördergebiete sowie die Förder- bei weniger als einem Drittel, nämlich 617 Millionen höchstsätze und damit auch das innerdeutsche Förderge- Euro. fälle, die Fördertatbestände und die GA-Mittelverteilung Für diese Entwicklung tragen Union und SPD die fest. Darüber hinaus bildet die GA einen Koordinie- rungsrahmen für andere raumwirksame Politikbereiche, Verantwortung. Beide Parteien waren während dieser wie zum Beispiel für den Einsatz der Mittel aus dem Zeit in Regierungsverantwortung. Ist es so, dass es kei- Europäischen Fonds für die Regionale Entwicklung, nen Förderbedarf mehr gibt? EFRE. Stichwort Aufbau Ost. Im Jahresbericht zum Stand Brauchen wir ein solches Instrument zur Förderung der Deutschen Einheit 2006 stellt die Bundesregierung strukturschwacher Regionen noch? Ich meine, ja. Wir fest: Ostdeutschland ist noch immer ein Wirtschaftsge- müssen zur Kenntnis nehmen, dass wir es auch 17 Jahre biet mit zahlreichen strukturellen Problemen und „ein nach der Wiedervereinigung noch mit tiefgreifenden re- selbsttragender Aufschwung noch nicht erreicht“. Aber gionalen Unterschieden zu tun haben. Das betrifft die nicht nur der Osten, auch zahlreiche westliche Bundes- Wirtschaftskraft der Regionen, die sozialen Bedingun- länder sind auf die Fördermittel angewiesen. Das Pro- gen et cetera Insbesondere die ehemaligen Grenzregio- blem der Massenarbeitslosigkeit und abgehängter Regio- nen und die ostdeutschen Länder hinken, was den nen ist längst kein Problem des Ostens mehr. Darüber Beschäftigungsgrad betrifft, hinter dem deutschen kann auch der gegenwärtige Aufschwung nicht hinweg- Durchschnitt hinterher. Die Folgen sind gravierend. Der täuschen. kontinuierliche Wegzug junger, gut ausgebildeter Men- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10895

(A) schen, insbesondere von Frauen, führt zu dauerhaften Anlage 12 (C) Verwerfungen, zu einem Prozess, dem wir nicht tatenlos zuschauen können. Zu Protokoll gegebene Reden Wir brauchen in Regionen mit unterdurchschnittlicher zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Wirtschaftskraft insbesondere in zwei Bereichen eine re- Reduzierung und Beschleunigung von immis- sionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren gional spezifische und zielgenaue Investitionsförde- (Tagesordnungspunkt 23) rung. Zum einen wollen wir Unternehmen direkt för- dern. Wir haben speziell in Ostdeutschland zu wenig Unternehmen. Wir wollen die Bereiche Bildung, For- Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU): Wir ent- schung und Entwicklung stärken und Investitionen auf scheiden heute über einen Gesetzentwurf des Bundes- diese Zukunftsbereiche konzentrieren. rates, der auf die Reduzierung der materiellen und verfahrensrechtlichen Anforderungen im Bereich der Wir haben dafür zwei Instrumente zur Verfügung. Die immissionsschutzrechtlichen genehmigungsbedürftigen Investitionszulage halten wir nicht für das geeignete In- Anlagen abzielt. Es geht dabei um eine spürbare Entlas- strument. Die Investitionszulage erreicht nicht die Un- tung von Industrie und Landwirtschaft von Bürokratie. ternehmen, die sie besonders nötig haben. Die Mitnah- Ergänzt wird der Gesetzentwurf durch unsere Ände- meeffekte sind hoch, die Förderung ist nicht zielgenau rungsanträge, die insbesondere auf Erleichterungen bei genug. Deshalb haben wir uns in der Vergangenheit ge- Investitionen im Bereich von Rinder- und Kälberställen gen die Verlängerung der Investitionszulage ausgespro- hinwirken. chen. Im Sinne einer Reduzierung und Beschleunigung von Wir sprechen uns aber ganz entschieden für den Er- Genehmigungsverfahren werden Änderungen der Rege- halt und die Ausgestaltung der Gemeinschaftsaufgabe lungen zum Erörterungstermin sowie Änderungen des An- aus. Wir müssen uns auf Programme konzentrieren, die lagenkatalogs der 4. BImSchV vorgenommen. Deutlich Mitnahmeeffekte vermeiden und gezielt Branchen in Zu- weniger Anlagen werden in Zukunft einer immissions- kunftsbereichen fördern. Die Gemeinschaftsaufgabe ist schutzrechtlichen Genehmigungspflicht unterliegen. Au- ßerdem wird die Durchführung von Erörterungsterminen ein solches Instrument. in Genehmigungsverfahren auf die erforderlichen Fälle Die Gemeinschaftsaufgabe zielt mitnichten nur auf beschränkt. In diesem Kontext erfolgen auch Anpassun- Ostdeutschland. Ich habe es bereits erwähnt. Auch die gen im Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung. Grenzregionen profitieren davon. Wir nehmen die Sor- (B) Bei diesem Gesetz geht es darum, das umzusetzen, (D) gen dieser Gemeinden sehr ernst. Deshalb möchte ich an was wir uns im Koalitionsvertrag vorgenommen haben: dieser Stelle auf ein Beispiel besonders gelungener Wirt- den Abbau von Bürokratie. Wir wollen mehr Freiräume schaftsförderung hinweisen. Der Landkreis Cham hat es für wirtschaftliches Engagement in Deutschland schaf- mithilfe der Gemeinschaftsaufgabe geschafft, seine gro- fen. Gleichzeitig wollen wir das hohe Schutzniveau im ßen Arbeitslosigkeitsprobleme zu lösen. Die Wirtschaft Bereich des Umwelt- und Naturschutzes aufrechterhal- floriert, insbesondere durch die Ansiedlung zukunfts- ten. Beides gelingt mit diesem Gesetz. orientierter Unternehmen aus Mechatronik, Kommuni- kations- und Umwelttechnologie. Dementsprechend ist Als Beispiel hierfür will ich die Regelungen für Rin- die Arbeitslosigkeit von 20 Prozent im Jahr 1985 auf der- und Kälberställe nennen: Wir grenzen hier ab zwi- 6,4 Prozent im Jahr 2005 gesunken. Eine Erfolgsge- schen der bäuerlichen Landwirtschaft, die Erleichterun- schichte, die auch an anderer Stelle wiederholbar ist. Da- gen erfährt. Wir erhoffen uns hierdurch einen Schub für für braucht es eine kontinuierliche und verlässliche Aus- neue Investitionen. Bei Vorhaben, die den Rahmen der gestaltung der Gemeinschaftsaufgabe. Ich bin froh, dass bäuerlichen Landwirtschaft überschreiten, werden wei- dies auch von den Regierungsfraktionen nicht anders ge- terhin die bestehenden Vorschriften zu berücksichtigen sein. Damit beschränken wir die aufwändigen Verfahren sehen wird. auf die Fälle, wo sie wirklich notwendig sind. Wenn wir von Ausgestaltung sprechen, rede ich auch Mit dem Gesetzentwurf wird die Durchführung von von veränderten Schwerpunktsetzungen. Ich habe be- Erörterungsterminen in Genehmigungsverfahren auf die reits darauf hingewiesen. Wir brauchen gezieltere Inves- notwendigen Fälle beschränkt. Die Genehmigungsbe- titionen in die Bereiche Bildung und Forschung. Ein hörde wird künftig auf der Grundlage der eingegangenen weiterer Bereich ist die Ökologieförderung. Eine sinn- Einwendungen über die Durchführung eines Erörte- volle Aufgabe wäre es, Ökologiebranchen gezielter zu rungstermins entscheiden. Dies ist letztlich Ausdruck fördern. Gerade im Mittelstand gibt es große Potenziale des Grundsatzes der Subsidiarität. für Wachstum. Diese sollten wir nutzen. Ich meine, dass dies nicht zu einem qualitativen Was wir nicht brauchen, ist ein stetiger Ausbau der Rückgang der Möglichkeit der Bürgerinnen und Bürger Infrastruktur in Ostdeutschland. Hier ist in den letzten zur Beteiligung führen wird. Dort wo tatsächlich Beden- Jahren viel passiert. Ostdeutschland hat hier längst den ken bestehen, dort wo faktisch aus der Bürgerschaft Dis- Anschluss gefunden. Bildung statt Beton lautet die kussionsbedarf angemeldet wird, dort werden die Behör- Handlungsdevise. den sicherlich auch in Zukunft einen solchen Termin 10896 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

