Das Wissenschaftsmagazin der VolkswagenStiftung 01 Impulse 16

Ins Blaue hinein Ozeane, Küsten, Inseln: der größte Lebensraum auf unserer Erde im Fokus der Forschung Vorwort

Es ist erst wenige Monate her, da ließ ein Urteil geflügelte Wort vom „blauen Planeten“ und seinen die Weltgemeinschaft aufhorchen: Neuseeland Geheimnissen, die er noch birgt. Und über diesen erkennt als erster Staat den Klimawandel und möchten wir Ihnen viele Geschichten erzählen – die Zerstörung der Umwelt als berechtigten, also kleine und große. Die großen führen Sie jeweils „rechtmäßigen“ Anlass für Migration und damit drei Mal zunächst zu verschiedenen Küstenregio- als Asylgrund an. Eine Familie von der Pazifik- nen dieser Welt, dann zu Inseln – oder solchen, die insel Tuvalu, deren Zuhause, so wertete es das Wissenschaftler dafür halten –, und zuletzt geht‘s neuseeländische Gericht, nachweislich Opfer des dann drei Mal direkt hinaus auf die Ozeane. Wilhelm Krull, allmählich steigenden Meeresspiegels geworden Generalsekretär der war, erhielt in letzter Instanz dauerhaftes Blei- In vielen der Beiträge über die geförderten Pro- VolkswagenStiftung berecht zugesprochen. Es dauerte nicht lange, jekte, die ja den Kern der Erzählungen bilden, und die Vereinten Nationen meldeten sich mit schwingt immer auch der Gedanke der Nachhal- dem Hinweis: Sollte sich an der Situation nichts tigkeit mit. Dieser ist zunehmend von Bedeutung ändern, dann erwarte man bis zum Jahr 2050 auch bei jenen gemeinsam von Land und Stiftung weltweit bis zu 500 Millionen Menschen, die vergebenen Fördermitteln, die explizit den nie- allein aufgrund von klimatischen Veränderungen dersächsischen Hochschulen und Wissenschafts- und Umweltzerstörung ihre Heimat fliehen. einrichtungen zugute kommen. Gleich drei Mal blättern sich in diesem Heft Beiträge zu solchen Schon etwas länger beschäftigen sich fünf For- im „Niedersächsischen Vorab“ geförderten Vorha- scherteams unterschiedlicher Expertise in einem ben auf: angefangen bei einem Projekt zur Öko- von der Stiftung geförderten Projekt gemeinsam system- und Biodiversitätsforschung vor der Insel mit der Frage, inwieweit ein Zusammenhang Spiekeroog über die an der hiesigen Küste teils vor Impressum bestehen könnte zwischen massiven Umweltver- Anker liegende deutsche Forschungsflotte bis hin änderungen und dem Bedürfnis von Menschen, zu neuen Offshoretechnologien – allesamt Wis-

Herausgeber ihre Heimat – teils unter großen Gefahren für ihr sensfelder, in denen nicht nur deutsche, sondern VolkswagenStiftung Leben und das ihrer Liebsten – für immer zu ver- oft gerade niedersächsische Forscherinnen und Kastanienallee 35 30519 Hannover lassen. Der spezielle Blick gilt dabei Küstenregio- Forscher weltweit die Nase vorn haben. Telefon: +49 511 8381-0 nen, schließlich werden dort offenkundig schnel- Telefax: +49 511 8381-344 E-Mail: [email protected] ler als anderswo global wirkende klimatische Die Stiftung ist ja bekanntlich ein verlässlicher www.volkswagenstiftung.de Veränderungen manifest: ob schleichend etwa Partner von Forschung und Wissenschaft in die- Vertreten durch durch steigende Wasserspiegel der Meere oder sem Bundesland und möchte es auch künftig in Kuratorium VolkswagenStiftung, vertreten durch den Generalsekretär Dr. Wilhelm Krull schlagartig aufgrund extremer Wetterereignisse. bewährter Stabilität und Standfestigkeit bleiben. Immerhin hat sie in den ersten beiden Ausschrei- Redaktion (Text- und Schlussredaktion, Heftkonzept) Dr. Christian Jung (cj) Und damit sind wir, das aktuelle Weltgeschehen bungsrunden zur Nachhaltigkeitsforschung 15 Pro- vor Augen, mitten in dieser Ausgabe 1_2016 unse- jekte mit insgesamt rund 25 Millionen Euro bewil- Bildredaktion Ina-Jasmin Kossatz res Magazins „Impulse für die Wissenschaft“ ange- ligt, darunter auch solche zur Meeresforschung.

Kommunikation VolkswagenStiftung kommen. Ein Heft zum Schwerpunktthema „Meer“ Jens Rehländer (Leitung) – kein als solcher explizit formulierter Förderbe- Wir hoffen, dieses Heft bietet reichlich Anregung,

Gestaltung reich der Stiftung, aber doch einer, der sich in vielen sich mit den Wundern am, im, auf dem und unter Medienteam-Samieske, Hannover Projekten abbildet, wie wir festgestellt haben. Wasser zu beschäftigen. Ich wünsche viel Vergnü-

Korrektorat gen und Erkenntnisgewinn bei der Lektüre. Cornelia Groterjahn, Hannover Dass „das Meer“ in seinen unzähligen Facetten in Druck recht unterschiedlicher, überaus vielfältiger Weise Ihr gutenberg beuys feindruckerei gmbh Hans-Böckler-Str. 52 Gegenstand von Forschung ist, überrascht letzt- 30851 Hannover/Langenhagen lich kaum. Schließlich gibt es nicht umsonst das

Impulse 01_2016 3 Inhalt Küsten Inseln Ozeane Rubriken 32 78 114 26 Küsten Ein Recht auf Meer Inselleben im Zeitraffer Ein Schiff muss zur Kur Kompakt: zum Schwerpunktthema Grob geschätzt leben weltweit über Wer vor Südafrikas Zwölf kleine Inseln Ein Tag am Marine Sci- zwei Milliarden Menschen an den Küste fischt, den regu- entstehen vor der Insel ence Center in Rostock- 70 Gestaden der Meere. Für sie verbin- liert der Staat – gerade Spiekeroog mitten Warnemünde auf der Spektrum: zur Wissenschaftsförderung det sich vieles mit dem Lebensraum auch die „kleinen im Wattenmeer: Wer Spur von Seehund, See- am Wasser. Die Meere vor ihrer Tür Fischer“. Und hier be- besiedelt sie zuerst? bär, Seelöwe und Sepia. 104 sichern Überleben und wirtschaft- ginnen die Probleme … Forum Förderung: Auszeichnungen / Bewilligungen liche Existenz, sind Fluchtpunkt in 88 128 ein neues Leben – bedrohen aber 42 Eiland der Riesenmäuse Mit der Sonne unterwegs 152 auch durch steigenden Wellenspiegel Treibgut Mensch Wie Tierarten auf Freie Fahrt für die Publikationen in Zeiten des Klimawandels. Und sie Umweltschäden und Inseln in kurzer Zeit neue SONNE, der Star spucken immer mehr Müll aus. Klimawandel als An- immer größer werden in Deutschlands acht- 158 Ein Landgang. ➞ Seiten 32-69 lass für Migration? For- oder in wenigen Gene- zügiger Forschungs- Veranstaltungen scher haben Menschen rationen schrumpfen: flotte. Das schwim- an Küsten Ghanas und über Riesenwachstum mende Hightechlabor 162 Indonesiens befragt. und Inselverzwergung. macht Furore. Die Stiftung im Netz 54 96 140 163 Herrscher der Meere Inseln der Evolution Brise für die Steckdose Die Stiftung in Kürze Angsteinflößend, zer- Ein Blick in Kraterseen Windräder oder deren störerisch, gefürchtet. und zu Inseln, die Komponenten unter 166 Aber auch: gute Kon- eigentlich Berge sind. Offshorebedingungen Vorgestellt! strukteure und geschick- Wie neue Arten entste- prüfen: In Hannover te Händler. Ein Besuch hen – ohne scheinbar eröffnete das Testzen- 167 bei den Wikingern. triftigen Grund. trum für Tragstrukturen. Impressum

Inseln Reif für die Insel? Dann nichts wie los. Aber nicht auf Urlaubs-, sondern auf Forschungsreise. Dorthin, wo Tiere übergroß werden, wo neue Arten entste- Kooperationsmodul Europaförderung Allianz für das Meer hen und Leben sich vom Wasser zum Land hin entwickelt und umgekehrt. In Eine Fotoreportage ➞ S. 6-25 ihren Erzählungen bilden viele Inselvölker Eilande als hinter dem Horizont Die Stiftung hat von in ihrem Heimatland den Weg gebracht: elf in liegende Gärten Eden ab, als die wahren Paradiese der Erde mit unzähligen 2013 bis Ende 2015 For- auch unter schwierigen Spanien, sieben in Por- faszinierenden Lebewesen. An künstliche Inseln aus Metall haben sie dabei scher in den von der Bedingungen weiterhin tugal, zwei in Griechen- vermutlich nicht gedacht. Doch auch die gibt es. Eine Reise ins Unbekannte. Wucht der Finanzkrise substanziell Forschung land und eins in Irland – ➞ Seiten 78-103 betroffenen Staaten zu ermöglichen. Vor- fünf davon finden Sie in Europas mit aussetzung war die diesem Heft vorgestellt. einem auf Anbindung eines Ein kleiner „Stempel“ Ozeane sie zuge- solchen Projekts macht darauf aufmerk- Das offene Meer ist der größte Lebensraum unserer Erde und einer, der noch schnit- an ein von der sam. Die Stiftung hofft, viele Geheimnisse birgt. Die Ozeane beheimaten eine faszinierende Tier- und tenen. Stiftung bewil- so einen bleibenden Bei- Pflanzenwelt und bieten uns Nahrung und Energie. Sie speichern große Men- Angebot ligtes Vorhaben. trag geleistet zu haben gen Kohlendioxid und regeln das globale Klimasystem. Algenwolken sorgen unter- Es wurden 21 dieser zum Erhalt der Vielfalt als „grün-blaue Lunge“ für Sauerstoff in der Atmosphäre. Jeder fünfte unserer stützt. Ziel war „Kooperationsmodule der Wissenschaftskultu- Atemzüge stammt aus dem Meer. Einmal Durchatmen, bitte. ➞ Seiten 114-151 es, Wissenschaftlern Europaförderung“ auf ren Europas.

4 Impulse 01_2016 5 Allianz für das Meer Das Deutsche Meeresmuseum in Stralsund. Hier treffen sich zwei Geschichten, die eigentlich nur eines verbindet: der Lebensraum Wasser, das Meer. Die eine Geschichte erzählt davon, wie – oft vom Menschen verursachte – Belastungen den größten Meeresbewohnern vor unserer Küste zu schaffen machen. Die andere beäugt Verwandtschaftsverhält- nisse – unter Fischen. Eine Geschichte über die Qual des Wals und das Silber des Meeres. Willkommen in Stralsund – und an ein paar anderen Schauplätzen.

6 Impulse 01_2016 7 Professorin Ursula Siebert, Leiterin des Instituts für Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung der Tierärztlichen Hochschule Hannover (TiHo), bei einer Ausfahrt mit der „Seeeule“. Das Schiff liegt am Standort Büsum des Instituts vor Anker. Die Wissenschaft- ler suchen mit Klickdetektoren nach Schweinswalen. Das Gerät nimmt durch hochsensible Unterwassermikrofone die typischen Laute der Meeressäuger auf, verarbeitet und speichert diese. Schweinswale nutzen zur Orientierung eine Art Sonar – eben jene Klicklaute, deren Echo sie wieder auffangen. Dessen Muster zeigt ihnen Beutefische an oder lässt sie Hindernisse erkennen.

Mitarbeiter des TiHo-Instituts beladen die „Seeeule“ mit dem Klickdetektor. Am Ende der Fahrt (rechts) warten bereits zwei neue Totfunde – eine Robbe und ein Schweinswal – im Büsumer Sektionsraum auf Ursula Siebert und ihr Team. Viele Tiere sterben als „Beifang“. Sie verheddern sich in den Maschen der in der Ost- see nach wie vor üblichen Stellnetzfischerei oder enden in soge- nannten Geisternetzen, die von Fischern aufgegeben wurden und noch jahrzehntelang im Meer treiben können. Die modernen Netze sind zudem aus solch feinem Nylongarn geknüpft, dass die Tiere sie weder sehen noch akustisch mit ihrem wichtigsten Orientierungssinn, der Echoortung, rechtzeitig wahrzunehmen in der Lage sind, da der Schall nicht ausreichend reflektiert wird.

8 Impulse 01_2016 9 Mitarbeiterinnen des TiHo-Instituts für Terrestrische und Aquatische Wildtier- forschung im Sektionsraum am Standort Büsum. Die beiden toten Meeressäuger werden vor der Sektion zunächst gewaschen (oben). Dann entnehmen die Wissenschaft- ler verschiedene Gewebeproben (Mitte). Ganz typisch für die Meeressäuger: das Fett- gewebe, hier eines Schweinswals (unten). Vor allem dort lagern sich viele Schadstoffe und Umweltgifte ab und reichern sich an. Auch Parasiten nisten sich ein, nach denen hier gerade gesucht wird.

Rechte Seite: TiHo-Mitarbeiterin Dr. Kristina Lehnert koordiniert das Forschungsvorhaben „Meeressäuger in einer sich verändernden Umwelt“ mit sieben Projektpartnern an acht Hochschul- und Museumsstandorten. Hier sucht sie mit einem Binokular im Büsumer Sektionsraum nach Parasiten (oben). Im toten Seehund findet sie unter anderem einen Herzwurm; hier das „Korkenzieherende“ des Männchens (unten links). Unterdessen stellt Institutsdirektorin Ursula Siebert gerade Gewebeproben für weitergehende Analysen sicher (unten rechts).

10 Impulse 01_2016 11 Schauplatzwechsel: hinüber an die Ostsee ans Deutsche Meeresmuseum (DMM) in Stralsund. Drei engagierte Forscher diskutieren in der Trockensammlung des DMM über frisch iden- tifizierte Spuren an Knochen von Robben und Zahnwalen: Dr. Michael Dähne, Kurator für Meeressäugetiere; Anja Gallus, zuständig für das Schweinswal-Monitoring an der Ostsee – sowie Dr. Timo Moritz, Leiter Wissenschaft und Kurator für Fische (auch: mittleres Bild). Mit den drei Wissenschaftlern treffen hier in Stral- sund im Deutschen Meeresmuseum auch die beiden von der Stiftung geförderten Projekte zu den Meeressäugern sowie zu möglichen Verwandtschaftsbeziehungen verschiedener Fischgruppen aufeinander. Unten: Blick in die Schausammlung auf Modelle von Delfinen.

Linke Seite: An den toten Meeressäugern werden standardisierte Messungen vorge- nommen bis hin zum Körperumfang und zur Dicke der Fettschicht. Oben, links: ein Stück Fettgewebe eines Schweinswals und eine Schieblehre zur Bestimmung der Dicke des Gewebes. Unten: der Schädel einer Kegelrob- be. Ob aus Nord- oder Ostsee: Der Vergleich- barkeit halber konzentrieren sich die Forscher des an Partnern reichen „Meeressäuger- Verbundprojekts“ auf Untersuchungen an ausgewählten Knochen, und zwar vor allem des Unterkiefers, vereinzelt aber auch auf Schädel, Brustbein, Becken- und Schulter- knochen (siehe auch Text ab Seite 20).

Abbildungen nächste Doppelseite: Von den Meeressäugern zu den Fischen: Timo Moritz präsentiert die an Beständen reiche Sammlung konservierter Fische im Deutschen Meeresmuseum in Stralsund. Einen Eishai, der für die Sammlung auf Dauer haltbar gemacht werden soll, übergießt er routiniert in einem Glasbehälter mit Alkohol.

12 Impulse 01_2016 13 14 Impulse 01_2016 15 Die Bilder faszinieren: mit der Clearing-and-Double-Staining-Methode angefärbte Fische. Das Tier wird transparent gemacht; Nächste Doppelseite: Während Timo Moritz sich auf die Morphologie der Fische Knochen und Knorpel werden mit spezifischen Farbstoffen gefärbt. Dazu benötigt man die beiden Lösungen Alcyanblau und konzentriert, übernimmt Projektpartner Dr. Nicolas Straube (linke Seite) von der Alizarinrot (oben). Darunter: Aufgehellte Fische werden dann in Glycerin aufbewahrt. Auch die Fische unten wurden so behan- Zoologischen Staatssammlung München die molekularbiologischen Analysen delt (von links nach rechts): Western Galaxia (Galaxias occidentalis); junger Nagelrochen (Raja clavata); Schwarzkopf (Nor- (hier ein Probenglas mit Stinten). Die Münchner Sammlung hält einen Großteil michthys operosus); Süßwasser-Kugelfisch (Carinatetraodon travaricoricus); Stint (Osmerus eperlanus) mit Beute; junge Forelle der benötigten Gewebeproben und viele der die Forscher interessierenden Fische (Salmo trutta). Bild rechts: Timo Moritz füttert mit Tochter Ylva und Doktorand Matthias Mertzen die Fische seiner Zucht. konserviert vor – unten rechts ein Blick in die Sammlung karpfenartiger Fische.

16 Impulse 01_2016 17 18 Impulse 01_2016 19 Nach der Sektion ist vor der Sektion: Ursula Siebert ist viel gefragt und viel unterwegs – und das nicht nur, weil das von ihr geleitete TiHo-Institut für Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung mit Hannover und Büsum an der Nordsee zwei Standorte hat.

Was dort zu liegen kommt, schauen sich die Ursula Sieberts Fazit aus jahrelanger facetten- „Ziel ist es unter anderem zu erfassen, wie stark Forscher genau an. Sie nutzen inzwischen stan- reicher Forschung zu den Meeres­säugern: „Den die Belastung der Tierbestände durch die verschie- dardmäßig zum Beispiel computergestützte Rönt- Schweinswalen in den heimischen Gewässern denen Stressoren ist“, erläutert Dr. Michael Dähne, genaufnahmen, untersuchen etwa den Gehörbe- geht es nicht gut.“ Denn vieles, was für die Ostsee seit Herbst 2015 Kurator für Meeressäugetiere reich von Schweinswalen und dabei explizit die gilt, treffe – wenngleich abgeschwächt – auf die am Deutschen Meeresmuseum Stralsund. „Der Ohrknochen. Vor allem interessieren sie sich für Nordsee ebenfalls zu. Und es sind nicht nur die Vergleichbarkeit halber konzentrieren wir uns Schäden, die im Verdacht stehen, durch Lärm ver- Schweinswale, die leiden: Auch andere in Nord- mit den anderen Museumspartnern im Verbund ursacht worden zu sein. „Im Innenohr werden die und Ostsee lebende Meeressäuger sind gefährdet auf Untersuchungen ausgewählter Knochen, und Schwingungen des Schalls auf winzige Haarzellen – Seehunde und Kegelrobben beispielsweise. zwar vor allem auf Unterkieferknochen, vereinzelt übertragen und dann als elektrisches Signal an ziehen wir aber wohl auch Schädel, Brustbein, das Gehirn weitergeleitet“, erläutert Professorin Becken- und Schulterknochen für Analysen hinzu.“ Dr. Ursula Siebert und verdeutlicht zugleich, wie Meeressäuger in einer sich über die Jahrzehnte „Wir versprechen uns dabei viel vom Einsatz neuer leicht das überlebenswichtige und sensible Organ verändernden Umwelt Untersuchungsmethoden“, übernimmt Kristina verletzt werden kann. Sind die Schwingungen Lehnert wieder. Bei der Mitarbeiterin von TiHo- zu stark, können sie das empfindliche Gewebe Damit ist der Rahmen gesteckt für das umfangreich Institutschefin Ursula Siebert laufen die Fäden der regelrecht zerstören. „Letztlich müssen wir in der angelegte Kooperationsvorhaben „Meeressäuger vielgliedrigen Kooperation zusammen. Gesamtschau ganz klar festhalten, dass sich Schä- in einer sich verändernden Umwelt“, an dem sich den und Veränderungen am Hörapparat in den unter Federführung von Ursula Siebert seit Mitte „In Kombination mit dem sehr facettenreich vor- vergangenen Jahren in einem weit höheren Maße 2015 sieben Projektpartner an acht Hochschul- und handenen Fachwissen durch die zahlreichen Part- fanden als erwartet“, betont die Biologin. Museumsstandorten beteiligen. Neben dem TiHo- ner im Verbund sollte es im Ergebnis möglich sein, Institut mit seinen beiden Standorten und dem die Belastungen, denen Schweinswale, Seehunde Insgesamt stellten die TiHo-Forscher fest, dass der Deutschen Meeresmuseum sind die Zoologischen und Kegelrobben über den betrachteten Zeitraum Gesundheitszustand vor allem jener in der Ost- Institute und Museen der Universitäten Hamburg ausgesetzt waren und sind, differenziert zu analy- In Kerteminde, Dänemark, see lebenden Schweinswale deutlich schlechter und Kiel, die Universität Hildesheim sowie die sieren“, ergänzt Gallus. „Ganz konkret wollen wir beschäftigen sich Wissen- ist im Vergleich zu den Artgenossen in anderen beiden Naturkundemuseen in Kopenhagen, Däne- herausarbeiten, wie sich der Gesundheitsstatus, schaftler auch mit leben- Weltmeeren. Der Schweinswal ist der typische Wal mark, und Stockholm, Schweden, eingebunden. Die die Zusammensetzung der Nahrung sowie die den Schweinswalen; der Text: Christian Jung // Fotos: Daniel Pilar der deutschen Gewässer und ihrer Anrainer und Stiftung fördert das Vorhaben in der Initiative „For- Belastung mit Schadstoffen beziehungsweise mit einzige Standort an der die einzige in der Ostsee heimische Walart. „Die schung in Museen“ mit 420.000 Euro. Parasiten oder Viren bei den drei Säugetierarten Ostsee, an dem mit den Untersuchungen an rund tausend dieser toten in Nord- und Ostsee unterscheiden – und zwar Meeressäugern gearbeitet Meeressäuger belegen, dass die Tiere häufiger an Ist aber die bedrohte Tierwelt überhaupt ein The- sowohl zwischen den drei Arten als auch bei ein wird. Dr. Jörg Driver sehen Lungenentzündung, Störungen des Hormon- und ma für Museumsforscher? „Sicher“, antwortet und derselben Art im Abgleich über die Jahrzehn- wir hier bei audiometri- ber tausend tote Schweinswale habe sie Immunsystems und Parasitenbefall leiden als Anja Gallus entschieden. Die Biologin ist seit 2010 te“, fasst Dr. Kristina Lehnert zusammen. schen Untersuchungen. Übestimmt schon vor sich auf dem Untersuchungs- Schweinswale anderswo“, bündelt Siebert zehn für das Schweinswal-Monitoring an der Ostsee tisch liegen gehabt. „Und dabei vieles gesehen, was Jahre intensiver Forschung. Sie erklärt dies mit zuständig und koordiniert verschiedene Projekte beunruhigt.“ Ursula Siebert blättert im Schnell- einer übermäßig starken Belastung und Nutzung zu den Meeressäugern. „Auch und gerade anhand durchgang die Ergebnisse jahrelanger Forschung des Meeres. Faktoren wie eine zunehmende Schad- von Sammlungsbeständen können wir im Blick auf, während sie sich in ihrem Institut in Büsum stoffanreicherung und Verschmutzung der Meere, über große Zeiträume Entwicklungen aufzeigen.“ auf eine weitere Sektion eines tot angelieferten Öl-Havarien und Erdölförderung, die Erwärmung Dr. Kristina Lehnert vom TiHo-Institut ergänzt: Meeressäugers vorbereitet. Die Direktorin des der Meere, Gefahren durch die Fischereimethoden „Die Projektpartner verfügen über einzigartige Instituts für Terrestrische und Aquatische Wild- ebenso wie der Rückgang der Beutetiere aufgrund Sammlungen. Dazu gehören Skelette, gefrorene tierforschung der Tierärztlichen Hochschule Han- von Überfischung, stetig zunehmender Schiffsver- und in Formalin archivierte Materialien und Para- nover (TiHo) schüttelt leicht sorgenvoll den Kopf kehr, Lärmverschmutzung, der Bau von Windparks, sitenproben der marinen Säugerspezies aus Nord- bei der Erinnerung daran, wie viele gestrandete seismische und militärische Aktivitäten und in die- und Ostsee.“ Das Material wurde jahrzehntelang und „beigefangene“, also durch Fischerei getötete sem Kontext auch die Anreicherung schwer abbau- bewahrt und ergänzt. Eine einmalige Chance für Schweinswale bei ihr und ihrem Team im vergan- barer Schadstoffe aus der Chemie im Meerwasser: die Wissenschaftler, denen diese Sammlungen genen Jahrzehnt auf dem Seziertisch gelandet sind. Die akuten Bedrohungen tragen viele Namen. unzählige vergleichende Analysen ermöglichen.

20 Impulse 01_2016 21 Auch Wissenschaftler der Uni- Krankheitserreger detektieren lassen – im Opti- – so gar nichts miteinander zu tun. Außer, nun ja, ren und Fischlarven. Typisch für den 30 bis 40 cm versität Hildesheim steuern malfall auch in der Rückblende. Ebenso lasse sich dass man als Fischesser sie wohl alle drei schon langen Fisch ist sein eher schlichtes Erscheinungs- beim Meeressäuger-Projekt aus Ergebnissen modernen Methodeneinsatzes mal auf dem Teller hatte. Und dass sich mit jedem bild in schillerndem Schuppenkleid. Einmal pro ihre Expertise bei: Sie identi- ableiten, welche Auswirkungen bestimmte che- von ihnen auch jenseits der Wissenschaft für viele Jahr laicht er: Je nach Art im Frühjahr, im Sommer fizieren kleinste Schäden an mische Schadstoffe auf den Gesundheitszustand etwas Besonderes verbindet: mit dem Karpfen oder im Herbst. Die Eier, 20.000 bis 50.000 an der Knochen und Zahnmaterial mariner Säuger gehabt hätten. „Hinzu kommen der Jahreswechsel, mit dem Lachs der mühsam Zahl, legt das Heringsweibchen in küstennahen, bis in den Zahnschmelz Experten wie die Kollegen von der Universität Hil- erscheinende Fortpflanzungsreigen – und der wärmeren Gewässern ab. Die zu erreichen, über- hinein und sind in der Lage, desheim, die in der Lage sind, anhand von Knochen Hering, der galt eh gemeinhin lange Zeit als König windet der Hering in riesigen Schwärmen – und Rückschlüsse zu ziehen auf und Zahnmaterial Rückschlüsse auf die Umwelt- der Fische; wurde jahrhundertelang mit Gold auf- das erinnert an den Lachs – unglaubliche Distan- Umwelteinflüsse und Nah- einflüsse und das Nahrungsangebot zu ziehen und gewogen, nährte als Silber des Meeres die Massen, zen: bis zu 4.000 Seemeilen liegen zwischen den rungsangebot. Die Schäden die morphologische Stressmarker im Zahnschmelz begründete Handelsimperien, löste Kriege aus Fressplätzen im Nordatlantik und den Laich- und im Zahnschmelz der Backen- zu analysieren vermögen“, sagt Siebert. und inspirierte Künstler und eben Köche. Überwinterungsplätzen in der Nordsee. zähne eines Hausschweins (oben) beziehungsweise Wild- Ursula Siebert fasst zusammen: „Am Ende des Pro- Greifen wir kurz den Hering heraus, über den Timo „Im Schwarm ist er durch seinen besonders gut schweins (unten) sind hier jekts werden wir hoffentlich aus den Ergebnissen Moritz auch am meisten erzählt: „Der Hering an ausgeprägten Hör- und Sehsinn in Gefahren- ausgesprochen markant so viele Erkenntnisse destillieren, dass wir klare sich, oder vor allem auch die ganzen Heringsver- situationen in der Lage, Fressfeinde rechtzeitig und gut zu erkennen. Aussagen machen können über den Gesundheits- wandten wie Sardellen, Sprotten und andere mehr, zu erkennen, und durch eine besondere Art der zustand unserer marinen Säugetiere, wie er sich sind extrem wichtig für die Nahrungskette im akustischen Kommunikation hat er eine Chance, über eine längere Zeitspanne darstellt. Und viel- Meer, nicht zuletzt, weil sie in großen Mengen vor- der Bedrohung auszuweichen“, erläutert Moritz leicht gelingt es sogar, Entwicklungsszenarien auf- kommen. Sie sind wichtige Nahrungsfische nicht und macht auf eine Besonderheit aufmerksam: zuzeigen.“ Die Ergebnisse und Interessantes mehr nur für uns, sondern auch für Seevögel und Meeres- „Ganz typisch für die ganzen Heringsverwand- sollen am Ende als Wanderausstellung aufbereitet säuger.“ Je mehr man also über den Hering und sei- ten ist, dass sie eine Verbindung zwischen ihrer in den beteiligten Museen gezeigt werden. Insge- ne – möglichen – Verwandten wisse, umso besser. Schwimmblase und dem Innenohr haben – und Im Detail geplanter Untersuchungen sieht das heim hofft man, dass solch eine Schau nicht nur darüber kann der Hering sehr gut hören.“ Die dann so aus: Die Wissenschaftler werden an angedacht verharrt, sondern denkwürdig wird und Neben Sprotte und Sardelle zählen außerdem die Fische kommunizieren auch untereinander, Präparaten aus mehreren Jahrzehnten zunächst so viel Aufmerksamkeit erfährt, dass andere Anrai- mittelmeertypische Sardine, die Finte oder der machen Geräusche. Man nimmt an, dass das vor Knochendichte und Knochenstruktur vergleichend ner von Nord- und Ostsee ihr Interesse bekunden. Maifisch, der Wolfshering und weitere Arten zur allem in der Nacht wichtig ist, um den Schwarm analysieren. Knochen und Fell untersuchen sie auf Familie der Heringe. Der Hering selbst ernährt zusammenzuhalten, oder generell, um sich gegen- Spurenelemente und Schwermetalle; wo es das sich überwiegend von Plankton, kleinen Krebstie- seitig etwa vor Räubern zu warnen. Material hergibt aber auch auf Verletzungen, Ver- Hering, Lachs und Karpfen – alte Bekannte mit änderungen oder sonstige Auffälligkeiten. Stan- unbekannter Verwandtschaft dardmäßig testen sie auf Gifte und Umweltschad- stoffe wie beispielsweise Quecksilber, Blei und Eine Ausstellung am Ende des Projekts: Da be- Selen. Weiter schauen sie nach Veränderungen im kommt auch Dr. Timo Moritz leuchtende Augen. Nahrungsspektrum und suchen nach Anzeichen Und das versteht man sofort, sieht man all die dafür, ob und inwieweit sich die Umweltbedin- Bilder von transparent gemachten und angefärb- gungen im Laufe der Zeit geändert haben. Ferner ten Fischen. Der Biologe ist der Kopf des zweiten gilt das Interesse Krankheitserregern: Gelingt es Projekts, dessen Herz nun unzweifelhaft im Deut- womöglich, Viren nachzuweisen? Wie differenziert schen Meeresmuseum in Stralsund schlägt. Dort lassen sich Parasiten in den Präparaten der drei beschäftigt sich der Leiter Wissenschaft und Kura- Säugetierarten über die Jahrzehnte kategorisieren? tor für Fische am DMM mit drei alten Bekannten, denen er eine mögliche, bislang jedenfalls unge- „Jeder trägt sein spezifisches Know-how bei“, klärte Verwandtschaft nachsagt: Hering, Lachs Vier für die Meere: Michael Dähne, sagt Kristina Lehnert: etwa über neueste mole- und Karpfen. Auf den ersten Blick scheint es dem Anja Gallus und Timo Moritz kularbiologische und morphologische Techniken flüchtigen Betrachter so, als hätten diese Fische – vom Deutschen Meeresmuseum oder moderne Analytik, mit deren Hilfe sich sogar zumal teils in Salz-, teils in Süßwasser beheimatet Stralsund – und Ursula Siebert

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Solch ein Heringsgeräusch kann ohne Unter- an entwickelt. „Oft ist die Organisation des Skelett- Der zweite Weg führt über molekularbiologi- führten jedoch dazu, dass inzwischen über 14.000 brechung bis zu zehn Sekunden andauern und apparates und von Muskulatur und Nervensystem sche Methoden Richtung Ziel. Durch eine neue Kandidatengene im Kontext der Verwandtschafts- ist immerhin noch in zehn Metern Entfernung gerade in den frühen Entwicklungsstadien besser Next Generation Sequencing-Technik lassen sich analysen für weitergehende Betrachtungen inter- wahrnehmbar, auch vom menschlichen Ohr. Aller- vergleichbar als im Laufe der allmählich fortschrei- geeignete Gene des Zellkerns in großem Umfang essant erschienen. Die Analysen laufen. dings gelang es lange Zeit nicht, diese Laute zu tenden Differenzierung“, sagt Moritz. „Damit liefert auf gewünschte, passgenaue Weise analysieren. erkennen und zuzuordnen. Stattdessen­ hielt man die Ontogenese häufig erste gute Hinweise über Voraussetzung für den Einsatz dieser Technik ist Schauen wir abschließend aber noch einmal auf sie in Schweden sogar für Geräusche sowjetischer echte oder aber auch bis dato gegebenenfalls falsch es, hochqualitative DNA der zu untersuchenden den Hering. Faszinierend an ihm ist nicht nur die Atom-U-Boote. Erst in den 1960er Jahren gelangen angenommene Verwandtschaftsverhältnisse.“ Arten in Händen zu halten. Hier kommt die Exper- besondere Art und Weise sich zu verständigen – Forschern in unmittelbarer Nähe großer Herings- Für den Vergleich über die Entwicklungsstadien tise von Moritz’ Hauptprojektpartner Dr. Nicolas Vergleichbares kennt man bei Meeresbewohnern schwärme Unterwassertonaufnahmen des von hinweg kommt Moritz dabei die umfangreiche Straube von der Zoologischen Staatssammlung bislang nur von hoch spezialisierten Arten wie Seeleuten so bezeichneten Heringsfurzens. Fischsammlung des Deutschen Meeresmuseums München zum Tragen. Der Biologe, der gerade erst Walen und Delfinen. Auch die Erscheinung der in Stralsund zugute sowie zur selektiven Fischzucht von einem längeren wissenschaftlichen USA-Auf- riesigen Heringsschwärme ist ein einzigartiges Heringslaute, Verbindung zwischen der Schwimm- sein eigener „Forschungsaquarienraum“. enthalt am College of Charleston nach Deutsch- Naturschauspiel. Denn obwohl der einzelne Fisch blase und dem Innenohr: Sind hier Spezifika land zurückgekehrt ist, beherrscht zum einen die eher unscheinbar aussieht: In der Masse ist die erkennbar, die helfen könnten, die nächsten Ver- Interessant ist die Kombination des Methoden- Technik, zum anderen steht an seiner Wirkstätte Wirkung der unzähligen glänzenden Schuppen, die wandten des Herings auszumachen und unter arsenals, das den morphologischen Ansatz grun- ein Großteil der benötigten Gewebeproben bereit. je nach Einfall des Sonnenlichtes in einem Spek- Umständen auch den Bogen Richtung Lachs und diert: Moritz arbeitet mit Aufhellpräparaten, Anti- trum von stahlblau bis violett schimmern, äußerst Karpfen zu schlagen? Den generellen gedankli- körperfärbungen und CT-Scans. Das Spannendste Ursprünglich umfasste das Set der für die moleku- beeindruckend. Die riesigen, das Mondlicht reflek- chen Ansatz kann Timo Moritz verstehen, sein vorweg: die Clearing-and-Double-Staining-Methode largenetische Fragestellung zu sequenzierenden tierenden Schwärme vor den Küsten kündigten Projekt ist aber doch etwas anders angelegt. zur Untersuchung von Skelett, also Knochen- und und analysierenden Gene etwa 1200 Kandidaten. den Fischern von jeher den Beginn der Fangsaison Knorpelelementen bei Wirbeltieren (siehe Fotos auf Das Know-how und die technischen Möglich- an. Doch der schillernde Glanz des Herings ist nicht den Seiten 16/17). Dabei wird das Tier transparent keiten von Kooperationspartner Professor Dr. für den Menschen gemacht, sondern einzig Zauber Die Kombination von Morphologie und Moleku- gemacht, Knochen und Knorpel werden jedoch mit Chenhong Li von der Shanghai Ocean University des Fisches und allein ihm zu eigen.  larbiologie: Viele Methoden wirken zusammen spezifischen Farbstoffen gefärbt. „So lassen sich selbst kleinste Skelettelemente von Fischlarven „Das Problem bei der Aufklärung von Verwandt- untersuchen und somit Strukturen in ihrer Ent- schaftsbeziehungen ist, dass man sich leicht täu- wicklung“, bringt es Moritz auf den Punkt. schen kann“, sagt Moritz. „Zum einen sagt die blo- ße Sequenzanalyse von Abschnitten des Genoms Weitere Erkenntnisse liefert die Antikörperfär- mehrerer betrachteter Spezies im Vergleich allein bung. „Inzwischen können wir in kleinsten Fischen zu wenig aus. Zum anderen können sich bei ähnli- und Fischlarven Muskel-, Knorpel- oder Nerven- cher Lebensweise ähnliche Merkmale ausprägen, gewebe mithilfe von Antikörpern untersuchen“, die zwei Tierarten fälschlicherweise als näher erläutert der Biologe. „Ohne dass wir zeitaufwän- miteinander verwandt erscheinen lassen.“ Moritz dig Schnittserien anfertigen.“ Über das Verfahren umschifft diese Untiefen, indem er zwei Ansätze lassen sich spezifisch bestimmte Merkmalskom- kombiniert: Er bringt morphologische und moleku- plexe betrachten. Hier profitiert das Projekt von larbiologische Methoden zusammen. Das überzeu- der Erfahrung der Arbeitsgruppe um Dr. Lennart gende Potpourri an Verfahren und Analysen und Olsson vom Phyletischen Museum der Universität die valide Wissenschaft dahinter mündeten unmit- Jena. Ebenso ist man dort versiert in computer- telbar in eine Förderung der Stiftung über 550.000 tomografischen Scans und 3-D-Rekonstruktionen. Euro in der Initiative „Forschung in Museen“. Diese Techniken kommen zum Einsatz, um gleichermaßen Hartsubstanzen wie Knochen Blick auf das Ozeaneum, Weg Nummer eins der Annäherung erfolgt über darzustellen oder auch Muskelstränge, also Weich- den neuesten Standort die Morphologie mittels vergleichender Ontoge- gewebe. „Diese Methode, bei der ja kein Material des Deutschen Meeres- nese. Moritz betrachtet also, wie sich der einzelne beschädigt wird, nutzen wir vor allem, um seltene museums in Stralsund, Organismus quasi vom Stadium weniger Zellen Exemplare zu untersuchen“, betont Moritz. im Oktober 2010

24 Impulse 01_2016 25 Nachrichten zum Schwerpunktthema Kompakt „Ins Blaue hinein“

Lichtenberg-Professor Georg Pohnert von der Universität Jena neuer Max Planck Fellow

Wie organisieren sich Einzeller im Meer, und wie beeinflussen sie sich gegenseitig? Zur chemischen Ökologie von Planktongemeinschaften und Algenpopulationen forscht Georg Pohnert – künftig auch am Max-Planck-Institut für chemische Ökologie in Jena.

Der Chemiker Georg Professor Dr. Georg Pohnert, Inhaber des Lehr- Die Arbeitsgruppe um Georg Pohnert untersucht Pohnert (oben) vom stuhls für Instrumentelle Analytik an der Fried- nun, wie heterogen Algenpopulationen sind und Institut für Anorga- rich-Schiller-Universität Jena, wurde zum Max wie sich die chemischen Eigenschaften einzelner nische und Analytische Planck Fellow ernannt. Mit dem 2005 ins Leben Zellen auf die Wechselwirkungen innerhalb von Chemie der Univer- gerufenen Fellow-Programm soll die Zusammen- ganzen Populationen auswirken. Dazu nutzt sie sität Jena überprüft arbeit zwischen exzellenten Wissenschaftlern unter anderem neueste bildgebende Verfahren Algenkulturen, die in der Max-Planck-Gesellschaft und an Hochschulen der Massenspektrometrie, um chemische Profile einem speziellen Con- gefördert werden. Der mit einer Lichtenberg- für einzelne Zellen zu erstellen. Pohnert greift tainer der Einrichtung Professur der VolkswagenStiftung ausgestattete dabei auf seine Erfahrungen bei der Gewinnung gehalten werden. Der Forscher erhält damit für zunächst fünf Jahre die und Manipulation solcher Zellkulturen zurück Lichtenberg-Professor Möglichkeit, als Leiter einer Arbeitsgruppe am und verbindet dieses Know-how mit den Mög- hat gemeinsam mit Jenaer Max-Planck-Institut für chemische Öko- lichkeiten, die das Max-Planck-Institut bietet. Die seinem Team und logie (MPI-CE) mit dem Status eines Gastwissen- chemische Charakterisierung einzelner Zellen bil- Kollegen der Univer- schaftlers eigenständig zu forschen. det die Grundlage für weitergehende ökologische sität Gent in Belgien Untersuchungen wie beispielsweise Experimente aufgeklärt, wie bei Kie- Pohnerts Interesse gilt der chemischen Ökologie mit markierten Zellen im Mesokosmos – einer Art selalgen die Einzeller von Planktongemeinschaften. Mit diesem Begriff künstlicher und vereinfachter Umwelt, in der sich miteinander wech- fasst man die zahlreichen, in Ozeanen und Seen das Schicksal dieser Zellen innerhalb einer Plank- selwirken und welche frei schwebenden, oft mikroskopisch kleinen tongemeinschaft genau verfolgen lässt. chemischen Prozesse Organismen zusammen. Wenn Algenpopula- dabei eine Rolle spie- tionen „blühen“, können sie riesige Teppiche im Der Chemiker Georg Pohnert befasste sich bereits len. Algen sind Teil der Meer ausbilden. Das komplexe Gebilde vieler mit- in seiner Doktorarbeit mit der Pheromonchemie Planktongemeinschaf- einander in Wechselwirkung stehender winziger von Braunalgen. Nach einer Postdoc-Zeit in den ten unserer Meere Lebewesen ist dabei hochdynamisch und ändert USA untersuchte er von 1999 bis 2005 als Leiter (mittlere Bildleiste: sich permanent. Man könnte diese Gemeinschaft einer Max-Planck-Nachwuchsgruppe die dyna- zwei Planktonproben); als eine Art „Superorganismus“ verstehen. Bereits mischen Verteidigungsprozesse von Algen, folgte unten: Mitarbeiter die einzelnen Zellen scheinen sich individuell von dann einem Ruf an die ETH in Lausanne, bevor er Dr. Thomas Wichard den anderen zu unterscheiden. Sicher ist, dass sie als Lichtenberg-Professor nach Jena wechselte. Er forscht am „Meersalat“ mithilfe chemischer Verbindungen miteinander erhielt zahlreiche renommierte Auszeichnungen. (Ulva lactuca), einer kommunizieren und interagieren können. Das gilt mehrzelligen Grünalge, unter anderem für durch Pheromone ausgelöste ➞ Zur Forschung von Georg Pohnert siehe auch das die besonders viele sexuelle Fortpflanzung, Räuber-Beute-Beziehungen daran angebundene „Europa-Modulprojekt“ Spurenelemente und oder die natürliche Regulierung bei mikrobiellen auf der nächsten Seite. Vitamine enthält. Infektionen. Christian Jung

26 Schwerpunktthema Kompakt „Ins Blaue hinein“

Schwamm drüber – oder: Wie „kommunizieren“ Plastikkonglomerate: eine neue Lebensform? diese Tiere mit ihren einzelligen „Mitbewohnern“? Ein junger Forscher begibt sich auf die Suche

Auf der Suche nach Naturstoffen als Grundlage möglicher Therapeutika: Was geschieht, wenn der Mensch durch seine Hinterlassenschaften zum größten Verur- Rodrigo da Silva Costa vom Zentrum für Meereswissenschaften der Algarve-Universität sacher atmosphärischer, geologischer und biologischer Veränderungen auf der Erde in Portugal forscht mit einem „Kooperationsmodul Europaförderung“ der Stiftung. wird … ? – Die Stiftung bewilligt erste Projekte in der Initiative „Originalitätsverdacht?“.

Die Plastikpest: ein Problem Im Kampf ums Überleben globalen Ausmaßes. Forscher haben Schwämme (hier: suchen nach Wegen, den in den Spongia Azores) verschiedene Weltmeeren flottierenden Müll Verteidigungsstrategien aus- in den Griff zu bekommen. gebildet; etwa das Ausschei- den wachstumshemmender oder toxischer Substanzen. Die Naturstoffe dieser „chemi- schen Kriegsführung“ haben sich für pharmakologische, medizinische und (bio)tech- nologische Anwendungen als wertvoll herausgestellt.

Zahlreiche Tiere im Meer leben vergesellschaftet Als Quorum Sensing wird die Fähigkeit von Einzel- Die zunehmende Ansammlung von Plastik in den einen Sozial- und Kulturwissenschaftler wie ihn mit Mikroorganismen – in sogenannter Symbio- lern bezeichnet, über chemische Kommunikation Weltmeeren ist eines der größten ökologischen dazu heraus, einen neuen analytischen Umgang se. Korallen etwa beherbergen Algen, die ihren die Zelldichte der Population messen zu können. Probleme unserer Zeit. Zuletzt landeten jährlich mit diesen hybriden Gegenständen zu finden. Wirt mit wichtigen Nährstoffen versorgen. Auch Sie erlaubt es den Zellen einer Lösung, spezifische nach Schätzungen über 30 Millionen Tonnen Schwämme – sie gelten als frühe Entwicklungs- Gene nur dann zu aktivieren, wenn eine bestimm- davon im Meer – Tendenz weiter steigend. Viele Was also steht auf dem Spiel, wenn die Konzentra- form der Vielzeller – enthalten große Mengen te Zelldichte über- oder unterschritten wird – ein Kunststoffe sind erst nach mehr als hundert Jah- tion von Plastik im Salz- wie im Süßwasser immer an Mikroorganismen in ihrem Gewebe, die bis junges, ausgesprochen spannendes Forschungs- ren zersetzt, und die dann verbleibenden feinsten mehr steigt? Das ist es im Detail, was ihn bewegt zu 40 Prozent der Biomasse ausmachen können. feld, auf dem sich der portugiesische Wissen- Nanopartikel treiben umher und sammeln sich und interessiert. Zur Beantwortung dieser Fragen Schwämme kommen in allen Meeresgewässern schaftler bereits anerkannt bewegt. Sein Vorha- in bestimmten Zonen der Ozeane an. Lässt sich bedient er sich aus der Werkzeugkiste sozialan- der Erde vor, nur wenige Arten allerdings im ben ist damit gut in das übergreifende Thema der gerade ein neues Phänomen beobachten – die Ent- thropologischer und ethnografischer Methoden. Süßwasser. Über das Zusammenleben mit ihren Lichtenberg-Professur von Georg Pohnert einge- stehung von Plastik-Naturen-Kulturen? Zudem biete der „Forschungsgegenstand Plastik“ Untermietern sowie beider Abhängigkeiten von- bettet, greift aber ein neues Modellsystem auf. die Möglichkeit, auch unerwartete Akteurskon- einander ist kaum etwas bekannt. Diese Frage stellt Dr. Sven Bergmann, der Ende stellationen, Bezüge und Beziehungen sowie Mit der Fülle ihrer Naturstoffe stellen Meeres- 2015 mit einer darauf aufsetzenden Projektidee Abzweigungen in den Blick zu nehmen. Das will Rodrigo da Silva Costa vom Zentrum makroorganismen wie Schwämme ebenso wie einer jener war, die erfolgreich aus der ersten für Meereswissenschaften der Universidade do Mikroorganismen ein gewaltiges Reservoir für Wettbewerbsrunde der neuen Förderinitiative Algarve in Portugal ändern. Sein „Europa-Modul- technologische und medizinische Anwendungen „Originalitätsverdacht?“ der Stiftung hervorgin- Im Jahr 2014 hat die Stiftung mit „Originalitätsverdacht?“ i projekt“ adressiert die chemische Kommunika- dar. Die große Vielfalt an biologischen Aktivitäten gen. Er unterfüttert die Frage mit einem inter- eine weitere themenoffene Small Grants-Förderinitiative auf tion zwischen marinen Schwämmen und ihren jedenfalls und das Wissen darüber, dass in mari- essanten Ansatz: „Wenn Hinterlassenschaften den Weg gebracht mit Fokus auf den Geistes- und Kulturwissen- Symbionten. Vor allem die sogenannte Chemo- nen Entwicklungsprozessen Jahrmillionen an evo- des Menschen wie etwa der Kunststoffmüll dazu schaften. Die Initiative hält zwei Förderlinien bereit: „Komm! ins taxis, inwieweit also die Fortbewegung von lutiven Prozessen zur Entstehung hochwirksamer führen, dass – wie neuere Forschung zeigt – in den Offene …“ bietet dem einzelnen Forscher die Gelegenheit, ein The- Lebewesen oder Zellen in Richtung auf höhere Substanzen geführt haben, machen für Pohnert Ozeanen durch und mit Plastik neue Ökosysteme ma explorierend zu bearbeiten und in einem Essay oder Traktat oder niedrigere Konzentrationen eines Stoffes wie da Silva Costa die Faszination der interdiszipli- und Lebensformen entstehen, dann stellt dies die darzulegen. Förderlinie 2 „Konstellationen“ soll es kleinen Projekt- beeinflusst wird, sowie dasQuorum Sensing will nären Forschungsgebiete Marine Chemie, Mikro- Kategorien und die Unterscheidung von Natur teams ermöglichen, die Tragfähigkeit einer neuen Forschungsidee der junge Forscher untersuchen. biologie und Chemische Ökologie aus. und Kultur infrage“, sagt er. Und eben das fordere in einer Explorationsphase zu erkunden und gemeinsam auszulo- ten. Zum ersten Stichtag im Mai 2015 lagen insgesamt 388 Anträge 28 vor, von denen jetzt 13 bewilligt wurden. Schwerpunktthema Kompakt „Ins Blaue hinein“

Inselleben – oder: Wie beeinflusst das soziale Auch sie finden den Weg über das Meer: Zugvögel Miteinander die Übertragung von Krankheiten? können das Navigieren noch nachträglich lernen

Dr. Julia Schroeder vom Max-Planck-Institut für Ornithologie in Seewiesen und der Zweite Chance im Leben – oder: Ich bin dann jetzt doch mal weg! Forscherinnen und ­spanische Forscher Dr. Jordi Figuerola liefern wichtige Erkenntnisse zum Verständnis der Forscher der Universität Oldenburg um Lichtenberg-Professor Dr. Henrik Mouritsen Übertragung von Infektionskrankheiten bei Vögeln – weiteres „Europa-Kooperationsmodul“. verblüffen mit weiteren Erkenntnissen über den Orientierungssinn von Rotkehlchen.

Er löst mit seinem Team ein Geheimnis nach dem nächsten zum Navigationsvermögen von Zugvögeln: Lichtenberg-Professor Julia Schroeder wies unlängst Dr. Henrik Mouritsen. Am Beispiel an Spatzen-Nachkommen von Rotkehlchen zeigte er jetzt, auf einer kleinen Insel vor dass sie auch später im Leben der Südwestküste Englands noch lernen können, den Weg den Lansing-Effekt nach über das Meer zu finden. (s. Impulse, 2015_2; Seite 46). Zehn Jahre lang beobachtete sie die Vögel auf dem 19 Kilometer entfernt vom Festland gelegenen Eiland.

Manche Tierarten besiedeln als Einzelgänger Vor Ort sammelten die Forscher Vogelkot und Wie schaffen es Zugvögel, ihren Weg zu finden? Doch was ist mit Jungvögeln, die den Himmel gar Territorien enormen Ausmaßes und treffen nahmen Blutproben, die sie dann auf fünf ver- Damit befasst sich schon seit mehr als einem nicht sehen können, weil sie beispielsweise wegen Artgenossen sehr selten. Wieder andere leben schiedene Erreger testeten: Salmonellen und Plas- Jahrzehnt der von der VolkswagenStiftung im einer Verletzung in einem geschlossenen Raum in großen Herden oder Schwärmen auf engem modien ebenso wie Campylobacter, Chlamydia, Rahmen einer Lichtenberg-Professur geförderte gepflegt werden? Haben Sie die Chance verpasst? Raum. Manche brüten in Kolonien dicht an dicht; Haemoproteus. Die Werte von vielen Hundert Biologe Dr. Henrik Mouritsen, Direktor des Insti- Davon ist die Wissenschaft bisher ausgegangen. In insbesondere auf Inseln oder an felsigen Küsten. Vögeln haben sie bereits erfasst, und es zeigte sich tuts für Biologie und Umweltwissenschaften der mehreren Experimenten mit Rotkehlchen haben Einige Arten wiederum sind sozial monogam und zunächst grundlegend, dass Salmonellen, Chla- Universität Oldenburg. Nach und nach kommt Mouritsens Doktoranden Bianca Alert und Andreas wechseln selten den Partner, während andere sich mydien und Campylobacter unerwartet häufig seine Arbeitsgruppe den vielen Geheimnissen Michalik herausgefunden, dass dies nicht immer mit vielen verschiedenen Partnern fortpflanzen. vorkommen. Zurzeit laufen detaillierte moleku- hinter dem perfekten Navigationsvermögen der der Fall ist. Zugvögel können das Navigieren auch larbiologische Tests. Parallel holte Julia Schroeder Vögel auf die Spur. später noch lernen – selbst dann, wenn sie im Dr. Julia Schroeder vom Max-Planck-Institut für Kollegen der Universität in Sheffield, Großbritan- ersten Lebensjahr keine Sterne gesehen haben. Ornithologie in See­wiesen und Dr. Jordi Figuerola nien, mit ins Boot. Jene übernehmen die Geno- So fanden sie bisher bereits heraus: Zugvögel ori- vom Department of Wetland Ecology des spani- typisierungen und genetisch fundierten Analysen entieren sich unter anderem an den Feldlinien des Ihren Studien zufolge ist die Fähigkeit von Zug- schen Nationalparks Donana interessierte nun, ob des Materials Tausender Vögel. Aus den so ermit- Erdmagnetfelds, die an den Polen senkrecht zur vögeln, ein Navigationsvermögen aufzubauen, ein Zusammenhang besteht zwischen der Sozial- telten Verwandtschaftsgraden der Tiere lässt sich Erdoberfläche stehen und am Äquator fast paral- zeitlich weitaus flexibler angelegt als bisher struktur und der Häufigkeit, mit der Krankheitser- auf die Sozialstruktur rückschließen. lel sind. Diese können sie wahrnehmen und wis- gedacht. Wie lange nachträglich, wie groß also das reger von einem Tier auf ein anderes übertragen sen so ziemlich genau, auf welchem Breitengrad Zeitfenster dafür ist: Das ist noch unklar. Damit werden. Ihre Untersuchungsobjekte: vier Arten Die Evolutionsbiologin hat reichlich Erfahrung mit sie sich gerade befinden und wohin sie fliegen. haben ausgewilderte Vögel eine bessere Chance von Regenpfeiffern, die in unterschiedlich organi- solchen Forschungsansätzen und -kontexten. Im Außerdem nutzen sie den Stand der Sonne, um zu überleben. Die Ergebnisse wurden online in sierten Sozialverbänden leben – in zwei Regionen Frühjahr 2015 (s. Impulse, 2015_2; Seite 46) machte sich zu orientieren. Und bei Nachtflügen ist das den Scientific Reports der „Nature“-Verlagsgruppe Südspaniens, auf den Kapverdischen Inseln und Julia Schroeder mit einer Veröffentlichung auf Sternenbild eine wichtige Navigationshilfe. All veröffentlicht (Scientific Reports 5, Article number: an der Küste Mexikos. Aktuell integrieren sie in sich aufmerksam, als sie erstmals bei wildleben- diese Fähigkeiten entwickeln Rotkehlchen bereits 14323 (2015)). das Untersuchungssample des deutsch-spani- den Wirbeltieren den „Lansing-Effekt“ nachwies, in ihren ersten Lebensmonaten und bauen sich schen „Europamodul-Kooperationsvorhabens“ demzufolge Kinder älterer Eltern vergleichsweise daraus ihren nahezu perfekten Orientierungssinn Link zur Publikation: noch eine Population der Kanarischen Inseln. weniger Nachkommen haben und oft kürzer leben. für ihren Flug im Herbst zusammen.  www.nature.com/articles/srep14323.

30 Impulse 01_2016 31 Schwerpunktthema

Ins Blaue hinein | KÜSTEN

Ein Recht auf Meer

Wo das Meer den Tisch seiner Anrainer reich zu decken vermag, gibt es traditionell eine Fischerei­ wirtschaft. Diese bedarf häufig Regulierungen von staatlicher Seite, wie die Überfischungen der Welt­­- meere zeigen. Doch wie steht es um Vorgaben für gewachsene nachhaltige, kleine, nur lokal verortete Fischereien? Und: Werden die Fischer dort in politische Ent­scheidungs­ prozesse eingebunden? Die ­ süd­afrikanische Nachwuchs­ wissenschaftlerin Dr. Samantha Williams sucht nach Antworten.

Südafrika, Western Cape, Lamberts Bay: Dr. Samantha Williams von der Universität Kapstadt begutachtet eine Hummerfalle im Boot von Fischer David Shoshola. Mit ihm und seiner Mannschaft ist sie gerade unterwegs zu guten Fanggründen.

