Außerschulische Bildung 2-2008 ISSN 0176-8212 von Erinnerungen 1968: DieKonkurrenz „realen Sozialismus“ Demokratisierung im 1968: Hoffnung auf politische Bildung Protestbewegung und Bundesrepublik um1968 Jugendkultur inder Lichte seinerJubiläen Der Kampfum„68“im 2-2008 INHALTSVERZEICHNIS
ZU DIESEM HEFT 157 ADB-FORUM
Paul Ciupke SCHWERPUNKT Verluste und Konstanten Neue Zahlen und einige (auch alte) Albrecht von Lucke Erkenntnisse zur politischen Der Kampf um „68“ – Erwachsenenbildung in NRW 210 im Lichte seiner Jubiläen 158
Detlef Siegfried ADB-JAHRESTHEMA Zwischen Pop und Politik. Jugendkultur in der Bundesrepublik um 1968 165 Homaira Mansury „Auf Augenhöhe – Wie Integration vor Ort Paul Ciupke in der Praxis gelingt“ 212 Die Protestbewegung in den 60er Jahren und die außerschulische politische Bildung 172 INFORMATIONEN Revolte im Gulasch-Kommunismus Ein Interview mit György Dalos 181 Meldungen 216
Anton Sterbling Aus dem AdB 234 Rumänien 1968: Kontext, Geschehnisse und Folgewirkungen 186 Personalien 238
Wolfram Tschiche Bücher 239 Zur historischen Bedeutung des Prager Frühlings 1968 195 Markt 254
Klaus Waldmann Protest und Anpassung im geteilten IMPRESSUM 258 Deutschland der 60er und 70er Jahre Ein Projekt historisch-politischer Jugendbildung 202
Thema des nächsten Heftes: „Problem“- und Zielgruppen der politischen Bildung
155 156 ZU DIESEM HEFT
Peter Rühmkorf ist tot, das nem Artikel über Rumänien belegt. Ungarn hinge- „Kursbuch“ wurde einge- gen hatte im Westen schon damals den Ruf, libera- stellt. Vierzig Jahre nach ler zu sein als seine sozialistischen Nachbarn, war 1968 sind die meisten Pro- aber traumatisiert durch die militärische Nieder- tagonist/-innen der 68er schlagung des Aufstands 1956. Im Interview mit Si- Bewegung inzwischen im mone Schmollack berichtet György Dalos, wie er die Rentenalter oder stehen Vorgänge 1968 in Ungarn wahrgenommen hat und unmittelbar davor. Und was sie für ihn bedeuteten. dennoch: So viel 68 wie heute war nie. Als wir uns Das, was damals im Westen geschah, lässt sich nur im Frühling 2007 mit Blick schwer in einen Zusammenhang mit der Entwick- auf das Folgejahr auf ein lung in den Ostblockstaaten bringen. Die unter- Heft zum Thema 1968 einigten, ahnten wir nicht, schiedlichen Erfahrungen aufeinander zu bezie- dass die damalige Studenten- und Jugendrevolte hen, versucht ein Projekt der historisch-politischen rund vierzig Jahre später medial so große Auf- Jugendbildung, das Klaus Waldmann beschreibt. merksamkeit erfahren würde. Der Rummel begann Paul Ciupke zeigt beispielhaft am Arbeitskreis schon im letzten Jahr und will kein Ende nehmen. deutscher Bildungsstätten den Einfluss der 68er Be- Uschi Obermaier, Rainer Langhans und andere po- wegung auf die damaligen Auseinandersetzungen litischere Zeitzeug/-innen touren durch die Talk- in einem Verband der außerschulischen politischen shows und machen sich die Deutungshoheit über Bildung und auf didaktische Entwicklungen. eine kurze, aber in ihrer lebensgeschichtlichen Bedeutung für große Teile der damals jungen Ge- Detlef Siegfried macht deutlich, dass die Jugendre- neration nicht zu unterschätzende Zeitspanne volte 1968 Teil und Ausdruck eines gesellschaft- streitig. Die Zahl der Publikationen zu 1968 ist in- lichen Wandels war, der sich in der Alltagskultur zwischen Legion, und die Bundeszentrale für poli- und im Lebensstil vollzog und nachhaltiger wirkte tische Bildung widmet der 68er Bewegung Veran- als die (zudem nicht einheitlichen und zwischen staltungen und Info-Angebote über das ganze Jahr den verschiedenen Flügeln heiß umkämpften) poli- hinweg. tischen Ziele der 68er.
Was also kann man noch mitteilen zu 68, was nicht Was die 68er politisch wollten, lässt sich nicht auf schon längst mehrfach gesagt, erörtert, dokumen- einen Nenner bringen; dass sie damalige Vorstel- tiert wurde? Wir wollen mit diesem Heft den Blick lungen zur Systemveränderung erfolgreich hätten auf Vorgänge und Zusammenhänge richten, die in durchsetzen können, mag angesichts der gegen- der aktuellen öffentlichen Diskussion über 1968 wärtigen politischen und gesellschaftlichen Rea- eher vernachlässigt werden. Dazu gehört die zeit- lität auch niemand glauben. Dennoch haben sie in gleiche aber unter völlig anderen Voraussetzungen den paar Jahren viel bewegt und angestoßen. Of- und Bedingungen verlaufende Entwicklung in den fenkundig beschäftigen sie immer noch die Phan- Staaten des „realen Sozialismus“, die in der zweiten tasie der Menschen und provozieren den Streit Hälfte der 60er Jahre ebenfalls in Fahrt geriet. Sie über die Bewertung ihres historischen Erbes. Al- weckte Hoffnungen auf Änderungen der Verhält- brecht von Lucke, dessen Beitrag dieses Heft einlei- nisse in Ostmitteleuropa, die jedoch mit dem Ein- tet, analysiert die bisherigen „Jubiläen“ zu 68 mit marsch der Sowjetunion und anderer Staaten des dem Ziel, herauszufinden, was die sich verändern- Warschauer Pakts in die CSSR im August 1968 brutal den Erinnerungsschwerpunkte und Deutungsver- zerstört wurden. Wolfram Tschiche erinnert an den suche über den jeweiligen Zustand der bundesre- „Prager Frühling“ und die dramatischen Ereignisse publikanischen Politik und Gesellschaft aussagen. in jenem Sommer, die er als Jugendlicher in der DDR Man kann gespannt darauf sein, wie im Jahr 2018 mit Bangen und Hoffen verfolgte. Aber auch in an- an 1968 erinnert werden wird. deren Ländern des sogenannten Ostblocks gab es Li- beralisierungstendenzen, wie Anton Sterbling in sei- Ingeborg Pistohl
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Der Kampf um „68“ – im Lichte seiner Jubiläen Albrecht von Lucke
Albrecht von Lucke sieht in den unterschied- Ein Jahr zuvor hatten die von der sogenannten lichen Zugängen zur Erinnerung an die mit der zweiten Generation der RAF verübten Mordan- Chiffre 1968 bezeichneten Zeiträume wechselnde schläge das ganze Land regelrecht in einen Schock- Schwerpunkte der politischen Auseinandersetzung zustand versetzt. Dennoch begann bereits damals in Deutschland. Die Jubiläen im Zehn-Jahres-Rhyt- das bürgerliche Feuilleton, sich für die 1968 verlo- mus werden unter dem Aspekt beleuchtet, was sie ren gegangenen Kinder weit zu öffnen. In den aussagen über die jeweils aktuellen politischen Kon- zehn Jahren seit der Revolte war die Schärfe der flikte und die Ziele, die im Kampf um die Deu- Auseinandersetzung einem versöhnlicheren Ton tungshoheit über '68 verfolgt werden. Dabei hat gewichen. Viel Verständnis brachte etwa die libe- sich der Streit mit wachsendem zeitlichen Abstand rale „ZEIT“ der Generation der verlorenen Bürger- zu den damaligen Vorgängen sogar noch ver- kinder entgegen, die „in eine vorgeblich endlich schärft. An herausragenden Beispielen verdeutlicht aufgeräumte Welt hineinerzogen wurde und beim von Lucke den Zusammenhang zwischen Interpre- Erwachsenwerden schockartig herausfand, wie sehr tationen der Vorgänge um 1968 und politischen diese aufgeräumte Welt noch in Unordnung ist.“2 Interessen der jeweiligen Gegenwart. Mehr und mehr wird die große moralische „lnfra- 40 Jahre liegen die Ereignisse von 1968 mittlerweile gestellung“ der Nachkriegsrepublik durch „68“ gut zurück – also eigentlich der richtige Zeitpunkt für ei- geheißen: 68 stand nun für das moralische Aufbe- ne gelassene Bilanzierung. Und doch löst auch in die- gehren der Nachkriegskinder gegen ihre Nazi- sem Jubiläumsjahr die Chiffre „68“ wieder heftige Eltern und für den Wunsch nach Verarbeitung Reaktionen aus. Anders der NS-Zeit. Dieser ge- In diesem Jahr wird als von jenen, die für ei- Mehr und mehr wird meinsame Grundimpuls, so erbittert um die ne stärkere Historisierung die große moralische so die herrschende Les- Bedeutung von „68“ plädiert hatten, erwartet „lnfragestellung“ art, war von den mörde- gestritten wie seit und erhofft, erlebt das der Nachkriegsrepublik rischen Exzessen der RAF Jahren nicht mehr Land eine erstaunliche durch „68“ gut unberührt geblieben. La- Politisierung und Zuspit- geheißen gerübergreifend wurde zung der Debatte. Maßgeblich ausgelöst durch „Un- inzwischen dem Ereignis ser Kampf“, das sensationsheischende Buch des His- „68“ vor allem eine moralische Qualität zugespro- torikers und einstigen APO-Aktivisten Götz Aly, wird chen – was auch dazu führte, dass die damaligen in diesem Jahr so erbittert um die Bedeutung von Akteure sich zunehmend selbstbewusst als 68er „68“ gestritten wie seit Jahren nicht mehr. und Angehörige einer gemeinsamen Generation begriffen. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Im Gegensatz zu anderen Jubiläen verbergen sich bis heute hinter Was die 68er zum Ende der 70er Jahre, mit dem En- „68“ und der dazugehörigen 68er-Generation stets de der bleiernen Zeit und dem Aufblühen neuer, auch die Kämpfe um die kulturelle Deutungshoheit grün-bunter Hoffnungen, allerdings noch nicht in der Bundesrepublik – und damit die Auseinander- vorhersahen, war die Tatsache, dass sie sich, indem setzung nicht nur über die Vergangenheit, sondern sie sich selbst als „68er-Generation“ definierten, auch über Gegenwart und Zukunft dieses Landes.1 dem Datum 1968 und seiner jeweiligen Wertung Deshalb setzt die Frage, wofür die „Chiffre 68“ steht, auslieferten. „68“ war damit zur „historischen bis heute gewaltige emotionale Energien frei. Das ist Kennziffer einer Generation“ geworden.3 Gleich- in diesem Jubiläumsjahr nicht anders als in den ver- zeitig war die Generation damit in Zukunft abhän- gangenen. Stets war das Erinnern hochgradig von gig von den Prämien, die die öffentliche Meinung der jeweiligen politischen Situation abhängig. für das Jahr 1968 vergeben würde.
1978 – Bürgerliche Annäherung im Schatten 1988 – „Alle lieben '68“ der RAF Zehn weitere Jahre später, 1988, waren diese Das erste zehnjährige Jubiläum, im Jahre 1978, Prämien rundweg positiv. Zum zwanzigjährigen Ju- stand ganz im Zeichen der terroristischen Gewalt. 2 Dieter E. Zimmer, Gescheitert, aber nicht folgenlos, in: Die 1 Vgl. dazu auch Albrecht von Lucke, 68 oder neues Bieder- ZEIT, Nr. 27, 07.07.1967, S. 8. meier. Der Kampf um die Deutungsmacht, Verlag Wagenbach, 3 SPIEGEL-Spezial, Die wilden 68er. Die SPIEGEL-Serie über die Berlin 2008. Studentenrevolution, Hamburg 1988.
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kratischer Spielregeln und de- ren Ausübung. Erst die Revol- te schien aus einem autoritär- hierarchischen Obrigkeitsstaat eine moderne, zivilisierte De- mokratie gemacht zu haben.
Vorschub erhielt diese Deu- tung durch die anhaltende Krise der schwarz-gelben Re- gierungskoalition. Die von Kanzler Helmut Kohl ver- sprochene „geistig-moralische Wende“ war ausgeblieben; der CDU-Kanzler schien abge- wirtschaftet zu haben und Oskar Lafontaine als damali- ger SPD-Kanzlerkandidat auf dem besten Wege, die nächste ©pixelio/windrose Bundestagswahl zu gewin- 68 stand für das moralische Aufbegehren der Nachkriegskinder gegen ihre nen. Die Grünen als der mögli- Nazi-Eltern und für den Wunsch nach Verarbeitung der NS-Zeit che Koalitionspartner der SPD verkörperten die Resozialisie- biläum der Revolte schien der kommende politi- rung der Revoluzzer. Die aufständischen Studenten sche Triumph dieser Generation so gut wie ausge- von einst waren in der bundesrepublikanischen macht. Unbemerkt selbst von vielen 68ern hatte Demokratie angekommen, der „Machtwechsel als sich in den 80ern das Jahr 1968 vom Ruch der radi- Generationenprojekt“5 schien greifbar nahe. kalen Revolte befreit und war zu einem positiv konnotierten Markenzeichen geworden, was Klaus Zwanzig Jahre nach „68“ befand sich die 68er-Ge- Hartung in der taz zu der sichtlich überraschten neration somit auf dem Sprung zur Regierungs- Feststellung veranlasste: „Alle lieben '68“.4 macht in der Republik. Zwanzig Jahre nach Im Jahre 1988 schien ih- Nun stand '68 für Nun stand '68 für den „68“ befand sich die re Herkunft so etwas den Beginn von Beginn von Emanzipa- 68er-Generation somit wie die Garantie auf Emanzipation und tion und Demokratisie- auf dem Sprung zur Modernität und Erfolgs- Demokratisierung rung – nach den damals Regierungsmacht tauglichkeit. Der Macht- gängigen Codierungen in der Republik wechsel als Generatio- gleichbedeutend mit Fortschrittlichkeit. Bereits die nenprojekt bezeichnete 70er, aber mehr noch die 80er Jahre waren geprägt den Willen zum inhaltlichen Politikwechsel. Der durch die silent revolution (Ronald Inglehart) – ei- „ökologische Umbau der Industriegesellschaft" war nen positiv konnotierten Wertewandel, der allent- das erklärte Ziel, 68 stand für die Abrüstung nach halben auf 1968 zurückgeführt wurde: Die Bürger innen wie nach außen. Die 68er-Generation verkör- verlangten nach mehr Partizipation und engagier- perte damit den ökologisch aufgeklärten Fort- ten sich in der Frauen-, Friedens- und Umweltbe- schritt. Das 68er-Label stand (noch immer) für wegung, nicht selten in allen dreien gleichzeitig – einen großen politischen Anspruch. Gerhard Schrö- Engagement als Lebensform. Anstelle der harten, der, Jahrgang 1944 und dennoch 1968 keineswegs materialistischen Werte war der Postmaterialismus besonders stark beteiligt, artikulierte zwanzig Jah- auf dem Vormarsch. Die sogenannten weichen re später als Fraktionsvorsitzender in Hannover Themen verdrängten die hard politics. selbstbewusst die Identität der Bewegung: „Wir ha- ben 25 neue Abgeordnete. Die sind alle anders, für Im bürgerlichen Feuilleton, das immer mehr durch die ist Ruhe nicht mehr die erste Bürgerpflicht“.6 Angehörige der 68er-Generation besetzt wurde, war „68“ zum Synonym für die kulturelle Verwest- 5 Jürgen Leinemann, in: „Der SPIEGEL“, 25/1997, S.110-119, lichung geworden, nämlich die Übernahme demo- hier S. 118. 6 Zit. nach Jürgen Leinemann, in: „SPIEGEL special“ Die wilden 4 „die tageszeitung“ (taz), 11.04.1988. 68er, 1998, S. 89.
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„moralischen Grundkonsens, auf dem die Entwick- ©Bündnis 90/Die Grünen lung der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik be- ruhte, in Frage gestellt“.8 Kurzum: Der eben noch positiv konnotierte Begriff der 68er-Generation hatte sich in sein Gegenteil verkehrt.
Wie erklärt sich dieser völlige Umschlag? Schlicht mit einem Ereignis: dem 9. November 1989 und dem Zusammenbruch eines für unzerstörbar ge- haltenen politischen Systems förmlich über Nacht. Jegliches linke „Experi- Mit dem Zusammen- ment“ schien diskredi- Die Grünen als der mögliche Koalitionspartner der SPD bruch des realsozialis- tiert. verkörperten die Resozialisierung der Revoluzzer tischen Systems 1989 Die 68er wurden davon schien jegliches in zweierlei Hinsicht ge- Tatsächlich stand 1988 das Jahr '68 sogar so hoch linke „Experiment“ troffen. Zum einen war im Kurs, dass auch andere die Zugehörigkeit zu diskreditiert der Restbestand an Iden- dieser Generation reklamierten. Die ehemaligen tifikation mit dem real- Gegenspieler der Revolte, die RCDS-Fraktion um sozialistischen Experiment dahin. In der Ausein- die Brüder Wulf und Jörg Schönbohm sowie Kohls andersetzung der Systeme hatte der Kapitalismus Wahlkampfstrategen Peter Radunski, bezeichne- offenbar gesiegt und damit seine Geschichtsmäch- ten sich als „andere“ oder „alternative 68er“, um tigkeit unter Beweis gestellt. Damit gab es keinen ihren Teil vom Kuchen der Anerkennung zu erhal- marxistischen Erwartungshorizont mehr, stattdes- ten. In merkwürdiger Weise schien plötzlich kaum sen machte Francis Fukuyamas hegelianisches Dik- ein Blatt Papier zwischen Adenauer, den institutio- tum vom kapitalistischen „Ende der Geschichte“ nellen, und Dutschke, den kulturellen „Verwest- die Runde. Jegliches linke „Experiment“ schien dis- licher“, zu passen, denn auch im Adenauerhaus sa- kreditiert. ßen inzwischen die selbsternannten „68er der CDU“. Zum anderen wurde die Bonner Linke in ihrer zu- nehmenden Anhänglichkeit an die alte Bundesre- publik schwer getroffen. Helmut Kohl „wollte 1993 – Die 68er als „Generation der Geschei- Deutschlands Einheit“ (Kohl), und die Linke stand terten“ sprachlos daneben. Das vereinte Deutschland, das nach der Umzugsentscheidung unter dem Logo Doch schon fünf Jahre später sah die Welt völlig der „Berliner Republik“ firmierte, wurde von An- anders aus, hatte sich das Blatt gewendet. Die Geg- fang an von großen Teilen der Linken nicht als ihre ner der 68er waren wieder am Drücker. Zum 25jäh- Sache, sondern eher als Gegenprojekt wahrge- rigen Jubiläum der Revolte rechneten in der nommen. Die „Radikale Linke“ versammelte unter „ZEIT“ die alten Kontrahenten aus der skeptischen der Losung „Nie wieder Deutschland“ einige Tau- Generation mit den 68ern ab. Nach dem rechtsex- send Demonstranten; die westdeutschen Grünen tremistischen Anschlag in Solingen, bei dem fünf plakatierten trotzig „Alle reden von Deutschland, Türkinnen grausam verbrannten, machte Altbun- wir reden vom Wetter“ und verfehlten bei den er- deskanzler Helmut Schmidt die antiautoritäre Er- sten gesamtdeutschen Bundestagswahlen prompt ziehung dafür verantwortlich, dass sich „rechte die Fünf-Prozent-Hürde.9 Kurt Sontheimer, der alte Mordbrenner als Avantgarde“ fühlen können. Für Gegenspieler der Aktivisten von einst, fasste das „ZEIT“-Herausgeber Theo Sommer hatten sich die herrschende Urteil dieser Zeit prägnant zusam- Maßstäbe „im ätzenden Säurebad der Kritik auf- men: Die 68er – „Eine Generation der Gescheiter- gelöst“.7 Die „moralische Eigenbrötelei der 68er- ten.“10 Rebellen“ habe die „Gemeinschaft auf dem Altar der Gesellschaft geopfert“. Die 68er-Generation 8 Zit. nach Cordt Schnibben, Vollstrecker des Weltgewissens, in: habe, so schließlich der Politologe Kurt Sontheimer, „Der SPIEGEL“, 23/1997, S.108-117. „das Fehlen einer moralischen Substanz in der 9 Lediglich die Listenverbindung im Osten, aus Neuem Forum deutschen Gesellschaft“ zu verantworten. Sie habe und anderen Gruppierungen, schaffte den Einzug, da Ost und „das Gefühl für Solidarität“ geschwächt und den West eigenständig gewertet wurden. 10 Kurt Sontheimer, Eine Generation der Gescheiterten, in: 7 Vgl. „Die ZEIT“, Nr. 21, 21.5.1993. „Die ZEIT“, Nr. 15, 15.4.1993.
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Damit wurde zu Beginn der 90er Jahre aber auch Große Teile der Medien, noch“, schrieb „SPIE- das im Gefolge von '68 etablierte Politikverständ- speziell des Feuilletons, GEL“-Redakteur Jürgen nis grundsätzlich in Frage gestellt. Alles, was zuvor interessierte im Wahl- Leinemann, selbst 68er positiv konnotiert war, schien ins Negative umge- jahr 1998 vor allem, und Intimus von Gerhard schlagen zu sein. Der gestern noch begrüßte Wer- ob es jene vormals Schröder, halb spöttisch, tewandel galt plötzlich nur noch als Werteverfall. rebellische Generation halb verzweifelt, um an- Die sogenannten Sekundärtugenden, von Oskar doch noch schaffe, schließend festzustellen, Lafontaine einst als „auch zum Betrieb eines Kon- „vor der Rente“ an die dass die 68er am Ende zentrationslagers geeignet“ gegeißelt, stiegen im Macht zu kommen des langen Marsches ein Kurs. Hedonismus und Pflichtvergessenheit der „Halbfertigprodukt“ ge- „narzisstischen 68er“ wurden für die Individualisie- blieben seien.11 Jan Ross sah gar die ganze Genera- rung verantwortlich gemacht. Die 68er taugten als tion in dem kollektiven Verzweiflungswunsch ver- willkommene Sündenböcke im schwierigen Prozess eint, „das Inhaltsleerste ihrer politischen Existenz, der deutschen Vereinigung. ihr Geburtsdatum und ihr Lebensgefühl, in den An- nalen der Bundesrepublik (zu) verewigen.“12 Nun Kurzum: Von den zivilisatorischen Fortschritten seit kämpfe die rebellische Generation am Ende ihres 1968 war nicht mehr die Rede. 25 Jahre nach der langen Marsches nur noch darum, dass „wenigs- Revolte und zehn Jahre nach Helmut Kohls Macht- tens die eigene Lebenszeit nicht vertan und in der antritt schien die konservative geistig-moralische Versenkung verschwunden sein" solle. Der Vor- Wende doch noch Wirklichkeit zu werden. „68“ wurf der Medien lautete denn auch: Seht her, die war über Nacht – vom 9. zum 10. November 1989 – 68er betreiben den Ausverkauf ihrer politischen vom Qualitätsmerkmal zum Makel geworden. Ideale, um die politisch entleerte Identität als Generation zu retten.
1998 – „Die 68er an der Macht“ Tatsächlich schien stellvertretend für den Rest sei- ner Generation Gerhard Schröder dem Feuilleton 30 Jahre oder eine (biologische) Generation nach Recht geben zu wollen. In seinen Zeiten als Juso- 1968 schien dann tatsächlich die letzte Feuilleton- Vorsitzender hatte er sich, als dies noch opportun Schlacht um das Erbe von 68 geschlagen zu wer- war, selbstbewusst als Marxist bezeichnet. Doch den. Der Zufall wollte es, dass das Jubiläumsjahr da sein Sieger-Image an seiner Generation Scha- mit dem beginnenden Bundestagswahlkampf und den zu nehmen drohte, bestand seine Strategie der Kandidatur des früheren Juso-Vorsitzenden zunehmend darin, das vermeintliche Stigma 68 Gerhard Schröder zusammenfiel. Große Teile der vergessen zu machen. Schließlich habe er 1968 Medien, speziell des Feuilletons, interessierte im nur die Klappentexte gelesen und sich ansons- Wahljahr 1998 deshalb vor allem eines: Schafft es ten im zweiten Bildungsweg auf das Jura-Studi- jene vormals rebellische Generation doch noch, um vorbereitet. „68“ – allenfalls eine lässliche „vor der Rente“ an die Macht zu kommen? Jugendsünde. Und der Juso-Vorsitz – eine linke Flause. „Die Rebellen von einst sitzen in den Parlamenten und Parteien, aber Helmut Kohl regiert immer Selbst der zentrale Wahlkampfslogan der SPD brachte die Distanz zur Vergangenheit zum Aus- druck: Das vermeintlich schlichte „Wir sind bereit“ signalisierte auch die Abwendung von der frühe- ren Fundamentalopposition: „Wir sind dagegen“. Tunlichst mied Strahlemann Schröder jedes „68er- Thema“: Ökologie, Demokratisierung und die an- deren soft issues kamen bei ihm nicht mehr vor. Fa- milienpolitik war bloßes Gedöns und „kriminelle Ausländer müssen raus, aber schnell“ – so lautete
©Deutscher Bundestag/Werner Schüring 11 Jürgen Leinemann: Am Ende des langen Marsches, in: „Der SPIEGEL“, 25/1997, S.110-119. 68er endlich an der Macht? Gerhard Schröder und 12 Jan Ross, Die abgewählte Generation, in: „Berliner Joschka Fischer im Jahr 2002 Zeitung“, 03.03.1998.
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die autoritäre Devise des Kanzlerkandidaten und schichte – allerdings nur für einen kurzen histori- niedersächsischen Ministerpräsidenten.13 schen Moment.
