Inhaltsverzeichnis: 107 ff Fotoalbum 112 Reminiszenzen eines Jünglings, der 4-8 Grußworte zum Studieren in die Stadt kommt. 9 Vorwort der Redaktion 116 In dubiis libertas. 10 Schmuggel zwischen 120 Schule aus der Sicht eines Schülers. und Liechtenstein. 26 Sozioökonomische Folgen des Zu- sammenbruchs der österreichisch ungarischen Monarchie auf feldkirch 1918-1923. Wir danken den Spendern! 54 NS-Propaganda von Hitler und Go- ebbels. Narzissmus und Opferrolle. DI Dr. Gerhard Lackinger 64 Georg Joachim Rheticus. Ing. Thomas Rhomberg 68 Antikes Clunia, eine römische Stra- Schützenhaus Jürgen Lang ßenstation. Fa. Hilti, Schaan 84 Frauen in der Politik. WKO Vorarlberg 88 Geschichte der Clunia. VLV Bregenz 106 Philistersenioren und Senioren der Frastanzer Bier Clunia. Förderung Stadt Feldkirch / FK800

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Festschrift zum 110. Stiftungsfest der KMV Clunia

Diese im November 2018 erschienene Festschrift ist eine Sondernummer der Zeit- schrift „der Clunier“. Die mit Hilfe von Spenden und Inseraten finanzierte Festschrift ist unverkäuflich und wird an Mitglieder der KMV Clunia sowie an Mitglieder von MKV-, ÖCV-, VfM- und VCS-Verbindungen versendet. Verleger und Herausgeber: Katholische Mittelschulverbindung Clunia Feldkirch. Redaktion und für den Inhalt verantwortlich: Gerold Konzett v/o Dr. cer. Plus ([email protected]) Layout und Satz: Mag. Dr. Rudolf Öller v/o Dr. cer. Vitus Deckblattentwurf: Sara Köck v/o Chili und Stefanie van Dellen v/o Willie Druck: Thurnher, Rankweil. 110 Jahre KMV Clunia

Brücken in die Zukunft Auch heute sind wir jeden Tag neu he- rausgefordert, unseren Blick zu prüfen. 800 Jahre Feldkirch, 110 Jahre KMV Clu- Nicht wir sind das Zentrum, um das die nia, 50 Jahre Diözese Feldkirch geden- Welt kreist. Etwas Größeres ist es, das ken und feiern wir in diesem Jahr 2018. uns hält und trägt – „Gott“, so nennen Verleitet uns der Blick in die Vergangen- es wir Christen. Der aufmerksame und heit zu rückwärts gewandter Nostalgie? liebende Blick in die Augen unseres Oder nützen wir das Wissen um unsere Nächsten erkennt seine Freuden und eigenen Wurzeln, um unseren Blick für Nöte. Dies kann dabei helfen, uns der den Weg in die Zukunft neu zu klären wahren Relationen des Lebens bewusst und zu schärfen? zu bleiben.

Alle drei Jubiläen wurzeln tief auf Ich danke für alles beherzte Engagement christlichem Boden. Feldkirch hat sich in der Gesellschaft gemäß der Prinzi- zu einer Stadt des Humanismus, der pien Religio, Patria, Scientia, Amicitia. Menschlichkeit entwickelt. Wenn wir Dass uns diese Rückbesinnung auch etwa an Georg Joachim Rheticus den- zu Brückenbauerinnen und Brücken- ken, den Mathematiker, Astronomen, bauern in eine menschenfreundliche Theologen und Mediziner, der entschei- Zukunft werden lässt, das wünsche ich dend zur Bekanntmachung der um- uns allen von Herzen. wälzenden Forschungen von Nikolaus Kopernikus über das heliozentrische Bischof Benno Elbs Planetensystem beigetragen und damit eine völlig neue Sicht auf unsere Welt eingeleitet hat.

Seite 4 funden als Leitfaden diente. In Beson- nenheit das Bewährte zu erhalten, sich gleichzeitig aber dem Neuen nicht zu verschließen garantiert Beständigkeit und Weiterentwicklung.

So wundert es nicht, dass Clunia 1991 auf die MKV-Mitgliedschaft verzichtete, um als Österreichs erste Mittelschulver- bindung die Vollintegration von Mäd- chen umzusetzen. Wenig später char- giert im Rahmen des 83. Stiftungsfestes erstmals ein Mädchen am Präsidium. Mit dieser Konsequenz und diesem Mut wird die Clunia auch in Zukunft eine lebendige Verbindung bleiben, die auf neue Gegebenheiten und künftige An- forderungen nicht nur reagiert, sondern sie aktiv und engagiert mitgestaltet.

Ich danke den engagierten Mitgliedern der Clunia für ihr positives gesellschaft- Alles Gute zum 110. Stiftungsfest! liches Wirken um ein gutes Miteinander.

Die K.M.V. Clunia jubiliert. Gemeinsam Ich wünsche ein würdiges und schönes schauen wir zurück auf elf Jahrzehnte 110. Stiftungsfest. voller Errungenschaft, Wachstum und Erfolg. Manche Bewährungsprobe galt es in dieser Zeit zu bestehen. Mit Um- Mag. Markus Wallner sicht und Weitblick ist es jedoch gelun- Landeshauptmann gen, auf dem starken Fundament der bewährten Prinzipien sämtliche Her- ausforderungen zu meistern. Bis heute sind der Idealismus und die Begeiste- rung der Gründerväter lebendig und wach geblieben.

Wer von den jungen Hainbündlern, die am 22. Dezember 1908 in Göfis aller Ge- fahr zum Trotz die Verbindung aus der Taufe hoben, hätte jemals mit einer so fruchtbaren Entwicklung gerechnet? Dazu beigetragen hat ganz wesentlich das richtige Maß, das zwischen Traditi- on und Fortschrittlichkeit auf der Basis christlicher Grundsätze und Werte ge-

Seite 5 110 Jahre KMV Clunia

Natürlich liegt uns die Historie im Jahr des 800. Stadtjubiläums ganz besonders am Herzen. Um in der steten Beschleu- nigung der modernen Welt den Über- blick behalten zu können, um in den atemlos fortschreitenden Entwicklun- gen den Menschen nicht aus dem Blick zu verlieren, müssen wir auf Bewähr- tem aufbauen, aber auch aus alten Feh- lern lernen. Es ist zur Binsenwahrheit verkommen, dass wer die Vergangen- heit missachtet, dazu verurteilt ist, ihre Fehler zu wiederholen. Eine neu erschienene achtbändige Ge- schichte der Stadt Feldkirch und die große Jubiläumsausstellung „Von Hugo bis dato“ im Palais Liechtenstein doku- mentieren unsere diesbezüglichen Be- mühungen.

Und nicht zuletzt blicken wir in die Die Katholische Studentenverbindung Zukunft. Im Wissen darum, dass die Clunia Feldkirch kann nunmehr auf Zukunft allein der Bereich des Mögli- eine 110-jährige Geschichte zurückbli- chen ist, müssen wir heute die richtigen cken. Dazu möchte ich die traditions- Entscheidungen treffen. Unser heutiges reiche Verbindung in Feldkirch herzlich Handeln wird die Zukunft von morgen beglückwünschen. gestalten. Es funktioniert nicht mehr, Zukunftspläne zu schmieden, ohne Fol- Thema der vorliegenden Festschrift ist gen und Konsequenzen mitzudenken. „Humanismus – Historie – Visionen“. Es ist vielmehr Zeit, Zukunft nicht zu Auch die Stadt Feldkirch hat die Bedeu- verbauen, sondern späteren Generatio- tung dieser Ziele erkannt. In der Zeit nen überhaupt eine solche zu ermögli- des Humanismus erlebte Feldkirch eine chen. In vielem geht es darum, das Feld herausragende Blütezeit. Es sei hier an des Möglichen offenzuhalten. Auch das die Humanisten Hieronymus Münzer hatten wir im Sinn, als wir unter ande- und Georg Joachim Rheticus erinnert, ren das Motto „Feldkirch, bleib offen“ stellvertretend für eine Reihe berühm- für unser Jubiläumsjahr wählten. ter Feldkircher Gelehrter in der Frühen Neuzeit. Und Feldkirch bekennt sich zur Abschließend wünsche ich der Clunia Geisteshaltung des Humanismus, die Feldkirch für die weitere Zukunft alles im Anschluss an die Antike den Men- Gute. schen ins Zentrum des Denkens stellt und auf die Bedeutung der Bildung hin- Mag. Wilfried Berchtold weist, in der Tradition eines Erasmus Bürgermeister der Stadt Feldkirch von Rotterdam oder eines Wilhelm von Humboldt.

Seite 6 wollen – die reaktionäre Haltung oder jene, die manch einer von uns blindlings einnimmt um zu zeigen, dass wir nicht von gestern sind – die revolutionäre Haltung?

Verbindungen beweisen seit mittler- weile weit über hundert Jahren, dass sie selbst und ihre Mitglieder in der Lage sind sich nicht nur auf neue gesell- schaftliche Entwicklungen einzustellen, sondern, dass sie auch gewillt sind un- sere Gesellschaft, eine moderne Gesell- schaft, mitzugestalten. Ohne sich da- bei zu verbiegen oder sogar die eigene Vergangenheit (ver)leugnen zu müssen. Eine zeitgemäße Gesellschaft – wie ich sie mir wünsche – ist eine pulsierende Gesellschaft, in der neue Ideen florie- ren und Fortschritt auf Basis tragfähi- ger Grundwerte vorangetrieben wird. Dann ist die Zukunft weder reaktionär noch revolutionär, sondern richtig und Geneigte Leserinnen und Leser, ausgewogen evolutionär. liebe Kartell- und Farbengeschwister, Ich wünsche der Clunia und allen ihren sind Verbindungen heute noch zeitge- Mitgliedern alles Gute für die anstehen- mäß? Hat ein Zusammenschluss von den Feierlichkeiten anlässlich des 110. katholischen MaturantInnen überhaupt Stiftungsfestes. Mögen eure Visionen einen gesellschaftspolitischen Sinn? von der Geschichte geprägt sein und mit Diese und ähnliche Fragen beschäftigen viel Menschlichkeit umgesetzt werden. Couleurstudentinnen und Couleurstu- denten vermutlich nicht erst seit heute. Die Zukunft für uns! Aber wir müssen diese Fragen stellen, weil sie das Fundament für alle weiteren Heil Clunia! Überlegungen sind, bzw. sein sollten. Walter Gröblinger v. Tasso, OCW Im Grundsatzprogramm des MKV MKV-Vorsitzender steht: „Jedes Mitglied einer Verbindung soll aktiv am öffentlichen Leben teil- nehmen. Es soll seine demokratischen Rechte und Pflichten wahrnehmen und bereit sein, Verantwortung in Staat und Gesellschaft zu übernehmen.“ Doch welche Haltung nehmen wir ein? Jene, die uns Andersdenkende umhängen

Seite 7 110 Jahre KMV Clunia

der Jubiläen! Es ist quasi schon Traditi- on, dass Clunia zu besonderen Jubiläen eine Festschrift auflegt. Das letzte Mal im Jahr 2008 zum 100 jährigen Bestehen der Verbindung.

In diesen 10 Jahren hat sich so manches verändert, manches vorhersehbar, ande- res total überraschend.

Konfuzius soll gesagt haben „Erzähle mir die Vergangenheit, und ich werde die Zukunft erkennen.“ Ich stelle immer wieder fest – so Unrecht hatte er nicht.

In dieser Festschrift wollen die Autoren einen Bogen aus der Vergangenheit in die Gegenwart und auch mögliche Wege in eine Zukunft aufzeigen.

In diesem Sinne wünsche ich ein ange- nehmes Lesen der Festschrift und wür- de mich freuen, den einen oder anderen auf einer Clunia-Veranstaltung begrü- Liebe Clunier, ßen zu dürfen. Freunde der Clunia und liebe Leser! In Treue fest!

110 Jahre Clunia, 110 Jahre Landesver- BSc Achim Zortea v/o Tassilo band, 50 Jahre Diözese Feldkirch, 800 Philistersenior der KMV Clunia Jahre Stadt Feldkirch – 2018, das Jahr

Seite 8 Vorwort der Redaktion Lesen einer nicht alltäglichen Fest- schrift. Den Auftrag zur Herausgabe der Fest- schrift und zur Programmgestaltung Gerold Konzett v/o Dr. cer. Plus, der Feierlichkeiten anlässlich unseres CLF, WMH, Clunia-Standesführer 110. Bestandsjubiläums hatte ich gerne Redaktion und Herausgeber der angenommen, nicht erahnend, welch Festschrift immense Verantwortung und zeitin- tensive Aufgaben in weiterer Folge auf mich zukommen werden. Mein Ziel war es stehts, die Clunia bestmöglich zu un- terstützen und ihr dadurch verstärkt zu einem nostalgisch-modernen Ansehen in der Öffentlichkeit zu verhelfen und dadurch in Feldkirchs AHS und BHS wieder in Erinnerung zu rufen. Von der Team Redaktion und Layout. Finanzierung bis zu den Beiträ- gen gab es jede Menge Arbeit, in der ich von einer handvoll Bundesbrüdern und Idealisten aus dem Raume Feldkirch un- terstützt wurde. Meine Donau ist auf meiner Unsere Inhalte waren prak- tisch vorgegeben, zumal die Wellenlänge. Clunia und der VMCV 110 Jah- re ihres Bestehens feiern, die Stadt Feldkirch während des ganzen Jahres 800 Jahre und die Diözese 50 Jahre feiern. Im Gleichklang mit der Bedeu- tung der Stadt auf die Men- schen haben wir als farbentra- gende Mittelschulverbindung die humanistische Aufgabe ge- sehen, die historische Bedeu- tung von Stadt, Land, Schule und Studium während dieses Zeitraumes in unseren Beiträ- gen hervorzuheben.

Somit haben wir „Humanis- mus-Vision-Historie“ zum Was mir an meiner Donau so gefällt? Meine Donau weiß worauf es mir ankommt und dass Thema gemacht, welches uns ich für meine Gesundheit nur das Beste will. Mit der Donau Krankenversicherung werden mir durch diese Festschrift beglei- Spitalsaufenthalte so angenehm wie möglich gemacht. Bei ambulanten Behandlungen kann ich den Arzt frei wählen und die beste Hilfe in Anspruch nehmen. So stell ich mir das vor. tet. Viel Freude und Spaß beim Mehr auf donauversicherung.at 110 Jahre KMV Clunia

Schmuggel zwischen Vorarlberg und Liechtenstein im Jahr 1919

Univ. Prof. Mag. Dr. Gerhard Wanner

„Es war eine bewegte Zeit, jeder von der Kanzel herunter verdon- hat geschmuggelt, im kleinen nerte (…) später hat sich dann her- oder größeren Stil, die Leute wa- ausgestellt, dass der Pfarrer selbst ren gezwungen dazu, da sie z.T. Schmuggler war.“ davon lebten; die Armut war sehr groß. Einzelne haben es im gro- (Schmugglergeschichte von R. ßen Ausmaß betrieben wie der Wohlwend, Hinterschellenberg. Kronenwirt, den Pfarrer Jussel In: Goop, 291 f)

Freier Warenverkehr bis 1919 erklärte sich aber während des Ersten Weltkrieges formal als neutral. Die Das Fürstentum Liechtenstein schloss Grenzen zu Vorarlberg blieben jedoch im Jahr 1852 mit Österreich einen Zoll- offen. Dass es im Landtag des Fürsten- und Steuervertrag ab. Dadurch wurde tums Ende Oktober 1918 zu Bestrebun- die Zollgrenze zwischen Vorarlberg gen kam, welche eine verstärkte Mit- und Liechtenstein vom Raum Feldkirch sprache des Landtages zum Ziele hatten nach Liechtenstein an den Rhein und und eine Loslösung aus dem Zollver- nach Süden bei Balzers zur Schweiz ver- band beabsichtigten, registrierte man legt. Das österreichische Zollamt in Tisis in Vorarlberg so wenig wie die Vorfälle wurde aufgelassen und dessen Befug- am 8. November, als der aus Österreich nisse auf das neu errichtete Nebenzoll- stammende Landesverweser, Baron amt Balzers übertragen. Die Grenzüber- Leopold Imhof, ohne Zustimmung des wachung besorgten in Balzers, Triesen, Fürsten demissionierte und die Ge- Vaduz, Schaan, Bendern und Ruggell schäfte einem provisorischen Vollzugs- Finanzwachabteilungen gemeinsam ausschuss übergab. mit österreichischen und liechtensteini- schen Beamten. Die Finanz- und Zollo- Grenzsperren zur Schweiz berbehörden befanden sich in Feldkirch. (Hager, 15 f ) Die Staatsgrenzen blieben Nachdem der Erste Weltkrieg ausge- jedoch gleich. Bis zum August 1919 brochen war, kam es jedoch zwischen herrschte zwischen den beiden Staaten Vorarlberg und der Schweiz zu ein- freier Warenverkehr. (Ospelt, 9-25) schneidenden Veränderungen in den bisherigen Beziehungen. Die guten lo- Das Fürstentum Liechtenstein gehör- kalen, vor allem wirtschaftlichen Kon- te zum österreichischen Zollverband, takte wurden durch Grenzsperrmaß-

Seite 10 ten werden konnten. Am 12. Novem- ber 1918 berichtete das „Vorarlberger Volksblatt“, in der Eidgenossenschaft seien, verursacht durch „zweifelhafte Landfremde [...] Revolution und Anar- chie russischer Art“ ausgebrochen. Es sollte von der Schweiz aus die „Welt- revolution“ eingeleitet werden, Bern befürchte einen Putsch. „Als Herd der modernen Staatskrankheiten darf die Schweiz angesehen werden, von der aus dunkle Mächte einen Weltumsturz einleiten wollen. Bewahre uns Gott vor Blutvergießen, Elend und Not“. Und fast schon prophetisch hieß es weiter: „Heu- nahmen Österreichs und der Schweiz te schon darf gesagt werden, daß das stark eingeschränkt und seit 1917 auf ein Kriegs- und Revolutionsjahr 1918 in der Minimum reduziert. Dies traf vor allem Nachwelt und der Geschichte dieselbe die Vorarlberger Bewohner der Rheint- Rolle spielen wird wie in unserem Urteil algemeinden, ihre von der Schweiz fast das Jahr 1848.“ (VV, 12.11.18) Am 16. No- völlig abhängige Stickereiindustrie, den vember gratulierte die Zeitung „Volks- kleinen Grenzverkehr zur Beschaffung freund“ dem Schweizer Bundesrat, dass von dringend benötigten Nahrungs- dieser den „anarchischen Bestrebun- mitteln für die hungernde Bevölke- gen“ der streikenden Arbeiterschaft ein rung und die Tagesberufspendler über militärisches Ende gesetzt habe, von den Rhein in den Kanton St. Gallen. Im denen sich übrigens die Schweizer Sozi- Frühsommer 1918 verschärfte sich die aldemokraten distanziert hätten. Alles Situation zusätzlich, als in der Schweiz gehe nur auf das Konto „zweifelhafter die äußerst ansteckende und gefährli- Landfremder“ (Anm. russischer Kom- che „Spanische Grippe“ ausbrach und munisten), die in der Schweiz während nach Vorarlberg eingeschleppt wurde. des Krieges Zuflucht gefunden hätten. (Wanner 1999, 9–33) (VVF, 16.11.18)

Weltrevolution aus der Schweiz? Wie sehr man in Vorarlberg die Vor- gänge in der Schweiz fürchtete, beweist Es gab für die Vorarlberger Landesregie- auch ein Leitartikel im christlichsozi- rung aber noch einen weiteren Grund, alen „Volksblatt“: „Die Entwicklung die Grenze zur Schweiz aufmerksam der Schweizer Ereignisse in der letzten überwachen zu lassen: Die Vorarlberger Woche war für uns Vorarlberger bedeu- Presse berichtete ausführlich über die tungsvoller als alle Vorgänge in Wien bedenklichen innenpolitischen Vorgän- oder Berlin. Wir freuen uns aufrichtig ge im benachbarten Zürich, wo es trotz über das Schweizer Bekenntnis zum Versammlungsverbot zu Ausschreitun- Ordnungsstaat und beglückwünschen gen und Demonstrationen sozialisti- die liebenswerten Nachbarn und Eid- scher Arbeiter gekommen war, die nur genossen, das wackere Volk der Hirten unter Einsatz von Militär niedergehal- allerwärmstens zum Erfolg, der sie zu

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einer Oase des Rechtes in der Wüste des an der bislang offenen Grenze südlich allgemeinen Umsturzes macht.“ (VV, von Feldkirch bei Tisis Passkontrollen 20.11.18) und Leibesvisitationen durchzuführen begannen, ohne dass diese öffentlich Eine neue Grenze zu Liechtenstein angekündigt worden waren. Sie sollten vorerst auf Anordnung der Vorarlber- Das Fürstentum Liechtenstein gehörte ger Landesregierung bis Jahresende in 1918 zwar noch zum österreichischen Geltung bleiben und vor allem den über Zollverband, erklärte sich aber während Liechtenstein führenden, blühenden des Ersten Weltkrieges formal als neut- Schmuggel mit der Schweiz verhindern. ral. Die Grenzen zu Vorarlberg blieben Nach der Vorarlberger Selbstständig- jedoch offen. Dass es im Landtag des keitserklärung vom 3. November 1918 Fürstentums Ende Oktober 1918 zu Be- kam es zu einigen Erleichterungen im strebungen kam, welche eine verstärk- Grenzverkehr. (Wanner 1973, 79 / FA, te politische Mitsprache des Landtages 11.12.18) zum Ziele hatten, registrierte man in Da man nur mit einem Pass die Grenze Vorarlberg so wenig wie die Vorfälle zwischen Vorarlberg und Liechtenstein am 8. November, als der aus Österreich überschreiten konnte, errichteten die stammende Landesverweser, Baron Schweizer noch vor Mitte November Leopold Imhof, ohne Zustimmung des eine eigene Passstelle in Feldkirch. (VV, Fürsten demissionierte und die Ge- 19.11.18) In Vorarlberg übernahmen die schäfte einem provisorischen Vollzugs- politischen Behörden die Funktionen ausschuss übergab. der Grenzpolizei und des Passwesens Die Entstehung der Republik Öster- und regelten auch den Grenzverkehr. Es reich im Oktober/November 1918 hatte ging vor allem darum, die Ausfuhr von schwerwiegende Auswirkungen auf die Kronen und Silbergeld in die Schweiz Zollunion: Der Liechtensteiner Landtag zu verhindern und „unlautere“ Perso- beschloss überraschend am 2. August nen abzufangen. Der Verkehr über die 1919 die Kündigung des Vertrages mit Rheinbrücken war nur Vorarlbergern Österreich, diese trat am 12. August in und Schweizer Grenzbewohnern mit Kraft. Ein wesentlicher Grund dafür Pässen oder Passierscheinen gestattet. waren die gesunkenen Zolleinnahmen Der Fernverkehr auf den Eisenbahn- für das Liechtensteiner Budget: 1907 strecken Feldkirch – Buchs und Bregenz machten sie 88 % der Staatseinahmen – St. Margrethen war jedoch nicht unter- aus, 1918 nur mehr 9 % ! Außerdem ver- brochen. (2. La, 8 und 3. La, 35 f) ursachte die Hyperinflation der Krone den Verlust der öffentlichen und pri- Schmuggel blüht auf vaten Sparvermögen. Die Vorarlberger Landesregierung reagierte umgehend Der Zusammenbruch der Donaumon- und erklärte Liechtenstein am 1. Sep- archie führte im Oktober 1918 zu un- tember 1919 zum Zollausland. (Büchel, klaren Grenzkontrollverhältnissen, 12) wodurch der Schmuggel zwischen der Schweiz, Lichtenstein und Vorarlberg Liechtenstein war jedoch bereits Anfang wuchs. Schmuggel war freilich kein Dezember 1918 ins Rampenlicht getre- neues Phänomen: Wenn auch in gerin- ten, als österreichische Finanzbeamte gerem Maße bestand er im gesamten

Seite 12 19. Jahrhundert in Liechtenstein über bis 1924 zwei Zollgrenzen, eine wie bis- den Luziensteig und in Booten über den her zur Schweiz und eine neue zu Vorar- Rhein. Zwischen 1911 und 1915 hatte die lberg. Dies führte dazu, dass Österreich Finanz-Bezirksdirektion in Feldkirch Anfang September 1919 seine Zollämter in Vorarlberg und Liechtenstein rund in Bendern, Schaan, Vaduz und Balzers tausend Schmuggler gefasst und etliche auflöste und neue Zollämter in Tisis, auch inhaftiert. (Quaderer, 457) Tosters-Hub und Nofels-Fresch am Schellenberg einrichtete. Der Schmug- Die Finanzbeamten, die sogenannten gel erreichte in dieser Zeit einen Höhe- „Finanzer“, welche nach Kriegsende punkt. Zentren in Liechtenstein waren die Schweizer Grenze in Liechtenstein die Region Schellenberg (Eschnerberg) kaum mehr kontrolliert hatten, zogen und im „Oberland“ Balzers. (Quade- sich im September 1919 nach Vorarlberg rer-Vogt, 463) In Vorarlberg rückten die zurück. Zum Schmuggel verlockte auch Stadt und der Bezirk Feldkirch in den bis zum August 1919 außerdem die of- „Grenzmittelpunkt“ und entwickelten fene, grüne Grenze zwischen Lichten- sich zu Umschlagsplätzen des Schmug- stein und den Gemeinden des späteren gels. Zusätzlich verlief über den Eisen- „Großfeldkirch“ (1924). Und die weni- bahnknoten Feldkirch der transalpine gen Streifenkontrollen der oft bestech- europäische Fernverkehr in die Schweiz lichen „Finanzer“ waren wenig effektiv. und von dort nach Frankreich, eine be- (Büchel, 7) liebte und umfangreiche internationale Schmugglerroute. Bis zur neuen Zollunion mit der Schweiz im Jahr 1924 übernahmen Liechten- Die Landesregierung greift ein steiner „Grenzwächter“ die Gren- züberwachung. Sie waren ehemalige, Die selbstständige Vorarlberger Landes- in österreichischen Diensten stehende regierung unter Dr. Otto Ender sah sich Liechtensteiner Finanzbeamte und nun gezwungen, neue Bestimmungen für sogenannte „Weibel“, die Amtsboten den Grenzverkehr zu erlassen: Zwischen der Gemeinden. Ihr höchstes Exekuti- Vorarlberg und Liechtenstein konnte ab vorgan in Sachen Grenzkontrolle war Dezember 1919 der Grenzübertritt nur nun das jeweilige Gemeindeamt. Um mit einem Pass erfolgen. Allerdings die Grenzwächter zu motivieren, wur- galten im „kleinen Grenzverkehr“ für den ihnen „Anzeigeprämien“ verspro- in Vorarlberg und Liechtenstein stän- chen. Sie hatten keinen festen Arbeits- dig sesshafte Personen Ausnahmen, so vertrag, meist keine „Fach-Ausbildung“ ferne diese in einem Umkreis von zehn und wurden nur im Stundenlohn be- Kilometern von der Grenze wohnten. zahlt. (Goop, 290 f) Aber selbst wenn sie (Quaderer-Vogt, 662-665) Schmuggler ertappten, waren sie häufig machtlos, Waffen trugen sie nicht. So Am neuen Hauptgrenzübergang gingen etwa Soldaten aus Vorarlberg Tisis-Schaanwald häuften sich schika- „mit vollgepacktem Rucksack an den nöse Maßnahmen der österreichischen Grenzwächtern vorbei, so kaltblütig, als Finanzwachen mit strengen Passkont- bei einem Geisshirten“. (Büchel, 11) rollen und Leibesvisitationen. Es ging darum, ungeregelte Ausfuhren von Das Fürstentum besaß vom August 1919 Butter, Käse, Obst, Branntwein und

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Fleischwaren nach Liechtenstein zu vember 1918 am Rande einer Hungers- unterbinden, von wo sie nicht selten zu not: Mehl- und Getreidelieferungen aus überhöhten Preisen als „Liechtensteiner Ungarn, Wien und Deutschland waren Produkte“ nach Feldkirch, Vorarlberg nicht mehr zu erhalten. Die Milchver- und gar Innerösterreich weiterverkauft sorgung kam zum Stillstand, da auch wurden. (VV, 29.8.1919) die Bauern in Feldkirchs Umgebung die Milch lieber an Schweine verfütterten Die Vorarlberger Landesregierung re- oder nach Liechtenstein schmuggelten agierte im Oktober 1919 auf die schädi- - die von der Landesregierung verord- genden Exporte und führte in Überein- neten Milchpreise waren ihnen zu nied- stimmung mit Liechtenstein sogenannte rig. Darunter litten vor allem Feldkirchs Transportgenehmigungen für wichtigs- Fabrikarbeiter. Selbst die Kartoffel te Nahrungsmittel, wie etwa für Kaf- wurde zur Mangelware und daher aus fee, Branntwein und Lebendvieh ein. Liechtenstein eingeschmuggelt – dort Außerdem wurde die Warenausfuhr erzielten nämlich die 2.400 bäuerlichen auch im kleinen Grenzverkehr gänzlich „Selbstversorger“ Überschüsse. (Wan- gesperrt. (FA, 22.10.1919) Im Post- und ner 2010, 160 f; Quaderer-Vogt, 46) Bahngüterverkehr durften Waren ohne Bewilligung nicht angenommen bzw. Verständlich, dass sich nicht nur in Vo- befördert werden. rarlberg, sondern auch in Feldkirch die ersten öffentlichen Proteste und Streiks Feldkirch nahe einer Hungersnot regten. Sie gingen von den „Nichtselbst- versorgern“ (landbesitzlose Einwohner Vorarlberg zählte zu Kriegsbeginn ca. und Fabrikarbeiter) aus und wandten 145.000 Einwohner. Schon zuvor war es sich auch gegen die Bauern der Umge- der lokalen Landwirtschaft nicht mög- bung, die auf dem Schwarzmarkt zu lich, die Bevölkerung aus den eigenen überhöhten Preisen verkauften und Betrieben zu versorgen, und man war nicht auf den legalen, jeoch preisgere- daher überwiegend auf Importe ange- gelten Märkten. Eine „Bürger-Initiative“ wiesen. Staatliche und private Bevorra- war Ende Dezember 1918 im Rathaus- tungspolitik gab es kaum. saal zusammengekommen. Ihre Ent- schließung verlangte von der Landes- Bereits im Frühjahr 1915 war es in Feld- regierung in Bregenz „unverzüglich die kirch zu Versorgungsengpässen gekom- Herschaffung der notwendigen Lebens- men. Der Magistrat reagierte mit einem mittel, welche von der Schweiz angebo- „Lebensmittelversorgungs-Ausschuss“, ten werden, als Fett und Mais, damit es mit Bezugskarten, im Jahr 1916 mit ei- der ausgehungerten und abgerackerten ner „Kriegs-Suppenküche“ und Lebens- Stadtbevölkerung möglich gemacht mittelverkaufsstellen. Bis 1917 gab es werde, wenigstens einmal in der Woche auf Grund der verbreiteten Viehzucht an Stelle der Rüben einen Riebel zu ko- kaum Fleischmangel, erst hernach wur- chen“. (FA, 1.1.1919) de Fleisch rationiert. Die Knappheit an Nahrungsmitteln ließ die Preise gerade Ende 1919 war die Lage in der Stadt wegen ihrer amtlichen Regulierung auf noch immer besorgniserregend: „Koch- dem Schwarzmarkt steigen. (Kirisits, 98- mehl gab es für 14 Tage, Rindfleisch 103, 107) Vorarlberg befand sich im No- wurde zum letzten Mal zu Allerheiligen

Seite 14 ausgegeben, Milch erhielten nur noch Dazu kam die ständig wachsende Infla- Kinder unter zwei Jahren in der Menge tion der österreichischen Krone. Ihr to- eines achtel bis viertel Liters.“ (Wanner taler Zusammenbruch nach 1918 kostete 2000, 11) Der Feldkircher Anzeiger klag- Liechtenstein nach amtlicher Schätzung te an und verglich: „(…) bekommt man umgerechnet im Wert von 25 Millionen in der Schweiz so ziemlich alles, selbst Franken, das gesamte Sparvermögen für den verwöhntesten Gaumen (…) und des ohnedies armen Volkes! (Ospelt, wird man gewahr, daß alle Verkaufslä- 23) Zahlreiche Liechtensteiner verloren den geradezu beängstigend mit Waren außerdem ihre Arbeitsplätze im be- aller Art angefüllt sind.“ (FA, 11.10.1919) nachbarten Feldkirch, vor allem in In- dustrie und Gewerbe, und der Verkauf Wirtschaftskrise auch in Liechtenstein landwirtschaftlicher Produkte auf dem Obwohl Liechtenstein während des beliebten und gewinnbringenden Feld- Weltkrieges ein neutraler Staat war, litt kircher Markt wurde schließlich verbo- es wie das benachbarte Vorarlberg un- ten. (Quaderer, 57; Büchel, 13) ter ähnlichen wirtschaftlichen Schwie- rigkeiten: Es herrschte zunehmende Eine willkommene Einnahmequel- Knappheit an Nahrungsmitteln, beson- le und Kompensation in dieser Wirt- ders seit die Alliierten ab 1916 ihre Le- schaftskrise bot der blühende Schmug- bensmittelexporte über die Schweiz gel, wie das folgende Gedicht schildert: nach Liechtenstein gänzlich eingestellt hatten. Die Preise stiegen konstant, die „Truppenweise schwer beladen, dort seit 1901 geltende österreichische Zieh`n die Schmuggler auf gleichen Pfa- Kronenwährung war inflationär, und den, es herrschte Mangel an langlebigen mit Butter, Käse, Mehl und Schmalz, Konsumgütern. Der „Importschmug- Kartoffeln, Türken, Salz. gel“ aus Vorarlberg blühte. Die Waren Fleisch und Schweine stammten häufig aus aufgelassenen Müssen am häufigsten „eine“ (nach Vo- österreichischen Armeebeständen. Es rarlberg), handelte sich um Wolldecken, Militär- Wer`s meist` bezahlt, erhält die War, bekleidung, Lederwaren, Feldstecher, wer anders handelt, ist ein Narr.“ Pferde mit Zaumzeug und Werkzeuge (Goop, 293) aller Art. (Vogt, 134; Büchel, 5 f, 10) In Liechtenstein mangelte es auch an Begehrte, teure Nahrungs- und Ge- Textilien. Manche Liechtensteinerin nussmittel wusste sich zu helfen: „Wenn ich 1 oder 2 kg Türkenmehl (Maismehl) übrig hatte, Massiver Schmuggel begann ab 1917. brachte ich es verschiedenen Frauen aus Waren nach Vorarlberg kamen aus noblen Villen in Feldkirch und erhielt drei Quellen: In großem Umfang aus dafür schöne Tüchlein oder Leintücher der Schweiz über Liechtenstein – Bal- und Sachen von den Großmüttern aus zers an der Schweizer Grenze war das dem Kasten. Sie hatten ganze Schränke allseits bekannte Schmuggelzentrum - voll Wäsche. (…) Hier (in Liechtenstein) auf der Luziensteig gab es „regelrechte konnte man kein Sacktüchlein kaufen.“ Verkaufsstände“. (Vogt, 134) Seit dem (Goop, 289 f) Frühjahr 1919 kamen vor allem Liech- tensteiner Lebensmittel: Hier produ- 110 Jahre KMV Clunia

zierten sogenannte „Selbstversorger“ Eine bedeutende Schmuggelware war Überschüsse. Und schließlich lieferten ferner der besonders bei Arbeitern be- die Alliierten nach Liechtenstein wieder gehrte Tabak, waren Zigaretten und Mehl, Reis, Butter, Fett und Schokolade Zigarren. Während des Krieges konnte gegen Kompensationswaren wie Holz Tabak nur mittels „Raucherkarten“ bei und Heu. Ihre Hilfe knüpften die Al- den Finanzwache-Abteilungen gekauft liierten jedoch an die Bedingung, dass werden. Und schließlich war im Früh- man die Produkte keinesfalls nach Ös- jahr 1919 auch dies kaum mehr mög- terreich weiter „spedieren“ dürfe, dann lich. Was das Tabak-Monopol in Wien drohe nämlich die Einstellung der Lie- anzubieten hatte, waren pro Person ferungen. (Quaderer 2009, 45 f) wöchentlich „zwei nach Geschmack und Geruch nicht definierbare Pake- Die an der Liechtensteiner Grenze von te Tabak“ - der Feldkircher Anzeiger Wachbeamten abgenommenen Waren sprach von Gesundheitsschäden: „Das bestanden vor allem aus Lebensmitteln Buchenlaub für den Strohsack und den wie Zucker, Mehl, Mais, Brot, Bohnen, Tabak für die Pfeife! Das ist unsere Lo- Kartoffel, Reis, Butter, Milch, Eier und sung.“ Daher, wer rauchen wolle, könne Backwaren. Oft waren es kleinste Men- dies „auf ehrlichen Wegen nicht mehr gen für notleidende Feldkircher zur tun, außer er setzt seine Gesundheit mit „reinen Selbstversorgung“, wie sie bei dem gelieferten Dreck aufs Spiel“. Der den Vernehmungen betonten. Auch Le- Tabakschmuggel verführe zu unmorali- bendvieh wurde gehandelt: Ein Liech- schen Handlungen und greife „wie eine tensteiner Bauer, der über der Grenze in böse Seuche um sich“. (FA,1.1., 3.5. und Nofels ein Grundstück besaß, war dabei 28.6.1919) besonders erfinderisch: Er lieh sich in Feldkirch Jauchefässer aus, „hat man die Diese „Seuche“ zeigte sich vor allem Ferkel hineingegeben und mit Schnaps in Schaan und Schaanwald. Anfang abgefüllt, damit sie bei der Fahrt über August 1919 wurden „bei hellem Tage die Grenze ruhig waren“. (Goop, 290) hier zweispännige Fuhren Zigarren Aus der Schweiz stammten vor allem unweit der Grenze gebracht, von wo Sacharin, Kaffee, Zigarren (lang und sie selbverständlich von den Paschgern dünn), Garne und Gummiwaren aller (Schmuggler) weiter gebracht werden Art. (Büchel, 5) (…).“ Diese kamen aus der Schweiz über den Luziensteig nach Balzers oder in Zucker, ein österreichisches Staatsmo- Booten über den Rhein nach Liechten- nopol, war 1919 nicht mehr zu erhalten. stein, eine kaum mehr bewachte Gren- Große Gewinne ließen sich schon vor ze. (VT, 1. und 2.8.1919) Wie es in Balzers Kriegsbeginn mit Sacharin machen, ei- im August 1919 zuging, schildert der nem Süßstoff, der seit 1886 fabrikmäßig Liechtensteiner Zeitzeuge Wolfinger: hergestellt werden konnte und einen „In Balzers fahren Wagen bei Tag und höheren Süßigkeitsgehalt als Zucker be- Nacht, oft mit 8 bis 9 Mann. Diese seien saß. Er war wegen der Kleinheit des Pro- froh und fürchten sich nicht. Da können duktes bei Kontrollen kaum auffindbar die Gränzwächter der Schmuggler nicht und als Schmuggelgut so lukrativ, dass mehr Herr werden (…) wenn man woll- „(…) ganze Familien ihren Wohlstand, te, könnte man täglich 10 bis 20 Schmug- ja Reichtum verdanken“. (VV, 12.11.1919) gler erwischen.“ In „unbegrenzten Men-

Seite 16 gen“ wurde Schweizer Tabak von hier Aufsehen erregende Strafprozesse ge- über Feldkirch bis nach Wien befördert, gen „Schmugglerkönige“, so im Juli um diesen um das Vielfache zu verkau- 1919 in Feldkirch: Eine „weitverzweig- fen. (Quaderer, 467; PW) te“ Schmugglerbande wurde ausgeho- ben - beteiligt waren teils „ehrenhafte“ An der Grenze in Tisis führte Tabak gar Bürger, Volkswehrmänner, Frauen und zu einem folgenschweren Vorfall: Am selbst „Finanzer“. 18. Juli machten zwei „Probegendar- men“ zur Unterstützung der Finanzwa- Von der „Schmuggelmoral angefressen“ che nächtlichen Kontrolldienst, als sie waren in Feldkirch sogar Kinder und Ju- auf eine Schmugglerbande stießen. Zwei gendliche: „Erst vor Kurzem haben ein der Mitglieder waren mit Revolvern be- Paar Jungen in einer Straße Feldkirchs waffnet, die sie auf die Gendarmen hiel- einen Gewinn von Tausenden unterein- ten, worauf diese mit ihren Gewehren ander aufgeteilt und kurz vorher hat ein das Feuer eröffneten. Zwei Schmuggler, etwa 11, höchstens 12 Jahre altes Mäd- Brüder im Alter von 19 und 25 Jahren, chen auf der Fahrt Bregenz-Dornbirn wurden getötet. Ein „Trost“ - „Beide einer Frau 100 Kronen gewechselt. (…) erhielten am Platze die heilige Öhlung Ist es nicht einfach trostlos, wenn Eltern und den Sterbeablaß. Möge der barm- ihre Kinder zum Schmuggelgewerbe herzige Gott ihnen ein gnädiger Richter heranziehen, wenn sie die Kinder leh- sein.“ In der Nähe fand man Rucksäcke, ren, die Gebote Gottes zu übertreten? die rund 12.000 Zigarren enthielten. (…) Erklärt sich nicht daraus das Fehlen (VT, 20.7.1919; VV, 19.7.1919) jeder Autorität, das Fehlen jedes Staats- gefühls, jedes Gemeinsinns, jeder Un- Schmuggler aus allen sozialen Gruppen terwürfigkeit (…)?“ (VV, 3.12.1919) Jene Personen, die sich mit Schmuggel beschäftigten, waren in den Dörfern Und „die holde Weiblichkeit, wie häu- meist bekannt. Auf Grund der nach- fig, wenn es sich um zweifelhafte Un- lässigen Grenzkontrollen und der Mit- ternehmungen handelt, eine Hauptrolle wirkung der Bevölkerung, selbst von spielt, tritt auch hier in Erscheinung“. Gemeindevertretern, kam nur wenig (VT, 13.7.1919) In die Schweiz blieferten an die Öffentlichkeit. Über „die Alten- Frauen die dort begehrten silbernen städter“ hieß es: „(…) befaßt sich heute Zwei-Kronenmünzen. Aus der Schweiz (Dezember 1919) mit dem unsauberen schmuggelten sie vorwiegend Sacharin, Erwerb bedauerlicherweise eine er- Zigarren und Kaffee und verkauften in kleckliche Zahl von Einwohnern. So ist Feldkirch auf dem Schwarzmarkt. Zu es ein offenes Geheimnis, daß sich in diesem Zweck trugen sie eigens her- der Parzelle Frösch (Nofels) sehr viel gestellte „Schmugglerröcke“, in denen Erwachsene dem Schmuggel widmen. Taschen eingenäht waren, dann „ziem- Dabei mußte jüngst in einer Versamm- lich weite Schürzen“. Andere gaben lung festgestellt werden, daß diese Par- bei Kontrollen vor, schwanger zu sein, zelle keinen Tropfen Milch abführt, da- um einer Leibesvisitation zu entgehen. gegen von dort aus ein schwunghafter (Goop, 224, 228, 288) An der Grenzsta- Handel mit Butter über die Grenze nach tion Tosters-Hub hatten sie gar eine ös- Liechtenstein bestehe.“ (VV, 16.12.1919) terreichische Zöllnerin bestochen, die Es gab freilich auch einige, öffentliches speziell bei Frauen Untersuchungen

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vornehmen sollte. Vor den männlichen man die Leute an der „Arbeit“. Auf den Finanzern gab sich die Beamtin „sehr Volkscharakter übt dieser „Beruf“ si- ernst und scharf (...) so wie sie eine ganz cherlich sehr übel ein; der Krieg hat an Böse wäre - aber man hat ihr dann des den guten Eigenschaften sicherlich viel öfteren etwas geschenkt und sie wußte zerstört und das Schwärzertum setzt ja, dass man etwas dabei hatte“. (Goop, jetzt die ruinöse Arbeit leider in großem 292) Eine junge Liechtensteinerin hatte Umfange fort.“ (VV, 20.7.1919) Der Feld- bei ihrem Abnehmer in Feldkirch, „ein kircher Anzeiger legte noch zu: „(…) Bei feiner Herr“, ein besonderes Erlebnis: uns, verzeih mir den Ausdruck, fressen „Er wollte mir immer schmeicheln, weil sich die Menschen gegenseitig durch ich ein junges Mädchen war, er hat mir Wucher, Preistreiberei, Schleichhandel, immer einen Schnaps aufgestellt, hat Geldschmuggel und alle möglichen un- sich mir genähert und wollte mit mir moralischen Handlungen wie die Fische „kuscheln“, habe ihm aber sofort auf die im Meere auf.“ (FA, 28.7.1919) Hände geschlagen (…).“ (Goop, 224) Eine Statistik für den Monat Juli 1919 Aber selbst österreichische Zollbeamte, weist die in ganz Vorarlberg beschlag- die Zugang zu aufgelassenen Militär- nahmten Waren auf, freilich nur ein beständen hatten, betrieben lebhaften Bruchteil des gesamten Schmuggels. Sie Handel mit Liechtenstein und erhielten macht deutlich, an welchen Produkten im Kompensationsweg begehrte Le- Mangel herrschte und dass die Schmug- bensmittel. (Büchel, 5) Dagegen unter- gler meist keine kriminellen Absichten nahmen die Liechtensteiner Grenzwa- hatten. (VV, 19.8.1919) chen nichts: „Sich verhaßt zu machen, übertragen sie den Österreichern.“ (FA, 7.885 Kronen Bargeld 15.3.1919) 2 Liter Petroleum 156 kg Leder In Liechtenstein war es nicht viel besser. 999 Paar Schuhe In Gruppen organisierte Schmuggler 55.368 Zigarren und Zigaretten lehnten sich offen gegen die bis August 7 ¼ kg Schokolade 1919 noch österreichischen Zollorgane 8 ½ kg Zucker auf. Über den Rhein wurde mit Booten 81 Schachteln und 3 kg. Sacharin geschmuggelt, dort gab es sogar Schuss- 11 ½ kg Käse wechsel mit Schweizer Wachen mit To- 39 kg Butter desfälle. Emanuel Vogt vermerkt: „In 2.097 Eier Balzers gibt es soviele Schmugglerge- 19 kg Honig schichten, dass man darüber ein eigenes 49 ¾ kg Mahlprodukte (Mehl) Buch füllen könnte.“ (Vogt, 139-142, 145) 172 kg Fleisch und 1 Kuh Der Historiker Rudolf Goop aus Schel- lenberg hat solche gesammelt. Bis August 1919 waren die behördlichen Maßnahmen wenig effektiv gewesen. Bürokratische Finanzbehörden Wie es im Juli 1919 in Vorarlberg zuging, beschreibt das Vorarlberger Volksblatt: Eines war offensichtlich: Im Jahr 1919 „Bei Tag und Nacht, im Schmuggler- gelang es nicht, das Schmuggelunwesen zug (Schnellzug) und auf Straßen, so- einzudämmen. Eine Ursache war, dass wie auf Seiten- und Nebenwegen findet der neuen Vorarlberger Landesregie-

