Außerschulische Bildung 2-2008 ISSN 0176-8212 von Erinnerungen 1968: DieKonkurrenz „realen Sozialismus“ Demokratisierung im 1968: Hoffnung auf politische Bildung Protestbewegung und Bundesrepublik um1968 Jugendkultur inder Lichte seinerJubiläen Der Kampfum„68“im 2-2008 INHALTSVERZEICHNIS

ZU DIESEM HEFT 157 ADB-FORUM

Paul Ciupke SCHWERPUNKT Verluste und Konstanten Neue Zahlen und einige (auch alte) Albrecht von Lucke Erkenntnisse zur politischen Der Kampf um „68“ – Erwachsenenbildung in NRW 210 im Lichte seiner Jubiläen 158

Detlef Siegfried ADB-JAHRESTHEMA Zwischen Pop und Politik. Jugendkultur in der Bundesrepublik um 1968 165 Homaira Mansury „Auf Augenhöhe – Wie Integration vor Ort Paul Ciupke in der Praxis gelingt“ 212 Die Protestbewegung in den 60er Jahren und die außerschulische politische Bildung 172 INFORMATIONEN Revolte im Gulasch-Kommunismus Ein Interview mit György Dalos 181 Meldungen 216

Anton Sterbling Aus dem AdB 234 Rumänien 1968: Kontext, Geschehnisse und Folgewirkungen 186 Personalien 238

Wolfram Tschiche Bücher 239 Zur historischen Bedeutung des Prager Frühlings 1968 195 Markt 254

Klaus Waldmann Protest und Anpassung im geteilten IMPRESSUM 258 Deutschland der 60er und 70er Jahre Ein Projekt historisch-politischer Jugendbildung 202

Thema des nächsten Heftes: „Problem“- und Zielgruppen der politischen Bildung

155 156 ZU DIESEM HEFT

Peter Rühmkorf ist tot, das nem Artikel über Rumänien belegt. Ungarn hinge- „Kursbuch“ wurde einge- gen hatte im Westen schon damals den Ruf, libera- stellt. Vierzig Jahre nach ler zu sein als seine sozialistischen Nachbarn, war 1968 sind die meisten Pro- aber traumatisiert durch die militärische Nieder- tagonist/-innen der 68er schlagung des Aufstands 1956. Im Interview mit Si- Bewegung inzwischen im mone Schmollack berichtet György Dalos, wie er die Rentenalter oder stehen Vorgänge 1968 in Ungarn wahrgenommen hat und unmittelbar davor. Und was sie für ihn bedeuteten. dennoch: So viel 68 wie heute war nie. Als wir uns Das, was damals im Westen geschah, lässt sich nur im Frühling 2007 mit Blick schwer in einen Zusammenhang mit der Entwick- auf das Folgejahr auf ein lung in den Ostblockstaaten bringen. Die unter- Heft zum Thema 1968 einigten, ahnten wir nicht, schiedlichen Erfahrungen aufeinander zu bezie- dass die damalige Studenten- und Jugendrevolte hen, versucht ein Projekt der historisch-politischen rund vierzig Jahre später medial so große Auf- Jugendbildung, das Klaus Waldmann beschreibt. merksamkeit erfahren würde. Der Rummel begann Paul Ciupke zeigt beispielhaft am Arbeitskreis schon im letzten Jahr und will kein Ende nehmen. deutscher Bildungsstätten den Einfluss der 68er Be- Uschi Obermaier, Rainer Langhans und andere po- wegung auf die damaligen Auseinandersetzungen litischere Zeitzeug/-innen touren durch die Talk- in einem Verband der außerschulischen politischen shows und machen sich die Deutungshoheit über Bildung und auf didaktische Entwicklungen. eine kurze, aber in ihrer lebensgeschichtlichen Bedeutung für große Teile der damals jungen Ge- Detlef Siegfried macht deutlich, dass die Jugendre- neration nicht zu unterschätzende Zeitspanne volte 1968 Teil und Ausdruck eines gesellschaft- streitig. Die Zahl der Publikationen zu 1968 ist in- lichen Wandels war, der sich in der Alltagskultur zwischen Legion, und die Bundeszentrale für poli- und im Lebensstil vollzog und nachhaltiger wirkte tische Bildung widmet der 68er Bewegung Veran- als die (zudem nicht einheitlichen und zwischen staltungen und Info-Angebote über das ganze Jahr den verschiedenen Flügeln heiß umkämpften) poli- hinweg. tischen Ziele der 68er.

Was also kann man noch mitteilen zu 68, was nicht Was die 68er politisch wollten, lässt sich nicht auf schon längst mehrfach gesagt, erörtert, dokumen- einen Nenner bringen; dass sie damalige Vorstel- tiert wurde? Wir wollen mit diesem Heft den Blick lungen zur Systemveränderung erfolgreich hätten auf Vorgänge und Zusammenhänge richten, die in durchsetzen können, mag angesichts der gegen- der aktuellen öffentlichen Diskussion über 1968 wärtigen politischen und gesellschaftlichen Rea- eher vernachlässigt werden. Dazu gehört die zeit- lität auch niemand glauben. Dennoch haben sie in gleiche aber unter völlig anderen Voraussetzungen den paar Jahren viel bewegt und angestoßen. Of- und Bedingungen verlaufende Entwicklung in den fenkundig beschäftigen sie immer noch die Phan- Staaten des „realen Sozialismus“, die in der zweiten tasie der Menschen und provozieren den Streit Hälfte der 60er Jahre ebenfalls in Fahrt geriet. Sie über die Bewertung ihres historischen Erbes. Al- weckte Hoffnungen auf Änderungen der Verhält- brecht von Lucke, dessen Beitrag dieses Heft einlei- nisse in Ostmitteleuropa, die jedoch mit dem Ein- tet, analysiert die bisherigen „Jubiläen“ zu 68 mit marsch der Sowjetunion und anderer Staaten des dem Ziel, herauszufinden, was die sich verändern- Warschauer Pakts in die CSSR im August 1968 brutal den Erinnerungsschwerpunkte und Deutungsver- zerstört wurden. Wolfram Tschiche erinnert an den suche über den jeweiligen Zustand der bundesre- „Prager Frühling“ und die dramatischen Ereignisse publikanischen Politik und Gesellschaft aussagen. in jenem Sommer, die er als Jugendlicher in der DDR Man kann gespannt darauf sein, wie im Jahr 2018 mit Bangen und Hoffen verfolgte. Aber auch in an- an 1968 erinnert werden wird. deren Ländern des sogenannten Ostblocks gab es Li- beralisierungstendenzen, wie Anton Sterbling in sei- Ingeborg Pistohl

157 SCHWERPUNKT

Der Kampf um „68“ – im Lichte seiner Jubiläen Albrecht von Lucke

Albrecht von Lucke sieht in den unterschied- Ein Jahr zuvor hatten die von der sogenannten lichen Zugängen zur Erinnerung an die mit der zweiten Generation der RAF verübten Mordan- Chiffre 1968 bezeichneten Zeiträume wechselnde schläge das ganze Land regelrecht in einen Schock- Schwerpunkte der politischen Auseinandersetzung zustand versetzt. Dennoch begann bereits damals in Deutschland. Die Jubiläen im Zehn-Jahres-Rhyt- das bürgerliche Feuilleton, sich für die 1968 verlo- mus werden unter dem Aspekt beleuchtet, was sie ren gegangenen Kinder weit zu öffnen. In den aussagen über die jeweils aktuellen politischen Kon- zehn Jahren seit der Revolte war die Schärfe der flikte und die Ziele, die im Kampf um die Deu- Auseinandersetzung einem versöhnlicheren Ton tungshoheit über '68 verfolgt werden. Dabei hat gewichen. Viel Verständnis brachte etwa die libe- sich der Streit mit wachsendem zeitlichen Abstand rale „ZEIT“ der Generation der verlorenen Bürger- zu den damaligen Vorgängen sogar noch ver- kinder entgegen, die „in eine vorgeblich endlich schärft. An herausragenden Beispielen verdeutlicht aufgeräumte Welt hineinerzogen wurde und beim von Lucke den Zusammenhang zwischen Interpre- Erwachsenwerden schockartig herausfand, wie sehr tationen der Vorgänge um 1968 und politischen diese aufgeräumte Welt noch in Unordnung ist.“2 Interessen der jeweiligen Gegenwart. Mehr und mehr wird die große moralische „lnfra- 40 Jahre liegen die Ereignisse von 1968 mittlerweile gestellung“ der Nachkriegsrepublik durch „68“ gut zurück – also eigentlich der richtige Zeitpunkt für ei- geheißen: 68 stand nun für das moralische Aufbe- ne gelassene Bilanzierung. Und doch löst auch in die- gehren der Nachkriegskinder gegen ihre Nazi- sem Jubiläumsjahr die Chiffre „68“ wieder heftige Eltern und für den Wunsch nach Verarbeitung Reaktionen aus. Anders der NS-Zeit. Dieser ge- In diesem Jahr wird als von jenen, die für ei- Mehr und mehr wird meinsame Grundimpuls, so erbittert um die ne stärkere Historisierung die große moralische so die herrschende Les- Bedeutung von „68“ plädiert hatten, erwartet „lnfragestellung“ art, war von den mörde- gestritten wie seit und erhofft, erlebt das der Nachkriegsrepublik rischen Exzessen der RAF Jahren nicht mehr Land eine erstaunliche durch „68“ gut unberührt geblieben. La- Politisierung und Zuspit- geheißen gerübergreifend wurde zung der Debatte. Maßgeblich ausgelöst durch „Un- inzwischen dem Ereignis ser Kampf“, das sensationsheischende Buch des His- „68“ vor allem eine moralische Qualität zugespro- torikers und einstigen APO-Aktivisten Götz Aly, wird chen – was auch dazu führte, dass die damaligen in diesem Jahr so erbittert um die Bedeutung von Akteure sich zunehmend selbstbewusst als 68er „68“ gestritten wie seit Jahren nicht mehr. und Angehörige einer gemeinsamen Generation begriffen. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Im Gegensatz zu anderen Jubiläen verbergen sich bis heute hinter Was die 68er zum Ende der 70er Jahre, mit dem En- „68“ und der dazugehörigen 68er-Generation stets de der bleiernen Zeit und dem Aufblühen neuer, auch die Kämpfe um die kulturelle Deutungshoheit grün-bunter Hoffnungen, allerdings noch nicht in der Bundesrepublik – und damit die Auseinander- vorhersahen, war die Tatsache, dass sie sich, indem setzung nicht nur über die Vergangenheit, sondern sie sich selbst als „68er-Generation“ definierten, auch über Gegenwart und Zukunft dieses Landes.1 dem Datum 1968 und seiner jeweiligen Wertung Deshalb setzt die Frage, wofür die „Chiffre 68“ steht, auslieferten. „68“ war damit zur „historischen bis heute gewaltige emotionale Energien frei. Das ist Kennziffer einer Generation“ geworden.3 Gleich- in diesem Jubiläumsjahr nicht anders als in den ver- zeitig war die Generation damit in Zukunft abhän- gangenen. Stets war das Erinnern hochgradig von gig von den Prämien, die die öffentliche Meinung der jeweiligen politischen Situation abhängig. für das Jahr 1968 vergeben würde.

1978 – Bürgerliche Annäherung im Schatten 1988 – „Alle lieben '68“ der RAF Zehn weitere Jahre später, 1988, waren diese Das erste zehnjährige Jubiläum, im Jahre 1978, Prämien rundweg positiv. Zum zwanzigjährigen Ju- stand ganz im Zeichen der terroristischen Gewalt. 2 Dieter E. Zimmer, Gescheitert, aber nicht folgenlos, in: Die 1 Vgl. dazu auch Albrecht von Lucke, 68 oder neues Bieder- ZEIT, Nr. 27, 07.07.1967, S. 8. meier. Der Kampf um die Deutungsmacht, Verlag Wagenbach, 3 SPIEGEL-Spezial, Die wilden 68er. Die SPIEGEL-Serie über die 2008. Studentenrevolution, 1988.

158 SCHWERPUNKT

kratischer Spielregeln und de- ren Ausübung. Erst die Revol- te schien aus einem autoritär- hierarchischen Obrigkeitsstaat eine moderne, zivilisierte De- mokratie gemacht zu haben.

Vorschub erhielt diese Deu- tung durch die anhaltende Krise der schwarz-gelben Re- gierungskoalition. Die von Kanzler ver- sprochene „geistig-moralische Wende“ war ausgeblieben; der CDU-Kanzler schien abge- wirtschaftet zu haben und Oskar Lafontaine als damali- ger SPD-Kanzlerkandidat auf dem besten Wege, die nächste ©pixelio/windrose Bundestagswahl zu gewin- 68 stand für das moralische Aufbegehren der Nachkriegskinder gegen ihre nen. Die Grünen als der mögli- Nazi-Eltern und für den Wunsch nach Verarbeitung der NS-Zeit che Koalitionspartner der SPD verkörperten die Resozialisie- biläum der Revolte schien der kommende politi- rung der Revoluzzer. Die aufständischen Studenten sche Triumph dieser Generation so gut wie ausge- von einst waren in der bundesrepublikanischen macht. Unbemerkt selbst von vielen 68ern hatte Demokratie angekommen, der „Machtwechsel als sich in den 80ern das Jahr 1968 vom Ruch der radi- Generationenprojekt“5 schien greifbar nahe. kalen Revolte befreit und war zu einem positiv konnotierten Markenzeichen geworden, was Klaus Zwanzig Jahre nach „68“ befand sich die 68er-Ge- Hartung in der taz zu der sichtlich überraschten neration somit auf dem Sprung zur Regierungs- Feststellung veranlasste: „Alle lieben '68“.4 macht in der Republik. Zwanzig Jahre nach Im Jahre 1988 schien ih- Nun stand '68 für Nun stand '68 für den „68“ befand sich die re Herkunft so etwas den Beginn von Beginn von Emanzipa- 68er-Generation somit wie die Garantie auf Emanzipation und tion und Demokratisie- auf dem Sprung zur Modernität und Erfolgs- Demokratisierung rung – nach den damals Regierungsmacht tauglichkeit. Der Macht- gängigen Codierungen in der Republik wechsel als Generatio- gleichbedeutend mit Fortschrittlichkeit. Bereits die nenprojekt bezeichnete 70er, aber mehr noch die 80er Jahre waren geprägt den Willen zum inhaltlichen Politikwechsel. Der durch die silent revolution (Ronald Inglehart) – ei- „ökologische Umbau der Industriegesellschaft" war nen positiv konnotierten Wertewandel, der allent- das erklärte Ziel, 68 stand für die Abrüstung nach halben auf 1968 zurückgeführt wurde: Die Bürger innen wie nach außen. Die 68er-Generation verkör- verlangten nach mehr Partizipation und engagier- perte damit den ökologisch aufgeklärten Fort- ten sich in der Frauen-, Friedens- und Umweltbe- schritt. Das 68er-Label stand (noch immer) für wegung, nicht selten in allen dreien gleichzeitig – einen großen politischen Anspruch. Gerhard Schrö- Engagement als Lebensform. Anstelle der harten, der, Jahrgang 1944 und dennoch 1968 keineswegs materialistischen Werte war der Postmaterialismus besonders stark beteiligt, artikulierte zwanzig Jah- auf dem Vormarsch. Die sogenannten weichen re später als Fraktionsvorsitzender in Hannover Themen verdrängten die hard politics. selbstbewusst die Identität der Bewegung: „Wir ha- ben 25 neue Abgeordnete. Die sind alle anders, für Im bürgerlichen Feuilleton, das immer mehr durch die ist Ruhe nicht mehr die erste Bürgerpflicht“.6 Angehörige der 68er-Generation besetzt wurde, war „68“ zum Synonym für die kulturelle Verwest- 5 Jürgen Leinemann, in: „Der SPIEGEL“, 25/1997, S.110-119, lichung geworden, nämlich die Übernahme demo- hier S. 118. 6 Zit. nach Jürgen Leinemann, in: „SPIEGEL special“ Die wilden 4 „die tageszeitung“ (taz), 11.04.1988. 68er, 1998, S. 89.

159 SCHWERPUNKT

„moralischen Grundkonsens, auf dem die Entwick- ©Bündnis 90/Die Grünen lung der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik be- ruhte, in Frage gestellt“.8 Kurzum: Der eben noch positiv konnotierte Begriff der 68er-Generation hatte sich in sein Gegenteil verkehrt.

Wie erklärt sich dieser völlige Umschlag? Schlicht mit einem Ereignis: dem 9. November 1989 und dem Zusammenbruch eines für unzerstörbar ge- haltenen politischen Systems förmlich über Nacht. Jegliches linke „Experi- Mit dem Zusammen- ment“ schien diskredi- Die Grünen als der mögliche Koalitionspartner der SPD bruch des realsozialis- tiert. verkörperten die Resozialisierung der Revoluzzer tischen Systems 1989 Die 68er wurden davon schien jegliches in zweierlei Hinsicht ge- Tatsächlich stand 1988 das Jahr '68 sogar so hoch linke „Experiment“ troffen. Zum einen war im Kurs, dass auch andere die Zugehörigkeit zu diskreditiert der Restbestand an Iden- dieser Generation reklamierten. Die ehemaligen tifikation mit dem real- Gegenspieler der Revolte, die RCDS-Fraktion um sozialistischen Experiment dahin. In der Ausein- die Brüder Wulf und Jörg Schönbohm sowie Kohls andersetzung der Systeme hatte der Kapitalismus Wahlkampfstrategen Peter Radunski, bezeichne- offenbar gesiegt und damit seine Geschichtsmäch- ten sich als „andere“ oder „alternative 68er“, um tigkeit unter Beweis gestellt. Damit gab es keinen ihren Teil vom Kuchen der Anerkennung zu erhal- marxistischen Erwartungshorizont mehr, stattdes- ten. In merkwürdiger Weise schien plötzlich kaum sen machte Francis Fukuyamas hegelianisches Dik- ein Blatt Papier zwischen Adenauer, den institutio- tum vom kapitalistischen „Ende der Geschichte“ nellen, und Dutschke, den kulturellen „Verwest- die Runde. Jegliches linke „Experiment“ schien dis- licher“, zu passen, denn auch im Adenauerhaus sa- kreditiert. ßen inzwischen die selbsternannten „68er der CDU“. Zum anderen wurde die Bonner Linke in ihrer zu- nehmenden Anhänglichkeit an die alte Bundesre- publik schwer getroffen. Helmut Kohl „wollte 1993 – Die 68er als „Generation der Geschei- Deutschlands Einheit“ (Kohl), und die Linke stand terten“ sprachlos daneben. Das vereinte Deutschland, das nach der Umzugsentscheidung unter dem Logo Doch schon fünf Jahre später sah die Welt völlig der „Berliner Republik“ firmierte, wurde von An- anders aus, hatte sich das Blatt gewendet. Die Geg- fang an von großen Teilen der Linken nicht als ihre ner der 68er waren wieder am Drücker. Zum 25jäh- Sache, sondern eher als Gegenprojekt wahrge- rigen Jubiläum der Revolte rechneten in der nommen. Die „Radikale Linke“ versammelte unter „ZEIT“ die alten Kontrahenten aus der skeptischen der Losung „Nie wieder Deutschland“ einige Tau- Generation mit den 68ern ab. Nach dem rechtsex- send Demonstranten; die westdeutschen Grünen tremistischen Anschlag in Solingen, bei dem fünf plakatierten trotzig „Alle reden von Deutschland, Türkinnen grausam verbrannten, machte Altbun- wir reden vom Wetter“ und verfehlten bei den er- deskanzler Helmut Schmidt die antiautoritäre Er- sten gesamtdeutschen Bundestagswahlen prompt ziehung dafür verantwortlich, dass sich „rechte die Fünf-Prozent-Hürde.9 Kurt Sontheimer, der alte Mordbrenner als Avantgarde“ fühlen können. Für Gegenspieler der Aktivisten von einst, fasste das „ZEIT“-Herausgeber Theo Sommer hatten sich die herrschende Urteil dieser Zeit prägnant zusam- Maßstäbe „im ätzenden Säurebad der Kritik auf- men: Die 68er – „Eine Generation der Gescheiter- gelöst“.7 Die „moralische Eigenbrötelei der 68er- ten.“10 Rebellen“ habe die „Gemeinschaft auf dem Altar der Gesellschaft geopfert“. Die 68er-Generation 8 Zit. nach Cordt Schnibben, Vollstrecker des Weltgewissens, in: habe, so schließlich der Politologe Kurt Sontheimer, „Der SPIEGEL“, 23/1997, S.108-117. „das Fehlen einer moralischen Substanz in der 9 Lediglich die Listenverbindung im Osten, aus Neuem Forum deutschen Gesellschaft“ zu verantworten. Sie habe und anderen Gruppierungen, schaffte den Einzug, da Ost und „das Gefühl für Solidarität“ geschwächt und den West eigenständig gewertet wurden. 10 Kurt Sontheimer, Eine Generation der Gescheiterten, in: 7 Vgl. „Die ZEIT“, Nr. 21, 21.5.1993. „Die ZEIT“, Nr. 15, 15.4.1993.

160 SCHWERPUNKT

Damit wurde zu Beginn der 90er Jahre aber auch Große Teile der Medien, noch“, schrieb „SPIE- das im Gefolge von '68 etablierte Politikverständ- speziell des Feuilletons, GEL“-Redakteur Jürgen nis grundsätzlich in Frage gestellt. Alles, was zuvor interessierte im Wahl- Leinemann, selbst 68er positiv konnotiert war, schien ins Negative umge- jahr 1998 vor allem, und Intimus von Gerhard schlagen zu sein. Der gestern noch begrüßte Wer- ob es jene vormals Schröder, halb spöttisch, tewandel galt plötzlich nur noch als Werteverfall. rebellische Generation halb verzweifelt, um an- Die sogenannten Sekundärtugenden, von Oskar doch noch schaffe, schließend festzustellen, Lafontaine einst als „auch zum Betrieb eines Kon- „vor der Rente“ an die dass die 68er am Ende zentrationslagers geeignet“ gegeißelt, stiegen im Macht zu kommen des langen Marsches ein Kurs. Hedonismus und Pflichtvergessenheit der „Halbfertigprodukt“ ge- „narzisstischen 68er“ wurden für die Individualisie- blieben seien.11 Jan Ross sah gar die ganze Genera- rung verantwortlich gemacht. Die 68er taugten als tion in dem kollektiven Verzweiflungswunsch ver- willkommene Sündenböcke im schwierigen Prozess eint, „das Inhaltsleerste ihrer politischen Existenz, der deutschen Vereinigung. ihr Geburtsdatum und ihr Lebensgefühl, in den An- nalen der Bundesrepublik (zu) verewigen.“12 Nun Kurzum: Von den zivilisatorischen Fortschritten seit kämpfe die rebellische Generation am Ende ihres 1968 war nicht mehr die Rede. 25 Jahre nach der langen Marsches nur noch darum, dass „wenigs- Revolte und zehn Jahre nach Helmut Kohls Macht- tens die eigene Lebenszeit nicht vertan und in der antritt schien die konservative geistig-moralische Versenkung verschwunden sein" solle. Der Vor- Wende doch noch Wirklichkeit zu werden. „68“ wurf der Medien lautete denn auch: Seht her, die war über Nacht – vom 9. zum 10. November 1989 – 68er betreiben den Ausverkauf ihrer politischen vom Qualitätsmerkmal zum Makel geworden. Ideale, um die politisch entleerte Identität als Generation zu retten.

1998 – „Die 68er an der Macht“ Tatsächlich schien stellvertretend für den Rest sei- ner Generation Gerhard Schröder dem Feuilleton 30 Jahre oder eine (biologische) Generation nach Recht geben zu wollen. In seinen Zeiten als Juso- 1968 schien dann tatsächlich die letzte Feuilleton- Vorsitzender hatte er sich, als dies noch opportun Schlacht um das Erbe von 68 geschlagen zu wer- war, selbstbewusst als Marxist bezeichnet. Doch den. Der Zufall wollte es, dass das Jubiläumsjahr da sein Sieger-Image an seiner Generation Scha- mit dem beginnenden Bundestagswahlkampf und den zu nehmen drohte, bestand seine Strategie der Kandidatur des früheren Juso-Vorsitzenden zunehmend darin, das vermeintliche Stigma 68 Gerhard Schröder zusammenfiel. Große Teile der vergessen zu machen. Schließlich habe er 1968 Medien, speziell des Feuilletons, interessierte im nur die Klappentexte gelesen und sich ansons- Wahljahr 1998 deshalb vor allem eines: Schafft es ten im zweiten Bildungsweg auf das Jura-Studi- jene vormals rebellische Generation doch noch, um vorbereitet. „68“ – allenfalls eine lässliche „vor der Rente“ an die Macht zu kommen? Jugendsünde. Und der Juso-Vorsitz – eine linke Flause. „Die Rebellen von einst sitzen in den Parlamenten und Parteien, aber Helmut Kohl regiert immer Selbst der zentrale Wahlkampfslogan der SPD brachte die Distanz zur Vergangenheit zum Aus- druck: Das vermeintlich schlichte „Wir sind bereit“ signalisierte auch die Abwendung von der frühe- ren Fundamentalopposition: „Wir sind dagegen“. Tunlichst mied Strahlemann Schröder jedes „68er- Thema“: Ökologie, Demokratisierung und die an- deren soft issues kamen bei ihm nicht mehr vor. Fa- milienpolitik war bloßes Gedöns und „kriminelle Ausländer müssen raus, aber schnell“ – so lautete

©Deutscher Bundestag/Werner Schüring 11 Jürgen Leinemann: Am Ende des langen Marsches, in: „Der SPIEGEL“, 25/1997, S.110-119. 68er endlich an der Macht? Gerhard Schröder und 12 Jan Ross, Die abgewählte Generation, in: „Berliner Joschka Fischer im Jahr 2002 Zeitung“, 03.03.1998.

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die autoritäre Devise des Kanzlerkandidaten und schichte – allerdings nur für einen kurzen histori- niedersächsischen Ministerpräsidenten.13 schen Moment.

Kurzum: Schröder machte tabula rasa. „Die ganze Altlast von 1968 wurde in diesem Wahlkampf ent- 2008/2009 – Die Konkurrenz der Erinnerungen sorgt“, stellte der Soziologe Heinz Bude spöttisch fest.14 Die journalistische Reaktion erfolgte post- Denn zehn Jahre später hat sich der Wind erneut wendend, der Anspruch auf Fortschrittlichkeit gedreht. Heute dominieren in den Medien zuneh- wurde von den 68ern mend jene, die mit „68“ radikal abrechnen – von Der Anspruch auf auf die nächste Genera- „BILD“-Chefredakteur Kai Diekmann („Der große Fortschrittlichkeit tion übertragen: Das Selbstbetrug“) bis zum Ex-Revoluzzer Götz Aly wurde von den 68ern Feuilleton erfand als („Unser Kampf“). auf die nächste Gene- neuen Hoffnungsträger ration übertragen die inzwischen längst Und etwas anderes kommt hinzu: Anders als in den wieder vergessene „Ge- früheren Gedenkjahren dominiert der Blick nach neration Berlin.“15 Auf diese wurden die großen vorn – nämlich bereits auf die geschichtlichen Erb- Zukunftserwartungen projiziert, die sich mit der schaften des Jahres 2009 und seine hochgradig po- heraufziehenden „Berliner Republik“ verbanden. litischen Implikationen. Einerseits befinden wir uns „Etwas Untotes, Zombiehaftes, etwas von Wieder- momentan noch mitten im Erinnern des Jahres gängerei aus der Vergangenheit“ sollte dagegen 2008 – und sind doch andererseits immer schon des den 68ern anhaften.16 Sie, die die alte Bundesrepu- Erinnerungsbooms gewärtig, der uns im kommen- blik bewohnbar machen wollten, wurden nun zu den Jahr erwartet. verspäteten Nachlassverwaltern deklariert: „Rot- Grün, das ist die Kohl-Welt noch einmal, nur von Denn 2009 kulminiert das Erinnern an ein ganzes links.“17 Bündel historischer Ereignisse. 2009 steht nicht nur für 20 Jahre „89“, sondern auch für 60 Jahre 1949, Doch dann kam der Wahltag – und damit alles an- also für 60 Jahre Bundesrepublik. Damit stellt sich ders als demoskopisch vorhergesagt. Gerhard die Frage „Worauf gründet, gestern wie heute, die Schröder avancierte tatsächlich zum Bundeskanzler Republik, was sind ihre Fundamente?“ Das kom- – und zwar nicht einer großen, sondern einer rot- mende Jahr steht aber auch für 40 Jahre „69“ – das grünen Koalition. „Sieg der Achtundsechziger“, Ende der ersten Großen Koalition und den Beginn titelte die „Welt“.18 Und Rezzo Schlauch, seit Josch- der sozial-liberalen Koalition unter Willy Brandt. ka Fischers Verwandlung zum mageren Marathon- Diese Frage gewinnt besondere Bedeutung vor mann Sinnbild des lebemännischen 68ers, jubilier- dem Hintergrund, dass auch 2009 – last but not te: „Wir waren doch eine unheimlich politische least – das Jahr einer Bundestagswahl ist, die ironi- Generation. Es wäre doch ein Treppenwitz gewe- scherweise wie das Jahr 1969 eine Große Koalition sen, wenn wir übergangen worden wären.“19 Der beenden könnte – und damit in besonderer Weise 1967 von Rudi Dutschke proklamierte „Marsch unter dem Signum steht: Wohin treibt die Bundes- durch die Institutionen“ war nach dreißigjähriger republik? Odyssee doch noch von finalem Erfolg gekrönt, wenn auch in etwas anderer als von diesem vorge- Angesichts dieser erstaunlichen Koinzidenz der Er- sehener Weise. Die 68er-Generation erschien, eignisse liegt die Versuchung nahe, die Debatte wenn auch reichlich verspätet, als Siegerin der Ge- bereits heute zu politisieren und zu instrumentali- sieren. Es ist deshalb al- 13 Mehmet Gürcan Daimagüler, Stammtisch der Linken, in: Es ist kein Zufall, wenn les andere als ein Zufall, „Die ZEIT“, 45/1997. die gegenwärtige ge- wenn die gegenwärtige 14 Vgl. Heinz Bude, Generation Berlin. In Vorbereitung auf die schichtspolitische De- geschichtspolitische De- neue Republik, in: FAZ, 18.6.1998. batte auch mit Blick auf batte auch mit Blick auf 15 Vgl. Heinz Bude, Generation Berlin, Berlin 2001; S.43; die kommende Wahl- die kommende Wahlent- Susanne Gaschke, in: „Die ZEIT“, 23.7.1998, S.3. entscheidung im Jahr scheidung im Jahr 2009 16 Jan Roß, Die abgewählte Generation, in: „Berliner Zeitung“, 2009 geführt wird. geführt wird. Anders als 3.3.1998, S.11. zu den bisherigen run- 17 Ebd. den Erinnerungsdaten wird das Jahr 1968 diesmal 18 Mathias Döpfner, Sieg der Achtundsechziger, in: „Die Welt“, geschichtspolitisch auch im Lichte der Erinnerung 28.9.1998, S.1. an die Ereignisse von 1989 betrachtet und be- 19 „Berliner Zeitung“, 29.9.1998, S.3. wertet.

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Diese Wirkung war gewiss nicht intentional aus Sicht der sich als „Berufsrevolutionäre“ begreifen- den Hauptakteure von 68, die die Republik be- kanntlich eher zum Tan- Funktional betrachtet zen bringen als für deren wirkte die Revolte auf demokratische Moderni- mittlere Sicht in erster sierung sorgen wollten. Linie demokratisierend Doch funktional betrach- tet wirkte die Revolte auf mittlere Sicht in erster Linie demokratisierend – allen anti-demokratischen Anteilen zum Trotz. So gab es im Jahr 1977 eben nicht nur die mörderi-

©pixelio/S.Hofschlaeger schen Anschläge der RAF, sondern auch 50 000 Bür- gerinitiativen, deren Mitgliederzahl jene der Es wird versucht, 1968 primär als ein Phänomen der Parteien bei weitem überstieg – was für die Gesell- Gewaltsamkeit zu deuten schaft mittelfristig von weit größerer Bedeutung war als der Amoklauf der Terroristen. Der Wettstreit der „Revolutionen“ Am Ende dieser Entwicklung sollte sich, erstmalig Im Zuge dieser erstaunlichen „Erinnerungskonkur- in der deutschen Geschichte, der politisch enga- renz“ haben wir es deshalb bereits heute mit einer gierte Bürger, der citoyen in französisch-republika- Konkurrenz der unterschiedlichen „Revolutionen“ nischer Tradition, dem apolitischen Konsum- und zu tun – der friedlichen von 1989 und der (angeb- Besitzbürger, dem bourgeois, zugesellt haben - lich) gewaltsamen von 1968. Der Versuch, 1968 pri- was Willy Brandt bei der Begründung seiner sozial- mär als ein Phänomen der Gewaltsamkeit zu deu- liberalen Koalition zu der Aussage veranlasste: ten, hat eine lange Tradition. Spätestens seit 1977, „Wir wollen den Bürger, nicht den bourgeois.“ seit der mörderischen Kulmination der radikal ge- waltsamen Anteile der Revolte im „Deutschen Diese Lesart – von der Demokratisierung der Repu- Herbst“, wurde der Versuch unternommen, die blik durch 68 – setzte sich in den ersten zwanzig RAF als „Hitler's Children“ zu deuten. Jahren nach der Revolte durch, so dass auch Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1991 zu Was jedoch in diesem Jahr neu ist und über die bis- dem Ergebnis kommen konnte: „1968 hat – allen herige Rezeption hinausgeht, ist der Versuch, die Verwundungen zum Trotz – zu einer Vertiefung APO insgesamt tief im totalitären Kontext des des demokratischen Engagements in der Gesell- „Zeitalters der Extreme“ zu verorten. An der Spitze schaft beigetragen.“ dieser Deutung steht das Buch von Götz Aly, der 68 zum „Spätausläufer des europäischen Totalita- rismus“ deklariert – und damit gleichsam nicht nur Vor dem neokonservativen Rollback? zum „romantischen Rückfall“, wie bei seinem Ge- währsmann, dem sozialdemokratischen Politikwis- In diesem Jahr erleben wir dagegen eine völlig an- senschaftler Richard Löwenthal, sondern zum tief- dere Deutung, die auch für die kommende Aus- braunen Wurmfortsatz des Nationalsozialismus. deutung der 60jährigen bundesrepublikanischen Geschichte relevant ist. Wurde 68 bisher als Bruch Diese Lesart läuft der bisherigen hegemonialen mit einer nach wie vor autoritären Gesellschaft ge- Lesart von 68 zuwider – und wird der weitergehen- lesen, steht bei Götz Aly, aber etwa auch bei den Bedeutung des Ereignisses 68 in keiner Weise „BILD“-Chef Kai Diekmann, 68 ebenfalls für einen gerecht. Die (noch) dominierende Deutung geht Bruch – aber einen Bruch zurück, in vordemokrati- zu Recht davon aus, dass 68 den Bruch mit einer in sche Zustände. In Diekmanns Lesart war die ihren habituellen Gepflogenheiten nach wie vor Bundesrepublik bereits seit 1949 in Gänze demo- nicht demokratisch geprägten Bundesrepublik dar- kratisch – ungeachtet aller personellen wie habi- stellt. 68 hat, gleichsam nachholend, im Bereich tuellen Kontinuitäten mit dem NS-Regime. der Mentalitäten das geleistet, was institutionell bereits mit der Gründung der Bundesrepublik und Diese Lesart einer gleichsam von Anfang an per- der Verabschiedung des Grundgesetzes angelegt fekten Demokratie knüpft an eine Deutung an, die war – nämlich die „Fundamentalliberalisierung“ sich bereits in diversen Statements Angela Merkels des Landes (Jürgen Habermas). findet. In der Auseinandersetzung über Joschka Fi-

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schers Vergangenheit als Frankfurter Straßen- Dabei bedeuteten erst die späten 60er Jahre den kämpfer behauptete die damalige Oppositionsfüh- Bruch mit der tief in der deutschen Geschichte an- rerin am 17. Januar 2001 im Bundestag, die gelegten Untertanenmentalität. 1968 und seine Bundesrepublik sei seit ihrer Gründung 1949 eine Folgen sind deshalb ein bis heute wirksamer „Stör- „freiheitliche, solidarische, weltoffene Republik“ faktor konservativer Ideologieplanung“ (Claus gewesen. Wie die Debatte damals ausging, ist be- Leggewie).20 Primär „68“ ist es zu danken, dass Ru- kannt. Joschka Fischers Beliebtheit tat die Kontro- he seither tatsächlich nicht länger als erste Bürger- verse keinen Abbruch, im Gegenteil: Die „68er an pflicht gilt. der Macht“ konnten einen eindeutigen Sieg da- vontragen. Angesichts eines zunehmenden Rückzugs ins apoli- tische Private vor den Stürmen der Globalisierung In den vergangenen zwei Jahren hat sich die politi- kommt es heute umso mehr darauf an, diesen re- sche Situation jedoch grundlegend verändert. Seit publikanischen Urwert energisch zu verteidigen. dem Abgang der 68er von der Macht wittern die zuvor zumeist unterlegenen Vor- und Nach-68er Morgenluft bei der Bewertung der Geschichte der Albrecht von Lucke, Jurist und Politologe, Bundesrepublik. Angestrebtes Ziel scheint es zu arbeitet als freier Publizist für verschiedene sein, die demokratische Geschichte der Bundesre- Publikationen und ist Redakteur der „Blätter publik wunderbarerweise auf direktem Wege – für Internationale Politik“. und gleichsam unter Ausklammerung des Jahres Adresse der Redaktion: „68“ – von als dem Kanzler der Torstraße 178, 10115 Berlin; Freiheit bis zu Helmut Kohl als dem Kanzler der Postfach 540246, 10042 Berlin. Einheit zu führen, um sie heute in Angela Merkel als der Verkörperung der Berliner Republik ihren E-Mail: [email protected] Abschluss finden zu lassen. Auf diese Weise würde die Geschichte der Bundesrepublik in der Retro- spektive zu einer reinen CDU-Geschichte. Die Tat- sache, dass es daneben mit dem Datum 68 eine an- dere, linke Tradition gibt, die maßgeblich zur 20 Vgl. Claus Leggewie, Störfaktor konservativer Ideologie- Zivilität der Republik beigetragen hat, taucht da- planung, in: „Blätter für deutsche und internationale Politik“, gegen in dieser Lesart nicht mehr auf. 5/1988, S. 578-581.

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Zwischen Pop und Politik. Jugendkultur in der Bundesrepublik um 1968 Detlef Siegfried

Erneuerung und die Imagination einer Revolution Dass „1968“ in den Medien heute häufig auf seine wurden begleitet, zum Teil ausgelöst und getragen problematischen Folgewirkungen verengt wird, von Umbrüchen im Lebensstil und in der Alltagkul- sagt weniger aus über die historischen Vorgänge tur, die auf lange Sicht revolutionärer waren als als über die Selbstverortung der Gegenwartsgesell- manche wortradikalen Statements der Studenten- schaft. Ein genauerer Blick zurück, der die Konsum- bewegung.5 Mit dem dritten Aspekt will ich mich kultur ebenso umfasst wie die politischen Neuord- im Folgenden näher befassen. Es geht um das nungsbestrebungen, macht hingegen deutlich, Spannungsverhältnis zwischen zunehmender Poli- dass „1968“ weder auf eine gewaltselige Selbster- tisierung und der gleichzeitig sich ausbreitenden mächtigung Einzelner zu reduzieren ist noch auf Popkultur, die im Alltag Jugendlicher eine wichtige einen Siegeszug der Kulturindustrie. Zwischen Rolle spielte. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, 1967 und 1969 kulminierte ein länger andauernder dass Konsum und Politisierung offenbar – anders gesellschaftlicher Wandel, der in der Jugendkultur als insbesondere in Deutschland häufig angenom- besonders sichtbar wurde. men – nicht automatisch einen Gegensatz darstel- len. In den 60er Jahren nahm der Wohlstand der Bürger ebenso zu wie ihr politisches Interesse – erst Vierzig Jahre nach 1968 sind die Ereignisse und Fol- daraus erklären sich Tiefe und lange Dauer des gewirkungen dieses für die Geschichte der Bundes- Umbruchs, für den die Chiffre „1968“ steht. Aber republik bedeutenden Einschnitts nach wie vor in dieser parallelen Aufstiegsbewegung lag auch umstritten. Die Medien interessieren sich zumeist ein Spannungsmoment, das in Studentenbewe- für die spektakulären Vorgänge und Thesen,1 be- gung, Gegenkultur und alternativem Milieu immer finden sich damit aber in einem Missverhältnis zum wieder zu Kontroversen führte und Radikalisie- größten Teil der Forschung, die in den vergange- rungsprozesse auslöste. nen zehn Jahren zahlreiche differenzierte Unter- suchungen vorgelegt hat.2 Ihre wichtigsten Er- kenntnisse bestehen darin, dass erstens „1968“ ein Voraussetzungen und Merkmale der globales Phänomen war Jugendkultur in den 60er Jahren „1968“ war nicht der und nur in seinen inter- Auslöser für eine nationalen Verflechtun- Traditionell wurden kommerzielle Massenkultur Liberalisierung der gen zu verstehen ist.3 und Politik als unvereinbar betrachtet. Noch am Bundesrepublik, son- Zweitens bettet es sich Ende der 50er Jahre bekämpften politische Jugend- dern selbst eine Folge ein in eine längere Um- organisationen rigoros privatwirtschaftliche Be- längerfristiger Verän- bruchperiode, die sich strebungen, die sich auf eine jugendliche Zielgrup- derungen, die häufig von den späten 50er Jah- pe richteten – von der von Angehörigen der ren bis in die frühen 70er Popkultur und Politik Zeitschrift Bravo bis zu so genannten „45er- Jahre erstreckte. „1968“ waren so eng mitein- kommerziellen Coca-Co- Generation“ angesto- war nicht der Auslöser ander verschmolzen la- und Bluna-Bällen, die ßen wurden für eine Liberalisierung wie nie zuvor das Defizit an Tanzver- der Bundesrepublik, son- anstaltungen beheben dern selbst eine Folge längerfristiger Veränderun- sollten. Zehn Jahre später hatte sich das Bild ge- gen, die häufig von Angehörigen der so genannten wandelt. Popkultur und Politik waren so eng mitein- „45er-Generation“ angestoßen wurden.4 Drittens ander verschmolzen wie nie zuvor. Kritik an der Kon- handelte es sich nicht ausschließlich und vielleicht sumgesellschaft war ein gemeinsamer Nenner der noch nicht einmal in erster Linie um ein politisches APO, aber gleichzeitig sorgte die Kulturindustrie – Phänomen, sondern die Forderung nach politischer Medien, Konzertveranstalter, Schallplatten- und Mo- deproduzenten – dafür, dass Elemente des alternati- 1 Vgl. jetzt insbesondere Götz Aly, Unser Kampf 1968 – ein ven Lebensstils einer großen Anzahl von Jugend- irritierter Blick zurück, Frankfurt am Main 2008. lichen in Stadt und Land zur Verfügung standen. Die 2 Zusammenfassend Norbert Frei, 1968. Jugendrevolte und Erkenntnis, dass das Private politisch sei, dass also die globaler Protest, München 2008. Veränderung der Gesellschaft und ein anderes Leben 3 Ingrid Gilcher-Holtey, Die 68er Bewegung. Deutschland – Hand in Hand gingen, war eine wichtige Vorausset- Westeuropa – USA, München 2001. zung für die Fusion von Politik und Kultur. 4 Axel Schildt/Detlef Siegfried/Karl Christian Lammers (Hrsg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 22003; Ulrich Herbert (Hrsg.), Wand- 5 Vgl., auch als Grundlage für das Folgende: Detlef Siegfried, lungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Time Is on My Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Liberalisierung 1945 – 1980, Göttingen 2002. Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006.

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brachte. Während 1960 etwa 431000 Schüler die Realschule besuchten, waren es 1974 1,1 Millionen; im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der Gymnasia- sten von 853000 auf 1,8 Millionen, von denen die meisten anschließend ein Studium aufnahmen.8 Während noch in den frühen 60er Jahren Jugendli- che in der Regel im Alter von 15 Jahren die Schul- zeit beendeten und als Lehrlinge oder Arbeiter in den von einem strikten Zeitregime bestimmten Ar- beitsprozess einrückten, verbrachten ihre kleinen Brüder und Schwestern sehr viel mehr Lebenszeit an Schulen. Durch den anschließenden Zugang zum Studium entstand für viele Heranwachsende ein Lebensabschnitt, der Die Horizonterweite- als „Postadoleszenz“ be- rung durch verbesserte zeichnet wird: ein bio- Bildung stellt die dritte grafischer Freiraum, der wesentliche Voraus- bis Ende Zwanzig an- setzung für die Entste- dauern kann und Experi- hung einer jugend- mente mit Lebensoptio- lichen Massenkultur dar nen in vielfältiger Form

©Ilse Dunkel/pixelio.de ermöglicht. Die Horizont- erweiterung durch verbesserte Bildung stellt die dritte wesentliche Voraussetzung für die Entste- Die Zeitschrift BRAVO erschien erstmals Mitte der 50er hung einer jugendlichen Massenkultur dar, die in Jahre. Hier: Titel aus 1980 sich differenziert war und auch jungen Intellek- tuellen, die abweichende kulturelle Optionen bis Eine jugendlich geprägte Massenkultur entstand dahin nur in kleinen Nischen ausüben konnten, erst seit den späten 50er Jahren. Eine ihrer wesent- weite Experimentierfelder bot.9 Sozialer Aufstieg lichen Voraussetzungen war die Tatsache, dass im durch verbesserte Bildung war ein wichtiger Faktor „Wirtschaftswunder“ auch Jugendliche in zuneh- für die soziale Vermischung, die die Jugendkultur mendem Maße über Finanzmittel verfügten. Es der 60er Jahre kennzeichnete. Sie konnte eine war ein kommerzieller Markt für jugendspezifische Massenkultur nur deshalb werden, weil sie die Produkte – Bekleidung, Musik, Kosmetik, Zeit- strikte Klassenteilung in proletarische und bürger- schriften –, der die Voraussetzungen für die Entste- liche Jugendkulturen überwand. hung der Jugendkultur, wie wir sie heute kennen, schuf und gleichzeitig ihre konkreten Ausformun- Damit ist bereits ein zentrales Merkmal dieser Ju- gen prägte.6 Eine zweite gendkultur genannt: Sie diskriminierte nicht nach Ein kommerzieller Voraussetzung bestand sozialer Herkunft, sondern war grundsätzlich zu- Markt für jugendspe- in der enormen Ausdeh- gänglich für alle. Allerdings bestand sie aus einer zifische Produkte schuf nung der Freizeit, die Vielzahl von Subkulturen, die sich zum Teil nach so- die Voraussetzungen durch das lange Wochen- zialen Kriterien unterschieden – Rocker und Mods für die Entstehung ende – seit den frühen etwa. Ein zweites wesentliches Merkmal bestand der Jugendkultur und 60er Jahren – und den darin, dass sie im Kern international geprägt war. prägte gleichzeitig verlängerten Jahresur- Impulse insbesondere aus den USA und Großbri- ihre konkreten Ausfor- laub – seit den mittleren tannien, in geringerem Maße auch aus Frankreich, mungen 60er Jahren – auch Ju- gelangten über die Medien, insbesondere über gendlichen zugute kam.7 spezifisch jugendbezogene Medien wie den ameri- Vor allem aber profitierten sie von der Bildungsre- kanischen Soldatensender AFN, Radio Bremens form, die verlängerte Ausbildungszeiten mit sich 8 Roland Ermrich, Basisdaten zur sozio-ökonomischen Entwick- 6 Zeitgenössisch: Ruth Münster, Geld in Nietenhosen, Stuttgart lung der Bundesrepublik Deutschland, Bonn/Bad Godesberg 1961. 1974, S. 196. 7 Viggo Graf Blücher, Die Generation der Unbefangenen. Zur 9 Torsten Gass-Bolm, Das Gymnasium 1945 – 1980. Bildungs- Soziologie der jungen Menschen heute, Düsseldorf/Köln 1966, reform und gesellschaftlicher Wandel in Westdeutschland, S. 244ff. Göttingen 2005.

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Beat-Club oder die Zeitschrift Bravo an die Ziel- verbanden sich hemmungslose Vergnügungssucht gruppe.10 Im Laufe der 60er Jahre verstärkte sich und politische Abstinenz zu einem gefährlichen das Gefühl internationaler Verbundenheit durch Gemisch, das Jugendliche für Verführungen be- Auslandsreisen nach Großbritannien, Amsterdam, sonders anfällig machte. Kopenhagen oder an die Küsten Spaniens und Parteien und Erzieher Die Tatsache, dass sie Griechenlands. Ein drittes Merkmal der Jugendkul- versuchten, Jugend- über immer mehr eige- tur der 60er Jahre war die spezifische Spannung liche zunächst über ne Geldmittel verfüg- zwischen kommerziellen Verbreitungsmechanis- antikommunistische ten, verstärkte traditio- men auf der einen Seite und dem enormen Maß an Kampagnen, dann über nalistische Vorbehalte Selbsttätigkeit, die sie auf der anderen Seite auslö- den Appell zur „Ver- gegenüber der Verfüh- ste – in Form von Beatbands, Underground-Kunst, gangenheitsbewäl- rungskraft der Wirt- Zeitungsproduktion oder Jugendzentrumsinitiati- tigung“ zu politisieren schaft, die, so meinte ven. Kommerzialisierung war nicht gleichzusetzen man, Jugendliche auch mit Manipulation; sie war eine Voraussetzung für für „politische Verführer“ anfällig machte.12 aktive, häufig eigensinnige und konsumkritische Stattdessen versuchten Parteien und Erzieher, Weltaneignung.11 Jugendliche zunächst über antikommunistische Kampagnen, dann über den Appell zur „Vergan- genheitsbewältigung“ zu ©Klaus Stricker/pixelio.de politisieren. Gleichzeitig bildeten sich in den frühen 60er Jahren abseits der medial gezähmten Teen- agerkultur mit ihren Hel- den Peter Kraus und Conny Froboess vermehrt Subkul- turen heraus, in denen sich jugendliche Minderheiten mit abweichendem Ge- schmack zusammenfan- den. Häufig wurden Keller- lokale zu Schmelztiegeln für unkonventionelle Stile und unkonventionelles Ge- dankengut: existentialis- tische und marxistische Philosophie vermischten sich mit radikaldemokrati- schen politischen Ideen, einer Vorliebe für Jazz-, Wichtiges Utensil der Jugend in den 60ern: das Kofferradio Rock-'n'-Roll- oder Beatmusik, legere Kleidung, un- gewöhnliche Haarmoden, informelle Verhaltens- weisen.13 Politisierung von oben, „unpolitische“ Popkultur und Nonkonformismus Dass die Liberalisierung in den 60er Jahren keines- wegs allein auf politischer Ebene oder in politisch Seit dem Ende der 50er Jahre beherrschte das Kli- angehauchten Subkulturen vonstatten ging, lässt schee des unengagierten und konsumverfallenen sich am Beispiel des Tanzens illustrieren. Insbeson- „Teenagers“ die öffentliche Wahrnehmung von dere der seit 1961 beliebte Twist trug dazu bei, Jugendkultur. Das Unpolitische war unerwünscht dass außerhäusliches Vergnügen auf der Tanz- und galt als bedenkliches Defizit. Aus dieser Sicht fläche auf zunehmend informelle Weise vonstat-

10 Für die Entstehungszeit vgl. Kaspar Maase, BRAVO Amerika. 12 Vgl. Vance Packard, Die geheimen Verführer, Düsseldorf Erkundungen zur Jugendkultur der Bundesrepublik in den 1958. fünfziger Jahren, Hamburg 1992. 13 Exemplarisch: Jan-Frederik Bandel/Lasse Ole Hempel/ 11 Vgl. Stuart Hall/Tony Jefferson (Hrsg.), Resistance Through Theo Janssen, Palette revisited. Eine Kneipe und ein Roman, Rituals: Youth Subculture in Postwar Britain, London 1976. Hamburg 2005.

167 SCHWERPUNKT

Der Twist trug dazu bei, ten ging, individualisiert Andere Entwicklungen wie die Versorgung mit Ju- dass außerhäusliches wurde und zugleich die gendzeitschriften, Plattenspielern und Kassetten- Vergnügen auf der sozialen Unterschiede rekordern, Konzerte von Beatbands und Jugend- Tanzfläche auf zuneh- abschliff. Weil der Twist musiksendungen in Radio und Fernsehen sorgten mend informelle Weise als erster Modetanz des dafür, dass die Möglichkeiten der Selbstentfaltung vonstatten ging, indivi- 20. Jahrhunderts die enorm zunahmen. Sie behinderten nicht eine Poli- dualisiert wurde und Paarbindung aufhob, tisierung der nachwachsenden Generation, son- zugleich die sozialen konnte sich der Einzelne dern begleiteten sie auf der alltagskulturellen Ebe- Unterschiede abschliff stärker exponieren und ne und bildeten eine wesentliche Voraussetzung seine Kreativität zur für eine Kultur der Partizipation in allen Lebensbe- Geltung bringen, sich zu anderen variabel in Bezie- reichen. Das wurde implizit auch im SDS so gese- hung setzen, aber auch für sich allein bleiben. hen, der seit 1966 ein Anwachsen des vorpoli- Wegen seiner Formlosigkeit war er demokratischer tischen Nonkonformismus konstatierte und 1967 als die Standardtänze, denn er setzte den Besuch einen Schülerbund gründete, um die vielen „pro- einer Tanzschule nicht voraus. Vor allem junge testbereiten Jugendlichen“ zu politisieren, die die Frauen profitierten vom Einzug der Demokratie Pop- und Subkulturen hervorgebracht hatten.14 Als auf der Tanzfläche. Es blieb nicht mehr dem Mann revolutionäres Subjekt traten sie an die Stelle der Ar- beiterklasse oder der Intelligenz, als der SDS sich von seiner Konzentration auf die Studentenschaft löste und 1967 das Ziel einer „Jugendrevolte“ verkündete.

Am deutlichsten sichtbar wurde das wachsende nonkonformistische Potenzial am Phänomen der „Gammler“ – Jugendliche, die sich zwischen 1965 und 1967 auf den zentralen Plätzen westdeutscher Großstädte versammelten und durch Musikmachen und Nichtstun öffentlichen Unmut hervorriefen.15 Eine Art politischer Arm entstand in Frankfurt („Provos“) und West-Berlin („Umherschweifende Haschrebellen“). Die hier praktizierte Kombination von Mittellosigkeit und Am deutlichsten sicht- Lebensgenuss hatte ihre bar wurde das wach- historische Parallele in sende nonkonformis- der Boheme und unter- tische Potenzial am schied sich markant von Phänomen der einem asketischen Ideal, „Gammler“ wie es etwa in den kul- turkonservativen Forde- rungen des Jugendschutzes auch in den 60er Jah- ren noch stark vertreten war. Zwar suchten auch Gammler nach einem Sinn, der sich jenseits der Oberfläche der Konsumgesellschaft befinden sollte – aber in einer gegensätzlichen Richtung, nämlich nicht in der Arbeits-, sondern in der Freizeitsphäre. Aus einer längeren zeitlichen Perspektive betrach- tet, repräsentierte diese Subkultur in zugespitzter

Foto: Privat Form den Trend zu Freizeit und Muße, der die gan- ze Gesellschaft erfasst hatte. Im Prozess des „Wer- Beim Twist gab es keine männliche Führung tewandels“, der in den frühen 60er Jahren begann, trat die Auffassung zurück, dass das Leben als Auf-

überlassen, Status und Marktwert der anwesenden Damen durch Aufforderung zum Tanz zu definie- 14 Reimut Reiche/Peter Gäng, Vom antikapitalistischen Protest ren. Stattdessen konnten sie selbst entscheiden, zur sozialistischen Politik, in: Neue Kritik, Nr. 41, 1967, S. 17-35. wann, mit wem und wie sie tanzten, denn eine 15 Tina Gotthardt, Abkehr von der Wohlstandsgesellschaft. männliche Führung gab es beim Twist nicht. Gammler in den 60er Jahren der BRD, Saarbrücken 2007.

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sie sich etwa in Bob Dylans Wechsel von der akusti- schen zur E-Gitarre von 1965 oder im Beatles- Album „Revolver“ von 1966 zeigte, von der Mu- sik- und Filmindustrie, den Medien begierig aufge- nommen, in eigene Pro- dukte umgesetzt und wei- ter popularisiert. Gegen diesen kulturindustriellen Vereinnahmungs- und Ver- breiterungsvorgang richte- te sich sofort eine Gegen- reaktion, die durch die politische Dynamik des Sommers 1967 zusätzliche Schubkraft erhielt und den lebensweltlichen Subkultu- ren einen härteren politi- Die Alternativen lauteten: „Ich betrachte mein Leben als Aufgabe, für die ich alle schen Akzent verlieh. meine Kräfte einsetze. Ich möchte in meinem Leben etwas leisten, auch wenn das oft schwer und mühsam ist,“ und „Ich möchte mein Leben genießen und mich nicht Die Studentenbewegung, mehr abmühen als nötig. Man lebt schließlich nur einmal, und die Hauptsache ist vor allem ihre etwas älteren doch, dass man etwas von seinem Leben hat.“ (Daten: Institut für Demoskopie, Initiatoren, war skeptisch Allensbach) gegenüber den Symbolen des Nonkonformismus, die sich – ganz offensichtlich gabe und Pflicht zu betrachten sei.16 Die Vorstel- mit Hilfe der Kulturindustrie – massenhaft verbrei- lung vom Leben als Genuss rückte stärker in den teten. Kritisiert wurden auch spektakuläre Lebens- Vordergrund – und damit auch hedonistische An- stilexperimente wie diejenigen der Kommune 1, sprüche. die zwischen 1967 und 1969, popularisiert von den Medien, die Aufmerk- Die Studentenbewe- samkeit vieler Jugend- Pop und Politik in der „Gegenkultur“ gung war skeptisch licher auf sich zog, weil um 1968 gegenüber den Symbo- sie wie auf einer Bühne len des Nonkonfor- jenen alternativen All- Nach dem Durchbruch der kommerziellen Popkul- mismus, die sich mit tag ausagierte, der die- tur entstand seit dem Herbst 1966 eine neue Ebene Hilfe der Kulturindu- sen als unbestimmtes der Auseinandersetzung. Zum Eigenbewusstsein strie massenhaft ver- Ideal vorschwebte.17 Das subkultureller Szenen wie der „Gammler“ kam eine breiteten „Pudding-Attentat“ auf politische Bewegung – die Studentenbewegung -, den amerikanischen Vi- die sich nach dem Tod Benno Ohnesorgs vom 2. Juni zepräsidenten, die Kaufhausbrand-Flugblätter, die 1967 schlagartig verbreiterte. Gleichzeitig brachte schillernden Auftritte Rainer Langhans' und Fritz elektrifizierte Musik nicht mehr nur das Tanzbein Teufels vor Gericht – denen, die ernsthaft an einer in Schwung, sondern wurde als Transportmittel für Veränderung der Gesellschaft interessiert waren, komplexe Texte und als künstlerisches Experimen- erschien dies alles zunehmend als unpolitischer tierfeld entdeckt. Derartige Verfeinerungen mach- Happening-Klamauk, zumal sich die Kommunar- ten die Sache für den jungintellektuellen Nachwuchs den ihre medialen Auftritte möglichst üppig ent- interessant. Auch wurde die erfolgversprechende lohnen ließen. Aber auch in der Massenkultur wur- Kombination von Popularität und Anspruch, wie 17 Aus Sicht der Beteiligten: Dieter Kunzelmann, Leisten Sie 16 Heiner Meulemann, Werte und Wertewandel. Zur Identität keinen Widerstand! Bilder aus meinem Leben, Berlin 1998; Ulrich einer geteilten und wieder vereinten Nation, Weinheim/Mün- Enzensberger, Die Jahre der Kommune I. Berlin 1967 – 1969, chen 1996. Köln 2004

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de die doppelte Kodierung der Gegenkultur immer deutlicher sichtbar: Sie repräsentierte einerseits © Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn den immer weiter um sich greifenden Anspruch auf ein alternatives Leben abseits der kulturellen Normen einer vermuteten „kompakten Majorität“ (Rolf Schwendter); andererseits wurde dieser An- spruch von der Kulturindustrie immer stärker in klingende Münze umgewandelt. Im September 1968 wurden die Essener Songtage mit 40.000 Teil- nehmern zum größten Underground-Festival auf europäischem Boden, und gleichzeitig verlor der Begriff „Underground“ seine distinktive Funktion. „Der Underground hat sich etabliert“, vermeldete das Zentralorgan der Schallplattenindustrie, Der Musikmarkt, freudig den westdeutschen Einzel- händlern im Oktober 1968.18 Und im darauf folgen- den Monat erschien im Verlag Bärmeier & Nikel die erste Ausgabe der kommerziellen Zeitschrift „Un- derground“ für den revolutionär gestimmten Oberschüler. Die kommerzielle Schwemme führte dazu, dass dieser Begriff in den politisierten Sub- kulturen künftig, wenn überhaupt, nur noch mit Vorsicht verwendet wurde.