Kurzum: Schröder machte tabula rasa. „Die ganze Altlast von 1968 wurde in diesem Wahlkampf ent- 2008/2009 – Die Konkurrenz der Erinnerungen sorgt“, stellte der Soziologe Heinz Bude spöttisch fest.14 Die journalistische Reaktion erfolgte post- Denn zehn Jahre später hat sich der Wind erneut wendend, der Anspruch auf Fortschrittlichkeit gedreht. Heute dominieren in den Medien zuneh- wurde von den 68ern mend jene, die mit „68“ radikal abrechnen – von Der Anspruch auf auf die nächste Genera- „BILD“-Chefredakteur Kai Diekmann („Der große Fortschrittlichkeit tion übertragen: Das Selbstbetrug“) bis zum Ex-Revoluzzer Götz Aly wurde von den 68ern Feuilleton erfand als („Unser Kampf“). auf die nächste Gene- neuen Hoffnungsträger ration übertragen die inzwischen längst Und etwas anderes kommt hinzu: Anders als in den wieder vergessene „Ge- früheren Gedenkjahren dominiert der Blick nach neration Berlin.“15 Auf diese wurden die großen vorn – nämlich bereits auf die geschichtlichen Erb- Zukunftserwartungen projiziert, die sich mit der schaften des Jahres 2009 und seine hochgradig po- heraufziehenden „Berliner Republik“ verbanden. litischen Implikationen. Einerseits befinden wir uns „Etwas Untotes, Zombiehaftes, etwas von Wieder- momentan noch mitten im Erinnern des Jahres gängerei aus der Vergangenheit“ sollte dagegen 2008 – und sind doch andererseits immer schon des den 68ern anhaften.16 Sie, die die alte Bundesrepu- Erinnerungsbooms gewärtig, der uns im kommen- blik bewohnbar machen wollten, wurden nun zu den Jahr erwartet. verspäteten Nachlassverwaltern deklariert: „Rot- Grün, das ist die Kohl-Welt noch einmal, nur von Denn 2009 kulminiert das Erinnern an ein ganzes links.“17 Bündel historischer Ereignisse. 2009 steht nicht nur für 20 Jahre „89“, sondern auch für 60 Jahre 1949, Doch dann kam der Wahltag – und damit alles an- also für 60 Jahre Bundesrepublik. Damit stellt sich ders als demoskopisch vorhergesagt. Gerhard die Frage „Worauf gründet, gestern wie heute, die Schröder avancierte tatsächlich zum Bundeskanzler Republik, was sind ihre Fundamente?“ Das kom- – und zwar nicht einer großen, sondern einer rot- mende Jahr steht aber auch für 40 Jahre „69“ – das grünen Koalition. „Sieg der Achtundsechziger“, Ende der ersten Großen Koalition und den Beginn titelte die „Welt“.18 Und Rezzo Schlauch, seit Josch- der sozial-liberalen Koalition unter Willy Brandt. ka Fischers Verwandlung zum mageren Marathon- Diese Frage gewinnt besondere Bedeutung vor mann Sinnbild des lebemännischen 68ers, jubilier- dem Hintergrund, dass auch 2009 – last but not te: „Wir waren doch eine unheimlich politische least – das Jahr einer Bundestagswahl ist, die ironi- Generation. Es wäre doch ein Treppenwitz gewe- scherweise wie das Jahr 1969 eine Große Koalition sen, wenn wir übergangen worden wären.“19 Der beenden könnte – und damit in besonderer Weise 1967 von Rudi Dutschke proklamierte „Marsch unter dem Signum steht: Wohin treibt die Bundes- durch die Institutionen“ war nach dreißigjähriger republik? Odyssee doch noch von finalem Erfolg gekrönt, wenn auch in etwas anderer als von diesem vorge- Angesichts dieser erstaunlichen Koinzidenz der Er- sehener Weise. Die 68er-Generation erschien, eignisse liegt die Versuchung nahe, die Debatte wenn auch reichlich verspätet, als Siegerin der Ge- bereits heute zu politisieren und zu instrumentali- sieren. Es ist deshalb al- 13 Mehmet Gürcan Daimagüler, Stammtisch der Linken, in: Es ist kein Zufall, wenn les andere als ein Zufall, „Die ZEIT“, 45/1997. die gegenwärtige ge- wenn die gegenwärtige 14 Vgl. Heinz Bude, Generation Berlin. In Vorbereitung auf die schichtspolitische De- geschichtspolitische De- neue Republik, in: FAZ, 18.6.1998. batte auch mit Blick auf batte auch mit Blick auf 15 Vgl. Heinz Bude, Generation Berlin, Berlin 2001; S.43; die kommende Wahl- die kommende Wahlent- Susanne Gaschke, in: „Die ZEIT“, 23.7.1998, S.3. entscheidung im Jahr scheidung im Jahr 2009 16 Jan Roß, Die abgewählte Generation, in: „Berliner Zeitung“, 2009 geführt wird. geführt wird. Anders als 3.3.1998, S.11. zu den bisherigen run- 17 Ebd. den Erinnerungsdaten wird das Jahr 1968 diesmal 18 Mathias Döpfner, Sieg der Achtundsechziger, in: „Die Welt“, geschichtspolitisch auch im Lichte der Erinnerung 28.9.1998, S.1. an die Ereignisse von 1989 betrachtet und be- 19 „Berliner Zeitung“, 29.9.1998, S.3. wertet.
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Diese Wirkung war gewiss nicht intentional aus Sicht der sich als „Berufsrevolutionäre“ begreifen- den Hauptakteure von 68, die die Republik be- kanntlich eher zum Tan- Funktional betrachtet zen bringen als für deren wirkte die Revolte auf demokratische Moderni- mittlere Sicht in erster sierung sorgen wollten. Linie demokratisierend Doch funktional betrach- tet wirkte die Revolte auf mittlere Sicht in erster Linie demokratisierend – allen anti-demokratischen Anteilen zum Trotz. So gab es im Jahr 1977 eben nicht nur die mörderi-
©pixelio/S.Hofschlaeger schen Anschläge der RAF, sondern auch 50 000 Bür- gerinitiativen, deren Mitgliederzahl jene der Es wird versucht, 1968 primär als ein Phänomen der Parteien bei weitem überstieg – was für die Gesell- Gewaltsamkeit zu deuten schaft mittelfristig von weit größerer Bedeutung war als der Amoklauf der Terroristen. Der Wettstreit der „Revolutionen“ Am Ende dieser Entwicklung sollte sich, erstmalig Im Zuge dieser erstaunlichen „Erinnerungskonkur- in der deutschen Geschichte, der politisch enga- renz“ haben wir es deshalb bereits heute mit einer gierte Bürger, der citoyen in französisch-republika- Konkurrenz der unterschiedlichen „Revolutionen“ nischer Tradition, dem apolitischen Konsum- und zu tun – der friedlichen von 1989 und der (angeb- Besitzbürger, dem bourgeois, zugesellt haben - lich) gewaltsamen von 1968. Der Versuch, 1968 pri- was Willy Brandt bei der Begründung seiner sozial- mär als ein Phänomen der Gewaltsamkeit zu deu- liberalen Koalition zu der Aussage veranlasste: ten, hat eine lange Tradition. Spätestens seit 1977, „Wir wollen den Bürger, nicht den bourgeois.“ seit der mörderischen Kulmination der radikal ge- waltsamen Anteile der Revolte im „Deutschen Diese Lesart – von der Demokratisierung der Repu- Herbst“, wurde der Versuch unternommen, die blik durch 68 – setzte sich in den ersten zwanzig RAF als „Hitler's Children“ zu deuten. Jahren nach der Revolte durch, so dass auch Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1991 zu Was jedoch in diesem Jahr neu ist und über die bis- dem Ergebnis kommen konnte: „1968 hat – allen herige Rezeption hinausgeht, ist der Versuch, die Verwundungen zum Trotz – zu einer Vertiefung APO insgesamt tief im totalitären Kontext des des demokratischen Engagements in der Gesell- „Zeitalters der Extreme“ zu verorten. An der Spitze schaft beigetragen.“ dieser Deutung steht das Buch von Götz Aly, der 68 zum „Spätausläufer des europäischen Totalita- rismus“ deklariert – und damit gleichsam nicht nur Vor dem neokonservativen Rollback? zum „romantischen Rückfall“, wie bei seinem Ge- währsmann, dem sozialdemokratischen Politikwis- In diesem Jahr erleben wir dagegen eine völlig an- senschaftler Richard Löwenthal, sondern zum tief- dere Deutung, die auch für die kommende Aus- braunen Wurmfortsatz des Nationalsozialismus. deutung der 60jährigen bundesrepublikanischen Geschichte relevant ist. Wurde 68 bisher als Bruch Diese Lesart läuft der bisherigen hegemonialen mit einer nach wie vor autoritären Gesellschaft ge- Lesart von 68 zuwider – und wird der weitergehen- lesen, steht bei Götz Aly, aber etwa auch bei den Bedeutung des Ereignisses 68 in keiner Weise „BILD“-Chef Kai Diekmann, 68 ebenfalls für einen gerecht. Die (noch) dominierende Deutung geht Bruch – aber einen Bruch zurück, in vordemokrati- zu Recht davon aus, dass 68 den Bruch mit einer in sche Zustände. In Diekmanns Lesart war die ihren habituellen Gepflogenheiten nach wie vor Bundesrepublik bereits seit 1949 in Gänze demo- nicht demokratisch geprägten Bundesrepublik dar- kratisch – ungeachtet aller personellen wie habi- stellt. 68 hat, gleichsam nachholend, im Bereich tuellen Kontinuitäten mit dem NS-Regime. der Mentalitäten das geleistet, was institutionell bereits mit der Gründung der Bundesrepublik und Diese Lesart einer gleichsam von Anfang an per- der Verabschiedung des Grundgesetzes angelegt fekten Demokratie knüpft an eine Deutung an, die war – nämlich die „Fundamentalliberalisierung“ sich bereits in diversen Statements Angela Merkels des Landes (Jürgen Habermas). findet. In der Auseinandersetzung über Joschka Fi-
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schers Vergangenheit als Frankfurter Straßen- Dabei bedeuteten erst die späten 60er Jahre den kämpfer behauptete die damalige Oppositionsfüh- Bruch mit der tief in der deutschen Geschichte an- rerin am 17. Januar 2001 im Bundestag, die gelegten Untertanenmentalität. 1968 und seine Bundesrepublik sei seit ihrer Gründung 1949 eine Folgen sind deshalb ein bis heute wirksamer „Stör- „freiheitliche, solidarische, weltoffene Republik“ faktor konservativer Ideologieplanung“ (Claus gewesen. Wie die Debatte damals ausging, ist be- Leggewie).20 Primär „68“ ist es zu danken, dass Ru- kannt. Joschka Fischers Beliebtheit tat die Kontro- he seither tatsächlich nicht länger als erste Bürger- verse keinen Abbruch, im Gegenteil: Die „68er an pflicht gilt. der Macht“ konnten einen eindeutigen Sieg da- vontragen. Angesichts eines zunehmenden Rückzugs ins apoli- tische Private vor den Stürmen der Globalisierung In den vergangenen zwei Jahren hat sich die politi- kommt es heute umso mehr darauf an, diesen re- sche Situation jedoch grundlegend verändert. Seit publikanischen Urwert energisch zu verteidigen. dem Abgang der 68er von der Macht wittern die zuvor zumeist unterlegenen Vor- und Nach-68er Morgenluft bei der Bewertung der Geschichte der Albrecht von Lucke, Jurist und Politologe, Bundesrepublik. Angestrebtes Ziel scheint es zu arbeitet als freier Publizist für verschiedene sein, die demokratische Geschichte der Bundesre- Publikationen und ist Redakteur der „Blätter publik wunderbarerweise auf direktem Wege – für Internationale Politik“. und gleichsam unter Ausklammerung des Jahres Adresse der Redaktion: „68“ – von Konrad Adenauer als dem Kanzler der Torstraße 178, 10115 Berlin; Freiheit bis zu Helmut Kohl als dem Kanzler der Postfach 540246, 10042 Berlin. Einheit zu führen, um sie heute in Angela Merkel als der Verkörperung der Berliner Republik ihren E-Mail: [email protected] Abschluss finden zu lassen. Auf diese Weise würde die Geschichte der Bundesrepublik in der Retro- spektive zu einer reinen CDU-Geschichte. Die Tat- sache, dass es daneben mit dem Datum 68 eine an- dere, linke Tradition gibt, die maßgeblich zur 20 Vgl. Claus Leggewie, Störfaktor konservativer Ideologie- Zivilität der Republik beigetragen hat, taucht da- planung, in: „Blätter für deutsche und internationale Politik“, gegen in dieser Lesart nicht mehr auf. 5/1988, S. 578-581.
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Zwischen Pop und Politik. Jugendkultur in der Bundesrepublik um 1968 Detlef Siegfried
Erneuerung und die Imagination einer Revolution Dass „1968“ in den Medien heute häufig auf seine wurden begleitet, zum Teil ausgelöst und getragen problematischen Folgewirkungen verengt wird, von Umbrüchen im Lebensstil und in der Alltagkul- sagt weniger aus über die historischen Vorgänge tur, die auf lange Sicht revolutionärer waren als als über die Selbstverortung der Gegenwartsgesell- manche wortradikalen Statements der Studenten- schaft. Ein genauerer Blick zurück, der die Konsum- bewegung.5 Mit dem dritten Aspekt will ich mich kultur ebenso umfasst wie die politischen Neuord- im Folgenden näher befassen. Es geht um das nungsbestrebungen, macht hingegen deutlich, Spannungsverhältnis zwischen zunehmender Poli- dass „1968“ weder auf eine gewaltselige Selbster- tisierung und der gleichzeitig sich ausbreitenden mächtigung Einzelner zu reduzieren ist noch auf Popkultur, die im Alltag Jugendlicher eine wichtige einen Siegeszug der Kulturindustrie. Zwischen Rolle spielte. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, 1967 und 1969 kulminierte ein länger andauernder dass Konsum und Politisierung offenbar – anders gesellschaftlicher Wandel, der in der Jugendkultur als insbesondere in Deutschland häufig angenom- besonders sichtbar wurde. men – nicht automatisch einen Gegensatz darstel- len. In den 60er Jahren nahm der Wohlstand der Bürger ebenso zu wie ihr politisches Interesse – erst Vierzig Jahre nach 1968 sind die Ereignisse und Fol- daraus erklären sich Tiefe und lange Dauer des gewirkungen dieses für die Geschichte der Bundes- Umbruchs, für den die Chiffre „1968“ steht. Aber republik bedeutenden Einschnitts nach wie vor in dieser parallelen Aufstiegsbewegung lag auch umstritten. Die Medien interessieren sich zumeist ein Spannungsmoment, das in Studentenbewe- für die spektakulären Vorgänge und Thesen,1 be- gung, Gegenkultur und alternativem Milieu immer finden sich damit aber in einem Missverhältnis zum wieder zu Kontroversen führte und Radikalisie- größten Teil der Forschung, die in den vergange- rungsprozesse auslöste. nen zehn Jahren zahlreiche differenzierte Unter- suchungen vorgelegt hat.2 Ihre wichtigsten Er- kenntnisse bestehen darin, dass erstens „1968“ ein Voraussetzungen und Merkmale der globales Phänomen war Jugendkultur in den 60er Jahren „1968“ war nicht der und nur in seinen inter- Auslöser für eine nationalen Verflechtun- Traditionell wurden kommerzielle Massenkultur Liberalisierung der gen zu verstehen ist.3 und Politik als unvereinbar betrachtet. Noch am Bundesrepublik, son- Zweitens bettet es sich Ende der 50er Jahre bekämpften politische Jugend- dern selbst eine Folge ein in eine längere Um- organisationen rigoros privatwirtschaftliche Be- längerfristiger Verän- bruchperiode, die sich strebungen, die sich auf eine jugendliche Zielgrup- derungen, die häufig von den späten 50er Jah- pe richteten – von der von Angehörigen der ren bis in die frühen 70er Popkultur und Politik Zeitschrift Bravo bis zu so genannten „45er- Jahre erstreckte. „1968“ waren so eng mitein- kommerziellen Coca-Co- Generation“ angesto- war nicht der Auslöser ander verschmolzen la- und Bluna-Bällen, die ßen wurden für eine Liberalisierung wie nie zuvor das Defizit an Tanzver- der Bundesrepublik, son- anstaltungen beheben dern selbst eine Folge längerfristiger Veränderun- sollten. Zehn Jahre später hatte sich das Bild ge- gen, die häufig von Angehörigen der so genannten wandelt. Popkultur und Politik waren so eng mitein- „45er-Generation“ angestoßen wurden.4 Drittens ander verschmolzen wie nie zuvor. Kritik an der Kon- handelte es sich nicht ausschließlich und vielleicht sumgesellschaft war ein gemeinsamer Nenner der noch nicht einmal in erster Linie um ein politisches APO, aber gleichzeitig sorgte die Kulturindustrie – Phänomen, sondern die Forderung nach politischer Medien, Konzertveranstalter, Schallplatten- und Mo- deproduzenten – dafür, dass Elemente des alternati- 1 Vgl. jetzt insbesondere Götz Aly, Unser Kampf 1968 – ein ven Lebensstils einer großen Anzahl von Jugend- irritierter Blick zurück, Frankfurt am Main 2008. lichen in Stadt und Land zur Verfügung standen. Die 2 Zusammenfassend Norbert Frei, 1968. Jugendrevolte und Erkenntnis, dass das Private politisch sei, dass also die globaler Protest, München 2008. Veränderung der Gesellschaft und ein anderes Leben 3 Ingrid Gilcher-Holtey, Die 68er Bewegung. Deutschland – Hand in Hand gingen, war eine wichtige Vorausset- Westeuropa – USA, München 2001. zung für die Fusion von Politik und Kultur. 4 Axel Schildt/Detlef Siegfried/Karl Christian Lammers (Hrsg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 22003; Ulrich Herbert (Hrsg.), Wand- 5 Vgl., auch als Grundlage für das Folgende: Detlef Siegfried, lungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Time Is on My Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Liberalisierung 1945 – 1980, Göttingen 2002. Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006.
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brachte. Während 1960 etwa 431000 Schüler die Realschule besuchten, waren es 1974 1,1 Millionen; im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der Gymnasia- sten von 853000 auf 1,8 Millionen, von denen die meisten anschließend ein Studium aufnahmen.8 Während noch in den frühen 60er Jahren Jugendli- che in der Regel im Alter von 15 Jahren die Schul- zeit beendeten und als Lehrlinge oder Arbeiter in den von einem strikten Zeitregime bestimmten Ar- beitsprozess einrückten, verbrachten ihre kleinen Brüder und Schwestern sehr viel mehr Lebenszeit an Schulen. Durch den anschließenden Zugang zum Studium entstand für viele Heranwachsende ein Lebensabschnitt, der Die Horizonterweite- als „Postadoleszenz“ be- rung durch verbesserte zeichnet wird: ein bio- Bildung stellt die dritte grafischer Freiraum, der wesentliche Voraus- bis Ende Zwanzig an- setzung für die Entste- dauern kann und Experi- hung einer jugend- mente mit Lebensoptio- lichen Massenkultur dar nen in vielfältiger Form
©Ilse Dunkel/pixelio.de ermöglicht. Die Horizont- erweiterung durch verbesserte Bildung stellt die dritte wesentliche Voraussetzung für die Entste- Die Zeitschrift BRAVO erschien erstmals Mitte der 50er hung einer jugendlichen Massenkultur dar, die in Jahre. Hier: Titel aus 1980 sich differenziert war und auch jungen Intellek- tuellen, die abweichende kulturelle Optionen bis Eine jugendlich geprägte Massenkultur entstand dahin nur in kleinen Nischen ausüben konnten, erst seit den späten 50er Jahren. Eine ihrer wesent- weite Experimentierfelder bot.9 Sozialer Aufstieg lichen Voraussetzungen war die Tatsache, dass im durch verbesserte Bildung war ein wichtiger Faktor „Wirtschaftswunder“ auch Jugendliche in zuneh- für die soziale Vermischung, die die Jugendkultur mendem Maße über Finanzmittel verfügten. Es der 60er Jahre kennzeichnete. Sie konnte eine war ein kommerzieller Markt für jugendspezifische Massenkultur nur deshalb werden, weil sie die Produkte – Bekleidung, Musik, Kosmetik, Zeit- strikte Klassenteilung in proletarische und bürger- schriften –, der die Voraussetzungen für die Entste- liche Jugendkulturen überwand. hung der Jugendkultur, wie wir sie heute kennen, schuf und gleichzeitig ihre konkreten Ausformun- Damit ist bereits ein zentrales Merkmal dieser Ju- gen prägte.6 Eine zweite gendkultur genannt: Sie diskriminierte nicht nach Ein kommerzieller Voraussetzung bestand sozialer Herkunft, sondern war grundsätzlich zu- Markt für jugendspe- in der enormen Ausdeh- gänglich für alle. Allerdings bestand sie aus einer zifische Produkte schuf nung der Freizeit, die Vielzahl von Subkulturen, die sich zum Teil nach so- die Voraussetzungen durch das lange Wochen- zialen Kriterien unterschieden – Rocker und Mods für die Entstehung ende – seit den frühen etwa. Ein zweites wesentliches Merkmal bestand der Jugendkultur und 60er Jahren – und den darin, dass sie im Kern international geprägt war. prägte gleichzeitig verlängerten Jahresur- Impulse insbesondere aus den USA und Großbri- ihre konkreten Ausfor- laub – seit den mittleren tannien, in geringerem Maße auch aus Frankreich, mungen 60er Jahren – auch Ju- gelangten über die Medien, insbesondere über gendlichen zugute kam.7 spezifisch jugendbezogene Medien wie den ameri- Vor allem aber profitierten sie von der Bildungsre- kanischen Soldatensender AFN, Radio Bremens form, die verlängerte Ausbildungszeiten mit sich 8 Roland Ermrich, Basisdaten zur sozio-ökonomischen Entwick- 6 Zeitgenössisch: Ruth Münster, Geld in Nietenhosen, Stuttgart lung der Bundesrepublik Deutschland, Bonn/Bad Godesberg 1961. 1974, S. 196. 7 Viggo Graf Blücher, Die Generation der Unbefangenen. Zur 9 Torsten Gass-Bolm, Das Gymnasium 1945 – 1980. Bildungs- Soziologie der jungen Menschen heute, Düsseldorf/Köln 1966, reform und gesellschaftlicher Wandel in Westdeutschland, S. 244ff. Göttingen 2005.
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Beat-Club oder die Zeitschrift Bravo an die Ziel- verbanden sich hemmungslose Vergnügungssucht gruppe.10 Im Laufe der 60er Jahre verstärkte sich und politische Abstinenz zu einem gefährlichen das Gefühl internationaler Verbundenheit durch Gemisch, das Jugendliche für Verführungen be- Auslandsreisen nach Großbritannien, Amsterdam, sonders anfällig machte. Kopenhagen oder an die Küsten Spaniens und Parteien und Erzieher Die Tatsache, dass sie Griechenlands. Ein drittes Merkmal der Jugendkul- versuchten, Jugend- über immer mehr eige- tur der 60er Jahre war die spezifische Spannung liche zunächst über ne Geldmittel verfüg- zwischen kommerziellen Verbreitungsmechanis- antikommunistische ten, verstärkte traditio- men auf der einen Seite und dem enormen Maß an Kampagnen, dann über nalistische Vorbehalte Selbsttätigkeit, die sie auf der anderen Seite auslö- den Appell zur „Ver- gegenüber der Verfüh- ste – in Form von Beatbands, Underground-Kunst, gangenheitsbewäl- rungskraft der Wirt- Zeitungsproduktion oder Jugendzentrumsinitiati- tigung“ zu politisieren schaft, die, so meinte ven. Kommerzialisierung war nicht gleichzusetzen man, Jugendliche auch mit Manipulation; sie war eine Voraussetzung für für „politische Verführer“ anfällig machte.12 aktive, häufig eigensinnige und konsumkritische Stattdessen versuchten Parteien und Erzieher, Weltaneignung.11 Jugendliche zunächst über antikommunistische Kampagnen, dann über den Appell zur „Vergan- genheitsbewältigung“ zu ©Klaus Stricker/pixelio.de politisieren. Gleichzeitig bildeten sich in den frühen 60er Jahren abseits der medial gezähmten Teen- agerkultur mit ihren Hel- den Peter Kraus und Conny Froboess vermehrt Subkul- turen heraus, in denen sich jugendliche Minderheiten mit abweichendem Ge- schmack zusammenfan- den. Häufig wurden Keller- lokale zu Schmelztiegeln für unkonventionelle Stile und unkonventionelles Ge- dankengut: existentialis- tische und marxistische Philosophie vermischten sich mit radikaldemokrati- schen politischen Ideen, einer Vorliebe für Jazz-, Wichtiges Utensil der Jugend in den 60ern: das Kofferradio Rock-'n'-Roll- oder Beatmusik, legere Kleidung, un- gewöhnliche Haarmoden, informelle Verhaltens- weisen.13 Politisierung von oben, „unpolitische“ Popkultur und Nonkonformismus Dass die Liberalisierung in den 60er Jahren keines- wegs allein auf politischer Ebene oder in politisch Seit dem Ende der 50er Jahre beherrschte das Kli- angehauchten Subkulturen vonstatten ging, lässt schee des unengagierten und konsumverfallenen sich am Beispiel des Tanzens illustrieren. Insbeson- „Teenagers“ die öffentliche Wahrnehmung von dere der seit 1961 beliebte Twist trug dazu bei, Jugendkultur. Das Unpolitische war unerwünscht dass außerhäusliches Vergnügen auf der Tanz- und galt als bedenkliches Defizit. Aus dieser Sicht fläche auf zunehmend informelle Weise vonstat-
10 Für die Entstehungszeit vgl. Kaspar Maase, BRAVO Amerika. 12 Vgl. Vance Packard, Die geheimen Verführer, Düsseldorf Erkundungen zur Jugendkultur der Bundesrepublik in den 1958. fünfziger Jahren, Hamburg 1992. 13 Exemplarisch: Jan-Frederik Bandel/Lasse Ole Hempel/ 11 Vgl. Stuart Hall/Tony Jefferson (Hrsg.), Resistance Through Theo Janssen, Palette revisited. Eine Kneipe und ein Roman, Rituals: Youth Subculture in Postwar Britain, London 1976. Hamburg 2005.
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Der Twist trug dazu bei, ten ging, individualisiert Andere Entwicklungen wie die Versorgung mit Ju- dass außerhäusliches wurde und zugleich die gendzeitschriften, Plattenspielern und Kassetten- Vergnügen auf der sozialen Unterschiede rekordern, Konzerte von Beatbands und Jugend- Tanzfläche auf zuneh- abschliff. Weil der Twist musiksendungen in Radio und Fernsehen sorgten mend informelle Weise als erster Modetanz des dafür, dass die Möglichkeiten der Selbstentfaltung vonstatten ging, indivi- 20. Jahrhunderts die enorm zunahmen. Sie behinderten nicht eine Poli- dualisiert wurde und Paarbindung aufhob, tisierung der nachwachsenden Generation, son- zugleich die sozialen konnte sich der Einzelne dern begleiteten sie auf der alltagskulturellen Ebe- Unterschiede abschliff stärker exponieren und ne und bildeten eine wesentliche Voraussetzung seine Kreativität zur für eine Kultur der Partizipation in allen Lebensbe- Geltung bringen, sich zu anderen variabel in Bezie- reichen. Das wurde implizit auch im SDS so gese- hung setzen, aber auch für sich allein bleiben. hen, der seit 1966 ein Anwachsen des vorpoli- Wegen seiner Formlosigkeit war er demokratischer tischen Nonkonformismus konstatierte und 1967 als die Standardtänze, denn er setzte den Besuch einen Schülerbund gründete, um die vielen „pro- einer Tanzschule nicht voraus. Vor allem junge testbereiten Jugendlichen“ zu politisieren, die die Frauen profitierten vom Einzug der Demokratie Pop- und Subkulturen hervorgebracht hatten.14 Als auf der Tanzfläche. Es blieb nicht mehr dem Mann revolutionäres Subjekt traten sie an die Stelle der Ar- beiterklasse oder der Intelligenz, als der SDS sich von seiner Konzentration auf die Studentenschaft löste und 1967 das Ziel einer „Jugendrevolte“ verkündete.