Seite 18 rung nach ihrem lediglich „provisori- zum Zollausland erklärt worden. Für schen“ Beitritt zur Republik Österreich die Ansuchen gab es an den Grenzstel- die Hände gebunden waren - der Kampf len „amtliche Formulare“, die beim Wa- gegen den Schmuggel war nämlich renverkehrsbüro einzureichen waren. nach wie vor Sache der staatlichen Fi- Die Betroffenen bezichtigten „das Büro“ nanzbehörde bzw. der Finanzbezirksdi- eines „schikanösen Bürokratismus, wo rektion in Feldkirch, die wiederum der sogar der jüdische Wind aus allen Amts- Landesfinanzdirektion in Innsbruck winkeln“ pfeife. (FA, 3.9. 1919; 11.9.1919) unterstand. „Die Landesregierung hat gar nichts mit den Agenden der Finanz Gendarmerie, Offiziere und Heimat- zu tun und kann höchstens beim Staat- wehr im Einsatz samt für Finanzen in Wien Vorstellun- gen erheben“, klärte das Vorarlberger Da die Finanzbeamten zu einer ef- Volksblatt auf. (VV, 15.10.1919) fektiven Überwachung der Grenzen nicht ausreichten, wurde im Sommer In Feldkirch war die „Finanz“ gut ver- 1919 zusätzlich die Gendarmerie zur treten: Es gab die dem Innenminis- Schmugglerbekämpfung eingesetzt. Bei terium unterstehende „D.-Ö. Zensur- den meist „alten“ Beamten stieß dieser stelle III“, die nicht nur den Post- und Dienst jedoch auf Ablehnung: „Jetzt Telegrammverkehr zu überwachen aber würdigt sich der Gendarm zum Fi- hatte, sondern auch den Transfer gro- nanzer herab, dadurch wird die früher ßer Vermögen und von Devisen ver- so geachtete Gendarmerie ihr früheres hindern sollte. Sie bestand aus einhei- Renommee unfehlbar verlieren.“ mischen Offizieren und Zivilbeamten, (FA, 23.8.1919) war jedoch personell unterbesetzt und verhielt sich oft schikanös. Der leitende Zu ihrer Verstärkung wurden schließ- Statthaltereirat in Innsbruck zeigte sich lich vom Staatsamt für Heereswesen wenig erfreut in „voller Kenntnis der be- 250 Offiziere aus Innerösterreich zum züglichen Klagen und Wünsche der Be- Grenzschutz nach Vorarlberg abkom- völkerung“, gab jedoch im Februar die mandiert. Freiwillig scheint ihre Ver- Zusicherung, dass sich „die Übelstände setzung in den Westen nicht erfolgt zu der Zensurstelle nicht wiederholen wer- sein, denn bei Ablehnung wurde ihnen den“. (FA, 30.2.1919) mit der „Gefahr ihrer Pensionierung“ gedroht. Bei der Bevölkerung stieß die- Nicht viel besser stand es mit dem „D.-Ö. se Maßnahme auf helle Empörung, und Warenverkehrsbüro, Zweigstelle Feld- der Feldkircher Anzeiger kommentierte kirch“, das zusammen mit der Bezirks- mit Hinweis auf eine ähnliche Maßnah- hauptmannschaft und schließlich der me während des Ersten Weltkrieges: Finanzlandesbehörde den Warenexport „Die Erinnerung an die Zensur und nach Liechtenstein regeln sollte. Das die Grenzbesetzung und die Drang- hieß, dass für sämtliche Waren, gleich- salierung der Bevölkerung ist noch zu gültig ob ausfuhrfrei oder nicht, eine lebendig, um gutes zu erwarten.“ Man Bewilligung eingeholt werden musste, befürchtete vor allem die Lebensmit- welche letztlich von der Bezirkshaupt- telv ersorgung des Militärs durch die mannschaft abhing. Seit dem 1. Sep- Stadt, die ohnedies an Nahrungsmangel tember 1919 war Liechtenstein nämlich litt. Die Finanzdirektion in Feldkirch

Seite 19 beruhigte jedoch und versprach eine Geldstrafen und Arrest Vergütung der betroffenen Gemeinden durch die Landesregierung. Die abkom- Da selbst Finanzbeamte, Volkswehr- mandierten Offiziere sollten Respekt männer und Eisenbahnbedienstete verbreiten: Die Landesregierung drohte aus Vorarlberg am Schmuggel beteiligt nämlich, dass die Überwachungsorgane waren, wurden meist nur „ungeschick- „im äußersten Falle auch die Befugnis te“ Täter dinghaft gemacht - Jugendli- zum Waffengebrauche haben“. Sie bat che, Frauen und Bauern vor allem aus gleichzeitig, man sollte den Offizieren Ruggell, Schellenberg und den Parzel- den Dienst nicht erschweren, da sie „zu len Nofels, Fresch und Hub. In diesem einem hohen Prozentsatz in mehr oder Grenzraum verliefen die „beliebtesten“ minder starkem Grade invalid befunden Schmuggelwege: Ein solcher führte von wurden“. (VV, 21.8.1919; FA, 19.7.1919) Schellenberg über Fresch und weiter Doch Feldkirchs Bürger hatten bereits nach St. Wolfgang (Tosters) via Tisner vorgesorgt und Privatinitiativen ergrif- Ried oder Breiter Wasen nach Feldkirch. fen, um die Grenze zu Liechtenstein Beliebt war auch der Grenzfelsen Gan- und zur Schweiz am Rhein vor Schmug- tenstein am Schellenberg, wo die Waren glern zu sichern. Sie gründeten im Ap- aus Liechtenstein an Seilen nach Tosters ril 1919 einen „Ordnungsrat“ aus allen heruntergelassen wurden. Aber auch politischen Parteien bestehend - daraus die offiziellen Grenzstellen wurden auf- entwickelten sich die späteren Heimat- gesucht, da manche Grenzwächter be- wehren. Dieser setzte sich umfassende stechlich waren. (Büchel, 8) Ziele, versprach „Ruhe und Ordnung“ aufrecht zu erhalten, wollte vor allem Die Folgen für aufgegriffene Schmug- bolschewistische (revolutionäre) Ein- gler waren Geldstrafen und/oder Ar- flüsse bekämpfen, Preissenkungen für rest, aber es gab auch die Möglichkeit, Lebensmittel und Konsumgüter über- falls Liechtensteiner Bürger, sich um wachen und den Schleichhandel unter- „Schonung“, um Strafnachlass an die binden. (FA, 12. und 19.4.1919) Fürstliche Regierung in Vaduz und an den Landesverweser zu wenden - doch Unterstützung fand die Heimatwehr meist mit wenig Erfolg! durch die bereits im November 1918 von Landeshauptmann Otto Ender ge- Überwiegend entschieden sich die gründete einheimischen „Armee“ mit Schmuggler für Geldstrafen. Welche ihren „Volkswehrmännern“. (Wanner ökonomische Bedeutung diese für An- 2010, 144 f) Diese nahmen bisweilen ihre geklagte besitzen konnten, zeigt folgen- Aufgabe durchaus ernst: An der Liech- der Vergleich: Nach heutigen Berech- tensteiner Grenze in Tisis wurde der nungen entsprach eine Krone ungefähr Ankommende im Beisein von Finan- zwei Euro. Das mittlere Pro-Kopf-Jah- zern „von oben bis unten abgegriffen reseinkommen betrug in Tirol und und abgetastet, ob er nicht etwa eine Vorarlberg zu Beginn des Weltkrieges Wurst oder sonst etwas zum Essen bei ca. 700 Kronen. (Die Krone war 1919 sich habe“. freilich schon inflationär). Dazu einige Beispiele: Ein Feldkircher schmuggel- te 1 kg Mehl und 3 kg Bohnen. Dafür gab es eine „Ordnungsbuße“ von 40 Kronen. Ein Volkswehrmann aus Tisis fürstlich- liechtenst. Landesregierung hatte 30 kg Kartoffel und 5 kg. Bohnen hievon Kenntnis erlange, weil er dort geschmuggelt – das Strafausmaß betrug sonst empfindlich gestraft würde“. (PW) 120 Kronen bzw. 5 Tage Haft. (PW) Büchel hatte sich in der Tat seit längerer Zeit mit illegalem Butterhandel beschäf- Mit 50 Kronen büßte der Liechtenstei- tigt, und es hieß, „er soll sich durch die ner Bauer F. J. Wohlwend aus Schellen- Ausnützung der durch den Krieg verur- berg - er hatte das Ausfuhrverbot für sachten außerordentlichen Verhältnisse Kartoffeln missachtet. Auf der Fahrt zu (…) ein hübsches Vermögen geschaffen seinem Feld im Vorarlberger Ortsteil haben“. (PW) Nofels-Fresch hatte er sich „mit beson- derer List ins Werk gesetzt“ - er verbarg Josef Helbok, Finanzoberaufseher in nämlich zwei Kartoffelsäcke unter einer Bangs, nutzte seine Chance und ver- Fuhre Mist, wurde jedoch beim Abladen suchte 5 kg Mais nach Altenstadt zu erwischt. (PW) schmuggeln. Er ging einem Liechten- steiner Grenzwächter ins Netz. Doch Glück im Unglück hatte Frau Berta K. bevor er ergriffen wurde und man sein aus Feldkirch. Sie wurde mit einem gesamtes Schmuggelgut und nicht nur Laib Brot und 2 ¼ kg. Bohnen aufgegrif- der Mais konfiszierte, setzte sich Helbok fen, von einem eifrigen Liechtensteiner auf einen Stein und verzehrte in Ruhe Grenzbeamten angezeigt und sollte eine das Kilo mitgebrachte Graupen (Nähr- Geldstrafe von 20 Kronen bezahlen. Da mittel aus Gersten-und Weizenkörnern) sie „Rekurs“ ergriff, verursachte die - daher nur 50 Kronen Strafe. (PW) Angelegenheit einen aufwändigen Ak- tenverkehr. Die zuständige politische Der Händler und Bauer G. R. aus Mau- Instanz Liechtensteins in Wien redu- ren wurde nicht an der Grenze festge- zierte schließlich das Strafausmaß auf nommen, sondern von einem Finanz- 10 Kronen, weil „durch ihre vermögens- wachmann am Postamt Feldkirch. Zu rechtliche Unselbständigkeit eine weit- dessen Erstaunen trug der Liechten- gehende Milde gerechtfertigt werden steiner neben großen Mengen Sacharin k a n n“. ( P W ) auch noch 148.000.- Kronen mit sich. Umgehend kam er in Verwahrungshaft, Gute Verdienste ließ sich mit Butter ma- und man drohte ihm mit Arrest von bis chen: Es entstand dies- und jenseits der zu zwei Monaten und einer Strafe von Grenze eine kleinräumige „Buttermaf- 7.314 Kronen, nach heutigem Wert eini- fia“. Butter wurde über „Mittelsmänner“ ge tausend Euro! in Rucksäcken nach Feldkirch gebracht und in Geschäften angeboten. J. Büchel Nach sechs Tagen Haft war er bereit aus Ruggell hatte jedoch Pech, er wurde zu zahlen und führte dafür folgenden einem uniformierten Volkswehrmann Hauptgrund an: Sein „Zellengenosse“ vor dem Laden der Firma Furtenbach in aus Hohenems, mit dem er „Abort und der Marktgasse angezeigt. Bei der Ver- Wohnung“ teilen musste, war nämlich nehmung äußerte er sich, „es sei ihm tripperkrank: „(…) gemeinsam mit ei- gleich, wenn er von der hiesigen Behör- nem Menschen, der an einer anstecken- de (Staatsanwaltschaft in Feldkirch) ge- den Geschlechtskrankheit leidet und in straft wird, nur möchte er nicht, dass die ein Absonderungshaus gehören würde“,

Seite 21 habe man ihn einer möglichen Anste- Wenn schon nicht im sogenannten „En- ckung ausgesetzt. (PW) tentezug“ nach Paris, so hatten Feld- kirchs Finanzwach- und Volkswehr- Die Finanzbehörden versuchten die leute im „deutschösterreichischen“ Grenzwächter zu strengen Kontrollen Schnellzug zwischen Wien und Bregenz zu motivieren, indem sie diesen neben Erfolg: Seit Ende Juli wurden am Bahn- ihrem Lohn auch noch Anteile der auf- hof Feldkirch strenge Kontrollen durch- gegriffenen Waren versprachen. Ein geführt. Niemand durfte aus dem Zug Beispiel dafür war ein an der Grenze in aussteigen. „Einzelne schuldbewußte Tisis aufgegriffener Devisenschmuggler Reisende gebärdeten sich widerspens- und Steuerhinterzieher, ein Innsbrucker tig und wurden abgeführt. Die Beute an Rechtsanwalt, mit einer halben Million Schmugglerware war ergiebig.“ Kronen. Der Lohn für die beiden Wäch- (VV, 31. 7. 1919) ter und ihre „Pflichterfüllung“ betrug angeblich je 500 Kronen. (PW) Im Schnellzug aus Wien, dem „Hofzug Israels“, wurde auch eine Vorarlberger Fernzüge am Bahnhof Feldkirch „Bande“ festgenommen, darunter ein Feldkircher. Sie hatte immerhin 126 Da man in der benachbarten Schweiz kg. Silber bei sich. (VV, 19.11.1919) Aber Zentren feindlicher alliierter Agenten dies waren Kleinigkeiten im Vergleich und Bolschewisten vermutete, erfolg- zu jenen „vier Herren aus Vorarlberg“, ten während des Weltkrieges in Vorar- die im Schnellzug und in „luxuriöser lberg zahlreiche Reise- und Verkehrsbe- Kleidung“ eine Million Kronen für ge- schränkungen. Es kam zur Errichtung schmuggelte Waren unter sich verteilt lokaler Verkehrs-Verbotszonen an den hatten. (VV. 27.6.1919) Landesgrenzen und zu restriktiven Grenzkontrollen. Im September 1917 Ein Pfarrer mahnt wurde gar die vollständige Sperre des Verkehrs nach der Schweiz verfügt, Es gab in Vorarlberg zwei Zeitungen, das betraf auch die Eisenbahn von die sich intensiv mit dem Schmuggel Feldkirch nach Buchs und die Rhein- befassten und diesen auch vehement brücken. (Dür, 59) Mit dem Kriegsende verurteilten. Dazu gehörte der Feldkir- wurden diese Maßnahmen aufgehoben, cher Anzeiger, der selbstbewusst von und nun fanden in den Fernzügen von sich behauptete, „ist (dagegen) seit der Wien bzw. Warschau über Feldkirch in Kriegszeit vielleicht kein Blatt im Lande die Schweiz bis nach Paris die wirklich so wiederholt aufgetreten“. Er gestand großen Geschäfte und Gewinne von jedoch ein, dass der gewünschte Erfolg Schmugglern statt. In Feldkirch nannte ausgeblieben sei. Dies sei begreiflich, man den langen und eleganten Zug mit „wenn selbst unter den Augen der beru- der französischen Trikolore den „Enten- fenen Stellen der Schleichhandel sozu- tezug“, im Volksmund war es der „Lum- sagen gutgeheißen wird; wie wäre sonst pazug“ (Gaunerzug). Als in Feldkirch heute in Feldkirch ein Wirt im Stande, die Zollwachorgane im Juli 1919 eine ein Mittagmahl für 60-70 Personen zu Kontrolle durchführen wollten, verwei- stellen, ohne die Waren im Schleichhan- gerte ihnen dies kurzerhand der „Zugs- del zu erwerben ???!“ (FA, 4.10.1919) kommandant“. (VV. 19.7.1919) Im Allgemeinen beurteilte die Bevölke- land so sehr schädigender Schmuggel in rung das Schmuggeln nicht als krimi- so rücksichtsloser Weise betrieben, wie nell oder unsittlich, es war eine „Kavali- an der vorarlbergisch-schweizerischen ersdelikt“, weil es in den meisten Fällen Grenze.“ Das ging einigen Lesern doch der Versorgung mit lebensnotwendi- zu weit, und am 5. Dezember erfolgte gen Gütern diente, die auf dem legalen die Replik eines anonymen Schreibers: Markt nicht zu erhalten waren. „Herr Pfarrer Gunz hat nach Form und Inhalt über das Ziel hinausgeschossen.“ Der Lokalzeitung zur Seite stand das Die Mehrzahl der Schmuggler seien auflagenstarke christlichsoziale „Vor- keineswegs „bodenständige“ Vorarl- arlberger Volksblatt“ und in diesem tat berger, das widerspräche dem „zähen sich vor allem ein „Feldkircher“ hervor, Alemannentrotz“, das Vorarlberger der vom Oktober bis Dezember 1919 Volk sei zu „gesund, um solche Fäulnis ausführlich auf Titelseiten und kämpfe- in sich hineinfressen zu lassen“. In Vo- risch das Schmuggelunwesen beschrieb, rarlberg herrschten noch Gottesfurcht, analysierte, einer scharfen Kritik un- gute Sitten, deutsche Ehrlichkeit und terzog und auch die entsprechenden Treue, Biederkeit und Nüchternheit. Verursacher nannte. Seine Ausführun- (VV, 5.12.1919) gen wurden auch im „Liechtensteiner Volksblatt“ widergegeben. Gunz hatte jedoch von allem Anfang an betont, dass er mit seinen Ankla- Der Mann hieß Gebhard Wendelin gen nicht den „kleinen persönlichen Gunz (1881-1956). Er war in Götzis ge- Schmuggel“ von Einheimischen um ein boren, studierte am staatlichen Gymna- Paar Zigaretten oder Schuhe meinte, sium in Feldkirch und entschloss sich sondern den „Erwerbszweig“, der letzt- zum Theologiestudium in Brixen. 1914 lich der „Vergnügungssucht, der Weich- meldete er sich freiwillig zum Kriegs- lichkeit und dem Luxus“ diene. Gunz dienst und wurde als Feldkurat mit rechtfertigte sich auch damit, dass er mehreren Verdienstzeichen und Or- das Schmugglerunwesen selbst erlebt den ausgezeichnet. Im Februar kam er habe und diesem persönlich nachge- als Pfarradministrator nach Feldkirch gangen sei: „Habe ich auf Weg und Steg, und wurde 1922 zum Pfarrer von Tisis auf Bahnsteig und im Zug, in Geschäf- geweiht. Er wird als „volkstümlich ten und auf der Straße die Auswüchse und volksverbunden“ beschrieben, mit des Schmugglerunwesens absichtlich „unbestechlicher Wahrheitsliebe und beobachtet und gewissermaßen stu- Offenheit“, und machte sich auch als diert, bis ich schließlich die sittliche Ver- Bergsteiger und Heimatforscher einen pflichtung in mir fühlte, dagegen offen Namen. (Volaucnik, 143-160) einzutreten, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, was andere über mich denken, Gunz bezeichnete Schmuggel, der vor sagen und schreiben, ohne auch noch seinen Augen ablief, als „landesübli- ärgere Möglichkeiten lange zu beden- chen Unfug“. Ja noch mehr, er ließ in ken.“ (VV, 16.12.1919) einem Volksblatt-Artikel vom 30. No- vember aufhorchen: „An allen Grenzen Und an anderer Stelle: „Nur Liebe zum wird zwar geschmuggelt, aber an keiner Volke, nicht Haß oder Brotneid hat mir Grenze der Welt wird ein Volk und Vater- das scharfe Messer in die Hand ge-

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drückt, dieses Geschwür zu öffnen.“ bekannt, „daß Dutzende und Dutzen- (VV, 10.10.1919) de von Juden mit jedem Schnellzug die österreichisch-schweizerische Grenze Der streitbare Geistliche berichtete von überschreiten“. Er sehe täglich solche „Millionen“ österreichischer Kronen, „Ohrfeigengesichter“, diese „Abart von von verschobenen Wertpapieren und Geschäftsjuden“. Gunz räumte frei- Gold- und Silbermünzen, die illegal lich ein: „Ich will ja nicht verallgemei- über Vorarlberg in die Schweiz gebracht nern, es gibt auch ehrliche jüdische Ge- würden und dadurch dem österreichi- schäftsleute und – christliche Juden.“ schen Staat unermesslichen wirtschaft- (VV, 16.12.1919) lichen Schaden zufügten. Für ihn war dies „Verrat am Volke“. Schmuggler und Mit seinem Antisemitismus war der Schieber seien „Verräter am Wohlstand Pfarrer jedoch nicht allein, er war in des Volkes“. Vorarlberg ein allgemeines Phänomen: Juden hielt man für die „wahren Kriegs- Schmuggel verdarb offensichtlich den gewinner“ und gar für die Schuldigen Charakter: Ehrlichkeit und Rechtschaf- am militärischen Zusammenbruch der fenheit werde schwer geschädigt, eben- Monarchie. (Wanner 2010, S. 156 f) so die Gottes- und Nächstenliebe. Es schwinde jede Rücksicht gegen Staat, Schmuggel geht weiter Volk und Vaterland. Arbeitsscheu und eine schreckenerregende Verschwen- Ob die mahnenden Worte des streitba- dungssucht, welche zum Sinken der ren Pfarrers Gehör fanden, lässt sich sta- Sittlichkeit führe, werde gefördert. Er, tistisch nicht nachweisen. Im Frühjahr Gunz, habe beispielsweise mit eigenen 1920 hielt auf jeden Fall das Schieber- Augen gesehen, wie in Dornbirn in ei- und Schmugglerwesen noch an, was nem Gasthaus ein wackeliger Tisch mit dazu führte, dass die Feldkircher Polizei zusammengelegten Hundertkronenno- in Hotels und Gastwirtschaften Razzien ten unterlegt wurde, wie ein einziger durchführte. Sie erzielten „erfreuliche Spieler 70.000 Kronen verloren habe Erfolge“ - dabei wurden unter anderem und mit einem Zweispänner nach Hau- wegen Übertretung der Devisenverord- se fuhr. Ein Lustenauer habe einem nungen 151.000 Kronen beschlagnahmt. „Weibsbild“ der Exl-Bühne (Tiroler Eine Hauptursache für die meisten die- Theatergruppe mit Volks-und Bauern- ser Übel sah der Feldkircher Anzeiger stücken) gar einen „Zehntausender“ ge- „vor allem in der Entwertung unseres schenkt. (VV, 8.10.1919) Geldes – die Krone ist ja fast wertlos – damit hängen alle anderen Übel zu- Wenn auch in den Vorarlberger Gefäng- sammen“. (FA, 24.1.1920) Ein weiteres nissen 70 % der des Schmuggels Ange- Problem war der österreichisch-liech- klagten Einheimische seien, waren die tensteinische Handelsvertrag vom 1. „Oberschmuggler“ für ihn „ausnahms- Mai 1920. Er sicherte im Artikel 1 die los lands- und rassenfremde“: „Nur die grundsätzlich vollständige Handels- Juden, welche als Oberausbeuter des freiheit zu. Die Folge waren „maßlose Volkes auch hier ihre Hand im Spiel Hamsteraufkäufe“ durch Liechtenstei- haben, dürfen mich ruhig als Feind ner vor allem in Feldkirchs Geschäf- betrachten.“ (VV, 10.10.1919) Es sei ihm ten und auf Märkten. Die Vorarlberger

Seite 24 Ospelt, Alois: Liechtenstein im österreichischen Zollver- Landesregierung unter Otto Ender griff band (1852 bis 1919). In: Kulturinformationen Vorarlberger Oberland 1, 1989. S. 9-25 ein und erklärte durch eine rechtlich Quaderer, Rupert: Das Kriegsende 1918 in Liechtenstein fragwürdige Verordnung im November und seine Auswirkungen. In: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Bd. 108. Vaduz 1920 ein gänzliches Warenausfuhrver- 209. S. 11-58 bot nach Liechtenstein. Es musste einen Quaderer-Vogt, Rupert: Bewegte Zeiten in Liechtenstein 1914 bis 1926. Bd. 1. Zürich 2014, S. 455-469 Monat später wieder aufgehoben wer- Vogt, Emanuel: Mier z Balzers. Lebensart. Vaduz 1998. S. den. (Wanner 1973, 85-91) 129-146 Volaucnik, Christoph: „Zimbapfarrer“. Gebhard Wendelin Gunz. In: Manfred A. Getzner (Hg.): Burg und Dom zu Trotz Handelsfreiheit wurde geschmug- Feldkirch. Schriftenreihe der Rheticus-Gesellschaft 50. S. 143-160 gelt: Beispielsweise wurde über die Tis- Wanner, Gerhard: Die Auswirkungen der Kündigung des ner Grenze „eine erkleckliche Anzahl österreichisch-liechtensteinischen Zollvertrages auf die vorarlbergisch-liechtensteinischen Beziehungen 1919 und von Mäusen hereingebracht“, um sie in 1924. In: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürs- Liechtenstein gegen Schweizer Rappen tentum Liechtenstein, Bd. 73. Vaduz 1973. S. 62-109 Wanner, Gerhard: Vorarlberg zwischen „Schweizer Hoff- (Währungseinheit) zu verkaufen. „Jetzt nung“, Hungersnot und „Bolschewistenfurcht“ (1918/19). fehlt nur noch der Heimatschein oder In: Österreichische Forschungsgemeinschaft (Hg.): Studien zur Zeitgeschichte der österreichischen Länder das Gemeindesiegel auf jeder Maus.“ 1. Demokratisierung und Verfassung in den Ländern (LV, 24.9.1920) 1918–1920. St. Pölten 1983. S. 91–117. Wanner, Gerhard: Vorarlbergs Beziehungen zur Schweiz während des Ersten Weltkrieges. In: Allgäuer, Robert (Hg.): Grenzraum Alpenrhein. Brücken und Barrieren Dass sich unter diesen tristen Verhält- 1914-1938. Zürich 1999. S. 9-37 nissen kein neuartiges Österreichbe- Wanner, Gerhard: Geschichte der Stadt Feldkirch 1914-1955. Schriftenreihe der Rheticus-Gesellschaft 39. wusstsein entwickeln konnte, lag auf Feldkirch 2000. S. 9-15 der Hand. Stattdessen strebte die Bevöl- Wanner, Gerhard: Welche Freiheit suchten sie? In: Natter, Tobias (Hg.): „Kanton Übrig“. Als Vorarlberg zur Schweiz kerung Vorarlbergs am Höhepunkt des gehören wollte. Ausstellungskatalog. Vorarlberger Lan- Schmugglerunwesens im Jahr 1919 ei- desmuseum. Bregenz 2008. S.78–96. nen Anschluss an Deutschland (Schwa- Wanner, Gerhard: Die Anfänge des selbstständigen Vorar- ben) und vor allem an die Schweiz lberg 1918. In: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein., Bd. 108, Vaduz 2009. S. 59-90 an. Der deutschnational eingestellte Wanner, Gerhard: Das Elend der jungen Republik. Feldkircher Anzeiger war gegen die Vorarlberg im November/Dezember 1918. In: Bündner Monatsblatt, 2/2010. S. 142-165 Schweiz, gegen das „verjudete Wien“ jedoch für die „großdeutschen Brüder“. FA: Feldkircher Anzeiger ON: Oberrheinische Nachrichten LV: Liechtensteiner Volksblatt Quellenangaben VT: Vorarlberger Tagblatt VV: Vorarlberger Volksblatt Büchel, Stephanie: Das Schmuggelwesen zwischen dem PW: Privatarchiv Gerhard Wanner (Akten: Gendarme- Fürstentum Liechtenstein und Österreich in den Jahren riepostenkommando Feldkirch, Bezirkshauptmannschaft 1917 bis 1924. Seminararbeit Universität Freiburg i. Ü. Feldkirch, Staatsanwaltschaft Feldkirch) Ruggell 2012 Dünser, Christof: Das Fürstentum Liechtenstein und seine Beziehungen zu Österreich-Ungarn. In: Wanner, Gerhard (Hg.): 1914-1918. Vorarlberg und der Erste Weltkrieg. Lochau 1989. S. 206-214 Dür, Alfons: Reise- und Verkehrsbeschränkungen in Vorarlberg während des Ersten Weltkrieges. In: Montfort 216, Bd.1. S. 45-65 Goop, Rudolf: Menschen am Schellenberg. Kirche, Schule, Arbeitswelt und Handwerk. Bd. 3. Wien 2011. S. 217-229 Hager, Arthur: Aus der Zeit der Zoll- und Wirtschaftsuni- on zwischen Österreich und Liechtenstein von 1852-1919. In: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Bd. 61. Vaduz 1961. S. 25-58 Kirisits, Stefan: Lebensmittelversorgung. In: Wanner, Ger- hard (Hg.): 1914-1918. Vorarlberg und der Erste Weltkrieg. Lochau 1989, S. 98-108

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Sozioökonomische Folgen des Zusammenbruches der Österreichisch-Ungarischen Monarchie auf Feldkirch, 1918-1923

Mag. Helene Malin – Oberhammer

A Wirtschaftsdepression in der durch Flüchtlinge, Auslandshilfe Republik Deutsch-Österreich und schlechte Kartoffelernten, Lebendvieh und Büchsenfleisch, B Die Stadt Feldkirch in der Krise Schrebergärten lindern die Not

1 Politischer Wandel und Zukunft- 4 Energieversorgung sängste Gasmangel durch Kohleknappheit, Zunehmende Elektrifizierung und 2 Städtische Verwaltung „Heiznot“, Torf und Briketts als Kommunaler Haushalt kaum plan- Energiealternative bar, Städtische Einrichtungen als Finanzquelle 5 Soziale Lage Öffentliche Förderung mildert 3 Ernährung Wohnungsnot, Maßnahmen gegen Feldkirch in „dumpfer Verzweif- Arbeitslosigkeit, Karitative Vereine, lung“, Galoppierende Inflation und Frauen und Auslandshilfe, Kinder der „Mittelstand“, Schweizer und im Elend Liechtensteiner Hamsterkäufe, Milch eine Seltenheit, Belastungen 6 Konjunkturaufschwung

Der zeitliche Rahmen der Untersuchung ten Vorarlbergs Arbeitgebervertreter ist nicht zufällig gewählt. Der Zusam- verlautbart, dass die wirtschaftliche menbruch der Österreichisch-Ungari- Lage in Vorarlberg „nicht ungünstig“ schen Monarchie führte Ende 1918 zu sei. Die Produktivität der Textilindus- weitgehenden negativen Auswirkungen trie lief wieder an und näherte sich dem für Österreich und Vorarlberg - es folgte Vorkriegsniveau, auch sei die Arbeitslo- eine Wirtschaftsdepression. 1922 zeig- sigkeit geringer als in anderen Bundes- ten sich die ersten Lichtblicke zu einer ländern. Es herrschte bald Mangel an Besserung: Österreich erhielt durch die Arbeitskräften, als 1924 die Kraftwerks- Genfer Anleihe 650 Mio. Goldkronen, bauten im Klostertal und Montafon ein- wodurch der Währungsverfall abrupt setzten und Feldkirch seine Infrastruk- beendet wurde - eine Folge war 1924 tur ausbaute. (Feurstein, 31 f) die Einführung der stabilen Schilling- währung. Bereits im August 1923 hat-

Seite 26 kämpfen: Beispielsweise war die land- wirtschaftliche Erzeugung im Erntejahr 1918 um die Hälfte zu jener des Jahres 1913 zurückgegangen. Somit stellte sich die Beschaffung selbst der allernotwen- digsten Lebensmittel als großes, kaum zu lösendes gesamtstaatliches Problem dar. Die landwirtschaftliche Produk- tion war nie besonders groß und auch nicht in der Lage, Ernährungsengpässe bewältigen zu können. Sie konnte den Inlandsbedarf nicht decken. Vorerst be- stand in dieser trostlosen Lage auch kei- ne Aussicht auf baldige Besserung. Der Übergang von der militärisch orientier- ten Kriegswirtschaft zur Friedens- und Konsumgüterwirtschaft vollzog sich nur schleppend, und weiterhin wurde an der zentralen Bewirtschaftung der wichtigsten Nahrungs- bzw. Lebens- mittel festgehalten.

A Wirtschaftsdepression in der Repu- Erst Ende 1922, Anfang 1923, nachdem blik Deutsch-Österreich sich der Wert der Krone als der damals noch gültigen österreichischen Wäh- „Je länger der Krieg dauerte, desto deut- rung einigermaßen gefestigt hatte, licher zeichnete sich die Unmöglichkeit konnte die zentral gesteuerte Zwangs- eines militärischen Sieges der Mittel- bewirtschaftung gemildert und schließ- mächte ab. Hunger und Entbehrungen lich beendet werden. Im Jahr 1923 be- aller Art schwächten die Widerstands- gann der sanfte Anstieg der Konjunktur. kraft der Bevölkerung.“ (Tremel, 375). Schlimm war es um die Finanzlage des Im November 1918 kam es zum Zusam- Gesamtstaates bestellt: Die Kassen wa- menbruch der Österreichisch-Ungari- ren leer. Die Einfuhren überstiegen bei schen Monarchie und zum Kriegsende. Weitem die Ausfuhren. Beinahe der Die Bevölkerung, die sich das Kriegs- gesamte Bedarf an Kohle, textilen Roh- ende sehnlichst herbeigewünscht hat- stoffen und ein großer Teil an Getreide, te, konnte sich jedoch nicht über den Fett und Fleisch mussten eingeführt Frieden freuen, denn die Sorgen um werden. Dagegen hatte man nur wenige die Zukunft lasteten zu schwer auf ihr. Produkte, die in größeren und gewinn- Als Besiegter stand Österreich vor den bringenden Mengen ausgeführt werden Trümmern der gesamten Volkswirt- konnten - so ferne sie nicht für den hei- schaft. mischen Konsum benötigt wurden.

Die junge Republik Deutsch-Österreich Dazu kam, dass österreichische Wa- hatte mit Schwierigkeiten aller Art zu ren auf dem Weltmarkt schwieriger

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zu verkaufen waren als in der Zeit vor Die reichen Steinkohlenlager in der al- 1918. Manche früheren Absatzgebiete ten Monarchie in Böhmen und Schlesi- Österreichs waren verloren gegangen en standen nicht mehr zur Verfügung. oder noch verschlossen. Zudem hatten Die heimischen Braunkohlenlager wa- viele Staaten die Einfuhrzölle erhöht ren unzureichend, ganz abgesehen vom oder Schutzzölle eingeführt. Die Erzeu- geringeren Heizwert. Anfänglich fehlte gungskosten für Warenexporte muss- auch das Kapital, um durch Investitio- ten deswegen von vornherein niedrig nen in Richtung technischer Verbes- gehalten werden, um trotz der Zölle serungen eine höhere Förderleistung und Frachtkosten überhaupt konkur- erzielen zu können. Einen gewissen renzfähig produzieren zu können. Die Ersatz für die fehlende Kohle bot die volkswirtschaftliche Produktivität war Elektrizitätswirtschaft. Sie konnte al- generell gering, und die Arbeitslosigkeit lerdings wegen Kapitalmangels viel zu stieg zwischen 1920 und 1923 rasant an. wenig und zu langsam vorangetrieben Sie wurde zum Massenphänomen mit werden. (Sandgruber, 346) all den negativen sozialen Folgen. B Die Stadt Feldkirch in der Krise Außerdem schuldete die österreichi- sche Staatsverwaltung der Österrei- 1 Politischer Wandel chisch-Ungarischen Bank bei Kriegs- und Zukunftsängste ende rund 27 Milliarden Kronen. Die Vorgängerin der späteren Österreichi- Anfang November 1918 begann in Feld- schen Nationalbank deckte die Geldbe- kirch als Folge der sich auflösenden dürfnisse durch die inflationäre Ausga- Monarchie und ihrer Armee „die ord- be von Banknoten. Das österreichische nungslose, die schreckliche Zeit“: „Da Zahlungsmittel „Krone“ verlor dadurch war ein Menschengewoge, ein Schreien auf den internationalen Geldmärkten und lautes Treiben. Frauen und Mäd- ständig an Wert. Mit dem fortlaufenden chen in der Mehrzahl, daneben Militär. Wertverlust der Krone war auch ein ste- Die Soldaten ohne Seitengewehr – meist tes Steigen der Preise verbunden. Die auch von der Mütze die Kokarde entfernt Löhne hielten mit diesem Preisanstieg (…).“ Die Straßen waren von Kraftwa- jedoch nicht mit. (Sandgruber, 154-158) gen und Karren überflutet. Dazwischen zogen die Heimkehrer in die Stadt ein, „Ihr Kurs stand vor dem Krieg auf der „zum größten Teil unterernährt und Züricher Börse auf 112,5 Schweizer Rap- krank – verbittert und mißgestimmt“. pen, am 30. Juni 1920 nur noch auf 3,9 Viele Feldkircher gaben die Schuld der Schweizer Rappen mit Tendenz nach ehemaligen Monarchie, dem Adel und unten. Bei diesem Verfallstempo war „den Juden“. (Wanner 1983, 103) jede Kalkulation sinnlos, die Budgets des Staates und der Bundesländer wie- Das Bürgertum fühlte sich bedroht, als sen ständig Lücken auf, die nur durch 1919 im benachbarten Bayern eine bol- die Inanspruchnahme der Notenpresse schewistische Räterepublik nach dem zu decken waren.“ (Tremel, 375). Muster der Sowjetunion entstand. Selbst in Vorarlberg und in Feldkirch bildeten Auch im Energiesektor sah sich die Re- sich nach ähnlichem Muster sogenannte publik großen Problemen ausgesetzt: basisdemokratische „Soldaten, Bauern-

Seite 28 Die Deutschnationalen und Christ- lichsozialen sahen die „bürgerliche Ordnung“ in Gefahr und gründeten im April 1919 den sogenannten „Ord- nungsrat“, aus dem später die Heim- wehren hervorgingen. Es gab daneben auch die freiwillige „Volksmiliz bzw. Volkswehr“, die etwa die Grenzen zu Liechtenstein und zur Schweiz und die Lebensmittellager am Bahnhof in Levis überwachte. (Volaucnik 2009, 61)

Das Bürgertum war ideologisch ge- Bürgermeister Franz Unterberger spalten, wenn es um die Zukunft ging, welche die Republik nicht gewähr- leistete. Dies äußerte sich besonders und Arbeiterräte“ und in der Stadt im in der „Anschlussthematik“: Die An- November 1918 gar ein „Gendarmerie- schlussbestrebungen an die Schweiz rat“, der „endlich die reaktionären Vor- fanden in Feldkirch keine allzu große schriften“ aus der Zeit der Monarchie Zustimmung: Während die landeswei- abschaffen wollte. (Wanner 1983, 103) te Volksabstimmung am 11. April 1919 für einen Anschluss an die Schweiz im Dann zogen erstmals die Sozialdemo- Vorarlberg-Durchschnitt 80,6 % ergab, kraten, die bei den Gemeindewahlen lag sie in Feldkirch lediglich bei 57,3 im Mai beachtliche 19 % der Stimmen %. Die Deutschnationalen, zahlreiche erlangt hatten, in die Gemeindevertre- Christlichsoziale, selbst ihr Bürgermeis- tung ein. Ihnen schien man nicht zu ter Franz Unterberger (1914-1920), und trauen, streikten doch im Jänner 1919 an die Handelskammerführung waren Be- die hundert Eisenbahner vor dem Lan- fürworter des „Schwabenkapitels“ und desgericht gegen die Zensur einer Pro- somit für einen Anschluss an Deutsch- pagandaschrift durch die Staatsanwalt- land. Dazu gehörte auch der einfluss- schaft. „Nieder mit der Reaktion. Nieder reiche Pfarrer Gebhard Wendelin Gunz mit dem alten System“, waren die Paro- aus Tisis. Protestversammlungen der len. Das bürgerliche Lager machte Feld- Deutschnationalen im Saalbau beklag- kirchs Sozialdemokraten jedoch „salon- ten den „Volksverrat“ und diese schlos- fähig“, indem sie in die Gemeindearbeit, sen jeweils mit dem Absingen „Deutsch- vor allem in das Sozialwesen, miteinbe- land, Deutschland über alles“. Ihnen zur zogen wurden. (Wanner 1983, 105 f) Ihre Seite stand mit kräftiger Propaganda Position wurde zusätzlich dadurch ge- der „Feldkircher Anzeiger“. (Wanner stärkt, dass im Juni 1919 in Feldkirch die 2000, 105-109; Feurstein, 27 f) Vorarlberger Arbeiter- und Angestell- tenkammer unter sozialdemokratischer In diesen schwierigen Jahren übernahm Führung gegründet wurde. Ihre erste der 1870 in Kärnten geborene Franz Sitzung fand im Rathaus statt. (Wanner Unterberger 1914 das Amt des Bürger- 1977, 20 -2 2) meisters. Er war überzeugter Christ-

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lichsozialer, und zu seiner Tätigkeit hieß ner, davon 2.108 weiblichen Geschlechts. es: „Immer und überall erging der Ruf Sie verteilten sich auf 883 Parteien in 349 an den Bürgermeister, und immer und bewohnten Häusern, unbewohnt waren überall war er am Platze, ohne Rast und 23 Gebäude. In Kriegsgefangenschaft Ruhe, zu jeder Stunde an einem ande- befanden sich 11 Personen. Mit 1,3 km2 ren Orte, sich selbst nur wenig Erholung war Feldkirch die kleinste Gemeinde gönnend (…) und sein Herz hing an den Vorarlbergs, die Nachbargemeinde Al- Leiden und Sorgen der Bürger.“ (Wan- tenstadt mit 5.724 Einwohnern umfasste ner 2000, 132) Er besaß das Vertrauen dagegen 24,6 km2 und besaß somit gro- sämtlicher politischen Parteien, die ihm ße Agrarflächen und bäuerliche „Selbst- 1919 die Ehrenbürgerschaft verliehen. versorger“. (FA, 21.2.1920) Es kam der Stadt sehr zugute, dass Un- terberger 1921 zum Vizepräsidenten der Bürgermeister Unterberger unterstütz- Handelskammer ernannt wurde und ten sechs Stadträte, unter denen im Jahr dass seine Partei, die Christlichsozialen, 1919 Anton Gohm den Hilfs-, Minderbe- in der Gemeindevertretung die abso- mittelten- und Sammelausschuss leitete. lute Mehrheit besaßen und damit auch Karl Winter war für das Armenwesen rasche Entscheidungen treffen konnten. zuständig und der Sozialdemokrat Alo- Seinen Wahlerfolg verdankte er größ- is Fritz für die Wohnungsfürsorge. Ne- tenteils Feldkirchs Frauen, die zum ers- ben diesen Sozialagenden gab es einen ten Mal in der Geschichte wählen durf- eigenen „Gemeinde-Wirtschaftsrat“. Er ten und meist konservativ-katholisch war auf acht Gruppen aufgeteilt und vor eingestellt waren. (Wanner 2000, 120 f; allem für die spezielle Nahrungsmittel- Vallaster, 227 f) versorgung- und Verteilung zuständig, so etwa eigens für Brot, Mehl, Käse, Fett, Sein Nachfolger wurde 1920 der 1878 Fleisch, Milch, Kartoffel, Obst und Ge- geborene Kaufmann Anton Gohm. Sei- müse. (FA, 19.7.1919) Von ihnen hing bis ne Amtszeit erlebte ab 1923 den Auf- in das Jahr 1921 das existentielle Wohl schwung der Wirtschaftskonjunktur, der meisten Bewohner von Feldkirch ab. und diese war durch kräftige städtische Die Stadtverwaltung wiederum litt un- Investitionen und Projekte gekennzeich- ter den hohen sozialen Ausgaben. net: 1923/24 erfolgten die Illschluchter- weiterung, der Beginn der Errichtung Die finanzielle Lage der Stadt Feld- von Klein- und Mittelstandswohnungen kirch war enorm schwierig, denn die an der Gilmstraße und 1925 als Krönung Einnahmen standen in einem höchst der Zusammenschluss mit den Nach- ungleichen Verhältnis zu den immer bargemeinden zu „Groß-Feldkirch“. größer werdenden Anforderungen und (Vallaster, 228 f) Leistungen, welche zu erbringen waren. Die Einnahmen aus Zuschlägen auf die 2 Städtische Verwaltung staatlichen Steuern wurden durch die Geldentwertung vom Zeitpunkt der Kommunaler Haushalt kaum planbar Vorschreibung bis zum Zeitpunkt der Als der christlichsoziale Bürgermeis- Einzahlung so entwertet, dass sie für die ter Anton Gohm 1921 sein Amt aus den Bedeckung der immer mehr anwach- Händen von Franz Unterberger über- senden Ausgaben nicht mehr ausreich- nahm, zählte Feldkirch 4.395 Einwoh- ten. Deswegen wurden verschiedene

Seite 30 Städtische Einrichtungen als Finanz- quelle

Die städtischen Einrichtungen waren für den Stadthaushalt eine große Stüt- ze. Dank der ergiebigen Einnahmen aus dem städtischen Forstbetrieb, aus den Stadtwerken und dem Lagerhaus konn- te das Auseinanderklaffen zwischen Ausgaben und Einnahmen in Maßen Städtisches Sägewerk in der Felsenau gehalten werden. Obwohl auch die- se Einrichtungen die wirtschaftlichen Krisen zu spüren bekamen, fand man neue Einnahmequellen gesucht und auf durch diverse kleine Umstellungen und gesetzliche Weise geregelt bzw. fixiert. Abänderungen immer wieder Möglich- keiten zu einer Gewinnoptimierung. Die ertragreichste, neu beschlossene Steuer war die „Kraftabgabe“ für den Der städtische Waldbesitz, der durch durch die Stadtwerke Feldkirch an die die hohen Holzpreise während des Haushalte abgegebenen Strom. Sodann Krieges eine wesentliche Stütze für die wurde eine „Lohnabgabe“ beschlossen. städtischen Finanzen gewesen war, Weitere Abgaben betrafen die Kehrrich- brachte nach Kriegsende infolge nied- tabfuhr, den Betrieb von Fremdenzim- riger Verkaufspreise und höherer Sä- mern, die „Lustbarkeitssteuer“ und die gekosten geringere Einnahmen. (SP, Getränkeauflage. 19.7.1919) Dieses Missverhältnis führte im Juli 1920 zum Bau des städtischen Da die Stadt Feldkirch etwas über 4.000 Sägewerkes in der Felsenau, welches bis Einwohner zählte – die Eingemeindung Ende August 1920 schon soweit fertig- fand erst 1925 statt- wurde sie bei den gestellt war, dass mit der Montage der Überweisungen aus Bundesmitteln Sägewerksmaschinen begonnen wer- nicht in jenem Ausmaß berücksichtigt den konnte. Der gesamte Bau mit den wie Gemeinden mit über 5.000 Einwoh- Einrichtungen kostete 191,6 Millionen nern. (SP, 25.1.1921). Kronen. Diese Ausgaben wurden, ohne die Schlägerungen zu überschreiten, Es wurde für die Stadtverwaltung von aus den laufenden Einnahmen gedeckt. Jahr zu Jahr schwieriger, einen verläss- Bis Ende 1923 besaß der Vorrat an Holz lichen Haushalts-Voranschlag auszuar- auf dem Lagerplatz einen Wert von ca. beiten. Obwohl man die Voranschläge 320 Millionen Kronen auf den neuesten Preisen und Gehältern erstellte, waren die Zahlen am Tage Die Umstellung der Forste im Saminatal der Beschlussfassung durch die Teu- von künstlicher auf natürliche Verjün- erung bereits überholt. So konnte ein gung brachte weitere effiziente Verän- detailliert ausgearbeiteter Voranschlag derung. Dadurch konnten die Pflanz- höchstens eine Richtschnur darstellen. gärten größtenteils aufgelassen werden, was eine bedeutende Betriebsersparnis ergab.