Impulse 01_2016 33 Text: Melanie Gärtner // Fotos: Felix Seuffert Samantha Williams

i s dürfte eins der meistgezeigten Motive eine verlässliche Nahrungsgrundlage. Reich an seit nunmehr acht Jahren zu und in den Fischer- ESüdafrikas sein – ob es als Illustration von Reise- Leben ist das Meer hier durch das Benguela dörfern an der Westküste. Bislang beschäftigte sie berichten in Zeitungen dient, weil es uns als Tou- Upwelling Ecosystem, einen Auftrieb nährstoff- sich vor allem mit den Methoden und Strategien, ristenschnappschuss vor Augen gehalten wird beladener Wasserschichten aus der tiefen See, der die sich die Männer zur See seit Jahrhunderten zu oder einem aus Werbematerial von Reiseveran- quasi in seinem Sog zahlreiche Fische in die Nähe eigen gemacht haben, um mit ihren Familien vom staltern malerisch entgegenfunkelt: das Western der Küste zieht. Und so gibt es viel zu tun und Meer zu leben. Cape mit seinen vielen kleinen Fischerbooten, viel zu fischen, und die Tage der Fischer werden von denen (fast) immer welche auf See zu sein schnell lang – so lang eben, dass sie als Neben- Ein großer Einschnitt in ihrem wissenschaftli- scheinen. Beinahe so, als wollten sie sicherstellen, effekt eine bezaubernde Wasserlandschaft von chen Engagement kam um den Jahreswechsel Samantha Williams dass das Motiv für Auge oder Kamera stets das scheinbarer Dauerhaftigkeit entstehen lassen. 2013/14. Damals gelang es ihr, eines der begehr- versucht im Gespräch pittoreske ist, dass man kennt. Damit bloß kein ten Postdoktoranden-Fellowships für afrika- mit heimischen anderes Bild von diesem fast unwirklich schönen Zwei typische Ortschaften an diesem Abschnitt nische Nachwuchswissenschaftlerinnen und Fischern herauszufin- Fleckchen Erde entstehen kann. der südafrikanischen Westküste sind Elands Bay Nachwuchswissenschaftler zu ergattern, die die den, wie die Männer und Lamberts Bay, rund 220 Kilometer nördlich VolkswagenStiftung in ihrer Förderinitiative zum die Ressource Meer Eben dieses Bild, das den meisten Betrachtern von Kapstadt gelegen. Hier hat die Fischerei eine sub-saharischen Afrika vergibt (siehe auch Kasten nutzen und inwieweit wohl so das Herz weitet, zeigt letztlich harte lange Tradition und ist tief in der Geschichte, der auf den Seiten 38/39). Und so kann Samantha die Vorgaben des Staa- Arbeit. Denn für die, die es entstehen lassen, heißt Kultur und der Identität der Menschen verankert. Williams das im Zuge ihrer Doktorarbeit heraus- „Die VolkswagenStiftung ist in Südafrika äußerst tes sie behindern oder es tagtäglich: früh aufstehen, auf die See hinaus, Ob Meeräschen, Hechtmakrelen, Hummer oder geschälte Wissen vertiefen und, angereichert um bekannt und ihre Stipendien sind sehr gut angese- nicht. Hier befragt sie Netze auswerfen. Das Meer an der Küste entlang die als Delikatessen begehrten Seeohrschnecken: zahlreiche neue Erkenntnisse, fundiert weiterge- hen“, betont Samantha Williams im Gespräch immer David Shoshola vor des Western Cape ist traditionelles Fischereige- Wo und zu welcher Zeit des Tages die See die ben. In dem mit rund 100.000 Euro geförderten wieder. Im Jahr 2002 machte sie zunächst ihren BA dessen Wohnhaus im biet. Seit Jahrtausenden schon bieten die Fang- besten Fänge hergibt, das haben die Fischer noch Projekt „Sustainability of marine social-ecological (Honours) und 2005 ihren Master an der University südafrikanischen gründe den Fischern in dieser Region eine dauer- von ihren Vätern und Großvätern gelernt – und systems – linking fisheries livelihoods strategies and of the Western Cape in Südafrika. Danach wechselte Lamberts Bay. hafte Beschäftigung und den Menschen an Land die wiederum von ihren Vätern und Großvätern. multilevel governance in the Benguela Upwelling die Geografin an die University of Cape Town an das Bis heute bestreiten sie mit dem, was in ihren Net- Ecosystem“ setzt sie sich mit den nachhaltigen Department of Environmental and Geographical Sci- zen hängen bleibt, ihren Lebensunterhalt. Doch Strategien der Fischer im Umgang mit der Res- ences; dort ist auch ihr von der Stiftung gefördertes wer in südafrikanischen Gewässern was fischen source Meer auseinander und den Einflüssen, die Junior-Fellowship-Projekt verankert. Von Beginn an darf, wird vonseiten des Staates reguliert – und vonseiten des Staates und seiner Institutionen auf arbeitete Williams in der unabhängigen Forschungs- hier beginnen die Schwierigkeiten. Denn den Vor- das gesamte System wirken. einheit Environmental Evaluation Unit (EEU) mit. gaben, Regelungen oder Entscheidungen von poli- Ihren PhD erwarb sie bereits mit einer Arbeit über tischer Seite fehlt nach Meinung der Fischer vor Zugangsstrategien lokaler Fischer zu den Ressourcen Ort oft das Bemühen um ein nachhaltiges Wirken, Benachteiligt bei Gesetzgebung und Lizenzvergabe: des Meeres. Derzeit vertieft sie ihre Forschungser- das zudem auch ihnen gerecht wird. Die „kleinen“ Fischer haben’s schwer gebnisse wie im Text vorgestellt im Rahmen des Post­ doktorandenprogramms der VolkswagenStiftung. „Womöglich ändert sich das gerade“, zeichnet Williams verfolgt ein ganz grundlegendes Ziel: Dr. Samantha Williams einen leichten Silberstreif Sie möchte die Fischer zum einen darin bestärken, an den Horizont. Sie ist allerdings auch Realistin den Zugang zu den Gewässern vor ihrer Haustür genug zu wissen, dass das politische Ringen um als Arbeits-, Lebens- und Nahrungsgrundlage den Umgang mit einer natürlichen Ressource immer wieder mit Nachdruck vom Staat einzu- Das Western Cape ist durch den Benguela-Auf- nicht einfach ist und es immer wieder schnell zu fordern. Zum anderen sollen die Männer zur See trieb eines der am stärksten befischten Seegebiete Rückschritten kommen kann – schließlich sind nicht nachlassen in ihrem Bemühen, an relevan- Südafrikas. Die Trawler der großen Fischereikon- oft viele Akteure im Spiel mit teils recht unter- ten politischen Entscheidungsfindungsprozes- zerne können mit ihren Langleinennetzen dabei schiedlichen Interessen. Die südafrikanische sen beteiligt zu werden – etwa, wenn es um die so viel aus dem Wasser ziehen, wie es sich die Wissenschaftlerin ist inzwischen ausgewiesene Zu­teilung von Fischereilizenzen geht. Ein Blick Fischer in ihren kleinen Booten nicht einmal zu Fachfrau zu dem Thema. Sie erwarb ihren PhD zurück und zur Seite zeigt, dass solch eine Hal- träumen wagen. Obwohl sie derselben Tätigkeit an der Environmental Evaluation Unit (EEU) der tung, ein solches Auftreten absolut nicht selbst- nachgehen wie die große Konkurrenz, wurden University of Cape Town in Südafrika und forscht verständlich sind. sie über Jahrzehnte hinweg nicht als bestehender

Impulse 01_2016 35 Sektor der Fischindustrie anerkannt und bei der Vergabe von Fischereilizenzen nicht bedacht. Vor allem in den Jahren der Apartheid tat man sie als Selbstversorger ab, die entsprechend in der Fische- reigesetzgebung nicht zu berücksichtigen sind, in der Konsequenz dieses Denkens dann aber auch keine Ansprüche zu stellen haben. Erst mit dem Entstehen der ersten demokratischen Regierung 1994 wurden die Fischerfamilien an den Küsten als Unternehmer und damit als Teil des Fischerei- sektors eingestuft.

2007 setzte das National Department of Fisheries, die nationale Fischereibehörde, ein neues Gesetz Samantha Williams’ in Kraft. Es spricht den Fischern das Recht zu, Interesse rund um ihr Lizenzen zu erwerben – eine Entscheidung, die Thema ist weitgrei- bitter notwendig und überfällig war. Immerhin fend: Hier lässt sie rund 28.000 Haushalten in Südafrika sichert die sich von Fischer Brian kleinteilige Fischerei zwar offiziell das wirtschaft- Anderson eine Angel- liche Überleben, doch obwohl die südafrikanische schnur mit Haken Verfassung den Zugang zu natürlichen Ressour- und Senkblei zum cen als grundlegendes Menschenrecht anerkennt, Zwar hatte die Regierung mehrfach in der Ver- Dr. Samantha Williams ist eine vielversprechende der Kerngedanken, den die Stiftung mit ihrer Samantha Williams und Fangen von Hottentot kann sich nur jeder zweite Fischerhaushalt von gangenheit Anläufe unternommen, den Fischern Nachwuchswissenschaftlerin. Auf ungewöhnliche internationalen Wissenschaftsförderung verfolgt, David Shoshola (großes (Pachymetopan) zei- dieser Arbeit tatsächlich noch ausreichend ernäh- „einen Weg zu ihren Rechten zu ebnen“, doch die- Weise und beinahe „in sich“ interdisziplinär kreist ist dabei nicht zuletzt Nachhaltigkeit. Am Anfang Bild, Mitte) lauschen gen. Besondere Fang- ren. Für Samantha Williams ist das neue Gesetz se Offerten schlugen weitgehend fehl. In einem sie zur Beantwortung ihrer Forschungsfragen steht eine gute Idee, ein lohnenswertes Projekt. Ernest Titus, der den methoden und ganz daher ein großer Fortschritt in Richtung Armuts- der Versuche hielt man die Fischer dazu an, für ihren Untersuchungsgegenstand ein, indem sie Gerät es in Schwung, kann sich die Stiftung nach Gebrauch einer Hum- allgemein kulturelle bekämpfung und soziale Gerechtigkeit. „Der Text den Erwerb einer Fischereilizenz einen Antrag zu Fragen des Zugangs zu natürlichen Ressourcen einiger Zeit zurückziehen. merfalle demonstriert. Eigenheiten gehören weist viele gute Ansätze auf; insbesondere jene stellen. „Viele wussten aber nicht, was sie genau und Aspekten von Nachhaltigkeit oder Nahrungs­ Oben: Mehrere Spulen ihrem Verständnis Passagen, die den Fischern mehr Mitbestimmung tun sollten oder hatten neben der täglichen mittelsicherheit aufwirft, dreht und wendet Angelschnur mit großen nach dazu, will man und mehr Eigenverantwortung zusprechen“, Arbeit schlicht keine Zeit dafür“, sagt Samantha und darüber als Dach das Ziel von mehr sozialer Mit dem Herzen bei der Sache: Die „Afrika-Fellows“ Haken zum Fangen von sich ein umfassendes sagt sie. „Leider verläuft der Prozess, in dem diese ­Williams. „Dieses Vorgehen drängte viele in die Gerechtigkeit spannt. Damit steht die Geografin in engagieren sich für die Zukunft ihres Landes Snoek (Thyrsites atun) Bild davon verschaf- neue Politik umgesetzt wird und in den Köpfen Illegalität – und zwar nur, weil sie keinen Antrag Interesse und Engagement beispielhaft für die Stif- liegen neben Seilen und fen, was nachhaltige ankommt, sehr langsam. Das zu verbessern, ist die für das auszufüllen vermochten, was schon ihr tungsinitiative „Wissen für morgen – Kooperative­ Indem sich der umfassend geförderte akademi- anderem Fischereibe- Fischerei ausmacht. entscheidende ­Herausforderung.“ ganzes Leben lang ihre Profession war.“ Forschungsvorhaben im sub-saharischen Afrika“. sche Nachwuchs in Afrika oder anderswo mit darf in Brian Andersons fortschreitender Dauer der Projekte dann länder- Boot, das gerade wieder Die aktuelle Strategie der Regierung besteht nun Eine Forschungsförderung, die in ihrer inter- übergreifend nach und nach vernetzt, stärkt sich den Hafen von Lamberts darin, Rechte nicht individuell, sondern an Kollekti- nationalen Ausrichtung wie die Initiative zum wechselseitig die Expertise: bei dem Einzelnen, in Bay mit seinen zahlrei- ve in den Kommunen zu vergeben. Die Fischer wur- sub-saharischen Afrika angelegt ist, erfüllt im dessen Heimat und in der Zielregion insgesamt. chen vertäuten Fischer- den daher dazu aufgefordert, sich in ihren Dörfern Optimalfall viele sinnvolle Zwecke – Samantha Derart gestützt, empfiehlt sich die Wissenschaft­ booten anläuft (unten). in Vereinen oder Gewerkschaften zu organisieren. Williams ist dafür das beste Beispiel. So wie sie lergeneration von morgen dann nicht zuletzt in Im Hintergrund: eine An diesem Punkt setzt das Forschungs­vorhaben von können sich junge Wissenschaftlerinnen und globaler Perspektive für die Zusammenarbeit mit ehemals zur Fischverar- Dr. Samantha Williams an. Sie analysiert, welche Wissenschaftler in Schwellen- und Entwicklungs- Kollegen aus allen Kontinenten. All diese Ziele beitung genutzte Fabrik, politischen Parameter sich gemessen an den Gege- ländern auf sonst kaum mögliche Weise quali- verfolgt auch die VolkswagenStiftung mit ihrem in der jetzt Pommesfri- benheiten des Alltags der Fischer als sinnvoll und fizieren: Mit der Unterstützung der Stiftung im Förder­bereich „Internationales“ im Großen, mit tes produziert werden. wirksam erweisen. Und sie schaut, ob die Fischer Gepäck forschen sie vor Ort zu Themen, die für ihr den einzelnen Angeboten für bestimmte Regio- sich in der Tat hinreichend einzubringen vermögen. Land oder ihre Region von Bedeutung sind. Einer nen dieser Welt im Speziellen.

Impulse 01_2016 37 LAMBERTS BAY

Wieder zurück an Land: Samantha Williams (vorne) und die Fischer (von links) Ernest Titus, David Shoshola, Alfonso Smith und Brian Anderson

CAPE TOWN B e n g mehrstufiges Modell, bei dem sich junge Forscher Dr. Samantha Williams hat als Partner die Biolo- u e nach der Promotion einem Auswahlverfahren um gin und Politologin Dr. Milena Arias Schreiber von la C u ein Junior- oder Senior-Fellowship stellen können der Universität Göteborg gewinnen können. Die rr en (siehe Kasten auf dieser Seite). Durch die Förderung gebürtige Peruanerin hat bis vor Kurzem andert- t erhalten nicht nur die Nachwuchskräfte selbst halb Jahrzehnte in Deutschland gearbeitet und einen deutlichen Schub in ihrer wissenschaftli- geforscht, zuletzt mehrere Jahre am Zentrum für chen Karriere; über die Bewilligungen an junge, Tropenökologie in Bremen. Sie unterstützt das engagierte Spitzenleute brechen allmählich auch Forschungsvorhaben mit einer institutionellen die akademischen Strukturen an den jeweiligen Analyse der Zugangsstrategien der Fischer zur Das Herzstück des Angebots zum sub-saharischen Heimathochschulen auf und sortieren sich neu. Ressource Meer und dokumentiert, welche der Arias Schreiber hat bereits über Fischereien in Die Karte zeigt jenen Afrika sind seit einigen Jahren Postdoktoranden- Um langfristig ein internationales Netzwerk für Gesetzgebungen, die explizit „kleine Fischereien“ Peru gearbeitet und einen internationalen Zugang Teil der südafrikanischen programme zur Unterstützung junger afrikani- ihre künftige akademische Karriere zu entwickeln, adressieren, tatsächlich einen – möglicherweise zu dem Thema. „Im Umgang mit natürlichen Res- Westküste, der die scher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, kooperieren die Geförderten jeweils mit einem bleibenden – Effekt auf die Lebenswelt der Fischer sourcen gibt es keine allgemeingültigen, global Forscherin interessiert: die an ihren Heimatuniversitäten den drängen- deutschen Partnerinstitut, das die Projekte beglei- haben. Im Frühjahr 2016 wird sie für insgesamt anwendbaren Lösungen“, sagt die Biologin. „Alles Elands Bay und Lamberts den Fragen unserer Zeit nachgehen. Das Afrika­ tet, wissenschaftlich mitbetreut und auch darüber drei Monate zu Feldforschungsaufenthalten nach hängt von Umweltbedingungen vor Ort ab, von Bay, 220 Kilometer nörd- Engagement der Stiftung funktioniert als ein hinaus mit Rat und Tat zur Seite steht. Südafrika reisen. der Geschichte, der Kultur und den gesellschaftli- lich von Kapstadt gelegen.

i Die Entwicklung des Förderangebots zum ­­ beziehungsweise stehen den Postdoktorandinnen Ziel der Stiftung ist es, im Zuge eines mehrstufi- und Postdoktoranden offen: gen Förderverfahrens besonders talentierte junge sub-saharischen Afrika Forscherinnen und Forscher über einen längeren  Neglected Tropical Diseases and Zeitraum zu unterstützen und damit in Afrikas Wis- Die 2003 gestartete Initiative „Wissen für morgen  Negotiating Culture in the Context Related Public Health Research senschaftslandschaft zu verankern. Hierzu erhalten Hintergrund – Kooperative Forschungsvorhaben im sub-sahari- of ­Globalization  Resources, their Dynamics, and Sustaina­ ­bility – seit dem Jahr 2015 die geförderten Fellows auch – schen Afrika“ soll vor allem jungen afrikanischen  Resources, Livelihood Management, Capacity Development in Comparative­ and Inte- eingebettet in die Projektphase – die Gelegenheit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Reforms, and Processes of Structural Change grated Approaches zu einem maximal viermonatigen Forschungsauf- ihren Heimatländern Perspektiven eröffnen. Dabei  Sustainable Value Chains – Integrated  Ingenieurwissenschaften enthalt am Stellenbosch Institute for Advanced Study verfolgt die Stiftung über ein dreistufiges Karrie- ­Technologies for Sustainable Use of ­  Sozialwissenschaften in Südafrika. Ein zwischen Institut und Stiftung remodell einen langfristigen und nachhaltigen Resources in Africa  Geisteswissenschaften vereinbartes Memorandum of Understanding bildet Weg, der dem dortigen Forschernachwuchs Anreize  Neglected Tropical Diseases and Related  Livelihood Management, Reforms, and Processes­ dafür die Grundlage. bieten soll, auch nach der Promotion längerfristig Public Health Research of Structural Change in afrikanischen Institutionen zu arbeiten. In der Andererseits ist die gelegentlich so bezeichnete inzwischen abgeschlossenen ersten Förderphase­ Derzeit läuft noch die zweite Förderphase, in der Zwei Säulen tragen aktuell die Afrika-Initiative. Zum „Exit-Strategie“ für das Themenfeld der „Vernach- der Initiative waren Doktoranden und Masterstu- junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einen hat die Stiftung bereits vier der sechs Post- lässigten Tropenkrankheiten“ angelaufen. Hierfür dierende eingebunden in internationale Koopera- über sechs Postdoktorandenprogramme die Mög- doktorandenprogramme – zu den „Vernachlässigten hat ein Konsortium europäischer Stiftungen der tionsvorhaben, die bewilligt wurden im Zuge der lichkeit erhalten, eigene Projekte zu beantragen. Tropenkrankheiten“ und den „Natürlichen Ressour- European Foundation Initiative for African Research folgenden acht thematischen Ausschreibungen: Diese sind an den afrikanischen Heimatinstituten cen“ sowie zu den Sozial- und den Ingenieurwissen- into the Neglected Tropical Diseases (EFINTD) im verankert. Die Postdoktorandenförderung umfasst schaften – über die erste Unterstützungsphase Jahr 2015 Mittel bewilligt für den Aufbau eines  Political, Economic, and Social Dynamics auch die Schulung sogenannter Soft Skills: Wie hinaus weitergeführt mit jeweils mindestens einer innerafrikanischen Netzwerks zum Themenfeld: in Sub-Saharan Africa manage ich beispielsweise ein Projekt, wie verfasse zweiten Ausschreibungsrunde. Dieser zweite Durch- das African Research Network for Neglected Tropical  Communicable Diseases in Sub-Saharan ich einen Antrag oder erstelle eine Publikation – gang wurde für die Sozial- und die Ingenieurwissen- Diseases (ARNTD). Im Optimalfall entwickelt sich Africa – from the African Bench to the Field oder auch: Wie plane ich meine Karriere? Können schaften mit Auswahlkonferenzen im Frühjahr 2015 daraus ein Modellszenario für weitere Exit- und  Resources, their Dynamics and Sustainability – die Junior-Postdoktoranden Erfolge vorweisen, abgeschlossen. Hier konnten sich bereits geförderte Transferstrategien, auch wenn sich sicherlich nicht Capacity Development in Comparative sollen sie in einer dritten Förderphase möglichst Junior-Postdoktoranden im offenen Wettbewerb alles eins zu eins auf die anderen Programme and Integrated Approaches eigenständig ihren Weg als Senior-Postdoktoranden mit neuen Interessenten um ein dreijähriges „Senior übertragen lässt.  Violence, its Impact and Coping Strategies machen. Folgende sechs Themenfelder standen Fellowship“ bewerben. Christian Jung

38 Impulse 01_2016 39 acht Fellows wissenschaftlich, die bei der Aus- Was der politische Prozess für die Fischer bedeu- schreibung um eine Postdoktorandenförderung tet, wird sich zeigen müssen; ebenso, inwieweit es im Bereich „Livelihood Management“ erfolgreich durch die Forschung gelingen kann, ein Bewusst- waren. sein zu schaffen für eine bessere Gestaltung der Prozesse mit dem Ziel angemessenerer Rahmen- Milena Arias Schreiber und Samantha Williams setzungen für die lokale Fischerei – eben unter wirken aber in jeder Sekunde so, als wissen sie, Beteiligung der Fischer vor Ort. „Ich hoffe, dass was zu tun ist und was sie erreichen wollen. So schon bald greifbare Veränderungen kommen möchten sie die Ergebnisse ihrer Forschung nicht und Effekte auch sichtbar werden“, sagt sie. nur für die akademische Welt veröffentlichen, sondern sowohl in Vorträgen den politischen Ent- Ein Ergebnis aber steht schon fest: Samantha scheidungsträgern im zuständigen Ministerium Williams hat durch das Projekt eine Entscheidung nahebringen als auch über Workshops mit den für ihre eigene berufliche Zukunft getroffen. Die Fischern in deren Dörfern verbreiten. Für die inzwischen gut ausgebildete Geografin möchte Basisarbeit dort wollen sie alsbald Booklets mit zumindest mittelfristig der Wissenschaft erhalten Samantha Williams chen wie politischen Rahmenbedingungen sowie- Durchgesetzt hat sich die Einsicht, dass es hilf- den Projektergebnissen produzieren einschließ- bleiben. „Die Förderung erlaubt es mir, weiter an führt zahlreiche Inter- so. Lösungen müssen daher immer in lokaler Per- reich ist, das über Generationen gewachsene lich daraus abgeleiteter Empfehlungen für die meinem Thema zu arbeiten und meine Experti- views mit Fischern spektive entwickelt werden.“ Nur so könne eine Wissen der Fischer vor Ort anzuerkennen, zu politische Arbeit. Die engagierten Nachwuchskräf- se auszubauen“, stellt sie fest. Sie will sich auch entlang der Küste Umsetzung von Strategien erfolgreich sein. berücksichtigen, zu gewichten und es schließlich te hoffen, dass die Kommunen das Material dann weiterhin mit Fragen zum Umgang mit natürli- zwischen Elands Bay einfließen zu lassen in den von staatlicher Seite auch nutzen. Und damit zudem der wissenschaft- chen Ressourcen beschäftigen. Denn das sei ein und Lamberts Bay. zu gestaltenden Rahmen, der die Fischereiwirt- liche Nachwuchs an der University of Cape Town Arbeitsfeld, das nicht an Bedeutung verlieren wer- Hier nehmen sich die Aushandlungsprozesse sollten von unten nach schaft ja durchaus nachhaltig aufstellen will. Ob nicht zu kurz kommt, ermöglicht es Samantha de und für das gut ausgebildete Experten in Afrika Sprecher der Fischer- oben verlaufen – ausgehend von den Fischern die Regierung die Menschen in Elands Bay und Williams einem Studierenden, im Rahmen ihres dringend benötigt würden. „Eine davon möchte vereinigung Masifun- Lamberts Bay tatsächlich erreichen wird und ihre Projekts eine Bachelorarbeit zu schreiben. ich sein – auch auf Dauer!“  dise Development Trust Nichtsdestotrotz scheinen im Management des Beschlüsse und Gesetze künftig eher im Positiven Nico Waldeck (Bild links, Zugangs zu und des Umgangs mit natürlichen greifen oder negativ wirken, muss sich zeigen. Die Mitte) und Brian Ander- Ressourcen Muster auf, aus denen sich durchaus Fischer haben jedoch bereits begonnen, sich in son Zeit für sie. Rechts: Handlungsempfehlungen für ähnliche Fälle ablei- Kollektiven zu organisieren und den Prozess von Fischer David Shoshola ten lassen. So hat sich neben ökosystembasierten ihrer Seite aus zu begleiten und auf einen guten demonstriert weiteres Ansätzen, die bei der Ausrichtung des Fangs nicht Weg zu bringen. Angel- und Fischerei- nur den Fisch, sondern auch die anderen Lebewe- werkzeug und erläutert sen im Meer einbeziehen, als Partizipationsmodell die jeweils erforder- das Ko-Management bewährt. Bei diesem Modell Vorträge im Ministerium, Booklets für die Fischer­: lichen Handgriffe. von Aushandlungsprozessen nach dem Down-to- Die Forscherinnen haben die Zielgruppen im Blick top-Prinzip werden die Fischer vor Ort am politi- schen Prozess beteiligt – und genauso soll es auch Samantha Williams hat bei dem auf insgesamt in Elands Bay und Lamberts Bay geschehen. „Men- drei Jahre angelegten Projekt noch bis Mai 2017 Fischer wohnen wie schen versuchen, das Meer anhand von Institu- Zeit für ihre wissenschaftlichen Analysen. Und anderswo in der Welt tionen zu reglementieren, und tendieren dazu, Milena Arias Schreiber startet jetzt, im Frühjahr auch in dieser Region Ressourcen zwischen den Nutzern aufzuteilen“, 2016, ihre begleitenden Feldphasen vor Ort. Beide meist unter sich. Im sagt Milena Arias Schreiber. „Das Ökosystem Meer wissen sich zudem in jedem Fall gut gesichert, Hintergrund eine klei- besteht aber aus aufs Engste miteinander verwo- falls sie einmal mit Projekt oder Kooperation nicht ne Ansiedlung nahe benen Einheiten, und es ist nicht absehbar, welche weiterkommen. Denn im Hintergrund gibt es, der südafrikanischen Auswirkungen es hat, die Ressourcen einfach sofern erforderlich, noch die helfende Hand der Lambert’s Bay mit aufzuteilen oder einzelne Teile durch deren Ver- Professoren Nikolaus Schareika und Eva Schlecht ausrangierten Fischer- schwinden dem Meer für immer zu entziehen.“ von der Universität Göttingen. Sie begleiten jene booten ringsumher.

40 Impulse 01_2016 41 Schwerpunktthema

Ins Blaue hinein | KÜSTEN

Treibgut Mensch

Bilder von Stürmen, überschwemm­ ten Gebieten und eingestürzten Häusern verknüpfen wir inzwischen fast automatisch mit dem Gedan- ken an Umweltveränderungen und Klimawandel. Häufig sind es Küsten­ regionen, die von solchen Extrem­ ereignissen besonders betroffen sind – jene Regionen, die ebenso im Fokus globaler Aufmerksamkeit stehen als Orte von Zu- und Abwan- derung. Bestehen womöglich gar Zusammenhänge zwischen Umwelt­ veränderungen und Migration?

Warum verlassen Menschen ihre Heimat, und warum bleiben andere selbst in unbe- wohnbar gewordenen Gegenden? Fünf Forscherteams haben Männer, Frauen und Heranwachsende an Küstenregionen Ghanas und Indonesiens befragt. Im Bild die Fischersiedlung Totope nahe der Voltamündung, angrenzend an das Untersuchungs- gebiet in Ghana. Durch den steigenden Meeresspiegel versinkt das Dorf langsam im Sand.

42 Impulse 01_2016 43 Text: Heidrun Riehl-Halen // Fotos: Nyani Quarmyne

m Jahr 2015 versetzt eine steigende Zahl an Warum also gehen Menschen weg aus ihrer Hei- IFlüchtlingen Europa mehr und mehr in Unru- mat, und warum bleiben andere selbst in unbe- he. Viele kommen über Land, doch besonders wohnbar gewordenen Gegenden? Das ist eine der bedrücken die Bilder von jenen, die es über die Kernfragen, die die fünf beteiligten Wissenschaft- Meere versuchen, oft kentern und viele Stunden lerteams interessiert. Beispielhaft konzentrieren in den Wellen um ihr Leben kämpfen. Viel zu viele sie sich auf zwei Untersuchungsregionen in schaffen es nicht; und doch versuchen es immer Ghana und Indonesien, die hinsichtlich Lage und mehr gerade auch auf diesem Weg. Lange schon genereller Lebenssituation durchaus vergleichbar vor den Ereignissen vom Spätsommer und Herbst sind. 2015 brennen sich vor allem die Bilder von jenen Frauen, Männern, Jugendlichen und Kindern ein, So ist die Region der Millionenstadt Semarang auf die Nordafrika auf dem Seeweg verlassen und Indonesiens Hauptinsel Java von starker Land- manchmal Tage später völlig erschöpft vor den senkung und wiederkehrenden Hochwassern Küsten Südeuropas aus dem Wasser gezogen betroffen. Auch der Küstenabschnitt im Osten und erst einmal in – für sie zumeist trügerische – Ghanas um den Ort Keta mit seinen rund 100.000 Sicherheit gebracht werden. Und so sind es lange Einwohnern erlebt seit einiger Zeit eine intensive Zeit eben jene Regionen, die als Orte im Fokus Landerosion. „Beide Regionen sind seit Jahrzehn- sichtbarer globaler Ab- und Zuwanderungsbewe- ten raschen Veränderungen in ihrer Umwelt aus- gungen stehen. gesetzt“, erläutert Projektkoordinator Dr. Johannes Herbeck vom artec Forschungszentrum Nachhal- Ebenso sind es Küsten, an denen offenkundig tigkeit der Universität Bremen das Verbindende. schneller als anderswo global wirkende klimati- „Hier lassen sich für uns Forscher jahrelange sche Veränderungen manifest werden – ob - Prozesse sowohl retrospektiv als auch aktuell gut chend etwa durch steigenden Wasserspiegel des nachvollziehen“, sagt der Geograf. Meeres oder schlagartig aufgrund extremer Wet- terereignisse. Gibt es womöglich einen Zusam- „Wenn es um Umweltveränderungen geht, menhang zwischen Migration und Umweltver- ­blicken wir entweder auf ganz große oder ganz in solch „regionalen Formationen“ abläuft und beiden Regionen seit dem frühen 20. Jahrhundert Momentaufnahmen am änderungen, der in Küstenregionen besonders kleine Dimensionen“, meint Professor Dr. Michael gleichzeitig zu deren Veränderung beiträgt. Was gibt, ermittelt etwa Geologe Dr. Thomas Mann Rand der Siedlung Totope augenfällig wird? Flitner. Der Leiter des artec Forschungszentrums jedoch meint er genau damit, und wie lässt sich Veränderungen der Küstenlinie über die Zeitläuf- nahe der Voltamündung. in Bremen ist einer von fünf Wissenschaftlern, diese Hypothese überprüfen? Und vor allem: Wie te. Er erfasst Daten über saisonale Schwankungen Fischer Joshua Onyame Trotz der Aktualität des Themas weiß man wenig die mit ihren jeweiligen Teams die Eckpfeiler nähern sich die fünf Forscherteams aus ihren des Meeresspiegels, von Stürmen und Monsunen. (unten, links), der noch dort darüber, ob und gegebenenfalls wie klimatische des Verbundvorhabens bilden. Als Beispiel denkt jeweiligen disziplinären Blickwinkeln und mit Diese werden aufbereitet und ermöglichen so wohnt, will den steigenden und ökologische Veränderungen zu Flucht und Flitner an die medialen Diskussionen zum globa- ihren unterschiedlichen Methoden und Vorge- neue Modellierungen und Computersimulatio- Sand- und Wassermassen Abwanderung aus der Heimat führen. Offiziell len Klimawandel und den Anstieg des Meeres­ hensweisen einer Antwort auf die Fragen, die sich nen. Unterstützung erhalten die Geologen von auch künftig trotzen. Adja- gibt es den Begriff Klima- oder Umweltflüchtling spiegels. Globale wie lokale Analysen erhielten daraus ergeben? Dr. Alessio Rovere, der im Rahmen des Exzellenz- wutor und Miyorhokpor nicht – ein Begriffskonstrukt, das impliziert, dass viel Aufmerksamkeit; hingegen gehe der Blick clusters Meeresforschung an der Universität Anikor schauen aus ihrem Menschen allein aufgrund klima- und umwelt- verloren „für die Ebene dazwischen“ – von Flitner Bremen die kooperative Nachwuchsgruppe Haus auf der Insel Azizak- bedingter Veränderungen ihre Heimat verlassen. als „regionale Formationen“ bezeichnet. Teilprojekt eins: Wie hat sich die Küstenlinie „Sea Level and Coastal Changes“ leitet. Der Meeres- pe, die in der Voltamün- Andererseits ist Schätzungen der Vereinten Natio- über die Jahrzehnte verändert? forscher setzt Flüge mit Kameradrohnen ein, um dung liegt. Der steigende nen (UN) zufolge bis zum Jahr 2050 mit weltweit Unter diesem Begriff, der zunächst recht sperrig den aktuellen Küstenverlauf und feinste Ände- Meeresspiegel setzt das fünfzig bis 500 Millionen Umweltflüchtlingen zu daherkommt, versteht der Geograf eine Ver- Bleiben wir zunächst noch in Bremen. Dort unter- rungen zu dokumentieren. Außerdem sammeln kleine Eiland inzwischen rechnen. Damit ist der Rahmen gesteckt für eine knüpfung aus einerseits sozialen Prozessen und sucht die Direktorin des Leibniz-Zentrums für die Wissenschaftler laufend GPS-Daten und Sedi- ein Mal pro Monat unter Gruppe von Forscherinnen und Forschern aus andererseits natürlichen Abläufen von Umwelt- Marine Tropenökologie (ZMT), Professorin Dr. mentproben vom Strand. „Anhand von mineralo- Wasser – mindestens. Bremen, Berlin und Essen, die sich hochschul- und veränderungen innerhalb einer sich permanent Hildegard Westphal, mit ihrem Team die Verän- gischen Bestandteilen können wir Landerosionen fachübergreifend zu diesem Thema zusammen­ wandelnden Region. Die Forscher vermuten, derungen der Küstenmorphologie. Mithilfe aktu- und den historischen Verlauf der Küste nachwei- gefunden haben. dass die Anpassung an raschen Umweltwandel eller Satellitendaten und Luftbilder, die es von den sen“, erläutert Westphal.

44 Impulse 01_2016 45 brauch in der Stadt; zudem wird Erdgas gefördert. Im Ergebnis ließen viele Aussagen immer wie- Dies führt dazu, dass der Boden kontinuierlich derkehrende Fingerzeige auf kulturelle Muster absinkt. Demgegenüber steigt der Meeresspiegel. erkennen, fasst Heins zusammen. Und daraus lei- „Während das im globalen Durchschnitt derzeit tet er wiederum Erklärungen ab für Resultate von wenige Millimeter im Jahr ausmacht, sind es in anderer Seite: „Wir waren alle überrascht, dass in Semarang bereits sechs bis zwanzig Zentimeter“, Keta weniger Menschen als vermutet wegen der betont die Bremer Forscherin. Häufige Über- Umweltveränderungen abwandern“, erklärt er. schwemmungen sind eine Folge. Viele akzeptierten offenbar die Naturgewalten und lernten mit den Widrigkeiten umzugehen. Und eben dafür fänden sich Entsprechungen Teilprojekt zwei: Wie reagieren die Menschen in in den Untersuchungsergebnissen: So besagt den Küstenregionen auf Umweltveränderungen? das Wort für Überschwemmung in der lokalen Sprache übersetzt: „Das Meer hat sich mit dem Wenn die Geologen bei den Workshops in natur- Menschen vermählt.“ In den Köpfen der Einheimi- wissenschaftlicher Präzision ihre Daten präsen- schen mischten sich Erfahrungen aus Christiani- tieren, ist Professor Dr. Volker Heins jedes Mal sierung, moderner Informationsgesellschaft und beeindruckt. „Ich kann leider nicht mit einer traditionellen Vorstellungen von einer Symbiose Schaufel im Sand nach Ergebnissen graben“, lacht mit dem Meer, sagt Kulturwissenschaftler Heins. er anerkennend. Der Bereichsleiter am Kultur­ wissenschaftlichen Institut (KWI) in Essen setzt auf „narrative Interviews“: Erzählungen von Teilprojekt drei: Warum migrieren Menschen, Einwohnerinnen und Einwohnern in den betrof- und was hält sie andererseits ab? fenen Gebieten. Ihn und sein Team interessieren „Risikokulturen“. Heins erläutert umgehend: „Es Mit kulturellen Aspekten beschäftigt sich auch Die steigenden geht um die Einstellungen der Menschen vor Ort Migrationsforscherin Professorin Dr. Felicitas Wasser der Oze- insbesondere dazu, wie sie Risiken einschätzen, Hillmann vom Leibniz-Institut für Regionalent- ane versalzen die die durch Umweltveränderungen drohen – vor wicklung und Strukturplanung (IRS) in Erkner bei Ufergebiete. Viele allem unmittelbar ihnen selbst.“ In der Regel han- Berlin. Die Geografin spricht gleich ein Grund- Bäume tolerieren den dele es sich um kollektive Interpretationen, die das problem der Migrationsforschung an. Die auslö- erhöhten Salzgehalt Verhalten ganzer Gruppen beeinflussen. Daraus senden Faktoren für Migration seien nicht immer nicht und gehen ein. ergäben sich dann, und das ist das Interessante, klar zu benennen, denn: „Migration ist zunächst Aus der Küstenregion bestimmte Strategien des individuellen Umgangs ein individuelles, biografisches Projekt. Sie findet wird eine Schlamm- und der jeweiligen „Anpassung“ des Einzelnen an nicht in einem abstrakten Raum statt, sondern ist und Modderzone. ­Umweltveränderungen. an konkrete zeitliche und regionale Bedingungen gebunden.“ Diese Bedingungen könnten ökono- Um die Deutungen der Ghanaer genauer zu mischer, sozialer, politischer und eben ökologi- Zudem kann das Team auf spezielles Archivmateri- Vor wenigen Jahren entstand die „Sea Defence“, verstehen, hat Doktorand Jan Schuster bei der scher Natur sein. Es sei meist schwer zu klären, al zurückgreifen. „Wir wussten, dass es Verbindun- eine Küstenschutzanlage, ähnlich wie es sie an der Feldforschung in Keta bereits mehr als hun- welche Antriebsfaktoren wie ineinander griffen gen zwischen Ghana und Bremen aus der kirchli- Nordsee gibt. „Dadurch ist Keta besser vor Erosio- dert Einheimische befragt: „Wie war es mit den und was letztlich den Entschluss des Einzelnen chen Missionarsarbeit gibt, und fanden tatsächlich nen geschützt; nun ist die Küste im benachbarten Überschwemmungen früher, wie ist es heute?“ auslöse zu migrieren. Sie spricht daher auch etwas Material für unser Projekt“, freut sich die Sedimen- Togo aber stärker betroffen“, weiß die Wissen- Auch Polizisten, Fischer, Künstler oder Leute an vorsichtiger von „umweltinduzierter Migration“ tologin über die seltenen Funde. Auf historischen schaftlerin. Insgesamt spräche jedoch vieles dafür, der Bushaltestelle hat der Kulturanthropologe statt von Klimaflüchtlingen. Stadtplänen und Fotos sieht man, welche Gebäude dass die Küstenlinie natürlichen Schwankungen interviewt, sich mit Predigten und traditionalisti- im Vergleich zu heute weggeschwemmt wurden: unterliege. Anders verhält es sich im indonesi- schen Naturbildern befasst. Zudem durchsuchte Um dem komplexen Geschehen so gut es geht „Die Küstenlinie verlief vor einhundert Jahren schen Semarang: Aufgrund des rapiden Bevöl- er Zeitungen, Volkslieder und Hiphop-Texte gerecht zu werden, untersuchen Felicitas Hill- noch etwa 200 Meter weiter seewärts.“ kerungszuwachses steigt der Grundwasserver- nach Hinweisen. mann und ihre Mitarbeiterinnen mittels aus­

46 Impulse 01_2016 47 Mancherorts, wie hier in der Untersuchungsregion in Semarang in Indone- sien, arrangieren sich die Bewohner mit den Über- schwemmungen, indem sie als Reaktion auf die Landsenkungen die Fuß- böden ihrer Häuser regel- mäßig höher setzen.

gefeilter Methodik die Migrationsbewegungen Felicitas Hillmann und ihre Kolleginnen haben In Indonesien zeigten sich mehr Wanderungsbe- Wirtschaftswissenschaftlern in dem Verbundvor- Numour Puplampo in Raum und Zeit. Im Kern erforschen sie auf der schon reichlich Material aus ihren Befragungen wegungen innerhalb des Landes. Generell arran- haben und sind zugleich zurück in Bremen. Die steht an der Tür seines Basis von Bevölkerungsdaten und einer eigenen vorliegen. Um die quantitativen Daten aus inzwi- gierten sich die Bewohner mit den Überschwem- Doktorandin Carina Goldbach nutzt ebenfalls das Fischerhauses, das Erhebung jene Wege, die Migranten nehmen: schen über 600 Haushaltsbefragungen richtig mungen; sie setzen einfach als Konsequenz auf Instrument der Befragung: Sie ist gleichermaßen nach und nach vom sogenannte Migrant Trajectories. Und zwar zu interpretieren, führt Doktorandin Usha Zie- die Landsenkungen die Fußböden ihrer Häuser vor Ort im Einsatz und interviewt ergänzend per Strand begraben wird. Migrant für Migrant. So differenziert das eben gelmayer zusätzlich qualitative Leitfadengesprä- regelmäßig höher. Trotz der Umweltveränderun- Telefon. Goldbach interessiert sich weniger für Den Kampf gegen möglich ist. che. Sie befragt Bewohner, Wissenschaftler und gen gebe es sogar einen Zustrom, wundert sich Einstellungen als für das konkrete Verhalten der den Sand hat er auf- Experten vor Ort, beobachtet – und kartiert zudem Hillmann: „Zuwanderer ziehen in eigentlich unbe- Einzelnen – soweit sich das trennen lässt. Die gegeben. Das Meer „Migrationen verlaufen oft entlang bestimmter ­Migrationsrouten. wohnbare Stadtteile.“ Ein Behördenmitarbeiter zentrale Frage: Wie unterscheiden sich Migranten mit seinen höher Korridore – das nennen wir Trajectories­ “, erläutert fand dafür eine bildhafte Erklärung: „Die Lichter und Daheimbleibende in ihrer Risikobereitschaft? steigenden Wellen Hillmann. „Das sind kollektive soziale und räumli- Erste Auswertungen zeigen, dass es in Ghana der Stadt scheinen hell und überstrahlen die Flut.“ raubt an anderer Stel- che Migrationsmuster, die in regionale und globa- gute internationale Kontakte und eine große Die Neuankömmlinge versprächen sich in der Um hier belastbare Antworten zu finden, führt sie le aber auch Land und le Regime eingebettet sind.“ Soll heißen, die For- Bereitschaft zur Migration gebe. Dies könne – das rapide urbanisierenden Region trotz der Umwelt- vor allem verhaltensökonomische Experimente schafft immer größere scherinnen betrachten zum Beispiel die sozialen ein Hinweis aus den Befragungen – in der langen veränderungen mehr Erfolg als anderswo; ein bes- durch – mit Migranten und Migrierenden insbe- Abbruchkanten (links). Netzwerke von Migranten sowie die Migrations- Tradition der mobilen Küstenfischerei wurzeln. seres Leben halt, trotz allem, sagt Ziegelmayer. sondere per Telefon. Dabei werden den Teilneh- mythen: also jene Geschichten, die erzählt werden Die Diaspora, also das soziale Netz aus Verwand- mern Risikoszenarien beschrieben. Durch Anreize von einem besseren Leben. Die wenigsten Migran- ten und Freunden an den Zielorten, sowie der wie kleine Geldbeträge, die über das Handy ver- ten planten schließlich ihre Auswanderung allein; „Einsatz vieler kleiner Helfer“ auf dem Weg dort- Teilprojekt vier: Wie unterscheiden sich Migranten bucht werden, soll die Entscheidungssituation im vielmehr kontaktierten sie vorher Freunde oder hin spielen nach Hillmanns Ansicht eine große und Daheimbleibende in ihrem Risikoverhalten? Experiment realistischer sein. Außerdem werden auch Ämter, von denen sie sich Unterstützung Rolle. Als Helfer versteht sie sowohl Agenturen Zeitpräferenzen abgefragt: „Wollen Sie das Geld versprächen. Mehrfach fällt der Begriff „Migrant in der Heimat, die in Ghana den „Mythos Migra- Um dieses „Trotz allem“ besser zu verstehen, steht jetzt ausgezahlt haben oder in zwei Wochen das Industries“; er fokussiert gut jenes Bündel an infor- tion“ anheizen, als auch Kontaktpersonen auf die in Berlin bei Felicitas Hillmann arbeitende Doppelte?“ So erhalten die Forscher eine Einschät- mellen und formellen Dienstleistungen, die den den ­Routen unterwegs oder Jobvermittler an den Doktorandin häufig im Austausch mit ihrer Kol- zung über die Risikobereitschaft ebenso wie über Migrationsprozess flankieren.­ Zielorten. legin Carina Goldbach. Mit ihr landen wir bei den Geduld oder Kooperationsverhalten der Befragten.

48 Impulse 01_2016 49 Ein Beispiel: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer gehört zum Team von Professor Dr. Achim Schlü- werden in einem Szenario vor die Wahl gestellt, ter, Leiter der Abteilung Sozialwissenschaften am alle Fische aus einem Teich allein zu essen oder mit Leibniz-Zentrum für Marine Tropenökologie (ZMT) anderen zu teilen. Hier zeigte sich, dass Migranten in Bremen. offenbar „egoistischer“ agieren als Daheimgeblie- Es sind die Küsten bene – sie teilen weniger gern. Die Annahme, dass dieser Welt, an viele die Zuwanderung in ein anderes Land als Teilprojekt fünf: Wie agieren die Politik und andere denen offenkundig gute Investition in die Zukunft sähen, habe sich Einrichtungen und Institutionen? schneller als anders- bestätigt, sagen die Forscher: Diejenigen, die sich wo globale klimati- durch das Auswandern mehr Verdienst verspra- Der Kreis schließt sich wieder bei Professor Dr. sche Veränderungen chen, beziehungsweise ein neues Leben mit mehr Michael Flitner und seinem Team. Während zuvor manifest werden. Gewinn, zogen eher weg. „Wer sprichwörtlich mit eher Einstellungen, Verhalten und Reaktionen Die Menschen ler- dem ‚Spatz in der Hand‘ zufrieden sei, bleibe eher Einzelner im Vordergrund standen, nimmt er nen das auszuhalten in der Heimat“, fasst Goldbach zusammen. Sie mit seinen Mitarbeitern die Vielzahl involvierter – oder fliehen.

i Afrikas großes Problem: Sozialwissenschaften zur Anwendung kommen. Dabei zeigte sich nicht zuletzt, dass der wissen- dem Südsudan und Uganda ist solch ein Angebot Ein wichtiges Ziel war es, den Teilnehmerinnen schaftliche Disput und Diskurs, der unabdingbar ist zugleich eine Chance, sich durch gemeinsame For- die Ressource Wasser und Teilnehmern zu vermitteln, wann ein Einsatz auf dem Weg zum Erfolg in der Forschung, gelernt schungsarbeiten beim Wiederaufbau zu engagie- welcher Methodik passend zu welchem For- und geschult sein will. ren“, hofft der Mainzer ­Wissenschaftler. Kaum ein Ressourcenthema ist inzwischen welt- schungsdesign geboten und sinnvoll erscheint weit, seit Langem aber vor allem in Afrika so – und wann nicht. Dabei hangelte man sich im Ursprünglich sollte die Field School im Süd­sudan „Darüber hinaus beziehungsweise von diesem

Weitere Projekte Weitere konfliktbehaftet wie die Situation der Wasserver- Laufe der zwei Wochen durch unterschiedliche stattfinden. Aufgrund der zeitweilig extrem Projekt ausgehend möchten wir die interregionale sorgung und der Umgang mit dem „Rohstoff Was- Fragestellungen und Projektdesigns rund um das schlechten Sicherheitslage wurde der Veranstal- wissenschaftliche Zusammenarbeit innerhalb Afri- ser“ – die sachgerechte Entsorgung der Abwässer Themenfeld „Post-Konfliktgebiete“. Eingebettet in tungsort jedoch in die Universitätsstadt Gulu in kas selbst ankurbeln“, erklärt die Mainzer Projekt- eingeschlossen. Mit Fragen dazu und dem Erlernen die zweiwöchige International Field School “Water Norduganda verlegt; beide Länder pflegen ausge- koordinatorin Birthe Pater. „Längerfristiges Ziel der des erforderlichen wissenschaftlichen Handwerk- Governance and Interdisciplinary Research Techniques prägte, historisch gewachsene Verbindungen. Für Zusammenarbeit ist es, einen Beitrag zum Aufbau zeugs zur Erforschung des skizzierten Konfliktfelds in Post-Conflict Areas” waren zahlreiche intensive die Erhebung der Daten und die exemplarische der südsudanesischen Hochschullandschaft zu beschäftigten sich in den ersten beiden Oktoberwo- ­Feldforschungsübungen. Lehre zu den Feldforschungsmethoden habe sich leisten und die Strukturen für höhere Bildung im chen 2015 in Norduganda zwanzig afrikanische und nach Meinung von Field School-Initiator Professor Südsudan zu entwickeln“, ergänzt sie. Zu diesem deutsche Doktorandinnen und Doktoranden im Beispielhaft erhoben die Teilnehmer Daten über Dr. Thomas Bierschenk Norduganda aufgrund Zweck arbeiten die Wissenschaftlerinnen und Wis- Rahmen einer von der VolkswagenStiftung geför- Afrikas Wassermanagement und hatten dann die einer soziostrukturell relativ gut vergleichbaren senschaftler von der Universität Mainz unmittelbar derten Field School. Den Teilnehmern sollte das Wis- Aufgabe, vor dem Hintergrund spezifischer Fra- Post-­Konfliktsituation regelrecht angeboten. „Für vor Ort mit dem Institute of Peace and Strategic sen und die Kompetenz vermittelt werden, empi- gestellungen mit der richtigen Methodik sinnvoll Forscher in ehemaligen Konfliktgebieten wie Studies (IPSS) der Gulu-Universität in Norduganda rische Forschungen selbst entwerfen, durchführen weiterzuarbeiten. Dabei sei es spannend gewesen zusammen, der Goethe-Universität Frankfurt am und analysieren zu können – zunächst am Beispiel zu beobachten, wie die Doktoranden auf der Basis Main und der KfW Entwicklungsbank, die mit einem Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, aber ihrer unterschiedlichen fachlichen Expertise die Büro in der Hauptstadt Kampala vertreten ist. durchaus auch davon losgelöst. jeweiligen methodischen Ansätze ihrer Disziplinen eingesetzt hätten, sagt Projektkoordinatorin Dr. Christian Jung Die jungen Nachwuchswissenschaftlerinnen und Birthe Pater vom Institut für Ethnologie und Afrika- Nachwuchswissenschaftler aus dem Südsudan, studien der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Uganda, Malawi und Niger sowie aus Deutsch- Nach und nach hätten die jungen Forscherinnen land erhielten zunächst ein praktisches Training und Forscher die Stärken, aber auch die Schwächen Geoffrey Okullo aus Uganda erläutert den angehenden in sozialwissenschaftlichen Forschungsmethoden, und Unzulänglichkeiten mancher Ansätze erkannt Wissenschaftlern während der „Field School“ in Norduganda, wie sie in der Kultur- und Sozialanthropologie, und sich von dort aus anderen Ideen geöffnet, die wo die Schwierigkeiten des Wassermanagements in vielen der Politikwissenschaft und den Wirtschafts- und auch aus ihnen fremden Fächern stammen konnten. Ländern Afrikas liegen.

50 Impulse 01_2016 51 Verantwortungsträger in den Blick sowie die poli- kehrt agiere die Politik kaum positiv gestaltend, tischen Rahmensetzungen und ähnliche Koordi- schon gar nicht in langfristiger Perspektive, wie naten. Seine Bremer Forschergruppe untersucht, gerade auch der Umgang mit Umweltproble- welche Konsequenzen zum Bespiel bestimmte matiken ­zeige. „Entscheidungen werden eher Maßnahmen haben, die nationale Regierungen, nach Gelegenheitsfenstern getroffen“, ergänzt regionale Verwaltungen, inter- und transnationale Michael Flitner. „Wenn beispielsweise ein För- Institutionen wie die Vereinten Nationen oder derprogramm läuft, wird ein Staudamm gebaut verschiedene Nichtregierungsorganisationen oder in eine Küstenschutzmaßnahme investiert.“ (NGOs) ergreifen. Dabei hinterfragen die Forscher: Was halt gerade so komme und passe. Dabei wür- Wie hat die Politik bisher auf akute ebenso wie den zudem selten die negativen Konsequenzen drohende Umweltveränderungen reagiert? Was bedacht, die sich etwa, um bei dem Beispiel Stau- wäre vor Ort zu tun, um gegebenenfalls mit Aus- damm zu bleiben, aus der Umsiedlung der Bevöl- wirkungen des Klimawandels umzugehen? Und kerung ergäben. inwiefern werden Entscheidungen, die in den Regionen oder ganz lokal vor Ort gefällt werden, beeinflusst – etwa gestützt oder konterkariert? Erkenntnisse aus den untersuchten Regionen sind Darüber hinaus, ebenso wichtig: Inwieweit wird keine stumpfe Blaupause für andere Orte der Welt die Bevölkerung an den Entscheidungen beteiligt? „Mit unserem Blick auf die regionale Ausrichtung Feldforschung in Afrika: „Erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass politi- analysieren wir eine bislang wenig beachtete Jan Schuster zu Wasser sche Entscheidungen seit Jahrzehnten das regio- Ebene“, beschreibt Flitner das Besondere an dem im Dzita-Mangroven- nale Migrationsgeschehen beeinflussen“, sagt Projekt. Dies könne nur in der fachübergreifenden Gebiet in Ghana. Rauf Johannes Herbeck. Mit Blick auf die Region Keta Zusammenarbeit gelingen. Da sind sich alle Betei- Regionalkonferenz im November 2015 in Ghana Nachklapp: Mitten in der Laufzeit des Forschungs- Sie formen das Projekt und runter fuhr er die in Ghana sieht er da insbesondere die seit Jahren ligten einig. Volker Heins würdigt insbesondere mit. Die Tagung war für alle Projektbeteiligten ein projekts untermauert ein Gerichtsurteil die Bri- „Küstenregionen“ (von Küste und fragte die voranschreitende Verschlechterung der regiona- das Engagement der VolkswagenStiftung, die das wichtiges Ereignis, bei dem sie erstmals Ergebnis- sanz dieses Thema. Im Herbst 2014 erkennt Neu- links): Professor Dr. Einheimischen: „Wie war len Infrastruktur. Ein dort lange geplanter Hafen Vorhaben in der Förderinitiative „Schlüsselthemen se im Dialog mit den Verantwortlichen der Region seeland als erstes Land weltweit den Klimawandel Michael Flitner, Uni- es mit den Überschwem- wurde plötzlich woanders gebaut, die regionale für Wissenschaft und Gesellschaft“ über drei Jah- erörtern konnten. Allein der Titel des Verbund- und die Zerstörung der Umwelt als Asylgrund an. versität Bremen; Jan mungen früher, wie Verwaltung verlegt und der grenzüberschreitende re noch bis Ende 2016 mit insgesamt rund einer vorhabens „Neue regionale Formationen: Rascher Sigeo Alesana und seine Familie von der Pazifik- Schuster, M.A., vom KWI erlebt ihr sie heute?“ Handel mit Togo zeitweise behindert. Umge- Million Euro unterstützt: „Unsere Teilnahme als Umweltwandel und Migration in Küstenregionen insel Tuvalu, die wie auch andere Eilande in den in Essen; Dr. Thomas Kulturwissenschaftler an dem Projekt war aus- Ghanas und Indonesiens“ sorge immer wieder für Weltmeeren durch den steigenden Meeresspiegel Mann und Professorin drücklich erwünscht, um den interdisziplinären interessierte Nachfragen, so ungewöhnlich schei- spürbar in Mitleidenschaft gezogen wird, erhal- Dr. Hildegard Westphal, Fokus noch breiter auszurichten.“ Eine derart star- ne vielerorts noch der Ansatz einer Annäherung ten nach hartem Kampf ihrer Anwältin in letzter beide Leibniz-Zentrum ke multidisziplinäre Förderung sei außergewöhn- an das komplexe Themenfeld über die Betrach- Instanz endgültig das Bleiberecht in Neuseeland für Marine Tropenöko- lich. „Die Zusammenarbeit in diesem Projekt ist tung „regionaler Formationen“. zugesprochen. Ein Jahr zuvor waren die Mitglieder logie ZMT in Bremen; zwar eine besondere Herausforderung, aber auch einer Familie aus dem Inselstaat Kiribati noch Johannes Herbeck, Uni- ein ertragreicher Ansatz für die Forschung“, ist Gefragt ist die Expertise aus dem Projekt auch nicht als Klimaflüchtlinge anerkannt worden. versität Bremen; Profes- Michael Flitner überzeugt. überregional: Felicitas Hillmann hielt auf Anfrage Die Pazifikstaaten nutzen seitdem gerade dieses sor Dr. Achim Schlüter der Weltbank einen Vortrag, bei dem vor allem Aufsehen erregende Urteil, um ob des steigenden vom ZMT in Bremen; Auch über das Projekt hinaus seien neue Ver- die Methodik interessierte. Doch sie warnt: „Man Meeresspiegels die Länder weltweit zu einem Usha Ziegelmayer M. netzungen mit Kolleginnen und Kollegen in kann die Lösungen aus unseren Modellregionen noch stärkeren, vereinten Kampf gegen den Kli- A. und Professorin Dr. anderen Ländern und zu anderen Fachgebieten nicht als Blaupause auf andere übertragen.“ Flit- mawandel aufzufordern. Sollte sich nichts ändern, Felicitas Hillmann, beide entstanden, ergänzt Hildegard Westphal. Davon ners Appell an die Entscheidungsträger lautet dann erwartet nun inzwischen auch das deutsche Freie Universität Berlin – könnten künftig alle Seiten profitieren. So seien daher: „Wir müssen die vorherrschende globale Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit sowie Carina Goldbach Gastwissenschaftler aus Ghana und Indonesien Perspektive dringend differenzieren. Die Rolle der und Entwicklung (früher: Ministerium für Ent- vom ZMT in Bremen. bereits mehrfach zu Besuch gekommen. Außer- Regionen sollte in jedem Fall stärker beachtet und wicklungshilfe) bis zu 200 Millionen Klimaflücht- dem wirkten Wissenschaftler aus Togo an der unterstützt werden.“ linge bis Mitte dieses Jahrhunderts. 