Am deutlichsten sichtbar wurde das wachsende nonkonformistische Potenzial am Phänomen der „Gammler“ – Jugendliche, die sich zwischen 1965 und 1967 auf den zentralen Plätzen westdeutscher Großstädte versammelten und durch Musikmachen und Nichtstun öffentlichen Unmut hervorriefen.15 Eine Art politischer Arm entstand in Frankfurt („Provos“) und West-Berlin („Umherschweifende Haschrebellen“). Die hier praktizierte Kombination von Mittellosigkeit und Am deutlichsten sicht- Lebensgenuss hatte ihre bar wurde das wach- historische Parallele in sende nonkonformis- der Boheme und unter- tische Potenzial am schied sich markant von Phänomen der einem asketischen Ideal, „Gammler“ wie es etwa in den kul- turkonservativen Forde- rungen des Jugendschutzes auch in den 60er Jah- ren noch stark vertreten war. Zwar suchten auch Gammler nach einem Sinn, der sich jenseits der Oberfläche der Konsumgesellschaft befinden sollte – aber in einer gegensätzlichen Richtung, nämlich nicht in der Arbeits-, sondern in der Freizeitsphäre. Aus einer längeren zeitlichen Perspektive betrach- tet, repräsentierte diese Subkultur in zugespitzter
Foto: Privat Form den Trend zu Freizeit und Muße, der die gan- ze Gesellschaft erfasst hatte. Im Prozess des „Wer- Beim Twist gab es keine männliche Führung tewandels“, der in den frühen 60er Jahren begann, trat die Auffassung zurück, dass das Leben als Auf-
überlassen, Status und Marktwert der anwesenden Damen durch Aufforderung zum Tanz zu definie- 14 Reimut Reiche/Peter Gäng, Vom antikapitalistischen Protest ren. Stattdessen konnten sie selbst entscheiden, zur sozialistischen Politik, in: Neue Kritik, Nr. 41, 1967, S. 17-35. wann, mit wem und wie sie tanzten, denn eine 15 Tina Gotthardt, Abkehr von der Wohlstandsgesellschaft. männliche Führung gab es beim Twist nicht. Gammler in den 60er Jahren der BRD, Saarbrücken 2007.
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sie sich etwa in Bob Dylans Wechsel von der akusti- schen zur E-Gitarre von 1965 oder im Beatles- Album „Revolver“ von 1966 zeigte, von der Mu- sik- und Filmindustrie, den Medien begierig aufge- nommen, in eigene Pro- dukte umgesetzt und wei- ter popularisiert. Gegen diesen kulturindustriellen Vereinnahmungs- und Ver- breiterungsvorgang richte- te sich sofort eine Gegen- reaktion, die durch die politische Dynamik des Sommers 1967 zusätzliche Schubkraft erhielt und den lebensweltlichen Subkultu- ren einen härteren politi- Die Alternativen lauteten: „Ich betrachte mein Leben als Aufgabe, für die ich alle schen Akzent verlieh. meine Kräfte einsetze. Ich möchte in meinem Leben etwas leisten, auch wenn das oft schwer und mühsam ist,“ und „Ich möchte mein Leben genießen und mich nicht Die Studentenbewegung, mehr abmühen als nötig. Man lebt schließlich nur einmal, und die Hauptsache ist vor allem ihre etwas älteren doch, dass man etwas von seinem Leben hat.“ (Daten: Institut für Demoskopie, Initiatoren, war skeptisch Allensbach) gegenüber den Symbolen des Nonkonformismus, die sich – ganz offensichtlich gabe und Pflicht zu betrachten sei.16 Die Vorstel- mit Hilfe der Kulturindustrie – massenhaft verbrei- lung vom Leben als Genuss rückte stärker in den teten. Kritisiert wurden auch spektakuläre Lebens- Vordergrund – und damit auch hedonistische An- stilexperimente wie diejenigen der Kommune 1, sprüche. die zwischen 1967 und 1969, popularisiert von den Medien, die Aufmerk- Die Studentenbewe- samkeit vieler Jugend- Pop und Politik in der „Gegenkultur“ gung war skeptisch licher auf sich zog, weil um 1968 gegenüber den Symbo- sie wie auf einer Bühne len des Nonkonfor- jenen alternativen All- Nach dem Durchbruch der kommerziellen Popkul- mismus, die sich mit tag ausagierte, der die- tur entstand seit dem Herbst 1966 eine neue Ebene Hilfe der Kulturindu- sen als unbestimmtes der Auseinandersetzung. Zum Eigenbewusstsein strie massenhaft ver- Ideal vorschwebte.17 Das subkultureller Szenen wie der „Gammler“ kam eine breiteten „Pudding-Attentat“ auf politische Bewegung – die Studentenbewegung -, den amerikanischen Vi- die sich nach dem Tod Benno Ohnesorgs vom 2. Juni zepräsidenten, die Kaufhausbrand-Flugblätter, die 1967 schlagartig verbreiterte. Gleichzeitig brachte schillernden Auftritte Rainer Langhans' und Fritz elektrifizierte Musik nicht mehr nur das Tanzbein Teufels vor Gericht – denen, die ernsthaft an einer in Schwung, sondern wurde als Transportmittel für Veränderung der Gesellschaft interessiert waren, komplexe Texte und als künstlerisches Experimen- erschien dies alles zunehmend als unpolitischer tierfeld entdeckt. Derartige Verfeinerungen mach- Happening-Klamauk, zumal sich die Kommunar- ten die Sache für den jungintellektuellen Nachwuchs den ihre medialen Auftritte möglichst üppig ent- interessant. Auch wurde die erfolgversprechende lohnen ließen. Aber auch in der Massenkultur wur- Kombination von Popularität und Anspruch, wie 17 Aus Sicht der Beteiligten: Dieter Kunzelmann, Leisten Sie 16 Heiner Meulemann, Werte und Wertewandel. Zur Identität keinen Widerstand! Bilder aus meinem Leben, Berlin 1998; Ulrich einer geteilten und wieder vereinten Nation, Weinheim/Mün- Enzensberger, Die Jahre der Kommune I. Berlin 1967 – 1969, chen 1996. Köln 2004
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de die doppelte Kodierung der Gegenkultur immer deutlicher sichtbar: Sie repräsentierte einerseits © Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn den immer weiter um sich greifenden Anspruch auf ein alternatives Leben abseits der kulturellen Normen einer vermuteten „kompakten Majorität“ (Rolf Schwendter); andererseits wurde dieser An- spruch von der Kulturindustrie immer stärker in klingende Münze umgewandelt. Im September 1968 wurden die Essener Songtage mit 40.000 Teil- nehmern zum größten Underground-Festival auf europäischem Boden, und gleichzeitig verlor der Begriff „Underground“ seine distinktive Funktion. „Der Underground hat sich etabliert“, vermeldete das Zentralorgan der Schallplattenindustrie, Der Musikmarkt, freudig den westdeutschen Einzel- händlern im Oktober 1968.18 Und im darauf folgen- den Monat erschien im Verlag Bärmeier & Nikel die erste Ausgabe der kommerziellen Zeitschrift „Un- derground“ für den revolutionär gestimmten Oberschüler. Die kommerzielle Schwemme führte dazu, dass dieser Begriff in den politisierten Sub- kulturen künftig, wenn überhaupt, nur noch mit Vorsicht verwendet wurde.
Immer betrachteten die jeweils radikalsten Grup- pen ästhetischen Nonkonformismus wegen seiner leichten kommerziellen Verwertbarkeit mit Skepsis und akzeptierten ihn nur dann, wenn er von Be- „Born to be wild“: Willy Brandt und Walter Scheel als wusstseinsbildung und politischer Aktion begleitet jugendliche Repräsentanten einer modernen, westlich war. Als Garanten der Nichtintegration wurden orientierten Bundesrepublik. Das knallrote Plakat, das theoretische Schulung und gezielte, zunehmend im Hintergrund Franz-Josef Strauß beim Laden einer gewaltsame politische Aktion seit dem Herbst 1968 Schrotflinte zeigt, spielt auf das Roadmovie Easy Rider immer wichtiger. Rote Armee Fraktion und mao- von 1969 an, dessen Hauptdarsteller Peter Fonda und istische Gruppen entzogen sich der Integrationsge- Dennis Hopper als Repräsentanten einer libertären fahr, indem sie weitgehend aus der Gesellschaft Gegenkultur in der Schlusssequenz des Films durch ausstiegen. rechtsradikale Mordschützen vom Chopper geschossen wurden. Jungwähler-Plakat der SPD-Kampagne zur Auch wenn die Kommune 1 1969 scheiterte und ih- Bundestagswahl 1972. (Gestaltung: ARE Kommunika- re Mitglieder getrennte Wege gingen – die Idee, tion, Harry Walter) die Veränderung der Gesellschaft mit der indivi- duellen Emanzipation zu verbinden, blieb eine we- sentliche Konstante der nonkonformistischen Sub- zeigen schon die Reaktionen aus dem politischen kulturen, die sich im Laufe der 70er Jahre zu einem System, die zu beträchtlichen Anteilen positiv wa- alternativen Milieu verdichteten. Zu seinen Kno- ren. Eine parteiübergreifende Mehrheit des tenpunkten gehörten Wohngemeinschaften und Bundestages beschloss 1972 die Herabsetzung des Jugendzentren, die demonstrierten, dass ein weit- Wahlalters, 1974 der Volljährigkeit auf 18 Jahre. gehend selbstbestimmtes Leben jenseits von Kon- Besonders stark von der Reformeuphorie der Jung- sumindustrie und staatlichem Erziehungsauftrag wähler profitierte die SPD, die sich beim „Willy- möglich war.19 Wie sehr gleichzeitig Impulse aus wählen“-Wahlkampf von 1972 entsprechend in der Jugendkultur die Gesellschaft beeinflussten, Szene setzte.
18 Der Musikmarkt, Nr. 10, 1968, S. 61. Wie groß die Zahl der an den gegenkulturell be- 19 Detlef Siegfried, „Einstürzende Neubauten“. Wohngemein- einflussten Szenen teilnehmenden Jugendlichen schaften, Jugendzentren und private Präferenzen kommunis- war, lässt sich nur annäherungsweise bestimmen. tischer „Kader“ als Formen jugendlicher Subkultur, in: Archiv 1970 umfasste die Kernleserschaft von Konkret für Sozialgeschichte, Bd. 44 (2004), S. 39 – 66. 220.000 Personen, diejenige der Zeitschrift Twen,
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Es bewegten sich meh- die sich seit 1969 vom un- Die Entstehung eines lich als kulturelle Befrei- rere hunderttausend politischen Hochglanz- alternativen Milieus ist ung empfundene Indivi- junge Leute im Weich- magazin zu einer linken nicht zu denken ohne dualisierung teilweise bereich von linker Poli- Publikumszeitschrift ge- Kommunikationsmittel als Entsolidarisierung tik und Underground- wandelt hatte, 540.000. und Waren wie Zeit- gegen die Individuen kultur Im selben Jahr, 1970, schriften, Fernsehen, gerichtet. Verändert hat nahmen während des elektrisch verstärkte sich auch das Ideal des ersten Festivalsommers, den die Bundesrepublik Musik, Drogen und Hedonismus, der um erlebte, ca. 500.000 Jugendliche an den Popfes- Automobile 1968 als Alternative zur tivals zwischen Köln und Fehmarn teil. Rolf pflichtbetonten Arbeits- Schwendter, der Theoretiker der Gegenkultur, ta- gesellschaft aufgefasst wurde und eine kritische xierte 1970 die Zahl der für eine von ihm projektier- Debatte um Lebensqualität auslöste, die Massen- te „ökonomische Organisation“ der Gegenkultur wohnungsbau, Umweltzerstörung und andere pro- mobilisierbaren Genossenschafter auf 200.000 Per- blematische „Nebenfolgen“ (Ulrich Beck) der Mo- sonen.20 Nehmen wir diese Zahlen als ungefähre In- derne einbezog. Dass dieses Ideal insbesondere seit dikatoren, dann bewegten sich in jedem Falle meh- den 1980er Jahren kommerziell verengt wurde, rere hunderttausend junge Leute im Weichbereich sagt etwas über den Wandel der Gesellschaft aus, von linker Politik und Undergroundkultur. In ihren aber auch über die Rolle, die „Konsumrebellen“ Lebensweisen vermischten sich der Anspruch auf für die Reproduktion des Kapitalismus spielen.21 ein selbstbestimmtes Leben in der Gemeinschaft Ein Blick auf die prosperierende und gleichzeitig Gleichaltriger mit häufig diffusen Vorstellungen sich politisierende Gesellschaft der langen 1960er von politischer Reform oder sozialer Revolte. Jahre zeigt jedoch, dass Gegenkulturen nicht auf ihre ökonomische Innovationsfunktion zu reduzie- ren sind, sondern ein enormes politisches Potenzial Fazit entwickeln können, das sich nicht zuletzt aus der Vision eines besseren Lebens speist. Aus heutiger Sicht erweist sich die Vorstellung von einer entpolitisierenden oder ausschließlich mani- pulativen Wirkung des Konsums als verfehlt. Der Dr. Detlef Siegfried ist seit 1996 Associate Massenkonsum erweiterte die Möglichkeiten der Professor für Neuere Deutsche Geschichte gesellschaftlichen Teilhabe für alle Bürger. Auch und Kulturgeschichte an der Universität Ko- die Entstehung eines alternativen Milieus ist nicht penhagen. Er war Mitarbeiter der Körber- zu denken ohne Kommunikationsmittel und Wa- Stiftung und der Forschungsstelle für Zeit- ren wie Zeitschriften, Fernsehen, elektrisch ver- geschichte in Hamburg. stärkte Musik, Drogen und Automobile. Allerdings Adresse: University of Copenhagen, wurde hier „kritisch“ und „politisch“ konsumiert, Njalsgade 128, DK 2300 S, Copenhagen. was darauf verweist, dass der Konsumbürger in der Massenkonsumgesellschaft ein politisches Subjekt E-Mail: [email protected] sein kann. Seitdem hat sich nicht nur die ursprüng- 21 Joseph Heath/Andrew Potter, Konsumrebellen. Der Mythos 20 Detailbelege in Siegfried, Time, S. 521, 681 u. 740.. der Gegenkultur, Berlin 2005.
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Die Protestbewegung in den 60er Jahren und die außerschulische politische Bildung Paul Ciupke
Paul Ciupke verdeutlicht in seinem Artikel nicht nur wie charakterisierte 1988 die Protestbewegung als die Vielgestaltigkeit der Protestbewegungen, die ein Laboratorium der nachindustriellen Gesellschaft, unter der Chiffre „1968“ subsumiert werden; er von Fundamentalliberalisierung sprach Jürgen Ha- greift aus der Vielzahl ihrer Aktionsfelder eines bermas. Ulrich Rödel, Helmut Dubiel und Günter heraus, in dem die „68er“ Veränderungen ange- Frankenberg wagten die These, die Bundesrepu- stoßen und zum Teil auch selber umgesetzt haben. blik habe in den 60er und 70er Jahren eine Neu- Der Bereich der Bildung und hier speziell die politi- gründung bzw. nachholende Gründung durch die sche Bildung wurden in der Auseinandersetzung politisch aktiven linken Minderheiten erfahren, und mit den Vorstellungen und Forderungen der Pro- Zeithistoriker wie Manfred Görtemaker diagnosti- testbewegung einer gründlichen Revision unterzo- zierten eine Umgründung und Neugründung der gen und veränderten Anforderungen angepasst. Bundesrepublik.3 Dass dieser Prozess keineswegs widerspruchsfrei verlief, erläutert Paul Ciupke am Beispiel des Ar- In dem Umstand der In dem Umstand der im- beitskreises deutscher Bildungsstätten. immer erneuten öf- mer erneuten öffentli- fentlichen Beschäf- chen Beschäftigung und Die Protestbewegung der 60er Jahre firmierte schon tigung und Erregung Erregung darf man sicher immer unter verschiedenen Namen, z. B. Studen- ist ein Indiz dafür zu ein Indiz dafür sehen, tenbewegung, Außerparlamentarische Opposition sehen, dass die Bewe- dass die Bewegungen (APO), 68er-Bewegung, Jugendrevolte … Das da- gungen und politischen und politischen und kul- mit bezeichnete Phänomen birgt vielerlei Facetten, und kulturellen Impul- turellen Impulse der von denen einige im Pulverdampf der vielfältigen se der 60er Jahre eine 60er Jahre eine nachhal- Deutungskämpfe der letzten Monate zu verschwin- nachhaltige gesell- tige gesellschaftspoliti- den drohen. Die Lesarten schaftspolitische, gene- sche, generationelle und Lesarten und Aneig- und Aneignungen der Er- rationelle und biografi- biografische Wirkung nungen der Ereignisse eignisse und ihrer öf- sche Wirkung ausübten ausübten. Dabei hat aber und ihrer öffentlichen fentlichen Wirkungen ge- jeder offenbar sein eige- Wirkungen geschehen schehen mal im Modus nes 68er-Erlebnis und das sicher zu Recht. Den zum mal im Modus des Be- des Bewachens und Ver- Teil heftigen Belagerungen und Verteidigungshal- wachens und Verteidi- teidigens, aber auch im tungen sollte man die aus geschichtlichem Abstand gens, aber auch im Gestus der (Selbstan-) resultierende Gelassenheit entgegensetzen, dass fast Gestus der (Selbstan-) Klage über Verluste und alle teilhatten: ob als herausragender Akteur, Sym- Klage über Verluste Irrtümer. Kaum ein poli- pathisant, distanzierter Beobachter oder entsetz- und Irrtümer tisch ehrenrühriger Vor- ter Gegner, ob in den großen Städten oder in der wurf, der beispielsweise Provinz. von Kai Diekmann, dem Chefredakteur der BILD- Zeitung, oder dem (früher?) linken Historiker Götz Die Perspektiven auf diese Jahre sind eben sehr un- Aly in seiner Abrechnung mit seinen Genossen und terschiedlich und erlauben deshalb auch andere sich selbst ausgelassen würde: Antisemitismus und Blicke und Einschätzungen als die, die immer wie- Antiamerikanismus, Stalinismus, idealistische Träu- der – wie Planeten um die Sonne – nur um die Ab- mereien, Parasitentum, Zerstörung der Werte u. ä. m. sichten derjenigen kreisen, die als Neue Linke da- Im Alyschen Furor des Entlarvens lebt ohne Zweifel mals eine – ja weltweite – Revolution glaubten in noch einmal der alte Geist des Rechthabens und ra- Gang setzen zu können.4 Die nachträgliche Beur- dikalen argumentativen Überbietens der 68er wie- teilung revolutionärer Phantasien einiger Protago- der auf.1 Stolze Inbesitznahme findet man nach wie nisten und ihrer diversen Folgeerscheinungen ist vor in den öffentlichen Äußerungen Daniel Cohn- Bendits, differenzierte Urteile etwa bei Norbert 3 Claus Leggewie: Ein Laboratorium der nachindustriellen Ge- Frei und Wolfgang Kraushaar.2 sellschaft? Zur Tradition der antiautoritären Revolte seit den sechziger Jahren, in APuZ, B20/88, S. 3-15; Jürgen Habermas: Aber auch die Liste der bereits früher getätigten Interview, in: Frankfurter Rundschau vom 11.03.1988; Ulrich Rö- positiven Deutungen ist ansehnlich: Claus Legge- del/Günter Frankenberg/Helmut Dubiel: Die demokratische Fra- ge, Frankfurt a. M. 1989; Manfred Görtemaker: Geschichte der 1 Götz Aly: Unser Kampf 1968, Frankfurt a. M. 2008 Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegen- 2 Daniel Cohn-Bendit/Rüdiger Dammann (Hrsg.): 1968. Die Re- wart, München 1999 volte, Frankfurt a. M. 2007; Norbert Frei: 1968. Jugendrevolte 4 Als ein Beispiel siehe Wulf Schönbohm: Die 68er: Verwirrun- und globaler Protest, München 2008 und Wolfgang Kraushaar: gen und Veränderungen, in APuZ Nr. 14-15/2008, 31.03.2008, Achtundsechzig. Eine Bilanz, Berlin 2008 S. 16-21
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sellschaftliche und politische Verwandlungszone zu betrachten.5
Der Bildungsbereich als wichtigstes Betätigungsfeld
Mit Ausnahme der verschiedenen Medienöffent- lichkeiten ist wohl kein anderer Sektor so nachhal- tig von den Veränderungsabsichten und -prozessen jener Jahre tangiert worden wie der Bildungsbe- reich. Das hatte verschiedene, zunächst vor allem ökonomische Ursachen: den immer wieder genann- ten Wettlauf zwischen dem sowjetischen Herr- schaftsbereich und dem Westen um die Führung in Wissenschaft und Technologie als Ausweis der je- weiligen systemischen Überlegenheit, den steigen- den Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften in der wirtschaftlich prosperierenden Bundesrepublik und die daraus resultierende Notwendigkeit, die sog. Begabungsreserven stär- Es artikulierte sich seit ker auszuschöpfen. Es ar- Mitte der 60er Jahre tikulierte sich aber auch ein wachsendes grund- seit Mitte der 60er Jah- sätzliches Unbehagen re in Deutschland ein an einem von Ungleich- wachsendes grundsätzli- heit der Teilhabechan- ches Unbehagen an ei- © Quelle: www.cohn-bendit.de cen und einer traditio- nem Bildungssystem und nellen autoritären Lehr- einer Bildungsatmosphä- Protagonist der Studentenbewegung in Frankreich und Lernkultur gepräg- re, die vor allem von Un- und Deutschland: Daniel Cohn-Bendit, heute Europa- ten Bildungssystem gleichheit der Teilhabe- abgeordneter der GRÜNEN chancen, einer traditio- nellen autoritären Lehr- und Lernkultur und nach- das eine, übersehen wird geflissentlich dabei, dass haltigem konservativen Einfluss aus Politik und Kir- in Deutschland, aber auch in anderen europäischen chen geprägt war. Strukturelle Modernisierungen Staaten in den 60er Jahren ein zivilgesellschaft- und pädagogische Veränderungen wurden von ver- licher Aufbruch, politische Reformen und tiefgrei- schiedenen Seiten eingeklagt. Die Suche nach Ver- fende kulturelle Wandlungen im Alltag vor sich änderungen des Bildungssystems – und das ist das gingen, die zugleich auch jugendkulturell initiiert Besondere in der Situation der 60er Jahre – ver- und geprägt waren. Dass es eine vielfältige und er- band sich aber in vielfältiger Weise mit den Impul- eignisreiche Vor- und Nachgeschichte für 68 gibt, sen der Politisierung durch eine neue Jugendkultur dass also das Jahr 68 nur einen Kulminationspunkt und die Protestbewegung. Dadurch wurde die Re- von gesellschaftlichen, politischen und kulturellen form der Bildung zu einem bis in die 80er Jahre po- Öffnungsprozessen in den 60er Jahren darstellt, litisch besonders umkämpften Thema. dass sich hinter dem Kürzel 68 weltweite Aufbrü- che und Eruptionen auffinden lassen und es um Die Notwendigkeiten gesellschaftlicher Verände- weit mehr als nur studentische Aufgeregtheiten rung und die damit verbundenen Reformprozesse und Selbstanmaßungen bildeten das Instrument, auf dem die Protestbewe- Es sollte inzwischen geht, wird manchmal in gung mit ihren erheblich weitergehenden Vorstel- unstrittig sein, den Zeit- den aktuellen, vehement lungen virtuos spielen konnte: Es entwickelte sich raum von Anfang der geführten Kontroversen ein wechselseitiges Resonanzverhältnis von Reform 60er bis zur Mitte der ignoriert. Es sollte inzwi- und Revolution. 70er Jahre als eine ge- schen unstrittig sein, den sellschaftliche und poli- Zeitraum von Anfang der 5 Vgl. auch Axel Schildt/Detlef Siegfried/Karl-Christian Lammes tische Verwandlungs- 60er bis zur Mitte der (Hrsg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deut- zone zu betrachten 70er Jahre als eine ge- schen Gesellschaften, Hamburg 2000
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tion, Provokation, Öffentlichkeit und Bewusst- seinsveränderung setzt. Und schließlich eine veränderte Zusammenset- zung der Träger sozialen Wandels, in dem ne- ben der Arbeiterklasse vor allem die (gebildete) Jugend, die Intellektuellen, Randgruppen (etwa Heimkinder, psychisch Kranke), später auch die Frauen und – sehr wichtig – die Befreiungsbe- wegungen in der sog. Dritten Welt eine wichti- ge Rolle einnehmen.6