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Die städtische Jagd wurde an Ferdinand eröffnete. Besucher erhielten kostenlos Schallert aus Nenzing um den damals einen Liter „gute und kräftige“ Suppe. ansehnlichen Betrag von rund 2.050 Die Küche bestand bis zum Oktober Schweizer Franken verpachtet. (SP, 1919. (Wolf, 67) 25.1.1924) Mangel herrschte vor allem an Kartof- Das städtische Lagerhaus konnte wäh- feln, Fleisch und Milch – auf den Böden rend des Krieges durch große Einla- städtischer Besitzer in den umliegen- gerungen hohe Erträge an die Stadt- den Gemeinden weideten lediglich 56 verwaltung abführen. In der Zeit Rinder. Feldkirch hatte somit keine so- unmittelbar nach Kriegsende reduzier- genannten „Selbstversorger“. Bei den ten sich jedoch die Einnahmen wegen Bauern der Nachbargemeinden wurden der Warenknappheit. Zudem gab es aus daher Zwangserhebungen durchge- Furcht vor den schwankenden Valuta- führt, weil die Zulieferung von Milch kursen die Handelsmaxime, alle Waren nur noch aus dem Bregenzerwald er- möglichst rasch umzusetzen und nicht folgte. Zu Kriegsende im Oktober 1918 zu lagern. Die Waren rollten nun häufig hörte schließlich auch jegliche Zufuhr durch die Eisenbahnstation Feldkirch von Getreide und Mehl aus dem Osten hindurch, ohne das städtische Lager- Österreichs und aus Ungarn auf. Bür- haus zu benutzen. Erst ab 1922/1923 germeister Unterberger nahm die Ver- mit dem Beginn der Konjunktur wurde sorgung selbst in die Hand und reiste das Lagerhaus wieder vermehrt bean- nach München und Berlin, um Lebens- sprucht, was mit den geänderten Ver- mittel aufzukaufen, der Erfolg war ge- hältnissen an der Grenze zur Schweiz ring. Die Rationen auf den Brotkarten und mit den billigen Frachtkosten zu- mussten daher um 40 % gekürzt wer- sammenhing. Ja, es kam manchmal so- den. (Wanner 2010, 160) Ärmere Leute gar vor, dass größere Transporte infolge waren gezwungen, in der bäuerlichen Platzmangels gar nicht übernommen Umgebung Nahrungsmittel zu erbet- werden konnten. teln. Die städtischen „Nichtselbstver- sorger“ organisierten öffentliche Protes- 3 Ernährung te, die sich gegen jene Bauern richteten, die zu hohen Preisen auf dem Schwarz- Feldkirch in „dumpfer Verzweiflung“ markt verkauften. (Wanner 2000, 9-11) Ein zentrales wirtschaftliches und so- ziales Problem bereitete die Nahrungs- Der Feldkircher Anzeiger klagte im mittelversorgung - es zeichnete sich Jänner 1919 an: „Unsere Ernährungs- bereits im Winter 1914/15 ab. Um dies verhältnisse sind heute so schlimm, wie in den Griff zu bekommen, wurde ein sie während der ganzen Kriegszeit nie „Lebensmittelversorgungs-Ausschuss“ waren. Milch ist fast nie, selbst oft für gebildet und wurden Bezugskarten Kinder über 6 Jahren nicht, zu erhalten. ausgegeben. Der gesamte Warenver- Eier sind zu erschwinglichen Preisen kehr unterlag einem staatlich gelenkten nicht erhältlich. Die Mehlquote soll laut Verteilungssystem. Bereits 1916 war der Zeitungsnachrichten demnächst auch Mangel an Lebensmitteln so groß, dass wieder eine Kürzung erfahren. Fleisch die Stadt eine „Kriegs-Suppenküche“ trifft es auf den Kopf 1,20 kg, wovon im Gasthof „Schäfle“ in der Marktgasse jedoch die Quote selten zu bekommen

Seite 32 ist. Es kann indessen nicht behauptet von „dem man nicht sagen kann, ob es werden, dass Viehmangel herrscht; aus Kornmehl oder aus Sägemehl ist“. im Bregenzerwald soll nach Berichten Wenn es zu keiner Änderung komme, mehr Vieh vorhanden sein, als die Fut- fürchtete man in Feldkirch eine „Katast- tervorräte gestatten. Als seinerzeit, um rophe“. (FA, 6.3.1920) Im November kam Zucker zu bekommen, 30 Milchkühe es schließlich zu einer Demonstration geliefert werden sollten, wurden hierfür der Eisenbahnangestellten vor dem Fi- 200 im Lande angemeldet. Trotzdem die nanzamt und der Bezirkshauptmann- Schweinezucht wie noch nie betrieben schaft, es ging um schlechte Milch, um wird, erhält man kein Schweinefleisch. schlechtes Brot und um die „Liechten- Im Schleichhandel ist jedoch alles von steiner Auskäufe“. (FA, 20. 11.1920) dem zu erreichen, der genügend Geld hat (…).“ (FA, 1919, Nr. 79, S. 1) Die Bezirkshauptmannschaft versuchte gegenzusteuern und verhängte Geld- Am 8. Jänner 1919 hielt Bürgermeister strafen und Arrest, wenn die Lebens- Unterberger eine Rückschau auf die mittelverordnungen nicht eingehalten vergangenen Monate: Die Bevölkerung wurden. Im Jänner 1920 traf dies 40, im Feldkirchs lebe in „dumpfer Verzweif- März 1920 36 Parteien. Die Übertretun- lung“, es herrsche wenig Arbeitsfreude gen bezogen sich auf Nichtanmeldung und gleichzeitig Arbeitslosigkeit. „Wir von Vieh, unbefugten Viehhandel, stehen vor den Trümmern unseres ge- Schwarzschlachtung, Milchhinterzie- samten Wirtschaftslebens. Zum Wieder- hung und Überschreitung von Vor- aufbau desselben fehlen uns die Roh- schriften zum Butter- und Obstverkehr, stoffe und selbst die Beschaffung der ferner um die Abgabe von Fleischspei- allernotwendigsten Lebensmittel be- sen bei Faschingsunterhaltungen, Preis- gegnet größten Schwierigkeiten.“ (Wan- überschreitungen uam. Festgesetzte ner 2000, 12) Im Dezember 1918 wurden fleischlose Tage mussten von den Gast- von der „Städtischen Lebensmittelstel- häusern eingehalten werden, mindes- le“ pro Kopf der Bevölkerung und für tens 400 Kronen drohten bei Nichtbefol- den Tag 190 gr Brot- und Kochmehl und gung. (FA, 14.1. und 6.3.1920) 30 gr Reis und Hafermehl ausgegeben. (Wolf, 18) Die triste Ernährungslage hatte auch gesundheitliche Folgen: Kinder waren Auch im Jahr 1920 hatte sich die Lage unterernährt, die Tuberkulose florier- nicht verbessert: Ohne Lebensmittel- te, und es gab bei Erwachsenen viele karten und selbst mit diesen waren Magen- und Darmerkrankungen und Nahrungsmittel nicht mehr zu erhalten, Würmer, „wohl infolge der verdorbenen außer auf dem teuren Schwarzmarkt und verfälschten Lebensmittel“. (FA, oder mittels Schmuggel aus Liechten- 10.9.1921) stein. Auf gesetzlichem Weg traf es pro Person 750 g Lebensmittel, doch die Galoppierende Inflation und der „Mit- Hälfte davon bestand für viele Famili- telstand“ en lediglich aus „Kraut und Kartoffeln und letztere auch nicht einmal.“ (FA, Die Einkommen der Stadtbewohner 14.4.1920) Im April war Milch kaum konnten mit den sprunghaft ansteigen- mehr zu erhalten, Brot war ein Gebäck den Preiserhöhungen durch die Inflati-

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on nicht mithalten. (VV, 18.5.1922). Prei- tet.“ Und im Zusammenhang mit der se, Löhne und Einkommen wuchsen nie Lebensmittelversorgung durch Spen- gleichzeitig, was zu mitunter enormen den aus der Schweiz, Bayern und Würt- Problemen bei der Bewältigung der temberg, die nur an sogenannte „Min- Lebenshaltungskosten führen musste. derbemittelte“ verteilt werden durften, Dazu ein konkretes Beispiel: Der Lohn beklagte ein Bürger: „Heute ist der soge- eines städtischen Arbeiters betrug zu nannte Mittelstand der Minderbemittel- Beginn des Jahres 1921 1 bis 2.30 Kro- te.“ (FA, 25.2. und 22.7. 1922) nen pro Stunde und am Ende desselben Jahres 7.50 bis 10 Kronen. Dies bedeu- Schweizer und Liechtensteiner tete jedoch auf Grund der Inflation le- Hamsterkäufe diglich eine nominale und keine reale Lohnsteigerung. (Landesgesetzblatt, Wesentliche negative Folgen für Feld- 8.3.1921). Stellen wir diesen Lohnver- kirchs Wirtschaftsleben brachte am 2. hältnissen einige Preise des Feldkircher August 1919 Liechtensteins Kündigung Wochenmarktes gegenüber, dann wird des Zollvertrages mit Österreich. Einen klar, dass die Kaufkraft nicht zunahm, Monat später erklärte die Vorarlberger im Gegenteil. Im Herbst 1921 setzte Landesregierung als Reaktion darauf eine Hyperinflation mit monatlichen eigenmächtig das Fürstentum zum Preissteigerungen über 50 % ein. Im Zollausland. Tisis wurde dadurch zur Sommer 1922 erreichten die Lebenshal- Zollgrenze. Damit begannen die für den tungskosten das 14.000-fache des Vor- Feldkircher Markt und das Gewerbe kriegsniveaus (Feurstein, 30) geschäftsschädigenden Exportrestrikti- Die folgende Tabelle veranschaulicht onen - bis zum totalen Ausfuhrverbot. die Zunahme der Durchschnittspreise Sämtliche Exporte aus Österreich be- einiger Nahrungsmittel auf dem Feld- durften nun einer Bewilligung durch kircher Wochenmarkt von 1919 bis 1923. die Bezirkshauptmannschaft in Feld- Kartoffel und Weißkraut waren in den kirch. Feldkirch verlor den traditionel- Jahren 1919/20 für den „Mittelstand“ len Absatzmarkt nach Liechtenstein Hauptnahrungsmittel: und „gewann“ als Schmuggelzentrum. Man schätzte, dass dadurch die Hälfte 1919 1920 1923 des Geschäftsverkehrs der Feldkircher Kartoffel (kg) 4 K 12 K Kaufleute und Gewerbetreibenden ver- Weißkraut (kg) 70 h 3 K 10 Kronen loren ging. (Feurstein, 28) (1 Krone = 100 Heller) Bevor diese Sanktionen in Kraft traten, Erschreckend und nachhaltig waren kam es in Feldkirch zum „Ausverkauf“: durch die galoppierende Inflation die Die starke Entwertung der Krone ver- sozialen und materiellen Folgen: Ein anlasste Liechtensteiner und Schweizer großer Teil des bürgerlichen „Mittel- Kronen- bzw. kaufkräftige Frankenbe- standes“ verarmte und ging der Ver- sitzer zu groß angelegten Hamsterkäu- elendung entgegen. „Der Mittelstand fen in Feldkirchs Geschäften: und diejenigen, die sich glaubten, ei- „Feldkirch gleicht auch heute wieder nige Kronen für ihr Alter, in dem sie einem Jahrmarkte. Waren es doch un- nicht mehr arbeitsfähig sind, erspart sere lieben Schweizer Freunde und zu haben, sind schon zugrunde gerich- Nachbarn, die mit Bahn, Automobil,

Seite 34 mit Fuhrwerk oder zu Fuß hierher ka- der Nase weggeschnappt werden und men und mit ihrem hochwertigen Gelde von Stunde zu Stunde verteuert werden alles Nötige und Unnötige zusammen- (…).“ (Wanner 2000, 13 f; FA, 17.11.1920) kauften. Abgesehen von Luxusgegen- ständen, wie Uhren, Goldwaren, Pel- Aber noch gab es „gewisse“ Zukunfts- ze und Möbel, wandern auch unsere hoffnungen: Der Jurist und Präsident nötigen Bedarfsartikel, an denen wir der Vorarlberger Rechtsanwaltskam- selbst Mangel haben, über die Grenze. mer, Josef Peer, 1901-1909 liberaler Feld- Und wir die gutmütigen Vorarlberger, kircher Bürgermeister und Abgeordne- genannt die „dummen Österreicher“, ten im Vorarlberger Landtag, wurde im schauen diesem schamlosen Treiben zu September 1920 zum Landesverweser und schweigen. (…) Wenn es so weiter- und damit zum Stellvertreter des Liech- ginge, würden wir in ganz kurzer Zeit tensteiner Landesfürsten in Vaduz er- so viele wertlose Papierkronen im Lan- nannt. Doch er, der „Ausländer“, stieß de haben, daß wir sie dann als Makula- in Teilen der Liechtensteiner Bevölke- tur verkaufen können.“ rung, die einen Zollanschluss an die Schweiz anstrebten, auf massiven Wi- Erst im November 1919 endete durch ein derstand: „Wir sind keine Kolonie für gänzliches Warenausfuhrverbot dieser Wiener Herren und kein Tummelplatz „Ausverkauf“. (Wanner 2000, 12 f) für Wiener Regierungskünste (…).“ Mit der neuen demokratischen Liechtenstei- Auf Grund des österreichisch-liech- ner Landesverfassung, von ihm ausge- tensteinischen Handelsabkommens im arbeitet, endete seine Funktion bereits Jahr 1920 setzte eine Liberalisierung im Oktober 1921. Da er bei einer Ab- des Grenzverkehrs ein. Und da Liech- stimmung über den Verbleib in seinem tenstein mittlerweile von der Krone Amt „lediglich 61,7 % der abgegebenen zu der auch in Feldkirch begehrten Stimmen erhielt, trat er zurück. Für kaufkräftigen Frankenwährung über- Feldkirch brachte seine kurze Amtszeit gegangen war, begann ein neuerlicher keine Vorteile, Liechtenstein blieb Zoll- Sturm auf Feldkirchs Geschäfte und ausland und näherte sich immer mehr Gasthäuser: „(…) In der Marktstraße, bei der Schweiz. (Quaderer, 8-21 ) den Gasthäusern standen Fuhrwerk an Fuhrwerk; alle aus Liechtenstein, da wo Auch eine zweite Hoffnung ging nicht man unsere Krone zurückweist, kein in Erfüllung: Die Stadt erwartete sich Stücken sauren Käs, keine Tasse Milch nämlich im Zusammenhang mit den um unser Geld (Krone) erhält; da wo Verhandlungen um einen neuen Zoll- man singt: “Bewahre Gott vor falschem vertrag Österreichs mit der Schweiz die Schein, unser schönes Liechtenstein.“ – Verlegung des Zollbahnhofes von Buchs Männer und Weiber reichlich mit öster- nach Feldkirch-Altenstadt. In Feldkirch reichischen Tausendernoten versehen.“ entstand 1923 gar ein „Aktionskomi- tee“ des Vorarlberger Gewerbebundes, Die Freude der Händler über ihre Um- das für Feldkirch einen internationalen sätze war groß, aber auch der Unmut der Transitbahnhof vorschlug. Doch die Be- Feldkircher Konsumenten: „(…) daß uns mühungen scheiterten im September Einheimischen durch die Ausländer die 1923, da das österreichische Bundes- Waren, woran wir alle Not leiden, vor ministerium für Handel und Verkehr

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die Wünsche der Stadt Feldkirch nicht zu 10 Jahren sowie Kranke und alte Leu- unterstützte und der Schweiz entgegen te ½ Liter Milch zugeteilt. (SP, 29.1.1920). kam. (Wanner 1973, 74-77) Man hoffte auf Besserung, jedoch ver- gebens! Die Lage verschlechterte sich Milch eine Seltenheit zusehends: „Die Milchversorgung liegt wieder im Argen. Am Donnerstag be- Ein Mangel an Milch hatte sich bereits kamen nicht einmal alle Kinder bis zu während des Weltkrieges abgezeich- 2 Jahren vormittags die Milch, sondern net. Im November 1918 war selbst für manche erst am Abend; die alten Leute die meist unterernährten Kinder kei- bekamen nur ¼ Liter. Am Freitag wur- ne Milch mehr zu erhalten. Um die den außer den Kranken jene Kinder bis „Milchnot“ zu überbrücken, erwarb zu 2 Jahren beliefert, die am Vortag kei- das Land Vorarlberg im Dezember 1918 ne Milch bekamen. Was und ob für die Kondensmilch aus Militärbeständen, anderen etwas bleiben wird, weiß man sie war jedoch mit 1.20 Kronen pro Liter noch nicht. Noch stehen dichtgedrängt teuer und bestand zur Hälfte aus fettlo- die Kolonnen hoffend und harrend die ser „Magermilch“. Immerhin befanden Marktgasse hinaus. Saure Milch war sich im Lagerhaus von Feldkirch davon zu haben – man möchte sagen – leider.“ 56 Eisenbahnwaggons. (Wanner 2009, (FA, 1920, Nr. 51, S. 3). 86) Kein Mangel an Milch! So hieß es 1920 Feldkirch war wirtschaftlich auch von - nur musste man bezahlen, was der den bäuerlichen Nachbargemeinden ab- Erzeuger forderte. Aber die Preise wa- hängig. In der Stadt konnte keine Land- ren selbst für den „Mittelstand“ uner- wirtschaft betrieben werden, daher schwinglich! Über Einladung des Be- mussten landwirtschaftliche Produkte zirkshauptmannes von Feldkirch fand von auswärts bezogen werden. Dies be- am 12. November 1920 eine Versamm- traf vor allem die Milchlieferung. Dabei lung mit Vertretern der Feldkirch um- kam es oft zu großen Schwierigkeiten. gebenden Gemeinden statt. Thema war Es ist festzuhalten, dass selbst 14 Ge- die „Besprechung einer besseren Milch- meinden des Bezirkes Feldkirch zusam- versorgung der Stadt“. men weniger Milch ablieferten als in derselben Zeit die Gemeinde Sulzberg Dazu hieß es im „Feldkircher Anzeiger“: im Bregenzerwald. Wenig solidarisch „Nach einer lebhaften Wechselrede, an verhielt sich dabei die Walgau-Gemein- der sich fast alle Teilnehmer beteilig- de Göfis, denn von ihren 240 Kühen ten und in der die Schwierigkeiten der wurden nur 23 Liter Milch an die Stadt Gegenwart dargelegt wurden – insbe- Feldkirch abgegeben! sondere die infolge der Maul- und Klau- enseuche und des Umstandes, dass die Durch die geringe Milchzufuhr waren Zeit der Abkalbung erst jetzt langsam die Verantwortlichen der Stadt Feld- einsetze, versprachen die Gemeindever- kirch immer wieder gezwungen, die Re- treter, dass sie in ihrem Wirkungskreise geln für die Milchausgabe zu ändern. So darauf hinwirken werden, dass eine bes- bekamen im November 1919 nur noch sere Milchanlieferung nach Feldkirch Kinder bis zu 2 Jahren 1 Liter, Kinder bis möglich werde. Als ein großes Übel in

Seite 36 der Milchaufbringung wurde auch die Schweiz und die Funktion als Eisen- Hamsterei bezeichnet, zu deren wirksa- bahn-Verkehrsknoten verstärkt. Feld- men Bekämpfung Mittel und Wege ge- kirch wurde bereits mit Kriegsbeginn zeigt wurden, da dieselbe größtenteils zu einer Durchzugsstation von Flücht- nicht den notleidenden Kindern zufüh- lingen: Sie kamen aus den Kriegsgebie- re, sondern anderen, die ihrer nicht so ten von Südtirol, aus Russland und aus bedürftig wären.“ (FA, 1920, Nr. 91, S. 1). Galizien. (Scheffknecht, 64 f; Wanner 2014, 54 f) Die Milchversorgung der Stadt Feld- kirch war eine der schlechtesten in ganz Während des Weltkrieges mussten au- Vorarlberg, was klare Ursachen hatte: In ßerdem tausende Personen verpflegt den 15 umliegenden Gemeinden, deren werden. Es gab ein großes Reservelaza- Vertreter bei der Zusammenkunft mit rett. Dazu kam die unbeliebte, mächti- dem Feldkircher Bezirkshauptmann ge Zensurstelle mit angeblich 200 Offi- teilnahmen, gab es insgesamt 2.339 zieren und 600 Soldaten. Insgesamt 24 Milchkühe. Feldkirch benötigte täglich Austauschzüge mit 12.000 Personen, In- die Mindestquote von rund 1000 Liter. valide und Kranke, die freilich vom Ro- Hätten diese Gemeinden pro Kuh und ten Kreuz versorgt wurden, langten am Tag nur je einen halben Liter Milch nach Bahnhof ein. (Volaucnik 2009, 54 f, 61) Feldkirch geliefert, wäre der Milchbe- darf der Stadt mehr als gedeckt gewe- Nach Kriegsende folgten Gruppen von sen. So aber musste die Stadt Feldkirch Österreichern und Ungarn, zuvor Zi- ihre Milch aus dem Bregenzerwald, aus vilgefangene in Frankreich, die über Sulzberg (!) beziehen. Der lange Trans- die Schweiz als „Repatriierte“ nach portweg verteuerte den Literpreis auf 5 Hause strebten. Als Staatsbürger der Kronen und 35 Heller und belastete 1920 ehemaligen Monarchie wurden sie in halbjährige das Stadtbudget um 100.000 Feldkirch verpflegt und untersucht und Kronen. (FA, 1920, Nr. 98, S. 1) ihre Schicksale kurz protokolliert. Für die Weiterfahrt erhielten sie Freifahrt- Durch die fortlaufende Milchpreiserhö- scheine. Da ihre Beförderung jedoch hung besonders hart getroffen waren nur mit Personenzügen erfolgte, gab es Kriegsinvalide und Rentner, denen sich für die meist mittellosen Migranten in das „Hilfswerk zur Milchverbilligung“ Feldkirch lange Wartezeiten und für die annahm. Zu diesem Zweck leistete die Stadt hohe Verpflegs- und Unterkunfts- Stadtgemeinde Feldkirch für die Zeit kosten. Die Schweiz hatte ihre Verpfle- vom 28. April bis Ende Dezember 1921 gung abgelehnt. einen monatlichen Beitrag von 12.000 Kronen. (SP, 28.6.1921). In die Schweiz wiederum versuchten sogenannte „Schweizer Heimkehrer“ Belastungen durch Flüchtlinge bzw. österreichische Staatsbürger aus der zusammengebrochenen Monarchie, Obwohl die Lebensmittelknappheit nun aus dem Militärdienst entlassen, eine allgemeine Folgeerscheinung des zurückzukehren. Die während des Krie- Zusammenbruches der Monarchie ges in Feldkirch geschaffene schweize- war, wurde diese in der Stadt Feldkirch rische Passstelle unterzog sie jedoch zusätzlich durch die Grenzlage zur strengen Kontrollen und verweigerte

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nicht selten die Rückkehr. Sie wurden „Aus der Stella Matutina: Das Pensionat vorübergehend in der Jahn-Turnhalle der Jesuiten sieht sich heuer aus Man- und im Gesellenhaus untergebracht, wo gel an Lebensmitteln gezwungen, über sie einen eigenen „Heimkehrerrat“ bil- Weihnachten eine vierwöchige Pause deten. (Volaucnik 2009, 61) (vom 10. Dezember bis zum 8. Jänner) in seinem Betrieb eintreten und die Die Stadt erhielt wenig Unterstützung, Zöglinge nach Hause ziehen zu lassen. weder vom Land noch vom Bund und Die langen Kriegsjahre hindurch war es beklagte: „Bei aller Opferwilligkeit, die ihm immer wieder gelungen, die Ernäh- die Bewohner Feldkirchs auszeichnet, rungsschwierigkeiten zu überwinden. muß doch der dringende Appell an Inzwischen wird sich der Stand der Din- die Landesregierung gerichtet werden, ge hoffentlich bessern.“ (VV, 5.12.1918). Feldkirch nach Möglichkeit mit diesen Invasionen zu verschonen und diese Eines der Hauptnahrungsmittel in Vor- Lasten etwas gleichmäßiger zu vertei- arlberg war die Kartoffel, doch auch ihre len, denn es erscheint ungerecht, dass Beschaffung machte größte Probleme: Feldkirch allein diesen ganzen Völ- 1919 war in dieser Hinsicht ein schwieri- kerwanderungsstrom aufnehmen soll, ges Jahr: Die ungünstige Witterung des während Städte wie Bludenz und Dorn- Sommers 1918 brachte einen wesentli- birn, Marktgemeinden wie Rankweil chen Ernteausfall bei den Grundstücken und Götzis davon vollständig verschont in den Nachbargemeinden. Die Kartof- bleiben.“ (FA, 8.3.1919, S. 1). felernte ergab 15.616 kg – 1917 waren es noch um 6.000 kg mehr gewesen. Von Auslandshilfe und schlechte Kartoffe- diesen 15.616 kg wurden 9.616 kg für die lernten Versorgung der Stadtbewohner abgege- ben, die restlichen 6.000 kg wurden als Als im Oktober 1918 beinahe jegliche Samen zurückbehalten. Pro Kopf der Zufuhr von Nahrungsmitteln aus Ös- Bevölkerung ergab die Ernte 2 kg - pro terreich und Ungarn ausblieb, konnte Jahr! (SP, 21.1.1921; Wanner 2000, 34) nur noch die Hilfe der Schweiz und Es wurden zwar Stockrüben als Ersatz Deutschlands eine Ernährungskata- für die Kartoffeln angeliefert, jedoch strophe, Hunger, verhindern. Die Le- reichten diese, ganz abgesehen vom viel bensmittel aus der Schweiz mussten geringeren Nährwert, bei Weitem nicht allerdings in Frankenwährung bezahlt aus, um die Stadtbewohner vor Hun- werden, was beim damaligen Stand der ger zu bewahren. Außerdem waren die teuren Valuta eine ganz wesentliche Er- Gelben Rüben stark von Fäulnis betrof- höhung der Lebenshaltungskosten zur fen. Die Aussichten bis zur neuen Ernte Folge hatte. Aus der Schweiz wurden 1919 waren nicht viel besser. Sie war nur Backmehl, Brot, Saatweizen, Hafermehl, „mittelmäßig“ und litt stark unter der Zwieback, Reis, Maisgrieß und Fett ge- Mäuse- und Engerlingsplage. liefert. (Böhler, 41-49) Es wurden in diesem Jahr auf den au- ßerstädtischen Grundstücken von Feld- Dass die Ernährungslage in Feldkirch kircher Bürgern insgesamt 23.208 kg wirklich schwierig war, geht aus dem Kartoffeln, 3.412 kg Obst, 1.551 kg Rüben folgenden Zeitungsbericht hervor: und Gemüse geerntet. Hiervon wurden

Seite 38 zur Versorgung der Stadtbewohner auf die amtliche Annullierung der 17.720 kg Kartoffeln an die „Lebensmit- Zwangsanforderungen von Schlacht- telstelle“ abgeliefert. Der Weizen war vieh zurückzuführen war. Feldkirchs vielfach „faulend“. (SP, 8.3.1921) Frauen protestierten im März 1920 zum wiederholten Male - die Fleischhauer 1920 besserten sich die Lebensmittelan- lieferten kein Fleisch. Die Demonstran- lieferungen für Feldkirch nur teilweise, tinnen zogen zum Rathaus und zur Be- obwohl es der Stadtverwaltung gelun- zirkshauptmannschaft und beruhigten gen war, zu den eigenen Ernteerträgen sich erst, als verfügt wurde, dass sie we- zusätzlich 20 Waggon Kartoffeln anzu- nigstens etwas Mehl und Fett bekamen. kaufen. Allerdings war ihre Qualität (Ebenhoch, 56) schlecht. Sie waren z.T. noch nass und mussten deshalb möglichst bald ver- Ersatz bot eine „Delikatesse“: wertet werden, teils gar als Tierfutter. Eine mit dieser Einfuhr beabsichtigte „(…) Büchsenfleisch. Ab 1. März wird Bevorratung über den Winter war somit bis auf weiteres jeden Freitag von 9 bis nicht möglich. 12 Uhr vormittags und von 2 bis 5 Uhr nachmittags Corned beef ausgegeben. Lebendvieh und Büchsenfleisch Betreffnis: 1 – 3 Personen je 1 Dose, 4 – 6 Personen je 2 Dosen, mehr als 6 Per- Während die Zufuhr an Schlachtkälbern sonen je 3 Dosen. Preis: 40 K pro Dose. auf den lokalen Märkten vor dem Ersten Ausweis: Käsekarte.“ Weltkrieg zur Zeit der Spätherbstmo- (FA, 1921, Nr. 8, S. 2) nate stets zugenommen hatte, war dies Die Stadt erwarb davon 500 Kisten bzw 1919 nicht mehr der Fall, obwohl nach- 24.000 Dosen. Sie wurden im Wochen- gewiesen wurde, dass im Land mehr abstand ausgegeben. Vieh als die dafür vorgesehenen Futte- rerträge vorhanden war. Die Ursache Durch das Schweizer Einfuhrverbot dafür war der Verkauf im Schleichhan- von Lebendvieh wurden in mehreren del zu hohen Preisen. (FA, 1919, Nr. 85, Vorarlberger Grenzorten, in denen sich S. 1). Als Folge konnten Lebensmittellie- Schlachthäuser befanden, Schlachtun- ferungen aus Deutschland, Italien und gen von jugoslawischem Exportvieh der Tschechoslowakei nicht angenom- vorgenommen. Die Stadtverwaltung men werden, weil die Viehstückanzahl Feldkirchs bemühte sich in ihrem eige- nicht aufgebracht werden konnte, die nen Schlachthof solche Schlachtungen als Kompensation für diese Lieferungen vorzunehmen, so etwa von ca. 1.000 verlangt worden war. Schweinen. Sie brachten der Gemein- de durch den Export von Fleisch in die Im Laufe des Jahres 1920 war wochen- Schweiz nicht nur eine gute Einnahme- weise kein Fleisch zu bekommen, was quelle, sondern für die Stadtbewohner

Kartoffel Mais Weizen Roggen Spelz Gerste Hafer 1918 1.457 633 59 3 2 54 26 Ar 1919 2.052 893 255 16 29 39 38 Ar

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einen nicht zu unterschätzenden „Er- es 250 mit einer Gesamtfläche von nährungszuschuss“, zumindest an In- 600 Ar, 1918 300 Schrebergärten mit nereien und Schweinefett. 750 Ar und 1919 351 mit der Fläche von 900 Ar. Während der Sommerzeit setzte man Die Erhöhung der Anzahl der An- die Schlachtungen aus. Im Herbst 1920 bauflächen schlug sich in einer wurde mit einem Schweizer ein neuer höchst willkommenen Steigerung Pachtvertrag abgeschlossen. Als Pacht- der Ernteerträge nieder - Siehe Kas- gebühr für die einjährige Nutzung des ten: Schlachthofes wurden 3.600 Franken vereinbart. Da zukünftig auch Großvieh Die von der Stadtverwaltung ange- geschlachtet werden sollte, wurde eine botenen Grundstücke entsprachen größere Schlachthofanlage in Massiv- jedoch bei weitem nicht der von der bauweise errichtet. (SP, 8.3.1921) Bevölkerung gewünschten Anzahl. Im Sitzungsprotokoll des Stadtrates Der Mangel an Fett war allgemein. Hin vom 20. März 1920 steht u. a.: und wieder erhielten die Feldkircher je- „(…) Herr Stadtrat Anton Gohm doch eine amtlich verordnete Zuteilung. nimmt das Wort und führt aus, Außer den rationierten Lebensmitteln dass ein großer Mangel an Anbau- kaufte die Stadtverwaltung im Jahr 1919 gründen herrsche, infolge dessen einen halben Waggon Margarine, ein ca. 60 Familien, die in der Stadt Weihnachtsgeschenk zum Preis von 160 wohnen und sich auf Schrebergär- Kronen pro kg. ten angemeldet haben, mit solchen nicht beteilt werden konnten.“ (SP, Schrebergärten lindern die Not 20.3.1920)

Nachdem sich bei Kriegsende die wirt- Das Bauamt als ausführendes schaftliche Lage verschlechtert hatte Organ der Stadtverwaltung trieb und die Ernährungsschwierigkeiten deshalb in der Folgezeit die Ver- größer wurden, mussten in den Kom- pachtung von Grundstücken an munen Grund und Boden als Anbauf- Familien voran. Nachfolgend ein lächen bestmöglich genutzt werden. Die Verzeichnis der im Jahr 1920 ver- Stadt Feldkirch stellte Bewohnern, die pachteten Gärten: keine eigenen Grundstücke besaßen, solche mitsamt dem erforderlichen Saat- 4 Energieversorgung gut zur Verfügung. Gasmangel durch Kohleknappheit So entstanden die städtischen Schre- Die Versorgung Vorarlbergs mit bergartenaktionen, die schon während Kohle erfolgte während des Krieges der Kriegszeit gestartet worden waren hauptsächlich durch Deutschland. Sie wurden in den entbehrungsreichen Als die deutsche Regierung 1917 die Nachkriegsjahren erst recht fortgesetzt Lieferungen einstellte, übernahm und ausgebaut. Die Stadtverwaltung das Land die Versorgung und Ver- stellte im Jahre 1919 Grundstücke im teilung. Es entstand zu diesem Reichenfeld und im Wegeler’schen Gute Zweck ein Ausschuss für Kohlen- dafür bereit. Im Kriegsjahr 1917 waren versorgung, und es wurden an wal-

Seite 40 darme Gemeinden, wie Feldkirch, Koh- Krieg verursachten Notlage Rechnung lenbezugskarten ausgegeben. Im Laufe zu tragen und jede Gaslampe und jeden des Jahres 1918 steigerte sich die Kohl- Gasofen freiwillig zu schließen. An- ennot, und im Winterhalbjahr 1918/19 stelle der Gasbeleuchtung kann elektri- war keine Kohle mehr zu erhalten. sche Beleuchtung eingerichtet werden, und das städtische Elektrizitätswerk Das Gaswerk der Stadt Feldkirch pro- hat den Auftrag, solche Einrichtungen duzierte Gas aus Kohle. Allmählich ungesäumt auszuführen. Anstelle von begann auch die im österreichischen Gasheizöfen kann Koksheizung treten, Arbeitsministerium zentral verwalte- denn Koks hat das Gaswerk derzeit te Kohlenabteilung die Kohlenzufuhr noch genügend vorrätig. einzuschränken, und von Ende Oktober 1918 an stockte sie infolge der politi- Der Gemeindeausschuss hat vorläufig schen Verhältnisse zur Gänze. Nun hieß Abstand davon genommen, die noch es sparen und noch einmal sparen. Die in Benützung stehenden Gaslampen zu Abgabe von „Kochgas“ an die Bevölke- sperren, aber den Preis für 1 m3 Leucht- rung blieb jedoch weitgehend aufrecht, gas auf K 2.- und für 1 m3 Einheitsgas weil das Gaswerk noch über eine Reser- auf K 1,20 erhöht. (…). Stadtmagistrat ve von 700 t Kohle verfügte. Da keine Feldkirch, am 9. Jänner 1919. Der Bür- Aussichten auf neue Kohlenlieferungen germeister: Unterberger.“ (FA, 1919, Nr. bestanden, musste diese Reserve jedoch 4, S. 3) „gestreckt“ werden. Der hohe Leuchtgaspreis wurde nicht Über die Ursachen des Gasmangels und nur durch die Kohlennot verursacht. die sich daraus ergebenden Konsequen- Auch die mangelhafte Leistungsfähig- zen wurde die Bevölkerung Anfang des keit des Gaswerkes hatte dazu beigetra- Jahres 1919 informiert: gen. Dieses konnte infolge seiner eher kleinen Anlage, seines kleinen Absatz- „Seit länger als zwei Monaten stockt gebietes und seiner ungünstigen Situie- die Zufuhrt von Gaskohlen infolge der rung mit den niedrigen Preisen der mo- Besetzung des Grubengebietes (Ruhr- derner eingerichteten und darum auch gebiet) durch feindliche Truppen, und leistungsfähigeren Werken des Unter- die amtliche Kohlenverteilungsstelle landes nicht konkurrieren. des Landeskomitees für soziale Fürsor- ge in Bregenz ist nicht imstande, Haus- Als der Vorrat an Gaskohle zur Neige brandkohle zu beschaffen, geschweige ging und die Kohlezentrale der Vorarl- denn Gaskohle. Um den Betrieb des berger Landesverwaltung im April 1919 städtischen Gaswerkes für solche Haus- immer noch keine Lieferungen in die haltungen möglichst lange aufrecht zu Wege leiten konnte, nahm die Gasnot in erhalten, die auf Kochgas angewiesen Feldkirch drastisch zu. sind, ist die Einschränkung der Gasab- gabe leider eine unabänderliche Not- Zunehmende Elektrifizierung und wendigkeit. „Heiznot“

Die geehrten Gasabnehmer werden des- Im Jahr 1872 ging das städtische Gas- halb höflich aufgefordert, der durch den werk mit seiner städtischen Gasbe-

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leuchtung in Betrieb. 1906 kam das galt die Maxime „sparen wo es möglich Elektrizitätswerk an der Ill hinzu. Zwei ist“. Deswegen wurden die Gebühren Jahre später beschloss die Stadtvertre- nicht mehr allmonatlich, sondern nur tung das Wasser- und Gaswerk mit dem mehr jeden zweiten Monat eingezogen, Elektrizitätswerk unter dem Firmenna- was eine merkliche Einsparung an Ver- men „Stadtwerke“ zusammenzufassen. waltungsarbeiten bedeutete. (Volaucnik 2006, 39 f) Das Elektrizitäts- werk begann 1908 mit einer eigenen In- Die von der Stadt gewünschte Umstel- stallationstätigkeit und einem Elektro- lung von Gas auf Elektrizität war aber handel und versorgte die umgebenden eine Kostenfrage und nicht nur vom gu- Gemeinden mit Strom. 1919/20 wurde ten Willen der Bevölkerung abhängig: das Stromnetz auf das Vorderland bis „(…) Dieser abnormale Gaspreis ver- Götzis ausgedehnt. (Pontesegger, 58 f) anlasst viele Hausbesitzer, die eine Die Stadtwerke waren mit ihren Werk- Gasbeleuchtung installiert haben, eine stätten während des Krieges auch von neue elektrische Beleuchtungsanlage überregionaler Bedeutung, da sie Ge- unter den derzeit bestehenden fast un- schosse und 8 cm-Schrapnells bearbei- erschwinglichen Preisen zu erstellen. teten. (Volaucnik, 73) Für die Hausbesitzer, welche ohnehin mit Steuern und Reparaturkosten zur Die unzulängliche Kohlenversorgung jetzigen Zeit genügend belastet sind, ist und die dadurch verursachte Gasknapp- derzeit eine elektrische Lichtinstallati- heit nötigten die Bevölkerung auf Elek- on unmöglich; außerdem ist das jetzige trizität auszuweichen. In der ersten Zeit Kriegsmaterial, das verwendet wird, nach dem Zusammenbruch der Mon- nicht besonders empfehlenswert (…).“ archie war die Umstellung noch preis- (FA, 1919, Nr. 9, S. 1) günstig. Dennoch, der Anschluss neuer Stro- Das Elektrizitätswerk konnte für sei- mabnehmer war in Feldkirch groß. ne Installationen nämlich vorhandene Kein Wunder, dass sich dadurch das Vorräte aufbrauchen, wodurch eine Un- Warenlager des Elektrizitätswerkes all- terschreitung der tatsächlichen Erzeu- mählich leerte und neue Materialien an- gungskosten möglich war. (SP, 8.3.1921) geschafft werden sollten. Trotz Streiks und Verkehrseinstellungen seitens der Obwohl infolge der enormen Verteue- Österreichischen Bundesbahnen und rung des gesamten Brenn- und Heiz- Schwierigkeiten bei der Beschaffung materials ein reges Interesse an elek- ausländischer Geldmittel für Warenim- trischem Strom als der zukünftigen porte gelang es das für die Erweiterung Leitenergie vorhanden war, war es den des Betriebsnetzes erforderliche Mate- Stadtwerken vorerst aus technischen rial zu besorgen. Innerhalb des Jahres und finanziellen Gründen nicht mög- 1919 vermehrte sich die Kapazität des lich, dieser gestiegenen Nachfrage zu städtischen Elektrizitätswerkes um 8,4 entsprechen. Beispielsweise mussten % auf 4648 kW und zwar von 32.174 auf Ende 1918 neue Anträge auf Stroman- 36.877 Lampen, von 3.111 PS der elekt- schluss aus Liechtenstein wie auch aus risch betriebenen Motoren auf 3.271 PS dem Vorarlberger Vorderland zurückge- und von 856 kW auf 875 kW bei Heiz- stellt werden. Auch in den Stadtwerken körpern und Bügeleisen. (SP, 21.1.1920)

Seite 42 Durch die vielen Lichtanschlüsse und zu erzeugen. Die Folgen des verlorenen die Wiederaufnahme des Betriebes Krieges sind es also hauptsächlich, wel- der Spinnereifabriken Carl Ganahl & che die eintretende Heiznot verschul- Co und Hämmerle in Gisingen sowie den.“ (FA, 1919, Nr. 96, S. 1) durch die Zunahme von kleinen Sti- ckereibetrieben stieg die Belastung des Diese Faktoren zwangen das städtische städtischen Elektrizitätswerkes enorm. Elektrizitätswerk dazu, alle Heizöfen Schließlich stellten die Spinnerei Gi- in der Stadt abschalten zu lassen. Dazu singen mit ihrem Laufkraftwerk und vermerkt der Feldkircher Anzeiger: das Frastanzer Elektrizitätswerk an der „Heiznot. Die Anzeige der Stadtwer- Samina die bisherige Stromzufuhr ein, ke Feldkirch, dass Ende Dezember alle weil diese ihre gesamte Stromproduk- elektrischen Heizöfen abgestellt werden tion für ihre Zuständigkeitsbereiche müssen, hat große Aufregung hervor- einsetzen mussten. Der folgende Strom- gerufen, und alle Schuld wird auf die mangel führte in der Stadt Feldkirch Verwaltung gewälzt. Die Aufregung ist im Winter 1919 zu einer „Heiznot“. Das begreiflich, denn bei der herrschenden Elektrizitätswerk besaß bei Niedrig- Heizmittelnot waren die elektrischen wasser der Ill wohl eine zuschaltbare Öfen eine Wohltat.“ Dampfturbine, welche aber wegen des herrschenden Kohlemangels nicht in Die Heiznot zu Ende des Jahres 1919 Betrieb genommen werden konnte. dauerte glücklicherweise nicht allzu lange an, denn anhaltende Regenfälle Zudem bestand ein behördliches Ver- im Dezember ließen den Wasserspiegel bot mit Dampf erzeugten Strom für der Ill wieder ansteigen. Im November Heizzwecke zu verwenden. (FA, 1919, 1920 mussten allerdings sämtliche elek- Nr. 95, S. 4) trischen Heizöfen vorerst in den Vorder- landgemeinden, dann auch in der Stadt „Trotzdem die beiden benachbarten abgeschaltet werden. Auch die Gewer- Werke die Lieferung von Zuschusskraft bebetriebe waren gezwungen, den einstellen werden, weil sie ihre eigene Stromverbrauch tagsüber massiv ein- Kraft selbst voll und ganz für Heizzwe- zuschränken oder die Arbeitszeit in die cke dienstbar gemacht haben bzw. Nacht hinein zu verlegen. (VV, 8.3.1921) dienstbar machen werden und trotz- dem das Gefälle des Elektrizitätswerkes Ein kleiner Teil der Bevölkerung konnte im Lauf der Jahre infolge Aufschotte- oder wollte nicht begreifen, dass man rung der Ill verloren hat, wäre das Elekt- sich den Einschränkungen, die sich im rizitätswerk in der Lage, nicht nur seine Jahr 1920 infolge der Trockenheit und Dauerverpflichtungen glatt zu erfüllen, der Kohlennot ergeben hatten, unter- sondern auch sämtliche elektrischen werfen musste. Dies geht aus folgendem Heizöfen, denen übrigens ein Bezugs- Zeitungsbericht hervor: recht nur von Monat zu Monat zusteht, zu befriedigen, wenn es genug Kohlen „Die Stadtwerke Feldkirch kündigen hätte und wenn im Sinne der jedes Jahr schwere Strafen für jene an, welche die (auch heuer wieder) veröffentlichten elektrischen Öfen nicht vorschriftsmä- behördlichen Verordnungen es erlaubt ßig ausschalten. Ob sie dazu ein Recht wäre, aus Kohlen elektrische Heizkraft haben, darüber darf man berechtigte

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Zweifel hegen. Jene Heizstrom-Abneh- „Die Steigerung der Erzeugungskosten mer, die zuerst waren, haben ohne sol- und Lebenshaltung hat eine derartige che Bedingungen den Anschluss einge- Verteuerung aller Ausgaben herbei- gangen; etwas anderes könnte es sein geführt, dass nur noch die Bezüge der bei den erst später Angeschlossenen, bei leitenden Beamten unter dem 1000fa- denen der Anschluss unter bestimmten chen liegen, alles andere bewegt sich Bedingungen erfolgte. Indessen mag zwischen dem 1000 bis 4500fachen. Die zugegeben werden, dass außerordent- Inflation des Jahres 1922 war immens! liche Umstände besondere Maßnahmen erfordern, und jeder Vernünftige ordnet Torf und Briketts als Energiealternative sich solchen unter. Es muss aber auch Durch die Einschränkungen des Gas- zugegeben werden, dass man beim bes- und Elektrizitätswerkes kam es zur ge- ten Willen darauf vergessen kann, den steigerten Nachfrage von Brennholz. Im Ofen auszuschalten. Und da erscheinen Jahre 1919 war diese so groß, dass die derart hohe Strafen vollkommen unbe- Holzabgabe in Klaftern an Nichtbürger rechtigt. – Wenn übrigens Kraftmangel der Stadt Feldkirch vollständig einge- besteht, dann erscheint die vor etwa 2 stellt werden musste. (SP, 21.1.1920) Da Monaten von den Stadtwerken erfolgte Brennholz derart teuer geworden war, Anpreisung von elektrischen Kochplat- beschloss die Stadtvertretung im Jahre ten geradezu als eine Ironie.“ (FA, 1920, 1920 auf den städtischen Grundstücken Nr. 94, S. 2) in der benachbarten Gemeinde Alten- stadt Torf abzubauen. Der Brennstoff Darauf antworteten die Stadtwerke aus vermoderten Pflanzen lagerte vor Feldkirch u.a. so: allem in der Parzelle Nofels im Schel- „(…)Es wird gerne zugegeben, dass lenberger Ried. Im Jahr 1816 wurde dort beim besten Willen die Ausschaltung mit dem „Torfstechen“ begonnen. (Fiel, vergessen werden kann. Es muss aber 193-195; FA, 16.6. 1920) andererseits gefordert werden, dass die Zeit der Abschaltung unbedingt und Torf, „von vorzüglicher Beschaffenheit“ ausnahmslos eingehalten wird, denn und in 1,5 m Tiefe, wurde von Nofler nur dadurch ist es möglich, in den an- Torfstecher an die Staatsbahn und vor deren Stunden die elektrische Heizkraft allem an jene in Feldkirch wohnenden vorläufig noch abgeben zu können. Der Personen zum Selbstkostenpreis abge- Verwaltungsrat ist nicht in der Lage, geben, die kein „Bürgerholz“ oder keine irgendeine Beanständigung nach dem eventuellen Zuweisungen von Brenn- guten Willen zu untersuchen (…) Im material durch ihre Arbeitgeber erhiel- Übrigen muss jeder einzelne in solchen ten. Zeiten der Not nicht nur an sich selbst, sondern auch an die Allgemeinheit den- Die Torfgewinnung übernahm das ken.“ (FA, 1920, Nr. 95, S. 2) Stadtbauamt. Im Jahre 1920 wurden 588.000 Stück gestochen. Diese Zahl Die ständig und immer rascher fort- stieg in den folgenden zwei Jahren bis schreitenden Verteuerungen bildeten auf 700.000 Stück an. (SP, 8.3.1921) auch für die Verwaltung des städtischen Elektrizitätswerkes ein großes wirt- Auch die Österreichische Nationalver- schaftliches Problem: sammlung wollte mit einem eigenen