52 Impulse 01_2016 53 Schwerpunktthema

Ins Blaue hinein | KÜSTEN

Ein Schiff wird kommen

Sie plündern und morden. Aber sie treiben auch Handel bis in den Orient und erkunden unbekannte Küsten: die Wikinger. In einer Epoche, in der mit Karl dem Großen zeitweilig ein einziger Herrscher über halb Europa gebietet, setzen sie im Norden des Kontinents den Kontrapunkt. Die Sphären der Macht teilen sich am Grenzwall der Wikinger, bei Haithabu, nahe der heutigen Stadt Schleswig. Wir befinden uns im 11. Jahrhundert, am Vorabend von Haithabus Untergang und Schleswigs Aufstieg.

Auf historischem Grund der einstigen Siedlung Haithabu befinden sich heute das Wikinger-Museum und das nachgebaute Wikingerdorf mit einem halben Dutzend rekonstruierter Häuser, in denen man auch auf „Wikinger-Darsteller“ trifft. Die Schausammlung des Museums informiert anhand archäologischen Fundmaterials unter anderem über die Ergebnisse der von der Stiftung geförderten Forschung.

Impulse 01_2016 55 Text: Christian Jung // Fotos: Johannes Arlt

Kurz vor 700 on Kälte gestählt, groß und stark von Statur, Auch ist es möglich, kleinere Schiffe wie jene, die Das im heutigen nördli- Vfurchteinflößend, Achtung gebietend. Kurz: ein das Gesicht der Kriegsarmada prägen, ruckzuck chen Schleswig-Holstein gelegene „Danewerk“ Auftritt wie ein Donnerhall. Und dieser eilt ihnen auf rollierende Baumstämme zu hieven und entsteht, ein komplexes Befestigungssystem, das als Ruf auch voraus. Wohl kaum ein Volk der euro- mit Manneskraft zig Kilometer über Land zu am Ende aus Erdwällen päischen Geschichte steht geschlossen in solch bewegen. Als geniale Seeleute steuern sie zielge- mit Wehrgräben, einer viele Kilometer langen einem schlechten Leumund wie sie, die Wikinger. nau und offensichtlich kenntnisreich durch den Ziegelsteinmauer, zwei „norwegen“, den Nordweg, in arktische Gewässer, mittelalterlichen Wall- burgen und einem See- Zwischen 800 und 1050 nach Christus überfal- über den Atlantik bis nach Grönland und landen sperrwerk besteht. len die Männer aus dem hohen Norden gleich als erste Europäer um 1000 in Amerika, an der reihenweise die Küstenstädte Europas, das aller- Küste Neufundlands. Sie kolonisieren Island und Um 700 dings längst nicht das Europa ist, das wir heute andere Inseln im Nordatlantik. Und das in Zeiten, Die Wikinger gründen Ribe, die älteste Stadt vor Augen haben. Bei ihren Raubzügen plündern in denen es ansonsten in den Kulturen Europas Dänemarks. sie nach Belieben, brandschatzen und verbreiten allenfalls eine vage Vorstellung gibt von der Angst und Schrecken – ob an den Gestaden der Gestalt des Kontinents und insbesondere dessen 700-730 Nordsee oder den Siedlungen entlang der Küste nördlichen Rändern, geschweige denn von ferne- Fortlaufender Ausbau des „Danewerks“: Die des Mittelmeeres. Sogar weit die Flüsse hinauf bis ren Gegenden dieser Welt. Befestigungen sind an- gelegt in der Schleswiger ins Binnenland dringen sie vor, erobern Städte Landenge zwischen der wie Bourges, Clermont-Ferrand, Toulouse oder Und dann kommen die Schicksalsjahre 1050 und Ostseeförde Schlei und den Niederungen von Périgueux. Ganz Irland und weite Teile Englands 1066 nach Christus. Sie werden für den ­Untergang und Rheider Au. suchen sie heim, und selbst in Vorderasien sind die der Wikingerkultur von enormer Bedeutung sein. unerschrockenen Seefahrer gefürchtet und berüch- Ein Jahrtausend später: Die Ereignisse setzen den Um zwei zentrale Ergebnisse vorwegzunehmen: Dr. Volker Hilberg 737-750 tigt, gelten als wenig zimperlich und morden bei Im Jahr 1050 nach Christus findet die damals Rahmen für ein Forschungsprojekt, das 2012 star- „Jetzt, nach Abschluss der Forschung, gehen wir beschäftigt sich mit Die Wikinger verstärken das „Danewerk“ massiv: ihren Überfällen oft mit leichter Hand. Sie töten größte Wikingerstadt des Nordens, die im heuti- tete: „Zwischen Wikingern und Hanse: Kontinuität davon aus, dass Schleswig und Haithabu etwa Silbermünzen und Es entstehen zum einen Männer, entführen Frauen und Kinder und neh- gen Schleswig-Holstein gelegene Siedlung Hait- und Wandel des zentralen Umschlagplatzes Hai- noch eine Generation lang nebeneinander als anderen Silbergegen- der 7,5 Kilometer lange Kograben und der Verbin- men immer wieder auch Sklaven, denn die lassen habu, ihr erstes Ende im Feuer. König Harald der thabu/Schleswig im 11. Jahrhundert“. Ausgestat- Siedlungen existiert haben“, sagt Bleile, einer der ständen jener Zeit. Der dungswall. Der Osterwall sich schließlich gut zu Geld machen. Harte von Norwegen (König von 1047 bis 1066) tet mit 570.000 Euro, untersuchten Forscher der beiden Initiatoren des Projekts. „Ebenso kann man Archäologe am Schles- bezieht die Ostseebucht Windebyer Noor in das unternimmt den entscheidenden Angriff auf den Universität Kiel und des in Schleswig ansässigen sagen, dass Schleswig einige Jahre, vielleicht sogar wig-Holsteinischen Lan- Verteidigungssystem ein. Eine Begegnung mit ihnen ist stets eine mit Ort; der dänische König Sven Estridsen (König von Archäologischen Landesmuseums Schloss Gottorf Jahrzehnte älter ist als bislang angenommen“, desmuseum fungiert Errichtet werden auch die Waldemarsmauer, weitreichenden Folgen. Auf wen die Nordmänner 1047 bis 1074) ist an anderer Stelle gebunden und vier Jahre lang das Ende Haithabus und die Phase fügt Ko-Projektinitiator Professor Dr. Ulrich Müller als Leiter der Forscher- die Burg Rothenkrug und gruppe und bündelt die die Thyraburg. Besonders treffen, dessen Leben sieht hinterher meist anders kann nicht eingreifen. Haithabu wird sich von die- seiner „Ablösung“ durch die Stadt Schleswig. Jetzt vom Institut für Ur- und Frühgeschichte der beachtlich: der Bau des aus als vorher. Ganz anders. Wenn man es denn sem Zusammenbruch nicht mehr erholen. liegen die Ergebnisse vor. Christian-Albrechts-Universität Kiel hinzu und Kontakte zu den vielen Seesperrwerks in der Großen Breite der Schlei überhaupt überlebt. nennt 1070/1071 als bislang gültiges Gründungs- „Analytikpartnern“ in zur Kontrolle durch- 1066 dann eine zweite folgenschwere Plünderung. datum Schleswigs, das nun infrage zu stellen sei. Deutschland. fahrender Schiffe. Doch das ist nur die eine Seite. Die Wikinger eint Die Stadt wird erneut gebrandschatzt, diesmal von Haithabu und Schleswig: zentrale Handelsplätze eine gemeinsame Sprache: von ihren Siedlungen Westslawen, die damals in den Gebieten östlich und Kommunikationsknotenpunkte ihrer Zeit Unstrittig ist, dass beide am inneren Ende der Um 770 Haithabu wird gegründet. entlang der Fjorde der Nordsee bis zu den Schären der Kieler Förde leben. Die Einwohner Haithabus Schlei nahe beieinander liegende Stätten als die der Ostsee. Sie sind kluge Händler und geschickte verlegen die Siedlung daraufhin nach Schleswig, „Zwar war bekannt, dass der Hafen Haithabus im zentralen Kommunikationsknoten und Waren-

793 Handwerker – und: hervorragende Schiffskon- direkt gegenüber an das andere Ufer der Schlei, 11. Jahrhundert allmählich verlandete und bela- umschlagplätze Nordeuropas ihrer Zeit gelten mit Der erste große Über- strukteure. Sie entwickeln lange, schlanke, in vie- und bauen Haithabu nicht wieder auf. Gemein- dene Schiffe ihn kaum noch anlaufen konnten; den jeweils größten Häfen: Haithabu vom 8. bis in fall der Wikinger; sie plündern das Kloster lerlei Hinsicht handliche Boote, ausgerüstet mit sam mit der Schlacht von Hastings in England im dennoch ließen archäologische Spuren schon die Mitte des 11. Jahrhunderts und Schleswig am Lindisfarne an der Nord- ostküste Englands. nur einem einzigen Rahsegel, und dabei äußerst selben Jahr markiert die Zerstörung und Aufgabe einige Zeit vermuten, dass dort länger als bislang Anfang seiner Blütezeit, die auf die zweite Hälfte seetauglich und robust. Die Konstruktion erlaubt Haithabus das Ende der Wikingerzeit. In Schles- gedacht Handel getrieben wurde und Handwer- des 11. Jahrhunderts datiert. Das Bemerkenswerte es ihnen, weite Strecken über das offene Meer zu wig hingegen entsteht eine große Hafenanlage ker aktiv waren“, sagt Dr. Ralf Bleile, Leiter des aus Sicht beider Forscher: Trotz des gravieren- 795 Der Beginn zahlreicher fahren, schnell vor Küsten aufzutauchen, zügig als neues „Logistikzentrum“ zwischen Ostsee und Landesmuseums. „Ziel war es, das zu konkretisie- den Bruchs in der politischen Bedeutung sei der Wikingerüberfälle auf einzuholen – und später ebenso rasch wieder nach Nordsee – einer der bedeutendsten Fernhandels- ren und so das Ende der Wikingerzeit detaillierter Übergang von Haithabu nach Schleswig so gut Siedlungen in England, die über Jahre anhalten. ihren Beutezügen zu verschwinden. plätze seiner Zeit. und zeitlich genauer zu fassen.“ gelungen, dass die Wirtschafts- und Infrastruk-

56 Impulse 01_2016 57 Der Kieler Archäologe Ulrich Müller umreißt die „Über die Analyse der Funde wissen wir, dass im sie insgesamt bis heute erfasst, katalogisiert und Eckpfeiler des Projekts: „Zum einen erfolgte eine 11. und 12. Jahrhundert rege Handelsbeziehun- ausgewertet: die meisten davon Objekte aus Eisen, Digitalisierung der Siedlungs- und Hafenbefunde gen in den westeuropäischen Raum bestanden“, einige Hundert aus Kupfer, Kupferlegierungen, der ‚Altgrabungen‘ und auf dieser Basis die Ana- wartet sie gleich mit einer wichtigen Erkenntnis Blei und/oder Zinn – aber auch seltene Funde wie lyse und Auswertung der Objekte mithilfe neuer auf. Schimmer kennzeichnete die Funde zunächst sieben Gussformen oder -fragmente aus Gestein Verfahren. Die Zeichnungen und Fotos der Gra- hinsichtlich Warenart und Fragmenttyp sowie sowie elf Gusstiegelfragmente aus Keramik. bungen wurden dann zu einem dreidimensiona- nach der Rand- und Bodenform der Scherben. len Modell zusammengefügt. All das mündete in Besonderes Interesse galt auch – sofern vorhanden Als äußerst aufschlussreich erwiesen sich zwanzig entsprechende 3-D-Visualisierungen“, erläutert er. – den Verzierungsmustern. „Ergänzen lässt sich besondere Gegenstände aus Glas, darunter Finger- Mit ihrer Hilfe lasse sich etwa die räumliche Situa- jetzt, dass es neben den Kontakten in Richtung und Glasringe, Ringperlen sowie eine Silberfibel tion an bestimmten Punkten eines Siedlungsab- Westeuropa ziemlich sicher auch regelmäßigen und ein silberner Ohrring. „Für Haithabu lässt sich schnitts besser darstellen. So entsteht ein recht Warenaustausch mit dem westslawischen Raum die Herstellung von Glasobjekten recht sicher nach- Die wissenschaftliche genaues Bild von der damaligen Bebauungsstruk- gab.“ Auch manches an der Fundsituation spräche weisen, in Schleswig fand dieses Handwerk offen- Mitarbeiterin am Kieler tur. „Spannend wird es, wenn man in entsprechen- eindeutig für zumindest eine teilweise Einfuhr an bar allenfalls in geringem Umfang eine Fortset- Institut für Ur- und de Computermodellierungen dann die vermuteten Keramiken – als Handelsgut selbst, Ausstattung zung; auch kommt dort die Formgebung deutlich Frühgeschichte fand historischen Wasserstände über Berechnungen der Schiffsmannschaften oder als Transportbehäl- weniger vielfältig daher“, stellt Schimmer mutig reichlich Unterschiede einfließen lässt. Solche Simulationen sind ja recht ter, die beim Anlanden der Schiffe oder Verkauf fest. Zumindest lasse sich bis jetzt nichts anderes hinsichtlich Formen, komplex und noch gar nicht so lange möglich!“ des Inhaltes als defekt oder unbrauchbar vor Ort belegen. „Die Funde legen die Vermutung nahe, Techniken und Legie- Darüber hinaus seien dann und wann ergänzend entsorgt wurden und sich jetzt wiederfinden. dass vergleichsweise mehr importiert wurde.“ rungszusammenset- systematische, flächendeckende Begehungen mit zungen zwischen den Metalldetektoren erfolgt, um kontinuierlich wei- Auch das – rohstoffimportabhängige – Bunt- und in Schleswig und den in terhin Funde aus den Schichten des fokussierten Handelsbeziehungen in alle Regionen Europas – Weißmetallhandwerk in Schleswig weist Unter- Haithabu hergestellten 11. Jahrhunderts zusammenzutragen. und darüber hinaus schiede auf zu den aus der Spätphase Haithabus Fibeln. Interessant ist, bekannten Formen, Techniken und Legierungs- dass auf Schleswiger Doch wie konkret lässt sich nun belegen, dass In der neuen Siedlung Schleswig sei „besonders zusammensetzungen. Spannend ist vor allem der Grund vermehrt christ- Michaela Schimmer, tur im Gebiet der inneren Schlei recht bruchlos die Region um Schleswig wichtiger Umschlag- bei den Dingen des täglichen Bedarfs eine prak- Blick auf die Schmuckobjekte aus Weißmetall, liche Elemente wie Doktorandin an der weiter funktioniert habe. „Die ganz Nordeuropa platz blieb im Warenverkehr zwischen Nord- und tisch bruchlose Weiterführung der aus Haithabu und hier insbesondere auf die Herstellung von Kreuze erstmals als Universität Kiel, begut- umspannende Bedeutung der Region als Tor zwi- Ostseeraum – auch nach der Verlagerung von bekannten Formen und Herstellungstechniken Kleidungsbestandteilen, zu denen sogenannte Verzierung auftauchen. achtet eine Christusfibel schen Nord- und Ostsee sowie als Umschlagplatz Siedlung, Hafen und Markt von Haithabu an das festzustellen“, platziert Michaela Schimmer ein im Museum Schleswig zwischen Ost- und Westeuropa hat auch nach nördliche Schleiufer infolge schwerer zweifacher weiteres zentrales Ergebnis, das sie aus ihren (unteres Bild: Großauf- der Mitte des 11. Jahrhunderts noch eine Zeit lang Verwüstung? „Zeugnis für weitreichende Kontak- Untersuchungen ableitet. Beinahe spielerisch nahme). Fibeln sind Bestand gehabt“, halten sie fest. te in alle Teile der bekannten Welt sind neben den gleiten die Objekte durch ihre Finger, während sie von ihrer Funktion her historischen Quellen vor allem Importgüter im fortfährt: „Das gilt für das umfangreiche heimi- heutigen Broschen ver- Doch worauf gründen diese Erkenntnisse im Fundmaterial“, sagt Müller. Und die fänden sich sche Keramikmaterial ebenso wie für Holz- und gleichbar; sie dienten Kleinen? Im Archiv und im Magazin des Archäo- durchaus in den Schleswiger Altstadt-Grabungen. Eisenfunde.“ Zum einen liege diese Kontinuität dem schmückenden Ver- logischen Landesmuseums in Schleswig befinden Zwar lägen Stücke, deren geografische Herkunft wohl sicherlich in der funktionsbestimmten schließen von Kleidung. sich aus zahlreichen früheren Grabungen – insbe- sich klar benennen lässt, oft nur als Einzelfunde Formgebung der Objekte begründet, „zum ande- sondere der 1970er und 1980er Jahre – Dokumente oder in geringer Stückzahl vor, was eine Aussage ren handelt es sich aber eben auch um Produkte, und Funde beider Orte, die jene entscheidende über die Handelsverbindungen und Fernkon- die sich weitgehend aus den im Umland vorkom- Phase zwischen dem Ende der Wikingerzeit und takte Schleswigs nicht zulasse – doch: „Es gibt menden Rohstoffen fertigen ließen“. dem Beginn friesisch dominierten Handels erhel- Ausnahmen wie etwa importierte Keramik.“ Mit len können. Ein Postdoktorand, zwei Doktoranden unter anderem rund 5000 Keramikscherben einer Ein anderes Bild ergibt sich, wenn man den Blick und eine technische Mitarbeiterin haben sich Ausgrabung des Jahres 2007 im Hafengang 11 in auf Preziosen aus jener Zeit richtet. Michaela mit den beiden Projektinitiatoren an die Arbeit Schleswig beschäftigte sich Doktorandin Michaela Schimmer nahm sich aus der alten Schleswiger gemacht, unter Zuhilfenahme neuester Methoden Schimmer. Wenn sie zu erzählen beginnt, erwa- Hafengang-Grabung unter anderem Glas- und und Techniken solche Leuchtfeuer zu suchen. chen die jahrhundertealten Objekte zum Leben. Metallfunde vor. Nahezu 3000 Einzelfunde hat

58 Impulse 01_2016 59 Um 800 Karl der Große lässt eine Küstenabwehr nördlich der Mündung der Seine gegen die Wikinger errichten.

806 Schwedische Wikinger gründen Siedlungen am Fibeln zählen. Sie ähneln von der Funktion her Als Glücksgriff fällt immer wieder der Name eines Ladogasee im heutigen heutigen Broschen und dienten dem schmüc- engagierten Doktoranden dort: Stephen William Russland. kenden Verschließen von Kleidung. Solche Fibeln Merkel. Der junge US-Amerikaner analysierte 808 gibt es in verschiedenen Ausführungen, etwa als unter anderem 243 Bunt- und Weißmetallobjekte Haithabus große Kon- kurrenz, der slawische Buckel- oder Scheibenfibeln. „An der Art und Wei- auf die Zusammensetzung der jeweiligen Legie- Handelsort Reric in der se, wie die Fibeln ausgestaltet wurden, lässt sich rung. Die Entdeckung einer seltenen und damit Nähe von Wismar, wird durch den dänischen einiges ablesen“, erläutert Schimmer. Vor allem sei besonders charakteristischen Kupfer-Zink-Zinn- König Gudfred zerstört. erkennbar, dass sich über die Zeit eine eigene For- Blei-Legierung führte zur Untersuchung weiterer mensprache entwickle. „Die Gestaltung der Weiß- rund fünfzig Funde aus drei anderen Grabungs- 809 Durch die Zwangsum- metallobjekte setzt sich deutlich ab von jener der orten in der Schleswiger Altstadt. Zudem wurden siedlung der Kaufleute Edelmetallfibeln.“ Interessant sei auch, dass auf je zehn Proben von Blechen aus der Kupfer-Zink- von Reric nach Haithabu entwickelt sich die Stadt Schleswiger Grund vermehrt christliche Elemente Zinn-Blei-Legierung und von Weißmetallobjekten zur Handelsmetropole, wie Kreuze als Verzierung auftauchten. (Blei, Zinn und Blei-Zinn-Legierungen) zur Bleiiso- noch bevor Dänemark Einheit erlangt. topenanalyse hinzugenommen.

Um 810 Unterstützung durch moderne Prüfverfahren – Fasst man die Untersuchungen auch über ver- Haithabu ist jetzt die größte Stadt Nord- ob Röntgenfluoreszenz- oder Bleiisotopenanalyse schiedene Objektklassen hinweg einmal etwas europas und Zentrum des Wikingerreichs. generalisiert zusammen, lässt sich im Vergleich Um im Detail zu erkennen, wie sich das Spektrum der Funde aus Haithabu und der Schleswiger Ab 811 verschiedener Materialien zwischen den Fundor- Altstadt anhand der Röntgenfluoreszenzanalyse Die einige Kilometer südlich Haithabus flie- ten unterscheidet, knüpften die findigen Forsche- sagen: Die verwendeten Metalle und ihre Legie- ßende markiert die rinnen und Forscher ein Netz in alle Richtungen rungen unterscheiden sich deutlich. „Während in Grenze zum Franken- reich, was die Bedeutung zu ausgewiesenen Experten für bildgebende oder Haithabu überwiegend Blei oder bleireiche Blei- Haithabus noch ver- größert. auch andere analytische Verfahren. Als etwa bei Zinn-Legierungen verwendet wurden, dominiert Michaela Schimmer die Vermutung wuchs, dass bei den Schleswiger Funden Zinn als Werkstoff; 841 sich die Glasfunde von Haithabu in ihrer Mate- Blei-Zinn-Legierungen treten am nördlichen Die Wikinger gründen Dublin. rialzusammensetzung von jenen in Schleswig Schleiufer häufiger und vor allem mit hohem Zinn- Die Wikinger: harte Krieger, gnadenlose Eroberer – Um an gleich welche Objekte ihrer Begierde zu Im Wikinger-Museum in unterscheiden könnten, ließ sie Objekte beider anteil auf“, geben die Wissenschaftler einen ersten oder doch: kluge Händler und ehrbare Kaufleute? kommen, scheuen sie keine Auseinandersetzung. Haithabu ausgestelltes Um 848 Fundorte von Spezialisten des Geowissenschaft- zusammenfassenden Überblick. Gefürchtet sind die Blitzkriege und ihre Taktik Reitzubehör: Zaumzeug- Wohl in diesem Jahr errichtet Erzbischof lichen Zentrums der Georg-August-Universität Silber ist einer der begehrten Rohstoffe in der dabei – sofern man von Taktik reden kann. Denn und Steigbügelbeschlag Ansgar von Hamburg die Göttingen auf die chemische Zusammensetzung Und während sie so ein Ergebnis nach dem ande- Hochphase Haithabus um das Jahr 1000, als die die ist eigentlich immer gleich. Die Schiffe rasen (oben links) sowie ein erste christliche Kirche in Haithabu. hin untersuchen. Die Grundglastypen wurden ren präsentieren, wird zugleich sichtbar, wie viel- Stadt zentrale Metropole im Wikingerreich ist. auf die Küste zu, die Mannen werfen sich von Bord, weiterer in Haithabu dann gleich mit analysiert. fältig vernetzt die Forschergruppe ist: ein Koopera- Woher aber stammt es? Immerhin reicht das Ein- rennen brüllend an Land, stürmen Wohnhäuser, gefundener Steigbügel- Um 860 flussgebiet der Nordmänner von Neufundland in schrecken auch nicht davor zurück, Klöster abzu- beschlag (oben rechts). In Haithabu leben jetzt tionspartner nach dem nächsten scheint auf. Die mindestens tausend Zahlreiche Materialuntersuchungen erforder- eingebundenen Standorte sind klug gewählt und Nordamerika bis in die Steppen Zentralasiens und fackeln und Mönche zu massakrieren. Kurzgefasst: Unterdessen fertigt ständige Einwohner; der Ort ist ein wichtiger, ten hingegen eine Röntgenfluoreszenzanalyse. die Zusammenarbeit greift vielschichtig ineinan- von Grönland bis ans Mittelmeer. Sie befahren plündern, morden, Feuer legen, Beute machen, Museumszeichner Gert überregional bekannter Die entsprechende Expertise für umfangreiche der. So ist es gelungen, das „Kooperationsvorhaben die nördlichen Gewässer vom Labradorstrom bis zurück aufs Boot, in See gestochen – so der Ablauf. Hagel-Bischof von einem Handelsplatz, an dem auch eigene Münzen archäometallurgische und chemische Analysen Haithabu/Schleswig“ über eine Promotionsarbeit zum Eismeer und die europäische Atlantikküste ebenfalls aus Haithabu geprägt werden. fand man in Bochum am Deutschen Bergbau- einzubinden in die neue Graduiertenschule „Roh- bis Gibraltar. Sie dringen über die Flüsse Großbri- Doch das Bild bedient auch ein Klischee; es hat stammenden Gewicht Museum. Die Projektpartner dort untersuchten stoffe, Innovation und Technologie alter Kulturen tanniens und des Kontinents bis ins Herz West- eine Unwucht und bildet nur einen Teil der Wikin- eine Skizze an, während Um 870 In Island entstehen erste das ihnen weitreichend vorgelegte Ausgrabungs- (RITaK)“ – ein Verbundangebot von Ruhr-Univer- europas vor. Außerdem gelangen sie über Wolga gerkultur ab. Denn die Nordmänner treten auch Volker Hilberg ein paar Wikingersiedlungen. material zunächst einmal generell auf Metalle, die sität Bochum und Deutschem Bergbau-Museum. und Dnjepr ins Schwarze und Kaspische Meer; von anders auf, wie ein genauer Blick zeigt. Ebenso Meter weiter einen Zaum- im skandinavischen Raum zu jener Zeit typischer- Die Dissertation zum Thema „Silber und Silber- dort aus bedrängen die Wikinger Byzanz. Und brillieren sie als frühe Entdecker, Kapitalisten – zeugbeschlag vermisst. 885 „Danelag“ entsteht, eine weise bevorzugt verwendet wurden: Silber, Kup- wirtschaft in Haithabu“ ist Teil des dort veranker- immer geht es um Waren, Menschen, Geld, Profit. und eben Händler. Und als solche hinterlassen weite Teile des heutigen fer, Blei/Zinn und Messing – und zwar hinsichtlich ten Forschungsclusters „Nordmitteleuropa zwi- Manches Gut wird gehandelt, doch vieles holen sie Eindruck in Russland, Spanien oder Byzanz. Südenglands umfassen- de Wikingerenklave. der Herkunft sowie der Verarbeitung. schen römischer Kaiserzeit und Mittelalter“. sie sich – oft mit Gewalt. Über die Gründung einer Art frühmittelalterli-

60 Impulse 01_2016 61 der Feingehalt an Silber bei Münzen dänischen, deutschen und englischen Ursprungs anfangs noch bei 80 bis 90 Prozent, so sinkt er bis zu den 1080er Jahren auf Feingehalte von lediglich 50 bis 60 Prozent.

Kreuz und quer durch die Republik: Jedes Objekt reist zu „seinem“ Experten

Hilberg nutzte für die Analytik der Silberobjekte Teamleiter Dr. Volker neben Know-how und Gerätepark der Bochumer Hilberg begutachtet Forscher auch die Erfahrung der Wissenschaftler eine Kampfaxt, die in am Institut für Anorganische Chemie der Leibniz Haithabu gefunden Universität Hannover. Dort wurden darüber hin- wurde. Dem Archäo- aus von Dr. Robert Lehmann 158 Münzen und 15 logen gelang es, für Schmuckgegenstände auf Bleiisotope untersucht. detaillierte Analysen 28 weitere Objekte wiederum, im Wesentlichen der bei den Fundob- Silberbarren und Hacksilberfragmente, reisten jekten verwendeten mit Stephen Merkel zur Universität Frankfurt Materialien Experten Das Interesse von chen Hanse kurbeln sie gleichsam als Pioniere der – wobei das bislang nur eine Vermutung ist – auch einem Fundplatz dieser Zeit zwischen spätem 10. am Main und erlebten, was moderne Analytik zu gewinnen am Doktorand Felix Rösch Globalisierung den Welthandel an. Und der dreht aus englischer“, sagt Dr. Volker Hilberg. Als heimi- bis Ende des 11. Jahrhunderts bekannt ist. Zudem zu leisten vermag. Und die Identifizierung und Deutschen Bergbau- gilt der wissenschaft- sich um Pelze, Schwerter, Schmuck – aber auch um sche Quellen nachgewiesen seien Lagerstätten im förderten die Detektorbegehungen dort annä- Bestimmung von Münzen islamischer Herkunft Museum in Bochum lichen Aufarbeitung Waren wie Honig. Sie handeln mit Salz aus Frank- rheinischen Schiefergebirge und vor allem im Harz. hernd 500 wikingerzeitliche Gewichte zutage. übernahm Dr. Lutz Ilisch von der Forschungsstel- sowie an den Univer- Zehntausender Holz- reich, Speckstein von den Shetlandinseln, Wein aus Viele wurden für das genaue Abwiegen beim le für Islamische Numismatik an der Universität sitäten Hannover, Göt- funde jener Zeit. Hier dem Rheinland, Seide aus Byzanz. Sie sind ehrbare Der Archäologe Volker Hilberg fungiert als Leiter Bezahlen mit Silber benötigt, sind damit vor allem Tübingen; dort lagert die in Deutschland größte tingen, Frankfurt am vermisst er Tröge im Kaufleute. Und als solche haben sie Interesse an der Forschergruppe und Kopf der kleinen „Jungen Beleg für Handel und geschäftliche Transaktionen. Sammlung von Münzen islamischer Provenienz. Main und Tübingen. Archäologischen Lan- allen edlen Dingen – so auch an Silber, das ein Akademie auf Zeit“, in die die beiden Doktoranden „Auch dies ist ein Ausmaß an Funden, das seines- desmuseum Schloss besonderes Gut ist, dient es doch zugleich als und fallweise Studierende eingebunden sind. Er gleichen sucht“, sagt Hilberg und fügt hinzu, dass Gottorf in Schleswig. Zahlungsmittel für all die anderen Waren. selbst bearbeitet die Sammlungen „Ausgrabun- als Ergebnis der wissenschaftlichen Analyse jener gen Haithabu 2005-10“ und die Ergebnisse der Münzen und Gewichte sowie von ergänzend gut „Detektorbegehungen Haithabu“. Er koordiniert hundert Proben diverser Silber- und Buntmetall- Im 10. Jahrhundert kommt Silber vor allem die am Archäologischen Landesmuseum sowie objekte und 28 Blei-Schmuckobjekten sich über- aus dem Harz, im 11. Jahrhundert wird es knapp am Institut für Ur- und Frühgeschichte der Uni- greifend alles in allem festhalten lasse: „Haithabu versität Kiel vorhandene Expertise für das Projekt, hat bis zuletzt seine Stellung im internationalen Zurück im 21. Jahrhundert treffen wir erneut bündelt die Kontakte zu den Analysepartnern vor Fernhandelsnetz behauptet.“ auf Stephen William Merkel in Bochum, der sich allem in Bochum und Göttingen – dort begleitet er mit den Silberfunden des Forschungsvorhabens auch die archäometallurgischen und chemischen Um auch hier den Vergleich zwischen beiden beschäftigt und diesmal versucht, anhand von Untersuchungen – und hält die Vernetzungen zu Siedlungen zu haben, unterzog Hilberg den Bleiisotopenanalysen die genaue Herkunft des vergleichbaren Sammlungen einschließlich jener umfangreichen Bestand an Fundmünzen aus der in Haithabu bekannten Edelmetalls zu ermitteln. im Ausland am Leben. „Grabung ‚Schleswig Hafengang‘“ ebenfalls einer „Die Analysen zeigen, dass im Verlauf der 960er detaillierten Analyse. Er bestimmte von 73 Mün- und 970er Jahre das aus Zentralasien ins Ost- 214 Fundmünzen nahm Hilberg bisher auf. „Die zen die Zusammensetzung des Feingehalts an seegebiet einströmende Silber in den Münzen Münzanalysen zeigen: Haithabu verfügt mit fast Silber. „Im Ergebnis zeigt sich, dass es im Laufe immer stärker durch Silber ersetzt wird, das aus hundert nach 983 geprägten Münzen über das des 11. Jahrhunderts zu einer spürbaren Silber- deutscher Produktion stammt; später womöglich bislang größte bekannte Münzspektrum, das von verknappung kam“, sagt der Projektleiter. Liegt

62 Impulse 01_2016 63 907 Die Wikinger fallen mit ihren Drachenbooten in Konstantinopel ein.

934 Der ostfränkisch-säch- sische König Heinrich I. besiegt die Dänen unter Gegenstände aus Keramik, Metall, Glas, Silber, große Ganze nun mithilfe neuer Darstellungsver- „Das Bild einer Stadtentwicklung, das sich hier lich mit Wikingern und versprengten Vertretern König Knut I. in der Legierungen: All das zu untersuchen ist schon eine fahren am Rechner dreidimensional rekonstru- zeigt, ist durchaus typisch für das ausgehende weiterer Völker zusammen. In all diesen Gruppen „Schlacht von Haithabu“ und erobert die Stadt – Menge. Doch fehlt eine entscheidende Substanz- ieren können: unter Einspeisung jeder einzelnen 11. Jahrhundert“, erläutert Wissenschaftler Müller. wiederum finden sich Zimmerleute, Schmiede, damit fällt das Gebiet klasse, die wesentliche Erkenntnisse liefert: Holz. getrennt erfassten Grabungsschicht – und das „Die systematische Unterteilung von Flächen ist Fischer, Töpfer, Glasmacher und Landwirte. zwischen der Eider und der Schlei zunächst an Und in der Tat: Vieles, was man jetzt weiß, stammt sind alles in allem immerhin 4000. ein epochenübergreifendes Phänomen, das sich in das Ostfränkische bzw. aus der Aufarbeitung von über zehntausend entstehenden Siedlungen des Frühen Mittelalters Im Jahr 965 lebt der maurische Gesandte Achmed Die rund 20.000 Hölzer Römisch-Deutsche Reich. Holzfunden. Allein 1500 Hölzer wurden akribisch Man staunt, und der Blick in plötzlich sich öff- und der Wikingerzeit genauso beobachten lässt al-Tartuschi einige Zeit in der Stadt. Er hält viele der Grabungen im Schles- dendrochronologisch untersucht, ein Drittel davon nende Tiefen auf dem Computerbildschirm lässt wie bei Städten, die im Hochmittelalter gegründet seiner Eindrücke schriftlich fest. So ist er nicht nur wiger Hafenareal wurden 945 digital erfasst, aufbereitet Der dänische König Gorm konnte exakt datiert werden. „Durch solch eine den Betrachter in die zweite Hälfte des 11. Jahr- wurden.“ Das sei gut zu sehen bei vergleichbaren überrascht davon, dass eine Art Müllentsorgung erobert den wichtigen breite Basis lassen sich kurzphasige Siedlungspro- hunderts eintauchen und ihn zunächst eine Reihe Gründungen jener Zeit wie etwa Dorestad, Ribe, festgeschrieben ist – nun ja, man hat sich darauf und dreidimensional Handelsplatz zurück. zesse differenziert abbilden“, sagt Felix Rösch, der rechtwinklig zur Schlei ausgerichteter Parzellen Sigtuna, Trondheim und Lübeck – „auch wenn verständigt, allen Unrat im Hafenbecken zu ver- kartiert – und um weitere sich mit Unterstützung der technischen Mitarbei- wahrnehmen. „Die durch Freiräume oder einfache Details und Entwicklungsverläufe natürlich von senken –, ausgesprochen beeindruckt zeigt er sich Daten angereichert. Man 948 terin Kerstin Greve diesen Werkstoff und damit die Bohlenwegkonstruktionen voneinander getrenn- Fall zu Fall variieren“, fährt der Archäologe fort. von der Stadt mit ihren angelegten Gräberfeldern erkennt die immer weiter Nach einem Besuch Kaiser Ottos I. wird Bautätigkeiten jener Zeit vorgenommen hat. ten rechteckigen Strukturen weisen Breiten zwi- und der Hafenanlage mit den Landungsbrücken. in die Schlei hineinge- Haithabu Bischofssitz. schen sieben und zwanzig Metern auf“, erklärt triebenen Bautätigkeiten Rösch mit geübtem Blick und macht auf weitere Die Blütezeit: wichtigster Seehandelsplatz mit Auch lässt sich bei ihm nachlesen, wie in der (Näheres auf Seite 66f). Um 950 Die Erfassung Tausender Hölzer macht es möglich: Details aufmerksam, die sich dem ungeübten modernem Hafen und organisierter Müllentsorgung zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts die Bewohner Bei der grünen Fläche In Haithabu leben handelt es sich um die etwa zu dieser Zeit Die Bebauungsstruktur wird sichtbar Betrachter erst nach und nach offenbaren. Man nach und nach einen mehrere Meter hohen, halb- mindestens 1500 Ein- erkennt: Die Parzellen sind umgrenzt von Flecht- Gerade die Städte Skandinaviens zählen zu dieser kreisförmigen Wall aufschichten, um sich gegen historischen Ausmaße wohner; der Ort hat seine Blütezeit und ist Inzwischen hat das Zweierteam sämtliche 19.683 wandzäunen, die im Südteil bis zu sieben Phasen Zeit zu den wichtigsten Handelszentren. Haithabu, Angriffe landseitig abzuschirmen. Gibt es bei den der Schleswiger Altstadt- mit der bedeutendste Hölzer der Baubefunde vollständig digital erfasst, aufweisen können. gelegen zwischen Nord- und Ostsee am Fuße der Menschen in Haithabu ein womöglich kollektives halbinsel vor dem Ausbau Handelsplatz für den Ostseeraum. die Daten aufbereitet und dreidimensional kar- Halbinsel Jütland, ist in seiner Hochphase nicht diffuses Gespür, dass sich erste Schatten auf die der Besiedlung, bei der tiert. Damit nicht genug: In die Analyse flossen „Diese Mehrphasigkeit lässt sich unserer Mei- nur wichtigster Seehandelsplatz Nordeuropas und Blütezeit zu legen beginnen, eine noch nicht näher gelben um Erweiterun- auch Bodenverfärbungen ein, die in die Simulatio- nung nach nur durch den stark schwankenden Skandinaviens Tor zur Welt, sondern auch – eins fassbare Gefahr droht? Noch jedenfalls sind die gen durch Sand aus der 965 Der arabisch-jüdische nen eingespeist wurden; sogar die Position mar- Wasserspiegel der Schlei erklären – das wechsel- folgt dem anderen – Schmelztiegel der Kulturen. Wikinger hier und anderswo auf dem Höhepunkt Schlei. Der Wasserstand Gelehrte Ibrahim Ibn kanter Steine nebst Profilen und ausgewählten feuchte Milieu erzwang eine häufige Erneuerung Um das Jahr 1000 leben hier Franken, Slaven, ihrer Macht – und die bildet sich nirgends besser ist bei dieser Darstellung Yacub besucht Haithabu. Oberflächen wurde aufgenommen. Ziel war es, der Zäune“, sind Rösch und Müller sich einig. Der Sachsen und Byzantiner mehr oder minder fried- ab als in dem massiven Ausbau der Hafenanlage. auf 0,25 Meter simuliert. all das in ein räumliches Verhältnis zueinander Doktorand sieht auch bei einigen identifizierten 974 zu setzen und so ein Modell von den untersuch- Baumaßnahmen den Grund darin, dem schwan- Gorms Sohn König Harald Blauzahn verliert ten Grabungsorten zu erhalten, das die damalige kenden Wasserspiegel der Schlei etwas entge- Haithabu 974 zunächst Bebauungs- und Grundstückssituation abbildet genzusetzen. So erklärt er sich, warum einige der wieder an Heinrichs Sohn Otto I. und in einem weiteren Schritt etwa über die Ein- Befunde zeigen, dass in seinem Untersuchungs- speisung historischer Wasserstände noch weiter- areal in den späten 1070ern und zu Beginn der gehende Simulationen ermöglicht. 1080er Jahre Flechtwandzäune durch eine Reihe 983 König Harald Blauzahn, massiver, spundwandartig aneinandergesetzter einer der bedeutendsten Herrscher der Wikinger, „Unerlässlich war es dafür, die digitalisierten Spaltbohlen ersetzt wurden. Da zudem die in erobert Haithabu zurück. Hölzer mithilfe eigens entwickelter GIS-Shapes zu mehreren Phasen gebauten Parzellenbegrenzun- vermessen und anhand dieser Daten die Befunde gen stratigrafisch unter den datierten Holzaus-

983 dreidimensional zu kartieren. Zeitgleich liefern bauphasen lägen, könne als gesichert gelten, dass Erik der Rote wird ver- diese Messungen die letzten benötigten Infor- es in Schleswigs Kern bereits vor den 1070er Jah- bannt und siedelt nach Grönland über, auch dort mationen für die Befunddatenbank, ohne die im ren umfangreiche Siedlungstätigkeiten gegeben entstehen nun Siedlun- Hintergrund eine Analyse und Beschreibung der habe, ergänzt Rösch. „Die dürften spätestens Mitte gen der Wikinger. einzelnen Objekte, die sich dann nach und nach des 11. Jahrhunderts eingesetzt haben.“ Die parzel- zu einem großen Ganzen zusammensetzen, nicht lenartigen Einteilungen der Grundstücke wurden Um 998 inzwischen an vielen Stellen in Schleswigs Alt- Die Wikinger erreichen möglich sind“, erläutert Rösch, der mittlerweile Nordamerika. seine Doktorarbeit eingereicht hat. Er hat dieses stadt durch Ausgrabungen dokumentiert.

64 Impulse 01_2016 65 Die Boote bringen Waren, schaffen Raum, bedeuten Der umfassende Ausbau des Schleswiger Hafens Freiheit – ein echter Kerl ist nur, wer zur See fährt im 11. Jahrhundert in nur kurzer Zeit – Ergebnis der Forschung – spiegelt letztlich die aufstrebende Ob in Haithabu oder Schleswig: Das Leben in die- Handelsmetropole. „Vermutlich siedelten sich zeit- ser Zeit dreht sich vor allem um Schifffahrt und gleich mehr und mehr Menschen dort an“, meint Handel. Die Chroniken überliefern: Nur wer auf Müller. „Das sich verschärfende Platzproblem auf große Fahrt geht, ist im mittelalterlichen Skan- der Altstadthalbinsel erzwang dann die Damm- dinavien sozial geachtet. Die Helden der Ozeane bauten.“ Immerhin war das historische Altstadt- sind die Helden daheim – fünfzig verschiedene areal Schleswigs mit einer Fläche von seinerzeit Bezeichnungen kennt das Skandinavische dieser rund 12,5 Hektar nur halb so groß wie das Gebiet Zeit allein für das Wort Meer. innerhalb des Halbkreiswalls von Haithabu. Da in fast allen Bodenaufschlüssen Siedlungsnachweise Und so sind es denn auch zwangsläufig die Boote, des späten 11. Jahrhunderts zu finden sind, könne in deren Bau alle Energie, alles Wissen, alles Kön- man für diese Zeit von einer enormen Verdich- nen fließt. Kein Schiff kann es mit den schnellen, tung und damit der Notwendigkeit für Landge- wendigen Drachenbooten aufnehmen. Und immer winnungsmaßnahmen ausgehen, um einfach weiter perfektionieren die Wikinger den Schiffbau. Platz zu schaffen für die Bevölkerung Schleswigs. Dabei experimentieren sie viel, verzichten etwa bei ihren bis zu dreißig Meter langen und vier Meter breiten „Langschiffen“ auf Tiefgang, um sie schnel- Von den Details zum großen Ganzen: Die beiden Initiatoren Ein Jahrtausend später zeigt die Fülle an Erkennt- die deutliche Schwankungen für die Zeit zeigen, ler und wendiger zu machen. So versuchen sie, die- ein Blick in die Stadtentwicklung im Mittelalter des Verbundvorhabens: nissen: Rösch hat die Möglichkeiten der Dendro- inklusive der ebenfalls berücksichtigten Seesand- sen Bootstyp für ihre Beutezüge und kriegerischen Museumsdirektor chronologie derart umfassend ausgeschöpft, dass schichten in der Schlei. Überfälle zu optimieren. Landgewinnung? Stadtwerdung? Da ist Ulrich Dr. Ralf Bleile (links) die jahrhundertealten Hölzer wohl kurz vorm Glü- Müller bei „seinem“ Sujet, der Gründung von und der Kieler Archäo- hen waren. „Mit dem Jahr 1087 muss in Schleswig „Der Wasserspiegel der Schlei befindet sich im Hundert Krieger haben Platz in solch einem Boot, Städten und Stadtentwicklung im Mittelalter. Und loge Professor Dr. Ulrich ein ‚Bauboom‘ eingesetzt haben“, sagt er. Zumindest ausgehenden 11. Jahrhundert etwa 20 bis 30 das gesegelt oder gerudert wird – in extremer, von flugs startet ein spannender Ausflug über planeri- Müller. Er steht im würde man es heute so bezeichnen. „Innerhalb kur- Zentimeter unter dem heutigen Mittelwert; bei Schiffen anderer Völker bei Weitem nicht erreich- sches Vorgehen und Aushandlungsprozesse, über heutigen Schleswiger zer Zeit wurden vor den Parzellen Dämme erbaut: einem solchen Wasserstand beträgt die Tiefe vor ter Geschwindigkeit. An der Bordwand angebracht Interessen und Aktionen unterschiedlicher Akteu- Hafen auf historischem U-förmige Konstruktionen, errichtet aus eng gesetz- den ersten Phasen der Dämme gerade einmal 30 die Schilde, stets sofort griffbereit für die nächste re und die Prozesshaftigkeit bei der Entwicklung Grund – eine jener ten Spaltbohlen und verfüllt mit Reisig, Mist und Zentimeter und vergrößert sich mit den weiteren Auseinandersetzung, den nächsten Gegner. Etwa urbaner Strukturen – ein eigenes Thema. Ausgrabungsstätten, Erde.“ Im Abstand von wenigen Jahren wurden die- Ausbauten“, versucht Rösch eine Erklärung. „Dies drei Zentimeter dick sind die Klinkerplatten, die die reichlich Zeugnisse se Dämme in die Schlei hineingetrieben – bis etwa bedeutet, dass mittelgroße Transportschiffe mit sie wie Dachziegel verbauen. Die Rahsegel ferti- Mit seinen Doktoranden ist er sich jedenfalls der Vergangenheit ins Jahr 1100. „Die Akteure haben so ihre Grund- einem Tiefgang von einem Meter frühestens etwa gen sie aus Schafwolle und imprägniert wird alles einig: Schleswig stellt beispielhaft eine ebenso preisgegeben haben. stücke in den Flachwasserbereich ausgedehnt.“ im Jahr 1095 im Untersuchungsareal anlegen mit Pferdefett. rare wie herausragende „Quellengrundlage“ für konnten.“ Wozu also feste Landebrücken? die Erforschung frühester Stadtgründungen im Und auch die Frachtflotte wird kontinuierlich ver- skandinavischen Raum dar. „Wir wissen das jetzt, Es geht noch genauer: Wann konnten bei Inzwischen scheint es den Forschern plausibler, bessert. Die Handelsschiffe sind so gebaut, dass sie da wir die alten Ausgrabungen und deren Funde welchem Wasserstand die Schiffe wo anlegen? von multifunktionalen Einrichtungen auszugehen. sehr viel Ladung aufnehmen können und dennoch neu sichten und begreifen können“, betont Mül- Rösch favorisiert die Idee, dass es sich bei den meis- äußerst wendig und seetüchtig sind – auch dieser ler. Die Ergebnisse belegten das eindrucksvoll. „Bisher dachte man, dass es sich bei diesen Anla- ten Dämmen um Anlagen professioneller Händ- Bootstyp sucht seinesgleichen auf den Weltmeeren. „Gerade Altgrabungen wie in unserem Fall die gen wegen ihrer Beschaffenheit und Lage um ler handelt, die sich dadurch ein Grundstück in Ihr Erkennungsmerkmal: ein ausgesprochen brei- Befunde der flächigen Stadtkerngrabungen in feste Landebrücken einzig für das Anlegen von Poleposition im Schleswiger Hafen sichern wollten. tes Deck und ein offener Laderaum. So ist auch das den 1970er und 1980er Jahren neu zu betrachten Schiffen handelt“, erläutert Ulrich Müller. Doch „In Schleswig wurde der Handel schließlich anders Be- und Entladen der Schiffe schnell und effektiv unter Zuhilfenahme moderner Techniken und dagegen sprächen die in den Profilen aufgearbei- als in Haithabu nicht mehr überwiegend von möglich. Es sind für lange Zeit unerreichte Kon- Methoden: Darin liegt eine große Chance auch für teten Daten einschließlich der in die Simulatio- Nebenerwerbshändlern getragen, demzufolge ent- struktionen, an denen permanent gefeilt wird. Es viele ­unserer Kolleginnen und Kollegen in ihren nen eingespeisten historischen Wasserstände, wickelte sich eine professionellere Infrastruktur.“ sind die Boote der Seemacht einer ganzen Epoche. Arbeits- und Forschungssituationen!“

66 Impulse 01_2016 67 wohl älteren Ursprungs. hat,gezeigt dieStadt ist wie dieForschung nun dungsdatum Schleswigs; Vermeintliches Grün- 1070/71 dem Endezu. der Wikinger sich neigt gekrönt. DieHerrschaft zum englischenKönig von Hastingsundwird Harald II. inderSchlacht Eroberer über siegt Herzog Wilhelm der Der normannische slawischen Angreifern. gebrannt, diesmalvon zweiten Malnieder Haithabu wird zum 1066 Haithabu. und brandschatzt von erobert Norwegen König Harald derHarte Um 1050 68 i Hintergrund - des Danewerks als gedient Schifffahrtskanal haben. Theorien zufolge kann der Kograben knapp südlich über entsprechende Anderen Manpower verfügt. einzelt möglich gewesen die hätten sei; schließlich der Ansicht, dass das allenfalls für Kriegsschiffe ver in die Schlei zu gelangen –Ralf Bleile allerdings ist Haithabu über gezogen Land werden konnten, um füres möglich, dass an bis Boote nach fast von dort die Rheider Au zu nutzen. Manche Forscher halten fahren. Danach kleinere noch, es schafften Schiffe über EiderSchiffe und Treene bis nach Kilometer ging über es Zunächst Land. konnten nur zu Wasser ins jeweils andere –rund Meer 18 Dabei gelangten die Handelsgüter jedoch nicht te Seehandelsroute zwischen Nord- und Ostsee: In West-Ost-Richtung gab eine es jahrhunderteal zwischen dem Fränkischen Reich und Skandinavien. und zugleich verlief hier die uralte Nord-Süd-Route Kilometer42 langer war Arm der schiffbar, Ostsee, war günstig,Die des Lage Ortes denn die Schlei, ein zur Schlei und zur Eckernförder Bucht vordrangen. des 8.Jahrhundertsersten Hälfte von Norden bis nach Christus von Dänen, die wie die Jüten in der Holstein. Gegründet wurde die Siedlung um 770 archäologischesstes Bodendenkmal in Schleswig- gilt gemeinsam mit dem Danewerk als bedeutend Haithabu, seit über neun Jahrhunderten verlassen, den Pioniere, dieauch heute nochsogar außerhalb Wikingern.“ Unddoch: EssinddiezurSeefahren- anderes BildinunserenKöpfen haben alsvon den der undderenProtagonistenwirdochsoeinganz delsknoten waren –amVorabend derHanse, von damals Nordeuropas Kommunikations- undHan- neuer Erkenntnisse über diebeidenStädte, die Experten: Daswar derSchlüssel zuderVielzahl Akteure. „Die Vernetzung mit denzahlreichen zu Recht stolz auf dasZusammenwirken aller mehr auf Haithabu dennauf Schleswig ruht, ist Museumschef Dr. RalfBleile, dessenBlickimmer Neuanfang alsUNESCO-Weltkulturerbe? Ende imFeuer – - - - bedeutendste Handelsplatz für den Ostseeraum. zeit und war mit mindestens 1500 Einwohnern der Im 10. Jahrhundert erreichte Haithabu seine Blüte Ibrahim Ibn Yacub besucht und beschrieben wurde. bus, das auch von dem arabisch-jüdischen Reisenden Werkzeug wurden wichtig für die Bedeutung Haitha und Bearbeitung von Tonwaren (Geschirr), Glas und zen wurden hier Besonders die geprägt. Herstellung vom bis 9. insOrt 10. Jahrhundert; auch eigene Mün Mindestens tausend ständige Einwohner der hatte gab Anschluss es an die Seidenstraße nach China. Samarkand bestanden im heutigen Usbekistan; dort dass istSo belegt, Handelsverbindungen bis nach bein, aus den entfernteren Gebieten eher Luxusgüter. Walrosselfen oder Hirschgeweihe Specksteingefäße, Skandinavien andere wie Wetzsteine, Rohstoffe kamen Metalle begehrte wie Silber und Kupfer, aus aus dem Raum Koblenz aus dem importiert, Harz Bagdad und dem Fränkischen Reich. Weine wurden Schweden, Irland, dem Baltikum, Konstantinopel, wurden in Haithabu gehandelt: aus Norwegen, Waren aus der gesamten damals bekannten Welt vien und in das Byzantinische Reich fuhren Schiffe. Haupthandelsplätze seiner Zeit. Bis Nordskandina einzigartiger Knotenpunkt ohne Zweifel einer der Süd- und Ost-West-Handelswegen war Haithabu als Wegen dieser an Lage den jahrhundertealten Nord- Haare –erwar einWikingeraus Arkansas.“ unddielangenrötlich-blondensexy rotenBart schreibt sieinihrerAutobiografie: „Ichsahseinen mit ihremspäteren Ehemann BillClinton 1970 des Jahres1000“. UndüberdieersteBegegnung Wissen undKultur transportierten, als „Internet große Entfernungen Informationen, Erfahrung, verbandenMenschen undOrte unddabeiüber nete dieWikinger, dieimZugeihrerReisenauch als die „globalisierte“ HillaryClinton. Siebezeich- könnte diesenSymbolgehalt besserbekräftigen Europas diesemKontinent einGesicht geben. Wer - - - - - Wikingerstadt Haithabu–beste- Besucher anzieht: Umgeben von werdenjekte seit Kurzem erst gezeigt. Kampffahrt, und Verteidigung. Zahlreiche Fundob geht, um Handel und Handwerk –oder um Schiff oder um Zeremonien bis hin zu Bestattungsritualen Haithabus lebendig werden: ob um es den Haushalt Siedlungsgeschichte und den Alltag der Bewohner nalfunde, Modelle und moderne Medien lassen die die Lebensverhältnisse in der frühen Stadt. Origi- Schau eine atmosphärisch dichte Geschichte über Forschung. Entlang der Grabungsobjekte erzählt die materials unter anderem über die Ergebnisse der Fund archäologischen anhand informiert lung das walls naheOrtes des halbkreisförmigen Begrenzungs Heute befindet sich an der des historischenStätte Weltkulturerbe zum VomWikinger-Museum Hafengrund der altenSiedlungimSchlickgefunden wurde. der Schiffshalle wieder aufgebaute Langschiff „Haithabu 1“, dasim Spektakulärstes Ausstellungsstück im Wikinger-Museum dasin ist maßen aufderanderen Seitean einem baumbestandenenhalb Historischer Grund, derJahrfür hend ausMuseumundSchau- kreisförmigen Wall die grenzt erkennen Schleswig dieStadt Jahr viele Besucherinnen und Jahr vieleBesucherinnenund dorf –inihren einstigen Aus-dorf die Schlei. ImHintergrund zu mit Altstadt samt Dom. samt Altstadt mit Wikinger-Museum Haithabu Wikinger-Museum - . Die Samm - - - - - dürfen wiederkommen. UNESCO-Komitee nicht gänzlich ab. Die Bewerber schen den Partnern kritisiert wurde, lehnte ihn das als zu vage und vor allem zu unausgewogen- zwi Wenngleich das Konzept der fünf beteiligten Länder ersten Anlauf bei der Entscheidungsrunde 2015. Weltkulturerbestätte. Der Vorschlag im scheiterte führend vorangetriebenen Bewerbung als UNESCO- Nordeuropa“ Teil der insbesondere von Island feder in Stätten „Wikingerzeitliche Projektes nationalen Nordeuropa war Haithabu im Rahmen des trans die Kultur der Wikinger in bedeutsamen Orten Gemeinsam mit dem Danewerk und weiteren für Fertigstellung in Haithabu an der Landebrücke liegt. langes Wikingerboot nachgebaut, das seit seiner inMuseumswerft Flensburg ein sechseinhalb Meter ser: das Wikingerdorf. 2009 dann wurde auf der sieben aus Befunden rekonstruierte Wikingerhäu vom Museum entstanden zwischen 2005 und 2008 aktuellen Wikingerforschung. Nicht weit entfernt der in der Schau gezeigten Stücke zeugen von der einesre Bestattung mächtigen Kriegsherrn. Viele Bootkammergrab gewährt Einblicke in die kostba ist das wohl spektakulärste Ausstellungsstück. Das im ehemaligen Hafengrund der historischen Stadt, rekonstruierte „Haithabu Langschiff 1“, gefunden einst das schnellste auf Das der Ostsee. Gefährt eines wikingerzeitlichen bestaunen, Kriegsschiffs telalterliche Hafenleben eintauchen und das Wrack In der Schiffshalle kann der Besucher in das frühmit Christian Jun - - - - g -

Impulse 01_2016 01_2016 Impulse 69 Nachrichten aus der Wissenschaftsförderung Spektrum der VolkswagenStiftung

Gigantische Spuren von Raubsauriern gefunden: Verdrängten die Riesen kleinere Verwandte?