Diese Merkmalsdimensionen des Denkens in der Neuen Linken erwiesen sich als ausgesprochen an- schlussfähig für bildungspolitische und erziehungs- reformerische Bewegun- Die Merkmalsdimensio- gen und Absichten. Mit nen des Denkens in der gutem Grund kann man Neuen Linken erwiesen davon ausgehen, dass sich als ausgesprochen trotz mancher anders ge- anschlussfähig für bil- richteter Proklamationen dungspolitische und und sich revolutionär ge- erziehungsreformeri- bärdender Rhetoriken sche Bewegungen und (ähnlich wie bei der Absichten Jugendbewegung der Weimarer Jahre) der Bil- dungsbereich das wesentliche praktische Erfolgs- feld derjenigen Akteure geworden ist, die sich als © geralt/pixelio.de Generation der 68er oder – wie zum Beispiel die Theoretiker der Frankfurter Schule – als deren the- Vor den Bildungsreformen: Schulkind in den 50er Jahren oretische Vordenker verstanden haben.7 In diesem Zusammenhang gewannen die Sozial-, Politik- und Die theoretischen Orientierungen und politischen Erziehungswissenschaften die Funktion von Leitwis- Absichten der Neuen Linken können in Abgrenzung senschaften für die Demokratisierungsambitionen, zur traditionellen Arbeiterbewegung (SPD, KPD, und die politische Bildung stieg zu einem Schlüssel- Gewerkschaften) und ihrem Politikverständnis ide- bereich ihrer praktischen Anwendungen auf. Es altypisch folgendermaßen zusammengefasst wer- waren besonders die Forderungen nach Emanzipa- den: tion, Partizipation und Demokratisierung aller Be- reiche der Gesellschaft, die in pädagogischen Initia- Eine Neuinterpretation der marxistischen Theo- tiven weiterentwickelt und in Bildungsinstitutionen rie unter Einbezug des Existentialismus und der verbreitet worden sind. Psychoanalyse; dabei spielen z. B. die Marxschen Frühschriften und ein emphatischer Entfrem- Als der SDS sich Anfang der 70er Jahre auflöste, dungsbegriff eine wichtige Rolle. zerfiel die Protestbewegung in viele kleine linke Ein erweiterter Entwurf einer neuen Gesell- Gruppen und Fraktionen, von denen einige die Re- schaft, der sich nicht nur auf Staat und Wirt- aktivierung altlinker antidemokratischer politischer schaft beschränkt, sondern auch Lebenswelt, Strategien präferierten. Die Mehrheit jedoch orien- Freizeit und die sozialen und sexuellen Bezie- tierte sich auf Reformen, die durch die Beteiligung hungen mit umfasst. an Wahlen und mit der Unterstützung der sozialli- Eine Transformationsstrategie, in die neue Kom- beralen Koalition durchgesetzt oder durch außer- munikations- und Lebensformen antizipatorisch und experimentell einbezogen werden; Selbst- 6 Vgl. dazu auch Ingrid Gilcher-Holtey: Die 68er Bewegung. veränderungen sind dabei ebenso wichtig wie Deutschland – Westeuropa – USA , München 2001, S. 15f die Veränderung von gesellschaftlichen Struktu- 7 Dies ist auch das Fazit einer Untersuchung zur Wirkungsge- ren. schichte der Frankfurter Schule von Clemens Albrecht u. a.: Die Ein anderes Organisationsverständnis, das nicht intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsge- auf eine Partei, sondern auf Aktion, Demonstra- schichte der Frankfurter Schule, Frankfurt/Main, New York 1999
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parlamentarische Bewegungen und Initiativen von zugedacht: sie sollten im Verbund mit den nicht unten in Gang gesetzt werden sollten. Die daraus konfessionell orientierten Akademien und Heim- später hervorgegangenen sozialen Bewegungen volkshochschulen den Fachverband für die politi- der 70er und 80er Jahre waren immer auch Bil- sche Jugendbildung bilden. Mit der Gründung des dungsbewegungen, weil sie auf Öffentlichkeit, aber Arbeitskreises Jugendbildungsstätten 1959, später auch auf Selbstverände- wegen der inzwischen dazu gekommenen Einrich- Die sozialen Bewegun- rungsprozesse, gemein- tungen mit politischer Erwachsenenbildung 1962 in gen der 70er und 80er same Lernaktionen und Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten umbenannt, Jahre waren immer Vermittlung setzten. Ty- wurde dieser Akt endlich vorgenommen und die im auch Bildungsbewe- pisch für diese Bewe- AdB zusammengefassten Bildungsstätten konnten gungen, weil sie auf gungs- und Initiativen- am Jugendreferentenprogramm teilhaben. Öffentlichkeit, aber szene der 60er und 70er auch auf Selbstverände- Jahre ist ein sehr weit Dem AdB trug man auch die Geschäftsführung des rungsprozesse, gemein- gefasstes Politikverständ- auf seine Initiative hin gegründeten Arbeitsaus- same Lernaktionen und nis, das auch auf die Auf- schusses für politische Bildung (später Bundesaus- Vermittlung setzten fassungen politischer schuss politische Bildung, abgekürzt BAP) an. Zu Bildung und ihre Praxis seinen Aufgaben zählten die Federführung und übertragen wurde. Und ebenso typisch ist es, dass Organisation des ersten großen Kongresses zur alle Bildungsbereiche als Felder politischer Bildung politischen Bildung im März 1966, aus dem der Ar- und Erziehung angesehen wurden; so wurde bei- beitsausschuss hervorging. Die dort entstandene spielsweise kaum unterschieden zwischen politi- „Gemeinsame Schlußerklärung der Veranstalter des scher Erziehung in der Sozialpädagogik und politi- Kongresses zur politischen Bildung 1966“ muss als scher Jugendbildung. eine erste systematische öffentliche Selbsterklä- rung und entsprechende Gründungsakte gelesen werden.8 Politische Bildung und Protestbewegung in den 60er Jahren am Beispiel des AdB
Seit Anfang der 60er Jahre hat die politische Ju- gend- und Erwachsenenbildung stetig an Bedeu- 8 Siehe auch Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten (Hrsg.): tung und Beachtung gewonnen. Maßnahmen der Kongreß zur politischen Bildung, Bonn 1966, S. 219-222 politischen Jugendbil- dung wurden insbeson- dere aus dem damali- gen Bundesjugendplan finanziert. Nach den so genannten Synagogen- schmierereien, die – zum Jahresende 1959 in Köln geschehen – die in- ternationale Öffentlich- keit alarmierten, wur- de auch die politische Erwachsenenbildung verstärkt gefördert. Lan- ge war den Jugendbil- dungsstätten ein Platz im schon bestehenden Verbändegefüge (Deut- scher Volkshochschul- verband, Arbeit und Le- ben, Katholische Er- wachsenenbildung und Evangelische Erwachse- nenbildung) vom Bun- © Jugendhof Vlotho desjugendministerium Gehörte zu den Gründungseinrichtungen des AdB: Jugendhof Vlotho
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Die 60er Jahre kann Die 60er Jahre kann man Die im Laufe der 60er Jahre zunehmenden Protest- man in verschiedener in verschiedener Hinsicht äußerungen und die wachsende politische Kon- Hinsicht als Gründer- als Gründerzeit politi- fliktbereitschaft wurden von den Akteuren der poli- zeit politischer Bildung scher Bildung betrachten: tischen Bildung demonstrativ begrüßt, man begriff betrachten Neben ihrer zunehmen- diese Ereignisse als positive Entwicklung und wich- den öffentlichen Platzie- tiges Ferment demokratischer Kultur. Mehr noch, rung stehen die Versuche, politische Bildung zu die sich rasant entwickelnde Protestkultur wurde professionalisieren und zu verwissenschaftlichen. als Verbündeter und ihr Konfliktgehalt als genuine „Der Prozess der Theoriebildung für den Bereich Aufgabe der politischen Bildung betrachtet. So der außerschulischen Pädagogik befindet sich der- schrieben der damalige Vorsitzende des AdB Ulf zeit in einer Übergangsphase vom Stadium gesam- Lüers und das geschäftsführende Vorstandsmit- melter Erfahrungen zum Stadium der systemati- glied Alfred Miklis im Sommer 1967 nach dem Tod schen Zuordnung der gewonnenen Erkenntnisse von Benno Ohnesorg an die Mitgliedseinrichtun- und Einsichten“ schrieb 1969 Rolf Frölich resümie- gen: „Es gilt, den Konflikt, der zwar im Ansatz, je- rend.9 Für die Verwissenschaftlichung politischer doch nicht in allen Stadien seiner Entwicklung und Bildung (damals wird noch kaum zwischen schuli- Zuspitzung demokratisch ist, zu analysieren und scher und außerschulischer politischer Bildung un- die damit gebotene Chance zur Demokratisierung terschieden) stehen vor allem Hermann Giesecke unserer Gesellschaft zu nutzen. Dabei wäre zu ver- und die von ihm mit anderen entwickelte Konflikt- deutlichen, dass es hierbei nicht um einzelne Perso- didaktik.10 nen oder Gruppen – weder bei den Studenten, noch bei den Polizisten – geht, sondern um politi- sche Probleme und Verhaltensweisen.“ Und weiter unten forderte man die Mitglieder zur Zusammen- 9 Rolf Frölich: Zu den Anfängen politischer Bildungsarbeit im arbeit auf: „Der Vorstand des Arbeitskreises hat die Arbeitskreis, in Ulf Lüers/Alfred Miklis/Barthold C. Witte (Hrsg.): studentischen Gruppen und die Vertreter der Öf- Erziehung in der Demokratie. 10 Jahre Arbeitskreis deutscher fentlichkeit auf die Möglichkeiten der Zusammen- Bildungsstätten e. V, Bonn 1969, S. 31 arbeit hingewiesen und bittet sie um ihre Mitwir- 10 Hermann Giesecke: Didaktik der politischen Bildung, kung bei diesem neuen Ansatz politischer München 1965, zu Giesecke siehe außerdem seine Website Bildungsarbeit.“11 http://www.hermann-giesecke.de, die seine Schriften und Positionen breit dokumentiert. Noch in den Jahren 1967 und 1968 veröffentlichte der AdB zwei weitere, zum Teil sehr ausführli- che Verlautbarungen zur Lage der politi- schen Bildung. In der letzteren vom Juni 1968, die fast einstim- mig angenommen wur- de, hieß es unter ande- rem: „Der Arbeitskreis deutscher Bildungs- stätten begrüßt Kritik, Unruhe und politisches
11 Rundbrief des Vorsitzen- den des Arbeitskreises an die Mitgliedsinstitutionen zu den innenpolitischen Unru- hen vom Juni 1967, in: Ulf Lüers/Alfred Miklis/Barthold C. Witte (Hrsg.): Erziehung in © Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten der Demokratie. 10 Jahre Ar- Hermann Giesecke (rechts) beeinflusste mit seiner Konfliktdidaktik die Entwicklung der beitskreis deutscher Bil- politischen Bildung. Das Foto zeigt ihn bei einer AdB-Veranstaltung 1990 in Haus Sonnen- dungsstätten e. V, Bonn berg, links: Günther Vieser 1969, S. 106f
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Engagement eines wachsenden Teiles der Jugend Die in den 60ern ein- Hilfe rationaler Analysen als ein Zeichen dafür, dass die oft beklagte politi- setzende Professionali- und darauf gegründeter sche Lethargie der jungen Generation schwindet.“ sierung politischer Bil- Zukunftsentwürfe“ bei- Allerdings schränkte die Erklärung ihre Solidarität dung beruhte nicht nur tragen soll. Diese Aussa- in den nächsten Sätzen auf grundgesetzkonforme auf Institutionalisie- ge wandte sich gegen die Aktionen ein. Im Weiteren wurde dann betont, dass rung und Hauptamt- Praxis der Nachkriegszeit, die politische Bildung „auf stete Veränderung der lichkeit, sondern auch in der das Begegnen, die Gesellschaft hinwirken“ und sich „auf die kritische auf Verwissenschaft- spätjugendbewegte Ge- Reflexion der Politik und Gesellschaft überhaupt“ lichung und Systemati- meinschaftsseligkeit und gründen soll.12 Die allgemeine verbandliche Zu- sierung einer Politikdi- das Musische noch in der stimmung zu solchen Positionen wurde aber bald daktik, die ein entspre- politischen Jugend- und auf verschiedene Proben gestellt. Im AdB wie auch chend reflektiertes Erwachsenenbildung in anderen Verbänden kam es in den folgenden Handlungsrepertoire überwogen. Die in den Jahren zu einigen Konflikten. Eine Konfliktlinie war aufweist 60ern einsetzende Pro- die einer von den Jugendbildungsreferenten ge- fessionalisierung politi- wünschten weitgehenden Mitbestimmung im Ver- scher Bildung beruhte nicht nur auf Institutionali- band, eine weitere die Forderung verbindlicher sierung und Hauptamtlichkeit, sondern auch auf Grundsätze für ihren Einsatz in den Einrichtungen, Verwissenschaftlichung und Systematisierung einer an denen sie arbeiteten, und eine dritte die sehr Politikdidaktik, die ein entsprechend reflektiertes grundsätzliche und kontroverse Frage eines ver- Handlungsrepertoire aufweist. Gegenüber den emo- bindlichen gemeinsamen Verständnisses von politi- tionalen Momenten wurde nun das rationale Ur- scher Bildung. Ein Teil des Verbandes argwöhnte, teilen betont und die Distanz zur Politik selber. An dass sich hinter dieser angestrebten Verbindlich- dieser Stelle brach ein Streit auf, der bis in die 80er keit nicht nur eine Einigung auf eine weitgehend Jahre noch andauerte. formale Politikdidaktik, sondern auch ein dezidier- tes politisches Programm verberge und bestand Die Veranstaltungen der politischen Bildung soll- auf der Akzeptanz unterschiedlicher Richtungen in ten demokratisiert werden, die Teilnehmer aktiviert der Politikdidaktik, wie es dem demokratischen Plu- und Seminare in politische Aktionen münden. Stell- ralismus entspricht. Hierüber kam es zu harten Aus- vertretend für viele Stimmen sei hier Reinhard Duf- einandersetzungen, an deren Ende Ulf Lüers aus ner aus der „deutschen jugend“ 1970 zitiert: „Ge- dem Vorstandsamt ausschied und Heinz Thum sei- genüber der oberflächlichen, krampfhaft herge- ne Funktionen übernahm.13 stellten Motivation politischen Lernens ist die soli- de, nicht auf Methodenfetischismus bedachte Ar- beit vorzuziehen. Dabei ist die Kontinuität der Ar- Politische Bildung oder politische Aktion beit von großer Wichtigkeit. Gerade aber diese ist in Kurzzeitpädagogik nicht zu leisten. Es müssen Die aufblühende politische Bildung geriet Ende also Möglichkeiten entwickelt und eröffnet werden, der 60er Jahre aber auch in eine andere Konflikt- die Lernprozesse als kollektive in Gang zu halten. zone, die man als Problem der Unterscheidung Das wird nur in Gruppen möglich sein, die diszipli- politischer Absichten und Programmatiken von der niert ihre Interessen reflektieren, sich mit der rele- pädagogischen Eigenlogik begreifen kann. vanten Literatur beschäftigen und schließlich auch gemeinsam handeln.“14 Und an anderer Stelle wird Die Otzenhausener Erklärung hielt als weiteren bedauert, dass es nicht gelinge, „nach den Lehr- Grundsatz fest, dass die politische Bildung zur Auf- gängen den Kontakt zu den Teilnehmern aufrecht- klärung und Austragung politischer Konflikte „mit zuerhalten“ und somit „eine die politische Praxis begleitende Beratung“ fehle.15 Politische Bildung 12 Alle Zitate aus: Erklärung der Mitglieder des Arbeitskreises sollte sich also, damit das Attribut politisch auch auf der Tagung im Europa-Haus Otzenhausen zur Lage der poli- Berechtigung habe, in das Terrain der politischen tischen Bildung, in: Ulf Lüers/Alfred Miklis/Barthold C. Witte Aktion hineinwagen und zur Bildung politisch ak- (Hrsg.): Erziehung in der Demokratie. 10 Jahre Arbeitskreis tionsfähiger Gruppen beitragen; sie mutierte zum deutscher Bildungsstätten e. V, Bonn 1969, S. 119 13 Zu den zum Teil unübersichtlichen Streitpunkten und An- 14 Reinhard Dufner: Zu einigen Bedingungen politischen Ler- sichten siehe: Gespräch mit Heinz Thum: Zu den Auseinander- nens, in: deutsche jugend, März 1970, S. 134 setzungen über das Selbstverständnis des AdB Ende der 60er/ 15 Michael Brühl/Pedro Graf/Kurt Sprenger/Norbert Traut- Anfang der 70er Jahre, in: außerschulische bildung, Nr. 1/90, wein/Heiner Volkers: Antikapitalistische Jugendarbeit und Ju- S. 19-21 und Ulf Lüers: S. 65 gendverbände, in: deutsche jugend, Mai 1970, S. 237
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dem merkte er an, dass die oftmals verwendeten marxistisch inspirierten Deutungsansätze von Poli- tik und Gesellschaft für pädagogische Problemstel- lungen nicht anschlussfähig seien. Dem wurde wiederum von anderer Seite widersprochen, und so finden wir seit Beginn der 70er Jahre eine inten- sive Debatte auch zur Frage der subjektiven Vor- aussetzungen politischen Lernens.18 Die diversen theoretischen Bemühungen um eine Vermittlung von Gesellschaft, Politik und lernendem Individu- um haben letztlich zur Anerkennung der zentralen Bedeutung der Teilnehmer- oder Subjektorientie- rung in der politischen Didaktik geführt. Einen an- deren Versuch, eine Grenze zwischen Aktion und politischem Lernen zu ziehen, stellen das Kontro- versitätsgebot und das Überwältigungsverbot dar, wie sie 1977 im Beutelsbacher Konsens formuliert wurden.
Die diversen theoreti- Dennoch: Politische Bil- schen Bemühungen um dung wurde selbst als ein eine Vermittlung von Feld der Politik begrif- Gesellschaft, Politik fen, wenn auch in spezi- und lernendem Indivi- fisch abhängiger Weise. duum haben zur Aner- Dies führte dazu, dass © Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten kennung der zentralen noch bis in die 90er Jah- Bedeutung der Teilneh- re hinein Institutionen Ernst Fraenkel auf dem 1. Kongress zur politischen Bil- mer- oder Subjekt- der politischen Bildung dung 1966 orientierung in der eindeutig politischen La- politischen Didaktik gern zugeordnet wurden politischen Paralleluniversum und drohte ihren geführt und Positionen in staatli- Auftrag und ihre Möglichkeiten zu überdehnen. chen Einrichtungen nach Außerdem bestand die Gefahr, dass die Beachtung strengen Proporzregeln oder der Logik einer Ein- des politischen Pluralismus‘, auf den Ernst Fraenkel flusssicherung besetzt wurden. Erst danach hat sich in seinem Einleitungsvortrag zum Kongress zur po- ein professionell orientiertes Verständnis allgemein litischen Bildung in Bonn 1966 so nachhaltig als durchgesetzt, so dass heute sich Kolleginnen und Voraussetzung politischer Bildung in der Demokra- Kollegen weniger nach politischer Herkunft und tie verwiesen hatte,16 in der angestrebten gemein- mehr nach ihrem Praxisverständnis beurteilen und schaftlichen Übereinstimmung und Aktion wieder zuordnen. verloren ging.
Der Widerspruch wurde von verschiedener Seite mit Wirkungen unterschiedlichen Argumenten formuliert. Hermann Giesecke warnte vor Emotionalisierungsprozessen Dass es einen steten Ausbau der politischen Bil- und wies darauf hin, dass „Lernen und Aktion anti- dung seit den 60er Jahren gab, war aber nicht nur nomische soziale Verhaltensweisen sind, die zuein- den Bedeutungszuschreibungen im Rahmen politi- ander in erheblichem Widerspruch stehen.“17 Außer- scher Veränderungsstrategien zu verdanken. Eine komplementäre Reaktion von konservativer Seite 16 Ernst Fraenkel: Möglichkeiten und Grenzen politischer Mit- bestand darin, das junge westdeutsche Gemeinwe- arbeit der Bürger in einer modernen parlamentarischen Demo- sen gefährdet zu sehen. In der Antwort auf die kratie – Besinnung auf das Wesen politischer Erziehung und Bil- Großen Anfragen der Fraktionen des Bundestages dung, in: Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten (Hrsg.): Kongress zur politischen Bildung, Bonn 1966, S. 29-41 18 Siehe zum Beispiel Ulf Lüers/Gerhard Büttenbender/Christi- 17 Hermann Giesecke: Didaktische Probleme des Lernens im an Rittelmeyer/Jochen Müller/Dieter Grösch: Selbsterfahrung Rahmen von politischen Aktionen, in: Giesecke u. a: Politische und Klassenlage. Voraussetzungen und Methoden politischer Aktion und politisches Lernen, München 1970, S. 25 Bildung, München 1971
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zur Politischen Bildung 1968 hieß es daher war- gibt es noch eine Vielzahl weiterer mittel- und nend: „Es ist eine Situation entstanden, die es allen langfristiger Wirkungen in der politischen Kultur gesellschaftlichen Kräften und auch dem Staat der Bundesrepublik zu verzeichnen, auf die zum dringend gebietet, dem verbreiteten Unbehagen Schluss nur noch in Stichworten eingegangen wer- entgegenzuwirken und das Bewußtsein vom Wert den kann. unserer freiheitlichen Staatsordnung und den Möglichkeiten ihrer zeitgerechten Fortentwick- Die Protestbewegung – das kann inzwischen als ei- lung zu stärken.“19 Für die politische Bildung war ne von den meisten Beobachtern geteilte Einsicht eine komfortable Situation entstanden, wurde sie gelten – hat zwar nicht das hervorgebracht, was ih- doch – mit ganz unterschiedlichen Aufgabenver- re Protagonisten im unmittelbaren Zeitfenster En- ständnissen und Erwartungen versehen – letztlich de der 60er und Anfang der 70er Jahre gewollt von allen politischen Akteuren und ihren Bezugs- hatten: eine gesellschaftliche Revolution, die sich gruppen hochgeschätzt, weil man von ihr einen auf der Basis eines in der Nachkriegszeit entfalte- wichtigen Beitrag zur mittelfristigen Lösung ak- ten gesellschaftlichen Reichtums der spontanen tueller Probleme und Konflikte erwartete. Dieser Zustimmung einer Mehrheit der Bevölkerung sicher Befund gilt aber in weiten Teilen für die Erwach- sein konnte. Angesichts ihrer problematischen Zer- senenbildung/Weiterbildung insgesamt, so dass es fallsprodukte wie den stalinistischen K-Gruppen, während der 70er Jahre in vielen Bundesländern muss man von einer glücklich gescheiterten Bewe- – oftmals auch in enger Zusammenarbeit von CDU gung sprechen. und SPD – zu der Verabschiedung von Weiterbil- dungsgesetzen kam, die Das, was sie so en passant angestoßen hat – zum Die während der 70er nun den systematischen Teil gegen ihre Absichten, ist unter anderem eine Jahre in vielen Bundes- Auf- und Ausbau und dem Modell westlicher Demokratien angemessene ländern – oftmals auch damit die Professionali- Partizipations- und Widerspruchskultur, die sich in enger Zusammenar- sierung der Erwachsenen- seit Ende der 60er Jahre als „Protest von unten“ beit von CDU und SPD bildung und der außer- normalisiert hat und neben den repräsentativen – verabschiedeten Wei- schulischen politischen Wegen der demokratischen Beteiligung auch vie- terbildungsgesetze Bildung zu garantieren len kleineren Gruppen und Initiativen stabile und schienen den systema- schienen. Das war eine immer wieder geübte Möglichkeiten der öffent- tischen Auf- und Aus- Entwickung, die leider oft lichen Mitwirkung an der politischen Willensbil- bau und damit die Pro- nur eine Dekade andau- dung verschafft hat.20 Politische Bildung hat auch fessionalisierung der ern sollte. Dennoch ist zu Erwachsenenbildung konstatieren, dass in den 20 Vgl. dazu auch Friedhelm Neidhardt/Dieter Rucht: Protest- und der außerschuli- 70er Jahren die Erwach- geschichte der Bundesrepublik 1950 – 1994: Ereignisse, Themen, schen politischen Bil- senenbildung und die po- Akteure, in: Dieter Rucht (Hrsg.): Protest in der Bundesrepublik. dung zu garantieren litische Bildung als äu- Strukturen und Entwicklungen, Frankfurt/New York 2001, S. 35f ßerst wichtige Politik- felder galten, die für die Gestaltung gesell- schaftlicher Zukunft von größter Bedeu- tung seien.
Neben diesem Institu- tionalisierungs- und Pro- fessionalisierungsschub
19 Antwort auf die Großen Anfragen der Fraktionen des Bundestages zur Politischen Bildung 1968, in: Hans-Wer- ner Kuhn/Peter Massing (Hrsg.): Politische Bildung in © Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten Deutschland. Entwicklung – Stand -– Perspektiven, Opla- Lust am Diskutieren: AdB-Jahrestagung 1977 in Berlin. Von rechts nach links (sofern erkenn- den 1990, S. 240 bar): Mechthild Merfeld, Jochen Müller und Frank Thomas Gaulin.