Seite 44 Gesetz die Torfgewinnung als Alterna- 5 Soziale Lage tive zu fehlendem Brennholz und feh- lender Kohle sicherstellen: Sie beschloss Öffentliche Förderung mildert Woh- die Enteignung von in öffentlichem In- nungsnot teresse stehender torfhaltiger Grund- stücke, um eine Torfversorgung der Be- Es gab verschiedene Ursachen für die völkerung garantieren zu können. (VV, Wohnungsnot jener Jahre. Zum einen 21.1.1920, Nr. 16, S. 1) lag die gesamte private Bautätigkeit während der Kriegszeit darnieder. Dazu Eine andere Möglichkeit war die Eigen- kamen die schwierige Materialbeschaf- produktion von Briketts: fung und die anhaltenden Teuerungen. „Die Kohlennot wird noch geradezu un- Demgegenüber standen Hunderte von erträglich, die Bevölkerung leidet sehr Wohnungssuchenden, welche unfrei- unter diesem Mangel an Heizmaterial, willig durch ihre Dienstverpflichtung insbesondere jetzt, da die Witterung in Feldkirch leben mussten, wie z.B. die sich bereits derart verschlechterte, dass Beamten des Zollamtes, der Brief- und man kaum damit rechnen kann, vor 5 Paketzensur und die vielen Eisenbahn- – 6 Monaten wieder wärmere Tage erle- bediensteten. ben zu können. Wie sich aber das nötige Heizmaterial beschaffen? Diese Fra- Zwischen 1910 bis 1920 nahm in Feld- ge beschäftigt heute wohl jedermann, kirch die Bevölkerung um 9,1 % ab. trotzdem sie leicht zu beantworten ist: (FA, 17.31920, Nr. 22, S. 1) Dennoch gab Wenn man kein Heizmaterial zu kaufen es Wohnungsnot. Einige Male mach- bekommt, besorgt man sich es selbst! – te das Wohnungsamt von ihrem Recht Man konnte in letzter Zeit davon lesen, Gebrauch, Wohnungen zu beschlagnah- dass Studenten und Hochschüler in men. Es gab aber auch Fälle einer frei- Kohlegruben fuhren und sich dort ih- willigen Überlassung von Wohnungen ren Bedarf an Kohle selbst deckten. Dies durch Privatpersonen bzw. von Institu- ist natürlich nicht für die Allgemeinheit tionen: Im Jahre 1919 wurden z.B. folgen- möglich, wohl aber kann sich jeder aus de Wohnungen zur Verfügung gestellt: Abfällen aller Art, auch Laub, Stroh, Pa- vier im ehemaligen „Philosophenhaus“ pier, Sägemehl, Kohlenstaub etc., das der Patres Jesuiten im Reichenfeld, drei sich jeder Haushalt leicht beschaffen Wohnungen im Leone-Haus in der kann, mit Hilfe einer Brikett-Presse Schmiedgasse und je eine Wohnung der selbst ein vorzügliches Brennmaterial Fabrikanten-Familien Getzner, Gisinger erzeugen. Solche Brikett-Pressen und und Tschavoll. fertige Briketts sind bei der Firma Hans Manhartsberger in Feldkirch, Mont- In den Folgejahren bemühte sich die fortstraße 12, zu besichtigen und kön- Stadt Feldkirch durch den Einbau von nen diese Apparate, die allseits warm 13 Wohnungen in acht Häusern die empfohlen werden, bestellt und be- Wohnungsnot zu mildern und stellte zogen werden. Der niedrige Anschaf- auch Bauplätze den Baugenossenschaf- fungspreis (36 K pro Stück) ermöglicht ten unentgeltlich zur Verfügung. Au- auch ärmeren Familien den Bezug der- ßerdem stellte sie für private Bauwer- selben.“ (FA, 15.11.1919, Nr. 92, S. 2) ber Kapital zu einem geringen Zinssatz bereit. Der Baufirma Hilti wurde durch

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Beistellung von Holz zu ermäßigten kaum möglich, die vielen Kriegsheim- Preisen und kostenlose Erstellung von kehrer zu beschäftigen. Aber schon Hausanschlüssen für Gas, Wasser und 1921 hatten sich Industrie und Gewer- Strom der Bau eines Wohnhauses für be dermaßen erholt, dass die Handels- Firmenangehörige ermöglicht. (SP, kammer in Feldkirch meldete, dass eine 25.1.1921) Arbeitslosigkeit nicht zu bemerken sei. (Feurstein, 30) Dennoch war eine nach Maßnahmen gegen Arbeitslosigkeit Möglichkeit produktive Arbeitslosen- fürsorge sinnvoll. Arbeitslose wurden Arbeitslosigkeit war zum allergrößten per Dekret für öffentliche Notstands- Teil eine Folgeerscheinung des allge- arbeiten eingesetzt. Solche gab es bei- meinen wirtschaftlichen Rückganges. spielsweise im Straßenbau. Durch die Umstellung der Industrie auf Kriegswirtschaft in den Jahren 1914 bis Die Stadt Feldkirch hatte zu diesem 1918 kam es nach dem Ende des Krie- Zweck bereits 1919 die Verlängerung ges, als militärische Güter nicht mehr der Schillerstraße vorgenommen, wor- gefragt waren, zu einem wirtschaft- über zu lesen war: lichen Stillstand in Unternehmen, in „(…) Das Unwahrscheinliche ist nun ein- Feldkirch traf es die Textilindustrie. Die getreten. Die Stadt hat eine Notstands- Umstellung auf Friedenswirtschaft war arbeit in Angriff genommen, indem sie jedoch sehr erschwert: Die meisten Roh- die Schillerstraße, die von der Kaiser stoffe mussten nun eingeführt und neue Franz Josef-Brücke gegen das Lehrer- Handelsbeziehungen geschaffen wer- seminar hinführt, bis zu diesem ver- den. Energiekrisen konnten nicht oder längern läßt. Dieses Unternehmen bot nur unzureichend bewältigt werden. Arbeit, und zwar zugleich wirtschaft- Die Kaufkraft war außerdem gering. Es lich nützliche! Ging nämlich dabei auch war daher für die Unternehmen vorerst Kulturgrund verloren, so wurde solcher auch wieder gewonnen, indem man die Fruchterde auf dem Schattengrunde am Finanzgebäude ausbreitete und so einen ziemlich großen Acker schuf, worauf die Stadt wohl Kartoffeln pflanzen wird (…).“ (VV, 20.2.1919)

Weitere städtische Notstandsarbeiten waren der Bau der Ardetzenberg-Stra- ße, der Neubau des Wuhrs an der Ill, der Bau eines Unterwasserkanales zwischen dem Elektrizitätswerk und der Kraftwerksanlage der Firma F.M. Hämmerle in Gisingen. (Kundmachung der Landesregierung vom 21.6.1922; SP, 25.1.1924)

Unterwasserkanal

Seite 46 Karitative Vereine, Frauen und Aus- zum Getreideanbau. Feldkirchs Bevöl- landshilfe kerung und Fabrikanten unterstützten den Verein sehr. (Wolf, 199-201) Auf Grund der fehlenden staatlichen Sozialfürsorge lastete diese auf den Die schlechte Wirtschaftslage motivier- Schultern des Landes, der Gemeinden te zum Zusammenschluss verschiede- und privater karitativer Vereine und sie ner Interessensgruppen zu Vereinen: finanzierte sich auch durch die Opfer- Es gab Bienenzüchter, Ziegenzüchter, bereitschaft und Freigebigkeit von Pri- Hühnerzüchter. vatpersonen. Die Stadt stellte Mittel aus ihrem Budget zur Verfügung, und spe- Der folgende Zeitungsausschnitt be- ziell der „Armenfond“ wurde durch die richtet über einen dieser Vereine: Hundetaxe, Tanzlizenzen, Strafgelder „Feldkirch, 16. März 1920 - Ziegen- und die „Lustbarkeitssteuer“ gespeist. zucht. In den harten Zeiten von heute Letztere war von Wirten und Saalbesit- hat die Ziege für die Volksernährung zern abzuführen und bezog sich auf die eine große Bedeutung gewonnen. Die- jeweils verkauften Eintrittskarten bei sem Umstande entspricht auch der Preis Veranstaltungen. Städtische Aufsichts- der Ziegen. Eine ‚Kuh des kleinen Man- organe waren berechtigt, die Unterla- nes‘ kostet heute 1500 bis 2000 Kronen, gen der Unternehmer einzusehen. (FA, ein Vermögen, das zu erhalten das ver- 18.12.1919) nünftige Bestreben eines jeden Ziegen- besitzers sein muss. Der Zusammen- Noch während des Krieges wurde im schluss der Ziegenbesitzer, wie er im Jahr 1916 das „Silberne Kreuz“ ins Le- Gerichtsbezirk Feldkirch bereits erfolgt ben gerufen. Die Gründungsabsicht ist, kann nur begrüßt werden. Die neu- war, die Bevölkerung des ganzen Lan- en Ziegenhalter können von den alten des für die Lösung des Problems der In- Züchtern Rat und Beistand holen. Un- validenfürsorge zu gewinnen. Bis zum ser Verein zahlt an seine Mitglieder für Untergang der Monarchie betrieb der gefallene und notgeschlachtete Ziegen Verein überwiegend Stellenvermittlung eine Entschädigung aus, im abgelaufe- für Kriegsinvalide. Mit dem Inkrafttre- nen Jahr waren das 3.282 Kronen.“ (VV, ten des Invalidenentschädigungsgeset- 19.3.1920). zes vom 1. Juli 1919 wurde das Silberne Kreuz auf private Fürsorgetätigkeit be- Um die notleidende Bevölkerung zu un- schränkt. Es hatte sich drei Aufgaben terstützen, trafen aus der Schweiz und zum Ziel gesetzt: Die Aufstellung von aus Deutschland sog. „Liebesgaben“ in Vertrauensmännern, die Vermittlung Feldkirch ein, welche von einem eige- freier Stellen und die Unterstützung nen Ausschuss verteilt wurden. Aus der der Invaliden bis zur Erlangung einer Schweiz kamen Kleider und Wäsche, Verdienstmöglichkeit. Auch sorgte es verschiedene Lebensmittel und vor al- sich um die Beschaffung von Wäsche, lem Kartoffeln und Mais. (Wolf, 49 f) Kleidern, Schuhen, Prothesen. Fachge- rechte Aufklärung erfolgte im privaten Eng gestalteten sich ab 1920 die Kontak- Gemüse- und Pflanzenanbau. So wur- te zum schwäbischen Allgäu. Erschre- den verschiedene Weiterbildungskurse ckende „Beobachtungen“ schwäbischer initiiert, etwa zur Obstverwertung und Touristen im Sommer 1919 in Vorarlberg

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führten zu umfangreichen Hilfsleistun- gen. „In den Gasthöfen war kein Brot, keine Milch, selten Mehlspeisen oder Gemüse, häufig sogar kein Fleisch zu bekommen.“ (Wolf, 50) Zentrum der Aktionen war Biberach. Von dort wur- den Mehl, Kartoffeln, Dörrobst, Eier, Fett usw. geliefert. Es entstand auch ein „Kinderhilfswerk“. Auf diesen Kon- takten aufbauend bildete sich 1920 der „Wirtschaftsverband Schwaben-Vorar- Kinder-Ferienkolonie Amerlügen lberg“, an welchem Pfarrer Wendelin Gunz aus Feldkirch-Tisis maßgebend beteiligt war. Ihm verdankten die Ar- ten sich mit mehreren anderen hochge- men Feldkirchs sogar eine „Sonderakti- schätzten Persönlichkeiten an die Spitze on“ - einen Waggon von Lebensmitteln. der in den genannten Bezirken einge- (Wolf, 50-52) Die schwäbischen Liefe- leiteten Sammlung von Liebesgaben. rungen beinhalteten Kleidungsstücke, (…) Der Freunde und Stammesgenos- Wäsche und Stoffe, ferner Lebensmittel, sen in der Not helfend zu gedenken, ist sogar Schokolade, Kartoffeln, Gerste, echte Schwaben-Alemannenart.“ (VV, Äpfel und Dörrobst. Sie wurden an 600 18.2.1920) bis 1400 bedürftige Personen verteilt, Kartoffeln an sämtliche Bewohner. Ein aktiver heimischer Verein, der sich vor allem der Tätigkeit auf karitativem Diese „Liebesgaben“ waren eine nicht Gebiete widmete, war der im Mai 1920 zu unterschätzende Hilfe für die Notlei- auf Anregung von Bf. Waitz gegrün- denden: dete „Katholische Frauenbund“. Seine „Feldkirch, 12. Februar 1920. - Liebes- Mitglieder halfen in der in Feldkirch gaben. In den letzten Tagen langte aus eingerichteten „Notstandsküche“. Hier Saulgau und Waldsee je ein Wagen Le- erhielten „Minderbemittelte“, Rentner bensmittel, darunter vor allem Mehl, und Arbeitslose ein warmes Mittages- Getreide, Kartoffeln und Obst hier ein sen. Außerdem betrieb der Frauenbund (…) Gar manches von Not und Sor- Jugendfürsorge, eine „Nähstube“, und ge gedrücktes Mutterherz atmete auf er erzeugte auch Spielwaren. Obfrau die frohe Kunde hin wieder leichter war Pauline von Wilburger. (Ulmer/ auf. Wem es rätselhaft erscheinen soll- Getzner, 382; FA, 8.5.1920 und 4.6.1921) te, dass gerade die Stadt Feldkirch so reichlich bedacht wurde, dem sei das Aus einem in der Generalversammlung Rätsel gelöst. Frau Fuchshuber, Bildhau- dieses Vereines abgegebenen Tätigkeits- ersgattin in Althausen, welche Bande bericht geht hervor, wie vielfältig die lieber Erinnerungen mit Feldkirch ver- Hilfe des Katholischen Frauenbundes binden, und Herr Doktor Anton Sinz in war: Waldsee, der einen Großteil seiner gol- „Zu Weihnachten wurden 55 Bedürftige denen Jugendjahre im Studierstädtlein mit Lebensmitteln und teilweise auch verbrachte und auch später gar oft bei mit Kleidern beschenkt. Im Februar ge- seiner lieben Mutter hier weilte, stell- langten an 20 Parteien und zu Ostern

Seite 48 des katholischen Frauenbundes, Frau Wilburger: „Nach Aussage von Fach- männern sei eine Säuglingsfürsorge in Feldkirch überflüssig!“ Daraufhin grün- deten im Juni 1921 Feldkirchs „deutsche Frauen“ ein eigenes Komitee unter der honorigen Obfrau Von Furtenbach, in welchem auch die Gattin eines sozialde- mokratischen Stadtrates vertreten war. (FA, 4.6.1921)

Die Nachkriegsnot traf auch hilfsbe- dürftige, alte Menschen. 1919 entstand unter Gymnasialdirektor Karl Bobleter ein „Altersheimausschuss“. Bisher dien- te eine sogenannte „Einpfründung“ im Pfarrer Josef Häusle städtischen Spital als Voraussetzung für eine Unterkunft – „bei vielen eine mehr oder weniger begründete Abneigung“. an 51 Parteien Geldspenden zur Vertei- Die Initiatoren dachten dabei an Feld- lung. Das Erholungsheim Maria Rast in kircher Bürger, im Besonderen jedoch Batschuns beherbergte im abgelaufenen an „kleine Rentenbesitzer und Pensio- Sommer 36 Frauen und Mädchen, die nisten, die in die bitterste Not geraten“ sich in der guten Luft bei aufmerksamer waren. (FA, 7.2.1920) Durch freiwillige Bedienung erholen konnten. Die Preise Spenden gelang 1923 die Eröffnung des waren mäßig, einige Personen wurden Altersheimes in der Kreuzgasse. Ent- sogar unentgeltlich verpflegt. Der ganz scheidend wirkte Pfarrer Josef Häusle, beträchtliche Erlös aus der Nikolausfei- der Gründer des katholischen Lehrerse- er wurde zum Ankauf von Lebensmittel minars, der sein eigenes Haus der Stadt und Holz verwendet (…).“ (VV, 8.6.1922) zum Geschenk gemacht hatte. (Wanner 2000, 77) Die katholischen Frauen reagierten auf die Konkurrenz durch den aktiven Kinder im Elend „Deutschen Frauenverein Feldkirch“, eine Organisation der Deutschnationa- Von der Wirtschaftskrise stark betroffen len Volkspartei. Der Verein hatte sich waren Kinder, vor allem aus den sozia- die Fürsorge armer Wöchnerinnen und len Unterschichten. Ihnen zu Hilfe kam Säuglinge zum Hauptziel gesetzt und seit Juni 1919 das „Amerikanische Kin- unterstützte Bedürftige mit Kleidung derhilfswerk“ mit seinen Kinderaus- und Nahrung. Die Frauen, die mit öf- speisungen. Die Eltern bezahlten pro fentlichen Veranstaltungen im Saalbau Kind und Woche im Jahr 1922 80 Kro- auf sich aufmerksam gemacht hatten, nen. Daran nahmen bis zu 450 Kinder hofften auf finanzielle Hilfe durch die teil. Außerdem wurden große Mengen Stadt und den christlichsozialen Bür- an Nahrungsmitteln und Kleidungsstü- germeister Anton Gohm. Doch es kam cken gespendet, die in Feldkirch auch zu einer Absage durch die Obfrau an Schüler des Lehrerseminars, des St.

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Josefs-Instituts der Kreuzschwestern und an die Kinder-Ferienkolonie Amer- lügen verteilt wurden. (FA, 21.8.1920) Für die Kinder der städtischen Volks- schule bestand neben der „Wärmestu- be“ eine eigene „Schulküche“, die durch das Entgegenkommen des Ortsschul- rates und „edler Wohltäter“ ermöglicht wurde. (FA, 25.6. 1921; Wanner 2000, 76)

Das 1914 eröffnete städtische Waisen- Gasthof Rössle haus für Kinder unter 14 Jahren diente „religiöser und sittlicher Erziehung“ von Waisenkindern beiderlei Ge- Waisenkinder. Sie verblieben dort drei schlechts und war in der Widnau unter- Wochen, und die Hälfte der Eltern be- gebracht. Oberstes Erziehungsprinzip zahlte für den Aufenthalt täglich und sollte sein, nicht „anstaltsmäßig“, son- pro Kopf 2,50 Kronen. Die Nachfrage dern nach „Familiengrundsätzen“ vor- war nach Kriegsende groß. Dank der zugehen. (Wanner 2000, 78) großzügigen finanziellen Unterstüt- zung durch Private aus der städtischen Gleichzeitig kam Hilfe aus Schwa- Oberschicht und durch die Stadt Feld- ben, wo unter der Leitung von Pfarrer kirch konnte das Heim erweitert wer- Gebhard Wendelin Gunz aus Tisis und den. 1928 entstand für die Einrichtung Handelskammersekretär Karrer samt gar eine eigene „Theresien-Kapelle“. Gattin ein Kinderhilfswerk entstand. Die Betreuung der Kinder besorgten Hilfsbedürftige Kindern fuhren ins ag- die Barmherzigen Schwestern. (Ulmer/ rarische Allgäu, wo die Kleinen durch- Getzner, 394-397; FA, 16.9.1922) schnittlich 10 bis 12 Wochen zur Erho- lung blieben. (Wolf, 50 f; FA, 17.4.1920) Nicht weit davon entfernt befand sich im Saminatal das Ferienhaus des „Deut- Hilfe kam schon während des Krieges schen Volksvereins Feldkirch“, das auch von der „St. Galler Hilfsaktion für „Tobelhaus“, ein Geschenk der Stadt die österreichische Jugend“. Kinder er- Feldkirch. Der Aufenthalt vor allem für hielten einen Ferien-Aufenthalt in der Kriegerwaisen und Invalidenkinder Schweiz: „(…) denn die gute Schweizer- war kostenlos. „Hunderte arme, bleiche luft, unsere frische Milch und Milchpro- Geschöpfe wurden durch die Einrich- dukte können auf keine andere Weise tung gleichsam dem Jammertale ent- den Kindern vermittelt werden.“ Nach rückt und in das Märchenland „Tisch- Feldkirch kamen Lebensmittel, Kleider, lein deck dich“ geführt. Unzählige Wäsche und Schuhe. (Böhler, 51 f) Muttersorgen wurden vorübergehend wenigstens gestillt und unschätzbare Aber auch in der Umgebung von Feld- Volkskraft erhalten oder neu geschaf- kirch gab es Möglichkeiten einer Kin- fen.“ (Wolf 50 f) derfürsorge. Es bestand seit 1910 die „Ferienkolonie“ Amerlügen (Matthaus) Im Jahr 1923 hatte sich die wirtschaft- für Feldkirchs Invaliden-, Witwen- und liche Lage derart gebessert, dass es zu

Seite 50 einer vielbeachteten Fraueninitiative und in der Marktgasse wurde ein „Spe- kam: Sie ging vom Feldkircher Anzeiger zerei- und Gemischtwaren-Geschäft“ und vom lokalen „Deutschen Frauenver- eröffnet. 1922 entstand in der Neustadt ein“ aus und erstreckte sich schließlich ein „Bäckerei- und Viktualienhandel“, auf das gesamte Land Vorarlberg. Ihr der die Lieferung von „gutem Weiß- schlossen sich katholische Frauenbünde brot“ versprach - eine ausgesprochene an. Die Frauen fassten den Plan, Kinder Rarität. Und schließlich etablierte sich aus dem Ruhrgebiet um „Gotteslohn“ in in der Schmiedgasse Julius Meinl sogar die Obhut Vorarlberger Pflegeeltern zu mit einem eigenen „Postversand“. Er bot geben. Im Mai 1923 traf der erste Trans- Köstlichkeiten an, die man seit acht Jah- port von 640 „Ruhrkindern“ in Vorarl- ren nicht mehr zu Gesicht bekommen berg ein. (Ebenhoch, 58 f) hatte: Kaffee, Schokoladen, Pralinees, Keks, Öl, Weine und Liköre. (FA, 5.3. 6 Konjunkturaufschwung und 20.8. 1921; 25.2. und 17.6. 1922)

Im Herbst 1921 setzte eine Hyperinfla- Überraschend war auf dem freien Markt tion mit monatlichen Preissteigerungen auch wieder „prima Fettkäse“ aus Tos- von über 50 % ein. Im Sommer 1922 er- reichten die Lebenshaltungskosten das 14.000-fache der Vorkriegszeit. Dies hat- te für kurze Zeit wirtschaftsstimulieren- de Auswirkungen und führte zur Flucht in Waren - der Handel florierte. (Feur- stein, 30) So wurde etwa der Schwei- nemarkt in Feldkirch wieder eröffnet. In der Neustadt bot die Firma Joh. Jos. Gohm „Hochfeine Flaschenweine“ an

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ters zu erhalten und dies in solchen mit Hilfe des Völkerbundes zeigten sich Mengen, dass er diesen selbst Gastwir- Ende des Jahres 1922 erste Anzeichen ten und Händlern liefern konnte. (FA, eines lang erhofften stabilen Konjunk- 21.5.1921) turaufschwunges: Die Spareinlagen stiegen wieder an, obwohl die Krone Von der kurzfristigen Inflations-Hoch- noch stark abgewertet war. Die Spar- konjunktur profitierten auch die Gast- kasse Feldkirch verzeichnete von Okto- betriebe: Der „Ochsen“ bot schon 1920 ber bis Ende Dezember einen Zuwachs trotz allgemeinem Fleischmangel Blut- von 302 auf insgesamt 651 Spareinlagen. und Leberwürste samt Kesselfleisch an. Der Handel war „ziemlich lebhaft“. (FA, Der Gasthof „Rössle“ lockte mit Bier, 30.12.1922 und 24.2. 1923) Flaschenweinen, Kaffee, Chokoladen und Kanditen. Die „Bahnhofwirtschaft“ Deutlich sichtbar war die wirtschaft- überbot im Jahr 1923 alles mit „feinen, liche Belebung im Jahr 1924: Auf dem frischerzeugten Debreziner-Würsten Feldkircher Wochenmarkt waren But- und prima Märzen-Bier“. Und da es be- ter, sämtliche Käsesorten und sogar Eier reits einen Überschuss an Fleischwaren erhältlich – ein Stück kostete 2.300 Kro- gab, nahm man wieder Rücksicht auf nen. Neue Silbermünzen kamen in Um- den fleischlosen katholischen Freitag - lauf, Gesellschaftsreisen ins Ausland in die Marktlücke sprang der Gasthof wurden angeboten - nach 10jähriger „Hecht“ in der Neustadt mit „prima Unterbrechung, und am Kirchplatz ent- Stockfisch und Schnecken – zu jeder Ta- stand das „Österreichische Reise- und geszeit“. (FA, 6.1. und 13.1. 1923) Verkehrsbureau“.

Das reichhaltige und teils exklusive An- Dazu kam der wachsende lokale und gebot macht deutlich, dass es in Feld- ausländische Autoverkehr. Doch er kirch ein soziales Zweiklassensystem wurde auf Feldkirchs Straßen zur gab, mit Reichen, die sich trotz Wirt- „Landplage“. Außerdem hatten die Au- schaftskrisen gehobene Bedürfnisse tomobilisten „auch nicht eine einzige leisten konnten und auch ihre gehei- lumpige Papierkrone auf Vorarlberger, men Bezugsquellen besaßen, die nicht geschweige Feldkircher Gebiet zurück- auf Lebensmittelkarten und öffentliche gelassen, denn die Herrschaften suchen Rationen angewiesen waren und die möglichst schnell die Nord- oder West- auch über Schweizer Franken verfügt grenze im Sturme zu erreichen“! Abge- haben müssen. Damit war für sie auf sehen von den gewaltigen Staubwirbeln dem Schwarzmarkt ohne Preiskontrolle wurden die Fußgänger „durch ein Getu- das Meiste erhältlich. Die überwiegende te, das an Kriegsgebläse der Kongo- und Mehrzahl der Bewohner jedoch darbte. Senegalneger erinnert“ in ihrer besinn- Zur selben Zeit war im Feldkircher An- lichen Ruhe gestört. Es handelte sich zeiger zu lesen: „Unser tägliches Brot ist dabei nicht etwa um Lastkraftwagen, von Tag zu Tag schwerer zu beschaffen, sondern um „Luxusautos“. Die Feldkir- der Preis steigt, die Krone sinkt.“ Kinder cher waren umso mehr empört, weil sie bettelten auf den Straßen. (FA, 10.9.1921) sich kaum das Benzin für das Feuerzeug leisten konnten. (FA, 19.5 und 28.7.1922) Nach der Sanierungsaktion des österrei- chischen Bundeskanzlers Ignaz Seipel Die Sanierung der Währung war An-

Seite 52 cus. Schriftenreihe der Rheticus-Gesellschaft, Bd. 55. Feld- fang 1924 abgeschlossen. Die Sparkasse kirch 2012. S. 7-22. der Stadt Feldkirch gab in einer Kund- Sandgruber, Roman: Österreichische Geschichte. Ökono- mie und Politik. Wien 1995. machung Ende Februar bekannt, dass Scheffknecht, Wolfgang: Kriegsflüchtlinge und Kriegsge- fangene in Vorarlberg. In: Wanner, Gerhard (Hg.): 1914-1918. von nun an die Schillingwährung ein- Vorarlberg und der Erste Weltkrieg. Dornbirn 1989. S. 62-71. geführt werde. Die Umstellung auf die Tremel, Ferdinand: Wirtschafts- und Sozialgeschichte Ös- terreichs. Wien 1969. neue und nun stabile Währung war für Ulmer, Andreas / Vallaster Christoph: Bedeutende Feldkir- alle Konsumenten „ungewohnt“, was cher. Bregenz 1975. Ulmer, Andreas / Getzner Manfred A.: Die Geschichte der die Preise auf dem Feldkircher Wochen- Dompfarre St. Nikolaus Feldkirch, Bd. 2. Feldkirch 2000. markt demonstrieren: Volaucnik, Christoph: Die Geschichte des Elektrizitätswer- kes. In: 100 Jahre Stadtwerke Feldkirch. Vierteljahresschrift der Rheticus-Gesellschaft 2006/2. Feldkirch 2006. 1924 1925 Volaucnik, Christoph: Der Erste Weltkrieg. In: Aus alten Zeiten. Vierteljahresschrift der Rheticus-Gesellschaft 2009, Heller/Krone Groschen/Schilling 2/3. Feldkirch 2009. S. 54-59. pro kg Volaucnik, Christoph: November 1918, von der Monarchie zur Republik. In: Aus alten Zeiten. Vierteljahresschrift der Kartoffel 2.600 0,30 Rheticus-Gesellschaft 2009, 2/3. Feldkirch 2009. S. 59-64. Tafelbutter 66.000 6,00 Wanner, Gerhard: Die Auswirkungen der Kündigung des österreichisch-liechtensteinischen Zollvertrages auf die Fetter Käse 38.000 3,80 vorarlbergisch-liechtensteinischen Beziehungen zwischen Weißkraut 4.000 0,65 1919 und 1924. In: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Bd. 73. Vaduz 1973. S. 59-110. 1 Stück Ei 2.800 0,18 Wanner, Gerhard: Die Geschichte der Vorarlberger Kam- mer für Arbeiter und Angestellte 1921-1938. Feldkirch 1977. Wanner, Gerhard: Vorarlberg zwischen „Schweizer Hoff- Quellenverzeichnis: nung“, Hungersnot und „Bolschewistenfurcht“ (1918/19). FA = Feldkircher Anzeiger, 1919 bis 1924 In: Demokratisierung und Verfassung in den Ländern 1918- VV = Vorarlberger Volksblatt, 1919 bis 1923 1920. St. Pölten 1983. =Studien zur Zeitgeschichte der öster- SP = Sitzungsprotokolle des Feldkircher Stadtrates, 1919 reichischen Länder, Bd.1. S. 91-117. bis 1924 Wanner, Gerhard: Geschichte der Stadt Feldkirch 1914-1955. =Schriftenreihe der Rheticus-Gesellschaft 39. Feldkirch Böhler, Ingrid: Die schweizerische Wirtschaftshilfe an Vor- 2000. arlberg 1918-1921. In: Arbeitskreis für regionale Geschichte Wanner, Gerhard: Die Anfänge des selbstständigen Vorar- (Hg.): „Eidgenossen helft euern Brüder in der Not!“ Vorar- lberg im November und Dezember 1918. In: Jahrbuch des lbergs Beziehungen zu seinen Nachbarstaaten 1918-1922. Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein , Bd. Feldkirch 1990. S. 41-54. 108. Vaduz 2009. S. 59-90. Ebenhoch, Ulrike: Die Stellung der Frau in der Geschichte Wanner, Gerhard: Das Elend der jungen Republik. Vorar- Vorarlbergs 1914-1933. =Vorarlberg in Geschichte und Ge- lberg im November/Dezember 1918. In: Bündner Monats- genwart, Bd. 3. Dornbirn 1986. blatt 2/2010. Chur 2010. Feurstein, Christian: Wirtschaftsgeschichte Vorarlbergs Wanner, Gerhard: Für Gott, Kaiser und Vaterland in die von 1870 bis zur Jahrhundertwende . Konstanz 2009. Barbarei. Das erste Kriegsjahr in Vorarlberg 1914. In: Fiel, Karl: Nofels, Fresch, Bangs, Matschels. Geschichte ei- Tschegg, Kurt (Hg.):Vorarlberg 1914-1918. Schriftenreihe nes Dorfes. Dornbirn 1987. der Rheticus-Gesellschaft, Bd. 62. Feldkirch 2014. S. 12-185. Pontesegger, Helmut: 1906-1956 Elektrizitätswerk Feld- Wolf, Josef: Das Vorarlberger Kriegsfürsorge-Buch. Feld- kirch. Festschrift. Feldkirch 1956. kirch 1926. Quaderer, Rupert: Feldkirchs Bürgermeister Josef Peer wird Liechtensteins Landesverweser, 1920-1921. In: Rheti-

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NS-Propagandareden von Hitler und Goebbels Narzissmus und Opferrollen Eine historisch-psychologische Analyse

Prof. Dr. Zsuzsanna Agora gesamt vierzehn. Den Rekord brach im Feldkircher Anzeiger die große Reichs- tagsrede des Führers vom Februar 1939, Vor 80 Jahren, im März 1938, marschier- die ganze vier Seiten umfasste. Aber ten deutsche Truppen unter großem Ju- selbst wenn man kein Leser des Feld- bel in Feldkirch ein und leisteten damit kircher Anzeigers war, war es kaum einen Beitrag zur gewaltsamen Okku- möglich, sich der Hitlerreden zu entzie- pation des selbstständigen Österreich. hen. Als beispielsweise am Freitag dem Der Befehl dazu kam vom obersten 28. April 1939 eine Führerrede vor dem Führer der Armee, Adolf Hitler. In ei- Reichstag angekündigt wurde, wurden ner österreichweiten Volksabstimmung in Feldkirch alle Ladengeschäfte ge- sprachen sich am 10. April 7.409 Feldkir- schlossen. In Sälen, Gaststätten, Thea- cher Stimmbürger für und 68 gegen den tern und im Kino waren seine Ausfüh- Anschluss der Heimat an die Diktatur rungen zu hören. Für die Schuljugend NS-Deutschlands aus. In ganz Vorarl- gab es eigene Schulveranstaltungen. berg waren es 98,1 %. Hitler verkündete beruhigend: „Ich aber glaube an einen langen Frieden.“ Sieben Wie konnte es zu diesem überwältigen Monate später überfielen seine Truppen Ergebnis kommen. Eine Ursache dafür Polen, und damit begann der Zweite war die ungeheure Staatspropaganda Weltkrieg. der Nazis, und in diesem Zusammen- hang spielten die Zeitungsmedien eine Aus den Reden im Feldkircher Anzei- große Rolle. Die NS-Partei verbot umge- ger lassen sich einige Hauptaspekte hend das konservative, auflagenstärkste für das Handeln Hitlers entnehmen: Es christlichsoziale Vorarlberger Volks- ist dies sein religiöses Geschichtsbild, blatt, ließ jedoch bis zum Juni 1940 den sein Deutschlandbild mit der Opferhal- seit Jahrzehnten deutschnational einge- tung der Partei und des Volkes und es stellten „Feldkircher Anzeiger“ („Vor- sind seine äußeren und inneren Feinde arlberger Oberland“) bis zum Juni 1940 seit dem Friedensvertrag vor Versailles bestehen. Auch als Lokalblatt besaß er 1919, von denen sich der „friedliebende“ eine bedeutende Propagandawirkung Nationalsozialismus bedroht sah und und machte dem Leser klar, was Nati- den es seit der Machtergreifung 1933 onalsozialismus bedeutete und wohin zu überwinden galt. Hitler gibt sich in seine Herrschaft führen konnte. den Reden teils bescheiden und wiede- rum selbstbewusst, heroisch und selbst- Authentische Aussagen dazu waren die verherrlichend. Dies „bewiesen“ ihm Kommentierung bzw. die wortwörtliche tagtäglich seine Anhänger, so auch in Wiedergabe von Hitlerreden - zwischen Feldkirch. April 1938 und April 1939 waren es ins-

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Hitler sieht seine Politik als Beitrag zur die „bolschewistische Gefahr der Welt- „allgemeinen Befriedigung der Welt. zerstörung. Tausendfach sehen wir das Möge die Gnade des Herrgotts dabei Wirken des jüdischen Erregers dieser unser deutsches Volk auf seinem Schick- Weltpest“. Der „Schmachfriede“ von salswege begleiten“. Menschliches Wol- Versailles sei jedoch in erster Linie len bedürfe zu seinem Gelingen des durch das „völlige Versagen der dama- „Segens der Vorsehung“. Und was den ligen Führung verschuldet (…)“. Wer „Anschluss“ Österreichs im März 1938 mit dieser zusammengearbeitet habe, betraf, wollte er „den höchsten Dank nennt Hitler in seiner Reichstagsre- selbst dem Allmächtigen sagen für das de vom Jänner 1939 beim Namen: “(…) Gelingen (…)“ Wenn es um die Erhal- Zentrumspriester, kommunistische tung und Neubegründung einer deut- Atheisten, sozialistische Eigentumsver- schen Kultur ging, sah sich Hitler als nichter und kapitalistische Börseninte- Vollstrecker und Erfüller eines „göttli- ressenten, konservative Staatserhalter chen Willens“. und republikanische Reichszerstörer.“ Und immer wieder ist es der „jüdische Seine politischen Erfolge sah Hitler als Weltfeind“, der sich übrigens, „kulturell Ergebnis der „deutschen Volksgemein- gänzlich unproduktiv“, auch in der hei- schaft“, eines „mannhaften Volkes“ und mischen Kultur breit gemacht habe: Er seiner „gegenseitigen Opferwilligkeit“. fühle sich zu den „Lebensäußerungen Andererseits wird Deutschland als Op- primitiver Negerstämme mehr hingezo- fer des Friedensvertrages von Versailles gen, als zu den kulturell hochstehenden betrachtet, durch ihn sei eine Zeit „tiefs- Arbeiten und Werken wahrhaft schöpfe- ter Erniedrigung und schmachvoller rischer Rassen“, so Hitler auf der Kultur- Demütigung unseres Volkes angebro- tagung in Nürnberg im September 1938. c h e n“. Die Konsequenzen aus dem tiefen Ju- Hitler sieht sich von zwei äußeren denhass waren jedem Feldkircher spä- Hauptgegnern bedroht: Es ist einmal testens im November 1938 klar, als auf

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der Titelseite des „Vorarlberger Oberlan- lässt sich aufgrund seiner Wertorientie- des“ (einst Feldkircher Anzeiger“) die rung mit einer begrifflichen Neuschöp- detaillierten, umfassenden und diskri- fung als „Philoheroismus“ bezeichnen. minierenden Maßnahmen gegen die Ju- Die Reden weisen eine weitere Beson- den verlautbart wurden. Es war der An- derheit auf, was die Disposition der fang von ihrem Weg in die Vernichtung. Gefühle betrifft. Die acht Grundgefüh- Und die meisten Feldkircher Einwohner le wie Ärger, Freude, Vertrauen, Über- konnte es nun wissen! Dies hinderte die raschung, Angst, Trauer, Ekel und Er- begeisterten lokalen Nationalsozialisten wartungshaltung haben in den Reden jedoch nicht daran, in Feldkirch den 50. einen ähnlichen zeitlichen Verlauf. Die- Geburtstag des „Führers“ im April 1939 se Dynamik kommt der aristotelischen mit großem Aufwand zu feiern. Und der Empfehlung nahe, wie ein Redner Ge- Direktor der nun staatlichen Lehrerbil- fühle wecken und seine Zuhörer in sei- dungsanstalt widmete ihm auf der Titel- nen Bann ziehen kann: Am Anfang der seite des Lokalblattes eine ganzseitige Reden überwiegen die Gefühle Angst, und emotionale Würdigung: „Und das Trauer und Ekel, und am Ende treten ist das Größte und Schönste an ihm: Aus die drei Zentralgefühle Stolz, Domi- dem Volke geboren, mitten im Volke ste- nanz und Liebe auf. hend, vom ganzen Volke geliebt und ge- ehrt, Führer und Held eines großen Vol- Struktur und Ablauf der Hitler-Reden kes, Erlebnis und Erfüllung, Sehnsucht und Glück vieler Millionen Getreuer, Gefühlsorientierung: Am Beginn der Stolz und Freude, Bewunderung und Reden wird stets über „Fakten“ berich- Stütze aller Deutschen in der Welt.“ tet. Die Themen betreffen Ungerechtig- keit und Armut, Not, Leiden und exis- Wie sehr diese angeführten ideologi- tenzielle Unsicherheit des deutschen schen Aussagen auf immer wiederkeh- Volkes. Das Publikum wird dadurch renden Inhalten basierten, zeigen die verunsichert und von Angst ergriffen, folgenden Ausführungen am Beispiel wodurch Spannungen entstehen und von neun NS-Propagandareden von die Zuhörer sich ausgeliefert und ohn- Goebbels und Hitler zwischen 1922 und mächtig fühlen. Angst ist hier immens 1933. Sie beschreiben das kollektive Ver- wichtig, weil dadurch das Denken in halten von Nationalsozialisten und im besonderem Maße eingeengt wird. Von Speziellen von Hitler und Goebbels, das nun an nimmt der Zuhörer nur noch mit Erkenntnissen der psychologischen angstfiltrierte Informationen wahr. Her- Narzissmusforschung in Verbindung nach folgt eine Reihe von Diffamierun- gebracht wird. Es geht somit in erster Li- gen mit dem Ziel, Wut zu entfachen und nie um eine bislang wenig beachtete his- zu steigern. Die Zuhörer fühlen sich be- torisch-psychologische Inhaltsanalyse. droht, erleben jedoch die eigene Gruppe Hauptanliegen dieser Untersuchung ist als moralisch überlegen. Die Verursa- es, die in den Reden angesprochenen cher, die für all das Leiden und die Not Emotionen herauszufiltern. Diese zeu- verantwortlich sind, werden genannt gen von einem homogenen emotionalen und identifiziert. Ihre Untaten werden Muster. Dieses besteht aus drei Haupt- stets als beabsichtigt und gewollt be- gefühlen - Stolz, Dominanz und Liebe. zeichnet. Das daraus entstandene Zentralgefühl

Seite 56 Lösung und Erlösung: Schließlich lei- „Sie“ ab, wozu Hitler die Entente (fast tet Hitler seine Zuhörer zum Gefühl ausschließlich die Franzosen), die Kapi- der „angenehmen Dominanz“ (Über- talisten, Liberalen, sozialdemokratische heblichkeit) und steigert die positiven „Erfüllungspolitiker“, das Ausland und Wir-Gefühle durch Opferbereitschaft speziell das internationale Finanzju- und starken Willen. Die Ziele und die dentum zählt. Aus den Reden geht her- dazu nötige Aggression legitimiert er vor, dass die Deutschen als Opfer von auf moralischer Basis. Die Zuhörer, zahlreichen und vielerlei Ungerechtig- erfüllt mit dem Gefühl „stolzer Domi- keiten heimgesucht wurden. nanz“, erleben nun die Auflösung der Ausgangsspannung. Die narzisstische Opferrolle Hitlers und seiner Gefolgschaft hat ihre spezi- Im letzten Abschnitt der Reden spricht fischen, gut identifizierbaren Merkmale: Hitler über sich selbst. Er hebt seine Es liegt ein traumatisierendes Ereig- Person in übermenschliche Höhen, wo- nis vor, die Täter sind identifiziert, das durch die Zuhörer in die Position der Opfer erleidet einen moralischen Ver- Unterworfenen geraten. Doch der Füh- lust und dieser Verlust betrifft offenbar rer übernimmt heroisch die Gestaltung alle. Dem deutschen Volk ist angebli- ihres Schicksals und verspricht für das ches Unrecht geschehen, und daher ist Volk „Opfer“ zu bringen. es „logisch“, wenn dieses sich auflehnt und auch rächt. Was in den Reden fehlt, Opferrollen in Hitlers und Goebbels’ sind lähmendes Schweigen, Trauer und Reden Vergebung. Im Vergleich zu anderen kollektiven Opferrollen, beispielsweise Im Fokus der Analysen stehen die in zum Holokaust, zeugen die NS-Propa- den Reden angesprochenen „Opferrol- gandareden von einer Opferrolle, die len“ - es geht um eine inhaltsanalyti- weder mit traumatisiertem Schweigen sche Untersuchung solcher Textinhalte. noch mit einer körperlichen Gewalter- Sie kommen bezeichnend in den ersten fahrung in Form von unberechenbaren Abschnitten der Reden zum Vorschein Aggressionen oder lebensbedrohlichen und sind als Teile eines emotionalen Angriffen in Bezug gebracht werden Fundaments zu bewerten. Später treten kann. Die NS-Opferrolle ist eher mora- sie immer seltener auf. Als „Opfer“ wird lischer Natur als Folge von subjektiv er- in der Sozialpsychologie im weitesten lebten Demütigungen bzw. Kränkungen Sinne eine Person oder eine Gruppe der „wertvollen“ eigenen Gruppe. Weil bezeichnet, die aus einem Ereignis re- das narzisstische Ich (sprich der Führer) sultierend Unrecht, Verlust oder Verlet- sich als Verlängerung einer sakralisier- zung erlitten hat. ten Gemeinschaft versteht, wird auch sein Opferbringen „sakral“. Die Ver- In Hitlers Reden gliedert sich der Kreis nichtung der jüdischen „Unmenschen“ der Opfer in unterschiedliche Gruppen: wurde daher nicht etwa als Vergehen Zum „Wir“ zählen das deutsche Volk angesehen, sondern als gerechte, sakra- (auch Volksgemeinschaft genannt), die le Opfer einem „Allmächtigen“ (Natur/ NSDAP, die Arbeiter, die Bauern und die Rasse) dargebracht, um die Ordnung deutsche Jugend. Dieses „Wir“ grenzt der Welt wieder herzustellen, und dies sich hermetisch abgeschlossen vom daher ohne jegliche Empathie.

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Ein ausgeprägter Narzisst kann weder aus erfolgte Kränkung. Jedoch - Schuld vergeben noch vergessen. Die Demüti- daran trage weniger das Ausland, son- gung durch den „Schandfrieden“ von dern diejenigen, die als „Helfershelfer“ Versailles 1919 musste (!) „bezahlt“, ver- an diesem Prozess mitgewirkt hätten. letzte nationale Identität wieder herge- Gemeint waren vor allem deutsche stellt werden. Und Hitler versprach Ver- „Linke“. Bolschewisten. Die militärische geltung! Dieses Ziel war für ihn nach Niederlage als Ursache des „demütigen- 1918 zentral, und die Krisen der Weima- den“ Waffenstillstandes vom November rer Zeit stärkten dieses Vorhaben von 1918 wird nicht erwähnt. Jahr zu Jahr. Er versprach die Waffen nie abzulegen und bis zum „Endsieg“ Narzissmus im Mittelpunkt zu kämpfen. Die Ratifizierung des Frie- densvertrags war für ihn - wie für vie- Narzissmus an sich ist kein pathologi- le Deutschen – unverzeihlicher Verrat. sches Phänomen, sondern eine lebens- Er war fest davon überzeugt, dass der notwendige Grundlage von Selbstbe- Krieg im Jahre 1914 nicht wegen Serbien hauptung und Selbstwert. Alleine das geführt wurde, sondern für das „Über- Ausmaß entscheidet darüber, ob er pa- leben“ des deutschen Volkes: „Meine thologisch ist. „Gesunder“ Narzissmus eigene Stellung zum Konflikt war mir kann die Persönlichkeit stärken und Be- ebenfalls sehr einfach und klar; für strebungen zum Erfolg führen. Patholo- mich stritt nicht Österreich für irgend- gischer Narzissmus äußert sich dagegen eine serbische Genugtuung, sondern in extremen Fällen in Kriminalität, so- Deutschland um seinen Bestand, die gar in der Entfachung von Kriegen. deutsche Nation um Sein oder Nicht- Auf Grund seiner langjährigen krimi- Sein, um Freiheit und Zukunft.“ In nalpsychologischen Erfahrungen be- Mein Kampf beschreibt er, was er am hauptet Reinhard Haller, dass Narziss- 10. November 1918 im Lazarett von Pa- mus gefährlich werden könne, wenn sewalk fühlte: „Je mehr ich mir in dieser anstelle von Selbstwert Egoismus, an- Stunde über das ungeheuere Ereignis stelle von Empathie Rücksichtslosigkeit klar zu werden versuchte, umso mehr und anstelle von Sensibilität Kränkung brannte mir die Scham der Empörung trete und die narzisstische Person ihren und der Schande in der Stirn.“ eigenen Wert nur noch dadurch wahr- nehmen könne, dass sie den Wert ande- Opferrollen sind als langanhaltende rer drastisch negiere. Durch die Brille Perspektiven zu bewerten, die in der eines ausgeprägten Narzissten ist (bei- Gruppe mit gemeinsamen Gruppen- nahe) jeder wertlos. Sein inflationäres überzeugungen, Emotionen und Hand- Ich sucht permanent nach Möglichkei- lungstendenzen gekoppelt sind. Es ist ten, den eigenen Selbstwert wieder zu wichtig, dass eine „Opfergeschichte“ erleben. Da aber sein Wertgefühl vor al- vorliegt, in der die Gruppe eine Schädi- lem von den Reaktionen der Außenwelt gung erlitt. Im Fall der Nazis war dies (von Autoritäten) abhängt, ist sein Ich der für sie ungerechte und unmorali- besonders verletzbar. Ein instabiles Ich sche Friedens-Vertrag von Versailles muss ständig (zwanghaft) stabilisiert 1919. In Hitlers Deutung war dies der werden. Gerade in den Propagandare- Verrat am deutschen Volk und ganz den Hitlers kommt die Weltsicht einer zentral seine Demütigung und die dar- narzisstischen Persönlichkeit deutlich

Seite 58 zum Vorschein, die gekränkt ist, die Eine Makro-Prämisse narzisstischen Empathie verweigert und das eigene Ich Denkens geht davon aus, dass das Ich/ als Verlängerung einer sakralisierten Wir wertvoller ist als das Sie. Dieser Welt betrachtet. Und seine narzisstische „Mehrwert“ kommt in zahlreichen Wunde heißt - Versailles. Formen zum Vorschein - auch Natio- nalismus ist eine solche Erscheinung. Aus sozialpsychologischer Deutung In Hitlers und Goebbels Reden kehren weist Opfersein auf das „Verletztwer- regelmäßig die Formulierungen des den“ eines Menschen oder einer Grup- romantischen Nationalismus des 19. pe hin. Ein Mensch definiert sich als Jahrhunderts wieder, so etwa drohen- Opfer, wenn ihm etwas Negatives an- der Tod der Nation, Nation als Körper, getan wurde oder ihm etwas Tragisches parasitärer Angriff von Eindringlingen, geschah. Es fühlt sich dafür nicht ver- heiliger Kampf, Opferbringen usw. Ob- antwortlich und sieht keine Möglich- wohl der Nationalsozialismus auf die keit die Verletzung zu vermeiden oder Zeitgenossen einen modernen und revo- ihr vorzubeugen. Mit anderen Worten lutionär-zukunftsweisenden Eindruck – es erlebt in einer negativen Situation machte, die Keime der NS-Gedanken- einen Kontrollverlust. Das Opfer hat welt und der damit verbundenen Emo- das Gefühl, dass ihm durch das ange- tionen sind im deutschen Kulturraum tane Unrecht das moralische Recht ge- bereits im 16. Jh. vorhanden. geben wird zu leiden, Opfer zu sein ist sinnstiftend. Damit auch Empathie ge- Der Vertrag von Versailles wonnen wird, ist es wichtig, dass Mit- menschen das Ereignis als Unrecht und Der „Urgrund“ für all die „Schmach und normverletzend bewerten und dass das Schande“ sei der „Friedens-Vertrag“ Opfer keine Möglichkeit zu dessen Ver- von Versailles vom Juni 1919 zwischen meidung hatte. Deutschland und den 26 Siegermächten, als dessen Folge dem deutschen Volk Die in den NS-Propagandareden re- eine solch große Schuld aufgezwungen gelmäßig wiederkehrende kollektive worden sei, die es nie begleichen könne. Opferrolle ist zweifelsohne eine solche, Mit dem Friedensvertrag sei das deut- die allgemein auf Leiden fokussiert. In sche Volk erniedrigt, beraubt und in sei- historisch-psychologischer Hinsicht ner Ehre verletzt worden, und man habe soll sie jedoch aufgrund ihrer eigen- auch all seine Heiligtümer beschmutzt. artigen Merkmale als ein „Sondertyp“ von Opferrollen behandelt werden. Für Die emotionalen Aussagen beinhalten diesen Opfertypen könnte der Begriff bisweilen starke Übertreibungen, wie „Narzissvictim“ eingeführt werden. zum Beispiel mit der Behauptung, dass Damit ist kein krimineller oder patho- das deutsche Volk „unter allen Völkern logischer Narzisst gemeint, sondern das Meiste verloren“ habe und „die ein „gekränkter“. Die kollektiv-narzis- Schulden der ganzen anderen Welt auf- stische Opferrolle ist ein nachhaltiger gebürdet bekam“, eine Last, die das Volk psychischer Zustand, der mit spezifi- „nie mehr frei werden läßt“. Schuld dar- schen Überzeugungen, Einstellungen, an seien das „Ausland“, die Entente, die Emotionen und Handlungstendenzen Franzosen, das „schwache Hinterland“ verbunden ist. und der Verrat der deutschen „Linken“.