Immer betrachteten die jeweils radikalsten Grup- pen ästhetischen Nonkonformismus wegen seiner leichten kommerziellen Verwertbarkeit mit Skepsis und akzeptierten ihn nur dann, wenn er von Be- „Born to be wild“: Willy Brandt und Walter Scheel als wusstseinsbildung und politischer Aktion begleitet jugendliche Repräsentanten einer modernen, westlich war. Als Garanten der Nichtintegration wurden orientierten Bundesrepublik. Das knallrote Plakat, das theoretische Schulung und gezielte, zunehmend im Hintergrund Franz-Josef Strauß beim Laden einer gewaltsame politische Aktion seit dem Herbst 1968 Schrotflinte zeigt, spielt auf das Roadmovie Easy Rider immer wichtiger. Rote Armee Fraktion und mao- von 1969 an, dessen Hauptdarsteller Peter Fonda und istische Gruppen entzogen sich der Integrationsge- Dennis Hopper als Repräsentanten einer libertären fahr, indem sie weitgehend aus der Gesellschaft Gegenkultur in der Schlusssequenz des Films durch ausstiegen. rechtsradikale Mordschützen vom Chopper geschossen wurden. Jungwähler-Plakat der SPD-Kampagne zur Auch wenn die Kommune 1 1969 scheiterte und ih- Bundestagswahl 1972. (Gestaltung: ARE Kommunika- re Mitglieder getrennte Wege gingen – die Idee, tion, Harry Walter) die Veränderung der Gesellschaft mit der indivi- duellen Emanzipation zu verbinden, blieb eine we- sentliche Konstante der nonkonformistischen Sub- zeigen schon die Reaktionen aus dem politischen kulturen, die sich im Laufe der 70er Jahre zu einem System, die zu beträchtlichen Anteilen positiv wa- alternativen Milieu verdichteten. Zu seinen Kno- ren. Eine parteiübergreifende Mehrheit des tenpunkten gehörten Wohngemeinschaften und Bundestages beschloss 1972 die Herabsetzung des Jugendzentren, die demonstrierten, dass ein weit- Wahlalters, 1974 der Volljährigkeit auf 18 Jahre. gehend selbstbestimmtes Leben jenseits von Kon- Besonders stark von der Reformeuphorie der Jung- sumindustrie und staatlichem Erziehungsauftrag wähler profitierte die SPD, die sich beim „Willy- möglich war.19 Wie sehr gleichzeitig Impulse aus wählen“-Wahlkampf von 1972 entsprechend in der Jugendkultur die Gesellschaft beeinflussten, Szene setzte.

18 Der Musikmarkt, Nr. 10, 1968, S. 61. Wie groß die Zahl der an den gegenkulturell be- 19 Detlef Siegfried, „Einstürzende Neubauten“. Wohngemein- einflussten Szenen teilnehmenden Jugendlichen schaften, Jugendzentren und private Präferenzen kommunis- war, lässt sich nur annäherungsweise bestimmen. tischer „Kader“ als Formen jugendlicher Subkultur, in: Archiv 1970 umfasste die Kernleserschaft von Konkret für Sozialgeschichte, Bd. 44 (2004), S. 39 – 66. 220.000 Personen, diejenige der Zeitschrift Twen,

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Es bewegten sich meh- die sich seit 1969 vom un- Die Entstehung eines lich als kulturelle Befrei- rere hunderttausend politischen Hochglanz- alternativen Milieus ist ung empfundene Indivi- junge Leute im Weich- magazin zu einer linken nicht zu denken ohne dualisierung teilweise bereich von linker Poli- Publikumszeitschrift ge- Kommunikationsmittel als Entsolidarisierung tik und Underground- wandelt hatte, 540.000. und Waren wie Zeit- gegen die Individuen kultur Im selben Jahr, 1970, schriften, Fernsehen, gerichtet. Verändert hat nahmen während des elektrisch verstärkte sich auch das Ideal des ersten Festivalsommers, den die Bundesrepublik Musik, Drogen und Hedonismus, der um erlebte, ca. 500.000 Jugendliche an den Popfes- Automobile 1968 als Alternative zur tivals zwischen Köln und Fehmarn teil. Rolf pflichtbetonten Arbeits- Schwendter, der Theoretiker der Gegenkultur, ta- gesellschaft aufgefasst wurde und eine kritische xierte 1970 die Zahl der für eine von ihm projektier- Debatte um Lebensqualität auslöste, die Massen- te „ökonomische Organisation“ der Gegenkultur wohnungsbau, Umweltzerstörung und andere pro- mobilisierbaren Genossenschafter auf 200.000 Per- blematische „Nebenfolgen“ (Ulrich Beck) der Mo- sonen.20 Nehmen wir diese Zahlen als ungefähre In- derne einbezog. Dass dieses Ideal insbesondere seit dikatoren, dann bewegten sich in jedem Falle meh- den 1980er Jahren kommerziell verengt wurde, rere hunderttausend junge Leute im Weichbereich sagt etwas über den Wandel der Gesellschaft aus, von linker Politik und Undergroundkultur. In ihren aber auch über die Rolle, die „Konsumrebellen“ Lebensweisen vermischten sich der Anspruch auf für die Reproduktion des Kapitalismus spielen.21 ein selbstbestimmtes Leben in der Gemeinschaft Ein Blick auf die prosperierende und gleichzeitig Gleichaltriger mit häufig diffusen Vorstellungen sich politisierende Gesellschaft der langen 1960er von politischer Reform oder sozialer Revolte. Jahre zeigt jedoch, dass Gegenkulturen nicht auf ihre ökonomische Innovationsfunktion zu reduzie- ren sind, sondern ein enormes politisches Potenzial Fazit entwickeln können, das sich nicht zuletzt aus der Vision eines besseren Lebens speist. Aus heutiger Sicht erweist sich die Vorstellung von einer entpolitisierenden oder ausschließlich mani- pulativen Wirkung des Konsums als verfehlt. Der Dr. Detlef Siegfried ist seit 1996 Associate Massenkonsum erweiterte die Möglichkeiten der Professor für Neuere Deutsche Geschichte gesellschaftlichen Teilhabe für alle Bürger. Auch und Kulturgeschichte an der Universität Ko- die Entstehung eines alternativen Milieus ist nicht penhagen. Er war Mitarbeiter der Körber- zu denken ohne Kommunikationsmittel und Wa- Stiftung und der Forschungsstelle für Zeit- ren wie Zeitschriften, Fernsehen, elektrisch ver- geschichte in Hamburg. stärkte Musik, Drogen und Automobile. Allerdings Adresse: University of Copenhagen, wurde hier „kritisch“ und „politisch“ konsumiert, Njalsgade 128, DK 2300 S, Copenhagen. was darauf verweist, dass der Konsumbürger in der Massenkonsumgesellschaft ein politisches Subjekt E-Mail: [email protected] sein kann. Seitdem hat sich nicht nur die ursprüng- 21 Joseph Heath/Andrew Potter, Konsumrebellen. Der Mythos 20 Detailbelege in Siegfried, Time, S. 521, 681 u. 740.. der Gegenkultur, Berlin 2005.

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Die Protestbewegung in den 60er Jahren und die außerschulische politische Bildung Paul Ciupke

Paul Ciupke verdeutlicht in seinem Artikel nicht nur wie charakterisierte 1988 die Protestbewegung als die Vielgestaltigkeit der Protestbewegungen, die ein Laboratorium der nachindustriellen Gesellschaft, unter der Chiffre „1968“ subsumiert werden; er von Fundamentalliberalisierung sprach Jürgen Ha- greift aus der Vielzahl ihrer Aktionsfelder eines bermas. Ulrich Rödel, Helmut Dubiel und Günter heraus, in dem die „68er“ Veränderungen ange- Frankenberg wagten die These, die Bundesrepu- stoßen und zum Teil auch selber umgesetzt haben. blik habe in den 60er und 70er Jahren eine Neu- Der Bereich der Bildung und hier speziell die politi- gründung bzw. nachholende Gründung durch die sche Bildung wurden in der Auseinandersetzung politisch aktiven linken Minderheiten erfahren, und mit den Vorstellungen und Forderungen der Pro- Zeithistoriker wie Manfred Görtemaker diagnosti- testbewegung einer gründlichen Revision unterzo- zierten eine Umgründung und Neugründung der gen und veränderten Anforderungen angepasst. Bundesrepublik.3 Dass dieser Prozess keineswegs widerspruchsfrei verlief, erläutert Paul Ciupke am Beispiel des Ar- In dem Umstand der In dem Umstand der im- beitskreises deutscher Bildungsstätten. immer erneuten öf- mer erneuten öffentli- fentlichen Beschäf- chen Beschäftigung und Die Protestbewegung der 60er Jahre firmierte schon tigung und Erregung Erregung darf man sicher immer unter verschiedenen Namen, z. B. Studen- ist ein Indiz dafür zu ein Indiz dafür sehen, tenbewegung, Außerparlamentarische Opposition sehen, dass die Bewe- dass die Bewegungen (APO), 68er-Bewegung, Jugendrevolte … Das da- gungen und politischen und politischen und kul- mit bezeichnete Phänomen birgt vielerlei Facetten, und kulturellen Impul- turellen Impulse der von denen einige im Pulverdampf der vielfältigen se der 60er Jahre eine 60er Jahre eine nachhal- Deutungskämpfe der letzten Monate zu verschwin- nachhaltige gesell- tige gesellschaftspoliti- den drohen. Die Lesarten schaftspolitische, gene- sche, generationelle und Lesarten und Aneig- und Aneignungen der Er- rationelle und biografi- biografische Wirkung nungen der Ereignisse eignisse und ihrer öf- sche Wirkung ausübten ausübten. Dabei hat aber und ihrer öffentlichen fentlichen Wirkungen ge- jeder offenbar sein eige- Wirkungen geschehen schehen mal im Modus nes 68er-Erlebnis und das sicher zu Recht. Den zum mal im Modus des Be- des Bewachens und Ver- Teil heftigen Belagerungen und Verteidigungshal- wachens und Verteidi- teidigens, aber auch im tungen sollte man die aus geschichtlichem Abstand gens, aber auch im Gestus der (Selbstan-) resultierende Gelassenheit entgegensetzen, dass fast Gestus der (Selbstan-) Klage über Verluste und alle teilhatten: ob als herausragender Akteur, Sym- Klage über Verluste Irrtümer. Kaum ein poli- pathisant, distanzierter Beobachter oder entsetz- und Irrtümer tisch ehrenrühriger Vor- ter Gegner, ob in den großen Städten oder in der wurf, der beispielsweise Provinz. von Kai Diekmann, dem Chefredakteur der BILD- Zeitung, oder dem (früher?) linken Historiker Götz Die Perspektiven auf diese Jahre sind eben sehr un- Aly in seiner Abrechnung mit seinen Genossen und terschiedlich und erlauben deshalb auch andere sich selbst ausgelassen würde: Antisemitismus und Blicke und Einschätzungen als die, die immer wie- Antiamerikanismus, Stalinismus, idealistische Träu- der – wie Planeten um die Sonne – nur um die Ab- mereien, Parasitentum, Zerstörung der Werte u. ä. m. sichten derjenigen kreisen, die als Neue Linke da- Im Alyschen Furor des Entlarvens lebt ohne Zweifel mals eine – ja weltweite – Revolution glaubten in noch einmal der alte Geist des Rechthabens und ra- Gang setzen zu können.4 Die nachträgliche Beur- dikalen argumentativen Überbietens der 68er wie- teilung revolutionärer Phantasien einiger Protago- der auf.1 Stolze Inbesitznahme findet man nach wie nisten und ihrer diversen Folgeerscheinungen ist vor in den öffentlichen Äußerungen Daniel Cohn- Bendits, differenzierte Urteile etwa bei Norbert 3 Claus Leggewie: Ein Laboratorium der nachindustriellen Ge- Frei und Wolfgang Kraushaar.2 sellschaft? Zur Tradition der antiautoritären Revolte seit den sechziger Jahren, in APuZ, B20/88, S. 3-15; Jürgen Habermas: Aber auch die Liste der bereits früher getätigten Interview, in: Frankfurter Rundschau vom 11.03.1988; Ulrich Rö- positiven Deutungen ist ansehnlich: Claus Legge- del/Günter Frankenberg/Helmut Dubiel: Die demokratische Fra- ge, Frankfurt a. M. 1989; Manfred Görtemaker: Geschichte der 1 Götz Aly: Unser Kampf 1968, Frankfurt a. M. 2008 Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegen- 2 Daniel Cohn-Bendit/Rüdiger Dammann (Hrsg.): 1968. Die Re- wart, München 1999 volte, Frankfurt a. M. 2007; Norbert Frei: 1968. Jugendrevolte 4 Als ein Beispiel siehe Wulf Schönbohm: Die 68er: Verwirrun- und globaler Protest, München 2008 und Wolfgang Kraushaar: gen und Veränderungen, in APuZ Nr. 14-15/2008, 31.03.2008, Achtundsechzig. Eine Bilanz, Berlin 2008 S. 16-21

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sellschaftliche und politische Verwandlungszone zu betrachten.5

Der Bildungsbereich als wichtigstes Betätigungsfeld

Mit Ausnahme der verschiedenen Medienöffent- lichkeiten ist wohl kein anderer Sektor so nachhal- tig von den Veränderungsabsichten und -prozessen jener Jahre tangiert worden wie der Bildungsbe- reich. Das hatte verschiedene, zunächst vor allem ökonomische Ursachen: den immer wieder genann- ten Wettlauf zwischen dem sowjetischen Herr- schaftsbereich und dem Westen um die Führung in Wissenschaft und Technologie als Ausweis der je- weiligen systemischen Überlegenheit, den steigen- den Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften in der wirtschaftlich prosperierenden Bundesrepublik und die daraus resultierende Notwendigkeit, die sog. Begabungsreserven stär- Es artikulierte sich seit ker auszuschöpfen. Es ar- Mitte der 60er Jahre tikulierte sich aber auch ein wachsendes grund- seit Mitte der 60er Jah- sätzliches Unbehagen re in Deutschland ein an einem von Ungleich- wachsendes grundsätzli- heit der Teilhabechan- ches Unbehagen an ei- © Quelle: www.cohn-bendit.de cen und einer traditio- nem Bildungssystem und nellen autoritären Lehr- einer Bildungsatmosphä- Protagonist der Studentenbewegung in Frankreich und Lernkultur gepräg- re, die vor allem von Un- und Deutschland: Daniel Cohn-Bendit, heute Europa- ten Bildungssystem gleichheit der Teilhabe- abgeordneter der GRÜNEN chancen, einer traditio- nellen autoritären Lehr- und Lernkultur und nach- das eine, übersehen wird geflissentlich dabei, dass haltigem konservativen Einfluss aus Politik und Kir- in Deutschland, aber auch in anderen europäischen chen geprägt war. Strukturelle Modernisierungen Staaten in den 60er Jahren ein zivilgesellschaft- und pädagogische Veränderungen wurden von ver- licher Aufbruch, politische Reformen und tiefgrei- schiedenen Seiten eingeklagt. Die Suche nach Ver- fende kulturelle Wandlungen im Alltag vor sich änderungen des Bildungssystems – und das ist das gingen, die zugleich auch jugendkulturell initiiert Besondere in der Situation der 60er Jahre – ver- und geprägt waren. Dass es eine vielfältige und er- band sich aber in vielfältiger Weise mit den Impul- eignisreiche Vor- und Nachgeschichte für 68 gibt, sen der Politisierung durch eine neue Jugendkultur dass also das Jahr 68 nur einen Kulminationspunkt und die Protestbewegung. Dadurch wurde die Re- von gesellschaftlichen, politischen und kulturellen form der Bildung zu einem bis in die 80er Jahre po- Öffnungsprozessen in den 60er Jahren darstellt, litisch besonders umkämpften Thema. dass sich hinter dem Kürzel 68 weltweite Aufbrü- che und Eruptionen auffinden lassen und es um Die Notwendigkeiten gesellschaftlicher Verände- weit mehr als nur studentische Aufgeregtheiten rung und die damit verbundenen Reformprozesse und Selbstanmaßungen bildeten das Instrument, auf dem die Protestbewe- Es sollte inzwischen geht, wird manchmal in gung mit ihren erheblich weitergehenden Vorstel- unstrittig sein, den Zeit- den aktuellen, vehement lungen virtuos spielen konnte: Es entwickelte sich raum von Anfang der geführten Kontroversen ein wechselseitiges Resonanzverhältnis von Reform 60er bis zur Mitte der ignoriert. Es sollte inzwi- und Revolution. 70er Jahre als eine ge- schen unstrittig sein, den sellschaftliche und poli- Zeitraum von Anfang der 5 Vgl. auch Axel Schildt/Detlef Siegfried/Karl-Christian Lammes tische Verwandlungs- 60er bis zur Mitte der (Hrsg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deut- zone zu betrachten 70er Jahre als eine ge- schen Gesellschaften, Hamburg 2000

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tion, Provokation, Öffentlichkeit und Bewusst- seinsveränderung setzt. Und schließlich eine veränderte Zusammenset- zung der Träger sozialen Wandels, in dem ne- ben der Arbeiterklasse vor allem die (gebildete) Jugend, die Intellektuellen, Randgruppen (etwa Heimkinder, psychisch Kranke), später auch die Frauen und – sehr wichtig – die Befreiungsbe- wegungen in der sog. Dritten Welt eine wichti- ge Rolle einnehmen.6

Diese Merkmalsdimensionen des Denkens in der Neuen Linken erwiesen sich als ausgesprochen an- schlussfähig für bildungspolitische und erziehungs- reformerische Bewegun- Die Merkmalsdimensio- gen und Absichten. Mit nen des Denkens in der gutem Grund kann man Neuen Linken erwiesen davon ausgehen, dass sich als ausgesprochen trotz mancher anders ge- anschlussfähig für bil- richteter Proklamationen dungspolitische und und sich revolutionär ge- erziehungsreformeri- bärdender Rhetoriken sche Bewegungen und (ähnlich wie bei der Absichten Jugendbewegung der Weimarer Jahre) der Bil- dungsbereich das wesentliche praktische Erfolgs- feld derjenigen Akteure geworden ist, die sich als © geralt/pixelio.de Generation der 68er oder – wie zum Beispiel die Theoretiker der Frankfurter Schule – als deren the- Vor den Bildungsreformen: Schulkind in den 50er Jahren oretische Vordenker verstanden haben.7 In diesem Zusammenhang gewannen die Sozial-, Politik- und Die theoretischen Orientierungen und politischen Erziehungswissenschaften die Funktion von Leitwis- Absichten der Neuen Linken können in Abgrenzung senschaften für die Demokratisierungsambitionen, zur traditionellen Arbeiterbewegung (SPD, KPD, und die politische Bildung stieg zu einem Schlüssel- Gewerkschaften) und ihrem Politikverständnis ide- bereich ihrer praktischen Anwendungen auf. Es altypisch folgendermaßen zusammengefasst wer- waren besonders die Forderungen nach Emanzipa- den: tion, Partizipation und Demokratisierung aller Be- reiche der Gesellschaft, die in pädagogischen Initia- Eine Neuinterpretation der marxistischen Theo- tiven weiterentwickelt und in Bildungsinstitutionen rie unter Einbezug des Existentialismus und der verbreitet worden sind. Psychoanalyse; dabei spielen z. B. die Marxschen Frühschriften und ein emphatischer Entfrem- Als der SDS sich Anfang der 70er Jahre auflöste, dungsbegriff eine wichtige Rolle. zerfiel die Protestbewegung in viele kleine linke Ein erweiterter Entwurf einer neuen Gesell- Gruppen und Fraktionen, von denen einige die Re- schaft, der sich nicht nur auf Staat und Wirt- aktivierung altlinker antidemokratischer politischer schaft beschränkt, sondern auch Lebenswelt, Strategien präferierten. Die Mehrheit jedoch orien- Freizeit und die sozialen und sexuellen Bezie- tierte sich auf Reformen, die durch die Beteiligung hungen mit umfasst. an Wahlen und mit der Unterstützung der sozialli- Eine Transformationsstrategie, in die neue Kom- beralen Koalition durchgesetzt oder durch außer- munikations- und Lebensformen antizipatorisch und experimentell einbezogen werden; Selbst- 6 Vgl. dazu auch Ingrid Gilcher-Holtey: Die 68er Bewegung. veränderungen sind dabei ebenso wichtig wie Deutschland – Westeuropa – USA , München 2001, S. 15f die Veränderung von gesellschaftlichen Struktu- 7 Dies ist auch das Fazit einer Untersuchung zur Wirkungsge- ren. schichte der Frankfurter Schule von Clemens Albrecht u. a.: Die Ein anderes Organisationsverständnis, das nicht intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsge- auf eine Partei, sondern auf Aktion, Demonstra- schichte der Frankfurter Schule, Frankfurt/Main, New York 1999

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parlamentarische Bewegungen und Initiativen von zugedacht: sie sollten im Verbund mit den nicht unten in Gang gesetzt werden sollten. Die daraus konfessionell orientierten Akademien und Heim- später hervorgegangenen sozialen Bewegungen volkshochschulen den Fachverband für die politi- der 70er und 80er Jahre waren immer auch Bil- sche Jugendbildung bilden. Mit der Gründung des dungsbewegungen, weil sie auf Öffentlichkeit, aber Arbeitskreises Jugendbildungsstätten 1959, später auch auf Selbstverände- wegen der inzwischen dazu gekommenen Einrich- Die sozialen Bewegun- rungsprozesse, gemein- tungen mit politischer Erwachsenenbildung 1962 in gen der 70er und 80er same Lernaktionen und Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten umbenannt, Jahre waren immer Vermittlung setzten. Ty- wurde dieser Akt endlich vorgenommen und die im auch Bildungsbewe- pisch für diese Bewe- AdB zusammengefassten Bildungsstätten konnten gungen, weil sie auf gungs- und Initiativen- am Jugendreferentenprogramm teilhaben. Öffentlichkeit, aber szene der 60er und 70er auch auf Selbstverände- Jahre ist ein sehr weit Dem AdB trug man auch die Geschäftsführung des rungsprozesse, gemein- gefasstes Politikverständ- auf seine Initiative hin gegründeten Arbeitsaus- same Lernaktionen und nis, das auch auf die Auf- schusses für politische Bildung (später Bundesaus- Vermittlung setzten fassungen politischer schuss politische Bildung, abgekürzt BAP) an. Zu Bildung und ihre Praxis seinen Aufgaben zählten die Federführung und übertragen wurde. Und ebenso typisch ist es, dass Organisation des ersten großen Kongresses zur alle Bildungsbereiche als Felder politischer Bildung politischen Bildung im März 1966, aus dem der Ar- und Erziehung angesehen wurden; so wurde bei- beitsausschuss hervorging. Die dort entstandene spielsweise kaum unterschieden zwischen politi- „Gemeinsame Schlußerklärung der Veranstalter des scher Erziehung in der Sozialpädagogik und politi- Kongresses zur politischen Bildung 1966“ muss als scher Jugendbildung. eine erste systematische öffentliche Selbsterklä- rung und entsprechende Gründungsakte gelesen werden.8 Politische Bildung und Protestbewegung in den 60er Jahren am Beispiel des AdB

Seit Anfang der 60er Jahre hat die politische Ju- gend- und Erwachsenenbildung stetig an Bedeu- 8 Siehe auch Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten (Hrsg.): tung und Beachtung gewonnen. Maßnahmen der Kongreß zur politischen Bildung, Bonn 1966, S. 219-222 politischen Jugendbil- dung wurden insbeson- dere aus dem damali- gen Bundesjugendplan finanziert. Nach den so genannten Synagogen- schmierereien, die – zum Jahresende 1959 in Köln geschehen – die in- ternationale Öffentlich- keit alarmierten, wur- de auch die politische Erwachsenenbildung verstärkt gefördert. Lan- ge war den Jugendbil- dungsstätten ein Platz im schon bestehenden Verbändegefüge (Deut- scher Volkshochschul- verband, Arbeit und Le- ben, Katholische Er- wachsenenbildung und Evangelische Erwachse- nenbildung) vom Bun- © Jugendhof Vlotho desjugendministerium Gehörte zu den Gründungseinrichtungen des AdB: Jugendhof Vlotho

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Die 60er Jahre kann Die 60er Jahre kann man Die im Laufe der 60er Jahre zunehmenden Protest- man in verschiedener in verschiedener Hinsicht äußerungen und die wachsende politische Kon- Hinsicht als Gründer- als Gründerzeit politi- fliktbereitschaft wurden von den Akteuren der poli- zeit politischer Bildung scher Bildung betrachten: tischen Bildung demonstrativ begrüßt, man begriff betrachten Neben ihrer zunehmen- diese Ereignisse als positive Entwicklung und wich- den öffentlichen Platzie- tiges Ferment demokratischer Kultur. Mehr noch, rung stehen die Versuche, politische Bildung zu die sich rasant entwickelnde Protestkultur wurde professionalisieren und zu verwissenschaftlichen. als Verbündeter und ihr Konfliktgehalt als genuine „Der Prozess der Theoriebildung für den Bereich Aufgabe der politischen Bildung betrachtet. So der außerschulischen Pädagogik befindet sich der- schrieben der damalige Vorsitzende des AdB Ulf zeit in einer Übergangsphase vom Stadium gesam- Lüers und das geschäftsführende Vorstandsmit- melter Erfahrungen zum Stadium der systemati- glied Alfred Miklis im Sommer 1967 nach dem Tod schen Zuordnung der gewonnenen Erkenntnisse von Benno Ohnesorg an die Mitgliedseinrichtun- und Einsichten“ schrieb 1969 Rolf Frölich resümie- gen: „Es gilt, den Konflikt, der zwar im Ansatz, je- rend.9 Für die Verwissenschaftlichung politischer doch nicht in allen Stadien seiner Entwicklung und Bildung (damals wird noch kaum zwischen schuli- Zuspitzung demokratisch ist, zu analysieren und scher und außerschulischer politischer Bildung un- die damit gebotene Chance zur Demokratisierung terschieden) stehen vor allem Hermann Giesecke unserer Gesellschaft zu nutzen. Dabei wäre zu ver- und die von ihm mit anderen entwickelte Konflikt- deutlichen, dass es hierbei nicht um einzelne Perso- didaktik.10 nen oder Gruppen – weder bei den Studenten, noch bei den Polizisten – geht, sondern um politi- sche Probleme und Verhaltensweisen.“ Und weiter unten forderte man die Mitglieder zur Zusammen- 9 Rolf Frölich: Zu den Anfängen politischer Bildungsarbeit im arbeit auf: „Der Vorstand des Arbeitskreises hat die Arbeitskreis, in Ulf Lüers/Alfred Miklis/Barthold C. Witte (Hrsg.): studentischen Gruppen und die Vertreter der Öf- Erziehung in der Demokratie. 10 Jahre Arbeitskreis deutscher fentlichkeit auf die Möglichkeiten der Zusammen- Bildungsstätten e. V, Bonn 1969, S. 31 arbeit hingewiesen und bittet sie um ihre Mitwir- 10 Hermann Giesecke: Didaktik der politischen Bildung, kung bei diesem neuen Ansatz politischer München 1965, zu Giesecke siehe außerdem seine Website Bildungsarbeit.“11 http://www.hermann-giesecke.de, die seine Schriften und Positionen breit dokumentiert. Noch in den Jahren 1967 und 1968 veröffentlichte der AdB zwei weitere, zum Teil sehr ausführli- che Verlautbarungen zur Lage der politi- schen Bildung. In der letzteren vom Juni 1968, die fast einstim- mig angenommen wur- de, hieß es unter ande- rem: „Der Arbeitskreis deutscher Bildungs- stätten begrüßt Kritik, Unruhe und politisches

11 Rundbrief des Vorsitzen- den des Arbeitskreises an die Mitgliedsinstitutionen zu den innenpolitischen Unru- hen vom Juni 1967, in: Ulf Lüers/Alfred Miklis/Barthold C. Witte (Hrsg.): Erziehung in © Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten der Demokratie. 10 Jahre Ar- Hermann Giesecke (rechts) beeinflusste mit seiner Konfliktdidaktik die Entwicklung der beitskreis deutscher Bil- politischen Bildung. Das Foto zeigt ihn bei einer AdB-Veranstaltung 1990 in Haus Sonnen- dungsstätten e. V, Bonn berg, links: Günther Vieser 1969, S. 106f

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Engagement eines wachsenden Teiles der Jugend Die in den 60ern ein- Hilfe rationaler Analysen als ein Zeichen dafür, dass die oft beklagte politi- setzende Professionali- und darauf gegründeter sche Lethargie der jungen Generation schwindet.“ sierung politischer Bil- Zukunftsentwürfe“ bei- Allerdings schränkte die Erklärung ihre Solidarität dung beruhte nicht nur tragen soll. Diese Aussa- in den nächsten Sätzen auf grundgesetzkonforme auf Institutionalisie- ge wandte sich gegen die Aktionen ein. Im Weiteren wurde dann betont, dass rung und Hauptamt- Praxis der Nachkriegszeit, die politische Bildung „auf stete Veränderung der lichkeit, sondern auch in der das Begegnen, die Gesellschaft hinwirken“ und sich „auf die kritische auf Verwissenschaft- spätjugendbewegte Ge- Reflexion der Politik und Gesellschaft überhaupt“ lichung und Systemati- meinschaftsseligkeit und gründen soll.12 Die allgemeine verbandliche Zu- sierung einer Politikdi- das Musische noch in der stimmung zu solchen Positionen wurde aber bald daktik, die ein entspre- politischen Jugend- und auf verschiedene Proben gestellt. Im AdB wie auch chend reflektiertes Erwachsenenbildung in anderen Verbänden kam es in den folgenden Handlungsrepertoire überwogen. Die in den Jahren zu einigen Konflikten. Eine Konfliktlinie war aufweist 60ern einsetzende Pro- die einer von den Jugendbildungsreferenten ge- fessionalisierung politi- wünschten weitgehenden Mitbestimmung im Ver- scher Bildung beruhte nicht nur auf Institutionali- band, eine weitere die Forderung verbindlicher sierung und Hauptamtlichkeit, sondern auch auf Grundsätze für ihren Einsatz in den Einrichtungen, Verwissenschaftlichung und Systematisierung einer an denen sie arbeiteten, und eine dritte die sehr Politikdidaktik, die ein entsprechend reflektiertes grundsätzliche und kontroverse Frage eines ver- Handlungsrepertoire aufweist. Gegenüber den emo- bindlichen gemeinsamen Verständnisses von politi- tionalen Momenten wurde nun das rationale Ur- scher Bildung. Ein Teil des Verbandes argwöhnte, teilen betont und die Distanz zur Politik selber. An dass sich hinter dieser angestrebten Verbindlich- dieser Stelle brach ein Streit auf, der bis in die 80er keit nicht nur eine Einigung auf eine weitgehend Jahre noch andauerte. formale Politikdidaktik, sondern auch ein dezidier- tes politisches Programm verberge und bestand Die Veranstaltungen der politischen Bildung soll- auf der Akzeptanz unterschiedlicher Richtungen in ten demokratisiert werden, die Teilnehmer aktiviert der Politikdidaktik, wie es dem demokratischen Plu- und Seminare in politische Aktionen münden. Stell- ralismus entspricht. Hierüber kam es zu harten Aus- vertretend für viele Stimmen sei hier Reinhard Duf- einandersetzungen, an deren Ende Ulf Lüers aus ner aus der „deutschen jugend“ 1970 zitiert: „Ge- dem Vorstandsamt ausschied und Heinz Thum sei- genüber der oberflächlichen, krampfhaft herge- ne Funktionen übernahm.13 stellten Motivation politischen Lernens ist die soli- de, nicht auf Methodenfetischismus bedachte Ar- beit vorzuziehen. Dabei ist die Kontinuität der Ar- Politische Bildung oder politische Aktion beit von großer Wichtigkeit. Gerade aber diese ist in Kurzzeitpädagogik nicht zu leisten. Es müssen Die aufblühende politische Bildung geriet Ende also Möglichkeiten entwickelt und eröffnet werden, der 60er Jahre aber auch in eine andere Konflikt- die Lernprozesse als kollektive in Gang zu halten. zone, die man als Problem der Unterscheidung Das wird nur in Gruppen möglich sein, die diszipli- politischer Absichten und Programmatiken von der niert ihre Interessen reflektieren, sich mit der rele- pädagogischen Eigenlogik begreifen kann. vanten Literatur beschäftigen und schließlich auch gemeinsam handeln.“14 Und an anderer Stelle wird Die Otzenhausener Erklärung hielt als weiteren bedauert, dass es nicht gelinge, „nach den Lehr- Grundsatz fest, dass die politische Bildung zur Auf- gängen den Kontakt zu den Teilnehmern aufrecht- klärung und Austragung politischer Konflikte „mit zuerhalten“ und somit „eine die politische Praxis begleitende Beratung“ fehle.15 Politische Bildung 12 Alle Zitate aus: Erklärung der Mitglieder des Arbeitskreises sollte sich also, damit das Attribut politisch auch auf der Tagung im Europa-Haus Otzenhausen zur Lage der poli- Berechtigung habe, in das Terrain der politischen tischen Bildung, in: Ulf Lüers/Alfred Miklis/Barthold C. Witte Aktion hineinwagen und zur Bildung politisch ak- (Hrsg.): Erziehung in der Demokratie. 10 Jahre Arbeitskreis tionsfähiger Gruppen beitragen; sie mutierte zum deutscher Bildungsstätten e. V, Bonn 1969, S. 119 13 Zu den zum Teil unübersichtlichen Streitpunkten und An- 14 Reinhard Dufner: Zu einigen Bedingungen politischen Ler- sichten siehe: Gespräch mit Heinz Thum: Zu den Auseinander- nens, in: deutsche jugend, März 1970, S. 134 setzungen über das Selbstverständnis des AdB Ende der 60er/ 15 Michael Brühl/Pedro Graf/Kurt Sprenger/Norbert Traut- Anfang der 70er Jahre, in: außerschulische bildung, Nr. 1/90, wein/Heiner Volkers: Antikapitalistische Jugendarbeit und Ju- S. 19-21 und Ulf Lüers: S. 65 gendverbände, in: deutsche jugend, Mai 1970, S. 237

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dem merkte er an, dass die oftmals verwendeten marxistisch inspirierten Deutungsansätze von Poli- tik und Gesellschaft für pädagogische Problemstel- lungen nicht anschlussfähig seien. Dem wurde wiederum von anderer Seite widersprochen, und so finden wir seit Beginn der 70er Jahre eine inten- sive Debatte auch zur Frage der subjektiven Vor- aussetzungen politischen Lernens.18 Die diversen theoretischen Bemühungen um eine Vermittlung von Gesellschaft, Politik und lernendem Individu- um haben letztlich zur Anerkennung der zentralen Bedeutung der Teilnehmer- oder Subjektorientie- rung in der politischen Didaktik geführt. Einen an- deren Versuch, eine Grenze zwischen Aktion und politischem Lernen zu ziehen, stellen das Kontro- versitätsgebot und das Überwältigungsverbot dar, wie sie 1977 im Beutelsbacher Konsens formuliert wurden.

Die diversen theoreti- Dennoch: Politische Bil- schen Bemühungen um dung wurde selbst als ein eine Vermittlung von Feld der Politik begrif- Gesellschaft, Politik fen, wenn auch in spezi- und lernendem Indivi- fisch abhängiger Weise. duum haben zur Aner- Dies führte dazu, dass © Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten kennung der zentralen noch bis in die 90er Jah- Bedeutung der Teilneh- re hinein Institutionen Ernst Fraenkel auf dem 1. Kongress zur politischen Bil- mer- oder Subjekt- der politischen Bildung dung 1966 orientierung in der eindeutig politischen La- politischen Didaktik gern zugeordnet wurden politischen Paralleluniversum und drohte ihren geführt und Positionen in staatli- Auftrag und ihre Möglichkeiten zu überdehnen. chen Einrichtungen nach Außerdem bestand die Gefahr, dass die Beachtung strengen Proporzregeln oder der Logik einer Ein- des politischen Pluralismus‘, auf den Ernst Fraenkel flusssicherung besetzt wurden. Erst danach hat sich in seinem Einleitungsvortrag zum Kongress zur po- ein professionell orientiertes Verständnis allgemein litischen Bildung in Bonn 1966 so nachhaltig als durchgesetzt, so dass heute sich Kolleginnen und Voraussetzung politischer Bildung in der Demokra- Kollegen weniger nach politischer Herkunft und tie verwiesen hatte,16 in der angestrebten gemein- mehr nach ihrem Praxisverständnis beurteilen und schaftlichen Übereinstimmung und Aktion wieder zuordnen. verloren ging.

Der Widerspruch wurde von verschiedener Seite mit Wirkungen unterschiedlichen Argumenten formuliert. Hermann Giesecke warnte vor Emotionalisierungsprozessen Dass es einen steten Ausbau der politischen Bil- und wies darauf hin, dass „Lernen und Aktion anti- dung seit den 60er Jahren gab, war aber nicht nur nomische soziale Verhaltensweisen sind, die zuein- den Bedeutungszuschreibungen im Rahmen politi- ander in erheblichem Widerspruch stehen.“17 Außer- scher Veränderungsstrategien zu verdanken. Eine komplementäre Reaktion von konservativer Seite 16 Ernst Fraenkel: Möglichkeiten und Grenzen politischer Mit- bestand darin, das junge westdeutsche Gemeinwe- arbeit der Bürger in einer modernen parlamentarischen Demo- sen gefährdet zu sehen. In der Antwort auf die kratie – Besinnung auf das Wesen politischer Erziehung und Bil- Großen Anfragen der Fraktionen des Bundestages dung, in: Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten (Hrsg.): Kongress zur politischen Bildung, Bonn 1966, S. 29-41 18 Siehe zum Beispiel Ulf Lüers/Gerhard Büttenbender/Christi- 17 Hermann Giesecke: Didaktische Probleme des Lernens im an Rittelmeyer/Jochen Müller/Dieter Grösch: Selbsterfahrung Rahmen von politischen Aktionen, in: Giesecke u. a: Politische und Klassenlage. Voraussetzungen und Methoden politischer Aktion und politisches Lernen, München 1970, S. 25 Bildung, München 1971

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zur Politischen Bildung 1968 hieß es daher war- gibt es noch eine Vielzahl weiterer mittel- und nend: „Es ist eine Situation entstanden, die es allen langfristiger Wirkungen in der politischen Kultur gesellschaftlichen Kräften und auch dem Staat der Bundesrepublik zu verzeichnen, auf die zum dringend gebietet, dem verbreiteten Unbehagen Schluss nur noch in Stichworten eingegangen wer- entgegenzuwirken und das Bewußtsein vom Wert den kann. unserer freiheitlichen Staatsordnung und den Möglichkeiten ihrer zeitgerechten Fortentwick- Die Protestbewegung – das kann inzwischen als ei- lung zu stärken.“19 Für die politische Bildung war ne von den meisten Beobachtern geteilte Einsicht eine komfortable Situation entstanden, wurde sie gelten – hat zwar nicht das hervorgebracht, was ih- doch – mit ganz unterschiedlichen Aufgabenver- re Protagonisten im unmittelbaren Zeitfenster En- ständnissen und Erwartungen versehen – letztlich de der 60er und Anfang der 70er Jahre gewollt von allen politischen Akteuren und ihren Bezugs- hatten: eine gesellschaftliche Revolution, die sich gruppen hochgeschätzt, weil man von ihr einen auf der Basis eines in der Nachkriegszeit entfalte- wichtigen Beitrag zur mittelfristigen Lösung ak- ten gesellschaftlichen Reichtums der spontanen tueller Probleme und Konflikte erwartete. Dieser Zustimmung einer Mehrheit der Bevölkerung sicher Befund gilt aber in weiten Teilen für die Erwach- sein konnte. Angesichts ihrer problematischen Zer- senenbildung/Weiterbildung insgesamt, so dass es fallsprodukte wie den stalinistischen K-Gruppen, während der 70er Jahre in vielen Bundesländern muss man von einer glücklich gescheiterten Bewe- – oftmals auch in enger Zusammenarbeit von CDU gung sprechen. und SPD – zu der Verabschiedung von Weiterbil- dungsgesetzen kam, die Das, was sie so en passant angestoßen hat – zum Die während der 70er nun den systematischen Teil gegen ihre Absichten, ist unter anderem eine Jahre in vielen Bundes- Auf- und Ausbau und dem Modell westlicher Demokratien angemessene ländern – oftmals auch damit die Professionali- Partizipations- und Widerspruchskultur, die sich in enger Zusammenar- sierung der Erwachsenen- seit Ende der 60er Jahre als „Protest von unten“ beit von CDU und SPD bildung und der außer- normalisiert hat und neben den repräsentativen – verabschiedeten Wei- schulischen politischen Wegen der demokratischen Beteiligung auch vie- terbildungsgesetze Bildung zu garantieren len kleineren Gruppen und Initiativen stabile und schienen den systema- schienen. Das war eine immer wieder geübte Möglichkeiten der öffent- tischen Auf- und Aus- Entwickung, die leider oft lichen Mitwirkung an der politischen Willensbil- bau und damit die Pro- nur eine Dekade andau- dung verschafft hat.20 Politische Bildung hat auch fessionalisierung der ern sollte. Dennoch ist zu Erwachsenenbildung konstatieren, dass in den 20 Vgl. dazu auch Friedhelm Neidhardt/Dieter Rucht: Protest- und der außerschuli- 70er Jahren die Erwach- geschichte der Bundesrepublik 1950 – 1994: Ereignisse, Themen, schen politischen Bil- senenbildung und die po- Akteure, in: Dieter Rucht (Hrsg.): Protest in der Bundesrepublik. dung zu garantieren litische Bildung als äu- Strukturen und Entwicklungen, Frankfurt/New York 2001, S. 35f ßerst wichtige Politik- felder galten, die für die Gestaltung gesell- schaftlicher Zukunft von größter Bedeu- tung seien.

Neben diesem Institu- tionalisierungs- und Pro- fessionalisierungsschub

19 Antwort auf die Großen Anfragen der Fraktionen des Bundestages zur Politischen Bildung 1968, in: Hans-Wer- ner Kuhn/Peter Massing (Hrsg.): Politische Bildung in © Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten Deutschland. Entwicklung – Stand -– Perspektiven, Opla- Lust am Diskutieren: AdB-Jahrestagung 1977 in Berlin. Von rechts nach links (sofern erkenn- den 1990, S. 240 bar): Mechthild Merfeld, Jochen Müller und Frank Thomas Gaulin.

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hier ihren genuinen Ort, denn ein deliberatives Wertewandels hervorheben. Die Lernformen wur- Verständnis außerschulischer politischer Bildung, den in den 60er und 70er Jahren in vielfältigem das sich als Gegenöffentlichkeit versteht und sozia- Rückgriff auf reformpädagogische Konzepte aus le Bewegungen mit Angeboten und Foren beglei- früherer Zeit erneuert, was auch auf jugendbe- tet, ist ein seit der Protestbewegung der 60er Jahre wegte Einflüsse der Nachkriegszeit verweist, die ei- immer wieder manifestiertes Konzept.21 gentlich im Rahmen der 68er-Bewegung überwun- den werden sollten.22 Aber das wären Themen für Seit 1968 finden wir trotz aller Vereinheitlichungs- einen neuen Artikel. versuche unter den weiterhin oft sehr mannigfalti- gen didaktischen Ansätzen dennoch zwei markante Linien: Die einer an Bewegungen und Selbstakti- Dr. Paul Ciupke ist Mitglied im Leitungsteam vierungsprogrammen orientierten politischen Bil- des Bildungswerks der Humanistischen Union dung, die das politische Subjekt in den Mittelpunkt NRW e. V. Arbeitsschwerpunkte: Zeitgeschich- stellt, und eine Linie, die eher an einer wissen- te, Ostmitteleuropa, (Erwachsenen-) Bildungs- schaftszentrierten Politikdidaktik sich orientiert und geschichte, Ruhrgebiet, Strukturwandel, die Rationalität politischer Urteilskraft betont. Die- Reformpädagogik, Fragen der politischen Bil- se beiden Richtungen kritisieren sich immer wieder dung u. a. m. bis heute wechselseitig, sind aber nicht unvereinbar. Er ist über das Bildungswerk zu erreichen unter der Anschrift: Kronprinzenstraße 15, 45128 Essen. Es wären sicher noch andere Entwicklungslinien zu diskutieren: Eine kulturgeschichtliche Betrachtung E-Mail: [email protected] müsste auch zum Beispiel die Lust am Diskutieren, die Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen und traditionellen, atavistisch gewordenen Wertvor- 22 Vgl. Paul Ciupke: Gefährten. Jugendbewegung, Protestbe- stellungen wie Gehorsam, Treue und blinde Diszi- wegung und außerschulische politische Bildung nach 1945, er- plin sowie Kultivierung des politischen Selbst im scheint in der zweiten Jahreshälfte im Jahrbuch des Archivs der Rahmen politischer Bildung thematisieren und ih- deutschen Jugendbewegung, NF, Band 4/2007, Schwalbach/Ts. ren Beitrag zur Entwicklung des postmodernen 2008; siehe auch Heidi Behrens/Paul Ciupke/Norbert Reichling: Lernkonzepte der 70er und 80er Jahre. Zur Kontinuität und 21 Vgl. dazu Bettina Lösch: Deliberative Politik. Moderne Kon- Transformation politischer und pädagogischer Impulse in der zeptionen von Öffentlichkeit, Demokratie und politischer Parti- Erwachsenenbildung, in: http://www.abwf.de/content/main/ zipation, Münster 2005 ⁄publik/report/2003/Report-81.pdf

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Revolte im Gulasch-Kommunismus Ein Interview mit György Dalos

György Dalos, geboren 1943 Welche waren das? in Budapest, ist ein ungari- scher Schriftsteller und Histori- Wichtig ist zu wissen, dass sich die 68er Revolte im ker jüdischer Herkunft. Er stu- Osten hauptsächlich in Polen, der Tschechoslowa- dierte von 1962 bis 1967 an kei (CSSR) und in Jugoslawien abspielte. Die ande- der Moskauer Lomonossow- ren Länder des Ostblocks waren nur wenig bis gar Universität und arbeitete an- nicht beteiligt. Dementsprechend interessierte schließend als Museologe in sich der Ostblock vor allem für die Vorgänge in Budapest. Dalos war Mitglied den drei Ländern. Zunächst für die tschechische der Ungarischen KP bis 1968, Reform, den sogenannten Prager Frühling, und als er wegen „staatsfeindlicher Aktivitäten“ Be- später vor allem für die Besetzung der Tschechos- rufs- und Publikationsverbot erhielt und dann als lowakei durch die Staaten des Warschauer Ver- Übersetzer tätig war. 1984 erhielt er ein Stipen- trags. dium des Berliner DAAD und wurde Mitarbeiter an der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Die Studentenrevolten im Westen fanden im Osten Bremen. Von 1987 bis 1995 lebte er abwechselnd in keine allzu große Aufmerksamkeit. Das hing auch Wien und Budapest und arbeitete u. a. für deut- damit zusammen, dass nur wenige Nachrichten aus sche Rundfunkanstalten und Zeitungen. Von 1992 dem Westen in den Osten durchdrangen. bis 1997 gehörte Dalos dem Vorstand der Heinrich- Böll-Stiftung in Köln an, von 1995 bis 1999 leitete er das Ungarische Kulturinstitut in Berlin. György Das heißt, der Osten hat gar nicht gewusst, was im Dalos lebt heute als freier Schriftsteller in Berlin. Westen vor sich ging? 1964 veröffentlichte er seinen ersten Gedichtband. Seither sind zahlreiche Werke von ihm erschienen, Doch, wir, die Intellektuellen und interessierten Stu- in Deutschland u. a. „Archipel Gulasch“ (1986), denten in Budapest, waren relativ gut informiert. „Die Beschneidung“ (1990), „Die Reise nach Sacha- Wir holten uns die Informationen woanders her, so lin. Auf den Spuren von Anton Tschechow“ (2001), vom amerikanischen Sender Free Europe, von der „1956. Der Aufstand in Ungarn“ (2006). BBC und über eingeschmuggelte Zeitungen. Persön- liche Kontakte in den Westen hatten wir damals 1995 wurde György Dalos mit dem Adelbert-von- leider nicht. Der Mangel an Presseöffentlichkeit im Chamisso-Preis der Bayerischen Akademie der gesamten Ostblock hing mit der Angst der Regie- schönen Künste ausgezeichnet. rungen dort zusammen. Die fürchteten, dass hier ähnliche Tumulte losgehen könnten wie im Westen. Simone Schmollack sprach mit György Dalos über Und ihre Furcht vor Aufständen wiederum hatte et- den Prager Frühling, Illusionen junger Intellektuel- was mit dem Kontext zu tun, in dem Ost und West ler und die Gründe, weshalb '68 in Osteuropa nicht gemeinsam standen: dem Kontext der Generatio- erfolgreich sein konnte. nen. Sowohl die Studenten der Pariser Revolten und wir sind in den letzten Kriegs- oder in den ersten Nachkriegsjahren geboren. Soziologisch würde man Anders als im Westen, wo sich die Rebellion der sagen: Es war die Gemeinsamkeit einer rebellieren- Achtundsechziger vor allem gegen die mangeln- den Nachkriegsgeneration. de Aufarbeitung der Nazi-Zeit richtete, waren mit den Aufständen im Frühjahr und Sommer 1968 in Osteuropa hauptsächlich Hoffnungen auf Mehr hatten die Ost-Oppositionellen und die West- eine Demokratisierung der Gesellschaft verbun- Revolutionäre nicht gemeinsam? den. Was genau ist in Osteuropa passiert und worin unterschied sich der Protest hier von dem Wir lebten in komplett anderen Gesellschafts- im Westen? formen, das hatte Auswirkungen. Die Phänomene, die unabhängig vom gemeinsamen Kontext auf- Der gesamte Ostblock war ja komplett anders traten, waren augenscheinlich stärker. Man muss organisiert als der Westen, das sozialistische Sys- die Situation damals sehen. In Ungarn beispiels- tem funktionierte anders als der Westen, es gab weise herrschte Ende der Sechziger Jahre der soge- klare durch die Sowjetunion vorgegebene Gesetze. nannte Gulasch-Kommunismus: ein wenig mehr Und nach denen richtete sich der gesamte Ost- Wohlstand für alle, Reisefreiheit für viele und eine block. Es war also nur folgerichtig, dass andere relative Freiheit der Kultur. Dadurch war das Land Themen debattiert wurden. alles andere als rebellisch. Und so war die Studen-

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tenbewegung im Westen nur für einen ganz klei- Erfolgreich? nen Kreis von Intellektuellen interessant. Die Polizei mischte sich ein, mit großer Brutalität und mit Tränengas. Dann aber passierte etwas Un- So leicht waren die Ungarn ruhig zu stellen? gewöhnliches: Die Väter der demonstrierenden Studenten, die hohe Parteifunktionäre waren, Nein, diese Schlussfolgerung greift zu kurz. „Ruhig wurden für das Verhalten ihrer Söhne und Töchter gestellt“ wurden sie durch den Terror. Das Volk be- gemaßregelt, so als hätten sie selbst die Parteidiszi- fand sich durch die Ereignisse von 1956... plin gebrochen. Einige wurden sogar entlassen. Und plötzlich kamen Parteigremien darauf, dass die Rebellen und ihre Eltern teilweise jüdischer ... als der ungarische Volksaufstand von der Herkunft waren. Das führte dazu, dass die polni- sowjetischen Unterdrückung niedergeschlagen sche Parteiführung eine Kampagne startete gegen wurde... jüdische Intellektuelle, die als Gefahr betrachtet wurden. Der Staatspräsident Józef Cyrankiewicz, ... noch in einer Art Trauma. Die Menschen wussten der während des Kriegs selber im KZ saß, hielt eine noch sehr genau, was es heißt, wenn eine Revo- einschneidende Rede. Er sagte, dass die Juden in lution ein blutiges, unbefriedigendes Ende findet. Polen in drei Kategorien einzuteilen seien: in Pa- Das, was 1968 im Westen passierte, war von den trioten, in Unentschiedene und in Zionisten. Für Menschen in Ungarn so weit weg, dass ihnen letztere, so war sein Argument, gebe es keinen selbst die Reformbewegungen in der sozialis- Platz im sozialistischen Polen. In der Folgezeit wur- tischen Tschechoslowakei suspekt waren. den 25.000 Juden aus dem Land gewiesen. Die meisten von ihnen sind nach Israel gegangen, an- dere nach Großbritannien, Amerika, Frankreich. Wie haben sich die Intellektuellen verhalten? Unter ihnen maßgebliche Intellektuelle, Wissen- schaftler, Künstler. Nach dieser Aktion konnte man Wir versuchten, alles zu lesen, was es gab: ein schon ahnen, wie die tschechoslowakische Reform paar Westzeitungen in den Hotels, Bücher, die ins enden wird. Land geschmuggelt wurden. Interessant war, dass die Oppositionellen sehr häufig Kinder hochrangi- ger Funktionäre waren. Nun hatte aber die Reform in Prag im Gegensatz zu den Vorgängen in Polen und in Ungarn 1956 eine Besonderheit ... Wie in den anderen sozialistischen Ländern auch. ... dass eine kommunistische Partei an der Spitze Ja. Fast alle Söhne und Töchter hoher polnischer stand und die Gesellschaft ändern wollte, ohne je- Funktionäre waren an der bekannten Rebellion be- doch die Grundsätze des Sozialismus aufzugeben. teiligt, die der Premiere des Stücks „Totenfeier“ des So sollte es kein Privateigentum an Produktions- Kultautors Adam Mickiewicz folgte. Vorher war das mitteln geben, sondern ausschließlich Staatseigen- Gerücht umgegangen, dass das Stück, das die tum, Bildung und Gesundheitswesen sollten für al- Unterdrückung Polens durch Russland thematisier- le kostenlos bleiben. Man dachte in einem nicht te, verboten werden sollte. Zuerst protestierten die näher definierten „sozialistischen Pluralismus“, der Studenten gegen das eventuelle Verbot des Stücks, aber nicht identisch mit der bürgerlich-parlamen- aber bald auch gegen die Probleme in der Mensa tarischen Demokratie sein sollte. und gegen die sozialen Probleme der Studenten.

Waren die Hoffnungen der Intellektuellen und In den sozialen Fragen stimmten die polnischen Studenten, die tatsächlich einen Sozialismus mit Studenten mit den Studenten im Westen überein? menschlichem Antlitz schaffen wollten, allein auf- grund dieser politischen Konstellationen nicht von Die polnischen Studenten setzten sich schließlich vornherein zum Scheitern verurteilt? auch noch für die Unabhängigkeit der Universitäten und Hochschulen ein. Rein formal waren die polni- In Ungarn konnte man nach der gescheiterten schen Unis autonom, aber im Grunde waren sie wie Revolution 1956 gut beobachten, wie sich die alle anderen Einrichtungen von der Partei verwal- Mehrheit der Menschen zurückzog und nur noch tet. Die Studenten wollten die Autonomie sichern. eine kleine Minderheit aufbegehrte. In Ungarn

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floss Blut, in Ungarn haben die Sowjets hart garien und Wladyslaw Gomulka in Polen hätten durchgegriffen. Das passierte in Polen nicht, verabschieden müssen. dort marschierte die Rote Armee nicht ein. In Prag zunächst auch nicht. Die tschechoslowaki- schen Kommunisten konnten behaupten: Seht Auch von János Kádár in Ungarn? her, bei uns fließt kein Tropfen Blut, es ist keine Revolution, Reformen sind auch gewaltlos mög- Der war so eine „mittlere Figur“, von den Sowjets lich. akzeptiert und von Teilen der Bevölkerung auch. Aber er war nie ein Reformer und politisch immer Die Kommunistische Partei der CSSR hat die füh- opportunistisch, er wollte zuerst die Sowjets immer rende Rolle nicht aus der Hand gegeben. Sie hat zufrieden stellen und dann seine Ruhe vor der ei- aber trotzdem eine andere Politik gemacht, als die genen Bevölkerung haben. Sowjets das wollten. Nur die Ungarn ahnten da- mals, dass es auch in Prag nicht ohne Einmarsch der Sowjets abgehen wird. Obwohl die Rebellion auch in Osteuropa von Intel- lektuellen ausging, passierte in der Tschechoslowa- kei etwas Merkwürdiges: Es entstanden Arbeiter- So kam es schließlich ja auch. räte. War das die letzte wahre Beteiligung von Arbeitern in der Politik? Der friedliche Prager Frühling endete genauso mit einem sowjetischen Einmarsch, wie die bewaffnete Das könnte man annehmen. Aber, wie bereits Revolution in Ungarn. Zehntausende Tschechoslo- erwähnt, wurde die tschechoslowakische Bewe- waken verließen das Land. gung von der Partei geleitet und die Menschen wiegten sich in dem Glauben, dadurch passiere ih- nen nichts: Wenn Parteichef Dubcek ganz offiziell Was passierte in der DDR? eine Art Demokratie einführen wollte, dann han- delten auch die Menschen mit gutem Gewissen Dort wurden die tschechoslowakischen Refor- ganz legal und nicht oppositionell. men nur von einer Minderheit wahrgenommen. Nach dem Mauerbau 1961 gab es in der DDR keine große Zuversicht mehr auf eine demokra- Was geschah mit den Intellektuellen nach der tische Gesellschaft, es gab höchstens die Hoff- Revolution? nung auf etwas bessere Lebensverhältnisse: Man wünschte sich kleine Freiheiten, ähnlich wie in In der Tschechoslowakei kam es zu einer riesigen Ungarn, und vielleicht ein wenig mehr Reise- politischen Säuberung. Die Kommunistische Partei möglichkeiten. war eine Massenorganisation und hatte 500.000 Mitglieder, fast die Hälfte wurde nach dem Prager Frühling ausgeschlossen. In der DDR zwang die Aber nach Westdeutschland und Frankreich blick- Partei selbst Parteilose dazu, für den Einmarsch der ten die DDR-Bürger auch nicht, sie wollten eher Sowjets in Prag öffentlich Stellung zu nehmen. Das wissen, was in Osteuropa vor sich ging. wiederum passierte in Ungarn nicht.