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hier ihren genuinen Ort, denn ein deliberatives Wertewandels hervorheben. Die Lernformen wur- Verständnis außerschulischer politischer Bildung, den in den 60er und 70er Jahren in vielfältigem das sich als Gegenöffentlichkeit versteht und sozia- Rückgriff auf reformpädagogische Konzepte aus le Bewegungen mit Angeboten und Foren beglei- früherer Zeit erneuert, was auch auf jugendbe- tet, ist ein seit der Protestbewegung der 60er Jahre wegte Einflüsse der Nachkriegszeit verweist, die ei- immer wieder manifestiertes Konzept.21 gentlich im Rahmen der 68er-Bewegung überwun- den werden sollten.22 Aber das wären Themen für Seit 1968 finden wir trotz aller Vereinheitlichungs- einen neuen Artikel. versuche unter den weiterhin oft sehr mannigfalti- gen didaktischen Ansätzen dennoch zwei markante Linien: Die einer an Bewegungen und Selbstakti- Dr. Paul Ciupke ist Mitglied im Leitungsteam vierungsprogrammen orientierten politischen Bil- des Bildungswerks der Humanistischen Union dung, die das politische Subjekt in den Mittelpunkt NRW e. V. Arbeitsschwerpunkte: Zeitgeschich- stellt, und eine Linie, die eher an einer wissen- te, Ostmitteleuropa, (Erwachsenen-) Bildungs- schaftszentrierten Politikdidaktik sich orientiert und geschichte, Ruhrgebiet, Strukturwandel, die Rationalität politischer Urteilskraft betont. Die- Reformpädagogik, Fragen der politischen Bil- se beiden Richtungen kritisieren sich immer wieder dung u. a. m. bis heute wechselseitig, sind aber nicht unvereinbar. Er ist über das Bildungswerk zu erreichen unter der Anschrift: Kronprinzenstraße 15, 45128 Essen. Es wären sicher noch andere Entwicklungslinien zu diskutieren: Eine kulturgeschichtliche Betrachtung E-Mail: [email protected] müsste auch zum Beispiel die Lust am Diskutieren, die Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen und traditionellen, atavistisch gewordenen Wertvor- 22 Vgl. Paul Ciupke: Gefährten. Jugendbewegung, Protestbe- stellungen wie Gehorsam, Treue und blinde Diszi- wegung und außerschulische politische Bildung nach 1945, er- plin sowie Kultivierung des politischen Selbst im scheint in der zweiten Jahreshälfte im Jahrbuch des Archivs der Rahmen politischer Bildung thematisieren und ih- deutschen Jugendbewegung, NF, Band 4/2007, Schwalbach/Ts. ren Beitrag zur Entwicklung des postmodernen 2008; siehe auch Heidi Behrens/Paul Ciupke/Norbert Reichling: Lernkonzepte der 70er und 80er Jahre. Zur Kontinuität und 21 Vgl. dazu Bettina Lösch: Deliberative Politik. Moderne Kon- Transformation politischer und pädagogischer Impulse in der zeptionen von Öffentlichkeit, Demokratie und politischer Parti- Erwachsenenbildung, in: http://www.abwf.de/content/main/ zipation, Münster 2005 ⁄publik/report/2003/Report-81.pdf
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Revolte im Gulasch-Kommunismus Ein Interview mit György Dalos
György Dalos, geboren 1943 Welche waren das? in Budapest, ist ein ungari- scher Schriftsteller und Histori- Wichtig ist zu wissen, dass sich die 68er Revolte im ker jüdischer Herkunft. Er stu- Osten hauptsächlich in Polen, der Tschechoslowa- dierte von 1962 bis 1967 an kei (CSSR) und in Jugoslawien abspielte. Die ande- der Moskauer Lomonossow- ren Länder des Ostblocks waren nur wenig bis gar Universität und arbeitete an- nicht beteiligt. Dementsprechend interessierte schließend als Museologe in sich der Ostblock vor allem für die Vorgänge in Budapest. Dalos war Mitglied den drei Ländern. Zunächst für die tschechische der Ungarischen KP bis 1968, Reform, den sogenannten Prager Frühling, und als er wegen „staatsfeindlicher Aktivitäten“ Be- später vor allem für die Besetzung der Tschechos- rufs- und Publikationsverbot erhielt und dann als lowakei durch die Staaten des Warschauer Ver- Übersetzer tätig war. 1984 erhielt er ein Stipen- trags. dium des Berliner DAAD und wurde Mitarbeiter an der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Die Studentenrevolten im Westen fanden im Osten Bremen. Von 1987 bis 1995 lebte er abwechselnd in keine allzu große Aufmerksamkeit. Das hing auch Wien und Budapest und arbeitete u. a. für deut- damit zusammen, dass nur wenige Nachrichten aus sche Rundfunkanstalten und Zeitungen. Von 1992 dem Westen in den Osten durchdrangen. bis 1997 gehörte Dalos dem Vorstand der Heinrich- Böll-Stiftung in Köln an, von 1995 bis 1999 leitete er das Ungarische Kulturinstitut in Berlin. György Das heißt, der Osten hat gar nicht gewusst, was im Dalos lebt heute als freier Schriftsteller in Berlin. Westen vor sich ging? 1964 veröffentlichte er seinen ersten Gedichtband. Seither sind zahlreiche Werke von ihm erschienen, Doch, wir, die Intellektuellen und interessierten Stu- in Deutschland u. a. „Archipel Gulasch“ (1986), denten in Budapest, waren relativ gut informiert. „Die Beschneidung“ (1990), „Die Reise nach Sacha- Wir holten uns die Informationen woanders her, so lin. Auf den Spuren von Anton Tschechow“ (2001), vom amerikanischen Sender Free Europe, von der „1956. Der Aufstand in Ungarn“ (2006). BBC und über eingeschmuggelte Zeitungen. Persön- liche Kontakte in den Westen hatten wir damals 1995 wurde György Dalos mit dem Adelbert-von- leider nicht. Der Mangel an Presseöffentlichkeit im Chamisso-Preis der Bayerischen Akademie der gesamten Ostblock hing mit der Angst der Regie- schönen Künste ausgezeichnet. rungen dort zusammen. Die fürchteten, dass hier ähnliche Tumulte losgehen könnten wie im Westen. Simone Schmollack sprach mit György Dalos über Und ihre Furcht vor Aufständen wiederum hatte et- den Prager Frühling, Illusionen junger Intellektuel- was mit dem Kontext zu tun, in dem Ost und West ler und die Gründe, weshalb '68 in Osteuropa nicht gemeinsam standen: dem Kontext der Generatio- erfolgreich sein konnte. nen. Sowohl die Studenten der Pariser Revolten und wir sind in den letzten Kriegs- oder in den ersten Nachkriegsjahren geboren. Soziologisch würde man Anders als im Westen, wo sich die Rebellion der sagen: Es war die Gemeinsamkeit einer rebellieren- Achtundsechziger vor allem gegen die mangeln- den Nachkriegsgeneration. de Aufarbeitung der Nazi-Zeit richtete, waren mit den Aufständen im Frühjahr und Sommer 1968 in Osteuropa hauptsächlich Hoffnungen auf Mehr hatten die Ost-Oppositionellen und die West- eine Demokratisierung der Gesellschaft verbun- Revolutionäre nicht gemeinsam? den. Was genau ist in Osteuropa passiert und worin unterschied sich der Protest hier von dem Wir lebten in komplett anderen Gesellschafts- im Westen? formen, das hatte Auswirkungen. Die Phänomene, die unabhängig vom gemeinsamen Kontext auf- Der gesamte Ostblock war ja komplett anders traten, waren augenscheinlich stärker. Man muss organisiert als der Westen, das sozialistische Sys- die Situation damals sehen. In Ungarn beispiels- tem funktionierte anders als der Westen, es gab weise herrschte Ende der Sechziger Jahre der soge- klare durch die Sowjetunion vorgegebene Gesetze. nannte Gulasch-Kommunismus: ein wenig mehr Und nach denen richtete sich der gesamte Ost- Wohlstand für alle, Reisefreiheit für viele und eine block. Es war also nur folgerichtig, dass andere relative Freiheit der Kultur. Dadurch war das Land Themen debattiert wurden. alles andere als rebellisch. Und so war die Studen-
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tenbewegung im Westen nur für einen ganz klei- Erfolgreich? nen Kreis von Intellektuellen interessant. Die Polizei mischte sich ein, mit großer Brutalität und mit Tränengas. Dann aber passierte etwas Un- So leicht waren die Ungarn ruhig zu stellen? gewöhnliches: Die Väter der demonstrierenden Studenten, die hohe Parteifunktionäre waren, Nein, diese Schlussfolgerung greift zu kurz. „Ruhig wurden für das Verhalten ihrer Söhne und Töchter gestellt“ wurden sie durch den Terror. Das Volk be- gemaßregelt, so als hätten sie selbst die Parteidiszi- fand sich durch die Ereignisse von 1956... plin gebrochen. Einige wurden sogar entlassen. Und plötzlich kamen Parteigremien darauf, dass die Rebellen und ihre Eltern teilweise jüdischer ... als der ungarische Volksaufstand von der Herkunft waren. Das führte dazu, dass die polni- sowjetischen Unterdrückung niedergeschlagen sche Parteiführung eine Kampagne startete gegen wurde... jüdische Intellektuelle, die als Gefahr betrachtet wurden. Der Staatspräsident Józef Cyrankiewicz, ... noch in einer Art Trauma. Die Menschen wussten der während des Kriegs selber im KZ saß, hielt eine noch sehr genau, was es heißt, wenn eine Revo- einschneidende Rede. Er sagte, dass die Juden in lution ein blutiges, unbefriedigendes Ende findet. Polen in drei Kategorien einzuteilen seien: in Pa- Das, was 1968 im Westen passierte, war von den trioten, in Unentschiedene und in Zionisten. Für Menschen in Ungarn so weit weg, dass ihnen letztere, so war sein Argument, gebe es keinen selbst die Reformbewegungen in der sozialis- Platz im sozialistischen Polen. In der Folgezeit wur- tischen Tschechoslowakei suspekt waren. den 25.000 Juden aus dem Land gewiesen. Die meisten von ihnen sind nach Israel gegangen, an- dere nach Großbritannien, Amerika, Frankreich. Wie haben sich die Intellektuellen verhalten? Unter ihnen maßgebliche Intellektuelle, Wissen- schaftler, Künstler. Nach dieser Aktion konnte man Wir versuchten, alles zu lesen, was es gab: ein schon ahnen, wie die tschechoslowakische Reform paar Westzeitungen in den Hotels, Bücher, die ins enden wird. Land geschmuggelt wurden. Interessant war, dass die Oppositionellen sehr häufig Kinder hochrangi- ger Funktionäre waren. Nun hatte aber die Reform in Prag im Gegensatz zu den Vorgängen in Polen und in Ungarn 1956 eine Besonderheit ... Wie in den anderen sozialistischen Ländern auch. ... dass eine kommunistische Partei an der Spitze Ja. Fast alle Söhne und Töchter hoher polnischer stand und die Gesellschaft ändern wollte, ohne je- Funktionäre waren an der bekannten Rebellion be- doch die Grundsätze des Sozialismus aufzugeben. teiligt, die der Premiere des Stücks „Totenfeier“ des So sollte es kein Privateigentum an Produktions- Kultautors Adam Mickiewicz folgte. Vorher war das mitteln geben, sondern ausschließlich Staatseigen- Gerücht umgegangen, dass das Stück, das die tum, Bildung und Gesundheitswesen sollten für al- Unterdrückung Polens durch Russland thematisier- le kostenlos bleiben. Man dachte in einem nicht te, verboten werden sollte. Zuerst protestierten die näher definierten „sozialistischen Pluralismus“, der Studenten gegen das eventuelle Verbot des Stücks, aber nicht identisch mit der bürgerlich-parlamen- aber bald auch gegen die Probleme in der Mensa tarischen Demokratie sein sollte. und gegen die sozialen Probleme der Studenten.
Waren die Hoffnungen der Intellektuellen und In den sozialen Fragen stimmten die polnischen Studenten, die tatsächlich einen Sozialismus mit Studenten mit den Studenten im Westen überein? menschlichem Antlitz schaffen wollten, allein auf- grund dieser politischen Konstellationen nicht von Die polnischen Studenten setzten sich schließlich vornherein zum Scheitern verurteilt? auch noch für die Unabhängigkeit der Universitäten und Hochschulen ein. Rein formal waren die polni- In Ungarn konnte man nach der gescheiterten schen Unis autonom, aber im Grunde waren sie wie Revolution 1956 gut beobachten, wie sich die alle anderen Einrichtungen von der Partei verwal- Mehrheit der Menschen zurückzog und nur noch tet. Die Studenten wollten die Autonomie sichern. eine kleine Minderheit aufbegehrte. In Ungarn
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floss Blut, in Ungarn haben die Sowjets hart garien und Wladyslaw Gomulka in Polen hätten durchgegriffen. Das passierte in Polen nicht, verabschieden müssen. dort marschierte die Rote Armee nicht ein. In Prag zunächst auch nicht. Die tschechoslowaki- schen Kommunisten konnten behaupten: Seht Auch von János Kádár in Ungarn? her, bei uns fließt kein Tropfen Blut, es ist keine Revolution, Reformen sind auch gewaltlos mög- Der war so eine „mittlere Figur“, von den Sowjets lich. akzeptiert und von Teilen der Bevölkerung auch. Aber er war nie ein Reformer und politisch immer Die Kommunistische Partei der CSSR hat die füh- opportunistisch, er wollte zuerst die Sowjets immer rende Rolle nicht aus der Hand gegeben. Sie hat zufrieden stellen und dann seine Ruhe vor der ei- aber trotzdem eine andere Politik gemacht, als die genen Bevölkerung haben. Sowjets das wollten. Nur die Ungarn ahnten da- mals, dass es auch in Prag nicht ohne Einmarsch der Sowjets abgehen wird. Obwohl die Rebellion auch in Osteuropa von Intel- lektuellen ausging, passierte in der Tschechoslowa- kei etwas Merkwürdiges: Es entstanden Arbeiter- So kam es schließlich ja auch. räte. War das die letzte wahre Beteiligung von Arbeitern in der Politik? Der friedliche Prager Frühling endete genauso mit einem sowjetischen Einmarsch, wie die bewaffnete Das könnte man annehmen. Aber, wie bereits Revolution in Ungarn. Zehntausende Tschechoslo- erwähnt, wurde die tschechoslowakische Bewe- waken verließen das Land. gung von der Partei geleitet und die Menschen wiegten sich in dem Glauben, dadurch passiere ih- nen nichts: Wenn Parteichef Dubcek ganz offiziell Was passierte in der DDR? eine Art Demokratie einführen wollte, dann han- delten auch die Menschen mit gutem Gewissen Dort wurden die tschechoslowakischen Refor- ganz legal und nicht oppositionell. men nur von einer Minderheit wahrgenommen. Nach dem Mauerbau 1961 gab es in der DDR keine große Zuversicht mehr auf eine demokra- Was geschah mit den Intellektuellen nach der tische Gesellschaft, es gab höchstens die Hoff- Revolution? nung auf etwas bessere Lebensverhältnisse: Man wünschte sich kleine Freiheiten, ähnlich wie in In der Tschechoslowakei kam es zu einer riesigen Ungarn, und vielleicht ein wenig mehr Reise- politischen Säuberung. Die Kommunistische Partei möglichkeiten. war eine Massenorganisation und hatte 500.000 Mitglieder, fast die Hälfte wurde nach dem Prager Frühling ausgeschlossen. In der DDR zwang die Aber nach Westdeutschland und Frankreich blick- Partei selbst Parteilose dazu, für den Einmarsch der ten die DDR-Bürger auch nicht, sie wollten eher Sowjets in Prag öffentlich Stellung zu nehmen. Das wissen, was in Osteuropa vor sich ging. wiederum passierte in Ungarn nicht.
Das ist richtig. Alle schauten darauf, was die So- wjets machten. Wenn die Reformer in Prag um Ale- Warum nicht? xander Dubcek erfolgreich gewesen wären, wäre das für die sozialistische Gemeinschaft höchst ge- Zum einen dürfen wir nicht vergessen, dass der Ein- fährlich geworden – in den Augen der kommunisti- marsch der Sowjets im November 1956 eine natio- schen Machthaber. Denn in allen sozialistischen nale Katastrophe war, unter anderem flüchteten Ländern war die kommunistische Oligarchie unpo- damals aus dem Land 250.000 Bürger. Die Wieder- pulär. Die Menschen hätten dann jene Fraktionen herstellung der Ruhe brauchte mehrere Jahre und in den kommunistischen KP unterstützt, die ähn- die Parteiführung wollte das heikle Gleichgewicht lich reformistisch dachten wie die tschechoslowaki- nicht wegen irgendwelcher rein propagandisti- schen Spitzenfunktionäre von 1968. Und das schen Vorteile auf die Probe stellen. Außerdem hätten die Sowjets nicht geduldet. Das hätte auch glaubten Ungarns Kommunisten seit dem Volks- bedeutet, dass sie sich von makabren Gestalten wie aufstand an derartige öffentliche Bekenntnisse Walter Ulbricht in der DDR, Todor Schiwkow in Bul- nicht mehr.
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Wie ging es Ihnen damals? Welche Repressalien erlitten Sie durch Ihre Akti- vitäten? An dieser Stelle weicht meine Geschichte und die meiner intellektuellen Freunde von den allge- Im Januar 1968 wurden die ersten von uns verhaf- meinen Vorkommnissen ab. Wir drifteten nämlich tet, es folgten Verhöre und Vernehmungen. Von in eine Richtung, die für Ungarn völlig untypisch Mai bis Juni 1968 schließlich lief unser Prozess vor war: in die chinesische. Nach 1963, also noch lange dem Kreisgericht Budapest. Der sollte aussehen wie vor 1968, waren wir der Meinung, dass in der gan- eine demokratische Verhandlung; zu jener Zeit ver- zen Debatte um den internationalen Kommu- suchte Ungarn, wie ein liberaler Staat zu wirken. nismus nicht die Sowjets Recht hatten, sondern die Chinesen. Aber es war kein demokratischer Prozess?
Das war ziemlich radikal. Natürlich nicht. Das merkte man allein an der Spra- che. Die kannte nur das Vokabular der Diktatur des Damals glaubten wir, dass die Sowjets die Revo- Proletariats. Immerhin achtete man auf die Forma- lution verraten hatten, dass sie Großmachtchauvi- litäten der Prozessordnung. Anders und neu an die- nismus üben und dass sie in Ungarn und in anderen sem Prozess aber waren die Urteile, die gefällt wur- sozialistischen Ländern Regierungen unterstützten, den. Die waren für die damalige Zeit relativ human, die auf dem Wege der kapitalistischen Restaurie- sie bewegten sich zwischen Freiheitsstrafe auf Be- rung waren. währung und zweieinhalb Jahren Gefängnis.
Wie sehen Sie das heute? Was bekamen Sie?
Das war natürlich absoluter Schwachsinn. Aber wir Sieben Monate auf Bewährung. Allerdings wurden lebten in einer Zeit, in der wir nach einer Utopie die Urteile um Strafen ergänzt, die nicht im Urteil suchten. Die fanden wir in den egalitären Prinzi- standen. Manche meiner Freunde wurden aus allen pien, wie sie China praktizierte. Wir begriffen aber Hochschulen des Landes ausgeschlossen, was auch bald, dass Ungarn und China zwei verschiedene in dem offiziellen Mitteilungsblatt veröffentlicht Staaten waren und dass Ungarn die chinesische wurde. Andere verloren ihre Arbeit. Ich bekam Pu- Praxis nicht umsetzen konnte. Aber wir wussten blikationsverbot. Neunzehn Jahre, von 1968 bis auch, dass Mao Zedong die Weltrevolution in Per- 1987, habe ich nicht in Ungarn veröffentlicht. son war.
Wie ging es Ihnen damit? Waren Sie Maoist? Merkwürdig: ich hatte nach dem Ausschluss aus Am Anfang nicht. Wir waren gutgläubige, junge der Partei und Verlust meines Arbeitsplatzes eine Kommunisten. Wir wollten in unserem Land revo- Art euphorisches Freiheitsgefühl. Und das Land er- lutionäre Politik betreiben. Aber wir hatten keine lebte im Jahr 1968 sogar einen ungemein lustigen Ahnung, wie das geht. Und wir hatten keine Spra- Sommer. che für Politik, wir hatten nur ideologische Flos- keln. Später sympathisierten wir auch mit Vietnam und Kuba. Wie bitte?
Es war kurios. Die ungarische Bevölkerung war zu- Sie haben für die Revolution gebrannt wie Che frieden, es gab viel zu essen und zu trinken, Obst, Guevara? Gemüse, Alkohol, für ganz wenig Geld. Besonders viele Früchte gab es, weil wegen der Absperrung Kuba war für uns ein sehr attraktives Land. Aus ei- der Nordgrenze die ganzen Fruchtlieferungen aus gener Kraft hatte es eine Revolution vollbracht. Rumänien und Bulgarien in Ungarn stecken ge- Das hat uns imponiert. Che und seine Genossen blieben waren. Gleichzeitig fand in den Tagen des sahen auch nicht so aus wie die würfelköpfigen Einmarsches in die Tschechoslowakei ein großes Funktionäre im Osten. Schlagerfestival in Ungarn statt, das durch das
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Fernsehen übertragen wurde. Die Panzer waren wenn man so sagen will, einen spartanisch-kom- auf dem Weg nach Prag und die Menschen saßen munistischen Standpunkt. mit angehaltenem Atem vor der Glotze. Die Machthaber wussten, dass die Leute nicht prote- stieren würden. Was ist heute aus den Reformern geworden?
In allen Ostblockstaaten wurden die meisten Re- Haben Sie unter dieser Ignoranz nicht gelitten? former nach der Wende entweder Politiker oder sie sind in ihre Berufe zurückgekehrt. Nicht weni- Schon. Aber wir Verurteilten gehörten zu einer ver- ge, die in der Politik gelandet sind, mussten ihre schwindenden Minderheit, die sich überhaupt für frühere politische Haltung ändern oder sie mein- den Prager Frühling interessierte. Und wir haben ten, sie ändern zu müssen. Oppositionelle Ideen gesehen, dass die Sowjetunion jede aufrührerische der siebziger und achtziger Jahre waren keine, Bewegung, auch jede kommunistische, nieder- mit denen in den komplizierten Verhältnissen der knüppeln wird. Dadurch wurden wir immer verbit- Nachwendezeit praktische Politik gemacht werden terter. Wir haben den Einmarsch der Russen in Prag konnte. verurteilt und drückten den Tschechen die Dau- men. Wir begannen, offen über den Einmarsch zu reden. Aber es gab keinen nennenswerten öffent- Die Reformer haben sich verbogen? lichen Protest. Das große Problem für viele dieser Intellektuellen war, dass sie sich die für die Politik typischen Spiel- Und in der DDR? regeln nur schwer aneignen konnten. Diejenigen, die diese Form der Auseinandersetzungen nicht er- Dort regten sich einige junge Leute: Thomas trugen, haben die Politik schnell wieder verlassen. Brasch, Bettina Wegener, Florian Havemann – Kin- Diejenigen aber, die dabei geblieben sind, mussten der von Funktionären und systemkonformen Intel- sich nun mit einer Politik auseinandersetzen, die lektuellen. nicht in jedem Fall auf soziale Gerechtigkeit setzt. Nebenbei gesagt, war einer der Hauptangeklagten des Budapester Prozesses Sohn eines Gründers der ungarischen KP. Auf dem Gerichtskorridor sagte Und das taten sie dann auch? mir die Mutter: „Dafür, dass mein Sohn jetzt solch einen unwürdigen Prozess erhält, habe ich 25 Jah- Da war auch immer die Verlockung der Macht. Und re im sowjetischen Exil gelebt.“ ... Nicht alle Eltern das kann am Ende nicht weniger zerstörerisch sein waren so voll Verständnis für ihre Kinder, zum Bei- als das Leben in einer Diktatur. spiel in der DDR der Vater von Thomas Brasch ...
Simone Schmollack lebt und arbeitet als .... der zeitweilig stellvertretender Kulturminister Journalistin und Autorin in Berlin. war .... Sie schreibt für Tageszeitungen und Journale und ist Autorin verschiedener Bücher. forderte damals, dass sein Sohn keine schonungs- In ihren Texten beschäftigt sie sich vor allem volle Behandlung erfährt nur deswegen, weil seine mit Fragen an der Schnittstelle von Politik, Eltern gute Genossen waren …Er vertrat also, Privatheit und Alltag.
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Rumänien 1968: Kontext, Geschehnisse und Folgewirkungen Anton Sterbling
Die Situation Rumäniens im Jahr 1968 steht gegen- scher Herrschaft – im Zusammenbruch des spätsta- über der in anderen östlichen Staaten wie der da- linistischen Ceausescu-Regimes,1 der andere Strang maligen Tschechoslowkei, Ungarn und Polen im – wenn man entsprechende intellektuelle und Hintergrund der Wahrnehmung. Aber welche Ein- mentale Fernwirkungen so interpretieren möchte flüsse von den damaligen gesellschaftlichen und – im demokratischen Neuanfang und letztlich in politischen Veränderungsprozessen auch auf die der Aufnahme Rumäniens in die Europäische rumänische Gesellschaft, vor allem intellektuelle Union, die bekanntlich zum 1. Januar 2007 erfolgte Kreise und Kunstschaffende ausgingen, stellt An- und heute mit einer eindrucksvollen Entwicklungs- ton Sterbling in seinem Artikel dar. Er verdeutlicht, dynamik verbunden erscheint.2 wie die damaligen Prägungen dieser Bevölke- rungskreise zusammen mit den Massendemonstra- Natürlich ist es eine gewagte Deutung, solche tionen den politischen Systemwandel in Rumänien Nachhaltigkeit anzunehmen, dennoch spricht aus bewirkten und schließlich auch zur Mitgliedschaft meiner Sicht einiges dafür, die Tragweite eines sol- in der Europäischen Union führten. chen Erklärungsansatzes zumindest zu prüfen. Wenn man den Einflüssen des Jahres 1968 auf spä- tere politische Umbrüche und gesellschaftliche Veränderungen nachgeht, wird man sicherlich we- Im Jahr 1968 schienen in Rumänien – zumindest für niger direkte Wirkungen, sondern eher untergrün- kurze Zeit und aus der damaligen Wahrnehmungs- dige Vermittlungszusammenhänge wie auch nicht perspektive – mehrere Entwicklungsstränge sehr intendierte Effekte in den Blick nehmen müssen - eng beieinander zu liegen, ja gleichsam ineinander also ein vielschichtiges Entwicklungsgeschehen, zu greifen, die danach allerdings erneut deutlich das dennoch eine unverkennbare Relevanz der auseinander strebten. Der Anschluss an die „Mo- Hoffnungen, Erwartungen, Ereignisse und Erfah-
Verschiedene Entwick- ©Lothar Henke/pixelio.de lungen schienen im damaligen Zeithorizont zusammen zu finden, einer einheitlichen Tendenz zu folgen, ehe man erkannte, dass dies keineswegs so ist derne“ in der Kunst, die Wiedereingliederung in das internationale System der Wissenschaften, Verän- derungen im Zeichen west- licher Konsumeinflüsse und Lebensstile, nicht zu- letzt die Wirkungen der damals rasch die System- grenzen überspringenden Beatmusik und Jugendpro- testkultur, der „Prager Alle Entwicklungen schienen in eine Richtung zu laufen. Frühling“ und seine Aus- Einfahrt zur Bicazklamm/Ostrumänien strahlung auf ganz Osteu- ropa, die rumänische Außen- und Innenpolitik so- rungen der späten 1960er Jahre für den demokra- wie der intellektuelle Aufbruch der sogenannten tischen Aufbruch rund zwanzig Jahre danach er- „Tauwetterperiode“ in der Kultur und Kulturpoli- tik Rumäniens – alle diese Entwicklungen schienen 1 Siehe: Anneli Ute Gabanyi: Systemwechsel in Rumänien. im damaligen Zeithorizont zusammen zu finden, Von der Revolution zur Transformation, München 1998. einer einheitlichen Tendenz zu folgen, ehe man er- 2 Siehe: Anton Sterbling: Rumänien und Bulgarien als neue kannte, dass dies keineswegs so ist. Der eine Ent- Mitglieder der Europäischen Union, in: Spiegelungen. Zeit- wicklungsstrang endete sodann – nach über zwei schrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Jahrzehnten immer düsterer nationalkommunisti- Jg. 2/56, München 2007 (S. 3 – 9).
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kennen lässt. Und natürlich auch für die Europäi- Vittorio de Sica, Federico Fellini oder Elia Kazan oder sierungsbestrebungen, mit denen dieser seit An- Politkrimis (z. B. „Blow up“ oder „Z“), die zumindest fang der 1990er Jahre einherging. kurze Zeit übrigens auch rumänische Filmemacher zu gewagteren Produktionen (z. B. „Die Macht und die Wahrheit“ oder „Kranke Tiere“) inspirierten. Die „Tauwetterperiode“ und das Jahr 1968 in Rumänien Quelle: www.zeno.org In wenigen Stichworten lässt sich die vergleichs- weise günstige kulturelle, gesellschaftliche und po- litische Situation der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, die im Jahr 1968 einen Höhepunkt an Öff- nungen, Freizügigkeiten und Hoffnungen erreich- te, gleichsam aber auch bereits ihren Wendepunkt fand, wie folgt umreißen:
In der Kultur und Kulturpolitik zeichnete sich be- reits seit der ersten Hälfte der 1960er eine vorsich- tige Liberalisierung ab, wobei man etwa ab 1965 von einem zunehmend offeneren, liberaleren Kul- turklima, das ganz zutreffend als „Tauwetterperio- de“ bezeichnet wurde,3 sprechen kann. Bezieht man sich beispielsweise In der Kultur und Kul- auf die Literatur – und turpolitik zeichnete hierbei auch und nicht sich bereits seit der er- zuletzt auf die rumä- sten Hälfte der 1960er niendeutsche Literatur4 Jahre eine vorsichtige – so kann man ohne je- Liberalisierung ab de Einschränkung von einem eindrucksvollen und nachhaltigen Einzug und Durchbruch der „Moderne“ sprechen, nachdem knapp zwei Jahr- zehnte lang die Dogmen und Klischees des soge- nannten „sozialistischen Realismus“ Literatur und Kunst beherrschten. Avantgardistische Lyrik, Surre- alismus, absurdes Theater, aber auch gesellschafts- kritische Literatur des Westens wurden nicht nur Verfilmungen von Werken Franz Kafkas wurden damals rezipiert, sondern bestimmten mehr und mehr in rumänischen Kinos gezeigt. auch die Schreibtechniken und Denkweisen eines Franz Kafka, 1906 (Fotografie aus dem Atelier Jacobi) Teils der jüngeren Schriftsteller.