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Deutschland sei eine Kolonie des Aus- der Emotionalisierung des Versailler landes geworden. „Schandfriedens“ und mit Deutsch- lands Opferrolle auf die Zustimmung Ohne Zweifel war der Vertrag ein „Dik- der meisten Deutschen stieß und damit tat“ der Siegermächte und bedeutete seine spätere aggressive Außenpolitik eine wesentliche ökonomische, poli- rechtfertigen konnte. tische und militärische Schwächung. Damit war Deutschland auf absehbare „Linke“ Sündenböcke der Weimarer Zeit der Weg zur Hegemonie in Europa Republik versperrt. Das Reich hatte außerdem 10 % der Bevölkerung und 13 % seines In den Reden von Goebbels wird der Territoriums abzutreten. Deutschland Grund für das Opfersein vor allem auf blieb jedoch wirtschaftlich weitgehend den Verrat und die heimtückischen Lü- unversehrt und eine industrielle euro- gen der „Linken“ und auf die Regierun- päische Großmacht. gen der sogenannten Weimarer Repub- lik zurückgeführt. Das Land leide unter „Versailles“ wirkte auf für die meisten dem republikanischen „Schandsystem“. Deutschen wohl auch deswegen als eine (Goebbels 16. 6. 1933) Außerdem sei der Art Trauma, weil man sich offenbar we- „Körper der Nation“ durch die Intrigen nig Gedanken über die negativen Folgen der Kommunisten in einem blutigen der militärischen Niederlage gemacht Klassenkampf zerrissen worden. Die hatte und auf einen „gerechten“ Frie- Regierenden müssten daher vor Gott densschluss im Sinne des Wilsonschen Rechenschaft ablegen, weil sie das Volk 14-Punkte-Programms hoffte. Nach der betrogen hätten. Die wichtigste Aufga- Unterzeichnung des Waffenstillstandes be sei es nun, die „Ehre“ des deutschen vom 11. November 1918, der auf eine Volkes wieder herzustellen. Die NSDAP Kapitulation Deutschlands hinauslief, wird, genauso wie in Hitlers Reden, kehrte die deutsche Armee geordnet aus öfters als eine diffamierte, verfolgte den besetzten Gebieten in ihr Vaterland Bewegung (als Opfer) erwähnt. Die Lin- zurück. Dadurch entstand bei den brei- ken (Sozialdemokraten, Kommunisten, ten Massen der Eindruck, das Heer sei Juden) lögen permanent, sie seien Lan- unbesiegt. Man wollte, bedingt durch desverräter, Nestbeschmutzer, welche die geschickte Propaganda der Heeres- Schande über Deutschland gebracht leitung, nicht akzeptieren, eine militäri- hätten. Die „Erlösung“ werde jedoch sche Niederlage erlitten zu haben. Dies kommen, sie stelle den Glauben des widersprach auch der imperialistischen Volkes wieder her (Goebbels 09.07.1932) und militaristischen Vorkriegspolitik und bringe Hoffnung. Hitler und Goeb- des Kaiserreiches, die den Krieg und bels gelobten, sich dazu für die Volksge- Deutschlands Größe idealisierte. Diese meinschaft zu opfern. Selbsttäuschung der politischen Eliten Sie verschweigen jedoch, dass sie gerade vor allem aus den Rechtskreisen führte diesem „republikanischen, Weimarer in der Weimarer Republik (1919-1933) Schandsystem“ einen wesentlichen Teil zu einer Art „Anti-Versailles-Komplex“ ihres politischen Erfolges verdankten. und kulminierte in einem regelrech- Die Republik hatte zweifellos große ten „Revisionssyndrom“. Hitler hat- Schwächen: Ihre Verfassung war ein te politisch klug erkannt, dass er mit „schrankenlos freiheitliches Angebot“

Seite 60 von Liberalismus, Parlamentarismus nachzukommen, wurden auch die Mit- und Pluralismus. Aber die politischen glieder der Gemeinschaft Gott nahe. Träger dachten nicht daran, diese Werte Und weil der „Allmächtige“ schließlich auch zu schützen oder zu legitimieren über alle Völker der Welt herrscht, ge- - „Der Relativismus galt geradezu als bührt dies auch seinen treuen „Vollstre- Weltanschauung des demokratischen ckern“. Hitler sah sich in seiner Deutung Staates“. In diese Lücke stießen Hitler nicht nur als „Erlöser“ seines eigenen, und seine NSDAP mit einem klaren übrigens auserwählten Volkes, sondern Parteiprogramm und ihrem populä- der gesamten Menschheit. ren Aktivismus. Goebbels hatte schon im Jahr 1928 die „naive Wehrlosigkeit Die Gedankenwelt und Sprache des der Demokratie“ bespöttelt und klar Nationalsozialismus ist über zahlrei- darauf hingewiesen, man werde mit che Kanäle mit jener der christlichen verfassungsmäßigen Mitteln und Kör- Amtskirchen verknüpft. Das funda- perschaften legitim die Macht erlangen, mental Gemeinsame ist ihre antiauf- „um in dem Augenblick, wo uns das ge- geklärte Ideologie, die Ablehnung des lingt, den Staat in die Form zu gießen, philosophischen Materialismus der die unseren Gedanken entspricht“. „Linken“ und der Antisemitismus. To- poi und Metaphern spielten dabei eine Sakralisierte Gemeinschaft große sprachliche Rolle. Dies enthüllen die Reden, in denen das deutsche Volk Eine besondere Form nationalsozialis- wiederholt als „Opfer“ dargestellt wird. tischer Überlegenheit ist die der „sa- Die deutsche Volksgemeinschaft (Nati- kralisierten“ Gemeinschaft (Nation/ on) erscheint als eine Gemeinschaft, die Volksgemeinschaft), die wir auch bei „auserwählt“ sei. Die Ideologie fordert Religionsgemeinschaften finden. Sakra- bedingungslose Hingabe und erwar- lisierung ist in psychoanalytischer Deu- tet vollkommene Verschmelzung: „Ein tung eine übertriebene Idealisierung, Volk, ein Reich, ein Führer“ - die „Na- die die Welt in eine „heilige Gemein- zi-Dreifaltigkeit“. Hitler wird wie Jesus schaft und böse Fremde“ spaltet. Eine als „Erlöser“ dargestellt, der im Dienste solche muss gegen äußere aber auch seines Volkes bzw. der Menschheit eine innere Feinde geschützt werden, auch Mission erfüllt und sich aufzuopfern wenn dafür kostbares menschliches Le- bereit ist, damit die Gemeinschaft von ben geopfert wird. ihren Leiden und auch Sünden befreit In Hitlers und Goebbels Reden taucht werde. So wie Christus wird auch die immer wieder die Erwartung auf, für Nation „auferstehen“, lautet sein Ver- die Gemeinschaft Opfer zu bringen, sprechen. d.h. selbst Opfer mussten Opfer brin- gen. Der Führer erklärte sich zu diesem Die pseudochristlich-sakrale Welt des Opfer bereit und nahm damit die Rolle Nationalismus war bereits im Ersten eines Märtyrers ein. Durch die Sakrali- Weltkrieg präsent und lebte ungebro- sierung wurden die Werte der Gemein- chen in der Nazi-Ideologie weiter. Diese schaft (u.a. Nation, Blut, Rasse, Führer) Denkstrukturen finden sich auch in den zu einer Höhe gesteigert, die nur noch analysierten Reden. In Hitlers Deutung ein Gott übertreffen konnte. Durch die musste die „göttliche Ordnung“ (Natur/ Bereitschaft, dieser „heiligen“ Pflicht Rasse) wieder hergestellt werden, und

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für dieses Ziel musste man Opfer brin- sierte Variante kindlicher Weltan- gen. Heilen ist mit Opfer verbunden, schauung zu betrachten. Da Hitler weil Opferbringen heilende Reinigung seine Persönlichkeit mit der Nation bedeutet – „Heil Hitler!“ Das Vermeiden und der Partei gleichsetzte, übte je- von Verunreinigung/Verschmutzung der, der diese Einheit kritisierte, zu- ist existenziell. Für das Heilen (die er- gleich einen Angriff auf den Führer löste Zukunft der deutschen Nation) aus. Dieses eigenartig narzisstische müssen „Lüste“ und weltliche Freuden Selbstkonzept war jedoch nicht nur geopfert werden, damit die Reinheit des in Richtung nach „unten“ vorhan- Körpers bewahrt wird, und dieses Ziel den, sondern auch nach „oben“ – ist auch über Keuschheit zu erreichen. Hitler setzte seine Ziele mit denen Stephan Marks hat Anfang des 21. Jhdts. des „Allmächtigen“ gleich. In sei- mit Zeitzeugen Interviews geführt, die nem Konzept verschmolz die Welt Mitglieder des BdM, der Hitlerjugend zu einem einzigen Bezugspunkt, oder der SS waren. Elvira Scheer, eine wo sich Ich, Partei, Volk und Gott der Befragten, äußerte sich über Hitler endgültig und untrennbar vereinig- wie folgt: ten - eine „unio mystica“. „Der war gar nicht da. Der schwebte so über allem drüber wie so gewisse Hei- Die Person des Führers war nie lige oder Jesus und Maria. (…) Ich hab von der Gruppe der Geführten, geglaubt, er heiratet nicht, weil er seine den Parteigenossen, ja schließlich ganze Kraft dem deutschen Volk wid- von der Mehrheit der Deutschen met. Wie so ein katholischer Priester, der und Österreicher zu trennen, denn auch nicht heiratet, weil er seine ganze Narzissmus wirkte nicht nur auf Kraft für seine Gemeinde einsetzt. Er der Ebene des Individuums, son- denkt nicht an sich, sondern er denkt dern auch in der Gruppe. Der Rei- nur an uns. Ich hab ihn verehrt, obwohl sebegleiter Hitlers, Otto Dietrich, ich eigentlich gar nichts richtig von ihm bringt dies zum Ausdruck: „Hitler wusste. Sein Privatleben war ja so tabu. ist Deutschland und Deutschland Da wusste man überhaupt nichts drü- ist Hitler. In Adolf Hitler verkörpert ber. Er hatte kein Privatleben.“ sich heute das deutsche Volk, weil es sich selbst in seiner Persönlichkeit Egozentrismus und übertriebener wiederfindet. (…) Das Volk hängt Selbstwert am Führer. Es liebt ihn und vertraut ihm rückhaltlos und ohne Grenzen. Für den pathologischen Narzissten sind Diese einzigartige lebendige Bezie- die Außenwelt und die eigene Person hung zum Volke empfindet Adolf nicht zu trennen. Wie Erich Fromm Hitler selbst als das Beglückendste schreibt: „Er ist alles, die Welt ist nichts und Schönste seines Daseins.“ – oder vielmehr: er ist die Welt.” Daher ist „Er“ weder zu Differenzierungen, In der Charakterstruktur Hitlers noch zu Relativierungen fähig, schlicht könnten heutige Psychiater oder - seine eigene Perspektive wird mit dem Psychologen einen sado-masochis- Wert der Welt gleichgesetzt. Im Deu- tisch geprägten Narzissmus mit tungsrahmen eines Psychologen, wie starken paranoiden Zügen diagnos- Jean Piaget, ist dies als eine rationali- tizieren. Diese Störungen sind aber

Seite 62 nicht als Symptome einer Geisteskrank- allem für jene Gruppen typisch, die ein heit (Psychose) zu verstehen, sondern ausgeprägtes narzisstisches Selbstbild als Persönlichkeitsstörungen. Während pflegen. Ähnliches Verhalten zeigen und nach dem Zweiten Weltkrieg gab es ethnisch-nationale Gruppen, die von einen Trend, der den deutschen Dikta- anderen Gruppen im Laufe der Ge- tor für „geisteskrank“ hielt. Wenn man schichte traumatisiert wurden. Für ihr aber den „Führer“ zu einem „Narren“ eigenes, vielfach destruktives Verhalten erklärt, wie steht es dann mit seinen An- zeigen sie weder Einsicht noch Reue. hängern? Es war ja geradezu sein Nar- zissmus, den diese bewunderten. Die- Literatur: trich schreibt: „Hitler spricht sich selbst, Dietrich, Otto: Mit Hitler in die Macht. Persönliche Erleb- in jedem seiner Worte! Hitler glaubt an nisse mit meinem Führer. München 1934. Goebbels, Joseph: Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei. Mün- sich und an das, was er sagt. Hitler ist chen 1940. das, was heute so selten zu finden ist. Er Reinhard Haller: Die Narzissmusfalle. , Ecowin, 2013 ist echt! Das Volk fühlt, daß er echt ist, Heer, Friedrich: Der Glaube des Adolf Hitler. Anatomie ei- und darum hängt es so stark und fest an ner politischen Religiosität. Wien 1998. Hitler Adolf: Mein Kampf. München, Zentralverlag der ihm.“ NSDA P, 194 3 Kühnl, Reinhard: Faschismustheorien. Texte zur Faschis- musdiskussion. Hamburg 1979. Häufig gehen Gruppen und Individuen Oberreuter, Heinrich / Lill, Rudolf (Hg.) Machtverfall und von der Prämisse aus, dass das eigene Machtergreifung. Aufstieg und Herrschaft des Nationalso- zialismus. München 1983. Ich oder das Wir weit wertvoller seien, Saage, Richard: Faschismustheorien. München 1977. als das des Anderen - der Akzent wird Shirer, William: Aufstieg und Fall des Dritten Reiches. Bd.1. Ulm 1966. hier auf das Wörtchen „weit“ gesetzt. Stadtmüller, Georg: Sozialismus – National-Sozialismus – Daraus ergibt sich die Unantastbarkeit Faschismus. Eichstätt 1989. Steiner, Marlis: Hitler. München 1994. und Selbstverherrlichung der jeweiligen Elite. Der „Mehrwert“ Hitlers erschließt Reden: Hitlers Rede in München am 12.04.1922. In: Jäckel, Eber- sich im Kontext seiner Reden aus seiner hard – Kuhn, Axel. (Hg.): Hitler. Sämtliche Aufzeichnugen 1905-1924. Stuttgart, Deutsche Verlagsanstalt, 1980, Nr. 129. Opferhaltung, die er für eine „heilige“ Hitlers Rede in Vilsbiburg am 06.03.1927. In: Dusik, Bärbel Aufgabe hält, zum Schutz der Rasse, sie (Hg.): Hitler. Reden, Schriften, Anordnungen. Februar 1925 bis Januar 1933. Bd. 2. Teil I. München, London, Párizs, K.G. falle mit den Zielen des „Allmächtigen“ Saur, 1992, 165-179. zusammen. Und dieser ist in Hitlers Hitlers Rede in Oldenburg am 18.10.1928. In: Dusik, Bärbel – Lankheit, Klaus. A. – Hartmann, Christian (Hg.): Hitler. Deutung ein (narzisstischer) „Wüterich“, Reden, Schriften, Anordnungen. Februar 1925 bis Januar der von seinen Geschöpfen erwartet, 1933. Bd. 3. Teil I. München, New Providence, London, Pá- rizs, K.G. Saur, 1994, 153-174. dass sie sich an den „Rassenbeschmut- Hitlers Rede in Berlin am 10.09.1930. In: Hartmann, Chris- zern“ und Schändern des Deutschtums tian (Hg.): Hitler. Reden, Schriften, Anordnungen. Februar 1925 bis Januar 1933. Bd. 3. Teil II. München, New Providen- rächen. „Die Sünde wider Blut und Ras- ce, London, Párizs, K.G. Saur, 1995, 409-412. se ist die Erbsünde dieser Welt und das Hitlers Rede in Mannheim am 05.11.1930. In: Goschler, Constantin: Hitler. Reden, Schriften, Anordnungen. Febru- Ende einer sich ihr ergebenden Mensch- ar 1925 bis Januar 1933. Bd. 4. Teil I. München, New Provi- heit“, schrieb er in „Mein Kampf“. Der dence, London, Párizs, K.G. Saur, 1994, 50-62. Hitlers Rede in Bad Blankenburg am 05.03.1932. In: Hart- Kämpfer der Rassenreinheit streitet so- mann, Christian: Hitler. Reden, Schriften, Anordnungen. mit nicht nur für das Deutschtum, son- Februar 1925 bis Januar 1933. Bd. 4. Teil 3. München, K.G. Saur, 1997, 174-185. dern sogar für die gesamte Menschheit. Hitlers Rede in Berlin am 10.02.1933. C 1216 Deutsches Ein markantes Zeichen für die Opfer- Rundfunkarchiv Goebbels’ Rede in Berlin am 09.07.1932. In: Heiber, Helmut (Hg.): Goebbels Reden 1932-1939. Bd. 1. rolle einer Gruppe ist, dass diese an- Düsseldorf, Droste, 1971, 43-50. Goebbels’ Rede am 16.06.1933 in Hamburg. In: Heiber, Hel- deren Gruppen gegenüber keine Em- mut (Hg.): Goebbels Reden 1932-1939. Bd. 1. Düsseldorf, pathie zeigt. Diese Feststellung ist vor Droste, 1971, 113-123.

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Georg Joachim Rheticus Das Leben des wohl bedeutendsten Vorarlberger Wissenschaftlers

Dr. Hans Gruber

Begriff stammt von Cicero, der dabei aber selbst auf die griechische Philo- sophie, auf Platon, Aristoteles und die Stoiker zurückgriff. Diese hatten nach dem Wesen des Menschen gefragt und glaubten, dieses in des Menschen Fä- higkeit zu Vernunft, eigenständigem Denken und Verfeinerung durch Bil- dung zu finden. Erst ein gewisses Maß an Bildung im weitesten Sinne, folgerte Cicero, mache den Menschen zum Men- schen. Er erweiterte diese Sicht noch um seinen Begriff von Humanität: Der Mensch ist zu achten, ihm müssen wir beistehen – und dies aus einem einzi- gen Grund: weil er ein Mensch ist. Was ist Humanismus? Ausgehend von Italien verbreiteten sich In der Krise des späten Mittelalters die Ideen der Humanisten in ganz Eu- taucht eine neue Denkart auf, die die al- ropa. Immer wieder wird dabei die Be- leinige Autorität der Bibel in Frage stellt deutung der Bildung hervorgehoben, und überkommene Traditionen hinter Erasmus von Rotterdam meinte gar, sich lassen will. Die neuen Gelehrten „homines non nascuntur “, Menschen wenden sich der Antike zu, wollen sich würden nicht geboren, sondern gebil- von deren wissenschaftlichen und lite- det. Erreicht werden könne die „Verfei- rarischen Schriften inspirieren lassen. nerung“ des Menschen durch das Stu- Sie nennen sich Humanisten und sehen dium der alten Sprachen. Dies ein sehr sich selbst als Überwinder einer dunk- moderner Gedanke, sind wir doch auch len Zeit zwischen sich und dem klassi- heute davon überzeugt, durch Anpas- schen Altertum, das nun mehr so ge- sungen der Sprache das Denksystem nannte Mittelalter. der Menschen verändern zu können.

Was aber ist dieser Humanismus? Es Erst im 19. Jahrhundert erhält die Um- handelt sich dabei um keine Wissen- bruchzeit zwischen Mittelalter und schaft oder Methode, vielmehr um eine Neuzeit den Namen Renaissance („Wie- Lebensform und ein Bildungsideal. Der dergeburt“ der Antike), und deren

Seite 64 wichtigste Geistesströmung nennt man 6. Februar 1528 als Dieb und Betrüger forthin Humanismus. Damit bezeichnet mit dem Schwert hingerichtet. Zu die- „Humanismus“ nicht nur eine geistige sem Urteil hatte möglicherweise Iserins Bewegung, sondern auch eine Epoche. wissenschaftlicher Geist beigetragen, Im 19. Jahrhundert selbst entstand eine da er im Volk als Zauberer und Hexen- Bildungsbewegung, die auf der Grie- meister galt und der Verdacht umging, chenbegeisterung eines Johann Joachim er stehe mit dem Teufel im Bunde. Winckelmann, eines Johann Wolfgang Goethe oder eines Friedrich Hölderlin Die nächsten drei Jahre besuchte Georg beruhte. Wilhelm von Humboldt als Joachim die Frauenmünsterschule in wichtigster Vertreter dieses Neuhuma- Zürich. Mit seinem nachmalig berühm- nismus betonte die Notwendigkeit, den ten Mitschüler, dem späteren Arzt und ganzen Menschen zu bilden, ihn nicht Naturforscher Conrad Gesner (1516- nur in spezialisierten Teilgebieten Fer- 1565), verband ihn fortan eine lebens- tigkeiten und Wissen zu lehren, son- lange Freundschaft. 1532 kam es zu ei- dern ihn durch allgemeine Bildung in ner Begegnung des jungen Mannes mit seinem Sein und Wesen zu entwickeln. dem umstrittenen, für seine Heilerfolge Das Mittel dazu stellten für die Neuhu- aber hochberühmten Arzt und Alche- manisten wieder die alten Sprachen dar, misten Theophrastus Bombastus von Latein und Altgriechisch. Humboldts Hohenheim, genannt Paracelsus. Dieser Konzepte für ein modernes Gymnasium unruhige Geist mit seinem revolutionä- und eine reformierte Universität blieben ren Denkansatz dürfte nicht ohne Wir- dann auch bis zum Ende des 20. Jahr- kung auf Georg Joachim geblieben sein. hunderts wirksam. Ausgerüstet mit einem Empfehlungs- Georg Joachim Rheticus schreiben seines Freundes Achilles Pir- min Gasser traf Georg Joachim Rheticus Der am 16. Februar 1514 in Feldkirch 1532 in Wittenberg ein. Angeleitet von geborene Georg Joachim Rheticus zählt Gassers Freund Philipp Melanchthon, zweifellos zu den bedeutendsten Wis- einem der bedeutendsten Humanisten senschaftlern Vorarlbergs. Seine Eltern, deutscher Zunge, nahm er sein Hoch- Georg Iserin und Thomasina de Porris, schulstudium auf und konzentrierte stammten aus Italien, die Mutter gar aus sich auf die mathematischen Fächer. wohlhabendem lombardischem Adel. 1536 erlangte Rheticus den Magister Der Vater wirkte als Stadtarzt und er- artium. Bereits im gleichen Jahr über- hielt im Geburtsjahr des Georg Joachim nahm er eine Professur für Mathematik das Feldkircher Bürgerrecht. Er wird und Astronomie in Wittenberg. Es war als gelehrter Mann und großer Bücher- üblich, dass ein junger Magister für ei- freund beschrieben und wies seinen nige Jahre an der Universität lehrte, be- Sohn, wie dieser später berichtete, früh vor er seine höheren Studien fortsetzte, in die Wissenschaften ein. Georg Joa- um einen Doktorgrad (in Theologie, chim besuchte aber auch die im ganzen Rechtswissenschaften oder Medizin) Bistum hoch angesehene Feldkircher zu erwerben. Rheticus’ Antrittsrede „In Lateinschule. Noch nicht 14 Jahre alt, Arithmeticen Praefatio“ (Einführung in muss er ein prägendes Erlebnis verar- die Arithmetik) erschien kurz darauf in beiten: Sein Vater Georg Iserin wird am Druck.

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Um 1538 muss Rheticus das erste Mal stuhl für Mathematik in Leipzig ange- von Kopernikus’ Thesen gehört haben, nommen. Dort veröffentlichte er 1551 möglicherweise von dem berühmten den „Canon doctrinae triangulorum“, Mathematiker und Astronomen Jo- ein Werk mit trigonometrischen Tafeln, hannes Schöner, den er in Nürnberg das vielfach als sein bedeutendster ei- aufsuchte. Und sein Freund Achilles genständiger Beitrag zur Wissenschaft Pirmin Gasser dürfte ihn bei einem angesehen wird. Aufenthalt in Feldkirch im April 1539 noch darin bestärkt haben, die Reise zu Immer wieder reiste Rheticus in den Kopernikus zu wagen. nächsten Jahren in seine Heimatstadt Feldkirch. 1545 besuchte er Italien und Im Mai 1539 traf Rheticus jedenfalls traf in Mailand mit dem schillernden in Frauenburg ein. Der erst 25-Jährige Humanisten und Astrologen Girolamo wurde von dem mittlerweile 66-jähri- Cardano zusammen. gen Domherren Nikolaus Kopernikus freundlich aufgenommen und in dessen Nach dem Vorwurf eines sittlichen De- Theorie des heliozentrischen Weltbil- liktes und angesichts hoher Schulden des eingewiesen. Rheticus gelang es in verließ Rheticus Leipzig 1551. Bald da- der Folge, den zaudernden Kopernikus rauf promovierte er an der Universi- von der Notwendigkeit einer Veröffent- tät Prag zum Doktor der Medizin und lichung seiner Thesen zu überzeugen. ließ sich 1554 in Krakau als Arzt nie- Schon vorab verfasste der junge Gelehr- der. Doch widmete er sich auch weiter- te aber einen ersten Bericht (Narratio hin der Astronomie und Mathematik. prima) der revolutionären Einsichten Dem Denken der Zeit gemäß verfasste und veröffentlichte diesen 1540. Damit er auch astrologische Gutachten. 1572 legte Rheticus als erster die Thesen der übersiedelte er nach Kaschau (damals in kopernikanischen Wende in Druck vor Ungarn, heute Košice in der Slowakei), und wurde so zu einem Pionier des wo er am 4. Dezember 1574 starb. neuen Weltbildes. Bis 1541 redigierte er zudem das Hauptwerk des Kopernikus, Name „Rheticus“ kehrte damit nach Wittenberg zurück und bereitete die Drucklegung vor, die Nach der Hinrichtung seines Vaters dann 1543 in Nürnberg erfolgte. hatte sich Georg Joachim zeitweise nach dem eingedeutschten Namen sei- Das 1543 bei Johannes Petreius in Nürn- ner Mutter „von Lauchen“ genannt. In berg erschienene Hauptwerk des Ko- Wittenberg 1532 noch unter „Georgius pernikus, „De Revolutionibus Orbium Joachimus de porris feldkirch“ imma- Coelestium“, stieß anfänglich auf Un- trikuliert, wählte er aber schon bald verständnis und nicht geringen Wider- den Beinamen „Rheticus“, spätestens ab stand. Heute gilt es als ein Meilenstein 1536. Damit ließ er endgültig den Na- der Wissenschaftsgeschichte, das unser men seines Vaters hinter sich. Weltbild und damit auch das Selbstver- ständnis des Menschen grundlegend „Rheticus“ verwies auf seine nähere verändert hat. Heimat, gleichzeitig aber auch auf die römische Provinz Raetien, und stellte Bereits 1542 hatte Rheticus einen Lehr- damit, ganz in humanistischer Manier,

Seite 66 einen Bezug zur Antike her. Drucklegung in Nürnberg 1542-1551 (mit Unterbrechungen) Pro- 16.2.1514 Geburt in Feldkirch fessor für Mathematik in Leipzig 1514 Vater Georg Iserin wird Stadtarzt ab 1551 Studium der Medizin in Prag von Feldkirch ab 1554 Arzt in Krakau 6.2.1528 Vater Georg Iserin hingerichtet ab 1572 in Kaschau in Ungarn (heute 1528-1531 Besuch der Frauenmünster- Slowakei) schule in Zürich 4.12. 1574 Tod in Kaschau 1532 Begegnung mit Paracelsus 1532-1536 Studium an der Universität Bei dem vorliegenden Text handelt es Wittenberg sich um eine leicht modifizierte Version 1536 Professur für Mathematik und Ast- des vom Verfasser in der Broschüre „... ronomie in Wittenberg mehr Gelehrte als Rom. Feldkirch und 1539-1541 Reise zu Nikolaus Kopernikus der Humanismus“ veröffentlichten Bei- in Frauenburg trages. 1540 Veröffentlichung von Rheticus’ „Narratio prima“, in der die kopernika- Literatur: Burmeister, Karl Heinz: Georg Joachim Rheticus 1514-1574. nische Theorie erstmals im Druck veröf- Eine Bio-Bibliographie. 3 Bde. Wiesbaden 1967. fentlicht wird Schöbi, Philipp; Helmut Sonderegger (Hg.): Georg Joachim Rheticus 1514-1574. Wegbereiter der Neuzeit. Eine Würdi- 1540-1543 Rheticus redigiert Koper- gung. 2. erw. Aufl., Hohenems 2014. nikus’ Hauptwerk und sorgt für die

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Antikes Clunia Eine römische Straßenstation

Eine vorwissenschaftliche Arbeit von Gabriel Summer BG/BRG Feldkirch 8b Klasse, Schuljahr 2017/18

1. Einleitung schluss darüber geben sollen, wie die gewonnenen Erkenntnisse jeweils vor Eine antike Straßenstation im heutigen dem Hintergrund ihrer Zeit bewertet Feldkirch? Mit der Frage der Lokalisie- wurden. rung und Interpretation von Clunia, einer Ortsbezeichnung auf einer spätrö- Die Arbeit beginnt mit einem Überblick mischen Straßenkarte, befasst sich die- über die römische Epoche im heutigen se vorwissenschaftliche Arbeit. Dabei Vorarlberg sowie einer Darstellung, liegt das besondere Augenmerk auf den welche Bedeutung beziehungsweise vergangenen zwei Jahrhunderten, seit Funktion eine solche römische Straßen- be-gonnen wurde, die Relikte aus der station hatte, bevor die Erforschungs- Römerzeit in Vorarlberg nach wissen- geschichte des römischen Clunia chro- schaftlichen Kriterien zu erforschen, nologisch aufgearbeitet wird – von den und hier insbesondere auf der archäo- ersten Lokalisierungsversuchen und logischen Fundstätte ‚Uf der Studa‘ in archäologischen Ausgrabungen im frü- Feldkirch-Altenstadt, die heute „in der hen 19. Jahrhundert über die geophysi- Forschungs-tradition“ (Picker 2017, S. kalischen Untersuchungen am Ende des 30) allgemein als Clunia bezeichnet 20. Jahrhunderts bis zum Forschungs- und mit der genannten Straßenstation stand unserer Tage. gleichgesetzt wird. Eine umfassende Abwägung der Fra- Zu diesem Zweck werden diverse wis- ge, ob es sich bei den ‚Uf der Studa‘ senschaftliche Veröffentlichungen, ergra-benen Funden tatsächlich um sowohl von Historikern als auch von Clunia handelt, ob damit lediglich eine Archäologen, gesichtet, verglichen und Straßensta-tion im engeren Sinne be- zusammen-geführt. Wichtige Erkennt- zeichnet wurde, oder wo sonst diese nisse zum gegenwärtigen Forschungs- gelegen haben könnte, würde den Rah- stand liefern vor allem die Grabungsbe- men sprengen und wird somit nur kurz richte aus dem 21. Jahrhundert, die die behandelt. Außerdem, da die Arbeit im jüngsten Untersu-chungen im Gebiet ‚Uf Fach Geschichte vorgelegt wird, werden der Studa‘ dokumentieren. Des Weite- geophysikalische Verfahren, die bei der ren werden ältere Beschreibungen der archäologischen Erkundung verwendet Fundstätte, aber auch frühe historische wurden, nur genannt und ihre Ergeb- Betrachtungen herangezogen, die Auf- nisse vorgestellt, jedoch nicht die Pro-

Seite 68 zesse an sich beschrieben.

2. Die Römerzeit im Gebiet des heuti- gen Vorarlberg

Der Beginn der Römerzeit im heutigen Vorarlberg lässt sich auf das Jahr 15 v. Chr. datieren, als in einem „von langer Hand vorbereiteten, aber kurzen Som- merfeldzug“ (Vonbank 1983, S. XV) un- ter dem Kommando der Stiefsöhne des Kaisers Augustus – Drusus und Tibe- rius – die gesamte Alpen-Bodensee-Re- gion bis hin zur Donau erobert wurde. Die Eingliederung des Alpenraumes in das römische Reich war nämlich seit dem Beginn der Kaiserzeit sowohl ein poli-tisches wie militärisches Anliegen gewesen. (Vgl. Niederstätter 2014, S. 17) Abb. 1: Die römische Provinz Raetia mit Laut dem Historiker Karl-Heinz Bur- Verwaltungssitz in Augusta Vindelicorum/ meister (1983, S. 18) war der Besitz der Augsburg wurde um das Jahr 17 gegründet Alpen-pässe und des Alpenvorlandes und bestand bis zu ihrer Teilung in eine Rae- nach der Eroberung Galliens sogar ein tia prima und eine Raetia secunda beinahe vordringli-ches Ziel der römischen Stra- 300 Jahre lang. tegen: „Die Sicherheit der Paßübergän- ge [sic!] wurde ein auslösendes Moment der Eroberung Rätiens.“ Damit befand sich also auch die gesam- te Region zwischen Alpenrhein und Der Feldzug erfolgte in einer Art Zan- Bodensee unter römischer Herrschaft; genformation: Während die Truppen Vorarlberger Gebiet war allerdings nach des Drusus vermutlich von Oberitalien den Erkenntnissen der Historiker von durch das Etschtal, den Vinschgau und größeren militärischen Kampfhandlun- über den Reschenpass in das Inntal vor- gen offenbar verschont geblieben: So rückten, um dann über Fernpass und lassen sich archäologisch Truppenvor- Seefelder Sattel ins nördliche Alpenvor- stöße – etwa durch zerstörte Fluchtbur- land zu gelangen, marschierte Tiberius gen oder Siedlungen – nicht nachweisen mit seinen Verbänden von Westen her (vgl. Niederstätter 2014, S. 17). aus Gallien entlang des Hochrheins bis an den Bodensee, wo es sogar zu einem Um Aufständen vorzubeugen, führten Seegefecht kam. (Vgl. Niederstätter die Römer nach ihrem „Blitzkrieg“ (Bur- 2014, S. 17) Schließlich vereinigten sich me-ister 1983, S. 19) jedoch den größten die beiden Heere am 1. August in der Teil der männlichen Bevölkerung aus Nähe der Donauquellen (vgl. Vonbank den eroberten Gebieten entweder in die 1983, S. XV) – die Okkupation war voll- Sklaverei oder verpflichteten und ents- zogen. andten sie als sogenannte Auxiliartrup- pen in andere Teile des Reiches. Der

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Alpenraum selbst wurde vorerst nur Formen wirtschaftlicher Kommunikati- durch römische Militärkolonisten besie- on auch zur Einfuhr völlig neuer Güter delt, da er als Aufmarschgebiet gegen und landwirtschaftlicher Produkte. Erst die feindlichen Germanen dienen sollte; jetzt lernten die Alpenbewohner Äpfel, in diesem Zu-sammenhang ist übrigens Birnen, Kirschen, Erbsen und Roggen auch die Errichtung eines Holz-Erd- kennen, wodurch die Landwirtschaft Kastells am Bregenzer Ölrain zu sehen. ungeahnte Impulse erfuhr. (Rollinger (Vgl. Niederstätter 2014, S. 18) 2005)

Nachdem die Eroberungsversuche Noch im Verlauf des 1. Jahrhunderts Germaniens nach der erschütternden erhielt Brigantium/Bregenz unter Kai- Niederlage in der Varusschlacht aufge- ser Claudius Stadtrecht und wurde mit geben und die römischen Truppen im dem Gebiet, das ungefähr dem heutigen hiesigen Raum fast vollständig abge- Vorarlberg entspricht, ausgestattet. (Vgl. zogen worden waren, wurden die un- Burmeister 1983, S. 20) Auf der dortigen terworfenen Re-gionen um das Jahr 17 Ölrainterrasse entstand auf einem mehr als Provinz Raetia mit Verwaltungssitz als 22 Hektar großen Areal eine „blü- in Augsburg zu-sammengefasst. (Vgl. hende stadtartige Siedlung“ (Vonbank Burmeister 1983, S. 20) Das Gebiet um- 1983, S. XVI) – entlang einer neun Meter fasste neben dem heutigen Vorarlberg breiten Hauptstraße wurden zahlreiche auch Teile Tirols sowie Bereiche der private und öffentliche Bauten, sakrale Ostschweiz, Baden-Württembergs und wie profane, errichtet, was für den ho- Bayerns (s. Abb. 1). Rechtlich gesehen, hen Zivilisationsgrad spricht, den die galt die heimische Bevölkerung zu- Bevölkerung erreicht hatte. Eine lan- nächst als ‚fremd‘ (= Peregrini ). Bis zur ge Friedensperiode begünstigte Karl- allgemeinen Verleihung des römischen Heinz Burmeister zufolge zudem eine Bürgerrechts durch Kaiser Caracalla kontinuierliche Weiterentwicklung konnte dieses zunächst nur durch den der gesamten Region und die Bürger- Militärdienst erworben werden. (Vgl. rechtsverleihungen nahmen zu. (Vgl. Niederstätter 2014, S. 18, s. S. 10) Burmeister 1983, S. 20) Römische Händ- ler siedelten sich in Brigantium an und Die Zugehörigkeit zum Imperium Ro- über das gut ausgebaute Straßennetz manum veränderte die politischen, so- gelangten Keramikgegenstände sowie zialen und wirtschaftlichen Verhältnis- bis dahin unbekannte Spezialitäten wie se in der Region grundlegend: Südfrüchte, Oliven oder Austern aus Italien und Gallien in die Provinz. (Vgl. Eine der herausragendsten Verände- Niederstätter 2014, S. 18) rungen war in der Tatsache begründet, dass Rätien nun direkten Anschluss an Als römerzeitliche Siedlungszonen aus einen Wirtschaftsraum erhielt, der sich dieser Zeit sind auch das Gebiet um von Britannien nach Syrien und von Rankweil und Feldkirch sowie Teile des der Rheinmündung bis nach Afrika er- Walgaus ausgewiesen. So wurden in streckte. Diese gewaltige geografische Feldkirch-Altenstadt (Flur‚ Uf der Stu- Breite zog nicht nur eine Intensivierung da‘), Brederis-Weitried und Satteins aus- des Handels und Warenaustauschs gedehnte Gutshöfe, sogenannte Villae nach sich, sondern führte neben neuen rusticae, erschlossen, die zwar vorran-

Seite 70 gig der Versorgung mit landwirtschaft- italischen Mutterland, die Romanisie- lichen Erzeugnissen dienten, mit ihren rung. (Vonbank 1983, S. XVII) Fußbodenheizungen, Bädern, Wasser- leitungen, Mosaikböden und Wand- Seit der zweiten Hälfte des 2. Jahrhun- malereien jedoch einen beträchtlichen derts wurde das Reich dann durch Komfort aufwiesen. (Vgl. Niederstätter Germaneneinfälle von Norden her wie- 2014, S. 18; Burmeister 1983, S. 22f) derholt bedroht, weshalb erneut Trup- pen in Rätien stationiert wurden und Als ein wichtiges Element der Erschlie- die befestigte Grenze – der sogenannte ßung ländlicher Regionen darf die An- Limes – auf die Linie Donau-Iller-Bo- legung von Villae rusticae angesehen densee-Hochrhein zurückgenommen werden, die als landwirtschaftliche wurde. (Vgl. Niederstätter 2014, S. 18) Zentren fungierten. Womöglich ist so- Für die Provinz wirkte sich die An- gar mit einer gewissen Selbstverwal- wesenheit des Militärs und die damit tung ländlicher Gebiete zu rechnen […]. einhergehende Sicherheit zunächst al- Die beiden Villen von Brederis-Weitried lerdings positiv aus: So wurde um die und ‚Uf der Studa‘ reichten mit ihrer Wende des 2. ins 3. Jahrhundert das rä- landwirtschaftlichen Nutzfläche sicher- tische Straßennetz ausgebaut, wodurch lich auch in die Gegend des Kummen- die Wirtschaft weiter florierte. Als im bergs. Diese darf zusammen mit Rank- Jahr 212 Kaiser Caracalla den Reichsan- weil als ein lokales Zentrum angesehen gehörigen aller Provinzen das römi- werden, was nicht zuletzt durch die Ab- sche Bürgerrecht verlieh, war damit ein zweigung der Rheintalstraße ins Valdu- Schlussstrich unter den zwei Jahrhun- natal bedingt ist. (Rollinger 1993, S. 29) derte währenden Romanisierungspro- zess gezogen worden. (Vgl. Burmeister Wie schnell sich die Romanisierung der 1983, S. 21) „Aus den Kelten und Rätern einheimischen Bevölkerung vollzog, Vorarlbergs waren Römer geworden.“ kann nur gemutmaßt werden. Ein Grad- (ibid.) messer scheint jedoch der beschriebene hohe Lebensstandard zu sein: Die anhaltende Bedrohung durch die Germanen vermuten die Historiker je- Obwohl Raetien sicher zu den ärmeren doch als Grund dafür, dass im letzten Provinzen des römischen Imperiums Drittel des 3. Jahrhunderts die Bewoh- zählte und das Bodensee-Rheintal in- ner Brigantiums/Bregenz das Ölrain- nerhalb Raetiens wirtschaftlich nicht plateau verließen und das Areal der gerade begünstigt war, darf man doch heutigen Oberstadt zu einer befestigten auf Grund der zahlreichen archäolo- Siedlung ausbauten. Im selben Zeitraum gischen römerzeitlichen Funde und wurden alte Fluchtburgen, unter ande- auf Grund der allgemeinen Situation, rem die Heidenburg bei Göfis (von der nicht zuletzt auch wegen der verkehrs- später noch die Rede sein wird), wieder mäßigen Lage vermuten, daß [sic!] sich aufgesucht und die Villenanlage von im Rheintal südlich des Bodensees ge- Satteins aufgegeben. Hingegen wurden genüber der urgeschichtlichen Zeit ein die Villen in Rankweil-Brederis und die nicht unbedeutender Wohlstand entwi- Anlage in Altenstadt wahrscheinlich ckelt hatte, eben durch die allmähliche noch im 4. Jahrhundert verwendet. (Vgl. Verschmelzung Raetiens [sic!] mit dem Niederstätter 2014, S. 18 f.)