Das ist richtig. Alle schauten darauf, was die So- wjets machten. Wenn die Reformer in Prag um Ale- Warum nicht? xander Dubcek erfolgreich gewesen wären, wäre das für die sozialistische Gemeinschaft höchst ge- Zum einen dürfen wir nicht vergessen, dass der Ein- fährlich geworden – in den Augen der kommunisti- marsch der Sowjets im November 1956 eine natio- schen Machthaber. Denn in allen sozialistischen nale Katastrophe war, unter anderem flüchteten Ländern war die kommunistische Oligarchie unpo- damals aus dem Land 250.000 Bürger. Die Wieder- pulär. Die Menschen hätten dann jene Fraktionen herstellung der Ruhe brauchte mehrere Jahre und in den kommunistischen KP unterstützt, die ähn- die Parteiführung wollte das heikle Gleichgewicht lich reformistisch dachten wie die tschechoslowaki- nicht wegen irgendwelcher rein propagandisti- schen Spitzenfunktionäre von 1968. Und das schen Vorteile auf die Probe stellen. Außerdem hätten die Sowjets nicht geduldet. Das hätte auch glaubten Ungarns Kommunisten seit dem Volks- bedeutet, dass sie sich von makabren Gestalten wie aufstand an derartige öffentliche Bekenntnisse in der DDR, Todor Schiwkow in Bul- nicht mehr.

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Wie ging es Ihnen damals? Welche Repressalien erlitten Sie durch Ihre Akti- vitäten? An dieser Stelle weicht meine Geschichte und die meiner intellektuellen Freunde von den allge- Im Januar 1968 wurden die ersten von uns verhaf- meinen Vorkommnissen ab. Wir drifteten nämlich tet, es folgten Verhöre und Vernehmungen. Von in eine Richtung, die für Ungarn völlig untypisch Mai bis Juni 1968 schließlich lief unser Prozess vor war: in die chinesische. Nach 1963, also noch lange dem Kreisgericht Budapest. Der sollte aussehen wie vor 1968, waren wir der Meinung, dass in der gan- eine demokratische Verhandlung; zu jener Zeit ver- zen Debatte um den internationalen Kommu- suchte Ungarn, wie ein liberaler Staat zu wirken. nismus nicht die Sowjets Recht hatten, sondern die Chinesen. Aber es war kein demokratischer Prozess?

Das war ziemlich radikal. Natürlich nicht. Das merkte man allein an der Spra- che. Die kannte nur das Vokabular der Diktatur des Damals glaubten wir, dass die Sowjets die Revo- Proletariats. Immerhin achtete man auf die Forma- lution verraten hatten, dass sie Großmachtchauvi- litäten der Prozessordnung. Anders und neu an die- nismus üben und dass sie in Ungarn und in anderen sem Prozess aber waren die Urteile, die gefällt wur- sozialistischen Ländern Regierungen unterstützten, den. Die waren für die damalige Zeit relativ human, die auf dem Wege der kapitalistischen Restaurie- sie bewegten sich zwischen Freiheitsstrafe auf Be- rung waren. währung und zweieinhalb Jahren Gefängnis.

Wie sehen Sie das heute? Was bekamen Sie?

Das war natürlich absoluter Schwachsinn. Aber wir Sieben Monate auf Bewährung. Allerdings wurden lebten in einer Zeit, in der wir nach einer Utopie die Urteile um Strafen ergänzt, die nicht im Urteil suchten. Die fanden wir in den egalitären Prinzi- standen. Manche meiner Freunde wurden aus allen pien, wie sie China praktizierte. Wir begriffen aber Hochschulen des Landes ausgeschlossen, was auch bald, dass Ungarn und China zwei verschiedene in dem offiziellen Mitteilungsblatt veröffentlicht Staaten waren und dass Ungarn die chinesische wurde. Andere verloren ihre Arbeit. Ich bekam Pu- Praxis nicht umsetzen konnte. Aber wir wussten blikationsverbot. Neunzehn Jahre, von 1968 bis auch, dass die Weltrevolution in Per- 1987, habe ich nicht in Ungarn veröffentlicht. son war.

Wie ging es Ihnen damit? Waren Sie Maoist? Merkwürdig: ich hatte nach dem Ausschluss aus Am Anfang nicht. Wir waren gutgläubige, junge der Partei und Verlust meines Arbeitsplatzes eine Kommunisten. Wir wollten in unserem Land revo- Art euphorisches Freiheitsgefühl. Und das Land er- lutionäre Politik betreiben. Aber wir hatten keine lebte im Jahr 1968 sogar einen ungemein lustigen Ahnung, wie das geht. Und wir hatten keine Spra- Sommer. che für Politik, wir hatten nur ideologische Flos- keln. Später sympathisierten wir auch mit Vietnam und Kuba. Wie bitte?

Es war kurios. Die ungarische Bevölkerung war zu- Sie haben für die Revolution gebrannt wie Che frieden, es gab viel zu essen und zu trinken, Obst, Guevara? Gemüse, Alkohol, für ganz wenig Geld. Besonders viele Früchte gab es, weil wegen der Absperrung Kuba war für uns ein sehr attraktives Land. Aus ei- der Nordgrenze die ganzen Fruchtlieferungen aus gener Kraft hatte es eine Revolution vollbracht. Rumänien und Bulgarien in Ungarn stecken ge- Das hat uns imponiert. Che und seine Genossen blieben waren. Gleichzeitig fand in den Tagen des sahen auch nicht so aus wie die würfelköpfigen Einmarsches in die Tschechoslowakei ein großes Funktionäre im Osten. Schlagerfestival in Ungarn statt, das durch das

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Fernsehen übertragen wurde. Die Panzer waren wenn man so sagen will, einen spartanisch-kom- auf dem Weg nach Prag und die Menschen saßen munistischen Standpunkt. mit angehaltenem Atem vor der Glotze. Die Machthaber wussten, dass die Leute nicht prote- stieren würden. Was ist heute aus den Reformern geworden?

In allen Ostblockstaaten wurden die meisten Re- Haben Sie unter dieser Ignoranz nicht gelitten? former nach der Wende entweder Politiker oder sie sind in ihre Berufe zurückgekehrt. Nicht weni- Schon. Aber wir Verurteilten gehörten zu einer ver- ge, die in der Politik gelandet sind, mussten ihre schwindenden Minderheit, die sich überhaupt für frühere politische Haltung ändern oder sie mein- den Prager Frühling interessierte. Und wir haben ten, sie ändern zu müssen. Oppositionelle Ideen gesehen, dass die Sowjetunion jede aufrührerische der siebziger und achtziger Jahre waren keine, Bewegung, auch jede kommunistische, nieder- mit denen in den komplizierten Verhältnissen der knüppeln wird. Dadurch wurden wir immer verbit- Nachwendezeit praktische Politik gemacht werden terter. Wir haben den Einmarsch der Russen in Prag konnte. verurteilt und drückten den Tschechen die Dau- men. Wir begannen, offen über den Einmarsch zu reden. Aber es gab keinen nennenswerten öffent- Die Reformer haben sich verbogen? lichen Protest. Das große Problem für viele dieser Intellektuellen war, dass sie sich die für die Politik typischen Spiel- Und in der DDR? regeln nur schwer aneignen konnten. Diejenigen, die diese Form der Auseinandersetzungen nicht er- Dort regten sich einige junge Leute: Thomas trugen, haben die Politik schnell wieder verlassen. Brasch, Bettina Wegener, Florian Havemann – Kin- Diejenigen aber, die dabei geblieben sind, mussten der von Funktionären und systemkonformen Intel- sich nun mit einer Politik auseinandersetzen, die lektuellen. nicht in jedem Fall auf soziale Gerechtigkeit setzt. Nebenbei gesagt, war einer der Hauptangeklagten des Budapester Prozesses Sohn eines Gründers der ungarischen KP. Auf dem Gerichtskorridor sagte Und das taten sie dann auch? mir die Mutter: „Dafür, dass mein Sohn jetzt solch einen unwürdigen Prozess erhält, habe ich 25 Jah- Da war auch immer die Verlockung der Macht. Und re im sowjetischen Exil gelebt.“ ... Nicht alle Eltern das kann am Ende nicht weniger zerstörerisch sein waren so voll Verständnis für ihre Kinder, zum Bei- als das Leben in einer Diktatur. spiel in der DDR der Vater von Thomas Brasch ...

Simone Schmollack lebt und arbeitet als .... der zeitweilig stellvertretender Kulturminister Journalistin und Autorin in Berlin. war .... Sie schreibt für Tageszeitungen und Journale und ist Autorin verschiedener Bücher. forderte damals, dass sein Sohn keine schonungs- In ihren Texten beschäftigt sie sich vor allem volle Behandlung erfährt nur deswegen, weil seine mit Fragen an der Schnittstelle von Politik, Eltern gute Genossen waren …Er vertrat also, Privatheit und Alltag.

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Rumänien 1968: Kontext, Geschehnisse und Folgewirkungen Anton Sterbling

Die Situation Rumäniens im Jahr 1968 steht gegen- scher Herrschaft – im Zusammenbruch des spätsta- über der in anderen östlichen Staaten wie der da- linistischen Ceausescu-Regimes,1 der andere Strang maligen Tschechoslowkei, Ungarn und Polen im – wenn man entsprechende intellektuelle und Hintergrund der Wahrnehmung. Aber welche Ein- mentale Fernwirkungen so interpretieren möchte flüsse von den damaligen gesellschaftlichen und – im demokratischen Neuanfang und letztlich in politischen Veränderungsprozessen auch auf die der Aufnahme Rumäniens in die Europäische rumänische Gesellschaft, vor allem intellektuelle Union, die bekanntlich zum 1. Januar 2007 erfolgte Kreise und Kunstschaffende ausgingen, stellt An- und heute mit einer eindrucksvollen Entwicklungs- ton Sterbling in seinem Artikel dar. Er verdeutlicht, dynamik verbunden erscheint.2 wie die damaligen Prägungen dieser Bevölke- rungskreise zusammen mit den Massendemonstra- Natürlich ist es eine gewagte Deutung, solche tionen den politischen Systemwandel in Rumänien Nachhaltigkeit anzunehmen, dennoch spricht aus bewirkten und schließlich auch zur Mitgliedschaft meiner Sicht einiges dafür, die Tragweite eines sol- in der Europäischen Union führten. chen Erklärungsansatzes zumindest zu prüfen. Wenn man den Einflüssen des Jahres 1968 auf spä- tere politische Umbrüche und gesellschaftliche Veränderungen nachgeht, wird man sicherlich we- Im Jahr 1968 schienen in Rumänien – zumindest für niger direkte Wirkungen, sondern eher untergrün- kurze Zeit und aus der damaligen Wahrnehmungs- dige Vermittlungszusammenhänge wie auch nicht perspektive – mehrere Entwicklungsstränge sehr intendierte Effekte in den Blick nehmen müssen - eng beieinander zu liegen, ja gleichsam ineinander also ein vielschichtiges Entwicklungsgeschehen, zu greifen, die danach allerdings erneut deutlich das dennoch eine unverkennbare Relevanz der auseinander strebten. Der Anschluss an die „Mo- Hoffnungen, Erwartungen, Ereignisse und Erfah-

Verschiedene Entwick- ©Lothar Henke/pixelio.de lungen schienen im damaligen Zeithorizont zusammen zu finden, einer einheitlichen Tendenz zu folgen, ehe man erkannte, dass dies keineswegs so ist derne“ in der Kunst, die Wiedereingliederung in das internationale System der Wissenschaften, Verän- derungen im Zeichen west- licher Konsumeinflüsse und Lebensstile, nicht zu- letzt die Wirkungen der damals rasch die System- grenzen überspringenden Beatmusik und Jugendpro- testkultur, der „Prager Alle Entwicklungen schienen in eine Richtung zu laufen. Frühling“ und seine Aus- Einfahrt zur Bicazklamm/Ostrumänien strahlung auf ganz Osteu- ropa, die rumänische Außen- und Innenpolitik so- rungen der späten 1960er Jahre für den demokra- wie der intellektuelle Aufbruch der sogenannten tischen Aufbruch rund zwanzig Jahre danach er- „Tauwetterperiode“ in der Kultur und Kulturpoli- tik Rumäniens – alle diese Entwicklungen schienen 1 Siehe: Anneli Ute Gabanyi: Systemwechsel in Rumänien. im damaligen Zeithorizont zusammen zu finden, Von der Revolution zur Transformation, München 1998. einer einheitlichen Tendenz zu folgen, ehe man er- 2 Siehe: Anton Sterbling: Rumänien und Bulgarien als neue kannte, dass dies keineswegs so ist. Der eine Ent- Mitglieder der Europäischen Union, in: Spiegelungen. Zeit- wicklungsstrang endete sodann – nach über zwei schrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Jahrzehnten immer düsterer nationalkommunisti- Jg. 2/56, München 2007 (S. 3 – 9).

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kennen lässt. Und natürlich auch für die Europäi- Vittorio de Sica, Federico Fellini oder Elia Kazan oder sierungsbestrebungen, mit denen dieser seit An- Politkrimis (z. B. „Blow up“ oder „Z“), die zumindest fang der 1990er Jahre einherging. kurze Zeit übrigens auch rumänische Filmemacher zu gewagteren Produktionen (z. B. „Die Macht und die Wahrheit“ oder „Kranke Tiere“) inspirierten. Die „Tauwetterperiode“ und das Jahr 1968 in Rumänien Quelle: www.zeno.org In wenigen Stichworten lässt sich die vergleichs- weise günstige kulturelle, gesellschaftliche und po- litische Situation der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, die im Jahr 1968 einen Höhepunkt an Öff- nungen, Freizügigkeiten und Hoffnungen erreich- te, gleichsam aber auch bereits ihren Wendepunkt fand, wie folgt umreißen:

In der Kultur und Kulturpolitik zeichnete sich be- reits seit der ersten Hälfte der 1960er eine vorsich- tige Liberalisierung ab, wobei man etwa ab 1965 von einem zunehmend offeneren, liberaleren Kul- turklima, das ganz zutreffend als „Tauwetterperio- de“ bezeichnet wurde,3 sprechen kann. Bezieht man sich beispielsweise In der Kultur und Kul- auf die Literatur – und turpolitik zeichnete hierbei auch und nicht sich bereits seit der er- zuletzt auf die rumä- sten Hälfte der 1960er niendeutsche Literatur4 Jahre eine vorsichtige – so kann man ohne je- Liberalisierung ab de Einschränkung von einem eindrucksvollen und nachhaltigen Einzug und Durchbruch der „Moderne“ sprechen, nachdem knapp zwei Jahr- zehnte lang die Dogmen und Klischees des soge- nannten „sozialistischen Realismus“ Literatur und Kunst beherrschten. Avantgardistische Lyrik, Surre- alismus, absurdes Theater, aber auch gesellschafts- kritische Literatur des Westens wurden nicht nur Verfilmungen von Werken Franz Kafkas wurden damals rezipiert, sondern bestimmten mehr und mehr in rumänischen Kinos gezeigt. auch die Schreibtechniken und Denkweisen eines Franz Kafka, 1906 (Fotografie aus dem Atelier Jacobi) Teils der jüngeren Schriftsteller.

Um das Jahr 1968 erlebten viele Theater, auch Pro- Natürlich auch und vor allem die Rock-, Pop- und vinzbühnen, eine erstaunliche Belebung, insbeson- Beatmusik, nicht nur der „Beatles“, „Rolling Sto- dere durch zeitgenössische Stücke. Und in rumä- nes“ usw., sondern auch eines Jimi Hendrix oder ei- nischen Kinos liefen manch aufsehenerregende ner Janis Joplin wurden im Rumänien der 1960er westliche Filme, keineswegs nur Unterhaltungsfil- Jahre von einem erheblichen Teil jüngerer Men- me, sondern beispielsweise auch Literaturverfil- schen mit Begeisterung aufgenommen und sicher- mungen (etwa „Der Prozeß“ nach Franz Kafka, mit lich teilweise durchaus Orson Welles), gesellschaftskritische Filme eines Die teilweise idealisiert auch als Ausdruck eines wahrgenommene neuen, unkonventionel- 3 Siehe auch: Anneli Ute Gabanyi: Partei und Literatur in Ru- westliche Konsum- len, emanzipierten Le- mänien seit 1945, München 1975. und Lebenswelt übte bensgefühls wie auch ei- 4 Siehe dazu eingehender: Anton Sterbling: Zum Abschied ei- auf breite Bevölke- ner mehr oder weniger ner Minderheit. Gedanken zum „Nachruf auf die rumänien- rungskreise in Rumä- radikalen Protestkultur, deutsche Literatur“, in: Südosteuropa. Zeitschrift für Gegen- nien eine nachhaltige eines weltweiten kultu- wartsforschung, 40. Jg., München 1991 (S. 211 – 223). Faszination aus rellen und politischen

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Aufbruchs empfunden. Wahrscheinlich noch stär- schen Materialismus“9 lässt sich nicht nur eine kriti- ker als dies war die Wirkung der westlichen Kon- sche Auseinandersetzung mit der idealistischen sumwelt und der damit zusammenhängenden Le- deutschen Philosophie, mit den zeitgenössischen bensstile, die mit der Öffnung des Fensters zum Erkenntnistheorien und Wissenschaftsphiloso- Westen durch Kunst und Massenmedien, aber auch phien wie auch mit den „bürgerlichen Sozialwis- durch den zunehmenden Strom westlicher Touristen, senschaften“ nachlesen. Es lassen sich auch be- die damals nach Rumänien kamen, einherging.5 Die- stimmte Adaptationsversuche grundlegender se, teilweise idealisiert wahrgenommene westliche Gedanken der Systemtheorie und des Funktiona- Konsum- und Lebenswelt übte auf breite Bevölke- lismus feststellen und nicht zuletzt eine auffällige rungskreise, insbesondere aber auf Alterskohorten, Sympathie für den französischen Strukturalismus die in den 1960er Jahren prägende Phasen ihrer Sozi- erkennen. alisation erlebten,6 eine nachhaltige Faszination aus. Die Entwicklung der rumänischen Soziologie10 bil- Es sei in diesem Zusammenhang auch auf die sozi- det ein besonders anschauliches Beispiel für die alstrukturellen Entwicklungsaspekte hingewiesen: wissenschaftlichen und intellektuellen Öffnungen Rumänien erlebte in den 1960er Jahren nicht nur in der Zeit der „Tauwetterperiode“. Nachdem die einen beachtlichen Industrialisierungs- und Urbani- rumänische Soziologie bereits in der ersten Hälfte sierungsschub, sondern auch eine bemerkenswerte unseres Jahrhunderts und insbesondere in der Bildungsexpansion,7 die den auch zunehmend ge- Zwischenkriegszeit zu einer durchaus beachtlichen burtenstärkeren Jahrgängen der 1950er Jahre rela- Entfaltung kam, haben die kommunistische Macht- tiv günstige Bildungschancen und kulturelle Selbst- ergreifung und der Stalinismus auch in Rumänien entfaltungsmöglichkeiten eröffnete. Auf diesen zur zeitweiligen Eliminierung dieser Wissenschaft Gesichtspunkt wird später nochmals zurückzukom- aus dem universitären Fächerkanon und zu ihrer men sein, denn damit finden sich aus meiner Sicht undifferenzierten Bekämpfung als „bürgerliche strukturelle Ursachen und Grundmotive jener Ideologie“ geführt. Erst Anfang der 1960er Jahre nichtintendierten Wirkungen bezeichnet, die in kam es zu einer zunächst vorsichtigen, dann recht den Jahren 1989/1990 wesentlich zum Niedergang vielversprechenden Erneuerung der rumänischen der kommunistischen Herrschaft und demokrati- Soziologie, ehe diese in den 1970er und 1980er schen Aufbruch beitrugen. Jahren erneut weitgehenden Einschränkungen und ideologischen Zwängen unterworfen wurde. Die „Tauwetterperiode“ hat durchaus auch in den Der insbesondere in der zweiten Hälfte der 1960er Wissenschaften deutliche Spuren hinterlassen. Be- Jahre erfolgte zügige Wiederaufbau der Soziolo- merkenswert und aufschlussreich für das damalige gie hat in relativ kurzer Zeit zur akademischen Ver- geistige Klima erscheint zum Beispiel, dass in die- ankerung des Faches an mehreren rumänischen sen Jahren rumänische Übersetzungen westlicher Universitäten geführt, eine beachtliche Infrastruk- bzw. kritischer Autoren wie zum Beispiel von Ro- tur zur empirischen Forschungsarbeit geschaffen, ger Garaudy, Louis Althusser, Lucien Goldmann, ein fachspezifisches Publikationswesen ins Leben Norbert Wiener, Georg Lukács, Hermann István gerufen und natürlich auch zu einigen bemerkens- oder C. Wright Mills erscheinen konnten.8 Selbst in werten Veröffentlichungen beigetragen.11 Die der damaligen offiziellen Fassung des „Dialekti- inhaltlichen Schwerpunkte der soziologischen For- schung lagen u. a. in den Bereichen der Me- 5 Siehe ausführlicher: Susanne Hütten/Anton Sterbling: Expres- siver Konsum. Die Entwicklung von Lebensstilen in Ost- und 9 Dies gilt selbst noch für die Ausgabe des Jahres 1973. Siehe: Westeuropa, in: Jörg Blasius/Jens S. Dangschat (Hrsg.): Lebens- Alexandru Valentin (Koordinator): Materialismul Dialectic (Dia- stile in den Städten. Konzepte und Methoden, Opladen 1994 lektischer Materialismus), Bukarest 1973, insb. S. 200 ff. (S. 122 – 134). 10 Siehe dazu auch: Anton Sterbling: Anmerkungen zur 6 Zum Erklärungsansatz von Generationenlagen siehe auch: schwierigen Entwicklung und zum gegenwärtigen Stand der Bálint Balla/Vera Sparschuh/Anton Sterbling (Hrsg.): Karl Mann- rumänischen Soziologie, in: Birgit Hodenius/Gert Schmidt heim – Leben, Werk, Wirkung und Bedeutung für die Osteuro- (Hrsg.): Transformationsprozesse in Mittelost-Europa. Ein paforschung, Hamburg 2007, insb. IV. Teil, S. 169 ff. Zwischenbefund. Sonderheft 4 der Soziologischen Revue, Mün- 7 Siehe auch: Anton Sterbling: Strukturfragen und Modernisie- chen 1996 (S. 256-271). rungsprobleme südosteuropäischer Gesellschaften, Hamburg 11 Siehe: Andrei Roth/Georg Weber: Rumänische Soziologie 1993. unter Ceausescu und Trends in der Gegenwart, in: Heinrich 8 Diese und andere Autoren erschienen in der Reihe: Idee Con- Best/Ulrike Becker (Hrsg.): Sozialwissenschaften im neuen Ost- temporane (Zeitgenössische Ideen) des Politischen Verlages europa. Social Sciences in a New Eastern Europe, Bonn-Berlin (Editura Politica) in Bukarest. 1994 (S. 29 – 50).

188 SCHWERPUNKT

dienforschung, der Land- und Agrarsoziologie, der dem Warschauer Pakt – aus dem Rumänien aller- Familien- und Frauenforschung, der Bildungs- und dings nicht offiziell ausgetreten ist – wie auch eine Jugendforschung, der Arbeits- und Arbeitsplatz- vorübergehend vielversprechende „Westorientie- forschung, der Freizeitforschung, auch der Unter- rung“ der rumänischen suchung „sozialer Probleme“ sowie der später In der „Tauwetterperio- Außenpolitik. Nachdem immer stärker ideologisch ausgerichteten und de“ erfolgte eine fort- alle sowjetischen Trup- instrumentalisierten Forschung über ethische Wert- schreitende Distanzie- pen Rumänien bereits orientierungen, Lebensvorstellungen, Politik und rung Rumäniens von 1958 verlassen haben, Ideologie. der Sowjetunion und verabschiedete das Zen- dem Warschauer Pakt tralkomitee der rumäni- Ein anderes Beispiel wäre die Geschichtswissen- schen kommunistischen schaft; auch sie – wie die Soziologie – eine be- Partei im Jahre 1964 eine aufsehenerregende „Un- sonders sensible ideologie- und herrschaftsrele- abhängigkeitsresolution“,13 in der unter anderem vante Wissenschaft. Auch die rumänische die Gleichberechtigung aller kommunistischen Par- Geschichtswissenschaft durchlief eine Entwicklung, teien und das Recht jedes Landes auf einen eige- die von ihrer Zerschlagung als „bürgerliche Wissen- nen sozialistischen Entwicklungsweg eingefordert schaft“ über ihre weitge- wurden. Nahezu zeitgleich wurden die Beziehun- Die Entwicklung der hende „klassentheoreti- gen zu den USA substanziell verbessert. In der Fol- rumänischen Soziolo- sche“ Dogmatisierung gezeit normalisierten und intensivierten sich die gie bildet ein be- in der Zeit des Stali- politischen Beziehungen Rumäniens auch zu einer sonders anschauliches nismus zu einer erneu- Reihe anderer westlicher Staaten in Europa und Beispiel für die wissen- ten wissenschaftlichen darüber hinaus. Im Januar 1967 nahm Rumänien – schaftlichen und intel- Professionalisierung so- als erstes Land unter den Staaten des Warschauer lektuellen Öffnungen wie Hinwendung und Paktes und gegen den ausdrücklichen Widerstand in der Zeit der „Tauwet- Entkrampfung natio- der DDR – diplomatische Beziehungen zur Bundes- terperiode“ nalhistorischen Themen republik Deutschland auf. Dem ging voraus und gegenüber in der Zeit folgte zeitweilig auch eine spürbare Verbesserung der „Tauwetterperiode“ der allgemeinen Situation wie auch der kulturellen führte, ehe sie sich – zumindest teilweise, keines- Entfaltungsmöglichkeiten der in Rumänien leben- wegs vollständig – dann in den späten 1970er und den ethnischen Minderheiten,14 nicht zuletzt der 1980er Jahren wieder zu einer weitgehend ideolo- deutschen Minderheit. Rumänien brach als einzi- gisierten, nationalistische Mythen fördernden und ger Mitgliedstaat des Warschauer Paktes 1967, produzierenden Pseudowissenschaft wandelte nach dem Sechs-Tage-Krieg, übrigens auch nicht oder sich auf ideologisch unverdächtige For- die diplomatischen Beziehungen zu Israel ab, son- schungsgebiete zurückzog.12 dern unterhielt zu diesem in der sonstigen kommu- nistischen Welt damals wie in der Zeit danach ver- Die gesamten kulturellen, wissenschaftlichen und femten Staat durchgängig normale Beziehungen intellektuellen Entwicklungen, die knapp umrissen aufrecht. und exemplarisch illustriert wurden, waren natür- lich – wie bereits kurz angesprochen – in einen Ge- Ansätze zu Wirtschaftsreformen, die in den 1960er samtzusammenhang sozialstruktureller Wand- Jahren nahezu in allen sozialistischen Staaten Ost- lungsprozesse sowie außen- und innenpolitischer europas zu beobachten waren15 und die in der Kontextbedingungen eingebettet, auf die an dieser Stelle zumindest knapp hingewiesen werden sollte. 13 Siehe auch: Anneli Ute Gabanyi: Partei und Literatur in Ru- mänien seit 1945, München 1975, insb. S. 82. In dem Zeitraum, der als „Tauwetterperiode“ be- 14 Zur Entwicklung der Minderheitensituation und der inter- zeichnet wurde, erfolgte eine fortschreitende Dis- ethnischen Beziehungen in Rumänien siehe auch: Anton Sterb- tanzierung Rumäniens von der Sowjetunion und ling: On the Development of Ethnic Relations and Conflicts in Romania, in: Christian Giordano/Ina-Maria Greverus (Hrsg.): 12 Siehe dazu näher: Alexandru Zub: Orizont închis. Istoriogra- Ethnicity, Nationalism and Geopolitics in the Balkans (II), fia româna sub dictatura (Geschlossener Horizont. Die rumäni- Sonderheft des Anthropological Journal on European Cultures, sche Historiographie unter der Diktatur), Iasi 2000; Lucian Boia: Band 4, Heft 2, Fribourg-Frankfurt a. M. 1995 (S. 37 – 52). Geschichte und Mythos. Über die Gegenwart und Vergangen- 15 Siehe: Christoph Boyer (Hrsg.): Zur Physionomie sozialistischer heit in der rumänischen Gesellschaft, Köln-Weimar-Wien 2003; Wirtschaftsreformen. Die Sowjetunion, Polen, die Tschechoslo- Anton Sterbling: Stalinismus in den Köpfen, in: Orbis Lingua- wakei, Ungarn, die DDR und Jugoslawien im Vergleich, Frank- rum, Band 27, Wroclaw/Breslau 2004 (S. 23 – 38). furt a. M. 2007.

189 SCHWERPUNKT

©Lothar Henke/pixelio.de stränge: nämlich eine fort- schreitende Liberalisierung von Wissenschaft und Kunst, die Modernisierung, Demokratisierung und Plu- ralisierung der Gesellschaft, eine zunehmende Distan- zierung von der Sowjet- union und gleichzeitig eine immer stärkere Westorien- tierung, die Beteiligung an einer weltweiten Erneue- rungs- und Emanzipations- bewegung sowie die offi- zielle Politik Rumäniens aufs engste miteinander verknüpft, einer gemeinsa- men Tendenz zu folgen; doch dies erwies sich als ein Irrtum, denn die ganze /Hermannstadt: einst wichtigste Stadt im Siedlungsgebiet der Siebenbürger Geschichte hatte noch eine Sachsen andere, von den hoffnungs- vollen Intellektuellen, den jugendlichen Enthusiasten Rumänien beteiligte Tschechoslowakei mit und den in ihrer Kreativität gerade erst emanzipier- sich nicht am Einmarsch den wohl weitreichend- ten und entfesselten Künstlern leichtfertig überse- der Staaten des War- sten Bestrebungen der hene Seite innenpolitischer Entwicklungen. schauer Paktes im gesellschaftlichen De- August 1968 und ver- mokratisierung, Liberali- Die Festigung der Macht Nicolae Ceausescus, der urteilte diese Interven- sierung und Pluralisie- nach dem Tode Gheorghe Gheorghiu Dejs im Jahre tion ganz nachdrücklich rung einhergingen – 1965 Erster Sekretär (später Generalsekretär) der also der als „Prager Kommunistischen Partei und 1967 Staatsratsvorsit- Frühling“ bekannte Versuch der Herbeiführung ei- zender wurde, erfolgte schrittweise und konse- ner freien, emanzipierten, demokratischen Gesell- quent, aber keineswegs geradlinig.17 Sie war nicht schaft – fanden überall in Europa – und mithin nur mit einem erheblichen Personalaustausch auf auch und gerade in Rumänien – einen starken allen Machtebenen, sondern auch mit weitreichen- Widerhall. Rumänien strebte angesichts einer den und vielfach schwer durchschaubaren Verän- möglichen externen Intervention im Jahr 1968 derungen der institutionellen Machtstrukturen nicht nur einen Freundschafts- und Beistandsver- verbunden. Diese Prozesse, die sich über mehrere trag mit den Reformern in Prag und der Regierung Jahre hinzogen und die nicht zuletzt mit Entmach- Jugoslawiens an und hat sich dann auch nicht am tungsvorgängen und Machtauseinandersetzungen Einmarsch der Staaten des Warschauer Paktes im in nahezu allen institutionellen Bereichen einher- August 1968 beteiligt, sondern verurteilte diese gingen, führten nicht selten zu zeitweilig unge- Intervention ganz nachdrücklich. klärten Macht- und Zuständigkeitsverhältnissen. Dies schaffte – gewissermaßen als unintendiertes In jenen Augusttagen 1968, als Nicolae Ceausescu Nebenergebnis – in vielen Bereichen vorüberge- die gewaltsame Niederschlagung des „Prager hend beachtliche Handlungsspielräume für alle Frühling“ öffentlich, emotional bewegt und mas- Akteure und vielfach auch entsprechende Illusio- senmedienwirksam anprangerte,16 schienen im da- nen. Dass es dabei letztlich keineswegs um eine maligen Wahrnehmungshorizont vieler Menschen Demokratisierung und Verwestlichung der rumäni- – zumindest kurzfristig – mehrere Entwicklungs- schen Gesellschaft gehen sollte, sondern um die

16 Siehe auch: Daniel Ursprung: Herrschaftslegitimation zwi- 17 Siehe auch: Anton Sterbling: Zum Abschied einer Minder- schen Tradition und Innovation. Repräsentation und Inszenie- heit. Gedanken zum „Nachruf auf die rumäniendeutsche Litera- rung von Herrschaft in der rumänischen Geschichte, Kron- tur“, in: Südosteuropa. Zeitschrift für Gegenwartsforschung, stadt/Brasov 2007, insb. S. 184 ff. 40. Jg., München 1991 (S. 211 – 223), insb. S. 215 ff.

190 SCHWERPUNKT

Herrschaftssicherung einer immer stärker von ei- scheinen. Auch Schriftsteller und andere Künstler nem bizarren Personenkult geprägten neostalini- wussten durchaus, wie man die Zensur überlisten stisch-nationalkommunistischen Diktatur wurde in- oder umgehen und mithin manch subversive Bot- des erst allmählich deutlich. schaft – natürlich oft nur fein dosiert und subtil ver- schlüsselt18 – vermitteln konnte. Auf die Mechanis- men einer zunehmenden © Alexandra Bucurescu/pixelio.de Ideologisierung und Re- pression wurde nicht selten mit strategisch geschickt angelegten Formen der in- tellektuellen Subversion oder des geistigen Wider- standes reagiert. Diese mehr oder weniger deut- lichen und nachhaltigen Auseinandersetzungen zwi- schen „Macht“ und „Geist“ zogen sich rund zwei Jahr- zehnte hin. Dabei lassen sich im Rückblick durch- Parlamentsgebäude in Bukarest, das von 1984 bis 1989 nach den Vorstellungen gängig folgende intellek- des diktatorisch regierenden rumänischen Staatspräsidenten Nicolae Ceausescu tuelle Grundhaltungen bzw. errichtet wurde Typen von Intellektuellen ausmachen:

„Finstere Jahre“ der nationalkommunis- a) Intellektuelle, die den in Rumänien recht klei- tischen Spätdiktatur nen Zirkeln von Dissidenten angehörten, die in der Regel massiv verfolgt und zum Schweigen Bald nach der Niederschlagung des „Prager Früh- gebracht oder die zum Verlassen des Landes ge- lings“ wurden auch in Rumänien erneut erste An- zwungen wurden; zeichen eines kulturpolitischen „Klimawechsels“ er- kennbar. Spätestens 1971 wurde sodann eine mit b) Intellektuelle, die in ihren Arbeits- und Wir- massiven Reideologisie- kungsmöglichkeiten weitgehend eingeschränkt 1971 wurde eine mit rungsbestrebungen und waren, die zumeist streng beobachtet, kontrol- massiven Reideologi- zunehmenden Restrik- liert und überwacht wurden und die ihre Tätig- sierungsbestrebungen tionen und Repressio- keit allenfalls in marginalen Bereichen fortfüh- und zunehmenden nen gegenüber den In- ren konnten; Restriktionen und Re- tellektuellen verbundene pressionen gegenüber „Kulturrevolution“ ein- c) Intellektuelle, die für sich den Weg eines konse- den Intellektuellen geleitet. Ohne dass die- quenten Rückzugs aus der Aktualität, den Aus- verbundene „Kulturre- se Weichenstellung zu- weg einer „Weltflucht“19 oder inneren Emigra- volution“ eingeleitet nächst eine unmittelbar tion, wählten; durchschlagende Wir- kung gehabt hätte, setzte sich ihre das kreative Geistesleben paralysierende Tendenz in den fol- genden Jahren doch allmählich und zunehmend, wenn auch nicht vollständig, durch. 18 Siehe dazu auch: Anton Sterbling: Von den Schwierigkeiten des Denkens ohne Verbot. Die Rolle des Intellektuellen, der in- Die Reideologisierung der Kultur und der Wissen- tellektuelle Aufbruch und die nahezu unvermeidbaren geisti- schaften in Rumänien ab 1971 hat natürlich nicht gen Konfusionen in Osteuropa, in: Neue Literatur. Zeitschrift sofort gewirkt und ist vielfach auch auf erheblichen für Querverbindungen, Heft 4 (Neue Folge), Bukarest 1993 Widerstand gestoßen. Die soziologische Lehre ist (S. 55 – 71). beispielsweise erst 1977 wieder eingestellt worden, 19 Siehe auch: Anton Sterbling: Ambivalenzen der Moderne, bestimmte sozialwissenschaftliche Publikationen Anliegen der Kunst und künstlerische Weltflucht, in: Anton oder Übersetzungen konnten – oft zum Erstaunen Sterbling: Zumutungen der Moderne. Kultursoziologische der Autoren selbst – teilweise auch noch später er- Analysen, Hamburg 2007 (S. 91 – 112), insb. S. 109 ff.

191 SCHWERPUNKT

d) Intellektuelle, die sich so weit wie nötig anpass- Die politischen Verhält- Die politischen Verhält- ten, um ihre Tätigkeit irgendwie fortsetzen zu nisse und das offizielle nisse und das offizielle können, die aber zugleich so weit wie möglich Kultur- und Geistesle- Kultur- und Geistesleben in (innerer) Distanz zur kommunistischen Ideo- ben in Rumänien nah- in Rumänien nahmen – logie und zum Herrschaftssystem standen; men immer deutlicher insbesondere seit Mitte die Züge einer neostali- der 1980er Jahre, als Per- e) Intellektuelle, die mehr oder weniger überzeugte nistischen Diktatur an sonenkult21 und Willkür- Nationalkommunisten wurden, die ihre vormals herrschaft ihren Höhe- kritischen Funktionen aufgaben und die mithin punkt erreichten und auch eine immer stärkere zu willfährigen und zugleich reichlich mit Privile- internationale Isolation Rumäniens erfolgte – im- gien belohnten Apologeten des Systems wurden; mer deutlicher die Züge einer neostalinistischen Diktatur an, so dass – zumindest von außen be- f) Intellektuelle, die zunächst bzw. zeitweilig über- trachtet - das Land dem in historischen Mythen zeugte Kommunisten waren, die aber entweder schwelgenden und in starrer Selbstisolation ver- in Ungnade fielen oder selbst in kritische harrenden Albanien immer ähnlicher erschien.22 Distanz zum Herrschaftssystem und dessen Ide- Ein erheblicher Unterschied zu Albanien lag aller- ologie traten; dings darin, dass der engstirnigen, nicht zuletzt von nationalistischen Verblendungen bestimmten g) Intellektuelle, die im Hinblick auf ihr geistiges Reideologisierungsphase in Rumänien eine doch Format häufig eigentlich nur „Pseudointellek- zumindest einige Jahre andauernde „Tauwetterpe- tuelle“ waren, die als überzeugte Kommunisten riode“ vorausging, die bestimmte Alters- und nicht oder aber als grenzenlose Opportunisten maß- zuletzt Intellektuellen-, Künstler- und Wissenschaft- geblich an der Verbreitung der ideologischen lerkohorten mehr oder weniger stark prägte und Dogmen mitwirkten und an der ideologischen die ausgesprochen liberale und emanzipatorische Gleichschaltung und an der Gesinnungskontrol- und nicht zuletzt „westlich“ orientierte Züge auf- le und Denunziation anderer Intellektueller wies, wobei dies natürlich vielfältige Nachwirkun- maßgeblich beteiligt waren. gen hatte und untergründige Spuren hinterließ.

Es handelt sich hierbei – wie sicherlich leicht er- kennbar ist – um „idealtypisch“ erfasste intellek- 1968 und der demokratische Neuanfang und tuelle Grundhaltungen, die im Laufe der Zeit die Europäisierung Rumäniens durchaus eine sich verändernde Gewichtung und mithin auch ein unterschiedliches Mischverhältnis Die in der „Tauwetterperiode“ geprägten Orien- aufwiesen, zwischen denen einzelne Personen tierungen, Erwartungen und Hoffnungen, die sich auch mitunter wechselten und die im national- im Jahr 1968 einer Verwirklichung schon so nahe kommunistisch ausgerichteten Neostalinismus der sahen, dann aber durch eine rund zwei Jahrzehnte Ceausescu-Diktatur20 übrigens in ähnlicher Weise dauernde Zeit der Diktatur verdrängt wurden, be- wie bereits im Stalinismus in Erscheinung traten. hielten natürlich eine gewisse Relevanz und wirk- Dennoch bleibt festzuhalten, dass es nach der ten sich zumindest in zwei Hinsichten auch maß- „Tauwetterperiode“ – bei allen Repressionen und geblich auf den Niedergang der kommunistischen Rückschlägen – zu keiner vollständigen Gleichschal- Herrschaft und auf den demokratischen Neuan- tung des Geisteslebens mehr kommen konnte, wie- fang aus: als treibende Motive in den politischen wohl dies vordergründig so gewirkt haben mag. Herrschafts- und sozialen Interessenauseinander- setzungen sowie als fortbestehende intellektuelle 20 Bezogen auf diesen Zeitraum spätkommunistischer Gewalt- Leitvorstellungen einer freien und demokratischen herrschaft unterscheidet Alexandru Zub bei den Historikern Gesellschaft. folgende Grundhaltungen: radikale Ablehnung als Provokation der Machthaber; Rückzug auf einen Standpunkt des strengen 21 Siehe auch: Anton Sterbling: Das Wesen und die Schwächen Professionalismus als eine eher langfristig wirksame Wider- der Diktatur – nachgelesen in den Romanen von Herta Müller, standsform; eine Mischung von professioneller Arbeit mit in: Thomas Kron/Uwe Schimank (Hrsg.): Die Gesellschaft der Li- einem gewissen politischen Engagement, das zwar nur formal teratur, Opladen 2004 (S. 165 – 200). verstanden wurde, aber doch weitreichende Folgen hatte; die of- 22 Zum Personenkult siehe auch: Anneli Ute Gabanyi: The Ce- fene Unterstützung des Regimes; eine direkte Beteiligung an der ausescu Cult. Propaganda and Power Policy in Communist Ro- Konstruktion des Diskurses (der Ideologie) des kommunistischen mania, 2000; Daniel Ursprung: Herrschaftslegitima- Herrschaftssystems. Siehe: Alexandru Zub: Orizont închis. Istorio- tion zwischen Tradition und Innovation. Repräsentation und grafia româna sub dictatura (Geschlossener Horizont. Die rumä- Inszenierung von Herrschaft in der rumänischen Geschichte, nische Historiographie unter der Diktatur), Iasi 2000, insb. S. 77. Kronstadt/Brasov 2007.

192 SCHWERPUNKT

© Robert Babiak/pixelio.de kontext und Bildungspro- zess sowie der soziale und kulturelle Erfahrungshin- tergrund der in den 1960er Jahren und danach akade- misch ausgebildeten Perso- nen war immer weniger dazu angetan, sie für die kommunistische Ideologie zu begeistern. Soweit bei ihnen eine Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei bestand, waren da- für kaum Gründe der ide- ologischen Überzeugung, sondern vor allem oppor- Die rumänische Wirtschaftskrise führte zu einem ständig sinkenden Lebensstandard tunistische Motive aus- Hier: Dorfszene in Siebenbürgen schlaggebend, zumal die Parteimitgliedschaft für viele Positionen und Auf- Mehr noch als in anderen ost- und südosteuropäi- stiegsprozesse eine notwendige Voraussetzung schen Gesellschaften hat die in den 1980er Jahren darstellte. Zugleich waren diese bildungsprivile- in Rumänien rasant fortschreitende Wirtschaftskri- gierten Kreise – nicht zuletzt auf Grund ihrer kultu- se immer ungünstigere Verteilungsspielräume und rellen Kompetenzen und Wissensvoraussetzungen einen ständig sinkenden Lebensstandard auch für – für die durch die Massenmedien vermittelten privilegierte und bildungsprivilegierte Bevölke- westlichen Kultureinflüs- rungskreise herbeigeführt.23 Vor allem bei den Die bildungsprivilegier- se, für subversiv wirkende Hochschulabsolventenkohorten, die ihre wissen- ten Kreise waren für die Informationen, die sich schaftliche Sozialisation in der „Tauwetterperiode“ westlichen Kulturein- aus persönlichen oder erfuhren, ergaben sich immer massivere Erwar- flüsse, die Reize und offiziellen Kontakten er- tungsenttäuschungen, nicht nur was die zuneh- Freiheiten der west- gaben, für die vielfälti- mende Repression, son- lichen Konsum- und gen Reize und Freiheiten Situationsdeutungen dern auch, was die Lebenswelt und auch der westlichen Konsum- und Interessenbestre- materiellen Lebensbedin- für die politischen und Lebenswelt – und bungen bildungsprivi- gungen und Wohlstands- Ideen des Westens teilweise zumindest auch legierter Bevölkerungs- erwartungen betraf. Dies empfänglich für die politischen Ideen kreise liefen auf eine führte zu Situationsdeu- des Westens – durchaus immer größere Distanz tungen und Interessen- empfänglich. Bei ihnen lassen sich – zumeist diffus zum politischen Herr- bestrebungen, die auf und widersprüchlich in Erscheinung tretend – wich- schaftssystem hinaus eine immer größere Dis- tige handlungsrelevante Umorientierungen kon- tanz zum politischen statieren, die man wohl am zutreffendsten als Herrschaftssystem hin- „partielle“ Verwestlichung bezeichnen kann. Diese ausliefen und die zunehmend auf einen personel- Umorientierungen in den Grundhaltungen und Ein- len, institutionellen und letztlich auch auf den po- stellungen stellen einerseits einen Bruch mit tradi- litischen Wandel ausgerichtet waren. Hinzu kamen tionalen Wertüberzeugungen dar, ebenso charak- die schon angesprochenen westlichen Einflüsse, teristisch ist für sie aber natürlich auch die die diese bildungsprivilegierten Gruppen am ehe- Unvereinbarkeit mit der kommunistischen Ideologie. sten erreichten und im Hinblick auf ihre Weltan- schauung, ihr Denken, ihren Lebensstil und nicht zu- Meine These lautet also: Zu der wachsenden Mas- letzt ihre Lebensqualitäts- und Konsumerwartungen senunzufriedenheit, die mit der fortschreitenden häufig deutlich geprägt haben. Der Sozialisations- Wirtschaftskrise zunahm, und der geringen Legiti- mität der kommunistischen Herrschaft kam die 23 Siehe zu Folgendem auch: Anton Sterbling: Zum Nieder- wachsende Unzufriedenheit und die politische Ver- gang der kommunistischen Herrschaft in Südosteuropa. Eine Er- änderungsbereitschaft immer größerer Teile der klärungsskizze, in: Anton Sterbling: Gegen die Macht der Illusio- privilegierten Bevölkerung, insbesondere der Intel- nen. Zu einem Europa im Wandel, Hamburg 2004 (S. 193 – 214). ligenz, hinzu. Der politische Wandel ist zwar von den

193 SCHWERPUNKT

Massenprotesten ausgegangen, aber zugleich von mokratischen Leitwerten ausgerichtete intellektu- privilegierten und dem Herrschaftssystem nahe- elle Denkweisen und Grundüberzeugungen. Diese stehenden Personenkreisen innerhalb und außer- haben in der Zeit der „Tauwetterperiode“ und ins- halb der Kommunisti- besondere im denkwürdigen Jahr 1968 durch die da- Der politische Wandel schen Partei, die über mals folgenreichen Öffnungsprozesse im Sinne einer ging zwar von den entsprechende politische entschiedenen „Westorientierung“ zumindest bei Massenprotesten aus, Handlungskompetenzen einzelnen Intellektuellen oder Intellektuellengrup- wurde aber zugleich und teilweise auch über pen eine unauslöschliche Prägung erfahren. Selbst von privilegierten und beachtlichen Einfluss auf wenn solche Ideen und Überzeugungen im rumä- dem Herrschaftssystem sensible Bereiche des nischen Fall zeitweilig nur kleine Trägergruppen nahestehenden Perso- Machtapparates verfüg- fanden, darf deren exemplarische Wirkung und nenkreisen in seinem ten, in seinem Ablauf nachhaltige Wirksamkeit gerade in „historischen Ablauf gesteuert weitgehend gesteuert Schlüsselsituationen“ keineswegs unterschätzt wer- worden.24 Die Massenun- den, ebenso wenig wie ihre Bedeutung in den Eu- zufriedenheit und deren punktuelle politische Mo- ropäisierungsprozessen unterschätzt werden sollte. bilisierbarkeit, die schwindende Legitimität des nationalkommunistischen Herrschaftssystems wie Diese Vorgänge haben gegenwärtig in Rumänien, natürlich auch der Wandel in der Sowjetunion und mit der Mitgliedschaft dieses Landes in der Europä- in anderen osteuropäischen Gesellschaften waren ischen Union, zu einem ohne Zweifel erfolgreichen dabei allerdings wichtige und unabdingbare Rand- und hoffnungsvollen Zwischenergebnis geführt; bedingungen. sie blieben allerdings lange Zeit im Spannungsfeld pro- und antiwestlicher Grundhaltungen und Dis- Der Veränderungs- und Reformwille einflussrei- kurse25 tief umstritten – und sind dies wohl teil- cher, dem Herrschaftssystem mehr oder weniger weise auch heute noch. Daher bleiben gleichsam nahestehender privilegierter und bildungsprivile- beide Seiten der rumänischen Erfahrungen des gierter Personenkreise war zunächst und vor allem Jahres 1968 auch für die Zukunft relevant: Einer- an deren Eigeninteressen orientiert. Denkt man an seits jene Hoffnungen, die mit Öffnung und West- die Alterskohorten, um die es sich dabei handelt, orientierung verbunden waren und sind und die kann man allerdings auch konstatieren, dass diese gegenwärtig zur demokratischen Konsolidierung Eigeninteressen eine nachhaltige Prägung durch und hoffentlich auch zu allmählichen breitenwirk- die Erfahrungszusammenhänge der „Tauwetterpe- samen Wohlstandssteigerungen führen; anderer- riode“ Ende der 1960er Jahre erfahren haben. seits die Erfahrungen des Zusammenbruchs solcher weitgreifenden Hoffnungen, die nach 1968 alsbald Ging es hierbei eher um nichtintendierte Folgewir- durch eine nationalkommunistische Diktatur zer- kungen sozialstruktureller, politischer und kultu- stört wurden, deren Nachwirkungen und Projektio- reller Wandlungsprozesse der 1960er Jahre, die sich nen auch heute noch in Gestalt einer dieses Regime 1989/1990 in vorwiegend interessengeleiteten verklärenden Nostalgie26 wie auch eines unverkenn- politischen Herrschafts- bar antiwestlich und vielfach auch extrem nationa- Die an demokratischen auseinandersetzungen listisch inspirierten Populismus erscheinen. Leitwerten ausgerich- zwischen zumeist privi- teten intellektuellen legierten Bevölkerungs- Prof. Dr. Anton Sterbling lehrt Soziologie und Denkweisen und kreisen Ausdruck ver- Pädagogik an der Hochschule der Sächsischen Grundüberzeugungen schafften, so kommen Polizei in Rothenburg und ist Mitherausgeber haben zumindest bei die Ideen, Hoffnungen der Reihe „Beiträge zur Osteuropaforschung“ einzelnen Intellektuel- und Bestrebungen des Adresse über die Hochschule: Friedensstraße len oder Intellektuel- Jahres 1968 in der Zeit 120, 02929 Rothenburg/OL lengruppen eine un- des politischen Umbruchs auslöschliche Prägung in Rumänien natürlich E-Mail: [email protected] erfahren noch in einer anderen, unmittelbareren Weise 25 Siehe auch: Anton Sterbling: Pro- und antiwestliche Diskurse zum Tragen – nämlich als konsequent an Freiheits- in Rumänien. Anmerkungen zur Gegenwart und zur Zwischen- bedürfnissen, Emanzipationsvorstellungen und de- kriegszeit, in: Anton Sterbling: Zumutungen der Moderne. Kul- tursoziologische Analysen, Hamburg 2007 (S. 133 – 152). 24 Siehe dazu eingehender: Anneli Ute Gabanyi: Die unvoll- 26 Siehe: Ulf Brunnbauer/Stefan Troebst (Hrsg.): Zwischen Am- endete Revolution. Rumänien zwischen Diktatur und Demokra- nesie und Nostalgie. Die Erinnerung an den Kommunismus in tie, München-Zürich 1990. Südosteuropa, Köln-Wien-Weimar 2007.

194 SCHWERPUNKT

Zur historischen Bedeutung des „Prager Frühlings“ 1968 Ein sozialistischer Reformversuch im sowjetischen Machtbereich Wolfram Tschiche

Der Versuch, 1968 in der damaligen Tschechoslo- Als dann am 21. August 1968 die „Bruderstaaten“ wakei den Kommunismus sowjetischen Typs zu re- mit Panzern den „Prager Frühling“ niederwalzten, formieren und zu demokratisieren, wurde auch in zerstoben nicht nur meine damaligen Hoffungen anderen Staaten des Warschauer Paktes von Men- auf eine Demokratisierung der sozialistischen Staa- schen dort mit Sympathie beobachtet. Wolfram ten, vielmehr hatten diese in meinen Augen jegli- Tschiche, der die Ereignisse als Bewohner der DDR che moralische und politische Legitimität verloren. verfolgte, beschreibt die Phasen des Prager Früh- Mein Vater protestierte öffentlich gegen die Inva- lings und seines Endes und versucht, diesen Re- sion und ich schrieb meinen ersten Protestbrief an formversuch innerhalb des sowjetischen Macht- die DDR-Führung. Staatliche Repressalien setzten bereichs aus der heutigen Perspektive historisch ein. Damit war mein Weg in die spätere sogenann- einzuordnen. te „Friedens- und Bürgerrechtsbewegung“ der DDR vorgezeichnet. Weltpolitik am Familientisch: Zwischen Hoffnungen und Befürchtungen Pauer hat zutreffend darauf aufmerksam gemacht, dass der 21. August 1968 das Scheitern des ersten Ich kann mich gut erinnern: In der ersten Hälfte Versuchs einer umfassenden friedlichen Systemre- des Jahres 1968 spielten sich am häuslichen Fami- form im damaligen Ostblock markiert. Und er fügt lientisch – es war der eines evangelischen Pfarrhau- hinzu, dass am 21. August 1991 der letzte gewalt- ses – Debatten um die Erfolgsaussichten eines „So- same Versuch, den durch die „Perestrojka“ einge- zialismus mit menschlichem Antlitz“ ab, der die leiteten Systemwandel und den Zerfall des sowjeti- Chance zu haben schien, sich in der CSSR unter der schen Machtbereichs zu stoppen, gescheitert sei. Führung der KPC durchzusetzen. Es war eine De- Das zweite Datum verweise auf das Scheitern künf- batte, die zugleich von Hoffnungen und Befürch- tiger Möglichkeiten, den Systemwandel mit einer tungen geprägt war. gewaltsamen Restauration aufzuhalten. Das Ende des Putschversuches bedeute nicht nur den Zerfall Die Hoffnungen bezogen sich auf das Gelingen der des sowjetischen Imperiums, sondern auch das En- reformsozialistischen Schritte im Nachbarland und de aller Versuche, das bestehende realsozialistische grundsätzlich auf die Versöhnung von sozialisti- System zu reformieren.1 scher und demokratischer Tradition. Wäre es sogar denkbar, dass sich das reformsozialistische Modell auf alle Staaten des sowjetischen Machtbereiches Vorgeschichte, Verlauf und Akteure des „Pra- ausdehnen ließe und damit der gesamten Welt – ger Frühlings“ 1968 auch der kapitalistisch-bürgerlichen – eine Alterna- tive zum Bestehenden böte? Bevor wir auf die Auseinandersetzung um das Erbe des „Prager Frühlings“ eingehen, wollen wir rück- Zugleich stellten sich massive Befürchtungen ein: blickend auf die Vorgeschichte, den Verlauf und Niemals würden die Exponenten des „realen Sozia- die wichtigen Akteure dieses Versuchs eines „Sozi- lismus“ dulden, dass sich der sozialistische Reform- alismus mit menschlichem Antlitz“ in der CSSR ver- versuch in der CSSR durchsetzt, sich sogar als weisen.2 gefährlicher politischer Virus über die tschechoslo- wakischen Grenzen hinaus ausbreitet, um somit Das Jahr 1968 war ein Jahr weltweiter Rebellionen, die sozialistischen Nachbarländer zu infizieren. der kulturellen und politischen Innovationen in der westlichen und östlichen Hemisphäre. In diesem In den Augen der kommunistischen Führungsriege Weltzusammenhang ereignete sich 1968 der „Pra- des sowjetischen Machtbereichs fand in der CSSR in ger Frühling“ in der CSSR. der ersten Hälfte des Wer in dieser Weise Jahres 1968 schlicht eine Innerhalb des Ostblocks sehnte sich nicht nur in der die Machtfrage stellte, Konterrevolution statt, Tschechoslowakei das Volk nach Freiheit. Anfang unterminierte das womit die Machtfrage Machtmonopol der gestellt war. Uns war be- kommunistischen wusst: Wer in dieser 1 vgl. Jan Pauer: Prag 1968. Der Einmarsch des Warschauer Pak- Parteien und deren Weise die Machtfrage tes. Hintergründe – Planung – Durchführung, Bremen 1995 Führungen stellte, unterminierte das 2 Bisher umfangreichste Dokumentation und Kommentierung: Machtmonopol der kom- Stefan Karner/Natalja Tomilina/Alexander Tschubarjan u. a. munistischen Parteien und deren Führungen. Somit (Hrsg.): Prager Frühling. Das internationale Krisenjahr 1968. erschien ein gewaltsames Vorgehen unausweichlich. Bd. 1: Beiträge und Bd. 2: Dokumente, Köln, Weimar, Wien 2008

195 SCHWERPUNKT

März 1968 rebellierten in Polen Studenten und Ar- tierung ausrichten. Die wirtschaftlichen Planungen beiter. In Warschau und Krakau kam es zu schwe- wurden stärker in die Betriebe selbst verlagert und ren Zusammenstößen zwischen demonstrierenden Handelsverträge abgeschlossen. Ein gewisses Maß Studenten und der Polizei. Im Gegensatz zur Tsche- an Marktmechanismen – „Ware-Geld-Beziehung“ choslowakei wurde das Aufbegehren gegen die – wurde wirksam. kommunistische Herrschaft brutal im Keim erstickt. Von der KPC wurde noch eine zweite Kommission In der langen Reihe der Krisen, Aufstände und eingesetzt, die sich mit der Reform des politischen unterdrückten Reformversuche in den Ländern des Systems befasste und von dem ZK-Sekretär Zdenek Sowjetimperiums nahm der sog. „Prager Frühling“ Mlynar geleitet wurde. einen besonderen Platz Erst das Zusammen- Erst das Zusammengehen Im Fall des tschechoslo- ein. Anders als 1956 in gehen von Wirtschafts- von Wirtschaftsreformen wakischen Reformpro- Ungarn, wo ein nationa- reformen und Umbau und Umbau des politi- zesses 1968 handelte ler Aufstand das kom- des politischen Systems schen Systems, welches es sich um den ersten munistische Regime für schuf die Brisanz der auf die Stärkung der Versuch, von oben eine kurze Zeit hinwegfegte, Reformkonzeption staatlichen Institutionen friedliche Systemre- und im Unterschied zur hinauslief, schuf die Bri- form zu erreichen polnischen „Solidarnosc“- sanz der Reformkonzeption, die Sik mit den Wor- Bewegung 1980/81, die ten charakterisierte: „Unter den heutigen Bedin- sich als systemsprengende Opposition entwickelte, gungen ist es nicht möglich und auch nicht nötig, handelte es sich im Fall des tschechoslowakischen dass die Partei den gesamten Macht- und Füh- Reformprozesses 1968 um den ersten Versuch, von rungsapparat im Detail lenkt und kontrolliert“.4 oben eine friedliche Systemreform zu erreichen. Befürworter einer freieren Gesellschaftsordnung Um die tschechoslowakische Entwicklung in der er- war vor allem eine Reihe von Schriftstellern, die sten Jahreshälfte 1968 zu verstehen, muss man wis- mehr als nur eine Fortführung der Entstalinisie- sen, dass die KPC mit ihrem Reformversuch auf ihre rung verlangten. Auf dem 4. Tschechoslowakischen Programmatik von 1945, die auf einen eigenstän- Kongress des Schriftstellerverbandes im Juni 1967 digen Weg zum Sozialismus zielte, zurückgriff. Im kritisierten sie – u. a. Vaclav Havel und Pavel Ko- Gegensatz zu den anderen kommunistischen Par- hout – die wirtschaftlichen, politischen und sozia- teien des Ostblocks kam die KPC 1946 über freie len Zustände im Land und griffen die Parteifüh- Wahlen an die Macht, um sie allerdings 1948 ganz rung der KPC offen an. für sich zu okkupieren und einen poststalinisti- schen Staat einzurichten. Solche kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungen erregten das Misstrauen Moskaus. Zur unmittelbaren Vorgeschichte des „Prager Früh- Im Dezember 1967 unternahm der sowjetische Par- lings“ gehörten auch der Tod Stalins und der spä- teichef Leonid Breschnew einen überraschenden ter folgende Beginn der Entstalinisierung. Und in Besuch in Prag. Dieser markierte das endgültige diesem Zusammenhang sei an Chruschtschows Ge- Ende der Unterstützung des Kremls für Novotny, heimrede auf dem XX. Parteitag 1956 erinnert, der das Amt des Parteichefs und Staatspräsidenten welche in der Tschechoslowakei sowie in den ande- innehatte, und der 1964 als einziger Ostblock- ren „Volksdemokratien“ zu einer Verurteilung des Staatschef gegenüber Chruschtschows Absetzung stalinistischen Personenkultes und zur Erschütte- durch Breschnew eine kritische Haltung eingenom- rung der kommunistischen Regime führte. men hatte.

1964 wurde Ota Sik als Leiter einer Regierungs- Eine wesentliche Rolle spielte auch der Widerstand kommission für wirtschaftliche Reformen einge- Novotnys gegen die Stationierung sowjetischer setzt. Seine wirtschaftspolitischen Vorstellungen Truppen, der zu einer Verschlechterung der tsche- wurden durch den Begriff der „sozialistischen choslowakisch-sowjetischen Beziehungen führte. Marktwirtschaft“ bekannt.3 Zwar sollten die Pro- Die von Breschnew bereits 1965/66 auf tschechos- duktionsmittel im Staatseigentum bleiben, jedoch lowakischem Boden geforderte Stationierung so- sollte sich die Wirtschaft stärker auf Absatzorien-

4 Zdenek Hejzlar: Reformkommunismus. Zur Geschichte der 3 vgl. Ota Sik: Prager Frühlingserwachen. Erinnerungen, Her- kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, Köln/Frank- ford 1988 furt/M. 1976, S. 146

196 SCHWERPUNKT

wjetischer Truppen wurde von ihm abgelehnt. In der Sowjetunion und den Verbündeten konzen- diesem Zusammenhang begann unter den sowjeti- triert.5 schen Militärs eine Diskussion über die sicherheits- politische Lücke, welche die Tschechoslowakei in Somit wurde die erste Phase des „Prager Frühlings“ der Frontlinie des Warschauer Paktes darstellte. mit einem Paukenschlag eröffnet: Am 5. Januar 1968 musste Novotny von seinem Posten als erster Einer der zentralen innenpolitischen Konflikte der Sekretär der KPC zurücktreten. Ihm folgte der slo- CSSR, der 1968 zum Ausbruch kam, war die Unzu- wakische Parteichef Alexander Dubcek nach. Der friedenheit der Slowaken mit dem Prager, sprich Wechsel an der Parteispitze kennzeichnete den Be- tschechischen Zentralismus. Die Slowaken verlang- ginn des „Prager Frühlings“ und signalisierte einen ten eine Föderation und eine angemessene Beteili- Ausgleich zwischen Tschechen und Slowaken. Zuvor gung an der Führung des Landes. waren massive Proteste gegen den Prager Zentra- lismus und die Beschneidung der Volkgruppenrech- Was wir gemeinhin als „Prager Frühling“ bezeich- te durch Novotny laut geworden. Von Beginn an nen, spielte sich in den wenigen Monaten zwi- versuchte Dubcek, seine Vorstellung eines „Sozia- schen Januar und August 1968 ab. Dessen Ablauf lismus mit menschlichem Antlitz“ durchzusetzen, hat Mlynar in drei Phasen und brüskierte bereits Anfang März 1968 den Was wir gemeinhin als eingeteilt, wobei in der Kreml, indem er die Einladung einer Militärdelega- „Prager Frühling“ ersten Phase zwischen tion nach Moskau ablehnte. Seit dem Dresdener bezeichnen, spielte Januar und März Strei- Treffen im März 1968 – ohne die tschechoslowaki- sich in den wenigen tigkeiten um Sekretärs- sche Führung – kam es zur Bildung einer Anti-Re- Monaten zwischen und Ministerposten aus- form-Allianz innerhalb des Warschauer Paktes und Januar und August getragen worden seien. zur Charakterisierung der tschechoslowakischen 1968 ab Während der zweiten Entwicklung als „Konterrevolution“. Trotzdem Phase zwischen März nahm das Plenum der KPC Anfang April 1968 (auf und Juni sei es zur Veröffentlichung des Aktions- der ZK-Tagung vom 01.04. bis 05.04. verabschiedet) programms der KPC und Erprobung einiger neuer das sog. „Aktionsprogramm“ an.6 Damit hatte die Mechanismen des politischen Systems gekommen. KPC weitgehend auf ihr Machtmonopol verzichtet Bis zur Intervention der Warschauer Vertragsstaa- und den Weg der Umsetzung eines föderativen ten sei lediglich die Abschaffung der Zensur und Konzepts für die Tschechoslowakei beschritten. des Rehabilitierungsgesetzes verabschiedet wor- den. Schließlich habe sich die Führung in der drit- Nach Maßgabe der Reformkommunisten unter Füh- ten und letzten Phase zwischen Juni und August rung Dubceks sollte die radikale Trennung der auf die Abwendung des drohenden Konflikts mit Macht- und Führungsebene von der Bevölkerung durch neue Möglichkeiten der Artikulation und Teilha- be gesellschaftlicher Inter- essengruppen ersetzt, das niedrige Niveau der staats- gelenkten Wirtschaft durch

5 vgl. Zdenek Mlynar: „Prager Frühling 1968 und die gegenwär- tige Krise politischer Systeme so- wjetischen Typs“, in: Ders. (Hrsg.): Der „Prager Frühling“. Ein wissen- schaftliches Symposium, Köln 1983, S. 17 - 67; vgl. Ders.: Nacht- frost. Erfahrungen auf dem Weg vom realen zum menschlichen So- zialismus, Frankfurt/M. 1978 6 „Aktionsprogramm“ (Auszüge), in: Dieter Segert: Der Prager Früh- Quelle: Wikipedia/Fotograf: Kelovy ling. Gespräche über eine europäi- Grab von Alexander Dubcek, Symbolfigur des Prager Frühlings sche Erfahrung, Wien 2008, 26ff.

197 SCHWERPUNKT

die Einführung marktwirtschaftlicher Elemente ge- Mit diesem Reformprojekt rief er seine Feinde auf hoben, die Autonomie von Kultur und Wissen- den Plan. Der Druck entfaltete sich auf zwei Seiten: schaft garantiert, die Außenpolitik verselbständigt Von den Hardlinern des Kreml und den KP-Chefs und auf Kooperation statt auf Konfrontation mit Walter Ulbricht und Wladyslaw Gomulka einerseits dem Westen umgestellt werden. Mit der Abschaf- und von den restaurativen, orthodoxen Kräften in fung der Zensur und der Ablehnung von Gewalt der CSSR andererseits. Letztere konnten sich aber sowie politischer Verfol- nicht gegen die Reformer in der KPC durchsetzen.8 Die starke Solidarisie- gung als legitimes Mittel rung weiter Teile der der Innenpolitik ermög- Die Reformbemühungen der neuen KPC-Führung Bevölkerung fand ihren lichten die Reformkom- hatten nicht nur die Schleusentore für die Kommu- gemeinsamen Ausdruck munisten die Entstehung nistische Partei geöffnet. Es vollzog sich die Grün- in der Ablehnung des einer unabhängigen Öf- dung neuer Vereine, wie der Klub „K-231“ (nach bestehenden real- fentlichkeit und damit einem Strafgesetzartikel) und „KAN“ („Klub enga- sozialistischen Systems die Entfaltung einer zi- gierter Parteiloser“), die zum Sammelbecken von bei gleichzeitiger vilen Gesellschaft. Die- Reformern außerhalb der Partei wurden; Dis- Bejahung demokra- ser politische Reform- kussionen zur Neugründung der Sozialdemokrati- tischer und prosozialis- prozess führte zu einer schen Partei setzten ein, tischer Orientierung starken Solidarisierung Es vollzog sich ein Auf- und es vollzog sich ein weiter Teile der Bevöl- bruch der katholischen Aufbruch der katholi- kerung. Sie fand ihren gemeinsamen Ausdruck in Kirche nach Jahren der schen Kirche nach Jah- der Ablehnung des bestehenden realsozialistischen Unterdrückung ren der Unterdrückung. Systems bei gleichzeitiger Bejahung demokrati- Weiterhin gab es be- scher und prosozialistischer Orientierung. Damit rechtigte Hoffnungen der Slowaken auf Anerken- wuchs den tschechoslowakischen Reformkommu- nung ihrer nationalen Selbständigkeit im Rahmen nisten eine starke Legitimität zu. einer Föderation. Schließlich hofften viele Tsche- choslowaken, auf diesem Weg der politischen und Mit der Verabschiedung des „Aktionsprogramms“ wirtschaftlichen Umklammerung des Moskauer auf dem KPC-Plenum (vom 01.04. - 05.04.1968) ver- Blocks zu entkommen. band sich die Wahl einer neuen Führung, die 15 der 19 Minister in die neue Regierung unter Ol- Ein Kulminationspunkt des „Prager Frühlings“ war drich Cernik berief. Unter ihnen etwa der Innenmi- der 27. Juni 1968, als der Schriftsteller Ludvik Vacu- nister Josef Pavel, der die Neubesetzungen im lik und weitere 67 Intellektuelle, Schriftsteller und tschechoslowakischen Geheimdienst nicht mehr Künstler das sog. „Manifest der 2000 Worte“ ver- mit der Moskauer KGB-Zentrale abstimmte, was bis öffentlichten: Eine Abrechnung mit den 20 Jahren dahin Usus gewesen war. Zudem rückten Frantisek KP-Herrschaft in der CSSR. In dem Manifest wurde Kriegel und Josef Smrkovsky in die erste Reihe der u. a. die Auffassung geäußert, dass eine weitere Reformer auf. Schon zuvor, im März 1968, war der Demokratisierung nur außerhalb der KPC gesichert General Ludvig Svoboda zum neuen Staatspräsi- werden könne, womit der Sozialismus als Gesell- denten ernannt worden, der sofort über 1000 poli- schaftsform überhaupt in Frage gestellt wurde.9 tische Gefangene amnestierte. Bei einer hastig ein- berufenen ZK-Sitzung in Moskau zur Lage in der In Moskau brachte das Manifest das Fass zum Über- CSSR kam die Sowjetführung am 10. April 1968 zu laufen. Breschnew verlangte von Dubcek soforti- folgender Sprachregelung: „Wir werden die Tsche- ges staatliches Eingreifen, was dieser nicht veran- choslowakei nicht aufgeben!“ lasste; denn die Masse der Bevölkerung nahm das Manifest begeistert an und unterschrieb es. Dubcek, ursprünglich geschult in den sowjetischen Partei- und Kaderschmieden, hatte sich weitgehend Vor allem in Ostberlin erweckte der tschechoslowa- von den Doktrinen gelöst und von Beginn an ver- kische Reformprozess Missfallen. Schon im März sucht, einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ 1968 hatte Ulbricht den „Prager Frühling“ als Kon- zu verwirklichen. Obwohl er den Sozialismus für die terrevolution eingestuft. Vor allem von Breschnew beste Gesellschaftsform hielt, hatte er sich weit von dem sowjetischen Modell entfernt.7 8 Sichtweise eines Reformgegners; vgl. Vasil Bilak: Wir riefen Moskau zu Hilfe. Der „Prager Frühling“ aus der Sicht eines Be- teiligten, Berlin 2006 7 vgl. Alexander Dubcek: Leben für die Freiheit, München 1993 9 vgl. Dieter Segert: Der Prager Frühling, S. 35 - 41

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selbst und durch Gomulka sowie Theodor Zivkov te unterzeichnet. Nur Kriegel verweigerte seine wurde diese Einschätzung geteilt. Fortan galt sie Unterschrift: Damit wurde der Grundstein für die als Linie der „Warschauer Fünf“.10 Zurücknahme der Reformen, aller Beschlüsse und Personalentscheidungen, die während der Vorbe- Als dann in der Nacht vom 20. zum 21. August 1968 reitungen für den XIV. Parteitag der KPC getroffen die Truppen der „Bruderstaaten“ in die CSSR ein- worden waren, gelegt. Auf diesem außerordent- fielen und das Land besetzten, kam es zu weit lichen Parteitag am 22. August 1968 in Vysocany verbreitetem passiven Widerstand sowohl auf der (Vorort von Prag) wurde der inzwischen verhaftete institutionellen Ebene als auch durch die Bevölke- Dubcek noch in seinem Amt bestätigt und mehr- rung. Darüber hinaus gelang es der Sowjetunion heitlich beschlossen, nicht – wie offensichtlich beabsichtigt – eine Kolla- Das „Moskauer den Reformkurs fortzu- borationsregierung einzusetzen, obwohl es Kolla- Protokoll“ kam unter setzen. Während der borateure in der KPC gab. Somit verlief zwar die Bedingungen von Moskauer „Verhandlun- militärische Aktion nach Plan, aber politisch hatten Waffengewalt und Ein- gen“ sah sich die tsche- Moskau und seine Satelliten ein Desaster mit inter- schüchterung zustande chische Delegation un- nationalen Dimensionen angerichtet. ter sowjetischem Druck gezwungen, die dort gefassten Beschlüsse für ille- gal zu erklären. Dies bedeutete u. a. die Wieder- einführung der Zensur und Stationierung sowje- tischer Truppen. Das „Moskauer Protokoll“ kam also unter Bedingungen von Waffengewalt und Einschüchterung zustande. Die Sowjets ließen den Vorwurf der „Konterrevolution“ und die Behaup- tung eines angeblichen „Hilferufs“ fallen. Dubcek, Cernik und Smrkovsky blieben zunächst im Amt. Am 14. und 15. Oktober wurde der Vertrag über die Dauerstationierung sowjetischer Truppen be- siegelt.

Damit war der reformkommunistische Versuch ge- scheitert, mehr als nur eine kosmetische Verbesse- rung des Regimes zu erreichen. Die Verhältnisse wurden – bis zu Beginn Die politische Eiszeit der 70er Jahre gegen dauerte ca. 20 Jahre, Widerstand – „normali-

Quelle: Wikipedia bis im Jahr 1989 durch siert“, u. a. durch den die „Samtene Revolu- neuen starken Mann der Sozialismus ja, Okkupation nein. Reproduktion eines tion“ die kommunisti- CSSR, Gustav Husak, ei- Plakats aus Prag vom 21. August 1968 sche Allmacht hinweg- nem veritablen Verräter gefegt wurde an den Idealen des „Pra- Dubcek und fünf weitere führende Köpfe des „Pra- ger Frühling“. Schritt für ger Frühlings“ wurden nach Moskau verschleppt Schritt wurden die Reformer aus ihren Ämtern ver- und die Sowjets sahen sich gezwungen, mit ihm drängt, so z. B. wurde Dubcek am 17. April 1969 of- „Verhandlungen“( 23.08. - 26.08.1968) zu begin- fiziell von Husak als Parteivorsitzender abgelöst. Es nen.11 Am 26. August 1968 wurde das sog. „Mos- folgten massenhafte Parteirauswürfe, Berufsver- kauer Protokoll“12 auch von der tschechischen Sei- bote und Inhaftierungen. Die politische Eiszeit dauerte ca. 20 Jahre, bis im Jahr 1989 durch die „Samtene Revolution“ die kommunistische All- 10 Phasen der Entscheidungsfindung für die Invasion: vgl. Ste- macht hinweggefegt wurde. fan Karner/Natalja Tomilina/Alexander Tschubarjan u. a. (Hrsg.): Prager Frühling. Das internationale Krisenjahr 1968, Bd. 1: Bei- Es gibt eine Debatte um die Frage, ob sich führen- träge, S. 28 - 40 de Köpfe des „Prager Frühlings“, unter ihnen auch 11 Entsprechende Protokolle: vgl. Stefan Karner/Natalja Tomili- Dubcek, nicht selbst an ihrer politischen Demonta- na/Alexander Tschubarjan u. a. (Hrsg.): Prager Frühling. Das ge und damit nolens volens an dem Prozess der internationale Krisenjahr 1968, Bd. 2, S. 789 - 1103 „Normalisierung“ beteiligt hätten. Schon damals 12 vgl. Alexander Dubcek: Leben für die Freiheit, S. 405ff. meinte z. B. Jaroslav Sabata – 1968 war er Kreisse-

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Zur Auseinandersetzung um das Erbe des „Prager Frühlings“

Zutreffend hat Pauer14 – im Blick auf die gegenwär- tigen tschechischen Kontroversen um den „Prager Frühling“ – darauf aufmerksam gemacht, dass we- der die reformkommunistische Formel gelte, „er sei der direkte Vorläufer der ‚samtenen Revolu- tion'..., noch die neoliberale Gegenüberstellung von Interessen des Volkes, das Demokratie statt Demokratisierung wollte, auf der einen Seite und den Reformkommunisten, die nur eine Moderni- sierung ihrer Herrschaft anstrebten, auf der ande- ren“. Noch viel weniger können wir ihn als „inte- gralen Bestandteil eines verbrecherischen und totalitären Regimes“ verstehen, wie es das sog. „Lustrationsgesetz“ von 1991, das „Gesetz über den verbrecherischen und rechtswidrigen Charak-

Quelle: Wikipedia ter des kommunistischen Regimes von 1948 bis Vaclav Havel wurde nach der Samtenen Revolution Präsident 1989“ und das Gesetz zur Errichtung des nationa- der Tschechoslowakei und später der Tschechischen Republik. len „Instituts für das Studium totalitärer Regime“ 15 Hier bei der Eröffnungsrede zu einem Treffen des Internationa- von 2007 nahe legen. Pauers Begründung für die len Währungsfonds 2000 in Prag reflexive antikommunistische Abwertung des „Pra- ger Frühlings“ in der Tschechischen Republik ist kretär der Kommunistischen Partei in Brno und ebenfalls einleuchtend. Sie ist unmittelbar mit der später einer der Initiatoren und Sprecher der Erinnerung an die politische Selbstdemontage der „Charta 77“ – dass von tschechischer Seite auf kei- Reformkommunisten verbunden: „Wäre die Front nen Fall das „Moskauer Protokoll“ hätte unter- gegen die schleichende Restauration nicht von den zeichnet und damit das politische Spiel der Sowjets Reformern selbst demobilisiert worden, hätte die gespielt werden dürfen. Ein gravierender Fehler spätere machtvolle Bewegung der ‚Solidarnosc' Dubceks sei es gewesen, selbst noch in der durch möglicherweise ihren historischen Vorläufer ge- die Sowjets verursachten Krise auf die Unterstüt- habt...Das beschämende Zeugnis der Zersetzung zung Moskaus zu setzen, wobei Sabata keinen reformkommunistischer politischer Substanz stell- Zweifel an dessen moralischer Integrität hegt. ten die sog. ‚Knüppelgesetze' am ersten Jahrestag „Hätten diejenigen in der Partei und in der Bevöl- der Okkupation des Landes dar. Diese Sondergeset- kerung, die sich den Absichten der Besatzungs- ze ‚zum Schutz öffentlicher Ordnung' vom 22. Au- macht verweigerten, wenigstens eine relative gust 1969, nach denen u. a. die Demonstranten im Unterstützung von oben erhalten, hätten sie bis Schnellverfahren verurteilt wurden und die einem zur Revolte der Arbeiter an der polnischen Küste vorübergehenden Kriegsrecht im Kleinformat Ende 1970 durchhalten können. Dieser Aufstand gleichkamen, wurden von drei Idolen des Prager kostete bekanntlich Wladyslaw Gomulka, einer Frühlings, Ludvik Svoboda, Oldrich Cernik und Schlüsselfigur bei der Intervention, den Kopf. Dann Dubcek, unterzeichnet.“ Die Repressionen und De- hätte schon Anfang der 70er Jahre ein neuer An- mütigungen, die mit den ca. 20 Jahren des Husak- lauf zur Verankerung einer Reform-Konstellation Regimes einhergingen, seien derart erniedrigend in der Mitte Europas versucht werden können. Das gewesen, dass „hier die Ursache für die zeitweilige hätte selbstverständlich auch nach Moskau ausge- strahlt. So kam es erst Ende der 80er Jahre dazu.“ Somit war nach Sabata der Einmarsch der War- 13 Jaroslav Sabata: Eine postimperiale Konstellation, in Mathias schauer Pakttruppen „nicht das Ende des Früh- Richter/Inka Thunecke (Hrsg.): Metamorphosen der Utopie. lings, sondern der Höhepunkt. Die Reformbewe- Rückblicke und Ausblicke nach Europa, Mössingen-Talheim gung wurde nicht gebrochen, sondern sogar 2005, S. 181ff.; hier zit.: S. 190; S. 189; ungemein verstärkt... Dies war eine Sternstunde 14 vgl. Jan Pauer: Der Streit um das Erbe des „Prager Früh- Europas“. Deren Potenzial wurde allerdings von lings“, in Stefan Karner/Natalja Tomilina/Alexander Tschubarjan den Reformern selbst verkannt und nicht genutzt. u. a. (Hrsg.): Prager Frühling. Das internationale Krisenjahr Überall in der Welt werde dieser Umstand her- 1968, Bd. 1, S. 1203 ff.; untergespielt.13 15 a. a. O., S. 1216f.; vgl. S. S. 1205 - 1207

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Abwertung des Erbes des ‚Prager Frühlings' zu su- kommen. Also: trotz solcher Beschränkungen kon- chen“ seien.16 zedieren wir jenem Reformprozess die histori- sche Möglichkeit, eine friedliche Überwindung der Die damaligen kommunistischen Reformer hielten kommunistischen Diktatur zu bewerkstelligen. In- die durch Verstaatlichung und soziale Umwälzung sofern sehen wir im reformkommunistischen Pro- nach 1948 entstandene Gesellschaftsstruktur nicht jekt des Jahres 1968 auch einen Ausdruck der fort- mehr für revidierbar. Sie dauernden demokratischen Tradition des Landes. Der Reformkommunis- glaubten, gerade indem Im „Prager Frühling“ erblicken wir ein Glied in der mus war systemerhal- sie an der sozialistischen langen Kette von Revolten und Reformversuchen tend und systemverän- Option festhielten, mehr im sowjetischen Machtbereich, die niedergetreten dernd zugleich Demokratie wagen zu wurden, und begreifen sie als Beleg für die Re- müssen. Darin können formunfähigkeit eines Sozialismus sowjetischen wir den Doppelcharakter des Reformkommunis- Typs. mus erblicken, der systemerhaltend und systemver- ändernd zugleich war. Trotz gewisser program- Das historische Verdienst des „Prager Frühlings“ matischer und ideologischer Beschränkungen stellte bestand nicht nur in dem Versuch, totalitäre Ver- der gesellschaftspolitische Prozess 1968 in der CSSR hältnisse in der CSSR auf friedlichem Weg beseiti- eine Systemtransformation dar, die ohne Gewalt gen zu wollen, sondern auch in der Leistung eines nicht mehr aufzuhalten war. Nicht Demokratisie- originären Beitrags zur Demokratisierung und rung, sondern Demokratie war die radikal-demo- Überwindung des sowjetischen Herrschaftssystems kratische Formel, von der aus von Personen wie und der europäischen Spaltung. dem marxistischen Philosophen Ivan Svitak oder dem nichtkommunistischen Dramatiker Vaclav Ha- vel die beschränkte Perspektive der damaligen Re- formkommunisten kritisiert wurde. Tatsächlich war Wolfram Tschiche ist Philosoph und Theologe es zu keiner Zeit des „Prager Frühlings“ zu einer und arbeitet in der Jugend- und wirklich demokratischen Vertretung im Sinne einer Erwachsenenbildung. ausgebildeten parlamentarischen Demokratie ge- Er lebt in der Altmark (Sachsen-Anhalt).

16 a. a. O., S. 1207f E-Mail: [email protected]

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Protest und Anpassung im geteilten Deutschland der 60er und 70er Jahre Klaus Waldmann Ein Projekt historisch-politischer Bildung

Klaus Waldmann stellt ein Projekt vor, das Jugend- und 70er Jahre“1, das von Jugendbildungsreferen- liche aus Ost- und Westdeutschland zusammen- tinnen und -referenten der Evangelischen Träger- führte, die sich über die mit dem Jahr 1968 verbun- gruppe für gesellschaftspolitische Jugendbildung2 dene Zeitgeschichte in der DDR und der damaligen durchgeführt wurde. Ausgangspunkt war die The- Bundesrepublik Deutschland informierten und aus- se, dass das Wissen um tauschten. In seiner Beschreibung der das Projekt Das Wissen um wichtige politische, kul- bestimmenden Ziele und Schwerpunkte wird sicht- wichtige politische, turelle und gesellschaft- bar, welche Formen geeignet sind, sich zeitgeschicht- kulturelle und gesell- liche Entwicklungen in lichen Themen aus unterschiedlichen Perspektiven schaftliche Entwick- den beiden deutschen anzunähern und sich die dafür erforderlichen Kennt- lungen in den beiden Staaten eine zentrale nisse anzueignen. deutschen Staaten ist Grundlage zum Ver- eine zentrale Grund- ständnis der gegenwärti- lage zum Verständnis gen Situation und ak- Fragen zum Projekt der gegenwärtigen tueller Tendenzen in Situation und aktueller Deutschland ist. Dabei Wie können Jugendliche zu einer intensiveren Be- Tendenzen in sollte sich die Arbeit im schäftigung mit Themen der jüngsten Zeitge- Deutschland Projekt nicht auf die schichte motiviert werden? Welche Ansätze der Vermittlung von Fakten- außerschulischen Jugendbildung sind besonders wissen begrenzen oder sich nur den großen The- geeignet, um sich der men widmen. Der jeweilige regionale Kontext der Wie soll ein Projekt Geschichte der beiden Jugendlichen sollte ebenso einbezogen werden. zugeschnitten sein, deutschen Staaten an- Vor allem sollten die Jugendlichen den Raum ha- das den Blick auf die zunähern? Welchen Bei- ben, eigene Fragen zu formulieren und die für sie gemeinsame, geteilte trag kann außerschuli- interessanten Themen zu bearbeiten. Geschichte der beiden sche Bildung leisten, die deutschen Staaten Auseinandersetzung mit Eine weitere Annahme war, dass das Thema „Pro- erweitert? der Geschichte der DDR test und Anpassung“ bei Jugendlichen auf ein aus- zu verstärken? Wie soll geprägtes Interesse trifft. In der öffentlichen Wahr- ein Projekt zugeschnitten sein, das den Blick auf die nehmung3 und in der sozialwissenschaftlichen gemeinsame, geteilte Geschichte der beiden deut- Forschung4 sind die Themen „Politischer Protest“, schen Staaten erweitert? Weckt der Blick auf Pro- „Widerstand und Anpassung“ eng mit dem Thema test und Anpassung bei Jugendlichen genügend „Jugend“ verknüpft. Bei der Eingrenzung des zu Neugier, um sich in außerschulischer Jugendbildung untersuchenden geschichtlichen Zeitraums wurde und in der Schule auf diesen Abschnitt der Nach- davon ausgegangen, dass die Jugendlichen sich be- kriegsgeschichte einzulassen und sich längerfristig sonders für die geschichtliche Phase interessieren, für dieses Thema zu engagieren? in der ihre Eltern jung waren und die im Rückblick als eine Periode des Jugendprotests charakterisiert wird. Deshalb wurde als grober zeitlicher Rahmen für die Projektarbeit die Phase der 60er und 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts vereinbart.

1 Das Projekt wird mit Mitteln der Stiftung Deutsche Jugend- marke e. V. gefördert. Es startete im Mai 2006 und wird Ende Oktober 2008 abgeschlossen. 2 Von der Evangelischen Trägergruppe waren an der Durchfüh- rung des Projekts beteiligt: Katharina Doyé, Marcus Götz-Guer- lin, Silke Graichen, Hartmut Hendrich, Dorothea Höck, Uwe Jakubczyk, Christian Kurzke, Jürgen Reifarth, Michael Scherr- mann und Klaus Waldmann. 3 Vgl. die zahlreichen Debatten zum Thema Jugendprotest in den vergangenen Jahren. 4 Vgl. z. B. Dieter Rucht/Roland Roth (2000): Weder Rebellion Diese Fragen standen am Anfang der Entwicklung noch Anpassung: Jugendproteste in der Bundesrepublik, in: eines bundesweiten Projekts mit dem Titel „Protest Dies. (Hrsg.): Jugendkulturen, Politik und Protest, Opladen, und Anpassung im geteilten Deutschland der 60er S. 283-304.

202 SCHWERPUNKT

Damit wurde der Fokus auf die Ereignisse gelegt, und der technologische Fortschritt in der Industrie die mit der quasi symbolischen Jahreszahl 1968 ver- beschleunigt werden. Die DDR warb um außenpo- bunden sind. Somit war es möglich, die Vorphase litische Reputation und setzte alle Anstrengungen der Entwicklungen bis zu diesem sehr bewegten auf ihre Anerkennung als Sportnation im Kontext Jahr in die Projektarbeit einzubeziehen und auch der Konkurrenz der Systeme. Jugendpolitisch wa- den Folgen und Wirkungen der außergewöhn- ren Tendenzen einer Öffnung wahrzunehmen, die lichen Monate nachzuspüren. Abschottung gegenüber Musik und Mode aus dem Westen war nicht mehr so strikt. Im kulturpoliti- schen Sektor gab es interessante Debatten über die Historische Voraussetzungen in beiden Idee eines demokratischen Sozialismus. Die antika- deutschen Staaten pitalistische Revolte im Westen wurde zunächst mit einer gewissen Sympathie begleitet, dennoch war Trotz der massiven und beharrenden, von Hass, die Repression gegenüber denjenigen, die sich zu Angst und Misstrauen geprägten Konfrontation sehr dem westlichen Modell annäherten oder die der beiden politischen Blöcke im Kontext der Phase zu deutlich mit einem Sozialismus mit menschli- des Kalten Krieges machten sich in den sechziger chem Antlitz sympathisierten, überall präsent. Jahren im Inneren der beiden Systeme Kräfte der Veränderung bemerkbar. Im Westen trafen sich die oppositionellen Strö- mungen gegenüber dem konsolidierten CDU-Staat Die Zeit nach dem Mauerbau 1961 in der DDR war der Adenauer-Zeit im Widerstand gegen die Atom- geprägt von einem Reformeifer ohne wirkliche Re- bewaffnung Ende der 50er Jahre. Im Kontext inter- form.5 Eine Reform der nationaler Debatten um Bürgerrechte in den USA, Die Zeit nach dem Mau- Wirtschaft wurde unter über die Überwindung der kolonialen Systeme erbau 1961 in der DDR dem Kürzel NÖSPL („Neu- richtete sich dann der Protest gegen Unterdrü- war geprägt von einem es ökonomisches System ckung und Ausbeutung. In Westdeutschland war Reformeifer ohne wirk- der Planung und Lei- der Konflikt mit dem Establishment zudem vergan- liche Reform tung“) auf den Weg ge- genheitspolitisch aufgeladen. Von der jüngeren Ge- bracht, das Schlagwort neration wurde die zögernde Aufarbeitung der ei- von mehr Eigenverantwortung machte die Runde. genen Verstrickungen der Kriegsgeneration in die Die technischen Wissenschaften sollten ausgebaut Verbrechen des Nazi-Regimes skandalisiert.

Im Anschluss an Pichts These vom Bildungsnotstand 5 Vgl. hierzu Stefan Wolle (2008): Der Traum von der Revolte. wird massive Kritik am Bildungssystem laut. Gefor- Die DDR 1968, Berlin dert wurden mehr Chancengleichheit, mehr Demo- kratie und mehr Parti- zipation. Neben dem Wunsch nach grundle- genden gesellschaft- lichen Reformen wur- de der Protest gegen den Vietnamkrieg zum zentralen Movens der Studentenbewegung. In diesem Kontext bil- deten sich subkulturel- le Gegenkulturen, die sich im Wunsch nach Selbstverwirklichung und in der Ablehnung autoritärer Strukturen einig waren. Die Befrei- ung aus Abhängigkei- ten, die Überwindung von Konventionen und überkommenen Moral- vorstellungen wurden

203 SCHWERPUNKT

Im Westen wurde ne- zum Ziel einer emanzi- ten, wie sich das Aufwachsen von Jugendlichen in ben dem Wunsch nach patorischen Suche nach der ehemaligen DDR und in Westdeutschland ge- grundlegenden gesell- neuen Lebensformen. staltet hat, wie Jugendliche auf gesellschaftliche schaftlichen Reformen Abgesehen von den teil- Ansprüche und Ideologien reagiert haben und wie der Protest gegen den weise abenteuerlichen sie mit weltpolitischen Entwicklungen und geschicht- Vietnamkrieg zum zen- Vorstellungen einiger lichen Ereignissen umgegangen sind. In diesem Kon- tralen Movens der Stu- Grüppchen mündeten text setzten sie sich mit der Relevanz jugendkulturel- dentenbewegung die politischen Debatten ler Inszenierungen und z. B. der Rolle von Medien, in die Suche nach einer Musik und Mode auseinander. demokratischen, solidarischen Gesellschaft jenseits von Sowjetkommunismus und Kapitalismus. Lernen über die Geschichte im Austausch zwischen Beide gesellschaftlichen Systeme waren geprägt Ost und West von Prozessen einer wissenschaftlichen und tech- Zur Realisierung des Projekts bildeten verschiede- nologischen Weiterentwicklung und gravieren- ne Einrichtungen aus dem Bereich der Evangeli- den Veränderung als Industriegesellschaft und schen Trägergruppe Tandems, die jeweils aus einem von den Wünschen der in ihnen lebenden Men- Partner aus Ost- und aus schen nach einer Verbesserung der Lebensbedin- Jugendliche bearbeiten Westdeutschland be- gungen. in Projekten historisch- standen. Dadurch ergab politischer Bildung die sich für die Jugend- von ihnen selbst for- lichen die Chance, sich Ziele und Schwerpunkte des Projekts mulierten Fragen und mit Gleichaltrigen aus die sie selbst interes- dem jeweils anderen Teil Das Projekt hatte zum Ziel, Konzepte historisch-po- sierenden Themen in Deutschlands zu treffen, litischer Jugendbildung zur Beschäftigung mit der ost- und westdeutsch die sich mit vergleichba- jüngeren Zeitgeschichte am Beispiel des Themas zusammengesetzten ren Themen und Frage- „Protest und Anpassung im geteilten Deutschland Tandems stellungen befassten. Die der 60er und 70er Jahre“ zu entwickeln und zu er- Begegnung und der Aus- proben. In Verbindung mit der Durchführung von tausch von Erfahrungen, Informationen und Zwi- kleinen ‚Forschungsprojekten‘ zu selbstgewählten schenergebnissen schafften die Gelegenheit, sich Themen erwarben die Jugendlichen Grundlagen aus unterschiedlichen Perspektiven und vor dem historisch-politischer Projektarbeit. Sie untersuch- Hintergrund der unterschiedlichen Entwicklungen in beiden deutschen Staaten mit den The- men des Projekts zu befassen und im Pro- zess wechselseitigen Lernens neue Perspek- tiven zu erschließen. Auf diese Weise konnte die zentrale Idee des Projekts realisiert wer- den: Jugendliche bear- beiten in Projekten his- torisch-politischer Bil- dung die von ihnen selbst formulierten Fra- gen und die sie selbst interessierenden The- men in ost- und west- deutsch zusammenge- setzten Tandems und informieren sich wech- selseitig über ihre Er- kenntnisgewinne und vermitteln einander ih-

204 SCHWERPUNKT

re jeweilige Sichtweise auf die unterschiedlichen Er- In kleinen Arbeitsgruppen recherchierten die Ju- eignisse. Die thematische Fokussierung der einzel- gendlichen, unterstützt durch ihre Lehrerinnen und nen Teilprojekte erfolgte auf der Basis der Interes- die jeweilige Projektleitung, nach Materialien zu sen der Jugendlichen an den aus ihrer Sicht diesen Themen. Sie befragten Mitglieder aus der wichtigen politischen, kulturellen und gesellschaft- eigenen Familie quasi als Zeitzeugen, um sich ein lichen Ereignissen. Welche Themen dabei im Vorder- Bild von der Zeit in den sechziger Jahren zu machen. grund stehen, macht ein kursorischer Überblick zu Ausstellungen wurden besucht und Gesprächspart- den Aktivitäten der verschiedenen Tandems sicht- ner/-innen eingeladen, um sich mit unterschied- bar. lichen Aspekten der Thematik intensiver zu be- schäftigen. Die Ergebnisse der verschiedenen Arbeitsgruppen wurden zu eindrucksvollen Präsen- Grenzen überwinden tationen beim Zusammentreffen der beiden Grup- pen aufbereitet. In einem Projekt, das sich mit der Geschichte der beiden deutschen Staaten beschäftigt, ist die Tei- Aus den von den verschiedenen Arbeitsgruppen lung des Landes und das Thema „Grenze“ immer erarbeiteten Materialien wurde eine gemeinsame präsent. Ein wesentliches Element eines Teilpro- Ausstellung realisiert, die abwechselnd an den bei- jekts war deshalb die Begegnung der Gruppe von den Schulen gezeigt wurde. Die am Projekt betei- Jugendlichen aus Coswig6 (Sachsen) mit der Grup- ligten Schülerinnen und Schüler führten auf Wunsch pe von Jugendlichen aus Bochum7 (NRW) in der Ju- durch die Ausstellung und berichteten über ihre gendherberge Bad Sachsa, an der Grenze zwischen Erfahrungen im Projekt. Niedersachsen und Thüringen. Der Ort der Begegnung zwischen den Jugend- lichen aus Bochum und Coswig ermöglichte zudem eine nähere Beschäftigung mit dem Thema ‚Gren- ze‘. Besucht wurden das von Ehrenamtlichen un- terhaltene Grenzlandmuseum in Bad Sachsa und die Gedenkstätte in Marienborn. In Bad Sachsa tra-

In der Vorphase dieser Begegnung beschäftigten sich die Jugendlichen jeweils vor Ort mit Themen, die sie selbst gewählt hatten:

Rockmusik und Jugendkultur, Mode und Tanz, Formen des Protests in Ost und West, Rolle der Medien in der Gesellschaft, Fußball und Fankultur am Beispiel von Dynamo Dresden, Rolle der Frauenbewegung in der Bundesrepu- blik.

6 Schülerinnen und Schüler einer 12. Klasse des Gymnasiums Coswig 7 Schülerinnen und Schüler einer 11. Klasse der evangelischen Matthias-Claudius-Schule in Bochum

205 SCHWERPUNKT

fen die Jugendlichen auf einen ehemaligen NVA- Musikunterricht in den 60er und 70er Jahren, Offizier und auf einen ehemaligen Grenzschützer Rockmusik in der DDR, aus dem Westen, die vor der Wende in der Umge- Überwachung der Musikszene durch die , bung von Bad Sachsa auf der jeweils anderen Seite Jugendmode in den 60er und 70er Jahren. für die Überwachung desselben Grenzabschnitts zuständig waren. In Marienborn und in Hötensle- Die Jugendlichen interessierte, welche Bands in der ben wurden die Grenzübergangsstelle und die Region aktiv und welche Treffs angesagt waren. wohl größte noch erhaltene Grenzbefestigung in Wichtige Zeitzeugen im Arbeitsprozess der verschie- Augenschein genommen. Die unmittelbare Kon- denen Arbeitsgruppen waren nicht zuletzt die ei- frontation mit den Grenzbefestigungsanlagen, mit genen Eltern. Als Ergebnis dieser Nachforschungen Grenzzäunen, Passkontrollbaracken, Wachtürmen präsentierten die Jugendlichen eine umfangreiche oder die Berichte über einzelne Vorgänge und Er- Bild- und Toncollage, einen etwa zweistündigen eignisse wie geplante, gelungene oder gescheiter- Überblick über die Zeit zwischen Mauerbau und te Fluchtversuche eröffneten Gesprächsmöglich- Mauerfall. Manchmal sei es eine „ganz schöne An- keiten über bedrückende Aspekte der deutsch- fechtung gewesen, sich durch die ideologiegetränk- deutschen Geschichte. ten Liedtexte zu hören“, meinte eine Schülerin nach Abschluss der Projektarbeit.

Jugendkulturelle Aktivitäten im Fokus – In Naila konzentrierten sich die Jugendlichen ganz Musik und Theater auf das Thema „Jugendkultur und Rockmusik“. In ähnlicher Weise wie in Wittenberg nahm sich die Im Zentrum des zweiten Teilprojekts stand das The- Arbeitsgruppe des The- ma „Musik und Jugendkultur“. Freiwillige Arbeits- Die Geschichte der Ju- mas an. Das Stadtarchiv gruppen von Jugendlichen aus der Lutherstadt Wit- gendkulturen und der wurde aufgesucht, tenberg8 (Sachsen-Anhalt) und aus Naila9 (Bayern) Rockmusik wurde in Interviews mit Erwach- spürten jeweils zunächst in ihrer Region und den Kontext von Hip- senen auf der Straße anschließend im größeren Kontext den unter- piebewegung, Studen- durchgeführt, Bildmate- schiedlichen Musikszenen, Musikstilen und den tenbewegung und des rial und Filme gesichtet Treffpunkten von Jugendlichen nach. Darüber hin- Protests gegen den und Musik gehört. Auch aus entschied sich die Theatergruppe der Realschu- Vietnamkrieg einge- hier fragte die Arbeits- le in Naila, Schillers Drama „Die Räuber“ aufzufüh- ordnet gruppe nach dem Zu- ren und in der Inszenierung insbesondere die sammenhang zwischen Themen Anpassung und Widerstand, Auflehnung gesellschaftlichen Entwicklungen, jugendkulturel- und Verweigerung herauszuarbeiten. len Inszenierungen und der Ausprägung bestimm- ter Musikstile. Die Geschichte der Jugendkulturen Zunächst trafen sich die beiden Gruppen zu einem und der Rockmusik wurde in den Kontext von Hip- gemeinsamen Seminar in Leipzig. Dabei stand vor piebewegung, Studentenbewegung und des Pro- allem die Beschäftigung mit der deutsch-deutschen tests gegen den Vietnamkrieg eingeordnet. Die Er- Geschichte auf dem Programm. Gespräche mit gebnisse der Arbeit wurden in einer Ausstellung Zeitzeugen und Besuche verschiedener Museen festgehalten, die an beiden Orten gezeigt wurde. unterstützten das selbstforschende Lernen der Ju- gendlichen. Zur Einführung in die sich an das Semi- Die Präsentation der beiden Ausstellungen war je- nar anschließenden Recherchen vor Ort eigneten weils verbunden mit der Aufführung von Schillers sich die Jugendlichen Kompetenzen in historischer Räuber in einer semiprofessionellen und beein- Projektarbeit an. druckend aktuellen Inszenierung der Theatergrup- pe aus Naila. Die Schülerinnen und Schüler recherchierten vor Ort jeweils in Archiven, wälzten Bücher, Zeitschrif- ten und Zeitungen, interviewten Zeitzeugen, stu- Das Jahr 1968 aus zwei Perspektiven dierten Lehrpläne und hörten vor allem jede Men- ge Musik. In Wittenberg sammelten sie Materialien Eine Fülle von Themen und Fragen zur gemeinsam zu den Themen geteilten Geschichte der beiden deutschen Staaten eröffnet die Auseinandersetzung mit den Entwick- lungen, die sich mit der Chiffre „1968“ verbinden. 8 Schülerinnen und Schüler des Lucas-Cranach-Gymnasiums Einbezogen werden können die Vorgeschichte, die- 9 Schülerinnen und Schüler der örtlichen Realschule ser im öffentlichen Diskurs immer noch stark sym-

206 SCHWERPUNKT

bolbehafteten Zeit sowie die möglichen Folgen furter Rechtsanwalt Hellmut Brunn, einem „Alt- dieser Phase der jüngeren Zeitgeschichte. Aus west- 68er“, und mit dem Berliner Publizisten Peter Wul- licher Sicht fallen dabei Stichworte wie Studenten- kau, der in der DDR aufgrund seiner Sympathien unruhen, Schülerprotest, Rudi Dutschke, Protest mit dem Prager Frühling wegen „Revisionismus“ gegen den Vietnamkrieg, Selbstverwirklichung, exmatrikuliert worden war. Später schrieb er einen Emanzipation, Frauenbewegung, von der APO zur politisch-satirischen Roman, der in der Bundesre- RAF, Kalter Krieg, und aus östlicher Perspektive publik erscheinen sollte. Das Manuskript landete Prager Frühling, Robert Havemann, ‚Sozialismus jedoch bei der Stasi. Wulkau wurde verhaftet und mit menschlichem Antlitz‘, Jugendproteste, innere zu viereinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Emigration, Wolf Biermann, Kalter Krieg. In diesem Teilprojekt engagierten sich insgesamt vier Grup- Die Schülerinnen und Schüler sammelten Materia- pen von Jugendlichen aus Thüringen und Hessen, lien zu den eingeladenen Personen, bereiteten sich aus Neudietendorf10 und Altenburg11 sowie aus so auf die Gespräche vor und führten die Inter- Fritzlar12 und Hofgeismar13. views selbst. Hellmuth Brunn hat sich mit der The- matik „Rechtsanwälte – Linksanwälte“ beschäftigt Bei einem ersten Seminar, zu dem sich drei der be- und ist auch darüber hinaus publizistisch tätig, so teiligten Gruppen trafen14, erfolgte durch einen dass Texte und Quellen zugänglich sind. Um sich Zeitgeschichtler zunächst eine Einführung in die auf das Gespräch mit Peter Wulkau vorzubereiten, Ereignisse um das Jahr 1968 aus östlicher und west- sichteten die Jugendlichen seine aufbereiteten Sta- licher Perspektive. Anschließend hatten die Jugend- si-Akten. Auf diese Weise erhielten sie gleichzeitig lichen in Form einer ‚Schnupperkiste 68‘ die Gele- einen Einblick in die Sprache der Herrschenden und genheit, sich für die weitere Beschäftigung ein sie wurden mit den Differenzen zwischen den Berich- besonders interessierendes Thema auszuwählen. Die ten der Spitzel und den Erinnerungen des Opfers ‚Schnupperkiste 68‘ enthielt Materialien zu den konfrontiert. Themen: Der Reiz des Gesprächs bestand u. a. in der Love, Peace, Happiness – Musik und Szene (mit Gegenüberstellung von zwei verschiedenen bio- Biographien von John Lennon, Jimi Hendrix, Ja- grafischen Erfahrungen in der besonderen politi- nis Joplin) schen Konstellation der Krieg & Frieden (mit Biographien von Martin Der Reiz bestand in der Nachkriegszeit. Während Luther King, , Che Guevara) Gegenüberstellung von der Eine in Westberlin Studentenrevolte (mit Biographien von Rudi zwei verschiedenen demonstrieren ging und Dutschke, Benno Ohnesorg, Angela Davis) biografischen Erfahrun- Flugblätter verteilte und „Prager Frühling“ (mit Biographien von Alexan- gen in der besonderen von den Trends der Mu- der Dubcek, Robert Havemann, Wolf Biermann, politischen Konstella- sik, der Mode und der Bettina Wegner). tion der Nachkriegszeit Flower Power der Hip- pies kaum tangiert wur- Die weitere Arbeit an den Themen und in den Ar- de, waren für den Marxismus-Leninismus-Studen- beitsgruppen erfolgte dann jeweils in Projektwo- ten aus Leipzig der Beat und die langen Haare chen oder Seminaren vor Ort oder in bilateralen Ausdruck einer Weltanschauung. Das Gemeinsame Konstellationen mit unterschiedlichen Methoden war, dass beide das Ende des Prager Frühlings als der historischen Projektarbeit. Beispielsweise führ- Katastrophe empfanden. ten die Schülerinnen und Schüler aus Altenburg und aus Fritzlar Zeitzeugengespräche mit dem Frank- Ein wichtiges Element des historischen Lernens im Projekt „Protest und Anpassung“ war eine kreative mediale Aufbereitung der Resultate der eigenen 10 Beteiligt war eine 10. Klasse des von-Bülow-Gymnasiums Forschungsarbeit. Zum einen konnten damit we- 11 Hier arbeitete eine 10. Klasse des Lerchenberg-Gymnasiums sentliche Aspekte des eigenen Lernprozesses doku- mit mentiert werden, zum anderen erforderte die 12 Es wirkte ein Geschichts-Leistungskurs der 11. Jahrgangsstu- mediale Aufbereitung der zusammengetragenen fe der König-Heinrich-Schule mit Materialien eine Bewertung von Lernergebnissen 13 Aus Hofgeismar war ein Geschichts-Leistungskurs der 11. Jahr- nach den Kriterien wichtig oder unwichtig und gangsstufe der Albert-Schweitzer-Schule in das Projekt einbe- setzte eine weitere Verarbeitung der Themen vor- zogen aus. Die Jugendlichen aus Neudietendorf produzier- 14 Die Gruppe aus Fritzlar konnte aus organisatorischen Grün- ten eine Sendung für den kommunalen Radiosen- den erst zu einem späteren Zeitpunkt in das Projekt einsteigen der F.R.E.I. In Kleingruppen wurden die einzelnen

207 SCHWERPUNKT

neben den Doors, Ale- xander Dubcek neben einer Meldung zum Vietnamkrieg, ein Song von John Lennon ne- ben Heintjes „Mama“.

Die Jugendlichen aus Hofgeismar entschieden sich, die Resultate ihrer Recherchen in einem Videofilm zu verarbei- ten. Das gesammelte Material wurde gesich- tet und jeweils über- legt, wie es in einer ju- gendgerechten Form szenisch umgesetzt wer- den kann. Inhaltlich wurden die Ereignisse des Prager Frühlings in Form einer Nachrichten- sendung kommentiert, in die Auszüge aus den Beiträge angefertigt und eine Playlist zusammen- Zeitzeugengesprächen eingeblendet wurden. Eine gestellt. Den Einstieg in die Sendung bildet eine fiktive Musiksendung befasste sich mit der Musik- Toncollage zum Jahr 1968, die ein nachvollziehba- szene der damaligen Zeit und mit den ‚bürgerlichen‘ res Bild des Jahres 1968 zeichnete: Die Worte von Reaktionen. Der Generationenkonflikt wurde über Martin Luther King standen neben dem ersten eine Spielszene zum Thema „Sexualität“ dargestellt. deutschsprachigen DDR-Beat-Titel, Rudi Dutschke Eine umfangreiche Collage befasste sich mit der Ent- stehung der RAF.

Die Gruppen aus Fritzlar und Altenburg verabrede- ten, eine Website zum Thema „1968“ zu gestalten. Unter der Adresse: www.protest-anpassung-1968.de ist das ansehnliche Ergebnis zu betrachten. Auf der Website sind jeweils kurze Texte zu den von den beiden Gruppen bearbeiteten Themen hinterlegt und es wird auf weiterführende Quellen verwiesen. Ein Höhepunkt dieses Teilprojekts war ein Zeitzeu- gengespräch mit Rainer Langhans, das die Jugend- lichen eigenständig organisiert haben.

Unsere, eure oder die gemeinsame Geschichte?

Die Lernprozesse im Projekt realisierten sich auf mindestens zwei Ebenen: Das Projekt beschäftigte sich mit einer Phase der Geschichte des ehemals ge- teilten Landes. Die Jugendlichen konnten sich mit der eigenen Geschichte und in wechselnder Perspek- tive mit der Geschichte der anderen befassen. Auf der zweiten Ebene begegneten sich Jugendliche aus Ost und West, was trotz aller verbalen Bekun- dungen von der Bedeutungslosigkeit der Unter-

208 SCHWERPUNKT

schiede in der Interaktion zwischen Gruppen im- licht. Historisch-politische Jugendbildung trägt dazu mer noch eine Rolle spielt. bei, das Gewordensein und die Gestaltungsfähig- keit der Gesellschaft zu begreifen und hilft, aktuel- Für die Motivation der Jugendlichen hatten die le Probleme und Entwicklungen zu erklären und zu Gespräche mit unterschiedlichen Zeitzeugen eine verstehen. Sie hilft, gesellschaftliche und politische besonders hohe Relevanz. Die Schilderung persön- Mechanismen und Strukturen zu erkennen, Aspek- licher Erlebnisse, das Zu- te zur Erschließung gesellschaftlicher Phänomene Für die Motivation der sammentreffen mit Per- zu vermitteln und auf Alternativen und nicht ein- Jugendlichen hatten die sonen mit einem gewis- gelöste Utopien aufmerksam zu machen. Dabei ist Gespräche mit unter- sen Bekanntheitsgrad von zentraler Bedeutung, pädagogische Prozesse schiedlichen Zeitzeugen und die Einordnung die- so zu gestalten, dass die eigene Urteilsfähigkeit eine besonders hohe ser subjektiven Erfah- der Jugendlichen geschärft wird. Relevanz rungen im historischen Kontext lassen Geschich- te für die Jugendlichen lebendig werden. Bestätigt Klaus Waldmann ist Bundestutor der Evange- hat sich auch die Vermutung, dass die Beschäfti- lischen Trägergruppe für gesellschaftspoliti- gung mit jugendkulturellen Inszenierungen Ju- sche Jugendbildung und war verantwortlich gendlicher in historisch-politischen Projekten auf für die Leitung des Projekts „Protest und An- das Interesse von Jugendlichen trifft. Auch im his- passung im geteilten Deutschland der 60er torischen Kontext sind Jugendkulturen für Jugend- und 70er Jahre“. liche offensichtlich ungebrochen attraktiv. Er ist zu erreichen über die Adresse der Evan- gelischen Trägergruppe: Auguststraße 80, 10117 Berlin Deutlich geworden ist, dass eine Beschäftigung mit zeitgeschichtlichen Themen im Rahmen historisch- E-Mail: [email protected] politischer Jugendbildung eine für die Entwicklung demokratischer Orientierungen und für die Ver- mittlung von Grundlagen politischen Handelns wich- Die Fotos in diesem Beitrag entstanden während des Projekts tige Vergegenwärtigung des Vergangenen ermög- und wurden vom Autor zur Verfügung gestellt.