Um das Jahr 1968 erlebten viele Theater, auch Pro- Natürlich auch und vor allem die Rock-, Pop- und vinzbühnen, eine erstaunliche Belebung, insbeson- Beatmusik, nicht nur der „Beatles“, „Rolling Sto- dere durch zeitgenössische Stücke. Und in rumä- nes“ usw., sondern auch eines Jimi Hendrix oder ei- nischen Kinos liefen manch aufsehenerregende ner Janis Joplin wurden im Rumänien der 1960er westliche Filme, keineswegs nur Unterhaltungsfil- Jahre von einem erheblichen Teil jüngerer Men- me, sondern beispielsweise auch Literaturverfil- schen mit Begeisterung aufgenommen und sicher- mungen (etwa „Der Prozeß“ nach Franz Kafka, mit lich teilweise durchaus Orson Welles), gesellschaftskritische Filme eines Die teilweise idealisiert auch als Ausdruck eines wahrgenommene neuen, unkonventionel- 3 Siehe auch: Anneli Ute Gabanyi: Partei und Literatur in Ru- westliche Konsum- len, emanzipierten Le- mänien seit 1945, München 1975. und Lebenswelt übte bensgefühls wie auch ei- 4 Siehe dazu eingehender: Anton Sterbling: Zum Abschied ei- auf breite Bevölke- ner mehr oder weniger ner Minderheit. Gedanken zum „Nachruf auf die rumänien- rungskreise in Rumä- radikalen Protestkultur, deutsche Literatur“, in: Südosteuropa. Zeitschrift für Gegen- nien eine nachhaltige eines weltweiten kultu- wartsforschung, 40. Jg., München 1991 (S. 211 – 223). Faszination aus rellen und politischen
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Aufbruchs empfunden. Wahrscheinlich noch stär- schen Materialismus“9 lässt sich nicht nur eine kriti- ker als dies war die Wirkung der westlichen Kon- sche Auseinandersetzung mit der idealistischen sumwelt und der damit zusammenhängenden Le- deutschen Philosophie, mit den zeitgenössischen bensstile, die mit der Öffnung des Fensters zum Erkenntnistheorien und Wissenschaftsphiloso- Westen durch Kunst und Massenmedien, aber auch phien wie auch mit den „bürgerlichen Sozialwis- durch den zunehmenden Strom westlicher Touristen, senschaften“ nachlesen. Es lassen sich auch be- die damals nach Rumänien kamen, einherging.5 Die- stimmte Adaptationsversuche grundlegender se, teilweise idealisiert wahrgenommene westliche Gedanken der Systemtheorie und des Funktiona- Konsum- und Lebenswelt übte auf breite Bevölke- lismus feststellen und nicht zuletzt eine auffällige rungskreise, insbesondere aber auf Alterskohorten, Sympathie für den französischen Strukturalismus die in den 1960er Jahren prägende Phasen ihrer Sozi- erkennen. alisation erlebten,6 eine nachhaltige Faszination aus. Die Entwicklung der rumänischen Soziologie10 bil- Es sei in diesem Zusammenhang auch auf die sozi- det ein besonders anschauliches Beispiel für die alstrukturellen Entwicklungsaspekte hingewiesen: wissenschaftlichen und intellektuellen Öffnungen Rumänien erlebte in den 1960er Jahren nicht nur in der Zeit der „Tauwetterperiode“. Nachdem die einen beachtlichen Industrialisierungs- und Urbani- rumänische Soziologie bereits in der ersten Hälfte sierungsschub, sondern auch eine bemerkenswerte unseres Jahrhunderts und insbesondere in der Bildungsexpansion,7 die den auch zunehmend ge- Zwischenkriegszeit zu einer durchaus beachtlichen burtenstärkeren Jahrgängen der 1950er Jahre rela- Entfaltung kam, haben die kommunistische Macht- tiv günstige Bildungschancen und kulturelle Selbst- ergreifung und der Stalinismus auch in Rumänien entfaltungsmöglichkeiten eröffnete. Auf diesen zur zeitweiligen Eliminierung dieser Wissenschaft Gesichtspunkt wird später nochmals zurückzukom- aus dem universitären Fächerkanon und zu ihrer men sein, denn damit finden sich aus meiner Sicht undifferenzierten Bekämpfung als „bürgerliche strukturelle Ursachen und Grundmotive jener Ideologie“ geführt. Erst Anfang der 1960er Jahre nichtintendierten Wirkungen bezeichnet, die in kam es zu einer zunächst vorsichtigen, dann recht den Jahren 1989/1990 wesentlich zum Niedergang vielversprechenden Erneuerung der rumänischen der kommunistischen Herrschaft und demokrati- Soziologie, ehe diese in den 1970er und 1980er schen Aufbruch beitrugen. Jahren erneut weitgehenden Einschränkungen und ideologischen Zwängen unterworfen wurde. Die „Tauwetterperiode“ hat durchaus auch in den Der insbesondere in der zweiten Hälfte der 1960er Wissenschaften deutliche Spuren hinterlassen. Be- Jahre erfolgte zügige Wiederaufbau der Soziolo- merkenswert und aufschlussreich für das damalige gie hat in relativ kurzer Zeit zur akademischen Ver- geistige Klima erscheint zum Beispiel, dass in die- ankerung des Faches an mehreren rumänischen sen Jahren rumänische Übersetzungen westlicher Universitäten geführt, eine beachtliche Infrastruk- bzw. kritischer Autoren wie zum Beispiel von Ro- tur zur empirischen Forschungsarbeit geschaffen, ger Garaudy, Louis Althusser, Lucien Goldmann, ein fachspezifisches Publikationswesen ins Leben Norbert Wiener, Georg Lukács, Hermann István gerufen und natürlich auch zu einigen bemerkens- oder C. Wright Mills erscheinen konnten.8 Selbst in werten Veröffentlichungen beigetragen.11 Die der damaligen offiziellen Fassung des „Dialekti- inhaltlichen Schwerpunkte der soziologischen For- schung lagen u. a. in den Bereichen der Me- 5 Siehe ausführlicher: Susanne Hütten/Anton Sterbling: Expres- siver Konsum. Die Entwicklung von Lebensstilen in Ost- und 9 Dies gilt selbst noch für die Ausgabe des Jahres 1973. Siehe: Westeuropa, in: Jörg Blasius/Jens S. Dangschat (Hrsg.): Lebens- Alexandru Valentin (Koordinator): Materialismul Dialectic (Dia- stile in den Städten. Konzepte und Methoden, Opladen 1994 lektischer Materialismus), Bukarest 1973, insb. S. 200 ff. (S. 122 – 134). 10 Siehe dazu auch: Anton Sterbling: Anmerkungen zur 6 Zum Erklärungsansatz von Generationenlagen siehe auch: schwierigen Entwicklung und zum gegenwärtigen Stand der Bálint Balla/Vera Sparschuh/Anton Sterbling (Hrsg.): Karl Mann- rumänischen Soziologie, in: Birgit Hodenius/Gert Schmidt heim – Leben, Werk, Wirkung und Bedeutung für die Osteuro- (Hrsg.): Transformationsprozesse in Mittelost-Europa. Ein paforschung, Hamburg 2007, insb. IV. Teil, S. 169 ff. Zwischenbefund. Sonderheft 4 der Soziologischen Revue, Mün- 7 Siehe auch: Anton Sterbling: Strukturfragen und Modernisie- chen 1996 (S. 256-271). rungsprobleme südosteuropäischer Gesellschaften, Hamburg 11 Siehe: Andrei Roth/Georg Weber: Rumänische Soziologie 1993. unter Ceausescu und Trends in der Gegenwart, in: Heinrich 8 Diese und andere Autoren erschienen in der Reihe: Idee Con- Best/Ulrike Becker (Hrsg.): Sozialwissenschaften im neuen Ost- temporane (Zeitgenössische Ideen) des Politischen Verlages europa. Social Sciences in a New Eastern Europe, Bonn-Berlin (Editura Politica) in Bukarest. 1994 (S. 29 – 50).
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dienforschung, der Land- und Agrarsoziologie, der dem Warschauer Pakt – aus dem Rumänien aller- Familien- und Frauenforschung, der Bildungs- und dings nicht offiziell ausgetreten ist – wie auch eine Jugendforschung, der Arbeits- und Arbeitsplatz- vorübergehend vielversprechende „Westorientie- forschung, der Freizeitforschung, auch der Unter- rung“ der rumänischen suchung „sozialer Probleme“ sowie der später In der „Tauwetterperio- Außenpolitik. Nachdem immer stärker ideologisch ausgerichteten und de“ erfolgte eine fort- alle sowjetischen Trup- instrumentalisierten Forschung über ethische Wert- schreitende Distanzie- pen Rumänien bereits orientierungen, Lebensvorstellungen, Politik und rung Rumäniens von 1958 verlassen haben, Ideologie. der Sowjetunion und verabschiedete das Zen- dem Warschauer Pakt tralkomitee der rumäni- Ein anderes Beispiel wäre die Geschichtswissen- schen kommunistischen schaft; auch sie – wie die Soziologie – eine be- Partei im Jahre 1964 eine aufsehenerregende „Un- sonders sensible ideologie- und herrschaftsrele- abhängigkeitsresolution“,13 in der unter anderem vante Wissenschaft. Auch die rumänische die Gleichberechtigung aller kommunistischen Par- Geschichtswissenschaft durchlief eine Entwicklung, teien und das Recht jedes Landes auf einen eige- die von ihrer Zerschlagung als „bürgerliche Wissen- nen sozialistischen Entwicklungsweg eingefordert schaft“ über ihre weitge- wurden. Nahezu zeitgleich wurden die Beziehun- Die Entwicklung der hende „klassentheoreti- gen zu den USA substanziell verbessert. In der Fol- rumänischen Soziolo- sche“ Dogmatisierung gezeit normalisierten und intensivierten sich die gie bildet ein be- in der Zeit des Stali- politischen Beziehungen Rumäniens auch zu einer sonders anschauliches nismus zu einer erneu- Reihe anderer westlicher Staaten in Europa und Beispiel für die wissen- ten wissenschaftlichen darüber hinaus. Im Januar 1967 nahm Rumänien – schaftlichen und intel- Professionalisierung so- als erstes Land unter den Staaten des Warschauer lektuellen Öffnungen wie Hinwendung und Paktes und gegen den ausdrücklichen Widerstand in der Zeit der „Tauwet- Entkrampfung natio- der DDR – diplomatische Beziehungen zur Bundes- terperiode“ nalhistorischen Themen republik Deutschland auf. Dem ging voraus und gegenüber in der Zeit folgte zeitweilig auch eine spürbare Verbesserung der „Tauwetterperiode“ der allgemeinen Situation wie auch der kulturellen führte, ehe sie sich – zumindest teilweise, keines- Entfaltungsmöglichkeiten der in Rumänien leben- wegs vollständig – dann in den späten 1970er und den ethnischen Minderheiten,14 nicht zuletzt der 1980er Jahren wieder zu einer weitgehend ideolo- deutschen Minderheit. Rumänien brach als einzi- gisierten, nationalistische Mythen fördernden und ger Mitgliedstaat des Warschauer Paktes 1967, produzierenden Pseudowissenschaft wandelte nach dem Sechs-Tage-Krieg, übrigens auch nicht oder sich auf ideologisch unverdächtige For- die diplomatischen Beziehungen zu Israel ab, son- schungsgebiete zurückzog.12 dern unterhielt zu diesem in der sonstigen kommu- nistischen Welt damals wie in der Zeit danach ver- Die gesamten kulturellen, wissenschaftlichen und femten Staat durchgängig normale Beziehungen intellektuellen Entwicklungen, die knapp umrissen aufrecht. und exemplarisch illustriert wurden, waren natür- lich – wie bereits kurz angesprochen – in einen Ge- Ansätze zu Wirtschaftsreformen, die in den 1960er samtzusammenhang sozialstruktureller Wand- Jahren nahezu in allen sozialistischen Staaten Ost- lungsprozesse sowie außen- und innenpolitischer europas zu beobachten waren15 und die in der Kontextbedingungen eingebettet, auf die an dieser Stelle zumindest knapp hingewiesen werden sollte. 13 Siehe auch: Anneli Ute Gabanyi: Partei und Literatur in Ru- mänien seit 1945, München 1975, insb. S. 82. In dem Zeitraum, der als „Tauwetterperiode“ be- 14 Zur Entwicklung der Minderheitensituation und der inter- zeichnet wurde, erfolgte eine fortschreitende Dis- ethnischen Beziehungen in Rumänien siehe auch: Anton Sterb- tanzierung Rumäniens von der Sowjetunion und ling: On the Development of Ethnic Relations and Conflicts in Romania, in: Christian Giordano/Ina-Maria Greverus (Hrsg.): 12 Siehe dazu näher: Alexandru Zub: Orizont închis. Istoriogra- Ethnicity, Nationalism and Geopolitics in the Balkans (II), fia româna sub dictatura (Geschlossener Horizont. Die rumäni- Sonderheft des Anthropological Journal on European Cultures, sche Historiographie unter der Diktatur), Iasi 2000; Lucian Boia: Band 4, Heft 2, Fribourg-Frankfurt a. M. 1995 (S. 37 – 52). Geschichte und Mythos. Über die Gegenwart und Vergangen- 15 Siehe: Christoph Boyer (Hrsg.): Zur Physionomie sozialistischer heit in der rumänischen Gesellschaft, Köln-Weimar-Wien 2003; Wirtschaftsreformen. Die Sowjetunion, Polen, die Tschechoslo- Anton Sterbling: Stalinismus in den Köpfen, in: Orbis Lingua- wakei, Ungarn, die DDR und Jugoslawien im Vergleich, Frank- rum, Band 27, Wroclaw/Breslau 2004 (S. 23 – 38). furt a. M. 2007.
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©Lothar Henke/pixelio.de stränge: nämlich eine fort- schreitende Liberalisierung von Wissenschaft und Kunst, die Modernisierung, Demokratisierung und Plu- ralisierung der Gesellschaft, eine zunehmende Distan- zierung von der Sowjet- union und gleichzeitig eine immer stärkere Westorien- tierung, die Beteiligung an einer weltweiten Erneue- rungs- und Emanzipations- bewegung sowie die offi- zielle Politik Rumäniens aufs engste miteinander verknüpft, einer gemeinsa- men Tendenz zu folgen; doch dies erwies sich als ein Irrtum, denn die ganze Sibiu/Hermannstadt: einst wichtigste Stadt im Siedlungsgebiet der Siebenbürger Geschichte hatte noch eine Sachsen andere, von den hoffnungs- vollen Intellektuellen, den jugendlichen Enthusiasten Rumänien beteiligte Tschechoslowakei mit und den in ihrer Kreativität gerade erst emanzipier- sich nicht am Einmarsch den wohl weitreichend- ten und entfesselten Künstlern leichtfertig überse- der Staaten des War- sten Bestrebungen der hene Seite innenpolitischer Entwicklungen. schauer Paktes im gesellschaftlichen De- August 1968 und ver- mokratisierung, Liberali- Die Festigung der Macht Nicolae Ceausescus, der urteilte diese Interven- sierung und Pluralisie- nach dem Tode Gheorghe Gheorghiu Dejs im Jahre tion ganz nachdrücklich rung einhergingen – 1965 Erster Sekretär (später Generalsekretär) der also der als „Prager Kommunistischen Partei und 1967 Staatsratsvorsit- Frühling“ bekannte Versuch der Herbeiführung ei- zender wurde, erfolgte schrittweise und konse- ner freien, emanzipierten, demokratischen Gesell- quent, aber keineswegs geradlinig.17 Sie war nicht schaft – fanden überall in Europa – und mithin nur mit einem erheblichen Personalaustausch auf auch und gerade in Rumänien – einen starken allen Machtebenen, sondern auch mit weitreichen- Widerhall. Rumänien strebte angesichts einer den und vielfach schwer durchschaubaren Verän- möglichen externen Intervention im Jahr 1968 derungen der institutionellen Machtstrukturen nicht nur einen Freundschafts- und Beistandsver- verbunden. Diese Prozesse, die sich über mehrere trag mit den Reformern in Prag und der Regierung Jahre hinzogen und die nicht zuletzt mit Entmach- Jugoslawiens an und hat sich dann auch nicht am tungsvorgängen und Machtauseinandersetzungen Einmarsch der Staaten des Warschauer Paktes im in nahezu allen institutionellen Bereichen einher- August 1968 beteiligt, sondern verurteilte diese gingen, führten nicht selten zu zeitweilig unge- Intervention ganz nachdrücklich. klärten Macht- und Zuständigkeitsverhältnissen. Dies schaffte – gewissermaßen als unintendiertes In jenen Augusttagen 1968, als Nicolae Ceausescu Nebenergebnis – in vielen Bereichen vorüberge- die gewaltsame Niederschlagung des „Prager hend beachtliche Handlungsspielräume für alle Frühling“ öffentlich, emotional bewegt und mas- Akteure und vielfach auch entsprechende Illusio- senmedienwirksam anprangerte,16 schienen im da- nen. Dass es dabei letztlich keineswegs um eine maligen Wahrnehmungshorizont vieler Menschen Demokratisierung und Verwestlichung der rumäni- – zumindest kurzfristig – mehrere Entwicklungs- schen Gesellschaft gehen sollte, sondern um die
16 Siehe auch: Daniel Ursprung: Herrschaftslegitimation zwi- 17 Siehe auch: Anton Sterbling: Zum Abschied einer Minder- schen Tradition und Innovation. Repräsentation und Inszenie- heit. Gedanken zum „Nachruf auf die rumäniendeutsche Litera- rung von Herrschaft in der rumänischen Geschichte, Kron- tur“, in: Südosteuropa. Zeitschrift für Gegenwartsforschung, stadt/Brasov 2007, insb. S. 184 ff. 40. Jg., München 1991 (S. 211 – 223), insb. S. 215 ff.
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Herrschaftssicherung einer immer stärker von ei- scheinen. Auch Schriftsteller und andere Künstler nem bizarren Personenkult geprägten neostalini- wussten durchaus, wie man die Zensur überlisten stisch-nationalkommunistischen Diktatur wurde in- oder umgehen und mithin manch subversive Bot- des erst allmählich deutlich. schaft – natürlich oft nur fein dosiert und subtil ver- schlüsselt18 – vermitteln konnte. Auf die Mechanis- men einer zunehmenden © Alexandra Bucurescu/pixelio.de Ideologisierung und Re- pression wurde nicht selten mit strategisch geschickt angelegten Formen der in- tellektuellen Subversion oder des geistigen Wider- standes reagiert. Diese mehr oder weniger deut- lichen und nachhaltigen Auseinandersetzungen zwi- schen „Macht“ und „Geist“ zogen sich rund zwei Jahr- zehnte hin. Dabei lassen sich im Rückblick durch- Parlamentsgebäude in Bukarest, das von 1984 bis 1989 nach den Vorstellungen gängig folgende intellek- des diktatorisch regierenden rumänischen Staatspräsidenten Nicolae Ceausescu tuelle Grundhaltungen bzw. errichtet wurde Typen von Intellektuellen ausmachen:
„Finstere Jahre“ der nationalkommunis- a) Intellektuelle, die den in Rumänien recht klei- tischen Spätdiktatur nen Zirkeln von Dissidenten angehörten, die in der Regel massiv verfolgt und zum Schweigen Bald nach der Niederschlagung des „Prager Früh- gebracht oder die zum Verlassen des Landes ge- lings“ wurden auch in Rumänien erneut erste An- zwungen wurden; zeichen eines kulturpolitischen „Klimawechsels“ er- kennbar. Spätestens 1971 wurde sodann eine mit b) Intellektuelle, die in ihren Arbeits- und Wir- massiven Reideologisie- kungsmöglichkeiten weitgehend eingeschränkt 1971 wurde eine mit rungsbestrebungen und waren, die zumeist streng beobachtet, kontrol- massiven Reideologi- zunehmenden Restrik- liert und überwacht wurden und die ihre Tätig- sierungsbestrebungen tionen und Repressio- keit allenfalls in marginalen Bereichen fortfüh- und zunehmenden nen gegenüber den In- ren konnten; Restriktionen und Re- tellektuellen verbundene pressionen gegenüber „Kulturrevolution“ ein- c) Intellektuelle, die für sich den Weg eines konse- den Intellektuellen geleitet. Ohne dass die- quenten Rückzugs aus der Aktualität, den Aus- verbundene „Kulturre- se Weichenstellung zu- weg einer „Weltflucht“19 oder inneren Emigra- volution“ eingeleitet nächst eine unmittelbar tion, wählten; durchschlagende Wir- kung gehabt hätte, setzte sich ihre das kreative Geistesleben paralysierende Tendenz in den fol- genden Jahren doch allmählich und zunehmend, wenn auch nicht vollständig, durch. 18 Siehe dazu auch: Anton Sterbling: Von den Schwierigkeiten des Denkens ohne Verbot. Die Rolle des Intellektuellen, der in- Die Reideologisierung der Kultur und der Wissen- tellektuelle Aufbruch und die nahezu unvermeidbaren geisti- schaften in Rumänien ab 1971 hat natürlich nicht gen Konfusionen in Osteuropa, in: Neue Literatur. Zeitschrift sofort gewirkt und ist vielfach auch auf erheblichen für Querverbindungen, Heft 4 (Neue Folge), Bukarest 1993 Widerstand gestoßen. Die soziologische Lehre ist (S. 55 – 71). beispielsweise erst 1977 wieder eingestellt worden, 19 Siehe auch: Anton Sterbling: Ambivalenzen der Moderne, bestimmte sozialwissenschaftliche Publikationen Anliegen der Kunst und künstlerische Weltflucht, in: Anton oder Übersetzungen konnten – oft zum Erstaunen Sterbling: Zumutungen der Moderne. Kultursoziologische der Autoren selbst – teilweise auch noch später er- Analysen, Hamburg 2007 (S. 91 – 112), insb. S. 109 ff.
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d) Intellektuelle, die sich so weit wie nötig anpass- Die politischen Verhält- Die politischen Verhält- ten, um ihre Tätigkeit irgendwie fortsetzen zu nisse und das offizielle nisse und das offizielle können, die aber zugleich so weit wie möglich Kultur- und Geistesle- Kultur- und Geistesleben in (innerer) Distanz zur kommunistischen Ideo- ben in Rumänien nah- in Rumänien nahmen – logie und zum Herrschaftssystem standen; men immer deutlicher insbesondere seit Mitte die Züge einer neostali- der 1980er Jahre, als Per- e) Intellektuelle, die mehr oder weniger überzeugte nistischen Diktatur an sonenkult21 und Willkür- Nationalkommunisten wurden, die ihre vormals herrschaft ihren Höhe- kritischen Funktionen aufgaben und die mithin punkt erreichten und auch eine immer stärkere zu willfährigen und zugleich reichlich mit Privile- internationale Isolation Rumäniens erfolgte – im- gien belohnten Apologeten des Systems wurden; mer deutlicher die Züge einer neostalinistischen Diktatur an, so dass – zumindest von außen be- f) Intellektuelle, die zunächst bzw. zeitweilig über- trachtet - das Land dem in historischen Mythen zeugte Kommunisten waren, die aber entweder schwelgenden und in starrer Selbstisolation ver- in Ungnade fielen oder selbst in kritische harrenden Albanien immer ähnlicher erschien.22 Distanz zum Herrschaftssystem und dessen Ide- Ein erheblicher Unterschied zu Albanien lag aller- ologie traten; dings darin, dass der engstirnigen, nicht zuletzt von nationalistischen Verblendungen bestimmten g) Intellektuelle, die im Hinblick auf ihr geistiges Reideologisierungsphase in Rumänien eine doch Format häufig eigentlich nur „Pseudointellek- zumindest einige Jahre andauernde „Tauwetterpe- tuelle“ waren, die als überzeugte Kommunisten riode“ vorausging, die bestimmte Alters- und nicht oder aber als grenzenlose Opportunisten maß- zuletzt Intellektuellen-, Künstler- und Wissenschaft- geblich an der Verbreitung der ideologischen lerkohorten mehr oder weniger stark prägte und Dogmen mitwirkten und an der ideologischen die ausgesprochen liberale und emanzipatorische Gleichschaltung und an der Gesinnungskontrol- und nicht zuletzt „westlich“ orientierte Züge auf- le und Denunziation anderer Intellektueller wies, wobei dies natürlich vielfältige Nachwirkun- maßgeblich beteiligt waren. gen hatte und untergründige Spuren hinterließ.
Es handelt sich hierbei – wie sicherlich leicht er- kennbar ist – um „idealtypisch“ erfasste intellek- 1968 und der demokratische Neuanfang und tuelle Grundhaltungen, die im Laufe der Zeit die Europäisierung Rumäniens durchaus eine sich verändernde Gewichtung und mithin auch ein unterschiedliches Mischverhältnis Die in der „Tauwetterperiode“ geprägten Orien- aufwiesen, zwischen denen einzelne Personen tierungen, Erwartungen und Hoffnungen, die sich auch mitunter wechselten und die im national- im Jahr 1968 einer Verwirklichung schon so nahe kommunistisch ausgerichteten Neostalinismus der sahen, dann aber durch eine rund zwei Jahrzehnte Ceausescu-Diktatur20 übrigens in ähnlicher Weise dauernde Zeit der Diktatur verdrängt wurden, be- wie bereits im Stalinismus in Erscheinung traten. hielten natürlich eine gewisse Relevanz und wirk- Dennoch bleibt festzuhalten, dass es nach der ten sich zumindest in zwei Hinsichten auch maß- „Tauwetterperiode“ – bei allen Repressionen und geblich auf den Niedergang der kommunistischen Rückschlägen – zu keiner vollständigen Gleichschal- Herrschaft und auf den demokratischen Neuan- tung des Geisteslebens mehr kommen konnte, wie- fang aus: als treibende Motive in den politischen wohl dies vordergründig so gewirkt haben mag. Herrschafts- und sozialen Interessenauseinander- setzungen sowie als fortbestehende intellektuelle 20 Bezogen auf diesen Zeitraum spätkommunistischer Gewalt- Leitvorstellungen einer freien und demokratischen herrschaft unterscheidet Alexandru Zub bei den Historikern Gesellschaft. folgende Grundhaltungen: radikale Ablehnung als Provokation der Machthaber; Rückzug auf einen Standpunkt des strengen 21 Siehe auch: Anton Sterbling: Das Wesen und die Schwächen Professionalismus als eine eher langfristig wirksame Wider- der Diktatur – nachgelesen in den Romanen von Herta Müller, standsform; eine Mischung von professioneller Arbeit mit in: Thomas Kron/Uwe Schimank (Hrsg.): Die Gesellschaft der Li- einem gewissen politischen Engagement, das zwar nur formal teratur, Opladen 2004 (S. 165 – 200). verstanden wurde, aber doch weitreichende Folgen hatte; die of- 22 Zum Personenkult siehe auch: Anneli Ute Gabanyi: The Ce- fene Unterstützung des Regimes; eine direkte Beteiligung an der ausescu Cult. Propaganda and Power Policy in Communist Ro- Konstruktion des Diskurses (der Ideologie) des kommunistischen mania, Bucharest 2000; Daniel Ursprung: Herrschaftslegitima- Herrschaftssystems. Siehe: Alexandru Zub: Orizont închis. Istorio- tion zwischen Tradition und Innovation. Repräsentation und grafia româna sub dictatura (Geschlossener Horizont. Die rumä- Inszenierung von Herrschaft in der rumänischen Geschichte, nische Historiographie unter der Diktatur), Iasi 2000, insb. S. 77. Kronstadt/Brasov 2007.