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tet hatte, wurde 451 erstmals ein Bischof Trotz der Stationierung einer Flotten- von Chur erwähnt, zu dessen Sprengel einheit und der Errichtung eines Hafen- beispielsweise die gesamte Raetia pri- kastells geht man davon aus, dass die ma gehörte. (Vgl. Burmeister 1983, S. 28) römischen Streitkräfte Brigantium um das Jahr 400 geräumt und die dortige 3. Clunia, ein Name auf der Tabula Bevölkerung sich selbst überlassen ha- Peutingeriana ben. Der Zerfall der staatlichen Struktu- ren und die unsichere Grenzlage hatten Für die vorliegende Arbeit ist das rö- den Niedergang der Provinzialkultur mische Straßenwesen von maßgebli- beschleunigt, das Ende der römischen cher Bedeutung. Wie bereits festgestellt Ära war eingeläutet. (Vgl. Niederstätter wurde, war der Ausbau des Straßen- 2014, S. 19) Dazu stellt Karl-Heinz Bur- netzes bereits seit Kaiser Augustus ein meister (1983, S. 25) fest: vordringliches Anliegen der römischen Militär-verwaltung gewesen: War der Aufbau der römischen Herr- schaft in Vorarlberg durch eine lang- In Bregenz kreuzten sich die Paßstraße jährige Friedenszeit gekennzeichnet, so [sic!] über die rätischen Alpen nach Ita- zeigt die spätrömische Epoche ein krie- lien mit der von Gallien durch Helveti- gerisches Gesicht. en nach Arbor Felix (Arbon) führenden Straße […]. Von Bregenz aus ging diese Die rund viereinhalb Jahrhunderte un- Straße als Via Claudia über Kempten ter römischer Herrschaft haben sich prä- weiter zur Provinzhauptstadt Augusta gend auf die Infrastruktur der gesam- Vindelicorum (Augsburg). Eine wei- ten Region ausgewirkt und, wenngleich tere Straße führte am nördlichen Bo- es durch das „Chaos der Völkerwande- denseeufer entlang zum Oberlauf der rung“ (Burmeister 1983, S. 30) und die Donau. […]. Alle Straßen waren gepflas- Auflösung des Imperium Romanum zu tert und befestigt sowie durch Meilen- gravierenden Umwälzungen kam, ha- steine gegliedert und Straßenstationen ben einige zivilisatorische Leistungen, gesichert. Die großen Überlandstraßen aber auch Verwaltungsstrukturen aus begegnen uns im Itinerarium Antonini der Römerzeit überdauert. des 3. Jahrhunderts und in der Tabula Peutingeriana des 4. Jahrhunderts. Sie So war es gegen Ende des 3. Jahrhun- dienten den Truppendurchmärsche, der derts im römischen Reich zu einer Post sowie dem Personen- und Waren- Staatsreform gekommen, in deren Folge verkehr. (Burmeister 1983, S. 21 f.) Rätien in zwei Provinzen geteilt wur- de: die Raetia prima umfasste von da Für das Gebiet des heutigen Vorarlberg an das Gebiet des heutigen Vorarlbergs findet sich neben Brigantium die Orts- sowie der Ostschweiz mit der Haupt- bezeichnung Clunia auf der bereits ge- stadt Chur, die Raetia secunda mit der nannten Tabula Peutingeriana, jener Hauptstadt Augsburg Teile Tirols sowie spätantiken Straßenkarte (s. Abb. 2), das nördliche Alpenvorland. (Vgl. Bur- und legt nahe, dass es sich zumindest meister 1983, S. 26, Niederstätter 2014, um eine Raststation, eine sogenannte S. 19) Als sich das Christentum auch im Mansio, an der Nord-Süd-Verbindung späteren Vorarlberg spürbar ausgebrei- über die Bündner Pässe nach Italien

Seite 72 Abb. 2: Der Ausschnitt der Tabula Peutingeriana, auf dem das antike Clunia vermerkt ist. handelt. Seit Beginn der planmäßigen punkte an der über den Septimer bzw. bezie-hungsweise systematischen Er- Splügenpass führenden Straße sind Cu- forschung der römischen Hinterlassen- ria/Chur […] und Comum/Como. (Pöll schaften dieses Raumes beschäftigt die 2001, S. 239) ‚Clunia-Frage‘ die heimischen Histori- ker und Archäologen. Über die Bedeutung bzw. das Vor- handensein von Clunia als römischer Auf der Tabula Peutingeriana […] er- Straßen- oder Raststation besteht kein scheint auf Segment II/5 o 17 das römi- Zweifel, jedoch wurden deren Ausstat- sche Clunia. Der Stationsname befindet tung und Lage durch die Wissenschaft sich an der durch eine rote Linie darge- in den vergangenen zwei Jahrhunderten stellten römischen Reichsstraße von Bri- unter-schiedlich interpretiert. Bis heute gantium/Bregenz nach Mediolanum/ gibt es Verfechter verschiedener Thesen Mailand und ist durch einen einfachen und es konnte keine wissenschaftlich Haken gekennzeichnet. Clunia lag dem- belegte, eindeutige Aussage getroffen nach 17 römische Meilen (1 Meile = 1482 werden (s. dazu auch Picker-Interview, m) von der römischen Stadt Briganti- S. 27). um/Bregenz und 18 Meilen von Magia, das im Umfeld des schweizerischen 4. Frühe Forschungen im 19. Jahrhun- Maienfeld vermutet wird, entfernt. Aus dert durch den Vorarlberger Muse- diesen Angaben ist abzuleiten, dass umsverein sich das römische Clunia irgendwo im Raum des heutigen Rankweil/Feldkirch Vor 160 Jahren fand sich in Bregenz eine befunden haben muss. Weitere Halte- „illustre Runde“ (Klagian 2007, S. 1) aus

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Unternehmern, Adeligen, hohen Beam- ette auf der Heidenburg bei Göfis für ten und Militärs zusammen, die den seine Überzeugung, dass sich dort das Museums-Verein für Vorarlberg, den römische Clunia befunden habe (vgl. späteren Landesmuseumsverein, aus dazu den gleichlautenden Rollinger-Bei- der Taufe hob: „Der bürgerliche Wille trag aus dem Jahr 2003). Laut Robert zum Wissen regte im 19. Jahrhundert Rollinger, der bis dato eine der umfas- zu Ausgrabungen an und verhalf dem sendsten Studien zur ‚Clunia-Frage‘ un- Landesmuseum zum Grundstock sei- ter dem Titel „Eine spätrömische Stra- ner Sammlung“, heißt es dazu in den ßenstation auf dem Boden des heutigen Ausstellungstexten zu „vorarlberg. ein Vorarlberg?“ (Rollinger 1996) herausgab, making-of“ (vorarlberg museum 2017, eine These, für die der schottische Ade- S. 8). lige massiv eintrat: Die erklärten Ziele des Vereins waren also vorrangig, die Kulturgüter des Den entscheidenden Vorstoß für eine Landes zu erhalten und seine antike Gleichsetzung Clunias mit der Heiden- Geschichte aktiv zu erschließen (vgl. burg unternahm, J.S. Douglass […] Da- Klagian 2007, S. 1). bei glaubte Douglass, daß [sic!] Clunia „jedenfalls von verhältnismäßig gerin- […] Von den Funden in Pompeji inspi- ger Bedeutung, wahrscheinlich nur eine riert, nahm der Fabrikbesitzer Samuel „Mansio“ gewesen sei […] (ibid., S. 189) Jenny ab 1868 auf eigene Kosten Aus- grabungen vor, durch die Brigantium 4.1 Erste Lokalisierungsversuche von zum Begriff wurde. Sein Neffe Carl Clunia von Schwerzenbach setzte Jennys Ar- beit fort – ebenfalls mit eigenen Mitteln. Die Lokalisierungsversuche von Clunia Und auch Adolf Hild, Angestellter des reichen allerdings bereits bis ins frühe Museumsvereins, Museumsdirektor El- 19. Jahrhundert zurück und neben der mar Vonbank, sein Nachfolger Helmut Heidenburg wurden auch die Anhöhe Swozilek und dessen Stellvertreter Ger- Gastra bei Rankweil, der dortige Lieb- hard Grabher führten diese Tradition frauenberg oder der Neuburghorst bei mit Forschungsgrabungen zur Ur- und Koblach als Örtlichkeiten vorgeschla- Frühgeschichte und zur römischen Ge- gen (vgl. Pöll 2001, S. 239). schichte weiter. Etwa um 2000 hat sich das Museum aus der Grabungsarbeit Zur Heidenburg sei noch angemerkt, zurückgezogen. (vorarlberg museum dass sie als der Ort der „ersten doku- 2017, S. 8) mentierten ‚Ausgrabungen‘ auf dem Ge- biet Vorarlbergs“ (Rollinger 2003, S. 5) Zu den Männern der ersten Stunde be-zeichnet werden kann; allerdings ist gehörte neben dem bereits genannten der Bericht über diese „bis in den Som- Samuel Jenny auch der schottische Fa- mer des Jahres 1826 reichenden Unter- brikant John Sholto Douglass, der als nehmungen“ (ibid.) verschollen. Inwie- Amateurforscher 1870 im Selbstverlag weit diese Erkundungen, die damit gut eine umfangreiche Schrift mit dem Titel 30 Jahre vor der erwähnten Gründung „Die Römer in Vorarlberg“ herausgab. des Landesmuseumsvereins 1857 statt- Douglass interpretierte beispielsweise fanden, wissenschaftlichen Charakter den Fund einer römischen Reiterstatu- besaßen, ist nicht bekannt. In diesem

Seite 74 Zusammenhang erscheint aber interes- sant, dass anscheinend eigens zu die- sem Zweck eine Gesellschaft gegründet wurde, die sich die Erforschung der Heidenburg-Ruine zum Ziel gesetzt hat- te. (Vgl. Rollinger 2003, S. 7)

Die Forschungsgeschichte der ‚Clu- nia-Frage‘ reicht bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts zurück: Robert Rollinger zitiert den Zürcher Gelehrten Cl. Schin- zius, der die antike Straßenstation nach Meiningen verlegte. Kurz nach 1825 kam I. v. Arx anscheinend zur Auffas- sung, dass Clunia mit Feldkirch gleich- zusetzen sei, eine Annahme, die er spä- ter revidierte, indem er unvermittelt die Ortschaft Klaus als Clunia lokalisierte. In einer noch älteren Arbeit wurde je- doch Göfis als Standort präferiert und bis „[…] in die 90er Jahre des 19. Jahr- hunderts sollte die Heidenburg tatsäch- lich die prominenteste Anwärterin für eine Gleichsetzung mit der römischen Abb. 3: Plan der 1883/84 von Samuel Jenny Raststation bleiben […]“ (Rollinger 1996, in Feldkirch-Altenstadt ‚Uf der Studa‘ ausge- S. 188). Mit J.K. Zellweger gibt es einen grabenen römischen Gebäude. weiteren Historiker, der Clunia mit Gö- fis (= Heidenburg) verknüpft. Rollinger zitiert diesen: „Schon lange wurde es in Feldkirch-Altenstadt ‚Uf der Studa‘ als eine ausgemachte Sache von Alter- frei. Damit geriet auch dieser Komplex tumskundigen angenommen, daß [sic!] in die Diskussion um die Lage des anti- zwischen Brigantia und Magia noch ein ken Clunia. Immerhin hielt es der pro- römischer Waffenplatz, Clunia genannt, minente Altertumsforscher für möglich, gestanden habe: indessen konnte man dass die drei ergrabenen Gebäude Über- sich über die bestimmte Ortsanlage reste des antiken Clunia gewesen sein nicht vereinigen. […]“ (ibid.) Später reih- könnten. (Vgl. Pöll S. 239) te sich noch eine Vielzahl Gelehrter in die Diskussion der ‚Clunia-Frage‘ ein. 4.2 Archäologische Ausgrabungen ‚Uf der Studa‘ Nachdem Samuel Jenny, der spätere langjährige Obmann des Landesmuse- Um Missverständnissen vorzubeu- umsvereins, ab 1864 die Ausgrabungen gen, scheint der Hinweis angebracht, am Bregenzer Ölrain geleitet und 1866 dass die Fundstelle ‚Uf der Studa‘ in einen Rechenschaftsbericht darüber Feldkirch-Altenstadt – so die Flurbe- veröffentlicht hatte, legte er 1883/84 die zeichnung – nicht identisch ist mit gerade entdeckten römischen Ruinen der römischen Villenanlage in Rank-

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weil-Brederis, die etwa seit Mitte der logische Erfahrungen verfügte, stellt zu 1950er Jahre archäologisch erforscht Beginn seines Berichts fest: wird, wenngleich die Ortsbezeichnung Das unterscheidende Merkmal der Villa „Praederis“ durch Jenny dies vermuten in Präderis [sic!] von jenen in Briganti- lassen könnte. um liegt darin, daß [sic!] hier nicht in einem in sich abgeschlossenen Einzel- Seinen Grabungsbericht leitet Jenny mit bau alle nöthigen [sic!] Räumlichkeiten einem mysteriös erscheinenden Hin- untergebracht sind, sondern eine Grup- weis aus der Sagenwelt ein – die Gestalt pe einzelner baulichen Objecte [sic!] von des legendären ‚Klushundes‘ und den verschiedener Größe vorliegt, welche Weg, den dieser von Götzis aus Rich- meist nacheinander entstanden nach tung Altenstadt nimmt, deutet der Ar- Maßgabe des sich steigernden Bedürf- chäologe als Indiz für den Verlauf des nisses an Raum oder des wachsenden antiken Wegenetzes: Wohlstandes seiner Bewohner. (Jenny 1890, S. 8f) Mehr als irgend ein [sic!] anderes Ge- biet in Vorarlberg umweben den nähern Er listet dann folgend die einzelnen frei- und fernern Schauplatz der zu bespre- gelegten Gebäudeteile beziehungsweise chenden Ausgrabung jene bekannten -relikte auf, beschreibt sie akribisch und Mythen, durch deren luftiges Gewebe interpretiert deren Nutzung (s. Abb. 3): die Spuren heidnischen Lebens hervor- Das 75 x 50 m große Hauptgebäude (Bau schimmern. Der ‚Klushund‘ […] nimmt I), das er als „Wohnung der Herrschaft“ seinen Weg von der Ruine Neu-Mont- (Jenny 1890, S. 9) deutet, bestand demzu- fort […] nach den Präderiser Wiesen und folge aus mehreren voneinander unab- wird uns dadurch förmlich ein Wegwei- hängigen Trakten, die durch überdachte ser zu der entdeckten römischen An- Gänge miteinander verbunden waren. siedlung. (Jenny 1890, S. 8) Durch die Anordnung der Gebäudeteile waren auf diese Weise im Laufe der Zeit Die Fundstätte beschreibt der Gra- auch zwei Höfe (IV und VII) entstanden. bungsleiter als einen Kilometer von Jenny hatte die bauliche Entwicklung der Altenstädter Kirche entfernt, am in drei Phasen eingeteilt, was Johannes alten Fußweg nach Meiningen gelegen, Pöll (2001, S. 239), der als Grabungslei- „[…] in wasserreicher fruchtbarer Ebe- ter im Auftrag des Bundesdenkmalamts ne, die sich sowohl zum Betriebe der rund 120 Jahre später an gleicher Stelle Viehzucht, als dem des Ackerbaues vor- tätig war (s. S. 19), als „bemerkenswert“ züglich eignet.“ (Jenny 1890, S. 8) Trotz einstufte, da Jenny Unterschiede in der der flachen Lage biete der Ort „freieste Mauerwerktechnik und der Bauausfüh- Aussicht nach allen Seiten“ (ibid.), und rung festgestellt und daraus die genann- damit seien auch jene höher gelegenen ten zeitlichen Abweichungen abgeleitet Punkte, „die sich den Römern zu Rauch- hatte. Pöll (2001, S. 239), dazu wörtlich: und Feuersignalen der sowohl links als An seinen Beobachtungen am Mauer- rechts vom Rheine ziehenden Straße werk ist nicht zu zweifeln, an der Abfol- entlang empfehlen mußten [sic!], […] bis ge der Phasen vielleicht schon, denn die in weite Ferne übersehbar.“ (ibid.). damals übliche Grabungstechnik sah keine Dokumentation von Schichtzu- Jenny, der ja bereits über einige archäo- sammenhängen vor, wodurch erst die

Seite 76 einzelnen Mauern und Böden in eine 5. Wissenschaftliche Erkundung an relative Abfolge gebracht werden kön- der Schwelle zum neuen Jahrtausend nen. Entscheidend war allein die Auf- deckung der Mauern und der daraus Mehr als 100 Jahre dauerte es nach Jen- ablesbare Grundriss, was an den Gra- nys Ausgrabung in der Flur ‚Uf der Stu- bungsgrenzen klar sichtbar ist. da‘, bis die wieder im Boden verborge- nen Überreste des römischen Anwesens Fasst man die Erkenntnisse der ers- erneut in das öffentliche Blickfeld gerie- ten wissenschaftlich relevanten Erfor- ten, wenn auch nicht im wörtlichen Sin- schung der archäologischen Stätte ‚Uf ne: Da die dortigen, landwirtschaftlich der Studa‘ zusammen, so kann man genutzten Flächen Ende der 1990er Jah- Funde vom 2. bis 4. Jahrhundert nach- re in ein Gewerbegebiet umgewidmet weisen, die „eine lange andauernde Be- werden sollten – was eine großflächige siedlung am Platz nahelegen und eine Über-bauung zur Folge gehabt hätte Benutzung der Anlage in der Spätzeit –, wurde der Ruf nach einer genauen der römischen Herrschaft belegen.“ Standortbestimmung des Gebäudekom- (Pöll 2001, S. 241). plexes laut. (Vgl. Pöll 2001, S. 241).

Dafür konnte man nun moderne, ar-

Abb. 4: Gesamtplan der Fundstätte ‚Uf der Studa‘ 1999 – nach geophysikalischer Prospektion durch ARCHEO PROSPECTIONS ® – mit der denkmalgeschützten Kernzone (blau) und der größeren Fundzone (gelb).

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chäologische Prospektionsmethoden Baubegleitung notwendig war. (Vgl. Pi- nutzen, die es ermöglichen, Fundor- cker 2017, S. 27). te „ohne mühsamen Spateneinsatz“ (ibid.) ausfindig zu machen: Neben der Bevor auf die genannten Ausgrabungen Luftbildarchäologie wird heutzutage näher eingegangen wird, soll der Situ- nämlich zunehmend die sogenannte ationsplan, der die Ergebnisse der geo- geophysikalische Methode angewandt, physikalischen Prospektion von 1998 wobei in Österreich das Team von AR- und 1999 zusammenfasst (s. Abb. 4), CHEO PROSPECTIONS ®, das auch in erläutert werden: Die große, blau um- Feldkirch-Altenstadt tätig wurde, auf rahmte Fläche kennzeichnet demnach diesem Gebiet als federführend gilt; den heute unter Denkmalschutz ste- bei dem Unternehmen handelt es sich, henden Bereich, in dem die nachgewie- nebenbei bemerkt, um eine Abteilung senen Gebäudereste (als Grundrisse in der Zentralanstalt für Meteorologie und Schwarz dargestellt) derzeit laut Picker Geodynamik in Wien. (Vgl. Pöll 2001, S. (ibid.) nicht freigelegt werden sollten, da 241). sie unter der schützenden Bodenschicht am besten konserviert blieben. 5.1 Geophysikalische Untersuchung offenbart neue Gebäudefunde Die gelb gekennzeichnete Fläche stellt die darüber hinausgehende, archäolo- Mit überraschendem Ergebnis wurde gische Fundzone dar. Bei dieser handelt in den Jahren 1998 und 1999 der Bereich es sich um ein Gebiet, das, sollte dort ‚Uf der Studa‘ geophysikalisch unter- ein Bauvorhaben beabsichtigt sein, zu- sucht – im Detail mit den Mitteln des vor archäologisch untersucht werden Bodenradars, der Geoelektrik und der muss. In diesem Areal befinden sich Geomagnetik (s. Abb. 4). Neben dem auch die (rot markierten) Objekte bezie- Nachweis der bereits von Samuel Jen- hungsweise Bereiche, die durch die Gra- ny ausgegrabenen und dokumentierten bungen zwischen 2005 und 2016 näher Objekte (s. Abb. 3) wurden dabei auf der erkundet wurden. In diesem Zusam- 10 Hektar großen Fläche zehn weitere menhang sei angemerkt, dass die Kam- Gebäude, ein Straßenzug und die Um- pagne von 2016, die im nordwestlichen fassungsmauer des Gebäudekomplexes Randbereich erfolgte, bis auf einzelne prospektiert; letztere reicht übrigens im Kleinfunde nicht weiter nennenswert Osten bis an die heutige Bebauung her- erscheint und der dazugehörige Gra- an. (Vgl. Pöll 2001, S. 241) bungsbericht bis dato noch nicht veröf- fentlicht wurde. Der unerwartete Prospektionsbefund hatte im neuen Jahrtausend eine Rei- 5.2 Ausgrabungen zwischen 2005 und he weiterer Grabungen – bis 2008 noch 2013 liefern neue Aspekte zu Clunia durch das Bundesdenkmalamt selbst und danach in dessen Auftrag – zur Fol- In der ersten, auf die geophysikalische ge; die bisher letzte Grabungskampagne Prospektion folgenden Grabungskam- fand im Jahr 2016 statt und resultierte pagne durch das Bundesdenkmalamt aus einem Straßen- und Wegbaupro- wurden im Jahr 2005 an drei Stellen jekt der Stadt Feldkirch im Bereich des Suchschnitte geöffnet, um das Vorhan- Räterwegs, für das eine archäologische densein und den Aufbau einer breiten

Seite 78 Straße im Osten des römischen Anwe- sens zu bestätigen. Der erste Schnitt mit einem Ausmaß von 15 x 3 Metern brachte daraufhin die südwestliche Mauerecke eines römischen Gebäudes (s. Gebäude N, Abb. 5), zu Tage. Direkt daneben fand man eine zur Westwand parallel verlaufende Gesteinsfläche. Diese war bei der Prospektion sechs Jahre zuvor als Straße gedeutet worden, eine Annahme, die nunmehr durch den Grabungsbefund, wenn nicht widerlegt, so doch stark bezweifelt werden musste. (Vgl. Pöll 2006, S. 67)

Der zweite, nördlich vom ersten liegen- de Suchschnitt hatte eine Abmessung von 6 x 5 Metern. In einer Kulturschicht aus der Römerzeit wurde dort unter anderem eine Gesteinsstruktur, die als Abb. 5: Orientierungsplan der Grabungs- Hofmauer gedeutet wurde, begleitet kampagnen 2005 – 2013 in der Flur ‚Uf der von einer Reihe von Kleinfunden, frei- St ud a‘. gelegt. Unter diesen befanden sich eine Bronzefibel aus dem 1. Jahrhundert so- wie zwei Bronzemünzen aus dem 3. erneute Münzfunde belegt – im 3. bis 4. Jahrhundert, die Rückschlüsse auf eine Jahrhundert errichtet oder zumindest in frühe Besiedelung im Bereich ‚Uf der diesem Zeitraum genutzt. Im Inneren Studa‘ zulassen. Außerdem wurden des Gebäudes fand man zwei Reihen überraschenderweise einige eisenzeitli- von Holzpfosten beziehungsweise die che Funde getätigt, die aus dem 2. bis 1. entsprechenden Gruben. Diese könnten Jahrhundert v. Chr. (späte Là-Tene-Zeit) als Stützen für ein Obergeschoss ge- stammen. Dies lässt auf eine noch ältere dient haben. Das Gebäude an sich wur- Vorgängersiedlung schließen. Im drit- de als Speicher gedeutet, obwohl seine ten Suchschnitt, der westlich des zwei- Funktion bis dato nicht zweifelsfrei ge- ten lag, wurden lediglich zwei Pfosten- klärt wurde. Außerdem wurden erneut, gruben aufgedeckt. (Vgl. Pöll 2006, S. 67) wie schon bei der Grabung 2005, einige Keramikteile und eine Trockenmauer Im Folgejahr wurden erneut Ausgra- nördlich des Gebäudes entdeckt, die aus bungen vorgenommen, deren Ziel der späten Bronze- oder frühen Eisen- diesmal die teilweise Freilegung eines zeit datieren, was die Annahme, dass ca. 20 x 14 Meter großen, rechteckigen die römerzeitlichen Bauten an einem Gebäudes (s. Gebäude M, Abb. 5) war, bereits früher kultivierten Ort errichtet das man neben einem augenscheinlich wurden, weiter bekräftigt. (Vgl. Pöll, jüngeren, quadratischen Vorbau (etwa 7 2007, S. 69 f.) x 7 Meter) im Südosten des Areals son- diert hatte. Dieses wurde wohl – durch Im Jahr 2007 wurde die Ausgrabung im

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selben Bereich fortgesetzt; dabei wur- la Peutingeriana verzeichneten Haupt- den die restlichen Teile, das heißt die straße, verlaufe, von Levis kommend, westliche Hälfte des bereits genannten nicht ideal, wenn sie direkt an diesem Gebäudes M (s. Abb. 5), freigelegt und Gebiet anliege. Es wäre daher plausibel, im Anschluss im Südwesten ein 16 x 2 dass der Gebäudekomplex, so wie auch Meter großer Suchschnitt vorgenom- die Römervilla in Rankweil-Brederis, men. Dabei fand man im neu ausgeho- über eine Stichstraße mit der Überland- benen Teil des Gebäudes ebenfalls acht straße nach Brigantium/Bregenz ver- Pfostengruben. Zusammen mit den im bunden gewesen wäre. Vorjahr bereits freigelegten Pfostenset- zungen konnte damit das mutmaßliche Dem Grabungsbefund aus 2007 zufol- Aussehen des Gebäudeinneren rekons- ge handelt es sich bei den vorgefunde- truiert werden: Bei den beiden entlang nen, weitflächigen Resten vielmehr um der Mittelachse vorgefundenen Pfosten ein Gehniveau, das aus Kieselsteinen, handelte es sich den Archäologen zu- kleinteiligem Ziegelbruch, Mörtel und fol-ge demnach vermutlich um Träger Tuffbrocken besteht. Somit gehen die für eine Dachkonstruktion. Die übrigen Archäologen eher von einer Pflasterung Pfosten dienten wohl als Unterbau für innerhalb des römischen Siedlungskom- einen Holzboden, womit die Annahme, plexes als einer viel befahrenen Straße dass es sich um ein Speichergebäude aus. (Vgl. Pöll, Knoche 2008, S. 67 f.) handelte, bekräftigt wird. Des Weiteren wurde in dem betreffenden Untersu- Im Frühjahr 2008 wurde dann erneut chungsgebiet ursprünglich, aufgrund eine Flächengrabung im genannten der geophysikali-schen Untersuchung, Bereich vorgenommen und dabei zwei eine Straßenstruktur angenommen neue Grabungsflächen von jeweils etwa (Grabungsbefund 2005, s. S. 21) und ge- 14 x 9 bzw. 10 Metern geöffnet. Ziel hofft, dass es sich bei dieser um einen dieser Grabungskampagne war es, die Beleg für die mit Gräben gesäumte rö- nach den geophysikalischen Messun- mische Hauptstraße Mailand–Bregenz gen von 1998/1999 erwarteten Stein- (mit Clunia als Straßenstation) han- planierungen, die zunächst ebenfalls deln würde. Allerdings wurde diese als Straße interpretiert worden waren, Deutung von den Wissenschaftlern archäologisch zu beleuchten. Fläche 1 nun erneut und wohl endgültig wieder befand sich nördlich an das Grabungs- verworfen, da es bei den freige-legten gebiet von 2007 anschließend, Fläche 2 Funden an wichtigen Merkmalen eines noch rund 30 Meter weiter nördlich. Bei Straßenkörpers, wie beispielsweise ei- dieser Grabung wurde ein Profil aus bis nem Unterbau oder Fahrrillen, fehlte. zu vier übereinander liegenden Schich- (Vgl. Pöll, Knoche 2008, S. 67 f.) ten, bestehend aus einem gleichmäßi- gen Pflaster, freigelegt. Interessant ist Diese Annahme greift auch Picker (2017, in diesem Zusammenhang die Feststel- s. S. 30) im Interview auf, wenn er sagt, lung, dass die Schichten im nördlichen dass es sich bei dem Gebiet ‚Uf der Stu- Bereich dünner als die im südlichen da‘ durchaus um eine große Villa mit sind. Da die Mehrfachschichten zum Zusatzgebäuden oder einen Gutshof Ausgleich von Unebenheiten dienten, gehandelt haben könne. Denn die ge- lässt dies darauf schließen, dass in der dachte Verkehrsachse der auf der Tabu- Römerzeit das nördliche Gebiet höher

Seite 80 lag als das südliche. Diese These wird den Erkenntnissen der Grabungen von auch dadurch gestützt, dass die paral- 2008 überein (s. S. 23). Außerdem wur- lel zur Straße verlaufenden Gräben im den in der Nähe des Gebäudes N eini- Süden sowohl tiefer, als auch mit mehr ge urzeitliche Funde getätigt, was wie- und tieferen Sickergruben bestückt wa- derum die Erkenntnisse der früheren ren, als im nördlichen Abschnitt. (Vgl. Grabungen, dass der Gebäudekomplex Pöll, Knoche 2009, S. 72) ‚Uf der Studa‘ auf einer sehr viel älteren Kulturschicht beziehungsweise einem Die umfangreichste Ausgrabung der zuvor besiedelten Ort errichtet wurde, letzten Jahre stellt die eines dreiköpfi- untermauert. gen Grabungsteams unter der Leitung von Brigitte Fettinger im Jahr 2013 dar. 6. Resümee Dessen Arbeit umfasste und verband die seit 2005 näher untersuchten Gebie- Wer heute entlang des Altenstädter te (ab-gesehen von zwei Suchschnitten Feldkreuzweges spazieren geht und aus der damaligen Grabungskampa- seinen Blick über das unbebaute Gelän- gne). Bei dem nun freigelegten Areal de schweifen lässt, würde wohl kaum handelt es sich um das östliche Gebiet vermuten, dass sich unter der grünen des Gebäudekomplexes ‚Uf der Studa‘, Wiese eines der bedeutendsten Boden- außerhalb des unter Denkmalschutz denkmale Vorarlbergs verbirgt (s. Abb. stehenden Geländes (s. Abb. 5), in dem 6). Und das, obwohl beinahe 120 Jahre sich das Gebäude N und die noch nicht nachdem der bekannte Altertumsfor- offengelegten Bereiche des römischen scher Samuel Jenny dort die Ruinen Gehniveaus beziehungsweise des Stra- eines spätantiken Gebäudekomple- ßen- oder Wegkörpers befinden. Bei xes ausgegraben hatte, die Ergebnisse der aktuellen Untersuchung konnte der modernster archäologischer Untersu- Grundriss des prospektierten Gebäudes chungsmethoden die Fundstätte ‚Uf der N allerdings nicht komplett offengelegt Studa‘ plötzlich massiv in das öffentli- werden, da ein Teilbereich bereits über- che Blickfeld rückten. Nach der geophy- baut ist – dieses Areal befindet sich in sikalischen Prospektion von 1998/1999 Privatbesitz und ist als Bauland gewid- wusste man, dass sich eine erhebliche met. Hinsichtlich des Wegstückes er- Zahl weiterer Bauten aus der Römerzeit gaben die weiteren Grabungsbefunde unter einer Fläche von rund 30.000 Qua- jedoch, dass es sich bei den Steinrollie- dratmetern befand, insgesamt also eine rungen vor dem Gebäude wohl eher um gewaltige Anlage! einen massiven, gepflasterten Vor- oder Stellplatz als um eine römische Haupt- Wie in der vorliegenden Arbeit auf- straße handelt. (Vgl. Fettinger 2014, S. gezeigt, wurden in der Folge dieser D4991) spektakulären Entdeckung mehrere Grabungskampagnen durch das Bun- Beim südlichen Teil der Grabung wur- desdenkmalamt in Auftrag gegeben den weitere Teile dieses Weges freige- – auch vor dem Hintergrund bezie- legt. Es handelt sich dabei um einzelne hungsweise im „Spannungsfeld zwi- gepflasterte Gesteinsflächen, die von schen wirtschaftlicher Nutzung und Gräben, Sickergruben und Pfostenlö- Bewahrung eines Kulturdenkmals“ chern gesäumt sind. Das stimmt mit (Pöll 2001, S. 242). Das Ergebnis waren

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Abb. 6: Blick in nördlicher Richtung über das Bodendenkmal ‚Uf der Studa‘ in Feldkirch Al- tenstadt, wie es sich zu Beginn der vorliegenden Arbeit darstellt.

eine Reihe neuer wissenschaftlicher Er- abgewogene Annahme, dass es sich bei kenntnisse, wie zum Beispiel die Funde der archäologischen Fundstätte um die aus der Bronze- und Eisenzeit, die schon römische Straßenstation Clunia handelt, eine Besiedelung in vorrömischer Zeit bis in das 21. Jahrhundert Bestand; das als sicher annehmen lassen. Oder die heißt, sie kann auch mit den moderns- Verifizierung der Nutzung des Gebäu- ten wissenschaftlichen Methoden we- dekomplexes ‚Uf der Studa‘ bis in das der eindeutig bestätigt noch widerlegt 4. Jahrhundert hinein. Ein Aspekt ist je- werden. doch bis zum heutigen Tage ungeklärt geblieben und das ist die sogenannte Bis zum heutigen Tag stellt sich also ‚Clunia-Frage‘, die Historiker und Ar- dieselbe Frage: Was war Clunia und chäologen seit jeher beschäftigt. wo lag es? Zwar gibt es, wie eingangs erwähnt, inzwischen eine gewisse For- Wenngleich es eine ‚Binsenweisheit‘ ist, schungstradition. Aber der Name Clu- dass jede Erkenntnis, Bewertung und nia kann, wie Experte Picker (2017) im Schlussfolgerung – ob wissenschaftlich Gespräch feststellt (s. S. 30), ebenso eine oder nicht – vor dem Hintergrund ih- ganze „Siedlungskammer“ bezeichnen: rer Zeit zu sehen ist, so muss man Al- „Clunia-Straßenstation ist nicht gleich tertumskundler Jenny in Bezug auf die Clunia-Dorf, Clunia-Villa. Kann ja sein, erstaunliche Exaktheit, mit der er seine dass das alles diesen Namen getragen Grabungsfunde in der Flur ‚Uf der Stu- hat, auch zu verschiedenen Zeiten […]. da‘ kartographiert hat, auch aus heuti- Das ist alles viel komplexer, als man sich ger Sicht noch höchste Anerkennung das vorstellt.“ zollen. Ebenso hat Jennys sorgfältig

Seite 82 Feldkirch In: Fundberichte aus Österreich 2005. Band 44. Literaturverzeichnis, Bibliografie: Wien: Verlag Berger; S. 67. Informanten Mag. Dr. Andreas Picker MA (Gebietsreferent für Vorarl- Burmeister, Karl Heinz (1983): Geschichte Vorarlbergs. 2. berg am Bundesdenk-malamt, Abteilung für Archäologie): Auflage. Wien: Verlag für Geschichte und Politik. Gespräch am 08.11.2017 in Bregenz DEHIO (1983): Die Kunstdenkmäler Österreichs: Vorarl- Internetquellen: berg, bearb. von Gert Ammann [u.a.] Hrsg. Bundesdenk- Vorarlberg Chronik, Hrsg. Land Vorarlberg 2005, 3. Aufl. malamt (DEHIO-Handbuch der Kunstdenkmä-ler Öster- http://vorarlbergchronik.at/ (Zugriff am: 06.12.2017, 14:05) reichs). Horn/Wien: Verlag Berger. vorarlberg museum (2017): vorarlberg. ein making-of. Aus- Jenny, Samuel (1890): Römische Villa in Praederis bei Alten- stellungstexte Quartier C; Bregenz 2017. http://www.vorar- statt: (Station Cluni-a). In: Jahres-Bericht des Vorarlberger lbergmuseum.at/fileadmin/user_upload/landesmuseum/ Museum-Vereins, Nr. 29, Bregenz: Teutsch; S. 8 – 20. Ausstellungen/Quartier_C_making_of.pdf (Zugriff am: Klagian, Thomas (2007) Der Vorarlberger Landesmuseums- 28.12.2017, 17:48) verein - Das Vorarl-berger Landesmuseum. 150-Jahr-Ju- Brockhaus, Mansio. http://brockhaus.de/ecs/enzy/article/ biläum Vorarlberger Landesmuseumsverein 1857. Online mansio (Zugriff am: 04.01.2018, 12:45) im Internet: cdn2.vol.at/2007/04/Geschichte_des_Landes- Brockhaus, Peutingersche Tafel. http://brockhaus.de/ecs/ museumsvereines.pdf. enzy/article/peutin gerschetafel (Zugriff am: 04.01.2018, Niederstätter, Alois (2014): Geschichte Vorarlbergs. BAND 11:03) 1. Vorarlberg im Mit-telalter. Innsbruck: Universitätsverlag Wikipedia, Auxiliartruppen. https://de.wikipedia.org/ Wagner. wiki/Auxiliartruppen (Zugriff am: 04.01.2018, 09:35) Pöll, Johannes (2001): Die römische Straßenstation Clunia Wikipedia, Limes (Grenzwall). https://de.wikipedia.org/ und der Gebäude-komplex „Feldkirch-Altenstadt – Uf der wiki/Limes_(Grenzwall) (Zugriff am: 04.01.2018, 10:45) Studa“ – eine kritische Auseinanderset-zung mit einer Wikipedia, Peregrinus (Recht). https://de.wikipedia.org/ neuen Projektstudie. In: Montfort: Vierteljahresschrift wiki/Peregrinus_(Recht) (Zugriff am: 04.01.2018, 09:42) für Ge-schichte und Gegenwart Vorarlbergs. Jg 53, Heft 3. Wikipedia, Villa rustica. https://de.wikipedia.org/wiki/ Dornbirn: Vorarlberger Verlagsanstalt; S. 239 – 277. Villa_rustica (Zugriff am: 04.01.2018, 10:03) Rollinger, Robert (1993): Überlegungen zu einer römischen VOBS Vorarlberger Bildungsservice: Schulmediencen- Geschichte des Gebietes des späteren Vorarlberg mit beson- ter des Landes Vorarlberg / Vorarlbergs Geschichte in derer Berücksichtigung der Kummenbergregion. In: Kum- Bildern (3500101) → https://www.vobs.at/schulmedien- menberg: eine Schriftenreihe der Rheticus-Gesellschaft. Jg. center/medien/vorarlberg-medien/vorarlberg-bildrei- 2. Dornbirn, Wenin; S. 7 – 46. hen/3500101-vorarlbergs-geschichte-in-bildern/ Rollinger, Robert (1996): Eine spätrömische Straßenstati- Abbildungsverzeichnis on auf dem Boden des heutigen Vorarlberg: Die Frage der Abb. 1: Die römische Provinz Raetia mit Verwaltungssitz Lokalisierung, der Charakteristik und der historischen in Augusta Vindelicorum/Augsburg wurde um das Jahr 17 Einordnung von Clunia vor dem Hintergrund einer spätan- gegründet und bestand bis zu ihrer Teilung in eine Rae- tiken Verkehrsgeschichte der Raetia prima (nebst einer tia prima und eine Raetia secunda beinahe 300 Jahre lang. Forschungsgeschichte zur „Clunia-Frage“). In: Montfort: Quelle: ftp://ftp.vobs.at/dias/UHVF8_06.jpg (Zugriff am: Vierteljahresschrift für Geschichte und Gegenwart Vor-ar- 21.11.2017, 18:45) lbergs, Jg. 48, Heft 3, S. 187 - 242 Abb. 2: Der Ausschnitt der Tabula Peutingeriana, auf dem Rollinger, Robert (2003): Der Fund einer römischen Reiter- das antike Clunia vermerkt ist. Quelle: http://www2.vobs. statuette auf der Heidenburg, oder: Notizen zum Beginn at/dias/images/UHVF8_09_g.jpg (Zugriff am: 07.12.2017, der Beschäftigung mit der römischen Geschichte in Vorarl- 19:26) berg (II). In: Alemannia Studens: Mitteilungen des Vereins Abb. 3: Plan der 1883/84 von Samuel Jenny in Feldkirch-Al- für Vorarlberger Bildungs- und Studenten-Geschichte 2003 tenstadt‚ Uf der Studa‘ ausgegrabenen römischen Gebäude. Bd. 11. Regensburg: Roderer; S. 5 - 21 Quelle: Pöll, Johannes (2001): Die römische Straßenstation Rollinger, Robert (=R.R.) (2005): Die Römer im Gebiet des Clunia und der Gebäudekomplex „Feldkirch-Altenstadt späteren Vorarlberg. In: Vorarlberg-Chronik. Online im – Uf der Studa“ – eine kritische Auseinandersetzung mit Internet: http://vorarlberg-chronik.at/id1-bis400/roemer_ einer neuen Projektstudie; S. 240 vorarlberg (Zugriff am: 06.12.2017, 14:05) Abb. 4: Gesamtplan der Fundstätte ‚Uf der Studa‘ 1999 Vonbank, Elmar (1983): Zur Topographie urgeschichtlicher nach geophysikali-scher Prospektion durch ARCHEO und römerzeitlicher Fundstätten in Vorarlberg. S. XI – XX. PROSPECTIONS® – mit der denkmalgeschützten Kern- In: DEHIO (1983): Die Kunstdenkmäler Österreichs: Vorar- zone (blau) und der größeren Fundzone (gelb). Quelle: Zur lberg, bearb. von Gert Ammann [u.a.] Hrsg. Bundesdenk- Ver-fügung gestellt von Mag. Dr. Andreas Picker MA/ BDA mal-amt (DEHIO-Handbuch der Kunstdenkmäler Öster- Abb. 5: Orientierungsplan der Grabungskampagnen 2005 reichs). Horn/Wien: Verlag Berger. – 2013 in der Flur ‚Uf der Studa‘. Quelle: Zur Verfügung ge- Fundberichte stellt von Mag. Dr. Andreas Picker MA/ BDA Fettinger, Brigitte (2014): Bericht zur Grabung Feldkirch-Al- Abb. 6: Blick in nördlicher Richtung über das Bodendenk- tenstadt, römische Siedlung ‚Uf der Studa‘ (Clunia) 2013 In: mal ‚Uf der Studa‘ in Feldkirch Altenstadt, wie es sich zu Fundberichte aus Österreich 2013. Band 52. Wien: Verlag Beginn der vorliegenden Arbeit darstellt. Quelle: Eigene Berger; S. D4958 - S. D4994. Aufnahme von Gabriel Summer (22.09.2017, 15:05) Pöll, Johannes; Knoche, Irene (2009): KG Altenstadt, SG Feldkirch, VB Feld-kirch In: Fundberichte aus Österreich 2008. Band 47. Wien: Verlag Berger; S. 72. Pöll, Johannes; Knoche, Irene (2008): KG Altenstadt, SG Feldkirch, VB Feldkirch In: Fundberichte aus Österreich 2007. Band 46. Wien: Verlag Berger; S. 67 - 68. Pöll, Johannes (2007): KG Altenstadt, SG Feldkirch, VB Feldkirch In: Fundberichte aus Österreich 2006. Band 45. Wien: Verlag Berger; S. 69 - 70. Pöll, Johannes (2006): KG Altenstadt, SG Feldkirch, VB

Seite 83 110 Jahre KMV Clunia

Frauen in der Politik

Elisabeth Gehrer, Bundesministerin A.D.

sind das 35,52 % und nicht mehr! Tatsa- che ist aber auch, dass viele Frauen heut- zutage besser ausgebildet sind als viele Männer, mehr Frauen machen Matura, mehr Frauen als jemals studieren.

Woran liegt es nun, dass in den politi- schen Funktionen die Frauen immer noch so unterrepräsentiert sind? Ich möchte nun keinen trockenen Be- richt über Emanzipation und Gleichstel- lung liefern, sondern einige Episoden berichten, die ich erlebt habe und wel- che mögliche Gründe aufzeigen.

Ich habe mich immer bemüht, Frauen zu motivieren, politisch tätig zu sein, Oft wurde ich gefragt, wie man Ministe- sich in Listen aufstellen zu lassen. Wie rin wird. Meine Antwort darauf war im- oft habe ich da gehört: „Nein, das kann mer: „Ministerin wird man nur, wenn ich nicht, das trau ich mich nicht!“ Es man dann, wenn man gefragt wird, ja fehlte einfach am Selbstbewusstsein. sagt!“ Bei Männern habe ich das nie erlebt, die halten sich meistens für jede Position für Diese Antwort birgt eine grundsätzli- geeignet. So habe ich begonnen, Selbst- che Frage in sich: Wie kommt es dazu, bewusstseinskurse zu organisieren, mit dass eine Frau gefragt wird, ob sie eine guten Referentinnen, Videotraining politische Funktion übernehmen will? und Feedback Kultur. Es wurde trai- Üblicherweise sind es ja Männer, wel- niert Reden zu halten, vor einem Spiegel che diese Fragen stellen sollten. Und das zu üben, einen Spick-Zettel zu schrei- ist nicht so einfach, denn jede Frau auf ben. Die Videoaufnahmen wurden ge- einer Liste verdrängt einen Mann. 52 % meinsam besprochen und verbessert. der Wählerschaft sind Frauen, was sich Es wurden gemeinsam viele Tipps für in den verschiedenen Parlamenten und ein selbstbewusstes Auftreten erarbei- Regierungen aber nicht widerspiegelt. tet: 2018 gibt es im österreichischen Natio- • Übernehmt nicht überall automatisch nalrat 65 Frauen, bei 183 Abgeordneten die Rolle der Schriftführerin, stellt euch

Seite 84 der Wahl zur Obfrau. Was meine ich damit? • Meldet euch bei Diskussionen sofort zu Wort. Wenn schon alles von Män- Der ehemalige Landeshauptmann von nern gesagt ist, horcht euch niemand Südtirol Dr. Magnago hat die „positive mehr zu. Diskriminierung“ bei einer Rede an- • Hört auf Kaffee einzuschenken und schaulich erklärt. Es ging um die Frage, Nusskipfel zu verteilen. Das kann doch genügt in Südtirol eine Gleichbehand- jeder Mann selber. lung von Südtirolern und Italienern? • Schreibt euch Spickzettel für euren Redebeitrag und übt daheim vor dem Dr. Magnago sagte: „Das genügt nicht. Spiegel. Es gibt ein großes Ungleichgewicht zwi- • Lasst euch von eurer Familie das poli- schen Südtirolern und Italienern bei der tische Engagement nicht vermiesen. Besetzung von Posten, bei der Vergabe • Scheut euch nicht vor einer Kampfab- von Wohnungen, bei Führungspositi- stimmung, das gehört zum politischen onen. Überall sind die Italiener vorne. Leben dazu. Es besteht also eine große Ungleichheit • Beherzigt den Satz: „Immer lieb ist und Ungleiches kann man nicht gleich auch fad!“ Und wir wollen ja nicht, dass behandeln. es die Männer fad haben. Die Südtiroler müssen so lange bevor- • Diskutiert offen mit allen, wie wich- zugt werden, bis zwischen beiden Be- tig politische Arbeit ist, denn ohne diese völkerungsgruppen ein Gleichstand Tätigkeiten hätten wir keine Demokratie erreicht ist. Dann kann die Gleichbe- sondern wahrscheinlich eine Diktatur. handlung erfolgen.“

Vielleicht haben diese Kurse etwas be- Dieser Gedankengang hat mir sehr gut wegt. Bei der Listenerstellung zur Ge- gefallen. Frauen müssen solange bevor- meindewahl 1998 mit dem Spitzenkan- zugt werden, bis 52 % der Positionen didaten Dipl.Vw. Siegfried Gasser haben mit Frauen besetzt sind, denn auch 52 wir eine Liste mit 52 % Frauenanteil im % der Wählerschaft sind Frauen. Wenn Reißverschlusssystem erstellt. Das war wir einmal 52 % der politischen Positi- immerhin ein Fortschritt. onen besetzen, dann kann eine Gleich- behandlung zwischen Frauen und Män- Mit der Solidarität unter Frauen ist es nern erfolgen. Das nenne ich positive auch so eine Sache. Ich habe immer wie- Diskriminierung der Männer bis ein der erlebt, dass Männer bei Listenerstel- Gleichstand erreicht ist. lungen prinzipiell Männer wählen und etliche Frauen auch noch Männern die Was ich auch in meiner Laufbahn ge- Stimme geben. Ich habe mir oft überlegt, lernt habe ist, dass eine Frau sich um warum das so ist. Vielleicht ist es histo- des lieben Friedens willen nichts gefal- risch begründet. Es war immer so, dass len lassen darf. Bei einer Sitzung mit Männer vorne sind und Frauen eine lauter Männern sagte der Vorsitzende untergeordnete Rolle spielen. Dagegen zu mir: „Liesl, schreib mit!“ Ich war baff hilft nur eines – die Quotenregelung. Ich und antwortete: „Schreib doch selber, war und bin eine große Befürworterin Du kannst ja auch schreiben!“. Natür- einer Quotenregelung mit einer positi- lich war er sauer, aber das musste ich ven Diskriminierung der Männer. aushalten. Es muss Schluss damit sein,

Seite 85 110 Jahre KMV Clunia

dass Frauen automatisch untergeord- • Mangelnde partnerschaftliche Auftei- Wir nete Rollen zugeteilt werden. Auch lung von Aufgaben. manche Journalisten tragen zu dieser • Immer noch vorhandenes Machtden- gratulieren Rollenfestlegung bei. Ich war gerade ken der Männer. der KMV Clunia von der ÖVP zur Ministerin nominiert • Geringes Ansehen von politischen Tä- zu ihrem 110. #glaubandich Jubiläum! worden, wollte der ORF schon ein ers- tigkeiten in der Gesellschaft. tes Interview. Eine Frage dabei lautete: „Und was macht jetzt ihr armer Mann in Es macht mich immer noch traurig, Bregenz?“. Meine Antwort: „Ein durch- wenn Politikerinnen und Politiker nicht Wir wollen unseren Kundinnen und Kunden Mut schnittlich intelligenter Mann verhun- geschätzt werden, wenn ihre Arbeit gert nicht!“. Ich habe noch nie gehört, nicht gewürdigt wird. Ohne Menschen, machen. Mut an etwas zu glauben, an Zielen dass ein Mann bei seiner Nominierung die sich politisch engagieren, hätten wir danach gefragt wird, wie es denn seiner keine Demokratie, sondern wahrschein- festzuhalten – und diese auch zu verwirklichen. Frau gehe. lich eine Diktatur. Politische Arbeit ist Arbeit für das Miteinander in einer Wir, als Sparkasse Feldkirch, glauben an Sie und Die Gründe, warum nicht genügend Gesellschaft, für die Entwicklung des Frauen in der Politik sind, sind also viel- Landes, für das Funktionieren des Staa- unterstützen Sie dabei. fältig: tes und für das Leben in einem gemein- • Mangelndes Selbstbewusstsein. samen Europa. Ich wünsche mir daher • Überbelastung durch familiäre und viele Frauen, die bereit sind, zusammen soziale Aufgaben. mit den Männern unser schönes Öster- • Doppelbelastung durch Beruf und Fa- reich zu gestalten. www.sparkasse-feldkirch.at milie. facecbook.com/spkfeldkirch Denk ein starkes TEAM!

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Der Clunier ist die verbandsübergreifen- de Zeitschrift der KMV Clunia und der katholischen Verbindungen Vorarlbergs einschließlich des Vorarlberger Cartell- verbandes.

clunia.at/clunier.php

Seite 87 110 Jahre KMV Clunia

Geschichte der KMV Clunia

1907/08 Katholische Gründungswelle

Im Jänner 1907 stifteten drei Dorn- birner Realschüler - mit Unterstützung der Cimbria Innsbruck - eine Siegberg. Anfang September feierten die CVer in Bregenz ein prächtiges VCV-Fest. Zwei Wochen später schlossen sich Bregen- zer Gymnasiasten am Kustersberg, der Überlieferung nach im Schutz einer großen Eibe, zu einem gleichnamigen katholischen Freundeskreis zusammen, der sich unter deutschfreiheilichem Druck zur Verbindung festigte.