Sind große Raubsaurier Schuld am Aussterben des zwergenhaften Europasaurus vor 154 Millionen Jahren? Versteinerte Dinosaurier-Fußspuren, nahe der niedersächsischen Stadt Goslar entdeckt, weisen zumindest auf gemeinsame Lebensräume hin.

Blick in den Langen- Wieso starb vor rund 154 Millionen Jahren der Euro- Wie aber konnten die dreizehigen Fußspuren der berg-Steinbruch (oben) pasaurus aus? Neue Erkenntnisse dazu liefert jetzt Raubsaurier in den Lebensraum des Europasaurus im Harz nahe der nie- eine im niedersächsischen Langenberg-Steinbruch gelangen? Hier helfen weitere Forschungser- dersächsischen Stadt im Harz gefundene Platte mit Abdrücken riesiger kenntnisse. So deuten viele ebenfalls in Langen- Goslar. In dem Gebiet, Fußspuren von Dinosauriern. Forscher aus Han- berg gefundene marine Fossilien wie Schnecken, seinerzeit vermutlich nover und Bonn haben die versteinerten Spuren Muscheln oder Seeigel darauf hin, dass sich die eine Insel im flachen ausgewertet. Jens Lallensack, Paläontologe am Kalksteine des Steinbruchs, in denen die Spuren Meer, lebte vor gut Steinmann-Institut der Universität Bonn, und Dr. des Europasaurus gefunden wurden, innerhalb 150 Millionen Jahren Oliver Wings vom Niedersächsischen­ Landesmu- eines flachen Meeresbeckens gebildet haben. der Europasaurus – bis seum Hannover kommen zu dem Schluss, dass gro- „Möglicherweise gab es in diesem Zeitraum eine eines Tages Raubsauri- ße Raubsaurier in den Lebensraum des vergleichs- Absenkung des Meeresspiegels und in der Fol- er in das abgeschottete weise zwergenhaften Europasaurus eindrangen ge ein zeitweises Trockenfallen des Gebiets; so Gebiet vordrangen. und die Art verdrängten. Die Raubsaurier-Spuren konnten die festländischen Raubsaurier zu der Das ermittelten For- stammen aus einer Gesteinsschicht, die sich nahe vormals auf einer Insel geschützt lebenden klei- scher jetzt anhand der der Schicht mit Europasaurus-Spuren befand und neren Gattung vordringen“, fasst Wings zusam- Analyse versteinerter etwas jünger datiert. Mithilfe der Fotogrammetrie- men. „Wir vermuten, dass damit auch das Ende Fußspuren; diese waren Technik – sie kombiniert Messdaten und Fotogra- dieser spezialisierten Inselzwerge besiegelt war“, beim Gesteinsabbau fien – gelang es den Forschern, die ursprüngliche resümiert Lallensack. „Noch vor fünf Jahren wäre zutage getreten. Die Anordnung der Fußspuren als dreidimensionales eine solche Rekonstruktion der Fundstelle tech- beiden Bilder in der Modell zu rekonstruieren und auszuwerten. nisch nicht machbar gewesen.“ Mitte zeigen Dinosau- rierspuren – dreidimen- Die Funde fossiler dreizehiger Fußspuren ließen die Nach wie vor ungeklärt ist, sional rekonstruiert Forscher auf große, räuberisch lebende Dinosaurier wie Europasaurus in die und im Original. Das schließen. Diese Theropoden hatten eine Körperlän- große Familie der Dinosau- Panorama unten skiz- ge von etwa acht Metern. Der seinerzeit im gleichen rier einzuordnen ist. Fußab- ziert, wie es nach Gebiet vorkommende Europasaurus gehörte zwar drücke und Skelettfunde auch Meinung der Forscher zur Gruppe der langhalsigen, pflanzenfressenden anderswo erlauben es nun, die in der heutigen Harz- Sauropoden, die mit bis zu 30 Metern Länge zu den Verwandtschaftsverhältnisse dieser Dinosaurier- region während der größten Landtieren aller Zeiten zählten – er aller- Spezies weiter aufzuschlüsseln. Damit befasst sich späten Jurazeit ausge- dings brachte es als kleiner Vertreter der Gruppe auf im Rahmen eines angedockten „Kooperations- sehen haben könnte. lediglich sechs bis acht Meter Länge. Wahrschein- moduls Europaförderung“ Dr. Emanuel Tschopp lich ist, dass sich der Dino-Zwerg mit seiner Körper- von der Universidade Nova de Lisboa, Facuidade de größe dem begrenzten Nahrungsangebot seines Ciencias e Tecnologia in Portugal. Lebensraums, einer kleinen Insel, angepasst hatte. Tina Walsweer

70 Wissenschaftsförderung Spektrum der VolkswagenStiftung

Zielgenaue Tumortherapie: Neuer Ansatz zur Behandlung ein neuer Hebel, um Krebs zu stoppen? von Schlaganfällen

Lichtenberg-Professor Dr. Christian Reinhardt von der Universität zu Köln und sein Forscher der Universität Duisburg-Essen untersuchen alternative Behandlungsoptionen Nachwuchsforscherteam haben herausgefunden, wie sich das Wachstum bestimmter für Patienten nach einem Schlaganfall: „Extrazelluläre Vesikel“ sind offenbar ebenso Tumore bremsen lässt. Die Entwicklung von Medikamenten läuft bereits. wirksam wie die Stammzellen, von denen sie produziert wurden – aber risikoärmer.

Zielgenaue Tumortherapie: ein neuer Hebel, um Krebs zu stoppen? Ein Forscher bei der analytischen Betrachtung eines DNA-Gels. Er sucht nach Auffälligkeiten im genetischen Mehrere neue Ansätze machen Profil eines Patienten. derzeit bei der Behandlung von Schlaganfällen von sich reden. Hier schaut eine Ärztin in einer „Stroke Unit“, einer Spezialstation, sich die Computertomografie- Aufnahme eines Patienten an.

Krebs zählt zu den häufigsten Todesursachen in Teilung durchlaufen, ist unter den beschleunigten In den westlichen Industrieländern ist der im Gehirn von Mäusen vergleichbar gut und nach- Deutschland und in der westlichen Welt. Eine Wachstumsbedingungen nur erschwert möglich. Schlaganfall die dritthäufigste Todesursache und haltig. Die motorischen Leistungen der betroffe- zielgerichtete Tumordiagnostik und -therapie ist Wie die Kölner Forscher herausgefunden haben, häufigster Grund für schwere Behinderungen. nen Versuchstiere verbesserten sich deutlich. Dies für die Patienten von großer Bedeutung. Forscher helfen die Enzyme MK2 und Chk1 den Tumorzel- Ist die Blutversorgung unterbrochen, sterben die geht vermutlich darauf zurück, dass die extrazel- aus Deutschland, Dänemark und England haben len bei der fehlerfreien Verdopplung ihrer DNA. betroffenen Nervenzellen innerhalb weniger lulären Vesikel kurzfristig Reaktionen des Immun- jetzt einen neuen Hebel identifiziert, der helfen Gesundes Gewebe hingegen benötigt die Funkti- Stunden ab. Nach einem Schlaganfall muss das systems verändern. So können die Hirnstrukturen könnte, Tumore zu bekämpfen. Beteiligt an den on beider Enzyme weitgehend nicht. Gehirn daher möglichst schnell und nachhaltig vor weiteren Schädigungen geschützt und die Arbeiten war das Team von Lichtenberg-Professor regeneriert werden. Große Hoffnungen verbinden gehirneigene Regeneration gefördert werden. Dr. Christian Reinhardt von der Universitätskli- Dieser Unterschied zwischen Tumorzellen und sich dabei mit dem regenerativen Potenzial von nik Köln. Publiziert sind die Ergebnisse im renom- normalen Zellen könnte für Therapien nützlich Stammzellen – allerdings können diese sich nach Die möglichen therapeutischen Vorteile gegen- mierten Fachjournal Cell vom 2. Juli 2015. sein. Die Forscher konnten bereits zeigen, dass einer Transplantation auch unkontrolliert verhal- über potenziellen Stammzelltherapien liegen auf Tumorzellen und Tumore mit KRAS-Mutationen ten und zum Beispiel Tumore bilden. der Hand: „Die Behandlung mit extrazellulären Die Forscher identifizierten zwei Enzyme (Chk1 sehr gut auf eine Kombinationstherapie mit Chk1- Vesikeln ist weniger riskant, weil sie sich nicht und MK2), die offenkundig das Tumorwachstum und MK2-Hemmstoffen ansprechen, wobei das Wissenschaftler der Medizinischen Fakultät der vermehren können und einfacher zu handha- beschleunigen. Und zwar immer dann, wenn im gesunde Gewebe die Kombinationstherapie ohne Universität Duisburg-Essen konnten nun im Tier- ben sind“, erläutern PD Dr. Thorsten R. Döppner Erbgut der Tumorzellen das sogenannte KRAS- entscheidende Nebenwirkungen toleriert. Eben das versuch zeigen, dass extrazelluläre Vesikel nach von der Klinik für Neurologie und PD Dr. Bernd Gen eine Mutation aufweist. Man weiß inzwi- gibt Ärzten in naher Zukunft möglicherweise ein einem Schlaganfall genauso wirksam sind wie die Giebel vom Institut für Transfusionsmedizin am schen, dass dies eine der in menschlichen Tumo- Werkzeug zur effektiven Behandlung von Tumoren Stammzellen, von denen sie produziert wurden. Universitätsklinikum Essen. Die Wissenschaftler ren am häufigsten vorhandenen Mutationen ist, mit KRAS-Mutation an die Hand. Aktuell liegt noch Extrazelluläre Vesikel sind winzige Bläschen, die forschen nun daran, wie sie Betroffenen helfen die bei fast allen Krebserkrankungen der Bauch- keine Zulassung sogenannter MK2-Hemmer vor, von einer Membran aus Proteinen umschlossen könnten. Gefördert wurden ihre Arbeiten von der speicheldrüse sowie in rund einem Drittel aller Forschungen zur Entwicklung solcher Medikamen- sind. Sie übertragen biologische Signale zwischen VolkswagenStiftung im Rahmen der Förderinitia- ­Bronchial- und Dickdarmtumore vorkommt. Sie te laufen aber bereits seit einiger Zeit. Die Arbeiten den Zellen und lenken viele Prozesse im mensch- tive „Offen – für Außergewöhnliches“. Die Ergeb- führt zu einem enorm gesteigerten Zellwachstum, an dem aktuellen Projekt haben die Deutsche For- lichen Körper. Beide Therapieformen – der Einsatz nisse sind im Fachjournal Stem Cell veröffentlicht: das mit Komplikationen einhergeht: Denn die schungsgemeinschaft, die Deutsche Krebshilfe und extrazellulärer Vesikel und adulte Stammzellen –  http://stemcellstm.alphamedpress.org/content/ Verdopplung ihrer DNA, die die Zellen vor jeder die VolkswagenStiftung gefördert. aktivierten die Reparatur neurologischer Schäden­ early/2015/08/31/sctm.2015-0078.short?rss=1

72 Impulse 01_2016 73 Wissenschaftsförderung Spektrum der VolkswagenStiftung

Angriff auf der Mikroebene: auf dem Weg Eine molekulare Pinzette gegen das HI-Virus. zu einer neuen Therapie gegen Hepatitis B? – Erfolge auch bei Viren wie Herpes und Hepatitis C

Verläuft eine Infektion mit dem Hepatitis-B-Virus chronisch und wird die Krankheit Multifunktionale Substanz: Wissenschaftler der Universitäten Ulm und Duisburg-Essen nutzen ­dauerhaft, können Betroffene meist nicht vollständig geheilt werden – bislang. ein zuvor entwickeltes Molekül zum unmittelbaren Angriff auf den Viruserreger – einerseits. Neue Erkenntisse Hamburger Forscher beruhen auf Genome-Editing-Methoden. Andererseits blockiert die Mehrzweckwaffe zugleich im Sperma enthaltene Infektionsverstärker.

. Forscher haben zwei DNA- Bereiche des Hepatitis- B-Virus identifiziert, die für die Funktion des Virus essentiell sind. Mithilfe neuer Jan Münch vom Institut für Methoden können sie jetzt die Molekulare Virologie der spezifischen DNA-Abschnitte Universität Ulm ist mit der zielgenau erkennen und „molekularen Pinzette“ gleich zerschneiden. etwas Bedeutendes gelungen: Sie bricht unter anderem die Virenmembran auf – dadurch ist der Erreger nicht mehr infektiös.

Weltweit leiden rund 350 Millionen Menschen an Um die Virus-DNA aus den Leberzellen zu entfer- Mikrobizide, also chemische Substanzen, die Wissenschaftler um Jan Münch und den ame- einer chronischen Infektion mit dem Hepatitis- nen, bedienen sie sich sogenannter Genome-Edi- Virus-Infektionen verhindern, gelten als Hoff- rikanischen Fibrillen-Forscher Professor James B-Virus (HBV), früher eher als Gelbsucht bekannt. ting-Methoden. Dabei werden mithilfe bestimm- nungsträger im Kampf gegen HIV/AIDS. Als Vagi- Shorter setzen nun eine „molekulare Pinzette“ ein, Bei der Infektion von Leberzellen mit HBV wird ter Proteine (sogenannten Nukleasen) spezifische nalgele sollen sie es vor allem Frauen in Entwick- die die HIV-verstärkende Wirkung der Klebestäb- zum einen das Erbgut des Virus, also dessen DNA, DNA-Abschnitte exakt erkannt und zerteilt. Diese lungsländern ermöglichen, sich auch dann vor chen blockiert, indem sie die Bildung von Virion- direkt in das Erbmaterial der infizierten Zellen Proteine bringen jedoch die Gefahr mit sich, auch einer Infektion zu schützen, wenn ihr Partner kein Amyloid-Komplexen verhindert und reife Fibrillen integriert. Zum anderen liegt nach der Infektion an unerwünschten Stellen DNA zu zerschneiden. Kondom verwendet. Allerdings haben bisherige zerstört. Dabei greift die „Pinzette“ Reste der Ami- die DNA des Virus als ringförmiges Molekül in den Mikrobizide in der Praxis versagt. Nun stellen For- nosäuren Lysin und Arginin an. Zudem bricht das Leberzellen vor. Um eine Infektion vollständig zu Das Forscherteam hat nun zwei DNA-Bereiche des scher einen neuen Ansatz vor: eine „molekulare Molekül CLR01 die Virenmembran auf – dadurch heilen, muss die Virus-DNA zerstört werden, ohne Virus identifiziert, die für dessen Funktion essen- Pinzette“, die nicht nur das HI-Virus und andere ist der Erreger nicht mehr infektiös. Die Forscher dabei die Leber nachhaltig zu schädigen. Zwar ziell sind und die durch eine bestimmte Nuklease- sexuell übertragbare Viren angreift, sondern auch konnten diesen Effekt nicht nur bei HIV nachwei- gibt es durchaus hilfreiche Behandlungsansätze, Variante zielgenau zerschnitten werden können. im Sperma enthaltene Infektionsverstärker blo- sen, sondern auch bei weiteren sexuell übertrag- jedoch sind diese meist teuer, erfordern eine The- „Unsere Erkenntnisse lassen hoffen, dass durch ckiert. Ihre Studie ist im Journal eLife erschienen. baren Viren wie Herpes und Hepatitis C. rapie über lange Zeit oder gehen mit schwerwie- die Weiterentwicklung von Designer-Nukleasen genden Nebenwirkungen einher. Daher suchen in absehbarer Zeit eine vollständige Heilung chro- Ein Großteil der Neuinfektionen mit HIV kommt Ein auf CLR01 basierendes Mikrobizid würde also Forscher seit Jahren nach alternativen Methoden, nischer HBV-Infektionen möglich ist“, resümiert durch Geschlechtsverkehr zustande. Dabei gegen das Virus selbst wirken und andererseits die eine vollständige Heilung zum Ziel haben. Professor Dr. Joachim Hauber, Leiter der Abteilung scheinen Eiweißbruchstücke, die stäbchenartige die Amyloidfibrillen blockieren. „Aufgrund dieser „Antivirale Strategien“ am Heinrich-Pette-Institut, Fibrillen im Sperma ausbilden, eine große Rolle zu Doppelstrategie dürfte CLR01 effektiver sein als Wissenschaftler verschiedener Einrichtungen – dessen Arbeiten von der Stiftung im Rahmen der spielen. Die von den AIDS-Forschern Professor Jan bisherige Mikrobizide“, hofft Münch. Für klinische vom Universitätsklinikum­ Hamburg-Eppendorf, Förderinitiative „Experiment!“ unterstützt wur- Münch und Professor Frank Kirchhoff vom Insti- Tests lässt sich CLR01 einfach und kostengünstig dem Deutschen Zentrum für Infektionsforschung den. Er hat mit seinen Kollegen die Erkenntnisse tut für Molekulare Virologie der Universität Ulm synthetisieren. Als einer der Entdecker der mole- und vom Leibniz-Institut für Experimentelle in der Fachzeitschrift Scientific Reports publiziert 2007 entdeckten „Klebestäbchen“ binden Erreger- kularen Pinzette gilt Professor Thomas Schrader Virologie (Heinrich-Pette-Institut)­ – haben nun (Scientific Reports 5:13734. doi:10.1038/srep1373; partikel und erleichtern die Anheftung von Viren von der Universität Duisburg-Essen. Beider Arbei- Wege gefunden, das Virus bei seiner verhängnis- CRISPR/Cas9 nickase-mediated disruption of an die Zielzelle. So sind nur wenige Viruspartikel ten wurden von der Stiftung unterstützt. Weitere vollen Tätigkeit grundlegend zu stören. hepatitis B virus open reading frame S and X). erforderlich, um eine Zelle zu infizieren. Informationen unter  http://biophysik.charite.de/.

74 Impulse 01_2016 75 Wissenschaftsförderung Spektrum der VolkswagenStiftung

Blick in die Zelle live: „Was ist Leben?“ – Stiftung startet neue Förderinitiative faszinierende Bilder von Ribosomen in Aktion für Projekte aus den Natur- und Lebenswissenschaften

Freigeist-Fellow Dr. Elmar Behrmann und Wissenschaftlerteams von der Charité in Berlin Ziel des neuen Angebotes ist es, Prozesse des Lebens in künstlichen Systemen nachzuahmen und und vom Bonner Forschungszentrum caesar gelingt die räumliche Abbildung menschlicher diese besser zu verstehen oder zu versuchen, solche Systeme an der Schnittstelle zwischen Natur- Ribosomen in Aktion – unmittelbar bei der Proteinproduktion. und Lebenswissenschaften gemäß den Grundprinzipien des Lebens zu entwickeln.

Dr. Elmar Behrmann betrachtet Proteine bis in kleinste Details. Das genaue Zusammenspiel verschiedener Moleküle im Organismus zu kennen ist zum Beispiel entscheidend, soll ein Medikament passgenau im Körper wirken. Der Freigeist- Fellow will ein Experiment ent- Maximal durchleuchtet: wickeln, mit dem sich die Reak- Probe unter dem extrem tionen verschiedener Proteine hochauflösenden Fluores- auf zahlreiche Medikamente zenzmikroskop am European im Vorfeld testen lassen (Bild Neuroscience Institute der rechts: ein Ribosom). Universität Göttingen

Ein dreidimensionales Bild eines aktiven Proteins Die Forscher identifizierten dadurch bislang unbe- „Was ist Leben?“ – diese Frage stellt sich die geladenes, dynamisches Feld in der Wissenschaft oder Proteinkomplexes zu erhalten, stellt Forscher kannte funktionelle Zustände. Zudem erstellten Menschheit seit Jahrhunderten. In jüngster Zeit auftut, zumal an der Schnittstelle zwischen vor ein schwer lösbares Problem: Der Aufbau der sie das erste hochaufgelöste atomare Modell eines haben sich besonders an der Grenze zwischen Natur- und Lebenswissenschaften mindestens Makromoleküle ist nicht nur äußerst komplex, die aktiven menschlichen Ribosoms. Ein solch detail- Natur- und Lebenswissenschaften Forschungsfel- und mittelfristig vielleicht sogar fernere Wissens- Moleküle sind zudem ständig in Bewegung und lierter Bauplan hilft, dessen Funktion besser zu der entwickelt, die vollkommen neue Erkenntnis- gebiete noch erreichend, da sieht sich die Stiftung nehmen dabei verschiedene räumliche Anord- verstehen und könnte nicht zuletzt die Entwick- se zu dieser Frage beisteuern können. als idealer Partner, Forscherinnen und Forschern nungen ein je nach Aktivität und Funktion eines lung neuartiger Medikamente befördern. Publi- mit passenden Projektideen und Aktivitäten ein Proteins. Bislang ließ sich nur über eine chemische ziert wurden die Ergebnisse in Cell (doi: 10.1016/j. So werden beispielsweise in den Bereichen Bio- Unterstützungsangebot zu machen. Fixierung der räumliche Aufbau von Proteinen cell.2015.03.052. PubMed PMID: 25957688). physik, synthetische Biologie oder systemische untersuchen. Nachteil: Die Chemikalien können Chemie artifizielle Systeme entwickelt und unter- Förderangebot die Struktur des Proteins beeinflussen, die dann „Aktive Proteine sind in der Regel in Bewegung. sucht, die sich nicht mehr eindeutig als lebend Die neue Initiative „Leben? – Ein neuer Blick der eventuell nicht mehr der Konformation im leben- Um ihre Struktur zu ermitteln, werden sie häufig oder nicht-lebend einordnen lassen. Des Weiteren Naturwissenschaften auf die grundlegenden den Organismus entspricht. inaktiviert. Dieses ist bei unserem Ansatz nicht können biologische Zellen mithilfe modernster Prinzipien des Lebens“ adressiert sowohl Einzel- der Fall“, sagt Elmar Behrmann, der als Freigeist- Verfahren mittlerweile genauestens kartiert und forscher aller Karrierestufen nach der Promotion Wissenschaftlern der Charité – Universitätsmedi- Fellow der Stiftung eine Arbeitsgruppe am Bon- analysiert werden. Immer effizienter gelingt es als auch grenzüberschreitende Kooperationen von zin Berlin und des Bonner Forschungszentrums ner Forschungszentrum caesar leitet. „Allerdings Forschern, die Prozesse des Lebens in künstlichen Wissenschaftlern, deren Arbeiten Erkenntnisse caesar ist es jetzt gelungen, mithilfe einer neuen musste die Probe zur Vorbereitung eingefroren Systemen nachzuahmen und besser zu verstehen über die Grundprinzipien des Lebens versprechen. Methode die Struktur von Proteinkomplexen im werden, es fehlt also eine zeitliche Auflösung der oder neuartige artifizielle Systeme gemäß den aktiven Zustand zu untersuchen. Dafür haben sie verschiedenen Zustände.“ Wie sich eben diese zeit- Grundprinzipien des Lebens zu entwickeln. Weitere Hinweise zu den Ausschreibungsbedin- eine Probe mit menschlichen Polysomen – also liche Dynamik von Proteinen untersuchen lässt, gungen sowie zur Antragstellung finden sich Ribosomen, die zur Proteinsynthese an einem das erforscht Behrmann aktuell; nachzulesen in Diesen Ansätzen ist gemein, dass sie die fun- unter  www.volkswagenstiftung.de bei der För- mRNA-Molekül aufgereiht sind – in flüssigem dem Interview „Tanzende Proteine verstehen“. damentalen Prinzipien des Lebens besser zu derinitiative selbst unter „Information zur Antrag- Ethan schockgefroren und deren dreidimensiona-  www.volkswagenstiftung.de/aktuelles/aktdet- begreifen suchen und damit neue Perspektiven stellung“. Mitte Dezember 2015 fand im Tagungs- le Struktur anschließend mittels Kryo-Elektronen- newsl/news/detail/artikel/tanzende-proteine-ver- in Ergänzung zu philosophischen Aussagen über zentrum Schloss Herrenhausen in Hannover eine mikroskopie rekonstruiert. stehen/marginal/4592.html das Leben eröffnen. Wo sich solch ein spannungs- Kick-off-Konferenz zur Veranstaltung statt.

76 Impulse 01_2016 77 Schwerpunktthema

Ins Blaue hinein | INSELN

Inselleben im Zeitraffer

Inseln spielen eine entscheidende Rolle für die Biodiversität: Sie umfassen nur fünf Prozent der Landfläche, auf ihnen leben aber allein etwa 25 Prozent aller Pflanzen- und annähernd so viele Tierarten. Welche Arten konnten und können sich hier etablieren und warum? Was geschieht, wenn plötzlich eine neue Art eindringt? Um dieses Werden und Vergehen quasi im Zeitraffer zu beobachten, lassen Wissenschaftler vor der Insel Spiekeroog mitten im Watt zwölf kleine Inseln entstehen.

Vor der Küste Spiekeroogs ist 2015 ein weltweit einmaliges, spektakuläres Experiment ange- laufen. Es soll helfen, Evolution in ihren Grundzügen zu verstehen. Schritt für Schritt wächst dort ein einzig­artiges Freiluftlabor heran – ein sich im Zeitraffer erhebendes Inselsystem. Dutzende Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen einschließlich Studierender sind daran beteiligt – so auch die Biologin Salome Gonçalves von der Universität Göttingen, die mit einem Kescher Kleinstlebewesen fängt. Ihr Thema: komplexe Räuber-Beute-Beziehungen.

78 Text: Andrea Hoferichter // Fotos: Christian Burkert

ie liegen beinahe da wie vom Himmel sität Oldenburg, der die operative Projektleitung und die grundlegenden Bedingungen und Beson- Sgefallen: ein Dutzend große Metallkäfige aus hat. Und warum gerade Spiekeroog? „Die Naturbe- derheiten, denen die jeweils dort lebenden Arten schwerem Schiffsstahl. Wie gestrandete Raum- lassenheit der Insel und das Forschungszentrum ausgesetzt sind, besser zu verstehen. schiffe scheinen sie sich ins Watt gegraben zu Wittbülten machen Spiekeroog zu einem idealen haben; je nach Licht und Sonneneinfall glänzen Standort für ökologische und geomorphologische Bereits in den vergangenen Jahren haben die sie oder wirken düster, abweisend. Auf den Untersuchungen“, ergänzt er. Oldenburger Wissenschaftler immer wieder mit ersten Blick ist nicht zu erkennen, worum es fundierten Berichten aus zahlreichen Vorhaben sich handelt – und das wundert wenig. Schließ- Mehr als 120 Quadratmeter künstliche Insel sol- der Meeresforschung national wie international lich sind es künstlich geschaffene Objekte, die len nun dokumentieren, wie aus einem zunächst auf sich aufmerksam gemacht – zum Beispiel über das Auge als fremd wahrnimmt: hier, in der marinen ein vorwiegend terrestrisches Ökosys- die „Biogeochemie des Watts“. Aus dieser Zeit Nordsee, ein paar Hundert Meter vor der Insel tem entsteht. Es liegt dabei auf der Hand, dass resultieren Vorarbeiten bis hin zu einer modernen Spiekeroog gelegen. sich das Wattenmeer wie wohl kaum ein zweites wissenschaftlichen Infrastruktur wie etwa einer Gebiet für solche Fragen und Experimente als Messstation vor Spiekeroog, von der nun auch das Die von Menschenhand geschaffenen Mini- optimaler Standort ausweist. Die besonderen neue „Inselbauprojekt“ BEFmate (Biodiversity – Inseln sind Kern eines Experiments, das weltweit Dynamiken, die dort ablaufen, das Entstehen und Ecosystem Functioning across marine and terrestrial einmalig ist und nicht nur deshalb spektakulär. Vergehen kleinerer Inseln, die häufigen Störun- ecosystems) profitiert. Stiftung und Land Nieder- Es soll helfen, Evolution in ihren Grundzügen zu gen, denen die Lebensgemeinschaften an Pflanzen sachsen fördern das umfangreiche Kooperations- verstehen. Forscherinnen und Forscher der Uni- und Tieren durch Tide und Sturmfluten perma- vorhaben im Rahmen des „Niedersächsischen versitäten Oldenburg und Göttingen haben in den nent ausgesetzt sind: All das macht die Natur- Vorab“ (über weitere im „Vorab“ geförderte Groß- vergangenen beiden Jahren die kleinen Eilande räume des Wattenmeeres zu einem einzigartigen vorhaben lesen Sie ab Seite 129 und 141). aus sedimentgefüllten Stahlkörben gebaut, und Freiluftlabor für die Biodiversitätsforschung. so wächst vor der ostfriesischen Insel allmählich Schritt für Schritt ein einzigartiges Freiluftlabor Die Erkenntnisse und Ergebnisse aus der aktu- Welche Pflanze ist Pionier, wenn sich ein Eiland heran – ein sich im Zeitraffer erhebendes Inselsys- ellen Forschung vor Ort seien aber auch jenseits aus dem Meer erhebt? tem. „Wir haben den ganzen Entstehungsprozess ihrer Relevanz für das Wattenmeergebiet für die eines Archipels im Watt auf einen Schlag abge- Ökosystemforschung weltweit von Bedeutung, Beteiligt sind an BEFmate rund zwanzig Professo- kürzt“, sagte Dr. Thorsten Balke vom Institut für führt Balke weiter aus. Ohne Zweifel: Sie dürften rinnen und Professoren mit den Ressourcen ihrer Biologie und Umweltwissenschaften der Univer- helfen, die natürlichen Prozesse von Ökosystemen Institute der Universitäten Oldenburg und Göttin- gen; explizit neun Postdoktoranden und acht Dok- Arten mit der Zeit ändert und welchen Einfluss das Die Metallkörbe wur- toranden qualifizieren sich derzeit im Rahmen des wiederum auf die sogenannten Funktionen des den mit Wattsediment Vorhabens. Eingebunden sind des Weiteren Wis- Ökosystems hat, zum Beispiel auf die Produktion befüllt und Messinstru- senschaftler vom Forschungsinstitut Senckenberg von Biomasse oder die Kohlenstoffspeicherung. menten bestückt. In den am Meer in Wilhelmshaven, und sogar Fachkol- nächsten Jahren soll sich legen vom Nationalpark Niedersächsisches Wat- „Bisher basierten Studien und Simulationen über zeigen, welche Pflanzen- Das BEFmate-Experiment zur tenmeer sind mit im Boot. Auch profitieren etliche den Einfluss und die Bedeutung, die sowohl die und Tierarten sich nach Biodiversitätsforschung: Wis- Studierende von dem Projekt, und dieses ebenso Vielfalt als auch die Zusammensetzung von Arten und nach ansiedeln. senschaftler aus Oldenburg von ihnen: Viele sind in die rund ein Dutzend für Ökosystemfunktionen haben, fast immer auf und Göttingen haben vor der Teilforschungsvorhaben integriert. Zudem hat konstanten Umweltbedingungen“, leistet Profes- Küste Spiekeroogs im Watt der akademische Nachwuchs beim Bau der Inseln sor Dr. Helmut Hillebrand vom Institut für Biolo- in etwa 300 bis 500 Metern mitgeholfen: Zahlreiche Freiwillige schippten gie und Chemie des Meeres (ICBM) der Universität Abstand zur Salzwiese zwölf Sand, fertigten Sedimente, bauten Fundamente. Oldenburg den großen Problemaufriss. „Doch künstliche Inseln aus Metall- einen solchen Zustand gibt es in der Natur nicht; körben aufgestellt. Jedes Eiland Im Detail wollen die Forscherinnen und Forscher gerade auf den Inseln im Wattenmeer ändern sich hat eine Grundfläche von zwölf beobachten, welche Pflanzen und Tiere sich auf die Bedingungen ständig, allein schon durch Ebbe Quadratmetern und ist in drei den kinderzimmerkleinen Inseln nach und nach und Flut, durch Stürme und Sturmfluten“, fügt der Höhenstufen segmentiert. ansiedeln, wie sich die Zusammensetzung der Projektkoordinator hinzu.

Impulse 01_2016 81 Vor allem an den Küsten müsse sich das Leben stigungen dienen, wurde gleich im ersten Winter Je nach individueller Perspektive sind es „nur“ oft ganz neu organisieren. „Inseln sind sicher ein von meterhohen Wellen zerfetzt. Mittlerweile oder „immerhin“ mehrere Hundert Meter, die das Extremfall, aber gerade deshalb so lehrreich und steht die zweite Variante, und sie hält – bislang. nächstgelegene Land, die Insel Spiekeroog, von so exemplarisch“, betont der Biologe. Zudem sei „Die Körbe haben jetzt Metallstreben in Schiffs- den experimentellen Inseln entfernt ist. Minde- es wichtiger denn je, grundlegend zu verstehen, stahlstärke“, berichtet Kleyer. Schräge Bleche an stens diese Distanz also müssen Pflanzen und wie eine durch Klimawandel und zunehmende den oberen Korbrändern verhindern stärkeren Tiere überwinden, die sich dort ansiedeln wollen. Zerstörung natürlicher Lebensräume massiv bela- Wellenschlag von oben, und in den Wintern, Welche Pflanze wird zuerst ihre Heimat auf der stete Natur und Umwelt sich immer wieder neu wenn mit besonders heftigen Stürmen zu rechnen neuen Insel finden, welches Tier? Wie stehen sie organisiere. „Steigende Meeresspiegel, häufiger ist, schützt zusätzlich ein Dach aus durchlöcher- in Interaktion miteinander, beeinflussen sie sich auftretende Wetterextreme, veränderte Artenviel- tem Plexiglas. gegenseitig? Werden sie verdrängt von Pflanzen falt und Bioinvasion ergeben multiple Stressoren“, oder Tieren, die sich später auf der Insel ansie- sagt der Forscher. Jede Kunstinsel hat drei Ebenen, um den flachen deln? Welche Bedeutung haben sie für das neue Anstieg eines natürlichen Eilands zu simulieren. Ökosystem? Wie viel neue Biomasse entsteht „Auf der untersten Ebene, die häufig unter Wasser durch den Besiedlungsprozess und nicht zuletzt: Aller Anfang ist schwer: Die Inselbauten der ersten steht, siedeln sich besonders robuste Pionierarten Wie entwickelt sich ein neues Nahrungsnetz? Generation fegt der Wintersturm hinweg an wie zum Beispiel Queller oder Strandsode“, berichtet Kleyer. Auf der mittleren Ebene hätten Um diese Detailfragen zu beantworten, wandern In der Anfangsphase des Projekts mussten die auch weniger überflutungstolerante Arten wie die Wissenschaftler im Sommer bei Ebbe fast Wissenschaftler dennoch Überzeugungsarbeit Andelgras eine Chance. Und ganz oben könnten täglich und die restliche Zeit im Jahr zumindest leisten. „Viele Leute haben uns für verrückt erklärt sich Arten etablieren, die lediglich Springtiden und mehrmals im Monat zu „ihren“ Inseln, führen und prophezeit, dass unsere gebauten Eilande nie- Sturmfluten standhalten müssten wie beispiels- Messkampagnen durch und protokollieren die mals halten werden“, berichtet der Landschafts- weise der würzige Strand-Beifuß. Sechs der zwölf Pflanzen und Tiere, die sich dort niederlassen. ökologe Professor Dr. Michael Kleyer von der Inseln wurden allerdings gleich komplett mit Und nicht nur dort, auch auf Vergleichsflächen im Universität Oldenburg, der den Bau der kleinen Pioniergewächsen bepflanzt. Die Wissenschaftler, angrenzenden Wattenmeer und in den Salzwie- künstlichen Welten koordiniert hat. Und in der Tat darunter viele junge Leute, die sich über das Pro- sen von Spiekeroog nehmen sie Bodenproben, gab es Startschwierigkeiten. Eine erste „Inselversi- jekt qualifizieren, wollen so herausfinden, ob sich sammeln Pflanzen und Insekten. Im Labor bestim- on“ aus Drahtkörben, sogenannten Gabionen, die die nackten und bepflanzten Inseln angleichen men und zählen sie die Arten sowie die Biomasse üblicherweise mit Steinen gefüllt als Hangbefe- oder unterschiedlich entwickeln. im Einzelnen, und sie analysieren unter anderem den Nährstoff- und Kohlenstoffgehalt des Bodens. Weitere Daten liefern Messgeräte, die an den Die Forscher besuchen regel- Sedimentkäfigen angebracht sind; sie registrieren mäßig „ihre“ Inseln. Wissen- permanent Salzgehalt und Temperatur – ob von schaftlerinnen wie (von links) Luft oder Wasser. die Umweltingenieurin Daniela Meier, die Meeresbiologin Joeline Ein langwieriger Prozess, das ganze Vorhaben: Da Ezekiel – sie hat an der University machen sich die Forscher aus Oldenburg und Göt- of Dar es Salaam in Tansania tingen nichts vor. In etwa sechs Jahren, vermuten studiert – und die Meeresbio- sie, wird man fundierte Antworten auf zumindest login Jennifer Schmitt sind in einige Fragen haben. Doch schon jetzt, nach der „Jede Kunstinsel hat drei Ebenen, um den flachen Anstieg eines natür- regelmäßigen Abständen vor Ort, ersten Vegetationsperiode, tut sich etwas. „Auf lichen Eilands zu simulieren“, erläutert Projektleiter Dr. Thorsten Balke um Boden- und Wasserproben zu den ursprünglich nackten Inseln sind erste Pflan- (oben) von der Universität Oldenburg das Konzept der künstlichen nehmen; hier ziehen sie gerade zen angekommen, und die Zusammensetzung der Eilande: Auf der untersten Ebene, die häufig unter Wasser steht, siedeln Sedimentkerne zur Bestimmung Arten auf den bepflanzten Inseln hat sich bereits sich besonders robuste Pionierarten an wie zum Beispiel der Queller von Mikroalgen. Alle drei promo- geändert“, berichtet Hillebrand, der sich freut, (unteres Bild). Auf der mittleren Ebene haben auch weniger überflutungs- vieren im Rahmen des Projekts an dass schon nach kurzer Zeit einiges an Daten aus- tolerante Arten eine Chance. Und ganz oben können sich Arten eta- der Universität Oldenburg. gewertet werden kann. blieren, die lediglich Springtiden und Sturmfluten standhalten müssen.

Impulse 01_2016 83 bereits publizierter Studien, die entweder den Die Wissenschaftler wan- Einfluss der Nährstoffverfügbarkeit auf die Arten- dern im Sommer bei Ebbe vielfalt oder den Einfluss der Artenvielfalt auf die fast täglich und die restli- Nährstoffnutzung zum Gegenstand hatten, und che Zeit im Jahr zumindest entwickeln ein Modell zu den Wechselwirkungen. mehrmals im Monat zu „Wir wollen den Zusammenhang verstehen“, „ihren“ Inseln, messen, erklärt Hillebrand. Das Modell soll später mit sammeln, bestimmen und jenen Daten abgeglichen werden, die durch die protokollieren die Pflanzen neuen „Inselexperimente“ gewonnen wurden. und Tiere, die sich dort niederlassen. Dabei gebe Wie einzigartig diese Forschung ist, zeigt nicht es immer wieder Überra- zuletzt die enge Zusammenarbeit mit dem Natio- schungen, sagen die Biolo- nalpark Wattenmeer; die Einrichtung tritt sogar ginnen Kerstin Heidemann als Kooperationspartner auf. Bisher gab es von und Salome Gonçalves von jener Seite immer die kategorische Devise: keine der Universität Göttingen. Eingriffe im Wattenmeer. Dass die BEFmate- Experimente in dem hochgeschützten UNESCO- Weitere Daten liefern Weltnaturerbe möglich sind, ist eine absolute Messgeräte, die an den Ausnahme – gleichsam Vertrauensbeweis wie Sedimentkäfigen ange- Wertschätzung den Wissenschaftlern gegenüber. bracht oder im Boden ver- Den Forschern hilft dabei ihr exzellenter Ruf. ankert sind: Sie registrieren Je nach individueller Wenngleich die Oldenburger Kollegen sich über Unter dem thematischen Dach „Vorhersagen und permanent Salzgehalt und Perspektive sind es die Jahre einen exzellenten Ruf in der Meeresfor- Prognosen“ interessiert die Forscher natürlich Temperatur – ob von Luft „nur“ oder „immerhin“ schung erworben haben, sind Göttinger Wissen- auch, welche Folgen klimatische Verwerfungen Oldenburger Meeresforscher weiter erfolgreich: oder Wasser. So kontrolliert mehrere Hundert Meter, schaftler zu gleichen Teilen in dem Projekt enga- haben. Und so simulieren verschiedene Höhenstu- Das neue Projekt MarBAS dockt an. die Oldenburger Umwelt- die das nächstgelegene giert. Zum Beispiel Professor Ulrich Brose. fen der künstlichen Inseln die Überflutungszonen ingenieurin Daniela Meier Land, die Insel Spie- der Salzwiesen; sie sorgen dafür, dass die Pflanzen Und der bestätigte sich gerade erst wieder: Ende regelmäßig im Boden keroog, von den expe- unterschiedlich häufig dem Salzwasser der Nord- 2015 gelang es den Oldenburger Wissenschaftlern, installierte „Logger“, die rimentellen Inseln ent- Die Nordsee an den Schreibtisch holen: see ausgesetzt sind. So soll sich zeigen, was ein sich im harten Wettbewerb bei der landesweiten wie hier zum Messen des fernt ist. Am Ende eines Ohne Computermodellierungen geht’s nicht spürbarer Anstieg des Meeresspiegels bedeuten Ausschreibung „Spitzenforschung in Niedersach- Wurzeldrucks gesetzt sind. langen Tages heißt es könnte und wie sich das auf die Vegetation aus- sen“ durchzusetzen – als eine von insgesamt nur auch für die beiden Der Ökologe wechselte allerdings kürzlich von der wirkt. „Wir setzen die Pflanzen der Salzwiesen auf sechs erfolgreichen Bewerbungen (siehe Kasten Manches, was gesammelt Göttinger Biologinnen Universität Göttingen an die Universität Jena, wo unseren künstlichen Inseln gezielt unter Druck, auf der nächsten Seite). Im Rahmen des neuen For- wird, kommt ins Labor. Dr. Kristin Haynert und er den Lehrstuhl für Biodiversitätstheorie über- schauen, wie sie mit dem ,Stress‘ zurechtkommen schungsverbunds „Marine Biodiversität – Analyse Dort bestimmen und Salome Gonçalves eini- nahm. Ihm weht nur selten der Nordseewind um und die veränderten Umweltbedingungen ver- über zeitliche und räumliche Skalen (MarBAS)“ zählen die Forscherinnen ges an Distanz zurück- die Nase: Sein Team entwickelt Computermodelle, kraften“, erklärt der Oldenburger Forscher Michael gilt ihr Interesse einzelnen Molekülen ebenso wie und Forscher Arten und zulegen von den Inseln die den Einfluss der Artenvielfalt auf die Ökosys- Kleyer. Wie lange dauert es, bis sie eingehen oder ganzen Ökosystemen. Ein Projekt widmet sich analysieren die Biomasse über die Salzwiesen zur temfunktionen selbst unter den extrem schwan- durch resistentere Pflanzen ersetzt werden? Wie – unmittelbar angrenzend an das „Spiekerooger- ebenso wie den Nährstoff- Unterkunft im National- kenden Inselbedingungen treffend beschreiben stark ist ihre Widerstandskraft? Fragen, auf die künstliche-Inseln-Projekt“ – der Frage, mit welcher und Kohlenstoffgehalt des parkhaus Wittbülten. und Vorhersagen ermöglichen sollen. Sobald bei einem gegenwärtigen relativen Anstieg des Geschwindigkeit sich die Artenvielfalt im Meer Bodens. Vor allem gilt das genügend Daten aus den Freilandexperimenten Meeresspiegels um bis zu vier Millimeter pro Jahr verändert und welche Folgen das hat. „Dabei wol- Interesse der Frage, welche vorliegen, wollen die Wissenschaftler prüfen, ob dringend eine Antwort gefunden werden muss. len wir Datensätze erstmals über eine Zeitspanne Pflanzen und Tiere sich sie mit ihren Prognosen richtig liegen. „Ziel ist es, von 30.000 Jahren analysieren“, sagt Professor Dr. auf den Eilanden nach und Vorhersagen zu treffen für quadratkilometergroße Auch das Team seines Oldenburger Kollegen Hil- Helmut Hillebrand. Er hat nicht nur eine zentrale nach ansiedeln und wie Flächen und lange Zeiträume, in denen Evolution lebrand nutzt den Computer für mehr als nur das Rolle bei dem „Spiekeroog-Projekt“ inne, sondern die Zusammensetzung der normalerweise stattfindet“, betont Brose. Übliche: Die Forscher machen eine Metaanalyse ist auch Koordinator von MarBAS. Arten sich ändert.

84 Impulse 01_2016 85 Weitere Forschungsthemen im neuen Verbund Welche Erkenntnisse das Projekt noch bringen Evolution geschieht MarBAS beziehen sich auf die Anpassungsfähigkeit wird? „Evolution geschieht nicht von heute auf nicht von heute auf wirbelloser Meeresbewohner oder auf spezifische, morgen. Wir würden die Untersuchungen gerne morgen. Bereits nach von Algen und Plankton produzierte Zuckerpro- über mindestens 15 Jahre fortführen“, sagt Kley- der ersten Vegetati- dukte. Diese geraten immer mehr in den Fokus der er. Vielleicht kümmern sich die Beteiligten auch onsperiode habe sich Meereswissenschaftler, da sie die Ozeane dieser deshalb frühzeitig um denkbare Nachwuchsfor- jedoch einiges getan, Erde zu einem großen klimarelevanten Kohlen- scher. Eine Verbindung zur Hermann-Lietz-Schule freuten sich (von links) stoffspeicher machen. Auch den gefährdeten Koral- Spiekeroog steht jedenfalls. Deren Schüler können Dr. Kristin Haynert lenriffen gilt das Interesse. Deutlich wird: Bei den vor der eigenen Haustür gemeinsam mit den For- und Salome Gonçalves meisten MarBAS-Teilprojekten finden sich mögli- schern in einem weltweit einzigartigen Projekt bei ihrem Besuch im che An- und Verknüpfungsstellen zu BEFMate. die Geheimnisse der Wattinseln ergründen.  Spätsommer 2015.

i An MarBAS beteiligt ist als fester Partner bereits Der große Gewinner aber ist die Universität Göttin- Oldenburger Meereswissenschaftler die Universität Bremen. Geplant ist, in einem gen. Sie war gleich mit allen fünf Anträgen erfolg- erfolgreich bei Wettbewerb entsprechenden Verbund künftig als „Nordwest- reich – darunter zum einen die vier Forschungs- allianz Meeresforschung und Meerestechnologie“ verbünde „The Making and the Unmaking of the Die Universität Oldenburg gilt inzwischen nicht Die Jury überzeugte nicht zuletzt das flankierende beim Nachfolgeprogramm der Exzellenzinitiative Religious“, „Primate Cognition – From Information nur national als exzellent in der Meeresforschung. substanzielle Engagement der Universität Oldenburg ins Rennen zu gehen. An dieser Allianz beteiligen Integration to Decision Making“, „Functional Prin-

Weitere Projekte Weitere Das zeigt ein Blick auf die Vielzahl erfolgreich für den Forschungsverbund MarBAS. So finanziert wollen sich zudem das Alfred-Wegener-Institut ciples of Living Matter: Life at the Nanoscale“ und publizierender Wissenschaftler zum Thema eben- die Hochschule ergänzend zwei Postdoktoranden- für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven, „Physics to Medicine“. Zum anderen konnte sie mit so wie der jüngst auf den Weg gebrachte For­ stellen. Damit können weitere Themen in dem Ver- die Forschungsstelle Senckenberg am Meer in ihrem Vorschlag für ein übergreifendes Standort- schungs­verbund „Marine Biodiversität – Analyse bund bearbeitet werden: eine Studie zur Chemie der Wilhelmshaven sowie das Max-Planck-Institut für konzept reüssieren. „Göttingen Campus“ umfasst über zeitliche und räumliche Skalen (MarBAS)“. Tiefsee und ihrer Bedeutung für das dortige mikro- Marine Mikrobiologie und das Leibniz-Zentrum für die gemeinsamen Aktivitäten, Netzwerke und Pro- Dieses Kooperationsvorhaben war eine von lan- bielle Leben sowie ein Projekt zu forschungsorien- Maritime Tropenökologie in Bremen. jekte der Partnereinrichtungen sowie die geplante desweit lediglich sechs erfolgreichen Bewerbun- tiertem Lernen und neuen Lehrkonzepten für die Entwicklung in den Handlungsfeldern Forschungs- gen bei der Ausschreibung „Spitzenforschung Meereswissenschaften. Ein integriertes Nachwuchs- Fünf weitere Forschungsverbünde erfolgreich infrastruktur, Informationsinfrastruktur, For- in ­Nieder­sachsen“ und wird jetzt vom Land konzept soll es Studierenden zudem ermöglichen, schungsorientierte Lehre und Nachwuchsförde- Niedersachsen und von der VolkswagenStiftung Lehrveranstaltungen an Partnereinrichtungen zu Ebenfalls erfolgreich in der 2015er Ausschreibung rung sowie akademische Personalentwicklung. unter dem Dach des Niedersächsischen Vorab mit besuchen. Ziel ist ein „Kursprogramm Meereswissen- „Spitzenforschung in Niedersachsen“ im harten 785.000 Euro gefördert. Die beteiligten Forsche- schaften“, das mit einem eigenen Zertifikat abschlie- Wettstreit exzellenter Forschungscluster war die Christian Jung rinnen und Forscher planen ein breites Spektrum ßen und darüber hinaus auch Studieninteressierten Medizinische Hochschule Hannover mit dem Ver- Projektwebsites an Analysen: Ihre Betrachtungen gelten einzelnen aus Entwicklungs- und Schwellenländern den bund „Rebirth: From a Cluster of Exzellence towards  www.icbm.de Molekülen ebenso wie ganzen Ökosystemen. Zugang zu Masterprogrammen ermöglichen soll. a Clinic for Regenerative Medicine“.  www.uni-oldenburg.de/ibu

Die insgesamt zwölf künstlichen Inseln im niedersächsischen Wattenmeer. Mee- resbiologin Jennifer Schmitt nimmt eine Bodenprobe, um den Salzgehalt im Poren- wasser des Bodens zu bestimmen.

86 Impulse 01_2016 87 Schwerpunktthema

Ins Blaue hinein | INSELN

Das Eiland der Riesenmäuse

Inseln sind ein Eldorado für Evolutionsforscher und Ökologen. Ein besonderer Effekt fasziniert schon lange: das Phänomen des Riesenwachstums ebenso wie die sogenannte Inselverzwergung von Tierarten. Warum werden manch kleine Arten im Laufe von einigen Generationen in isolierter Lage immer größer, während große Arten zusehends schrumpfen? Am Beispiel einer Population von Riesenmäusen einer abgelegenen Inselgruppe lüftete ein junger Forscher das Geheimnis jetzt ein Stück weit.

Die Färöer-Inseln ganz im Norden Europas: Von dort holte Forscher Frank Chan Mäuse extremer Ausmaße in sein Labor, um das Geheimnis des Riesenwachstums zu lösen. Hier der Blick auf die Küstenlinie der Insel Vagar mit dem Wasserfall von Gasadalur.

88 Text: Andrea Hoferichter // Fotos: Cira Moro

laubt man den Werbevideos der Reisever- Wrangelinsel Wollhaarmammuts in Miniatur- Ganstalter, sind auf den Färöern im Nordatlantik Ausgabe. Das bekannteste Beispiel aber sind wohl nicht nur jede Menge Schafe und seltene Vogelar- die Zwergelefanten, die auf der Insel Borneo vor- ten zu Hause, sondern sogar Trolle und Feen. Die kommen. Anhand von Funden weiß man, dass sie färöische Lieblingsspezies von Dr. Frank Chan vom nicht immer so klein waren. Im Übrigen – wichtig Friedrich-Miescher-Laboratorium der Max-Planck- hinzuzufügen – gehen diese Schrumpfprozesse Auch am anderen Gesellschaft in Tübingen indes kommt nicht im oder Anpassungen der Körpergröße nicht mit Ende der Welt, auf Dr. Frank Chan in Video vor. „Die Mäuse hier sind etwa um die Hälf- einem Verlust von Fähigkeiten einher. den Gough-Inseln im seinem „Allerhei- te größer als ihre auf dem Festland lebenden Art- Südatlantik, gibt es ligsten“. In diesem genossen“, berichtet der junge Biologe. Das Phä- „Vermutlich bedingen Verzwergung und Gigan- Riesenmäuse. Die hier Raum hält er jene nomen sei auch auf anderen Inseln zu finden, auf tismus sowie die fehlenden Feinde einander. Die weitaus aggressiveren Wildmäuse, deren Gough im Südatlantik etwa, wo Mäusegiganten extremen Maße bringen auf den Inseln einfach Nager greifen sogar Vorfahren er 2009 ganze Albatrosküken verspeisen. Auch das Gegen- keine Vorteile“, sagt Chan. Kleinere Mäuse könn- Vögel an. Vorzugsweise eigenhändig auf teil ist bekannt. So werden gerade besonders ten zwar vielfältigere Fluchtwege nutzen, doch erlegen sie Albatroskü- den Färöer-Inseln große Tierarten auf Inseln oft allmählich immer das ist auf den Inseln schlicht nicht mehr erfor- ken in deren Nestern; fing. Ende 2015 lebt kleiner. Auf Madagaskar lebten früher Mini- derlich. Doch wie genau funktionieren Anpassung hier allerdings hat ein hier bereits die Flusspferde, auf den Channel Islands vor Kalifor- und Selektion? Welche Gene spielen eine Rolle, Sturmvogel-Junges neunte Generation. nien winzige Graufüchse oder auf der russischen und wie werden diese gesteuert? dran glauben müssen.