(A) durchführen. Die Neuregelung ist damit auch Ausdruck sein. Das ist eine gesetzliche Regelung, die wir bereits (C) unseres Vertrauens in eine bürgernahe Verwaltung. aus dem Infrastrukturbeschleunigungsgesetz kennen. Bürokratieabbau, Umwelt- und Naturschutz und Bür- Drittens. Die Chancen für ein Umweltgesetzbuch gernähe – all dies wird somit in diesem Gesetz in Ein- werden durch diese Gesetzesänderung nicht verbessert, klang gebracht. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird aber auch nicht verschlechtert. Wir kennen die Ge- diesem Gesetzentwurf zustimmen. schichte der vielen Versuche, ein Umweltgesetzbuch zu schaffen. Ich denke, wir sind uns alle einig, dass wir nur Dr. Matthias Miersch (SPD): Die eine Seite wird gemeinsam eine solche Kodifikation des deutschen Um- heute sagen: „Ihr baut Umweltstandards ab“; die andere weltrechts schaffen können. Ich meine damit auch das Seite wird sagen: „Ihr baut bürokratische Hürden nicht gemeinsame Vorgehen von Bund und Ländern. Insoweit ausreichend ab.“ sehe ich in der heutigen Beschlussfassung auch ein Zei- chen des guten Willens an den Bundesrat, im kooperati- Wie so häufig bewegt sich auch das heutige Gesetz ven Miteinander die Dinge aufzunehmen und umzuset- zur Reduzierung und Beschleunigung von immissions- zen. schutzrechtlichen Genehmigungsverfahren im Span- nungsfeld zwischen Bürokratieabbau und effektivem Die entscheidende Frage ist jedoch: schaffen wir den Umweltschutz. Problematisch ist dabei zunächst, dass guten Ausgleich in dem von mir eingangs skizzierten sich hinter der Forderung nach Bürokratieabbau häufig Spannungsfeld zwischen Bürokratieabbau und effekti- auch der Wunsch nach Standardabsenkungen verbirgt. vem Umweltschutz? Ich meine, dass diese Frage noch Gleichzeitig ist aber auch klar, dass unübersichtliche niemand seriös beantworten kann. Prüfverfahren keine Garanten für effektiven Umwelt- Ich will deshalb an dieser Stelle auf die Druck- schutz sind. Zu finden ist also stets ein Ausgleich, der sache 16/4690 verweisen: auf das Sondergutachten des Adressaten und Gesetzesziel jeweils gerecht wird. Dass Sachverständigenrates für Umweltfragen. Ich will nicht es hier keinen Königsweg gibt, dürfte ebenso klar sein. verschweigen, dass sich der Sachverständigenrat kritisch Die Bundesregierung und die große Koalition haben mit der vorliegenden Bundesratsinitiative auseinander- den Bürokratieabbau auf die politische Tagesordnung setzt und auch die Frage der Erörterungstermine proble- gesetzt. Der vorliegende Gesetzentwurf betrifft nun die- matisiert. ses Thema. Es gibt dabei mehrere Elemente, die auch Wir werden über das Sondergutachten noch ausführ- Bestandteil der politischen Verhandlungen und der Stel- lich zu sprechen habe; das ist unsere Zukunftsaufgabe. lungnahmen von Verbänden und Interessensgruppen ge- Der Sachverständigenrat hält das Modernisierungspoten- (B) wesen sind. zial beim Verwaltungsverfahren für erschöpft, wenn ich (D) Es geht unter anderem um eine verfahrensrechtliche es richtig sehe. Andernfalls werden massive Qualitäts- Änderung: Der obligatorische Erörterungstermin gemäß einbußen befürchtet. Der Vollzug ist bekanntermaßen Bundes-Immissionsschutzgesetz wird nunmehr in das Ländersache. Es wird jedoch unsere Aufgabe sein, das Ermessen der Behörde gestellt. Für bestimmte Anlagen Verfahrensrecht, den Modernisierungsanspruch und die wird die Anlagengenehmigung vom Genehmigungs- Struktur der Umweltverwaltungen mit den Zielen des regime des BImSchG in das bauordnungsrechtliche Ge- Umweltrechtes zu analysieren. Konkret geht es um fol- nehmigungsverfahren verlagert. Verschiedene Anlagen gende Fragen: werden nun dem vereinfachten Verfahren unterstellt. Wie wirkt sich die Umstrukturierung der Umweltver- Die Meinungen über das Gesetz gehen auseinander: waltungen auf die Entscheidungsqualität aus? Wie wirkt Bauernverbände wünschen sich bei bestimmten Tierhal- sich die Verlagerung bestimmter Aufgaben auf die Kom- tungsanlagen überhaupt keine Umweltverträglichkeits- munen im Bereich des Baurechts aus? Wie wirkt sich prüfung mehr, da nach EU-Recht lediglich eine normale das Ermessen im Zusammenhang mit dem Erörterungs- Baugenehmigung ausreiche. Umweltverbände kritisie- termin auf die Praxis aus? ren unter anderem eine „Diskreditierung der Öffentlich- Hier brauchen wir handfeste Untersuchungen und Er- keitsbeteiligung“. gebnisse. Vorher halte ich eine Vorfestlegung für ver- Welche Auffassung ist richtig? – Einfache Antworten früht. Insofern ist das vorliegende Gesetz so etwas wie gibt es nach unserer Auffassung nicht. Ein paar Dinge ein Test. Ein Test, der dann vielfache Konsequenzen ha- stehen jedoch fest: ben kann. Klar muss dabei sein, dass das wichtigste Ziel das Erreichen hoher Umweltstandards mit effektiven In- Erstens. Die SPD-Fraktion hat durchgesetzt, dass strumentarien bleibt. zwar unter anderem Familienbetriebe im Bereich der Landwirtschaft von den immissionsrechtlichen Prüfver- In diesem Zusammenhang erlaube ich mir den Hin- fahren ausgenommen werden. Dabei ist strittig, wie sich weis, dass Klimaschutz nicht nur mit Vermeidung des künftig die Größenordnungen entwickeln werden. Fest CO2-Ausstoßes, sondern auch mit Natur- und Arten- steht jedoch, dass die Umweltverträglichkeitsprüfung schutz zu tun hat. Wir werden sehen, ob das Entbürokra- bei Großbetrieben erhalten bleibt. tisierungspotenzial erschöpft ist, ob der fakultative Erör- terungstermin das Recht der Öffentlichkeit beschneidet Zweitens. Der Erörterungstermin fällt nicht weg. Das oder dazu führt, dass von diesem Angebot nur dann Ge- Ermessen der Behörde wird nunmehr ausschlaggebend brauch gemacht wird, wenn es nützlich ist, sodass die Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10897

(A) Kräfte dann auch auf diese wirklich sinnvollen Termine Anlagen, deren Umweltrelevanz gering ist, sollen künf- (C) konzentriert werden können. tig nicht mehr nach Immissionsschutzrecht, sondern nach Baurecht genehmigt werden. Wir werden dabei auch sehen, ob die Adressaten – also unter anderem die Wirtschaft, die Anlagenbetrei- Wir Liberale sind der Ansicht, die vorgesehenen Er- ber – mit den Änderungen zufrieden sind. Möglicher- leichterungen im Verfahrensrecht sind ein geeigneter weise wird sich der Ruf nach einheitlichen Vorgaben von Kompromiss. Verfahren werden ein Stück weit beschleu- der Bundesebene verstärken. Hier sind wir gefordert. nigt und verschlankt, ohne dabei die Einflussmöglich- Gegebenenfalls müssen Forschungsmittel für die Unter- keiten der Bevölkerung unangemessen zu begrenzen. suchung zur Verfügung gestellt werden. Mit der Födera- Das ist uns Liberalen wichtig. Schließlich ist die Beteili- lismusreform I wird und darf die Debatte über einen wir- gung der Öffentlichkeit nicht nur ein lästiges Pflichtpro- kungsvollen Staatsaufbau im Rahmen eines vereinten gramm, das lediglich dazu dient, Verfahren unnötig in Europas nicht zu Ende sein. die Länge zu ziehen. Im Gegenteil: Für uns Liberale gilt immer noch, das nur der informierte Bürger ein mündi- Das sind die zentralen Fragen, die uns auch im Rah- ger Bürger ist. men der Arbeiten zum UGB beschäftigen müssen und si- cher weiter beschäftigen werden. Wir sind nach meiner Und trotzdem ist es hier richtig, die Entscheidung, ob Einschätzung gut beraten, diese mit Praktikern, Sach- in förmlichen Verfahren ein Erörterungstermin stattfin- verständigen und Adressaten im Umweltausschuss zu den soll, in das Ermessen der Behörden zu stellen. Das erörtern. In ihrer Stellungnahme zum vorliegenden Ge- heißt im Übrigen nicht, dass in den förmlichen Verfahren setzentwurf weist die Bundesregierung auf die Notwen- die Öffentlichkeit nicht mehr zu beteiligen ist. Es geht digkeit einer Erfahrungssammlung im Zusammenhang einzig und allein darum, dort, wo es sinnvoll ist, auf die mit den nun zu beschließenden Änderungen hin. Die organisatorisch meist aufwendigen Erörterungstermine Auswertung muss künftig die eigentliche Aufgabe sein. zu verzichten. Selbstverständlich können die Bürger auch in diesen Fällen nach wie vor Einwendungen erhe- Horst Meierhofer (FDP): Über 90 000 Einzelvor- ben. schriften gibt es mittlerweile in Deutschland. Ein Para- Ich bin sicher: Die Behörden können richtig beurtei- grafendschungel, in dem der Blick für das Wesentliche len, wann die Durchführung eines Erörterungstermins oft verlorengeht. Für die Wirtschaft entstehen dadurch notwendig und sinnvoll ist und wann nicht. Und in den jährlich rund 46 Milliarden Euro an Bürokratiekosten. Fällen, in denen das nicht der Fall ist, kann eben unnöti- Wir von der FDP begrüßten deshalb das Ziel des Ge- ger Verwaltungsaufwand vermieden und die Dauer des Genehmigungsverfahrens verkürzt werden. (B) setzesentwurfes, auch die immissionsschutzrechtlichen (D) Genehmigungsverfahren auf unnötige Bürokratie hin ab- zuklopfen. Was Deutschland braucht, ist ein effektiver Was wir nicht wollen, ist, dass regelmäßig ganze Hal- Umweltschutz und nicht möglichst viel Bürokratie. Was len zum Abhalten von Erörterungsterminen angemietet wir dabei ausdrücklich nicht wollen, ist: Umweltstan- werden müssen und nachher kommt keiner; das gibt es dards herunterfahren. nämlich auch. Ich bin froh, dass der Vorschlag des Bundesrates jetzt Besonders hervorheben möchte ich an dieser Stelle auf einem guten Weg ist, mit der einen oder anderen noch einmal die landwirtschaftlichen Verfahren, und hier kleinen Veränderung auch tatsächlich Gesetz zu werden. insbesondere die Regelungen zu den Kälber- und Rin- Lang genug hat das ja gedauert: Über ein Jahr hing der derställen. Ich begrüße, dass wir im Ausschuss hier noch Gesetzesentwurf im Bundestag in der Warteschleife. Ein einen Schritt weiter gegangen sind als der ursprüngliche Zeichen dafür, dass die schwarz-rote Koalition sich nicht Entwurf des Bundesrates. Die Freistellung von den nur bei Gesundheit, Pflege oder Mindestlohn, sondern förmlichen Genehmigungsverfahren und die nochmalige auch beim Umfang des Entbürokratisierungspotenzials Anhebung der Stellplatzzahlen bei Rinder- und Kälber- nicht einig ist. ställen im einfachen Verfahren ist definitiv ein Schritt in die richtige Richtung. Zwar wäre unserer Auffassung Noch einmal betonen möchte ich an dieser Stelle nach eine vollkommene Freistellung die richtige Ant- auch, dass die Unentschlossenheit der großen Koalition wort auf eine Eins-zu-eins-Umsetzung europäischer zu erheblichen Rechts- und Planungsunsicherheiten der Standards gewesen. Dennoch ist die jetzige Fassung des Betroffenen beigetragen hat. Gesetzesentwurfs eine Verbesserung. Nichtsdestotrotz: Die FDP unterstützt das geplante Insgesamt werden wir dem Gesetzesentwurf deshalb Gesetz. Bei Wahrung anspruchvoller Umweltstandards als einem Schritt in die richtige Richtung hin zu mehr werden immissionsschutzrechtliche Genehmigungsver- Entbürokratisierung und Vereinfachung zustimmen. fahren von unnötigem Ballast befreit. Überregulierungen werden auf europäische Vorgaben zurückgefahren. In- dustrie und Landwirtschaft werden dadurch spürbar ent- Lutz Heilmann (DIE LINKE): Lange Zeit hat die lastet. Das ist richtig. Koalition uns signalisiert, dieser Gesetzentwurf des Bundesrates werde auf keinen Fall verabschiedet. Dann Konkret heißt das: Der Gesetzesentwurf will zum ei- ging es plötzlich ganz schnell. Und zu allem Überfluss nen das förmliche Verfahren vereinfachen. Zum anderen macht die Koalition das Gesetz noch schlechter, als es soll die Zahl der Verfahren insgesamt reduziert werden. ohnehin schon war. 10898 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