1908 Ferienfreuden und Strafgericht 1908

Wir dürfen davon ausgehen, dass der Gründungssenior Oskar Kleboth starb Großteil der späteren Gründungsbur- bereits 1919. Dieses Foto ziert seinen schen und –füchse Clunias bereits Fe- Grabstein in Gaschurn. riensippen angehörten.

Das belegt auch das Protokoll einer CV Innsbruck) als Burggeist außerordentlichen Lehrerkonferenz, verzauberte. – Das allerdings konnte die Direktor Dr. Viktor Perathoner (1846 Perathoner allenfalls nur vermuten. Um bis 1915) am 1. Oktober 1908 einberief. was es sich in Götzis aber gehandelt Er hatte selbst beobachtet, wie etliche habe, lasse eine Postkarte ahnen, mit der seiner Schüler am 11. August 1908 mit Hoch- und Mittelschüler einen Herrn in dem Zug nach Götzis fuhren. – Dort tra- Feldkirch „vom fröhlichen Stiftungsfes- fen sich in der „Taube“ die Feriensippen te Alemannias“ die herzlichsten Grüße zum jährlichen „Kaiserkommers“ (zu sandten. – Alemannia Bludenz feierte Kaisers Geburtstag, 18. August), an dem im September drei Tage lang ihr 15. Stif- neben Honoratioren 130 Studenten teil- tungsfest; die Kommersrede hielt Lan- nahmen und am Abend zur Neuburg deshauptmann Adolf Rhomberg. zogen, wo sie Impressario Wilhelm En- der v/o Ketsch (1881 bis 1918, Montfort,

Seite 88 Im Sommersemester 1909 stellen die Aktiven Reverse aus, dass sie sich – wie Adolf Zech – freiwillig an der Gründung beteiligt haben oder – wie Michael Simma – Clunia aus freien Stücken beigetreten sind.

1908 (1887 bis 1966), den eigentlichen Grün- Gründungsversammlung am dern, jedenfalls noch David Jochum 22. Dezember (1883 bis 1970, Lehrer und Bludenzer Bürgermeister), Ferdinand Netzer v/o Nur drei Tage später, am 22. Dezember Klips (1889 bis 1987, Professor in Inns- 1908 trafen sich „etliche Oktovaner“ auf bruck), Rudolf Böhler v/o Mignon (1887 der Bude Adolf Zechs, der bei Kauf- bis 1962, Priester) und Josef Vinzenz mann Karl Briem (Schmiedgasse 21) (1890 bis 1967, plante die Vereinigungs- logierte. Von der Maturaklasse 1907/08 brücke) als Clunier nachweisen. Das lassen sich neben Senior Oskar Kleboth wären sieben von 16 Maturanten. (1889 bis 1919), Fuchsmajor Max Lützel- schwab (1888 bis 1912) und Adolf Zech Was sie genau beschlossen, bevor sie in die Weihnachtsferien auseinandergin- gen, ist nicht mehr überliefert. Jeden- falls rangen sie sich zur Gründung einer richtigen Verbindung durch, auf Gedeih und Verderb. Später mussten alle Grün- dungsburschen und auch die Füchse schriftlich bestätigen, dass sie Clunia freiwillig beigetreten sind. Mit diesem be- und entlastenden Dokument versi- cherte sich Clunia ihrer Loyalität. Die Statuten verpflichteten zur strengsten Wahrung des Verbindungsgeheimnis- ses und sahen einen Schutzmechanis- mus vor, der es bei Untersuchungen er- Adolf Zech in jungen Jahren. möglichte, selbst unter Eid den Bestand

Seite 89 110 Jahre KMV Clunia

einer Verbindung zu leugnen: „Bei Ge- Zufall, fand an diesem Tag der offizielle fahr gilt die Verbindung für aufgelöst: Gründungsconvent statt oder das Da- Es hat jedoch jedes Mitglied derselben tum bezog sich auf die Gründungsfeier, die Pflicht, nach Beseitigung der Gefahr die am 23. (oder 28.) Februar 1909 im al- sich wieder zu melden.“ ten Göfner Pfarrhaus stattfand.

Wann der Verbindungsname gewählt Spätestens bei dieser Gelegenheit müs- wurde, wissen wir nicht. Zech folgend sen die ersten Füchse rezipiert worden erinnert er an die Gründungskneipe in sein. Denn Senior Oskar Kleboth wies in Göfis, wo man mit der „Heidenburg“ die seiner Festrede darauf hin, dass Cluni- legendäre römische Poststation Clunia as imposanter Bau bereits auf 13 Säulen gefunden glaubte. Der Name stand aber ruhe. bereits zuvor fest. Der Saxobaier Gissin- ger dankte der „katholischen deutschen Clunias mit 136 Paragraphen sehr detail- Mittelschulverbindung Clunia“ für die freudigen Gründungssatzungen sind Einladung zur Gründungsfeier; und uns in einer Abschrift überliefert, die verwendete bereits den Clunia-Zirkel. Karl Kleiner v/o Hagen (1904 bis 1995), später als Pater Sighard Generalabt der Während Siegberg, Kustersberg, Ar- Zisterzienser, 1922 als Unterlage für die tus-Tafelrunde und auch der Hainbund Gründung der Altmehrerauer-Verbin- deutsche Namen wählten, fiel mit Clu- dung Augo Nibelungia Innsbruck an- nia die Entscheidung für einen lateini- fertigte. Die programmatischen Bestim- schen Namen. mungen lauten:

Michael Simma (1891 bis 1971), einer der „§ 1. Die Clunia ist eine deutsche, patri- ersten Füchse, erklärte 1920, weshalb otische, katholische Lebensverbindung bei der Gründung gerade die Farben von Studenten des Obergymnasiums in Rot-Weiß-Gold und himmelblaue Müt- Feldkirch. zen gewählt worden seien: „rot-weiß § 2. Sie bezweckt die Förderung der sind die Farben unseres Heimatlandes katholischen Religion, Vaterlandsliebe, Vorarlberg und gelb-weiß die Farben Freundschaft und Wissenschaft. Als des Papstes. Zu beiden stehen wir als solche verbietet sie allen ihren Mitglie- kath.-deutsche Studenten ‚In Treue fest!’. dern aufs strengste Duell und Mensur. Die Fröhlichkeit soll aber auch gepflegt § 3. Sie bezweckt ferner, das Leben der werden, heiter wollen wir sein wie der Mitglieder in kollegial-freundschaftli- blaue Himmel.“ Der Wahlspruch „In cher Weise zu gestalten, durch Gesellig- Treue fest!“ wurde vielleicht von den keit zu beleben, sowie sich gegenseitig Kaiserjägern entlehnt, bei denen die im Studium zu unterstützen.“ Vorarlberger dienten. Vermutlich stimmten die Gründer in 1909 Göfis bereits die martialische Burchens- Clunias Programm trophe an. Und deshalb wohl die Bur- schenstrophe: „Frisch voran mit keckem Beim VPV wurde Clunia zunächst mit Mute! Burschen prägts ins Herz euch dem 21. Februar 1909 als Gründungs- ein: Lasst uns kämpfen für die Freiheit, datum geführt. Vielleicht war das kein treten für die Wahrheit ein!’ Wir als ech-

Seite 90 te Deutsche dienen nimmer im Tyran- freundschaftliches Verhältnis.“ Clunia nensold und vor unsern Augen flieget war sistiert. Sie wird in den Annalen hoch das Banner Rot-weiß-gold!“ erstmals 1919 erwähnt, als Kustersber- ger am 11. April offiziell den Osterkom- „Christlich, deutsch und frei!“ prangte mers Clunias besuchten. Artus Tafel- auf dem Keilfalter, mit dem die CV-Ver- runde musste mehrfach sistieren und bindungen im Sommer 1908 in großer überdauerte den Weltkrieg nicht. Auflage um die Maturanten warben.61 Gut katholisch, gut österreichisch und Die jungen Clunier beteiligen sich an in diesem Sinne auch gut deutsch woll- der Gründung weiterer Feriensippen. ten die katholischen Korporationen Rudolf Bachmann v/o Dagobert (1891 Alt-Österreichs sein. bis 1953) und Friedrich Bachmann v/o Bacchus (1890 bis 1962) gründeten mit 1909 einigen Stellanern im Vorderland – auf Beitritt zum VMCV Walgau-Territorium – am VCV vorbei eine Rhätia. Michael Simma v/o Sieg- Laut dem „Kartellbericht“ des Vororts fried beteiligte sich 1911 an der Grün- Siegberg für 1908/09 sagten die Feld- dung der Silva Brigantina für den Bre- kircher bei einer „Festkneipe“ der Clu- genzerwald. nia am 29. Mai 1909 den Beitritt zum VMCV zu. Diese Zusage lösten sie beim 1911 Schluss-Cartellconvent am 29. Mai 1909 Sistierung ein. Damit zählte der VMCV nun bereits 74 Aktive, wovon allein 29 auf Clunia Bereits 1909 hatten die Deutschnatio- entfielen, gefolgt von Kustersberg (20), nalen die Städte Feldkirch und Bludenz Siegberg (14) und Artus-Tafelrunde (11).

Die VMCV-Statuten, die Siegberg Clu- nia übersandt hatte, belegen, dass es sich beim VMCV nicht um einen Lan- desverband des ersten österreichweiten Mittelschüler-Cartell-Verband (MCV) handelte, der von 1900 bis 1913 Bestand hatte. Siegberg, Kustersberg und Ar- tus-Tafelrunde traten ihm bei, Clunia hielt sich fern. Clunias Gründungsfuchsmajor Max Kustersberg und Siegberg beschlossen Lützelschwab als Fuchsmajor der Sa- auf einem Cartellconvent am 25. März xo-Bavaria Prag (CV) im WS 1910/11. 1912 die Auflösung des VMCV: „Da un- Links und rechts neben ihm sitzen wohl sere Verbindung durch die ‚Artus Tafel- die Clunia-Zwillinge Emil und Franz runde’ oft beunruhigt worden war und Seeberger, die diese Karte am 3. Dezem- die weitere Existenz der letzteren durch ber 1910 Ferdinand Juen schickten: „Von den Austritt der Hauptmacher in Frage unserem Weihnachtskommers die herz- gestellt wurde, bestand nurmehr zwi- lichsten Saxo-Bavaren Grüße senden schen ‚Siegberg’ und ‚Kustersberg’ ein Kastor und Pollux.“

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verloren, im Landtag verfügten sie 1914 noch über zwei Mandate. Das zweite Wiedergründung Clunias Kampfmandat im Abgeordnetenhaus des Reichsrats aber eroberte 1911 der Einer der ersten Präfekten der Kongre- Bregenzer Bürgermeister Dr. Ferdi- gation war Julian Thurnher (geb. 1898). nand Kinz (1872 bis 1935) zurück, der Mit ihm gelang es den „Brixnern“, eine als Gymnasiast einst in der Nibelungia begeisternde Führungspersönlichkeit Feldkirch Rüstzeug erworben und 1892 zu keilen. Oder war es umgekehrt? – die Burschenschaft Germania Inns- „Im Schuljahr 1913/14“, berichtet Thurn- bruck gegründet hatte. her in den Philisterannalen, „wurde mit den Philistern in Brixen von Seiten des Gleichzeitig ritt der „Volksfreund“ unter Teja (Thurnher Julian) reger Gedanken- dem Titel „16 Jahre Feldkircher Staats- austausch gepflegt, der noch im Ver- gymnasium 1895-1911“, einmal mehr, laufe des ersten Semesters zur Wieder- heftige Attacken gegen Religionsprofes- errichtung Clunias führte.“ sor Jakob Felder. Nun wurde ihm unter anderem vorgeworfen, er habe seit Ende Schon wenige Monate nach dem offi- der 1890er Jahre gegen die deutschna- ziellen Neubeginn brach ein Weltkrieg tionalen Verbindungen gehetzt und für aus. Obwohl sich die Reihen in Feld- die „frommen“ Hochschulverbindun- kirch lichteten, überdauerte Clunia die gen geworben. vier Kriegsjahre.

Vielleicht war es diese Wahlkampffeh- Unter den 72 gefallenen ehemaligen de, die Clunia eine Sistierung ratsam Schülern des Staatsgymnasium wa- erscheinen ließ. Alle Verbindungen ren fünf Clunier: Anton von der Than- mussten bis 1918 mehrmals ihren Ak- nen (1892 bis 1914), Josef Linder (1890 tivenbetrieb einstellen - aus Mitglie- bis 1914), Gottfried Schneider (1891 bis dermangel, interner Uneinigkeit oder 1916), Anton Greber (1894 bis 1918) und Desinteresse, wegen Aufdeckungsge- Adolf Zoderer (1892 bis 1917), von dem fahr oder weil sie aufflogen. Während eine Beitrittserklärung von 1909 über- Siegberg und Kustersberg sich immer liefert ist. Auf dem Kriegergedächtnis- wieder regenerierten, sollte Artus Tafel- kreuz, das 1937 Philistersenior Rudolf runde den Ersten Weltkrieg nicht über- Bachmann von seinem Bruder, Bildhau- stehen. Auch Clunia tat sich schwer. er Georg Bachmann, gestalten ließ, wu- ren nur die ersten vier verewigt. Einen traurigen Anlass zum Wiederse- hen bot im Juni 1912 die Beerdigung des 1919 Gründungsfuchsmajors Max Lützel- Koalitionsfreiheit schwab in Tisis, der als Senior Saxo Ba- varia und des Prager CV überraschend Am 30. Juli 1919 erging der Erlass des gestorben war. Noch heute ziert sein sozialdemokratischen Unterstaatsse- Grabstein am Tisner Friedhof eine Ge- kretärs und Schulreformers Otto Glö- denktafel Saxo-Bavarias. ckel (1874 bis 1935), der die Koalitions- freiheit der Mittelschüler außer Frage stellte. Wörtlich wurde bestimmt: „Der Teilnahme von Mittelschülern der Ober-

Seite 92 klassen an Vereinen ist von seiten der bestätigte die Satzungen des „Philiste- Schule kein Hindernis in den Weg zu riums der Clunia“, die der Philisterzir- legen. Die widersprechenden Bestim- kel Innsbruck bereits provisorisch in mungen der Disziplinarordnung haben Kraft gesetzt hatte. Er wählte den 21jäh- außer Kraft zu treten. rigen stud. phil. Julian Thurnher v/o Teja zum Philistersenior. Im Anschluss Sache der Lehrer wird es sein, insbe- daran tagte der den Alten Herren und sondere im Wege der Schulgemeinde aktiven Burschen gemeinsame Cumu- dahin zu wirken, daß jegliche politische lativconvent. Am Abend feierte Clunia und konfessionelle Verhetzung von der im „Rösslesaal“ ihren ersten „legalen“ Schule ferngehalten werde. Es muß eine Kommers mit einer unerwartet großen Ehrenpflicht der Schulgemeinde sein, Zahl an Festgästen, darunter Bürger- in ihrer Mitte keine Friedensstörung meister Franz Unterberger. zu dulden. Vereinsabzeichen dürfen in der Schule nicht getragen werden.“ Die Dr. Julian Thurnher, Leiter der Land- Pennalien waren damit legalisiert, „das wirtschaftskrankenkasse für Vorarl- Katakombenleben war zu Ende“. berg in Bregenz, wurde, wahrscheinlich 1925, zu Clunias erstem „Doctor cerevi- Clunia schloss sich nun einem öster- sae“ promoviert. reichweiten Kartell an. So erklärte ein Vertreter bereits am 10. September Clunias Aktivitas nahmen sich dafür 1919 auf dem ersten Verbandsconvent konsequent zwei Gymnasialprofes- in Wien Clunias Beitritt zum Verband soren aus den Reihen des CV an: Karl der katholisch-deutschen Pennalverbin- Gunz (1885 bis 1944), unter „Gumpi“ dungen Österreichs (VPV). als ein Feldkircher „Original“ bekannt, und Protas(ius) Heinrich (1881 bis 1958). Mit der offiziellen Konstituierung nach Clunia verlieh Gunz 1920 und Heinrich dem Vereinsgesetz hatten es die Vor- 1923 die Ehrenmitgliedschaft. Eigen- arlberger Mittelschulverbindungen artig ist, dass Jakob Felder, der 1924 von nicht eilig. Mit Abstand als erste wird den jungen Clunier hoch verehrt starb, Clunia im März 1921 einen Nichtunter- nie zum Ehrenmitglied ernannt wurde. sagungsbescheid erwirken, als „öffent- Aktive in Couleur trugen seinen Sarg liche Verbindung katholisch-deutscher zum Grab. Gymnasiasten in Feldkirch“, wohl nicht zufällig im Vorfeld ihres ersten „Fami- Von den 18 Lehrern, die 1929/30 unter- lienabends“ im Saalbau, mit der sich die richteten, waren Direktor Bobleter und Verbindung am 1. April 1921 mit Thea- Gunz Austria Innsbruck, Heinrich ter, Glückstopf und Musik der Feldkir- Vindelicia München, Dr. Anton Me- cher Gesellschaft vorstellte. thlagl Leopoldina Innsbruck, im CV korporiert, Dr. Anton Beirer und Josef 1919 Rauch bei Tirolia Innsbruck, Dr. Josef Zweiter Philisterverband 1919 Wolf Gründer der Vindelicia Hall-Inns- bruck (auch Sternkorona Hall). Dr. Gui- Am 19. Dezember 1919 konstituierte do Burtscher gehörte der Feriensippe sich in Feldkirch ein neuer, der zweite Alemannia Bludenz an, Dr. Ferdinand Philisterverband. Der Philisterconvent Gantner hatte in Clunias Gründungs-

Seite 93 tagen zu ihren Füchsen gezählt, muss von sich überschlagenden Ereig- aber ausgeschieden sein. Nach Gunz nissen in Vorarlberg aus dem Rund- und Heinrich wird Clunia noch Dr. Ru- funk. Gegen Abend versammelten dolf Wittwer (1933) und Methlagl (1937) sich einige Bürger, unter ihnen auch zu Ehrenmitgliedern ernennen. Gebhard Zotter, in der Stadt um nach dem Rechten zu sehen. 1938 Das NS-Regime und die Clunia Die Stimmung war schwer zu deu- Aus den Erinnerungen von Regie- ten, alles deutete auf den unmittel- rungsrat Gebhard Zotter v. EB Tell bar bevorstehenden Umsturz durch das NS-Regime hin. Zotter begab Wir schreiben das Jahr 1938. Die Verbin- sich sogleich zur Bude, wo er als dung blühte und es stand ein umfang- einzigen auf Nenning traf. Es wur- reicher Chargenwechsel an. Viele erfah- de viel diskutiert und beratschlag, rene Burschen hatten gerade maturiert doch beide wusste nicht so recht, und gaben die Zügel an die jüngere wie man sich zu verhalten hatte Generation weiter. Zu jener Zeit befand oder was einem nun bevorstand. sich die Bude der Clunia in einem größe- Aufgrund der Ereignisse an diesem ren Raum des damaligen Vorarlberger Freitag fiel die Schule am nächsten Hof - genannt Riebelhof. Derart situiert, Tag aus. Einige wenige Clunier ha- wegen der Nähe zum Bahnhof und der ben sich jedoch trotz des Schulaus- daraus resultierenden Möglichkeit noch falls, der Ereignisse wegen auf der vor der Heimfahrt auf ein Bier vorbeizu- Bude versammelt, nur um nach- schauen, wurde selbige zu einem Treff- träglich festzustellen, dass sie schon punkt der so genannten „Fahrschüler“. überwacht und bespitzelt wurden. Dieser Begriff bezeichnet jene Schüler, Dies war der Auftakt zur Sistierung die nicht in Feldkirch wohnten und so- der Clunia und der Beginn der NS- mit ihren täglichen Schulweg über den Zeit in Vorarlberg. Bahnhof anzutreten hatten. Im Jahre 1938 setzte sich das Chargenkabinett Die folgenden Jahre war Clunia aus folgenden Personen zusammen: Se- praktisch nicht mehr existent. Es nior (x) war Ludwig Gassner, Consenior konnten zwar viele Unterlagen und (xx) war Furtenbach Herbert, Fuchs- Kunstgegenstände gerettet werden, major (FM) war Nenning, welcher, wie doch waren nicht alle entsprechend man dazu sagen muss, noch zu den er- sicher vergraben oder versteckt fahreneren Burschen gehörte. Zuletzt worden. Gerade weil die Schläger und besonders als Quelle dieser Erzäh- und Cerevis vom damaligen xx lung genannt, unser damaliger Kassier Furtenbach in Sicherheit gebracht (xxx) Gebhard Zotter. Fast das gesamte wurden und bis heute nicht mehr Chargenteam mit Ausnahme des FM gefunden werden konnten, hält Nenning bestand demnach aus Neubur- sich das Gerücht hartnäckig, dass schen, welche auch entsprechend wenig es irgendwo noch einen versteck- Erfahrung mitbrachten. ten Cluniaschatz zu heben gibt. In den Jahren bis zum Neubeginn 1946 Der 11. März 1938, es schallten an jenem wurde das Verbindungsleben auf Nachmittag immer häufiger Berichte Eis gelegt. Der Krieg hielt Einzug und viele Bundesbrüder ließen dabei ihr sen Altersunterschied mehr entwickeln Leben. Eine sehr schwere Zeit hatte be- konnten. Die Altherrenschaft fiel einer gonnen. Zersiedelung zum Opfer.

1946 Nur noch wenige waren in Feldkirch Der Neubeginn selbst ansässig. Die Schüler, die doch ein Reaktivierungen 1946 – 1955; 1964 gewisses Interesse zeigten, waren meist schon in anderen Organisationen tätig Im Verlaufe der Nachkriegszeit musste und hatten keine Zeit mehr übrig um die Clunia öfters sistiert und wieder re- noch mehr Freizeitaktivitäten nachzu- aktiviert werden. Ein gewisser Alther- gehen. Trotzdem fand fast jeden Sams- renstand konnte zwar immer aufrecht- tag ein AC statt. Bei der ersten Kneipe erhalten werden, doch die Aktivitas in Mauren wurden sogar 16 Aktive re- befand sich auf Berg und Talfahrt. So zipiert. Darauf stieg im Dezember 1946 wurde im Oktober des Jahres 1946, bei der erste Weihnachtskommers seit der einer Zusammenkunft der Alt-Clunier Reaktivierung. Vier Mitglieder wurden (vor allem Dr. Bachmann, Augenfach- geburscht und sieben gebrandert. Am arzt und Spender des Gefallenendenk- 11.1.1947 war es dann soweit. Alle Char- mals, Dr. Konzett der unvergessliche gen außer der des Seniors gingen auf die Loki, Dr. Sinz von Rankweil, die beiden Aktiven über. Mit Ende des Jahres 1948 Brüder Dr. Reinhold und Dr. Ferdinand hatte die Clunia regen Betrieb zu ver- Hefel sowie Franz Nenning) erstmalig zeichnen. Wir schauen auf einen Stand beschlossen, der Verbindung wieder Le- von 15 Burschen, 10 Füchse, 2 Spähfüch- ben einzuhauchen und sie zu reaktivie- se. Dieser Stand war ein guter Anfang, ren. Über Vorschlag und Betreiben von doch hielt sich selbiger nur bis ins Jahre AH Zeppelin wurde Gebhard Zotter v. 1955, in der Clunia erneut sistiert wer- Tell mit den organisatorischen Tätigkei- den musste. ten für eine Reaktivierung beauftragt und als provisorischer Senior eingesetzt. 1958 Es wurde wieder aktiv gekeilt und über Gründung des VMKV und Reaktivie- diverse Insiderkontakte in der Schule, rung der Clunia 1958-1963 konnte eine motivierte und schlagkräf- tige Aktivitas aufgebaut werden. Leider Diesem Abschnitt sei nur ein kurzes hat sich selbige nicht selbst erneuert und Kapitel gewidmet, da das Hauptau- so musste weiterhin von der Altherren- genmerk dieser Zusammenfassung auf schaft eingegriffen werden. Die Zeitzeu- unserer Clunia liegt. Nichts desto trotz genberichte über die damaligen Proble- ist die Gründung des VMKV, der zu- me lesen sich als wären sie im Jahre 2018 mindest mit einer Personalunion in den verfasst worden. Diese haben sich seit VMCV eingegliedert ist, ein Bestandteil damals nur marginal verändert. unserer Geschichte.

Der Kontakt zwischen der Altherren- Zum damaligen Zeitpunkt, um genauer schaft und der Aktivitas hatte zum zu sein im Jahre 1957 wurde im ganzen damaligen Zeitpunkt stark gelitten, Land über einen Beitritt zum MKV dis- bzw. war kaum existent, da sich kaum kutiert. Sollten mehrere Verbindungen, Freundschaftsbande durch den immen- allen voran die Wellenstein, einen Bei-

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tritt durchführen, hätte dies automa- über dieses Thema, da sie für ihre Re- tisch die Gründung eines landesspezi- aktivierung ein offenes Ohr fand. Leider fischen Verbandes für Vorarlberg zur gab es gerade im Jahr 1963 eine weitere Folge. Des VMKVs. Diese Neugründung Sistierung, die erst 1964 durch einen Re- und diverse Hilfestellungen für Keil- aktivierungsversuch aufgehoben wur- aktivitäten der anderen Verbindungen de. Erst mit dem Jahr 1966 war dann für die Reaktivierung der Clunia stand auch Clunia in Bezug auf den MKV so- unter anderem auf der TO eines LAC weit und wurde als provisorisches Mit- am 31. Mai 1958, der größtenteils posi- glied im MKV aufgenommen. Dies hielt tiv für einen Beitritt ausfiel. Die Parteien allerdings nicht lange, da bis zu Vollmit- wurden daraufhin mit der Verfassung gliedschaft eine Statutenänderung voll- von Statuten für einen Landesverband zogen werden musste, was aufgrund beauftragt, welche auf einem weiteren der schwierigen personellen Verhältnis- LAC am 20.12.1958 erneut diskutiert se schlicht und einfach nicht stattfand. wurden. Während dieser Ausarbeitun- Auch waren die durchzuführenden Än- gen wurde die Clunia von den anderen derungen so gravierend, dass es dafür Verbindungen unterstützt und konnte einiges an Abklärungs- und Überzeu- mehrere Spefüchse für sich gewinnen, gungsarbeit benötigte, um diese über- was aber leider nur eine kurze Reakti- vierung in den Jahren zwischen 1958 und 1963 zur Folge hatte. Nichts desto trotz war die Reaktivierung 1958 in Hin- blick auf das 50. Stiftungsfest der Clunia ein lohnenswertes Ziel, dem sich unter anderem AH Heinrich Kathan als Seni- or, Consenior Rudolf Amann, FM Rigo- bert Engljähriger, Schriftführer/Kassier Josef Rusch und Dr. Ferdinand Hefel v. Zeppelin verschrieben. Die Reaktivie- rung war stark durch die Verbindungen Fahnenweihe 1967 mit Senior Peter Wöß zum CV geprägt, welcher viel Werbung v/o Spund, xx Erwin Rigo v/o Sascha, FM für die Clunia machte. Zu dieser Zeit Fritz Allgäuer, links Waldmarksenior Gerold stiftete der CV der jungen Clunia sogar Konzett v/o Plus. 3 Schläger zum Kneipen. Insgesamt war die Reaktivierung 1958 erfolgreich, ob- wohl nur von kurzer Dauer. haupt anzudenken. Wieder folgte eine lange Durststrecke an der Aktivenfront, Zurück zum VMKV: Gerade die Sieg- die erst 1977 nachhaltig beendet werden berg stand damals dem Eintritt in den konnte. MKV sehr kritisch gegenüber. Bis zur Gründung des Vorarlberger Ablegers 1967 des MKVs sollten allerdings noch einige Weihe der Verbindungsfahne Jahre ins Land ziehen. Erst 1963 war es dann so weit und es kam zur Gründung 58 Jahre nach Clunias Gründung wird des VMKVs. Die Clunia profitierte zu endlich eine Verbindungsfahne durch jener Zeit ungemein von der Diskussion Katechet Arno Gruber geweiht. Die-

Seite 96 ses Ereignis wurde öffentlich während stand aus: Phil x Dr. Lorenz Konzett v. einer Hauptmesse im Jänner im Dom Loki, Phil xx: Georg Böhler v. Volker, FM zelebriert und hatte positive Auswir- Dr. Wöß Peter v. Schnabl mit der Unter- kungen auf den Bekanntheitsgrad der stützung von Rainer Wachter, Phil xxx Verbindung. Fahnenpatin war Fr. Do- Konzett Gerold v. Plus, Phil xxxx Dr. Hu- rothea Penninger, der übernehmende bert Dünser v. Stiefl. Das Aktiven- Char- Senior Peter Wöß v. Spund. Leider hatte genkabinett setzte sich aus folgenden auch diese öffentlich wirksame Veran- Neumitgliedern zusammen: x Amhofer staltung keine nachhaltige Wirkung auf Gerhard v. Cubitus, xx Fend Burkhard v. den Aktivenstand der Clunia, welche Pro, xxx Mayer Anton v. Baby und xxxx wieder ab ca. 1969/70 sistiert werden Nachbaur Ulrich v. Snorre. musste. Diese aus dem Boden gestampfte neue 1977 Aktivitas stand zu jenem Zeitpunkt 4. Reaktivierung der Clunia noch ohne Bude da. Wie Schnurranten zogen sie von Lokalität zu Lokalität. Die in unserer Geschichte nachhaltigs- Erst im damaligen Clublokal der jun- te Reaktivierung wurde federführend gen ÖVP (Alte Dogana Erdgeschoss), durch Prim. Dr. Karl Wachter v. Dr. cer. unter der wir später unsere Bude finden Tilly, Dr. Lorenz Konzett v. Loki, Dr. sollten wurde die Aktivitas ein wenig Norbert Wilhelmi v. Knöpfle und Ge- heimisch. Aus den anfänglich 16 auf- rold Konzett v. Plus ab dem Jahre 1975 genommenen Füchsen blieben bis zum vorangetrieben, welche dann endlich im Jahresende noch ungefähr die Hälfte üb- Jahre 1977 gelang. Der Erfolg ließ sich rig. Die verbliebenen Mitglieder sollten den Augenzeugenberichten von Ulrich in den kommenden Jahren allerdings Nachbauer v. Snorre nach zu schließen das Rückgrat der Verbindung bilden. unter anderem auf eine Einladung zur Am 26.6, beim Stiftungsfest der Sonnen- Neugründung und damit zu einer Ver- berg in Bludenz, kam es zum erstkon- sammlung für den 30.03.1977 im Hotel takt mit AH Heinz Gesson v. Hooligan. Löwen, die an alle Klassen ausging und Damals nur bei der Verbindung Eisen einem Gespräch zwischen den Schülern zu Pinkafeld tätig, trat er mit der Bitte des „mupäds“ und Tilly zurückführen an die Clunia heran, sich auch hier zu ist, zuzuordnen. Die Schüler in dieser engagieren. Zeit hatten zwar alle aus der einen oder anderen Quelle von Verbindungen ge- Die Keilung wurde dieser Tage feder- hört, wussten aber nicht, dass es selbi- führend durch Snorre vorangetrieben, ge auch in Feldkirch gab bzw. gibt. Der der anscheinend ein Händchen im Um- Andrang war daher überraschend groß gang mit Neumitgliedern hatte. Auch und so wurde von der Altherrenschaft konnte ein neuer Verbindungsseelsor- an diesem Tag beschlossen, die Clunia ger für die Clunia gewonnen werden. wieder zu reaktivieren. Auf der Reakti- Domkaplan Peter Rädler v. Ajax stellte vierungskneipe am 13. Mai 1977 im Ho- sich zur Verfügung, obwohl er selbst zu tel Bären in Feldkirch konnten 16 (Oder diesem Zeitpunkt kein Clunier war. 18 – die Aufzeichnungen sind sich darin nicht ganz einig) Füchse rezipiert wer- Der 7. 12. 1977, das erste Stiftungsfest den. Das gewählte Chargenkabinett be- nach der Reaktivierung und in Summe

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das 69. Seiner Art, stand bevor. Organi- Beitritt zum MKV siert zu großen Teilen von Gerold Kon- zett v. Plus und geschlagen von Gerhard 1977/78 nahm die Clunia den Beitritt Amhofer v. Cubitus war der Andrang zum MKV wieder in Angriff. Mit 58 enorm. Die Festrede, gehalten von Dr. Mitgliedern und 17 neuen Aktiven war Peter Wöß v. Schnabl und darauffolgend die Clunia wieder gut aufgestellt. Zum einige Burschungen und Rezeptionen damaligen Zeitpunkt gab es allerdings versprachen ein besonderes Fest ab- weitreichende Differenzen in Bezug zugeben. An diesem Tag bekam auch auf die Statuten, welche nicht ohne Heinz Gesson v. Hooligan, Domkaplan weiteres ausgeräumt werden konnten. Peter Rädler v. Ajax und Rainer Wachter Nichts desto trotz wurde die Clunia v. Mucky das Band der Clunia. erneut probeweise in den MKV aufge- nommen. Auch gab es hinsichtlich der 1979 Ing. Heinz Gesson v. Hooligan, Verpflichtungen gegenüber dem MKV wird Philistersenior. Unter seiner Lei- viele Ungereimtheiten, die vor einem tung hatten die Clunier auf dem Pennä- endgültigen Beitritt aus der Welt ge- lertag durch die Verbindung Puellaria schafft werden mussten. Erst zwei Jahre den Erstkontakt zu Damen in Couleur. später, durch den Beschluss am Kartell- Während eines sehr hitzigen Streitge- rat 1980 in Hallein, war Clunia sowohl spräches um die Teilnahme der Puel- auf Verbindungsebene, als auch auf Ver- laren in Couleur am Festkommers, be- bandsebene soweit und trat dem MKV schloss Dr. Tilly, dass auch er binnen endgültig bei. Dieser Schritt wurde Jahresfrist in Bludenz einen Damenzir- durch die tatkräftige Hilfe von Swing kel gründen werde, was er sodann vom und Pam, welche beide zu der Zeit im Rednerpult aus der gesamten Kartell- ÖCV-Vorort tätig waren, möglich. Sie versammlung kundtat. Aufgrund des- regelten damals die meisten Formalitä- sen durften die Puellaren in vollen Far- ten über ihre Kontakte beim ÖCV und ben am Festkommers teilnehmen. Dies MKV. regte den einen oder anderen zum Den- ken an und legte wohl den Grundstein Doch das Jahr 1978 hatte noch mehr für die Vollintegration der Mädchen in Überraschungen zu bieten. Zum 70. der Clunia. Bis zu diesem Schritt sollten Stiftungsfest der Clunia wurde das allerdings noch einige Jahre und Dis- Freundschaftsband mit einer e.v. KÖStV kussionen ins Land ziehen. Bernardia Stams getauscht. Diese Freundschaft hält bis heute an. Ein weiterer Meilenstein stellte die Bandverleihung an die Leopolden Pam, 1982 Swing und Butz am 14. 5. 1980 auf einem Ersterscheinung des „CLUnier“ BC dar, welche auf dem darauffolgen- den AC bestätigt wurde. Auf selbigem Unter Chefredakteur Wolfgang Türt- AC kam die „Mädchenfrage“ erstmals scher v. Swing erschien im Jahre 1982 offiziell auf, welche damals noch von der erste „CLUnier“. der Aktivitas abgelehnt wurde. Zitat Wolfgang Türtscher v. Swing aus dem ersten CLUnier: „Beim Cumu- lativconvent am 8. Dezember 1981 in

Seite 98 Feldkirch wurde auf Vorschlag von AH diesem Zeitpunkt und bis zur Fertig- Gerold Konzett v/o Plus die Herausgabe stellung des Kellers in der alten Dogana einer Verbindungszeitschrift „Der Clu- ins Gasthaus Löwen in der Liechten- nier“ beschlossen. Eine unvorsichtige steinerstraße umgezogen. Mit der Grün- Äußerung - „sowas ist ja kein Problem“ dung des Damenzirkels brachte die - brachte mir den ehrenvollen Auftrag Clunia einen unaufhaltsamen Stein ins ein, Diese gemeinsam mit AH Plus he- Rollen, der uns gleichzeitig allseits be- rauszubringen.“ Plus wurde allerdings- kannt und sowohl sehr beliebt, als auch durch den „Waldmärker“ animiert, ein in manchen Kreisen unbeliebt machte. ebenso starkes Sprachrohr einer Verbin- 1989 ist das Thema Mädchen auch im dung aus der Taufe zu heben. Landesverband angekommen. Am LVC wurde ein Schreiben an den MKV ver- Seit diesem Zeitpunkt stellt der CLU- fasst, in dem die Mitarbeit und eventuell nier ununterbrochen bis heute (2018) ein die Vollintegration der Mädchen in die wertvolles Archiv aus vielen Artikeln Verbindungen und daraus resultierend und nicht zuletzt der Geschichte der natürlich auch in den Landesverband Clunia dar. in Aussicht stellt. Abgeschlossen wurde das Schreiben mit der Bitte, auch den 1983 übernahm der damals schon sehr Mädchen auf Anforderung das Couleur aktive AH Gerold Konzett v. Plus das zukommen zu lassen. Amt des Philisterseniors, welches er ei- nige Jahre ausüben sollte. 1989 trug die langjährige Freundschaft mit einer e.v. KMV Sonnenberg zu 1988 Bludenz ihre Früchte. In diesem Jahr Clunia als gemischte Verbindung wurde während des 81. Stiftungsfestes die Freundschaftsbänder CLF/SOB ge- 1988 nach dem 46. Pennälertag des MKV tauscht. in Feldkirch wurde der Clunia-Damen- zirkel mit 11 Mädchen gegründet. So Seit dem Jahr 1990 war der Damenzir- fand sich in den Archiven eine Einla- kel bestrebt, sich vollintegriert in die dung vom 25.4.1989 auf der ausdrück- Clunia mit einzugliedern. So wurde in lich Burschen und Mädchen zu einem jenem Wintersemester keine vom Da- Infoabend eingeladen wurden. Das menzirkel allein organisierten Veran- war der Startschuss, ab dem sowohl staltungen mehr durchgeführt, sondern für Burschen, als auch für Mädchen ge- durch die Damen in der Organisation worben wurde. Am 24.05.1989 fand der der regulären Veranstaltungen mitge- erste Damenconvent der Clunia, damals wirkt und daraus einzelne Punkte von noch unter der Leitung von Rauch Nils ihnen gestaltet. Schwierigkeiten gab v. Snoopy, statt. Dieser beschäftigte sich es bei der Vorbildwirkung anderer. Es hauptsächlich mit der Organisation des fehlte de fakto an einer Altherrenschaft Damenzirkels, war aber auch gleichzei- der Damen. So mussten sie sich eini- tig der Wahlconvent und der Kennen- ges an Verhalten selbst aneignen und lerntermin aller Beteiligter. erproben. Für unsere Mädchen waren die Mädchenconvente zusätzlich zum Erste Damensprecherin war Eva-Maria herkömmlichen Verbindungsleben sehr Melk v. Xanthippe. Die Bude war zu wichtig. Das Kennenlernen stand dabei

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im Vordergrund. Auch konnten sie sich trag nicht durchgehen wurde als Even- so richtig ausleben und ihren eigenen tualantrag folgendes eingebracht: „Der Weg diskutieren und beschreiten. MKV ist bereit, katholische Mittelschul- verbindungen, die Frauen als Mitglieder Im ersten Quartal 1990 bestand der aufnehmen, über Abkommen als be- Damenzirkel aus 15 Mädchen und 2 freundete Verbindungen zu assoziieren, Spefüchsen. Den Damen war klar: Um sofern diese Korporationen auf den Ver- wirklich anerkannt zu werden mussten bandsstatuten aufbauen.“ Unterschrie- sie sich überall beteiligen und ihr Inter- ben wurde das Schreiben von Seiten der esse bekunden. Gleichzeitig gab es um- Clunia in Vertretung durch Elmar Hu- fangreichen Aufholbedarf in der Cou- ber und Gerold Konzett und auf Seiten leurstudentischen Lebensweise. Es war des VMKV von Stefan Tiefenthaler, Ge- einfach alles noch zu neu um Selbiges rold Konzett und Uli Nachbaur. Dieses aus dem Stehgreif heraus zu können. Zu Schreiben wurde im Oktober 1989 voll- diesem Zeitpunkt galt es noch viele Vor- umfänglich vom MKV negiert. Dieser urteile auszuräumen und sich einen ent- stellte in seinem Gegenschreiben fest, sprechenden Stand in der Verbindung dass aufgrund der Statuten keine Mäd- zu erwirtschaften. Der Start war kein chen aufgenommen werden können, leichter, doch trugen die Bemühungen noch sich Mädchen in die Verbindungs- schon in Kürze ihre Früchte. führung einmischen dürfen. Gleichzei- tig forderte der MKV mehr Informatio- Anfang des Jahres 1991, um genau nen bezüglich unserer Mädchen direkt zu sein am 1.4.1991, wurde unter der bei der Clunia an und verwies auf die Führung von x Elmar Huber v. Sparta- Statuten, welche die Aufnahme nicht er- cus und Phil x Gerold Konzett v. Plus laubten. während eines sehr gut besuchten CC (40 Teilnehmer) beschlossen, nun Mäd- 1991 am Pennälertag in Kufstein wurde chen als vollberechtigte Mitglieder in Clunias Antrag zur Vollintegration von die Clunia aufzunehmen, was umfang- Mädchen offiziell abgestimmt und ab- reiche Statutenänderungen und Um- gelehnt. Als Antwort darauf beschließt strukturierungen in der Verbindung Clunia am 2.11.1991 während eines a.o. zur Folge hatte. Gleichzeitig musste CC einhellig und nun endgültig die natürlich an die Kartellversammlung Vollintegration von Mädchen und als ein Brief geschrieben und ein Antrag logische Konsequenz den freiwilligen zur Vollintegration der Mädchen auch Austritt aus dem MKV. Gleichzeitig auf MKV-Ebene abgesetzt werden. Bis kam es auch auf Landesverbandsebene zu deren Einwilligung konnte die Voll- zu hitzigen Diskussionen über die wei- integration noch nicht vollumfänglich tere Vorgehensweise. Da zwei Clunier durchgeführt werden. In besagtem An- als LPhx und LVV eingesetzt worden trag wurde dem MKV folgender Schritt waren, hatte das Thema erhöhte Bri- zum Beschluss nahegelegt: „Der MKV sanz. Was sollte passieren, wenn die stellt es seinen Verbandskorporationen Clunia aus dem MKV ausschied, aber künftig frei, auch Frauen als Mitglieder entsprechende Amtsträger im Landes- aufzunehmen.“ Daraus solle eine Statu- verband an vorderster Front standen? tenänderung, die genau dies ermöglicht Nach langem hin und her, Gesprächen durchgeführt werden. Sollte dieser An- über den möglichen Austritt des ge-

Seite 100 samten Vorarlberger Landesverbandes te Mitgliedsbeiträge und noch weitere und vieler weiterer Kontakte zwischen Umgestaltungen mit hineinspielten. Vorarlberg und dem MKV erging (am 16.9.1991) an die Landesführung ein Am 83. Stiftungsfest (1991) chargierte Schlichtungsbrief des MKVs in dem uns das erste Mal ein Mädchen (Nicole Hell- sowohl als Verbindung, als auch als Ver- berger) im Präsidium, während vier band eine Assoziierung mit dem MKV weitere Mädchen (Juno, Athene, Con- in Aussicht gestellt wurde. Der Grund ny und Artemis) rezipiert wurden. Das für dieses Schlichtungsschreiben lässt Stiftungsfest zog auch viele Schaulistige sich auch einfach erahnen. Was wäre ein aus ganz Österreich an. österreichsicher Verband ohne die Mit- gliedschaft aller Landesteile? Besonders Was für eine Sensation! Ein Mädchen im in Hinblick auf eventuelle Förderungen Präsidium! Das ist bis dahin noch nie o.ä. Hätte das sehr interessant werden vorgekommen! können. Der Kommers wurde sogar, nicht wie Da Clunia die Vollintegration der Mäd- üblich in der abgehalten, chen als beschlossen ansah und doch sondern in einem der Festsäle im Ill- einige Clunia-Mitglieder in hohen Posi- park. Damals aber schon traditionell, tionen im Landesverband tätig waren, war die musikalische Begleitung durch bemühte sich der MKV weiter. Für den Bbr. Walfried Kraher v. Wally. Die Fest- 82 Kartellrat am 9.11.1991 wurde ein rede wurde von Dir. Gerhard Blaick- Antrag für die Vorbereitung eines As- ner v. Laurin gehalten. Dieses Ereignis soziierungsabkommens zwischen der brachte auch eine Menge Schlagzeilen Clunia und des MKV vorgelegt. Diesem in die Medien (Ö3, Kurier, Salzburger Antrag folgte sogleich einer, in dem ge- Nachrichten, Tiroler Tageszeitung). Eine regelt werden sollte, was passiert, wenn männerdominierte Vereinigung nimmt Clunier im Landesverband nicht gleich- erstmals Mädchen vollintegriert auf, zeitig Mitglieder in anderen MKV-Ver- das war die Sensation des Tages. bindungen sind. Das Problem wurde auf Landesverbandsebene gelöst, indem Am 29.1.1992 berichtet der Flyer MKV-In- Clunia automatisch als dem VMKV mit formiert erstmals offiziell vom Austritt Sitz und beratender Stimme kooptiert der Clunia aus dem MKV. Während die- gilt. Gleichzeitig wurde dem MKV emp- ser Aussendung wird dazu aufgerufen fohlen Clunier vorübergehend für die in Hinblick auf die Assoiziierungsbe- Teilnahme an beschlussfassenden Or- mühungen kein feindseliges Verhalten ganen des Landesverbandes zu autori- gegenüber der Clunia an den Tag zu le- sieren, was dieser jedoch ablehnte. gen. Daraufhin besuchten Christian Bu- char v. Tristan und Robert Kert v. Tacitus Diese sehr umfassende Umstruktu- den neuen Kartellvorsitzenden Dr. Wer- rierung der Clunia hatte nicht zuletzt ner Lang v. Asterix in der Kartellkanzlei einige Austritte zur Folge, welche aber und stellten ihn zur Rede. Schnell wur- durch die zeitliche Verschiebung nicht de klar, hier will jemand trotz der Um- so recht in Zahlen zu erfassen sind, da stände Lösungen schaffen, aber nicht zu diesem Zeitpunkt auch andere Fak- um jeden Preis. Die Assoziierung der toren, wie die Budenumlage, also erhöh- Clunia hatte allerdings auch weitrei-

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chende Folgen für den Landesverband. sowohl männliche, als auch weibliche. So mussten Neuwahlen anberaumt Außerdem waren über 200 Besucher werden, da kein Clunier mehr eines der zugegen. Es wimmelte nur so von Pro- Landesverbandsämtern belegen dürfe. minenz. Während des Stiftungsfestes Dies hatte vor dem Pennälertag zu er- wurde durch den damaligen Vzbgm. folgen. Auch bekam kein Clunier mehr Günter Lampert offiziell die Bude in der die Verbandszeitschrift „Couleur“ was alten Dogana an die Clunia übergeben, zu weitern Spannungen führte. Zumin- die die Clunia nun mehrere Jahre be- dest die MKV-Aussendungen sollten die gleiten sollte. Das Stiftungsfest geschla- Ur-Clunier nach Aussage von Asterix gen von x Stefan Konzett v. Pluschi war weiter erhalten. Ein wichtiger Punkt ein voller Erfolg. Das gesamte Semester war auch, dass laut KGO alle Ur-Clunier brummte die Clunia vor Leben. Wir aus anderen MKV-Verbindungen auszu- zählten zu Spitzenzeiten 32 Aktive. scheiden hatten. Dies konnte nur durch die Verleihung eines Ur-Mitgliedsstan- 1994 wird Tanja Handle v. Juno erster des in den jeweiligen Verbindungen weiblicher Senior der Clunia. Sie konnte ausgeschlossen werden. Durch den davor schon ein Semester als Conseni- Austritt von Clunia und Siegberg verlor or und zwei Semester als Fuchsmajor der MKV in Vorarlberg rund 400 Mit- Erfahrungen sammeln. Neue Situation, glieder was einen Rückgang von ca. der neue Probleme, wie sollte sie angespro- Hälfte darstellte. Der Umbruch sollte chen werden? Als Senior, Seniora oder noch weitere Folgen haben. Seniorita? Im selben Jahr wurden Gerold Konzett v. Plus und Ing. Heinz Gesson 1992 Während des Pennälertages in St. v. Hooligan unter der strengen Beobach- Pölten wird Clunias Antrag auf Assozi- tung der riesigen Aktivitas zu Doctores ierung mit dem MKV mit großer Mehr- cerevisiae gekürt und Vzbgm. Günter heit angenommen. Gleichzeitig fand Lampert bekommt Clunias Ehrenband. der Freundschaftsbandtausch mit der Das Bild am Stiftungsfest änderte sich e. v. KKPV Thuiskonia Wien statt. Mäd- ein wenig. Weg von der Prominenz hin chen waren nun endgültig und allseits zu den Jugendlichen. Mehr als die Hälf- anerkannt vollintegriert in die Clunia, te der Anwesenden waren unter 19! Die deren Bekanntheitsgrad durch die De- Clunia konnte 20 Spefüchse aufbieten cke schoss. Die aufgetretenen Probleme und die Stimmung war legendär, um es wurden eines nach dem Anderen ange- mit den Worten aus einem Bericht des gangen und mehr oder weniger gelöst. Cluniers zu beschreiben. Ein neues Zeitalter begann. Und dann?