Den dynamischen Wissenschaftler Frank Chan treiben solche Fragen schon länger um. Die Initia- Labor gezüchteten Mäusegiganten. „Wir fanden re, dickere und dünnere Tiere, allesamt Cousins tive „Evolutionsbiologie“ der VolkswagenStiftung immerhin 67 Regionen im Erbgut, die bei allen und Cousinen zueinander. „Die Karten wurden kam da gerade recht. Mit gehörig Rückenwind Stämmen mit einer Gewichtszunahme korre- sozusagen neu gemischt“, erklärt Chan. Mitt- durch eine der begehrten Postdoktorandenförde- lierten“, berichtet er. Die solchermaßen identifi- lerweile ist es ihm gelungen, mit seinem neuen rungen brachte er 2009 sein Interesse umfassend zierten Regionen steuern den Energiehaushalt, Tübinger Forscherteam die Gene dieser Tiere zu auf Spur und holte als Erstes gleich einmal zwan- Stoffwechselvorgänge und das Wachstum. Andere analysieren und deren Lage im Chromosom zu zig färöische Mäuse in sein Labor – damals noch sind zumindest indirekt für Größe und Körperge- bestimmen. Zudem hat er eine Vielzahl weiterer am Max-Planck-Institut für Evolutionsforschung wicht verantwortlich – beispielsweise jene, die äußerer Merkmale festgehalten, von der Größe in Plön gelegen. Außerdem untersuchte er das die Fettzellenbildung und die Geschmacks- und über das Gewicht bis zur Schnauzenform. Erbmaterial von Labormäusen, die seit den 1970er Duftwahrnehmung regulieren. Die neuen Funde Jahren und damit über eine Spanne von 150 Gene- wurden 2012 im Fachblatt Current Biology veröf- Das Ergebnis ist ein riesiger Datenschatz, mit rationen künstlich auf Gigantismus gezüchtet fentlicht und erregten weltweit Aufmerksamkeit. dessen Hilfe sich die Vererbung spezifischer worden waren und die mittlerweile zwei bis sechs Eigenschaften wie in einem Familienstammbaum Mal soviel wiegen wie normalgewichtige Tiere. zurückverfolgen lässt. Außerdem gelang es dem Der Entdeckung der „Gigantismus-Gene“ folgt engagierten Forscher, über eine Simulation die Nun kann ein Lebewesen nur so groß werden, ein Mäusestammbaum über Hunderte Jahre Entwicklung der Riesenmäuse rückwärts auf der wie seine Gene es zulassen – selbst wenn die Zeitachse abzubilden. Am Ende stieß er auf etwas Umweltbedingungen optimal sind. Körpergröße Die meisten der für die Labormäuse charakteri- Überraschendes. „Die Mäuse haben danach in und -umfang sind also nicht beliebig variierbar. sierten mutmaßlichen „Gigantismus-Gene“ fand weniger als tausend Jahren um rund die Hälfte Beteiligt sind in jedem Fall mehrere Gene, das ist Frank Chan auch im Erbgut der färöischen Riesen- ihres ursprünglichen Gewichts zugenommen“, schon länger bekannt. Doch welche? Und: Wie mäuse, mit denen er noch in Plön die entschei- berichtet er. Manche seien annähernd doppelt so wirken sie gegebenenfalls zusammen? Chan denden Experimente machte. Er paarte sie mit schwer wie eine normale europäische Kontinen- setzte es sich zum Ziel, die für die Riesenmaße der kleineren Labormäusen über zwei Generationen talmaus. Im Vergleich zu anderen evolutionären Mäuse verantwortlichen Gene zu identifizieren. hinweg und erhielt schließlich die sogenannte Prozessen, die oft Millionen Jahre bräuchten, sei Dazu untersuchte er zum einen sieben sich klar F2-Generation: Enkelinnen und Enkel, insgesamt das bezogen auf den Zeitraum eine ausgespro- voneinander unterscheidende Stämme der im 830 Individuen – unter ihnen kleinere und größe- chen rasante Entwicklung.

90 Impulse 01_2016 91 Das Laboratorium, das eng mit den benachbarten anderthalb Millionen Euro über fünf Jahre zuge- Max-Planck-Instituten für Entwicklungsbiologie sagt“, ist er sichtlich stolz. Mit solch einem ERC und biologische Kybernetik verwoben ist, bie- Starting Grant soll die wissenschaftliche Eigen- tet herausragenden jungen Forscherinnen und ständigkeit von Spitzenforschern in Europa zu Forschern die Möglichkeit, über einen Zeitraum einem frühen Zeitpunkt ihrer Karriere gefördert von mehreren Jahren eine Arbeitsgruppe auf- werden. „Damit“, freute sich Chan bei der Bekannt- zubauen, eigene Projektideen zu verwirklichen gabe, „können nun die Untersuchungen zu mei- und damit eine unabhängige Karriere zu starten. nem Spezialthema, das mit den Riesenmäusen sei- Die Forschungsthemen sind breit gefächert und nen Anfang nahm, in die nächste Runde gehen.“ wechseln mit der Berufung neuer Gruppenleiter. Zurzeit arbeiten fünf solch handverlesener Wis- Mit seinem Team will er jetzt zunächst einzelne, senschaftlerteams am FML – alle im Übrigen aus- zuvor identifizierte Genabschnitte im Nagergenom gesprochen erfolgreich im Einwerben von Dritt- ersetzen, um die bisherigen Funde abzusichern und mitteln: ob von nationalen oder internationalen mehr Klarheit im Detail zu gewinnen. Ziel ist es, Geldgebern. Chan, dessen Arbeitsgruppe den Titel Punkt für Punkt herauszufinden, wie sich das Erb- „Adaptive Dynamik des Genoms“ trägt, unter- gut der Mäuse im Laufe von drei Millionen Jahren sucht mit seinem Team inzwischen in größerer verändert hat und inwieweit diese Veränderungen Breite, wie Genveränderungen in Anpassung an verwandte Mausarten voneinander trennen – oder Mäuse ab zum Wiegen! Die Untersuchungen lieferten – beinahe nebenbei Gut ein Jahrhundert nach der Entdeckung der insel- wechselnde Umweltbedingungen mechanistisch auch nicht. In der Vergangenheit stellte das für Einer der Nager von – eine weitere Überraschung. „Die Mäuse der Färöer gebundenen Riesenmäuse (1904) weiß man nun zustande kommen. die Forscher eine besondere Herausforderung dar, den Färöer-Inseln mit wurden lange als eigene Untergattung angesehen“, einiges über deren Hang und Drang zum Gigan- da gerade jene Erbfaktoren, die sich für Spezifizie- „Normalgewicht“ bringt berichtet der Biologe. „Doch Genanalysen zeigen, tismus – und auch, dass seit Hunderten Jahren Dass man mit Frank Chan offenbar dem Richtigen rungen eignen, nicht gattungsübergreifend funk- sogar etwas mehr Gewicht dass es sich um einen Mix aus zwei in Europa ver- ein gleichsam unsichtbares Tauziehen zwischen in jungen Jahren wissenschaftliche Verantwor- tionieren. Der Grund: Die Nachkommen aus Ver- auf die Waage als fünf breiteten Mäusegattungen handelt: Mus musculus immer wieder anders zum Zuge kommenden tung übertragen hat, stellte er erst jüngst wieder paarungen verschiedener Tiergattungen oder der unserer heimischen Haus- musculus und Mus musculus domesticus.“ Das Genen und Gensequenzen zweier Unterarten die- unter Beweis. 2015 erhielt er den Zuschlag für meisten Tierarten sind selbst nicht fortpflanzungs- mäuse. Rechts: Aufnahme folgenreiche Aufeinandertreffen der beiden Arten ses Nagers stattfindet, das zur Patchwork-Maus auf ein hoch dotiertes EU-Projekt. „Der Europäische fähig – man kennt das von Muli oder Maultier als einer Maus mit Riesen- fand Simulationen zufolge vor etwa 650 bis 350 den Färöern geführt hat. Warum die Tiere jedoch Forschungsrat ERC hat uns eine Förderung von Resultat einer Verpaarung von Pferd und Esel. wuchs mittels Mikro- Jahren statt. Ein Szenario, das gut zu historischen derart schnell so groß wurden, weiß man nicht. Computertomografie. Daten passt. Denn bis 1380 kontrollierten Wikinger das Archipel; sie brachten aus ihrer Heimat Nor- wegen vermutlich die Domesticus-Variante mit. Der „Initiative Evolutionsbiologie“ der Interessantes Zuhause: Dann übernahmen Dänen die Inselgruppe und mit Stiftung als Karrierebeschleuniger Die Wildmäuse von den ihnen reisten offenbar die vor allem in der Kopen- Färöer-Inseln leben in hagener Region verbreiteten Musculus-Mäuse ein. In einem ganz anderen Sinne „groß“ wurde im Frank Chans Labor in Beide Gattungen zeugten problemlos miteinander Übrigen auch Frank Chan. Denn das von der Stif- Eierpappen. 2009 hatte Nachwuchs – anders als das eben auf dem Festland tung geförderte Projekt gab nicht nur dem einzig- er sich länger zu For- möglich ist, wo beide Arten streng voneinander artigen Forschungsthema einen kräftigen Schub, schungszwecken auf den getrennt vorkommen. sondern auch Chans wissenschaftlicher Karriere. Inseln hoch im Norden Der aus Hongkong stammende Wissenschaftler aufgehalten und Mäuse „Auf der Insel konnten sich die reinen Arten reüssierte in der Max-Planck-Gesellschaft schnell von dort mitgebracht. wegen der vermutlich geringen Zahl eingeschlepp- vom Postdoktoranden zum Leiter einer eigenen ter Ausgangstiere nur durch Inzucht vermehren Forschergruppe. Seit zwei Jahren arbeitet er nun und profitierten vom frischen Erbgut der anderen bereits am renommierten Friedrich-Miescher- Art“, vermutet Chan. Die Mäusemischlinge waren Laboratorium (FML), das 1969 von der Max-Planck- offenbar robuster und weniger anfällig für Krank- Gesellschaft zur Förderung des wissenschaftli- heiten und haben sich schließlich durchgesetzt. chen Nachwuchses gegründet wurde.

92 Impulse 01_2016 93 Chan will diese Schwierigkeiten beiseiteräumen. Die Ergebnisse seiner Forschung spielen deshalb Dr. Susanne Landis im Spätsommer 2011 bei der Er nutzt die neuesten Techniken der Stammzell- auch für das Leben auf dem Festland eine wichti- „Feldforschung“ in den Gewässern um Gotland, und Entwicklungsbiologie, um die Gene der Maus- ge Rolle, wo rasante Umweltveränderungen wie Schweden. Damals startete ihr Forschungsprojekt arten optimal analysieren zu können. „Wir wer- der Klimawandel enorme Anpassungsleistungen „Wettrüsten unter Wasser“. Wie entwickelt sich den uns damit beschäftigen, welche genetischen von allem Lebendigen bereits jetzt erfordern – parasitäres Zusammenleben zwischen einem Fisch Veränderungen zur Entstehung einer Art beitra- eine Entwicklung, die sich möglicherweise noch und dessen Peiniger, einem Saugwurm? gen, aber dieses Projekt hat auch das Potenzial, verstärkt. Unter Umständen könnten die Erkennt- Und: Welchen Einfluss hat die Klimaerwärmung? Behandlungsmethoden gegen Unfruchtbarkeit zu nisse sogar helfen abzuschätzen, was geschieht, Profitiert einer von beiden? Jetzt ist das seinerzeit finden“, wirft er mutig den Blick voraus. Für ihn wenn Ökosysteme etwa durch klimatische Verän- am GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanfor- ist das Thema eben noch längst nicht ausgereizt, derungen regelrecht durcheinander geraten, sagt schung in Kiel angebundene Projekt beendet. Was auch weil Verzwergung und Gigantismus nur ein er: „Mal sehen, was wir aus dem ‚Gesetz der Insel‘ es auszeichnete und was dabei herauskam – dazu Beispiel für genetische Anpassungsprozesse sind. noch alles ableiten werden!“  mehr im Text unten auf dieser Doppelseite.

i Im Gegenzug optimiert der infizierte Wirt seine merem Wasser schneller vermehren. Eine bedenk- Wettrüsten unter Wasser Abwehrmethoden. Gut denkbar also, dass sich der liche Erkenntnis, denn beide Effekte zusammenge- Klimawandel auf dieses Wechselspiel auswirkt und nommen könnten Landis’ ­Einschätzungen zufolge Bei dem Forschungsprojekt von Dr. Susanne Landis­ Man kann es wohl kaum als harmonische Unter- einer der beiden ungleichen Partner mehr von einer ganze Fischpopulationen gefährden. sind mögliche Umweltveränderungen konkreter­ wasserbeziehung bezeichnen: Saugwürmer nutzen klimabedingten Temperaturerhöhung oder von von Bedeutung: Die junge Wissenschaftlerin unter- Grasnadeln als Durchgangsstation auf dem Weg in Wetterextremen profitiert als der andere. Es gibt aber auch Hoffnungsschimmer. Schließlich

Weitere Projekte Weitere suchte im Rahmen ihrer Doktorarbeit am GEOMAR den Körper des Endwirtes, einem Seevogel, der den sind Grasnadeln mobil und könnten künftig einfach Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel und Fisch samt Parasiten frisst. Im Vogel können sie sich Landis’ Wahl fiel nicht zuletzt deshalb auf die in kühlere Gewässer fliehen. Landis’ Laborexperi- der Universität Uppsala in Schweden, wie sich der schließlich sexuell fortpflanzen. Wie alle parasitären Grasnadel als Wirtsorganismus, weil sich deren mente zeigen, dass vor allem infizierte Fische genau Klimawandel auf das parasitäre Zusammenleben Beziehungen ist auch jene zwischen Wurm und Verbreitungsgebiet von ausgesprochen kaltem dies auch tun. Der Umzug in die Kälte zahlt sich von Grasnadel-Fischen und Saugwürmern auswir- Fisch von einem stetigen Wettrüsten geprägt. Der Meerwasser vor der Küste Norwegens bis in deut- gleich doppelt aus. Die Tiere werden schneller wie- ken könnte. Die VolkswagenStiftung förderte Lan- Parasit verbessert immer wieder seine Angriffsme- lich wärmere Gefilde vor Südportugal erstreckt. Die der gesund, und das Risiko für eine Neuinfektion ist dis’ Arbeiten ebenfalls in der „Initiative Evolutions- chanismen, um den Zielorganismus noch effektiver Forscherin eruierte in ausgedehnten Feldstudien niedriger. Und wenn es um die Nachkommen geht, biologie“ über einen Zeitraum von fünf Jahren. auszunutzen und sich weiter verbreiten zu können. an Fischen aus verschiedenen Temperaturzonen, ob haben die Fische offenbar ebenfalls Strategien ent- und wie sich das System aus Wirt und Parasit als wickelt. So paaren sich kranke Grasnadel-Weibchen Anpassung an die Wassertemperatur entwickelt Landis’ Untersuchungen zufolge nur mit gesunden hat, wie stark die Fische der jeweiligen­ Bestände männlichen Artgenossen. Und die Chancen stehen vom Parasiten befallen sind und wie sich beide gut, dass sich diese Art der Partnerwahl positiv auf Organismen genetisch verändert haben. Außer- die Fitness der nächsten Generation auswirkt. dem stellte sie in Laborexperimenten die für das laufende Jahrhundert prognostizierte Erwärmung Die Arbeit der jungen Forscherin führt somit auf nach und untersuchte, wie sich das sowohl auf das mehreren Ebenen zu einem besseren Verständnis Verhalten als auch das Erbgut von Parasit und Wirt der Anpassungsmechanismen in Parasit-Wirt- auswirkte. Und sie bestimmte die Vermehrungs- Beziehungen, die ja nicht zuletzt Grundlage vieler sowie die Infektionsraten. Infektionen sind und deshalb nicht nur für die Susanne Landis’ Unterwasserwelt von Bedeutung. Auf dem Festland Modellorganismus ist Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass etwa kli- ist aufgrund des Klimawandels ebenfalls mit einer die Grasnadel, Sygna- mawandelbedingte Hitzewellen die lokalen Anpas- Zunahme von Infektionskrankheiten zu rechnen, thus typhle. Die klei- sungsfähigkeiten von Wirt und Parasit offenbar die nicht nur die Gesundheit von Menschen, son- nen schlanken Kno- nicht beeinflussen werden. Sie zeigen aber auch, dern auch die Artenvielfalt und ganze Ökosysteme chenfische kommen in dass hohe Temperaturen die Immunantwort der gefährden könnten. vielen Meeren vor. Grasnadel schwächen und sich Saugwürmer in wär- Andrea Hoferichter

94 Impulse 01_2016 95 Schwerpunktthema

Ins Blaue hinein | INSELN

Inseln der Evolution

Weshalb entstehen aus einer Tierart zwei, ohne dass die Lebensräume bei- Amphiplophus amarillo Amphilophus chancho der Arten – etwa durch tektonische Verwerfungen oder einbrechendes Wasser – voneinander getrennt wer- den? Solche Vorgänge laufen sogar im offenen Meer ab, aber auch an- derswo. Bei der Suche nach Ant- worten auf diese Frage helfen Bunt- barscharten, Salamander vor unserer Amphilophus xiloaensis Amphilophus astorquii Haustür oder Echsen auf Inseln, die eigentlich Berge sind. Eine Geschichte darüber, wie Arten entstehen – ohne scheinbar triftigen Grund.

Zwei mal drei Midas-Buntbarscharten, die sich in den beiden nicaraguanischen Kraterseen Xiloá und Apoyo an veränderte Lebensbedingungen angepasst haben und Amphilophus sagittae Amphilophus zaliosus von jeweils einer Art abstammen. Wie konnte das geschehen, fragen zwei Forsche- rinnen? Man erkennt sofort an Körperbau und Kieferform, dass es sich bei den Fischen im Xiloá-See ebenso um drei Arten handeln muss mit ihren unterschiedlichen Buntbarsche Lake Xiloá Buntbarsche Lake Apoyo Ansprüchen an Lebensraum und Ernährung wie bei den Barschen im Apoyo-See.

Impulse 01_2016 97 Text: Jo Schilling Fotos: Christoph Edelhoff (Projekt Roth) // Miguel Landestoy (Projekt Wollenberg)

Noch liegt vieles im Dunkeln darüber, weshalb aus einer Art auch dann zwei neue entstehen, wenn nichts den twa 10.000 bis 20.000 Jahre alt sind zwei Die Erforschung dieses un- Auf der Suche nach auslösenden Faktoren hat Lebensraum derart schlagar- Dr. Olivia Roths Modell- EVulkankraterseen in Nicaragua, der Xiloá und gewöhnlich schnell verlau- Marta Barluenga den Rotlichtanteil im Lichtspek- tig verändert wie beispiels- organismus ist die der Apoyo. In diesen geologisch jungen und recht fenden Artbildungsprozesses trum des Wassers im Visier, der mit zunehmender weise eindringendes Wasser Seenadel. Wir sehen kleinen Seen leben Fische, die der Schlüssel zum fördert die Stiftung als „Koope- Tiefe abnimmt. Sie analysiert jenes Gen, das bei oder tiefe lange Erdspalten in sie hier beim frischen Verständnis sympatrischer Artbildung sein könn- rationsmodul Europaförderung“, angebunden an den Fischen den Proteinanteil des Sehpigments Folge eines Erdbebens. Fang der kleinen Fische ten, bei der sich eine Art in zwei neue „aufspaltet“, die Projektarbeiten von Dr. Olivia Roth vom GEO- Opsin für die Farbe Rot kodiert. Erste Ergebnisse im November in der ohne dass die Lebensräume der neuen Arten MAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel. im Vergleich der Arten deuten einen Zusammen- Kieler Förde. Ebenso voneinander getrennt sind. Bereits seit zehn Jah- Sie ist Partnerin in dem spanisch-deutschen Ver- hang an zwischen dem Lichtspektrum des Lebens- wie ihre – mit einem ren erforscht Dr. Marta Barluenga vom Museo bundvorhaben „The Driving Forces For Sympatric raumes und der für das Sehpigment einer jeweili- „Europamodul-Projekt“ Nacional de Ciencias Naturales in Madrid diese Speciation in Nicaragua Crater Lake Cichlids“. gen Fischart kodierenden Gensequenz. Marta Barluenga bieten die angedockte – Forscher- Prozesse: „Innerhalb des Xiloá und Apoyo sind vielen Fragen zur Artentste- kollegin Dr. Marta ohne räumliche Trennung in sehr kurzer Zeit Gehen wir 20.000 Jahre zurück: Die Vulkane sind Olivia Roth hat Vergleichbares zu berichten: Sie hung genug Anreiz, dem The- Barluenga arbeitet sie neue Buntbarscharten entstanden, die lediglich in erloschen, die Krater zwischen Nicaragua- und wies nach, dass sich die Besiedlung der Haut der ma nachzugehen. Oder bes- aber auch an Barschen. unterschiedlichen Zonen desselben Sees leben.“ Managuasee füllen sich mit Wasser. Durch Stürme Buntbarsche mit Mikroorganismen zwischen den ser: nachzupaddeln – wie hier und tektonische Aktivität entstehen für kurze Zeit Arten eines Sees und je nach See unterscheidet. im Winter 2012 auf dem Lake Verbindungen zwischen den großen Seen und den „Jetzt analysiere ich das Mikrobiom von Haut und Managua, einem der Krater- Kratern. Damit gelangen Fische in die Kraterseen. Darm der einzelnen Barscharten mit Blick auf seen vulkanischen Ursprungs Statt im trüben, flachen Süßwasser schwimmen Lebensraum und Nahrungsquelle.“ Sowohl hinter mit reichem Barschbestand. sie nun in leicht salzigem, sehr tiefem und klarem der Opsin- als auch der Mikrobiom-Analyse steckt Wasser. Unter den Fischen befinden sich auch die Frage: Sind die Veränderungen Auslöser für die Midas-Buntbarsche, die als Generalisten gelten. Aufspaltung oder lediglich deren Folge? Den Weg Machen wir einen kleinen Sprung von den Vul- Und nun geht alles sehr rasant – aus Evolutions- zur Antwort pflastern Tausende noch zu untersu- kankraterseen Nicaraguas zu den Bergketten im biologensicht. Einige Fischarten überleben nicht. chende Proben, die die Forscherinnen von ihren karibischen Hispaniola – ein Gebiet, das nicht Andere haben sich bis heute nicht verändert. Ein- Expeditionen nach Nicaragua mitgebracht haben. zuletzt durch die erfolgreiche Arbeit von Kathari- zig beim Midas-Buntbarsch erfolgte eine Anpas- na Wollenberg-Valero in den vergangenen Jahren sung an die veränderten Lebensbedingungen: in den Fokus der Wissenschaft gerückt ist. Ihr Sowohl im Kratersee Xiloá als auch im Apoyo-See Isolation führt zur Artentwicklung Engagement führte die von der VolkswagenStif- enstanden aus einer Hauptart jeweils drei neue tung ebenfalls in der „Initiative Evolutionsbiolo- Arten. Diesen Prozess versuchen die Forscherinnen Ob Kratersee in Mittelamerika oder Berglandschaft gie“ unterstützte Forscherin in wenigen Jahren zu verstehen: Weshalb haben sich die Midas-Bunt- in der Karibik, sympatrische Artbildung ist ein auf eine Professur für Biologie an der Bethune- barsche so schnell angepasst und alle anderen „Inselphänomen“. Allerdings ist hier der Begriff Cookman University in Daytona Beach, Florida, Fischarten nicht, obwohl sie unter exakt denselben „Insel“ nicht im landläufigen, lexikalischen Sinne USA. Katharina Wollenberg-Valero, seinerzeit Bedingungen dorthin gekommen sind? zu verstehen – die Insel als eine in einem Meer ausgestattet mit einer Postdoktorandenförderung oder Gewässer liegende, auch bei Hochwasser über 270.000 Euro, forscht an der Grenze, an der Olivia Roth erkennt schon an Körperbau und ­Kie- über den Wasserspiegel hinausragende Landmas- eine Art beginnt, sich in neue Arten aufzuspalten. ferform, dass es sich bei Amphilophus amarillo, se, die vollständig von Wasser umgeben, jedoch Amphilophus xiloaensis und Amphilophus sagittae kein Kontinent ist. Für Evolutionsforscher können Vor fünf Jahren startete die Evolutionsbiologin im Xiloá-See um drei Arten handeln muss mit Inseln auch Areale sein, auf oder in denen Prozesse ihre wissenschaftliche Entdeckungsreise auf unterschiedlichen Ansprüchen an Lebensraum jeweils ähnlich ablaufen: eben zum Beispiel die der karibischen Insel Hispaniola. Dort fing sie und Ernährung. Gleiches gilt für Amphilophus Entstehung von Arten. Die Kraterseen Xiloá und grünbraun­farbene, etwa handgroße Dickkopf- astorquii, Amphilophus chancho und Amphilo- Apoyo sind solche evolutionsbiologischen Inseln. Anolis-Echsen. In nur wenigen Wochen sammelte phus zaliosus im Apoyo-See. Die einen leben auf Und auch Inselberge an Land gibt es, die – ver- sie entlang mehrerer bis zu 400 Kilometer langer dem Grund, andere frei im Wasser schwimmend gleichbar Eilanden im Meer – weitgehend abge- Transekten – geraden Linien, die über Stock und oder inmitten von Wasserpflanzen. Ziehen die For- schottet von der Umgebung sind und bei denen Stein führen – zahlreiche Tiere ein und katalogi- scher jedoch ein Netz an beliebiger Stelle durch das Entstehungsprozesse neuer Arten vergleichbar sierte sie. Etwa zehn männliche Echsen an jedem Wasser, finden sie darin stets alle drei Arten vor. ablaufen: Berggipfel in Regenwäldern etwa. Punkt. Mal im Tal am Rand einer Schotterstraße,

Impulse 01_2016 99 mal per Maultierexpedition auf knapp 3000 Welchen Einfluss aber haben solche und andere Auch Katharina Wollenberg- Metern Höhe. Ziel dieser Sammelaktion war es Faktoren auf die gerade ablaufende Aufspaltung Valero will herausfinden, zu verstehen, wie sich die Echsen in verschiedene einer Art? Nachgewiesen ist: In den Tälern vor- wann eine Art unter welchen Arten aufspalten. Dass dies bei den Dickkopf- kommende Tiere unter­scheiden sich genetisch Bedingungen anfängt, sich in Anolis gerade der Fall ist, verraten den Wissen­ bereits deutlich von jenen, die auf den auseinan- zwei neue aufzuspalten. Ihre schaftlern deren Gene. derliegenden Bergkuppen oder an den Hängen Untersuchungsobjekte, die leben. Jene hingegen ähneln sich überraschender­ Dickkopf-Anolis-Echsen, leben Echsen angeln in der Katharina Wollenbergs zentrale Frage lautete: weise sehr. „Offiziell handelt es sich noch um eine auf der Karibikinsel Hispaniola. Karibik. Die Evolutions- „Welche Faktoren beeinflussen die Artbildung Art, aber im Vergleich mit anderen Anolis-Arten Mit aller Vorsicht wirft die forscherin Katharina der Dickkopf-Anolis – eine Artbildung, die offen- könnten die Dickkopf-Anolis in den Tälern als Biologin einen ersten Blick auf Wollenberg-Valero, inzwi- sichtlich stattfindet ohne eine strikte räumliche eigene Art gegenüber den Tieren auf den Kuppen ein für kurze Zeit gefangenes schen Professorin in den Trennung?“ Ihr Augenmerk galt vor allem der angesehen werden“, sagt die Evolutionsbiologin. Exemplar, bevor dann weitere USA, nimmt Gewebepro- Geomorphologie, der Struktur des Geländes. Auf Untersuchungen anstehen. ben von auf Hispaniola Hispaniola liegen fünf große Bergketten mit den Diesen „Inseleffekt eigener Art“ bestmöglich zu lebenden Dickkopf-Anolis. höchsten Bergen der Karibik nahezu parallel verstehen, sammelte sie alle Daten, derer sie hab- Das Material unterzog sie zueinander. Die Dickkopf-Anolis leben überall: auf haft werden konnte. Wo sitzt die Echse: auf einem Einige schläferte sie sogar ein und nahm sie mit Der Erfolg von Katharina Wollenberg-Valero hat später in ihrem damali- den Bergkuppen und in den Tälern. Der Lebens- Ast oder einem Stein? Im offenen Gelände oder im in ihr damaliges „Gastlabor“ in die USA. Aus nicht zuletzt ihre wissenschaftliche Karriere zügig gen „Gastlabor“ an der raum der einzelnen Tiere ist auf einen kleinen Wald? Wie belaubt ist der Wald? Wie ist das Wetter? Deutschland fast frisch von der Uni kommend, vorangebracht, und er steht zugleich beispielhaft Harvard University in Radius von wenigen zehn Metern begrenzt. Auf- Was sieht sie sonst in der Umgebung? Welche Farbe hatte die angehende Doktorandin keine geringe- für das gelungene Engagement der Volkswagen- Boston, USA, genetischen fällig ist, dass die Tiere ausgeprägte Vorlieben hat der Kehllappen der Dickkopf-Anolis? Wie dick re als die Harvard University in Boston, USA, als Stiftung zur Evolutionsbiologie insgesamt: Rund und molekulargeneti- haben: Manche sitzen besonders gern auf einem ist deren Kopf? 500 Tiere wurden gewogen, vermes- Heimatbasis für ihre Forschung auf Hispaniola hundert exzellente junge Evolutionsbiologen schen Analysen. Felsen, andere fühlen sich auf Ästen am wohlsten. sen – so viele Daten wie möglich vor Ort erfasst. gewinnen können. Zwischenzeitlich zog es sie an förderte sie zwischen 2005 und 2014. Einige von renommierte Lehrstühle für Zoologie und Evoluti- ihnen wie Dr. Olivia Roth vom GEOMAR in Kiel onsbiologie in Konstanz, Trier und Braunschweig beeindruckten die regelmäßig aus aller Welt zur – bevor sie der Ruf auf die Professur in Florida Begutachtung der Projektanträge angereisten erreichte. Experten gar derart, dass sie gleich mehrfach mit ihren Ideen für Forschungsvorhaben bei der Ein- In Harvard röntgte sie die mitgebrachten Echsen, werbung von ­Fördergeldern erfolgreich waren. vermaß deren Knochenbau, nahm Gewebe für die genetischen Analysen ab, untersuchte zu guter Letzt noch die Füße der Echsen. Wie Geckos haben Der Erfolg der einen Forscherin befördert den der Anolis-Echsen Lamellen unter den Zehen, mit anderen: Evolutionsbiologie trifft Europa denen sie auf glatten Oberflächen haften können. Die Struktur dieser Lamellen ist ein wichtiges Olivia Roths Hauptinteresse galt in mehreren von Unterscheidungsmerkmal der einzelnen Dickkopf- der Stiftung geförderten Projekten einer weiteren Anolis-Typen. Sämtliche Angaben zu den gefan- zentralen Grundannahme der Biologie: „Batemans genen Echsen speiste sie in Datenbanken ein und Prinzip“. Es besagt, dass weibliche Tiere – da sie errechnete Zusammenhänge anhand komplizier- mehr in den Nachwuchs investieren – länger ter Algorithmen. Was dabei herauskam, ließ die leben und dass die elterliche Investition in den Fachwelt aufhorchen. Ihr gelang einer der ersten Nachwuchs mehr an das Geschlecht gebunden ist. klaren Nachweise, die der Lehrbuchmeinung über Daraus abgeleitet galt lange Zeit, dass zumindest die Entstehung und Aufspaltung von Arten beleg- bei Wirbeltieren Weibchen generell das stärkere bar und reproduzierbar widersprach. Inzwischen Immunsystem haben. Nun konnte sie mehrfach gilt: Artbildung kann auch ohne strikte räumliche zeigen, dass bei bestimmten Arten nicht nur die Barrieren stattfinden. Und eine Insel ist nicht Mütter, sondern auch die Väter das Immunsystem immer eine Landmasse, die aus dem Wasser ragt. ihrer Nachkommen prägen können.

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„Bei der Grasnadel, einer mit den Seepferdchen „Es ist spannend, dass die Evolution bei Menschen Die wiederum ist froh, dass es verwandten Fischart, brüten die Männchen die und Fischen völlig unabhängig voneinander sich ihrer Projektpartnerin gelungen Embryonen aus: in einer Bruttasche. Das ermög- ähnelnde Lösungen hervorgebracht hat“, erläutert ist, das deutsch-spanische Verbund- licht es ihnen offenbar, Immunantworten an ihre Roth. Dass zudem gleichermaßen Männchen bei vorhaben als „Kooperationsmodul Europaförde- Nachkommen weiterzugeben“, erklärt Roth. „Und: ihrer Nachkommenschaft Immunantworten zu rung“ auf den Weg zu bringen. Und so treffen sich Bestimmte Teile dieses Systems werden sogar erzeugen und sogar zu steigern vermögen, vermu- hier zwei Erfolgsgeschichten: die der kurzfristigen allein durch die Väter gestärkt, wenn diese zuvor tet sie noch bei weiteren Arten, bei denen dieses Unterstützung exzellenter Wissenschaftler in Krankheitserregern ausgesetzt waren.“ Die Ergeb- Geschlecht die Brutpflege übernimmt. Womit wir jenen Ländern Europas, die zeitweilig in schwe- nisse der Evolutionsbiologin deuten nun darauf wieder bei den Buntbarschen sind, bei denen die rem Wasser segelten – und die vielen kleinen und hin, dass eine der Plazenta vergleichbare Struktur Männchen die Eier ausbrüten – sogar im Maul großen Forschungserfolge aus dem nachhaltigen in der Bruttasche der männlichen Grasnadeln für bei vielen Arten. Experimente sollen nun zeigen, Stiftungsengagement für die Evolutionsbiologie. den Transfer der Immunantwort verantwortlich inwieweit die vorliegenden Erkenntnisse auch für Mit teils bahnbrechenden wissenschaftlichen ist. „Die Embryonen sind in der Bruttasche auf diese Fische gelten, mit denen sich Forscherkolle- Erkenntnissen auf der Habenseite kann diese fast ähnliche Weise mit dem Vater verbunden wie gin Dr. Marta Barluenga seit zehn Jahren in den ein Jahrzehnt lang laufende Initiative als eine der Babys über den Mutterkuchen mit der Mutter.“ Kraterseen Nicaraguas beschäftigt. ertragreichsten der Stiftungsgeschichte gelten. 

Dr. Olivia Roth erforscht an den i kleinen schlanken Feuersalamander auf Der Nachwuchs von Salamandra salamandra Womit wir im Kottenforst bei Bonn wären. Dort Damit sind die Salamander aus dem tief im Westen Seenadeln exempla- schlüpft – anders als in Amphibienkreisen sonst leben zwei Formen des klassischen gefleckten Feuer- Deutschlands gelegenen Waldstück ein seltenes Bei- risch die Evolution Trennungskurs üblich – nicht aus abgelegtem Laich. Hingegen kom- salamanders. Sie unterscheiden sich äußerlich kaum, spiel für sogenannte sympatrische Artbildung, bei des Immunsystems. men die Jungtiere nach einer Tragzeit von rund acht hingegen deutlich in ihren Fortpflanzungsstrategien. der sich eine Ursprungsart innerhalb eines gemein- Die Besonderheit Dass schwer überwindbare Erdspalten, Flussschlei- Monaten bereits weit entwickelt zur Welt. Kleine „Während die eine ganz lehrbuchgemäß sauerstoff- samen Lebensraumes in zwei Arten aufteilt. Es bei diesen Fischen: fen oder Berghügel die Entfremdung von Tieren Waldgewässer sind die Kinderzimmer dieser noch reiche Bäche und Quellen für die Geburt aufsucht, erweitert das auf Darwin zurückgehende Verständ- Hier brüten die

Weitere Projekte Weitere einer Art fördern, leuchtet ein. Wie aber Tierpopula- mit Kiemen atmenden Larven – zumindest in unse- entlässt die zweite Form ihre Jungen nach Art man- nis einer gemeinhin allopatrischen Entstehung von Männchen die tionen ohne räumliche Trennung an einen solchen ren Breiten. Andernorts verzichten manche Unter- cher Flachlandsalamander in kleine Stehgewässer, Arten, bei der sich eine Art in geografisch getrennte Embryonen aus und Punkt ohne Wiederkehr gelangen können, ist für arten sogar ganz auf Feuchtgebiete wie der in Nord- Gräben oder Traktorspuren“, erläutert der Biologe. Populationen aufteilt, die sich mehr und mehr aus- sind so dasjenige Evolutionsbiologen noch immer nicht geklärt. Für spanien beheimatete Oviedo-Feuersalamander oder Zudem seien die Larven dieser Tümpelvariante nicht einanderentwickeln. Unter dem Einfluss selektionie- Geschlecht, das die Dr. Sebastian Steinfartz vom Arbeitsbereich Mole- der schwarze Alpensalamander; beide bringen ihre nur an einen geringeren Sauerstoffgehalt und ande- render Faktoren entstehen schließlich eigenständige Herausbildung des kulare Ökologie und Verhalten der Universität Bie- wenigen Jungtiere vollständig ausgebildet an Land re Futtertiere angepasst, sondern ausgereifter. Droht Spezies, die sich nicht mehr vereinen können. Immunsystems bei lefeld ist diese Frage und offene Flanke Anregung zur Welt. „Das zeigt bereits, dass sich in der jüngsten eine Austrocknung ihres Gewässers, können sie sich den Nachkommen genug, die Feuersalamander im Kottenforst nahe Salamander-Evolution je nach Verfügbarkeit geeig- schneller in landlebende Jungsalamander verwan- „Im Fall der Bonner Feuersalamander ist denkbar, beeinflusst. Bonn näher zu betrachten – insbesondere deren neter Gewässer unterschiedliche Fortpflanzungs- deln. „Diese Unterschiede sind selbst dann noch zu dass natürliche Auslese gleichermaßen sowohl die Fortpflanzungsstrategien. strategien herausgebildet haben“, sagt Steinfartz. erkennen, wenn man Tiere beider Typen unter iden- eine als auch die andere Fortpflanzungsform för- tischen Bedingungen aufzieht. Sie sind also nicht nur dert, es aber keinen goldenen evolutorischen Mittel- das Ergebnis verschiedener Umweltbedingungen, weg gibt“, erläutert Steinfartz. Anhand seiner Daten Nacktschnecken und sondern offensichtlich genetisch fixiert“, erklärt konnte er zeigen, dass der Genfluss zwischen beiden Würmer sind die Steinfartz. Wie aber kann das sein? Lurchtypen weitgehend versiegt ist. Eine Vermi- bevorzugte Beute der schung würden die sich äußerlich gleichenden, im Feuersalamander; Eine abweichende genetische Ausstattung würde selben Gebiet lebenden Amphibien vermutlich ver- eines der Tiere läuft nun bedeuten, dass sich die zwei Formen im Kot- meiden über wechselseitige Geruchserkennung. Für hier gerade Impulse- tenforst kaum noch miteinander kreuzen und dass diese Hypothese sprächen die ersten Ergebnisse aus Redakteur Christian sie auf dem besten Weg sind, eigenständige Arten Versuchen zur Geruchspräferenz beider Geschlech- Jung auf dem Dolo- zu werden. Diese Vermutung konnte der von der ter. Die Evolution des Feuersalamanders schreitet miten-Höhenwander- Stiftung in der Initiative „Evolutionsbiologie“ geför- also voran. „Die Abgrenzungen sind aber nicht ein- weg vor die Füße. derte Steinfartz mithilfe genetischer und verhal- deutig und in Bewegung“, schließt Steinfartz. tensbiologischer Studien bestätigen. Christian Jung

102 Impulse 01_2016 103 Aus der Wissenschaftsförderung der Stiftung: Auszeichnungen Forum und neue Bewilligungen

Archiv zur Dokumentation bedrohter Sprachen ist „Memory of the World“

UNESCO zählt Sprachenarchiv zum Weltgedächtnis. VolkswagenStiftung hat zur Erforschung seltener Sprachen und deren kulturellen Kontext in anderthalb Jahrzehnten knapp 30 Millionen Euro auf allen fünf Kontinenten bereitgestellt.

Ein kleiner Blick auf die Anerkennung für die Initiative zur Dokumenta- zeichnung: die dokumentierenden Wissenschaft- Vielfalt der Sprachen tion bedrohter Sprachen (DobeS): Teile des aus ler in aller Welt, die Softwareexperten in Nijme- dieser Welt, auf Forscher einer langjährigen Förderung hervorgegangenen gen und natürlich auch die Förderer in Hannover. und Sprecher, die Teile „The Language Archive“ (TLA) am Max-Planck- Eine Übersicht über die DobeS-Projekte findet sich dieses kulturellen Institut für Psycholinguistik in Nijmegen wurden unter  http://dobes.mpi.nl/projects/. Gedächtnisses vor dem jetzt von der UNESCO in das bedeutende „Memory Ausblassen bewahren: of the World“-Register aufgenommen. Diese 64 DobeS-Projekt im Videoblog sciencemovies Das Herz der DoBeS- Sammlungen dokumentieren 102 verschiedene Für den Videoblog sciencemovies dokumentierte Initiative schlägt Sprachen, die nur noch von kleinen Sprecherge- die junge Anthropologin Soraya Hosni gemein- im Spracharchiv im meinschaften genutzt werden. Sie sind vielfach sam mit ihren Kolleginnen Kilu von Prince und Max-Planck-Institut dem Untergang geweiht. Susanne Fuchs die vom Aussterben bedrohte für Psycholinguistik Sprache Daakaka auf der Südseeinsel Ambrym. im niederländischen Durch die Analyse und Beschreibung ihres Wort- Die Wissenschaftlerinnen gehören zur Arbeits- Nijmegen (oben rechts). schatzes und der Grammatik, vor allem auch gruppe von Professor Manfred Krifka vom Zen- Bei den Trumai in Bra- durch die Aufzeichnung der Sprachpraxis und trum für Allgemeine Sprachwissenschaft in Berlin silien dokumentieren ihrer kulturellen Kontexte in umfassenden audio- (ZAS). Hosnis beeindruckende Kurzfilme „Wer Einheimische inzwi- visuellen Materialen bleiben die Sprachen dem spricht noch Daakaka?“ sind zu sehen unter schen selbst mit Kamera Gedächtnis der Welt erhalten und sind auch in www.sciencemovies.de/de/07_wer_spricht_noch_ und Audiorekorder ihre Zukunft zum Beispiel für die Wissenschaft nutz- daakaka Sprache (oben links). bar. Die Sammlungen – bei einzelnen Materialien Namibia: Ihre Mutter- ist eine Registrierung oder Zugangserlaubnis Broschüre „Bedrohte Sprachen“ sprache Akhoe-Hai// erforderlich – sind abrufbar über folgenden Link: Unter dem Titel „Bedrohte Sprachen. Warum om sprechen Kinder  https://corpus1.mpi.nl/ds/asv/?0 die Vielfalt stirbt – und wie Forscher kulturelles nur noch in der Familie; Wissen vor dem Vergessen retten“ geben Wissen­ Forscher Thomas Widlok Die VolkswagenStiftung hatte die Initiative „Doku- schafts­journalistinnen und Sprachforscher viele zeigt ihnen erste Auf- mentation bedrohter Sprachen“ (DobeS) im Jahr spannende Eindrücke in Projekte der DoBeS-Initia- nahmen (Mitte, rechts). 1999 eingerichtet und ermöglichte in rund 15 tive – und man erfährt darüber hinaus jede Menge Bei vielen Dokumenta- Jahren mit knapp 30 Millionen Euro Sprachdoku- mehr über das Thema: die Sprachen, die Men- tionsvorhaben spielt die mentationsprojekte auf allen fünf Kontinenten. schen, die sie sprechen, ihre Kulturen; ihre Welt. Bezeichnung von Tieren Das digitale Herzstück des DobeS-Archivs wurde Die Publikation steht zum Download bereit unter und Pflanzen, vor allem am Max-Planck-Institut in Nijmegen entwickelt www.volkswagenstiftung.de/fileadmin/ Bäumen, eine wichtige und bildet heute auch den Kern des TLA. Dass das downloads/publikationen/Bedrohte-Sprachen.pdf Rolle – wie etwa bei den Sprachenarchiv nun zum Weltgedächtnis zählt, Tima im Sudan. empfinden alle Beteiligten als eine große Aus- Barbara Riegler

104 Neue Bewilligungen der Stiftung Forum Förderung – und Auszeichnungen

Mit Ideen überraschen und mit frischer Forschung: Wie wirkt eigentlich die sogenannte Entwicklungshilfe Das Jahr 2015 stellt sieben neue „Freigeister“ aus. – oder auch: Warum wirkt sie oft nicht wie erhofft?

Sieben auf einen Streich: So viele Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissen- Mehr Konzentration auf die ländlichen Räume; mehr Zuhören und Wahrnehmen,­­ was die dort schaftler setzten sich im letztjährigen Wettbewerb unter 140 Konkurrenten um eines der lebende Bevölkerung denkt, sagt, vorschlägt: ein erster großer Schritt, damit Unterstützung auf begehrten Fellowships durch. – Die Universität Frankfurt am Main profitiert gleich zweifach. einen fruchtbaren Boden fällt? Forscher aus Bremen und München proben einen neuen Ansatz.

Sie sind die Freigeist-Fellows des Jahres 2015 (von links): Dr. Wenjia Song, Dr. Sidonie Kellerer, Dr. Christina Büsing, Dr. Matthias Goldmann, Dr. Nikolaus Gestrich, Dr. Patricia Kanngießer, Dr. Tristan Petit. Entwicklungshilfe auf der langen Zeitschiene betrachtet: Professorin Dr. Corinna Unger von der Jacobs University Bremen und Professor Dr. Marc Frey von der Universität der Bundeswehr München im Nord-Süd-Verbund

Ihr Startschuss ertönte Ende September 2015 Zentrum Berlin für Materialien und Energie GmbH Jährlich werden weltweit geschätzt etwa 120 lich sind die Menschen in ländlichen Regionen mit einer Preisverleihung im Tagungszentrum beschäftigt sich Dr. Tristan Petit mit den Eigen- Milliarden Euro an öffentlichen Mitteln in die direkt von entwicklungspolitischen Maßnahmen Schloss Herrenhausen in Hannover: Sieben neue schaften und Reaktionen von kohlenstoffbasierten Entwicklungszusammenarbeit investiert. Die betroffen: Sie sollen diese akzeptieren, mittragen – „Freigeist-Fellows“ präsentierten sich einer inter- Nanopartikeln. Sein Bestreben ist es, therapeuti- Wirkungen in den Zielregionen sind jedoch oft und letztlich davon profitieren. essierten Öffentlichkeit; sieben Forscherpersön- sche Behandlungen und Eingriffe bei verschiede- anders als von der internationalen Gemeinschaft lichkeiten, die inzwischen längst dabei sind, ihre nen Tumorerkrankungen verbessern zu können. erhofft. Erwartungen und Ergebnisse harmonie- „Wertvolle Eindrücke, Erfahrungswissen und spannenden Ideen in Forschung umzusetzen. ren oft sehr wenig. Ein Grund könnte sein, dass Perspektiven aus dem Alltag jedes einzelnen Die Medizin als Arbeitsfeld und gleichermaßen insbesondere ländliche Regionen und die dort Bewohners in den ländlichen Regionen können Gleich zwei von ihnen zieht es an die Universität der weitgreifende Ansatz im Forschungsvorhaben lebende Bevölkerung nicht ausreichend in die Pro- das Leben dort lebenswerter machen“, sagt Corin- Frankfurt am Main. Dort untersucht nun Dr. Niko- selbst leitet über zu Dr. Christina Büsing mit Stand- zesse einbezogen werden, obwohl gerade sie oft na Unger, Professorin für Moderne Europäische laus Gestrich am Beispiel der „Markadugu“, einem ort RWTH Aachen. Ihr Ziel es ist, mithilfe bestimm- Adressaten der Bemühungen sind. Trifft diese Ver- Geschichte an der Jacobs University in Bremen. Netzwerk ehemaliger Handelsstädte, die Bezie- ter mathematischer Anwendungen, den sogenann- mutung zu? Das interessiert zwei kooperierende Im Fokus des Projekts steht folglich das sinnvoll hung zwischen Staat, Stadt und Handel im vor- ten adaptiv robusten Modellen, die Planbarkeit in Forscherteams um Professorin Dr. Corinna Unger gestaltete Miteinander der verschiedenen sozi- kolonialisierten Westafrika. Am House of Finance der medizinischen Versorgung zu verbessern. von der Jacobs University Bremen und Professor alen Gruppen, die an entwicklungspolitischen der Goethe-Universität analysiert Dr. Matthias Dr. Marc Frey von der Universität der Bundes- Aktionen beteiligt sind. Die Wissenschaftler Goldmann die wechselseitigen Einflüsse und Und schließlich kommt auch der Süden des Landes wehr München. betrachten dabei vor allem deren gegenseitige unterschiedlichen Ebenen des Zusammenwirkens zum Zug. Dr. Sidonie Kellerer möchte künftig an Wahrnehmung sowie die Gestaltung der Kommu- von öffentlichem Recht und Finanzwirtschaft. der Universität Stuttgart Martin Heideggers Reha- Die beteiligten Historiker, Kultur- und Sozialwis- nikationsprozesse zwischen den Akteuren. bilitationsversuchen nach dem Zweiten Weltkrieg senschaftler monieren, dass zu selten ein Transfer Auch die Forschungslandschaft Berlins profitiert und seinem Einfluss auf französische Philosophen moderner Konzepte im Bereich der Landwirtschaft Die VolkswagenStiftung fördert das Forschungs- zweifach. So wird Dr. Patricia Kanngießer an der der Nachkriegszeit auf den Grund gehen. Und von erfolge. Auch werde generell die Perspektive der vorhaben „Entwicklung jenseits der Industrialisie- Freien Universität aus einer kulturvergleichen- der Asche aufs eigene Haupt zu realer: Dr. Wenjia ländlichen Bevölkerung in den Aktionen und Ana- rung: Studien zur internationalen Entwicklungs- den Perspektive heraus betrachten, wie Kinder Song eruiert an der Ludwig-Maximilians-Universi- lysen international tätiger Organisationen und geschichte ländlicher Räume nach 1950“ über in verschiedenen Gesellschaften ein Verständnis tät München die Auswirkungen von Vulkanasche wissenschaftlicher Institute und Förderer häufig einen Zeitraum von drei Jahren mit 540.000 Euro von sozialen Normen entwickeln. Am Helmholtz- auf die Triebwerke von Flugzeugen. zu wenig berücksichtigt. Dies überrascht, schließ- unter dem Dach „Offen für Außergewöhnliches“.

106 Impulse 01_2016 107 Neue Bewilligungen der Stiftung Forum Förderung – und Auszeichnungen

Schreibszene Frankfurt: Junge Geisteswissenschaftler Das Denken irritieren … – Wie sich das Klima einer setzen sich mit Gegenwartsliteratur auseinander intellektuellen Kultur im Hochschulalltag verankert

Forschen mit Praxisbezug – über Poetik, Publizistik und Performanz zeitgenössischer Werke. Bologna plus – oder: wieder mehr Raum, mehr Zeit, mehr Chancen für Studierende. Das und Die Stiftung stellt 1,4 Millionen Euro bereit für ein neues Graduiertenkolleg an der Goethe- anderes mehr leistet das „Forschungszentrum für Historische Geisteswissenschaften“ an der Universität Frankfurt am Main, das nicht zuletzt alternative Karrierewege aufzeigen soll. Goethe-Universität Frankfurt am Main. Die VolkswagenStiftung fördert es mit 820.000 Euro.

Sie haben die „Schreibszene Frankfurt“ konzipiert: die Professorinnen Dr. Julika Modell für eine „Hoch- Griem (links) und Dr. Susanne schule der Zukunft“? Der Komfort-Hein. Mittelalterhistoriker Pro- fessor Dr. Bernhard Jussen (links) und Professor Dr. Dr. Matthias Lutz-Bachmann vom Institut für Philosophie treiben an der Universität Frankfurt am Main das „Forschungszentrum für Historische Geisteswissen- schaften“ voran.

Frankfurt am Main bietet als Stadt von Buchmes- Die Federführung der „Schreibszene Frankfurt. Das Denken von außen zu irritieren: Kaum etwas Nach Abschluss der Startphase galt es nun, insbe- se, großen Verlagshäusern und Medienstandort Poetik, Publizistik und Performanz von Gegen- erscheint wichtiger für die Geisteswissenschaften. sondere die Nachwuchsförderung und die neuen viele Institutionen, die sich mit dem gedruckten wartsliteratur“ liegt bei den Professorinnen Dr. Potenziell schöpferische Forschungszusammen- Studiengänge dauerhaft transdisziplinär zu orga- Wort beschäftigen. Damit sind die Voraussetzun- Julika Griem und Dr. Susanne Komfort-Hein vom hänge entstehen häufig dort, wo gewohnte Arbeits- nisieren und die Vernetzung mit den außeruni- gen gut, um sich in und aus nächster Nähe auch Fachbereich Neuere Philologien der Universität weisen, Deutungen und Methoden durch fremde versitären Forschungseinrichtungen in Frankfurt mit nationalen und internationalen Phänomenen Frankfurt am Main. Ihnen ist neben der reinen Denksysteme gestört werden. Deshalb bedarf es der massiv voranzutreiben. Für diese Vorhaben des der Gegenwartsliteratur sowie mit aktuellen Kon- Forschung wichtig, dass sich die jungen Wissen- ständigen Auseinandersetzung mit anderen Diszi- Zentrums stellte die Stiftung unter dem Dach ihrer stellationen im Literaturbetrieb zu beschäftigen schaftler durch intensive Zusammenarbeit mit plinen, Kulturen und Forschern fremder Wissens- Initiative „Hochschule der Zukunft“ Anfang 2015 und – einiges davon exemplarisch zu untersuchen. Institutionen vor Ort für ein breites Spektrum welten, aber auch mit außerakademischen Impul- gut 820.000 Euro bereit. Die Mittel dienen im Detail Die Stiftung unterstützt diesen interessanten the- universitärer, aber eben auch außeruniversitärer sen, wie sie etwa die Gegenwartskunst bereithält. zum Beispiel dazu, Schwächen der neuen Bachelor- matischen Ansatz mit einem Forschungskolleg. Karrierewege qualifizieren können. und Masterstudiengänge zu kompensieren, indem Um in diesem Sinne Forschung und Lehre in ihren das Zentrum Studierenden Raum gibt für Interdiszi- Im Zuge des Kollegs sollen in den kommenden Das neue Kolleg verstärkt zudem die Frankfurter geisteswissen­schaftlichen Fächern zu stärken, grün- plinarität und langfristige Arbeit an einem Thema drei Jahren acht junge Wissenschaftlerinnen und Graduiertenprogramme um eine Qualifikations- dete die Universität Frankfurt am Main 2010 ein sowie eine dezidierte Forschungsorientierung von Wissenschaftler mit neuen Methoden und Forma- infrastruktur, die auf aktuelle geisteswissenschaft- „Forschungszentrum für Historische Geisteswis- Master- und Promotionsprogrammen sicherstellt. ten Werke dieser Zeit analytisch betrachten. Die liche Anforderungen zugeschnitten ist. Das von senschaften“: ein Ort transdisziplinärer Forschungs- Kollegiaten legen ihre Studien vergleichend an der Stiftung in ihrer Initiative „Hochschule der kommunikation, der Nachwuchsförderung und zur Die Initiatoren und Organisatoren um die Professo- und beziehen dabei stets Schnittstellen zur Praxis Zukunft“ verortete Angebot soll dazu beitragen, Erprobung innovativer Lehrformen, der intellektu- ren Dr. Bernhard Jussen und Dr. Dr. Matthias Lutz- ein, richten ihren Blick etwa gen Literaturbetrieb an der Goethe-Universität ein national und inter- ellen Vorbereitung neuer Verbundprojekte; zugleich Bachmann von der Universität der Mainmetropole und setzen sich mit den Spezifika dieser Branche national sichtbares Zentrum für Gegenwartslitera- ein erster Kontakt für auswärtige und ausländische möchten damit das Klima einer intellektuellen auseinander. Sowohl im Bezug auf die Wissen- turforschung zu etablieren. Mit der „Schreibszene Gäste, interessierte Doktoranden und Studierende Kultur im Universitätsalltag verankern: „Eine solche schaft als auch mit Blick auf den Literaturbetrieb Frankfurt“ ist man auf einem guten Weg, zumal und für Stipendiaten. Darüber hinaus schafft das Kultur, die sich aus der Vernetzung verschiede- verknüpfen sie entsprechend kritische philologi- sie perfekt passt zu dem von der Stiftung an der neue Zentrum für die universitäre Forschung eine ner Forschungsfelder und Qualifikationsgruppen sche Ausbildungsinhalte mit soziologischer und Hochschule geförderten Forschungszentrum für Infrastruktur, die die Kooperation mit außeruniver- ergibt, bildet das ideale Umfeld für neue Denkan- ethnologischer Praxisforschung. Historische Geisteswissenschaften (siehe rechts). sitären Institutionen erleichtert und verstetigt. sätze und neue Forschungskooperationen.“

108 Impulse 01_2016 109 Neue Bewilligungen der Stiftung Forum Förderung – und Auszeichnungen

Wenn die Fäden eines Netzes neu zusammenlaufen … Eine Brücke für die Geistes- und Kulturwissenschaften – die etwas andere Globalisierung der Weltgeschichte – und eine große Chance für die kleinen Fächer

„A Global Network for Global History“: Mit 450.000 Euro ermöglicht die Stiftung die Annäherung Die VolkswagenStiftung fördert den hochschulübergreifenden Austausch von Studierenden in zwölf junger Geschichtswissenschaftler aus vielen Nationen. Im Zentrum des Netzes agiert die geistes- und kulturwissenschaftlichen Fächern mit insgesamt knapp 850.000 Euro für vier Jahre. Universität Göttingen; an ihrer Seite: Forschungseinrichtungen in Harvard und Amsterdam. Taktgeber ist die Universität Göttingen; Vorbild ist der Studiengangverbund „Pons – Archäologie“.

Die Welt um 1799: Landkarte aus jener Zeit

Das Objekt stets im Fokus: Archäologie-Studierende in Göttingen. Sie können seit inzwischen fünf Jahren Teile ihrer Ausbildung an acht weiteren deutschen Hochschulen absolvieren, die ebenfalls dieses Fach anbieten.

Junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Im Einzelnen ist vorgesehen, dass drei Postdok- Seit dem Jahr 2010 unterstützt die Stiftung das Das neue große Angebot für die kleinen Fächer in Europa, den USA, China, Indien, Brasilien und toranden aus dem „Globalen Süden“ sich je ein Projekt „Pons – Archäologie“ an der Universität wurde wiederum initiiert von Professor Johannes dem Senegal sind begeistert: Denn was da gerade Jahr an einer der drei Institutionen in Göttingen, Göttingen (siehe www.pons-archaeologie.de). In dem Bergemann, Direktor des Archäologischen Insti- als „A Global Network for Global History“ entsteht Amsterdam oder Harvard aufhalten und sieben beispielgebenden Studiengangverbund gelingt es, tuts der Universität Göttingen. Sämtliche Fächer und wovon sie profitieren werden, ist nicht weni- Doktoranden die Möglichkeit zu einem jeweils Grundlagenwissen und Überblickskompetenz eben- der Philosophischen und der Sozialwissenschaft- ger als ein ebenso fein austariertes wie sorgsam sechsmonatigen Aufenthalt an einer der Einrich- so zu vermitteln wie eine breite wissenschaftliche lichen Fakultät – darunter auch lehrerbildende geknüpftes Netzwerk für Forschung und Lehre tungen des Netzwerks erhalten. Die Themen, an Basis zu legen bis hin zu einer punktuellen Vertie- Angebote – werden nun entsprechende Netzwer- zur Weltgeschichte. Die angehenden Forscher sol- denen gearbeitet und über die konferiert wird, fung und Spezialisierung, die Forschung in diesem ke aufbauen und gemeinsam mit ihren Partnern len dabei vor allem durch intensiven Austausch sollen von allen Partnerinstitutionen gemeinsam Fach schnell erfordert. Erreicht wird dies im Zuge für ihre Curricula bis hin zu den rechtlichen Rah- und die gemeinsame Organisation von Konferen- entwickelt werden und Experten aus aller Welt hochschulübergreifender Vernetzung. menkonstruktionen die Grundlage schaffen für zen die weltumspannende Bearbeitung und Kom- anziehen. einen unkomplizierten Studienortwechsel inner- munikation dieses Gebiets etablieren. „Pons – Archäologie“ zielt exemplarisch für das halb Deutschlands. Die Studierenden können auf Die Projektbeteiligten in Afrika, Asien und Latein- Fach der Klassischen Archäologie darauf, inter- diese Weise zusätzliche Schwerpunkte ihres Fachs Die Fäden des Netzes laufen zusammen bei amerika wiederum repräsentieren starke wis- essierten Studierenden innerhalb Deutschlands kennenlernen. Professor Dr. Ravi Ahuja vom Centre for Modern senschaftliche Einrichtungen ihrer Region und den Studienortwechsel zu erleichtern. Der akade- Indian Studies (CeMIS) der Universität Göttingen. fungieren als Knotenpunkte für weitere Kontakte mische Nachwuchs kann auf diese Weise durch Gerade in den kleinen Fächern mit nur einer Als entscheidende internationale Partner sorgen dorthin. Alles in allem wird mit dieser fast welt- geschickt gewählte Aufenthalte an zwei oder drei oder zwei Professuren trägt der Studienortwech- Professor Dr. Marcel van der Linden vom Interna- umspannenden Kooperation als gut konstruierte Universitäten spezifische Vertiefungen individu- sel erheblich zur Verbesserung der Ausbildung tional Institute of Social History in Amsterdam Partnerschaft auf Augenhöhe das Ziel verfolgt, ell in die Ausbildung integrieren. Was seinerzeit bei. An der Universität Göttingen gibt es etliche und Professor Dr. Sven Beckert von der Weather- Ungleichgewichte abzubauen – ein Anliegen, das zunächst mit neun archäologischen Instituten davon. Insgesamt beteiligen sich an dem Gemein- head Initiative on Global History der Harvard die Stiftung grundsätzlich mit ihren internatio- in Deutschland begann, hat sich Anfang 2016 schaftsvorhaben die Fächer Ägyptologie, Alte University für stabile Knoten. Zentrales Anliegen nal ausgerichteten Förderaktivitäten verfolgt. Sie auf 24 Partner ausgeweitet. Vor allem aber bildet Geschichte, Altorientalistik, Englisch, Germani- ist es, bestehende Ungleichgewichte im Feld der unterstützt das Gemeinschaftsprojekt mit rund der offensichtliche Erfolg dieses umfangreichen stische Mediävistik, Iranistik, Kunstgeschichte, Weltgeschichte anzugehen und die „Inhalte und 450.000 Euro unter dem Dach ihres Angebots Kooperationsprojekts nun die breite Basis für Klassische Philologie, Romanistik, Skandinavistik, Methoden zu globalisieren“. „Offen – für Außergewöhnliches“. „Pons – Geistes- und Kulturwissenschaften“. Ur- und Frühgeschichte sowie die Gender Studies.

110 Impulse 01_2016 111 Neue Bewilligungen der Stiftung Forum Förderung – und Auszeichnungen

Dr. Volker Busskamp erhält 1,5 Millionen Euro für Großer Erfolg: Bénédicte Savoy und Dag Nikolaus sein Vorhaben, Nervenzellen gezielt herzustellen Hasse mit dem Leibniz-Preis 2015 ausgezeichnet

Der Europäische Forschungsrat (ERC) hat dem Freigeist-Fellow der VolkswagenStiftung Mit der Verleihung an die Romanistin von der Technischen Universität Berlin und den Philologen eine seiner begehrten Auszeichnungen zugesprochen. Der Wissenschaftler wirkt seit und Philosophen von der Universität Würzburg gehen zwei der elf mit jeweils 2,5 Millionen Euro gut einem Jahr am Forschungszentrum für Regenerative Therapien Dresden (CRTD). dotierten Ehrungen an mehrfach von der Stiftung geförderte Geisteswissenschaftler.

Er promovierte bereits zu Fragen von Wiederherstel- lungsstrategien – damals des Sie legen neue Sichtachsen Sehvermögens: Bevor Volker und Zugänge zu ihren Themen Busskamp im Herbst 2014 in und verknüpfen ihre Funde Dresden Forschungsgruppen- und Erkenntnisse zu einem leiter am CRTD wurde, arbei- neuen, spannenden Ganzen: tete er an der Harvard Medical die Professoren Bénédicte School in Boston, USA, in den Savoy vom Institut für Bereichen Stammzellfor- Kunstwissenschaft der TU schung und Systembiologie. Berlin und Dag Nikolaus Hasse vom Lehrstuhl für Geschichte der Philosophie an der Universität Würzburg.

Eine zentrale Herausforderung für die biomedizini- der fehlenden wissenschaftlichen Erkenntnisse Bénédicte Savoy schlägt in ihrer Forschung Der Philologe und Philosoph Dag Nikolaus Hasse sche Forschung ist es, die Entstehung neurodege- in der Petrischale im Labor willkürlich und ohne ebenso wie in großen Ausstellungsprojekten­ die von der Universität Würzburg hat mit seiner For- nerativer Erkrankungen im Detail zu erfassen, um Steuerungsmöglichkeit statt. Letztlich will der Brücke zwischen der deutschen und französischen schung grundlegend neue Einblicke in die Anfän- sie in einem nächsten Schritt besser therapieren zu Freigeist-Fellow verstehen, wie im Detail die Kunstgeschichte. Stets nimmt sie dabei eine euro- ge des modernen Europa eröffnet. Im Mittelpunkt können. Auf dem Weg dorthin benötigen Wissen- Aktivität und Kombination von Transkriptions- päische Perspektive ein, zudem betrachtet sie das seines Werkes stehen die wechselseitigen Wirkun- schaftler menschliche Nervenzellen. An ihnen lässt faktoren die Zellteilung beeinflussen, um darauf Feld als entscheidende Grundierung deutsch-fran- gen zwischen christlich-lateinischer, arabischer sich am besten untersuchen, ob und wie Medika- aufbauend aus den Stammzellen passgenau spezi- zösischer Beziehungen. Die Basis für ihre Arbeiten und jüdischer Philosophie, Theologie und Natur- mente und pharmazeutisch wirksame Substanzen fisch benötigte Zelltypen zu entwickeln. legte sie bereits vor Langem mit ihrer Dissertation wissenschaft – und zwar vom Mittelalter bis zur greifen. Von den vielen vorhandenen Nervenzell- über den französischen Kunstraub in Deutschland Aufklärung. Mit einer ganzen Reihe von Studien typen im Gehirn ließen sich bislang in ausreichen- „Die zugrundeliegenden biologischen Regeln ver- während der napoleonischen Besatzung. konnte Hasse zeigen, wie intensiv und fruchtbar der Qualität und Menge nur wenige in vitro gene- suchen wir nun gezielt anzuwenden“, sagt er. Man der kulturelle Austausch zwischen Gelehrten und rieren – also künstlich in einem Reagenzglas. sei bereits auf dem Weg, menschliche Fotorezep- Weitere Studien beschreiben die Schau der Nofre- Institutionen aus Orient und Okzident war. toren in hoher Qualität und Quantität herzustel- tete in Berlin als „deutsch-französische Affäre“ Möglichst viele Zelltypen entsprechend verfügbar len. Diese könn­ten dann in Experimenten zur Zell- und die Entstehung der öffentlichen Museen in In seinen Arbeiten verbindet der einstige Lichten- zu haben, ist Ziel des Biotechnologen Dr. Volker transplantation bei degenerativen Erkrankungen Deutschland als politisch-kunstgeschichtliche berg-Professor historisch-philologische Forschung Busskamp. Ihm ist es gelungen, vom Europäischen der Netzhaut genutzt werden. „Dieser systembio- Unternehmung – ein Ansatz, der die an der Tech- mit detektivischer Beobachtungsgabe und von ihm Forschungsrat dafür Mittel in Höhe von 1,5 Mil- logische Ansatz soll den Weg für eine zielorientier- nischen Universität Berlin verortete Forscherin entwickelten Analyseverfahren. So identifizierte lionen Euro einzuwerben. Zunächst will er die te ‚Programmierung‘ menschlicher Stammzellen wiederum zu Prozessen des „nation building“ führ- er mit computergestützten Methoden sprachliche Wirkmechanismen verschiedener sogenannter in Nervenzellen bahnen“, erläutert der Forscher, te. Diese betrachtete sie aus der Perspektive der Eigenheiten einzelner Übersetzer arabischer Texte Transkriptionsfaktoren verstehen, die bei der der sich mit dieser Methode innerhalb der gesetz- Museums- und Sammlungskultur. Großen Erfolg und rekonstruierte anschließend deren Einfluss auf Zellteilung an das Erbgut der Zelle andocken. lichen Vorgaben für Stammzellforschung in hat die gebürtige Französin auch als Ausstellungs- die großen Übersetzerschulen. Ebenso bedeutend Anschließend sollen über eine Art „Schaltbrett“ Deutschland bewegt. Weitere Informationen über macherin und Buchautorin. Bereits angekündigt sind zwei Langzeitprojekte: über das ptolemäische, bestimmte Stammzellen gezielt so programmiert Freigeist-Fellow Dr. Volker Busskamp und seine ist ihr Buch „Paris – Hauptstadt der deutschen also geozentrische Weltbild im west-östlichen Aus- werden, dass daraus die gewünschten Nervenzel- wissenschaftlichen Projekte finden Sie in unserem Romantik“, das durch eine vor zwei Jahren zuge- tausch sowie die fachsprachlichen Beziehungen len entstehen. Bis dato fand dieser Prozess wegen Magazin „Impulse“, Ausgabe 2015, Heft 2. sprochene Opus-magnum-Förderung entstand. zwischen lateinischer und arabischer Welt.

112 Impulse 01_2016 113 Schwerpunktthema

Ins Blaue hinein | OZEANE

Lichtenberg kommt zur Kur

Ein Seehund findet Fische in völliger Dunkelheit in der Weite der Ozeane und kann über Tausende von Kilo- metern punktgenau von A nach B schwimmen. Wie er das macht? – Das und anderes mehr zu den Tie- ren weiß man durch die Forschung von Professor Guido Dehnhardt. Mit seinem Team begibt er sich Tag für Tag am Marine Science Center in Rostock-Warnemünde auf die Spur der Meeressäuger. Die schwimmen- de Forschungsstation dort, die „Lichtenberg“, ist Basis für alle Akti- vitäten. Jetzt kam sie ins Trockendock.

Seehund Malte und Guido Dehnhardt sind ein eingespieltes Tandem. Der Lichtenberg- Professor und sein Team aus Tieren und Menschen haben in anderthalb Jahrzehnten For- schung zahlreiche Erkenntnisse zum Orientierungsverhalten der Meeressäuger vorgelegt.

114 Text: Christian Jung // Fotos: Fabian Fiechter

ie weit ich unter der Wasseroberfläche Guido Dehnhardt, Henry und die anderen Robben Geometrische Formen Wbin? Ich weiß es nicht genau, habe irgendwie und – ja, das Wasser, das Meer: Das ist eine Einheit, können Seehunde nur das Gefühl dafür verloren. Doch ich wähne mich und sie besteht schon lange. Seit anderthalb Jahr- schwer erkennen. Bei sicher. Beinahe scheint es, als seien ganz in der zehnten erforscht der Biologe mit seinem Team dem Versuch im Bild Nähe, in der trüben Wand aus Wasser rings um aus Mensch und Tier, wie manche Meeressäuger unten links stupst die mich her und gerade so eben nicht mehr erkenn- sich visuell orientieren. Was zur Jahrtausendwen- Robbe mit der Schnau- bar, Augen und Ohren, die meine Bewegungen de als von der Stiftung gefördertes „außergewöhn- ze nur dann gegen registrieren; Sinne, die mich jede Sekunde wahr- liches“ Projekt mit den Seehunden Henry, Malte den Monitor, wenn sie nehmen – alles darauf gerichtet, auf mich aufzu- und Nick in der Eisbärenanlage des Kölner Zoos ein ungleiches Paar passen. Zumindest bildet sich mein Hirn das wohl begann – in direkter Folge mit Anbindung an die Formen erkannt hat. ein. Ab und an sehe ich schemenhaft Flossen um Universitäten Bonn und Bochum –, fand 2008 Mitte: Die haptischen mich herumwirbeln. Ein Schatten dann und wann, seine Heimat in Warnemünde. Dort gründete der Wahrnehmungsfähig- eine Berührung; dann wieder nur undurchsichti- findige Forscher das Marine Science Center. Das keiten der Meeressäu- ges Einheitsgrau. Allmählich schreien meine Lun- am Übergang zum offenen Meer gelegene Areal ger werden getestet, gen nach Luft. Ich tauche auf – ein wenig wider- umfasst einen abgetrennten Teil an der Spitze des indem ihnen die For- willig; öffne die Augen und schaue in ein Gesicht, Rostocker Jachthafens „Hohe Düne“. Das Herz, das scher Augen und Ohren das lediglich eine Armeslänge entfernt ist. Auf in dessen Mitte schlägt, heißt LICHTENBERG. Es ist verschließen. Hier war- Anhieb gelingt es mir nicht zu erkennen, welches ein Schiff, oder besser: eine „schwimmende For- tet Filou mit Augen- der Tiere es ist, das sein nasses Zuhause gerade mit schungsstation“, die Dehnhardt nach der von der maske und Kopfhörern, mir geteilt hat. „Es ist Henry“, ruft mir eine dunkel Stiftung geförderten Professur benannt hat. bis er für die Wahrneh- gekleidete Gestalt vom Rand her zu, so als könnte mung einzelner Wirbel- sie das Fragezeichen hinter meiner Stirn sehen Die LICHTENBERG ist umgeben von Pontons. Auf ringe abtauchen darf. und deuten. Was ich zunächst nur als schemen- den schwimmenden Plattformen aalen sich gera- Unterdessen trainiert hafte Figur wahrnehme, gießt sich plötzlich einen de einige der Tiere des über die Jahre peu à peu Biologin Yvonne Krüger Eimer Wasser über den Kopf. Es ist Guido Dehn- angewachsenen Bestands. Inzwischen leben hier Seehund Malte in Vor- hardt, der sich anschickt, selbst zu den Robben ins neun Seehunde, zwei kalifornische Seelöwen und bereitung für andere Wasser zu steigen. ein südafrikanischer Seebär; nicht zu vergessen Aufgaben.

116 Impulse 01_2016 117 Diego, Dehnhardts neuester Zugang. Der aller- am Ende einer langen Reihe von Experimenten Dank seiner extrem dings ist nicht Seehund, sondern Hund. Er hat es zum visuellen System der Seehunde wieder sensiblen Barthaare gut getroffen hier, fühlt sich – gerettet aus einer einmal zu Aufsehen erregenden Ergebnissen: kann der Seehund unter der berüchtigten Tötungsstationen für Hunde in „Seehunde sind in der Lage, Bewegungsmuster, Wasser selbst schwache Spanien – offenkundig wohl. die durch die Eigenbewegungen der Tiere von der Verwirbelungen wahr- sie umgebenden Umwelt im Auge entstehen, zu nehmen, wie sie etwa Als ich aus dem Wasser steige, robbt neben mir interpretieren“, sagt Dr. Frederike Hanke. Dieses ein Fisch erzeugt. Yvonne Seehund Henry – oder ist es Nick oder Moe? – als „Optischer Fluss“ bezeichnete Phänomen spielt Krüger hat für diesen an Land und auf mich zu, stupst mich an. Kurz für die Orientierung in der Umwelt eine wichtige Versuch über hydrody- berühre ich seine Barthaare, die Vibrissen, die hart Rolle, wird jedoch nur selten bewusst wahrge- namische Reize Seehund kratzen und doch unglaublich sensible Sensoren nommen. Er hilft dem Menschen beim Gehen das Malte die Augen blick- sind. Jedes der etwa hundert Haare endet in einem Gleichgewicht zu halten und seine Position im dicht verschlossen (links). Nervenknäuel, das die Spur eines Fisches auch bei Raum zu erfassen. Am Schneetreiben lässt es sich Für Guido Dehnhardt rauer See zuverlässig herauszufiltern vermag. Das gut erklären: Der Schnee fällt senkrecht zur Erde, sind Dr. Sven Wieskotten Sinnessystem der Seehunde ist im Zusammenspiel aber beim Spazierengehen kommt es uns so vor, und der Physiker Dr. seiner Bausteine in der Lage, Meeresströmungen, als käme er uns entgegen. Das Gehirn verarbeitet Lars Miersch (unten, Schiffsbewegungen, Fischschwärme und die eige- diesen widersprüchlichen Reiz; wurden Testper- von vorn) seit Jahren ne Geschwindigkeit miteinander zu verrechnen – sonen vorübergehend entsprechend manipuliert, ein fester Anker für das ein perfektes Unterwasser-Navigationssystem. verloren sie das Gleichgewicht und fielen hin. Marine Science Center.

Wie orientieren sich Seehunde im Wasser? Inzwi- schen weiß man: ganz anders als lange gedacht

Mit den Vibrissen tauchen wir direkt ein in die Forschung des Lichtenberg-Teams. Gemeinsam untersuchen sie seit Jahren die unterschiedlichen Sinne, die es Seehunden ermöglichen, sich auf dem offenen Meer zu orientieren. Bei der Jagd folgt der exzellente Jäger den Fischen über die Wasserspur, die diese beim Schwimmen hinterlas- sen – selbst feinste Verwirbelungen fühlt er mit seinen Barthaaren. Inzwischen weiß man, dass das Tier über einen perfekt abgestimmten Mix aus Sinneswahrnehmungen vieles registriert. Es schmeckt auch den Salzgehalt, und wenn der See- hund auftaucht, riecht er vom Phytoplankton frei- gesetztes Dimethylsulfit. Signalisieren Salzgehalt, Planktondichte und ein paar andere Parameter den richtigen Mix, weiß er: Hier gibt es Fisch.

Man überblickt kaum noch die Fülle an bahnbre- chenden Erkenntnissen, die Dehnhardt und sein Team veröffentlicht haben. In einem der jüngsten Projekte, das gerade abgeschlossen wurde, gelang- ten die Wissenschaftler am Marine Science Center Die zahlreichen vom Lichtenberg-Team zu beglei- tenden Abschlussarbeiten im Zuge der neuen Stu- diengänge erforderten es, eine neue Tiergruppe zu Forschungszwecken einzuführen: Kopffüßer. Mit Kra- ken (Bild) und Sepien arbeiten die Studierenden der beiden Masterstudiengänge „Meeresbiologie“ und „Diversität und Evolution“ der Universität Rostock. Offenbar vermag der Seehund also Umwelt- reize, wie sie beispiels- weise entstehen bei einer Bewegung durch partikel- reiches Wasser, gemäß dem Modell des Optischen Fluss’ zu verarbeiten. Diese Vorstel- lung erfordert ein Umdenken hinsichtlich der Bedeutung von im „Es ist einfach an der Zeit, dass wir jetzt unsere Wasser schwimmenden oder schwe- äußerst umfassenden Analysen zu der Fülle an benden Teilchen für die Fortbewegung Wahrnehmungsspezialisierungen des Seehundes und Orientierung von Seehunden oder bündeln“, bekräftigt Dehnhardt noch einmal die anderen Meeresbewohnern. Bislang ging geplante Fokussierung der Forschungsaktivitäten. man davon aus, dass Schwebstoffe im Wasser die Sicht erheblich einschränken. Nun hat sich In der Tat ist bemerkenswert, welchen Fragen die gezeigt, dass demgegenüber zumindest Seehunde Wissenschaftler schon nachgegangen sind und regelrecht in der Lage sind, eine aufgrund von Par- worauf sie Antworten fanden. Wie beispielsweise Für Seehund Malte verlief tikelbewegungen entstandene visuelle Informa- sieht ein Seehund? Kann er Bild und Spiegelbild das Experiment so: In einem Verhaltenstest prä- tion zu verarbeiten und zu nutzen. „Insbesondere verarbeiten? Auf der Suche nach Antworten sind sentierten ihm die Forscher auf einer Leinwand bei der Futtersuche und zum Abschätzen zurück- die Seehunde, versehen mit Strumpfmasken Punkte, die eine Vorwärtsbewegung simulierten. gelegter Wegstrecken ist diese Fähigkeit zweifel- oder Kopfhörern, routiniert und engagiert bei der Nachdem ein Kreuz auf der Leinwand einge- los von großem Vorteil“, sagt Hanke. Sache. Sie signalisieren ihre Reaktionen durch das blendet wurde, sollte der Seehund anzeigen, ob Berühren farbiger Bälle. Bei anderen Versuchsan- das Kreuz deckungsgleich mit der Bewegungs- „Optischer Fluss scheint demnach eine Informati- sätzen geht es um die Frage, wie sich Seehunde im richtung der Simulation war oder nicht. Das onsquelle, auf die sich Seehunde und möglicher- Wasser zurechtfinden. Nutzen sie spezielle geo- Tier erlernte den Umgang mit dem komplexen weise weitere aquatische Organismen zur Kontrol- grafische Muster wie Riffe oder Felsformationen, schnell optischen Reiz innerhalb kürzester Zeit. „Unse- le der Orientierung und Fortbewegung verlassen die sie womöglich aus unterschiedlichen Perspek- erfassen re Experimente zeigen, dass Seehunde generell können“, fasst Dehnhardt zusammen. Auf dieses tiven als gleichen Ort erkennen können? und punktge- einen sehr guten Zugang zu großflächigen, nicht Forschungsfeld – derzeit ein heißes Thema – will nau orten. Doch still stehenden Punktreizen haben“, sagt Frederike er sich künftig als eines von zweien in seinem letz- wie ist es, wenn der Hanke, die derzeit mit weiterer Forschung ten „Lichtenberg-Jahr“ konzentrieren. So gelang Sinneskünstler Seehund: Die Wahrnehmungs- Schall von vorn, hinten, oben zum Thema ihre Habilitation vor- es Wissenschaftlern andernorts zu zeigen, dass fähigkeiten der Robben faszinieren … oder unten kommt – schließlich haben antreibt. „Und die unglaubliche Bienen Entfernungen nicht wie bislang angenom- die Tiere ja keine Ohrmuscheln, die Geräusche Genauigkeit, mit der das Tier men anhand ihres Energieverbrauchs bestimmen. Eine Überraschung war, als Teammitglied Nele zielgenau erfassen und zielgerichtet bündeln. Abweichungen von der Stattdessen beruht ihre Schätzung auf dem Bewe- Gläser vor einigen Jahren der Nachweis gelang, „Wir wollen den Hörmechanismus bei diesen Bewegungsrichtung gungsmuster, das beim Vorbeiflug an Blumen dass sich Seehunde des Nachts am Sternenhim- Tieren möglichst im Detail entschlüsseln“, sagt anzeigen konnte, ist und anderen Objekten hervorgerufen wird – und mel orientieren. Die Positionen einzelner Sterne Jenny Byl. Für den Versuch (siehe Abbildung auf beeindruckend.“ damit ebenfalls auf optischem Fluss. konnten sie sogar bedeutend besser bestimmen der nächsten Seite oben) legt sich der Seehund auf als manche Zugvögel – erstaunlicherweise sogar einer „Bettstation“ auf die Seite und nimmt ein dann, wenn der „Bezugsstern“ für die Orientie- Beißtarget ins Maul. „Wir simulieren ‚oben‘ und Die schwimmende Forschungsstation, das Schiff LICHTENBERG, ist umgeben von Pontons, rung des Seehunds durch eine Wolke verdeckt ‚unten‘, indem wir die Tonsignale von links oder auf denen sich die Meeressäuger des über die Jahre peu à peu angewachsenen Bestands war. Die Biologin Jenny Byl wiederum hat sich rechts auf dem stählernen Halbkreis präsentieren, gern aalen. Inzwischen leben hier neun Seehunde, darunter Erik (links unten), ebenso die Akustik-Schall-Lokalisationen der Tiere vorge- der den Seehund umgibt. Am ‚Bett‘ hat der See- beiden kaum auseinanderzuhaltenden und äußerst verspielten kalifornischen Seelöwen nommen. Robben können wie Menschen Geräu- hund zwei Antworttargets, mit denen er sagen Eric und Tenn (links oben einer von ihnen) und der südafrikanischer Seebär Finn (rechts). sche, die von links und rechts kommen, blitz- kann, ob der Ton von oben oder unten kam.“

Impulse 01_2016 121 Set-up von Doktorandin Jenny Byl. Sie untersucht, wie Seehunde unter Wasser Schall lokalisieren. Unten: Forschung hautnah; Touristen mit Seehund Malte. In Zusammenarbeit mit einer Tauchschule vor Ort haben Besucher die Möglichkeit, mit den Seehunden zu schwimmen.

Wenn man über so viele Jahre ein solch breites direkt, dorthin zurückkehren. Wollte der Mensch Forschungsfeld beackert, ist der Wunsch nach eine ähnliche Leistung wie die Ameise erbrin- Fokussierung ebenso sinnvoll wie verständlich. gen, müsste er zig Kilometer im strukturarmen „Wir wollen uns in den nächsten Jahren weiter Gelände umherlaufen und dann geradlinig zum auf die visuelle und die hydrodynamische Wahr- Ausgangspunkt zurückfinden: eine zweifelsohne nehmung und Verarbeitung von Flussfeldern ausgesprochen schwierige Aufgabe. konzentrieren.“ Letzteres meint: Wie verrechnet der Seehund verschiedene Einflüsse wie beispiels- Cataglyphis fortis nun nutzt die sogenannte Weg- weise eine Strömung, die von der Seite drückt, integration: Die Ameisen sind in der Lage sich zu oder Wirbel, die durch eigene Bewegungen oder „merken“, in welche Richtung und wie weit sie die anderer Meeresbewohner entstehen, sodass sich vom Nest entfernt haben. Daraus „errechnen“ am Ende seine Orientierung etwa bei der Jagd im sie den direkten Rückweg. Und zwar bestimmen Meer dennoch stets zielgerichtet bleibt und er die eleganten Wüstenbewohner ihre Laufrichtung das Ziel auch über große Distanzen punktgenau mittels eines Sonnenkompasses. Anhand des Pola- erreicht? Die Einblicke, die die Meeressäuger den risationsmusters des Sonnenlichtes, das sie mit Forschern gewähren, könnten auch Grundstein speziellen Sehzellen am oberen Rand ihrer Augen sein für neue bionische Konzepte, also die Suche wahrnehmen, können die Tiere erkennen, um wie nach „Erfindungen der belebten Natur, die als viel Grad ihr Weg jeweils vom Stand der Sonne übertragene Systeme auch für den Menschen hilf- abweicht. Spezielle Kompassneuronen im Amei- reich sein könnten“, wie Dehnhardt es formuliert. senhirn verrechnen diese Informationen – und ermöglichen so einen Rückweg auf kurzer Strec- ke. Wie die Insekten jedoch bestimmen, welche Der mutige Sprung ins offene Wasser – werden Entfernung sie genau im Zuge ihrer „Ausflüge“ alle Tiere zurückkehren? zurücklegen, ist noch nicht ganz geklärt, da sie wohl nicht über einen optischen Kilometerzähler Zudem hat Dehnhardt „echte Orientierungsexperi- verfügen wie etwa Bienen. Vieles deutet darauf mente“ vor Augen; will sagen: Der nächste Schritt hin, dass bei ihnen eine Art Schrittzähler mitläuft. führt die Tier-Mensch-Teams auf das offene Meer. Seit Anfang 2016 laufen die Vorbereitungen dafür Wie gelingt es nun aber den Seehunden, lange Zeit auf Hochtouren. Prinzipiell haben Tiere drei Mög- im Meer herumzustreifen und dann auf direktem lichkeiten, sich in ihrer Umwelt zurechtzufinden. Weg zurück zum Ausgangspunkt zu finden? Den Manche kennzeichnen ihren Weg: die „Hänsel- entsprechenden Experimenten sieht das Lichten- und-Gretel-Strategie“. Einige Arten vermögen es berg-Team jedenfalls mit Spannung und Vorfreude immerhin, sich nach einer mentalen Karte zu rich- entgegen. Die Wegstreckenversuche werde man ten – so speichern manche Säugetiere und Vögel allerdings zu Beginn nicht mit jedem Tier riskieren, ihre Umgebung als eine Art Landkarte im Gehirn. schränkt Dehnhardt ein. „Ich bin mir eigentlich sicher, dass alle zu uns zurückkommen, aber bei Und dann gibt es ganz besondere Könner wie dem einen oder anderen denke ich manchmal etwa die Ameisen der Art Cataglyphis fortis, die in doch: Wer weiß, vielleicht nutzt der die Gelegen- Tunesien unter Afrikas Sonne leben. Auf Wegen, heit und macht sich auf nach Schweden“, grinst er. die über Hunderte Meter kreuz und quer verlaufen können, flitzen die Tiere auf dem heißen Boden hin Die Versuchsaufbauten planen und bauen die und her, um Futter für den Nachwuchs zu beschaf- Wissenschaftler übrigens meistens selbst. „Jeder fen. Sie entfernen sich dabei manchmal bis zu muss hier mit Flex und Stahlbohrer umgehen kön- einem halben Kilometer vom unterirdischen Nest nen“, sagt er. Da trenne sich schon mal die Spreu – bis sie auf dem kürzesten Weg, schnurgerade und vom Weizen. Spreu seien dabei jene, die vor allem

Impulse 01_2016 123 Der Masterstudiengang „Meeresbiologie“ hinge- Man merkt an zahlreichen Details: Vieles trägt gen sei „hochgradig interdisziplinär“ angelegt. Dehnhardts Handschrift. Der Lichtenberg-Profes- „Wer Meeresbiologie studiert, ist meist äußerst sor ist offenkundig auch im Universitätsbetrieb forschungs- und anwendungsorientiert ausge- ausgesprochen engagiert. So wartete er im Bache- richtet“, hat Dehnhardt beobachtet. „Diese jungen lorstudiengang Biologie mit Lehrveranstaltungen Frauen und Männer kommen hierher, um wissen- auf, die auch heute noch nicht ganz selbstver- schaftlich und gesellschaftlich relevante Frage- ständlich zum Ausbildungskanon gehören: Er stellungen in den Bereichen globaler Klimawan- unterrichtet soft skills wie scientific writing oder del, Eutrophierung oder Meeresverschmutzung kreatives Schreiben und vermittelt nützliches und zu untersuchen und zu den Problemlösungen praktisches Wissen im Bereich Wissenschafts-PR. „Seehunde sind in der aus „romantischen Gründen“ kämen, um mit den mit Kraken als auch Sepien arbeiten jene Studie- beizutragen.“ Großer Standortvorteil sei dabei Und seit dem Wintersemester 2013 ist er zudem Lage, Bewegungsmuster, Tieren forschen zu wollen. „Doch das sind keine renden, die – zumeist aus den beiden Masterstu- die enge Verzahnung mit Forschungsaktivitäten Geschäftsführender Direktor der gesamten Bio- die durch die Eigenbe- Kuscheltiere“; eine gewisse Strenge im Umgang diengängen „Meeresbiologie“ und „Diversität und weiterer universitärer und außeruniversitärer Ein- wissenschaften der Rostocker Hochschule, nach- wegungen der Tiere von sei stets notwendig. So braucht es Handfestigkeit Evolution“ der Universität Rostock – den Weg zum richtungen als auch die mögliche Spezialisierung dem er zuvor bereits drei Jahre das Amt des Vor- der sie umgebenden etwa beim täglichen Gesundheitscheck – eine Marine Science Center finden. im Bereich „regionale marine Ökologie“. sitzenden des Promotionsausschusses innehatte. Umwelt im Auge entste- Zahnkontrolle erhält plötzlich ein anderes Gesicht, hen, zu interpretieren“, hat man das Gebiss der Raubtiere einmal unmit- „In eine gute Ausbildung der Studierenden zu sagt Dr. Frederike Hanke telbar vor Augen oder die Finger dazwischen. investieren, ist entscheidend“, betont Dehnhardt. von der Robbenfor- Auch das Abtasten von Körper und Flossen auf der „Schließlich wollen wir und braucht die Gesell- schungsstation. Suche nach möglichen Verletzungen oder Schmer- schaft exzellente Wissenschaftler und Forscher“. Worüber die Biologin zen gehört dazu und will ohne Angst erledigt sein. Bei der Konzeption des Masterstudiengangs spricht, wird „Optischer Denn die spüren die Tiere sofort. „Diversität und Evolution“ sei ihm wichtig gewe- Fluss“ genannt. Auf die- sen, dass umfassende Kenntnisse über den Arten- ses Untersuchungsfeld Vier bis sechs Wochen müssten potenzielle Team- reichtum, die Vielfalt organismischer Strukturen will sich das Team künf- mitglieder daher erst einmal „zur Probe arbeiten und Baupläne sowie die ihnen zugrunde liegen- tig als eines von zweien und forschen“, wie Dehnhardt es nennt, bevor den evolutionären Zusammenhänge vermittelt im letzten „Lichtenberg- entschieden werde, ob jemand ins Team passt; ein werden. „Meine Kollegen und ich legen zudem Jahr“ konzentrieren. Team, das sich eben zusammensetzt aus Mensch Wert auf grundlegende theoretische Kenntnisse UND Tier. „Wir haben eine große Verantwortung sowie für die Praxis erforderliches Methodenwis- 2016 wird’s noch mal auf neue Weise spannend: Dann plant den Tieren gegenüber“, sagt Dehnhardt. „Das ist die sen der Taxonomie, Systematik und Morphologie das Lichtenberg-Team „echte Orientierungsexperimente“. Schwelle, an der sich alles messen lassen muss!“ sowie der Molekularbiologie.“ Das heißt: Der nächste Schritt führt die Tier-Mensch-Teams auf das offene Meer. Hier trainiert Biologin Yvonne Krüger Der Studiengang beinhalte dabei nicht nur den mit Malte und festigt so auch beider soziale Bindung. Engagement auch in der Lehre bis hin zum Aufbau zu erwartenden detaillierten Einblick in die und zur Konzeption von Studiengängen vielfältige Welt der Pflanzen und Tiere, sondern bringe den Studierenden bereits früh ausgewähl- Dehnhardt hat viele angehende Wissenschaft- te Aspekte der Biodiversitätsforschung und der lerinnen und Wissenschaftler in all den Jahren evolutionären Morphologie nahe: etwa das Kon- betreut: Aktuell gehören vier Postdoktoranden, zept der raum-zeitlichen Dynamik von Arten und sechs Doktoranden, drei Masterstudentinnen Lebensgemeinschaften oder aber, wie Lebewesen sowie eine Staatsexamenskandidatin und ein mit ihrer Umwelt interagieren. „Wir vermitteln Der jüngste Werftaufenthalt der LICHTENBERG wurde betreut von Bachelorstudent zum Team. Die Vielzahl der den Teilnehmern die wissenschaftlichen Grund- Dr. Lars Miersch – auch er eine der Urkonstanten im Team. Der durch die Bachelor- und Masterstudiengänge zu lagen, um tiefgreifende Veränderungen wie den Physiker und Ingenieur begleitete bereits 2007/08 den aufwän- betreuenden Abschlussarbeiten machte es erfor- Artenschwund und Klimawandel einordnen und digen Um- und Ausbau des einstigen Fahrgastschiffes in Polen. derlich, dass Dehnhardt eine neue Tiergruppe zu verstehen zu können“, fasst der engagierte Lehrer „Wir haben damals viele Eigenleistungen erbracht. Nur so konnten Forschungszwecken einführte: Kopffüßer. Sowohl und Forscher zusammen. wir einigermaßen im kalkulierten Kostenrahmen bleiben.“

124 Guido Dehnhardt

i anderen wissenschaftlichen Einrichtungen der Betreut wird der gesamte Werftaufenthalt von finanziell autark sein. „Wir werden wohl auch Mittelmeeranrainer. Sie ergänzen bestehende Dr. Lars Miersch – auch er eine der Urkonstanten danach personell klarkommen“, ist der Chef der Kooperationen unter anderem zu den Universi- im Team. Der Physiker und Ingenieur begleitete Station überzeugt, der die Kosten für den eigent- täten in Edinburgh, Manchester und Bristol in bereits 2007/08 den aufwändigen Um- und Aus- lichen Unterhalt der Station allerdings bei dieser November 2015: Die Großbritannien, Tallin in Estland, Lund in Schwe- bau des einstigen Fahrgastschiffes in Polen. „Wir Einschätzung ausdrücklich nicht einbezogen hat. LICHTENBERG wird in den oder zur Texas AM University in den USA. Aber haben damals viele Eigenleistungen erbracht. die Werft geschleppt. auch mit Zoologischen Gärten wie dem Tierpark Nur so war es überhaupt möglich, einigermaßen Das Engagement der Mitarbeiter rund um Guido Dort war sie das letzte Hagenbeck in Hamburg oder dem Nürnberger im kalkulierten Kostenrahmen zu bleiben“, sagt Dehnhardt jedenfalls beeindruckt. Ein halbes Dut- Mal 2008. Seinerzeit Zoo arbeiten die Warnemünder zusammen. So ist Miersch. Auch diesmal sei es gut gewesen, mög- zend von ihnen ist von Beginn an oder den Groß- wurde das einstige die schwimmende Forschungsstation zugleich zu lichst viel selbst in der Hand behalten und den teil der Zeit „an Bord“, und man hat das Gefühl, sie Fahrgastschiff der DDR einem Zentrum der Meeresbiologie geworden, das Prozess direkt begleitet zu haben. geben wirklich alles für die Tiere und die Station. in Polen entkernt und in sich in immer mehr Farben und Facetten malt. An einen geregelten Acht-Stunden-Tag denkt hier Warnemünde neu auf- Die Tiere blieben in der Zeit in ihrem angestamm- niemand. Die Station ist rund um die Uhr besetzt; gebaut. Die LICHTEN- ten Areal im Wasser und wurden am Standort die Wissenschaftler selbst sind es, die abwech- BERG hat eine wechsel- Verschnaufpause für die LICHTENBERG: weiter versorgt. Der „Standort“, wie er von allen selnd die Nachtschichten übernehmen. In manch volle Geschichte – 1963 Guido Dehnhardt erhielt 2007 eine Lichtenberg- Das Schiff wird überholt und kommt zur Kur immer recht bescheiden genannt wird, ist im einem der vergangenen Winter hieß das dann enterten 13 Frauen und Professur der VolkswagenStiftung, die er seit 2008 an Übrigen nicht nur einzigartig in Europa, sondern schon mal: alle zwei Stunden raus und Eis auf- Männer aus Ostberlin der Universität Rostock realisiert. In jenem Jahr zog Und diese Station namens LICHTENBERG hat sich auch weltweit inzwischen die größte Robbenfor- brechen. „Man muss das schon lieben, um diese die damalige „Friedrich die gesamte Forschergruppe mit damals neun See- nun nach gut sieben Jahren erstmals wieder vom schungs- und -haltungsanlage. Kein Wunder, dass Intensität hier auszuhalten“, bringt es einer aus Wolf“. Es gelang ihnen, hunden in eine große Freiwasseranlage im Jachtha- Fleck bewegt. Mitte November verließ sie ihren Interessierte aus der ganzen Welt vorbeischauen. der Gruppe auf den Punkt. sich trotz Verfolgung fen Hohe Düne in Rostock-Warnemünde. Hier wird Standort an der Warnemünder Ostmole und wur- Rund 45.000 Besucherinnen und Besucher ström- unter Beschuss durch nun die wissenschaftliche Arbeit, die zuvor viele Jahre de die Warnow aufwärts in die Tamsen-Werft nach ten zuletzt zwischen April und November zur Dehnhardt selbst merkt man in jedem Augenblick Grenzboote der DDR über die Universität Bonn und dann später über die Gehlsdorf geschleppt. „Das Schiff musste jetzt tur- Station an der Ostmole. Nach Anmeldung kann an, dass die Nähe, das bedingungslose Vertrauen nach Westberlin Universität Bochum im Kölner Zoo stattfand, weiter- nusgemäß überholt werden bis hin zu einem neu- man mit den Robben auch schwimmen und tau- im Team zueinander und die jahrelange Zusam- abzusetzen. Keiner geführt. Im Fokus der Forschung stehen die Sinnes- en Anstrich“, sagt Lichtenberg (Dehnhardt) über chen – eine wichtige Finanzierungsquelle für das menarbeit ihm sehr viel bedeuten und eines der Flüchtenden kam organe sowie die kognitiven Fähigkeiten der Robben. LICHTENBERG (Schiff). „Eigentlich wird das Schiff gesamte Projekt. der Qualitätsmerkmale all des Geleisteten sind. zu Schaden. Das Boot Hierbei interessieren insbesondere, wie die Sinnesor- von Grund auf neu; nur der Name, der bleibt!“ „Sobald ich selbst hier loslege, wechsle ich die Per- wurde später wieder an gane in Luft und unter Wasser funktionieren, welche „Unser Konzept, Forschung hautnah live erlebbar spektive, denke und sehe die Welt wie eine Robbe“, die DDR zurückgegeben, spezifischen Anpassungen speziell auch das Leben Und von Grund auf heißt auch von Grund auf. Die zu machen, ist aufgegangen“, freut sich Guido schiebt er einen letzten Gedanken nach. Oder nein, bevor es dann über den im Wasser hervorbringt beziehungsweise bedingt Technik werde teils kaum wiederzuerkennen sein; Dehnhardt. Bis zum September 2016 läuft noch einen vorletzten. „Wenn ich dann Robbe bin, habe „Umweg“ nach Polen und vor allem, wie die Sinnesorgane zur Orientie- die Arbeitsplätze der angehenden Forscherinnen die Förderung über die Lichtenberg-Professur der ich für Vieles den richtigen Blickwinkel.“ – Dieser seinen Heimathafen in rung eingesetzt werden können. Die Besonderheit des und Forscher werden modernisiert; das ins Deck VolkswagenStiftung, spätestens dann will man allerletzte Zusatz, der muss noch sein!  Warnemünde fand. Lehrstuhls: Besucher können in der Saison täglich der eingelassene Probebecken wird überdacht, um Forschungsarbeit und damit der Entstehung wissen- Experimente standardisiert und vergleichbar auch schaftlicher Erkenntnisse zuschauen. Aktueller Tier- bei Regen durchführen zu können – und zudem bestand: neun Seehunde, zwei Kalifornische Seelöwen, wird das ganze Schiff behindertengerecht umge- ein Südafrikanischer Seebär, Kraken und Sepien. baut. „Dazu muss sogar die Reling komplett ent- fernt und weiter außen angebracht werden, damit die Durchgänge an Deck breit genug auch für Roll- stühle sind“, führt Dehnhardt aus. Geplant war ein Und so bedingt eins das andere. Mehr akademi- Aufenthalt von dreißig Tagen – und durchgeplant scher Nachwuchs erfordert weitere Tiere, damit ist alles. „Nur auf die Farbe für den neuen Außen- genug geforscht werden kann – und über die Tiere anstrich haben wir uns immer noch nicht einigen ergeben sich dann wieder neue Kontakte: durch können“, sinnierte der Lichtenberg-Professor noch die Kraken und Sepien beispielsweise gen Italien an jenem Tag im November, an dem das Schiff zur Zoologischen Station in Neapel, aber auch zu bereits in die Werft überführt wurde.

126 Impulse 01_2016 127 Schwerpunktthema

Ins Blaue hinein | OZEANE

Mit der Sonne um die Erde

Knapp 120 Meter lang, Platz für 40 Wissenschaftler und 35 Mann Besat- zung; die Baukosten: insgesamt rund 124 Millionen Euro. Das sind nur einige Eckdaten der Ende 2014 vom Stapel gelassenen SONNE, aktueller Star in Deutschlands renommierter, achtzügiger Forschungsflotte. Sie gilt als weltweit modernstes Schiff seiner Art. Seitdem das schwimmende Hightech-Labor mit wechselnden Forscherteams zu seiner Jungfern- fahrt aufbrach, folgen Meldungen über spektakuläre Entdeckungen und Beobachtungen im Monatsrhythmus.

„Schwimmendes Hochleistungslabor” oder „die kleine Universität”: Die Ende 2014 im niedersächsischen Papenburg in der Meyer-Werft vom Stapel gelaufene SONNE erntet nur positive Kommentare. Sie kann auf fast allen Weltmeeren operieren.

Impulse 01_2016 129 Text und Illustration (Idee): Christian Jung // Illustration (Umsetzung): Christian Smit Polarstern

erdinand Magellan war ein kluger, ein findi- Grunde auf fast allen Weltmeeren operieren; die senschaftler von überall her in begrenzten Zeit- Fger Mann. Im Jahr 1521 stand er mit alkoholischen Geräte an Bord ermöglichen dabei – unmittelbar räumen von meist vier bis sechs Wochen mit den und womöglich (wenngleich wohl eher wenig wie mittelbar – Einblicke bis in beeindruckende Auswirkungen des Klimawandels auf die Ozeane, wahrscheinlich) anderen Getränken an Deck Tiefen hinab. Das Boot löste zum Jahreswechsel den Folgen des Abbaus von marinen Rohstoffen seines Segelschiffs, das gerade durch die wohl- 2014/15 das aus der Fahrt gehende 36 Jahre alte und Energieträgern; sie untersuchten zahlreiche temperierten Gewässer des tropischen Pazifiks Forschungsschiff gleichen Namens ab, das 1969 Einflussfaktoren auf die Ökosysteme und erfas- schipperte. Reichlich warm sollen sich die Fla- zunächst als Fischereischiff gebaut und 1977 für sten und analysierten deren Veränderungen. 118 m schen angefühlt haben, und so lau wollte der erste den Wissenschaftsbetrieb umgerüstet worden Länge: Weltumsegler seiner Mannschaft den wohlver- war. Auf zahlreichen Fahrten kreuzte es vor allem 10,5 kn Geschwindigkeit: dienten Dank nun wirklich nicht kredenzen. Was im Pazifischen und im Indischen Ozean; dort ist Entdeckung Nummer eins: ein Feld mit mehreren 75 Tage tun? – Schließlich würde es noch 227 Jahre dauern, auch das Nachfolgemodell unterwegs. Schwarzen Rauchern von außergewöhnlicher Größe Seezeit: 50 Personen ehe der Schotte William Cullen die erste künstli- Wissenschaftl. Personal: che Kühlung erfinden sollte. Nun, Magellan ließ An dem neuen Hightechschiff, dessen Heimat- Mitte 2015, der Monat Juli biegt schon mächtig auf die Flaschen an Seilen befestigt Hunderte Meter hafen Wilhelmshaven ist, erinnert kaum etwas die Zielgerade ein, arbeitet sich die SONNE gerade Einsatzgebiete: Nord- und Südpolarmeer hinab in die Tiefen des Meeres. Dort unten, so an seinen legendären Vorgänger. Man hört das durch den Golf von Mexiko. Die Wissenschaftle- BMBF hatte er zuvor herausgefunden und beschrieben, Strahlen und auch Staunen in den Stimmen der rinnen und Wissenschaftler an Bord untersuchen Eigner: ist das Wasser immer eiskalt. Und in der Tat soll Wissenschaftler, wenn sie von ihrer Zeit an Bord Kohlenstoffemissionen am Meeresboden, die von das kostbare Nass gut gekühlt gewesen sein, als es des neuen Spitzenfahrzeugs der Forschungsflot- vulkanischen Aktivitäten hervorgerufen werden. nach einiger Zeit wieder emporgezogen wurde. te berichten: „modernste Ausstattung; weltweit „Solche Aktivitäten am Meeresboden sind weit- einzigartig; Einblicke gehend unerforscht. Sie stellen ein Risiko dar, kön- Heute weiß man in die Tiefsee wie nen Tsunamis verursachen, Giftstoffe ins Wasser über die tiefe See nie zuvor …“ – die abgeben, und sie bedeuten für die Lebensformen Während sich der einmonatige Aufenthalt der Eigens für die Polar- weit mehr – und vor Anleitung anerkennenden drum herum eine echte Katastrophe“, sagt der Wissenschaftler, die ganz unterschiedliche fach- forschung konzipiert, allem: Man kann mit Über die Ozeane, den größten aller Lebens- Worte nehmen kein Fahrtleiter der „Expedition SO241“ Professor liche Expertise mitbringen, an Bord bereits dem ist die POLARSTERN modernen Geräten räume, wissen wir nach wie vor vergleichs- Ende. Im Dezem- Dr. Christian Berndt vom GEOMAR Helmholtz- Ende zuneigt, ereilt die Gruppe eine kleine Sen- ausgestattet für unmittelbar Einblick weise wenig. Um die Meere erforschen zu ber 2014 hatte das Zentrum für Ozeanforschung Kiel. sation: Das Team spürt ein bisher unbekanntes Forschung in den nehmen. Möglich können, sind moderne Schiffe mit entspre- schwimmende Hydrothermalfeld mit mehreren Schwarzen Bereichen Biologie, ist und wurde dies chender wissenschaftlicher Ausrüstung Hochleistungslabor Die Aktivitäten „seines“ Teams an Bord mit For- Rauchern auf. Das Besondere – es sind außerge- Geologie, Geophysik, nicht zuletzt durch notwendig. Deutschland verfügt über eine Fahrt aufgenommen schern aus Deutschland, Mexiko, der Schweiz, wöhnlich große heiße Quellen. Das frisch entdeck- Glaziologie, Chemie, die SONNE; genauer: Flotte von acht solcher Schiffe für den Ein- mit der Jungfern- Norwegen und Taiwan stehen im Zusammen- te Feld ist rund 500 Meter lang und besteht aus Ozeanographie und zunächst durch die satz auf allen Meeren und Ozeanen – und reise von Kiel nach hang mit Beobachtungen zu klimatischen Ver- mindestens vier Ablagerungshügeln, jeder bis zu Meteorologie. Der Vor- alte und nun durch gilt mit dieser Infrastruktur als eine der füh- Las Palmas – an änderungen weltweit. Verlässliche Vorhersagen 70 Meter hoch. „Dieser Fund eines Hydrothermal- lauf für Fahrtvorschlä- ihre Nachfolgerin, die renden Nationen weltweit. Bord insbesondere sind nur möglich, wenn – nahezu – alle Faktoren feldes mit mehreren Schwarzen Rauchern unge- ge liegt derzeit bei

neue SONNE. Die- Forscher vom wis- bekannt sind, die das Klima beeinflussen. Aussa- wöhnlicher Größe ist wirklich bemerkenswert“, drei bis vier Jahren. Sie Die Forschungsschiffe SONNE, POLARSTERN, ses „schwimmende senschaftlichen gen über die Zukunft kann dabei auch der Blick erklärt Geophysiker Berndt. „Er könnte unser Bild untersteht dem Bund HEINCKE, METEOR, MARIA S. MERIAN, Hochleistungslabor“ Heimatinstitut der in die Vergangenheit gewähren. Einer Hypothese davon ändern oder zumindest deutlich schärfen, als Eigner – ebenso ELISABETH MANN BORGESE, POSEIDON und oder „die kleine Uni- neuen SONNE, dem zufolge haben verstärkte vulkanische Aktivitäten wie Kohlenstoff von Sedimentbecken in der Tief- wie die HEINCKE und ALKOR wurden speziell für die Belange der versität“, wie das Institut für Chemie während der Öffnung des Nordatlantiks vor rund see abgegeben wird. Das hätte grundlegende Kon- die METEOR. Meeresforschung konstruiert. Sie sind für Ende 2014 im nieder- und Biologie des 54 Millionen Jahren eine schnelle Erwärmung aus- sequenzen für die Abschätzung der Bedeutung Arbeiten in den Bereichen Biologie, Geologie, magmatischer Systeme auf das System Erde.“ sächsischen Papen- Geophysik, Glaziologie, Geochemie, Ozeano- Meeres (ICBM) gelöst – Fachleute bezeichnen dieses Ereignis als burg in der Meyer- graphie und Meteorologie ausgerüstet. Ihre der Universität Paläozän-Eozän-Temperatur-Maximum (PETM). Werft vom Stapel Einsatzgebiete sind so vielfältig wie die Mee- Oldenburg. Seit- Belege für oder auch gegen diese Vermutung zu Im Einzelnen stellt sich das wie folgt dar: Bricht gelaufene Schiff resforschung. dem beschäftig- finden, war Ziel von „Expedition SO241“, die dafür eine kontinentale Kruste frisch auf, folgt eine von vielen Wissen- ten sich an Bord das Guaymas-Becken im Golf von Mexiko auf- Phase, in der am Meeresboden Vulkanismus statt- schaftlern genannt Welche Kennzahlen und Kerndaten die Meereskundler suchte. Es gilt als Modellregion für die Verhältnis- findet. Das magmatische Gestein dringt in die wird, kann im Schiffe abbilden, das zeigen die Spiel- und andere Wis- se im Nordatlantik am Ende des Paläozäns. bereits am Meeresboden abgelagerten Sedimente karten auf den nächsten Seiten.