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© Robert Babiak/pixelio.de kontext und Bildungspro- zess sowie der soziale und kulturelle Erfahrungshin- tergrund der in den 1960er Jahren und danach akade- misch ausgebildeten Perso- nen war immer weniger dazu angetan, sie für die kommunistische Ideologie zu begeistern. Soweit bei ihnen eine Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei bestand, waren da- für kaum Gründe der ide- ologischen Überzeugung, sondern vor allem oppor- Die rumänische Wirtschaftskrise führte zu einem ständig sinkenden Lebensstandard tunistische Motive aus- Hier: Dorfszene in Siebenbürgen schlaggebend, zumal die Parteimitgliedschaft für viele Positionen und Auf- Mehr noch als in anderen ost- und südosteuropäi- stiegsprozesse eine notwendige Voraussetzung schen Gesellschaften hat die in den 1980er Jahren darstellte. Zugleich waren diese bildungsprivile- in Rumänien rasant fortschreitende Wirtschaftskri- gierten Kreise – nicht zuletzt auf Grund ihrer kultu- se immer ungünstigere Verteilungsspielräume und rellen Kompetenzen und Wissensvoraussetzungen einen ständig sinkenden Lebensstandard auch für – für die durch die Massenmedien vermittelten privilegierte und bildungsprivilegierte Bevölke- westlichen Kultureinflüs- rungskreise herbeigeführt.23 Vor allem bei den Die bildungsprivilegier- se, für subversiv wirkende Hochschulabsolventenkohorten, die ihre wissen- ten Kreise waren für die Informationen, die sich schaftliche Sozialisation in der „Tauwetterperiode“ westlichen Kulturein- aus persönlichen oder erfuhren, ergaben sich immer massivere Erwar- flüsse, die Reize und offiziellen Kontakten er- tungsenttäuschungen, nicht nur was die zuneh- Freiheiten der west- gaben, für die vielfälti- mende Repression, son- lichen Konsum- und gen Reize und Freiheiten Situationsdeutungen dern auch, was die Lebenswelt und auch der westlichen Konsum- und Interessenbestre- materiellen Lebensbedin- für die politischen und Lebenswelt – und bungen bildungsprivi- gungen und Wohlstands- Ideen des Westens teilweise zumindest auch legierter Bevölkerungs- erwartungen betraf. Dies empfänglich für die politischen Ideen kreise liefen auf eine führte zu Situationsdeu- des Westens – durchaus immer größere Distanz tungen und Interessen- empfänglich. Bei ihnen lassen sich – zumeist diffus zum politischen Herr- bestrebungen, die auf und widersprüchlich in Erscheinung tretend – wich- schaftssystem hinaus eine immer größere Dis- tige handlungsrelevante Umorientierungen kon- tanz zum politischen statieren, die man wohl am zutreffendsten als Herrschaftssystem hin- „partielle“ Verwestlichung bezeichnen kann. Diese ausliefen und die zunehmend auf einen personel- Umorientierungen in den Grundhaltungen und Ein- len, institutionellen und letztlich auch auf den po- stellungen stellen einerseits einen Bruch mit tradi- litischen Wandel ausgerichtet waren. Hinzu kamen tionalen Wertüberzeugungen dar, ebenso charak- die schon angesprochenen westlichen Einflüsse, teristisch ist für sie aber natürlich auch die die diese bildungsprivilegierten Gruppen am ehe- Unvereinbarkeit mit der kommunistischen Ideologie. sten erreichten und im Hinblick auf ihre Weltan- schauung, ihr Denken, ihren Lebensstil und nicht zu- Meine These lautet also: Zu der wachsenden Mas- letzt ihre Lebensqualitäts- und Konsumerwartungen senunzufriedenheit, die mit der fortschreitenden häufig deutlich geprägt haben. Der Sozialisations- Wirtschaftskrise zunahm, und der geringen Legiti- mität der kommunistischen Herrschaft kam die 23 Siehe zu Folgendem auch: Anton Sterbling: Zum Nieder- wachsende Unzufriedenheit und die politische Ver- gang der kommunistischen Herrschaft in Südosteuropa. Eine Er- änderungsbereitschaft immer größerer Teile der klärungsskizze, in: Anton Sterbling: Gegen die Macht der Illusio- privilegierten Bevölkerung, insbesondere der Intel- nen. Zu einem Europa im Wandel, Hamburg 2004 (S. 193 – 214). ligenz, hinzu. Der politische Wandel ist zwar von den
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Massenprotesten ausgegangen, aber zugleich von mokratischen Leitwerten ausgerichtete intellektu- privilegierten und dem Herrschaftssystem nahe- elle Denkweisen und Grundüberzeugungen. Diese stehenden Personenkreisen innerhalb und außer- haben in der Zeit der „Tauwetterperiode“ und ins- halb der Kommunisti- besondere im denkwürdigen Jahr 1968 durch die da- Der politische Wandel schen Partei, die über mals folgenreichen Öffnungsprozesse im Sinne einer ging zwar von den entsprechende politische entschiedenen „Westorientierung“ zumindest bei Massenprotesten aus, Handlungskompetenzen einzelnen Intellektuellen oder Intellektuellengrup- wurde aber zugleich und teilweise auch über pen eine unauslöschliche Prägung erfahren. Selbst von privilegierten und beachtlichen Einfluss auf wenn solche Ideen und Überzeugungen im rumä- dem Herrschaftssystem sensible Bereiche des nischen Fall zeitweilig nur kleine Trägergruppen nahestehenden Perso- Machtapparates verfüg- fanden, darf deren exemplarische Wirkung und nenkreisen in seinem ten, in seinem Ablauf nachhaltige Wirksamkeit gerade in „historischen Ablauf gesteuert weitgehend gesteuert Schlüsselsituationen“ keineswegs unterschätzt wer- worden.24 Die Massenun- den, ebenso wenig wie ihre Bedeutung in den Eu- zufriedenheit und deren punktuelle politische Mo- ropäisierungsprozessen unterschätzt werden sollte. bilisierbarkeit, die schwindende Legitimität des nationalkommunistischen Herrschaftssystems wie Diese Vorgänge haben gegenwärtig in Rumänien, natürlich auch der Wandel in der Sowjetunion und mit der Mitgliedschaft dieses Landes in der Europä- in anderen osteuropäischen Gesellschaften waren ischen Union, zu einem ohne Zweifel erfolgreichen dabei allerdings wichtige und unabdingbare Rand- und hoffnungsvollen Zwischenergebnis geführt; bedingungen. sie blieben allerdings lange Zeit im Spannungsfeld pro- und antiwestlicher Grundhaltungen und Dis- Der Veränderungs- und Reformwille einflussrei- kurse25 tief umstritten – und sind dies wohl teil- cher, dem Herrschaftssystem mehr oder weniger weise auch heute noch. Daher bleiben gleichsam nahestehender privilegierter und bildungsprivile- beide Seiten der rumänischen Erfahrungen des gierter Personenkreise war zunächst und vor allem Jahres 1968 auch für die Zukunft relevant: Einer- an deren Eigeninteressen orientiert. Denkt man an seits jene Hoffnungen, die mit Öffnung und West- die Alterskohorten, um die es sich dabei handelt, orientierung verbunden waren und sind und die kann man allerdings auch konstatieren, dass diese gegenwärtig zur demokratischen Konsolidierung Eigeninteressen eine nachhaltige Prägung durch und hoffentlich auch zu allmählichen breitenwirk- die Erfahrungszusammenhänge der „Tauwetterpe- samen Wohlstandssteigerungen führen; anderer- riode“ Ende der 1960er Jahre erfahren haben. seits die Erfahrungen des Zusammenbruchs solcher weitgreifenden Hoffnungen, die nach 1968 alsbald Ging es hierbei eher um nichtintendierte Folgewir- durch eine nationalkommunistische Diktatur zer- kungen sozialstruktureller, politischer und kultu- stört wurden, deren Nachwirkungen und Projektio- reller Wandlungsprozesse der 1960er Jahre, die sich nen auch heute noch in Gestalt einer dieses Regime 1989/1990 in vorwiegend interessengeleiteten verklärenden Nostalgie26 wie auch eines unverkenn- politischen Herrschafts- bar antiwestlich und vielfach auch extrem nationa- Die an demokratischen auseinandersetzungen listisch inspirierten Populismus erscheinen. Leitwerten ausgerich- zwischen zumeist privi- teten intellektuellen legierten Bevölkerungs- Prof. Dr. Anton Sterbling lehrt Soziologie und Denkweisen und kreisen Ausdruck ver- Pädagogik an der Hochschule der Sächsischen Grundüberzeugungen schafften, so kommen Polizei in Rothenburg und ist Mitherausgeber haben zumindest bei die Ideen, Hoffnungen der Reihe „Beiträge zur Osteuropaforschung“ einzelnen Intellektuel- und Bestrebungen des Adresse über die Hochschule: Friedensstraße len oder Intellektuel- Jahres 1968 in der Zeit 120, 02929 Rothenburg/OL lengruppen eine un- des politischen Umbruchs auslöschliche Prägung in Rumänien natürlich E-Mail: [email protected] erfahren noch in einer anderen, unmittelbareren Weise 25 Siehe auch: Anton Sterbling: Pro- und antiwestliche Diskurse zum Tragen – nämlich als konsequent an Freiheits- in Rumänien. Anmerkungen zur Gegenwart und zur Zwischen- bedürfnissen, Emanzipationsvorstellungen und de- kriegszeit, in: Anton Sterbling: Zumutungen der Moderne. Kul- tursoziologische Analysen, Hamburg 2007 (S. 133 – 152). 24 Siehe dazu eingehender: Anneli Ute Gabanyi: Die unvoll- 26 Siehe: Ulf Brunnbauer/Stefan Troebst (Hrsg.): Zwischen Am- endete Revolution. Rumänien zwischen Diktatur und Demokra- nesie und Nostalgie. Die Erinnerung an den Kommunismus in tie, München-Zürich 1990. Südosteuropa, Köln-Wien-Weimar 2007.
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Zur historischen Bedeutung des „Prager Frühlings“ 1968 Ein sozialistischer Reformversuch im sowjetischen Machtbereich Wolfram Tschiche
Der Versuch, 1968 in der damaligen Tschechoslo- Als dann am 21. August 1968 die „Bruderstaaten“ wakei den Kommunismus sowjetischen Typs zu re- mit Panzern den „Prager Frühling“ niederwalzten, formieren und zu demokratisieren, wurde auch in zerstoben nicht nur meine damaligen Hoffungen anderen Staaten des Warschauer Paktes von Men- auf eine Demokratisierung der sozialistischen Staa- schen dort mit Sympathie beobachtet. Wolfram ten, vielmehr hatten diese in meinen Augen jegli- Tschiche, der die Ereignisse als Bewohner der DDR che moralische und politische Legitimität verloren. verfolgte, beschreibt die Phasen des Prager Früh- Mein Vater protestierte öffentlich gegen die Inva- lings und seines Endes und versucht, diesen Re- sion und ich schrieb meinen ersten Protestbrief an formversuch innerhalb des sowjetischen Macht- die DDR-Führung. Staatliche Repressalien setzten bereichs aus der heutigen Perspektive historisch ein. Damit war mein Weg in die spätere sogenann- einzuordnen. te „Friedens- und Bürgerrechtsbewegung“ der DDR vorgezeichnet. Weltpolitik am Familientisch: Zwischen Hoffnungen und Befürchtungen Pauer hat zutreffend darauf aufmerksam gemacht, dass der 21. August 1968 das Scheitern des ersten Ich kann mich gut erinnern: In der ersten Hälfte Versuchs einer umfassenden friedlichen Systemre- des Jahres 1968 spielten sich am häuslichen Fami- form im damaligen Ostblock markiert. Und er fügt lientisch – es war der eines evangelischen Pfarrhau- hinzu, dass am 21. August 1991 der letzte gewalt- ses – Debatten um die Erfolgsaussichten eines „So- same Versuch, den durch die „Perestrojka“ einge- zialismus mit menschlichem Antlitz“ ab, der die leiteten Systemwandel und den Zerfall des sowjeti- Chance zu haben schien, sich in der CSSR unter der schen Machtbereichs zu stoppen, gescheitert sei. Führung der KPC durchzusetzen. Es war eine De- Das zweite Datum verweise auf das Scheitern künf- batte, die zugleich von Hoffnungen und Befürch- tiger Möglichkeiten, den Systemwandel mit einer tungen geprägt war. gewaltsamen Restauration aufzuhalten. Das Ende des Putschversuches bedeute nicht nur den Zerfall Die Hoffnungen bezogen sich auf das Gelingen der des sowjetischen Imperiums, sondern auch das En- reformsozialistischen Schritte im Nachbarland und de aller Versuche, das bestehende realsozialistische grundsätzlich auf die Versöhnung von sozialisti- System zu reformieren.1 scher und demokratischer Tradition. Wäre es sogar denkbar, dass sich das reformsozialistische Modell auf alle Staaten des sowjetischen Machtbereiches Vorgeschichte, Verlauf und Akteure des „Pra- ausdehnen ließe und damit der gesamten Welt – ger Frühlings“ 1968 auch der kapitalistisch-bürgerlichen – eine Alterna- tive zum Bestehenden böte? Bevor wir auf die Auseinandersetzung um das Erbe des „Prager Frühlings“ eingehen, wollen wir rück- Zugleich stellten sich massive Befürchtungen ein: blickend auf die Vorgeschichte, den Verlauf und Niemals würden die Exponenten des „realen Sozia- die wichtigen Akteure dieses Versuchs eines „Sozi- lismus“ dulden, dass sich der sozialistische Reform- alismus mit menschlichem Antlitz“ in der CSSR ver- versuch in der CSSR durchsetzt, sich sogar als weisen.2 gefährlicher politischer Virus über die tschechoslo- wakischen Grenzen hinaus ausbreitet, um somit Das Jahr 1968 war ein Jahr weltweiter Rebellionen, die sozialistischen Nachbarländer zu infizieren. der kulturellen und politischen Innovationen in der westlichen und östlichen Hemisphäre. In diesem In den Augen der kommunistischen Führungsriege Weltzusammenhang ereignete sich 1968 der „Pra- des sowjetischen Machtbereichs fand in der CSSR in ger Frühling“ in der CSSR. der ersten Hälfte des Wer in dieser Weise Jahres 1968 schlicht eine Innerhalb des Ostblocks sehnte sich nicht nur in der die Machtfrage stellte, Konterrevolution statt, Tschechoslowakei das Volk nach Freiheit. Anfang unterminierte das womit die Machtfrage Machtmonopol der gestellt war. Uns war be- kommunistischen wusst: Wer in dieser 1 vgl. Jan Pauer: Prag 1968. Der Einmarsch des Warschauer Pak- Parteien und deren Weise die Machtfrage tes. Hintergründe – Planung – Durchführung, Bremen 1995 Führungen stellte, unterminierte das 2 Bisher umfangreichste Dokumentation und Kommentierung: Machtmonopol der kom- Stefan Karner/Natalja Tomilina/Alexander Tschubarjan u. a. munistischen Parteien und deren Führungen. Somit (Hrsg.): Prager Frühling. Das internationale Krisenjahr 1968. erschien ein gewaltsames Vorgehen unausweichlich. Bd. 1: Beiträge und Bd. 2: Dokumente, Köln, Weimar, Wien 2008
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März 1968 rebellierten in Polen Studenten und Ar- tierung ausrichten. Die wirtschaftlichen Planungen beiter. In Warschau und Krakau kam es zu schwe- wurden stärker in die Betriebe selbst verlagert und ren Zusammenstößen zwischen demonstrierenden Handelsverträge abgeschlossen. Ein gewisses Maß Studenten und der Polizei. Im Gegensatz zur Tsche- an Marktmechanismen – „Ware-Geld-Beziehung“ choslowakei wurde das Aufbegehren gegen die – wurde wirksam. kommunistische Herrschaft brutal im Keim erstickt. Von der KPC wurde noch eine zweite Kommission In der langen Reihe der Krisen, Aufstände und eingesetzt, die sich mit der Reform des politischen unterdrückten Reformversuche in den Ländern des Systems befasste und von dem ZK-Sekretär Zdenek Sowjetimperiums nahm der sog. „Prager Frühling“ Mlynar geleitet wurde. einen besonderen Platz Erst das Zusammen- Erst das Zusammengehen Im Fall des tschechoslo- ein. Anders als 1956 in gehen von Wirtschafts- von Wirtschaftsreformen wakischen Reformpro- Ungarn, wo ein nationa- reformen und Umbau und Umbau des politi- zesses 1968 handelte ler Aufstand das kom- des politischen Systems schen Systems, welches es sich um den ersten munistische Regime für schuf die Brisanz der auf die Stärkung der Versuch, von oben eine kurze Zeit hinwegfegte, Reformkonzeption staatlichen Institutionen friedliche Systemre- und im Unterschied zur hinauslief, schuf die Bri- form zu erreichen polnischen „Solidarnosc“- sanz der Reformkonzeption, die Sik mit den Wor- Bewegung 1980/81, die ten charakterisierte: „Unter den heutigen Bedin- sich als systemsprengende Opposition entwickelte, gungen ist es nicht möglich und auch nicht nötig, handelte es sich im Fall des tschechoslowakischen dass die Partei den gesamten Macht- und Füh- Reformprozesses 1968 um den ersten Versuch, von rungsapparat im Detail lenkt und kontrolliert“.4 oben eine friedliche Systemreform zu erreichen. Befürworter einer freieren Gesellschaftsordnung Um die tschechoslowakische Entwicklung in der er- war vor allem eine Reihe von Schriftstellern, die sten Jahreshälfte 1968 zu verstehen, muss man wis- mehr als nur eine Fortführung der Entstalinisie- sen, dass die KPC mit ihrem Reformversuch auf ihre rung verlangten. Auf dem 4. Tschechoslowakischen Programmatik von 1945, die auf einen eigenstän- Kongress des Schriftstellerverbandes im Juni 1967 digen Weg zum Sozialismus zielte, zurückgriff. Im kritisierten sie – u. a. Vaclav Havel und Pavel Ko- Gegensatz zu den anderen kommunistischen Par- hout – die wirtschaftlichen, politischen und sozia- teien des Ostblocks kam die KPC 1946 über freie len Zustände im Land und griffen die Parteifüh- Wahlen an die Macht, um sie allerdings 1948 ganz rung der KPC offen an. für sich zu okkupieren und einen poststalinisti- schen Staat einzurichten. Solche kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungen erregten das Misstrauen Moskaus. Zur unmittelbaren Vorgeschichte des „Prager Früh- Im Dezember 1967 unternahm der sowjetische Par- lings“ gehörten auch der Tod Stalins und der spä- teichef Leonid Breschnew einen überraschenden ter folgende Beginn der Entstalinisierung. Und in Besuch in Prag. Dieser markierte das endgültige diesem Zusammenhang sei an Chruschtschows Ge- Ende der Unterstützung des Kremls für Novotny, heimrede auf dem XX. Parteitag 1956 erinnert, der das Amt des Parteichefs und Staatspräsidenten welche in der Tschechoslowakei sowie in den ande- innehatte, und der 1964 als einziger Ostblock- ren „Volksdemokratien“ zu einer Verurteilung des Staatschef gegenüber Chruschtschows Absetzung stalinistischen Personenkultes und zur Erschütte- durch Breschnew eine kritische Haltung eingenom- rung der kommunistischen Regime führte. men hatte.
1964 wurde Ota Sik als Leiter einer Regierungs- Eine wesentliche Rolle spielte auch der Widerstand kommission für wirtschaftliche Reformen einge- Novotnys gegen die Stationierung sowjetischer setzt. Seine wirtschaftspolitischen Vorstellungen Truppen, der zu einer Verschlechterung der tsche- wurden durch den Begriff der „sozialistischen choslowakisch-sowjetischen Beziehungen führte. Marktwirtschaft“ bekannt.3 Zwar sollten die Pro- Die von Breschnew bereits 1965/66 auf tschechos- duktionsmittel im Staatseigentum bleiben, jedoch lowakischem Boden geforderte Stationierung so- sollte sich die Wirtschaft stärker auf Absatzorien-
4 Zdenek Hejzlar: Reformkommunismus. Zur Geschichte der 3 vgl. Ota Sik: Prager Frühlingserwachen. Erinnerungen, Her- kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, Köln/Frank- ford 1988 furt/M. 1976, S. 146
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wjetischer Truppen wurde von ihm abgelehnt. In der Sowjetunion und den Verbündeten konzen- diesem Zusammenhang begann unter den sowjeti- triert.5 schen Militärs eine Diskussion über die sicherheits- politische Lücke, welche die Tschechoslowakei in Somit wurde die erste Phase des „Prager Frühlings“ der Frontlinie des Warschauer Paktes darstellte. mit einem Paukenschlag eröffnet: Am 5. Januar 1968 musste Novotny von seinem Posten als erster Einer der zentralen innenpolitischen Konflikte der Sekretär der KPC zurücktreten. Ihm folgte der slo- CSSR, der 1968 zum Ausbruch kam, war die Unzu- wakische Parteichef Alexander Dubcek nach. Der friedenheit der Slowaken mit dem Prager, sprich Wechsel an der Parteispitze kennzeichnete den Be- tschechischen Zentralismus. Die Slowaken verlang- ginn des „Prager Frühlings“ und signalisierte einen ten eine Föderation und eine angemessene Beteili- Ausgleich zwischen Tschechen und Slowaken. Zuvor gung an der Führung des Landes. waren massive Proteste gegen den Prager Zentra- lismus und die Beschneidung der Volkgruppenrech- Was wir gemeinhin als „Prager Frühling“ bezeich- te durch Novotny laut geworden. Von Beginn an nen, spielte sich in den wenigen Monaten zwi- versuchte Dubcek, seine Vorstellung eines „Sozia- schen Januar und August 1968 ab. Dessen Ablauf lismus mit menschlichem Antlitz“ durchzusetzen, hat Mlynar in drei Phasen und brüskierte bereits Anfang März 1968 den Was wir gemeinhin als eingeteilt, wobei in der Kreml, indem er die Einladung einer Militärdelega- „Prager Frühling“ ersten Phase zwischen tion nach Moskau ablehnte. Seit dem Dresdener bezeichnen, spielte Januar und März Strei- Treffen im März 1968 – ohne die tschechoslowaki- sich in den wenigen tigkeiten um Sekretärs- sche Führung – kam es zur Bildung einer Anti-Re- Monaten zwischen und Ministerposten aus- form-Allianz innerhalb des Warschauer Paktes und Januar und August getragen worden seien. zur Charakterisierung der tschechoslowakischen 1968 ab Während der zweiten Entwicklung als „Konterrevolution“. Trotzdem Phase zwischen März nahm das Plenum der KPC Anfang April 1968 (auf und Juni sei es zur Veröffentlichung des Aktions- der ZK-Tagung vom 01.04. bis 05.04. verabschiedet) programms der KPC und Erprobung einiger neuer das sog. „Aktionsprogramm“ an.6 Damit hatte die Mechanismen des politischen Systems gekommen. KPC weitgehend auf ihr Machtmonopol verzichtet Bis zur Intervention der Warschauer Vertragsstaa- und den Weg der Umsetzung eines föderativen ten sei lediglich die Abschaffung der Zensur und Konzepts für die Tschechoslowakei beschritten. des Rehabilitierungsgesetzes verabschiedet wor- den. Schließlich habe sich die Führung in der drit- Nach Maßgabe der Reformkommunisten unter Füh- ten und letzten Phase zwischen Juni und August rung Dubceks sollte die radikale Trennung der auf die Abwendung des drohenden Konflikts mit Macht- und Führungsebene von der Bevölkerung durch neue Möglichkeiten der Artikulation und Teilha- be gesellschaftlicher Inter- essengruppen ersetzt, das niedrige Niveau der staats- gelenkten Wirtschaft durch
5 vgl. Zdenek Mlynar: „Prager Frühling 1968 und die gegenwär- tige Krise politischer Systeme so- wjetischen Typs“, in: Ders. (Hrsg.): Der „Prager Frühling“. Ein wissen- schaftliches Symposium, Köln 1983, S. 17 - 67; vgl. Ders.: Nacht- frost. Erfahrungen auf dem Weg vom realen zum menschlichen So- zialismus, Frankfurt/M. 1978 6 „Aktionsprogramm“ (Auszüge), in: Dieter Segert: Der Prager Früh- Quelle: Wikipedia/Fotograf: Kelovy ling. Gespräche über eine europäi- Grab von Alexander Dubcek, Symbolfigur des Prager Frühlings sche Erfahrung, Wien 2008, 26ff.
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die Einführung marktwirtschaftlicher Elemente ge- Mit diesem Reformprojekt rief er seine Feinde auf hoben, die Autonomie von Kultur und Wissen- den Plan. Der Druck entfaltete sich auf zwei Seiten: schaft garantiert, die Außenpolitik verselbständigt Von den Hardlinern des Kreml und den KP-Chefs und auf Kooperation statt auf Konfrontation mit Walter Ulbricht und Wladyslaw Gomulka einerseits dem Westen umgestellt werden. Mit der Abschaf- und von den restaurativen, orthodoxen Kräften in fung der Zensur und der Ablehnung von Gewalt der CSSR andererseits. Letztere konnten sich aber sowie politischer Verfol- nicht gegen die Reformer in der KPC durchsetzen.8 Die starke Solidarisie- gung als legitimes Mittel rung weiter Teile der der Innenpolitik ermög- Die Reformbemühungen der neuen KPC-Führung Bevölkerung fand ihren lichten die Reformkom- hatten nicht nur die Schleusentore für die Kommu- gemeinsamen Ausdruck munisten die Entstehung nistische Partei geöffnet. Es vollzog sich die Grün- in der Ablehnung des einer unabhängigen Öf- dung neuer Vereine, wie der Klub „K-231“ (nach bestehenden real- fentlichkeit und damit einem Strafgesetzartikel) und „KAN“ („Klub enga- sozialistischen Systems die Entfaltung einer zi- gierter Parteiloser“), die zum Sammelbecken von bei gleichzeitiger vilen Gesellschaft. Die- Reformern außerhalb der Partei wurden; Dis- Bejahung demokra- ser politische Reform- kussionen zur Neugründung der Sozialdemokrati- tischer und prosozialis- prozess führte zu einer schen Partei setzten ein, tischer Orientierung starken Solidarisierung Es vollzog sich ein Auf- und es vollzog sich ein weiter Teile der Bevöl- bruch der katholischen Aufbruch der katholi- kerung. Sie fand ihren gemeinsamen Ausdruck in Kirche nach Jahren der schen Kirche nach Jah- der Ablehnung des bestehenden realsozialistischen Unterdrückung ren der Unterdrückung. Systems bei gleichzeitiger Bejahung demokrati- Weiterhin gab es be- scher und prosozialistischer Orientierung. Damit rechtigte Hoffnungen der Slowaken auf Anerken- wuchs den tschechoslowakischen Reformkommu- nung ihrer nationalen Selbständigkeit im Rahmen nisten eine starke Legitimität zu. einer Föderation. Schließlich hofften viele Tsche- choslowaken, auf diesem Weg der politischen und Mit der Verabschiedung des „Aktionsprogramms“ wirtschaftlichen Umklammerung des Moskauer auf dem KPC-Plenum (vom 01.04. - 05.04.1968) ver- Blocks zu entkommen. band sich die Wahl einer neuen Führung, die 15 der 19 Minister in die neue Regierung unter Ol- Ein Kulminationspunkt des „Prager Frühlings“ war drich Cernik berief. Unter ihnen etwa der Innenmi- der 27. Juni 1968, als der Schriftsteller Ludvik Vacu- nister Josef Pavel, der die Neubesetzungen im lik und weitere 67 Intellektuelle, Schriftsteller und tschechoslowakischen Geheimdienst nicht mehr Künstler das sog. „Manifest der 2000 Worte“ ver- mit der Moskauer KGB-Zentrale abstimmte, was bis öffentlichten: Eine Abrechnung mit den 20 Jahren dahin Usus gewesen war. Zudem rückten Frantisek KP-Herrschaft in der CSSR. In dem Manifest wurde Kriegel und Josef Smrkovsky in die erste Reihe der u. a. die Auffassung geäußert, dass eine weitere Reformer auf. Schon zuvor, im März 1968, war der Demokratisierung nur außerhalb der KPC gesichert General Ludvig Svoboda zum neuen Staatspräsi- werden könne, womit der Sozialismus als Gesell- denten ernannt worden, der sofort über 1000 poli- schaftsform überhaupt in Frage gestellt wurde.9 tische Gefangene amnestierte. Bei einer hastig ein- berufenen ZK-Sitzung in Moskau zur Lage in der In Moskau brachte das Manifest das Fass zum Über- CSSR kam die Sowjetführung am 10. April 1968 zu laufen. Breschnew verlangte von Dubcek soforti- folgender Sprachregelung: „Wir werden die Tsche- ges staatliches Eingreifen, was dieser nicht veran- choslowakei nicht aufgeben!“ lasste; denn die Masse der Bevölkerung nahm das Manifest begeistert an und unterschrieb es. Dubcek, ursprünglich geschult in den sowjetischen Partei- und Kaderschmieden, hatte sich weitgehend Vor allem in Ostberlin erweckte der tschechoslowa- von den Doktrinen gelöst und von Beginn an ver- kische Reformprozess Missfallen. Schon im März sucht, einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ 1968 hatte Ulbricht den „Prager Frühling“ als Kon- zu verwirklichen. Obwohl er den Sozialismus für die terrevolution eingestuft. Vor allem von Breschnew beste Gesellschaftsform hielt, hatte er sich weit von dem sowjetischen Modell entfernt.7 8 Sichtweise eines Reformgegners; vgl. Vasil Bilak: Wir riefen Moskau zu Hilfe. Der „Prager Frühling“ aus der Sicht eines Be- teiligten, Berlin 2006 7 vgl. Alexander Dubcek: Leben für die Freiheit, München 1993 9 vgl. Dieter Segert: Der Prager Frühling, S. 35 - 41
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selbst und durch Gomulka sowie Theodor Zivkov te unterzeichnet. Nur Kriegel verweigerte seine wurde diese Einschätzung geteilt. Fortan galt sie Unterschrift: Damit wurde der Grundstein für die als Linie der „Warschauer Fünf“.10 Zurücknahme der Reformen, aller Beschlüsse und Personalentscheidungen, die während der Vorbe- Als dann in der Nacht vom 20. zum 21. August 1968 reitungen für den XIV. Parteitag der KPC getroffen die Truppen der „Bruderstaaten“ in die CSSR ein- worden waren, gelegt. Auf diesem außerordent- fielen und das Land besetzten, kam es zu weit lichen Parteitag am 22. August 1968 in Vysocany verbreitetem passiven Widerstand sowohl auf der (Vorort von Prag) wurde der inzwischen verhaftete institutionellen Ebene als auch durch die Bevölke- Dubcek noch in seinem Amt bestätigt und mehr- rung. Darüber hinaus gelang es der Sowjetunion heitlich beschlossen, nicht – wie offensichtlich beabsichtigt – eine Kolla- Das „Moskauer den Reformkurs fortzu- borationsregierung einzusetzen, obwohl es Kolla- Protokoll“ kam unter setzen. Während der borateure in der KPC gab. Somit verlief zwar die Bedingungen von Moskauer „Verhandlun- militärische Aktion nach Plan, aber politisch hatten Waffengewalt und Ein- gen“ sah sich die tsche- Moskau und seine Satelliten ein Desaster mit inter- schüchterung zustande chische Delegation un- nationalen Dimensionen angerichtet. ter sowjetischem Druck gezwungen, die dort gefassten Beschlüsse für ille- gal zu erklären. Dies bedeutete u. a. die Wieder- einführung der Zensur und Stationierung sowje- tischer Truppen. Das „Moskauer Protokoll“ kam also unter Bedingungen von Waffengewalt und Einschüchterung zustande. Die Sowjets ließen den Vorwurf der „Konterrevolution“ und die Behaup- tung eines angeblichen „Hilferufs“ fallen. Dubcek, Cernik und Smrkovsky blieben zunächst im Amt. Am 14. und 15. Oktober wurde der Vertrag über die Dauerstationierung sowjetischer Truppen be- siegelt.