209 ADB-FORUM

Verluste und Konstanten Neue Zahlen und einige (auch alte) Erkenntnisse zur politischen Erwachsenenbildung in NRW Paul Ciupke

Der Wunsch der Landeszentrale für politische Bil- Innerhalb von zehn Jahren, wenn man 1997 als dung in NRW nach einem umfassenderen Control- Vergleichsjahr nimmt, ist also das Angebotsvolu- ling der von ihr geförderten Einrichtungen hat men in diesem Veranstaltersegment um 22,5% ge- für diese zu einem nicht wenig aufwändigen und schrumpft. Im Bereich der Teilnehmenden ist dieser manchmal nur widerstrebend durchgeführten Abschwung noch deutlicher wahrnehmbar: fast Auswertungssystem jeder einzelnen Veranstal- 100.000 Personen weniger haben 2007 die Ange- tung geführt. Denn inzwischen müssen verschie- bote politischer Bildung wahrnehmen können, ein dene Berichtssysteme jährlich bedient werden Rückgang um mehr als ein Drittel. Die wesent- und die Tatsache, dass sich z. B. die Verbundstati- lichen Gründe dieser Verminderungen dürften im stik des Deutschen Instituts für Erwachsenenbil- Umbau der Finanzierung nach dem Weiterbil- dung, die Informationsbedürfnisse der Bundes- dungsgesetz ab 2000, in den zweimaligen Kürzun- zentrale für politische Bildung und statistische gen der Förderungen nach dem Weiterbildungsge- Auswertungen, die andere Förderinstitutionen setz NRW seit 2005 und in der 20prozentigen verlangen, in der Struktur und in den einzelnen Zuschusskürzung der Projektförderung der Landes- Erhebungsparametern so wenig gleichen, ist na- zentrale im Jahre 2006 liegen. türlich weiterhin bedauerlich und fordert erheb- lichen Zusatzaufwand. Auch die Zahl der unterstützten Einrichtungen hat erheblich abgenommen: Waren es 1997 noch 66, Nun liegen aber die Ergebnisse der Landeszen- sind es 2007 nur die schon genannten 49 Bildungs- tral-Statistik 2007 vor und sie erlauben, obwohl es werke. Der Hintergrund dieser Entwicklung be- sich nur um einen Ausschnitt aus dem Gesamtan- steht hauptsächlich in einer durch das Land gefor- gebot politischer Bildung in NRW handelt, doch derten Konzentrations- und Fusionspolitik, die einige interessante Aufschlüsse – insbesondere, besonders kleine Einrichtungen betrifft, dennoch wenn man sie mit den Jahren 1997-1999 ver- sind hier und da auch Einrichtungen offenbar spur- gleicht, als schon einmal die Veranstaltungen der los verschwunden. politischen Erwachsenenbildung in NRW ausge- wertet wurden. Ein anderer Trend korrespondiert mit der Abnah- me des Teilnahme- und Zuschussvolumens: Es gibt Die Erkenntnisinteressen der Landeszentrale und immer weniger Vollzeitbeschäftigte in der politi- der ministeriellen Administration und die der Ange- schen Bildung: mehr als die Hälfte der hauptamt- botsseite werden dabei natürlich verschiedene sein. lichen pädagogischen Mitarbeiter/-innen wirkt in- Die Ergebnisse und Folgerungen einer ersten Sich- zwischen auf Teilzeitstellen. Auch dies ist gewiss tung sollen hier kurz zusammengefasst werden. nicht nur eine Reaktion auf Familienumstände und persönliche Freizeitwünsche, sondern in ge- wissem Maße auch Ausdruck des zunehmenden Verluste Kostendrucks: Etliche Einrichtungen können nur noch, wenn sie niemanden entlassen, ihren Päda- Die Datengrundlage lieferten etwa 8300 erfasste gogen den Stellenumfang in solidarisch-gleicher Veranstaltungen, die von 49 geförderten Einrich- Weise kürzen - etwa auf 80% bei natürlich gleich tungen – so genannte Spezialisten der politischen bleibendem Arbeitsumfang für die einzelnen Be- Bildung und viele davon Mitglied im Arbeitskreis schäftigten. Mehr als 60% der Veranstaltungen deutscher Bildungsstätten (AdB) – durchgeführt werden von einem oder mehreren HPM geleitet, und von 178000 Teilnehmenden besucht worden was auch ihre pädagogisch-praktische Präsenz sind. Ein Vergleich mit den Jahren 1997-1999 zeigt unterstreicht. hier einen deutlichen Rückgang der Teilnahme und des Veranstaltungsumfangs: Konstanten 2007: ca. 178.000 Teilnehmende und 8.300 Veranstaltungen Die Hälfte der Veranstaltungen findet in Bildungs- 1999: ca. 240.000 Teilnehmende und stätten des Landes NRW statt, was doch noch ein 10.496 Veranstaltungen Ausweis der Bedeutung von besonderen Lernorten 1998: ca. 273.000 Teilnehmende und ist, und mehr als 90 % überhaupt in NRW. Die 11.078 Veranstaltungen Angst, dass also immer mehr Veranstaltungen nur 1997: ca. 262.000 Teilnehmende und noch als an attraktiv geltenden Orten wie Berlin 10.715 Veranstaltungen. oder Brüssel stattfinden würden und man immer

210 ADB-FORUM

mehr Studienseminare im Ausland durchführen der Frage nach dem persönlichen Nutzen der Ver- möchte, ist also unbegründet. anstaltung präferierten die Teilnehmenden die klassische auf den Erwerb von Wissen bezogene 58% der Veranstaltungen werden in Kooperations- Variante: „Ich kann politische Sachverhalte nun beziehungen geplant und realisiert, wobei solche besser beurteilen“. An zweiter Stelle steht die überwiegen, die mit Verbänden und Vereinen, also Brauchbarkeit für das gesellschaftspolitische oder Repräsentanten der Zivilgesellschaft, angeboten ehrenamtliche Engagement. werden. Fast ebenso hoch mit 57% ist der Anteil der mehrtägigen Veranstaltungen (durchschnittli- Der Anteil der Teilnehmerbeiträge, die 39 % der che Länge: 3,58 Tage), damit wird ein weiteres Mal Gesamteinnahmen ausmachen, erreicht 2007 die die große Bedeutung von Bildungsstätten mit gleiche Höhe wie die addierten Bundes- und Lan- Übernachtungsmöglichkeit und der Teilnehmerta- deszuschüsse, die ebenfalls 39 % betragen. Jeder geförderung für die politische Bildung bestätigt. aus öffentlichen Haushalten bereitgestellte Euro Solche mehrtägigen Veranstaltungen werden vor mobilisiert also einen von den Teilnehmenden pri- allem von Jugendlichen und Arbeitnehmer/-innen vat eingebrachten Euro: kein schlechtes Ergebnis besucht. Die bedeutendste Zielgruppe bilden im- für ein „Produkt“, das im Alltag von den Menschen mer noch Arbeitnehmer/-innen und Gewerkschaf- oft als verzichtbar begriffen wird. Die Subventio- ter/-innen. Die Zeit der Arbeiterbildung scheint al- nen im Steinkohlebergbau können im Vergleich so noch nicht vorbei zu sein. ein so günstiges Ergebnis nicht vorzeigen: Hier übersteigen die öffentlichen Beiträge erheblich die In der Verteilung der Nachfrage auf Themenfel- am Markt erzielten Einnahmen. dern lassen sich die Erhebungen der 90er Jahre und die des Jahres 2007 nur schwer vergleichen, weil in- Veranstaltungs- und einrichtungsbezogene statisti- haltlich und quantitativ sehr verschiedene Raster sche Erhebungen wie die der Landeszentrale in benutzt wurden: gab es damals 21 Themengebie- NRW sind geeignet, den fachlichen wie politischen te, so sind es heute acht Kernthemen, nach denen Diskussionen eine rationale Grundlage zu verschaf- gefragt wurde. Dennoch kann man sagen, dass der fen und deshalb trotz der erheblichen Mühen, die Themencluster Arbeit/Wirtschaft und Soziales da- sie den Einrichtungen machen, doch auch von die- mals wie heute dominiert und jeweils ca. 38 % des ser Seite zu begrüßen. Angebots umfasst. Hier ist eine deutliche themati- sche Beharrlichkeit zu konstatieren. Das Verhältnis von Frauen und Männern unter den Teilnehmen- den hat sich seit 1997 auch kaum verändert, die Dr. Paul Ciupke ist seit 1980 im Bildungswerk Männer überwiegen mit 58% nach wie vor. Der der Humanistischen Union NRW. e. V. haupt- Prozentsatz jüngerer Teilnehmer im Alter von un- beruflich tätig und vertritt dort die Arbeits- ter 27 Jahren scheint eher gestiegen zu sein, aber schwerpunkte Zeitgeschichte, Ostmittel- hier sind generalisierende Rückschlüsse eher pro- europa, (Erwachsenen-) Bildungsgeschichte, blematisch, denn bei sinkendem Gesamtaufkom- Ruhrgebiet, Strukturwandel, Reformpädago- men von Veranstaltungen und der progressiven gik, Fragen der politischen Bildung u. a. m. Förderung von Kooperationsmaßnahmen etwa im Adresse über das Bildungswerk der Humanistischen Union, Bereich der Schule deutet dieser Trend eher auf ei- Kronprinzenstraße 15, 45128 Essen. ne bewusste Auswahl in den Einrichtungen hin. Bei E-Mail: [email protected]

211 ADB-JAHRESTHEMA

„Auf Augenhöhe – Wie Integration vor Ort in der Praxis gelingt“ Homaira Mansury

Der Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten be- de, wer an dem Seminar teilnehmen sollte. Tatsäch- schließt für jedes Jahr ein Thema, das aus aktuellem lich ergab sich eine heterogene und „bunte“ Zusam- Anlass besondere Beachtung in den eigenen Akti- mensetzung der Anwesenden, die für das Seminar vitäten und in den Bildungsangeboten der Mit- hinsichtlich des Themas und der Gruppendynamik gliedseinrichtungen finden soll. Im Jahr 2008 lautet sehr förderlich war: Unterschiedliche Altersstufen das Thema „Demokratiekompetenz stärken – Politi- von 20 bis 64 Jahren aus großen Teilen des Bundes- sche Bildung in der Einwanderungsgesellschaft“. Der gebiets waren angereist. Die meisten Teilnehmenden AdB und seine Mitgliedseinrichtungen wollen mit arbeiteten beruflich oder ehrenamtlich im Bereich diesem Jahresthema verdeutlichen, was Politische der Integration. Ausländerbeiräte, Sozialpädagogen/ Bildung zum Gelingen von Integrationsprozessen -pädagoginnen wie auch Vertreter/-innen von städ- beitragen kann, und welche Anforderungen dabei tischen und Landkreisverwaltungen waren dabei. von der Aufnahmegesellschaft wie von den Einge- Besonders günstig war jedoch, dass mehrere Perso- wanderten bewältigt werden müssen. Dazu präsen- nen mit Migrationshintergrund anwesend waren – tieren wir in jeder Ausgabe ein Beispiel aus der Pra- eine leider relativ seltene Begebenheit in einer Ver- xis unserer Mitgliedseinrichtungen. anstaltung, in der es um das Zusammenleben un- terschiedlicher Kulturen geht, was nicht zuletzt auch auf der letzten Jahresversammlung des AdB ange- Voraussetzungen merkt wurde.

Integration geschieht in den Kommunen, von Integration ist ein Thema, das jedes Mitglied einer Mensch zu Mensch. Verwaltungen, Schulen, Kin- Gesellschaft betrifft, womit jede/-r Teilnehmende dergärten, Migrantenorganisationen, Vereine und zu den engagierten Diskussionen mit eigenen Er- einzelne Personen befassen sich intensiv mit akti- fahrungen und Meinungen beitragen konnte, doch ver Integration und arbeiten an sprachlicher und die Personen mit Migrationshintergrund aus unter- beruflicher Förderung, Abbau von Vorurteilen, schiedlichen Kulturen konnten zusätzliche Pers- Förderung von Anerkennung und Gemeinschafts- pektiven aus erster Hand einbringen, die die Veran- gefühl. In dem Seminar „Auf Augenhöhe – Wie In- staltung im Laufe der drei Tage sehr bereicherten. tegration vor Ort in der Praxis gelingt“ beschäftig- Die Seminarleitung stellte fest: „Das Seminar hatte ten sich die Anwesenden damit, wie Integration und den großen Vorteil, dass es Interkulturalität gelebt ein gleichberechtigtes und engagiertes Zusammen- hat. Wir haben hier indische, deutsche, algerische, leben tatsächlich vonstatten gehen können. Dazu afghanische, türkische, russische und serbische Ein- wurden motivierende Beispiele mit Akteuren/Ak- flüsse. Es ist wie in der Gesellschaft, für die wir ar- teurinnen mit und ohne beiten. Das schärfte in den Diskussionen noch ein- Integration ist kein ab- ausländische Herkunft mal den Blick für die Realität.“ straktes Ziel, sondern unter dem Aspekt be- ein Prozess, der zwi- trachtet, wie Integra- schen den beteiligten tionsförderung effektvoll Seminarschwerpunkte und -verlauf Menschen stattfindet und auf Augenhöhe rea- lisiert werden kann, oh- Das Seminar befasste sich schwerpunktmäßig mit ne dabei die rosarote Brille aufzusetzen oder etwa Integration in den Kommunen und stellte effektive „schwarz zu malen“. und in ihrer Durchführung erfolgreiche Projekte vor, die sich zur Umsetzung im eigenen Umfeld eignen. Dass Integration kein abstraktes Ziel ist, sondern Behandelt wurden unterschiedliche Teilbereiche, ein Prozess, der zwischen den Menschen stattfin- beispielsweise Förderung der Jugend und des inter- det, wussten alle am Seminar Beteiligten. Sie ver- kulturellen Verständnisses und Zusammenlebens. ständigten sich noch einmal darauf, bevor gemein- In diesem Rahmen trat auch eine mehrfach ausge- sam gearbeitet wurde. Doch aus der Erkenntnis zeichnete junge Forumstheatergruppe aus Hessen heraus, dass die Umsetzung dieses Leitsatzes nicht auf, die ihre Integrationsarbeit und Vorgehens- einfach ist, dass dabei immer wieder Konflikte und weise mit einem ihrer Theaterstücke präsentierte. Ratlosigkeit auftreten, kamen die 20 Teilnehmenden Die Teilnehmenden wurden aktiv in das Geschehen gemeinsam mit der Seminarleiterin und Hauptrefe- eingebunden und sahen, wie durch das Spiel ein rentin in der Akademie Frankenwarte in Würzburg Bewusstsein für interkulturelle Konflikte und eine hochmotiviert und mit vielen Fragen zusammen. Sensibilisierung für soziale und Selbstkompeten- zen vermittelt wurden. Das Theaterstück und die Das Seminar wurde offen ausgeschrieben, womit anschließende Diskussion wurden von den Anwe- im Vorfeld nicht geplant oder eingeschränkt wur- senden sehr gut aufgenommen und erfuhren gro-

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tiven Arbeit. Mit den Teilnehmenden wurden Ver- © people’s theater gleiche zu anderen Bundesländern angestellt, die große Unterschiede aufzeigten.

Insgesamt wurden die demonstrierten Praxisbeispie- le aus der bundesweiten Integrationsarbeit auf kom- munaler Ebene von der Gruppe sehr gut angenom- men und als Inspirationen für die Umsetzung vor Ort bezeichnet. Es wurden Filme und Powerpoint-Prä- sentationen eingesetzt, um auch bildlich zu vermit- teln, welch vielfältiges „Gesicht“ das Integrations- thema hat – und dass es hierbei konkret um Menschen geht. Ziel war es, Motivation, Wege in der Praxis und Ansprechpartner/-innen zu vermitteln, die Das Dietzenbacher People's Theater-Projekt löst spielend bei der Umsetzung unterstützen können. Ein bedeu- Konflikte tender Punkt in diesem Themenfeld war, unter- schiedliche Möglichkeiten der finanziellen Unter- ße Resonanz in Hinblick auf ein nachahmenswertes stützung durch öffentliche Mittel aufzuzeigen. Eines Konzept für die eigene Kommune. Wichtig war die der größten Probleme bei der Integrationsarbeit ist Feststellung, dass man hierbei nicht nur mit Mi- die Tatsache, dass viele Menschen, die sich ehrenamt- granten/-innen arbeitet, sondern auch mit Deut- lich engagieren, oft nicht die entsprechende Würdi- schen, also mit der gesamten Gesellschaft. gung und ideelle Unterstützung – geschweige denn eine monetäre – erfahren: „Ein Hoch auf das Ehren- Des Weiteren berichtete ein Referent aus seiner amt! Es ist wunderbar, sich für andere Menschen ein- langjährigen Arbeit als Ausländerbeiratsvorsitzen- zusetzen, nur leider hat das Ehrenamt eigentlich gar der, Stadtrat und Vorstandsmitglied der Arbeitsge- keine Lobby und wird viel zu oft ausgenutzt. Es ist ei- meinschaft der Ausländerbeiräte in Bayern (AGABY). ne Schande. Ohne Ehrenamtliche geht unsere Gesell- Er erklärte die kommunal- und landespolitische Si- schaft zugrunde – auch die Integrationsarbeit.“ tuation und Rolle von Ausländer/-innenvertretun- gen im Bundesland mit konkreten Beispielen für Auch die Integrationsarbeit mit jugendlichen Russ- Kompetenzspielräume und Hindernisse einer effek- landdeutschen wurde im Seminar diskutiert. Zwei Sozialarbeiterinnen konnten hierzu aus ih- rem Alltag erzählen und gaben deutlich zu verstehen, dass in die- sem Arbeitsfeld noch umgedacht werden müsse und man viel auf „Motivation und Zu- sammenleben“ zu set- zen hätte: „Oft wird übersehen, dass die üb- liche Integrationsarbeit nicht viel mit der Ar- beit mit Russlanddeut- schen und Spätaussied- lern zu tun hat. Hier gibt es noch nicht viele funktionierende Pro- jekte. Es ist einfach eine andere Zielgruppe und © Homaira Mansury ich habe das Gefühl, dass viele Kommunen Zwei engagierte Jugendliche und ihr pädagogischer Betreuer mischen mit bei der Gestal- sich an dieses Thema tung ihrer Heimatstadt Neuwied/Rhein nicht herantrauen.“

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Ergebnisse und Schlussfolgerungen Integrationsarbeit ist lichkeiten auf der Strecke. nicht als Arbeit nur mit Des Weiteren haben Im Seminar wurde oft die Wichtigkeit von Multi- Migranten/-innen zu Frauen oft entwickeltere plikatoren/-innen mit Migrationshintergrund her- sehen, sondern ist eine Kommunikationsfähig- vorgehoben. Diese sollten stärker in die Integra- gesamtgesellschaftli- keiten und bessere sozi- tionsarbeit einbezogen werden, da sie wesentlich che Aufgabe ale Netzwerke, die für die besser in „Communities“ hineingelangen und dort Integrationsarbeit von arbeiten können oder schlichtweg authentischer großem Nutzen sein können. Deshalb befassen sich und damit überzeugender sind. Netzwerke wer- viele Integrationsprojekte auch aktiv mit Frauenför- den somit effektiver und größer. Die Gruppe be- derung. Jugendliche befinden sich oft in schwieri- mängelte, dass dieses Potenzial in der Gesellschaft geren gesellschaftlichen Situationen, weshalb auch bei weitem noch nicht ausgeschöpft sei, so eine sie verstärkt eine Zielgruppe dieser Arbeit darstel- Teilnehmerin: „Mir ist noch einmal klar geworden, len und dies auch weiterhin sein müssen als der Zu- wie wichtig es ist, Multiplikatoren zu finden, die kunft gestaltende Teil der Gesellschaft. Insgesamt selbst einen Migrationshintergrund haben. Wir müs- war es der Gruppe ein Anliegen, Integrationsarbeit sen dies in unserer kommunalen Arbeit viel mehr nicht als Arbeit konzentriert auf Migranten/-innen fördern, weil so auch bessere Netzwerke entstehen zu sehen, sondern als gesamtgesellschaftliche Auf- können.“ gabe zu betrachten. Gerade bei der Jugendarbeit wurde deutlich, dass das Integrations-„Problem“ In den Diskussionen und auch bei der Präsentation kein zwingend migrantenspezifisches ist, sondern einzelner Projekte wurde immer wieder deutlich, dass soziale und somit wirtschaftliche und kulturel- dass Integrationsarbeit besonders Jugend- und le Exklusion auch Deutsche betrifft. So müssen auch Frauenarbeit ist. In vielen Kulturen und Lebensent- Menschen ohne Zuwanderergeschichte die gleichen würfen bleiben Frauen nicht nur in ihren Rechten, Chancen erhalten und unterstützt werden. sondern auch im Ausleben ihrer persönlichen Mög- Alle Teilnehmer/-innen engagierten sich durchge- © Homaira Mansury hend in den Diskussionen, in denen nicht nur Licht- blicke und Chancen, sondern Hindernisse und komplizierte Herausforderungen in der Integra- tionsarbeit und auch in politischen Zusammenhän- gen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene erörtert wurden. Ein so weit wie möglich realisti- sches Bild der Situation in Deutschland abzubilden und zu analysieren, war ihnen wichtig – eine Schön- färbung des Themas vermieden sie, wodurch das Se- minar sich auch als sinnvoll und effektiv erwies. Die Gleichstellungsbeauftragte eines niedersächsischen Landkreises trat motiviert ihren Heimweg an: „Mei- ne Erwartungen sind erfüllt worden und ich gehe inspiriert in mein Büro zurück. Die Stimmung in der Gruppe während dieser Woche hat gut getan. Wenn man mit Menschen zusammenarbeitet, die an die gleiche Sache glauben und unermüdlich daran arbeiten, stärkt das sehr. Schließlich ist Integrations- arbeit schwierig genug und oft frustrierend.“

Ein langjähriger hessischer Integrationsbeirat re- flektierte die vergangenen Tage im diskussionsfreu- digen Seminar und kam zu dem Schluss: „Das Thema Integration ist oft subjektiv, emotional und komplex. Viele unterschiedliche Blickwinkel, das Zwischenmenschliche, Probleme mit Vorurteilen, die Diese Schülerinnen eines Bremer Schulzentrums mit ei- einfach im Menschen enthalten sind. Diese Heran- ner Migrantenquote von 90 % freuen sich über die Ver- gehensweise hier war wichtig, denn sie ist reali- leihung des Titels „Schule ohne Rassismus – Schule mit stisch. Und auch hier gilt wieder: Alles ist besser, als Courage“ gar nichts zu tun!“

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Literaturhinweis:

Homaira Mansury: Auf Augenhöhe – Integration zum kommunalen Thema machen. Friedrich-Ebert- Stiftung, Bonn 2007 (2. Aufl.)

Homaira Mansury M. A. ist Tochter afghani- scher Eltern. Sie leitete in der Friedrich-Ebert- Stiftung das Projekt „Kommunale Integra- tionsmodelle“ und hat zu diesem und ähnlichen Themen mehrere Schriften ver- fasst. Kürzlich wurde sie zur Delegierten der beratenden Enquete-Kommission „Integra- tion und Migration“ des Landtags Rheinland-Pfalz berufen. Derzeit arbeitet sie als Dozentin bei der Gesellschaft für Politi- sche Bildung (Akademie Frankenwarte) in Würzburg. Adresse: Akademie Frankenwarte, Leutfresserweg 81 – 83, 97082 Würzburg.

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Meldungen

Neuer Bericht „Bildung in Deutschland“ liegt vor

Im Juni legten die Kultusminister- nisse zeigt, dass frühkindliche Bil- triebliche Weiterbildung sanken konferenz und das Bundesminis- dung für die Altersgruppe der um 16 Prozent. Auch im Bereich terium für Bildung und For- Vier- bis Fünfjährigen zugenom- der außerschulischen Lernorte schung gemeinsam den zweiten men hat und der Anteil der Kin- wird ein Trend zum Bericht „Bildung in Deutschland“ der, die bereits mit drei Jahren Abbau von Maßnahmen festge- vor, der alle zwei Jahre erschei- in eine Kindertageseinrichtung stellt. Die Gesamtausgaben für nen soll. Eine unabhängige Wis- gehen, gestiegen ist. Auch die die Jugendarbeit sind zwischen senschaftler/-innengruppe unter Zugänge in die berufliche Ausbil- 2000 und 2006 inflationsbereinigt Leitung des Deutschen Instituts dung pro Jahr weisen hohe Teil- um sechs Prozent zurückgegan- für Internationale Pädagogische nehmerzahlen im Übergangssys- gen. Zu den zentralen Herausfor- Forschung (DIPF) hat diesen Be- tem aus, wobei die gestiegene derungen der nächsten Jahre richt erarbeitet, an dem darüber Nachfrage zu einem kleineren zählt der Bericht eine weitere Er- hinaus das Deutsche Jugendinsti- Teil im Schulberufssystem aufge- höhung von Bildungsangeboten tut (DJI), das Hochschul-Informa- fangen werden konnte. Dagegen in verschiedenen Bereichen des tions-System (HIS), das Soziologi- bleibt die Studiennachfrage Bildungswesens, darunter auch sche Forschungsinstitut an der weiterhin zu gering, wenngleich die Verstärkung von Angeboten Universität Göttingen (SOFI) und nach mehreren Jahren des Rück- und deren Nutzung bei der Wei- das Statistische Bundesamt und gangs in 2007 erstmals wieder ei- terbildung im Erwachsenenalter. die Statistischen Ämter der Län- ne Steigerung der Studienanfän- Ebenso wichtig wie der quantita- der beteiligt waren. Im Mittel- gerzahl verzeichnet werden tive Ausbau sei auch die Qualitäts- punkt des Berichts steht eine konnte. Auch der Bereich der entwicklung im Bildungswesen. Analyse zu Übergängen im An- Weiterbildung stagniert, wobei Die Autorengruppe empfiehlt, schluss an den Sekundarbereich I, die bereits im letzten Bildungsbe- die besondere Aufmerksamkeit jedoch gibt der Bildungsbericht richt konstatierte Diskrepanz in den nächsten Jahren auf eine vor allem einen empirisch abgesi- zwischen der öffentlichen Rheto- Weiterentwicklung von Struktu- cherten Überblick über das deut- rik zum Lebenslangen Lernen ren der beruflichen Ausbildung, sche Bildungswesen, der von der und der tatsächlichen Beteili- eine frühzeitige, differenzierte frühkindlichen Bildung, Betreu- gung der Bevölkerung an allge- und kontinuierliche Förderung ung und Erziehung bis zu den meiner und beruflicher Weiter- von Kindern und Jugendlichen verschiedenen Formen der bildung auch im neuen mit Migrationshintergrund und Weiterbildung im Erwachsenen- Berichtszeitraum nicht aufgelöst Professionalisierungsanstrengun- alter reicht und auch Bildungs- werden konnte und insbesonde- gen beim Ersatz und bei der Er- prozesse einschließt, die mit den re gering qualifizierte Bevölke- weiterung des pädagogischen Begriffen „non-formale Bildung“ rungsgruppen und ältere Men- Personals insbesondere im früh- und „informelles Lernen“ be- schen nur eine schwache kindlichen Bereich und an Schu- schrieben werden. Die Autoren Beteiligung an Weiterbildung len zu richten. und Autorinnen heben hervor, aufweisen. dass es ihnen vor allem um die In den Kapiteln zu den einzelnen Wahrnehmung folgender Aspek- Der Bildungsbericht stellt fest, Bildungsbereichen werden diese te gegangen sei: Bildungsbeteili- dass trotz erhöhter Investitionen Feststellungen ausführlich belegt gung, Bildungs- und Ausbil- der öffentlichen Haushalte in Bil- und begründet. Das Kapitel über dungsabschlüsse, Übergänge im dung, die in der letzten Zeit er- die Allgemeinbildenden Schulen Bildungswesen, Kompetenzer- folgten, die Bildungsausgaben in enthält auch einen eigenen Teil werb, Bildungszeit, Qualitätssi- Deutschland insgesamt nicht ent- zu „non-formalen Lernwelten im cherung und Evaluierung, demo- sprechend dem Wirtschaftswachs- Schulalter“. Hier geht es um Akti- graphische Entwicklungen, tum steigen und bei der Weiter- vitäten von Kindern und Jugend- Bildungsausgaben, Personalres- bildung sogar drastisch gekürzt lichen an Lernorten, die Bildungs- sourcen, Bildungsangebote und wurde. So gingen etwa die Aus- prozesse auf der Grundlage Bildungseinrichtungen sowie Bil- gaben der Bundesagentur für Ar- aktiver Beteiligung und Mitwir- dungserträge. beit für berufliche Weiterbildung kung ermöglichen, also um An- zwischen 1999 und 2005 um etwa gebote der Kinder- und Jugend- Der zusammenfassende Über- 70 Prozent zurück und die Ausga- arbeit, die Mitwirkung in blick über die wichtigsten Ergeb- ben der Unternehmen für be- Vereinen und die Teilnahme an

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Freiwilligendiensten. Hier wird Freiwilligendiensten festgestellt den könne. Außerdem seien die noch einmal unterstrichen, dass werden. Hier hat sich im Zehnjah- Probleme der Weiterbildungsteil- im Unterschied zu anderen Ar- reszeitraum die Zahl der Teilneh- habe von Personen mit Migra- beitsfeldern der Pädagogik in der menden mehr als verdoppelt. tionshintergrund und der Integra- Kinder- und Jugendarbeit das tionsbeitrag der Weiterbildung Angebot an öffentlich geförder- Im Kapitel zur Weiterbildung, das sowohl zu beobachten als auch ten Maßnahmen in den letzten erstmals auch Ergebnisse neuer politisch zu bearbeiten. Jahren im Bundesdurchschnitt internationaler Surveys einbezie- zurückgegangen ist. Es sank zwi- hen konnte, wird darauf hinge- Der Bildungsbericht führt aus, schen 1996 und 2004 von 1,5 auf wiesen, dass die wissenschaftli- welche Wirkungen und Erträge ein Prozent, wobei die Entwick- che Diskussion seit Längerem die Bildung in den verschiedenen Zu- lung in den letzten Jahren unein- Unterscheidung von allgemeiner sammenhängen wie den Arbeits- heitlich verlief. Der Bericht kons- und beruflicher Weiterbildung markt oder bei der individuellen tatiert einen „Bedeutungsverlust mit Skepsis betrachte, jedoch der Lebensführung und der gesell- der Jugendarbeit“, der sich auch Bericht sehr stark auf berufliche schaftlichen Teilhabe hat, wie in der Entwicklung der öffent- Weiterbildung bzw. auf berufli- aber auch Bildungsverläufe vom lichen Ausgaben für die Jugend- che Kontexte der Nutzung von sozialen Hintergrund bestimmt arbeit und im Anteil der in die- Weiterbildung konzentriert sei. werden und welche Gruppen aus sem Bereich pädagogisch tätigen sozioökonomischen Gründen in Personen widerspiegele. Auch wenn der Rückgang der ihren Bildungsverläufen benach- Weiterbildungsbeteiligungsquo- teiligt werden. Zur Beteiligung der Jugendlichen ten inzwischen zum Stillstand ge- in Vereinen, Verbänden und Initi- kommen ist und sogar einige Ein umfangreicher Tabellenan- ativen wird ausgeführt, dass sich kleine Steigerungen verzeichnet hang ergänzt diesen Bericht, der zwar der Anteil der Jugendlichen, werden können, verharre die in- im Internet unter www.bildungs- die sich in solchen Organisatio- dividuelle Weiterbildungsbeteili- bericht.de zusammen mit weiter- nen engagieren, insgesamt kaum gung in den letzten Jahren auf führenden Materialien und Infor- verändert habe, die Beteiligung dem relativ niedrigen Niveau von mationen eingesehen werden an eher geselligkeitsorientierten 2003. Insbesondere weiterbil- kann. Vereinen gegenüber der Mitwir- dungsferne Gruppen mit niedri- kung in interessen- und gemein- ger Schulbildung und niedrigem Das Bundesministerium für Bil- wohlorientierten Vereinen und beruflichen Status konnten nicht dung und Forschung hat zudem Verbänden jedoch erheblich grö- stärker mobilisiert werden. Hin- Daten zur Bildung in Deutsch- ßer ist. Der Bericht stellt zudem gegen verlieren beim individuel- land unter dem Titel „Grund- fest, dass mit dem formalen Bil- len Weiterbildungsverhalten die und Strukturdaten 2007/2008“ dungsniveau einer Person zu- Kategorien Geschlecht ebenso veröffentlicht, die in einer Publi- gleich auch die Wahrscheinlich- wie Ost/West an Bedeutung. kation präsentiert, künftig aber keit steigt, dass sie durch aktive auch über die Webseiten des Mitwirkung die Bildungsangele- Relevant bleibt hingegen das BMBF – www.bmbf.de/gus – zur genheiten des freiwilligen Enga- Alter, wobei die Grenze insbeson- Verfügung gestellt werden. Es gements nutzt. Hier gilt, was dere in der beruflichen Weiterbil- handelt sich um eine Zusammen- auch für den Bereich der Schule dung durch das 50. Lebensjahr stellung von Tabellen und Stati- festgestellt wurde: Die Herkunft markiert wird. Deshalb betont der stiken, die durch einige Hinweise entscheidet über die Wahrneh- Bericht die zunehmende Dring- ergänzt, jedoch nicht kommen- mung von Bildungsangeboten lichkeit der Frage, wie die Weiter- tiert werden. auch außerschulischer Lernorte. bildungszurückhaltung der älte- ren Bevölkerungsgruppe Quellen: www.bildungsklick.de; Auffällige Steigerungsraten angesichts der Altersstruktur der www.bildungsbericht.de, konnten bei der Beteiligung in Gesellschaft durchbrochen wer- www.bmbf.de/gus

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Aufwendungen für Bildung und Forschung sollen steigen

Anfang Juli stellte die Bundesre- mittel, Getränke und Tabakwaren den Ländern nur eingeschränkt gierung ihren Entwurf für den ihre Finanzmittel eingesetzt ha- Bildungsaufgaben finanzieren Haushalt 2009 vor, der Ausgaben ben, während für Bildung ledig- könne. Notwendig sei daher eine von 288,4 Milliarden Euro und lich ein Prozent der Ausgaben grundlegende Reform des Bil- damit 1,8 Prozent mehr als in die- aufgewendet wurde. In Finnland dungssystems mit dem Ziel, sem Jahr vorsieht. Mit einem Plus sind es im gleichen Zeitraum 0,2 bundesweit gleichwertige Le- von 7,8 Prozent sollen die Ausga- Prozent, in Griechenland 2,4 Pro- bensverhältnisse durch eine Ge- ben des Bundes für Bildung und zent, während in Zypern die Men- meinschaftsaufgabe Bildung zu Forschung überdurchschnittlich schen durchschnittlich vier Pro- gewährleisten. steigen. Die Mehrausgaben zent ihrer Mittel für Bildung gegenüber dem laufenden Haus- aufbrachten. Die Bundesarbeitsgemeinschaft halt sollen, so Finanzminister Evangelische Jugendsozialarbeit Peer Steinbrück, für wichtige po- Die Deutschen sind jedoch offen- hat als Reaktion auf den zweiten litische Zukunftsfelder reserviert kundig an mehr Investitionen in Nationalen Bildungsbericht auf werden, zu denen er u. a. Ausga- Bildung interessiert, wie eine die Probleme hingewiesen, die ben für Kinderbetreuung, für Umfrage der Bertelsmann Stif- insbesondere bei der Förderung Forschung und Entwicklung, für tung Mitte Juni zutage förderte. von Jugendlichen sichtbar ge- die Entwicklungshilfe und für In- Danach teilen 95 Prozent der worden seien. Sie beklagt, dass frastrukturmaßnahmen zählt. Deutschen „voll und ganz“ die der soziale Status immer noch Forderung nach mehr Investitio- stärker als in anderen Ländern Allein 450 Millionen Euro zusätz- nen in Bildung. Bildung wird da- ein wesentlicher Faktor beim Zu- lich sind für Forschung und Ent- bei als der entscheidende Schlüs- gang zur Bildung ist. Die Organi- wicklung vorgesehen. Der Etat sel zur Teilhabe aller an den sation fordert, dass junge Men- des Bundesministeriums für Bil- Chancen der Marktwirtschaft schen, die eine besondere dung und Forschung wird auf und damit zu mehr Gerechtigkeit Förderung brauchen, mehr 10,08 Milliarden Euro (und damit gesehen. Unterstützung beim Zugang zu um 730 Millionen Euro mehr als Bildung und Teilhabe erfahren. 2008) steigen. Ob die Bundesre- Die Bundestagsfraktion Die Linke Dazu könnten zusätzliche Förder- gierung ihre Vorstellungen forderte in einem Antrag (BT- angebote in der Schule beitra- durchsetzen kann, wird allerdings Drucksache 16/9808) die Aufnah- gen. Die Jugendsozialarbeit biete noch von einigen Unsicherheiten me einer Gemeinschaftsaufgabe diese innerschulisch in Zu- abhängen, wie beispielsweise der Bildung in das Grundgesetz. Da- sammenarbeit mit den Lehrkräf- weiteren Konjunkturentwicklung mit sollen gemeinsame Program- ten und auch außerschulisch an, und dem Urteil des Bundesverfas- me von Bund und Ländern zur wozu jedoch eine enge Koopera- sungsgerichts zur Pendlerpau- Finanzierung besserer Bildung tion zwischen Jugendhilfe und schale. Der Bundestag wird in der möglich werden. Ein nationaler Schule Voraussetzung sei. Diese Woche vom 15. bis 19. September Bildungspakt soll zur schrittwei- müsse deutlich verstärkt werden. erstmalig über den Etatentwurf sen Steigerung des Anteils von Die Bundesregierung wird aufge- der Regierung beraten, die Ver- öffentlichen Bildungsausgaben fordert, diese Bemühungen zu abschiedung des Haushalts 2009 am Bruttoinlandsprodukt auf unterstützen, indem sie z. B. ein ist für die letzte Novemberwoche mindestens sieben Prozent füh- Bundesprogramm „Schulbezoge- vorgesehen. ren. Die Fraktion Die Linke for- ne Jugendsozialarbeit“ auflegen derte zudem, die Unentgeltlich- soll, das bereits vorhandene An- Nach Berechnungen des Statisti- keit von Bildung im Grundgesetz sätze aus einzelnen Bundeslän- schen Bundesamtes und anderer zu verankern. Dazu sollte in ei- dern aufgreifen und bundeswei- Quellen lagen die Ausgaben der nem ersten Schritt mit den Län- te Aktivitäten initiieren soll. Bundesrepublik Deutschland für dern die Gebührenfreiheit von Bildung auf den verschiedenen Kindertagesstätten, Ausbildung Auch die Wirtschaft hat ihre Ebenen im EU-Vergleich unter und Hochschulen sowie Lernmit- „Wünsche für eine bessere Bil- dem Durchschnitt. Das gilt – be- telfreiheit vereinbart werden. dung“ artikuliert und Bundesprä- zogen auf das Jahr 2005 – auch Die Linke kritisierte in diesem Zu- sident Köhler beim „Fest für klei- für die privaten Haushalte, die sammenhang die Föderalismusre- ne Forscher“ vorgetragen. Die vor allem für Wohnen, Lebens- form, nach der nun der Bund mit „Wissensfabrik“ – ein Netzwerk

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von 64 Unternehmen – hat diese Annette Schavan vor allem auf chen zu schließen: empirische Wünsche gesammelt. Sie zielen Grundlagen der Bildungsfor- Untermauerung der Fachdidakti- darauf, neben naturwissenschaft- schung, die von der Bildungspoli- ken, Nutzung und Auswertung lichen und technischen Inhalten tik für zielgerichtetes Handeln von Daten der Statistik für wis- auch verstärkt das Thema Wirt- genutzt werden können. Das senschaftliche Fragestellungen schaft im Schulunterricht aufzu- Bundesministerium für Bildung und zuverlässige Messung von greifen. Wenn Wirtschaft in Lehr- und Forschung hat deshalb ein Kompetenzen in den unter- plänen und Schulbüchern neues Programm aufgelegt, mit schiedlichen Bildungsbereichen. vorkomme, werde sie bislang dem bis zum Jahr 2015 jährlich häufig einseitig dargestellt. Die bis zu 30 Promotionsstellen mit Quellen: Zweiwochendienst Wissensfabrik will den Bildungs- insgesamt 22,5 Millionen Euro (02.07.2008), heute im bundes- dialog mit allen Beteiligten im gefördert werden sollen. Sie tag, Nr. 202 und 205, bildungs- Bildungssektor ausbauen. sollen exzellenten wissenschaft- klick.de, Pressemitteilung vom lichen Nachwuchs in der Bildungs- 27.06.2008 der Bundesarbeitsge- Die Qualität des Bildungssystems forschung sichern helfen. Dabei meinschaft Evangelische Jugend- beruht nach Auffassung von geht es vor allem um das Ziel, sozialarbeit e. V., Pressemittei- Bundesbildungsministerin Forschungslücken in drei Berei- lung des Wissensfabrik – Unter- nehmen für Deutschland e. V.

Bundesregierung beschließt Weiterbildungsprämie

Die Bundesregierung will künftig lich abziehbare Aufwendungen bis zum Jahr 2015 auf 50 Prozent Personen mit einem zu versteu- über dem Arbeitnehmer-Pausch- steigern und setzt dafür Bundes- ernden Jahreseinkommen von bis betrag von 920 Euro liegen. Mit mittel sowie Mittel des Europäi- zu 17.900 Euro (Ledige) und der Prämie soll dem finanziell schen Sozialfonds ein. 35.800 Euro (Ehepaare) mit einer weniger begüterten Personen- Prämie in Höhe von maximal 154 kreis, der von dieser steuerlichen Weiterbildung ist allerdings Euro unterstützen, die sie in die Regelung nicht profitiert, ein An- zuerst Sache der Länder. In der eigene berufliche Weiterbildung reiz zur individuellen beruflichen Weiterbildung sind nach einer investieren können, falls sie min- Weiterbildung gegeben werden. Untersuchung des Bundesinsti- destens die gleiche Summe aus ei- tuts für Berufsbildung (BIBB) und gener Tasche für die Kursgebüh- Die Prämie soll im Herbst 2008 des Deutschen Instituts für Er- ren aufbringen. Die Regierung starten. Sie kann einmal im Jahr wachsenenbildung (DIE) zum hat in diesem Zusammenhang dafür eingesetzt werden, um Weiterbildungsklima Ende 2007 auch einen Entwurf zur Änderung 50 Prozent der Seminarkosten die Länder Berlin, Hamburg, des Vermögensbildungsgesetzes oberhalb einer Bagatellgrenze Bayern und Baden-Württemberg (BT-Drucksache 16/9560) vorge- von 30 Euro zu finanzieren. „Spitze“. Bremen, Thüringen und legt. Er ermöglicht Arbeitneh- Zusätzlich soll ein Weiterbil- Mecklenburg-Vorpommern hin- mern/Arbeitnehmerinnen, künftig dungsdarlehen allen Menschen – gegen haben die niedrigsten auch auf Guthaben aus angespar- unabhängig von der Höhe ihres „Klimawerte“. Der Klima-Index ten vermögenswirksamen Leistun- Einkommens – zur Verfügung für die Weiterbildung, der aus gen zur Finanzierung ihres Eigen- stehen. Angaben zur aktuellen wirt- anteils zurückgreifen zu können, schaftlichen Lage von Anbietern selbst wenn die Sperrfrist noch Die Bundesregierung hat einige und ihren Erwartungen für die nicht abgelaufen ist. In einem sol- Initiativen für die Förderung des nahe Zukunft ermittelt wird, chen Fall würde die staatliche Zu- Lebenslangen Lernens gestartet, zeigt ein Ost-/West- bzw. Nord-/ lage ebenfalls gezahlt. die auf Empfehlungen des Inno- Süd-Gefälle. Dabei gibt es vor al- vationskreises Weiterbildung be- lem Unterschiede zwischen An- Bereits heute können Ausgaben ruhen, die seit März 2008 vorlie- bietern beruflicher und allgemei- für die berufliche Weiterbildung gen. Ziel dieser Initiativen ist es, ner Weiterbildung. Das positive steuerlich geltend gemacht wer- deutlich mehr Menschen als bis- Gesamtbild wird von den Einrich- den. Davon profitieren aber nur her für Weiterbildung zu interes- tungen geprägt, die berufliche Personen, die viel Einkommens- sieren. Die Regierung möchte die Weiterbildung anbieten. Sie stel- steuer zahlen und deren steuer- aktuelle Quote von 43 Prozent len mit einem Anteil von 56 Pro-

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zent auch die größte Anbieter- „Klimawerte“ weisen private An- len und Einrichtungen der Wirt- gruppe. Anbieter ausschließlich bieter mit plus 34 (auf einer Skala schaft. Die niedrigsten Werte ver- allgemeiner, politischer oder kul- von minus 100 bis plus 100) und melden Einrichtungen der Kir- tureller Weiterbildung sehen ihre selbständige Trainer mit plus 37 chen, Gewerkschaften und Lage weniger rosig. Die höchsten aus, gefolgt von Fachhochschu- Volkshochschulen.

Berufsbildungsbericht 2008 im Parlament

Der Deutsche Bundestag erörter- Die Fraktion Bündnis 90/Die Grü- oder lernbehindert sind. Die te den Berufsbildungsbericht nen konzedierte zwar eine leich- finanzielle Unterstützung ist bis 2008 am 24. April. Dieser Berufs- te Verbesserung auf dem Ausbil- Ende 2010 befristet. Nach dem bildungsbericht dokumentiert dungsmarkt, stellte jedoch nach Entwurf ist für den Ausbildungs- auf 400 Seiten die Vielfalt der wie vor bestehende strukturelle bonus im Haushalt der Bundes- Wege, die von der Schule in die Probleme in der Berufsausbil- agentur für Arbeit mit Mehraus- Arbeitswelt führen und Weiter- dung fest, die nicht allein mit gaben in Höhe von 450 Millionen qualifizierung ermöglichen. Geld zu beheben seien. Statt „im- Euro zu rechnen. Gewerkschaf- mer nur eins drauf“ zu setzen, ten und Arbeitgeber fürchten Bilanziert wird die Situation im seien integrierte Maßnahmen er- durch den Ausbildungsbonus Ausbildungssektor im Jahr 2007. forderlich. Berufsvorbereitende „drohende Mitnahmeeffekte“, Danach wurden rund 625.900 Maßnahmen müssten auf jene denn die Zielgruppe sei viel zu Ausbildungsverträge neu abge- konzentriert werden, die sie nö- weit gefasst, weil sie praktisch schlossen. Seit der Wiedervereini- tig hätten, wozu auch gehöre, alle Altbewerber erfasse. Statt- gung ist dies die zweithöchste das Dickicht der Vorbereitungs- dessen sollten mit dem Ausbil- Vertragszahl. Während die und Qualifizierungsmaßnahmen dungsbonus nur „wirkliche Bundesregierung durch Bundes- von Bund, Ländern, Kommunen Problemfälle“ gefördert werden. bildungsministerin Annette Scha- und BA zu lichten. Den Vorstellungen von BDA und van die Bilanz durchweg positiv DGB zufolge sollten Unterneh- beurteilte, betonten Vertreter Besonders umstritten in der Dis- men den Bonus bekommen und Vertreterinnen der Opposi- kussion über die Zukunft der Be- können, die zusätzlich solche tionsfraktionen die Schwachstel- rufsausbildung ist die Frage nach Jugendlichen ausbilden, die sich len. Die Fraktion Die Linke warf dem Sinn eines „Ausbildungsbo- seit mindestens einem Jahr er- der Bundesregierung vor, mit ih- nus“, den die Bundesregierung folglos um eine Lehrstelle be- rer Berufsbildungspolitik keine im Rahmen ihrer Qualifizierungs- müht und in der Regel höchstens Zukunft zu schaffen. Nach wie vor initiative für bis zu 100.000 Alt- einen mittleren Schulabschluss sei die Zahl von Altbewerbern zu bewerber für Ausbildungsplätze haben und lernbeeinträchtigt hoch. Auch die Zahl der ausbil- angeboten hat. In einer öffent- oder sozial benachteiligt sind. denden Betriebe lasse zu wün- lichen Anhörung des Bundestags- Auch die Länderkammer hatte schen übrig, und Jugendliche ausschusses für Arbeit und Sozia- für eine engere Abgrenzung der könnten entweder ihren Ausbil- les reklamierten Arbeitgeber und Jugendlichen plädiert, die von dungswunsch nicht realisieren Gewerkschaften dringenden Kor- der Unterstützung profitieren oder seien, wie Jugendliche mit rekturbedarf. Der von der sollten. Migrationshintergrund, bei der Bundesregierung vorgelegte Ge- Suche nach einem Ausbildungs- setzentwurf sieht einen Ausbil- Die Bundesregierung lehnte platz benachteiligt. Die Linken dungsbonus in Höhe von 4.000 Änderungen am geplanten Aus- kritisierten den Ausbildungspakt bis 6.000 Euro für jede zusätzli- bildungsbonus, die insbesonde- zwischen Wirtschaft und Bundes- che Lehrstelle vor, wenn die ein- re die Definition der Zielgruppe regierung als einen der Gründe gestellten Jugendlichen die Schu- betreffen, gegenüber dem für die heutige Misere, da er den le mindestens bereits im Vorjahr Bundesrat ab. Dennoch hat sie Betrieben die Legitimation verlassen haben, sich schon frü- die Kritik bei einer Veränderung verschafft habe, sich aus ihrer Ver- her um einen Ausbildungsplatz des Gesetzentwurfs berücksich- antwortung für die Bereitstellung bemühten und keinen, einen nie- tigt und hat für Realschüler mit von Ausbildungsplätzen zurück- drigen oder einen schlechten schlechten Noten in Mathema- zuziehen. mittleren Schulabschluss besitzen tik und Deutsch im Abschluss-

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zeugnis den Ausbildungsbonus les stimmte dem geänderten Quellen: Plenarprotokoll, nunmehr als Ermessens- und Gesetzentwurf der Bundesregie- Nr. 16/157, bildungsklick.de, nicht mehr als Pflichtleistung rung zu und begrüßte ihn als heute im bundestag Nrn. 161 vorgesehen. Der Bundestags- „echte Chance für benachteilig- und 162 ausschuss für Arbeit und Sozia- te Jugendliche“.

Regierungskoalition zur Lage der politischen Bildung

Die Bundestagsfraktionen von politischen Bildung, deren Erfah- werden. In diesem Zusammen- CDU/CSU und SPD haben in einem rungen und Potenziale stärker mit hang wird auch die Notwendig- gemeinsamen Antrag (BT-Druck- anderen präventiven und repressi- keit betont, politische Bildung zu sache 16/9766) die Lage der poli- ven Maßnahmen verzahnt wer- fördern, die sich insbesondere tischen Bildung in Deutschland den sollen. mit ethisch bzw. moralisch be- zum Anlass genommen, den Bei- gründeten Bedenken gegen Glo- trag der politischen Bildung beim Der Antrag weist darauf hin, dass balisierung und Marktwirtschaft Aufbau und bei der Festigung der politische Bildung in ihren Struk- auseinandersetzt. Politische Bil- Demokratie in der Bundesrepu- turen über Jahrzehnte hinweg dung wird hier verstanden als blik Deutschland zu würdigen auf die deutsche Bevölkerung Aufklärung auch über die norma- und auf die heutigen Aufgaben konzentriert worden sei, nun aber tiven Zusammenhänge in einer der politischen Bildung hinzuwei- den Zugewanderten die Grundzü- globalisierten Welt und soll ver- sen. Dabei machen sie geltend, ge der freiheitlich-demokrati- schiedene Ansätze multilateralen dass die deutsche politische Bil- schen Grundordnung vermittelt Handelns aufzeigen. dung im internationalen Ver- werden sollten, um Integration gleich einzigartig ist und bewun- auch politisch in demokratischem Die Förderrichtlinien der Bundes- dert werde. Ihr Ziel müsse es sein, Sinne gelingen zu lassen. zentrale für politische Bildung die aktive Wahrnehmung der sollen daraufhin überprüft wer- bürgerlichen Rechte zu fördern. Das Augenmerk soll weiterhin den, wie sie einer sich verändern- Die Bundesregierung soll ver- politik- und bildungsfernen Ziel- den Praxis bei den Trägern politi- stärkte Aktivitäten auf dem Feld gruppen in besonderem Maße scher Bildung durch mehr der politischen Bildung entfalten, gelten, für die zeitgemäße For- Flexibilisierung und Modifizie- um die Identifizierung mit der mate politischer Bildung entwi- rung Rechnung tragen können. parlamentarischen Demokratie ckelt werden sollen. Hier sollen und die Akzeptanz der freiheit- niedrigschwellige Ansätze die Die Bundesregierung wird aufge- lich-demokratischen Grundord- „klassischen multiplikatorischen fordert, an der Aufgabe der poli- nung zu fördern. Dabei wird der Strategien der politischen tischen Bildung auch künftig Blick vor allem auf die Bundes- Bildung“ ergänzen. festzuhalten und ihr Augenmerk zentrale für politische Bildung ge- nicht nur den parteinahen politi- richtet, die bei der Wahrneh- Weitere Forderungen der Koali- schen Stiftungen, sondern den mung dieser Aufgaben von tionsfraktionen zielen auf die über 340 Trägern der politischen zentraler Bedeutung sei. Entwicklung neuer Methoden Bildung zu widmen, die von der bei der Vermittlung von Zeitge- Bundeszentrale für politische Bil- Die Bundeszentrale soll Bemühun- schichte, für die ein zwischen dung gefördert werden. Diese gen der Länder und engagierter Bund und Ländern unter Einbe- Herausforderungen sollen im Eltern sowie des pädagogischen ziehung der Träger politischer Rahmen der geltenden Finanz- Personals unterstützen, damit die Bildung abgestimmtes Gesamt- planung berücksichtigt werden. politische Bildung und demokrati- konzept der politischen Bildung sche Werteerziehung bereits in erarbeitet werden soll. Auch soll Der Vorsitzende des Bundesaus- der frühkindlichen Erziehung zur politische Bildung stärker für das schusses Politische Bildung (BAP) Geltung kommt. Auch die An- Zukunftsprojekt Europa aktivie- hat in einer Stellungnahme das in strengungen beim Kampf gegen ren, wozu die Erleichterung von diesem Antrag formulierte Anlie- Extremismus und Fremdenfeind- europäischen Begegnungen und gen ausdrücklich unterstützt. Er lichkeit sollen verstärkt werden. die Vernetzung guter Praxis der stimmt den darin beschriebenen Dies sei eine Daueraufgabe der politischen Bildung angeregt Aufgaben der politischen Bildung

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zu und unterstützt und bekräftigt Der BAP fordert mit den Antrag- derungen auch mit innovativen die insgesamt neun Forderungen stellern eine adäquate Ausstat- Mitteln begegnen zu können, so- des Antrags, in denen das breite tung von Trägern und Einrichtun- wie die notwendige Unterstüt- Aufgabenfeld und die Rolle der gen politischer Jugend- wie zung bei der Erforschung und Er- politischen Bildung in einer leben- Erwachsenenbildung, weist aber probung neuer Praxis seien die dig und stabil zu haltenden De- auch darauf hin, dass damit nicht unverzichtbaren Grundlagen für mokratie deutlich gemacht wer- nur die 340 durch die Bundeszen- die geforderte Weiterentwicklung den. Allerdings wird darauf trale für politische Bildung geför- politischer Bildung und die Inno- hingewiesen, dass politische Bil- derten Träger, sondern auch dieje- vationsfreude ihrer Träger. dung in den vergangenen Jahren nigen Träger der politischen politisch und finanziell erheblich Jugendbildung gemeint sind, die Quellen: www.bundestag.de, vernachlässigt und als notwendi- über den Kinder- und Jugendplan hib – heute im bundestag Nr. 204, ger Bildungsbereich infragege- des Bundes gefördert werden. Fi- BT-Drucksache 16/9766 (elektro- stellt wurde. Das habe die Lage nanzielle Absicherung und eine nische Vorabfassung), Bundes- der politischen Bildung in Flexibilisierung der jeweiligen För- ausschuss Politische Bildung, Deutschland deutlich erschwert. derrichtlinien, um neuen Anfor- 11. Juli 2008.

Diskussion über politische Bildung in Mecklenburg-Vorpommern

In Mecklenburg-Vorpommern ist getragen werden sollen. Der Bus auf denen doch immer die glei- die politische Bildung seit Einzug hält auf Schulhöfen und öffent- chen Multiplikatoren sitzen, er- der NPD in den Landtag wieder lichen Plätzen besonders in klei- reicht man z. B. die jungen Men- stärker in den Fokus des politi- neren Orten, um mit den Bürge- schen, die sich sonst an den schen Handelns gerückt. Dabei rinnen und Bürgern, mit Bushaltestellen und an den Tank- bemüht man sich um neue For- Schülerinnen und Schülern, Leh- stellen treffen, nicht“, so Sebasti- men, um den Wert der Demokra- rerinnen und Lehrern und allen an Ratjen, Mitglied der FDP-Frak- tie zu vermitteln und für demo- Interessierten ins Gespräch zu tion. Wolfgang Methling von der kratisches Engagement zu kommen. Linkspartei sah eine Fülle von Trä- werben. Bereits im Mai wurde gern, die wie Elternhaus, Schule, unter dem Motto „Demokratie Die Ansätze der politischen Bil- Unis, Parteien, Verbände und Kir- auf Achse“ ein „politischer Bil- dung standen auch im Mittel- chen dafür zuständig seien, „die dungsbus“ auf eine Tour durch punkt einer aktuellen Stunde im Demokratie weiterzubringen“. Dörfer und Städte in Mecklen- Landtag Mecklenburg-Vorpom- burg-Vorpommern gestartet. Es mern Anfang Juni. Dabei beweg- SPD-Fraktionschef Volker Schlot- handelt sich dabei um eine ge- te die Abgeordneten vor allem mann schlug vor, dass kommuna- meinsame Aktion des Bildungs- die Frage, wie die Inhalte der po- le Vereine und Stiftungen und ministeriums mit der Landeszen- litischen Bildung zu den Men- die Parteien in der politischen Bil- trale für politische Bildung und schen vor Ort zu bringen seien. dung unter der Koordination der dem Landesbeauftragten für die Insbesondere die FDP-Fraktion Landeszentrale für politische Bil- Stasi-Unterlagen, mit der Ange- kritisierte, dass die breite Masse dung enger zusammenarbeiten bote der politischen Bildung der der Bürgerinnen und Bürger sollten. Landeszentrale und die Bera- durch die bisherigen Programme tungsangebote des Landesbeauf- nicht erreicht werde. Mit „intel- Quellen: mvregio.de, Schweriner tragten in die Fläche des Landes lektuell geführten Konferenzen, Volkszeitung vom 05.06.2008

Neue Impulse für die Freiwilligendienste

Im Juni lief das Modellprogramm aus. An seine Stelle tritt das neue nuar 2009 startet und bis Ende „Generationsübergreifende Frei- Programm „Freiwilligendienste al- Dezember 2011 mit 22,5 Millio- willigendienste“ nach drei Jahren ler Generationen“, das am 1. Ja- nen Euro gefördert wird. Dafür

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wurde ein Ideenwettbewerb für zeitig neue Impulse für die Zu- Maßnahmen zur Stärkung des Träger und Kommunen ausge- sammenarbeit von Zivilgesell- bürgerschaftlichen Engagements schrieben. Bundesweit sollen 30 schaft und Staat. Älterer. Die Fraktion legte einen „Leuchtturmprojekte“ mit jährlich Antrag (BT-Drucksache 16/9630) 50.000 Euro gefördert werden. Auf einer deutsch-niederländi- vor, der von der Bundesregierung Das neue Programm setzt auf eine schen Konferenz zum bürger- fordert, sämtliche Gesetze und enge Zusammenarbeit und Ab- schaftlichen Engagement älterer sonstige Vorschriften des Bundes stimmung mit den Ländern, kom- Menschen, die am 9. Juli in Berlin dahingehend zu überprüfen, ob munalen Spitzenverbänden und stattfand, forderte der Parlamen- diskriminierende Altersgrenzen Wohlfahrtsverbänden. tarische Staatssekretär Dr. Her- darin bestehen. Auch soll das Ge- mann Kues neue Strategien bür- richtsverfassungsgesetz so novel- Weitere Informationen dazu gerschaftlichen Engagements. Die liert werden, dass die bestehende unter www.bmfsfj.de und Potenziale des bürgerschaftlichen obere Altersgrenze für Schöffin- www.alter-schafft-neues.de. Engagements seien bei weitem nen und Schöffen aufgehoben noch nicht ausgeschöpft. Die wird. Zudem seien Unterstützung Was das zivile Engagement in Niederlande haben mit 21 Pro- und langfristige Sicherung einer Deutschland bewirkt und welche zent der über 50-Jährigen die mit notwendigen Infrastruktur für Formen es hat, will das Bundes- Abstand höchste Quote freiwilli- das bürgerliche Engagement äl- ministerium für Familie, Senio- gen Engagements in Europa, terer Menschen notwendig. Die ren, Frauen und Jugend erstmals während Deutschland mit zehn demographische Entwicklung, so mittels wissenschaftlicher Be- Prozent nur auf einem unteren die Grünen in der Begründung gleitforschung untersuchen. Das Mittelplatz liegt. Deshalb erhoffe ihres Antrags, mache das Enga- Wissenschaftszentrum Berlin für man sich von den niederländi- gement älterer Menschen zuneh- Sozialforschung soll erste Ergeb- schen Erfahrungen Anregungen mend notwendig. Da eine Gene- nisse im Frühsommer 2009 vorle- für die Entwicklung neuer Kon- ration der Älteren entstehe, gen. Dabei geht es vor allem um zepte. Auf der Konferenz in Berlin die für einen großen Lebensab- den Zusammenhang von bürger- diskutierten Vertreterinnen und schnitt vollkommen frei über ihre schaftlichem Engagement und Vertreter der EU-Kommission, von Zeit verfügen könne, sei es nötig, Familien unterstützenden Dienst- Ministerien, kommunalen Spit- Angebote und Rahmenbedin- leistungen und eine Antwort auf zenverbänden, Seniorenorganisa- gungen zu schaffen, die allen die Frage, in welcher Form bür- tionen und ehrenamtlichen Initia- Menschen unabhängig von ihrem gerschaftliches Engagement die tiven u. a. darüber, wie die Alter die Chance eröffnen, sich Vereinbarkeit von Familie und Partizipation alter Menschen ge- zu beteiligen und ihre Erfahrun- Beruf unterstützen kann. Mit der stärkt werden kann, welche Quali- gen und ihr Wissen einzubrin- Initiative des BMFSFJ „Miteinan- fizierungsangebote dafür not- gen. der-Füreinander“ soll die „Enga- wendig sind und wie man gezielt gementpolitik“ stärker als bisher Menschen ausländischer Herkunft Quellen: Pressemitteilungen gebündelt und bekannt gemacht einbeziehen kann. Nrn. 291, 293 und 308 des Bun- werden. Die Initiative vernetzt, desministeriums für Familie, Se- berät und koordiniert die vielfäl- Auch die Bundestagsfraktion nioren, Frauen und Jugend und tigen Aktivitäten und gibt gleich- Bündnis 90/Die Grünen fordert heute im bundestag, Nr. 211.