1993 1995 Clunia wählte einen neuen Philister- Prof. Dr. Georg Konzett v. Minus wird senior. neuer Philistersenior und Dr. Alex Blöchlinger v. Philo wird Verbin- Peter Nachbaur v. Kapf übernahm das dungsseelsorger. Amt nach der nun schon 10-jährigen Tä- tigkeit von Plus. In diesem Jahr fand das Die Zeiten beruhigten sich wieder ein 85. Stiftungsfest im Montforthaus statt. wenig um die Clunia. Es stellte sich ein Dabei chargierten 45 Couleurstudenten, stetiges Auf- und Ab in der Aktivitas

Seite 102 ein. In MKV-Kreisen hatte die Clunia Fahrt auf. Somit war eine West-Ost-Ach- einen immensen Bekanntheitsgrad er- se quer durch Österreich geschaffen. reicht. Die Stiftungsfeste waren gut 2002 – Der CLUnier wird farbiger – Das besucht und der Budenbetrieb florier- Titelbild wurde ab diesem Zeitpunkt in te. 1997 fand der 55. Pennälertag, nun Farbe gedruckt. schon der Zweite seiner Art, in Feld- kirch statt. Dass nur die Clunia, eine Ein neuer Dr. cer. assoziierte Verbindung mit dem MKV hier ansässig war, tat den Festlichkei- Dr. Ulrich Nachbaur v. Snorre wird im ten keinen Abbruch. Ein Jahr später, Jahr 2003 durch Senior Bettina Gabriel 1998 feierte Clunia das 90-Jährige Be- v. Bella Clunias, dritter „Doctor cerevisi- stehen. Festredner war AH Dipl. Ing. ae“. Nicht zuletzt wegen seiner Tätigkei- Joachim Siz v. Romeo. Das Stiftungs- ten im Kernteam der Reaktivierung im fest war wieder einmal ein Spektakel Jahre 1977. Seine Aktivitäten zogen sich sondergleichen. Leider verzeichnete die durch die Jahre wie ein roter Faden und Clunia im darauffolgenden Jahr eine ge- seine Archivierungstätigkeiten seien wisse Trägheit in der Aktivitas. Die Ver- auch nicht außer Acht gelassen. Dieses anstaltungen wurden weniger und die Jahr hatte allerdings noch mehr zu bie- Teilnahme ließ zu wünschen übrig. Die ten. Clunia feierte auf dem Stiftungsfest Rezeptionen waren zwar stetig hoch, Gemeinsam mit dem VMCV sein 95-jäh- doch nur die Hälfte wagte den Schritt riges Bestehen; auf dem Festkommers zur Promotion. Ein Lichtblick, 1999, in der Schattenburg nehmen erstmals Tanja Handle v. Juno wird das Ehren- gleichzeitig zwei Landeshauptleute teil: band der Clunia überreicht. Gleichzeitig Kbr DDr. Herwig van Staa v/o Dr. Per- übernimmt Mag. Wolfgang Türtscher v. keo, TGW, aus Tirol als Festredner und EB Swing das Amt des Philisterseniors. Kbr Dr. Herbert Sausgruber v. Stoppel, Im Jahr 2001 ist es nun soweit, während KBB, als Gast. P. Dr. Alex Blöchlinger einer Reise in den „fernen Osten“ wie v/o Philo und Emanuel Lampert v. Uni- die Fahrt nach Niederösterreich gerne cus werden Ehrenburschen. genannt wird, tauschen die Clunia und die KöStV Waldmark Horn durch die Im Jahr 2004 übernimmt Bbr Mag. Mi- Senioren Barbara Kohler v. Kassandra chael Rusch v. Smily, erstmals wieder und Philip Schnatter v. Schnaxl im Rah- ein Clunier, das Amt des Landesver- men von Waldmarks 97. Stiftungsfest bandsvorsitzenden des VMCV und die Bänder. Aber ein Bandtausch schien Thomas Cziudaj v. Garrett wird Landes- unserem Bundesbruder Snorre nicht ge- consenior. Univ. Prof. Dr. Etienne Wenzl nug zu sein. Beim nächtlichen Schwim- v/o Amfortas, AMV, wird Bandphilister men im Brunnen vor der Bude rezipierte der KMV Clunia. Gleichzeitig gibt es er kurzerhand unseren allseits geliebten Clunia nun auch in Wien. Am 30.3.2004 Bbr. Gnu (Den Wasserspeierfrosch jenes wird auf der Bude der Thuiskonia unter Brunnens). Ob dieser Fuchs jemals zu ei- ZVors. Emanuel Lampert v. Unicus der nem FC erschienen ist, ist nicht bekannt, Clunia-Zirkel in Wien gegründet. Auch doch seine Couleurstudentische Lauf- bekommt die Clunia mit Dr. Rudolf Öl- bahn nahm in den folgenden Jahren ler v. Vitus einen neuen Webmaster. aufgrund seiner stetigen Teilnahme am Waldmarkstiftungsfest immer weiter 2005 folgte Smiley, Gerold Konzett v. Dr.

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Plus in den Landesverband und über- war enorm. Es kam nur in sehr verein- nahm das Amt des Landesphilistersse- zelten Fällen zu Unstimmigkeiten, mit niors des VMCV. Univ.-Prof. Dr. Etienne anderen Couleurstudenten. Im selben Wenzl v. Amfortas wird zum Philister- Jahr standen 100 Jahre Clunia an, wäh- senior der Clunia gewählt. Kbr Mag. Dr. renddessen die 30 Jahre Freundschafts- Rudolf Öller v. Vitus, LBS, KBB, erhält bandtausch Bernardia und Clunia auf- nun unter anderem für die Betreuung gefrischt wurden. der Internetseite das Band Clunias. Ein aufmerksamer Leser erinnert sich 2006 an dieser Stelle an eine Anekdote über Noch ein Dr. cer. unseren Bundesbruder Gnu aus den ers- ten Seiten dieses Berichtes. Nun möchte Prof. Mag. Wolfgang Türtscher v/o EB ich diese Geschichte abschließen: Am Swing wird 2006 zum Dr. cer promo- 98. Stiftungsfest der Waldmark erfolgte viert. Auch seine Leistungen ziehen sich die Burschung von Erwin Frosch König wie ein roter Faden durch die Geschich- v/o Gnu; geboren: 13.5.1977; Rezeption: te der Clunia. Seit er sich für den Ein- 4.5.2001; Schüler BG/BRG Feldkirch (Ex- tritt in den MKV stark machte, konnte er ternist); Adresse: 3580 Horn, Rathaus- einfach keine Ruhe geben. Man könnte platz 4, darauffolgend beim Besuch des ihn als Menschen skizzieren, für den 99. Stiftungsfestes wurde beschlossen, lebenslanges Lernen selbstverständ- selbigen während des 100. Stiftungsfes- lich ist. Allein die Chargen, Ämter und tes der Waldmark zu philistrieren. sonstigen Verdienste würden diese Zu- sammenfassung sprengen. Im Jahre 2007 sollte Gnu den krönenden Abschluss seiner Verbindungskarriere Die goldenen Jahre der Clunia gingen zu erhalten und so wurde er im Mai zum dieser Zeit jedoch langsam in die silber- Dr. cer. der Clunia gekürt. Zu unserem nen über. Die Aktivenzahlen schrumpf- 100. Stiftungsfest trat Gnu endlich die ten, der Kampf um Mitglieder wurde lange Reise nach Vorarlberg an und immer schwerer. Im darauffolgenden schmückt seitdem unsere Bude. (Natür- Jahr gab es dafür einen Geburtstag zu lich nur in Form einer Replik). feiern. Der CLUnier wurde 25 Jahre alt. Chefredakteur Bbr. DI Wolfgang Jenny 2009 feiert Clunia ein weiteres Jubilä- v/o Pop lädt daraufhin zur Matinee. um: 20 Jahre Mädchen bei Clunia. Ent- gegen der Prognosen mancher Gegner Auf dem Stiftungsfest war Bbr. Dr. Wolf- von Mädchen im Couleur, ist Clunia gang Burtscher v/o Götz Festredner. stolz, dieses Jubiläum zu feiern. Im glei- Mag. Thomas Kassian Reich und Ing. chen Jahr konnte die 100. Ausgabe des Thomas Rhomberg werden Bandphilis- Cluniers unter Chefredakteur Dipl. Ing ter der Clunia. Wolfgang Jenny v/o Pop gedruckt wer- den. 2008 war ein legendäres Jahr. Das Jahr 2010 war etwas weniger spek- takulär. Mag. Michael Rusch v. Smily In Feldkirch wurde der 66. Pennälertag wird Philistersenior der Clunia. Die eranstaltet. Die Akzeptanz der Clunia Größe der Aktivitas ist weiterhin einem

Seite 104 Die Zusammenfassung der Geschich- te der Clunia nach 1938, zusammen- getragen aus Augenzeugenberichten, Protokollen und Briefen, wurde in den einzelnen Teilen an den Schreibstil der Berichtenden angeglichen um ein mög- lichst authentisches Lesevergnügen zu ermöglichen. Leider konnten in diesem Rahmen nicht alle Informationen auf- grund ihrer Fülle Einzug finden. Wahr- scheinlich wird diese Zusammenfas- sung in den nächsten Jahren noch um viele Einzelheiten und Informationen ergänzt werden, da einiges frühestens Dr. cer. Gnu. durch das erstmalige Niederschreiben zu Tage gefördert wird. Auch befinden stetigen auf und ab ausgesetzt. Einer Sa- sich in den mir zur Verfügung stehen- che können wir aber gewiss sein. Clunia den Unterlagen einige Diskrepanzen lebt. über Mitgliederzahlen und genaue Jah- reszahlen, was zu einer leichten Verfäl- Daniel Henss v. Asterix schung der Tatsachen führen könnte. Es wurde trotzdem versucht so objektiv Die Geschichte der Clunia bis zum Ein- wie möglich zu berichten und sich auf marsch der Nationalsozialisten wurde die augenscheinlich besten Quellen zu stark verkürzt dem Clunier 5/2008 ent- beziehen. nommen. Der Text stammt von Dr. Ul- rich Nachbaur v/o Dr. cer. Snorre. Im Daniel Henss v/o Asterix Clunier 2008 findet sich die vollständige Version mit allen Literaturangaben. Alle Clunier können unter clunia.at/clunier. Eine Fortsetzung der Clunia-Geschichte php nachgelesen werden. von 2009 bis zum 110. Stiftungsfest er- folgt ein einem der nächsten CLUnier! Mag. Dr. Rudolf Öller v/o Dr. cer. Vitus

Seite 105 110 Jahre KMV Clunia

Graßl Sophia v/o Lupa Die 12 Philistersenioren der KMV Griß Robert v/o Gonzo Clunia seit der Reaktivierung 1977 Handle Tanja v/o Juno Hammerer Patrick v/o Livius 1977 – 1978 Prim. Dr. Karl Wachter v/o Häusle Martin v/o Hippo Tilly Häusle Thomas v/o Domus 1978 – 1983 Ing. Heinz Gesson v/o Henss Daniel v/o Asterix Hooligain Henss Dominik v/o Idefix 1983 – 1993 Gerold Konzett v/o Plus Huber Elmar v/o Spartacus 1993 – 1995 Dipl.-Ing. Peter Nachbaur Jenny Markus v/o Rooney v/o Kapf Jenny Thomas v/o Goofy 1995 – 1999 Prof. Dir. Dr. Georg Konzett Kert Robert v/o Tacitus v/o M i nu s Köberle Julian v/o Charly 1999 – 2004 Prof. Mag. Wolfgang Türt- Knapp Christopher v/o Vulgo scher v/o Swing Kohler Barbara v/o Kassandra 2004 – 2010 Univ. Prof. Dr. Etienne Kohler Verena v/o Twiggy Wenzl v/o Amfortas Konzett Sara v/o Chili 2010 – 2012 Mag. Michael Rusch v/o Konzett Stefan v/o Apollo Smily Längle Corina v/o Coco 2012 – 2013 Thomas Cziudaj v/o Garrett Lampert Emanuel v/o Unicus 2013 – 2015 Alexander Waller v/o EB Liernberger Peter v/o Pumuckl Ericsson List Alexander v/o Stone 2015 – 2017 Florian Wund Lorünser Marion v/o Mary ab 2017 Achim Zortea BSc v/o Tassilo Mähr Stefan v/o Zeus Mair Wener v/o Tschoh Mathis Eckhard v/o Mopi Die 65 Senioren der KMV Clunia seit Matt Wolfgang v/o Robin Hood der Reaktivierung 1977 (alphabetisch) Melk Eva-Maria v/o Xanthippe Muxel Alex v/o Clochard Amhofer Gerhard v/o Cubitus Nachbaur Peter v/o Kapf Angerer Mathias v/o Hornett Nachbaur Ulrich v/o Snorre Bischof Manfred v/o Mostfaß Rauch Udo v/o Ali Baba Büchel Daniel v/o Breitbild Rusch Michael v/o Smily Bürgermeister Martin v/o Odin Schäfer Christoph v/o Schöfle Burtscher Karin v/o Gagi Schreiber Oliver v/o Speedy Buschta Thomas v/o Buschtus Schwärzler Florian v/o Floh Buschta Günther v/o Gustl Schwarzmann Thomas v/o Lupus Cziudaj Thomas v/o Garrett maximus Dejaco Ernst v/o Tschako Spiess Stephan v/o Schkout Dejaco Markus v/o Tschüdl Stieger Andreas v/o Stix Duffner Kosmas v/o Potter Telsnig Alex v/o Remus Enderle Magdalena v/o Flora Tiefenthaler Stefan v/o Columbus Faé Claudia v/o Sarcette van Dellen Stefanie v/o Willie Faé Dominik v/o Nero Wachter Rainer v/o Mucki Faé Katharina v/o Twinny Wieder Ulrich v/o Catull Fend Burkhard v/o Pro Wirtitsch Paul v/o Bluthund Furtenbach Herbert v/o Futzi Wund Florian v/o Minimi Gabriel Bettina v/o Bella

Seite 106 90. Stiftungsfest

Dr. cer.-Kneipe von Hooligan und Plus (1994) Pennälertag 1988 in Feldkirch

FM Chili, x Kassandra und xx Sarcette, 2001 Budeneröffnung 1993

Bieroper am Weihnachtshospiz 1987 VCV-Fest in Klaus 1995

Seite 107 110 Jahre KMV Clunia

Ausflug nach Tettnang (Juni 2003) Cluniatage in Furx (März 2005)

Rudolfina Redoute 2006

100. Stiftungsfest 2008

Ausflug nach Andechs (Juli 2004) Ausflug nach Konstanz (Juli 2012)

Seite 108 99. Stiftungsfest 2007

Ehrungskneipe (Oktober 2009) Gründungstagsmesse 2018

Ausflug nach Bregenz (Juni 2014) Schlusskneipe (Juli 2011)

105. Stiftungsfest 2013 Osterkommers 2017

Seite 109 110 Jahre KMV Clunia

Altes Gaswerk Altes Gymnasium

Altes Saalbaukino Rathaus mit ehemaligem städtischen Spital

Alte Volkshalle Altes E-Werk mit Dampfmaschinenkamin

Seite 110 Stella Matutina und K&K Staatsgymnasium

Johanneskirche und K&K Staatsgymnasium Gasthaus Schäufle

Gesamter Gebäudekomplex Stella Matutina

Altes Hallenbad Kreuzgasse mit Altersheim (rechts)

Seite 111 110 Jahre KMV Clunia

Reminiszenzen eines Dorfjünglings, der zum Studieren in die Stadt kommt

Dr. Rainer Gögele (Maturajahrgang 1974 am Bundesgymnasium Feldkirch)

passieren, so ist es nicht beabsichtigt und ausschließlich meiner unpräzisen Erinnerung geschuldet.

Es begann eigentlich bereits mit der zweiten Klasse der Volksschule, die bei uns im Dorf damals noch zweiklassig geführt wurde. Alle Buben und Mäd- chen der ersten, zweiten und dritten Klasse wurden zusammen unterrichtet, ebenso die der fünften bis achten Klasse. Ja, das ist kein Irrtum, es gab acht Jahre Volksschule. Nach der vierten Klasse ging ein Teil der Zehnjährigen in die Hauptschule, ein anderer Teil ins Gym- nasium in der Stadt und ein Teil blieb in der Volksschule und machte dort die Oberstufe. Als ich in der zweiten Klasse war, gab es Platzmangel im Raum der ersten bis dritten Klasse. Vorausschau- ende Pädagogik bestand damals darin, dass ich mit zwei anderen Knaben von der zweiten direkt in die vierte Klasse Was im Folgenden dargestellt wird, hat versetzt wurde, also die dritte Klasse sich tatsächlich so oder so ähnlich zu- gewissermaßen übersprang. Die Be- getragen. Es entstammt meiner Erinne- gründung war, dass wir drei das leis- rung, die sich, wie dem geneigten Lese- tungsmäßig bewältigen würden. Das publikum bekannt sein dürfte, in einem war dann auch so. Allerdings mussten Zeitraum von 40 bis 50 Jahren verän- wir die vierte Klasse noch ein zweites dert. Manches verliert an Bedeutung, Mal absolvieren, was die Noten, die wird also kleiner, anderes erweist sich beim ersten Mal nicht schlecht waren, als wichtig, wird also größer. In die- weiter verbesserte, die Langeweile aber sem Spannungsfeld bewege ich mich. teilweise in neue Dimensionen vorrü- Unvermeidlich wird sein, dass die eine cken ließ. Klar war, dass die Bewälti- oder andere Person identifizierbar ist. gung des Überspringens eines Schuljah- Keineswegs soll irgendjemandem Un- res ohne nennenswerte Schwierigkeiten recht getan werden. Sollte dies trotzdem für das Gymnasium prädestinierte.

Seite 112 Deshalb wirkte der Schulleiter inten- Wissensgewinn entlassen wurde. Der siv auf meine Eltern ein, sie sollten ihre Prüfer meinte zum Abschluss tröstend, Verantwortung für den wissbegierigen ich könne ja eigentlich nichts dafür, Buben wahrnehmen und mich, auch wenn man mir die Dinge nicht mit den wenn das Gymnasium mehr koste, je- korrekten Begriffen beigebracht habe, denfalls zur Aufnahmeprüfung dorthin und ich würde ja im Kern wissen, wor- schicken. Mit dieser Motivation gestärkt um es gehe. Die größte Tröstung für den taten meine Eltern, wie ihnen geheißen, mit der Wucht des Neuen ausreichend schickten mich also in die Stadt zur Auf- geforderten Jungen aus dem Dorfe war nahmeprüfung. allerdings, dass mir mitgeteilt wurde, ich hätte bestanden und man wolle es Dies war natürlich eine spannende Ge- zumindest probieren mit mir am Gym- schichte. Abgesehen davon, dass ich nasium. Die Erleichterung, ohne die keine Ahnung hatte, was mich erwar- Schmach des Scheiterns ins Dorf zu- ten würde, kannte ich nicht einmal rückkehren zu können, war beträcht- den Weg zum Gymnasium. Dieser ließ lich. Den berühmten Stein, der mir vom sich erkunden. Also erschien ich zur Herzen fiel, spüre ich noch immer. Prüfung: Mathematik und Deutsch schriftlich, möglicherweise – bei allfäl- Im September hieß es dann antreten. ligen Unklarheiten – auch mündlich. Bei Von der Volksschule war ich ja gewohnt, Mathematik, später nicht gerade meine dass die Klasse voll war. Dennoch über- Spezialdisziplin – war die Sache nach trafen die Eindrücke bei der Einschu- der schriftlichen Prüfung souverän erle- lung in der Stadt meine kühnsten Vor- digt. Alles richtig. Nicht so einfach war stellungen. Ich wurde einer Klasse mit das mit Deutsch, später nicht besonders mehr als 40 – kein Irrtum, auch keine schwierig für mich. Nach der schriftli- verklärte Erinnerung! – zugewiesen, chen Prüfung wurde mir mitgeteilt, ich lauter Knaben, keine Mädchen. Die Leh- hätte mich zur Abklärung meiner Eig- rer waren vorwiegend männlich, eine nung zur mündlichen einzufinden. einzige Frau wurde uns zugeteilt. Der Unterricht war zu einem ordentlichen Der Lehrer, ein strenger, mir aber trotz- Teil auf Bändigung der Meute abge- dem gewogen scheinender Mann, ließ stellt. Bei den Disziplinierungsmaßnah- mich lesen und befragte mich dann zur men wurde, was sich allerdings nicht Grammatik. Und da offenbarte sich der von der Volksschule abhob, gelegentlich Unterschied zwischen Stadt und Land. tatkräftig durchgegriffen. Und die fach- Auf die Frage nach den Wortarten be- liche Qualität der Lehrkräfte war sehr stimmter im Text vorkommender Wör- unterschiedlich, was sich für den uner- ter antwortete ich etwa mit Tunwort fahrenen Dorfjungen darin ausdrückte, oder Wiewort. Ich war mir sicher, die dass er bei der einen mehr, beim ande- Fragen damit richtig beantwortet zu ha- ren weniger Schwierigkeiten hatte, den ben, aber das erwies als weit gefehlt. Ich Stoff mitzubekommen. Die Mitschüler musste zur Kenntnis nehmen, dass das waren anders als die in der Volksschule. Zeitwort bzw. Eigenschaftswort heiße Es gab da Knaben von wichtigen Her- und ich mir diese Begriffe tunlichst zu ren in der Stadt, von landesweit bekann- merken hätte. Auch in anderen Berei- ten Berühmtheiten, aber auch solche chen verlief die Prüfung so, dass ich mit wie mich. Interessant war, wie sie sich

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schon bald zu Gruppen zusammenfan- Dieses Mal war es ein Engländer, der den, wie sie sich kleideten, wie sie sich beim lobenswerten Bemühen, uns das gaben. Die erste Klasse war schnell vor- eine oder andere in deutscher Sprache bei. Ebenso die zweite, in der wir immer zu erklären, sowohl mit der Ausspra- noch mehr als 40 waren. Einige Lehrer che als auch mit Wortschatz und Gram- waren neu, andere blieben uns erhalten. matik seine liebe Not hatte, sodass wir Eindrücklich war, dass gerade in Mu- dann doch wieder nicht so genau wuss- sikerziehung, eigentlich kein Drillfach, ten, was eigentlich Sache war. Um sich die handgreifliche Pädagogik in beiden besser orientieren zu können, griff er Jahren in besonders ausgeprägter Form auf die Expertise einiger Klassenka- auftrat. meraden aus der Stadt zurück, die ihn völlig unparteiisch und uneigennützig In der dritten Klasse war vieles neu. berieten. Dass dies nicht alle von uns Einmal waren wir nun unter 40, zum gut fanden, lag in der Natur der Sache, anderen bekamen wir einen neuen änderte aber nichts an den Fakten. Klassenvorstand. Es wehte ein kräfti- gerer Wind. Latein als zweite Fremd- Mit dem Beginn der Oberstufe stand sprache kam zu Englisch dazu. Zu- eine wichtige Entscheidung an. Als drit- erst mussten wir freilich die deutsche te Fremdsprache standen Griechisch Grammatik noch einmal von Grund auf und Französisch zur Wahl. Da in allen lernen, um überhaupt eine Chance zu drei Klassen die erforderliche Anzahl haben, mit dem Latein zurechtzukom- von fünf Griechisch-Interessierten nicht men. Das bedurfte einer ordentlichen zustande kam, war die Sache einfach. Anstrengung, die uns der Lateinlehrer Alle mussten Französisch lernen. Wir dadurch versüßte, dass er jede Stunde bekamen einen äußerst eigenwilligen jeden von uns abfragte und im Falle von Lehrer, der ein kaum überbietbares Ver- kompletter oder auch nur partieller Un- langen hatte, besonders gerecht zu sein. kenntnis mit entsprechender verbaler Er war kein schlechter Mann für alle, die Begleitung zur Erledigung zusätzlicher leistungsstark waren. Er verlangte viel, Übungen bewegte. Ob die so gewonnen wir mussten viel lernen. Allerdings hat Fortschritte in Deutsch und Latein eher er bei manchen Mitschülern einen auf extrinsischer oder doch intrinsischer Jahre und Jahrzehnte hinaus bleibenden Motivation zu danken waren, ist schwer Eindruck hinterlassen, weil sie sich von zu sagen. Jedenfalls war die gewählte ihm schlecht behandelt fühlten. Als er Methode bei vielen von uns erfolgreich. nach unserer sechsten Klasse, ohne dies Neben Latein war auch Chemie neu. Der vorher bekannt gegeben zu haben, in Lehrer, der uns in dieses Fach einführ- Pension ging, waren wir darüber ganz te, bediente sich einer ziemlich blumi- froh. Sein Nachfolger war ein korrekter, gen Sprache, die nichts an Deutlichkeit distinguierter Herr, bei dem wir auch vermissen ließ. Da die meisten unserer einiges lernten, bei dem der Stress aber Lehrer den zweiten Weltkrieg aktiv mit- vergleichsweise sehr gering war. erlebt hatten, war eine gewisse Militanz in Wort und Tat keine Seltenheit. Die In Englisch setzte sich fort, was in der vierte Klasse verlief ruhig. Erwähnens- Unterstufe begonnen hatte. Wir hatten wert ist allerdings, dass wir in Englisch drei verschiedene Lehrer in vier Jah- bereits die dritte Lehrperson hatten. ren. Einen älteren Herrn, der uns viel

Seite 114 von seinen Besitzungen in der Bundes- Schularbeiten zu schreiben waren, hat- hauptstadt erzählte, bei dem wir jene ten wir es mit ganz unterschiedlichen Themen durchnahmen, die unsere Vor- Persönlichkeiten zu tun. Vom belesenen gänger in den letzten Jahrzehnten auch Gelehrten bis zum an Natur und Garten bereits vorgesetzt bekommen hatten. interessierten Durchschnittskönner war Einen Iren, der kaum Deutsch konn- alles vertreten. Für Abwechslung war te, und schließlich einen Sportler, der ausreichend gesorgt. leicht zu Extremen neigte und dem es an Einsicht in unsere begrenzten Mög- Bei der Matura waren wir 23, einige lichkeiten mangelte. Englisch zählte waren aber nicht von Anfang an dabei daher, freundlich und zurückhaltend gewesen, sondern kamen im Laufe der formuliert, bei den Wenigsten zu den Jahre dazu. Unsere Ergebnisse waren Lieblingsfächern. herzeigbar, es gab viele ausgezeichnete Leistungen. In Latein hatten wir auch einen Lehrer- wechsel in der siebten Klasse. Da ging Wenn ich mich bemühe, ein Fazit zu zie- es plötzlich wesentlich lockerer zu. Was hen, so fällt es insgesamt doch positiv in den vier ersten Lernjahren immer aus. Am Ende setzte sich die Leistung eindeutig war, wurde nun auf einmal durch, nicht die Herkunft oder der so- interpretierbar. Es gab Spielräume, die ziale Rang. Das Experiment, in der Stadt manche von uns nützten. Der Erkennt- zu studieren, zahlte sich aus. Der Dorf- nisfortschritt hielt sich ebenso in Gren- junge blieb zwar ein Dorfjunge, aber er zen wie das auferlegte Arbeitspensum. konnte sich durch harte Arbeit doch den Wirklich gestört hat das allerdings kei- Respekt von Mitschülern und Lehrper- nen von uns. In Deutsch hatten wir wäh- sonen sowie die Befähigung erwerben, rend der gesamten Oberstufe, ja bereits studieren zu dürfen. Wenn auch der ab der vierten Klasse den Lehrer, der uns persönliche Eindruck, anderen helfe es, in der dritten Klasse in Latein übernom- der oder jener Familie zu entstammen, men hatte. Ihm gelang es, zumindest im diesen oder jenen Vater zu haben, der formalen Bereich – Rechtschreibung, in der Stadt oder darüber hinaus An- Zeichensetzung, Grammatik – unsere sehen genießt, nie völlig verschwand, Kenntnisse auf vernünftiges Niveau zu war es doch eine Genugtuung, letzten bringen. Die Begeisterung für Literatur Endes bei denen zu sein, die die acht weckte er immerhin bei einem Teil von Jahre Gymnasium ohne Verzögerung uns. In Mathematik hatten wir von der absolvierten und gut abschlossen. Für ersten bis zur achten Klasse denselben meine weitere Entwicklung war es eine Lehrer. Für mich und einige andere von prägende Zeit, die ich keinesfalls mis- uns war es ein Segen, dass er die Din- sen möchte. ge mit viel Geduld und Verständnis zu vermitteln verstand. Er wirkte zwar ge- legentlich ob unserer Undiszipliniert- heit genervt, aber niemals nachtragend oder ungerecht. Im Gegenteil, er ver- suchte stets, Punkte zu finden, die er Schülern in Nöten positiv anrechnen konnte. In den Fächern, in denen keine

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In dubiis libertas!

Mag. Christian Gehrer v/o Eumel

größeren Brüder waren bereits bei der Kustersberg. Meine Mutter war bereits Fahnenpatin der Kustersberg. Dass also auch der Jüngste dazugeht, war (fast) nur mehr Formsache. Und so saß ich da und dachte mir insgeheim: „So sieht also Erwachsen werden aus.“ Und ich tauchte ein in das Couleurstudenten-Le- ben. Die Kustersberg ist noch heute eine erfolgreiche Verbindung. Ohne Mäd- chen. Die Kustersberg lebt gut damit. Und ich lebe gut damit.

Schauplatzwechsel - rund fünf Jahre später.

Da war ich also. Ein junger Fuchs im Alter von 19 Jahren. Bei der KAV Rheno-Danubia in Innsbruck. Meine ÖCV-Karriere war ja irgendwie vor- Diskussionen rund um die Auf- gezeichnet. Mein größerer Bruder war nahme von Schülerinnen und schon bei der R-D, der andere in Wien Studentinnen in MKV- und ÖCV bei der KHV Babenberg. Dass also auch Verbindungen sind reine Zeitver- der Jüngste ÖCV-er wurde, war (fast) schwendung. Diese Frage ist nicht nur mehr Formsache. Und so tauchte ich lösbar. Nur erlebbar. Oder auch ein in das Leben einer ÖCV-Verbindung. nicht. Ganz nach dem freien Wil- Die R-D hatte damals bereits einen sehr len der jeweiligen Verbindung. In aktiven Couleurdamen-Zirkel. Daraus dubiis libertas! entwickelt sich der Wunsch nach Vollin- tegration. Die R-D lebt gut damit. Und ich lebe gut damit. Da war ich also. Ein junger Fuchs im Al- ter von 15 Jahren. Mit großen Augen be- Szenenwechsel. obachtete ich die Vorgänge auf der Bude der KMV Kustersberg. Meine MKV-Kar- Wie es das Schicksal dann so wollte, riere war ja vorgezeichnet. Meine beiden wurden wir im Jahr 1999/2000 zum Vor-

Seite 116 ort des ÖCV gewählt. Unser Programm recht. Und die Clunia hat recht. Die Rhe- war vielfältig. Ein Punkt jedoch enthielt no-Danubia hat recht. Und die Austria ungeahnte Sprengkraft: „Die Aufnahme Innsbruck hat recht. Beides ist möglich weiblicher Studierender in ÖCV-Verbin- und beides ist richtig. Keines ist falsch. dungen im Rahmen der Verbindungs- So wie es der Wahlspruch des ÖCV be- autonomie.“ Und so zogen wir in die sagt: Argumentationsschlacht. Stundenlang. Nächtelang. Tagelang. Wochenlang. In necessariis unitas, in dubiis liber- Rational und emotional. Meist versöhn- tas, in omnibus caritas. lich, manchmal aber auch unversöhn- lich. Am Ende des Tages wollten wir Im Wichtigen herrsche Einigkeit. Im es wissen. Von jedem einzelnen. Und Zweifel herrsche Freiheit…Und jetzt so befragten wir alle Mitglieder von können wir es eigentlich recht schnell ÖCV-Verbindungen (nicht alle, 4 Ver- machen: bindungen hatten uns verboten, ihre Mitglieder zu befragen. Ein Sittenbild Erstens: Unsere Prinzipien sind ohne für sich…) Zweifel „necessariis“. Sie sind unverän- Das Ergebnis war klar: 61 % aller ab- derbar. Sie können nicht in Frage gestellt gegebenen Stimmen (bei rund 5.500 werden, da sonst unsere Existenz über- Stimmkarten und 52 % Beteiligung) haupt in Frage gestellt wird. stimmten dafür, dass weibliche Studie- rende im Rahmen der Verbindungsau- Zweitens: Es wird niemand ernsthaft tonomie aufgenommen werden kön- anzweifeln, dass Frauen die 4 Prinzi- nen. Das Ergebnis hatte jedoch einen pien ebenso gut vertreten können wie entscheidenden Schönheitsfehler. Die Männer. Alten Herren stimmten zu 66 % dafür (!), die Aktiven aber zu 51 % dagegen. Drittens: Ob ich aber Frauen in meiner Damit war das Projekt gescheitert. Verbindung als Vollmitglieder haben will oder nicht, ist eine Frage der per- Die „Frauenfrage“ muss nicht gelöst sönlichen Einstellung. Und ich verste- werden he alle Argumente die man aufbringen kann – für und gegen gemischte Verbin- Damals haben wir uns geärgert. Heu- dungen. Ich kenne sie. Alle! Ich kann te würde ich sagen: Es ist unerheblich! beide Seiten nachvollziehen. Ich kann Denn wenn mir in diesen vielen Jahren beiden Seiten etwas abgewinnen. Wirk- der Diskussion und des Austauschs der lich! Ich bin Kustersberger. Und ich bin immerselben Argumente eines klar ge- Rheno-Danube. Ich fühle mich beiden worden ist, dann das: Verbindungen eng verbunden. In dubiis libertas also. Diskussionen rund um die Aufnahme von Schülerinnen und Studentinnen Ja und was soll dann mit den rein weibli- in MKV- und ÖCV-Verbindungen sind chen Studentenverbindungen und jenen letztlich reine Zeitverschwendung. Die- gemischten Verbindungen außerhalb se Frage ist nicht „lösbar“. Und sie muss der großen Verbände MKV und ÖCV auch nicht gelöst werden. Denn beide passieren, fragst du mich? Keine Ah- Seiten haben recht! Die Kustersberg hat nung! Das müssen Sie schon selber ent-

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scheiden. Aber Gegenfrage: wenn wir fangen wollen mit der Freiheit, die un- das christliche Couleurstudententum in serer Generation geschenkt wurde und Österreich ganz neu gründen und ganz - so hoffen wir - auch nachfolgenden Ge- neu organisieren könnten, würden wir nerationen geschenkt sein wird. dann wirklich eine Vielzahl von kon- kurrierenden Verbänden und Organisa- Die Freiheit der Erwachsenen heißt Ver- tionsformen schaffen, die in erster Linie antwortung mit sich selbst beschäftigt sind? Dixi. „Die Freiheit der Erwachsenen heißt Ver- antwortung“ hat der ehemalige deut- Da war doch noch was … ach ja: das sche Bundespräsident Joachim Gauck in Wichtige! seinem Plädoyer „Freiheit“ formuliert. Verantwortung! Eigenverantwortung! Und damit wäre auch schon alles ge- Individualität, Subsidiarität, Solidarität sagt. Wenn da nicht noch eine Kleinig- – auf Basis unserer eigenen Verantwor- keit wäre. Denn, magst du einwerfen, tung! Das ist es doch, woran wir glau- nur weil die Diskussion der Frauenfrage ben. Gegen den Kollektivismus. Gegen in MKV und ÖCV eine Zeitverschwen- die Gleichmacherei. Gegen die Entmün- dung ist, heißt das ja noch lange nicht, digung. Vielfalt und Verschiedenheit als dass nicht jeder und jede das Recht hat, Bereicherung, aber stark im Fundament, die Diskussion wieder von vorne zu be- in unseren Prinzipien. Darum gibt es ginnen. Schließlich sind wir ja alle Zeit- uns seit 100 Jahren und mehr. Weil wir verschwender irgendwie. Richtig. Mit über Generationen junge Menschen an- sinnlosem Fernsehschauen zum Bei- ziehen, die heute in der Verbindung und spiel, oder mit dem Rumhängen in So- morgen in der Gesellschaft bereit sein zialen Medien oder mit dem Rumhän- sollen, Verantwortung zu übernehmen. gen einfach nur so zum Rumhängen. Je wichtiger die Schließlich hat ja jeder das Recht seine Noch nie in der Geschichte der Mensch- Zeit so zu verschwenden, wie er oder sie heit konnte jede und jeder einzelne von Entscheidung, das gerne will! Stimme ich zu. uns über so viel Entscheidungsfreiheit desto wertvoller der verfügen. Noch nie in der Geschichte ABER! Aber nur so lange, so lange die der Menschheit konnte sich jede und Notar. Zeitverschwendung nicht das „neces- jeder einzelne so vieler Informations- sariis“, das Wichtige, überlagert. Ja und und Kommunikationsmöglichkeiten was ist dann eigentlich das Wichtige bedienen. Dieses Mehr an Freiheit, die- der Verbindung? Unsere Prinzipien. ses Mehr an Möglichkeiten verlangt im Umso besser, Das sagten wir schon. Und dann, dar- selben Atemzug von uns und von den wenn es aus abgeleitet unsere Weltanschauung. kommenden Generationen aber auch zwei Unser Blick auf die Gesellschaft. Unsere ein deutliches Mehr an Eigenverantwor- sind. Vorstellung davon, wie Gesellschaft gut tung – in der Arbeit, in der Gesellschaft, funktionieren kann. Und wie in weite- in unserem ganzen Leben. rer Folge unser Beitrag zur Gesellschaft aussehen kann. Nicht als Verbindung. Mittelschul- und Studentenverbindun- Als Individuum. Jeder und jede einzelne gen haben darauf gute Antworten. Zeit- von uns. Das ist wichtig. Mir zumindest. gemäße Antworten - abseits von Flaus, Mir ist wichtig, dass wir uns Gedanken Cerevis und Biercomment. Ich denke darüber machen, was wir eigentlich an- nämlich, dass unsere Grundwertehal-

Seite 118 tung in einer unübersichtlicher wer- Ich finde also, wir sollten unser neces- denden Welt immer wichtiger wird: als sariis in den Mittelpunkt rücken und Wegweiser und Handlauf, insbesondere im Zweifel die Freiheit regieren lassen. für junge Menschen und junge Akade- Denn die Gedanken sind frei! miker. Den Kartellschwestern und Kartellbrü- Ich finde also, wir sollten mehr über dern der KMV Clunia gratuliere ich Verantwortung und Eigenverantwor- von ganzem Herzen zu eurem 100. Stif- tung diskutieren und weniger darüber, tungsfest! Ich gratuliere euch zu eurem ob eine Frau jetzt eine Lebensfreund- Mut, zu eurer Entschlossenheit der letz- schaft eingehen kann oder nicht. ten Jahre und Jahrzehnte. Ihr seid Pio- niere und Wegbereiterinnen. Ich fühle Ich finde also, wir sollten mehr darüber mich euch verbunden! diskutieren, wie wir junge Menschen, viele junge Menschen (!!), für Werte wie Vivat, crescat, floreat – ad multos annos, die unseren begeistern können und we- Clunia Feldkirch! niger darüber, ob Flaus und Buchse ei- ner Frau stehen oder nicht.

Je wichtiger die Entscheidung, desto wertvoller der Notar.

Umso besser, wenn es zwei sind. 110 Jahre KMV Clunia

Schule aus der Sicht eines Schülers Gedanken und Anregungen

Thomas Hollenstein v/o Thor, RHL

kennenlernen. In den nächsten Absät- zen werde ich über meine Erfahrungen berichten und auf die Neuerungen der letzten Jahre eingehen.

Als ich im Herbst 2004 meinen Bil- dungsweg begann, folgte auf große Vor- freude schnell Ernüchterung. Erwartet hatte ich, jeden Tag neue Fakten und Fähigkeiten zu lernen. Tatsächlich ver- brachten ich und einige andere viel Zeit damit, still zu sitzen und „einfach nicht zu stören“, während vorne die Themen für alle Schüler im selben Tempo durch- gekaut wurden.

Die Ermahnungen nicht zu stören, ver- Die politische Debatte zum Thema stehe ich eigentlich bis heute nicht. Ich Schulsystem, die vor wenigen Jahren denke fast jedes Kind wäre von selbst noch öffentlich geführt wurde, ist aus ruhig, würde man es in seinem indivi- den Schlagzeilen und aus den Köpfen duellen Lerntempo fordern. Doch an- beinahe verschwunden. statt dass Begabungen und Defizite früh erkannt und adressiert werden, verlie- Platz machte sie in jüngster Zeit ins- ren viele Kinder aufgrund von Über- besondere der Flüchtlingskrise, Nicht- oder Unterforderung schnell die Lust rauchergesetzen und dem 12-Stunden am Lernen. Arbeitstag. Für mich unverständlich – führt man sich vor Augen, welchen In der Sekundarstufe war dieses Prob- Einfluss die Schule auf die Bürger eines lem weniger ausgeprägt. Mit der Wahl Staates hat, haben wir aus meiner Sicht zwischen Gymnasium und Hauptschu- kaum ein größeres Problem als ein un- le mit ihren Leistungsgruppen wurden zulängliches Schulsystem. Schüler mit ähnlicher Lerngeschwin- digkeit in einer Klasse bzw. Gruppe In den letzten 14 Jahren konnte ich unterrichtet. Doch genau hier setzte die dieses Schulsystem von seinen guten Bildungsreform an, und schaffte mit der wie auch von seinen schlechten Seiten Neuen Mittelschule die Leistungsgrup-

Seite 120 pen ab. Anstatt Klassen nach Leistung scheidung überfordert sein – dafür bie- der Schüler zu bilden, sind jetzt zwei ten aber Aufbaulehrgänge und Studium Lehrpersonen in einer Klasse, die in die Möglichkeit auch später noch einen unterschiedlichem Tempo unterrichten ganz anderen Weg einzuschlagen. sollen. Weniger Schüler pro Lehrer halte ich für eine sehr gute Idee, zu bedenken Entscheidet man sich für eine höhere ist hierbei aber der momentane Lehrer- Schule, führt der Weg im besten Fall mangel. nach vier oder fünf Jahren zur Matura. In der Oberstufe wird mehr Selbststän- Weshalb entschloss man sich zu die- digkeit verlangt, und auch an sich wird ser Änderung? Auf der Webseite des man mehr gefordert als in der Unter- Bildungsministeriums wird sie etwa stufe. Fundamental anders unterrichtet damit begründet, dass dadurch „Schü- wird jedoch nicht. lerInnen mit unterschiedlichem Lern- tempo einander unterstützen und von- Eine Erkenntnis zu unserem Schulsys- einander profitieren“. Diese Annahme tem, die sich während meiner Laufbahn trifft sicher in vielen Fällen zu. Anderen immer wieder bestätigt hat, war, wie etwas zu erklären ist bewiesenermaßen viel von der Lehrperson abhängt. Je- eine wirksame Möglichkeit, das The- der, der einmal eine Schule besucht hat, ma selbst besser zu verstehen und sich weiß wie viel Freude das Lernen ma- einzuprägen. Wie gut das dann wirk- chen kann, wenn man mit Leidenschaft lich funktioniert – ob etwa schwächere unterrichtet wird. Kinder von ihren begabteren Mitschü- lerinnen und Mitschülern tatsächlich Aus meiner Erfahrung kommt aber auf motiviert und nicht eher verunsichert jeden kompetenten, inspirierten Leh- werden – lässt sich wohl erst in ein paar rer mindestens einer, der seinen Beruf Jahren sagen. scheinbar nur wegen der vielen Ferien gewählt hat. Ein sinnvolles Ziel der Po- Insgesamt liegen der NMS einige inte- litik ist daher meiner Meinung nach, ressante Konzepte zugrunde. Gut finde wieder mehr fähige und interessierte ich etwa den Schritt weg vom Frontal- junge Leute für den Lehrerberuf zu be- unterricht. Mit mehr Freiarbeit und ei- geistern. genständigem Arbeiten werden Krea- tivität und unkonventionelles Denken Wie genau dies passieren könnte oder sicher mehr gefördert. Ich bin gespannt, welche anderen Schritte konkret unter- ob sich die NMS als Verbesserung zur nommen werden sollten, kann ich an Hauptschule erweisen kann. Von den dieser Stelle aber nicht sagen. Eine ein- Lehrern und Schülern, mit denen ich fache Vorgehensweise gibt es hier sicher bisher darüber gesprochen habe, war nicht und vom Experten bin ich weit von den Neuerungen eigentlich keiner entfernt. Da dies aber auch auf die meis- wirklich begeistert. ten Abgeordneten zutrifft, sollten aus Gegen Ende der Mittelschul- oder Gym- meiner Sicht mehr erfahrene Pädagogen nasiumzeit stellt man mit der Wahl und Psychologen in den Entscheidungs- des weiteren Bildungswegs bereits die findungsprozess eingebunden werden. Weichen für die berufliche Zukunft. So Raum für Verbesserung wird es immer mancher 14-jähriger mag mit dieser Ent- geben.

Seite 121 110 Jahre KMV Clunia

Programm des 110. Clunia-Stiftungsfestes

Samstag, 3. November 2018

15:00 Philisterconvent (intern), Bude 19:00 Begrüßung durch Phx und Senior, Uraufführung „Clunia-110-er Marsch“ komponiert u. präsentiert von Martin Bürgermeister v/o Odin, Kapellmeister in Schnifis 19:45 Festschriftpräsentation Humanismus – Vision – Historie, Einleitende Worte: LAbg. Bgm. Mag. Harald Witwer v/o Al, anschließend: Small-Talk mit musikalischer Unterhaltung und einem kleinen Buffet

Freitag, 7.12.2018

20:00 Begrüßungs-u. Niklausabend auf der Bude

Samstag, 8.12.2018

10:00 Festgottesdienst mit 50 Jahre Diözese im Dom, TV-Übertragung Teilnehmer: CLF-Chargierte mit Fahne und ausgewählter Couleurbedeckung. 12:30 gemeinsames Mittagessen für Chargierte, Gäste usw., Schattenburg, Röss- lepark 16:00 Empfang durch den Bürgermeister im Rathaus im großen Sitzungssaal anschließend 17:00 Gemeinschaftsfoto vor dem Rathaus 18:30 Sektempfang für alle ehem. Phx, x und FM sowie alle EB und Doctores cerevisiae im Pförtnerhaus (eigene Einladung) 19:15 Gemeinschaftsfoto auf der Stiege zum Pförtnerhaus 19:30 Festkommers Pförtnerhaus 110 Jahre Clunia 110 Jahre VMCV

Sonntag, 9.12.2018

11:00 Ausklang mit Mittagessen

Seite 122 GUT. ODER BESSER.

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Diese im November 2018 erschienene Festschrift ist eine Sonder- nummer der Zeitschrift „der Clunier“. Unzustellbare Exemplare zurück an KMV Clunia, Vorstadt 26, 6800 Feldkirch