130 Impulse 01_2016 131 Als interdisziplinäre Meteor Forschungsplattform steht die METEOR Wissen- schaftlern der maritimen Meteorologie und Aero- logie, der physikalischen ein. Dort erhitzt dieses Gestein das Porenwasser Das Team an Bord der SONNE identifizierte An Bord allerdings war für Ozeanographie, der derart, dass große Mengen Kohlenstoff, der vor- mögliche Stellen von Flüssigkeitsaustritten am ihn und „sein“ internationales angewandten Physik, der her zusammen mit den Sedimenten abgelagert Meeresboden auf der Basis seismischer Daten Team am 24. Juli 2015 erst ein- Meereschemie, der mari- worden war, freigesetzt werden. Das mit dem und von Fächerlot-Messungen zur betreffenden mal Schluss, dann erreichte die nen Botanik, der Zoologie, Kohlenstoff angereicherte Wasser beginnt zur Unterwasserregion. Das Fächerlot ist eine Art SONNE den Hafen von Guayaquil der Bakteriologie und Oberfläche zu wandern; dort entweicht das Gas in weiterentwickeltes Hightech-Echolot, bei dem in Ecuador – und dort warteten Mykologie, der Meeres- die Atmosphäre. die Richtungsauflösung zwischen Sender (hohe schon ungeduldig die nächsten 98 m geologie, der Sedimen- Auflösung in Vorausrichtung, breit in Querrich- Forschergruppen mit ihren Frage- Länge: tologie und der marinen Das Forschungsschiff Da solche Systeme während der Öffnung des tung) und Empfänger (mehrere Empfangskeulen stellungen im Gepäck. Unmittel- 11,5 kn Geophysik zur Verfügung. Geschwindigkeit: HEINCKE wurde 1990 Nordatlantikbeckens vor rund 54 Millionen Jah- durch elektronisches Schwenken der Richtkeulen bar auf Christian Berndt und seine 50 Tage Wer mit seinem Projekt in Dienst gestellt und ren weit verbreitet waren, nehmen Forscher an, simultan für viele Richtungen) geteilt wird – eben Gefährten folgte am 29. Juli „Expe- Seezeit: an Bord will, muss im 28 Personen gehört zu den mittel- dass sie für die als PETM bekannte rasante globale gleich einem Fächer. Sie erlauben im Unterschied dition SO242/1“ unter der Leitung Wissenschaftl. Personal: günstigsten Fall aktuell großen Schiffen. Sie Erwärmung zumindest mitverantwortlich sein zu herkömmlichen Echoloten eine flächige Erfas- von Professor Dr. Jens Greinert zwei Jahre warten. Atlantik, Ostsee, Ost - ermöglicht wissen- könnten. Bis jetzt war allerdings unklar, wie inten- sung des Meeresbodens unter dem Schiff statt vom GEOMAR Helmholtz-Zentrum Einsatzgebiete: schaftliche Projekte in siv diese Systeme tatsächlich sind oder waren wie bisher lediglich von Profillinien. für Ozeanforschung Kiel – zu dieser pazifi k,Westindik, Mittelmeer den Bereichen Biologie und welche Arten von Kohlenstoffverbindungen Reise später mehr. Einen Monat BMBF und Hydrographie und sie ausgestoßen haben. „Das Guaymas-Becken im Die entsprechend ausgewählten Plätze wurden danach dann, am 29. August, Eigner: wird an rund 200 Tagen Golf von Mexiko könnte darauf Antworten liefern, dann mit dem Tiefseeroboter HYBIS eingehender schloss sich die renommierte Mee- im Jahr eingesetzt bei denn dort öffnet sich zurzeit ebenfalls ein noch untersucht. Schon bei dessen erstem Tauchgang resforscherin Professorin Dr. Antje einer Vorlaufzeit für verhältnismäßig junges Ozeanbecken, in dem fingen die HYBIS-Kameras Bilder eines ausge- Boetius mit ihrem Team als „Expe- startete Buchungswünsche von die ersten vulkanischen Einträge in das Sediment- dehnten Hydrothermalfelds ein. Dort entweichen dition SO242/2“ an; Verweildauer Mitte Dezember 2014 und zurzeit einem Jahr. becken stattfinden“, sagt Berndt. mehrere Hundert Grad Celsius heiße Flüssigkeiten immerhin bis Mitte Oktober 2015. Sie griff Arbei- hatte den auf halber Strecke zwischen Afrika und dem Meeresboden, aus denen bei Kontakt mit ten des Vorgängerteams an Bord auf und richtete Amerika gelegenen Mittelatlantischen Rücken dem kalten Meerwasser sofort Mineralien ausfal- den Fokus auf die Zusammensetzung benthischer, zum Ziel. Geleitet wurde sie vom Meeresboden- len, die sich am Meeresboden ablagern. Die hei- also in der Bodenzone des Meeres vorkommender experten Professor Dr. Colin Devey vom GEOMAR ßen Flüssigkeiten sind mit Methan angereichert, Gemeinschaften lebender Organismen sowie ent- Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel. das hoch in die Wassersäule transportiert wird. sprechende Ökosystemfunktionen. Zum anderen „Wir wollten herausfinden, wie Meeresböden ent- Heincke standen detaillierte biogeochemische Untersu- stehen. Geht die Entwicklung homogen oder eher chungen auf dem Programm. sprunghaft vonstatten? Das Gebiet ist für solche Großer Andrang – die Forschungsaufenthalte Untersuchungen sehr gut geeignet, denn hier ver- an Bord sind für die nächsten Jahre fest vergeben Und so nahtlos in der Belegung des Schiffes geht läuft die Trennlinie der Kontinente Amerika und es immer weiter. Der Andrang ist groß: Noch Afrika, die sich immer noch voneinander wegbe- „Solche heißen Quellen kennt man vor allem vom bevor die neue SONNE im Dezember 2014 über- wegen“, sagt Devey. mittelozeanischen Rücken. Ein Feld dieser Größe haupt ihre erste Seemeile zurückgelegt hatte, war abseits einer ‚Spreizungsachse‘ ist ungewöhn- sie schon bis Ende 2016 ausgebucht. Und kurz An einem der vierzig Fahrttage, unterwegs mitten lich“, sagt Berndt. Die Größe und die Aktivität nach der Jungfernfahrt reichten dann die Buchun- im Atlantik, zogen die Forscher von SO237 wie des Systems sprächen dafür, dass hydrothermale gen bereits bis tief ins Jahr 2017 hinein. üblich eines jener modernen Forschungsgeräte, Quellen tatsächlich Einfluss auf das globale Kli- das ständig im Einsatz ist, routinemäßig an Bord ma haben könnten, sofern sie in sich öffnenden – einen Epibenthosschlitten. Ihn hatte die Crew in Länge: Ozeanbecken in großer Anzahl aufträten. „Natür- Entdeckung Nummer zwei: kegelgroße Knollen, die Tiefe gelassen, um Proben von Sedimenten des 55 m Geschwindigkeit: lich ist das jetzt nur ein erster Eindruck, und nach die seltene Metalle enthalten Meeresbodens hinaufzuholen. Doch statt der Sedi- 12,5 kn der Expedition müssen wir die Proben und Daten mente brachte der Schlitten Manganknollen an Seezeit: aus dem Guaymas-Becken schnellstmöglich Die Expeditionsteilnehmer brachten von bis- Deck. Die Planktonnetze, die zu den Netzbechern 21 Tage Wissenschaftl. Personal: genau analysieren – ich bin aber sicher, wir erhal- lang jeder Fahrt spannende Erkenntnisse und führen, in denen die Proben gesammelt werden, 12 Personen ten faszinierende Ergebnisse“, fasst der Kieler spektakuläre Funde mit heim – gleich die erste seien gefüllt damit gewesen, berichten Teilneh- Wissenschaftler zusammen. Forschungsreise SO237 machte von sich reden. Sie mer der Fahrt. Manche der Knollen seien so groß Einsatzgebiete: Nordsee und Nordatlantik Eigner: BMBF

132 Impulse 01_2016 133 Maria S Merian MARIA S. MERIAN: Sie zeichnet sich gegenüber anderen Forschungsschiffen vor allem durch ihre Eisrandfähigkeit aus. gewesen wie Golfbälle, andere gar wie Kegelku- wie sich beide Gruppen über eine gemeinsame Süd-Richtung Greinert vom GEOMAR Benannt wurde das geln. Manganknollen bestehen bis zu maximal Probennahme gefreut haben und in wissenschaft- durch den ganzen Helmholtz-Zentrum Forschungsschiff nach knapp einem Drittel ihres Volumens aus dem licher Faszination vereint waren.“ Ozean ziehenden für Ozeanforschung Maria Sibylla Merian, Metall Mangan und lagern auf dem Meeresboden mittelatlantischen Kiel ein internationa- der Begründerin der in Tiefen zwischen 4000 und 6000 Metern. Sie Der Blog wird rege betrieben und hat zahlreiche Rückens. Doch Pläne 95 m les Wissenschafts- deutschen Entomo- sind zunehmend begehrt wegen ihres Gehalts an Leser. Viele Teilnehmer der Fahrten schreiben können sich manch- Länge: team auf der logie, die Ende des 17. seltenen Metallen; Elemente wie Kupfer, Cobalt, regelmäßig über ihre Erfahrungen und Erlebnisse, mal schnell ändern, 12,5 kn SONNE. Der Gruppe Jahrhunderts als erste Geschwindigkeit: Zink und Nickel etwa enthalten sie regelmäßig, und beileibe nicht nur über Forschung. Der aller- und so blieb auch 35 Tage gehörten Kollegen Frau Forschungsreisen wenn auch nur jeweils bis zu maximal einem Pro- erste Eintrag Mitte Dezember 2014 ist hier ebenso die aus den Tiefen Seezeit: aus Deutsch- größeren Ausmaßes 22 Personen zent. Der Eisenanteil liegt bei 15 Prozent. wegweisend wie stilbildend: „Nachdem die Wis- emporgezogene Ent- Wissenschaftl. Personal: land, Portugal, per Schiff unternahm. senschaftler am 14. Dezember in Las Palmas, Gran deckung nicht ohne Großbritannien, Wartezeit: zwei Jahre. Subpolare , Nordmeer, Zur gleichen Zeit an Bord, mit ganz anderen For- Canaria, angekommen und vom Agenten auf das Folgen. Da inzwi- Einsatzgebiete: Belgien und den schungsfragen im Gepäck, ist damals die Meeres- neue FS SONNE gebracht worden waren, wurden schen bekannt ist, Nordatlantik, Mittelmeer Niederlanden biologin Angelika Brandt. Die Professorin an der die Kammern verteilt. Nach dem Abendessen dass in bestimmten an. Mecklenburg-Vorpommern Universität Hamburg und ausgewiesene Expertin wurden erst einmal die persönlichen Gegenstän- Gebieten des Pazifiks Eigner: für wirbellose Tiere will im Atlantik erkunden, de verstaut. Als dann die Reisepässe aller Wissen- größere Vorkommen Sie alle sind wie sich die Zusammensetzung der Meeresfauna schaftler von den örtlichen Behörden gescannt an Manganknollen sich einig: Der Einsatz und -flora östlich und westlich des Mittelatlan- worden waren, war um 20.30 Uhr Auslaufen des lagern, fiel schnell neuester Tiefseetech- tischen Rückens unterscheidet. Auch ihre Begei- FS SONNE, und alle, aber auch alle versammelten schon der Entschluss, nik an Bord der SONNE erbrachte sensa- sterung über den Manganknollenfund ist hörbar, sich auf den verschiedenen Decks, um das Auslau- exemplarisch einige dieser Orte mit der SONNE tionelle Bilder und Daten vom Meeresgrund. wenn sie von einer „absolut überraschenden fen aus dem Hafen von Las Palmas und die Pas- sogar noch in 2015 und dann intensiver in den Mithilfe des autonomen Unterwasserfahrzeugs Entdeckung“ spricht. Der Anblick habe nicht nur sage vorbei an verschiedenen großen Kreuzfahrt- kommenden Jahren wissenschaftlich zu untersu- AUV ABYSS erstellten die Wissenschaftler eines – das sei ja weniger überraschend – die Biologen schiffen und Fähren hautnah zu erleben“. chen. der größten hochauflösenden Fotomosaike von im Team elektrisiert, sondern gerade auch die Tiefseeböden, die weltweit bis dato existieren. Geologen. Und die stimmen zu, denn bislang sei- Der Fund und Fang der Manganknollen während „Sowohl die Technik, die wir eingesetzt haben, als en substanzielle Vorkommen von Manganknollen der ersten Reise des Fotomosaike von Meeresböden: faszinierende auch die Ergebnisse sind bemerkenswert“, resü- nur aus dem Pazifik neuen deutschen „Kunstwerke“ aus 4000 Metern Tiefe miert Fahrtleiter Professor Dr. Jens Greinert. bekannt gewesen. Tiefseeforschungs- Die ELISABETH MANN Per Zufall nun war die Elisabeth schiffs war übrigens Denn ein solcher Fund weckt natürlich Begehr- Arbeitsgebiet der Expedition mit der offiziellen BORGESE wird durch Crew im Atlantik auf Mann Borgese – wie so oft in der lichkeiten, und der Gedanke an eine mögliche Nummer SO242/1 war das sogenannte DISCOL- das Leibniz-Institut ein circa 5000 Meter Wissenschaft – eine Ausbeutung solch eines Areals – Manganknol- Gebiet im über 4000 Meter tiefen Peru-Becken. für Ostseeforschung unter dem Meeresspie- für alle Beteiligten len enthalten wie beschrieben diverse seltene, DISCOL steht für „DISturbance and re-COLonization Warnemünde (IOW) gel liegendes Feld dieser überraschende, weltweit stark nachgefragte Metalle – liegt nahe. Experiment“. Bei diesem Langzeitexperiment betrieben. Das IOW Klumpen gestoßen. spektakuläre Beiga- Welche Folgen aber hätte der Abbau von Mangan- pflügten deutsche Wissenschaftler im Jahr 1989 führt die Begutachtung be. Eigentlich waren knollen in der Tiefsee? in einem genau definierten, elf Quadratkilometer von Fahrtvorschlägen Im Blog der Expediti- die Teilnehmer der großen Gebiet mit ausgeprägten Vorkommen an durch. Erhält man onsteilnehmer (www. Expedition SO237 Man stelle sich einfach vor, wie gewaltige unbe- Manganknollen am Meeresboden eine Fläche von einen Zuschlag, dauert oceanblogs.org/so237) fin- ausgefahren, um mannte Raupenfahrzeuge sich auf vorprogram- etwa 2,5 Quadratkilometern systematisch um. es etwa ein Jahr, bis det sich für jenen Tag fol- im Atlantik die Bio- mierten Bahnen über den Meeresboden bewegen Ziel war es, über lange Zeiträume zu beobachten, man an Bord gehen gender Eintrag: „Gewöhn- Länge: logie und Geologie und dabei den weichen Untergrund aufwühlen welche Auswirkungen solche Störungen in der und forschen kann. Eig- lich setzen Geologen und 56,5 m der „Vema Fracture bei der Suche nach Erzknollen. Welche Schäden Tiefsee haben und wie massiv gestörter Tiefsee- ner von ihr und ihrem Biologen verschiedene Geschwindigkeit: Zone“ genauer zu würde ein derartiger Bergbau anrichten? Wie boden wieder besiedelt wird. Um die Entwicklung 11 kn Schwesternschiff, der Geräte ein, um an ihre Seezeit: untersuchen, der lange würde die Natur benötigen, die Wunden zu beobachten, fanden 1992 und 1996 weitere MARIA S. MERIAN, ist spezifischen Proben zu 14 Tage größten Störungs- wieder zu schließen? Mit möglichen Auswirkun- Expeditionen in das Gebiet statt. Jetzt, rund zwei Wissenschaftl. Personal: das Land Mecklenburg- gelangen; in diesem Falle 12 Personen zone im Verlauf gen vor allem auf die Umwelt beschäftigte sich im Jahrzehnte nach der bis dato letzten Fahrt ins DIS- Vorpommern. war es sehr schön zu sehen, des sich in Nord- August 2015 unter Leitung von Professor Dr. Jens COL-Gebiet, konnte das internationale Forscherte- Einsatzgebiete: Ostsee Eigner: Mecklenburg-Vorpommern 134 Impulse 01_2016 135 Poseidon

Die POSEIDON zählt zu den mittelgroßen Forschungsschiffen. Ihr Namensgeber ist der griechische Gott des am auf der SONNE Bilder aber erkennen, Lotanlagen, mit denen sich in Sedimente hinein- James-Bond-Film denkt. Dort könnte der dreiein- Meeres. Sie steht vor erstmals wieder dass wenige Dezi- schauen lässt. Experten für das Lesen und Aus- halb Meter große Sensor für elektromagnetische allem Wissenschaft- den Meeresboden meter neben den werten der Daten findet man dort nahezu rund Felder zweifellos als eine jener in den Actionfil- lern der Ozeanografie, dort genau unter Pflugspuren nor- um die Uhr, so scheint es. Innovatives wie schon men stets futuristisch anmutenden Erfindungen der Meeresbiologie die Lupe nehmen. males Tiefseeleben beschrieben auch beim Echolot, das am Boden seinen Einsatz gehabt haben. Das Gerät jedenfalls 61 m und der Geologie für „Mit ganz anderen Länge: vorhanden ist. des Schiffes sitzt und von dort aus Ultraschall in kann bis in Tiefen von 5000 Metern hinab den Forschungsreisen zur Möglichkeiten, denn 09 kn „Außerdem hat die Tiefe sendet. Dieser wird vom Meeresgrund Meeresgrund scannen. Es wird nach und nach viel Verfügung; sie brauchen mittlerweile ist die Geschwindigkeit: die Expedition über die Strukturen der Erdkruste verraten. 21 Tage reflektiert, und die entsprechenden Echos fängt derzeit etwa zwei Jahre Tiefseetechnik zum Seezeit: gezeigt, dass das Gerät wieder auf. Das Resultat: eine genaue Geduld, wenn sie einen Glück viel weiter als 11 Personen die Tiefsee kein Karte vom Meeresgrund. Jedoch: Bei Seegang kön- Bald schon soll Golden Eye im Indischen Ozean Wissenschaftl. Personal: Buchungswunsch geäu- in den 1990er Jah- unkontrollier- nen Luftblasen unter den Rumpf geraten und den zum Einsatz kommen und dort insbesondere ßert und einen Zuschlag ren“, sagt Jens Grei- barer Raum Ultraschall blockieren – ein altbekanntes Problem Mineralien am Meeresboden detektieren. Das Ziel Einsatzgebiete: Nordatlantik, Mittelmeer bekommen haben. nert. sein muss. der Schifffahrt. Um das zu verhindern, haben sich ist hier durchaus vornehmlich ein ökonomisches: Schleswig-Holstein Eigner: Wer immer die Konstrukteure einen Trick überlegt und den Es geht um Bodenschätze, es geht um Rohstoffe. Zu den Technologien, dort mit Bergbau Rumpf des Schiffes mit Vor- und Auswölbungen Denn im Indischen Ozean hat sich die Bundesre- die damals noch nicht beginnen sollte, dem versehen. Diese leiten Luft, die unter die Was- publik Deutschland ein Lizenzgebiet gesichert, um zur Verfügung stan- könnte man genau auf seroberfläche kommt, nach oben ab. Auch bei star- die Suche nach Kupfer, Kobalt, Indium und Selen den, gehören autono- die Finger schauen. Die kem Seegang sollen so die Echolotanlagen an Bord zu erforschen – sämtlich Elemente, nach denen me Unterwasserfahr- erforderliche Technologie ist der SONNE zuverlässig arbeiten. die heimische Industrie immer lauter ruft. zeuge wie das AUV ABYSS. Zwanzig Stunden lang vorhanden“, betont der Experte für Tiefseemoni- kann es in bis zu 6000 Meter Wassertiefe einpro- toring. Wieder zurück an Deck, sieht man ein goldgelb Zur Ausrüstung zählen darüber hinaus For- grammierten Wegen folgen und dabei den Mee- lackiertes Gebilde, das irgendwie an ein Fahrrad- schungswinden mit Drähten und Kabeln von bis resboden mit Fächerecholoten und Seitensicht- modell längst vergangener Zeiten erinnert, nur zu zwölf Kilometern Länge. Das ermöglicht Mes- Die ALKOR zählt wie sonaren präzise kartieren. „Eine zudem erst im Ob im Innern des Schiffs oder außen: überdimensioniert. Golden Eye heißt das Gerät, sungen im äußersten unteren Rand des Weltmee- ihr Schwesternschiff vergangenen Jahr neu entwickelte Lichttechnik Hightech, wohin der Blick fällt … bei dessen Bezeichnung man zunächst an einen res. Nicht fehlen darf an Bord natürlich ein Unter- HEINCKE zu den mit- ermöglicht zusätzlich gestochen scharfe Farbbil- wasserroboter, ein Remote Operated Vehicle – kurz: telgroßen Forschungs- der des Meeresbodens“, erklärt der Kieler Wissen- Überhaupt wird bei einem Blick auf den Bele- ROV. Zwei Piloten steuern das System vom Schiff schiffen. Eigner ist schaftler. Während der Expedition wurden mehre- gungsplan des Schiffes und die Zwecke und aus. Mehrere Kameras am ROV liefern hochpräzi- jedoch nicht der Bund, re 100.000 Fotos des Meeresbodens aus wenigen Ziele der Reisen schnell deutlich, wie breit das Alkor se Fotos in bislang für solche Systeme unter Was- sondern – wie bei der Metern Entfernung geschossen und anschließend Spektrum an Forschungsthemen ist. Damit diese ser nicht erreichter Qualität. Mit fremd gesteuer- POSEIDON – das Land zu einem Fotomosaik in nie gekannter Auflösung keine bloßen Wunschträume bleiben, verfügt die ten Greifern wiederum lassen sich Proben vom Schleswig-Holstein. zusammengesetzt. SONNE über eine erlesene Zusammenstellung an Meeresboden heraufholen und gleich an Bord Gerätschaften und Infrastruktur an Bord. Die zahl- mithilfe zahlreicher Geräte analysieren – darunter Noch einen Vorteil bietet das AUV. Während das reichen „Superinstrumente“ für die Tiefseefor- vieles, was die Wissenschaft derzeit an Neuestem Gerät in den Tiefen autonom seine Bahnen zieht, schung rufen bei den Wissenschaftlerinnen und in Analyse und Experiment zu bieten hat. kann die SONNE an anderer Stelle Proben neh- Wissenschaftlern regelmäßig Begeisterung her- men. So wird wertvolle Zeit gespart. „Wir haben vor – Greifer, Bojen, Unterwasserroboter beispiels- die Fähigkeiten des Geräts während dieser Fahrt weise, die man schon auf den ersten Blick sieht. Auch Sport an Bord gibt’s: ein paar Angebote voll ausgereizt: Es hat sich fantastisch bewährt“, Und der schweift ja anfangs nur außen herum … für die wenige Freizeit – immerhin schwärmt Greinert, der jetzt mit seinem Team, zurück in Kiel, die gesammelten Daten, Karten, Im Inneren des Forschungsschiffes dann noch Länge: Neben hypermoderner Technik besticht das Schiff 55 m Fotos und Proben genauer analysiert. „Schon die mehr Hightech. Das Neueste vom Neuesten, Geschwindigkeit: durch relativ große Wohnräume, Bibliothek und ersten Eindrücke sind äußerst interessant“, sagt wohin man schaut. Ein Hydroakustiklabor etwa: 12,5 kn Besprechungszimmer nebst zahlreichen Aufent- Seezeit: er. Die Pflugspuren von 1989 sind nach wie vor ein fensterloser Raum mit mehreren Bildschirmen 21 Tage haltsräumen. Sie sollen dazu beitragen, das Leben messerscharf zu sehen und die gestörten Bereiche an den Wänden. Denn das Schiff verfügt über Wissenschaftl. Personal: der 35 Besatzungsmitglieder und von bis zu 12 Personen noch nicht wieder besiedelt. Zugleich lassen die hochauflösende Fächerlotanlagen und weitere vierzig Wissenschaftlern auf den wochenlangen, Einsatzgebiete: Nord-und Ostsee Eigner: Land Schleswig-Holstein 136 Impulse 01_2016 137 Sonne Mit der Indienststellung der neuen SONNE Ende 2014 begann technisch gesehen eine neue Ära. Das Schiff steht allen meeres- wissenschaftlichen Disziplinen zur Verfügung. Forscher müssen sich derzeit auf zweieinhalb Jahre Wartezeit einstellen.

arbeitsintensiven Fahrten so angenehm wie mög- Nicht nur die Expeditionsteilnehmer zeigen sich Apropos schwimmende Forschungsplattform: lich zu gestalten. Denn wenngleich die SONNE im Übrigen angetan von dem Schiff, dessen Kom- Mit dem hin und wieder durchaus mal unsteten, zuallererst ein Arbeitsschiff ist, gibt es Angebote fort und Hightechgerätschaften. Auch die Crew schwankenden Boden unter den Füßen haben für die wenige Freizeit wie etwa einen gut aus- stimmt in den Chor der Begeisterten ein: „Das offenbar nur einzelne der zumeist klassischen gestatteten Sportraum, Sauna und fürs Deck ein Schiff hat nach meiner Einschätzung eines der Landratten unter den an Bord gehenden Wissen- 116 m nach Bedarf mobil aufbaubares Schwimmbad; besten Verhalten auf See; vom Seegangsverhalten schaftlerinnen und Wissenschaftlern Probleme. Länge: ebenso wenig fehlen eine Messe und eine Bar her hat es eine ziemlich gute Seele“, sagen sie Ein Mitglied der Crew fügt nach kurzer Pause noch 12,5 kn Geschwindigkeit: samt Lounge. Ein bisschen Abwechslung braucht alle so oder so ähnlich – bis hinauf zum Kapitän. augenzwinkernd hinzu: Bei der ersten Fahrt habe 21 Tage es schließlich, kann doch die SONNE fast zwei Dreißig Jahre soll die neue SONNE der deutschen man beim Verlassen des Ärmelkanals stürmische Seezeit: 40 Personen Monate lang ohne Unterbrechung auf See bleiben. Wissenschaft nun als schwimmende Forschungs- See gehabt, aber die SONNE habe so gut im Wasser Wissenschaftl. Personal: Erst dann muss sie einen Hafen anlaufen, um plattform vor allem im Indischen und Pazifischen gelegen, dass es verblüffenderweise keine Ausfälle  Indik, Pazifi k Treibstoff und Vorräte zu bunkern. Ozean dienen. aufseiten der Wissenschaftler gegeben habe. Einsatzgebiete: BMBF Eigner: i können die genannten Schiffe für ihre Experimen- Bei der Auftragsvergabe hatte sich die Tiefseefor- Expertenmeinung lassen sich die Forschungsaufga- Die deutsche te nutzen. Dazu müssen sie Fahrtvorschläge beim schungsschiff GmbH – ein Zusammenschluss der ben künftig auf nur einem Schiff konzentrieren, da Forschungsflotte „Portal deutsche Forschungsschiffe“ einreichen. Meyer-Werft in Papenburg und der Bremer Reederei sich das Einsatzspektrum von Forschungsschiffen Eine Begutachtung entscheidet dann darüber, wer RF Forschungsschiffahrt – in einem europaweiten heute dank modernster Technik deutlich erweitert zum Zuge kommt (www.portal-forschungsschiffe.de). wettbewerblichen Ausschreibungsverfahren gegen hat. Die Bauplanung für das neue Schiff beginnt Hintergrund Deutschland verfügt über eine Flotte von acht For- starke Konkurrenz durchgesetzt. Der Auftrag gab 2016; entsprechend gibt es zu Größe und Kosten- schungsschiffen für den Einsatz auf allen Meeren Die Kosten für die Finanzierung der Schiffe tragen nicht nur einen kräftigen Impuls für die deutsche rahmen noch keine Zahlen. und Ozeanen weltweit. Die Palette reicht von klei- Bund und Länder. Das Prozedere lässt sich am Bei- maritime Wirtschaft, er sicherte auch Arbeitsplätze nen, regional operierenden Einheiten für die Fahrt spiel der SONNE gut aufzeigen. 2008 verständigten in der hiesigen Werftindustrie, der Reederei sowie Zurück zur SONNE: übereinstimmenden Einschät- entlang von Deutschlands Küsten bis hin zu moder- sich der Bund und die Küstenländer Niedersachsen, bei zahlreichen deutschen Zulieferbetrieben. zungen zufolge absehbar das einzige europäische nen, hochseetüchtigen Spezialschiffen, die auch Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein, Forschungsschiff, das noch permanent im Indischen die entferntesten Meeresgebiete erreichen können. Hamburg und Bremen auf den Bau des neuen Tief- Die Kosten in Höhe von 124,4 Millionen Euro über- und im Pazifischen Ozean unterwegs ist. Damit wird Unter „deutscher Forschungsflagge“ können zwei seeforschungsschiffes. Der Wissenschaftsrat hatte nahm das Bundesministerium für Bildung und For- sein Einsatz für die Wissenschaft umso bedeuten- weitere Schiffe neben der SONNE in allen Ozeanen dies zuvor empfohlen und den geplanten Neubau in schung zu 90 Prozent; die Küstenländer investierten der, da beide Weltmeere großen Einfluss haben auf operieren: die POLARSTERN, die vor allem in den die erste Kategorie der ohne Auflagen förderungs- im Verbund zehn Prozent, wovon Niedersachsen das Weltklima, dessen Erforschung immer wichtiger Gewässern der Arktis und Antarktis unterwegs ist, würdigen Forschungsinfrastrukturen eingeordnet. als Sitz des wissenschaftlichen Heimatinstituts an wird. Wissenschaftler an Bord der SONNE arbeiten und die METEOR, die im Atlantik, im Mittelmeer und der Universität Oldenburg und des Heimathafens aber auch – das zeigt eine Auflistung geplanter For- im Indischen Ozean kreuzt. Fünf Schiffe hingegen Im August 2011 unterzeichneten die damalige Bun- Wilhelmshaven mit sieben Millionen Euro allein schungsthemen – an der Beantwortung weiterer sind spezifisch regional im Einsatz, in Nord- und desforschungsministerin Annette Schavan und die gut die Hälfte trägt. wissenschaftlich und gesellschaftlich relevanter Fra- Ostsee, Nordatlantik und Mittelmeer: die MARIA S. seinerzeitige niedersächsische Wissenschaftsmini- gen. Sie interessiert unter anderem die Versorgung MERIAN, die POSEIDON, die ELISABETH MANN BOR- sterin, heutige Bundesforschungsministerin Johan- Nach dem gelungenen Neubau der SONNE zeigt mit marinen Rohstoffen oder die Auswirkungen GESE, die ALKOR und die HEINCKE. Insgesamt gilt na Wanka auf der Neptun-Werft in Rostock-Warne- derzeit Deutschlands größtes Forschungsschiff, menschlicher Eingriffe in die maritimen und küsten- die deutsche Forschungsflotte im internationalen münde den Vertrag zum Bau und zur Bereederung die vor 35 Jahren in Dienst gestellte POLARSTERN, nahen Ökosysteme. Für eine Meeresforschung im Vergleich als sehr gut aufgestellt und mit führend. des neuen Tiefseeforschungsschiffes SONNE. Nach zunehmend Alterserscheinungen. Anfang 2015 mus- Verbund ganz unterschiedlicher Disziplinen bietet einer Bauzeit von zwanzig Monaten und mehr- ste eine Antarktisexpedition abgebrochen werden, das neue Schiff jedenfalls beste Voraussetzungen. Diese Flotte ermöglicht es Wissenschaftlern, die wöchigen wissenschaftlichen Erprobungsfahrten weil es Probleme mit dem Antriebssystem gab. Damit verfügt die deutsche Meeresforschung künf- Weltmeere umfassend zu bereisen und zu erfor- wurde Deutschlands jüngstes Forschungsschiff Die Ausschreibung für ein Nachfolgeschiff läuft tig in Europa über ein Alleinstellungsmerkmal. schen – egal, ob der Fokus sich auf biologische, schließlich Mitte November 2014 der Wissenschaft bereits; 2020 soll dessen Jungfernfahrt anstehen. physikalische, geologische oder chemische Prozes- übergeben. Es ist nach neuesten Standards ausgerü- Und Anfang Oktober 2015 wurde beschlossen, die Christian Jung se im Meer richtet. Wie kommen Interessierte an stet: nicht nur hinsichtlich benötigter Forschungs- tief in die Jahre gekommenen Schiffe METEOR und ihre Tickets? Alle Wissenschaftler, die an öffentlich Hightech, sondern auch mit Blick auf Energieeffizi- POSEIDON ebenfalls zu ersetzen – und zwar durch Link: finanzierten Forschungseinrichtungen arbeiten, enz und ökologische Rahmensetzungen. ein Schiff, dessen Heimathafen Kiel sein soll. Nach  www.deutsche-meeresforschung.de/de/forschung

138 Impulse 01_2016 139 Schwerpunktthema

Ins Blaue hinein | OZEANE

Steife Brise für die Steckdose

Die Energiewende zu meistern, stellt eine der wichtigsten Heraus- forderungen unserer Zeit dar. Im Mix der Energieformen ist dabei die Windenergie ein entscheidender Baustein, Probleme der Energiever- sorgung zu lösen. Immerhin rund ein Zehntel des Stromverbrauchs in Deutschland wird von Wind- energieanlagen gedeckt. Besonde- ren Herausforderungen sehen sich Offshore-Anlagen ausgesetzt – aber sie bieten auch große Chancen.

Hunderte Kilometer Küste, viel Wind, offenes Wasser: Deutschland scheint wie geschaffen für das Erzeugen von Windenergie, vor allem offshore. Schon jetzt haben die Energiekonzerne reichlich Windräder ins Meer gestellt. Zahlreiche Jobs sind ent- standen. Doch für einen gelungenen, nachhaltigen Übergang zu „grüner“ Energiever- sorgung bleibt eine Menge zu tun. Forscher aus Niedersachsen sind vorn mit dabei.

Impulse 01_2016 141 Text: Christian Jung // Illustrationen: Dorota Gorski

rgendwie typisch, dieser Tag. Die Wolken In dem Testzentrum für Tragstrukturen erwartet Ipressen, der Himmel hängt tief, das Wasser geht die Forscher zum einen das 18,5 Meter lange und schwer. Und dann dieser Wind. Er scheint die Wel- zehn Meter breite „Spannfeld“. Es dient insbeson- len nach Willkür hin und her zu werfen und zu dere der mehraxialen Prüfung von Strukturen und schieben, als wollte er, wäre das möglich, jedem realen Komponenten. Hier traktieren die Exper- einzelnen Wassermolekül die Luft abdrücken. Zwi- ten etwa ­Turmsegmente oder Stützstrukturen schendrin besonders heftige Böen. Ein gewöhnli- mit enormen Kräften und stellen im Zeitraffer cher Tag eben, hier, im Spätherbst, an der Nordsee. die Belastungen nach, denen die Anlagen unter Extrembedingungen – etwa durch Monsterwellen Enorme Windstöße, Tornados inzwischen auch in und brachialen Wind – ausgesetzt sind. Die „Zuta- unseren Breiten, reichlich Regen und manchmal ten“ für solche Versuche: eine 200 Quadratmeter Blitzeinschläge: Wovor der Mensch fliehen kann, große Betonplatte, an zwei Seiten begrenzt von müssen Windenergieanlagen an vielen Tagen im einer hohen rechtwinkligen Betonwand. Jahr aushalten – und jene auf hoher See oft umso heftiger und ungeschützter. Dort zerren zusätzlich Zwischen beide, Boden und Wand, lässt sich Wellen, Salzwasser und ungebremste Stürme mit ein „Prüfling“ einspannen, zum Beispiel das unglaublicher Kraft und Wucht an Material, Sta- Stützrohr eines Windrades. 14 Hydraulikzylinder bilität und Standfestigkeit von Stahlrohren und ziehen dann quasi die Daumenschrauben an und Rotorblättern. Sie müssen diesen Unbilden der drücken, zerren und pressen auf Knopfdruck – Natur standhalten. Wie aber kann man wirklich bis zu 200 Tonnen wirken so auf ein Testobjekt Insgesamt kostete der Bau des Testzentrums für Haltbarkeit der zahlreichen Komponenten bear- Im Herbst 2014 nahm gewiss sein, dass die Technik sicher und zuverläs- ein. Wem das nicht reicht, der kann sein Objekt Tragstrukturen in Hannover-Marienwerder 26 beiten“, sagt Dr.-Ing. Maik Wefer. Der Leiter des in Norddeutschland sig läuft und das Material hält? in einer Klimakammer durch Temperaturwech- Millionen Euro, rund zehn Prozent der Baukosten Bereichs Strukturkomponenten beim Fraunhofer eine der weltweit sel im Zeitraffer künstlich altern lassen oder stammen aus dem „Niedersächsischen Vorab“ von IWES hofft auf Auftraggeber aus der Industrie und größten und modern- befördert vorzeitige Materialermüdung durch Land und Stiftung. Substanzielle Unterstützung von der öffentlichen Hand. Aktuell untersuchen sten Versuchs- und Sucht weltweit seinesgleichen: Das neue Testzen- Besprühung oder Vernebelung mit Salzwasser. steuerten auch der Bund und die Europäische Forscher im Laborversuch unter verschiedenen, Erprobungsanlagen trum für Tragstrukturen mit riesigen Prüfanlagen Die zerstörerischen Kräfte wirken so lange, bis Union bei – und die Leibniz Universität Hannover künstlich induzierten Bedingungen im Zeitraf- die Arbeit auf – das der Prüfling – durch welche Kraft auch immer beteiligte sich mit 2,8 Millionen Euro. Die Errich- ferverlauf insbesondere die Beanspruchung von Testzentrum für Trag­ In Niedersachsen, Deutschlands Windstromerzeu­ – kaputt ist: sich biegt, bricht oder birst. Feinste tung der gesamten Anlage ist Teil einer umfas- Tragstrukturen aus den Materialien Stahl, Guss, strukturen Hannover gungsland Nummer eins, tut man einiges, solche Messfühler zeichnen bis zum bitteren Ende alles senderen Kooperationsvereinbarung zwischen Beton sowie aus Hybridmaterialien. Ziel ist es, (TTH). Dort können For- Fragen zu beantworten und generell Forschung auf; auch Ultraschall lässt sich versuchsbeglei- der Hochschule und dem Fraunhofer-Institut für Schäden verursachende Prozesse oder Gegeben- scher unter definierten auf diesem Zukunftsfeld zu stärken. Ein enormer tend zum Durchleuchten einsetzen. Windenergie und Energiesystemtechnik Nord- heiten auch in der Realität frühzeitig zu erkennen Bedingungen ganze Sprung gelang im Herbst 2014: Damals nahm in der west (IWES); beide unterzeichneten unlängst und Tragstrukturen weiter zu optimieren. Windräder oder deren Landeshauptstadt eine der weltweit größten und In Anlage Nummer zwei, einer zehn Meter ­tie­fen einen Kooperationsvertrag über gemeinsame Komponenten gezielt modernsten Versuchs- und Erprobungsanlagen „Grundbauversuchsgrube“, erproben Forscher Aktivitäten im Bereich der Windenergieforschung. Im Wesentlichen sind es drei große zentrale Her- auf den Prüfstand stel- ihre Arbeit auf – das Testzentrum für Tragstruk- an Modellen im Maßstab 1:10 zum Beispiel – ausforderungen, die es bei Offshore-Windkraft len. Zwei europaweit turen Hannover (TTH). Die Anlage am Rande der dazu später mehr – Ideen für anders geartete zu bewältigen gilt: die sichere und wirtschaftli- einzigartige Großver- Halbmillioneneinwohnerstadt ist eines der spek- Verankerungen von Windrädern im Meeresbo- Forschen für Sicherheit, Funktionsfähigkeit, che Verankerung der Anlage im Meeresboden, suchsanlagen stehen takulärsten wissenschaftlichen Neubauprojekte den. In dem überdimensionierten Sandkasten Kostenminimierung und sparsamen Verbrauch umweltschonende Installationstechniken sowie ihnen dafür zur Verfü- des Landes und wurde nach nur knapp zwei Jahren simulieren sie Vor- und Nachteile verschiedener eine möglichst genaue Vorhersage der Lebensdau- gung: das Spannfeld Bauzeit eröffnet. Dort können Forscher unter defi- Bauverfahrenstechniken – dabei stets das wich- Durch die im Zentrum für Tragstrukturen mögli- er. Wie wichtig die Suche nach richtigen Antwor- und eine überdimen- nierten Bedingungen ganze Windräder oder deren tigste Ziel vor Augen, eine Windenergieanlage chen Tests unter realitätsnahen Bedingungen will ten ist, wird klar, wenn man sich vergegenwärtigt, sionale „Sandgrube“. Komponenten gezielt auf den Prüfstand stellen. so sicher und effizient wie irgend möglich im das Fraunhofer IWES mit seinen Projekten die Zeit dass Funktionsfähigkeit und Sicherheit der Anla- Zwei europaweit einzigartige Großversuchsanla- Meeresgrund zu verankern. Ebenso gut lässt sich bis zur Anwendungsreife von Tragstrukturdesigns gen nicht nur ein hoher Wert an sich sind, sondern gen stehen ihnen dafür in dem Prüfzentrum mit hier das Tragverhalten zyklisch beanspruch- deutlich verkürzen. „Gerade für Offshore-Wind- eben auch jede einzelne Wartung und Reparatur seiner rund zwanzig Meter hohen Versuchshalle ter Strukturen untersuchen oder eine neue kraftanlagen lassen sich im Testzentrum viele einer solchen Großanlage auf hoher See äußerst neben Laboren und Werkstätten zur Verfügung. Installationstechnik ausprobieren. entscheidende Fragen rund um die Stabilität und kostspielig ist.

142 Impulse 01_2016 143 „Gerade der Einsatz von Anlagen in großer Was- Das neue Testzentrum für Tragstrukturen in Han- Der Verbund ist als einziges Forschungszentrum Auch aktuell sind die Wissenschaftlerinnen und sertiefe erfordert für zahlreiche Fragen zuverlässi- nover-Marienwerder kann zweifelsohne einen in verschiedene wissenschaftliche Begleitvor- Wissenschaftler um ForWind erneut mit einem ge Lösungen auf aktuellem technischen Niveau“, wichtigen Beitrag leisten, die Windenergiefor- haben aller drei bisher installierten deutschen Förderantrag erfolgreich: Fünf Millionen Euro fasst Uwe Beckmeyer, der Parlamentarische schung hierzulande noch weiter voranzubringen. Offshore-Windparks eingebunden. „Wir unter- erhielt der Verbund in zwei Tranchen Ende 2014 Staatssekretär beim Bundesminister für Wirt- Umso mehr, als es Teil des übergreifenden Ver- suchen zum Beispiel, wie sich die Trägerstruktur und 2015 aus Mitteln des „Niedersächsischen Vor- schaft und Energie, zusammen. Sein Ministerium bunds „ForWind“ ist. ForWind bündelt die Kompe- der Windräder verbessern lässt“, erklärt Stephan ab“ für das Forschungsvorhaben „ventus efficiens“. hat allein 17,8 Millionen Euro für die Errichtung tenzen auf dem Gebiet der Windenergieforschung Barth, Geschäftsführer von ForWind. Dabei gehe Mit den Geldern wollen die Windenergieforscher des Testzentrums bereitgestellt. Dort hält man der Universitäten Hannover, Oldenburg und es um deren sichere Verankerung im Boden, eine über die eingebundenen Institutionen hinweg insbesondere die Erprobung alternativer Mate- Bremen sowie des Fraunhofer IWES und des Deut- längere Lebensdauer der Rotoren oder um gün- ihren Blick auf die gesamte Prozesskette richten rialien und neuer Bauverfahrenstechniken für schen Zentrums für Luft- und Raumfahrt. Gegrün- stigere Produktionskosten. Die Forscher tüfteln und dabei alle wechselseitigen Abhängigkeiten wegweisend. „Die neue Großeinrichtung kann det wurde die vereinte Windenergieforschung im unter anderem an einer neuen Generation von und Wirkungen prüfen – von der Energieerzeu- mit ihren vielfältigen Möglichkeiten Herstellern, Jahr 2003. Da seinerzeit auch die Politik verstan- Rotorblättern. Ziel ist es, dass Windenergieanla- gung und -wandlung in der Anlage über Tragstruk- Projektierern und Betreibern wertvolle Hinweise den hatte, dass sich durch die längst anrollende gen möglichst effizient und geräuscharm arbeiten turen und Triebstränge bis zur Anbindung ans liefern“, sagt Beckmeyer. All das ermögliche es, die Energiewende die ganze Prozesskette der Energie- und letztlich ein optimales Zusammenspiel aller Stromnetz. Ihr besonderes Augenmerk gilt dabei Kosten der Windenergienutzung zu senken und versorgung immer schneller neu justierte, gelang Windräder in einem Windpark erreicht wird. der Frage, an welchen Stellen in der gesamten dabei zugleich umweltschonend und nachhaltig es, die unzweifelhaft vorhandene wissenschaftli- Prozesskette sich Kosten-Nutzen- oder Aufwand- zu agieren als auch die Verfügbarkeit der Anlagen che Expertise auch finanziell zu unterfüttern. Und Ertrag-Relationen verbessern lassen. Denn obwohl zu erhöhen, führt er weiter aus. Und das wiederum so wurde ForWind seitdem – einschließlich erster Im Blick des Forschungsverbunds „ForWind“: Windenergieanlagen heute bereits in hoher Qua- befördere eine erfolgreiche Energiewende. „Von vorbereitender Arbeiten – aus dem „Niedersächsi- die gesamte Prozesskette der Energieversorgung lität hergestellt, errichtet und betrieben werden, einem raschen Forschung-Praxis-Transfer profi- schen Vorab“ bis heute, also Ende 2015 mit rund 20 ist eine kontinuierliche Steigerung ihrer Effizienz tiert zudem der Wirtschaftsstandort Deutschland!“ Millionen Euro gefördert. Die Forschungsallianz leiste zweifelsohne weit möglich und unabdingbar. Nur so können die über die Grenzen des Landes hinaus einen heraus- Stromentstehungskosten weiter sinken. ragenden Beitrag zum Gelingen der Energiewende, freute sich Niedersachsens Wissenschaftsministe- „Ziel ist es, mit der Windenergie eine wichtige rin Gabriele Heinen-Kljajic, als ForWind unlängst Säule unserer künftigen regenerativen Energie- mit dem Norddeutschen Wissenschaftspreis 2014 versorgung zuverlässiger und kostengünstiger zu ausgezeichnet wurde. Der Jubel war groß. Denn machen“, sagt Professor Dr. Raimund Rolfes von mit 50.000 Euro prämiert wurde eine stabile der Universität Hannover, Sprecher des ForWind- Zusammenarbeit von Energieforschern, die seit Vorstands. Und Geschäftsführer Dr. Stephan Barth mehr als einem Jahrzehnt ausgezeichnet funktio- fügt hinzu, dass der Verbund dadurch Niedersach- niert und die reichlich Früchte getragen hat. sen als führendes Land in Sachen Energiewende voranbringe. „Insbesondere indem es gelingt, über Mit der Entscheidung würdigten die Wissen- Erkenntnisse aus dem Projekt sowohl die Strom- schaftsressorts der norddeutschen Länder die kosten zu senken, die Betriebsdauer zu verlängern „vorbildliche institutionenübergreifende und als auch die Qualität der erzeugten und ins Netz interregionale Zusammenarbeit“ der Beteiligten, abgegebenen Leistung zu steigern, wollen wir ent- hieß es anlässlich der Preisübergabe Ende Novem- scheidend zum erfolgreichen Umbau des europä- Eine erfolgreiche Energiewende ber 2014 im Alten Rathaus Hannover. Immerhin ischen Energiesystems beitragen“, betonen beide. bedarf technologischer Innovatio- vereinigt ForWind die Aktivitäten von dreißig in nen. Entscheidende Schritte gab der Windenergieforschung engagierten Mitglieds- Das Projekt „ventus efficiens“, das federführend es früher bereits von Zeit zu Zeit. instituten und Gruppen mit ihrer in Summe breit gemeinsam getragen wird von Wissenschaft- Die Windräder von heute erinnern gespreizten Expertise aus den Ingenieur-, Natur- lern der Universitäten Oldenburg und Hannover, immerhin noch an ihre einstigen und Wirtschaftswissenschaften sowie der Infor- unterstreicht erneut die Spitzenposition, die sich Vorläufer, die Windmühlen, die matik – verteilt über die Standorte in Bremen, der Nordwesten mit all dem im Verbund ForWind allerdings zuvorderst einem Hannover und Oldenburg. Das Netz verfügt über zusammentreffenden Know-how in der Wind- anderen Zweck dienten. weltweit einmalige Forschungsinfrastrukturen. energieforschung inzwischen erarbeitet hat.

144 Impulse 01_2016 145 „Die vielen Forschungsanstrengungen bei der Aktuell forschen die Ingenieurinnen und Inge- 210 Meter Höhe erreicht eine Windenergie im Allgemeinen und durch das nieure dort vor allem an schallarmen Konstruk- Offshore-Windanlagen insge- Engagement von ForWind im Besonderen zeigen tionskonzepten, insbesondere an entsprechend samt: 40 Meter davon sind im beispielhaft, wie Wissenschaft der Gesellschaft verbesserten Gründungssystemen für Offshore- Boden versunken, 20 Meter dienen kann“, war als Jurystatement anlässlich Windparks. Ziel ist es, den beim Bau solcher nimmt etwa die Wassertiefe. der 2014er Preisverleihung an den Verbund zu Anlagen unausweichlichen Krach möglichst zu Die Gondel samt Rotorblättern hören. Doch während sich Politik und interessierte minimieren – bei 160 Dezibel liegt der Grenzwert thront dann 90 Meter über der Öffentlichkeit noch an den Erfolgen der Gegenwart des unter Wasser maximal zulässigen Lärmpegels. Nordsee; weitere 60 Meter Län- erfreuen, arbeiten die vielfach geförderten Forscher Besonders für Meeressäuger wie Wale oder Rob- ge hat jedes der Rotorblätter. längst an der Zukunft. Etwa jene im Testzentrum ben stellt die Lärmbelästigung ein großes Problem Zum Vergleich: Der Kölner Dom für Tragstrukturen in Hannover-Marienwerder. Mit dar (siehe auch Fotoreportage und begleitenden ist 157 Meter hoch, der Eiffel- ihnen kehren wir zurück ans und ins Meer. Text dazu ab Seite 6 ff). turm misst etwa das Doppelte.

i Projektpartnerin Professorin Dr. Gisela Ohms von der Besonders erfreut ist Leck darüber, dass aus dem Bis zum Jahr 2050 könnte Deutschland nach neue- Längere Haltbarkeit von Universität Göttingen. Setzt man nun das Harz hin- Forschungsschwerpunkt bislang 36 Bachelor- und sten Berechnungen problemlos mit Strom aus Windrädern durch Plasma zu, können sich beide Komponenten stärker anein- 16 Master- sowie drei Promotionsarbeiten zum regenerativen Energiequellen versorgt sein: Das nie- ander heften. „Die Verbundfestigkeit von Rotor- Thema Plasmabehandlung hervorgegangen sind. dersächsische Verbundprojekt NEDS (Nachhaltige blättern an Windkraftanlagen steigt, die Anfälligkeit Energieversorgung Niedersachsen) will dazu beitra- Die Technik ist so alltäglich, dass fast jeder Joghurt- für Schäden sinkt“, fasst Leck zusammen. Weitere Projekte: AMSES und NEDS gen, dass das ehrgeizige Vorhaben möglichst schnell

Weitere Projekte Weitere becher und jede Plastiktüte entsprechend behandelt Realität wird. In den nächsten vier Jahren werden werden: „Damit die Farbe beim Bedrucken haften Die Göttinger Forscher gelten als führend auf die- Im Bereich der regenerativen Stromerzeugung jagt die dort eingebundenen Wissenschaftler zumin- bleibt!“, sagt Professor Michael Leck von der Hoch- sem Gebiet. Ihnen ist es gelungen, Plasmaquellen in Deutschland derzeit ein Rekord den nächsten. dest für Niedersachsen entsprechende Szenarien schule für angewandte Wissenschaft und Kunst so zu bauen, dass sie das Plasma atmos­phärisch Durch die steigende Einspeisung von Wind- und durchspielen und Entwicklungspfade aufzeigen. Alle Hildesheim/Holzminden/Göttingen (HAWK). Doch zünden können. Die Geräte müssen somit nicht Solarstrom steigt allerdings auch die Komplexität Modellierungen unterliegen dabei grundsätzlich Oberflächen mithilfe eines Plasmaauftrags zu verän- luftdicht verschlossen sein, und es muss kein spe- im Stromnetz. Im Rahmen des Verbundprojekts einem umfassenden Verständnis von Nachhaltig- dern, ist ein Verfahren, das weitaus mehr zu leisten zielles Gas zugeführt werden. Das macht die Quel- AMSES (Aggregierte Modelle für die Simulation von keit: Natur und Umwelt sind bei jeglichen Empfeh- vermag. „Es ist uns gelungen, die Lebensdauer von len kostengünstig und damit interessant für die dynamischen Vorgängen in elektromechanischen lungen zu denkbaren Entwicklungen und Prozessen Rotorblättern stromerzeugender Windräder zu ver- Industrie. „Unser Verfahren ersetzt latent umwelt- Energiesystemen) wollen Forscher jetzt untersu- zu schonen – das der Leitgedanke. längern“, sagt Leck, der das bereits einige Zeit eta- kritische, chemische Haftvermittler durch einen chen, was geschieht, wenn immer weniger große, blierte Verfahren der „Plasmabehandlung“ mit ent- physikalischen Prozess“, sagt Leck. Zudem brauchen fossil befeuerte Kraftwerke mit ihren rotierenden Im Detail geht es auf der einen Seite darum, in wel- wickelt hat. Diese Schutzmöglichkeit macht aktuell die Plasmaquellen nicht viel Platz oder geschulte Turbinen, Generatoren und Schwungmassen benö- chem Umfang und auf welche Weise der einzelne besonders für Offshore-Anlagen von sich reden. Fachkräfte. „Wir wollten ein anwendernahes Ver- tigt werden. Denn die Schwung­massen wirken sta- Bürger die neuen technischen Möglichkeiten wie fahren entwickeln“, ergänzt HAWK-Kollege Profes- bilisierend auf das Stromnetz – vergleichbar einem beispielswiese Smart Home oder Smart Grid nutzt. 25 Jahre halten die derzeit gängigen Rotorblätter im sor Dr.-Ing. Jens Peter Kärst. Bei so viel gebündelter drehenden Kreisel, der sich wieder aufrichtet, wenn Dabei interessiert nicht zuletzt auch die gesell- Schnitt; alle sechs Jahre hat ein Windrad ein gravie- Expertise überrascht es nicht, dass ihr Projekt vor er aus seiner stabilen Lage ausgelenkt wird. schaftliche Akzeptanz bestimmter Technologien. rendes Wartungsproblem. Für gewöhnlich bestehen einigen Jahren mit 800.000 Euro aus Mitteln des Auf der anderen Seite gilt das Interesse der Forscher Rotorblätter aus einem Glasfasergewebe und einem „Niedersächsischen Vorab“ auf Spur gesetzt wurde. Wie also verändern sich derzeit die Stabilitätsei- technischen Fragen bis hin zum Sammeln harter Epoxidharz. Problematisch an dieser Faserverbund- genschaften des Stromnetzes? Zu diesem Zweck Daten und Fakten über spezifisches Verbraucherver- technik ist, dass sich beide Komponenten nicht Vor sechs Jahren hat Michael Leck federführend den rechnen, modellieren und simulieren Forscher halten. An dem Vorhaben, das Mitte 2015 startete, optimal miteinander verbinden lassen. Hier greift Forschungsschwerpunkt „Plasmabehandlung von Entwicklungsszenarien zur künftigen Stabilität des sind unter der Federführung der Leibniz Universität nun das Verfahren der Plasmabehandlung. Zunächst Textilglasprodukten zur Performancesteigerung Gesamtsystems. AMSES ist ein Verbundprojekt Hannover auch die Universitäten in Braunschweig, setzt man das Glasfasergelege einem sogenannten von Verbundrotorblättern von Windkraftanlagen“ mehrerer Institute der Leibniz Universität Hannover Oldenburg und Göttingen beteiligt. NEDS wird mit atmosphärischen Plasma aus. „Wir haben festge- initiiert. Neben fünf Teams am Standort Göttingen unter Federführung vom Institut für Energieversor- 2,5 Millionen Euro aus dem „Niedersächsischen Vor- stellt, dass es nach einer Plasmabehandlung Verän- sind als Partner die Firmen Momentive Performance gung und Hochspannungstechnik. Eine Million Euro ab“ der VolkswagenStiftung gefördert. derungen in der Oberflächenstruktur gibt“, berichtet Materials, Tigres und die PD Fibre Glass Group dabei. aus dem „Niedersächsischen Vorab“ stehen bereit. Christian Jung

146 Impulse 01_2016 147 Geräuschquellen gibt es viele: Schiffspropeller braucht es immerhin 2000 bis 3000 Schläge mit ringsherum, eine Ölbohrinsel oder einen Offshore- Gasvorkommen lokalisiert werden. Ihr Schall hat wummern durch die Wellen, Ölbohrinseln drehen der Ramme, bevor ein Stahlpfahl vierzig Meter tief Windpark – jedoch oft nicht mehr sein eigenes einen Frequenzbereich von 100 bis 500 Hertz, bei kreischend ihre Fördertechnik in die Erdkruste; im Boden verankert ist. Der Geräuschpegel bei der Biosonar. Allein die schiere Lautstärke der „Neben- einem Schalldruck von bis zu 260 Dezibel. Zum allerorten werden für Gasförderung, Kies- oder Errichtung von Offshore-Windparks überschreitet geräusche“ reicht oft aus, sein Rufen ungehört Vergleich: Ein Düsenjet, der dreißig Meter entfernt Sandabbau Gerätschaften in den Boden gescho- den Hörtoleranzbereich eines Wals weit. Ihm droht verhallen zu lassen. Mal ganz abgesehen davon, startet, produziert einen Schalldruck von 120 bis ben und gerammt. Anderswo graben Radbagger ein Gehörschaden, ein zeitweiliger oder vollkom- dass der zunehmende Lärm Stress bei den sich 140 Dezibel, die menschliche Schmerzgrenze liegt Rinnen für Kabelkanäle in den Tiefseeboden – und mener Hörverlust. Das kann schnell tödlich enden, akustisch orientierenden Tieren auslöst. Durch die bei etwa 130 Dezibel. Da überrascht es nicht, dass unter dem Meeresgrund wird nach neuen Roh- denn ohne Gehör können Wale weder kommuni- Dauerbelastung der Hörorgane mit Lärm wird das der Einsatz von Airguns wiederholt zu Walstran- stoffquellen gesucht, auch das nicht still und leise. zieren noch sich orientieren oder jagen. Oft wird Biosonar derart geschwächt, dass die Wale nicht dungen geführt hat. Untersuchungen an toten Allein das metallische Krachen und die Vibratio- der vom Wal ausgesendete Ton durch andere nur weniger Nahrung finden, sondern sich ohne Tieren zeigten massive Verletzungen an der Lunge nen in der Nähe von Bohrinseln erreichen einen Lärmquellen im selben Frequenzbereich derart exakte Orientierung auch immer wieder verirren sowie Blutungen im Innenohr und im Gehirn. Schalldruck bis zu 180 Dezibel. gestört, dass er nahezu ohne seinen wichtigsten und stranden. Da verwundert es nicht, dass auch Orientierungssinn auskommen muss. Zudem die von Walen aufgesuchten Rückzugsgebiete bildet sich manches durch menschliche Technik schwinden, in denen sie Ruhephasen einlegen Seit Langem gefordert, nun endlich auf dem Weg: Lärm reduzieren zum Schutz der Meerestiere: neue bedingte Hintergrundgeräusch unter Wasser in und verharren oder ihre Kälber aufziehen können. Lösungen zur Geräuschminimierung Offshore-Konstruktionskonzepte­ sind überfällig einem Frequenzbereich von 20 bis 300 Hertz ab; ein Spektrum, das auch viele Wale nutzen. Besonders fatal sind Seesprengungen, wenn etwa Geeignete Technologien, mit deren Hilfe sich der Und unsere Windparks? Beim Rammen der Pfähle Minen entschärft werden. Mindestens ebenso arg: überbordende Unterwasserlärm eindämmen oder Stützpfeiler für ein Windrad lässt sich noch Versucht eines der Tiere zum Beispiel, in die- der Einsatz von Airguns. Die Unterwasserschall- lässt, gibt es durchaus schon einige. Am meisten in 750 Metern Entfernung eine Lärmbelastung sen Tonlagen seine Gruppe zu rufen, hört es kanonen werden genutzt bei seismographischen erprobt sind sogenannte Blasenschleier, die – wie von 170 Dezibel messen. Und pro Fundament als Antwort vielleicht ein Murmeln der Schiffe Untersuchungen des Meeresbodens, wenn Öl- und eine Art „Schallmauer“ – in einem Kreis um die

Lärmquellen, die Mee- Aktuell forschen die ressäuger belasten, gibt Ingenieure vor allem es viele: wummernde an schallarmen Kon- Schiffspropeller, krei- struktionskonzepten schende Ölbohrinseln, für Offshore-Wind- Rammungen in den parks. Ziel ist es, den Boden. Besonders fatal beim Bau solcher Anla- sind Seesprengungen, gen unausweichlichen wenn etwa Minen ent- Krach möglichst zu schärft werden. Ebenso minimieren – bei 160 arg: der Einsatz von Dezibel liegt der Grenz- Airguns für seismogra- wert des unter Wasser phische Untersuchungen maximal zulässigen des Meeresbodens. Ihr Lärmpegels. Vor allem Schall hat einen Fre- für Meeressäuger wie quenzbereich von 100 Wale oder Robben ein bis 500 Hertz, bei einem großes Problem. Eine Schalldruck von bis zu der Lösungen: Blasen- 260 Dezibel. Die mensch- schleier, die Geräusche liche Schmerzgrenze absorbieren. liegt bei 130 Dezibel.

148 Impulse 01_2016 149 Stützpfeiler gezogen werden. Mit einem Kompres- leer gepumpten, „trockenen Kofferdamm“, der gut lassen. Das muss man sich vorstellen wie überdi- Hunderte Kilometer Küste, viel Wind, offenes sor wird Luft durch einen perforierten Schlauch isoliert. Doch trotz all dieser Möglichkeiten werden mensionierte, umgedrehte Eimer im Sandkasten, Wasser: Deutschland scheint wie geschaffen für geleitet. Entweicht diese Luft ins Wasser, steigen die Meeressäuger nach wie vor ganz „klassisch“ die durch Saugprozesse fest am Boden installiert das Erzeugen von Windenergie, vor allem off- Luftblasen auf, und die Schallwellen, die beim vergrämt aus einem Gebiet, in dem beispielsweise werden. Die spannende Frage ist nun, ob solch eine shore. Schon jetzt haben die Energiekonzerne Rammen der Stützpfeiler in den Meeresgrund ent- Rammungen anstehen – mithin also einfach aus Verankerung ausreichend stabil ist, also keine Ver- reichlich Windräder ins Meer gestellt. Zahlreiche stehen, werden an ihnen gebrochen. So wird der ihrem angestammten Lebensraum vertrieben. schlechterung gegenüber den gängigen Systemen Jobs sind entstanden, die Menschen freuen sich. Geräuschpegel erheblich gesenkt – sofern sicher- darstellt. Auf die Wissenschaftler warten also reich- Und doch – für einen echten, gelungenen, nach- gestellt ist, dass stets ein durchgehender Schleier All das fordert die Forscher im Testzentrum für lich Detailfragen sowie Experimente, die es passge- haltigen Übergang von schwarzer zu grüner Ener- aus Luftblasen entsteht. Denkbar sind aber auch Tragstrukturen heraus. Ihre Idee: Statt die Funda- nau auszutüfteln und zu justieren gilt: Wie groß gieversorgung bleibt noch eine Menge zu tun, große Rohre, die während des Rammens die Pfähle mente lautstark in den Boden zu rammen und den beispielsweise müssen die Suction Buckets sein, um hier ist nicht zuletzt auch die Politik gefordert. ummanteln. Auch lässt sich der Ort, an dem etwas entstehenden Lärm etwa durch Blasenschleier maximale Standsicherheit zu gewährleisten – bei Die Forscherinnen und Forscher jedenfalls sind in den Meeresgrund gerammt wird, vom umge- allenfalls zu mildern, könnte sich ein Windrad auch zugleich noch akzeptablen Aufwendungen für dran. Und international ganz vorn mit dabei benden Wasser akustisch abschirmen durch einen mittels sogenannter Suction Buckets verankern Material, Logistik und natürlich Kosten? jene in Niedersachsen. 

i 12,2 Millionen Euro für die Nachhaltigkeitsforschung Bioökonomie 2.0: Innovationspotenziale von „Diversity Turn“ in Land Use Science: Die Bedeutung Nebenströmen der Lebensmittelverarbeitung sozialer Diversität für nachhaltige Landnutzungsin- Grünes Licht für weitere sieben Verbundvorhaben Mehr als fünfzig Millionen Bürger hierzulande (Universitäten Göttingen, Hannover und Vechta; novationen am Beispiel des Vanilleanbaus in Mada- in dem Förderprogramm „Wissenschaft für nach- leben im ländlichen Raum. Sie haben oft sehr spe- Hochschule Osnabrück, Deutsches Institut für gaskar (Universität Göttingen) haltige Entwicklung“ unter dem Dach des „Nieder- zifische Bedürfnisse und Wünsche vor allem an die Lebensmitteltechnik Quakenbrück) Am Beispiel des Vanilleanbaus in Madagaskar sächsischen Vorab“. Die erfolgreichen Vorhaben der Infrastruktur und die Versorgungsangebote – ob Lassen sich für die Lebensmittelproduktion neue wollen Göttinger Forscher ein landwirtschaftliches Weitere Projekte Weitere nunmehr zweiten Wettbewerbsrunde werden bei für den Lebensmitteleinkauf oder mit Blick auf Wertstoffe gewinnen wie Ballast- und natürliche Nutzungskonzept entwickeln, das effiziente und Projektlaufzeiten von drei bis vier Jahren mit einer Gesundheitsdienstleistungen. Die Forscher wollen Aromastoffe oder Proteine? Diese zum Beispiel nachhaltige Bewirtschaftung, Umweltschutz und Million bis knapp drei Millionen Euro gefördert. Fol- passgenaue, nachhaltig wirkende Lösungen für die bei der Verarbeitung von Kartoffeln, Karotten gesellschaftliche Rahmenbedingungen in Einklang gende Vorschläge setzten sich durch: jeweiligen Herausforderungen finden. oder Raps anfallenden „Nebenprodukte“ sollen bringt. Die Wissenschaftler gehen dabei konkret künftig besser verwertet werden – wozu es aber auch der Frage nach, wie sich bestehende „Wert- Gestaltungskompetenz als Innovator für hochzu- Metapolis – eine inter- und transdisziplinäre nicht zuletzt einer grundlegenden Neujustierung schöpfungsketten“, die kleinbäuerliche Haushalte verlässige Organisationen im Gesundheitssystem Plattform für eine nachhaltige Entwicklung der der „Nutzpflanzenproduktion“ bedarf. Die neuen eng an international tätige Unternehmen binden, (Uni Osnabrück, FH Osnabrück, FU Berlin) Stadt-Land-Beziehungen in Niedersachsen Wertstoffe sollen in einem zweiten Schritt auf ihre auf Menschen und Umwelt des Landes auswirken. Welches sind die Ursachen für Fehler bei medizi- (Universitäten Braunschweig und Hannover) Marktfähigkeit und Akzeptanz getestet werden nischen Eingriffen – und: Nehmen Falschbehand- Große Städte, mittelgroße und kleine Siedlungen in unter Einbeziehung niedersächsischer Verbrauche- Nachhaltigkeit als Argument: Suffizienz, Effizienz lungen zu? Warum ließen oder lassen sie sich nicht ländlicher Umgebung sind über Verkehrs-, Waren- rinnen und Verbraucher. und Resilienz als Parameter anthropogenen Han- verhindern? Müssen Strukturen geändert werden? und Datenströme sowie Interaktionen der einzelnen delns in der Geschichte (Universitäten Göttingen Den Initiatoren des Vorhabens geht es um mehr Menschen miteinander verbunden. Auf der Suche Die Rolle der Hochschulen in der Ausbildung von und Hannover) Patientenschutz und um deren Absicherung – auch nach Strategien für „nachhaltig wirkende Beziehun- Schlüsselakteuren für die Nachhaltigkeitstrans- Manche Menschen müssen über den Sinn und darum, dass mit Behandlungsfehlern angemessen gen“ fokussieren die Forscher städtebauliche und formation (Universität Lüneburg) Zweck von Nachhaltigkeit informiert und von deren umgegangen wird. Ziel ist es, im Großen den Mitar- stadtplanerische Aspekte sowie ökologische und Im Fokus dieses Projekts stehen eine hochschulüber- Wert überzeugt werden; andere lehnen nachhal- beitern im Gesundheitswesen mehr Flexibilität und soziale Rahmensetzungen, zudem die Energie- und greifende Analyse und ein Vergleich von Kursange- tiges Handeln sogar ab. Welche Nachhaltigkeits- Entscheidungskompetenz zuzugestehen als auch im Ressourcenversorgung sowie Fragen der Mobilität. boten zum Thema nachhaltige Entwicklung und konzepte gibt es, wie kamen diese zustande und Kleinen eine interaktive Lernumgebung für das Kran- Ebenso interessiert sie, ob und inwieweit sich die damit zusammenhängende gesamtgesellschaftliche erhielten Einzug in praktisches Handeln? Im Blick kenhauspersonal zu entwickeln. Konzepte politisch und gesellschaftlich durchset- Veränderungsprozesse. Dazu werden unter ande- über die Jahrhunderte wollen die Forscher überprü- zen lassen. Über eine interaktive Informations- und rem „Akteure im Nachhaltigkeitssektor“ interviewt: fen, ob Nachhaltigkeit als Kerngedanke im mensch- NEMo – Nachhaltige Erfüllung von Mobilitäts- Partizipationsplattform sollen die Erkenntnisse Studierende, Absolventen, Lehrende, Studienberater, lichen Verhalten nicht über alle Epochen hinweg bedürfnissen im ländlichen Raum (Universitäten allgemeinverständlich aufbereitet den Weg in die Arbeitgeber. Eine Kooperation mit der Arizona State schon existiert hat. Oldenburg, Braunschweig und Lüneburg) Öffentlichkeit finden. University bereichert das Projekt. Christian Jung

150 Impulse 01_2016 151 Publikationen

Was Sie schon immer über Kompromisse wissen wollten, aber nirgends nachzulesen fanden …

Erneut geht eine „Opus magnum“-Förderung an die Universität Bielefeld: Die Philosophin Véronique Zanetti beschäftigt sich mit der Frage, wie Kompromisse entstehen und was diese ausmacht – das geplante Werk ist eines von insgesamt neun „Opera magna“ in 2015.

Véronique Zanetti hat Kompromisse: Was sind sie, und wozu sind sie Zanetti will die verschiedenen Dimensionen des in Genf Philosophie, gut? Mit diesem Thema kann sich Professorin Dr. Kompromisses analysieren und die Tragfähigkeit Musikwissenschaft und Véronique Zanetti von der Universität Bielefeld ihrer Analyse anhand von zwei Beispielen belegen. Anglistik studiert und in den nächsten zwei Jahren wissenschaftlich Im ersten geht es um den Übergang von der Apart- war als Wissenschaft- intensiv auseinandersetzen. Die Stiftung hat ihr heid zum demokratischen Regime und explizit um lerin unter anderem in in der letztjährigen Auswahlrunde eine „Opus das Problem der traditionellen Strafgerechtigkeit. Siegen, Bern, Fribourg magnum“-Förderung zugesprochen. Die Geför- Die Frage, die sich dabei stellt, ist, ob die Opfer ein und New York tätig. Sie derte erhält mit dieser Unterstützung den not- moralisches Recht haben, die politischen Verbre- promovierte über Kant wendigen Freiraum und damit Muße und Zeit, ein cher bestraft zu sehen. Oder darf das pragmatische und analysierte in ihrer größeres wissenschaftliches Werk zu verfassen. Ziel der Befriedung und Herstellung politischer Habilitation ethische Gerechtigkeit den Vorrang erhalten? Am Beispiel Aspekte der politischen Es sei ein gutes Gefühl, dafür einfach den Rücken der am Ende der Apartheid beschlossenen Geset- Intervention. Seit frei zu haben, lacht Zanetti. Sie möchte die 24 ze will sie zeigen, dass in Sonderfällen der Friede 2003 gehört Zanetti Monate nutzen, das Thema „Kompromisse“ aus Vorrang vor der Gerechtigkeit haben und von strei- der Eidgenössischen philosophischer Sicht in unterschiedlichen Facet- tenden Parteien eine Kompromissbildung verlangt Ethikkommission für ten wissenschaftlich zu betrachten: „Bei Themen, werden darf. Das zweite Beispiel ist der politische Biotechnologie im die stark moralisch konnotiert sind, ist allgemein Konflikt zwischen Israel und Palästina. Außerhumanbereich verpönt, Kompromisse zu schließen. Wer so etwas an. 2004 erhielt sie den tut, wird für charakterschwach gehalten“, sagt sie. Die Universität Bielefeld kam schon häufiger bei Ruf auf die Professur „Gleichwohl sind Kompromisse in der Politik, bei einer Opus-magnum-Förderung zum Zuge. So für politische Philoso- rechtlichen Entscheidungen und in vielen Alltags- erhielt im Jahr 2007 Professor Dr. Klaus-Michael phie und Rechtsphilo- situationen oft unvermeidlich, ja sogar Zeichen Bogdal von der Fakultät für Linguistik und Lite- sophie an der Universi- einer konstruktiven Gesinnung zur friedlichen raturwissenschaft der Hochschule den Zuschlag. tät Bielefeld. Ein gutes Beilegung zwischenmenschlicher Konflikte.“ Das Werk „Europa erfindet die Zigeuner. Eine Jahrzehnt weiter nun Geschichte von Faszination und Verachtung“, weiß sie diese spezielle Kompromissen kann zudem entscheidende Bedeu- das er einige Jahre später vorlegte, wurde 2013 Stiftungsförderung, die tung zuwachsen – etwa wenn unvereinbare Hand- bei der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet mit ihr Muße, Freiraum und lungsoptionen aufeinanderprallen. Das ist zum dem Buchpreis zur Europäischen Verständigung – ein finanzielles Arbeits- Beispiel bei Normenkonflikten der Fall. Hier gibt es einem der wichtigsten Literaturpreise in Deutsch- polster bietet, sehr oft keinen gemeinsamen Nenner. „Macht man sich land. 2015 vergab die Stiftung neun Opera magna: zu schätzen – kann klar, welch unersetzliche Rolle Kompromisse im  Weitere Informationen unter: sie doch nun in aller Leben jedes Einzelnen und im sozialen Miteinan- www.volkswagenstiftung.de/foerderung/ Ruhe an ihrem Opus der spielen, kann nur erstaunen, wie stiefmütter- personenundstrukturen/opusmagnum.html magnum arbeiten. lich sie seitens der Forschung behandelt wurden!“ Christian Jung

Publikationen

Neues über Völkerwanderungen? Wie regelt man „Eine spannende, gut geschriebene Geschichte – Konflikte? Große Werke werfen ihre Schatten voraus eine außergewöhnliche Publikation!“

Die VolkswagenStiftung bewilligte 2015 rund 2,3 Millionen Euro für neun „Opera magna“: Geistes- „Auftrag: Menschenraub. Entführungen von Westberlinern und Bundesbürgern durch das und Gesellschaftswissenschaftler erhalten mit dem außergewöhnlichen Angebot den nötigen Ministerium für Staatssicherheit der DDR" – Dr. Susanne Muhle erhält „Opus primum“- Freiraum, ein größeres wissenschaftliches Werk zu verfassen. Auch Nachwuchskräfte profitieren. Förderpreis für die beste Publikation eines Nachwuchswissenschaftlers im Jahr 2015 .

2015 hat die Stiftung neun Opera magna vergeben an herausragende Wissenschaftlerinnen und Das Thema der Entführungen Wissenschaftler, die für durch die Stasi lässt maximal zwei Jahre von Opus-primum-Preisträgerin ihrer Universität freigestellt Susanne Muhle nicht los. werden – die Stiftung Das Preisgeld soll bei dem finanziert in dieser Zeit eine nächsten Projekt Schub Lehrvertretung. Die jährliche geben: Sie möchte der Rolle Fördersumme beträgt der westlichen Geheimdienste maximal 100.000 Euro. nachspüren und in den USA die Akten der CIA zu den Entführungsfällen einsehen.

Ob in Italien, Großbritannien, den USA oder auch Das Programm bietet herausragenden Geistes- „Ein außergewöhnliches Buch“, lobten viele Jury- 400 Menschen, die vor allem in den 1950er Jahren hierzulande: Zahlreiche Bücher in dieser Reihe und Gesellschaftswissenschaftlern den nötigen mitglieder das Werk „Auftrag: Menschenraub …“. im Auftrag des Ministeriums für Staatssicherheit haben inzwischen national wie international Freiraum, ein größeres wissenschaftliches Werk Es hatte sich unter den zunächst sechzig, dann aus Westdeutschland in die DDR entführt wurden. renommierte Preise gewonnen. Die Rede ist von zu verfassen. Während der Arbeit an ihrem Opus nach der ersten Auswahlrunde verbliebenen zehn Opfer waren zum Beispiel Mitarbeiter westlicher „Opus magnum“: ein Angebot eher für die eta- magnum werden die Forscherinnen und For- Wettbewerbern langsam, aber zielsicher heraus- Geheimdienste oder aus der DDR geflohene Ange- blierteren Wissenschaftler und Wissenschaftle- scher von allen Lehrverpflichtungen befreit und geschält, wer 2015 der Gewinner des kommenden hörige des Ministeriums für Staatssicherheit. Auf rinnen. Sie erhalten die Chance, versehen mit den passgenau durch eine qualifizierte Nachwuchs- Opus primum sein würde: Dr. Susanne Muhle. breiter Quellengrundlage hat Dr. Susanne Muhle, raren Gütern Muße und Freiraum, eine Monogra- kraft vertreten. Auf diese Weise unterstützt die Am 25. November erhielt sie die mit 10.000 Euro die als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der fie abzufassen, die die wissenschaftliche Arbeit Initiative auch junge Wissenschaftler und bietet dotierte Auszeichnung im Rahmen einer feierli- Gedenkstätte Berliner Mauer arbeitet, zu Hinter- der vorangegangenen Jahre bündelt und Meilen- ihnen die Möglichkeit, sowohl Erfahrungen in der chen Abendveranstaltung. gründen und Tathergängen recherchiert. Sie hat stein sein soll für ein spezifisches Forschungsfeld Lehre zu sammeln als auch unter Beweis zu stel- damit die erste systematische Studie zu diesem oder -thema. Auch im vergangenen Jahr stieß die len, dass sie für eine Karriere in der Wissenschaft In ihrer Laudatio auf die Preisträgerin hob die Pro- Kapitel deutscher Geschichte vorgelegt. Initiative auf großes Interesse. geeignet sind. Folglich überrascht es nicht, dass fessorin für Integrationsgeschichte der Universität die attraktive Kombination aus der Unterstützung Hamburg Gabriele Clemens vor allem die umfang- Durch das Buch, das bis in die Tiefe hinab bril- Im Jahr 2015 waren es neun geplante Buchprojek- einerseits erfahrener, andererseits junger Geistes- reiche und sensible Quellenarbeit hervor. „Susanne liert, weiß man nun, wie akribisch oft über Jahre te, die überzeugen konnten und für die insgesamt und Gesellschaftswissenschaftler auch außerhalb Muhle gelingt es, die systematische Analyse der hinweg die Entführungsaktionen durch die Stasi 2,34 Millionen Euro bereitgestellt wurden. Die der deutschen Förderlandschaft große Resonanz Entführungspraxis mit der Schilderung bewegen- vorbereitet wurden: „Die Stasi-Akten lasen sich geförderten Wissenschaftlerinnen und Wissen- erfährt: So war es im vergangenen Jahr etwa der der Einzelfälle zu verbinden und so eine äußerst teilweise wie Drehbücher für Spionagefilme“, schaftler beschäftigen sich beispielsweise mit der Riksbankens Jubileumsfond in Schweden, der ein spannende, gut geschriebene Publikation vorzu- sagt Muhle. Bei aller Freude und allem Enthusi- Reformation des Buchdrucks, Völkerwanderungen, vergleichbares Programm auflegte. legen, die nicht nur Fachwissenschaftler, sondern asmus an der Arbeit sei ihre Stimmung mehrfach Konfliktregelungen in tibetischen Gesellschaften, auch ein breites Publikum anspricht.“ äußerst gedrückt gewesen; immer dann, wenn der Kulturalisiserung der Gesellschaft, weltlicher Seit Beginn der Initiative im Jahr 2005 hat die sie auf persönliche Dokumente gestoßen sei: Musik in deutschen Landen um 1500 – oder eben VolkswagenStiftung einschließlich der Bewil- Die akribische, wissenschaftlich angelegte Recher- So fand sie in den Akten Briefe von zu Tode dem Wesen von Kompromissen (siehe dazu die ligungen aus 2015 nun für insgesamt 75 Opera che zu dem Buch sei Detektivarbeit gewesen, sagt Verurteilten an deren Familien, die die Stasi nie ausführliche Buchvorstellung auf Seite 152). magna 12,5 Millionen Euro bereitgestellt. Muhle. Im Fokus der Geschichte stehen jene etwa weitergeleitet hatte.

Publikationen

Schattenspiele in der Welt des Lichts – Frieden ohne Freiheit: 1815 endete der Wiener Kongress aktuelle Reflexionen zu Goethes Farbenlehre – und dann schlug Metternichs große Stunde

Goethes Farbenlehre gilt allgemein als missglückter Ausflug in die Naturwissenschaften. Begründete der Wiener Kongress vor 200 Jahren eine zukunftsfähige Friedensordnung? – In einem im vergangenen Jahr vorgelegten Buch von Olaf L. Müller wird sie rehabilitiert. Oder begann damit in der Donaumetropole quasi schon der Erste Weltkrieg? Das Die Stiftung hat das Werk als „Opus magnum“ gefördert. „Opus magnum“ des Historikers Wolfram Siemann von der LMU München gibt Auskunft.

Olaf L. Müller: „Mehr Licht“. Goethe mit Newton im Streit um die Farben. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 528 S., geb., 26,99 Euro. ISBN 978-3-10-403071-5

Wolfram Siemann: „Metternich – Stratege und Visionär“. C. H. Beck Vderlag, München. Eine Biografie. 2016. Rund 936 Seiten, ca. 50 Abbildungen. Gebunden. ISBN 978-3-406-68386-2

Auf seine Dichtung bilde er sich nichts ein, erklär- Das Buch fokussiert vor allem auf jenen Aspekt Er war der selbst ernannte „Kutscher Europas“: Gegenspieler Metternich im Jahr 1813. Clemens te Goethe, wohl aber darauf, dass er in seinem der Farbenlehre, der den stärksten Widerspruch Clemens von Metternich, 1836 als Österreichi- Fürst von Metternich (1773-1859) erlebte die mehr Jahrhundert „in der schwierigen Wissenschaft herausgefordert hat: Goethes harsche Kritik an der scher Staatskanzler auf der Höhe seiner Macht. als zwanzig Jahre andauernden Kriege in Europa der Farbenlehre als Einziger das Rechte weiß“. Er Newton’schen Lehre, der zufolge sich das weiße Metternich gilt seit je als Inbegriff der Reaktion, als Zusammenbruch der Zivilisation. Fast prophe- war allerdings auch nahezu der Einzige, der seine Sonnenlicht aus unterschiedlichen Spektralfarben als rückwärtsgewandter Feind aller liberalen und tisch sah er voraus, dass der Freiheitsdrang der Leistung so einschätzte. Als 1810 seine 1400 Seiten zusammensetzt. Goethe lehnte diese Theorie ab. nationalen Kräfte. Ein Urteil über eine historische Nationen in eine noch blutigere Katastrophe mün- dicke Farbenlehre erschien, stieß sie auf höfliche Zu den Stärken des Buchs gehören zweifellos die Figur wie in Stein gemeißelt. Zutreffend? Oder – den würde. „Nur vor diesem Hintergrund kann Reserviertheit oder verlegenes Schweigen: Die Rückbindungen an die Empirie. Interessant sind eher – nicht? Metternichs Friedensordnung von 1815 begriffen Mehrheit der Gelehrten empfand das Werk als eine auch jene Stellen, in denen Autor Müller Goethe werden“, streicht Siemann heraus. Das gelte sogar Verirrung des Dichters ins Dilettantentum – eine nicht nur zu einem mit allen wissenschaftlichen Der Historiker Wolfram Siemann von der Ludwig- für seine repressiven Maßnahmen gegen jeden Einschätzung, die sehr lange Bestand hatte. Allen- Wassern gewaschenen Kritiker akademischer Bor- Maximilians-Universität München unternimmt drohenden gesellschaftlichen Aufstand. falls den psychologischen Aspekten der Farbenleh- niertheit stilisiert. Er schreibt ihm zugleich eine die Neubewertung einer Jahrhundertfigur anhand re wurde wissenschaftlicher Wert zugemessen. Das sehr modern anmutende wissenschaftstheoreti- etlicher bislang unberücksichtigt gebliebener Auf der Grundlage zahlreicher auch überraschen- physikalische Herzstück jedoch gilt als gescheiter- sche Position zu. Die Lektüre macht deutlich, dass Quellen. Er zeichnet in seiner – nach Einschätzung der Quellen lässt Wolfram Siemann in dieser ter Versuch, Intuition und Subjektivität in das kalte für jede naturwissenschaftliche Theorie gilt: Aus sowohl von Fachleuten als auch vonseiten erster ersten großen Metternich-Biografie seit 90 Jahren Herz der exakten Naturwissenschaft zu pflanzen. den Daten, auf denen sie beruht, lassen sich alter- Leser – offenkundig grandiosen Biografie ein einen schillernden und vielschichtigen Mann Goethe, lautete die vorherrschende Meinung, hatte native Theorien genauso schlüssig herleiten. fundamental neues Bild des Staatsmannes, der lebendig werden: Metternich war ein traditions- Phänomenologie mit Physik verwechselt. für vier Jahrzehnte die Geschicke Europas prägte. bewusster Reichsgraf und ein frühindustrieller Der Autor durchmisst durchaus anspruchsvolles „Metternichs Denken war moderner, seine Diagno- Unternehmer, ein Bewunderer der englischen Ver- „Falsch“, sagt jetzt Olaf L. Müller, der an der Hum- Gelände. Dabei nimmt sein Opus magnum den sen hellsichtiger und sein Wirken zukunftsweisen- fassung, ein scheiternder Reformer in einem fra- boldt-Universität Berlin Wissenschafts­theorie Leser an die Hand, indem jeder Schritt kommen- der, als man ihm bisher zugestanden hat“, sagt Sie- gilen Vielvölkerstaat und ein Verehrer der Frauen. und Naturphilosophie lehrt. Er präsentiert Goethe tiert und reflektiert wird. Für die nötige Anschau- mann, der Neuere und Neueste Geschichte lehrt. Das Fesselnde an seinem Opus magnum ist, dass als ernstzunehmenden Physiker, der empirisch ung sorgen die Abbildungen der Experimente. es nicht nur Metternich in ein neues Licht taucht, und methodisch auf der Höhe seiner Zeit war und Einziger Wehrmutstropfen: Da und dort hätten „Ein Mann wie ich scheißt auf das Leben von einer sondern die Geschichte des 19. Jahrhunderts ins- ihr wissenschaftstheoretisch sogar weit voraus. Straffungen das Lesevergnügen sicher erhöht. Million Menschen!“, erklärte Napoleon seinem gesamt flirrend aufblättert und wirkmächtig malt.

Veranstaltungen

Nachhaltige Entwicklung für alle: Welche Rolle kann die Wissenschaft übernehmen?

Bei einem Herrenhäuser Symposium in Hannover diskutierten Forscher aus aller Welt, welchen Beitrag sie leisten können, dass die von den Vereinten Nationen neu skizzierten nachhaltigen Entwicklungsziele erreicht werden. Im Fokus: Küstenregionen.

An den Thementischen 169 Unterziele, 193 eingebundene Länder und eine nachhaltig wirkende Lösung finden zu können, des „Herrenhäuser Weltbevölkerung von 7,3 Milliarden Menschen, die müssten auch die dynamischen Verzweigungen Symposiums“ zu den davon profitieren soll: Die im September 2015 ver- von Forschung und Innovation bedacht und nachhaltigen Entwick- abschiedeten „17 nachhaltigen Entwicklungsziele“ ermöglicht werden. Dem stünde jedoch vielfach lungszielen stellten der Vereinten Nationen sind ein Unterfangen, das das Beharrungsvermögen der etablierten Mächte Nachwuchsforscher sowohl von der Dimension als auch der Komple- und Institutionen entgegen. ihre Projekte vor; hier xität der Herausforderungen her beispielhaft ist. sind gerade die Wis- Konsens besteht, dass ein solches nur gelingen Dass sich viele der in den nachhaltigen Entwick- senschaftsjournalisten kann, wenn es zu einer massiven Verstärkung lungszielen gespiegelten Herausforderungen gera- Sibusiso Biyela aus Süd- der globalen Partnerschaft kommt. Von gleicher de auch in den Küstenregionen der Welt zeigen, afrika und die Kenianerin Bedeutung neben einer funktionierenden politi- begründete den thematischen Fokus des Sympo- Catherine Nyambura ins schen Ebene ist, dass alle gesellschaftlichen Grup- siums. Und so reichte das Spektrum der Beiträge Gespräch eingebunden pen aktiv Verantwortung übernehmen müssen. von Governancefragen im Zuge von Konflikten bei (oben). Mitte: Andrew der Nutzung des Meeres über Migrationsprozesse, Stirlings (rechts) Key- Welche Rolle der Wissenschaft dabei zufällt, disku- die womöglich im Zusammenhang stehen mit note war ein gelungener tierten am 8./9. Dezember 2015 in Hannover For- einer sich rasch – zum Negativen – verändernden Auftakt; Anna-Katharina scher beim Herrenhäuser Symposium „Sustainable Umwelt an der Küste von Ghana (siehe auch Beitrag Hornidge (Bild links, Development Goals and the Role of Research: A ab Seite 42) bis hin zu Strategien von Kampungbe- rechts) moderierte die Focus on Coastal Regions“. Sie vertraten eine große wohnern Jakartas, die wieder und wieder Hoch- erste Session mit State- Bandbreite an Disziplinen und Regionen (siehe wasser zu bewältigen haben. ments von Hart Nadav auch www.volkswagenstiftung.de/sdg). Feuer (links) und Hilde- Bei dem Symposium im Tagungszentrum Schloss gard Westphal. Unten: Mit seiner Keynote entwarf Andrew Stirling von Herrenhausen mit dabei waren auch 16 junge Stadtplaner Hendricus der University of Sussex in Großbritannien eine Wissenschaftler, die ihre eigene Forschung an Simarmata aus Indone- Hintergrundfolie für die weiteren Beiträge und Thementischen zur Diskussion stellen konnten. sien (Bild links, rechts) die lebhaften Diskussionen der Veranstaltung: Sie hatten sich zuvor erfolgreich um ein Reisesti- schilderte das Flut- Nachhaltigkeit sei ohne politischen Kontext nicht pendium beworben und kamen aus Deutschland Risikomanagement in denkbar, große Veränderungen würden immer (4), Ghana (3), Kanada (2), Australien, Malaysia, Jakarta; Mariama Awum- von großen sozialen Bewegungen eingeleitet oder Mauritius, Mosambik, Neuseeland, Uganda und bila (Bild rechts, vorn zumindest begleitet, Partizipation und Demo- den Philippinen. Auch fünf junge Wissenschafts- links) berichtete aus dem kratie seien zur Verwirklichung unabdingbar. Er journalistinnen aus Algerien, Südafrika, Kenia, Küstenforschungspro- warnte davor, den Pfad „Wissenschaft-Techno- Russland und den Philippinen waren auf Einla- jekt in Ghana (ausführ- logie-Fortschritt“ rein linear zu betrachten. Um dung der Stiftung Gäste des Symposiums. licher Text ab Seite 42). die jeweils richtige beziehungsweise am meisten Beate Reinhold Veranstaltungen

Mit ihren derzeit fünf Veranstaltungsreihen im Schloss Herrenhausen in Hannover verfolgt April die Stiftung das Ziel, Wissen in die Gesellschaft zu tragen, Forschern ein Forum für ihren fach- 8.4.-9.4. Forschungs- und hochschulpolitisches Werkstattgespräch: „Internationalisierungsstrategien lichen Austausch zu geben und die Verbindung von Wissenschaft und diversen Zielgruppen an deutschen Hochschulen“ 11.4. Leopoldina Lecture zur Quantentechnologie zu intensivieren. 12.4. Tagung: „Gesundheitspolitische Entscheidungen: Spielt der Patient überhaupt eine Rolle?" 14.4. Herrenhäuser Forum Mensch – Natur – Technik: „Wie viel ist Natur uns wert?“ Eine Übersicht aller Veranstaltungen sowie Anmeldemodalitäten sind zu finden unter 26.4. Herrenhäuser Forum für Zeitgeschehen EXTRA: „Leibniz über die Vielfalt der Menschheit“ www.volkswagenstiftung.de/veranstaltungen. Einzelne Programmpunkte der – ansonsten als Fachveranstaltungen geschlossenen – Herrenhäuser Konferenzen und Herrenhäuser Symposien Mai können für die Öffentlichkeit zugänglich sein. Hier ausgewählte Termine der nächsten Monate. 2.5.-4.5. Symposium „A Tale of 100 Cities. Ideas, Conflicts, and Revolt in the 1960s” 2.5.-4.5. Statussymposium „Makroskopische Funktionssysteme“ 12.5. Herrenhäuser Gespräch: „Wer Ohren hat – Wie wir das Hören neu lernen können“ Januar 12.5.-13.5. Nature Herrenhausen Symposium 11.1. Herrenhäuser Forum für Zeitgeschehen EXTRA: „Karikatur und Terror – ein Jahr nach dem 23.5. Acatech-Akademietag 2016 Anschlag auf Charlie Hebdo“ 23.5. Herrenhäuser Forum Mensch – Natur – Technik EXTRA: „Mehr Licht – Goethe mit Newton 14.1. Herrenhäuser Gespräch: „Gemeinsam im Hamsterrad? – Arbeitsalltag mit dem Kollegen im Streit um die Farbe“ Roboter“ 19.1. Feierliche Eröffnung des Leibniz-Jahres 2016 Juni 9.6.-11.6. Herrenhäuser Symposium: „World (Counter) Revolutions: 1917-1920 in a Global Perspective” Februar 13.6.-15.6. Statussymposium „Forschung in Museen“ 2.2. Herrenhäuser Forum für Zeitgeschehen: „Vom ‚Uranverein‘ zum ‚Göttinger Manifest‘ – 15.6. Herrenhäuser Forum Mensch – Natur – Technik: „Sie kriegen Dich! Wohin führt uns digitales Wissenschaft und Atomwaffen in Deutschland von 1938-1957“ Nudging?“ 3.2.-5.2. Statussymposium „Schlüsselthemen für Wissenschaft und Gesellschaft“ 17.6. Ein Erfolg der Wissenschaftsförderung der VolkswagenStiftung: „Zwanzig Jahre selbstständige 9.2. Herrenhausen Late: „Trau Deinen Ohren nicht: Computer oder Orchester als Klangquellen“ Nachwuchsgruppen“ 11.2. Herrenhäuser Forum Mensch – Natur – Technik: „Der feine Unterschied: Was macht uns 27.6.-28.6. Symposium LehreN Menschen aus?“ 16.2. Herrenhäuser Forum für Zeitgeschehen EXTRA: „Leibniz über Schäden, Schulden und Juli Pensionen“ 18.7./22.7. Auftakt- (18.7.) und Abschlussveranstaltung (22.7.) des X. Internationalen Leibniz-Kongresses 24.2. Öffentlicher Abendvortrag während der Symposienwoche: „Die Spuren der Geschichte in der Natur. Goethe durchreist Landschaften.“ Ausblick 4.10.-6.10. Herrenhäuser Konferenz: „Religious Pluralisation – A Challenge for Modern Societies“ März 7.10. „Neu gefördert! Die Freigeist-Fellows 2016 der VolkswagenStiftung“ 8.3. Herrenhäuser Forum für Zeitgeschehen EXTRA: „Leibniz als Jurist und Rechtsphilosoph“ 10.10.-11.10. Alzheimertagung 10.3. Herrenhäuser Gespräch: „Was bewegt den Menschen? Ein Blick aus der Perspektive des Tanzes“ 19.10.-21.10. Symposium Engineering & Life 17.3. Herrenhäuser Forum Politik – Wirtschaft – Gesellschaft: „Wir sind gefragt! Wege aus dem 1.11. Forum für Zeitgeschehen: „70 Jahre Land Niedersachsen“ Flüchtlingsdilemma“ 3.11.-5.11. Nature Herrenhausen Symposium

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Herrenhäuser Konferenzen Herrenhäuser Symposien Herrenhäuser Gespräche Herrenhäuser Forum Herrenhausen Late Die Herrenhäuser Konferenzen Die Herrenhäuser Symposien – Mit den Herrenhäuser Gesprächen Mit verschiedenen Schwerpunkten „Herrenhausen Late – ScienceMusic- sind Fachveranstaltungen. Sie ebenfalls geschlossene Fachveran- präsentieren die Stiftung und NDR begeistert das Herrenhäuser Forum Friends“ zielt auf ein junges Publi- fokussieren mit besonderem staltungen – bieten Forschern eine Kultur aktuelle Themen aus Wissen- ein breites Publikum für wissen- kum. Experten unterhalten aus Aktualitäts- und Zukunftsbezug Plattform, Ideen zu entwickeln und schaft und Kultur von Bedeutung schaftliche Fragen: zu Themen des überraschender Perspektive originell wissenschaftliche Themen von neue Forschungsansätze zu dis- für die Gesellschaft. Adressat ist hier Zeitgeschehens und Aktuellem aus über Wissensthemen. Der Festsaal hoher gesellschaftlicher Relevanz kutieren. Die Stiftung veranstaltet zuvorderst die wissenschaftsinter- „Politik – Wirtschaft – Gesellschaft“ im Schloss verwandelt sich in eine und öffnen neue Forschungsfelder. auch eigene Symposien. essierte Öffentlichkeit. und „Mensch – Natur – Technik“. Lounge mit kleiner Bühne, DJ und Bar. volkswagenstiftung.de

Videos bei wissen.hannover.de Die Stiftung in Kürze

Die VolkswagenStiftung ist Projektpartner beim Die VolkswagenStiftung ist eine eigenständige, gemein- Multimediaportal „wissen.hannover.de“. Unter dem nützige Stiftung privaten Rechts mit Sitz in Hannover. Motto "studieren.forschen.wissen" präsentieren Mit einem Fördervolumen von insgesamt etwa 150 Mil- hier acht Hochschulen sowie weitere Partner aus lionen Euro pro Jahr ist sie die größte private deutsche forschungsnahen Einrichtungen in kurzweiligen wissenschaftsfördernde Stiftung und eine der größten und zugleich informativen Kurzfilmen ihre For- Stiftungen hierzulande überhaupt. In den mehr als fünf- schungsprojekte und Angebote rund um Hannover. zig Jahren ihres Bestehens hat sie über 31.500 Projekte mit insgesamt mehr als 4,6 Milliarden Euro gefördert. Auch gemessen daran zählt sie zu den größten gemein- nützigen Stiftungen privaten Rechts in Deutschland.

Das Gründungskapital der Stiftung wurde von Bund und Land Niedersachsen im Rahmen des Privatisierungs- prozesses der heutigen Volkswagen AG bereitgestellt. Es handelt sich bei der VolkswagenStiftung jedoch nicht um eine Unternehmensstiftung. Die Stiftungsgremien sind autonom und unabhängig in ihren Entscheidungen. Erwirtschaftet werden die Fördermittel der Stiftung einer- seits – größtenteils zugunsten der „Allgemeinen Förde- rung“ – aus ihrem Kapital, derzeit circa 2,9 Milliarden Euro. Andererseits stammen sie aus den vom Land Niedersach- sen gehaltenen und mit einem Vermögensanspruch der Stiftung versehenen gut 30 Millionen Volkswagenaktien samt ihrer Dividende (Teil des „Niedersächsischen Vorab“). Veranstaltungen Newsletter Über 500 Beiträge sind bereits online – zu unter- Herrenhäuser Gespräche, Foren, Konferenzen … Unser E-Mail-Newsletter informiert Sie regel- schiedlichen Themen: So erklärt die Universität Die VolkswagenStiftung fördert gemäß ihrer Satzung hier finden Sie Informationen über die Vielzahl mäßig über aktuelle Nachrichten und Veranstal- Hannover, wie Magnesiumpflaster Herzen heilen; Wissenschaft und Technik in Forschung und Lehre unserer Veranstaltungen. tungen der VolkswagenStiftung. Jetzt anmelden! Popstar Smudo steigt in ein Bioconcept-Car, das die und setzt durch die von ihr bewilligten Mittel gezielte Hochschule Hannover mit Studierenden entwickel- Impulse. Sie entwickelt mit Blick auf zukunftsweisende News Unser Förderangebot te. Und die VolkswagenStiftung präsentiert unkon- Forschungsgebiete eigene Förderinitiativen. Diese bil- Aktuelle Nachrichten aus der Volkswagen- Sie suchen eine Förderung? Dann nutzen Sie ventionelle Einsatzmöglichkeiten für Spinnenseide den den Rahmen ihrer Förderaktivitäten und werden im Stiftung, zum Beispiel zu laufenden unsere Fördersuche, um eine passende Initiative und stellt ein Forscherteam vor, das das Weltall Weiteren als Teil des eigenen Veranstaltungsangebots Forschungsprojekten, neuen Ausschreibungen für Ihr Forschungsvorhaben zu finden. belauscht. Alle Projekte finden Sie unter wissen. thematisch aufgegriffen. Mit der Konzentration auf eine oder Publikationen hannover.de/Einrichtungen/VolkswagenStiftung. begrenzte Zahl von Initiativen sorgt die Stiftung dafür, Unsere Audio-Angebote dass ihre Mittel effektiv eingesetzt werden. Mediathek Sie haben eine Veranstaltung verpasst? In unseren In unserer Mediathek finden Sie Fotos und Podcasts „ListenToScience“ und „ScienceUncut“ Besondere Aufmerksamkeit widmet die Stiftung dem wis- Bildergalerien, Videos und Audios. stellen wir Ihnen Audio-Mitschnitte unserer senschaftlichen Nachwuchs sowie jenen Forscherinnen Veranstaltungen zum Nachhören zur Verfügung. und Forschern, die im Zuge ihrer Arbeit und wissenschaft- sciencemovies licher Kooperationen inhaltliche, kulturelle und staatliche In unserem Videoblog sciencemovies.de Gefällt mir! Grenzen hinter sich lassen. Ein Hauptaugenmerk gilt präsentieren sich acht von der Volkswagen- Die VolkswagenStiftung finden Sie auch bei desgleichen der Verbesserung der Ausbildungs- und For- Stiftung geförderte Projekte aus unterschied- Facebook, Twitter und YouTube. Schauen Sie schungsstrukturen in Deutschland. Die Umsetzung der lichen Fachdisziplinen. Film ab! doch mal vorbei! Ziele erfolgt oft im Austausch mit anderen Stiftungen und öffentlichen Einrichtungen der Wissenschaftsförderung. Atempause

Nachdenken am Meer – ein Strandspaziergang

von Christian Jung

Es gibt diese Stunden, da tobt an der Küste eine Begierig saugen die Lungen Sauerstoff ein, den Und doch – oder gerade deshalb – ist es Sehnsuchts- Und auch das müssen wir mit dem Meer verbinden: Bestie. Der Seewind wirbelt das Leben rings gibt es hier im Überfluss. Man schmeckt die Luft; ort. Allein der Gedanke an Tage am Meer flutet Menschen, die in ihm versinken. Die einen wagen umher durcheinander und verwischt die Kontu- die Sinne erfassen eine Würzmischung aus Holz, ganz bestimmte Bilder und Wortfetzen in den Kopf: sich zur Erholung hinaus, die anderen aus Not. ren zwischen Wasser, Sand und Himmel. Hinter Salz, Algen, nassem Stein, modriger Erde und ein Bockwurst auf der Fähre, Milchreis an der Strand- Die einen haben ihren Spaß auf dem Wasser mit den letzten Häusern in den Dünen wird die Welt paar undefinierbaren Beigaben. Sie sagen uns bar, Segelboote weit draußen über einer glitzernden Hightech-Gerät, die anderen verlassen auf der Suche schwarz, und Meer und Land sind nicht mehr von- sofort: Du bist am Meer. Das Gesicht wächst dem Welt, Muschelscherben in der Fußsohle, der Geruch nach einem besseren Leben ihre Gestade in einer einander zu unterscheiden. Wohin man schaut, ist Geruch entgegen und der Sonne und der leichten von Sonnenmilch mit Kokosaroma, glänzende Kör- seeuntauglichen Nussschale mit vielleicht einem es dunkel, körnig, wild. Alles scheint dicht. Brise, die sich inzwischen sanft entgegenstellt. per, verschwitzte Haut, griechischer Wein versus Dutzend Schwimmflügel und einem Rettungsring, Chianti. Ebenso: Shanty-Musik, Grog und Ostfrie- die sie sich im Notfall zu Hunderten „teilen“ müssen. Dann wieder wirkt das Meer wie an Ketten gelegt. Die Füße finden derweil den Weg wie von allein, sentorte, Strandkörbe, Kurtaxe, Souvenirläden mit Die einen sind auf alles vorbereitet, die anderen Kein Kräuseln trübt die glatte Fläche, der Himmel und der führt über den Strand ins Unbestimmte. Kitsch as Kitsch can, einsame Spaziergänge an der allem ausgeliefert. Die einen sind auf gelangweilter spiegelt sich glänzend wie in einer flachen, blank Eben das ist die Belohnung. Mehr und mehr spült Küste im Novembersturm, der zum Orkan anhebt Suche, die anderen auf angespannter Flucht. Die polierten blauen Schale. Der Tag schwitzt gemäch- jeder Augenblick Euphorie ins Hirn; das lässt sich und Wolken schleift – begleitet von einem Anflug einen baden und planschen, wie es ihnen in den lich vor sich hin, und alles scheint sediert. Die See nicht lange bitten und schüttet sofort Glückshor- an Melancholie, der einen durchweht; flatternde Sinn kommt; die anderen winken und ringen um ihr gibt sich gezähmt. So wie jetzt. mone aus. Die Sinne fließen über vor Wonne, und Anoraks, kreischende Möwen, Halligen und Sturm- Leben. Die einen machen einen Ausflug, die anderen allmählich versinkt die Seele in sich selbst. fluten und dann wieder Ebbe und das Wattenmeer werden ausgesetzt. Die einen erleben mal schnell Ich presche mit dem Hund durch die Reste ablau- tut sich auf; „Moin, Moin“, „schweres Wetter heute“ was Neues, die anderen finden mal eben den Tod. fenden Wassers, ziehe die Schuhe aus und versu- Jeder kennt das: ein Tag am Meer, ein Strandspa- – und ja, am Strand weht wieder mal die rote Fahne. che hinterherzukommen. Fühle mich beinahe wie ziergang, ob bei gleißendem Sonnenschein, wenn Auch das also gehört zum Meer. Daran sollten wir ein Kind. Die Zehen versinken bei jedem Schritt die See wie auf Leinwand gespannt scheint, oder Auch das allerdings: angeschwemmter Müll, leere bei unseren Strandspaziergängen hin und wieder leicht im zurückweichenden, sandigen Unter- bei heftigem Sturm, wenn Wellen sich meterhoch Dosen und Plastik, Spuren von Öl im Sand und all denken. Wenn wir zur Ruhe kommen, wenn die grund. Die Füße werden träge und allmählich türmen – da gibt es Momente, die anders sind. das Bangen um Wirkungen des Klimawandels. Ge- ganze Zeit über nichts anderes zu hören ist als das schwer und schwerer. Wir haben kein Ziel, wollen Meine Zehen fühlen den festen Grund, und doch danken an Nachhaltigkeit. Darüber, dass man auch sanfte Plätschern der Wellen oder aber die Gischt nur sehen, wie weit wir kommen. bewege ich mich leicht schwankend, als wolle die Vergangenheit lesen muss, will man Gefahren so zischt, dass das Geräusch unsere Worte schluckt der Boden signalisieren, wie leicht man ihn unter und Herausforderungen von heute sehen und ver- und wir Gespräche nicht mehr mit anderen führen Das Tempo pendelt sich bald schon in der richti- den Füßen verlieren kann. Ich schaue aufs Meer, stehen, um Vorhersagen für das Morgen und Über- können, sondern nur noch mit uns selbst. Wenn gen Geschwindigkeit ein: nicht zu schnell, damit von dem die Sprache sagt, man wage sich dorthin morgen zu wagen mit dem Ziel, vielleicht ein wenig die inneren und äußeren Schichten aus Wunsch der Kopf gemächlich den sich peu à peu wie hinaus; nie formulierte man so, wollte man in den Zukunft mitzuformen. Doch statt solcher Anstren- und Wirklichkeit, Träumen und Trauma, aus von selbst formenden Gedanken beiläufig nach- Wald oder auf eine Wiese oder in die Stadt gehen. gung erlebt man eher eine um mehr Bequemlich- Unvorhersehbarem und Unerwartetem einander hängen kann; nicht allzu langsam, damit nicht Hier aber wartet offensichtlich das Unbekannte, keit, etwa um – gut, leicht überzeichnet – frühzeitig begegnen und sich zu überlagern beginnen und ständig vorwurfsvolle Blicke aus Hundeaugen lauert gar Bedrohliches. Man fühlt sich klein, aus- mit Handtüchern zu reservierende Liegen. Was allmählich etwas Neues entsteht. Dann, wenn wir auf mich geworfen werden. Allmählich folgt der geliefert womöglich, ein wenig schutzlos allzumal. treibt sie bloß alle an, jene Zeitgenossen, die nicht ganz auf uns selbst zurückgeworfen sind. Rhythmus des Denkens dem Takt von Laufen, Nicht du bist es, der hier die Verhältnisse klärt, so ans Meer fahren, ohne zuvor gedanklich Jägerzaun Gehen und Innehalten. lässt es dich spüren: Nein, ich bin es, das Meer. und Gartenzwerg in den Koffer gepackt zu haben? Aber nicht nur dann. Vorgestellt!

Kompliziertes einfach zu erklären – eine Leidenschaft von Dr. Bildnachweis Heidrun Riehl-Halen. Sie studierte zunächst Medizin, schnupper- Impulse 2016_Heft 1 te parallel dazu in die Medienwelt hinein, schrieb für Tageszei- Die Fotos und Abbildungen wurden – soweit unten nicht anders tungen und engagierte sich beim Institut für den Wissenschaftli- angegeben – dankenswerterweise von den jeweiligen Instituten beziehungsweise Hochschulpressestellen zur Verfügung gestellt. chen Film in Göttingen, wo sie auch ihre Doktorarbeit platzierte. An der Hochschule für Musik und Theater Hannover lernte sie Seiten 1, 16-17 (unten): Dr. Timo Moritz/Meeresmuseum Stralsund Seite 3: Dennis Börsch, Hannover anschließend im Ergänzungsstudiengang Journalistik das Hand- Seiten 4 (oben), 33-38, 40, 41: Felix Seuffert, Kapstadt/Südafrika werkszeug einer (Wissenschafts-)Journalistin. Heute schreibt sie Seiten 4 (Mitte), 53, 78-87: Christian Burkert, Hannover Seiten 4 (unten), 117, 120, 121, 122 (oben), 127: Guido Dehnhardt, Rostock Texte nicht nur für Magazine wie die „Impulse“, sondern bedient Seiten 5-17 (oben), 20, 23, 25: Daniel Pilar, Hannover Seiten 18, 19: Stephan Sahm, München weitere Printmedien und den Online-Sektor. Außerdem lehrt Seite 21: Andreas Ruser/Tierärztliche Hochschule Hannover (Standort Büsum) sie als Dozentin an Hochschulen oder Gesundheitsfachschulen Seite 22: Uwe Kierdorf/Universität Hildesheim Seite 27 (oben, unten): Jan-Peter Kasper/Universität Jena und hält Vorträge über historische Medizinfilme. Beruflich vor Seite 27 (Mitte): Georg Pohnert/Universität Jena Anker gegangen ist sie mit ihrem Büro im Bremer Medienhaus, Seite 28: Rodrigo Costa/Algarve University Faro, Portugal Seite 29: Fotolia 88114511 wo sie seit vier Jahren mit anderen Medienleuten im Verbund Seite 30: von/über Julia Schroeder, Seewiesen auch schwerpunktmäßig in der Kommunikation für Verbände, Seite 31: Daniel Schmidt, Oldenburg Seiten 43, 45 (oben links; unten), 46, 48 (oben), 49, 51: Nyani Quarmyne/VISUM Gesundheits- und Forschungseinrichtungen arbeitet. Seiten 45 (oben rechts), 48 (unten): Felicitas Hillmann/Freie Universität Berlin Seite 51 (Kasten): Birthe Annkathrijn Pater/Universität Mainz Seite 52: Jan Schuster/Kulturwissenschaftliches Institut (KWI), Essen Seiten 54-63, 66: Johannes Arlt, Hamburg Seite 64: Felix Rösch, Kiel Seiten 65 (Kasten), 69: Museum Haithabu, Schleswig Seite 68: Conny Fehre für das Museum Haithabu, Schleswig Seite 71: Oliver Wings, Hannover/Jens Lallensack, Bonn Seite 72: Eisenhans/Fotolia Aufgewachsen in Hannover als Kind tschechischer Einwanderer, Seite 73: Sudok/Fotolia Seite 74: Michael Ströck via Wikimedia Commons studierte Daniel Pilar an der Fachhochschule Hannover Kommu- Seite 75: Eberhardt/Universität Ulm Seite 76 (links): Mirko Krenzel, Hannover nikationsdesign mit dem Schwerpunkt Fotojournalismus. 2006 Seite 76 (rechts): Elmar Behrmann, Bonn schloss er das Studium mit dem Diplom ab. Nach drei Jahren als Seite 77: Franz Bischof, Hannover Seite 80: Thorsten Balke/Universität Oldenburg Redaktionsfotograf bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Seite 89: Adam Burton/Corbis (FAZ) zog es ihn zurück nach Hannover. In der Leinemetropole Seiten 90, 92 (rechts), 93: Cira Moro, Stuttgart Seite 91: Ross Wanless und Andrea Angel lebt Daniel Pilar heute mit seinen zwei Söhnen, von hier aus Seite 92 (links): Lutz Bunger/University of Edinburgh, Großbritannien arbeitet er als freier Fotograf unter anderem für Magazine und Seiten 94, 98, 103: Christoph Edelhoff, Kiel Seiten 95, 99 (oben): Olivia Roth/Geomar, Kiel Verlage sowie Hilfsorganisationen, zudem weiterhin für die Seite 96: Marta Barluenga, Madrid, Spanien Seite 99 (unten): Bernd Egger/Universität Basel, Schweiz FAZ. Er ist gleichermaßen gefragt als Fotograf von Themen aus Seiten 100, 101: Miguel Landestoy, Hispaniola Wirtschaft und Politik als auch für Porträts oder fotografische Seite 102: Martin Menkhoff, Hannover Seiten 105 (oben rechts), 115, 116, 118, 119, 122 (unten), 125 (oben), 126: Fabian Fiechter, Hannover Dokumentationen wie etwa Reportagen – dies zudem weltweit Seite 105 (unten): Jens Steingässer, Darmstadt und auch in Krisenregionen. Seiten 106, 159: Sven Stolzenwald, Hannover Seite 107 (links): Noel Tovia Matoff, Bremen Seite 107 (rechts): Marc Frey/Bundeswehr-Universität München Seite 108: Ricarda Menn/Goethe-Universität Frankfurt am Main Seite 107: Goethe-Universität Frankfurt am Main Seite 110: Tryfonov/Fotolia Seite 112: CRTD, Dresden Forschungsförderung in Niedersachsen ist untrennbar mit Seite 113 (links): Ulrich Dahl/Technische Universität Berlin, Pressestelle einem Begriff verbunden: „Niedersächsisches Vorab“. In enger Seite 113 (rechts): Felix Schmitt für VolkswagenStiftung Seiten 120, 121 (Bullaugen): istock Abstimmung mit dem Land Niedersachsen kümmert sich bei Seiten 124, 125 (unten): Angelika Heim, Rostock der VolkswagenStiftung ein Team um jene „Vorab-Erträge“, Seite 128: M. Hartig/Meyer-Werft, Papenburg Seite 131: Folke Mehrtens/Alfred-Wegener-Institut, Bremerhaven die ausschließlich der niedersächsischen Hochschul- und Wis- Seite 132: Kristina Baer/Alfred-Wegener-Institut, Bremerhaven Seite 133: A. Müller-Michaelis, Universität Hamburg senschaftslandschaft zugute kommen. Der Physiker Dr. Franz Seite 134: Leitstelle Deutsche Forschungsschiffe Dettenwanger leitet – neben der Betreuung der Förderinitiative Seite 135: N. Verch, Universität Hamburg Seite 136: Jens Greinert/Geomar, Kiel „Integration molekularer Komponenten in funktionale makros- Seite 137: Daniela Krellenberg/Geomar, Kiel kopische Systeme“ – das entsprechende Referat in der Stiftung Seite 139: Thomas Badewien/ICBM, Oldenburg Seiten 140-151: Dorota Gorski, Hannover und wird unterstützt von Regina Buch und Simone Künnecke Seite 153: Universität Bielefeld, Pressestelle (rechts). Sie berichten an die neue Abteilungsleiterin für den Seite 154: Istock Seite 155: Helen Buhler/Stiftung Berliner Museen Bereich der Wissenschaftsförderung der Stiftung, Dr. Henrike Seite 156: S. Schalk Seite 157: Photoresque/Augsburg Hartmann (links). Die Lebenswissenschaftlerin gehört zugleich Seite 166 (oben): André Kallinke, Bremen der vierköpfigen Geschäftsführung der VolkswagenStiftung an. Seite 166 (Mitte, unten): Ina-Jasmin Kossatz, Hannover

Impulse 01_2016 167 Wir stiften Wissen

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