Bürgerrechtler fordern Rücknahme von Grundrechtseinschränkungen

Die Herausgeber des Grundrech- publikanische Anwältinnen- und che Experten und Expertinnen te-Reports – der Bundesarbeits- Anwälteverein und die Vereini- aus Wissenschaft, Rechtspraxis, kreis Kritischer Juragruppen, die gung demokratischer Juristinnen Medien und Politik die sicher- Gustav Heinemann-Initiative, die und Juristen – hat zu einer Kon- heitspolitischen Entwicklungen Humanistische Union, die Inter- ferenz zum Thema „Sicherheits- der letzten Jahre und mögliche nationale Liga für Menschenrech- staat am Ende. Kongress zur Zu- Alternativen. Der seit 1997 jähr- te, das Komitee für Grundrechte kunft der Bürgerrechte“ nach lich erscheinende „Grundrechte- und Demokratie, die Neue Rich- Berlin eingeladen. Vom 23. bis Report“ berichtet über hoheitli- tervereinigung, ProAsyl, der Re- 24. Mai 2008 diskutierten zahlrei- che Einschränkungen und

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Verletzungen grundrechtlich ver- von Grundrechtseinschränkungen behörden. Auch sei kein Platz für bürgter Freiheitsgarantien. Er fordert. Sie bezieht sich auf die in Einsätze der Bundeswehr im In- versteht sich als „alternativer den letzten Jahren so genannten land oder eine zivil-militärische Verfassungsschutzbericht“, in Sicherheitsgesetze, durch die im- Zusammenarbeit, da eine freie dem Verfassungsbrüche aufge- mer mehr Menschen ins Visier Gesellschaft keine Militarisierung führt werden, die in den Verfas- staatlicher Überwachung gerie- vertrage. Die grundrechtlichen sungsschutzberichten nicht auf- ten. Die Gesellschaft brauche Freiheiten müssten in vollem Um- tauchen. Dabei bedient sich der überwachungsfreie Räume und fang auch für Migrantinnen und „Grundrechte-Report“ ausschließ- müsse auf Ermittlungsmaßnah- Migranten und Flüchtlinge gel- lich öffentlich zugänglicher und men, die in den Kernbereich pri- ten, die ebenso einen uneinge- überprüfbarer Quellen. vater Lebensgestaltung eingrei- schränkten Anspruch auf den fen, verzichten. Staatliches Schutz ihres Privatlebens hätten. Auf dem Kongress wurde eine Re- Handeln solle offen, erkennbar solution verabschiedet, die den und überprüfbar sein. Dem Quelle: Pressemitteilung der Stopp weiterer Überwachungs- widerspreche die zunehmende Gustav Heinemann-Initiative vorhaben und die Rücknahme Zentralisierung von Sicherheits- vom 25. Mai 2008.

Kinderarmut als Herausforderung der Kinder- und Jugendpolitik

Die Gewerkschaft Erziehung und aufwachsen, und solchen, deren leinerziehenden Eltern stark von Wissenschaft hat die Vorlage des Alltag durch Hoffnungslosigkeit, dauerhafter Armut bedroht sind, neuen „Armuts- und Reichtums- Mangel und Ausgrenzung ge- ein Anteil von 15 Prozent der Kin- berichts“ der Bundesregierung prägt ist, konstatiert der „UNI- der im Alter von drei bis 17 Jah- zum Anlass genommen, Investi- CEF-Bericht zur Lage der Kinder ren Verhaltensauffälligkeiten und tionen in Bildung zu fordern. Der in Deutschland“, der im Mai in emotionale Probleme zeigt, mehr Vorsitzende der GEW, Ulrich Thö- Berlin vorgestellt wurde. Danach Kinder und Jugendliche als in an- ne, führte aus, dass Bildung ein ist Deutschland im internationa- deren Ländern rauchen und bis wichtiger Schlüssel sei, um die len Vergleich der Industrienatio- zu 17 Prozent der Jugendlichen von Generation zu Generation nen Mittelmaß, wenn es darum übergewichtig sind. Auch im Be- vererbte Armut zu durchbrechen. geht, eine verlässliche Lebensum- reich der Bildung werden soziale Es sei höchste Zeit für eine ge- welt für Kinder zu schaffen und Benachteiligungen weiter ver- meinsame, abgestimmte Politik den Ausschluss von benachteilig- schärft. Das hoch selektive deut- zwischen Bund, Ländern, Kom- ten Kindern zu verhindern. sche Bildungssystem grenzt nicht munen und anderen gesellschaft- nur die schwächeren Schüler aus, lichen Kräften. Notwendig sei ei- Eine Forschergruppe unter Feder- sondern scheint offensichtlich ne Kultur des Förderns und führung von Hans Bertram (Deut- auch die besseren Schüler nicht so Unterstützens, die niemanden zu- sches Jugendinstitut) untersuchte zu fördern, dass sie im internatio- rücklasse. Kinder, insbesondere verschiedene Dimensionen des nalen Vergleich mithalten könn- aus bildungsfernen Familien und Aufwachsens. Die Ergebnisse ih- ten. Die frühkindliche Förderung Migrantenhaushalten, müssten so rer Forschung vertiefen die Er- ist – zumindest im westlichen Teil früh und so gut wie möglich in Ki- gebnisse der internationalen Ver- Deutschlands – unterentwickelt. tas von qualifiziertem Personal gleichsstudie von UNICEF zur Dort besuchen trotz verstärkter unterstützt und gebildet werden. Situation von Kindern in den Anstrengungen nur 6,2 Prozent Zudem müsse eine veränderte Bil- OECD-Ländern vom vergangenen der Kinder unter drei Jahren eine dungspolitik durch einschneiden- Jahr. Diese Studie wies Deutsch- Betreuungseinrichtung, wobei de sozial- und familienpolitische land in keiner Dimension des jüngere Kinder aus benachteilig- Maßnahmen flankiert werden. kindlichen Wohlbefindens einen ten Familien besonders davon der vorderen Ränge zu, sondern profitieren könnten, wenn sie ei- Dass in Deutschland die Kluft Deutschland lag beim Vergleich ne Tageseinrichtung besuchten zwischen Arm und Reich wächst, von 21 Ländern auf Platz 11. Die und den Eltern ermöglicht werde, auch zwischen Kindern, die ge- Ergebnisse der neuen Untersu- berufstätig zu sein. Von den Kin- sund, abgesichert und gefördert chung zeigen, dass Kinder von al- dern aus Einwandererfamilien

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verlassen etwa 17 Prozent die blems gemachten Lösungsvor- wiesen darauf, dass im Herbst der Schule ohne Abschluss. schläge seien von Widersprüchen „Existenzminimumbericht“ vor- gekennzeichnet. Die Erhöhung gelegt werde, der Anhaltspunkte Am 28. Mai nahm die Bundesre- von Kinderzuschlägen und die für zielgerichtetes Handeln zur gierung in einer Fragestunde zu Einführung des Betreuungsgel- Bekämpfung der Armut biete. den Ergebnissen der Untersu- des würden auf der anderen Sei- chungen zur Kinderarmut in te durch Steuererhöhungen kon- Die Bundesministerin für Familie, Deutschland Stellung. Sie war terkariert. Die FDP wolle keine Senioren, Frauen und Jugend, Ur- von der Abgeordneten Dagmar Verteilungspolitik, sondern Hilfe sula von der Leyen, richtete den Enkelmann (Die Linke) gefragt für die wirklich Bedürftigen, die Blick auf die Erfahrungen in an- worden, welche Maßnahmen sie zielgenau und bedarfsgerecht deren Ländern, die deutlich we- als Konsequenz aus den Ergeb- sein müsse. Mit Investitionen in niger Kinderarmut als Deutsch- nissen der Studie zu ziehen ge- die frühkindliche Bildung, an der land aufwiesen. Für die Senkung denke. Dr. Hermann Kues, Parla- sich auch die Länder mehr beteili- der Kinderarmut gebe es nicht mentarischer Staatssekretär beim gen sollten, würden die Chancen ein einzelnes Erfolgsrezept, son- Bundesministerium für Familie, auf Teilhabe erhöht. Auch sollte dern es komme auf einen klugen Senioren, Frauen und Jugend, für alle Altersgruppen Betreuung Mix von Maßnahmen an. Neben wies darauf hin, dass die Untersu- gewährleistet werden, wobei es dem Versuch, die Situation der chungen in einer Umwälzungs- nicht allein um den quantitativen Kinder zu verbessern, müsse man phase entstanden seien, die da- Ausbau der Kinderbetreuung, auch die Situation der Eltern be- durch gekennzeichnet war, dass sondern vor allem um den quali- rücksichtigen. Im Fokus dieser Po- einem stetigen Anstieg der Ar- tativen Ausbau gehe. litik sollten vor allem die Kinder beitslosenzahl eine dann einset- von Alleinerziehenden, die Kin- zende Verminderung folgte. Während Johannes Singhammer der aus kinderreichen Familien Dennoch blieben die Armutsrisi- (CDU/CSU) auf die Erhöhung des und die Kinder mit Migrations- ken gleich. Die Regierung werde Kindergeldes und den Ausbau hintergrund stehen. An diesen wesentlich mehr für Kinderbe- der Kindertagesbetreuung ver- drei Gruppen setze das Konzept treuung und die Vereinbarkeit wies, um Eltern bei der ökonomi- der Bundesregierung an. Mit der von Familie und Beruf tun müs- schen Existenzabsicherung zu „Kaskade“ Elterngeld, Kinderzu- sen. Es gebe einen Zusammen- unterstützen, warf die Fraktion schlag und Kindergeld versuche hang zwischen Kinderarmut und Die Linke der Bundesregierung die Bundesregierung, die Fami- Chancenungleichheit von Kin- vor, ihre Maßnahmen in Hoch- lien in der Mitte der Gesellschaft dern in der Gesellschaft, und es glanzbroschüren zu bejubeln, oh- zu halten und zu verhindern, müsse alles getan werden, um je- ne den Worten Taten folgen zu dass sie in Armut abrutschen. dem Kind spätestens zum Zeit- lassen. Notwendig sei ein eigen- punkt der Einschulung eine faire ständiger Kinderregelsatz, der Das Bundesministerium für Fami- Chance zu geben. die „Bedarfe“ realitätsnah abbil- lie, Senioren, Frauen und Jugend de. In einem ersten Schritt sei stellte im Juli eine Initiative „Für Am 5. Juni 2008 beriet der dieser Kinderregelsatz auf min- ein kindergerechtes Deutsch- Bundestag über Anträge der destens 300 Euro zu erhöhen, das land“ vor, deren Ziel es ist, ge- FDP-Fraktion, der Fraktion Bünd- Kindergeld sollte auf mindestens rechte Startbedingungen für Kin- nis 90/Die Grünen und der Frak- 200 Euro erhöht werden. der und Jugendliche auf allen tion Die Linke, in der es auch um föderalen Ebenen und in sämt- das Problem der Kinderarmut Die SPD verwies darauf, dass man lichen Bereichen der Gesellschaft ging. Miriam Gruß (FDP) verwies sich über die Ursachen von Kin- zu etablieren. Mit dem Nationa- auf die hohe Zahl von Kindern, derarmut weitgehend einig sei. len Aktionsplan für ein kinder- die in Deutschland in Armut le- Das Problem solle nicht mit punk- gerechtes Deutschland 2005 – ben. Die materielle Armut gehe tuellen Maßnahmen, sondern 2010 seien die dafür nötigen mit schlechterer Gesundheit, grö- durch ein Gesamtkonzept gelöst Perspektiven, Forderungen und ßerem emotionalen Stress und werden, mit dem auf allen staat- Maßnahmen gebündelt worden. schlechteren Teilhabechancen lichen Ebenen – Bund, Länder In der Zwischenbilanz wurde dar- von Kindern einher. Sowohl die und Kommunen – gearbeitet auf hingewiesen, dass Kinderge- Untersuchungen zur Zahl der von werden müsse. Es sei zudem eine rechtigkeit schon heute einen Armut betroffenen Kinder wie Querschnittsaufgabe und nicht hohen Stellenwert habe, jedoch auch die von der Bundesregie- die Aufgabe nur eines Ressorts. im Alltag auf viele Hindernisse rung zu Bewältigung des Pro- Die Regierungsfraktionen ver- stoße.

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Der „Nationale Aktionsplan für Wirtschaft zu knüpfen. Städte ven Taten gegen Kinderarmut ein kindergerechtes Deutschland und Kommunen werden für ihre vorgehen müsse. Die Kinderar- 2005 – 2010“ geht auf den Welt- vielfältigen Vorhaben unter- mut stehe bereits seit vielen Jah- kindergipfel der Vereinten Natio- stützt, engagierte Personen und ren auf der politischen Tagesord- nen im Jahr 2002 zurück. Um ihn Initiativen schaffen eine gemein- nung, aber die Problemlage in die Praxis umzusetzen und an same Plattform für Information, ändere sich nicht, wie die aktuel- bereits erreichte Erfolge anzu- Austausch und Beratung, der len Studien zeigten. Dies könne, knüpfen, wurde die Initiative Deutsche Bundesjugendring rea- so Andrea Hoffmeier, stellvertre- „Für ein kindergerechtes lisiert ein Projekt, über das sich tende Vorsitzende des Deutschen Deutschland“ gestartet, um die Kinder und Jugendliche intensiv Bundesjugendrings, nicht länger politische und öffentliche Auf- an der Umsetzung des Nationa- hingenommen werden. merksamkeit für Kindergerech- len Aktionsplans beteiligen kön- tigkeit zu erhöhen, Aktivitäten nen. Der Deutsche Bundesjugend- Quellen: bildungsklick.de, Plenar- auf bundes-, landes- und vor al- ring forderte angesichts der protokolle 16/162 und 16/166, lem auf kommunaler Ebene an- aktuellen Studien und Berichte Pressemitteilung Nr. 307 des zustoßen und ein starkes Netz- zur Armut in Deutschland, dass BMFSFJ und Pressemitteilung werk aus Politik, Gesellschaft und die Politik umgehend mit effekti- 19/2008 des DBJR.

Deutscher Jugendhilfetag in Essen stellte Thema „Gerechtes Aufwachsen“ in den Mittelpunkt

Vom 18. bis 20. Juni 2008 fand in Essen auf dem Messegelände der ken, gute Bildung für alle zu Armin Laschet, sprach in Vertre- 13. Deutsche Kinder- und Jugend- ermöglichen und ein kinder- und tung seines Ministerpräsidenten hilfetag statt, den die Arbeitsge- jugendfreundliches Umfeld zu und betonte wie Bundespräsi- meinschaft für Kinder- und Ju- schaffen. Wer den Kindern ge- dent Horst Köhler die Bedeutung gendhilfe – AGJ – organisiert. recht werden wolle, müsse es der Bildung, die darüber ent- Insgesamt konnten rund 40.000 ihren Eltern ermöglichen, selb- scheide, ob ein junger Mensch in Besucher/-innen gezählt werden, ständig für sie sorgen zu können. der Gesellschaft Erfolg habe oder die sich auf den zahlreichen Ver- Notwendig seien zudem bessere nicht. Er verwies auf die Notwen- anstaltungen und an den Stän- Schulen, die mehr seien als nur digkeit von Lernorten für Kinder den der beteiligten Jugendhilfe- ein Ort zum Lernen und Kindern und Jugendliche außerhalb des organisationen über den Stand Raum geben, die Welt zu erfah- formalen Bildungssystems, zu de- der Kinder- und Jugendhilfe und ren. Ganztagsschulen sollten nen neben der Familie Jugend- Angebote der Jugendarbeit infor- nicht einsame Leuchttürme verbände, Sportvereine, Kirchen- mierten. Die Veranstaltung – die bleiben, sondern „endlich Schule gemeinden und andere größte europäische Fachveran- machen“. Institutionen gehörten. In der staltung zur Jugendhilfe – stand Freiwilligenarbeit lernten Ju- unter dem Motto „Gerechtes Es müsse zudem genügend at- gendliche und junge Menschen Aufwachsen ermöglichen! Bil- traktive Angebote für Freizeit für ihr Leben. Laschet sprach sich dung, Integration, Teilhabe“. und Engagement geben. Köhler dafür aus, insbesondere auch 330 Aussteller aus der gesamten plädierte für mehr Zusammenar- Kinder aus Auswanderungsfami- Bundesrepublik präsentierten beit der Beteiligten in der Kin- lien zu unterstützen, denn wenn sich auf der Fachmesse und orga- der- und Jugendhilfe. Er wünsche ihnen kein gerechtes Aufwach- nisierten Fachveranstaltungen für sich einen neuen Aufbruch für sen ermöglicht werde, könne die die Praxis (siehe dazu auch „Aus Kinder und Jugendliche. Jugend- Gesellschaft insgesamt nicht ge- dem AdB“ in diesem Heft). Der liche brauchten Orte, an denen recht werden. Kongress wurde von Bundespräsi- sie ihren Wert erfahren und spü- dent Horst Köhler eröffnet, der ren könnten, dass sie gebraucht Der AGJ-Vorsitzende Norbert auf den „geradezu eisernen und geschätzt werden. Struck zog zum Ende der Veran- Zusammenhang zwischen der staltung eine positive Bilanz. Von Herkunft und der Zukunft von Der Minister für Generationen, Essen aus müsse als Botschaft in Kindern“ in Deutschland hinwies. Familie, Frauen und Integration die Republik gehen, dass kein Er empfahl, die Familien zu stär- des Landes Nordrhein-Westfalen, Kind und kein Jugendlicher der

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Gesellschaft verloren gehen dür- Kinder- und Jugendhilfepreis Buch „Schläge im Namen des fe. Von der Politik forderte er, 2008 (früher: Hermine-Albers- Herrn – das verdrängte Schicksal den Hartz-IV-Satz um 20 Prozent Preis) verliehen. Dieser ging an der Heimkinder in der Bundesre- anzuheben und den Anteil neu den Verein zur Förderung akzep- publik“. zu berechnen, der Kindern und tierender Jugendarbeit in Bre- Jugendlichen zusteht. Struck men, der seit Jahren Vor-Ort-Ar- sprach sich zudem für eine Kin- beit am rechten Rand leistet. Die Quellen: Presseinformation dergrundsicherung aus. Medienauszeichnung des Deut- Nr. 514 der AGJ, Manuskripte der schen Kinder- und Jugendhilfe- Reden von Bundespräsident Am Ende des Deutschen Kinder- preises 2008 erhielt der SPIEGEL- Horst Köhler und und Jugendhilfetages wurde der Autor Peter Wensierski für sein Minister Armin Laschet.

BMFSFJ legt Evaluation des Aktionsprogramms Mehrgenerationenhäuser vor

90.000 Menschen gezählt, von mit Freiwilligen zusammen. Über Die Bundesministerin für Familie, denen knapp 10.000 regelmäßige einen Zeitraum von fünf Jahren Senioren, Frauen und Jugend, Ur- Angebote wahrnehmen. Der grö- wird jedes Haus mit jährlich sula von der Leyen, betonte an- ßere Teil dieser Angebote bringt 40.000 Euro gefördert, 200 der lässlich der Vorlage von Ergebnis- junge und alte Menschen zusam- 500 Häuser werden aus Mitteln sen einer Evaluation zum men. Die Ministerin sieht in den des Europäischen Sozialfonds Aktionsprogramm Mehrgenera- Mehrgenerationenhäusern ein (ESF) kofinanziert. tionenhäuser, dass der Genera- Erfolgsmodell für haushaltsnahe tionenzusammenhalt so wichtig Dienstleistungen. Dazu gehören Das Ministerium will die Potenzi- wie nie zuvor sei. Das 2006 ins Le- Betreuungsangebote, Essensan- ale der älteren Generationen ins- ben gerufene Aktionsprogramm, gebote und 240 andere Dienstlei- besondere im Bereich des ehren- mit dem bundesweit in jedem stungen wie etwa Haushaltshil- amtlichen Engagements heben Landkreis und jeder kreisfreien fen oder Fahrdienste. Die und hat deshalb ein auf drei Jah- Stadt Mehrgenerationenhäuser Ministerin betonte, dass man aus re hin ausgelegtes und mit 22,5 geschaffen werden sollten, sei den Prinzipien von Familien ler- Millionen Euro ausgestattetes ein Erfolg. Inzwischen gibt es 500 nen könne, wie heute der Kreis- Bundesprogramm „Freiwilligen- Mehrgenerationenhäuser in al- lauf des Gebens und Nehmens dienste aller Generationen“ aus- len Teilen der Republik. Es enga- zwischen den Generationen wie- gerufen. Es handelt sich um ein gieren sich 15.000 Männer und der zu beleben sei. Dazu seien je- Angebot für alle Altersgruppen, Frauen in den Mehrgeneratio- doch Orte notwendig, an denen insbesondere aber ältere Men- nenhäusern, wobei die Alters- sich Menschen aller Generatio- schen, die ihr Wissen und ihre Ar- gruppe zwischen 30 und 65 Jah- nen selbstverständlich im Alltag beitskraft verlässlich über einen ren am stärksten vertreten ist. begegnen, voneinander lernen längeren Zeitraum ehrenamtlich Von diesen Engagierten sind und sich gegenseitig unterstüt- aber verbindlich für eine Einrich- rund 60 Prozent berufstätig und zen können. tung oder ein Projekt zur Verfü- stellen für ihr Engagement ihre gung stellen wollen. Freizeit zur Verfügung. In den Im Rahmen des Aktionspro- Mehrgenerationenhäusern wer- gramms Mehrgenerationenhäu- Quellen: Pressemitteilungen den täglich insgesamt rund ser arbeiten professionelle Kräfte Nrn. 289 und 273 des BMFSFJ.

Bundestag diskutierte über Lage der Ausländer/-innen in Deutschland

Nachdem im letzten Dezember weiter über die Frage diskutiert ten Menschen zu verbessern. Im der 7. Bericht über die Lage der worden, wie die Politik dazu bei- Juni diskutierte der Deutsche Ausländerinnen und Ausländer in tragen kann, die Integration der Bundestag über die Konsequen- Deutschland vorgelegt wurde, ist nach Deutschland eingewander- zen aus dem Bericht in Zu-

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sammenhang mit einer Reihe von vollen Rechte und Pflichten von chen, die ins Ausland verbracht Anträgen, in denen die Fraktion Staatsbürgern/Staatsbürgerinnen worden sind und dort durch Die Linke eine zügigere Vorlage eintreten zu können. Druck zu einer Verheiratung ge- des Berichts forderte, die FDP- zwungen werden. Ihnen sollte Bundestagsfraktion die Verbesse- Der FDP-Abgeordnete Hartfrid die Möglichkeit gegeben wer- rung und Entbürokratisierung Wolff begrüßte für seine Frak- den, nach Deutschland zurückzu- der Integrationskurse anregte tion, dass der Bericht den Wandel kehren. Auch der Umgang mit in und die Fraktion Bündnis 90/Die der Prioritäten in der migrations- Deutschland illegal lebenden Grünen die Beteiligung des Parla- politischen Debatte konstatiere. Ausländern und Ausländerinnen ments bei der Ausgestaltung des Erst diese Neuorientierung habe sei eine „Baustelle“, die noch Einbürgerungstests reklamierte. es Deutschland ermöglicht, sich nicht abgeräumt sei. Nach wie als Zuwanderungsland zu verste- vor seien Personen, die illegal Staatsministerin Maria Böhmer, hen und entsprechende Anforde- hier Lebenden helfen, von Strafe Beauftragte der Bundesregie- rungen an die Migranten zu for- bedroht. Sollte sich der Gesetzge- rung für Integration, würdigte mulieren. Die Bundesregierung ber nicht zum Handeln entschlie- den Nationalen Integrationsplan habe gleichwohl noch einiges zu ßen und eine Gesetzesänderung als integrationspolitisches Ge- tun, gerade bei der Sprachförde- auf den Weg bringen, sei dar- samtkonzept, mit dem alle staat- rung. Bei den Integrationskursen über nachzudenken, ob man lichen Ebenen und die Zivilgesell- müsse nachjustiert werden. im Bereich der Verwaltungsvor- schaft, vor allen Dingen die schriften zu Veränderungen Migrantinnen und Migranten, Bereits im Mai hatte das Parla- kommen und deutlich sagen kön- einbezogen worden seien. Die ment im Zusammenhang mit der ne, dass sich niemand strafbar Bundesregierung habe in der In- ersten Debatte über den Migra- mache, der illegal in Deutschland tegrationspolitik umgesteuert tionsbericht auch über die Inte- sich Aufhaltenden aus humanitä- und setze auf echte Partner- grationskurse gesprochen. Die ren Gründen z. B. medizinische schaft. Es komme dabei vor allem FDP hatte gefordert, dass im Rah- Hilfe leiste. Die Übermittlungs- auf die Felder Bildung, Arbeit, men der Integrationskurse 1.200 pflichten sollten ausdrücklich auf Wohlstand, soziale Anerkennung Unterrichtsstunden durchgeführt solche Behörden und Stellen be- und politische Teilhabe an. Für werden sollten, da mit den bisher schränkt werden, die mit der Ge- Integrationskurse stelle der Bund geltenden 900 Lernstunden ein währleistung der Einhaltung von 155 Millionen Euro zur Verfü- gefordertes Niveau nicht erreicht Sicherheit und Ordnung beschäf- gung, ein kleiner Teil der rund werde, wie die Praxis zeige. Die tigt sind. drei Viertel Milliarden Euro, die Bundesregierung hatte einen Er- für die Schlüsselaufgabe Integra- fahrungsbericht zu den Integra- Sevim Dagdelen von der Fraktion tion aufgewendet würden. Die tionskursen vorgelegt, der darauf Die Linke nahm die Ergebnisse Ministerin würdigte vor allem die hinwies, dass die Teilnahme an des Berichts zum Anlass, von der Verdienste der Unternehmerin- den Veranstaltungen innerhalb Regierung ein umfassendes So- nen und Unternehmer ausländi- eines Jahres (von 2005 bis 2006) fortprogramm zu verlangen. Der scher Herkunft, die zwei Millio- um rund zehn Prozent gesunken Bericht setze jedoch die weitge- nen Arbeitsplätze in Deutschland ist. Der Trend setzte sich auch im hende Unkonkretheit der im Na- geschaffen hätten. Zu den Zah- ersten Halbjahr 2007 mit einem tionalen Integrationsplan der len des Berichts, die eine beschä- weiteren Rückgang von fünf Bundesregierung enthaltenen mende Situation der Ausländer- Prozent fort. Maßnahmen fort. Ihre Fraktion innen und Ausländer in lehne die beabsichtigte inhaltli- Deutschland offenbarten, merkte Auch die SPD konstatierte durch che Neukonzeption des Lagebe- sie an, dass es sich dabei um Zah- ihren Abgeordneten Rüdiger Veit richts ab. Die Bundesregierung len aus dem Jahr 2005 handele Handlungsbedarf und konzedier- versuche sich an einer Integra- und man nun mit Hochdruck an te, dass es bei der Verbesserung tionspolitik, ohne zu analysieren, der Stärkung der Elternarbeit, der Integrationskurse zwar be- aus welchen Gründen Migrantin- der Investition in Bildung und der reits Fortschritte gegeben habe, nen und Migranten noch immer Vorbereitung von Lehrerinnen aber die Vergütung pro Stunde stark benachteiligt sind. Der und Lehrern auf die neue Schul- und Teilnehmer erhöht werden kürzlich veröffentlichte Armuts- wirklichkeit arbeite. Die Einge- solle. Er forderte zudem eine Ver- bericht der Bundesregierung ge- wanderten sollten dazu ermutigt besserung des Rückkehrrechtes be darauf Hinweise. Integration werden, die deutsche Staatsbür- für von Zwangsverheiratung be- werde zunehmend zu einem in- gerschaft anzunehmen, um in die troffene junge Frauen und Mäd- dividuellen Problem der Men-

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schen mit Migrationshintergrund kraft der Integrationsbeauftrag- anderen Bereichen Anstöße ge- gemacht. Wenn mehr Bildung ten, die mit ihren Vorschlägen geben. Seine Partei werde jedoch gefordert werde, sei von struktu- nicht durchdringen könne. Zu- im Gegensatz zu den anderen rellen Defiziten im Bildungssy- dem könne man den Erfolg der Fraktionen im Hause damit auf- stem keine Rede. Wenn Beteili- Integrationspolitik nicht nur mit hören, Konflikte und Probleme gung gefordert werde, müsse Blick auf die Migrantinnen und auf dem Weg zu gelingender In- man den Menschen auch gleiche Migranten messen, sondern müs- tegration in Deutschland zu tabu- Rechte geben, damit sie im ge- se auch die aufnehmende Gesell- isieren. Das heiße auch, Themen sellschaftlichen Leben partizipie- schaft in den Blick nehmen. So wie patriarchalische Vorstellun- ren könnten. Die Abgeordnete dürfe nicht nur die Zahl der Schul- gen und Ehrenmorde anzuspre- bemängelte fehlende Aussagen abschlüsse berücksichtigt werden, chen. Die Integration in Deutsch- zur Situation der Betroffenen, sondern es sei auch systematisch land könne nur gelingen, wenn die nach der Novellierung des Zu- zu erfassen, welche speziellen Bil- die Bürgerinnen und Bürger das wanderungsgesetzes nicht mit ih- dungsangebote und Förderungs- Gefühl bekämen, dass Zuwande- ren Ehepartnern zusammenleben angebote überhaupt in den rung nach Deutschland begrenzt können. Auch gebe es kein kriti- Bundesländern vorhanden seien und gesteuert werde. Die Vorstel- sches Wort zu den seit einigen bzw. ausgebaut würden. Winkler lungen der EU-Kommission trü- Jahren dramatisch gesunkenen bezeichnete die Integrationspoli- gen hingegen nicht dazu bei, das Einbürgerungszahlen. Der Frak- tik der Bundesregierung als eine Vertrauen der Bürger zu fördern. tion der Grünen warf Sevim Dag- „Politik mit erhobenem Zeigefin- Deshalb werde sich die CDU/CSU- delen vor, Mitverantwortung für ger“. Der Bericht zeige, dass die Fraktion ihnen mit aller Entschie- die schlimme Situation der Mi- Bundesregierung bisher vor allem denheit widersetzen. grantinnen und Migranten wie festzulegen versucht habe, was auch der Deutschen im Lande zu Migrantinnen und Migranten in Nach der Debatte, an der sich tragen, da sie die neoliberale Deutschland lernen, respektieren noch weitere Abgeordnete betei- Politik der Rot-Grün-Regierung und befolgen müssen. ligten, folgte der Deutsche unterstützt habe. Bundestag mit der Mehrheit von Hartmut Koschyk (CDU/CSU) wer- SPD, CDU/CSU und Bündnis Für Bündnis 90/Die Grünen kriti- tete hingegen den Bericht als Be- 90/Die Grünen der Beschlussemp- sierte Joseph Philip Winkler, dass leg dafür, dass der von der fehlung des Innenausschusses, wie beim Nationalen Integra- Bundesregierung eingeleitete Po- den Antrag der Fraktion Die Lin- tionsplan auch am aktuellen La- litikwechsel in der Integrations- ke mit dem Titel „Für die zügige gebericht der Integrationsbeauf- politik sich gelohnt habe und Vorlage eines qualifizierten Be- tragten alles an Maßnahmen Deutschland auf einem guten richts über die Lage der Auslän- ausgeblendet werde, was die Weg sei, Integrationsland in Euro- derinnen und Ausländer in rechtliche Beteiligung von Aus- pa zu werden. Die CDU/CSU habe Deutschland“ abzulehnen. länderinnen und Ausländern för- sich schon früh dafür ausgespro- dern solle. Winkler bemängelte chen, Sprache als Schlüssel zur In- Quellen: BT-Drucksachen 16/9222, die unzureichende Durchschlags- tegration anzusehen und auch in 16/9593, Plenarprotokoll 16/169.

IJAB zur Zukunft internationaler Jugendarbeit

Über 170 Fachkräfte diskutierten Konkrete Ziele in insgesamt 15 sion: Der Staatssekretär im vom 23. bis 25. Juni 2008 in Bonn Handlungsfeldern der Internatio- Bundesjugendministerium, Gerd unter dem Motto „Jugend Global nalen Jugendarbeit waren zu de- Hoofe, betonte, dass Jugendar- 2020“ die Zukunft internationa- finieren. Diskutiert wurde in Fach- beit künftig noch stärker als Quer- ler Jugendarbeit. Im Vordergrund foren und Podiumsrunden, mit schnittsaufgabe zwischen Bil- standen Fragen von Bildung und Blick auf bestehende Good-Practi- dungs- und Arbeitsmarkt-, Kinder- Beschäftigung, Chancengleich- ce-Projekte ebenso wie neueste und Jugendpolitik aufgestellt sein heit, aktiver Bürgerschaft und wissenschaftliche Erkenntnisse. müsse. Zugleich forderte er aus Demokratie, interkulturellem Di- den Reihen der Praxis eine „ziel- alog und weltweiter Zusammen- Besonders herausgestellt wurde gerichtete Politikberatung“. Auch arbeit. die politisch-strukturelle Dimen- die Fachkräfte der internationa-

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len Jugendarbeit mahnten eine interkulturelles Lernen künftig und des gelungenen konzeptio- bessere ressortübergreifende Zu- schon im Kindesalter beginnen. nellen Ansatzes konnten wir eine sammenarbeit an – vor allem zur Die Fachkräfte plädierten außer- sehr offene und breite Debatte Stärkung gemeinsamer Maßnah- dem dafür, den Zugang benach- führen. Das machte eine echte men der nicht-formalen und for- teiligter Jugendlicher zu Ange- Perspektivdebatte möglich, die malen Bildung. boten der internationalen wir in den kommenden Jahren an Jugendarbeit weiter auszubauen. einzelnen Punkten fortführen Einig waren sich die Experten Dies geschah nicht zuletzt unter und für unserer aller Arbeit nut- weiter darin, dass eine stärkere dem Eindruck zahlreicher Good- zen werden“, resümierte der Vernetzung zwischen Trägern Practice-Projekte, die den Beitrag IJAB-Vorsitzende Lothar Harles. internationaler Jugendarbeit auf internationaler Jugendarbeit zur allen Ebenen – lokal, regional, Beschäftigungsfähigkeit von Ju- Die Ergebnisse des Kongresses national, europäisch und interna- gendlichen verdeutlichten. werden in Kürze auf der Website tional – notwendig ist. Zu den www.jugend-global-2020.de ein- vereinbarten Zielsetzungen ge- Der Veranstalter des Kongresses, gestellt. In einem Jahr ist ein Fol- hörte insbesondere auch das IJAB-Fachstelle für Internationale low-Up geplant. frühzeitigere Heranführen jun- Jugendarbeit der Bundesrepublik ger Menschen an internationale Deutschland, zog eine positive Bi- Erfahrungen. Durch Absenken lanz: „Dank der zahlreich erschie- des Förderungsalters könnte nenen Expertinnen und Experten Quelle: Pressemitteilung des IJAB

Bundestagsdebatte 60 Jahre Israel

Am 29. Mai erörterte der Deut- und von niemandem infrage ge- Konrad Adenauer und David sche Bundestag aus Anlass des 60- stellt werden dürfe. Dennoch Ben-Gurion, die unter schwieri- jährigen Bestehens von Israel das könne die gegenwärtige Situa- gen Bedingungen den Weg der deutsch-israelische Verhältnis. Pe- tion nicht im Interesse Israels lie- Versöhnung beschritten hatten. ter Struck, Fraktionsvorsitzender gen, schon gar nicht im Interesse Er wies darauf hin, dass die Men- der SPD, erinnerte an die unendli- der Palästinenser. Deutschland schen in der einzigen Demokratie che Schuld, die die Deutschen mit solle helfen, wo es gefragt sei, um im Nahen Osten in den vergange- der Verfolgung und Ermordung zu einer Friedenslösung im Nahen nen 60 Jahren keinen einzigen der europäischen Juden während Osten beizutragen. Tag wirklich in Frieden leben der Nazizeit auf sich geladen hät- konnten. Dabei gefährde nicht Is- ten. Deutschland habe Israel auf Guido Westerwelle (FDP) stellte rael den Frieden im Nahen Osten, seinem Weg immer unterstützt, fest, dass es im Bundestag trotz sondern die Staaten, die sein Exi- da die Verbrechen der Nazis eine aller Kontroversen in dieser Fra- stenzrecht nicht anerkennen. Mit immer währende Verantwortung ge große Übereinstimmung ge- Gewalt könne kein Frieden er- der Deutschen für den jüdischen be. Die von den Kriegs- und reicht werden. Man sehe neben Staat begründeten. Diese Verant- Nachkriegsgenerationen in Israel dem Existenzrecht Israels aber wortung sei Teil deutscher Staats- und Deutschland erbrachte Aus- auch die Wünsche der Palästinen- räson. Auch wenn inzwischen der söhnungsleistung sei das große ser, in einem eigenen Staat die Umgang der beiden Staaten mit- Geschenk an die Generation von Zukunft zu gestalten. Kauder äu- einander alltäglich geworden sei, heute. Israel sei die einzige wirk- ßerte die Hoffnung, dass die is- könne das Verhältnis zu Israel nie- lich voll ausgeprägte Demokratie raelische Demokratie im Nahen mals normal werden. Deutsch-is- in der gesamten Region. Die Osten ansteckend wirke. raelische Normalität sei, im Wis- Freundschaft mit Israel sei auch sen um das Geschehene die geprägt von der Wertegemein- Petra Pau (Die Linke) bekräftigte Erinnerung wach zu halten und schaft unter Demokraten und ebenfalls das Existenzrecht des mit den Lehren aus der Vergan- gehe tief in die Gesellschaften Staates Israel, weil dieser Staat genheit die gemeinsame Zukunft hinein. für Jüdinnen und Juden in aller zu gestalten. Struck bekräftigte Welt eine Überlebensversiche- das Existenzrecht Israels, das Volker Kauder (CDU/CSU) er- rung sei. Deshalb dürfe es frak- außerhalb jeder Diskussion stehe innerte an die Verdienste von tionsübergreifend keinen Zweifel

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daran geben, dass 60 Jahre Israel lands vor dem Hintergrund der Zwangslage Israels, ohne dass auch für ihre Fraktion ein wichti- deutsch-jüdischen Vergangen- man mit jedem Vorschlag der is- ges Jubiläum sei. Der seit der heit ein. Die Erinnerung an den raelischen Politik einverstanden Staatsgründung Israels bestehen- Holocaust und die Bewältigung sein müsse. Die bilateralen Bezie- de Konflikt sei – wie viele andere dieser deutschen Vergangenheit hungen sollten noch dichter ge- auch – in der Zeit des Kalten Krie- dürfe niemals aufgegeben wer- staltet und zukunftsorientierter ges zum Stellvertreterkrieg zwi- den. Die Bekämpfung von Anti- ausgebaut werden. So sei verab- schen den Weltblöcken West und semitismus und Ausländerfeind- redet worden, das deutsch-israe- Ost geworden. Nach wie vor sei lichkeit in Deutschland müsse lische Zukunftsforum in diesem keine Lösung dafür in Sicht. Petra höchste Priorität haben. Die Be- Jahr in Gang zu bringen, das ei- Pau forderte, die Initiativen in Is- ziehungen zu Israel müssten wei- ner jungen Generation Perspekti- rael und in Palästina mehr zu ter intensiviert werden. Zudem ven bei der Zusammenarbeit in unterstützen, die nach einer Lö- müsse Israel auch vor einer mög- Wirtschaft, Kultur und Wissen- sung des Konflikts suchten. lichen militärischen Bedrohung schaft bieten solle. Schließlich sei Deutschland stehe in einer Dop- geschützt werden. Die Erfolge die dritte wichtige Aufgabe das pelverantwortung: gegenüber im Friedensprozess seien stark Engagement für Frieden im Na- den Jüdinnen und Juden in tiefer gefährdet. Auch die Palästinen- hen Osten. Europa könne bei der Schuld, jedoch dürfe es auch kei- ser müssten daran erinnert wer- Arbeit an den Rahmenbedingun- nen Zweifel am Recht der Palästi- den, dass sie durch Terror und gen auf dem Weg zu einer Zwei- nenser geben, in Würde zu le- Gewalt niemals Frieden und staatenlösung helfen. Die Men- ben. Sie bezeichnete das jüdische Wohlstand für ihre Bevölkerung schen in der Region müssten Leben in Deutschland als ein hi- erlangen könnten. Die einzige spüren, dass sich der Weg zum storisch unverdientes Geschenk mögliche Lösung für die Region Frieden lohne. und eine Bereicherung. Noch sei sei eine Zweistaatenlösung. jüdisches Leben hierzulande alles Jedoch sei auch Israel zu emp- Auch andere Abgeordnete, die andere als normal, da Synagogen fehlen, die Friedenswilligen, Ge- sich an der Debatte beteiligten, und jüdische Schulen und Kinder- waltfreien und Gewaltablehnen- bekräftigten die Verpflichtung, gärten besonders geschützt wer- den im Palästinenserlager mehr das Existenzrecht Israels zu si- den müssten. Der Antisemitismus zu stärken, als dies seit der Konfe- chern und die guten Beziehun- grassiere noch immer oder schon renz in Annapolis geschehen sei. gen zu Israel zu vertiefen. Auch wieder inmitten der Gesellschaft. in der Hoffnung auf Frieden im Deshalb sei es wichtig, dass sich Der Bundesminister des Auswär- Nahen Osten, die sich bis heute Kolleginnen und Kollegen aus al- tigen, Frank-Walter Steinmeier, nicht erfüllte habe, war man len Fraktionen zusammengefun- sah 60 Jahre nach der Gründung sich einig. Nichts sei Israel so den hätten, um sich diesen ge- Israels drei Kernaufgaben für die sehr zu wünschen wie ein dau- sellschaftlichen Problemen fern deutsche Außenpolitik. Er bestä- erhafter friedlicher Ausgleich aller Parteirituale zuzuwenden. tigte das Eintreten für die Exi- mit seinen Nachbarn und das stenz und die Sicherheit des Staa- Ende der Bedrohungen durch Fritz Kuhn (Bündnis 90/Die Grü- tes Israel, das eine Konstante Terrorangriffe. nen) ging in seinem Beitrag vor deutscher Außenpolitik bleiben allem auf die Konsequenzen für müsse. Dazu gehöre aber auch die praktische Politik Deutsch- Verständnis und Empathie für die Quelle: Plenarprotokoll 16/163

Antisemitismus auch in der Mitte der Gesellschaft

Bei einer Anhörung des Innen- len Schichten anzutreffen sei. ihre führende Rolle im interna- ausschusses, die im Juni 2008 Nach sozialwissenschaftlichen tionalen Kampf gegen Antise- stattfand, forderten die Sachver- Studien könne von einem „latent mitismus gelobt, wobei vorge- ständigen zu weiteren Anstren- antisemitischen Einstellungspo- schlagen wurde, auf parlamen- gungen im Kampf gegen Antise- tenzial“ in der Bevölkerung von tarischer Ebene das Amt eines mitismus in Deutschland auf, der 20 Prozent ausgegangen werden. Bundesbeauftragten für den in allen Altersgruppen und sozia- Die Bundesregierung wurde für Kampf gegen Antisemitismus zu

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schaffen. Jedoch gebe es auch stütze auch die Qualifizierung NS-Vergangenheit sei, auch dies Tendenzen, die Verantwortung von Fachkräften der politischen ein Ergebnis der Studie, nach wie aufgrund der deutschen Vergan- Bildung und die Bildung von vor wichtig. Eine demokratische genheit abzulehnen und die Kompetenzzentren. Einstellung gehe häufig einher Tabuisierung des Antisemitismus mit der Aufarbeitung der NS-Ver- abzuschwächen. Deshalb würden Die Leipziger Internetzeitung gangenheit, die Scham und Schuld antisemitische Einstellungen heu- veröffentlichte am 18. Juni 2008 wegen familiärer Verstrickungen te offener geäußert als früher. einen Bericht über eine neue Stu- zulasse. Der Publizist Henryk M. Broder die, die von einer Arbeitsgruppe bezeichnete den Antisemitismus um den Leipziger Psychologen El- Dagegen bewirke eine Verweige- nicht als Vorurteil, sondern als mar Brähler erstellt wurde. Unter rung der Auseinandersetzung mit Ressentiment. Es bringe nichts, dem Titel „Ein Blick in die Mitte. der NS-Zeit rechtsextreme Einstel- mit Antisemiten zu diskutieren, Zur Entstehung rechtsextremer lungen. Deutlich wurde jedoch, sondern man müsse sie vielmehr und demokratischer Einstellun- dass demokratische Einstellungen ausgrenzen. Der Vertreter der gen“ wurde untersucht, wie in der Kindheit geprägt oder Kreuzberger Initiative gegen rechtsextremes Gedankengut in unterdrückt werden, je nachdem, Antisemitismus forderte die Poli- der heutigen Gesellschaft ent- wie das Erziehungsprogramm von tiker dazu auf, sich geschlossen steht. Dabei wurden bundesweit Eltern, Umwelt und Kinderbetreu- gegen Israelfeindschaft und Anti- zwölf Gruppendiskussionen or- ung angelegt ist. Die Leipziger semitismus zu positionieren und ganisiert, an denen Personen mit Forscher empfahlen, in Politik, die Arbeit lokaler Initiativen zu unterschiedlicher sozialer Her- Unternehmen und Bildungsein- unterstützen. In diesem Zusam- kunft, Generation und Berufstä- richtungen Menschen die Erfah- menhang wurde jedoch auch tigkeit teilnahmen. In diesen Ge- rung zu ermöglichen, dass sie ein die Förderpraxis des Bundespro- sprächen sei das Bild einer bestimmtes Ziel auch durch Über- gramms „Vielfalt“ kritisiert, das Gesellschaft sichtbar geworden, windung von Hindernissen am En- viele kleine Initiativen aus dem die Ausgrenzung zur Methode de tatsächlich erreichen können. lokalen Umfeld vor große Hür- gemacht habe. Wer abweiche, sei Dies gelte insbesondere für Mi- den stelle. Veränderungen im dem psychischen Normierungs- granten und Migrantinnen und Bildungssystem seien die Voraus- druck der Gemeinschaft ebenso bildungsbenachteiligte Mitglieder setzungen für die Wirkung der ausgesetzt wie dem Zugriff staat- der Gesellschaft. Diskurse, die ei- Präventionsarbeit von Gedenk- licher Stellen, erläuterte der Leip- ne Ungleichwertigkeit von Men- stätten. Der Vertreter des Zentral- ziger Wissenschaftler Oliver schen behaupten, müssten unter- rats der Juden in Deutschland Decker. Dass rechtsextremes Ge- lassen und gesellschaftlich erhob – ebenso wie der Wissen- dankengut seit dem Nationalso- geächtet werden. Öffentlich- schaftler Julius Schoeps – die For- zialismus mehr als ein halbes rechtliche Medien seien zu ver- derung nach einem jährlichen Jahrhundert überdauere, sei da- pflichten, den politischen Bil- Bericht über die Entwicklung im mit zu erklären, dass der mit dem dungsauftrag zu erfüllen und Kampf gegen Antisemitismus, so genannten „Wirtschaftswun- über das demokratische System Rassismus und Fremdenfeindlich- der“ in Westdeutschland relativ und die Mitwirkungsmöglichkei- keit. Dieser solle durch eine vom schnell einsetzende Wohlstand ten des Einzelnen zu informieren. Parlament einzusetzende Exper- weder für Nachdenklichkeit noch Auch sei eine sensible Erinne- tenkommission erstellt werden für Scham Raum und Zeit gelas- rungskultur zu pflegen, indem ein und müsse Handlungsempfeh- sen habe. Eine solche Entwick- emotionaler Zugang zur Vergan- lungen enthalten. Thomas Krü- lung erhofften Ostdeutsche nach genheit eröffnet und die aus der ger, Präsident der Bundeszentra- der Wende und reagierten auf Geschichte erwachsende Verant- le für politische Bildung, sah in die Enttäuschung dieser Erwar- wortung vermittelt werde. der Stärkung der zivilgesellschaft- tung mit Politik- und Demokra- lichen Kräfte, die sich gegen Ex- tieverdrossenheit. Der Wissen- Am 9. Juli berichtete der Dienst tremismus und Antisemitismus schaftler gebrauchte in diesem „heute im bundestag“, den der einsetzen, eine zentrale Aufgabe Zusammenhang das Bild der Deutsche Bundestag herausgibt, seiner Institution. Die Bundes- „narzisstischen Plombe“, denn dass die Fraktion Bündnis 90/Die zentrale fördere nicht nur ein immer dann, wenn der Wohl- Grünen in einer Kleinen Anfrage Netzwerk „Schule ohne Rassis- stand als Plombe bröckele, stie- (16/9519) die Ausschreibungspra- mus, Schule mit Courage“, das gen aus dem Hohlraum wieder xis bei Bundesprogrammen 435 Schulen mit rund 350.000 antidemokratische Traditionen gegen Rechtsextremismus Schülern umfasse, sondern unter- auf. Die Beschäftigung mit der anspricht. Sie will u. a. wissen,

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welche Organisationen beim ge- welchen fachlichen Kriterien po- dellprojekten ebenfalls durchge- planten Projekt „Bekämpfung tenzielle Interessenten ausge- führt werden soll. des Extremismus in struktur- wählt wurden. Auch wurde ge- schwachen, ländlichen Regio- fragt, ob das Verfahren der Quellen: heute im bundestag nen“ zur Interessenbekundung „beschränkten Ausschreibung“ Nrn. 175 und 206, Leipziger Inter- aufgefordert wurden und nach bei allen anderen geplanten Mo- netzeitung am 18.06.2008

Das neue Gedenkstättenkonzept des Bundes wurde verabschiedet

schen Terror investiert werden Das Bundeskabinett verabschie- vernehmen darüber, dass das The- sollen, wird ein Drittel in die Erin- dete das nationale Gedenkstät- ma im Plenum debattiert werden nerung an die SED-Diktatur ge- tenkonzept, zu dem von Kultur- solle. Alle Fraktionen lobten, dass steckt. Die Fraktionen der Grü- staatsminister Bernd Neumann in der von Neumann überarbeite- nen und der Linkspartei lobten (CDU) bereits im Jahr 2007 ein ten Version des Konzeptes deut- die deutliche Unterscheidung Entwurf vorgelegt worden war. lich der Schwerpunkt auf die För- von NS- und SED-Diktatur. Beide Es geht dabei um die Frage, wie derung von Gedenkstätten für Fraktionen sprachen sich jedoch das Gedenken an die NS-Herr- die Opfer des Nationalsozialismus für eine deutlichere Einbezie- schaft und das SED-Regime ge- gelegt werde. 2007 hatte u. a. der hung der Bürger/-innen in die staltet werden soll. An Neu- Zentralrat der Juden protestiert, Gedenkkultur aus. Dem bürger- manns Entwurf hatte sich eine weil NS- und SED-Diktatur schein- schaftlichen Engagement solle kontroverse Diskussion entzün- bar gleichstark gewichtet werden man eine größere Rolle zuwei- det, wobei einer der Hauptstreit- sollten. sen. Die FDP lobte, dass der Be- punkte die Aufarbeitung der auftragten für die Unterlagen SED-Diktatur war. Während es im Das Konzept sieht vor, die Förde- des Staatssicherheitsdienstes der ersten Entwurf noch geheißen rung des Bundes zum Erhalt von DDR keine neuen Aufgaben zu- hatte, an die zweite deutsche Gedenkstätten und Erinnerungs- gewiesen werden. Dazu im Diktatur solle „parallel zur unver- orten sowie von einzelnen Pro- Widerspruch stehe jedoch die gleichlichen Bedeutung des Holo- jekten 2009 von 23 Millionen auf Aussage, dass die so genannte caust“ erinnert werden, ist in der 35 Millionen Euro anzuheben. Birthler-Behörde die Konzeption jetzt verabschiedeten Version die Von der Förderung sind Projekte einer Ausstellung in dem ehema- Rede davon, dass es Aufgabe von und Institutionen betroffen, die ligen Dienstsitz Erich Mielkes Staat und Gesellschaft sei, an das zusätzlich zu Zuschüssen der übernehmen soll. Die Erfor- Unrecht der SED-Diktatur zu erin- Bundesländer auch Bundesgeld schung der DDR-Geschichte soll nern und so das Gedenken an die erhalten werden. Neben Bergen- mit dem Konzept gestärkt wer- Opfer des Kommunismus in Belsen werden auch die KZ-Ge- den. So ist u. a. eine Daueraus- Deutschland zu bewahren. denkstätten Dachau, Neuengam- stellung des Hauses der Geschich- me und Flossenbürg te im Berliner Tränenpalast Die Mitglieder des Ausschusses aufgenommen. Sie erhielten bis- vorgesehen. Wie es mit der Birth- für Kultur und Medien signalisier- lang Bundesgelder für einzelne ler-Behörde weitergehen soll, soll ten generelles Einverständnis und Projekte, jetzt können sie dauer- in der nächsten Legislaturperiode vereinzelte Kritik an dem Ge- haft bis zu 50 Prozent ihrer Gel- eine Arbeitsgruppe diskutieren. denkstättenkonzept, das von Kul- der vom Bund erhalten. Während turstaatsminister Bernd Neumann zwei Drittel der vorgesehenen Quellen: heute im bundestag, selbst als ein „Meilenstein“ be- Förderungssumme in das Geden- Nr. 197, Das Parlament, Nr. 27, zeichnet wurde. Es bestand Ein- ken an den nationalsozialisti- am 30. Juni 2008.

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Aus dem AdB

Rap-Musik und Mitmachspiele: Politische Jugendbildung präsentiert sich auf dem 13. Deutschen Kinder- und Jugendhilfetag

Während des 13. Deutschen Kin- Rothe von der Jugendbildungs- das auch das Publikum zum Mit- der- und Jugendhilfetages vom stätte Welper trat mit Hattinger machen aufforderte. Mit einem 18. bis 20. Juni 2008 in Essen hat Hauptschülern/-schülerinnen am Spiel, das die abenteuerliche auch die politische Jugendbil- GEMINI-Stand in Aktion, um dort Überquerung eines „Krokodil- dung Präsenz gezeigt. Der Ar- über ein Projekt zu informieren, sumpfes“ und einen nicht minder beitskreis deutscher Bildungs- stätten war mit den in der GEMINI (Gemeinsame Initiative © Markus Schuck der Träger politischer Jugendbil- dung) zusammengeschlossenen Trägern – Bundesarbeitskreis Ar- beit und Leben, Arbeitsgemein- schaft katholisch-sozialer Bildungswerke in der Bundes- republik Deutschland, Evangeli- sche Trägergruppe für gesell- schaftspolitische Jugendbildung, Deutscher Volkshochschul-Ver- band e. V. – mit einem großen Messestand und zahlreichen Ak- tivitäten vor Ort.

Die GEMINI-Träger präsentierten ihre Aktivitäten und Projekte zur politischen Bildungsarbeit insbe- sondere mit benachteiligten Ju- Sie präsentierten GEMINI auf dem Jugendhilfetag in Essen: von links nach rechts gendlichen. Ein vielseitiges Pro- Sascha Rex (DVV), Dr. Gudrun Erben (Evangelische Trägergruppe), Markus gramm am Messestand mit Schuck (Arbeitsgemeinschaft kath.-soz. Bildungswerke), Ivonne Jurisch (AdB), jugendlichen Rap-Musikern und Klaus Waldmann (Evangelische Trägergruppe) und Boris Brokmeier (AdB) Hauptschülern, die die Messebe- sucher zur Teilnahme an Koope- © Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten rationsübungen motivierten, zog zahlreiche Interessierte an. Talk- runden mit Birgit Reißig vom Deutschen Jugendinstitut und Kerstin Griese, Bundestagsabge- ordnete und Vorsitzende des Ausschusses für Familie, Senio- ren, Frauen und Jugend im Deut- schen Bundestag, rundeten das Programm am GEMINI-Stand ab.

Der AdB war nicht nur am GEMI- NI-Stand, sondern durch einige Mitgliedseinrichtungen auch an anderen Gemeinschaftsständen vertreten. Der Jugendhof Vlotho stellte seine Arbeit im Rahmen des Landschaftsverbandes West- falen-Lippe vor, das Salvador-Al- lende-Haus zeigte sich am ge- meinsamen Falken-Stand. Ursula Rap am GEMINI-Stand. Ein DVV-Projekt

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Eine Projektgruppe der AdB-Ju- gendbildungsreferent/-innen be- richtete auf einer Fachveranstal- tung über ihr Projekt „Das Leben der Anderen – ein Filmseminar zur DDR-Geschichte mit deutsch- deutscher Begegnung“.

Höhepunkt der gemeinsamen Ak- tivitäten von GEMINI war ein Fachforum zum Thema „Abge- hängt und aufgegeben? – Be- nachteiligte Jugendliche im Fokus politischer Bildung“, das als Podi- umsdiskussion mit Rita Süssmuth, Präsidentin des Deutschen Volks- hochschul-Verbandes, Kerstin Griese, Vorsitzende des Bundes- tagsausschusses für Familie, Se- © Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten nioren, Frauen und Jugend, Birgit Die Hattinger Schüler/-innen bei ihrem Auftritt auf dem DJHT Reißig, Deutsches Jugendinstitut, und Klaus Beier von Hessischen Kultusministerium unter Leitung von Pitt von Bebenburg, Frank- furter Rundschau, stattfand.

Vor rund 100 Zuhörern diskutier- ten die Podiumsteilnehmer/-in- nen, wie Veranstaltungen der po- litischen Bildung benachteiligte Jugendliche qualifizieren kön- nen. Während der Vertreter des Hessischen Kultusministeriums die Erlangung der Ausbildungsfä- higkeit als Ziel besonderer Förde- rung durch die Schule hervorhob, forderte Rita Süssmuth, diese © Markus Schuck Maßnahmen mit politischer Bil- Bei dem Forum diskutierten (von li. nach re.) Klaus Beier, Rita Süssmuth, Pitt dung zu verknüpfen, denn „poli- von Bebenburg, Kerstin Griese und Birgit Reißig tische Bildung ist nun einmal die Basiskompetenz gesellschaft- gefährlichen „Gefahrguttrans- Ihren „großen Auftritt“ auf dem lichen Lebens“. In die Diskussion port“ simulierte, bewiesen die Jugendhilfetag hatten sie an eingeführt hatte ein Filmbeitrag, Schülerinnen und Schüler ihre zwei vorangehenden Seminarta- der beispielhaft Projekte der GE- Teamfähigkeit. gen vorbereitet. MINI-Träger darstellte.

Friedrich-Naumann-Stiftung feierte 50jähriges Bestehen

Mit einer Reihe von Veranstal- Bundestages in Bonn unter Be- de und Festredner Lord Ralf Dah- tungen hat die Friedrich-Nau- teiligung zahlreicher Persönlich- rendorf. Unter den nahezu 1500 mann-Stiftung für die Freiheit in keiten, die maßgeblich die Ge- Gästen waren Walter Scheel, der diesem Mai ihren 50. Geburtstag schicke der Stiftung mitbestimmt Vorsitzende des Kuratoriums der gefeiert. Es begann mit einem hatten und haben – allen voran Stiftung, Professor Jürgen Mor- Festakt im alten Plenarsaal des der frühere Vorstandsvorsitzen- lok, der FDP-Partei- und Frak-

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tionsvorsitzende Guido Wester- „Bescheidenheit mit Selbstvertrau- sichts der aktuellen Entwicklun- welle und der ehemalige en zu verbinden und sich auch von gen „zunächst Gerechtigkeit und Bundeswirtschaftsminister Otto einem Staat zu emanzipieren, der dann erst Freiheit“ wollten, sei Graf Lambsdorff anzutreffen, zwar beschützt, aber eben auch verständlich. Wenn jedoch ein der im Anschluss an die Reden ei- oft genug beschneidet.“ Grundstatus garantiert sei und ne Diskussionsrunde mit Siim Existenzsicherung und Chancen- Kallas, Tony Leon und Otto Gue- Festredner Lord Ralf Dahrendorf gleichheit erreicht sind, gebe es vara Guth moderierte. sah in dem Zusatz, den die Fried- prinzipiell keinen Grund, Unter- rich-Naumann-Stiftung ihrem schiede einzuebnen. Vielmehr Bundespräsident Horst Köhler Namen gegeben hat („für die könne die Ungleichheit der Ein- forderte in seinem Grußwort da- Freiheit“) ein antizyklisches Sig- kommen und Lebenslagen dann zu auf, allen die Chance zu ge- nal, denn „von der Freiheit ohne zum Stimulus einer offenen, ben, ihre Talente zu entwickeln Wenn und Aber reden heute nur wandlungsfähigen, freien Gesell- und durch Leistung sozialen Auf- wenige.“ Dahrendorf griff das schaft werden. Mehr Freiheit hel- stieg zu erreichen. „Eine Stiftung, Reizthema „Managergehälter“ fe eher bei der Lösung von Pro- die den Zusatz ‚für die Freiheit' auf und wies darauf hin, dass die blemen als größere Gleichheit. im Namen trägt, ist besonders ge- Bezieher hoher Gehälter „das fordert bei der Frage, wie unser Geld ja nicht in 1000-Euro-Noten Der FDP-Vorsitzende Guido Wes- Gemeinwesen im Spannungsfeld in ihre Safes“ legten, sondern terwelle nannte die Freiheit „ein zwischen Freiheit, Gleichheit und vielmehr „Menschen, Sicherheits- geländegängiges Wort.“ Für Libe- Gerechtigkeit gestaltet werden experten und Hausgehilfen, rale sei Freiheit in erster Linie soll“, sagte Köhler. Yachtmannschaften in Mittel- Freiheit zur Verantwortung, nicht meerhäfen und Piloten für die Freiheit von der Verantwortung. Ihm und den Gästen versicherte 6000 privaten Gulfstream-Jets“ Verantwortung für sich selbst und der Vorsitzende der Stiftung, beschäftigten und „natürlich die seinen Nächsten zu haben und Wolfgang Gerhardt, dass die Stif- Bauarbeiter für die Mauern“ wahrzunehmen, sei die Botschaft tung ihrem Auftrag treu bleiben rings um deren Luxusghettos. der Liberalen und die unbequem- werde. Dazu gehöre vor allem, Dahrendorf forderte, der Versu- ste Botschaft aller politischen sich gerade in den freiheitlichen chung, von Armut inmitten des Richtungen – gerade in einer Zeit, Gesellschaften „über die Voraus- Reichtums zu sprechen, zu wider- in der nur noch das als sozial gel- setzungen der Freiheit und ihre stehen. Das bedeute nicht, die te, was der Staat umverteile. Gefährdungen wieder Klarheit zu Frage der Gerechtigkeit nicht zu verschaffen.“ Gerhardt forderte, stellen, denn dass viele ange- Quelle: www.fnst-freiheit.org

Neue Publikationen aus dem AdB und seinen Mitgliedseinrichtungen

Der Arbeitskreis deutscher Bil- Positionen. Ein Überblick im dungsstätten hat Anfang Juli Anhang über die Gremien, Ar- den Bericht über seine Arbeit beitsgruppen, Kommissionen, im Jahr 2007 vorgelegt. Interes- Veranstaltungen und Mitglied- sentinnen und Interessenten er- schaften spiegelt die rege inner- halten mit der 58-seitigen Bro- verbandliche Kommunikation schüre einen informativen sowie die gute Vernetzung nach Überblick über das nationale und außen. internationale Engagement des Verbandes zur Stärkung und Der Jahresbericht 2007 steht im fachlichen Weiterentwicklung Internet unter http://www.adb. der politischen Bildungsarbeit. de/dokumente/jahresbericht07. Der Bericht informiert über die pdf zum Download zur Verfü- zahlreichen Projekte, Fortbildun- gung und kann kostenlos über gen, Tagungen sowie Publikatio- die Geschäftsstelle bezogen nen des AdB und dokumentiert werden: Mühlendamm 3, 10178 seine fachlichen und politischen Berlin, E-Mail: [email protected].

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Wie Jugendliche für politische len zum Haushalt der Stiftung er- Rathausallee 12, 53757 Sankt Angelegenheiten interessiert gänzen den Bericht. Augustin, [email protected] oder und ihnen dafür geeignete Zu- den Buchhandel. gänge ermöglicht werden kön- Bezug: Hanns-Seidel-Stiftung e. nen, veranschaulicht der neue V., Lazarettstraße 33, 80636 Mün- Jahresbericht 2007 über das chen, E-Mail: [email protected] Im Verlag an der Ruhr erschien Programm Politische Jugend- das Buch „Alle Juden sind… bildung im Arbeitskreis deut- 50 Fragen zum Antisemi- scher Bildungsstätten. Anhand Die Konrad-Adenauer-Stiftung tismus“, in der englischen Ver- von zahlreichen Praxisbeispielen hat zur 68er-Debatte eine Publi- sion herausgegeben vom Anne aus der Bildungsarbeit wird die kation herausgegeben. Unter Frank Haus Amsterdam, die Vielfältigkeit politischer Jugend- dem Titel „Die ‚68er'-Bewe- deutsche Fassung wurde ge- bildung im AdB deutlich. Die ge- gung und ihre pädagogischen meinsam mit dem Anne Frank meinsame Arbeit in den drei Pro- Mythen. Auswirkung auf Er- Zentrum Berlin erarbeitet. Das jektgruppen des Programms ziehung und Bildung“ ist Die- Buch liefert Antworten auf Fra- ermöglichte den beteiligten Ju- ter Neumann der Frage nachge- gen, die versteckt oder bewusst gendbildungsreferenten und -re- gangen, welche Fernwirkungen antisemitisches Gedankengut ferentinnen, neue Ansätze für „68“ auf den Bildungsbereich streuen. Fakten, Fotos und ande- die Bildungsarbeit in ihren Ein- hatte. Er untersucht, inwieweit re Bilddokumente widerlegen richtungen zu entwickeln, die in damals geprägte pädagogische gängige Stereotype und belegen diesem Bericht dokumentiert Einsichten und Grundüberzeu- beinahe alltäglich gewordenen werden. gungen, die auch durch einschlä- Judenhass. Das Anne Frank Zen- gige Wissenschaften verbreitet trum Berlin bietet Informatio- Der Jahresbericht 2007 im Pro- wurden, noch heute in den domi- nen und pädagogische Hilfen gramm Politische Jugendbildung nierenden Bildungsvorstellungen zum Thema. ist kostenlos bei der Geschäfts- und in der Bildungsrealität der stelle des AdB zu beziehen: Müh- Bundesrepublik weiterwirken Bezug: Verlag an der Ruhr, Post- lendamm 3, 10178 Berlin, E-Mail: und ob es angesichts der von vie- fach 102251, 45422 Mülheim, Ka- [email protected]. len Seiten auf den Prüfstand ge- [email protected] stellten Leistungsfähigkeit des oder den Buchhandel. Bildungswesens an der Zeit wäre, Ihren Jahresbericht 2007 legte grundlegende Kurskorrekturen auch die Hanns-Seidel-Stiftung vorzunehmen. Das Gesamteuropäische vor. Er informiert über die Arbeit Studienwerk hat im Frühjahr der Gremien im vergangenen eine Doppelausgabe seiner Zeit- Jahr und die Aktivitäten in den Die Konrad-Adenauer-Stiftung schrift „aktuelle ostinforma- einzelnen Bereichen. Die Hanns- ist auch Herausgeberin der Mo- tionen“ veröffentlicht. Sie ent- Seidel-Stiftung feierte im vergan- natsschrift „Die politische Mei- hält eine Bilanz der polnischen genen Jahr ihr 40jähriges Beste- nung“. In der Juli-Ausgabe steht Regierung unter Donald Tusk hen und widmet diesem Ereignis das Thema „China auf dem und weitere Beiträge zur aktuel- ebenfalls Raum in der Darstel- Weg zur Weltmacht“ im Mittel- len Entwicklung in Ostmitteleu- lung. Der Bericht enthält eine punkt. Die Autorin und die Auto- ropa. Rezensionen und Buch- Übersicht über Tagungen und ren stellen China als Partner und reporte vervollständigen das Seminare der Bildungszentren, Wettbewerber dar, gehen auf die Informationsangebot ebenso bilanziert die Publikationen der Menschenrechtssituation in Chi- wie Berichte über Seminare des Akademie, stellt Beispiele aus der na ein, beschreiben Schattensei- Gesamteuropäischen Studien- Arbeit des Bildungswerks vor und ten des wirtschaftlichen Auf- werks. gibt Einblick in die Arbeit u. a. stiegs und die Grundlinien der von Förderungswerk, Institut für chinesischen Außenpolitik. Bezug: Gesamteuropäisches Stu- Internationale Begegnung und dienwerk e. V. Vlotho, Südfeld- Zusammenarbeit. Statistische An- Infos zu beiden Publikationen: straße 2 – 4, 32602 Vlotho, E- gaben, Organigramme und Zah- Konrad-Adenauer-Stiftung, Mail: [email protected]

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Personalien

Die Mitgliederversammlung nalen Instituts für Politik und DVV, seine Stellvertreterin. der Konrad-Adenauer-Stiftung Wirtschaft – Haus Rissen Ham- In seinem Amt bestätigt wurde wählte Michael Thielen, burg, der diese Institution auch Dietmar Hexel, Mitglied des Staatssekretär im Bundes- im Arbeitskreis deutscher Bil- Geschäftsführenden DGB- ministerium für Bildung und dungsstätten vertritt und in der Bundesvorstandes. Forschung, zum neuen General- Kommission Verwaltung und sekretär. Er wird Nachfolger des Finanzen mitarbeitet, rückte in derzeitigen Generalsekretärs, die Hamburger Bürgerschaft Hartwig Möbes, Referatsleiter Staatssekretär a. D. Wilhelm nach und ist dort als Mitglied beim Bundesministerium für Staudacher, der dieses Amt der Fraktion Grün-Alternative Familie, Senioren, Frauen und seit 1999 inne hatte. Liste (GAL) deren Bildungs- Jugend, zuständig für die politischer Sprecher. Bereiche Kinder- und Jugend- plan, Partizipation und außer- Seit April 2008 ist Udo Dittmann schulische Jugendbildung, wurde Leiter der Akademie Biggesee, Dr. Paul Ciupke, Mitarbeiter im zum 1. August in den Ruhestand die er nach dem Ausscheiden von Leitungsteam des Bildungswerks verabschiedet. Ralf Harnisch Jochen Voss im vergangenen der Humanistischen Union NRW nimmt weiterhin die Vertretung Oktober kommissarisch geleitet e. V. und Mitherausgeber der wahr. hatte. „Außerschulischen Bildung“, vertritt den Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten in der Professor Dr. Max Fuchs, Dr. Philipp-Christian Wachs Mitgliederversammlung des Direktor der Akademie übernahm im Mai 2008 die seit Deutschen Instituts für Erwachse- Remscheid und Präsident des einem Jahr vakante Stelle des nenbildung. Von dieser wurde er Deutschen Kulturrates, wurde geschäftsführenden Direktors nun in den Verwaltungsrat des erneut für vier Jahre als persön- des Internationalen Instituts DIE gewählt. liches Mitglied der Deutschen für Politik und Wirtschaft – Haus UNESCO-Kommission gewählt. Rissen Hamburg. Er war vorher u. a. als Geschäftsführer der Die Mitgliederversammlung des Deutschen Nationalstiftung und Bundesarbeitskreises Arbeit und Wolfgang Peschel, langjähriger in leitender Funktion bei der Leben wählte einen neuen Referent für Öffentlichkeits- ZEIT-Stiftung Ebelin und Vorstand. Erster Vorsitzender arbeit beim Deutschen Bundes- Gerd Bucerius tätig. wurde Dr. Dieter Eich, jugendring, hat den DBJR Geschäftsführer des verlassen, um eine neue Stelle DGB-Bildungswerkes, in Bonn anzutreten. Michael Gwosdz, wissenschaft- Gundula Frieling, stellvertre- licher Mitarbeiter des Internatio- tende Verbandsdirektorin des

In eigener Sache:

Der Redaktionsbeirat der Zeitschrift „Außerschulische Bildung“ hat sich neu konstituiert. Auf Vor- schlag von Herausgeber/Herausgeberin wurden vom Vorstand des Arbeitskreises deutscher Bildungs- stätten direkt berufen: Gertrud Gandenberger, Internationales Forum Burg Liebenzell, Dr. Christoph Meyer, Herbert-Wehner-Bildungswerk e. V., Wolfgang Pauls, Bildungsstätte Kinder- und Jugend- zentrum Bahnhof Göhrde e. V., Dr. Melanie Piepenschneider, Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. – Bildungszentrum Eichholz, Imke Scheurich, Jugendgästehaus Dachau – Bereich Bildung. Dem Redak- tionsbeirat gehören weiter an: die vom Vorstand benannten Herausgeber/-in Dr. Paul Ciupke, Bildungswerk der Humanistischen Union NRW e. V., und Ulrike Steimann, Karl-Arnold-Stiftung, sowie Ina Bielenberg, Geschäftsführerin des Arbeitskreises deutscher Bildungsstätten, und die Redak- teurin dieser Zeitschrift, Ingeborg Pistohl.

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Bücher

Christa Kaletsch: Handbuch Demokratietraining in der Einwanderungsgesellschaft – Schwalbach/Ts. 2007, Wochenschau Verlag, 240 Seiten

Der Wochenschau Verlag macht rissen, einige wenige aktuelle gesellschaft“ insgesamt, und sich seit Jahren einen Namen in fachwissenschaftliche Diskurse Verlage überhäufen uns mit der politischen Bildung, auch mit eingebracht - und das war's. Konzepten, Methoden und fach- verschiedenen „Handbüchern“. Schade! Der Titel legt nahe, eine wissenschaftlichen Diskussions- In unregelmäßigem Abstand, vertiefendere Darstellung zu beiträgen. aber mit konstanter Ernsthaftig- erwarten. keit werden Handbücher zu Im Methodenteil findet sich zwar unterschiedlichen Themen vor- Der weitaus größte Teil des viel wertvolles Material für die gelegt – stets verbunden mit dem Bandes besteht aus der Beschrei- inhaltlichen Diskussionen, die Anspruch (ich unterstelle diesen bung von Methoden. Und hier sich aus den verschiedenen mal), einen einigermaßen voll- wird der bereits erwähnte Fleiß Übungen ergeben. Aber das ständigen, vor allem inhalts- der Autorin spürbar. Minutiös Wichtigste für ein gutes Metho- reichen Überblick über den werden seitenlang Methoden denbuch fehlt: Anregungen für aktuellen Stand in Wissenschaft beschrieben, Originaltöne aus die Reflexion der Übungen. oder Praxis zum jeweiligen der eigenen Bildungspraxis ein- Welche Fragen wären beispiels- Themenbereich zu geben. geflochten, aber an den entschei- weise geeignet, um in den denden Stellen brechen die Übungen auch wirklich zu den Was den Verlag jedoch bewogen Methodenhandreichungen ab: Themen zu kommen, die damit hat, dem Bändchen „Demokratie- z. B. dort, wo die Moderation in verbunden werden sollen? training in der Einwanderungs- die Reflexion zu den Übungen Methodisch versierte Praktiker gesellschaft“ den Beinamen und den damit verbundenen mögen darauf verzichten Handbuch zu verleihen, Themen übergehen sollte. Es können, aber ich vermute, dass erschließt sich nach der Lektüre wird beispielsweise ein großer dieses Buch wenig hilfreich ist, nicht. Da hat eine fleißige Prakti- Anspruch mit vier sogenannten weil genau diese praxisrelevan- kerin der außerschulischen politi- „Dilemma-Planspielen“ gestellt. ten Anregungen weitgehend schen Bildung ein Extrakt ihrer Aber man findet keine fehlen. Da wäre es sinnvoller Seminartätigkeit niedergeschrie- Dilemmata. Nach immer dem gewesen, die Handlungs- ben und der Fachwelt zur Nach- gleichen Strickmuster sollen anleitung der zum Teil spiele- ahmung zur Verfügung gestellt. eigene Bedürfnisse mit denen rischen Übungen zu reduzieren Konkret geht es um zwei kurz- anderer abgeglichen werden. zugunsten von Hinweisen der zeitpädagogische Maßnahmen: Zunächst zu zweit, dann in Trainerin zu ihrem Umgang mit ein Demokratietraining ab Paaren, dann zu viert, dann den Reflexionsrunden. Ein paar Klassenstufe 8 für zwei bis drei durch Stellvertreter im „Fish- „Spiele“ traue ich vielen zu, die Vormittage sowie ein SV-Training bowl“. Nur eben die Dilemma- zu diesem Buch greifen. In der für etwa zwei Seminartage. situationen oder -szenarien Nachbearbeitung der Aktivitäten lassen sich nicht wirklich ent- (so ist meine Befürchtung), Vorangestellt sind beiden Semi- decken. Zwischen Trivialität (was geben aber (zu) viele pädago- narkonzepten eine theoretische nehme ich mit in einen Traum- gische Fachkräfte dann auf. Einführung zu den Themen- urlaub?) und Aspekten einer feldern „Demokratiepädagogik“, menschlichen Schule oder eines Richtig ärgerlich an diesem Buch „Weit, global und anspruchs- idealen Gemeinwesens verste- ist seine Aufmachung, die an Lieb- voll“, „Mediation und Demo- cken sich viele Anknüpfungs- losigkeit und Unübersichtlichkeit kratie“, einige Aspekte zur Schul- punkte, die zum Erlernen von kaum zu unterbieten ist. Der Ver- entwicklung mit systemischem fairer Konfliktregelung geeignet lag kann das deutlich besser! Anspruch und zur Rolle der sind. Aber wird dann der hohe Moderation von Lehrkräften im Anspruch Dilemma-Bearbeitung Ein Buch, das sicher seine Leser- Rahmen der Angebote zum erfüllt? Fehlanzeige! Da scheint und Anwenderschaft finden Demokratie lernen an Schulen. ein Modetrend aufgegriffen wird. Der Bildungsprofi kann es Und das alles auf immerhin worden zu sein, Dilemma-Dis- aber getrost übersehen. Nicht 30 Seiten. Für ein Handbuch kussionen und -übungen sind viel Neues zum Thema. Leider! etwas sehr mager, die Themen- en vogue, wie das Thema felder werden leider nur ange- „Bildung in der Einwanderungs- Stephan Schack

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Ulrike Leikhof (Hrsg.): Außerschulische Bildung für innerschulische Demokratie. SV-Arbeit als Schwerpunkt außerschulischer politischer Bildung – Schwalbach/Ts. 2007, Wochenschau Verlag, 195 Seiten

Buchtitel sollen ja Erwartungen Dem Blick nach England/Wales, der speziellen Zielgruppe der wecken. So habe ich mich nach Frankreich, Litauen, Österreich, Schülervertretungen und eben 15 jähriger professioneller Polen und Ungarn vorangestellt durch die Einbeziehung der Beschäftigung mit der Arbeit von ist ein einführendes Kapitel zur europäischen Perspektive auch Schülervertretungen mit großem SV-Arbeit der AKSB. Hier werden für die deutsche Diskussion eine Interesse dem Band „Außer- gesellschaftliche Rahmenbedin- Bereicherung der inhaltlichen schulische Bildung für inner- gungen und didaktische Stan- Argumentation. schulische Demokratie“ gewid- dards beschrieben, ehe in einem met. Besonders der Untertitel Aufsatz die inzwischen jedoch Neben theoretischen und didak- erschien reizvoll: „SV-Arbeit als etwas veraltete Debatte um das tischen Überlegungen findet sich Schwerpunkt außerschulischer frühere BLK-Programm „Demo- eine ganze Reihe von Praxis- politischer Bildung“, weil ich zu kratie lernen und leben“ und die vorschlägen und Ideen für Fort- diesem Thema seit Jahren auf der „Deutsche Gesellschaft für bildungsangebote, die sich an Suche nach einer vor allem didak- Demokratiepädagogik (DeGeDe)“ Schülervertreter/-innen bzw. tischen Veröffentlichung bin. noch einmal skizzenhaft aufge- Lehrkräfte richten, die mit den Aber eine solche Erwartung griffen wird. Hier leuchtet nicht Schülervertretungen zusammen- erfüllt das vorliegende Buch ganz ein, warum diese Diskussion arbeiten. nicht, da es sich um ein Projekt in dem vorliegenden Kontext aus dem Kontext katholisch- noch einmal geführt werden In einem abschließenden Kapitel sozialer Bildung handelt und muss, der Aufsatz wirkt etwas „Erfahrungen“ werden drei damit nur einen sehr kleinen bemüht platziert und fällt aus konkrete Modelle aus der Praxis Ausschnitt aus dem Gesamt- dem Gesamtrahmen des Buches der AKSB-Kooperation mit themenfeld abbilden kann. Aber heraus, da er nicht viel Neues Schulen vorgestellt. Dabei geht – und das ist das Positive der zum Kooperations- und es um die Motivationslage von Nachricht – dies ist schon das Spannungsverhältnis zwischen Jugendlichen, sich für die Demo- einzig wirklich Nachteilige an Schule und außerschulischer kratisierung ihrer Schule ein- diesem Buch. Der Inhalt entschä- Bildung beizutragen vermag. zusetzen, die Rolle der Ver- digt für die Irreführung durch trauens-, Verbindungs- oder den Titel, obwohl ein kleiner Hin- Umso spannender sind die Beratungslehrerinnen und das weis darauf, dass ein Ausschnitt anderen Teile, in denen zunächst sogenannte Patenmodell. Alle aus dem Feld bearbeitet wird, ein Vergleich von gesetzlichen drei Beiträge vermitteln reich- jedenfalls hilfreich wäre. Regelungen, den Schülervertre- haltige Ideen für die Praxis der tungsformen und von Chancen politischen Bildung mit Schüler- Die Arbeitsgemeinschaft katho- dieses gesellschaftlichen Engage- vertretungen. lisch-sozialer Bildungswerke ments junger Menschen vor- AKSB) hat in diesem Buch ein gestellt wird. Diese Chancen Eine lohnende Publikation für Projekt dokumentiert, das zwi- werden in den Kontext zivilge- diejenigen, die sich Anregungen schen 1999 und 2003 Praktiker sellschaftlicher, staatsbürger- und Motivation für die eigene der außerschulischen (politi- licher oder eben politischer Bildungsarbeit holen möchten. schen) Bildung aus sieben euro- Bildungsarbeit in den beteiligten Dem Projekt der AKSB ist zu päischen Ländern zusammen- Ländern gestellt, dabei wird die wünschen, dass es weitergeht gebracht und einen spannenden Bedeutung dieses Feldes der und in einer nächsten Stufe Diskurs zu Erfahrungen und außerschulischen Bildungsarbeit Jugendliche selbst einbezieht europäischen Perspektiven zivil- unterstrichen. Durchgehend und deren Perspektiven zum gesellschaftlicher Bildung initiiert stellen die Aufsätze mit Hilfe Gegenstand der Debatten um die hat. Damit wird ein wichtiges unterschiedlicher Begründungs- Zukunft europäischer politischer Feld der Jugendbildungsarbeit zusammenhänge ein deutliches Bildung macht. Die Veröffentli- aufbereitet, das bisher im Prozess Plädoyer für die Kooperation von chung der Ergebnisse eines der europäischen Annäherung außerschulischer und schulischer solchen Vorhabens sollte dann von Ost und West noch weit- Bildungsarbeit dar. Das ist nicht jedoch zügiger möglich sein, gehend unbeachtet blieb. neu, aber im Zusammenhang mit damit nicht erst – wie in diesem

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Fall – vier Jahre zwischen Projekt- von Seminarmodellen für junge Und dafür sind die Ergebnisse ende und Publikation vergehen, Menschen wird in unserer dann doch zu wertvoll. denn die Halbwertzeit besonders schnelllebigen Zeit immer kürzer. Stephan Schack

Christiane Schiersmann: Profile lebenslangen Lernens. Weiterbildungserfahrungen und Lernbe- reitschaft der Erwerbsbevölkerung. DIE spezial – Bielefeld 2007, W. Bertelsmann Verlag, 103 Seiten

In der vorliegenden Studie wird beantworten: Ist Selbststeuerung erster Linie für die Gruppe der der Versuch unternommen, zum internalisierten Konzept des Erwerbspersonen, die sich hier- neben qualitativ empirischen Ein- Lernverhaltens Erwachsener von eine Erhöhung ihrer Quali- sichten in Lernstrukturen auch geworden? Wie wird die Bedeu- fikation erhoffen. Im Hinblick auf die quantitativen Relationen zu tung von non-formalem (infor- die Analyse von Lernerfahrungen berücksichtigen, in welchen diese mellem) Lernen im Verhältnis ist überdies interessant, dass Erkenntnisse einzuordnen sind. zum formalen Lernen einge- 87 Prozent der Befragten Kernfragen sind dabei: Wie schätzt? Welche Bevölkerungs- angeben, in informellen Lern- sehen bestimmte Menschen- gruppen formulieren für sich kontexten am meisten gelernt zu gruppen die Weiterbildung? Was einen erhöhten Weiterbildungs- haben. Festgestellt wird auch, bedeutet sie für ihren Alltag? In bedarf? dass Menschen, die in ihrer welchem Ausmaß nehmen sie Jugendphase viel (formal) daran teil? (S. 5) Die Studie steht Aufgrund repräsentativer, gelernt haben, auch bei der dabei in der Tradition einer bundesweiter Umfragen kommt formalen Weiterbildung am größeren Untersuchung, die die Autorin im ersten Teil ihrer aktivsten sind. unter dem Titel „Bildung und Studie unter anderem zu folgen- gesellschaftliches Bewusstsein“ den Ergebnissen: Je ausgebil- Hinsichtlich der steigenden 1966 in der Bundesrepublik deter die Variable familiale Bedeutung des arbeitsbegleiten- veröffentlich wurde. Förderung, desto höher der Grad den Lernens müsste – so die Auf- an Selbststeuerung. Und: Je fassung der Autorin – die Wech- Weiterbildung spielt in der höher das berufliche Ausbil- selwirkung von Arbeitskontexten Bundesrepublik bekanntlich seit dungsniveau, desto ausgeprägter und Lernkontexten intensiver den 1970er Jahren eine zuneh- ist die Selbststeuerung. Für die behandelt werden. Auch wird die mend wichtige Rolle, allerdings bildungspolitische Ebene wird Frage aufgeworfen, wie infor- vollzieht sich seit den 1990er deshalb das Fazit gezogen, dass melles Lernen zertifiziert werden Jahren ein tiefgreifender Wandel bei Bevölkerungsgruppen, deren könnte und inwiefern Betriebe in der Weiterbildungslandschaft, Selbststeuerungskompetenz in der Lage und willens sind, die der auf die sich überaus schnell niedrig ist, die erforderlichen erforderliche Zeit für notwendige verändernden gesellschaftlichen Voraussetzungen gezielt ausge- Lernprozesse bereitzustellen. Rahmenbedingungen von baut werden müssen. Hingegen Bildung und Arbeit zurückzu- laufen politische Appelle ins In dem sich anschließenden Kapi- führen ist (Neue Technologien, Leere und stärken nur die bereits tel „Lernerprofile“ werden die Globalisierung der Wirtschaft, bestehende Segmentierung bislang erarbeiteten Ergebnisse veränderte Arbeits- und Betriebs- zwischen bildungsnahen und mittels der TwoStep Clusteranaly- organisation, ausdifferenzierte bildungsfernen Gruppen. (S. 23) se verdichtet. Dabei geht es um Erwerbsbiografien und private eine nähere Charakterisierung Lebensläufe). Diese gesellschaft- In dem sich anschließenden Kapi- der beiden Lernprofile „weiter- lichen Veränderungen bedingen, tel geht es um die Charakteristik bildungsbewusster Lerner“ und dass lebenslanges Lernen eine unterschiedlicher formalisierter „weiterbildungsdistanzierter neue Bedeutung annimmt, da Lernkontexte und deren Erfas- Lerner“. Positiv wird im Ergebnis die Flexibilisierung von Bildungs- sung. Dabei kann mit Hilfe hervorgehoben, dass das Cluster und Erwerbsverläufen eine empirischer Befunde nachge- der weiterbildungsbewussten stärkere Verantwortung der wiesen werden, dass dem arbeits- Lerner immerhin zwei Drittel der Individuen für die Ausgestaltung begleitenden Lernen eine weit Stichprobe umfasst. Weiterbil- ihrer Lernprozesse erfordert. Es größere Bedeutung zukommt als dung wird hier selbstgesteuert sind also folgende Kernfragen zu dem formalen Lernen. Dies gilt in und gezielt geplant, man hat ein

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ausgesprochen positives Verhält- förderlich gestaltet werden bildung ein konkreter Nutzen nis zu ihr. Daneben gibt es aber können, damit auch von der resultiere. auch das Drittel der weiter- Arbeitsmotivation ein Anreiz Zur Unterstützung der Selbst- bildungsdistanzierten Lerner, die zur Teilnahme an Weiter- steuerung von Lernprozessen nur über ein ausgesprochen bildung ausgehen kann. sei ein nachhaltiger Ausbau beschränktes Maß an Selbst- Es wird konstatiert, dass in von Beratungsangeboten steuerung verfügen und davon den Betrieben arbeits- erforderlich. ausgehen, dass Weiterbildung begleitende Lernkontexte Für die Politik bestehe die keinen verwertbaren Nutzen geschaffen werden sollten, Herausforderung überdies erbringe. Da aber auch diese die es ermöglichen, das darin, geeignete Angebote Gruppe zusehends neuen Lern- implizierte Wissen bzw. zur Zertifizierung informeller erfahrungen und Umbrüchen in Erfahrungslernen in explizites, Lernkontexte zu entwickeln. der Berufsbiografie ausgesetzt verallgemeinerbares Wissen Schließlich: Da der Faktor Zeit sei, sollte – so das Fazit der Auto- umzusetzen. für die Beteiligung an Weiter- rin – versucht werden, individuell Im Hinblick auf die Heraus- bildung eine entscheidende zu intervenieren. Hierzu gehöre forderungen für die Weiter- Größe darstelle, müsse poli- auch, die Lernförderlichkeit von bildung wird festgestellt, tisch weiter diskutiert werden, Arbeitsplätzen und somit auch dass die Umsetzung des wie sich Weiterbildung mit die Motivation für Weiterbildung Konzepts lebenslanges Lernen beruflichen und privaten zu erhöhen. (S. 86) sich nicht allein durch Markt- Verpflichtungen in geeigneter gesetze regeln lasse, dass Weise verknüpfen lasse. Im letzten Kapitel werden weiterhin öffentliche Verant- Gedacht wird hierbei an Frei- schließlich einige zentrale Frage- wortung und Unterstützung stellungen auf der Basis von stellungen und Ergebnisse zu- gefragt sei. Betriebsvereinbarungen, sammengefasst, aber auch Per- Motivierungstrainings seien Tarifverträgen oder staat- spektiven formuliert. nicht ausreichend, vielmehr lichen Angeboten in Richtung müsse über das Angebot Sabbaticals. Es wird die Frage aufgewor- verdeutlicht werden, dass fen, wie Arbeitsplätze lern- aus der Beteiligung an Weiter- Zbigniew Wilkiewicz

Heiner Barz/Rudolf Tippelt (Hrsg.): Weiterbildung und soziale Milieus in Deutschland. Praxishand- buch Milieumarketing (incl. CD-Rom), – Bielefeld, 2. Aufl. 2007, W. Bertelsmann Verlag, 190 Seiten

Heiner Barz und Rudolf Tippelt logien, mit denen sich Marke- 10 Sinus-Milieus (soziale Milieus haben in einem bereits 2003 tingstrategien in Einrichtungen nach SINUS-Sociovision), wurden abgeschlossenen Forschungs- begründen und zielgerichtet 160 leitfadengestützte Einzel- projekt das besondere Lern- weiter entwickeln lassen“. interviews geführt, begleitet von verständnis und die diesem 14 Gruppendiskussionen und folgenden Bildungs- und Weiter- Die Studie basiert auf einer einer bundesweiten Repräsen- bildungsansprüche verschiedener Repräsentativerhebung, qualita- tativerhebung aus 3008 auswert- sozialer Milieus untersucht. Die tiven Befragungen und Gruppen- baren Telefoninterviews. Der daraus resultierende zweibän- diskussionen. Interviewleitfaden beinhaltete dige Veröffentlichung der Auto- Bildungsbiographie, Weiterbil- rinnen Doris Draxl, Sylvia Panyr Die Erläuterung der Forschungs- dung, Persönlichkeitsentwick- und Jutta Reich aus dem Jahr methodik erleichtert den Einstieg lung, Gesundheitsbildung, 2004 ist in erster Auflage vergrif- in die Thematik, Weiterbildungs- Schlüsselqualifikationen und fen. Der Band 1 liegt in zweiter angebote differenziert und Kompetenzentwicklung und die Auflage vor, der zweite Band ist adäquat an verschiedene soziale Offenheit für Bildungsmarketing. als CD-Rom beigefügt. Die Publi- Milieus zu vermitteln, „als ein Die Interviews fanden metho- kation soll Anregungen für Beitrag für sozialverträgliches Bil- disch angemessen „im alltäg- Planungsüberlegungen in den dungsmarketing“ (Bd. 1, S. 7) lichen Milieu“ der Befragten Weiterbildungsinstitutionen Einem Stichprobenplan folgend, statt. Die Autorinnen nehmen für geben, „strukturierte und für die entwickelt aus der Zuordnung sich in Anspruch, Informationen Praxis verwendbare Milieutypo- der Gesprächspartner zu den über Interessen, Barrieren und

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Teilnehmermotive, Teilnehmer- zeugender, wenn die Autorinnen Hauptschulabschluss mit und und Adressatenprofile zu liefern befinden, sie konnten „die ohne Berufsausbildung, Arbeiter, als wichtige Implikationen für die Milieuverteilung in Deutschland viele Arbeitslose, unteres bis hin Angebots- und Programm- (quantitative Befunde), aber zu mittlerem Haushaltseinkom- planung der Weiterbildungs- auch die Charakteristika der men, Häufung sozialer Benach- institutionen. sozialen Milieus (soziale Lage, teiligungen“ (Bd. 1, S. 15). Lebenswelt) in weiten Teilen Die beachtliche empirische Basis validieren, in einzelnen Bereichen 4. Hedonistische Milieus: die der Studie, die in dieser Form werden aber auch ,feine‘ Experimentalisten, eine extrem wohl einzigartig ist, ist der Modifikationen auf der Basis individualistische neue Bohème, 2. Auflage als CD-Rom beigefügt der eigenen Befunde vor- die sich im Milieuvergleich durch und bietet einen dezidierten genommen.“(Bd. 1, S. 12). „die größte Bandbreite der Einblick in die Bildungsvorstel- Weiterbildungsinteressen“ lungen, -ziele und -erfahrungen Vier Milieugruppen haben die (Bd. 1, S. 15) auszeichnet, und der Interviewten. Autorinnen aus SINUS gestützt zuletzt die Hedonisten, „die ausgemacht: untere Mittel- bis Unterschicht. Auf dieser wissenschaftlichen Auf der Suche nach Fun und Grundlage erhält der umsetzungs- 1. Die gesellschaftlichen Leit- Action, Träume von geordnetem gestresste Bildungsplaner sein milieus: Das sind also die Eta- Leben. Angepasstheit im Berufs- Marketinghandbuch, in dem blierten: die gut ausgebildete, alltag steht im Gegensatz zum ordentlich sortiert nach sozialen selbstbewusste Elite, bei der Geld hedonistischen Leben in der Frei- Milieus das handliche Repertoire (für Bildung) kaum eine Rolle zeit. Aggressive Underdog- seiner Zielgruppenansprache aus- spielt; die Postmateriellen, die Gefühle gegenüber ihrer gebreitet wird. Wobei selbstver- Nach-68er, gehobene Angestell- Umwelt.“ (Bd. 1, S. 15) ständlich der Vorbehalt jeder te, Beamte, Freiberufler, Selb- Handreichung beigelegt ist: „ An ständige und die Modernen Gestützt auf dieses Panoptikum dieser Stelle ist anzumerken, dass Performer, eine unkonventio- gesellschaftlicher Milieus mag diese Milieudeskriptionen und nelle Leistungselite, die beruflich sich der Bildungsplaner dann der Hinweise zur Veranstaltungspla- und privat Multioptionalität und didaktischen Hinweise für eine nung nicht umstandslos in kon- Flexibilität lebt, Schüler/Studen- milieuspezifische Angebots- und krete, passgenaue Angebots- und ten mit Nebenjobs, kleine Selb- Programmplanung bedienen, Programmsegmente übersetzt ständige, Freiberufler. zum Beispiel der unmittelbar ein- werden können“ (Bd. 1, S. 28). leuchtenden Empfehlung, dass er 2. Traditionelle Milieus: Da gibt sich hinsichtlich der Zielgruppe Das hindert allerdings im Zweifel es die Konservativen, Bildungs- der Etablierten gezielter und nicht daran, sich in Programm- bürgertum mit humanistisch exklusiver Ansprache mit klaren, planung und -marketing der auf geprägter Pflichtauffassung; die nüchternen Informationen 140 Seiten folgenden Versatz- Traditionsverwurzelten, Kriegs- bedienen und aufsuchende, ein stücke aus Interviews, statisti- generation, verwurzelt in Klein- breites Publikum ansprechende schen Erfassungen und Deutun- bürgertum oder in traditioneller Bildungswerbung vermeiden gen zu bedienen, griffig Arbeiterkultur, die DDR-Nostalgi- solle. (Bd. 1, S. 178) Wie anders formuliert sind sie und in der schen, die sich als Verlierer der auch bliebe man unter sich! notwendigen Kürze dargereicht. Wende sehen und häufig arbeits- los ein einfaches Leben führen, Die derartig durchschlagende Diese Möglichkeit könnte unge- „konzentriert auf Familie, gleich- Anwenderfreundlichkeit dieses achtet des wissenschaftlichen gesinnte Freunde und Vereine“ Marketinginstruments mag den Verdienstes der Studie (leider (Bd. 1, S. 14). Erfolg der ersten Auflage erklä- auch) den Erfolg des Handbuchs ren. Inzwischen dreht sich die in 2. Auflage begründet haben. 3. Mainstream-Milieus: die Bürger- wissenschaftliche Bildungsdis- liche Mitte, leistungsorientiert kussion um Lernorganisation, Zweifel allerdings sind anempfoh- und zielstrebig, manchmal von um Kompetenzentwicklung zur len, sollte man umstandslos den Abstiegsängsten geplagt, über- Motivation und Befähigung selb- Milieubeschreibungen folgen. durchschnittlich viele VHS-Besu- ständigen Lernens, um die Bewäl- Selbstredend wird die hohe cher; die Konsum-Materialisten, tigung der Probleme von Erwerbs- Kompetenz der Sinusstudien deren soziale Lage sich wie folgt biografien, die Dequalifizierungs- anerkannt und ist es noch über- darstellen soll: „Volks-/ und prozesse begleiteten, um die Fra-

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gen der Integration differenter Die „sozialen Milieus“ des dann doch entschieden weiter migrationsbedingter kultureller Marketinghandbuchs sind von geht. und sozialer Milieus, um Fragen solchen Fragestellungen weit- der Resilienz der in Bildung und gehend unangetastet. Zu hoffen Walter Schulz Arbeitsmarkt benachteiligten bleibt, dass die von diesem Hand- gesellschaftlichen Gruppen. lungswissen unterstützte Praxis

Klaus Pehl: Strategische Nutzung statistischer Weiterbildungsdaten – Bielefeld, 2. Aufl. 2007, W. Bertelsmann Verlag, 164 Seiten

Der vom Deutschen Institut für Aufbau einer Weiterbildungs- Nutzung der Leistungsstatistik Erwachsenenbildung (DIE) statistik vor Ort zu erleichtern. gegenüber der politischen Öffent- herausgegebene Band soll Basiswissen zur Nutzung von lichkeit, den Förderern oder auch Bildungseinrichtungen das Datenbanksystemen wird im Kontext von Verbänden und Sammeln und Aufbereiten statis- vorausgesetzt. (i. e. MS Excel, Benchmarkings. tischer Daten näher bringen. MS Access). Bildungsmanagement, Organisa- Im Teil B werden die Leistungen tions- und Qualitätsentwicklung, In Teil A des Bands wird eine und Vorzüge des „Verbunds Berichtswesen und Marketing Reihe einfacher statistischer Weiterbildungsstatistik“ vorge- brauchen verlässliche Daten zur Begriffe und Zusammenhänge stellt, dessen Ziel es ist, „unter internen Leistungskontrolle und erläutert. statistischem Blickwinkel ein externen Kommunikation. Gesamtbild der Erwachsenen- Anhand einer Personaldaten- bildungspraxis zu gewinnen.“ Klaus Pehl, Dipl.-Mathematiker datei werden die Struktur und (S.108) und bis 2005 Mitarbeiter des DIE, die Schwerpunkte der Personal- Leitung des Programms „Struk- planung ersichtlich. Ebenso ist Der Abschnitt hat weitgehend den turwandel der Weiterbildung“ die Erfassung von Finanzdaten Charakter eines Arbeitsberichtes und Abteilungsleitung „Informa- erläutert, orientiert am des Verbundprojektes und dürfte tionszentrum Weiterbildung“, kameralistischen Verfahren der vor allem für Spezialisten in den ist ausgewiesener Experte, der Buchführung, wobei anzuneh- Bundesorganisationen der Weiter- lange Jahre im DIE die VHS-Sta- men ist, dass auch in Weiterbil- bildung von Interesse sein. tistik betreut hat. dungseinrichtungen die kauf- männische Buchführung an Ein ausführliches Literatur- Die Nutzung statistischer Daten Bedeutung gewinnen wird. verzeichnis und ein Glossar soll verdeutlicht und das Spek- schließen den Band ab. trum der Verfahren und Metho- Die Erfassung von Veranstaltungs- den erläutert werden, um den daten eröffnet die strategische Walter Schulz

Wendula Dahle (Hrsg.): Die Geschäfte mit dem armen B. B. Vom geschmähten Kommunisten zum Dichter „deutscher Spitzenklasse“ – Hamburg 2007, VSA, 174 Seiten

Über Bertolt Brecht, der schon sche Bildung nutzen lässt didaktischer Poesie, das fürs für viele Kontroversen sorgte, (vgl. „Brecht als Pädagoge“ in: Brecht'sche Œuvre kennzeich- wird wieder diskutiert. Im Jahr „Praxis Politische Bildung“ 4/06). nend ist. Die Literaturprofessorin 2006, als der 50. Jahrestag seines Teils knüpften solche Überlegun- Wendula Dahle hat im Sommer Todes Anlass zu feierlichem gen an die Lehrstücke an, die sich 2007 einen Band herausgegeben, Gedenken gab, wurden auch ja explizit um Versuchsanordnun- der solche Diskussionen fortsetzt. Überlegungen angestellt, inwie- gen für aktive Lerner bemühten, Ausgangspunkt der Publikation fern sich sein Werk für die politi- teils an das Grundverständnis von ist die Vereinnahmung und Ver-

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harmlosung des unbequemen nahme“ oder auch die Versifizie- sein…“) oder Goethe („Und so Autors, wie sie im Jubiläumsjahr rung des Kommunistischen Mani- lang du das nicht hast, dieses: ausgiebig zelebriert wurde. fests. Damit führt das Buch aufs Stirb und werde…“) auf das Unter tatkräftiger Mitwirkung Feld der politischen Auseinander- soldatische Ethos des Staatsbür- von Literaturfunktionären wie setzung, denn die Autoren neh- gerdaseins eingestimmt. Marcel Reich-Ranicki wurde men das epische Theater nicht Brecht ja als wortgewaltiger nur, wie heute verschiedentlich Für die außerschulische Bildung Entertainer, Politkasper, Frauen- vorgeschlagen, methodisch ernst können die Überlegungen des ausbeuter und letztlich als – als interessante Versuchsanord- Sammelbandes aus zweierlei großer Deutscher gewürdigt. nung für pädagogische Prozesse Gründen interessant sein: Erstens –, sondern diskutieren die Inhalte, wird in der Konzeption der Lehr- Gegen diese nationale Beschlag- die die Lehrstücke vortragen und stücke das thematisiert, was in nahme schreibt der Sammelband an denen dem Stückeschreiber den didaktischen Debatten der von Dahle entschieden an. Die lag, im Fall der „Maßnahme“ also letzten Zeit als Kritik an der acht Autoren teilen die politische die Frage, was der Kampf gegen Belehrungskultur vorgetragen Intention Brechts, nämlich seine Ausbeutung und Unterdrückung wurde. Brechts Theatertheorie Kritik an der kapitalistischen Welt, für die Menschlichkeit der Kämp- wendet sich in ähnlicher Weise aber nicht unbedingt die politi- fenden bedeutet. Die Analyse des gegen Belehrung, angestrebt schen oder ästhetischen Schluss- Sammelbandes ist hier besonders wird dagegen ein Prozess des folgerungen, die er im Laufe aufschlussreich, denn das Stück Lehrens und Lernens, der auf die seines Lebens gezogen hat. Das gilt gemeinhin als Musterbeispiel Selbsttätigkeit der Akteure setzt macht die Lektüre spannend – eines stalinistischen Politikver- – und auch auf ein aktives Publi- und zugleich schwierig, denn die ständnisses, das über Leichen geht. kum, das eben nicht in einer rezi- Kontroverse wird nicht nur mit pierenden, „glotzenden“ Rolle den damaligen wie heutigen Der SPIEGEL eröffnete z. B. im verharren soll. Zweitens gibt der Interpreten, sondern auch mit Herbst 2007 seine dubiose Enthül- Band medienpädagogische Anre- dem politischen Gehalt der Stücke lungsstory über die Toten von gungen, welche Werke thema- selbst, mit den marxistisch-leninis- Stammheim (37/07) mit einem tisch interessant sind und sich in tischen „Klassikern“ oder mit der Zitat aus der „Maßnahme“. Die der Bildungsarbeit einsetzen Rolle des Dichters in der DDR ge- von Brecht proklamierte Rück- lassen. Am Beispiel der „Kriegs- sucht. Der Band beginnt mit der sichtslosigkeit gegenüber frem- fibel“, die mit der Kombination aktuellen Situation im neuen dem wie eigenem Leben habe die von Bild und Text arbeitet, wird Deutschland, festgemacht an den RAF inspiriert, ihren Selbstmord etwa demonstriert, dass die Reden von Herzog, Stoiber oder als letzte Kampfmaßnahme einzu- gängige Konzentration aufs Bild Merkel, was zur Kernfrage nach setzen. Dahle und Koautor Wolf- in die Irre führt. Brecht miss- der Rolle der Nation führt. Die gang Leyerer zeigen in ihrer Ana- traute der aufklärerischen Lei- Kritik des Nationalismus wird u. a. lyse, dass der Stalinismusvorwurf stung von Abbildungen; die an der Gegenüberstellung von an der Sache vorbeigeht. Das Photographie einer modernen deutscher Nationalhymne und Stück handelt ja nicht von einer Fabrik, schrieb er im „Drei- Brechts „Kinderhymne“, auch mit Parteidoktrin, die von oben groschenroman“, sage nichts aktuellen Bezügen zum Fußball- durchgesetzt werden soll, sondern über den ökonomischen Inhalt sommer 2006, konkretisiert. Seine versucht einen kollektiven Lern- dieser Einrichtung aus. So ver- Fortsetzung findet das in weiteren prozess zu inszenieren. Die Zuspit- suchte er mit der „Kriegsfibel“ Fallstudien, die eine exemplari- zung auf die Frage, ob das eigene die in der Mediengesellschaft sche Auseinandersetzung mit der Leben zu opfern ist, orientiere bereits durch Texte fixierten didaktischen Aufbereitung des sich, so die Autoren, weniger an Bilder mit neuen, literarischen Werks leisten. taktischen Fragen des Untergrund- Inschriften zu konfrontieren und kampfes als an der idealistischen dadurch Lernprozesse anzustoßen Das Buch konzentriert sich im Dramatik der deutschen Klassik – ein Beispiel dafür, dass der Schlussteil auf die politisch um- und deren Menschheits-Pathos. didaktische Poet Brecht Modelle strittenen Stücke, die nicht wie Seit Generationen werden ja für ein entdeckendes Lernen die „Dreigroschenoper“ oder die deutsche Schüler mit den einschlä- gerade im Rahmen der politi- „Buckower Elegien“ ins kulturelle gigen Sprüchen von Schiller („Und schen Bildung liefern kann. Erbe eingegangen sind: „Die setzt ihr nicht das Leben ein, nie Mutter“, das Lehrstück „Die Maß- wird euch das Leben gewonnen Johannes Schillo

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Hermann Frank Meyer: Blutiges Edelweiß. Die 1. Gebirgs-Division im Zweiten Weltkrieg – Berlin 2008, Ch. Links Verlag, 798 Seiten

In den sechziger Jahren begann bisch den Werdegang eines Elite- zu kommen. Dieser Umgang mit Hermann Frank Meyer den Ereig- soldaten, der im Februar 1948 den Quellen zieht sich durch das nissen nachzugehen, die zum Tod wegen Kriegsverbrechen zu ganze Buch. Immer wird darauf seines Vaters 1943 in Griechen- zwölf Jahren Haft verurteilt und hingewiesen, woher die Informa- land geführt hatten, der als im Februar 1951 nach einer tion stammt und wie sie wahr- deutscher Soldat von griechi- Amnestie durch die US-Amerika- scheinlich einzuordnen ist. Zwar schen Partisanen entführt und ner wieder entlassen wurde. zerstört auch Meyer – wie andere getötet wurde. Das Thema ließ Er trat der FDP bei, wurde Vorsit- vor ihm – den Mythos der „saube- ihn nicht mehr los, aus dem Kauf- zender des Wehrpolitischen Aus- ren “. Er verschweigt mann wurde ein historisch schusses seiner Partei und wurde aber nicht die Untaten anderer, Forschender, dem Professor Ehrenvorsitzender des Kamera- wenn sie im Zusammenhang mit Heinz A. Richter professionelles denkreises der Gebirgstruppen. seinem Thema stehen, wie etwa Vorgehen bestätigte. „Vermißt in Lanz starb im Mai 1982, an seiner das Massaker des sowjetischen Griechenland“, „Kommeno“ und Beisetzung nahmen Bundes- NKWD an ukrainischen Nationa- „Von Wien nach Kalavryta“ sind wehrgenerale und ehemalige listen in Lemberg, dem ein ukrai- seine wichtigsten Veröffentli- Ritterkreuzträger teil. Der ehe- nisches Pogrom unter deutscher chungen. Sie fußen auf umfang- malige Verteidigungsminister Duldung an „Kommunisten und reichen Recherchen in Archiven Leber, zu diesem Zeitpunkt schon Juden“ folgte. und vor Ort, Interviews mit Zeit- im Ruhestand, befürwortete die zeugen, vielen Reisen und um- Teilnahme von Bundeswehrsol- Eines der furchtbarsten Massaker fangreicher Korrespondenz. daten in Uniform und setzte sich der Gebirgsjäger fand im griechi- Diese Korrespondenz brachte ihn dafür ein. Am Grab eines verur- schen Dorf Kommeno statt. dazu, sich noch einmal dem teilten Kriegsverbrechers! Wer - wie die Rezensentin und Thema zuzuwenden. Mit „Bluti- der Rezensent - im Sommer 2006 ges Edelweiß“, der Geschichte Verurteilt wurde Lanz für das den letzten Zeitzeuginnen und der 1. Gebirgs-Division im Zwei- Massaker an italienischen Offizie- Zeitzeugen dieser unfassbaren ten Weltkrieg, liegt nun sein ren und Soldaten im griechischen Gräueltaten gegenüber saß, opus magnus vor. Kefalonia im September 1943. kann die von Meyer geschilder- Nach der Kapitulation Italiens ten Einzelheiten kaum ertragen. Am Beispiel einer einzigen Wehr- waren aus Verbündeten plötzlich Die Ermordung von Kindern, von machtsdivision wird deutsche Kriegsgegner geworden. Viele Babys, ist für uns Nachgeborene Geschichte im 20. Jahrhundert italienische Soldaten in Griechen- kaum nachvollziehbar. Umso nachvollziehbar, von der Grün- land wurden gefangen genom- wichtiger ist es, dass Hermann dung des „Deutschen Alpen- men, viele anschließend erschos- Frank Meyer wie andere als Chro- korps“ 1915 über die Wieder- sen. Den Oberbefehl dafür hatte nist jener Ereignisse auftritt und errichtung einer Gebirgsbrigade General Lanz. Gerade dieses Kapi- die Ereignisse so objektiv schil- 1935 unter den Nationalsozialis- tel deutscher Militärgeschichte dert, wie das nur möglich ist, ten, ihrer Erhebung zur 1. Gebirgs- wird von Meyer aus verschiede- ohne jemals den eigenen Stand- Division nach dem „Anschluss“ nen Perspektiven beleuchtet. Die punkt zu verleugnen. Österreichs (Divisionsabzeichen: früheren Kriegsverbrechen der Edelweiß an Mütze und Ärmel), Italiener in Griechenland werden Es finden sich viele andere The- ihrer Einsätze in Polen, Frank- ebenso wenig verschwiegen wie men bei Meyer, die für Interes- reich, der Sowjetunion, dem der merkwürdige Umgang Nach- sierte viel Wissenswertes trans- Balkan und Griechenland bis zu kriegsitaliens mit seiner Vergan- portieren. Als Beispiel sei das personellen Kontinuitäten in der genheit. In einem eigenen Kapi- Verhältnis der griechischen Parti- 1. Gebirgs-Division der Bundes- tel widmet sich Meyer den sanenorganisationen EDAS und wehr und des „Kameradenkreises Spekulationen und Manipula- ELES untereinander, zu den Deut- der Gebirgstruppe“. tionen über die Zahl der italieni- schen wie zu den Alliierten schen Opfer. In einer Tabelle führt genannt. Der griechische Bürger- Insbesondere am Schicksal des er dreißig unterschiedliche Quel- krieg nach Ende des Zweiten Generals der Gebirgstruppen len auf, um am Ende zu einer Weltkriegs wird aus dieser Sicht Hubert Lanz verfolgt Meyer akri- eigenen vorsichtigen Schätzung für uns verständlicher.

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Wer sich in der internationalen wer sich aktuell mit Auslands- und es kann wieder geschehen, Bildungsarbeit mit Griechenland einsätzen der Bundeswehr aber wir sind verantwortlich da- und/oder dem Balkan beschäf- befasst, der oder die sollte sich für, dass es nicht wieder ge- tigt, wer an der Aufarbeitung der auf Meyers „Blutiges Edelweiß“ schieht. dunkelsten Vergangenheit einlassen, auch wenn es nicht im- Deutschlands interessiert ist und mer leicht fällt. Es ist geschehen Jörg Höhfeld/Jutta Richter

Györgi Dalos: 1956. Der Aufstand in Ungarn – München 2006, Verlag C. H. Beck, 246 Seiten

Aus Anlass des 50. Jahrestags Westen lebenden Ostblock-Dissi- blik Ungarn, in der den Aufstän- des Ungarn-Aufstands hat der denten. dischen ein planmäßiges, kalt- bekannte ungarische Schrift- blütiges Vorgehen unterstellt steller Györgi Dalos dieses in Dalos, der zum Zeitpunkt des wurde, von den sich in Wirklich- vielerlei Hinsicht bemerkenswer- Aufstands dreizehn Jahre alt war, keit spontan und tumultuarisch te Buch veröffentlicht. Hierbei verbindet die historischen Ereig- vollziehenden Vorgängen unter- handelt es sich nicht um eine nisse mit seinen persönlichen schied. Die Konstruktion einer historische Rekonstruktion im Reflexionen, so etwa im Verhält- konterrevolutionären Verschwö- Sinne moderner deskriptiver nis zu den von Intellektuellen rung musste - wie bei ähnlichen und/oder analytischer Geschichts- und Studenten aufgestellten Entwicklungen in der DDR, der wissenschaft, sondern um die aus radikalen 14 Forderungen, mit CSSR und der Volksrepublik Polen zahlreichen Perspektiven denen auch „unmögliche Dinge“ - als Legitimation für das brutale beschriebene Geschichte von eingeklagt wurden. (S. 17) Durchgreifen und die Aburtei- Ereignissen, die vor über 50 Jahren lung der Unruhestifter herhalten. die Welt erschütterten. Die Volks- In seinem „Rückblick“ beschreibt Dass die ungarische Führung aufstände in Polen (Poznan) und der Autor in erster Linie den poli- angesichts der Volkserhebung Ungarn waren bekanntlich ein tischen Terror des Systems, der und der Bitte um sowjetische Ergebnis der Entstalinisierung allgemeines Misstrauen und Hilfe geradezu kopflos handelte, des Sowjet-Blocks und kündigten Unsicherheit auslöste. veranschaulicht der Abschnitt ein bis dahin nicht für möglich unter dem Titel „Das blutige gehaltenes Tauwetter an. Wäh- Diese kollektive Neurose zu Patt“ (S. 63-81). rend sich die Reformkräfte in Beginn der 1950er Jahre wurde Polen nach blutigen Ausein- in dem bekannten Gedicht des Im Abschnitt über den „Aufstand andersetzungen allerdings Dichters Gyula Illyés „Ein Satz der Namenlosen“ zeigt der Autor zunächst durchsetzen konnten, über die Tyrannei“ treffend auf, dass die Aufständischen mündete die spontane Revolte wiedergegeben. Dalos zitiert keiner politischen Partei oder der Ungarn tragisch, da nach den dieses beeindruckende Doku- Richtung zuzuordnen waren. blutigen Kämpfen zwischen Frei- ment in Gänze (S. 27-29). Was sie für eine kurze Zeit ver- schärlern und sowjetischen Besat- einte, war die Ablehnung der zungstruppen und dem Abzug Den Machtkämpfen zwischen sowjetischen Intervention und ei- der Sowjets eine Entwicklung in Rákosi, Nagy, Gerö und Kádár ne antikommunistische Haltung. Richtung Demokratie, Mehrpar- widmet der Autor im Folgenden (S. 96) Dies belegt Dalos mit Hilfe teiensystem und Teilsouveränität sein Hauptaugenmerk. Subtil des Lebenswegs einiger junger möglich schien. Der zweite Ein- beschreibt er, wie die alten Ungarn, die als Führer der Auf- marsch der Sowjets und die Hin- Angstmechanismen sich Mitte ständischen galten und einer richtung von zerstör- der 1950er Jahre auch in der ver- harten Bestrafung durch die ten allerdings all diese öffentlichten Meinung der Volks- Staatsmacht entgegensehen Hoffnungen. Mit der Einsetzung republik aufzulösen schienen. mussten. von János Kádár setzte in dem gebeutelten Land eine langan- In „Genesis eines Kriegszustandes“ Dass die ungarische Regierung haltende Friedhofsruhe ein. schildert Dalos, wie stark sich die sich zunächst einmal den Wün- Bis dahin waren Zehntausende offizielle, propagandistische schen des Volkes ergab, war eine aus Ungarn geflüchtet und Berichterstattung aus dem amt- Folge der Unentschlossenheit der verstärkten die Reihen der im lichen Weißbuch der Volksrepu- kommunistischen Führung sowie

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ein Ergebnis der undurchsich- politische Unterdrückung des Obschon während der Erhebung tigen, chaotischen Verhältnisse. Aufstands schon im vollen Straffreiheit zugesagt worden Ein gutes Beispiel hierfür liefern Gange. (S. 158) Die Nachfolge- war, wurden 35.000 Gerichtsver- die wiederholten Amnestie- frage hinsichtlich der Ablösung fahren eingeleitet, 20.000 Men- angebote an die Aufständischen, von Nagy wurde von der sowjeti- schen landeten in Gefängnissen, die der Autor in ihren unter- schen Führung zugunsten von 250 bis 300 Personen wurden hin- schiedlichsten Varianten zitiert. János Kádár entschieden. Zuvor gerichtet. Die Hinrichtungen Es wird deutlich, dass die ungari- hatte es Gespräche mit der jugos- bildeten den sozialen Quer- sche Führung immer stärker lawischen und chinesischen Füh- schnitt der ungarischen Bevöl- unter den Druck des sowjetischen rung gegeben, in denen die kerung ab, denn sie reichten vom Politbüros geriet, das angesichts Sowjets ihr zukünftiges Vorge- ehemaligen Ministerpräsidenten der Weltpresse und der anstehen- hen quasi absicherten. Dies bis zum kaum volljährigen Lehr- den Debatten in der UNO die bezog die spätere Entführung ling. (S. 213) Position von Imre Nagy zunächst und das zwangsweise Exil der tolerierte. Dieser hatte in einer ungarischen Führung in Rumä- Der Westen und die Weltöffent- seiner Ansprachen versichert, nien mit ein. lichkeit gingen recht bald zur dass die Regierung es ablehne, Tagesordnung über, die Auf- die „gewaltige Volksbewegung Die Kämpfe forderten auf unga- merksamkeit für Ungarn ließ als Konterrevolution zu betrach- rischer Seite 2.652 Tote und nach, die süßlichen Klischees ten“. (S. 119) 19.926 Verletzte. Etwa 200.000 über Ungarn („Sissi“, „Ich denke Flüchtlinge verließen das Land oft an Piroschka“) hielten sich Weiterhin beschreibt Dalos die und ließen sich als politische Asy- hartnäckig, und da sich die wirt- Integration der Aufständischen lanten vor allem in Österreich schaftliche Lage im Lande lang- in die nationalen Streitkräfte und und Deutschland nieder. Auf sam stabilisierte, konnte man die damit verbundenen massiven sowjetischer Seite gab es knapp unter Kádár ein wenig aufatmen. Abgrenzungs- und Kompetenz- 669 Tote und 1541 Verwundete. probleme und die Umstände, die Nach der militärischen Nieder- Nach der Wende des Jahres 1989 zum Scheinrückzug der Sowjets schlagung des Aufstands wurden wurde die Umbettung des Leich- führten. An das Wunder, dass die die während der Erhebung gebil- nams von Imre Nagy, an der etwa Russen Budapest tatsächlich ver- deten Arbeiterräte aufgelöst. 200.000 Menschen teilnahmen, lassen würden, schienen Teile der zu einem weltweit beachteten ungarischen Führung und Bevöl- Die Enttäuschung darüber, dass Ereignis. Die Aufarbeitung des kerung tatsächlich geglaubt zu der Westen nicht eingriff, kom- Jahres 1956 setzte verstärkt ein. haben. Die in den Westen gesetz- mentiert der Autor selbstkritisch Es entstanden zahlreiche Organi- ten Hoffnungen der Ungarn mit dem unreifen, halbgaren und sationen, die sich mit dem Erbe erfüllten sich schon aufgrund der romantischen Bewusstseinsstand des Jahres 1956 beschäftigen und militärischen Einmischung der der Ungarn, die zwar (vom West- sich zum Teil verbissen bekämp- westlichen Großmächte in die en) betrogen wurden, sich aber fen. Je nachdem gibt es also Suez-Krise nicht. auch selbst betrogen. (S. 196) linksliberale, konservative oder auch rechtsradikale Sechsund- Die von der Regierung Nagy Nach dem Aufstand – so Dalos – fünfziger. Diese Entwicklung – angekündigte Aufhebung des fühlten sich die Menschen wie so der lakonische Kommentar Einparteien-Systems und die unmittelbar nach Kriegsende, sie des Autors – entspricht durchaus Neugründung von Parteien, die schwankten zwischen Trauer und dem Chaos und der Vieldeutig- sich während der kurzen Gnaden- der Lust am Weiterleben. keit dieses großen Volksauf- frist (29.10. bis 04.11.1956) vor stands. (S. 230) dem zweiten Einmarsch der Auf Initiative der Sowjets sollte Sowjets zu vollziehen begannen, mit harten Bestrafungen und Der uneingeschränkte Vorzug blieben in ihren Ansätzen einigen Todesurteilen ein Exem- dieses Buches besteht darin, dass stecken. Während Nagy und pel statuiert werden. Die neuen der Autor aus kritischer Distanz Kádár sich am 31. Oktober 1956 Führer, János Kádár und Ferenc und aus dem Abstand eines noch an die ungarische Öffent- Münnich, zeigten sich einverstan- halben Jahrhunderts mit den lichkeit wandten, wobei die Frage den und zur ideologischen Absi- zahllosen Mythen, die sich um des Austritts Ungarns aus dem cherung dieser Maßnahmen den Ungarnaufstand von 1956 Warschauer Pakt angesprochen wurde der Aufstand nunmehr als ranken und immer wieder neu wurde, war die militärische und „Konterrevolution“ bezeichnet. belebt werden, gründlich auf-

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räumt. Man hat nach der Lektüre men des Magnum-Photographen heit ein Stück näher gekommen dieses Textes, der im übrigen Erich Lessing illustriert wird, den zu sein. durch 16 aussagestarke Aufnah- Eindruck, der historischen Wahr- Zbigniew Wilkiewicz

Christoph Butterwegge/Bettina Lösch/Ralf Ptak (Hrsg.): Kritik des Neoliberalismus – Wiesbaden 2007, Verlag für Sozialwissenschaften, 298 Seiten

Der Begriff des Neoliberalismus sowie die Theorie der Eigentums- Selbstentmachtung des öffent- ist in aller Munde, fungiert als rechte (Property-Right-Ansatz) lichen Sektors führen, setzt sich Rechtfertigungsstrategie für die werden beschrieben. Markante der Beitrag von Tim Engartner Vertreter eines rigiden Markt- pejorative Stichpunkte sind die auseinander. Im Vordergrund liberalismus, ist aber auch Kampf- als Kampfbegriff verwendete steht hier zunächst der Begriff begriff bei jenen, die den Rück- Formel des „Kollektivismus“, die des Eigentums. Dem Privateigen- zug des Staates und eine weit- Drohkulisse der „gesamtwirt- tum als der Basis menschlichen gehende Deregulierung für ein schaftlichen Planung“, die „uner- Daseins setzen die Neoliberalen Verhängnis halten, da dadurch trägliche Staatsmacht“, denen eine massive Kritik am öffent- der Sozialstaat und das demokra- das positiv besetzte Projekt einer lichen Eigentum und der staat- tische Funktionieren der Gesell- individualistischen Marktgesell- lichen Wirtschaftstätigkeit ent- schaft in Frage gestellt werden schaft entgegengesetzt wird. gegen. Die Vorschläge zur können. Insofern ist es begrü- Die Menschen werden hierbei als Umgestaltung des Staates reichen ßenswert, dass mit dem sorgfältig ihren individuellen Nutzen meh- dabei von den von Adam Smith edierten Sammelband eine Publi- rende Wesen verstanden, die sich Ende des 18. Jahrhunderts vorge- kation vorgelegt wird, in der sich ihrer Präferenzen bewusst sind brachten Argumenten bis hin zu die Autoren mit den Grundlagen und danach handeln. (S. 30) den Lehren Milton Friedmans, des Neoliberalismus (Ralf Ptak), wobei in all diesen Positionen die mit den Problemen von Privati- Das neoliberale Leitbild der staatliche Wirtschaftstätigkeit als sierung und Liberalisierung (Tim Gesellschaft bestehe – so Ptak – regelrechte Last beschrieben Engartner), mit der Frage einer allein aus negativen Kategorien, wird. Deshalb empfiehlt man die neoliberalen (Sozial-)Politik sei gegen den Interventions- und Privatisierung öffentlicher Unter- (Christoph Butterwegge) sowie Wohlfahrtsstaat, gegen eine nehmen als Beitrag zur Entlas- einer aus der neoliberalen Hege- „uneingeschränkte“ Demokratie tung der (überschuldeten) Staats- monie erwachsenden Gefahr für und gegen den Grundwert der kassen. Engartner weist an die Demokratie (Bettina Lösch) sozialen Gerechtigkeit gerichtet. zahlreichen Beispielen nach, dass auseinandersetzen. Der neoliberale Freiheitsbegriff betriebswirtschaftlich effiziente wird negativ definiert, ist institu- Strukturen nicht unbedingt zu Im ersten Kapitel analysiert Ralf tionell, wobei die Problematik volkswirtschaftlich optimalen Ptak in vier Abschnitten die der ökonomischen Macht und Ergebnissen führen müssen, Grundlagen des Neoliberalismus, der materiellen Voraussetzung zumal Gebühren und Preise im indem er auf seine Ursprünge zur Entfaltung persönlicher Frei- Anschluss an Privatisierungen verweist (Weltwirtschaftskrise heit ausgeklammert wird: Frei- regelmäßig steigen. Überdies 1929/32) und das neoliberale heit beschränkt sich alleine auf könne eine schlüssige Effizienz- Selbstverständnis charakterisiert, die Nichtdiskriminierung der bewertung nur im Sinne einer das bekanntlich in unterschied- Marktteilnahme. Besteht die wohlfahrtstheoretischen Gesamt- lichen Hauptströmungen von der Gefahr einer solchen Diskriminie- analyse erfolgen, denn Kosten- „Wiener Schule“ (Friedrich rung, so sind neoliberale Prota- einsparungen erziele man vor August von Hayek) über die gonisten durchaus bereit, eine allem dadurch, dass man Arbeits- „Chicago School“ (Milton Fried- „wohlmeinende Diktatur“ plätze abbaut, Löhne und Gehäl- man) bis hin zur „Freiburger (Augusto Pinochet im Chile der ter absenkt und Arbeitnehmer/ Schule“ (Ordoliberalismus) zum 1970er Jahre) oder eine „be- -innen zulasten der Renten- und Ausdruck kam. Auch die Theorie schränkte Demokratie“ zu akzep- Sozialkassen in den vorgezoge- kollektiver Entscheidungen tieren oder gar zu unterstützen. nen Ruhestand entlässt. (S. 102) (Public-Choice-Ansatz), die Es ist also nur konsequent, wenn Theorie rationaler Entscheidun- Mit Privatisierung und Liberali- der Autor die Privatisierung gen (Rational-Choice-Ansatz) sierung als Strategien, die zur öffentlicher Unternehmen als

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ahistorisch, kurzsichtig und ein- Reformmaßnahme, und die lich verweise man auf die aus dimensional kritisiert. Die natio- Erzählung vom demographischen der neoliberalen Modernisierung nale Perspektive wird im folgen- Wandel fordere – einem Natur- resultierenden Sachzwänge, die den Abschnitt erweitert, indem gesetz vergleichbar – von den angeblich keine Alternativen Engartner auf die global agieren- Bürger/-innen zukünftig noch zulassen. Wo jedoch Alternativ- den Wegbereiter der Privatisie- größere Opfer. Dadurch werde losigkeit herrscht, steht nichts rung (EU-Richtlinien, GATTS und soziale Sicherheit zum „Standort- mehr zur Wahl und zerfällt die TRIPS) eingeht, wobei er zum risiko“ erklärt, die demographi- Demokratie. (S. 255) Ergebnis kommt, dass es sich sche Entwicklung zu einem hierbei um eine konzertierte weiteren „Naturgesetz“ stilisiert Die Autorin stellt die neoliberalen Aktion neoliberaler Prägung und soziale Ungerechtigkeit Akteure der „zivilen“ Gesellschaft, zulasten öffentlicher Dienstleis- durch Biologie gerechtfertigt. die „think tanks“, Reformansätze tungen und Güter handele. Dies Die neoliberale Sachzwanglogik und Lobbyisten explizit vor führe in der EU zu einer deut- ziele somit auf eine Selbstent- („Initiative Neue Soziale Markt- lichen Belastung der öffentlichen mächtigung der Sozialpolitik wirtschaft“, „Stiftung Marktwirt- Infrastruktur und der historisch und die Entmündigung aller schaft“ mit dem „Kronberger gewachsenen Einrichtungen der Menschen, die von ihr betroffen Kreis“, „Konvent für Deutsch- Daseinsfürsorge. (S.124) Dagegen sind. (S.154) land“, „Centrum für Hochschul- fordert der Autor die Notwen- entwicklung“, „Centrum für digkeit staatlicher Regelungen Bettina Lösch beschreibt im vier- Angewandte Politikforschung und spricht sich dezidiert gegen ten Kapitel die neoliberale etc.) und beschreibt am Beispiel die Unterminierung des verfas- Hegemonie als Gefahr für die der unter Ausschluss der Öffent- sungsrechtlich verankerten Demokratie. Dabei geht sie von lichkeit stattfindenden politi- Sozialstaatsgebots aus. der Ausgangsthese aus, dass schen Beratung das Phänomen neoliberale Denkfabriken stän- der Privatisierung von Politik, Mit der Rechtfertigung, den dig daran arbeiten, die öffentli- die in der Regel dem neolibera- Maßnahmen und den Folgen che Meinung einseitig zu prägen, len Diskurs und seinen Durchset- einer neoliberalen (Sozial-) Poli- indem sie eine grundlegende zungsstrategien verpflichtet ist tik beschäftigt sich der ausführ- demokratische Voraussetzung – (Fünf Wirtschaftsweisen, Hartz-, liche Beitrag von Christoph das Denken in Alternativen – Rürup-, Süssmuth-Kommission Butterwegge. Zunächst erfolgt untergraben. Demokratie werde usw.) So bleibe die politische ein historischer Abriss der neo- zu einer der Ökonomie unterge- Beteiligung und Beratung auf liberalen Sozialstaatskritik, die ordneten Fiktion, wird nicht einen elitären, nichtöffentlichen sich nach der Wende in der For- mehr an Werten bemessen, son- und demokratisch nicht legiti- derung nach verstärkter Privati- dern als Marktmodell bzw. Simu- mierten Personenkreis reduziert, sierung der Daseinsfürsorge lation des Marktes konstruiert. Politik werde im Zuge von Infor- manifestierte. Der Wohlfahrts- Der Übergang vom demokra- malisierung und Privatisierung staat wurde dafür verantwort- tisch „gezähmten“ zum entfes- zur Fassade. lich gemacht, dass Deutschland selten Kapitalismus (von der eine Klassengesellschaft sei, da Sozialen zur Freien Marktwirt- Immerhin kommt Lösch am Ende man die Ungleichheit nicht als schaft) bringe nicht nur den ihrer Ausführungen zum Fazit, Chance, sondern als Problem steten Abbau des Sozialstaates, dass die scheinbare Alternativ- wahrgenommen habe. Dabei – sondern zerstöre durch die Ver- losigkeit neoliberaler Praktiken so Butterwegge – vertausche die marktlichung sämtlicher Lebens- immer mehr in Frage gestellt neoliberale Wohlfahrtsstaats- bereiche auch die Demokratie. werde, indem zum Beispiel nach kritik Ursache mit Wirkung und Global betrachtet haben daran Möglichkeiten „solidarischer erkläre das angebliche Übermaß Institutionen wie GATT und Ökonomie“ gesucht werde: an Sicherheit zum Krisenaus- WTO großen Anteil, da sie sich „Obwohl unter dem Einfluss des löser. auf die Liberalisierung und Neoliberalismus viel zerstört Deregulierung von Märkten und wird, wofür lange gekämpft Die Neoliberalen bedienen sich die Privatisierung öffentlicher wurde, bleibt jedoch eine Gewiss- dabei durchgängig zweier großer Unternehmen und Güter festle- heit: Eine andere, demokratische Erzählungen: Die Standortdebat- gen. Politik wird – gerade auch Politik ist möglich.“ (S. 283) te, die als Totschlagargument in der EU – auf die Adaption funktioniere, legitimiere im Rah- ökonomisch vorgegebener Diesem verhalten optimistischen men der Globalisierung jede Bedingungen reduziert. Beharr- Schlusssatz hat der Rezensent

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nichts hinzuzufügen außer der wichtige, sehr lesenswerte Stand- intensive Diskussion vergönnt abschließenden Bemerkung, dass ortbestimmung handelt, der eine sein sollte. es sich bei diesem Buch um eine möglichst weite Verbreitung und Zbigniew Wilkiewicz

Norbert Blüm: Gerechtigkeit – Eine Kritik des Homo oeconomicus – Freiburg u. a. 2006, Verlag Herder, 192 Seiten

Norbert Blüm, der in den letzten wirtschaftspolitische Modernisie- oder sozialdemokratischen Main- Jahren als Kritiker des west- rung bzw. Verabschiedung der stream steht, ist offenkundig. lichen Kriegskurses hervor- Sozialen Marktwirtschaft begleitet Das könnte man als „links“ ein- getreten ist (vgl. die Rezension wird, was unter Globalisierungs- stufen, wenn man die wenig aus- in AB 1/06), hat sich auch mit kritikern zum Kampfbegriff des sagekräftige Vokabel benutzen einer Kritik an Neoliberalismus „Neoliberalismus“ geführt hat. will. Blüm macht jedoch deutlich, und Globalisierung profiliert. Wie sich dieses Denken gerade dass er in einem definitiven Davon legte zuletzt seine Streit- auch im christlich-sozialen Lager, Gegensatz zur klassischen linken schrift wider den Homo oecono- in der Katholischen Bischofs- Politik, zu Sozialismus, Marxis- micus Zeugnis ab. Sie beginnt konferenz oder in der EKD aus- mus etc. steht. Er entfaltet den mit einer eindringlichen Fall- breitet, zeigt der Abschnitt „neo- Gerechtigkeitsbegriff explizit als studie zu den Verlierern der liberale Mimikry“. Das leitet zu antimaterialistisches Programm Globalisierung, um dann in einem Rundgang durch den auf dem Boden der christlichen zwei Kapiteln das Streben nach „neuen Imperialismus“ (S. 81) Gesellschaftslehre: „Das Streben Gerechtigkeit als menschliche über. Besichtigt wird eine Markt- nach Gerechtigkeit entspringt Grundkonstante und den wirtschaft, „die sich anschickt, dem Heimweh nach dem Para- Gerechtigkeitsbegriff als Tausch-, totalitär zu werden“ (S. 81); die dies.“ (S. 31) Und er will damit Verteilungs- und allgemeine wichtigsten Stationen sind das keineswegs, obwohl er Anti- Gerechtigkeit zu bestimmen. Im Menschenbild vom Homo oeco- kapitalismus vertritt, in die Resultat bleibt es bei der klassi- nomicus, die „Auflösung des Nähe marxistisch inspirierter schen Formel der abendländi- Unternehmens“ in frei flottie- Befreiungstheologien oder ähn- schen Tradition „Jedem das rende Kapitalströme, Flexibilisie- licher Positionen geraten. Diese Seine“. „Die Elementarkunde rung, Kostensenkung und Privati- Abgrenzung verdankt sich einem Gerechtigkeit“, so Blüm, „ist sierung. Das Schlusskapitel bietet politischen Beschluss, theoretisch ganz einfach: Anerkennung der einen Ausblick auf strategische ist das Unterfangen eher Würde jedes Menschen.“ Das Fragen. Blüm beschwört allge- schwach begründet. Rechtsprinzip der Menschen- mein die Macht der Ideen, geht würde bereitet allerdings aber auch auf konkrete Gesetzes- Das zeigt sich da, wo Blüm in Schwierigkeiten, da es inhaltlich vorhaben ein, an denen er seine die direkte Auseinandersetzung nicht gefüllt ist, sondern nur These vom Verlust des Leitbilds mit Marx eintritt. Das General- abstrakt die Personalität Gerechtigkeit expliziert. verdikt über den Marxismus benennt. Das führt zum nächs- lautet: Kollektivismus, Vergewal- ten Kapitel „Menschenbilder“, Die Streitschrift bietet eine Reihe tigung der Persönlichkeit. Dafür in dem der Personalismus als von treffsicheren Analysen zu der wird als erstes das marxsche dialektische Aufhebung der Art und Weise, wie der Umbau Projekt einer klassenlosen Gesell- einseitigen Positionen Individua- des Sozialstaats – weg von der schaft der Unhaltbarkeit über- lismus und Kollektivismus vor- Gewährleistung sozialer Sicher- führt. „Marx erstrebt in seiner gestellt wird. heit und hin zu einer aktivieren- Zukunftsvision eine Gesellschaft den Instanz, die die Arbeitskos- des Überflusses, in der alles zum Es schließen sich die Hauptkapitel ten an die standortpolitischen Nulltarif zu haben ist: ‚Jeder nach „Neoliberalismus“ und „Verwirt- Erfordernisse anpasst – öffentlich seinen Bedürfnissen'. Diese Ge- schaftung des Lebens“ an, wobei kommuniziert wird. Von Interesse sellschaft liegt in Utopia.“ (S. 30) es zunächst weniger um Geistes- dürfte die Positionierung sein, Die falsche Zitierweise ist kein geschichte als um die ideologi- die Blüm theoretisch begründet. Zufall. Bei Marx heißt es in der sche Wende geht, mit der die Dass er im Gegensatz zum christ- „Kritik des Gothaer Programms“,

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dass in einer „höheren Phase der Grundsätzliche, übers Menschen- Der dritte Punkt ist die Alter- kommunistischen Gesellschaft“, bild etc., wo Blüm ja gerade die native von Personalismus und wenn bestimmte Voraussetzun- Verirrung des Sozialismus ding- Kollektivismus (S. 45 ff). Hier gen gegeben seien, nach dem fest machen will. verzichtet Blüm auf Zitate, noch Prinzip verfahren werde: „Jeder nicht einmal der berühmte Marx- nach seinen Fähigkeiten, jedem Der nächste Schritt betrifft die Spruch vom Individuum als nach seinen Bedürfnissen.“ Auseinandersetzung mit dem „Ensemble der gesellschaftlichen (MEW 19, 21) Hieraus ist ersicht- Warentausch, den Blüm im Verhältnisse“ fällt. Stattdessen lich, dass vom Nulltarif keine Gegensatz zur marxschen Kritik gibt es folgende Zusammenfas- Rede sein kann. Jeder hat nach der Warenproduktion als „aus- sung: „Der Sozialismus versteht seinen Fähigkeiten an der gesell- gleichende Gerechtigkeit“ ver- den Menschen nur als Gattungs- schaftlichen Arbeit mitzuwirken, steht (S. 32 ff). Hier wird Marx ei- wesen. Der Einzelne ist nur um die benötigten Güter her- ne gewisse analytische Leistung Baustein eines größeren Ganzen. zustellen. Von „Schlaraffenland“ zugute gehalten, da er mit der Der Staat ist eine Art Übermensch, (S. 30), das Blüm identifiziert, Arbeitswertlehre das Äquivalenz- der seinen Teilen die Funktion keine Spur. prinzip, das dem Tausch zu Grun- zuweist. Um des Großen und de liegt, erklärt habe: „Marx maß Ganzen wegen war der Sozia- Der zweite Bestandteil des den Wert eines Produkts an der lismus bereit, auch Einzelne zu Prinzips orientiert die Verteilung Zahl der Arbeitsstunden, die für opfern.“ (S. 46) Das geht nun an den Bedürfnissen, und zwar seine Herstellung aufgewendet ganz ins Allgemeine. Auch im Plural. Es heißt nicht „Jedem wurden.“ (S. 32) Doch weder hat Staaten wie USA und Deutsch- das Gleiche“ oder was sich sonst Marx dies getan – er legte dem land sind bereit, für das große als kollektivistische Festlegung Warenwert vielmehr die „gesell- Projekt des Demokratieexports eines allgemeinen Maßes denken schaftlich notwendige Arbeit“ zu einzelne Soldaten vor Bagdad ließe. Erledigt ist damit allerdings Grunde, die Blüm nachträglich oder am Hindukusch zu opfern. die Vorstellung einer Zuteilung als Korrekturgröße einführen will Die großen Zeugnisse der bürger- gemäß dem, was der Einzelne –, noch hat er in der Arbeitswert- lichen Literatur, Schillers Dramen verdient, also das klassische lehre seine wissenschaftliche Lei- oder Hölderlins Hymnen, haben „suum cuique“. Bei dieser Vor- stung gesehen. Er teilt vielmehr solche Opferbereitschaft ideali- stellung ist immer mit einge- im ersten Band des „Kapital“ mit, siert. Dass der Staat seinen Teilen schlossen, dass eine Instanz – wie dass er von der Arbeitswertlehre die Funktion zuweist, ist Herr- demokratisch sie auch gedacht der Klassiker (Smith, Ricardo) schaft des Rechts – und der sein mag – darüber verfügt, was ausgeht und sie in seiner Kritik funktionale Zusammenhang den Menschen zusteht. Wenn der politischen Ökonomie einer wird etwa dann, wenn Geschäfts- dagegen gilt „Jedem nach seinen Revision unterzieht. Seine Lei- leute in Afrika oder Osteuropa Bedürfnissen“, vollzieht sich die stung sah Marx in der Bestim- investieren wollen, schmerzlich Entscheidung der Person. Das mung der „abstrakten Arbeit“. vermisst. Wo das Gewaltmonopol, führt je nach Entfaltung der Dies sei der „Springpunkt, um die Geltung der Gesetze in allen Interessen zu einer Pluralität von den sich das Verständnis der poli- Teilbereichen, nicht gegeben ist, Lebensformen oder auch nicht, tischen Ökonomie dreht.“ (MEW hat man nämlich einen failing denn vielleicht wird sich eine vom 23, 56) Blüm bemüht sich weder state vor sich. Vermarktungszwang befreite um eine korrekte Widergabe Menschheit darauf besinnen, noch um eine Widerlegung. Mit „Der Einzelne ist nichts, das dass man mit zwei PC- oder PKW- dem Hinweis auf die „gesell- Kollektiv ist alles.“ (S. 46) Dies Varianten gut über die Runden schaftlich notwendige Arbeits- soll das Prinzip des Sozialismus kommt und nicht eine endlose zeit“ oder den Tatbestand „kom- sein. Dabei stört sich Blüm nicht Produktdifferenzierung braucht. plizierter Arbeit“, die beide aus daran, dass er einige Seiten Nun könnte man, was bei Blüm dem „Kapital“ entnommen sind, zuvor Marx noch vorgehalten meist mitschwingt, die Praxis tut er so, als habe er Korrekturen hat, er hänge mit seinem Bedürf- des realen Sozialismus dagegen angebracht. Der Ertrag ist jeden- nis-Prinzip einer Schlaraffenland- halten, doch damit wechselt man falls, dass er einer ökonomischen Vision der Selbstverwirklichung die Ebene. Dann steht die Diskus- Erklärung von „Ausbeutung“ an. Jetzt wird schlichtweg das sion darüber an, was die Parteien ausweicht - was doch gerade Gegenteil behauptet. Zudem des Ostblocks aus Marx gemacht beim Infragestellen der kapitalis- könnte Blüm auffallen, dass er haben; dann geht die Ausein- tischen „Verwirtschaftung des sich mit seinem Personalismus, andersetzung nicht mehr übers Lebens“ zu leisten wäre. der das Soziale als konstitutives

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(und nicht additiv hinzutreten- sieren, wie ich gerade Lust habe, schaft und Wirtschaftspolitik des) Moment des Individuums ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder tatsächlich vorgeht. Hier bleibt bestimmt, ganz nah bei der Kritiker zu werden.“ Und das Blüms Position erstaunlich unbe- Aussage vom Ensemble der soll Kollektivismus sein? stimmt. Gerechtigkeit wird mit gesellschaftlichen Verhältnisse Menschenwürde gleichgesetzt – befindet. Der Vorwurf, der Die Entgegensetzung der Pole und diese ist, wie die Geschichte Einzelne würde verleugnet, ist Individualismus und Kollektivis- zeigt, mit Vielem vereinbar oder überhaupt befremdlich, da Marx mus wirkt generell künstlich, kann für Vieles in Anspruch sich – man mag seine Überlegun- wenn es um die praktische Politik genommen werden. Sie ist gen teilen oder nicht – minutiös geht. Geistesgeschichtlich mag primär ein Berufungstitel, kein mit dem Prozess der Vergesell- sie eine gewisse Rolle gespielt eindeutiges Kriterium. schaftung auseinandersetzte, haben. In Friedrich A. Hayeks dem die Individuen im Kapita- „Weg zur Knechtschaft“ (1944) In der Auseinandersetzung mit lismus unterliegen. Marx zielte wird damit der Einstieg gemacht, Marx hätte Blüm Gelegenheit dabei gar nicht auf die Konstruk- wobei der Autor für den von ihm gehabt, seine Kritik des Kapitalis- tion eines Menschenbildes, vertretenen Individualismus mus zu präzisieren. Immerhin hat sondern kritisierte die Festlegung gerade das christliche Person- Marx eine Theorie kapitalisti- der Einzelnen auf die Arbeits- verständnis in Anspruch nimmt, scher Ausbeutung ausgearbeitet. teilung der bürgerlichen Gesell- das Blüm für den Personalismus Hier hätte sich in Auseinander- schaft und riet ihnen, diesen reklamiert. Umgekehrt dürfte setzung, Weiterentwicklung oder Zustand zu beenden. Die bürger- für Hayek, der sein Buch – Revision klären lassen, was Aus- liche Arbeitsteilung fixiere ironisch – den „Sozialisten in beutung ist und ob sie im System nämlich den Menschen, wie es allen Parteien“ widmete, und für Marktwirtschaft strukturell ver- in der berühmten Stelle der die von ihm inspirierte „neolibe- ankert ist, welche Alternativen „Deutschen Ideologie“ heißt rale“ Schule Blüms Gerechtig- denkbar sind etc. Das unterbleibt (MEW 3, 33), auf einen „aus- keits-Postulat einen Fall des leider. Es gibt markige Worte – schließlichen Kreis der Tätigkeit“, perhorreszierten Kollektivismus „Der Proletarier aus der Frühzeit also auf die Rolle als Lohn-, Kopf- darstellen. Die Polemik, die dem der Industrialisierung wird wie- oder Handarbeiter - „während in ehemaligen Sozialminister vom der reanimiert“ (S. 118) –, deren der kommunistischen Gesell- wirtschaftspolitischen Main- theoretische Tragweite unklar ist. schaft, wo jeder nicht einen stream entgegenschlägt, geht Den Terminus Ausbeutung ausschließlichen Kreis der Tätig- jedenfalls in eine solche Rich- benutzt Blüm immer wieder in keit hat, sondern sich in jedem tung. Die Welt (07.11.06) seiner Streitschrift – „Aus- beliebigen Zweige ausbilden entdeckte z. B. im „Club der beutung ist kein Wort aus Vor- kann, die Gesellschaft die allge- Blümianer“ kriminelle Machen- zeiten“ (S. 120) –, aber eben in meine Produktion regelt und mir schaften, den Handel mit der Unbestimmtheit, dass dem eben dadurch möglich macht, „Sozialstaatsopium“ etc. Autor etwas verwerflich heute dies, morgen jenes zu tun, erscheint. Einen solchen Streit morgens zu jagen, nachmittags Wichtiger als die Konfrontation anzuzetteln, ist wenig produktiv. zu fischen, abends Viehzucht zu derartiger Konstrukte wäre die treiben, nach dem Essen zu kriti- Klärung dessen, was in Wirt- Johannes Schillo

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Markt

Termine handelt sich dabei um eine Initia- Neue Publikation zur tive des Bundesverbandes der politischen Bildung Das Deutsche Institut für Urbanis- Träger beruflicher Bildung e. V. „Vorsicht Politik“ tik lädt zu einem Seminar nach (bbb) und des Deutschen Volks- Berlin ein, in dem unter dem Titel hochschul-Verbandes (dvv). Siegfried Schiele, ehemaliger „Kommunale Bildungslandschaft Weiterbildungseinrichtungen vor Leiter der Landeszentrale für - Wunsch oder Wirklichkeit?“ die Ort sind eingeladen, sich mit ihren politische Bildung Baden-Würt- Rolle der Kommunen bei der Aktivitäten rund um den Weiter- temberg, und Gotthard Breit, Weiterentwicklung des Bildungs- bildungstag zu präsentieren. Sie Politikdidaktiker aus Magdeburg systems in den Blick genommen werden dabei durch Materialien und Mitherausgeber der Zeit- werden soll. Es geht dabei u. a. unterstützt. schrift „Politische Bildung“, sind um die Voraussetzungen, die die Autoren einer neuen Publika- erfüllt sein müssen, damit die für Über Bezugs- und Beteiligungsmög- tion, die im Wochenschau Verlag Bildung zuständigen städtischen lichkeiten informiert die Homepage erschien. Unter dem Titel „Vor- Akteure im Sinne einer erfolg- www.deutscher-weiterbildungs- sicht Politik“ setzen sie sich mit reichen kommunalen Bildungs- tag.de. der Frage auseinander, weshalb planung zusammenarbeiten die Leute zur Politik auf Abstand können. gehen und welche Argumente Ein internationaler Kongress zum dabei eine Rolle spielen. Die Auto- Veranstaltungsort ist das Ernst- Thema „erleben und lernen“ fin- ren appellieren an ihre Leser/-in- Reuter-Haus in Berlin, in dem das det am 26./27. September 2008 nen, trotz aller Schwierigkeiten Seminar vom 22. bis 23. Septem- an der Universität Augsburg statt. und komplizierten Sachverhalte ber 2008 stattfinden wird. Unter dem Motto „Menschen nicht zu resignieren und sich von stärken für globale Verantwor- der Politik abzuwenden, sondern Detailliertes Programm: tung“ präsentieren namhafte sich um ein Verständnis für ihre www.difu.de/Seminare/08-bildungs- Experten/Expertinnen aus dem Funktionsformen und Möglich- landschaft.programm.pdf In- und Ausland ihre Arbeit im keiten zu bemühen. Bereich des Erfahrungslernens, der Erlebnispädagogik, des Bezug: über den Wochenschau Verlag Der siebte Bundeskongress Soziale (Natur-)Sports und des Outdoor- oder den Buchhandel. Arbeit findet vom 24. bis 26. Sep- Trainings. tember 2009 in Dortmund statt. Im Rahmen von Symposien, Foren Infos unter www.erleben-lernen.de Zeitschriften zur und Arbeitsgruppen wird über poltischen Bildung die aktuellen wissenschaftlichen und professionellen Erkenntnisse Der W. Bertelsmann Verlag ver- Im Wochenschau Verlag erscheint zu den gesellschaftlichen Entwick- anstaltet vom 29. bis 30. Oktober die Zeitschrift „Politische Bildung“, lungen und ihren berufsprakti- 2008 in Bielefeld die fünfte wbv- die in ihrer zweiten Ausgabe im schen Konsequenzen diskutiert. Fachtagung „Perspektive Bildungs- Jahr 2008 das Thema „Globale Im Zentrum stehen dabei soziale beratung – Chancen für Weiter- Umweltpolitik“ behandelt. Fach- (Aus-)Schließungsprozesse und die bildung und Beschäftigung“. Im wissenschaftliche Beiträge umrei- öffentlichen, professionellen und Mittelpunkt stehen Übergänge ßen das Thema, zur Unterrichts- privaten Reaktionsformen auf so oder Umbrüche in den Lebensbe- praxis gibt es ein Konzept zur entstehende Unsicherheiten. reichen Bildung, Beruf und Unterrichtung über die Europäi- Beschäftigung, die von den sche Union im Politikunterricht Weitere Infos: Organisationsbüro Menschen bewältigt und durch für die Sekundarstufe I. Bundeskongress Soziale Arbeit, Weiterbildung unterstützt wer- TU Dortmund, Fakultät Erziehungs- den sollen. Tagungsbegleitend Zwei neue Ausgaben der Zeitschrift wissenschaft und Soziologie, findet eine Ausstellung statt, Wochenschau für den politischen Tel. 0231-755-6065. auf der sich Institutionen aus Unterricht an den Schulen sind er- dem Bildungs- und Beratungs- schienen. Nummer 2/2008 für die kontext vorstellen und mit Pro- Sekundarstufe I konzentriert sich Der 2. Deutsche Weiterbildungs- jekten präsentieren. auf das Thema Werbung und Kon- tag wird unter dem Motto „Bil- sum. Grundlagen der Werbung dung ist Zukunft“ am 26. Sep- Infos unter und ihre Bedeutung für den Markt tember 2008 veranstaltet. Es www.wbv-fachtagungen.de werden ebenso behandelt wie

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Formen der Werbung und Mög- Thema „Demographischer Wan- der Kinder- und Jugendhilfe be- lichkeiten des bewussten Konsums. del. Gestaltung unter veränder- fördern. ten Rahmenbedingungen“ her- Thema von Nr. 2/2008 für die ausgegeben. Sie soll deutlich Auf der Homepage der AGJ – Sekundarstufe II ist der „Arbeits- machen, welche Chancen der www.agj.de – ist ein Positions- markt“. Hier geht es um die Ent- demographische Wandel neben papier veröffentlicht worden, das wicklung und Problematik von allen auch damit einhergehen- die Personalentwicklung in der Arbeitslosigkeit und Versuche, den Problemen eröffnet. Kinder- und Jugendhilfe zum The- ihr durch politische Regelungen ma hat. Vor dem Hintergrund der beizukommen. Dort gibt es auch eine weitere demographischen Entwicklung Publikation zum Thema Jugend- benennt dieses Positionspapier Bezug für alle hier aufgeführten beteiligung, die innerhalb des „Anforderungen an Personalent- Publikationen: Wochenschau Verlag, Aktionsprogramms für mehr wicklung in der Kinder- und Ju- Adolf-Damaschke-Str. 10, Jugendbeteiligung erschien, an gendhilfe vor dem Hintergrund 65824 Schwalbach/Ts. dem sich neben dem DBJR auch demografischer Entwicklungen“. das Bundesministerium für Fami- lie, Senioren, Frauen und Jugend Ein weiteres Positionspapier der Handreichung für Demokra- und die Bundeszentrale für poli- AGJ beschreibt Zukunftsperspek- tieerziehung und Gedenk- tische Bildung beteiligen. Das tiven für eine Jugendpolitik in stättenbesuche Thema „Jugendpartizipation“ Europa. Der Vorstand der AGJ wird in der neuen Publikation stellt vor dem Hintergrund von Das Ministerium für Bildung, Wis- von Experten und Expertinnen Aktivitäten der Europäischen senschaft und Kultur Mecklen- aus der Jugendverbandsfor- Kommission, die für dieses Jahr burg-Vorpommern hat eine Bro- schung und -praxis beleuchtet. im Bereich Kinder- und Jugend- schüre veröffentlicht, die über politik geplant sind, dar, wie eine neue Förderrichtlinie für Eine weitere Broschüre des DBJR Jugendpolitik in Europa gestaltet Fahrten zu KZ-Gedenkstätten nimmt die Arbeit von Jugendhilfe- werden könnte. sowie zu Gedenkstätten und Or- ausschüssen in den Blick. Unter ten für Opfer der jüngeren deut- dem Titel „Für die Interessen Bezug: Arbeitsgemeinschaft für schen Geschichte in Mecklenburg- junger Menschen. Die Jugendhil- Kinder- und Jugendhilfe – AGJ, Vorpommern informiert. Sie wen- feausschüsse“ werden Aufgaben Mühlendamm 3, 10178 Berlin, E-Mail: det sich vor allem an Lehrerinnen und Arbeitsformen von Jugend- [email protected]. www.agj.de und Lehrer, die Fahrten zu Ge- hilfeausschüssen beschrieben. denkstätten planen. Neben den Förderrichtlinien enthält die Bro- Die Broschüren können kostenlos Publikationen zur politischen schüre auch die Adressen der Ge- über die Geschäftsstelle des Jugendbildung denkstätten und gibt Hinweise zu Deutschen Bundesjugendrings den pädagogischen Zielen, zu Lite- bezogen werden: [email protected] oder Die Evangelische Trägergruppe ratur und zur Vor- und Nachberei- über die Homepage des Deutschen für gesellschaftspolitische tung der Gedenkstättenfahrten. Bundesjugendrings: www.dbjr.de. Jugendbildung hat ihr Jahrbuch der gesellschaftspolitischen Die Handreichung „Demokratieerzie- Jugendbildung 2007 unter das hung und Gedenkstättenbesuche in Die Arbeitsgemeinschaft für Motto „anerkennen – ermutigen Mecklenburg-Vorpommern“ wurde in Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) – stärken. Politische Bildung mit alle Schulen versandt und kann von hat noch vor dem Deutschen ‚bildungsfernen' Jugendlichen“ der Homepage des Bildungsministeri- Kinder- und Jugendhilfetag einige gestellt. Das Jahrbuch behandelt ums www.bm-regierung-mv.de sowie Publikationen veröffentlicht. Die einen Schwerpunkt der Arbeit vom Bildungsserver www.bildung- Expertise „Kontrolle als Element evangelischer Jugendbildung mv.de heruntergeladen werden. von Fachlichkeit in sozialpäda- und stellt an Beispielen aus der gogischen Diensten der Kinder- Praxis vor, wie sich die Evangeli- und Jugendhilfe“ soll professio- sche Trägergruppe darum Publikationen zur Jugendpoli- nelles bzw. fachliches Handeln bemüht, so genannte bildungs- tik und Jugendhilfe mit Blick auf das Thema „Kon- ferne Jugendliche mit ihren Ange- trolle“ qualifizieren und den Dis- boten anzusprechen und für Fra- Der Deutsche Bundesjugendring kurs um Möglichkeiten und gen von Politik und Gesellschaft (DBJR) hat eine Broschüre zum Grenzen von Kontrolle innerhalb zu interessieren.

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„Lernziel Verantwortung“ ist der Internet gestartet, mit dem Men- zweiten Mal vom Pressenetzwerk Titel einer weiteren Publikation schen, die mit Rechtsextremen für Jugendthemen herausgege- der Evangelischen Trägergruppe, im Bekanntenkreis oder in der ben wurde. Das Magazin gibt die von Friedrun Erben und Klaus Verwandtschaft konfrontiert sind, Einblick in die Arbeit des Presse- Waldmann herausgegeben wur- anonyme, kostenlose und ver- netzwerks und seiner Mitglieder. de. Sie enthält Berichte über ein trauliche Hilfe erhalten können. bundesweites Projekt „Zivil- Unter www.online-beratung-ge- Bezug: Pressenetzwerk für Jugend- gesellschaftliches Engagement gen-rechtsextremismus.de können themen, Beethovenstr. 38a, 53115 durch Service Learning“, das von die Betroffenen Hilfe abrufen, Bonn, www.pressenetzwerk.de. außerschulischen Bildungs- die von drei ausgebildeten Bera- trägern mit unterschiedlichen tern in Form von E-Mails in Ein- Schulen an sechs verschiedenen zel- oder Gruppengesprächen Das Pressenetzwerk für Jugend- Orten in vier Bundesländern geleistet wird. Über eine Online- themen ist außerdem Heraus- realisiert wurde. Ziel war, die Datenbank werden regionale geber des neuen Weblog „Ver- Jugendlichen darin zu fördern und lokale Projekte vorgestellt, stärker“, der im Auftrag des und zu unterstützen, die Situa- die Hilfe und Informationen am Bundesministeriums für Familie, tion in ihrem sozialen Umfeld be- Ort liefern. Das Portal wird auch Senioren, Frauen und Jugend wusster wahrzunehmen und sich vom Bundesministerium für Partizipationsprojekte von nach eigenen Interessen und Familie, Senioren, Frauen und Jugendlichen und für Jugendli- Möglichkeiten für einen be- Jugend gefördert. che in Deutschland und Finnland grenzten Zeitraum in sozialen begleitet. Der Weblog mit Texten, Einrichtungen und Initiativen zu Die Landeszentrale für politische Fotos, Audio- und Videofiles und engagieren. Bildung Baden-Württemberg hat vielen Informationen und in einer neuen Ausgabe der Zeit- Geschichten lädt User/-innen zur Bezug: Wochenschau Verlag oder schrift „Politik und Unterricht“ aktiven Teilnahme an der Weiter- Buchhandel. die rechtsextremistische Szene in entwicklung der Seite ein. den Blick genommen. Lehrerin- nen und Lehrer aller weiterfüh- Infos: www.verstaerker.pressenetz- Die aktuelle Ausgabe 7/8-2008 renden Schulen im Land sollen werk.de. der Zeitschrift „deutsche jugend“ damit angeregt und unterstützt widmet sich dem Thema „Jugend werden, im Unterricht das Thema und Politik“. Die darin enthal- Rechtsextremismus jugendgerecht Publikationen zur Erwachse- tenen Beiträge befassen sich mit zu behandeln. Im Mittelpunkt ste- nenbildung den politischen Einstellungen hen die veränderten Mittel und von Jugendlichen heute, ihren Methoden, mit denen Rechts- Die Evangelischen Akademien in Erwartungen an die Zukunft und extreme Jugendliche heute Deutschland haben unter dem den daraus erwachsenden ansprechen. Das Heft thematisiert Titel „Diskurse“ ausgewählte Ansatzpunkten für die politische Gegenstrategien und gibt Beispie- Tagungen und Schwerpunkte für Jugendbildung. Die Autoren set- le für wirkungsvolles Einschreiten das zweite Halbjahr 2008 vorge- zen sich auch mit den aktuellen gegen die Verbreitung rechtsextre- stellt. Im Fokus steht dabei das Tendenzen zur konfrontativen mistischer Vorstellungen. Thema „Bildung und Armut“. Pädagogik und dem Problem der Aber die ausgewählten Veranstal- gesellschaftlichen Exklusion aus- Das Heft steht unter www.politikund- tungsangebote sind nicht darauf einander. unterricht.de/2_08/rechtsextremismus. konzentriert, sondern geben einen htm komplett im Netz oder kann Eindruck von den Themen, die in Bezug: Juventa Verlag, Ehretstr. 3, direkt bei der Landeszentrale für poli- den 15 Evangelischen Akademien 69469 Weinheim, www.juventa.de. tische Bildung Baden-Württemberg aktuell erörtert werden. bestellt werden unter der Adresse Ziele und Schwerpunkte der Ver- Stafflenbergstr. 38, 70184 Stuttgart. anstaltungen werden kurz erläu- Hilfen im Kampf gegen tert und die daran beteiligten Rechtsextremismus Kooperationspartner benannt. Neues vom Pressenetzwerk Die Bundeszentrale für politische für Jugendthemen Bezug: Evangelische Akademien in Bildung und der Verein „Gegen Deutschland (EAD) e. V., Vergessen - Für Demokratie“ „Connecting Youth Media“ ist Auguststr. 80, 10117 Berlin, haben ein Beratungsangebot im der Titel des Magazins, das zum www.evangelische-akademien.de.

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Zeitschriften zur drücke von der Jubiläumsveran- turen für bürgerschaftliches Erwachsenenbildung staltung wiedergibt, die im Engagement, die Förderung Dezember 2007 in Bonn statt- lebensbegleitenden Lernens und Popularisierung ist das Stichwort, fand. die zunehmende Konvergenz unter dem die Beiträge zum von Bildungsarbeit und sozialer Schwerpunkt von Nr. 2/2008 der Bezug: Deutsches Institut für Arbeit mit älteren Menschen sind Zeitschrift „Erwachsenen- Erwachsenenbildung e. V., die dabei behandelten Aspekte. bildung“ stehen. Es geht dabei Friedrich-Ebert-Allee 38, 53113 Bonn, um Techniken der Populärkultur, www.die-bonn.de. Bezug: VS Verlag für Sozialwissen- die sich für die erwachsenen- schaften, Wiesbaden, oder den bildnerische Arbeit nutzbar Buchhandel. machen lassen. Hilfen für die Arbeit mit älte- ren Menschen Die Zeitschrift „Erwachsenenbil- Publikationen zur wissen- dung“ wird herausgegeben von Das Ministerium für Genera- schaftlichen Weiterbildung der Katholischen Bundesarbeits- tionen, Familie, Frauen und Inte- gemeinschaft für Erwachsenen- gration des Landes Nordrhein- Im Herbst 2007 fand in Bern die bildung und erscheint im Westfalen hat ein europäisches Jahrestagung der Deutschen W. Bertelsmann Verlag, Bielefeld. Projekt gestartet, das bis Ende Gesellschaft für wissenschaftliche 2009 für die Arbeit mit älteren Weiterbildung und Fernstudium Bezug: W. Bertelsmann Verlag, Menschen mit Zuwanderungsge- (DGWF) zum Thema „Wa(h)re Auf dem Esch 4, 33619 Bielefeld. schichte in Europa qualifizieren Bildung. Gegenwart und Zukunft soll. Das Projekt zielt auf „aktives wissenschaftlicher Weiterbildung Altern“ und das ehrenamtliche angesichts von Bologna und Der „Demografische Wandel“ Engagement von älteren GATS“ statt. Die Vorträge, Reden steht im Mittelpunkt von Heft Menschen mit Zuwanderungs- und Arbeitsgruppen-Inputs sind 3/2008 der Zeitschrift DIE – Zeit- geschichte und die Entwicklung mittlerweile dokumentiert in schrift für Erwachsenenbildung, neuer „kultursensibler Produkte einer umfangreichen Publika- die vom Deutschen Institut für und Dienstleistungen“. Geplant tion, die von der DGWF heraus- Erwachsenenbildung herausge- sind verschiedene Aktivitäten gegeben wurde. geben wird. Es geht um mögliche wie Wettbewerbe, eine erste Strategien im Umgang mit den europäische Konferenz zum Der Vorsitzende der DGWF, durch den demographischen Thema, Austauschprogramme Prof. Dr. Peter Faulstich, hat in Wandel bewirkten Herausforde- und Formen der Öffentlichkeits- der Reihe „Öffentliche Wissen- rungen für die Beschäftigungs- arbeit, die zur Umsetzung neuer schaft – Neue Perspektiven der situation, die kommunalen Ideen in Produkte oder Dienstlei- Vermittlung in der wissenschaft- Weiterbildungseinrichtungen stungen beitragen sollen. lichen Weiterbildung“ den und die Weiterbildungsadminis- zweiten Band veröffentlicht, tration. Das Projekt wird vom MGFFI Nord- der unter dem Titel „Vermittler rhein-Westfalen und der Europäi- wissenschaftlichen Wissens“ Bezug: W. Bertelsmann Verlag, schen Kommission gefördert. Biographien von Pionieren Bielefeld, oder den Buchhandel. öffentlicher Wissenschaft vor- Infos finden sich auf der Projekt- stellt. Es geht dabei um so Homepage: www.aamee.eu oder unterschiedliche Personen wie Das Deutsche Institut für Erwach- unter www.ikom-bund.de. Anna Maria Sibylla Merian, senenbildung hat im Juni seinen Immanuel Kant, Alexander von Jahresbericht für 2007 vorgelegt, Humboldt oder Otto Neurath, der über die wesentlichen Akti- Die soziale Arbeit mit älteren um nur einige der hier Porträ- vitäten des DIE im vergangenen Menschen ist Thema von tierten zu benennen. Jahr informiert. Zu den heraus- Nr. 5/6'08 der Zeitschrift Sozial ragenden Ereignissen gehörte im extra. Es geht dabei um die Die Publikationen sind zu beziehen letzten Jahr das 50-jährige Jubi- besonderen Bedingungen, denen unter der Adresse der DGWF: läum des DIE, über das eine DVD soziale Arbeit mit Älteren unter- Vogt-Koelln-Str. 30, Haus E, anschaulich berichtet, die Ein- liegt. Die Schaffung neuer Struk- 22527 Hamburg.

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Außerschulische Bildung 2-2008 Die Außerschulische Bildung wird als Fachzeitschrift für politische Jugend- 39. Jahrgang und Erwachsenenbildung vom Ar- beitskreis deutscher Bildungsstätten Materialien zur politischen Jugend- und Erwachsenenbildung – (AdB) herausgegeben. Verband, Her- Mitteilungen des Arbeitskreises deutscher Bildungsstätten e. V. ausgeberin und Herausgeber, Redak- tionsbeirat und die Redakteurin Herausgeber: möchten dadurch Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten e. V., vertreten durch Dr. Paul Ciupke und Ulrike Steimann zur fachlichen und wissenschaft- lichen Reflexion der Praxis politi- Redaktion: scher Jugend- und Erwachsenen- Ingeborg Pistohl bildung beitragen und damit die Professionalität pädagogischen Redaktionsbeirat: Handelns stärken, Ina Bielenberg, Gertrud Gandenberger, Dr. Christoph Meyer, Wolfgang Pauls, Dr. Melanie Piepenschneider, Imke Scheurich aktuelle und relevante Themen aus Politik und Gesellschaft auf- Namentlich gekennzeichnete Beiträge entsprechen nicht unbe- greifen und im Hinblick auf ihre dingt der Meinung des Herausgebers/der Herausgeberin und der Behandlung in der politischen Bil- Redaktion. dung aufbereiten,

Redaktionschluss: Beispiele der Bildungsarbeit öf- 30. Juni 2008 fentlich machen und ein Schau- fenster des Arbeitsfeldes bieten, Redaktions- und Bezugsanschrift: AdB, Mühlendamm 3, 10178 Berlin, theoretische und fachliche Diskus- Tel. (0 30) 400 401-11 u. 12 sionen in Beziehung setzen und www.adb.de die Diskurse in der Profession und E-Mail: [email protected], den wissenschaftlichen Bezugs- [email protected] disziplinen jeweils miteinander bekannt machen, Herstellung: Druckcenter Meckenheim/Brandenburgische Methoden der politischen Bildung Universitätsdruckerei und Verlagsgesellschaft vorstellen, Potsdam mbH neue fachbezogene Publikationen ISSN 0176-8212 und Medienproduktionen präsen- tieren und in ihrer Relevanz für Bildnachweis: die Bildungsarbeit einschätzen, Copyrighthinweise s. Fotos. Die Abbildungen von Wikipedia ste- hen unter der GNU Free Documentation License. über bildungs- und jugendpoliti- sche Entwicklungen in Bund und Bezugsbedingungen (gültig ab Ausgabe 1-2003) Ländern berichten, Einzelheft € 6,00 1-3 Abonnements (jährlich) € 16,00 Nachrichten aus dem AdB und an- ab 4 Abonnements (jährlich) € 12,00 deren Fachverbänden verbreiten. Abonnements für Studenten, Prakti- kanten, Referendare, Arbeitslose (jährlich) € 12,00 (bitte jährlich Bescheinigung übersenden) (zuzüglich Porto)

Die Mitglieder des Arbeitskreises deutscher Bildungsstätten er- halten je ein Exemplar kostenlos.

Diese Zeitschrift wird maßgeblich durch Mittel des Bundesminis- teriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert und von der Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-West- falen unterstützt.

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