(A) Besonders dreist ist der Zeitpunkt, an dem die Koali- laufen müssen. Viele Anlagen müssen nur noch ein ver- (C) tion dieses Gesetz verabschiedet; es liegt ja bereits seit einfachtes Verfahren durchlaufen, das ohne Öffentlich- April letzten Jahres vor. Für den Sommer 2007 hat das keitsbeteiligung stattfindet. Vielen Anlagen bleibt selbst BMU den Entwurf für ein Umweltgesetzbuch angekün- das erspart. digt. Dieser hat heute begonnen. Damit erhöhen Sie die Akzeptanzprobleme von Anla- Über ein Umweltgesetzbuch, also die Zusammen- gen. Denn ein ordnungsgemäß durchgeführtes und ge- führung des bislang zersplitterten Umweltrechts, wird nehmigtes Verfahren gibt Investoren größere Rechtssi- bereits seit Jahrzehnten diskutiert. Deswegen ist das cherheit und Akzeptanz in der Bevölkerung. Deswegen Umweltgesetzbuch das große Projekt des Umweltminis- führen beispielsweise viele Landwirte für Biogasanlagen teriums in dieser Legislaturperiode. Kern dieses Um- freiwillig ein Genehmigungsverfahren durch. weltgesetzbuches soll die Anlagengenehmigung sein, also zum Beispiel die Genehmigung von Industrieanla- Dieses Gesetz ist eine schallende Ohrfeige für all gen, von Müllverbrennungsanlagen und Anlagen zur jene, die gehofft hatten, dass das Umweltgesetzbuch eine Massentierhaltung. Verbesserung im Umweltrecht bringen würde. Die Um- weltverbände haben bereits entsprechend reagiert. Mit diesem Gesetz greift die Koalition nun so massiv in die Anlagengenehmigung ein, dass sie das UGB damit Minister Gabriel sagte kürzlich in einem Interview, weitgehend überflüssig macht. Eigentlich kann das dass es sich für die deutschen Unternehmen auszahlt, BMU morgen die Arbeiten am UGB wieder einstellen. dass wir bei uns anspruchsvolle Umweltstandards haben. Ich befürchte aber, dass die Koalition mit diesem Gesetz Wir hatten anspruchsvolle Umweltstandards. Herr nicht dem UGB widerspricht, sondern damit die Leitli- Gabriel sagte außerdem wiederholt, dass im Zuge des nie für das UGB vorgeben will, die da heißt: massiver UGB keine Umweltstandards abgebaut werden sollen. Abbau von Umweltstandards. Es ist der eindeutigste Be- Entweder die Koalition beschließt dieses Gesetz ohne weis, dass die Koalition alles, was nicht zwingend vom seine Zustimmung oder er trägt es stillschweigend mit. EU-Recht vorgegeben ist, systematisch abbaut; das steht Beides wäre ein Armutszeugnis. Ist er ein schwacher sogar explizit in einigen Änderungsanträgen der Koali- Minister, der sich gegen seine Koalition nicht durchset- tion. zen kann? Oder ist er gar ein Lügner? Was tut die Koalition genau? Wenn die Damen und Herrn von der Koalition dieses Gesetz verabschieden, dann sollte das Umweltministe- Erstens stellt sie den Genehmigungsbehörden frei, ob rium die Arbeit am Umweltgesetzbuch lieber sofort ein- sie zukünftig einen Erörterungstermin ansetzt. Das Glei- stellen. Denn für das UGB befürchte ich vom heutigen che wurde bereits letztes Jahr für Infrastrukturvorhaben (B) Tag an nur noch das Schlimmste, einen Großangriff auf (D) beschlossen. Damit vertun Sie unnötig die große Umweltstandards. Chance, im Zuge des UGB die Genehmigungsverfahren endlich neu zu gestalten. Wir brauchen eine umfassende Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): und frühzeitige Öffentlichkeitsbeteiligung, keinen Ab- Der Entwurf eines Gesetzes zur Reduzierung und Be- bau! schleunigung von immissionsschutzrechtlichen Geneh- Uns wirft man Demokratiedefizite vor, die Koalition migungsverfahren ist eine weitere Maßnahme der gro- baut selber massiv und systematisch Bürgerrechte ab. ßen Koalition in Bundestag und Bundesrat, die Rechte Das ist eine verlogene Politik. der Öffentlichkeit auf Information, Teilhabe und Ein- flussnahme beschneidet. Zweitens will die Koalition, dass wesentlich weniger Anlagen zur Tierhaltung und Abfallbehandlung einer Es geht bei der sogenannten Planungsbeschleunigung Umweltverträglichkeitsprüfungen unterworfen werden keineswegs darum, ein in Deutschland auffällig schlep- als bislang. In einigen Fällen ist das eher lächerlich. So pendes, intransparentes und Investoren verschreckendes gibt es eine UVP-Pflicht für die Mastgeflügelhaltung zu- Planungswesen zu zerschlagen. Nein, ganz im Gegen- künftig statt bei 84 000 Tieren erst bei 85 000. In ande- teil: Deutschland ist bei der Genehmigung von Anlagen ren Fällen ist das aber dramatisch: Während früher ab internationale Spitze. Unsere Verwaltungen genehmigen 350 Rindern und Kälbern zwingend eine UVP durchzu- in einer Geschwindigkeit, dass mitunter Zweifel an der führen war, entfällt dies nun völlig. Warum? Eine UVP- Tiefenqualität der Prüfverfahren aufkommen. Erst im Pflicht ist für die Rinder- und Kälberhaltung nicht vorge- Frühjahr hat der Sachverständigenrat für Umweltfragen schrieben. Deswegen findet zukünftig erst ab 800 Rindern ein Sondergutachten vorgelegt, in dem festgestellt wird, eine Vorprüfung statt. Und erst ab 600 – bisher 250 – dass weitere Beschleunigungen in der Genehmigungs- muss eine standortbezogene UVP durchgeführt werden. praxis in Deutschland zu deutlichen qualitativen Ein- Der Bundesrat war da übrigens noch maßvoll. Das geht schränkungen beim Prüfverfahren führen. auf die Kappe der Koalition. Will die Koalition also in Wahrheit gegen die Um- Drittens führt die Koalition die wesentlich schwäche- weltbelange regieren und dem hohen Stellenwert des ren Schwellenwerte gleich bei der Anlagengenehmigung Umweltschutzes in Deutschland weiter Stück für Stück mit ein. Dadurch werden wesentlich weniger Anlagen, entgegenwirken? Wissenschaftlich jedenfalls ist es ein- nicht nur zur Tierhaltung und Abfallbehandlung, son- deutig, dass es keinen Anlass für diese Politik des Ab- dern auch aus diversen anderen Branchen zukünftig baus von Umweltstandards unter dem Deckmäntelchen keine ordentlichen Genehmigungsverfahren mehr durch- einer angeblich notwendigen Verfahrensbeschleunigung Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10899

(A) gibt. Der von uns allen sehr geschätzte Sachverständi- Anlage 13 (C) genrat für Umweltfragen schreibt dazu in einem Sonder- Zu Protokoll gegebene Reden gutachten: zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) Änderung des Waffengesetzes (Tagesordnungs- hat bereits mehrfach betont, dass die maßgebliche punkt 24) politische Rechtfertigung für die Beschleunigungs- maßnahmen einer tragfähigen empirischen Grund- Reinhard Grindel (CDU/CSU): Es ist nicht zu bestrei- lage entbehrt. Weder ist eine übermäßig lange ten: Leider häufen sich in letzter Zeit die Fälle, bei denen Dauer der deutschen Zulassungsverfahren für Infra- im Rahmen von Messerstechereien Personen schwer struktur- und Industrieanlagen festgestellt worden verletzt oder sogar getötet wurden. Oftmals sind dabei noch sprechen die Ergebnisse empirischer Studien ursprünglich völlig Unbeteiligte betroffen, die eigentlich dafür, dass im Allgemeinen ein relevanter Zusam- Streit schlichten oder Opfern zu Hilfe kommen wollten. menhang zwischen der Verfahrensdauer und der Wir machen die Erfahrung, dass Täter, die dann ein Mes- Standortwahl von Investoren besteht. ser dabei haben, es leider viel zu häufig tatsächlich einsetzen. Das ist ein Aspekt wachsender Brutalität auf Um was geht es also der großen Koalition mit ihrem unseren Straßen, die übrigens gerade auch von Jugendli- Beschneiden der erreichten Umweltstandards? Ich kann chen ausgeübt wird. mich der Vermutung nicht erwehren, dass Ihnen Errun- genschaften der rot-grünen Regierungszeit wie ein Dorn Wir müssen auf diese neuen Herausforderungen auch im Auge erscheinen. Um im Bild zu bleiben: Dornen ha- neue Antworten geben. Der Staat muss dieser zuneh- ben eine wichtige Funktion in der Natur; sie schützen! menden Gewaltbereitschaft, insbesondere der Gewalt Die erreichten Umweltstandards sind in keinem Auge mit Waffen, entschieden entgegentreten. Es ist hier auch ein Dorn, sondern viel eher zu vergleichen mit einem geboten, neue Wege zu beschreiten, wenn dadurch eine blühenden wunderschönen Rosenbusch, dessen Dornen Verbesserung der öffentlichen Sicherheit in den betroffe- uns vor schädlichen Eindringlingen bewahren. Diese nen Straßen und auf Plätzen erreicht werden kann. Rosen gilt es zu pflegen und zu bewahren. Es war ein Insoweit war die Initiative Hamburgs im Bundesrat Schelm, der den Bock zum Gärtner gemacht hat; sicher zur Änderung des Waffengesetzes ein solcher Versuch war es kein kluger Politiker. eines neuen Weges. Durch die Einführung einer Öff- nungsklausel sollen die Landesregierungen ermächtigt Aber Spaß beiseite. Auch die Umweltverbände sind werden, im Wege einer Rechtsverordnung in bestimmten in ihrer Kritik eindeutig. In einem gemeinsamen offenen öffentlichen Straßen, Wegen oder auf Plätzen das Führen (B) (D) Brief wird der Umweltminister zitiert, der stets betont von allen Waffen im Sinne des Waffengesetzes zu ver- habe, dass erreichte Standards nicht abgebaut würden. bieten. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird aus Sicht von Umweltverbänden „das Vorhaben der Schaffung eines Der Bundesrat hat sich für diesen Weg des Verbots einheitlichen Umweltrechts diskreditiert“. des Führens von Waffen entschieden, wie es der § 42 des Waffengesetzes bereits für Messen, Märkte und ähnliche Hinzuzufügen ist an dieser Stelle, dass die große Ko- Veranstaltungen kennt, weil eine Erweiterung des Ver- alition in Uraltfehler zurückfällt. In der Landwirtschaft botskatalogs des Waffengesetzes wahrscheinlich nur zu sollen größere Anlagen nach einfachem Verfahren ge- einem Ausweichen auf andere Waffen oder Gegenstände nehmigt werden. Am liebsten wäre ihr vermutlich, wenn geführt hätte. die Umweltverträglichkeitsprüfung ganz wegfallen Zielführender ist dann schon ein Verbot des Führens könnte; davor bewahrt uns glücklicherweise das EU- von Waffen an bestimmten öffentlichen Orten. Nun be- Recht. Aber sicher können wir uns bei dieser Koalition durfte die durch den Bundesrat verabschiedete Formulie- nicht sein, denn bei der Öffentlichkeitsbeteiligung schert rung eines neuen § 42 Abs. 5 Waffengesetz nach Auffas- sie sich nicht um geltendes EU-Recht. Anstatt eine um- sung der Bundesregierung aber einer gewissen fängliche Informationspflicht einzurichten und die Öf- Präzisierung. Es freut mich deshalb sehr, dass es im fentlichkeit in Planungsvorhaben zu einem Zeitpunkt Frühjahr nach intensiven Gesprächen zwischen den einzubeziehen, an dem noch alle Optionen offen sind, Experten des BMI, des BMJ und der Behörde für Inneres wird das Gegenteil ins Gesetz geschrieben. Nachbarn in Hamburg gelungen ist, zu einer Neuformulierung zu sollen erst von einem neuen Schweinestall oder einer kommen, die wir im Rahmen der Beratungen dieses Ge- neuen Legebatterie erfahren, wenn sie bereits gebaut setzentwurfs im Innenausschuss als Antrag der Koali- wird. Ein möglicher Einfluss der Öffentlichkeit auf An- tionsfraktionen einbringen und dann dort auch verab- lagenplanungen wird damit ausgeschaltet. schiedet werden. Die Grünen haben ganz im Gegensatz zur großen Ko- Voraussetzung für das Verbot des Führens von Waffen alition kein Misstrauen gegenüber der Meinung der Öf- soll jetzt sein, dass an den Verbotsorten wiederholt Straf- fentlichkeit. Wir sehen in ihrer Beteiligung an staatlicher taten unter Verwendung von Waffen oder Gewaltdelikte Entscheidungsfindung einen demokratischen Grundpfei- wie zum Beispiel Raubdelikte, Körperverletzungen, Se- ler, für den wir weiterhin kämpfen werden. Wir lehnen xualdelikte oder Straftaten gegen das Leben begangen den Gesetzentwurf aus dieser Überzeugung heraus rund- worden sind und auch in Zukunft mit der Begehung sol- weg ab. cher Straftaten zu rechnen ist. 10900 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

(A) Die gelegentlich erhobene Forderung, für ganze Stadt- Wir wollen die Länder aber zügig unterstützen, und des- (C) teile oder gar Städte Waffenverbote auszusprechen oder halb ziehen wir diese Änderung des Waffengesetzes jetzt alle Hieb- oder Stoßwaffen zu verbieten, ist unrealistisch. vor. Bei genauer Analyse stellt sich die Kriminalitätsentwick- lung nämlich sehr unterschiedlich dar und würde derartig Der neue § 42 Abs. 5 Waffengesetz ist kein Allheil- umfassende Verbote, die zudem durch umfängliche Aus- mittel. Er kann aber in Verbindung mit anderen Maßnah- nahmetatbestände flankiert werden müssten, wohl auch men einen Beitrag für mehr innere Sicherheit leisten. Ich nicht begründen können. Auch in der jetzt gemeinsam will nur darauf verweisen, dass die Länder durch eine gefundenen Formulierung des neuen § 42 Abs. 5 Waffen- Gefahrenabwehrverordnung auf der Grundlage ihrer gesetz sind Ausnahmetatbestände für Anwohner oder SOGs zum Beispiel auch das Verbot des Führens von de- Gewerbetreibende vorgesehen, soweit eine Gefährdung liktsrelevanten Gegenständen wie Fahrtenmessern oder der öffentlichen Sicherheit nicht zu besorgen ist. Baseballschlägern verbieten sollten. Die Länder müssen selbstverständlich auch nach Ich will auch ansprechen, dass es gewisse Bedenken Schaffung der neuen Rechtsgrundlagen für einen effekti- gab, den Ländern durch diese Öffnungsklausel Gestal- ven Vollzug der Rechtsänderungen sorgen. Ein denkba- tungsmöglichkeiten einzuräumen, die grundsätzlich die res Mittel ist dabei die Durchführung von Schwerpunkt- Gefahr eines waffenrechtlichen Flickenteppichs in kontrollen, damit sich das Verbot des Führens von Deutschland in sich bergen. Ich halte dieses Vorgehen Waffen auch bei denen, die es angeht, herumspricht. aber für verantwortbar, weil es schließlich auch die Län- der sind, die für das Polizei- und Ordnungsrecht und da- Die gestiegene Gewaltkriminalität erfordert es, neue mit die allgemeine Gefahrenabwehr zuständig sind. Sie Wege zu gehen und neue Maßnahmen zu ergreifen. Die können am besten einschätzen, an welchen Orten eine von Hamburg angestoßene Bundesratsinitiative wird solche Maßnahme der Gewaltprävention sinnvoll ist. In- letztlich auch das Vertrauen der Bürger in die Hand- sofern besteht eine Parallele zur Videoüberwachung von lungsfähigkeit des Staates stärken. Kriminalitätsschwerpunkten, die ohne Weiteres auf Ge- fahrenabwehrrecht gestützt wird. Es ist schon aus Anlass Gabriele Fograscher (SPD): Das Waffenrecht ist der Videoüberwachung zu einer auf einer breiten Daten- eine sensible Materie. Diejenigen, die legal Waffen be- grundlage fußenden genauen Analyse von Kriminalitäts- sitzen, wie zum Beispiel die Jäger und Schützen, be- schwerpunkten gekommen. Gerade mit Bezug auf diese fürchten immer neue Verbote und mehr Bürokratie. Dem inzwischen sehr erfolgreich genutzte Maßnahme unter- gegenüber steht aber das Sicherheitsbedürfnis der Bevöl- streiche ich, wie positiv die Zielrichtung der Hamburger kerung. Dabei können wir im Waffenrecht immer nur Initiative ist. Es wird kein Problem sein, eine genaue den legalen Waffenbesitz regeln, der illegale Waffenbe- (B) Analyse der Straßen und Plätze vorzunehmen, bei denen sitz hingegen ist weit gefährlicher und schwer zu kon- (D) es besonders häufig zu einem Einsatz von Messern im trollieren. Rahmen von Gewaltdelikten gekommen ist. Insofern wird man – ohne Prophet zu sein – sicher sagen können, Heute beraten wir einen Gesetzentwurf des Bundesra- dass die Reeperbahn auf diese Art und Weise nun zur tes zur Änderung des Waffengesetzes, der nur einen As- waffenfreien Zone wird, was der Sicherheit nur guttun pekt, nämlich das Tragen von Waffen und gefährlichen kann. Gegenständen neu regeln soll. Hintergrund dieser Initia- tive der Hansestadt Hamburg sind Messerstechereien Wir dürfen auch nicht nur reagieren, wenn etwas pas- und andere gefährliche oder verletzende Waffeneinsätze, siert ist, und dann wieder zur Tagesordnung übergehen. die dort regelmäßig stattfinden. Allein am ersten Sep- Insoweit hoffe ich auch auf die Unterstützung der Bun- temberwochenende 2005 wurden in Hamburg bei meh- desratsinitiative durch die Grünen. Es war schließlich ihr reren Messerattacken insgesamt 13 Personen verletzt, al- Innenpolitiker hier im Berliner Abgeordnetenhaus, lein acht durch einen Amoklauf in einer Kiezkneipe. Volker Ratzmann, der nach einer Messerattacke in Ber- lin-Tegel, am Tegeler See, erklärt hat – siehe „Tagesspie- Deshalb sieht der Gesetzentwurf Änderungen des gel“ vom 13. Juni 2007 –: „Man sollte Optionen für Län- Waffengesetzes vor, um waffenfreie Zonen an Brenn- der und Ballungsräume schaffen, damit diese nach punkten gewaltbereiter Szenen zu schaffen. Durch die eigenen Bedürfnissen Verbote erteilen können.“ Einfügung einer Öffnungsklausel sollen die Landesre- gierungen ermächtigt werden, auf dem Wege einer Genau dies tun wir jetzt. Damit wird die Gewaltkrimi- Rechtsverordnung in bestimmten öffentlichen Straßen nalität nicht beseitigt, aber doch eingedämmt werden das Führen aller Waffen im Sinne des Waffengesetzes zu können. Das Beispiel des Rückgangs der schweren verbieten. Voraussetzung dafür ist, dass es an diesen Or- Straftaten an videoüberwachten Orten beweist das. Inso- ten schon wiederholt zu Gewaltdelikten gekommen ist fern unternehmen wir hier keinen Schnellschuss, son- und dass auch in Zukunft dort mit Straftaten zu rechnen dern geben den Ländern ein Mittel in die Hand, damit sie ist. ihrer Aufgabe zur Gefahrenabwehr gerecht werden kön- nen. Für meine Fraktion stelle ich fest, dass wir das Anlie- gen und das Ziel des Gesetzentwurfes begrüßen. Jedoch Wir warten mit diesem Gesetzentwurf auch nicht die – da stimme ich der Stellungnahme der Bundesregierung geplante und durch die Bundesregierung in Vorbereitung zu – genügt der Bundesratsentwurf nicht dem Bestimmt- befindliche Novelle des Waffengesetzes ab. Diese No- heitsgebot. Deshalb werden wir die Straftatbestände velle kann sich noch bis zum Ende des Jahres hinziehen. durch einen Änderungsantrag präzisieren, denn der Be- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10901

(A) griff „Gewalttat“ ist zu unbestimmt. Auch muss die Ver- jungen Mann, der ihn wegen Abfallrüpelei zur Rede ge- (C) hältnismäßigkeit gewahrt bleiben, deshalb sollte man in stellt hatte. Der Mord geschah mit einem Messer, das im der Rechtsverordnung allgemein oder in Einzelfällen deutschen Waffenrecht zwar als gefährlich, aber legal Ausnahmen für Inhaber waffenrechtlicher Erlaubnisse, eingestuft ist. In der Folge liegt uns nun hier ein bereits Anwohner und Gewerbetreibende zulassen, solange von etwas älterer Gesetzentwurf aus dem Bundesrat vor, der ihnen keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit aus- die Möglichkeit schaffen soll, das Führen solcher als ge- geht. Der Verstoß gegen ein solches Verbot soll als Ord- fährlich, aber legal eingestufter Waffen in bestimmten nungswidrigkeit ausgestaltet werden. Zonen zu verbieten. Nur mit einem Bündel von Maßnahmen kann es ge- Zunächst einmal muss festgestellt werden: Das gel- lingen, solche Kriminalitätsschwerpunkte zu entschär- tende deutsche Waffenrecht zählt zu den strengsten der fen. Dazu gehören unter anderem die hier zu schaffende Welt. Eine umfassende Verschärfung aus Gründen der Möglichkeit von waffenfreien Zonen, die Videoüberwa- inneren Sicherheit ist grundsätzlich nicht notwendig; chung, eine stärkere Polizeipräsenz und lageabhängige denn die Sicherheitsprobleme entstehen meist nicht Kontrollen durch die Polizei. durch die legalen Waffenbesitzer. Sie werden vielmehr verursacht durch den illegalen Waffenmarkt, der aller- Infrage stellen könnte man, ob es dieser Waffen- dings mit Nachdruck bekämpft werden muss. Auch im rechtsänderung wirklich bedarf. Die landesrechtliche eingangs beschriebenen Fall stellt sich die Frage, wie ein Kompetenz zur Gefahrenabwehr könnte solche Waffen- 17-Jähriger an eine solche Waffen kommen konnte. Sie verbote durchaus auf der Grundlage des Polizeirechts ist freilich nicht schwer zu beantworten, und die Presse aussprechen. Die Koalitionsfraktionen werden sich aber hat dies in den letzten Tagen auch ausführlich getan. Al- dem Wunsch der Länder nach einer zusätzlichen Mög- tersgrenzen im Handel sind leicht zu umgehen. lichkeit zur Schaffung von waffenfreien Zonen nicht wi- dersetzen. Wenn sich die Frage stellt, ob das bisherige Waffen- gesetz überhaupt geändert werden muss, dann lässt sich Wir sehen aber noch in anderen Bereichen des Waf- ein triftiger Grund hierfür nach Meinung der FDP allen- fenrechts Handlungsbedarf. Deshalb werden wir im falls darin finden, dass das geltende Waffenrecht sehr Herbst das 2002 verabschiedete Waffenrecht an einigen kompliziert ist. Daran hat sich leider durch die letzte Stellen ergänzen und präzisieren. Dazu gehört zum Bei- Waffenrechtsreform der rot-grünen Koalition nichts ge- spiel das Verbot des Führens von Anscheinswaffen in ändert. Im Gegenteil: Von Vereinfachung, Entbürokra- der Öffentlichkeit. Anscheinswaffen sind Waffen, die tisierung, Rücknahme der Regelungsdichte, mehr Über- echten Waffen täuschend ähnlich sehen, auch wenn es sichtlichkeit und Lesbarkeit konnte keine Rede sein. Die nur um eine Art „Spielzeugwaffe“ oder ein Waffenmo- unübersichtlichen Anhänge blieben, und die zahlreichen (B) (D) dell handelt. Dies kann zum Beispiel ein Polizist, der mit Verordnungsermächtigungen, die zulassen, wesentliche einer solchen Anscheinswaffe bedroht wird, nicht erken- Fragen am Parlament vorbei zu regeln, kennzeichnen nen. Die Folgen könnten gravierend sein. Das sieht auch weiterhin das Waffenrecht. die Gewerkschaft der Polizei so, die sich für ein Verbot des Tragens von Anscheinswaffen einsetzt; denn die An- Darüber hinaus war der ursprüngliche Inhalt des Ge- scheinswaffen sind vom Gewicht, vom Aussehen oder setzentwurfs eindeutig gegen die berechtigten Interessen Anfassen her meist nicht mehr von echten Waffen zu un- der legalen Waffenbesitzer, insbesondere der Sportschüt- terscheiden. zen, der Jäger und der Waffensammler gerichtet. Diese Gruppen sollten mit einem Übermaß an Bürokratie über- Zu überlegen ist auch, ob man nicht Gegenstände wie zogen werden, ohne dass dadurch irgendein nennenswer- zum Beispiel Baseballschläger oder Dolche mit in die ter Zugewinn für die innere Sicherheit erzielt worden Reihe der gefährlichen Gegenstände aufnimmt. Ich wäre. hielte so etwas für richtig, denn wozu nimmt jemand, der zum Beispiel aufs Münchener Oktoberfest geht, einen Im Oktober 2001 ermächtigte der Europäische Rat die Baseballschläger oder einen Dolch mit? EU-Kommission, im Namen der Mitgliedsländer das UN-Schusswaffenprotokoll zu unterzeichnen. 2006 legte Auch das sogenannte Erbenprivileg muss neu gere- die Kommission einen Entwurf zur Novellierung der gelt werden, da es bei der letzten Novelle 2002 auf fünf Waffenrichtlinie vor. Hierdurch soll der Missbrauch des Jahre befristet wurde. In diesen fünf Jahren wurde der Waffenbesitzes bzw. des -gebrauchs stärker eingedämmt Industrie Zeit eingeräumt, technische Möglichkeiten zu und restriktiver behandelt werden. Freilich ist von einer entwickeln, geerbten Waffen durch ein Blockiersystem Novellierung des Waffenrechtes zwar seither viel die die Schießfähigkeit nehmen, ohne sie zu zerstören. Rede gewesen, aber bislang hat die Koalition aus Union Bei der anstehenden Novelle des Waffenrechts wer- und SPD dem Parlament keinen Entwurf vorgelegt. In- den wir darum bemüht sein, dass ein Kompromiss ge- sofern begrüßt die FDP den Bundesratsentwurf, obwohl funden wird zwischen den Sicherheitsinteressen des wir noch nicht völlig überzeugt sind, dass das der rich- Staates und der Bürgerinnen und Bürger und den berech- tige Weg ist, den Waffenmissbrauch einzudämmen. tigten Belangen insbesondere von Jägern, Sportschützen Immerhin wird in bestimmten – wohl überwiegend und Sammlern. großstädtischen – Zonen ein Instrumentarium geschaf- fen, das der Polizei eine frühzeitige Möglichkeit zum Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): In der zweiten Einschreiten geben könnte. Sicherlich wird die Polizei Juniwoche ermordete in Berlin ein 17-Jähriger einen ein solches örtliches Verbot nicht lückenlos durchsetzen 10902 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007

(A) können. Aber wenn sie bei einer Personendurchsuchung Ich will das einmal auf meine Heimatstadt Berlin (C) auf eine Waffe stößt, hat sie dann die Möglichkeit, ent- übersetzen. In der Diktion der Gesetzesvorlage könnte sprechende Ermittlungen einzuleiten und gegebenenfalls ein Hammer oder ein Korkenzieher in Zehlendorf ein Sanktionen zu verhängen. nützliches Werkzeug sein, in Neukölln aber eine gefähr- liche Waffe. Ich halte das für absurd. Freilich ist fraglich, ob die eingangs erwähnte Tat so zu verhindern gewesen wäre. Deshalb muss es weiterge- Wir lehnen das Gesetz aber auch aus einem anderen hende Anstrengungen geben, das Waffenrecht zu verein- Grund ab. Es schreibt nämlich vor, dass genau belegt fachen und es übersichtlicher und praktikabler zu gestal- werden müsse, welche Orte als besonders gewaltträchtig ten. Diese Forderung geht in die entgegengesetzte gelten und warum. Das klingt beim ersten Hinhören lo- Richtung zu dem, was als Vorhaben der Bundesregie- gisch und nachvollziehbar. De facto zielt es aber auf rung zur Umsetzung der EU-Waffenrichtlinie durchgesi- mehr Videokameras, auf mehr verdeckte Ermittlungen, ckert ist. auf mehr Überwachung. Damit würde ein genereller Trend unterstützt, den wir ablehnen – nämlich der Um- Mit immer neuen bürokratischen Pflichten für legale bau des demokratischen Rechtsstaates zu einem präven- Waffenbesitzer, mit einem Generalverdacht gegen Sport- tiven Sicherheitsstaat. schützen, Jäger und Waffensammler wird keine solche Untat zu verhindern sein. Aber der Erwerb durch Ju- Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE gendliche, der Handel und auch das Tragen von Waffen GRÜNEN): Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht über können erschwert und zugleich die diesbezüglichen Re- Messerattacken berichtet wird. So wurde erst vor weni- geln vereinfacht werden. Dabei darf es nicht zu neuen gen Tagen an einer Badestelle in Berlin-Reinickendorf komplizierten, bürokratisch zu beantragenden Ausnah- ein 23-jähriger Mann durch einen Stich mit einem Mes- meregelungen kommen. Ich bezweifle, dass das Vorha- ser getötet. Dieser tödliche Messerangriff eines 17-Jähri- ben der EU weiterhilft, die vier Kategorien der EU-Waf- gen brachte wieder einmal Bewegung in die Diskussion fenrichtlinie auf nur noch zwei Kategorien – verboten über das Waffenrecht. So forderte der Berliner Innen- oder genehmigungspflichtig – zu reduzieren, obwohl es senator Körting erneut, Waffen und waffenähnliche Ge- laut Bericht der Kommission bisher „keine besonderen genstände generell zu verbieten. Es sind diese erschre- Probleme“ damit gegeben hat. ckenden Berichte aus den Ländern von schweren Gewalttaten mit Messern, die den Bundesrat veranlasst Jedenfalls erwarten wir von der Bundesregierung um- haben, den Bundestag zu einer weiteren Verschärfung gehend ein plausibles Konzept, wie sie den unübersicht- des Waffenrechts aufzufordern. lichen Wust des deutschen Waffenrechts klären will. (B) Keinesfalls können wir dabei einen Generalverdacht ge- Die rot-grüne Bundesregierung hatte bereits 2003 das (D) gen Sportschützen, Jäger und Waffensammler akzeptie- Waffengesetz verschärft, die meisten Messer dürfen be- ren, denn das Problem der zunehmenden Gewalttaten reits heute nicht in der Öffentlichkeit mitgeführt werden. geht ja gerade nicht von diesen Personengruppen aus. Der Bundesrat greift jetzt eine Hamburger Initiative auf, das Tragen von Waffen in besonders gefährlichen Ge- Die Antwort auf dieses Problem, die der Rechtsstaat genden zu verbieten. Ich bin nicht davon überzeugt, dass geben muss, geht weit über eine waffenrechtliche Pro- diese Öffnungsklausel für die Länder tatsächlich dazu blemstellung hinaus. Es hat mit dem kausalen und auch führen wird, dass die Straftaten mit Messern oder ande- temporären Zusammenhang von Straftat und Strafe, vor ren gefährlichen Waffen reduziert werden. Eine Geset- allem aber auch mit dem umfassenden und von der Bun- zesverschärfung allein wird nicht den gewünschten Er- desregierung sträflich vernachlässigten Feld der Krimi- folg bringen. nalprävention zu tun. In diesem Sinne wird die FDP die weiteren Beratungen der vorliegenden Bundesratsinitia- Wir brauchen eine Kultur der waffenfreien öffentli- tive mit kritischem Wohlwollen begleiten. chen Räume. Hier müssen die Länder gemeinsam mit Eltern, Schulen, Freizeiteinrichtungen und Streetwor- kern Konzepte entwickeln, wie die Entwaffnung gerade Petra Pau (DIE LINKE): Das Gesetz, das zur De- von jungen Männern durchgesetzt werden kann. Gerade batte steht, soll das Mitführen von gefährlichen Gegen- bei ethnischen Minderheiten ist das Messer in der Tasche ständen, die nicht als Waffen gelten, verbieten. Es geht Teil einer verfehlten männlichen Kultur. Hier muss mit um Gegenstände, die geeignet sind, als Waffen ge- gesellschaftspolitischen Mitteln deutlich vermittelt wer- braucht zu werden, etwa Baseballkeulen oder Messer. Es den, dass Konflikte in der Zivilgesellschaft ohne Gewalt geht um ein Verbot für Orte, an denen Gewalt besonders und ohne Waffen ausgetragen werden müssen. Wir tole- häufig anzutreffen ist. Explizit genannt wird die Reeper- rieren diese männliche Machogewalt nicht. Die Poli- bahn in Hamburg. Ein entsprechendes Verbot soll durch zeien der Länder müssen in die Lage versetzt werden, die Polizei oder durch andere befugte Behörden erlassen das Waffenverbot tatsächlich durchzusetzen. Bislang ist werden können. dies in den großstädtischen sozialen Brennpunkten nicht einmal ernsthaft versucht worden. Aus Sicht der Fraktion Die Linke ist der beschriebene Vorschlag eine Scheinlösung. Er ändert das Waffenge- Trotz dieser Skepsis wollen wir uns dem Vorhaben setz nicht. Er räumt der Polizei aber eine partielle Gene- nicht verschließen. An die Bewaffnung im Alltag wollen ralvollmacht ein. Und er versucht, mit zweifelhaften wir uns nicht gewöhnen. Zu oft bleibt das Messer nicht Verboten soziale Konflikte zu befrieden. in der Tasche, die erschreckende Zunahme von schweren Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Juni 2007 10903

(A) Körperverletzungen mit Messern und anderen gefährli- Das ist der rot-grünen Koalition an einigen Stellen nicht (C) chen Waffen wollen wir nicht tatenlos hinnehmen. Ich gelungen, weil sich die Länder quergelegt haben. erinnere hier an die Regelung des § 2 Abs. 3 des Ver- sammlungsgesetzes, die das Tragen von Waffen oder In das neue Waffenrecht muss endlich auch ein Verbot sonstigen Gegenständen verbietet, die Menschen verlet- für das Führen von Anscheinswaffen aufgenommen wer- zen können. Diese Regelung ist auch nicht zahnlos. § 27 den. Anscheinswaffen sind nach wie vor frei verkäuf- Abs. 1 sieht hier einen Strafrahmen von bis zu einem lich, sie sind den echten Waffen täuschend ähnlich und Jahr Freiheitsstrafe vor. Das Beispiel des Versamm- stellen eine erhebliche Gefahr dar. Sie führen in der Pra- xis zu tragischen Verwechslungen. Polizeibeamte kön- lungsrechts macht deutlich, dass wir im geltenden Recht nen in einer vermeintlichen Bedrohungslage falsch rea- schon seit langem waffenfreie Bereiche kennen. gieren – mit womöglich tödlichen Folgen! Auch für Warum soll in Diskotheken, Schulen und auf öffentli- Kinder und Jugendliche ist es kein Problem, ganz legal chen Plätzen nicht das Gleiche gelten, wie bei Versamm- in den Besitz dieser sogenannten Softair-Waffen zu kom- lungen? Wo Menschen im öffentlichen Raum zusam- men. Sie sind aber kein harmloses Spielzeug. Geschosse menkommen, haben Waffen nichts zu suchen! Hier mit einer Mündungsenergie von bis zu 0,5 Joule können müssen wir endlich einmal klar und konsequent handeln. zu schweren Verletzungen führen. An dieser Stelle kommt gemeinhin das Gegenargument: Es ist auch an der Zeit, die Regelungen für den 2002 „Wir dürfen doch den Transport eines Küchenmessers eingeführten sogenannten kleinen Waffenschein nach vom Kaufhaus in die Wohnung nicht kriminalisieren“. § 10 Abs. 4 Satz 4 des Waffengesetzes zu verschärfen. Dieser Einwand ist auf den ersten Blick richtig, bei nä- Es reicht nicht, lediglich für das „Führen“ von Signal-, herem Hinsehen ist er eine Ausrede. Zunächst einmal: Reizstoff- und Schreckschusswaffen außerhalb der eige- wer geht schon mit dem Brotmesser in die Schule oder nen Wohnung den Nachweis der persönlichen Zuverläs- in die Diskothek? Zum Zweiten: warum soll es nicht sigkeit zu verlangen. Die gleichen Voraussetzungen möglich sein, im Geschäft selbst die Messer sicher und müssen auch für den Erwerb dieser Waffen gelten. womöglich auch versiegelt zu verpacken. Auf diese Weise lassen sich diese Gegenstände ohne Gefahr für an- Die Zunahme der Gewaltdelikte fordert ernsthafte dere sicher und gefahrlos transportieren. Konsequenzen auch im Waffenrecht. Symbolische Ge- setzesänderungen, die folgenlos bleiben, reichen hier Der großen Koalition fehlt der Mut, sich gegen die nicht aus. Lassen Sie uns im Innenausschuss ernsthaft Waffenlobby durchzusetzen. Durch die Mehrheiten im darüber diskutieren, wie wir eine Kultur der waffen- Bundestag und Bundesrat besteht jetzt die Möglichkeit, freien öffentlichen Räume nicht nur fordern, sondern die Schwachstellen des Waffengesetzes zu beseitigen. auch durchsetzen. (B) (D) Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Amsterdamer Str. 192, 50735 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Telefax (02 21) 97 66 83 44 ISSN 0722-7980