Damit war der reformkommunistische Versuch ge- scheitert, mehr als nur eine kosmetische Verbesse- rung des Regimes zu erreichen. Die Verhältnisse wurden – bis zu Beginn Die politische Eiszeit der 70er Jahre gegen dauerte ca. 20 Jahre, Widerstand – „normali-
Quelle: Wikipedia bis im Jahr 1989 durch siert“, u. a. durch den die „Samtene Revolu- neuen starken Mann der Sozialismus ja, Okkupation nein. Reproduktion eines tion“ die kommunisti- CSSR, Gustav Husak, ei- Plakats aus Prag vom 21. August 1968 sche Allmacht hinweg- nem veritablen Verräter gefegt wurde an den Idealen des „Pra- Dubcek und fünf weitere führende Köpfe des „Pra- ger Frühling“. Schritt für ger Frühlings“ wurden nach Moskau verschleppt Schritt wurden die Reformer aus ihren Ämtern ver- und die Sowjets sahen sich gezwungen, mit ihm drängt, so z. B. wurde Dubcek am 17. April 1969 of- „Verhandlungen“( 23.08. - 26.08.1968) zu begin- fiziell von Husak als Parteivorsitzender abgelöst. Es nen.11 Am 26. August 1968 wurde das sog. „Mos- folgten massenhafte Parteirauswürfe, Berufsver- kauer Protokoll“12 auch von der tschechischen Sei- bote und Inhaftierungen. Die politische Eiszeit dauerte ca. 20 Jahre, bis im Jahr 1989 durch die „Samtene Revolution“ die kommunistische All- 10 Phasen der Entscheidungsfindung für die Invasion: vgl. Ste- macht hinweggefegt wurde. fan Karner/Natalja Tomilina/Alexander Tschubarjan u. a. (Hrsg.): Prager Frühling. Das internationale Krisenjahr 1968, Bd. 1: Bei- Es gibt eine Debatte um die Frage, ob sich führen- träge, S. 28 - 40 de Köpfe des „Prager Frühlings“, unter ihnen auch 11 Entsprechende Protokolle: vgl. Stefan Karner/Natalja Tomili- Dubcek, nicht selbst an ihrer politischen Demonta- na/Alexander Tschubarjan u. a. (Hrsg.): Prager Frühling. Das ge und damit nolens volens an dem Prozess der internationale Krisenjahr 1968, Bd. 2, S. 789 - 1103 „Normalisierung“ beteiligt hätten. Schon damals 12 vgl. Alexander Dubcek: Leben für die Freiheit, S. 405ff. meinte z. B. Jaroslav Sabata – 1968 war er Kreisse-
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Zur Auseinandersetzung um das Erbe des „Prager Frühlings“
Zutreffend hat Pauer14 – im Blick auf die gegenwär- tigen tschechischen Kontroversen um den „Prager Frühling“ – darauf aufmerksam gemacht, dass we- der die reformkommunistische Formel gelte, „er sei der direkte Vorläufer der ‚samtenen Revolu- tion'..., noch die neoliberale Gegenüberstellung von Interessen des Volkes, das Demokratie statt Demokratisierung wollte, auf der einen Seite und den Reformkommunisten, die nur eine Moderni- sierung ihrer Herrschaft anstrebten, auf der ande- ren“. Noch viel weniger können wir ihn als „inte- gralen Bestandteil eines verbrecherischen und totalitären Regimes“ verstehen, wie es das sog. „Lustrationsgesetz“ von 1991, das „Gesetz über den verbrecherischen und rechtswidrigen Charak-
Quelle: Wikipedia ter des kommunistischen Regimes von 1948 bis Vaclav Havel wurde nach der Samtenen Revolution Präsident 1989“ und das Gesetz zur Errichtung des nationa- der Tschechoslowakei und später der Tschechischen Republik. len „Instituts für das Studium totalitärer Regime“ 15 Hier bei der Eröffnungsrede zu einem Treffen des Internationa- von 2007 nahe legen. Pauers Begründung für die len Währungsfonds 2000 in Prag reflexive antikommunistische Abwertung des „Pra- ger Frühlings“ in der Tschechischen Republik ist kretär der Kommunistischen Partei in Brno und ebenfalls einleuchtend. Sie ist unmittelbar mit der später einer der Initiatoren und Sprecher der Erinnerung an die politische Selbstdemontage der „Charta 77“ – dass von tschechischer Seite auf kei- Reformkommunisten verbunden: „Wäre die Front nen Fall das „Moskauer Protokoll“ hätte unter- gegen die schleichende Restauration nicht von den zeichnet und damit das politische Spiel der Sowjets Reformern selbst demobilisiert worden, hätte die gespielt werden dürfen. Ein gravierender Fehler spätere machtvolle Bewegung der ‚Solidarnosc' Dubceks sei es gewesen, selbst noch in der durch möglicherweise ihren historischen Vorläufer ge- die Sowjets verursachten Krise auf die Unterstüt- habt...Das beschämende Zeugnis der Zersetzung zung Moskaus zu setzen, wobei Sabata keinen reformkommunistischer politischer Substanz stell- Zweifel an dessen moralischer Integrität hegt. ten die sog. ‚Knüppelgesetze' am ersten Jahrestag „Hätten diejenigen in der Partei und in der Bevöl- der Okkupation des Landes dar. Diese Sondergeset- kerung, die sich den Absichten der Besatzungs- ze ‚zum Schutz öffentlicher Ordnung' vom 22. Au- macht verweigerten, wenigstens eine relative gust 1969, nach denen u. a. die Demonstranten im Unterstützung von oben erhalten, hätten sie bis Schnellverfahren verurteilt wurden und die einem zur Revolte der Arbeiter an der polnischen Küste vorübergehenden Kriegsrecht im Kleinformat Ende 1970 durchhalten können. Dieser Aufstand gleichkamen, wurden von drei Idolen des Prager kostete bekanntlich Wladyslaw Gomulka, einer Frühlings, Ludvik Svoboda, Oldrich Cernik und Schlüsselfigur bei der Intervention, den Kopf. Dann Dubcek, unterzeichnet.“ Die Repressionen und De- hätte schon Anfang der 70er Jahre ein neuer An- mütigungen, die mit den ca. 20 Jahren des Husak- lauf zur Verankerung einer Reform-Konstellation Regimes einhergingen, seien derart erniedrigend in der Mitte Europas versucht werden können. Das gewesen, dass „hier die Ursache für die zeitweilige hätte selbstverständlich auch nach Moskau ausge- strahlt. So kam es erst Ende der 80er Jahre dazu.“ Somit war nach Sabata der Einmarsch der War- 13 Jaroslav Sabata: Eine postimperiale Konstellation, in Mathias schauer Pakttruppen „nicht das Ende des Früh- Richter/Inka Thunecke (Hrsg.): Metamorphosen der Utopie. lings, sondern der Höhepunkt. Die Reformbewe- Rückblicke und Ausblicke nach Europa, Mössingen-Talheim gung wurde nicht gebrochen, sondern sogar 2005, S. 181ff.; hier zit.: S. 190; S. 189; ungemein verstärkt... Dies war eine Sternstunde 14 vgl. Jan Pauer: Der Streit um das Erbe des „Prager Früh- Europas“. Deren Potenzial wurde allerdings von lings“, in Stefan Karner/Natalja Tomilina/Alexander Tschubarjan den Reformern selbst verkannt und nicht genutzt. u. a. (Hrsg.): Prager Frühling. Das internationale Krisenjahr Überall in der Welt werde dieser Umstand her- 1968, Bd. 1, S. 1203 ff.; untergespielt.13 15 a. a. O., S. 1216f.; vgl. S. S. 1205 - 1207
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Abwertung des Erbes des ‚Prager Frühlings' zu su- kommen. Also: trotz solcher Beschränkungen kon- chen“ seien.16 zedieren wir jenem Reformprozess die histori- sche Möglichkeit, eine friedliche Überwindung der Die damaligen kommunistischen Reformer hielten kommunistischen Diktatur zu bewerkstelligen. In- die durch Verstaatlichung und soziale Umwälzung sofern sehen wir im reformkommunistischen Pro- nach 1948 entstandene Gesellschaftsstruktur nicht jekt des Jahres 1968 auch einen Ausdruck der fort- mehr für revidierbar. Sie dauernden demokratischen Tradition des Landes. Der Reformkommunis- glaubten, gerade indem Im „Prager Frühling“ erblicken wir ein Glied in der mus war systemerhal- sie an der sozialistischen langen Kette von Revolten und Reformversuchen tend und systemverän- Option festhielten, mehr im sowjetischen Machtbereich, die niedergetreten dernd zugleich Demokratie wagen zu wurden, und begreifen sie als Beleg für die Re- müssen. Darin können formunfähigkeit eines Sozialismus sowjetischen wir den Doppelcharakter des Reformkommunis- Typs. mus erblicken, der systemerhaltend und systemver- ändernd zugleich war. Trotz gewisser program- Das historische Verdienst des „Prager Frühlings“ matischer und ideologischer Beschränkungen stellte bestand nicht nur in dem Versuch, totalitäre Ver- der gesellschaftspolitische Prozess 1968 in der CSSR hältnisse in der CSSR auf friedlichem Weg beseiti- eine Systemtransformation dar, die ohne Gewalt gen zu wollen, sondern auch in der Leistung eines nicht mehr aufzuhalten war. Nicht Demokratisie- originären Beitrags zur Demokratisierung und rung, sondern Demokratie war die radikal-demo- Überwindung des sowjetischen Herrschaftssystems kratische Formel, von der aus von Personen wie und der europäischen Spaltung. dem marxistischen Philosophen Ivan Svitak oder dem nichtkommunistischen Dramatiker Vaclav Ha- vel die beschränkte Perspektive der damaligen Re- formkommunisten kritisiert wurde. Tatsächlich war Wolfram Tschiche ist Philosoph und Theologe es zu keiner Zeit des „Prager Frühlings“ zu einer und arbeitet in der Jugend- und wirklich demokratischen Vertretung im Sinne einer Erwachsenenbildung. ausgebildeten parlamentarischen Demokratie ge- Er lebt in der Altmark (Sachsen-Anhalt).
16 a. a. O., S. 1207f E-Mail: [email protected]
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Protest und Anpassung im geteilten Deutschland der 60er und 70er Jahre Klaus Waldmann Ein Projekt historisch-politischer Bildung
Klaus Waldmann stellt ein Projekt vor, das Jugend- und 70er Jahre“1, das von Jugendbildungsreferen- liche aus Ost- und Westdeutschland zusammen- tinnen und -referenten der Evangelischen Träger- führte, die sich über die mit dem Jahr 1968 verbun- gruppe für gesellschaftspolitische Jugendbildung2 dene Zeitgeschichte in der DDR und der damaligen durchgeführt wurde. Ausgangspunkt war die The- Bundesrepublik Deutschland informierten und aus- se, dass das Wissen um tauschten. In seiner Beschreibung der das Projekt Das Wissen um wichtige politische, kul- bestimmenden Ziele und Schwerpunkte wird sicht- wichtige politische, turelle und gesellschaft- bar, welche Formen geeignet sind, sich zeitgeschicht- kulturelle und gesell- liche Entwicklungen in lichen Themen aus unterschiedlichen Perspektiven schaftliche Entwick- den beiden deutschen anzunähern und sich die dafür erforderlichen Kennt- lungen in den beiden Staaten eine zentrale nisse anzueignen. deutschen Staaten ist Grundlage zum Ver- eine zentrale Grund- ständnis der gegenwärti- lage zum Verständnis gen Situation und ak- Fragen zum Projekt der gegenwärtigen tueller Tendenzen in Situation und aktueller Deutschland ist. Dabei Wie können Jugendliche zu einer intensiveren Be- Tendenzen in sollte sich die Arbeit im schäftigung mit Themen der jüngsten Zeitge- Deutschland Projekt nicht auf die schichte motiviert werden? Welche Ansätze der Vermittlung von Fakten- außerschulischen Jugendbildung sind besonders wissen begrenzen oder sich nur den großen The- geeignet, um sich der men widmen. Der jeweilige regionale Kontext der Wie soll ein Projekt Geschichte der beiden Jugendlichen sollte ebenso einbezogen werden. zugeschnitten sein, deutschen Staaten an- Vor allem sollten die Jugendlichen den Raum ha- das den Blick auf die zunähern? Welchen Bei- ben, eigene Fragen zu formulieren und die für sie gemeinsame, geteilte trag kann außerschuli- interessanten Themen zu bearbeiten. Geschichte der beiden sche Bildung leisten, die deutschen Staaten Auseinandersetzung mit Eine weitere Annahme war, dass das Thema „Pro- erweitert? der Geschichte der DDR test und Anpassung“ bei Jugendlichen auf ein aus- zu verstärken? Wie soll geprägtes Interesse trifft. In der öffentlichen Wahr- ein Projekt zugeschnitten sein, das den Blick auf die nehmung3 und in der sozialwissenschaftlichen gemeinsame, geteilte Geschichte der beiden deut- Forschung4 sind die Themen „Politischer Protest“, schen Staaten erweitert? Weckt der Blick auf Pro- „Widerstand und Anpassung“ eng mit dem Thema test und Anpassung bei Jugendlichen genügend „Jugend“ verknüpft. Bei der Eingrenzung des zu Neugier, um sich in außerschulischer Jugendbildung untersuchenden geschichtlichen Zeitraums wurde und in der Schule auf diesen Abschnitt der Nach- davon ausgegangen, dass die Jugendlichen sich be- kriegsgeschichte einzulassen und sich längerfristig sonders für die geschichtliche Phase interessieren, für dieses Thema zu engagieren? in der ihre Eltern jung waren und die im Rückblick als eine Periode des Jugendprotests charakterisiert wird. Deshalb wurde als grober zeitlicher Rahmen für die Projektarbeit die Phase der 60er und 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts vereinbart.
1 Das Projekt wird mit Mitteln der Stiftung Deutsche Jugend- marke e. V. gefördert. Es startete im Mai 2006 und wird Ende Oktober 2008 abgeschlossen. 2 Von der Evangelischen Trägergruppe waren an der Durchfüh- rung des Projekts beteiligt: Katharina Doyé, Marcus Götz-Guer- lin, Silke Graichen, Hartmut Hendrich, Dorothea Höck, Uwe Jakubczyk, Christian Kurzke, Jürgen Reifarth, Michael Scherr- mann und Klaus Waldmann. 3 Vgl. die zahlreichen Debatten zum Thema Jugendprotest in den vergangenen Jahren. 4 Vgl. z. B. Dieter Rucht/Roland Roth (2000): Weder Rebellion Diese Fragen standen am Anfang der Entwicklung noch Anpassung: Jugendproteste in der Bundesrepublik, in: eines bundesweiten Projekts mit dem Titel „Protest Dies. (Hrsg.): Jugendkulturen, Politik und Protest, Opladen, und Anpassung im geteilten Deutschland der 60er S. 283-304.
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Damit wurde der Fokus auf die Ereignisse gelegt, und der technologische Fortschritt in der Industrie die mit der quasi symbolischen Jahreszahl 1968 ver- beschleunigt werden. Die DDR warb um außenpo- bunden sind. Somit war es möglich, die Vorphase litische Reputation und setzte alle Anstrengungen der Entwicklungen bis zu diesem sehr bewegten auf ihre Anerkennung als Sportnation im Kontext Jahr in die Projektarbeit einzubeziehen und auch der Konkurrenz der Systeme. Jugendpolitisch wa- den Folgen und Wirkungen der außergewöhn- ren Tendenzen einer Öffnung wahrzunehmen, die lichen Monate nachzuspüren. Abschottung gegenüber Musik und Mode aus dem Westen war nicht mehr so strikt. Im kulturpoliti- schen Sektor gab es interessante Debatten über die Historische Voraussetzungen in beiden Idee eines demokratischen Sozialismus. Die antika- deutschen Staaten pitalistische Revolte im Westen wurde zunächst mit einer gewissen Sympathie begleitet, dennoch war Trotz der massiven und beharrenden, von Hass, die Repression gegenüber denjenigen, die sich zu Angst und Misstrauen geprägten Konfrontation sehr dem westlichen Modell annäherten oder die der beiden politischen Blöcke im Kontext der Phase zu deutlich mit einem Sozialismus mit menschli- des Kalten Krieges machten sich in den sechziger chem Antlitz sympathisierten, überall präsent. Jahren im Inneren der beiden Systeme Kräfte der Veränderung bemerkbar. Im Westen trafen sich die oppositionellen Strö- mungen gegenüber dem konsolidierten CDU-Staat Die Zeit nach dem Mauerbau 1961 in der DDR war der Adenauer-Zeit im Widerstand gegen die Atom- geprägt von einem Reformeifer ohne wirkliche Re- bewaffnung Ende der 50er Jahre. Im Kontext inter- form.5 Eine Reform der nationaler Debatten um Bürgerrechte in den USA, Die Zeit nach dem Mau- Wirtschaft wurde unter über die Überwindung der kolonialen Systeme erbau 1961 in der DDR dem Kürzel NÖSPL („Neu- richtete sich dann der Protest gegen Unterdrü- war geprägt von einem es ökonomisches System ckung und Ausbeutung. In Westdeutschland war Reformeifer ohne wirk- der Planung und Lei- der Konflikt mit dem Establishment zudem vergan- liche Reform tung“) auf den Weg ge- genheitspolitisch aufgeladen. Von der jüngeren Ge- bracht, das Schlagwort neration wurde die zögernde Aufarbeitung der ei- von mehr Eigenverantwortung machte die Runde. genen Verstrickungen der Kriegsgeneration in die Die technischen Wissenschaften sollten ausgebaut Verbrechen des Nazi-Regimes skandalisiert.
Im Anschluss an Pichts These vom Bildungsnotstand 5 Vgl. hierzu Stefan Wolle (2008): Der Traum von der Revolte. wird massive Kritik am Bildungssystem laut. Gefor- Die DDR 1968, Berlin dert wurden mehr Chancengleichheit, mehr Demo- kratie und mehr Parti- zipation. Neben dem Wunsch nach grundle- genden gesellschaft- lichen Reformen wur- de der Protest gegen den Vietnamkrieg zum zentralen Movens der Studentenbewegung. In diesem Kontext bil- deten sich subkulturel- le Gegenkulturen, die sich im Wunsch nach Selbstverwirklichung und in der Ablehnung autoritärer Strukturen einig waren. Die Befrei- ung aus Abhängigkei- ten, die Überwindung von Konventionen und überkommenen Moral- vorstellungen wurden
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Im Westen wurde ne- zum Ziel einer emanzi- ten, wie sich das Aufwachsen von Jugendlichen in ben dem Wunsch nach patorischen Suche nach der ehemaligen DDR und in Westdeutschland ge- grundlegenden gesell- neuen Lebensformen. staltet hat, wie Jugendliche auf gesellschaftliche schaftlichen Reformen Abgesehen von den teil- Ansprüche und Ideologien reagiert haben und wie der Protest gegen den weise abenteuerlichen sie mit weltpolitischen Entwicklungen und geschicht- Vietnamkrieg zum zen- Vorstellungen einiger lichen Ereignissen umgegangen sind. In diesem Kon- tralen Movens der Stu- Grüppchen mündeten text setzten sie sich mit der Relevanz jugendkulturel- dentenbewegung die politischen Debatten ler Inszenierungen und z. B. der Rolle von Medien, in die Suche nach einer Musik und Mode auseinander. demokratischen, solidarischen Gesellschaft jenseits von Sowjetkommunismus und Kapitalismus. Lernen über die Geschichte im Austausch zwischen Beide gesellschaftlichen Systeme waren geprägt Ost und West von Prozessen einer wissenschaftlichen und tech- Zur Realisierung des Projekts bildeten verschiede- nologischen Weiterentwicklung und gravieren- ne Einrichtungen aus dem Bereich der Evangeli- den Veränderung als Industriegesellschaft und schen Trägergruppe Tandems, die jeweils aus einem von den Wünschen der in ihnen lebenden Men- Partner aus Ost- und aus schen nach einer Verbesserung der Lebensbedin- Jugendliche bearbeiten Westdeutschland be- gungen. in Projekten historisch- standen. Dadurch ergab politischer Bildung die sich für die Jugend- von ihnen selbst for- lichen die Chance, sich Ziele und Schwerpunkte des Projekts mulierten Fragen und mit Gleichaltrigen aus die sie selbst interes- dem jeweils anderen Teil Das Projekt hatte zum Ziel, Konzepte historisch-po- sierenden Themen in Deutschlands zu treffen, litischer Jugendbildung zur Beschäftigung mit der ost- und westdeutsch die sich mit vergleichba- jüngeren Zeitgeschichte am Beispiel des Themas zusammengesetzten ren Themen und Frage- „Protest und Anpassung im geteilten Deutschland Tandems stellungen befassten. Die der 60er und 70er Jahre“ zu entwickeln und zu er- Begegnung und der Aus- proben. In Verbindung mit der Durchführung von tausch von Erfahrungen, Informationen und Zwi- kleinen ‚Forschungsprojekten‘ zu selbstgewählten schenergebnissen schafften die Gelegenheit, sich Themen erwarben die Jugendlichen Grundlagen aus unterschiedlichen Perspektiven und vor dem historisch-politischer Projektarbeit. Sie untersuch- Hintergrund der unterschiedlichen Entwicklungen in beiden deutschen Staaten mit den The- men des Projekts zu befassen und im Pro- zess wechselseitigen Lernens neue Perspek- tiven zu erschließen. Auf diese Weise konnte die zentrale Idee des Projekts realisiert wer- den: Jugendliche bear- beiten in Projekten his- torisch-politischer Bil- dung die von ihnen selbst formulierten Fra- gen und die sie selbst interessierenden The- men in ost- und west- deutsch zusammenge- setzten Tandems und informieren sich wech- selseitig über ihre Er- kenntnisgewinne und vermitteln einander ih-
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re jeweilige Sichtweise auf die unterschiedlichen Er- In kleinen Arbeitsgruppen recherchierten die Ju- eignisse. Die thematische Fokussierung der einzel- gendlichen, unterstützt durch ihre Lehrerinnen und nen Teilprojekte erfolgte auf der Basis der Interes- die jeweilige Projektleitung, nach Materialien zu sen der Jugendlichen an den aus ihrer Sicht diesen Themen. Sie befragten Mitglieder aus der wichtigen politischen, kulturellen und gesellschaft- eigenen Familie quasi als Zeitzeugen, um sich ein lichen Ereignissen. Welche Themen dabei im Vorder- Bild von der Zeit in den sechziger Jahren zu machen. grund stehen, macht ein kursorischer Überblick zu Ausstellungen wurden besucht und Gesprächspart- den Aktivitäten der verschiedenen Tandems sicht- ner/-innen eingeladen, um sich mit unterschied- bar. lichen Aspekten der Thematik intensiver zu be- schäftigen. Die Ergebnisse der verschiedenen Arbeitsgruppen wurden zu eindrucksvollen Präsen- Grenzen überwinden tationen beim Zusammentreffen der beiden Grup- pen aufbereitet. In einem Projekt, das sich mit der Geschichte der beiden deutschen Staaten beschäftigt, ist die Tei- Aus den von den verschiedenen Arbeitsgruppen lung des Landes und das Thema „Grenze“ immer erarbeiteten Materialien wurde eine gemeinsame präsent. Ein wesentliches Element eines Teilpro- Ausstellung realisiert, die abwechselnd an den bei- jekts war deshalb die Begegnung der Gruppe von den Schulen gezeigt wurde. Die am Projekt betei- Jugendlichen aus Coswig6 (Sachsen) mit der Grup- ligten Schülerinnen und Schüler führten auf Wunsch pe von Jugendlichen aus Bochum7 (NRW) in der Ju- durch die Ausstellung und berichteten über ihre gendherberge Bad Sachsa, an der Grenze zwischen Erfahrungen im Projekt. Niedersachsen und Thüringen. Der Ort der Begegnung zwischen den Jugend- lichen aus Bochum und Coswig ermöglichte zudem eine nähere Beschäftigung mit dem Thema ‚Gren- ze‘. Besucht wurden das von Ehrenamtlichen un- terhaltene Grenzlandmuseum in Bad Sachsa und die Gedenkstätte in Marienborn. In Bad Sachsa tra-
In der Vorphase dieser Begegnung beschäftigten sich die Jugendlichen jeweils vor Ort mit Themen, die sie selbst gewählt hatten: