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Zeitschrift für Germanistik • Neue Folge • XXX • 1/2020

G GERMANISTIK InternationalerWissenschaften Verlagder Peter Lang Neue Folge Zeitschrift für 1/2020 • XXX 09-Jan-20 15:10:21 Zeitschrift für Germanistik

Zeitschrift für Germanistik

Neue Folge XXX – 1/2020

Herausgeberkollegium

Ulrike Vedder (Geschäftsführende Herausgeberin, ) Alexander Košenina (Hannover) Mark-Georg Dehrmann (Berlin) Claudia Stockinger (Berlin)

Gastherausgeberin

Christiane Holm (Halle)

PETER LANG Internationaler Verlag der Wissenschaften Bern · Berlin · Bruxelles · New York · Oxford · Warszawa · Wien Herausgegeben von der Sprach- und literatur­ Manuskripte sind an die Redaktion zu schicken. wissenschaftlichen Fakultät / Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin Für unverlangt eingesandte Manuskripte wird kei- Redaktion: ne Haftung übernommen. Prof. Dr. Ulrike Vedder (Geschäftsführende Herausgeberin) Dr. Hannah Markus Die Autor(inn)en von Abhandlungen und Dis­­- [email protected] kus­sio­­nen erhalten ein Belegheft sowie die PDF- Anschrift der Redaktion: Datei des Beitrages. Zeitschrift für Germanistik Humboldt-Universität zu Berlin Universitätsgebäude am Hegelplatz, Haus 3 Jahresabonnement(s) zum Preis von Dorotheenstr. 24 150.– SFR, 130.– €, 139.– €*, 143.– €**, D-10099 Berlin 105.– £, 158.– US-$ Tel.: 0049 30 20939 609 pro Jahrgang zzgl. Versandspesen Fax: 0049 30 20939 630 https://www.projekte.hu-berlin.de/zfgerm/ Jahresabonnement(s) für Studierende gegen Kopie der Immatrikulationsbescheinigung Redaktionsschluss: 01.09.2020 105.– SFR, 91.– €, 98.– €*, 100.– €**, 72.– £, 110.– US-$ Erscheinungsweise: 3mal jährlich * €-Preise inkl. MWSt. – gültig für Deutschland Bezugsmöglichkeiten und Inseratenverwaltung: ** €-Preise inkl. MWSt. – gültig für Österreich Peter Lang AG Internationaler Verlag der Wissenschaften – Individuelles Online-Abonnement:

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ISSN 0323-7982

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Inhaltsverzeichnis Vorankündigung XXX (2020), Heft 2: Provinz erzählen

Schwerpunkt: Das moderne Haus. Bau- und Wohn- Konferenzberichte formen in der (Sach-)Literatur Johann Michael Moscheroschs Textwelten. Inter- Ulrike Vedder, Christiane Holm – Das moder- disziplinäre und internationale Konferenz anlässlich ne Haus: Bau- und Wohnformen in der (Sach-) Literatur. Zur Einführung 1 seines 350. Todestages (Konferenz in Willstätt v. 3.–5.4.2019) (Sofia Derer) 184 Detlev Schöttker – Sprachökonomie und Designökonomie. Die rhetorische Tradition der „Die deutsche Freiheit erdolcht!“. Tagung zu Leben, Architekturmoderne in Wien­ 9 Werk und Tod August von Kotzebues anlässlich seiner Ermordung vor 200 Jahren (Tagung in Mann- Charlotte Kurbjuhn – Hinter Glas: Imagi- heim v. 21.–23.3.2019) (Katja Holweck) 187 nationen des modernen Hauses in utopischen Romanen Paul Scheerbarts und frühen Architek- „Ach, die Wahrheit“. Theodor Fontane und das turentwürfen Bruno Tauts 24 Erbe der Aufklärung. Symposium zum 200. Geburtstag des Dichters (Symposion in Leipzig v. Hans-Georg von Arburg – Die Siedlung: Wohnen 12.–13.4.2019) (Baptiste Baumann) 189 im Rückzugsgebiet des modernen Hauses 50 Sich einrichten: Zur Poetik und Semiotik des Matthias Noell – „This then is a possible house Wohnens seit 1850 (Tagung in Lausanne v. / This then is a possible Novel“. Das Architektur- 11.–13.4.2019) (Cindy Heine) 193 buch zwischen Entwurf und Aneignung 71 Welt Wollen. Gottfried Kellers Moderne (1819– Sabine Kalff – Zurück in den Keller. Das Berliner 1890) (Internationaler Kongress in Zürich v. Mietshaus im Bombenkrieg 91 23.–25.5.2019) (Johannes Hees) 196 Stephan Pabst – Ost-Moderne Halle-Neustadt? Über einen Beitrag der Architekturgeschichte zur Literaturgeschichte der DDR 112 Besprechungen Annina Klappert – Story-Stories der Gegenwart und Glenn Pattersons Roman „Number 5“ 134 Michael Auer, Claude Haas (Hrsg.): Kriegsthea- ter. Darstellungen von Krieg, Kampf und Schlacht Thomas Wegmann – Was du nicht siehst. Über in Drama und Theater seit der Antike; Edith die imaginäre und zumeist heimliche Aneignung Zehm (Hrsg.): Johann Conrad Wagner: „Meine von Wohnräumen anderer 158 Erfahrungen in dem gegenwärtigen Kriege“. Ta- gebuch des Feldzugs mit Herzog Carl August in Neue Materialien / Quellenfunde Weimar (Johannes Birgfeld) 201 Nicola Kaminski, Robert Schütze (Hrsg.): Gry- Alexander Košenina – Ein „Familiengemälde“ phius-Handbuch (Dirk Werle) 205 Ifflands dient Goethe als Vorlage für seine Ferdi- nand-Novelle in den „Unterhaltungen deutscher Nicolas Detering: Krise und Kontinent. Die Ausgewanderten“ 179 Entstehung der deutschen Europa-Literatur in der Frühen Neuzeit (Michael Beck) 208 Jeffrey L. High, Lisa Beesley – Wielands „Novelle ohne Titel“ geht auf Mereau-Brentanos Übersetzun­ Stephanie Arend: Glückseligkeit. Geschichte gen von María de Zayas’ „Spanische Novellen“ einer Faszination der Aufklärung (Jeffrey L. High, zurück 182 Luke Beller) 211 VI | Inhaltsverzeichnis

Joel Lande: Persistence of Folly. On the Origins of Dialoge 1929–1997; Anja Keith, Detlev Schöttker German Dramatic Literature (Roman Widder) 213 (Hrsg.): Ernst Jünger / Joseph Wulf. Der Briefwechsel 1962–1974 (Reinhard Mehring) 252 Friedrich Vollhardt: Gotthold Ephraim Les- sing. Epoche und Werk (Kai Bremer) 216 Michael Woll: Hofmannsthals „Der Schwierige“ und seine Interpreten (Leonard Pinke) 254 Helmut Koopmann: Schiller und die Folgen (Olga Katharina Schwarz) 219 Thomas Ehrsam (Hrsg.): Friedo Lampe. Briefe und Zeugnisse (Till Greite) 256 Kaltërina Latifi (Hrsg.): August Wilhelm Schle- gel. Hamlet-Manuskript. Kritische Ausgabe (Kai Erhard Schütz: Mediendiktatur Nationalsozia- Kauffmann) 222 lismus (Helmuth Kiesel) 258

Ingrid Pepperle u. a. (Hrsg.): Georg Herwegh. Jörg Döring: Peter Handke beschimpft die Grup- Werke und Briefe. Kritische und kommentierte pe 47 (Mladen Gladic) 261 Gesamtausgabe (Olaf Briese) 224 Susa nne Lüdem a nn, K r isti a n Wachinger Philipp Böttcher: Gustav Freytag – Konstellatio- (Hrsg.): Elias Canetti. Prozesse. Über Franz Kafka nen des Realismus (Erhard Schütz) 226 (Alexander Košenina) 263

Alexander Honold: Die Tugenden und die Las- Isabelle Lehn, Sascha Macht, Katja Stopka: ter. Gottfried Kellers „Die Leute von Seldwyla“ Schreiben lernen im Sozialismus. Das Institut (Philipp Hubmann) 230 für Literatur „Johannes R. Becher“ (Thomas Möbius) 264 Norbert Otto: Julian Schmidt – Eine Spuren- suche (Philipp Böttcher) 232 Michael Ostheimer: Leseland. Chronotopo- graphie der DDR- und Post-DDR-Literatur (Nico Paul Kahl (Hrsg.): Das Goethe-Nationalmuseum Schmidtner, Friederike Schruhl) 268 in Weimar. Bd. 2: Goethehaus und Goethe-Mu- seum im 20. Jahrhundert. Dokumente (Holger Karl S. Guthke: Von Heidelberg nach Harvard. Dainat, Arin Haideri) 235 Erinnerungen eines Literaturwissenschaftlers an die Goldenen Jahre der Migration nach Nord- Thomas Assinger, Elisabeth Gr abenweger, amerika (Susanna Froböse) 270 Annegret Pelz (Hrsg.): Die Antrittsvorlesung. Wiener Universitätsreden der Philosophischen Frank Zipfel (Hrsg.): Fremde Ähnlichkeiten. Fakultät (Ralf Klausnitzer) 237 Die ‚Große Wanderung‘ als Herausforderung der Komparatistik (Özkan Ezli) 272 Nicole Mattern, Stefan Neuhaus (Hrsg.): Buddenbrooks-Handbuch (Daniel Zimmer) 240 Susanne Düwell, Andrea Bartl, Christof Ha- mann, Oliver Ruf (Hrsg.): Handbuch Kriminal- Clemens Özelt: Literatur im Jahrhundert der literatur. Theorie – Geschichte – Medien (Sarah Physik. Geschichte und Funktion interaktiver Seidel) 275 Gattungen 1900–1975 (Reto Rössler) 243 Lena Abraham, Kira Jürjens, Edith Anna Kurz, Johannes Wassmer: Die neuen Zeiten im Westen Elias Zimmermann (Hrsg.): Fenster – Korridor und das ästhetische Niemandsland. Phänomeno- – Treppe. Architektonische Wahrnehmungs- logie der Beschleunigung und Metaphysik der dispositive in der Literatur und in den Künsten Geschichte in den Westfront-Romanen des Ersten (Susanne Hauser) 277 Weltkriegs (Manuel Köppen) 245

Herbert Kopp-Oberstebrink, Hannah Markus, Martin Treml, Sigrid Weigel (Hrsg.): Gershom Informationen Scholem. Poetica. Schriften zur Literatur, Überset­ zungen, Gedichte (Cord-Friedrich Berghahn) 247 Eingegangene Literatur 280

Rainer Barbey, Thomas Petraschka (Hrsg.): Ernst Vorankündigung XXX (2020), Heft 2: Provinz Jünger. Gespräche im Weltstaat. Interviews und erzählen 284

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang pen Zeitschrift für Germanistik | Neue Folge XXX (2020), Peter Lang, Bern | H. 1, S. 1–8

Christiane Holm, Ulrike Vedder Das moderne Haus: Bau- und Wohnformen in der (Sach-)Literatur. Zur Einführung

Die Forschung zum Verhältnis von Architektur und Literatur hat seit gut einem Jahrzehnt Konjunktur.1 Sie widmet sich der literarischen Darstellung und Reflexion von Architek- turtheorien, Gebäuden, Bauprozessen und Wohnpraktiken in Bezug auf konkrete Hand- lungsräume, symbolische Resonanzräume oder poetologische Reflexionsräume. Dabei wurde eine Vielfalt an Bautypen – von der Kathedrale, dem Warenhaus, dem Flughafen über die Stadtvilla und die Dorfkate bis zum Wohnwagen – erschlossen. Zudem sind architektonische Gestaltungselemente von Fassade und Fenster über den Korridor bis hin zur Treppe untersucht worden.2 Eine intensiv beforschte Zone stellt die Inneneinrichtung dar.3 Der literarische Einsatz von Architektur ist auf der motivischen Ebene von Figuren- charakterisierung und Plot wirksam, wobei der Figur des Architekten4 oder den „Lebens- und Liebesarchitekturen“5 besondere Rollen zukommen. Auf der metaphorischen Ebene stehen Architekturen für Textstrukturen und Schreibprozesse oder fungieren auf typogra- phischer Ebene als „Textarchitekturen“6. Zudem eröffneten diskursgeschichtliche Ansätze Neulektüren nicht nur von literarischen Texten, sondern ebenso von außerliterarischen Sachtexten wie Architekturtraktaten, Handbüchern zum Bauen oder Wohnzeitschriften.7 Als ausgesprochen ergiebig hat sich die wechselseitige Erhellung von Architekturtheo- rie und Literaturtheorie erwiesen. So werden Strukturanalogien von Rede/Sprache/Text und Architektur in Begriffen wie der „Architektursprache“8 oder den „Bauformen des Erzählens“9 nicht nur deskriptiv, sondern auch methodisch interessant. Neben der ‚Sprache‘ und ‚Lesbarkeit‘ der Architektur selbst ist ebenso „ihre Umsetzung in Text“10 diskutiert worden. So unterschiedlich diese hier skizzierten Zugänge auch sind, so verbindet sie doch die unhintergehbare „Prädisposition von Architektur“, die sich nicht in ihrer Funktion als Bildspender erschöpft, sondern immer auch „paradigmatisches Dispositiv von Erfahrung oder […] Wahrnehmung“ ist.11

1 Schöttker (2005), Krause, Zemanek (Hrsg.) (2014). Eine Forschungsauswahl – mit Schwerpunkt auf ‚Moderne‘ und ‚Haus‘ – findet sich unten. Die im Folgenden genannten Arbeiten sind exemplarisch für die skizzierten Felder zu verstehen. 2 Wegmann (2016), Brüggemann (2002), Wilhelmer (2015), Abrahams u. a. (Hrsg.) (2019). 3 Oesterle (2013), Lauffer (2011). 4 Hodonyi (2008), Pogoda (2013). 5 Neumann, Weber (Hrsg.) (2006). 6 Ernst (2006, 123). 7 von Arburg (2008), Eck, Heinz, Nierhaus (2018). 8 Schöttker (2006), Zimmermann (2017). 9 Lämmert, Eberhard (1955): Bauformen des Erzählens, Stuttgart. Vgl. dazu Neumann, Weber (Hrsg.) (2016, 12). 10 Schäffner (2016, 34). 11 Zimmermann (2019, 9).

© 2020 Christiane Holm, Ulrike Vedder - http://doi.org/10.3726/92165_1 - Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 Internationalen Lizenz Weitere Informationen: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0 2 | Christiane Holm, Ulrike Vedder: Das moderne Haus. Zur Einführung

Das vorliegende Themenheft kann in historischer wie in systematischer Hinsicht an diese Forschungen anknüpfen und nimmt bewusst eine perspektivische Verengung auf eine konkrete Bauform vor: das moderne Haus. Die hier versammelten Beiträge positionieren sich an wichtigen Stationen dieses Begriffs. Sie setzen vor den aus heutiger Sicht – nicht zuletzt durch das Jubiläum im vergangenen Jahr – diskursprägenden Texten und Bauten des Bauhauses ein, konkret bei den architekturtheoretischen Programmschriften der Wiener Moderne um 1900 (Detlev Schöttker) und bei Paul Scheerbarts Architekturutopien der 1910er Jahre (Charlotte Kurbjuhn). Es folgen Untersuchungen von Programm-Texten zum modernen Haus der 1920er und 1930er Jahre mit Ausblicken auf die Anschlüsse zur nationalsozialistischen Ideologie (Hans-Georg von Arburg, Matthias Noell). Ein Bei- trag widmet sich der Mietskaserne während des Zweiten Weltkrieges (Sabine Kalff), ein weiterer der Wiederaufnahme von Konzepten des Neuen Bauens in der DDR-Architektur und Literatur der 1960er bis 1980er Jahre (Stephan Pabst). Die Reihe schließt mit zwei Untersuchungen zu aktuellen Architekturtheorien und Erzähltexten seit den 1990ern bis zur Gegenwart (Annina Klappert, Thomas Wegmann).

I. Das moderne Haus. Mit dem modernen Haus steht ein Debattenbegriff im Zentrum, der bereits im 19. Jahrhundert eingeführt wurde. Nach Wilhelm Heinrich Riehls kultur- kritischer Analyse handelt es sich bei der „Architektur des modernen Hauses“ um „das steinerne Sinnbild der erlöschenden Idee vom ‚ganzen Hause‘“, wobei Letzteres bekannt- lich für eine patriarchalische Gesellschaftsordnung steht.12 Mit Beginn des 20. Jahrhun- derts rückte das Wohnhaus von der Peripherie in das Zentrum von Architekturtheorie und Publizistik; das ‚moderne Haus‘ wurde zur Ikone des ‚Neuen Bauens‘ und der mit ihm verbundenen demokratischen oder sozialistischen Gesellschaftsentwürfe.13 In der Rheto- rik des Neuanfangs trat es in vielen griffigen Formeln in Erscheinung: als „geöffnete[s] Haus“14, als „Maschine zum Wohnen“15 oder auch als „wachsende[s] Haus“16. Allen Neu- formulierungen des Hauses gemeinsam ist, dass sie sich gegen die Vorstellung von Statik und Geschlossenheit positionierten und dabei mit dem Leitprinzip der Funktionalität ar- gumentierten. Anders als das im 19. Jahrhundert retrospektiv entworfene ‚ganze Haus‘, das durch eine zum Widerspruch reizende, aber in sich stringente Schematik von Sozial- formen geprägt war, wurde das prospektiv entworfene funktionale Haus des beginnenden 20. Jahrhunderts von vornherein durch gesellschaftliche und wohnpraktische Spannun- gen strukturiert: Das moderne Haus trat einerseits als exklusives avantgardistisches State- ment für Bildungseliten in Erscheinung und wurde dabei gegen die historistische Villa in Stellung gebracht (Schöttker). Andererseits wurde es als ein auf Standardisierung und Serialisierung ausgerichtetes Gefüge aus Modulen zur gesellschaftlichen Lösung der

12 Riehl, Wilhelm Heinrich (1855): Die Familie. Stuttgart, Augsburg, S. 163. Das Modell des ganzen Hauses war in seinem imaginativen Potenzial äußerst produktiv und langlebig, vgl. Ghanbari (2011), DVjs 85 (2011), H. 2. 13 Poppelreuter (2007). 14 Giedion, Sigfried (2019): Befreites Wohnen [11929]. Zürich, S. 7. 15 Le Corbusier (42001): Ausblick auf eine Architektur [11922]. Gütersloh u. a, S. 80. 16 Wagner, Martin (Hrsg.) (1932): Das wachsende Haus. Ein Beitrag zur Lösung der städtischen Wohnungsfrage. Berlin, Leipzig.

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Christiane Holm, Ulrike Vedder: Das moderne Haus. Zur Einführung | 3

Wohnfrage verhandelt, das in Form der Wohnanlage einen Gegenentwurf zur Mietska- serne darstellt (von Arburg). Diese von Hannes Meyer unter den Schlagworten ‚Luxus- bedarf‘ versus ‚Volksbedarf‘ gegeneinander gesetzten Positionen im Bauhaus blieben als immer wieder neue Antworten herausfordernde Frage in der Rezeption präsent.17 Ein weiteres, angesichts der Realisierung der ersten Häuser des Neuen Bauens ab den 1930ern verhandeltes Problem bestand darin, dass die in der Konstruktion exponierte Funktionalität nicht zwingend die Brauchbarkeit garantierte.18 Das zeigt sich beispielhaft am zentralen Konzept der Glasarchitektur, deren luftige Durchsichtigkeit und solitäre Positionierung nicht nur auf eine neue Lichtregie und zeitgemäße Wahrnehmungsweisen zielten, sondern auf die „Auflösung der Städte“ (Bruno Taut) und auf eine neue Kultur insgesamt (Kurbjuhn). Dass die gläserne Durchlässigkeit zwischen innen und außen jedoch auch etwas zutiefst Unheimliches evoziert, machen literarische und filmische Inszenie- rungen einer allzu nah rückenden Umwelt und eines übergriffigen Voyeurismus deutlich (Wegmann). Ähnliche Diskrepanzen weist das Ungleichgewicht zwischen dem Technischen und dem Ästhetischen auf, das die Protagonisten des Neuen Bauens ebenso diskutierten wie die Möglichkeiten einer Versöhnung zwischen Kunst und Technik: die Frage also, inwieweit Neues Bauen und Neues Wohnen – und nicht nur „Ausstellungswohnen“ – zur Deckung kommen können (Noell). Sehr grundsätzliche Überlegungen galten zudem der sozialen Frage, wie sie die Großstädte um 1900 mit ihren auch in der Vertikale verdichteten Mietskasernen provozierten (Kalff). Das moderne Haus war in seinen konzeptionellen wie praktischen Ansprüchen durch die Frage des Sozialen – samt daraus resultierender Gesellschaftsentwürfe – grundlegend motiviert, auch wenn es ihr nicht ohne weiteres bei- kam. Diese ungelöste Spannung – die in verschobener Weise u. a. als Problematik sozialer Kontrolle zutage tritt – bestimmte in der Folge auch den industrialisierten Wohnungsbau der „Ost-Moderne“ (Pabst). Neben dem Gefälle zwischen ikonischem Solitär und seriellem Bauen waren es also die Dissonanzen zwischen Bauform und Wohnform, zwischen Konzept und Praxis, welche die Debatte um das moderne Haus prägten. Mit der Integration praxeologischer Argumente in die Entwürfe des Neuen Bauens verband sich die Herausforderung, sowohl kalkulierbare als auch unkalkulierbare Veränderungen von Lebenswelten und Lebensstilen mit der Zeitlogik des Hauses zu verbinden (Klappert). In Frage stand nicht nur, wie sich die funktionale Form im Praxistest beweisen würde, sondern darüber hinaus, wie ein Baukörper auf Zeitläufte reagieren oder in Würde altern konnte, ohne dafür die historistischen Konzepte des 19. Jahrhunderts bemühen zu müssen.

II. Zum Verhältnis von Bau-, Wohn- und Textformen. Die in das moderne Haus seit An- beginn eingebauten Spannungen von Exklusivität und Standardisierung, von Konzept und Praxis sowie von Neuheit und Dauer wurden und werden in dessen literarischen Aneignungen reflektiert. Auffällig dabei ist, dass die vielfältigen Reflexionen mit einer großen Experimentierfreude an ‚Bauformen des Erzählens‘ einhergehen. Sowohl die

17 Nerdinger, Winfried (2018, 79–96): Hannes Meyer – Volksbedarf statt Luxusbedarf. In: Ders. (2018): Das Bauhaus. Werkstatt der Moderne. München. 18 Nierhaus (2014).

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 4 | Christiane Holm, Ulrike Vedder: Das moderne Haus. Zur Einführung prospektiv-visionären als auch die teilnehmend-beobachtenden und die retrospektiv-pro- blematisierenden literarischen Auseinandersetzungen mit dem modernen Haus zeichnen sich durch eine große Durchlässigkeit zwischen literarischen und außerliterarischen Text- sorten aus. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass die architekturtheoretische wie baupraktische Ausrichtung auf die Funktionalität eine Flut von Gebrauchstexten mit sich führte. Auf dieser Konstellation gründet die perspektivische Ausrichtung der hier zu- sammengestellten Beiträge, die dem modernen Haus nicht nur anhand von literarischen Texten, sondern ebenso von Sachtexten nachgehen – und dies insbesondere an beider Schnittstellen. Untersucht werden neben Romanen und Reportagen, Fotobüchern und Graphic Novels, Autobiographien und Blogs auch architekturtheoretische Traktate sowie bau- und wohnpraktische Ratgeber, sozialreformerische Abhandlungen und Immobilien- inserate. In dem (sach-)literarischen Spektrum der behandelten Texte finden sich auffallend viele Text-Bild-Werke, die in jeweils spezifischer Weise durch die Bau- und Wohnformen formatiert sind. Eine besonders wirkmächtige Gattungsinnovation stellt die fotografisch bebilderte Hausmonographie seit den 1930ern dar, die Matthias Noell in seinem Beitrag erschließt und diskutiert. Anders als bei den seit Mitte des 19. Jahrhunderts be- legten Homestorys ist der Bewohner keine öffentliche Figur, dessen Haus man kennen lernen will, so wie etwa die in der Gartenlaube geschilderten und illustrierten Besuche des Goethe-Wohnhauses in Weimar. In den hier vorgestellten Bildbänden dreht sich das Subjekt-Objekt-Verhältnis: Der Bewohner wird erst durch die Tatsache, dass er ein bekanntes Haus bewohnt, zu einer öffentlichen Figur. Während in den frühen Haus- monographien der 1930er durch entsprechende Bild- und Textstrategien noch die Fiktion einer geführten Tour durch einen anwesenden Bewohner evoziert wird, ändert sich die Situation, als die Bewohnbarkeit dieser Häuser in Frage gestellt wird. Nun zieht sich der Bewohner als Erzählinstanz zunehmend aus dem Text zurück und präsentiert sich, im Verzicht auf individualisierende Personal- und Possessivpronomen, im Modus des ‚man‘ einer allgemeinen Wohnform. In der aktuellen Resonanz auf solche Bildbände durch die Wohnblogs mit ihren roomtours lässt sich eine Wiederkehr des Bewohners als Erzähler beobachten, indem der Wohnraum – und zwar gerade in seiner Ausstattung durch global verfügbare Einrichtungsgegenstände – als Werk von individueller und kreativer Aneignung präsentiert wird. Dass der Nachweis der Bewohnbarkeit eines Hauses an den konkreten Nachvoll- zug mit entsprechenden Darstellungsverfahren gebunden war, war keinesfalls auf die Selbstüberprüfung des modernen Haus beschränkt, sondern fand sich zuvor bereits bei seinem ‚Kontrahenten‘, der Mietskaserne. Mit der Augenzeugenschaft und dem prak- tischen Selbstversuch waren die entscheidenden Rahmenbedingungen für die moderne Gattung der Reportage gegeben. Die Wohnreportage gewinnt ihr Profil weniger am exklusiven Solitär, wie er in den Hausmonographien präsentiert wird, sondern an der inklusiven Wohnanlage. So dokumentieren Journalisten flankierend zu den statistischen Erhebungen von öffentlichen Einrichtungen seit Beginn des 20. Jahrhunderts in teil- nehmender Beobachtung die Wohnverhältnisse in den Mietskasernen und nutzen dabei poetische Verfahren der Vergegenwärtigung leiblicher Erfahrungen (Kalff). Eine andere Herausforderung stellt sich bei der Darstellung der neuen Städte der Ost-Moderne, die

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Christiane Holm, Ulrike Vedder: Das moderne Haus. Zur Einführung | 5 bereits während ihrer Entstehungszeit von Literaten begleitet wurden. Stephan Pabst untersucht diese Konstellation am Beispiel von Halle-Neustadt in den 1960er Jahren und zeigt, dass in produktiver Auseinandersetzung mit der etablierten Wohnreportage Formen der kollektiven Autorschaft erprobt wurden, wobei die polyphone Narration und die ins Bild gesetzten Formationen serieller Baumodule in einem korrespondierenden Verhältnis stehen. Der sich abzeichnende Befund, dass das moderne Haus in den modernen literarischen Formen des Fotobuchs und der Reportage, also in zeitgleichen neusachlichen Gattungs- innovationen abgebildet wird, die ihm bis in die Gegenwartsliteratur verbunden bleiben, ist zu erweitern. So finden sich Anschlüsse zu tradierten Gattungen der Subjektkonstitution, konkret zu Autobiographie und Bildungs- bzw. Entwicklungsroman, in denen die wechsel- seitige Formung von Subjekt und Wohnraum betont wird.19 Allerdings gerät die gattungs- konstitutive Metaphorik des Hauses, konkret des Kellers als Ort des Unbewussten oder der Dachstube als Ort der Imagination, aus den Fugen, wenn sich mit den existenziellen Bedingungen der Raumnutzung auch das imaginative Potential verändert, wie Sabine Kalff in ihrer Auswertung autobiografischer Dokumente aus dem Bombenkrieg zeigt. Auch in aktuellen Erzähltexten in der Tradition des Bildungs- oder Coming-of-Age-Romans er- scheint der stabilisierende Zusammenhang von Identität und Wohnraum fraglich. Mit dem Nachbar-Narrativ, das nicht den eigenen, sondern den fremden Wohnraum aneignet, wird an ein zentrales Strukturmerkmal von Hausmonographie und Wohnreportage angeknüpft, welches das Haus immer auch als „Möglichkeitsraum für andere“ (Noell) inszeniert und somit ein imaginatives Mitwohnen provoziert. Entsprechend kann Thomas Wegmann in der Gegenwartsliteratur eine Konjunktur von fiktionalen Erzähltexten identifizieren und analysieren, welche die imaginäre und zumeist heimliche Aneignung von fremdem Wohn- raum zum zentralen Erzählmotiv und zum Movens einer misslingenden Bildungs- oder problematischen Entwicklungsgeschichte machen. Auch in der Re-Lektüre der Sachtexte zum modernen Haus finden sich Traditionslinien, welche die Rhetorik des Neuanfangs relativieren. Lädt die Perspektivierung auf das Bauhaus dazu ein, den Anfang des modernen Hauses ab 1919 dingfest machen zu wollen, so kann Detlev Schöttkers Analyse der Programmschriften der Wiener Architekten Adolf Loos, Josef Frank, Emil Kaufmann und, im Austausch mit diesen, von Schriften Ludwig Witt- gensteins zeigen, dass hier im Anschluss an die antike Rhetorik und deren klassizistische Rezeption das Programm der Klarheit, Ordnung und Funktionalität bereits voll ausfor- muliert war. Hingegen offenbaren architekturtheoretische Abhandlungen, die weniger auf die Konstruktion des Hauses als auf seine städtebauliche Verortung in der Siedlung zielen, eine Anbindung an alltagssprachliche Szenerien der Gegenwart. Hans-Georg von Arburg untersucht solche größtenteils in Vergessenheit geratenen Traktate zur Siedlung von Adolf Loos, Hannes Meyer und Bruno Taut wie auch des Gartenbauarchitekten Leberecht Mig- ge, die auf die selbstversorgerische Aneignung von Haus und Garten als Gestaltungsraum zielen. Dabei werden durchaus antimodern verstandene ‚Öko-Visionen‘ von überbordender Bildlichkeit entworfen, die Strukturmerkmale von Science-Fiction-Romanen aufweisen.

19 Pisani, Oy-Marra (Hrsg.) (2014), Wichard (2012).

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 6 | Christiane Holm, Ulrike Vedder: Das moderne Haus. Zur Einführung

Wie stark die textuelle Darstellung Teil des Konzepts ist, zeigt der interessante Fall von Meyers propagandatheater co-op, mit dem er zwischenzeitlich auf die Bühne wechselte, um das visionäre Siedlungsgeschehen in Szene zu setzen. Besonders aufschlussreich für die wechselseitige Erhellung von Architekturtheorie und Fiktion sind die 1914 parallel in zwei Gattungen publizierten Überlegungen zu Glasbauten von Paul Scheerbart. Bezeichnenderweise wurde nicht nur sein Traktat Glasarchitektur, son- dern ebenso sein Roman Das graue Tuch in konzeptueller wie auch baupraktischer Hinsicht von Bruno Taut und dessen Architektenkollegen aus dem Netzwerk der Gläsernen Kette rezipiert. Das erstaunt, weil, wie Charlotte Kurbjuhn zeigen kann, Scheerbart in dem Roman mit den Mitteln der Satire sowie mit Anleihen von romantischen Erzählformen arbeitet. So entsteht ein hybrider Text, der das programmatische Bekenntnis zur Trans- parenz der Konstruktion und die Absage an das Ornament ausgerechnet in Form einer romantischen Arabeske erzählt. Dabei ermöglicht es der satirische Zugriff auf das Neue Bauen, die inhärenten Spannungen des modernen Hauses zur Darstellung zu bringen, bevor es überhaupt gebaut ist. Schließlich kommt dem fiktionalen Erzähltext als sukzessivem Medium in der Proble- matisierung von Statik und Bewegung, von Neuheit und Dauer des modernen Hauses eine zentrale Rolle zu. Bereits die frühen von den Siedlungsarchitekten skizzierten Situationen vom „neue[n] Leben zwischen geometrischen Kubaturen und Komposthaufen“ setzen bei den unkalkulierbaren Eigendynamiken der Lebenspraktiken an (von Arburg). Die dem Konzept vom „wachsende[n] Haus“ unterlegte Einsicht, dass „Häuser entgegen jeder bauherrlichen Logik nicht ‚fertig‘ sind, wenn sie zum ersten Mal bezogen werden können“ (Klappert), wurde seit den 1960ern zunehmend theoriefähig. Architekturtheoretiker wie Reyner Banham, Bernard Tschumi oder Brian Massumi denken Häuser nicht allein in ihrer Nutzung, sondern auch in ihrer Materialität als Prozesse. Angesichts dieser Theo- rieentwicklung identifiziert Annina Klappert in Stewart Brands Programmschrift How Buildings Learn eine Steilvorlage für das Erzählmodell des Entwicklungsromans. Ihre Sichtung einer Reihe aktueller anglo-amerikanischer und deutschsprachiger Romane, in denen ein Haus als Protagonist auftritt – wie Peter Zimmermanns Das tote Haus, Jenny Erpenbecks Heimsuchung, Thomas Hardings The House by the Lake und schließlich Glenn Pattersons Number 5 –, kommt zu dem Ergebnis, dass hier Zeitgeschichte in ihrer „rekursiven Prozessualität“ erzählbar wird. Ein wichtiges Gestaltungsmittel besteht in der strukturierenden Integration verschiedener dokumentarischer Textsorten wie z. B. von Immobilieninseraten am Anfang jeden Wohnkapitels in Pattersons Number 5. Auf der Folie dieses Romantyps erschließt sich die mediale Spezifik der Graphic Novel bei der Darstellung von Zeitläuften, so etwa in Richard McGuires Here, wo nicht nur das fortwährend umgestaltete Wohnzimmer in stets demselben Blickpunkt festgehalten wird, sondern analeptische Binnenbilder Szenen der vorzeitigen Akteure in die jeweilige Bild-Gegenwart hineinholen. Das moderne Haus erweist seine bis heute andauernde Faszinationsgeschichte mithin sowohl unter einer (sach-)literatur- und architekturhistorischen Perspektive als auch im systematischen Blick auf das Gefüge von Text-, Bau- und Wohnformen. Für die Erhellung dieser Zusammenhänge danken wir herzlich allen Beiträger*innen.

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Anschrift der Verfasserinnen: Dr. Christiane Holm, Martin-Luther-Universität Halle- Wittenberg, Philosophische Fakultät II, Germanistisches Institut, D–06099 Halle, ; Prof. Dr. Ulrike Vedder, Humboldt- Universität zu Berlin, Sprach- und literaturwissenschaftliche Fakultät, Institut für deutsche Literatur, D–10099 Berlin,

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang pen Zeitschrift für Germanistik | Neue Folge XXX (2020), Peter Lang, Bern | H. 1, S. 9–23

Detlev Schöttker Sprachökonomie und Designökonomie. Die rhetorische Tradition der Architekturmoderne in Wien

Die Anfänge des modernen Hauses sind schwer zu bestimmen. Die Protagonisten der Architektur- und Designmoderne, allen voran die Leiter des Bauhauses, haben behauptet, sie hätten sich von der Tradition losgesagt, um an deren Stelle das Programm klarer und funktionaler Gestaltung zu setzen.1 Als Vorläufer wird nur die Arts and Crafts-Bewegung genannt, die William Morris in England mit einer Firma für handwerklich solide Ein- richtungsgegenstände initiiert hatte – eine historische Orientierung, die nur wenige Jahr- zehnte vor die Anfänge des Bauhauses im Jahr 1919 in Weimar zurückreicht.2 Der 1907 gegründete Deutsche Werkbund, der Morris’ Programm für Industrieprodukte erneuern wollte, gehört durch personelle Verflechtungen und konzeptionelle Entsprechungen bereits zur Vorgeschichte des Bauhauses.3 Die Geschichtsschreibung ist den Selbstdarstellungen der Architekten und Designer ge- folgt. Nikolaus Pevsner hat die Erneuerung der Gestaltung von Morris bis zum Bauhaus in seinem 1936 erschienenen Buch Pioneers of the Modern Movement erstmals dargelegt.4 Sein Schüler Reyner Banham ergänzte in seinem 1960 veröffentlichten Buch Theory and Design in the First Machine Age die Darstellung für technische Konstruktionen.5 Beide Werke sind in vielen Auflagen und Übersetzungen verbreitet worden. Dadurch verfestigte sich der Eindruck, dass die Grundlagen moderner Gestaltung erst seit dem späten 19. Jahrhundert geschaffen wurden.6 Zwar stellte Sigfried Giedion in seinem Hauptwerk Space, Time and Architecture, das 1941 in den USA erschien und ebenfalls viele Neuauflagen erlebte, die moderne Architektur in eine Tradition seit der Renaissance, doch steht hier das Verhältnis von Form- und Wahrnehmungswandel im Mittelpunkt.7 Schaut man sich dagegen die Bauten und Publikationen von Vertretern der Wiener Moderne seit 1900 an, die ebenfalls zu den Vorläufern des Bauhauses zu rechnen sind, er- gibt sich ein anderes Bild. Einige beziehen sich ausdrücklich auf vorausgehende Epochen der Architekturgeschichte, in denen Ideen der Klarheit und Funktionalität im Mittelpunkt stehen, wie im Folgenden zu zeigen ist. Zu ihnen gehören der Publizist und Architekt Adolf Loos, der Sprachtheoretiker und Gestalter Ludwig Wittgenstein, der Architekt und Architekturkritiker Josef Frank sowie der Architekturhistoriker Emil Kaufmann. So

1 Vgl. Conrads (1975). 2 Vgl. Breuer (1998). 3 Vgl. Campbell (1989). 4 Pevsner (1996). 5 Banham (1990). 6 Vgl. das Nachwort von Wolfgang Pehnt in Pevsner (1996, 240–248). 7 Giedion (1989).

© 2020 Detlev Schöttker - http://doi.org/10.3726/92165_9 - Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namens­nennung 4.0 Internationalen Lizenz Weitere Informationen: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0 10 | Detlev Schöttker: Sprachökonomie und Designökonomie unterschiedlich ihre Überlegungen waren, so sehr orientierten sie sich an Traditionen der Gestaltung, die von der Rhetorik geprägt waren.8

I. Rhetorik als Grundlage der Architektur. Seinen Ursprung hat das Prinzip der Klarheit in der antiken Rhetorik. Es sollte dem Zweck dienen, das Anliegen des Redners deutlich und nachvollziehbar zu vermitteln.9 Schon in der Rhetorik des Aristoteles, die um 340 v. Chr. entstand, heißt es, dass „der höchste Vorzug des Stils dessen Klarheit“ sei.10 Grundlage der Umsetzung ist der zweite Schritt der Verfertigung einer Rede, die sogenannte dispositio, in der es nach der Stoffsammlung (‚inventio‘) um die Ordnung des Stoffes geht. Alle ande- ren Schritte von der sprachlichen Ausgestaltung (‚elocutio‘) über die Einprägung (‚memo- ria‘) bis hin zum mündlichen Vortrag (‚actio‘) können ebenfalls einen Beitrag zur Klarheit leisten.11 Die Verbindung von Klarheit und Ordnung wurde von Architekturtheoretikern in Renaissance, Aufklärung und Klassizismus übernommen und seit Mitte des 18. Jahr- hunderts als ‚edle Einfalt‘, später auch als Einfachheit bezeichnet.12 Der römische Architekt Vitruv hat als erster Grundgedanken der Rhetorik auf die Bau- kunst übertragen. In der um 30 v. Chr. entstandenen Schrift Zehn Bücher über Architektur rechnet er die ‚dispositio‘ zu den „ästhetischen Grundbegriffen“, weil sie eine „passende Zusammenstellung der Dinge“ und damit eine „schöne Ausführung des Baues“ gewährleis- te.13 Darüber hinaus verlangte er für Darstellungen zur Architektur sprachliche Klarheit,14 übernahm also in doppelter Hinsicht Grundsätze der Rhetorik. Vitruvs Schrift hatte über Jahrhunderte kanonische Geltung, da es sich um die einzige Baulehre handelt, die aus der Antike überliefert wurde. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts aber verlor sie an Bedeutung, nachdem in Paestum und auf Sizilien griechische Tempel entdeckt worden waren, die in ihrer gedrängten Übersichtlichkeit zum neuen Vorbild der Architektur wurden.15 Die Ideen der Klarheit und Funktionalität waren von der Überwindung des Vitru- vianismus nicht betroffen. Im Gegenteil – auch spätere Theoretiker beriefen sich darauf, wählten aber neue Referenzobjekte. Dies war zunächst die sogenannte Urhütte, deren Tradition wiederum in die Antike zurückreicht.16 So schreibt der Theologe und Schrift- steller Marc-Antoine Laugier in seinem 1753 erschienenen Essai sur l’architecture, der große Wirksamkeit bekam: Diese kleine, rustikale Hütte, die ich gerade beschrieben habe, war das Modell, von dem alle Herrlichkeit der Architektur ihren Ausgang nahm. Durch eine Annäherung beim Bauen an die Einfachheit dieses ursprünglichen Modells werden grundlegende Fehler vermieden und wird echte Vollkommenheit erreicht.

8 Auch Hahnisch (2018) vertritt die These der Traditionsorientierung, bezieht sich aber nicht auf Ideen der Rhetorik. 9 Vgl. Giuriato (2015). 10 Aristoteles (1999, 154). 11 Vgl. Ueding (2011), Ueding (2009). 12 Vgl. Schöttker (2019a). 13 Vitruv (1991, 37). 14 Vitruv (1991, 203–205). 15 Vgl. Pevsner (1971), Forsman (1996). 16 Rykwert (2005).

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Einfachheit und Funktionalität bilden bei der architektonischen Naturform nach Auf- fassung Laugiers eine Einheit. „Die wesentlichen Bestandteile, aus denen sich eine archi- tektonische Ordnung zusammensetzt“, so schreibt er weiter, „sind einzig und allein Säule, Gebälk und Giebel. Wenn sich jeder dieser Teile am richtigen Platz findet und in der ihm gemäßen Form, gibt es nichts, was man noch zur Vollkommenheit des Werkes hinzufügen könnte.“17

Abb. 1: Urhütte nach Kupferstich von Charles Eisen, Frontispiz des Essai sur l’architecture (17552).

Die Idee funktionaler Einfachheit wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts aktualisiert, um die Abkehr vom Ornament zu begründen. Sie ist nicht zuletzt in jenen Formeln gegenwärtig, die immer wieder zitiert werden, um Grundgedanken der Architektur- und Designmoderne zu charakterisieren: ‚Form follows function‘, ‚Ornament ist Verbrechen‘ und ‚Weniger ist mehr‘. Geht man der Herkunft dieser Formeln nach, dann zeigt sich, dass sie eine lange Tradition haben, die in der Rhetorik verwurzelt ist. Diese Wurzeln sind weder mit der Idee einer ‚architecture parlante‘ zu verwechseln, die in der französischen Architekturtheorie des

17 Laugier (1989, 34).

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18. und 19. Jahrhunderts diskutiert wurde,18 noch mit den Überlegungen zur Beschreibung von Produkten in Designtheorien des späten 20. Jahrhunderts, die ebenfalls auf Begriffe und Ideen der Rhetorik zurückgreifen.19 Vielmehr geht es um den Einfluss der Rhetorik auf die Grundlagen des Bauens und Gestaltens. Dieser Einfluss ist bisher kaum untersucht worden, weil die Rhetorik seit der Aufklärung als Demagogie kritisiert und im Sturm und Drang durch die Genieauffassung verdrängt wurde. So schreibt Gert Ueding, der als Herausgeber des 12-bändigen Historischen Wörterbu- chs der Rhetorik eine neue Grundlage für das Verständnis der antiken Redelehre und ihrer Geschichte geschaffen hat: Der Bann, den die idealistische Ästhetik des 19. Jahrhunderts über die Rhetorik verhängt hat, wirkt sich bis heute aus und hat dazu geführt, daß fast die gesamte Forschungsliteratur über die neuzeitliche Kunst-, Architektur- und Musiktheorie von falschen Voraussetzungen ausgeht und nur eingeschränkt brauchbar ist.20 Zwar hat sich Friedrich Nietzsche seit 1870 um eine neue Deutung der Rhetorik als Sprach- und Gestaltungskunst bemüht, seine Überlegungen aber nicht veröffentlicht.21 Ein direkter Einfluss auf Architekten und Designer der Moderne ist deshalb nicht nachweisbar, auch wenn einige sein Werk gut kannten, darunter Peter Behrens als Mitbegründer des Deutschen Werkbundes.22 Greifbar wird der Einfluss der Rhetorik auf die Gestaltung allerdings bei Wiener Architekten und Publizisten zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

II. Adolf Loos und L. H. Sullivan. Die These ‚Form follows function‘, die auch vom Deut- schen Werkbund verbreitet wurde,23 entspricht der rhetorischen Idee der Angemessenheit von Gegenstand und Darstellung. Sie stammt von dem in Chicago tätigen Architekten Louis Henry Sullivan und findet sich in einem 1896 publizierten Beitrag The Tall Office Building Artistically Considered. Die Formel wird hier allerdings nicht aus der Sprache oder der Architektur, sondern aus der Natur abgeleitet. Diese galt schon in der Ästhetik der Aufklärung als Vorbild für Einfachheit und Wahrheit, so dass ihre Nachahmung in den Künsten empfohlen wurde.24 „Ob wir“, so Sullivan, „an den im Flug gleitenden Adler, die geöffnete Apfelblüte, das schwer sich abmühende Zugpferd […] oder die über allem strahlende Sonne denken, immer folgt die Form der Funktion“.25 Adolf Loos war die Idee vermutlich bekannt, als er mit seinem Vortrag Ornament und Verbrechen seit 1908 durch mehrere Städte Europas zog (der Text wurde erst 1920 ge- druckt). Zumindest aber hatte er die funktionalistischen Büro- und Verwaltungsgebäude von Sullivan und anderen Architekten in Chicago gesehen, als er sich zwischen 1893 und

18 Vgl. Wittmann (1997). 19 Vgl. Joost, Scheuermann (2008), Mareis (2014). 20 Ueding (2009, 48). 21 Vgl. Gauger (1986). 22 Vgl. Malcovati (2015). 23 Die Form ohne Ornament (1924). 24 Vgl. Schöttker (2019b, 12 f.). 25 Vgl. Sullivan (1999, 144).

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1896 in den USA aufhielt.26 Einige stammen von deutschen Architekten aus der Schule Karl Friedrich Schinkels, die zunächst nach der gescheiterten Revolution von 1848 und dann noch einmal seit 1872 in die USA ausgewandert waren, darunter Dankmar Adler, ein langjähriger Partner von Sullivan. Dort setzten sie Schinkels ‚strengen Stil‘, der zur Erneuerung des Klassizismus führte und am deutlichsten bei der Berliner Bauakademie sichtbar wird, in eigenen Bauten um.27 Wenige Jahre nach der Rückkehr in seine Heimatstadt Wien verfasste Loos Artikel zur Kunst und Kultur der Gegenwart, in denen er seine These aus Ornament und Verbrechen variierte, dass Verzierungen aus ökonomischen, kulturellen und gesundheitlichen Gründen verwerflich seien.28 Mit der Fassade des 1910 am Michaelerplatz gegenüber der Wiener Hofburg erbauten Hauses setzte er seine Auffassung in die architektonische Praxis um. In der Öffentlichkeit wurde das Haus, das sich an der reduzierten Formensprache des Klassizis- mus und des Biedermeier orientierte, wegen seiner Ornamentlosigkeit heftig angegriffen.29

Abb. 2: Das 1910 erbaute Loos-Haus am Michaelerplatz in Wien.

26 Vgl. Rukschio, Schachel (1987, 23 –25). 27 Vgl. Geraniotis (1987, 93 –107). 28 Zusammengefasst in zwei Bänden, die zu Lebzeiten erschienen sind. Vgl. Loos (1987). 29 Vgl. Lustenberger (1994, 24 f.).

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In einem 1910 erschienenen Beitrag mit dem Titel Architektur, den er 1931 in die viel- gelesene Sammlung Trotzdem aufnahm, weist Loos ausdrücklich darauf hin, dass er sich bei der Fassade des Hauses am Michaelerplatz an Bauten von „1800“ orientiert habe. „Ich musste daher“, so schreibt er mit Bezug auf den Historismus, „dort anknüpfen, wo die Kette der Entwicklung zerrissen wurde“. Und er ergänzt: „Eines wusste ich: ich musste, um in der Linie der Entwicklung zu bleiben, noch bedeutend einfacher werden.“30 Zehn Jahre später bezog er sich sogar auf die griechische Antike, als er 1922 bei der Ausschreibung zu einem Gebäude für die Zeitung The Chicago Tribune den Entwurf eines Hochhauses in Form einer dorischen Säule einreichte.31 Karl Kraus gehörte zu den wenigen Verteidigern von Loos. Im Dezember 1910 schrieb er in einem Beitrag seiner Zeitschrift Die Fackel zum Haus am Michaelerplatz, dass Loos hier „einen Gedanken hingebaut“ habe.32 Ein vorausgehender Beitrag in der Fackel vom Mai 1909, in dem Kraus seine Kritik am Journalismus mit Loos’ Kritik am Ornament gleichsetzt, zeigt, dass hier der Gedanke der Klarheit gemeint war: Der Verschweinung des praktischen Lebens durch das Ornament, wie sie der gute Amerikaner Adolf Loos nachweist, entspricht die Durchsetzung des Journalismus mit Geisteselementen, die aber zu einer noch katastrophaleren Verwirrung führen mußte. Die Phrase ist das Ornament des Geistes.33 In der Tat basiert Kraus’ Kritik an der Presse auf einer Idee sprachlicher Klarheit, die ihren Ursprung in der Rhetorik hat, obwohl dies in seinen Beiträgen nie ausgesprochen wurde.

III. Ludwig Wittgenstein und W. v. Ockham. Leser der Fackel und Anhänger von Kraus war Ludwig Wittgenstein. Sein erstes Werk, die Gedankensammlung Logisch-philosophi- sche Abhandlung, hatte er Kraus’ Verlag Jahoda & Siegel angeboten, doch wurde es hier ebenso abgelehnt wie von anderen Verlagen, so dass es 1921 zunächst in den Annalen zur Naturphilosophie und 1922 in einem Londoner Verlag als deutsch-englische Buchausgabe mit dem heute gebräuchlichen lateinischen Titel Tractatus logico-philosophicus erschien. Das Buch hat durch die Reflexion der sprachlichen Verfasstheit von Aussagen über die Wirklichkeit den Logischen Empirismus des Wiener Kreises geprägt.34 Dass Wittgenstein hier zumindest indirekt durch Ideen der Rhetorik inspiriert wurde, zeigt ein immer wieder zitierter Satz aus der „Vorrede“, nämlich: „Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen“.35 Auch Wittgensteins Idee der Einfachheit könnte von Ideen der Rhetorik inspiriert sein, obwohl nicht untersucht ist, ob er sich mit ihnen beschäftigt hat.36 Im Tractatus heißt es:

30 Loos (1988c, 98 f.). 31 Vgl. Lustenberger (1994, 132 f.), Wilkinson (2017, 146–149). 32 Kraus (1985, 40). 33 Kraus (1989, 188). Kraus übernahm die Formulierung in seinen 1910 erschienenen Essay Heine und die Folgen, der 1922 in seinem Buch Untergang der Welt durch schwarze Magie nachgedruckt wurde. 34 Vgl. Stadler (1997, 467–488). 35 Wittgenstein (1984a, Bd. 1, 9). 36 Das gilt auch für Wittgensteins Umfeld. Vgl. Janik, Toulmin (1984).

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Die Lösungen der logischen Probleme müssen einfach sein, denn sie setzen den Standard der Ein- fachheit. Die Menschen haben immer geahnt, daß es ein Gebiet von Fragen geben müsse, deren Antworten – a priori – symmetrisch, und zu einem abgeschlossenen, regelmäßigen Gebilde vereint liegen. Ein Gebiet, in dem der Satz gilt: simplex sigillum veri.37 Während die lateinische Formulierung, wonach das Einfache ein Kennzeichen der Wahrheit sei, historisch nicht genauer identifiziert werden kann, lässt sich Wittgensteins Hinweis auf eine Feststellung des spätmittelalterlichen englischen Philosophen William von Ockham der rhetorischen Tradition zuordnen. „Occams Devise“ besage, so Wittgenstein mit anderer Schreibung des Namens, dass „unnötige Zeicheneinheiten nichts bedeuten“.38 Der Umkehrkehrschluss, also die These, dass zu streichen sei, was dem Verständnis nicht diene, ist in Ockhams Schriften zwar nicht zu finden, wurde aber unter der Formel „Ockhams Rasiermesser“ zu einem Grundgedanken der Denkökonomie, die in der Er- kenntnistheorie der Moderne eine zentrale Rolle spielt. Die Grundzüge hatte der Natur- wissenschaftlicher und Philosoph Ernst Mach Ende des 19. Jahrhunderts während seiner Tätigkeit an der Universität Wien in mehreren Schriften skizziert. Zwar haben seine Überlegungen verschiedene Deutungen erfahren, doch lässt sich als gemeinsamer Nenner festhalten, dass es sich hier um eine methodologische Maxime handelt, nach der einer einfachen Theorie der Vorzug gegenüber einer komplexen gegeben werden solle, da sie die Erkenntnis erleichtere.39 Die vielzitierte Formel ‚Weniger ist mehr‘ ist der Idee der Denkökonomie verpflichtet. Sie zielt nicht nur auf die gestalterische Praxis, sondern auch auf den intellektuellen Mehrwert von Reduktionen. Zugeschrieben wird sie Mies van der Rohe, der zwischen 1930 und 1933 Direktor des Bauhauses in Dessau war. Sie ist in seinen Texten aber ebenso wenig nach- weisbar wie bei anderen Vorläufern und Protagonisten im Umfeld des Bauhauses.40 Man kann deshalb von einer Kollektividee der frühen Moderne sprechen. Doch gibt es auch hier eine lange, auf die Rhetorik zurückgehende Vorgeschichte. Behandelt wird das Prinzip der Reduktion in Quintilians Werk Über die Ausbildung des Redners, dem umfangreichsten Lehrbuch zur Rhetorik in der Antike (um 95 v. Chr.). So empfiehlt der Verfasser Kürze bei Erzählungen vor Gericht und erläutert dies wie folgt: „Wir aber nehmen Kürze in dem Sinn: nicht, dass weniger, sondern dass nicht mehr gesagt wird als nötig.“41 Wittgenstein hat das Prinzip der Reduktion auf die Gestaltung übertragen, als er 1926 zusammen mit Paul Engelmann, einem Schüler von Adolf Loos, ein Wohnhaus für seine Schwester in Wien entwarf, das 1928 gebaut wurde.42

37 Wittgenstein (1984a, Bd. 1, 55–56); nach der Nummerierung im Tractatus: 5.4541. 38 Wittgenstein (1984a, Bd. 1, 76), Tractatus: 5.47321. Wittgenstein verweist im Tractatus nochmals darauf (vgl. 3.328). 39 Vgl. Beckmann (1990, 191–207). 40 Vgl. Neumeyer (2016). 41 Quintilian 1995 (Bd. 2, 453). 42 Vgl. Wijdefeld (1994).

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Abb. 3: Das Wittgenstein-Haus in Wien (Fotografie von 1929).

In einem geplanten Vorwort zu den Philosophischen Bemerkungen, das Wittgenstein 1930 verfasste, aber nicht veröffentlichte, heißt es: „Mir dagegen ist die Klarheit, die Durch- sichtigkeit, Selbstzweck. Es interessiert mich nicht, ein Gebäude aufzuführen, sondern die Grundlagen der möglichen Gebäude durchsichtig vor mir zu haben.“ Wittgenstein geht hier über die Architektur hinaus und verwendet den Gebäudebegriff zugleich in metaphorischer Hinsicht für philosophische wie wissenschaftliche Systeme, wie der Nachsatz zeigt: „Mein Ziel ist also ein anderes als das der Wissenschaftler, und meine Denkbewegung von der ihrigen verschieden.“ 43 Mit Grundfragen moderner Architektur und Gestaltung hatte sich Wittgenstein lange vor dem Bau des Hauses und der Niederschrift des Tractatus beschäftigt. Dies zeigt ein im Juni 1914 geschriebener Brief seines Freundes William Eccles, den er 1908 während eines Maschinenbau-Studiums in Manchester kennengelernt hatte. Eccles, der Wittgen- steins Interesse an Design und Architektur teilte, nennt drei Kriterien für den Bau eines eigenen Hauses, worauf Wittgenstein in seinem Antwortbrief zustimmend reagierte: „1. Funktionalität […]; 2. Konstruktion (Der einfachsten Methode wird der Vorzug gege- ben); 3. absolute Schlichtheit“.44 Vier Jahre nach Loos’ Haus am Michaeler Platz in Wien sind hier die Grundgedanken der Design- und Architekturmoderne präzise zusammengefasst.

43 Wittgenstein (1984b, Bd. 8, 459). 44 Zitiert nach Wijdefeld (1994, 27). Den Brief hat Wijdefeld erstmals publiziert.

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IV. Josef Frank und Alberti. Anders als Wittgenstein hatte sich Josef Frank ausführlich mit der Geschichte der Baukunst und ihrer Theorie beschäftigt, bevor er in Wien als Architekt zu arbeiten begann.45 Begleitet wurde die Tätigkeit durch zahlreiche Artikel über aktuelle Fragen des Bauens, in denen Frank häufig auf Traditionen der modernen Gestaltung verweist.46 In einem dialogischen Text, der 1927 unter dem Titel Vom neuen Stil in der Zeitschrift Baukunst erschien, heißt es zugespitzt: „Stile werden erfunden, und der moderne stammt aus dem Jahre 1420. Das war meines Wissens das erste Mal, dass ein Architekt erklärte: ‚Von heute an baue ich im modernen Stil‘“.47 Frank spielt hier auf Leon Battista Alberti an, zu dem er 1910 an der Technischen Hoch- schule Wien eine Dissertation mit dem Titel Über die ursprüngliche Gestalt der kirchlichen Bauten des Leone Battista Alberti vorgelegt hatte.48 Alberti wurde u. a. als Redner ausgebildet und hatte 1450 ein wegweisendes Werk mit dem Titel De re aedificatoria verfasst, das er in Anlehnung an Vitruv ebenfalls als Zehn Bücher über die Baukunst bezeichnete.49 Zwar spielt die Rhetorik hier in begrifflicher und argumentativer Hinsicht keine Rolle, doch Albertis vorausgehende Schrift De Pictura orientiert sich an Prinzipien des Redeaufbaus.50 In Bezug auf die Ornamentik ist Alberti in seinem Architektur-Traktat einen Schritt weiter gegangen als sein Vorgänger, wenn er betont, „dass die klügsten und mäßigsten Männer […] auch in der Baukunst Mäßigkeit und Sparsamkeit außerordentlich gebilligt hätten.“51 Josef Frank greift die Idee in seiner Dissertation auf und bezieht sie auf die ak- tuelle Loos-Debatte in Wien, indem er Albertis Auffassung mit der von Andrea Palladio vergleicht. Bei diesem, so schreibt er, habe der „Grundsatz“ der Eurythmie zu einer „völlig ornamentlosen Architektur“ geführt. „So weit“ sei Alberti nicht gegangen; vielmehr habe er „dem Ornament noch einen Platz“ eingeräumt.52 Auch Frank vertrat diese Auffassung. In seinem 1931 erschienenen Buch Architektur als Symbol heißt es in einem Abschnitt mit der Überschrift „Was ist modern?“: „Modern ist das Haus, das alles in unserer Zeit Lebendige aufnehmen kann und dabei doch ein organisch gewachsenes Gebilde bleibt“.53 In dem zeitgleich erschienenen Beitrag Das Haus als Weg und Platz bezog er sich auf Camillo Sittes Buch Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen von 1889, in dem der in Wien lebende Verfasser auf antike, mittelalterliche und frühneuzeitliche Ideen zur Stadtplanung zurückgreift, um diese für die Gegenwart fruchtbar zu machen. „Ein gut angelegtes Haus“, so meint Frank im Anschluss an Sitte, „gleicht jenen alten schönen Städten, in denen sich selbst der Fremde sofort auskennt.“54

45 Vgl. Long (2002), Meder (2008), Thun-Hohenstein, Czech, Hackenschmidt (Hrsg.) (2016). 46 Frank (2012). 47 Frank (2012, Bd. 1, 318). 48 Vgl. Frank (2012), Bd. 1, 47–120). 49 Vgl. Grafton (2002). 50 Alberti (2000, 194–315). Vgl. zu den Bezügen auf die Rhetorik den Kommentar der Hrsg. (ebd., 316–333). 51 Alberti (1975, 471). 52 Frank (2012, Bd. 1, 54). 53 Frank (2012, Bd. 2, 134). 54 Frank (2012, Bd. 2, 198).

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In einem 1930 gehaltenen Vortrag bei der Tagung des Wiener Werkbundes, für den er zwei Jahre später die Internationale Werkbund-Siedlung organisierte, verweist Frank auf die japanische Architektur als Vorbild der Moderne. Hier heißt es: So ist unser modernes Haus die Fortsetzung des ganzen Dranges nach Freiheit, der sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts unter dem japanischen Einfluß geltend machte. […] Die Grundlagen unserer modernen Architektur, die Prinzipien, nach denen das neue Haus gebaut ist, sind also weder Stahl noch Eisen, noch Eisenbeton, sondern sein Vorbild ist das japanische Haus, das aus Holz gebaut ist, mit seinen verschiebbaren Wänden, vergänglich und leicht, beweglich und transparent.55

V. Emil Kaufmann und Ledoux. Beweglichkeit und Transparenz sind zentrale Kategorien in Emil Kaufmanns Buch Von Ledoux bis Le Corbusier, das in Wien entstand und 1933 erschien. Die Tradition der Moderne wurde hier erstmals Gegenstand einer architektur- historischen Darstellung. Der Verfasser hatte 1920 an der Universität Wien mit der Dis- sertation Architekturtheorie der französischen Klassik und des Klassizismus promoviert und war während der Arbeit auf die nur in Papierform überlieferten Entwürfe der französi- schen Revolutionsarchitekten um 1800 gestoßen, die als Baukörper ausschließlich geo- metrische Formen ohne Ornamentik verwenden wollten.56 Diese Formen und ihre Kombination sollten zur Klarheit des Denkens beitragen, waren also mit einem rhetorischen Anspruch verbunden. So heißt es in einem – erst im 20. Jahr- hundert entdeckten und veröffentlichten – Architektur-Traktat von Etienne-Louis Boullée, der neben Claude-Nicolas Ledoux zu den wichtigsten Vertretern der revolutionären Be- wegung gehörte: Wie stark die Erscheinung eines Gegenstandes auf uns wirkt, hängt aber von seiner klaren Er- fassbarkeit ab; was nun die regelmäßigen Körper für uns besonders hervorhebt, ist die Tatsache, daß ihre Regelmäßigkeit und Symmetrie Inbegriff der Ordnung sind und daß in dieser Ordnung wiederum die Klarheit selbst liegt.57 Dieselbe Auffassung vertrat Le Corbusier seit Anfang der 20er Jahre in mehreren Schrif- ten, die seine radikal reduzierten Gebäude begleiteten. 1929 heißt es in Feststellungen zu Architektur und Städtebau: Wir sind auf die Suche nach der Architektur gegangen und dabei auf das Gebiet des Einfachen geraten. Große Kunst gebraucht einfache Mittel – das wollen wir uns unermüdlich wiederholen. Die Geschichte zeigt uns die Neigung des Geistes zum Einfachen. Das Einfache ist das Ergebnis der Urteilskraft und der Auswahl; es ist das Merkmal der Meisterschaft. Sobald man sich vom Komplizierten löst, findet man die Mittel, die den Zustand des Bewusstseins offenbaren.58 Obwohl Le Corbusier in der Wiener Moderne anders als in Deutschland eher eine untergeordnete Rolle spielte, hat Kaufmann eine Verbindung zwischen ihm und den

55 Frank (2012, Bd. 1, 412). 56 Vgl. Nerdinger, Philipp, Schwarz (1990). 57 Boullée (1987, 56). 58 Le Corbusier (1987, 82).

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Revolutionsarchitekten hergestellt. Zwar argumentiert er in erster Linie architektonisch, doch ist auch hier das gestalterische Prinzip der ‚dispositio‘ erkennbar, wenn Kaufmann schreibt: In der klassisch-barocken Kunst waren alle Teile innig verbunden, gleichsam aus einem Guß. Nun sind die Teile vereint, aber dennoch selbständig lebensfähig. […] Die Verselbständigung der Teile ist das wichtigste Ergebnis des architektonischen Regenerationsprozesses vom Ausgang des 18. Jahrhunderts.59 Da Kaufmann nach seiner Promotion als Bankangestellter arbeitete und 1938 in die USA emigrierte, wo er 1953 in ärmlichen Verhältnissen starb, ist bis heute unbekannt, ob er mit Vertretern der Moderne in Verbindung stand.60 Mit ihren Werken und Schriften war er jedenfalls gut vertraut. Neben Le Corbusier und Walter Gropius erwähnt er z. B. auch Adolf Loos und dessen Schüler Richard Neutra, der 1923 in die USA ausgewandert war. Die Revolutionsarchitekten, so Kaufmann, hätten das „Leitmotiv“ des „heutigen Bauens“ vorweggenommen, wie es Gropius 1925 im ersten Band der Bauhausbücher beschrieben habe: „Variabilität desselben Grundtypus durch wechselseitigen An- und Aufbau sich wie- derholender Raumzellen“.61 Kaufmanns Buch war damit die erste historische Darstellung zu den Prinzipien der Architekturmoderne.

VI. Schluss: Bauhaus und Wiener Moderne. Am Bauhaus wurde das historische Interesse der Wiener Moderne nicht aufgenommen oder diskutiert. Ludwig Mies van der Rohe, der 1927 für den Deutschen Werkbund den Bau einer Wohnsiedlung am Weißenhof in Stuttgart organisierte, lud nur Josef Frank, nicht aber Adolf Loos und andere Wiener Architekten zur Mitwirkung ein. Auch unter den Referenten aus dem Wiener Kreis, die zwischen 1929 und 1931 Vorträge am Bauhaus in Dessau hielten, war kein Architekt. Im Vordergrund standen dort nicht Fragen des Bauens, sondern solche der Sozial- und Naturwissenschaften, die die Vertreter des Wiener Kreises im Sinne des logischen Em- pirismus erneuern wollten.62 So sprachen 1929 in Dessau Otto Neurath über Bildstatistik und Gegenwart und Rudolf Carnap über Wissenschaft und Leben, Aufgabe und Gehalt der Wissenschaft sowie zum Thema Der logische Aufbau der Welt.63 Das Interesse am logischen Empirismus des Wiener Kreises hängt mit einem Wandel am Bauhaus zusammen, den Hannes Meyer einleiten wollte, nachdem er 1928 als Nach- folger von Walter Gropius zum Direktor ernannt worden war. Die Ideen der Rationalität und Funktionalität sollten zu einer „wissenschaftlichen Baulehre“ weiterentwickelt werden, die biologische, psychologische und soziale Fragen im Sinne des Marxismus zu einer Ein- heit verknüpft.64 Meyers Interesse am Wiener Kreis geht nicht zuletzt auf den sozialen

59 Kaufmann (1985, 43). 60 Vgl. zur Biographie Betthausen, Feist, Fork (1999, 208–210). 61 Kaufmann (1985, 48). 62 Vgl. Stadler (1997), Stölzner, Uebel (2006). 63 Vgl. Galison (1995), Thurm-Nemeth (1998), Bernhard (2015), der eine genaue Auflistung der Referenten und Vorträge liefert. 64 Vgl. Droste, Kleinerüschkamp (1989), Ostwald (2019).

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Wohnungsbau in Wien zurück, für den sich seit den 1920er Jahren neben Rudolf Carnap und Otto Neurath auch Adolf Loos und Josef Frank engagiert hatten – er ist als „Rotes Wien“ bekannt geworden.65 Bereits im Vorwort seines 1928 erschienenen Buches Der logische Aufbau der Welt wies Carnap auf die Verbindung zwischen der Weltauffassung des Wiener Kreises und Ideen der Architekturmoderne hin. „Wir spüren“, so schreibt er, eine innere Verwandtschaft der Haltung, die unserer philosophischen Arbeit zugrundeliegt, mit der geistigen Haltung, die sich gegenwärtig auf ganuz anderen Lebensgebieten auswirkt; wir spüren diese Haltung in Strömungen der Kunst, besonders in der Architektur, und in den Bewegungen, die sich um eine sinnvolle Gestaltung des menschlichen Lebens bemühen. Es handele sich um eine „Gesinnung, die überall auf Klarheit“ ziele, wie Carnap hin- zufügt.66 Zwar führte der soziale Wohnungsbau zu einer Abkehr von der historischen Orientierung, nicht aber zu einer Abkehr von der Klarheit als einem Grundgedanken der Rhetorik.

Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Kupferstich von Charles Eisen, hier als Frontispiz der 2. Auflage v. Marc-Antoine Laugier: Essai sur l’architecture. Paris 1755. Abgedruckt in: Ders.: Das Manifest des Klassizismus. Verlag für Architektur, Zürich, München 1989, S. 35. Abb. 2: Das Loos-Haus am Michaelerplatz in Wien. Fotografie. Abgedruckt in: Kurt Lustenberger: Adolf Loos. Artemis Verlag, Zürich u. a. 1994, S. 69. Abb. 3: Das Wittgenstein-Haus in Wien. Fotografie (1929) von Moritz Nähr im Besitz von Michael Nedo, Cambridge. Abgedruckt in: Paul Wijdeveld: Ludwig Wittgenstein, Architekt. Wiese Verlag, Basel 1994, S. 106.

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65 Vgl. Schwarz, Spitaler, Wikidal (2019). 66 Carnap (1928, V f.).

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Abstract Der Beitrag zeigt, dass die Grundlagen des modernen Bauens und Gestaltens in zentralen Ideen der Rhetorik wie Klarheit, Funktionalität und Ordnung verwurzelt sind. Anders als die Protagonisten und Anhänger des Bauhauses bezogen sich Vertreter der Wiener Moderne auf die Tradition einer rhetorisch fundierten Architekturtheorie seit der Antike, wie an Beiträgen von Adolf Loos, Ludwig Wittgenstein, Josef Frank und Emil Kaufmann erläutert wird. The article shows that the foundations of modern building and design are rooted in central ideas of rhetorics such as clarity, functionality, and order. In contrast to the protagonists and followers of the Bauhaus, representatives of Viennese Modernism refer to the tradition of a rhetorically founded archi- tectural theory since antiquity, as is explained in contributions by Adolf Loos, Ludwig Wittgenstein, Josef Frank and Emil Kaufmann. Keywords: Bauhaus, Einfachheit, Gestaltung, Klarheit, Rhetorik

Anschrift des Verfassers: Prof. Dr. Detlev Schöttker, Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturwissenschaft, Schützenstraße 18, D–10117 Berlin/Humboldt-Universität zu Berlin, Sprach- und literaturwissenschaftliche Fakultät, Institut für deutsche Literatur, D–10099 Berlin,

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) pen Zeitschrift für Germanistik | Neue Folge XXX (2020), Peter Lang, Bern | H. 1, S. 24–49

Charlotte Kurbjuhn Hinter Glas: Imaginationen des modernen Hauses in utopischen Romanen Paul Scheerbarts und frühen Architekturentwürfen Bruno Tauts

Die Forschung zu Scheerbarts Architekturimaginationen und deren Einfluss auf Bruno Taut konzentriert sich zumeist auf die ästhetischen oder religiös-kosmischen Gemeinschafts- erlebnisse, die mittels avantgardistischer Glasbauten ermöglicht werden sollten. Auch die ‚astralen‘ Imaginationen gigantischer Architekturen wie im „Asteroiden-Roman“ Lesabéndio werden immer wieder als Beispiel phantastischer Architektur herangezogen. Demgegenüber möchte ich mich in diesem Beitrag den ganz terrestrischen Wohnarchitekturen in Paul Scheerbarts Roman Das graue Tuch und zehn Prozent Weiß (1914) widmen, denn während Scheerbarts Umgebung bereits vielfach von gläsernen Architekturen in der Öffentlichkeit, in „Ausstellungshallen, Gewächshäusern, Bahnhöfen [und] Passagen“, geprägt wurde, propagierte er offenbar als Erster die universelle Verwendung von Glasarchitektur für Wohnbauten.1 Im Folgenden werde ich zunächst zentrale Aspekte aus Scheerbarts mitunter als „Sach- buch“2 bezeichneter Schrift Glasarchitektur (ebenfalls aus dem Jahr 1914) vorstellen (I.). Angesichts stilistischer Parallelen und satirischer Untertöne gerade dort, wo praktisch- technische Realisierungspotentiale zur Debatte stehen, stellt sich allerdings die Frage, inwiefern eine Trennung von Fiktion und ‚Sachbuch‘ hier angebracht ist, zumal die Glasarchitektur auch als „schwärmerische[r] Architekturroman“ gelesen wird, der zugleich als „Testament“ und „Arbeitskatalog“ für Bruno Taut fungiert habe (II.).3 Anschließend werde ich untersuchen, auf welche Weise die dort propagierten Architekturen im Roman Das graue Tuch narrativ dargestellt werden und welche Relevanz ihnen für die Hand- lung sowie die Figurencharakteristik innerhalb der Romane zukommt. Im Kontext der zeitgenössischen Virulenz von Theoremen zur Psychophysik sowie zur ‚Allbeseelung‘ in Anlehnung an Gustav Theodor Fechners kosmosophische Schriften sind insbesondere die Intensität des Farberlebens und die ubiquitäre Lichtmetaphorik zu beachten (III.). Schließlich gilt es, kurz die Wirkungen von Scheerbarts visionären Glasarchitekturen auf Bruno Taut und die Gläserne Kette zu resümieren, also auf jene Architekten, die unter der Initiative von Bruno Taut in den Jahren 1919/20 in Briefen und Zeichnungen utopische Bauten einer besseren Zukunft entwarfen, deren Umsetzung nach dem Ersten Weltkrieg aus materiellen Gründen in weite Ferne gerückt schien. Dennoch bereitete das Kristalline ihrer utopischen Architekturen die Transparenz und „‚Entmaterialisierung‘“4 vor, wie sie

1 Rausch (1986, 154). 2 Vgl. dazu unter Vorbehalt Pehnt (1971, 143), mit Hinweis auf den „völlige[n] Mangel an logischer Gliederung“, die „sorglosen Wiederholungen“ und „die an Laurence Sternes ‚Tristram Shandy‘ erinnernde Komik“. 3 Bollerey, Hartmann (1980, 44, 59). 4 Schneider (1986, 148).

© 2020 Charlotte Kurbjuhn - http://doi.org/10.3726/92165_24 - Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 Internationalen Lizenz Weitere Informationen: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Charlotte Kurbjuhn: Das moderne Haus bei Paul Scheerbart und Bruno Taut | 25 die Architektur der Neuen Sachlichkeit prägte – aus dem Geiste Paul Scheerbarts, der den Zeitgenossen als „der wahre Schutzheilige aller echten Architekten“5 galt. Zuletzt ist nach möglichen Paradoxien der Scheerbart-Rezeption bei den Architekten des neuen Bauens zu fragen. Denn nicht nur ästhetische Diskrepanzen zwischen Konzepten neuer Sachlichkeit und Scheerbarts Ornament-Favorisierung treten in Erscheinung: Scheerbarts Texte erweisen sich, wie zu zeigen ist, als irritierende neoromantische Spielarten arabesken Erzählens, das sich selbst und seine Gegenstände immer wieder ironisch reflektiert und in Frage stellt.

I. „Glasarchitektur“ im Jahr 1914. Über die Begeisterung des frühen 21. Jahrhunderts für bodentiefe Fenster hätte Paul Scheerbart nur gelacht, imaginierte er doch das moder- ne Hauses ganz aus Glas, und zwar keineswegs aus transparentem Fensterglas, sondern aus doppelwandigem Farbglas. Zwischen den Wänden sollten Leuchtkörper verlaufen, die nachts den Baukörper in eine einzige farbige Laterne verwandelten. Die Idee einer Fensteraussicht hielt Scheerbart für völlig überschätzt – wer das noch brauche, könne ja eine transparent verglaste Veranda anlegen. Wenn erst einmal die Inneneinrichtungen schöner wären, hätte ohnehin niemand mehr das Bedürfnis, die Außenwelt von dort noch zur Kenntnis zu nehmen, so lautete die Prämisse. Der von Scheerbart favorisierte visuelle Rückzug war in Zeiten progressiver Eisen-und-Glas-Architekturen keineswegs mehr auf ‚vier Wände‘ beschränkt, denn die „Glasarchitektur“ könne, so proklamierte er in seinem gleichnamigen Text, durch Eisenkonstruktionen „das Senkrechte“ der Wandbauweise überwinden.6 Dadurch reduziere sich die „Bedeutung des Grundrisses in der Architektur“, stattdessen werde „die Profilierung des Gebäudes“ wichtiger (GA 66) – womit sich auch Konsequenzen für die imaginative Arbeit der architektonischen wie literarischen ‚Archi- tekturpoeten‘ ergaben. Die zeichnerischen Architekturphantasien Bruno Tauts aus den Kriegsjahren und die utopischen Architekturen in den Briefen der Künstlergemeinschaft Gläserne Kette 1919/20 bezeugen eindrücklich, welche imaginativen Potentiale hierdurch freigesetzt wurden. Scheerbarts Architekturvisionen markieren eine eigenwillige Zwischenposition zwischen kunst-, stil- und kulturhistorischen Epochenmerkmalen der Jahre 1880–1920. Seine Fa- vorisierung dämmriger, von der Außenwelt abgeschotteter Interieurs, die mittels orienta- lisierend bunter Glasampeln stimmungsvoll illuminiert werden, erinnert an Wohnwelten des Fin-de-Siècle, wie sie Huysmans Protagonist Jean Des Esseintes im Roman À rebours (1884) schätzt. Zugleich mokiert sich in Scheerbarts Roman Münchhausen und Clarissa (1906) ein Architekt über die Absurdität von Wänden in vegetabiler Jugendstilmanier, die wie durchbrochen erschienen und damit dem Prinzip der Wand an sich widersprächen. Echte Blumen hingegen werden als „bürgerliche Geschmacklosigkeiten“ verworfen, die man allenfalls in „durchbrochnen Vasen“7 präsentieren könnte. In Glasarchitektur werden

5 Adolf Behne (1919, 13–15): Bruno Taut. In: Neue Blätter für Kunst und Dichtung 2, April, zit. n.: AdK (1980, 186). 6 Scheerbart (1971, 65), fortan im Text zitiert: GA. 7 Scheerbart (1991, 14 f.), fortan im Text zitiert: MC.

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 26 | Charlotte Kurbjuhn: Das moderne Haus bei Paul Scheerbart und Bruno Taut

Ornamente generell positiv gewertet,8 nur dürfe die „Ornamentik im Glashause“ (vgl. Abb. 1) keinesfalls historistisch verfahren, sondern müsse sich „ganz selbständig entwickeln – die Ornamentik des Orients, der Teppiche und Majoliken so umbilden, daß von Nachahmung in der Glasarchitektur hoffentlich niemals gesprochen werden dürfte.“ (GA 37) Den „Sach- stil“ akzeptiert Scheerbart nur zur Überwindung des Historismus. Um dem Leser seiner Glasarchitektur die Sorge zu nehmen, dieselbe könne „ein wenig kühl“ sein, unternimmt er einen Schritt auf die Metaebene und beschließt,

in der hitzigsten Weise den ornamentlosen, sogenannten ‚Sachstil‘ [zu] bekämpfen, da er unkünstl- erisch ist. […] Als Übergangsperiode erscheint mir der ‚Sachstil‘ wohl akzeptabel, jedenfalls hat er der Nachahmung der älteren Stile den Garaus gemacht. Diese älteren Stile sind ja Produkte der Backsteinarchitektur und der Holzmöbel. (GA 31)

Denn diese sind ganz von Übel: Sie sind nicht nur selbst vergänglich (GA 31), sondern darüber hinaus gesundheitsschädlich. Scheerbart klärt über die „Entdeckung des Back- steinbazillus“ auf:

Backstein fault. Daher der Schwamm. […] Jetzt hat aber auch der Arzt ein großes Interesse daran, daß die Backsteinkultur endlich an die Seite geschoben wird. In den Kellerräumen der Backsteinhäuser ist die Luft immer von Backsteinbazillen erfüllt; die Glasarchitektur braucht keine Unterkellerung. (GA 114)

Auch an anderer Stelle verbindet Scheerbart seine Vision von Glasarchitektur mit der Licht- und-Luft-Emphase der Lebensreform-Bewegung. Denn es komme auf das richtige Licht an, maßvoll und farbig dosiert, und da man dem „vollen hellen Lichte […] zum Teile die Nervosität unsrer Zeit“ verdanke, erhofft er Abhilfe durch das „farbig gedämpfte Licht“, das „nervenberuhigend“ wirke: „Es wird daher auch in vielen Sanatorien von den Nervenärz­ ten als Heilfaktor empfohlen.“ (GA 115) Was liegt also näher als der Schluss, „auch die Sanatorien“ wollten „Glasbauten“, denn „der Einfluß einer prächtigen Glasarchitektur auf die Nerven ist doch nicht zu bestreiten.“ (GA 95) Die alternative Geschichte eines Zauber- bergs mit Glasarchitektur – Thomas Manns Roman endet übrigens in dem Jahr 1914, in dem Scheerbarts Glasarchitektur erschien – hat Scheerbart, der 1915 verstarb, leider nicht mehr schreiben können.

8 Zu Scheerbarts „dezidierte[m] Bekenntnis zum Ornament(alen)“ Sprengel (1995, 80).

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Abb. 1: Bruno Tauts Glashaus auf der Kölner Werkbundausstellung 1914.

Obgleich unterschiedlicher Meinung über den ‚Sachstil‘, waren Scheerbart und Burno Taut eng befreundet. Tauts klare Formensprache in seinen buntfarbigen Bauten aus den 1920er und 1930er Jahren findet aktuell anlässlich der Hundertjahrfeier der Bauhaus-Gründung verstärkt Aufmerksamkeit, doch bis zum Beginn der 1920er Jahre beschäftigte sich Taut neben ersten städtebaulichen Projekten intensiv mit visionären Bau-Imaginationen, die wesentlich von Scheerbart beeinflusst waren. Kennengelernt hatten sich beide 1913, ver- mittelt durch Gustav Heinersdorff, Leiter der Vereinigten Werkstätten für Mosaik und Glasmalerei Puhl & Wagner;9 beide publizierten in Herwarth Waldens Zeitschrift Der Sturm – Walden bezeichnete Scheerbart als den ersten Expressionisten.10 Von Scheerbarts Architekturvisionen angeregt, entwarf und realisierte Taut 1914 für die Kölner Werkbund- Ausstellung seinen „Glaspalast“.11 Es handelte sich dabei um manifeste Architekturpoesie bzw. ein architekturpoetisches Manifest. Scheerbart hatte ursprünglich 14 Verse für das Glashaus entworfen:

1. Glück ohne Glas –/ Wie dumm ist das! 2. Backstein vergeht,/ Glasfarbe besteht. 3. Das bunte Glas/ Zerstört den Haß. 4. Farbenglück nur/ In der Glaskultur. 5. Ohne den Glaspalast/ Ist das Leben eine Last. 6. Im Glashaus brennt es nimmermehr;/ Man braucht da keine Feuerwehr. 7. Das Ungeziefer ist nicht fein;/ Ins Glashaus kommt es niemals rein. 8. Brennbare Materialia/ Sind wirkliche Skandalia.

9 Vgl. Lütgens (2016, 16). 10 Vgl. Walden (1915, 96), dazu Haag Bletter (1980, 91). 11 Vgl. dazu Musielski (2003, 79–95).

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9. Größer als der Diamant/ Ist die doppelte Glashauswand. 10. Das Licht will durch das ganze All/ Und ist lebendig im Kristall. 11. Das Prisma ist doch groß;/ Drum ist das Glas famos. 12. Wer die Farbe flieht,/ Nichts vom Weltall sieht. 13. Das Glas bringt alles Helle,/ Verbau es auf der Stelle. 14. Das Glas bringt uns die neue Zeit;/ Backsteinkultur tut uns nur leid.12

Auf dem Fries finden sich die Verse 1, 3 und 5, hinzu kam „Was wäre die Konstruktion | Ohne den Eisenbeton“.13 Der Glaspalast wurde als „Hauptattraktion der Ausstellung“14 gefeiert. Im Begleitblatt proklamierte Taut: „Das Glashaus hat keinen anderen Zweck, als schön zu sein“, und er nannte seine wichtigste Inspirationsquelle: „Im Sinne des Dichters Paul Scheerbart, dem es gewidmet ist, soll es die Auflösung der in der heutigen Architektur allzu gebundenen Raumvorstellungen und die Einführung der im Glas enthaltenen Wirkun- gen in die Welt der Architektur anregen“ und „dartun, daß die dichterisch so wundervolle Anregung Paul Scheerbartʼs nicht einfach als Utopie abzutun“ sei.15 Der Bau beeindruckte mit einer „große[n] rhomboederförmige[n] Glaskuppel“, die „an Kristallformationen“16 erinnerte. Er „bestand aus Glastafeln, die durch ein Eisengerippe ge- halten wurden, und ruhte auf eisernen Stützen, die in einem Betonsockel verankert waren.“ Die Kuppel wies eine Doppelverglasung auf, wie sie von Scheerbart literarisch propagiert worden war: „innen mit farbigen Prismen, außen mit Spiegelglas“. Im Inneren faszinierte ein gläserner Fußboden mit Durchblick in den „Ornamentraum“, dessen Boden – wie in einem Scheerbart’schen Romaninterieur – mit Mosaik ausgelegt war. Besonderen Reiz übte auf die Besucher aber der „Kaskadenraum“ aus, in dessen Wasserspielen die Spiegelungen eines Kaleidoskops, die im 20-Sekundentakt wechselten, reflektiert wurden.17 Tauts Glaspalast realisierte zentrale Elemente, die Scheerbart zeitgleich in seiner Schrift Glasarchitektur – Bruno Taut gewidmet18 – mit humoristischer Programmatik in einer Reihe kurzer, ohne erkennbares Strukturprinzip auf einander folgender Einzelkapitel ausformulierte. Das Buch beginnt mit grundlegenden Überlegungen zur Wirkung der Lebensumstände auf die Kultur:

Wir leben zumeist in geschlossenen Räumen. Diese bilden das Milieu, aus dem unsre Kultur herauswächst. Unsre Kultur ist gewissermaßen ein Produkt unsrer Architektur. Wollen wir unsre Kultur auf ein höheres Niveau bringen, so sind wir wohl oder übel gezwungen, unsre Architektur umzuwandeln. Und dieses wird uns nur dann möglich sein, wenn wir den Räumen, in denen wir leben, das Geschlossene nehmen. Das aber können wir nur durch Einführung der Glasarchitektur,

12 Publiziert in: Frühlicht. Beilage zur Stadtbaukunst aus alter und neuer Zeit (1920), H. 3, zit. nach AdK (1980, 182). 13 Vgl. dazu Schirren (1993b, 89–91). 14 Günter (2019, 21). 15 Zit. n. AdK (1980, 182). 16 Bollerey, Hartmann (1980, 15–85, 43). Vgl. den exzellenten Katalog von Thiekötter (1993, 33–39) und Pehnt (1973, 75–78). 17 Bollerey, Hartmann (1980, 43 f.) Zu einer zeitgenössischen Schilderung der Wirkungen des Kaleidoskops vgl. den Bericht des damaligen „künstlerischen Erklärer[s]“, ebd., 44. 18 Scheerbart weist seinerseits auf die Werkbundausstellung hin, „für die Bruno Taut ein Glashaus gebaut hat, in dem die ganze Glasindustrie vertreten sein soll.“ (GA 74).

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die das Sonnenlicht und das Licht des Mondes und der Sterne nicht nur durch ein paar Fenster in die Räume läßt – sondern gleich durch möglichst viele Wände, die ganz aus Glas sind – aus farbigen Gläsern. Das neue Milieu, das wir uns dadurch schaffen, muß uns eine neue Kultur bringen. (GA 25)

Das idealistische Konzept wird flankiert von pragmatisch-technischen Vorschlägen für die bauliche Ausführung, insbesondere mit Blick auf „Licht, Heizung und Kühlung“. Scheer- bart propagiert doppelte Glaswände, zwischen denen Leuchtkörper „nach außen und nach innen“ strahlen:

Sowohl die äußeren wie die inneren Wände können farbig ornamentiert sein. Wenn dabei zu viel Licht durch die Farbe verschluckt wird, so ist die Außenwand auch ganz hell zu lassen; dann emp- fiehlt es sich nur, das Licht zwischen den Wänden nach außen mit einem farbigen Glasschirm zu versehen, damit das Wandlicht des Abends auf der Außenseite nicht einfach grell erscheint. (GA 28)

So könne „das ganze Glashaus zur großen Laterne“ (GA 58), die „Nacht […] zum Tage werden“ (GA 70). Für den gesteigerten Elektrizitätsbedarf setzt Scheerbart auf „Wassertur- binen“ (GA 70) und „Windmotoren“ (GA 77). Doch „das grelle Licht von Gas und Elektri- zität“ werde sich wandeln: „In den letzten 50 Jahren hat das Licht sich ganz überraschend entwickelt. Das geht alles so schnell, daß man kaum mitkommt“, heißt es mit launigem Unterton, der sich fortsetzt: Man könnte das Licht demnächst „durch Farbe dämpfen“, und zwar so, „daß es gespensterhaft wirken könnte, was ja vielleicht sehr vielen Menschen sympathisch erscheinen wird.“ (GA 77) Nicht nur das Buntglas, sondern auch technische Innovationen würden künftig die Bau- weise verändern. Im Glashaus müssten „Ventilatoren […] alles Fensterartige verdrängen. Wenn ich in meinem Glassaale bin, will ich von der Außenwelt nichts hören und sehen.“ (GA 60) Bereits 1898 hatte Scheerbart in dem Artikel Licht und Luft19 für die Wiener Zeitschrift Ver Sacrum Überlegungen zur Fenstergestaltung veröffentlicht. Er kritisierte das „Schablonenhafte der europäischen Wohnhausarchitektur“, deren „langweilige[r] mi- litaristische[r] Uniformcharakter“ auf den „Überfluss[] an durchsichtigen Fensterscheiben“ zurückzuführen sei (GA 165). Neben der Fassadengliederung werde auch die Innenraum- gestaltung dadurch negativ beeinflusst, besonders tadelnswert sei das Streben nach vielen „Ausblicke[n]“, die man doch nur deswegen wünsche, weil es innen „so öd und uninteres- sant aussehe – wie heutzutage im europäischen Wohnhause beinahe überall.“20 (GA 166) Dagegen propagiert er eine Lichtzufuhr wie in „Künstler-Ateliers“ – durch Oberlichter, die auch kleiner, höher liegend und vor allem: bunt getönt sein könnten. Die Luftzufuhr könne durch „Luft-Accumulatoren“ (GA 167) erfolgen, und alle Bewohner wären in der Lage, sich freier zu bewegen, wenn die Möbel nicht mehr durch die Positionen der Fenster an bestimmte Stellplätze gebannt seien. Allerdings erkennt Scheerbart den elitären Gedanken

19 Im Folgenden zit. nach Scheerbart (1971, 165–168). 20 Positive Einflüsse verdankten sich höchstens dem ‚Orient‘ (GA 166): Scheerbart, der die Vorliebe des Wilhelmi- nischen Preußen für alles Babylonische (wenngleich auf seine satirische Weise) teilte, schätzte den „vorderasiati- sche[n] Orient“ auch als „die sogenannte Wiege der Glaskultur“, die er gegen das prädominante klassizistische Bauideal mit dem Slogan „Hellas ohne Glas“ in Stellung brachte (GA 44).

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 30 | Charlotte Kurbjuhn: Das moderne Haus bei Paul Scheerbart und Bruno Taut seines Reformkonzepts: Denn „eigentlich“ könne „nur das freistehende, nach allen Seiten gegliederte Einzelhaus einen Anspruch auf architektonischen Wert“ nach diesen Maßstä- ben erheben, wenngleich das „Großstadthaus“ zumindest die Chance besitze, „durch eine Revolution im Fenster-Arrangement ein künstlerisches Ansehen“ zu erhalten: „Jedenfalls müsste es bei allen Neubauten modern werden, Licht und Luft auf verschiedenen Wegen ins Haus zu führen.“ (168) Bruno Taut griff diese 1924 immer noch innovativen Konzepte in seiner Schrift Die neue Wohnung auf.21 Indem er Goethes Sterbeworte variiert, zitiert Scheerbart die größte Autorität der deut- schen Literaturgeschichte in Fragen der Farbenlehre: „Nicht ‚mehr Licht!‘ – ‚mehr Farben- licht!‘ muß es heißen.“ (GA 132) Als Architekturpoet versäumt er nicht, die Konsequenzen der Glasarchitektur auch für Sprache und Literatur (vielleicht mit einem Augenzwinkern) zu reflektieren:

Und auch von Fenstern wird man nach Einführung der Glasarchitektur nicht mehr viel reden; das Wort Fenster wird auch im Lexikon verschwinden. […] Das sind freilich Zukunftsbilder, doch solche, die wir im Auge behalten müssen, wenn die neue Zeit mal entstehen soll. (GA 72)

Diese neue Zeit beschreibt Scheerbart unter dem Titel Die Schönheit der Erde, wenn die Glasarchitektur überall da ist:

Die Erdoberfläche würde sich sehr verändern, wenn überall die Backsteinarchitektur von der Glasarchitektur verdrängt würde. Es wäre so, als umkleidete sich die Erde mit einem Brillanten- und Emailschmuck. Die Herrlichkeit ist gar nicht auszudenken. […] Wir hätten dann ein Paradies auf der Erde und brauchten nicht sehnsüchtig nach dem Paradiese im Himmel auszuschauen. (GA 42)

Dennoch evoziert diese Utopie die Vision des Himmlischen Jerusalem in der Offenbarung des Johannes (Off. 21,9–25), mit der sie nicht nur der visionäre Duktus und die Details der geschilderten Architektur verbinden, sondern auch die Tatsache, dass sich Scheerbart ausdrücklich auf die gotische Kathedralarchitektur beruft,22 die den transzendenten Glanz des Himmlischen Jerusalem in bunten Glasfenstern zu antizipieren suchte: „Die Glasarchi- tektur ist nicht ohne die Gotik zu denken.“ Doch erst das moderne „Eisenmaterial“ gestatte, „den ganzen Glastraum zu realisieren“, und zwar für jedermann:

Zur Zeit der Gotik war das Glas in den meisten Privathäusern noch ganz unbekannt. Heute ist das Glas in jedem Hause bereits ein Hauptfaktor der Architektur. Allerdings: ihm fehlt noch die Farbe. Aber auch die Farbe wird kommen . . . (GA 43)

21 Pehnt (1971, 144). 22 Vgl. Adolf Behne zur „mystische[n] Gewalt“ der Glasarchitektur: „Wir wollen nicht mehr in backsteinummau- erten Palästen, Kasernen und Hütten wohnen […]. Farbe soll uns zum mindesten von solcher Enge befreien, die schwere Backstein-Dumpfheit auflösen […] das Glas! […] Eine Vorahnung vermögen die gotischen bunten Glasfenster der Kathedralen zu geben“, die ja auch Scheerbart als „Präludium der Glasarchitektur“ bezeichne. Adolf Behne (1919, 13 ff.): Bruno Taut. In: Neue Blätter für Kunst und Dichtung 2, April, zit. n. AdK (1980, 186).

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Licht gilt Scheerbart als messianischer Faktor, umso mehr, wenn es durch das bunte Glas dringend das Wohnhaus erfüllt. Dazu gehört auch, dass die Glasarchitektur der Zeitlichkeit enthoben sei und sein müsse, was mit einem Verdikt gegen alle vergänglichen Baumateria- lien einhergeht. Für ihn haben nur „Baumaterialien, die haltbar und in wetterbeständigen Farben zu erhalten sind, […] Existenzberechtigung. Der zerbröckelnde Backstein und das brennbare Holz haben k e i n e Existenzberechtigung […].“23 (GA 45) Gewaltsam apo- kalyptische Züge, wie sie in expressionistischer Literatur häufig zu finden sind, sucht man bei Scheerbart trotz aller messianischen Tendenzen vergebens, auf nur sehr dezente Weise ist seine Emphase des ‚neuen Menschen‘, der ‚neuen Zeit‘ mit der Tilgung aller Back- steinspuren von der Erdoberfläche verbunden – auch müsse „unbedingt der Schornstein in Wegfall kommen“, also der Index des industriellen Zeitalters. (GA 72) Letztlich werde eine gänzlich postindustriell erscheinende „Umwandlung der Erdoberfläche“ erfolgen: „Durch die Dampfbahn ist die heutige Backsteingroßstadtkultur erzeugt, an der wir alle leiden. Die Glasarchitektur wird erst kommen, wenn die Großstadt in unsrem Sinne auf- gelöst ist.“ (GA 128) Von hier leitet sich Bruno Tauts Auflösung der Städte24 (1920) her, das spätere Schlagwort der Bemühungen um einen Siedlungsbau jenseits der großstädtischen Mietskasernen. Scheerbart war ihr apodiktischer Verfechter („Daß diese Auflösung kom- men muß, ist allen denen, die eine weitere Entwicklung unsrer Kultur im Auge haben, vollkommen klar. Darüber zu reden, lohnt sich nicht mehr.“), betrachtete sie jedoch nur als Hinführung zu einem Prozess allgemeiner humaner Verfeinerung, der wesentlich auf der Farbempfindsamkeit beruhe. Noch sei für den Menschen „nur ein[] kleine[r] Teil des Spektrums“ wahrnehmbar:

Aber den wollen wir haben. […] Wenn wir nun auch vorläufig nicht annehmen können, daß unsre Sinnesorgane sich von heute bis morgen weiterentwickeln, so werden wir doch berechtigt sein, anzunehmen, daß wir zunächst dasjenige erreichen dürfen, was wir erreichen k ö n n e n […] – eben die Farbenwunder, die wir in uns aufzunehmen imstande sind. Dazu aber verhilft uns ganz allein die Glasarchitektur, die unser ganzes Leben – das Milieu, in dem wir leben – umwandeln muß. (GA 128)

Die „Glaskultur“ werde schließlich „den Menschen“ selbst „vollkommen umwandeln“ (GA 137), „da dieses glänzende und leicht herstellbare Material in intensivster Weise auf die menschlichen Nerven einwirkt“25. So könne letztlich die „Sensibilität der Erde“ vergrößert

23 Alternativ kommen, „[w]o die Verwendung des Glases nicht möglich ist, […] Email, Majolika und Porcellan“ in Frage, „die wenigstens haltbare Farbe zeigen können, wenn sie auch nicht lichtdurchlassend sind“ (GA 45). Zur Ersetzung des „Organischen durch Anorganisches, des Natürlichen durch Artifizielles“ vgl. Sprengel (1995, 78). 24 Taut (1920). Scheerbart hat bereits 1897 seine Reformidee „Auflösung der Städte“ formuliert, die für ihn jedoch keine Rückkehr zur Natur meinte, denn „das Haus des Zukunftsmenschen sollte palastähnlich mit kostbarstem Email und Mosaik, mit den entzückendsten Glasgemälden ausgestattet werden; grade das Glas, das glänzendste Baumaterial der Erde, sollte die erste Rolle in den Zukunftshäusern spielen.“ (Paul Scheerbart: Ich liebe Dich! Ein Eisenbahnroman mit 66 Intermezzos, zit. nach Rausch [1986, 151]). 25 Scheerbart: Ich liebe Dich! Ein Eisenbahnroman mit 66 Intermezzos, zit. nach Rausch (1986, 152, das fol- gende Zitat ebd.). – Glas ist permeabel für ein logosartig aufgewertetes Licht, durch welches „große Gedanken im Menschen lebendig“ werden (Paul Scheerbart: Das große Licht [1912], zit. nach Boyd Whyte [1996], 14). Ebd. zu Scheerbarts Licht-Mystik in diesem Roman, auch unter Berufung auf antike Mysterienkulte.

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 32 | Charlotte Kurbjuhn: Das moderne Haus bei Paul Scheerbart und Bruno Taut werden, deren ‚Organe‘ für Scheerbart wie für Taut die Menschen waren.26 Adolf Behne stimmte ihnen zu: „Das Bauen als eine elementare Tätigkeit vermag den Menschen zu verwandeln. Und nur ein Bauen aus Glas!“27 In Scheerbarts Konzepten lassen sich Theoreme von Gustav Theodor Fechner (1801– 1887) erkennen, der in seinen naturphilosophischen Schriften eine Allbeseelung des Kosmos propagiert hatte – gerade auch der Sterne und Galaxien als besonders vollkommener, in Har- monie existierender Wesen – und sich darüber hinaus intensiv mit Fragen psychophysischer Wirkungsverhältnisse zwischen Nervenreizen und menschlichen Vorstellungen befasste.28 Auch bei Fechner erscheint das ganze „Haus der Erde“ als „Glashaus“, vom kosmischen Licht durchstrahlt.29 Seine Schriften wurden in den Jahren um 1900 vielfach rezipiert und neu diskutiert, so auch bei Scheerbart,30 Taut 31 und den Mitgliedern der Gläsernen Kette. Doch auch jenseits der neuroästhetischen Wirkung des Farblichts favorisierte Scheerbart Glas als Werkstoff für Mobiliar („Schränke, Tische, Stühle usw. werden auch aus Stahl und Glas hergestellt werden müssen, wenn das ganze Milieu einheitlich wirken soll.“, GA 28) und Wohntextilien: Teppiche (vgl. GA 73), „Diwandecken, Sessellehnen usw. sind aus Glashaaren möglich.“ (GA 41) Vor allem müsse aber Holz im Haus vermieden werden, denn „es paßt eben einfach nicht mehr in die Situation.“ (GA 28) Bereits in dem Licht und Luft-Aufsatz von 1898 hatte Scheerbart das Wesen der Mobilia reflektiert, und auch seine Wohnraumvisionen in der Schrift Glasarchitektur propagieren Möbel als dynamisch-bewegliche Dinge in den Händen eines von Zwängen befreiten neuen Menschen. So imaginiert er zuversichtlich künftiges „Mobiliar in der Mitte des Zimmers“, denn dass „das Mobiliar im Glashause nicht an die kostbaren, farbig ornamentierten Glaswände gestellt werden darf, wird wohl ‚selbstverständlich‘ erscheinen.“32 (GA 32) Uni- verselle Mobilität soll auch die Binnenstrukturen der Häuser prägen, indem sie mit farbigen Glaswänden ähnlich wie mit japanischen Paravents „stets variabel“ in der Zimmereinteilung wären (GA 67).33 Mit einer solchen „Auflösung starrer, rechtwinkliger Grenzen wird die Beziehung des Menschen zum Raum neu definiert“,34 und die Schwerkraft wird durch die vertikalen Lichtgebäude aufgelöst.35 Zugleich steht so auch das Verhältnis zur Zeit neu zur Disposition, wenn die Nacht durch illuminierte Glashäuser und Lichtarchitekturen zum Tage wird – an diese Utopien knüpft sich die Imagination des neuen Menschen als Produkt einer neuen Architektur.

26 Vgl. Schirren (1993a, 76). 27 Adolf Behne (1919, 65) Wiederkehr der Kunst, Leipzig, zit. nach Haag Bletter (1980, 93). 28 Vgl. Hennemann (1961), Rausch (1986, 153). 29 Gustav Fechner (1851): Zend-Avesta oder Über die Dinge des Himmels und des Jenseits, drei Bd., Leipzig, zit. nach Musielski (2016, 144). Vgl. Schirren (1993a, 76–78). 30 Zu den Anregungen Scheerbarts durch die „Monographie […] des Sciencefiction Autors [!] Kurd Laßwitz, der auch Neuauflagen [Fechnerscher Schriften] besorgte“, vgl. Rausch (1986, 152 f.). 31 Zu Tauts Fechner-Lektüren vgl. Musielski (2003, 128). 32 Außerdem gilt: „Die Bilder an den Wänden sind natürlich total unmöglich.“ (GA 32). 33 Dasselbe Prinzip empfiehlt Scheerbart auch für die Gartengestaltung mit „Wandschirmarchitektur“ (GA 67). 34 Schneider (1996, 149). 35 Vgl. Musielski (2003, 85).

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II. Utopische Wohnarchitekturen in Scheerbarts Romanen. Mobilitätsenthusiasmus und Lichtmystik in utopischen Buntglasarchitekturen prägen auch Scheerbarts Romane Das graue Tuch und zehn Prozent Weiß. Ein Damenroman36 (1914) sowie, zumindest in Ansätzen, Münchhausen und Clarissa (1906). Beide Texte sind literarisch nicht nur durch die überbordende Architekturphantasie des Autors reizvoll, sondern schon durch den Bruch narrativer Stilkonventionen. Allerdings wird bei der Lektüre schnell deutlich, dass in den explizit als Wohnarchitektur entworfenen Bauten ein Leben nicht wirklich vorge- sehen ist: Funktionale Aspekte der Hausarchitektur oder die Praktikabilität ihrer Struk- turen im Alltag spielen kaum eine Rolle.37 Scheerbarts utopische Wohnhäuser erscheinen als konzipierter Raum (espace conçu) und als wahrgenommener Raum (espace perçu), je- doch nie als gelebter Raum (espace vécu),38 der durch Praktiken des Wohnens erschlossen würde. Mit diesem Befund korrespondiert die häufig konstatierte Handlungsarmut der Texte. Doch ging es Scheerbart primär nicht um plots, sondern um die Schilderung von Architekturen und deren Wirkung auf Menschen – die Wirkungsintention geht so weit, dass der Buntglasarchitekt Krug im „Damenroman“ einer Dame aufgrund ihres Kleides aus grauem Tuch mit zehn Prozent weißem Stoffanteil einen Heiratsantrag macht, da die- ses seine Bauten umso mehr hervorheben werde. Der Bauhauslehrer Lothar Schreyer soll berichtet haben, „daß er und seine Frau sich in Weimar zu Ehren Scheerbarts zeitweise in graues Tuch und zehn Prozent Weiß gekleidet hätten.“39 Die Wirkungsästhetik der Farbglasarchitekturen zielt bei Scheerbart nicht nur auf einzelne Betrachter, sondern auf Menschen im kollektiven Sinne, als Gesellschaft. Daher entwickelt er seine Architekturimaginationen oft am Beispiel von Gebäuden, bei denen es sich um Orte gemeinsamer kultureller Erlebnisse handelt: Seien es Museumsbauten, ganze Gebirge umspannende Konzertarchitekturen mit einer „Vierzigturmorgel“ (GT 59) oder das gigantische Ausstellungsgelände einer Weltausstellung in Melbourne (MC). Darüber hinaus werden oft logistische und infrastrukturelle Knotenpunkte wie z. B. gigantische Luftschiffhäfen konzipiert. Die Bewohner von Scheerbarts Architekturen gehören einem Jahrhundert der globalen Bewegung an, und so stehen ihre Behausungen jahrelang leer, während sie in umso bequemer ausgestatteten Luftschiffen um die Welt reisen und sich die Reisezeit mit der Pflege ihrer sozialen Netzwerke verkürzen, indem sie pausenlos Tele- gramme versenden. In Das graue Tuch erweist sich Glasarchitektur als globale Praktik: Architektur wird als interkulturelles Medium der Verständigung inszeniert, wie auch Bruno Taut in den Jahren des Ersten Weltkriegs eine „Alpine Architektur“ zum Zwecke

36 Fortan zitiert: GT nach dem korrigierten Neudruck Scheerbart (1986) der Erstausgabe (München, Verlag Georg Müller 1914). 37 In Münchhausen und Clarissa erscheinen zwar praktische Fragen der Reinigung von Teppichen, Möbeln und Ge- schirr im modernen Haus, doch sind die Erzählungen des ‚Lügenbarons‘ hier besonders exaltiert und exponieren die Phantastik. Möbel und Teppiche heben sich selbst in die Höhe, „mechanisch tätige“ Geräte erledigen die Arbeiten: „Derartige Bürstenmaschinerien sind natürlich in jeder einfachen Arbeiterwohnung zu finden. Ohne Bürsteinrichtung mietet in Australien kein Mensch eine Wohnung.“ In der Küche gebe es selbstverständlich die „Kartoffelschälmaschine, eine Pilz- und Gemüsereinigungsmaschine, mechanische tätige Koch- und Brat- apparate, Spülapparate“ (MC 36). 38 Vgl. Lefebvre (1974). 39 So gegenüber Mechthild Rausch, vgl. Rausch (1986, 160).

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 34 | Charlotte Kurbjuhn: Das moderne Haus bei Paul Scheerbart und Bruno Taut der Völkerverständigung beim gemeinsamen Bau imaginierte. Wobei bereits Paul Scheer- bart im Grauen Tuch seinen Protagonisten am Himalaya sagen ließ: „Das ganze Gebirge […] möchte ich bebauen. […] Leider ist unsere Zeit für eine wahrhaft kühne Architektur noch immer nicht reif.“ (GT 47)40 Noch nicht reif für Scheerbarts Imaginationen schien auch sein Verleger zu sein, denn ursprünglich sollte Glasarchitektur im Verlag Georg Müllers publiziert werden. Dieser lehnte jedoch das Manuskript ab, da es sich dabei nicht um Literatur handele, sondern um „‚praktische Bauvorschläge‘“.41 Glasarchitektur erschien schließlich im Sturm-Verlag Herwarth Waldens. Bei Müller aber wurde im gleichen Jahr Das Graue Tuch veröffentlicht – dessen Untertitel Ein Damenroman wohl auch ironisch auf eine vom Verleger intendierte weibliche Leserschaft hinweist, für die hier die Architekturimaginationen in eine Liebes- geschichte mit vermeintlich didaktischen Passagen verpackt wurden. Ein architektonischer Bildungsroman für fortschrittliche Frauen also, zugleich ein satirisches Pastiche aus weiteren literarischen Gattungen: dem Liebesroman, dem utopischen Reiseroman à la Jules Verne und dem Kriminalroman.42 Das alles wird in nahezu frühromantischer Manier in einer Art Universalarchitekturpoesie mit schwebender Ironie ausbalanciert.43 Zu Beginn von Scheerbarts Roman Das graue Tuch, „um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts“ (GT 7) angesiedelt, wird der Protagonist, der „Architekt Edgar Krug“, eingeführt, indem er einem Freund sein jüngstes Gebäude „aus Glas und Eisen“ zeigt und „ihn auf die Feinheiten der Architektur und Ornamentik aufmerksam“ macht (GT 7). Scheerbart verwendet nicht nur hier, sondern regelmäßig bei der Schilderung seiner ima- ginären Architekturen, das Modell der Periegese: Ein Führer begleitet einen Besucher durch ein Gebäude, eine Stadt oder eine Gegend, erläutert die Besonderheiten, die Entstehung und Geschichte der besichtigten Orte und schmückt dies gegebenenfalls anekdotisch aus. Gegenüber der sonst oft ausführlichen Ekphrasis, mit der die eigentliche Topothesie bewirkt wird, zeichnen sich Scheerbarts utopische Architekturen durch kaleidoskopische Effekte aus. Durch kurze Nennung von Farb- und Lichtakzenten werden Räume evoziert, deren Strukturen und Dimensionen jedoch meist vage bleiben – sofern sie nicht ohnehin selbst beweglich gedacht sind oder aus der Bewegung des Betrachters und damit permanent sich wandelnder Perspektive beschrieben werden. Die Kaleidoskop-Effekte erscheinen dem

40 Dafür wird „das ganze Gebirge auf der Insel Ceylon […] gleichsam mit Brillanten [also Glasarchitekturen, deren Formen wie geschliffene Brillanten wirken, C. K.] übersät“ für eine „Zentrale für Luftforscher“ (GT 56). 41 Rausch (1986, 149), mit Zitat aus einem Brief Tauts an Richard Dehmel v. 9.1.1914 (Dehmel-Archiv Hamburg). 42 Elemente eines Kriminalromans lassen sich darin erkennen, dass die altorientalische Waffensammlung, für die der Architekt ein Museum auf Malta errichten sollte, von einem chinesischen Glasarchitektur-Fan geraubt wird, woraufhin der Architekt ein gläsernes „Museum für die Geschichte der Glasarchitektur“ (GT 95) bauen darf. Vgl. zur Gattungsmischung und zum Spiel mit den „Genres der Unterhaltungsliteratur“ Rausch (1986, 160). Vgl. ebd., 160 f., zur kabarettartigen „Entmystifizierung des literarischen Diskurses“. Zu Scheerbarts Unbekümmert- heit angesichts darstellerischer Verfahren vgl. auch Pehnt (1971, 141 f.), der von „Anti-Literatur“ spricht (ebd., 142): „Er mischte die Gattungen, parodierte erschöpfte Literaturformen, wechselte unvermittelt zwischen der Tonlage kosmischer Aussichten und einem Alltagsjargon, der jedem Pathos ein rasches humoristisches Ende bereitete. Er zeigte ein völliges Desinteresse an konsequent entwickelten Handlungen oder psychologisch ver- tieften Charakteren“; einzelne Einfälle seien ihm wichtiger als eine plausible Handlung gewesen. 43 Vgl. Schirren (1993b, 89–91), Musielski (2003).

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Geschilderten besonders angemessen, handelt es sich doch auch hier um (oft dynamische) Architekturen aus buntem Glas.44 Seine periegetisch-mobile Erzählweise hat Scheerbart in Münchhausen und Clarissa ironisch (im frühromantischen Sinne) kommentiert. Dort tritt der 180-jährige Baron von Münchhausen als Personifikation des Progressiven auf, erscheint aber bei seinen Erzählun- gen – vor allem von der Ausstellungsarchitektur der Weltausstellung in Melbourne – nur bedingt glaubwürdig und daher als ambivalenter Protagonist eines utopischen Romans, zumal wenn er seine narrative Technik reflektiert. Technikbegeistert schildert er Archi- tekturerfahrung als dynamische Wahrnehmung, die das Prinzip der Reiseerzählung als Bewegung durch den Raum persifliert: In Melbourne seien schon die Hotelzimmer „so eingerichtet, daß man in ihnen durch die ganze Ausstellung fahren kann.“45 (MC 20) Doch die Erzählung affiziert ihn physisch: „Wenn man diese Ausstellungsgeschichte erlebt […] so wirkt sie ganz ruhig; wenn man sie aber erzählt, so strengt es doch sehr an, da die an- dauernde Bewegungskunst, die man zur Mitempfindung bringen muß, nicht zur Ruhe kommen läßt.“ Das rhetorische movere wird hier literarisiert und die narrative Bewegung zur Anstrengung erklärt – kein Wunder angesichts der Architektur, die es zu bewältigen gilt: Inmitten eines Sees umgeben dreißig „Riesentürme […] in drei Kreisen einen mittleren Kolossalturm, der hundertfünfzig Stockwerke besitzt, während die anderen Türme nur hundertzwanzig, achtzig und vierzig Stockwerke haben – entsprechend den drei Kreisen, von denen der äußerste der niedrigste ist.“ Das Fiktive der evozierten Architektur wird deutlich in den Appellen an die Phantasie der Zuhörer:

Nun denken Sie sich diese sämtlichen Stockwerke durch lange Brücken miteinander verbunden. Und dann müssen Sie sich im Innern dieser Stockwerke Salons denken, die wie Fahrstühle auf und ab und auch über die Brücken fahren. Dazu dreht sich jeder Turm ständig um sich selbst. Und in dieser Drehscheibenarchitektur können Sie nun in einem einzigen Zimmer überall herumfahren. Das nennt sich natürlich ‚bewegliche Architektur‘. Und wenn Sie bei dieser immerhin langsam wirkenden Fahrt zum Fenster hinausblicken, während Sie auf einem bequemen Sessel sitzen oder auf einem Divan liegen, so sehen Sie draußen immerfort eine sich langsam verschiebende Archi- tektur wie langsam sich bewegende Kaleidoskope. Wenn manʼs erzählt, kann man eine kleine Drehkrankheit bekommen. Wenn manʼs aber erlebt, wird man von dieser beweglichen Architektur immer neue köstliche Eindrücke empfangen […]. Eine unbeschreibliche Fülle von Linien- und Flächenkompositionen tut sich bei solchen Fahrten auf. […] Stellen Sie sich das Alles nur einmal mit geschlossenen Augen vor. (MC 20 f.)

Mit der Aufforderung, sich diese kaleidoskopische Projektion „nur einmal mit geschlos- senen Augen vor[zustellen]“ (MC 20 f.), endet die Periegese; Münchhausen nutzt die Ge- legenheit, um drei Gläser Wein zu trinken. Die schwindelerregende Schilderung verweist auf Scheerbarts von Fechner inspirierte „kosmosophische[] Weltanschauung“, indem die

44 Auch in Glasarchitektur versucht Scheerbart, die „Variabilität und Dynamik“ der Glasarchitektur sprachlich „kaleidoskopartig[]“ zu adaptieren, indem er zwischen Stilhöhen springt und ‚Bausteine‘ aus kleinen Texten und Begriffen flexibel arrangiert. Vgl. Musielski (2003, 86). 45 Vgl. dazu Rolli (1983, 114 f.).

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„mobile Architektur“ ein „planetarisches Bewegungsgefühl vermittel[t]“46. Dies gilt auch für die pädagogische Absicht architektonischer Erziehung durch Sinnenverfeinerung. So betont der Lügenbaron, „daß die australischen Architekten […] das ganze Leben der Haus- bewohner“ bestimmen, welche „durch die Beweglichkeit der Architektur immerfort neue Aussichten bekommen und durch die Beweglichkeit der Wände immerfort neue Eindrücke empfangen, die zweifellos auch aus ganz stupiden Leuten schließlich bewegliche sensible Künstlernaturen machen.“ So werde Architektur „allmählich zu einem künstlerischen Er- ziehungsmittel, das auch die feinsten, intimsten und innerlichsten Empfindungssphären heraufbeschwört.‘“ (MC 38) Entgegen der erklärten Absicht des Barons vermutet man beim Lesen hier eher eine sichere dystopische Methode, um Menschen des ohnehin schon nervösen Zeitalters an den Rand des Nervenzusammenbruchs zu bringen. Den Baron selbst hatte ja bereits die Beschreibung des Ausstellungsgeländes erschöpft. Ansonsten spielen menschliche Körper und Bewegungsabläufe keine Rolle in Scheerbarts Konzeptionen; Menschen sind nur als Rezeptoren für Nervenreize, als ‚Organe‘ relevant. Angesichts der ‚kosmischen‘ Tiefendimension scheinen auch Erfahrungen von Zeit in den Glasarchitekturen nur im Wechsel von natürlichem und künstlichem Licht auf – der zugleich einen Wechsel vom sonnendurchfluteten Glashaus zum von innen leuchtenden ‚Laternenhaus‘ impliziert. Neben Reisebewegungen strukturiert nur dieser Wechsel die Erzählung, die, wie dargelegt, weniger Handlungen als Beschreibungen wechselnder Wahrnehmungen bietet. In Scheerbarts Glasarchitektur herrscht eine Eigenzeit, die den erhofften ‚Erlösungszustand‘ antizipieren mag. Bei dem zu besichtigenden Gebäude am Beginn von Das graue Tuch handelt es sich wie in Münchhausens Erzählung um ein riesiges Ausstellungsgebäude, hier für Kunstgewerbe in Chicago. Die Bauweise erinnert an den archetypischen Crystal Palace der Londoner Welt- ausstellung von 1851, doch mit „kolossalen Wände[n] […] ganz aus farbigem Glas – mit farbigem Ornament, so daß das Tageslicht sehr gedämpft in den Innenraum hineinströmte.“ Der Protagonist, der Architekt Krug, weist seinen Begleiter auf die Wirkungen des Hinter- grunds hin: „Grade die Silberplastik hebt sich famos von den ganz bunten Glaswänden ab. Einen besseren Rahmen konnte [die darin ausgestellte] Silberkunst gar nicht bekommen, nicht wahr?“ (GT 7) Der Begleiter stimmt zwar zu, empfindet jedoch die ästhetische Do- minanz des „Rahmens“ als zu stark. Bereits auf der ersten Seite des Romans ist damit auch der ‚Rahmen‘ für die sich entspinnende Handlung gesetzt: Der Architekt heiratet spontan eine Orgelvirtuosin, die zufällig ein Kleid aus grauem Tuch mit einem Anteil von zehn Prozent an weißer Spitze trägt. Im Ehevertrag verpflichtet sich Clara, die künftige Frau Krug, fortan stets diese Kleiderordnung zu beachten.47 Wie die Silberplastiken soll sie als

46 Rausch (1986, 156). Zu Scheerbarts Mobilitäts-Euphorie vgl. auch Haag Bletter (1986, 86 f.). 47 Wie eine Prolepse erscheint eine Äußerung der Gräfin Rabenstein in Münchhausen und Clarissa, die sich über die „Berliner Architekten“ beklagt: „[D]er Architekt befiehlt nur – und der Bauherr hat zu gehorchen. Wir haben uns nicht einen einzigen Stuhl ohne Erlaubnis des Architekten anschaffen dürfen. Es fehlt nur noch, daß er uns auch die Kleider kauft.“ (MC 30) Der Baron erwidert, im avantgardistischen Melbourne wolle „der Architekt nicht nur der Gebieter in der Außen- und Innenarchitektur sein; er will auch gleich die ganze Lebensführung der Bauherrschaft beeinflussen; er zwingt den Hausbesitzern gleich besondere künstlerische Stimmungen und besondere künstlerische und auch literarische Beschäftigungen auf.“ (MC 31) Laut Pehnt (1971, 147) galten Scheerbarts Seitenhiebe den zeitgenössischen Rigorismen Henry van de Veldes. Vgl. Rausch (1986, 159).

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Charlotte Kurbjuhn: Das moderne Haus bei Paul Scheerbart und Bruno Taut | 37 graue Staffagefigur mit hellen Glanzlichtern die Buntheit der Glasarchitektur zur Geltung bringen. Das Verhältnis von Mensch und Haus hat sich gänzlich umgekehrt: Der Mensch hat nur noch dann ein ornamentales Wohnrecht im Haus, wenn er (bzw. die Frau) die Architektur zur Geltung bringt. Von pragmatischen Überlegungen für einen optimierten Alltag oder sonstigen Vorzüge jenseits ästhetischen Genusses erfährt der Leser nichts – doch zeigt sich eine schwebende Ironie gerade in diesen signifikanten Aussparungen, die die Tendenz zum ästheti(zisti)schen Totalitarismus48 exponiert und zugleich in Frage stellt. Eine poetologische Ebene zeigt sich auch in der Reaktion des Architekten auf eine Dame im „dunkelviolette[n] Sammetkleid mit karminroten und chrysolithgrünen Aufschlägen und Schnüren“, der er entgegenhält: „Eigentlich habe ich hier ganz allein in Farben zu sprechen.“ (GT 9) Der Architekt erklärt sich zum Dichter und die Architektur zur Farbpoesie: Scheer- barts Texte reflektieren immer wieder ihre narrativen Prämissen. Zur Außendarstellung des Ausstellungsgebäudes greift der Autor auf seine favorisierte Darstellungsweise zurück: Die Figuren bewegen sich mit modernen Fortbewegungsmitteln durch die architektonischen Räume und vor allem, analog zur Vertikalisierungseuphorie des Expressionismus,49 über sie hinweg:

Man benutzte ein paar Fahrstühle, fuhr erst nach unten und dann wieder nach oben. Und so kam man draußen auf ein großes Dachplateau, von dem aus kleine Wagen rund um die große Kuppel des runden Mittelpalastes herumfuhren. […] Da überall Doppelwände waren, sah die Ausstellung auch von außen ganz bunt ornamentiert aus. Und – von außen wirkten die Ausstellungshallen fast noch prächtiger als innen. Man sah im Michigansee das ganze bunte Spiegelbild der Paläste; wie Kolibris, Libellen und Schmetterlinge zuckten die unzähligen Farben auf den bewegten Wellen des Sees. Dazu leuchtete der Vollmond. Und auch er spiegelte sich im Wasser. Mehrere Aeroplane fuhren über den See – und ließen ihre bunten Scheinwerfer spielen. „Ein sehr buntes Bild!“ sagte Herr Krug. (GT 14)

Die Passage vermittelt einen guten Eindruck der Stilpluralismen, die für Scheerbarts Ro- mane charakteristisch sind: Neben ‚futuristische‘ Begeisterung für Geschwindigkeit und technisch gesteuerte Bewegungen tritt expressionistische Farbfreude, die in wiederum jugendstilhaft opalisierenden Bildern50 – hier im Vergleich mit favorisierten Tieren der zeitgenössischen Kunst – veranschaulicht wird. Dabei erscheinen keine eckigen Formen, wie sie für kubistische Kaleidoskop-Effekte zu erwarten wären, sondern eher pointillistisch- impressionistische Farbtupfen, deren ‚natürlicher‘ Reiz jedoch zuletzt wieder ‚technisch‘ gebrochen wird: durch die „bunten Scheinwerfer“ der „Aeroplane“. Die Luftfahrt steht wegen der beschleunigten Fortbewegung und der Luftperspekti- ve auf die utopischen Architekturen51 – auch Lichtarchitekturen von senkrecht in den Himmel strahlenden Scheinwerfern – fortan im Mittelpunkt der Romanhandlung, die eigentlich ein Itinerar entlang der Baustellen des Architekten Krug bietet. Beginnend

48 Vgl. zum totalitären Gestus des Konzepts Osterkamp (1977) und zur Relativierung Rausch (1986, 158). 49 Vgl. Musielski (2003, 58). 50 Vgl.: „Opalisierend lagen die Glaspaläste da“. (GT 16). 51 Es gilt „die Vogelperspektive als maßgebend“ (GT 52), denn Architekturen sollen „nachts vom Luftschiff aus entzückend wirken – wie bunte Lichtstraßen“ (ebd.).

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 38 | Charlotte Kurbjuhn: Das moderne Haus bei Paul Scheerbart und Bruno Taut mit einem „Erholungsheim für ältere Luftchauffeure“ auf den „britischen Fidschiinseln“ (GT 19) werden die Kontinente bereist und narrativ nach Art eines ‚Telegramm‘-Romans kommentierend verknüpft, und zwar aus den sich wiederum permanent bewegenden „prächtigen Kabinetts der Luftschiffgondel“, in der Frau Krug monatelang überwiegend lebt, mit „bunte[m] Glas in allen Wänden und prächtige[n] Balkons, von denen aus man in die Tiefe und zum Sternenhimmel blicken konnte“. (GT 17) Man kommuniziert mit den Luftschiffen entweder über Telegramme oder aber über „Farbensignale“ (GT 66) – eine favorisierte „Sprachutopie“ Scheerbarts.52 Im Zusammenhang mit der Luftschifffahrt findet sich in Das graue Tuch auch eine bissige Abrechnung mit gründerzeitlicher Bauweise. Der Architekt Krug soll auf Malta ein „Museum für altorientalische Waffen“ errichten, will aber eigentlich und endlich „ganz freie Glasarchitektur“ bauen (GT 80). Zunächst sind nur Mittel für einen Backsteinbau vorhanden, und schlimmer könnte es auch für Krug nicht kommen, denn dessen

Luftchauffeure sind eifrig nach der Karte bemüht, allen Backsteinanlagen aus dem Wege zu gehen. Man macht sehr oft deswegen mit meinem Luftschiff einen großen Umweg, nur damit ich nicht daran erinnert werde, daß es Menschen noch gibt, die zwischen Backsteinen hausen. Ich höre auch nicht gerne was von den Backsteinhäuslern. […] [M]ir ist die ganze Backsteinkultur sehr unsympathisch. (GT 98) Anders als der Autor Scheerbart, dessen Glasarchitektur-Visionen ja auf die ethisch-­ ästhetische Bildung eines ‚neuen Menschen‘ zielen, erweist sich Krug hier bei aller Ironie als elitärer Ästhetizist, der in seiner gläsernen Privatluftschiff-Kabine um das Mietskaser- nenelend einen großen Bogen macht. Seine Frau, „Miß [!] Clara“, die ihr im Ehevertrag festgelegtes graues Habit mittlerweile freiwillig trägt, wägt finanziell immerhin ab: „Es ist besser, ein buntes Haus zu haben als ein buntes Kleid. Jenes macht das ganze Leben bunt, dieses aber dient nur der Eitelkeit und bringt die Gelder um, die für den Hausbau da sein sollten.“ (GT 87) Über weite Strecken des Romans jedoch muss sich die Architektengattin mit Reisequartieren begnügen, was wiederholt für ironische Einschübe sorgt: „‚Meine Frau hat immer noch nicht ihre Küche auf der Isola grande gesehen.‘ Das sagte Mr. Edgar [Krug] öfters.“ (76) Die Küche als tradi- tioneller Raum weiblichen Wirkens im Haus und in den 1920er Jahren dann privilegierter Ort pragmatischer Einrichtungsideen zur Optimierung der Arbeitsabläufe einer Hausfrau ist so ziemlich der letzte Raum, an den der Leser bis dahin gedacht hätte – er wird auch später, als die Krugs ihr kurioses Eigenheim bezogen haben, nie wieder erwähnt. Dennoch hat Clara Krug Schwierigkeiten mit den – letztlich durch Glasarchitektur initiierten – emanzipatorischen Lebensveränderungen. Sie äußert gegenüber ihrer Freundin Amanda: „Ja, man ist im Luftschiff mehr zu Hause als in seiner Häuslichkeit. Schade! Früher gabʼs doch noch häusliche Frauen. Die gibtʼs heute nicht mehr.“ (GT 109) Als Clara Krug schließlich „zum ersten Male ihre sogenannte ‚Häuslichkeit‘“ sieht, erweist sich „die ganze Isola grande“ als „ein großes Schloß mit vielen Terrassen und selt- samen Türmen und sehr vielen buntfarbigen Balustraden und buntfarbigen Wänden.“ Bei der Ankunft „nach Sonnenuntergang […] leuchtete nun der Palazzo mächtig auf; alles

52 Musielski (2003, 86).

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Charlotte Kurbjuhn: Das moderne Haus bei Paul Scheerbart und Bruno Taut | 39 elektrische Licht wurde mit einem Ruck angeknipst, und die Türme sandten große farbige Scheinwerfer seitwärts und nach oben.“ (GT 101 f.) Später wird die gläserne Architektur durch Licht-Ornamentik ergänzt, erneut wird der Plötzlichkeitseffekt der elektrischen Illuminierung betont. In der Dämmerung leuchten die

vielen Lichttürme der Isola grande […] mit einem Ruck auf – und gleichzeitig die Lichtguir- landen, mit denen die Türme untereinander in prächtigen Bogen verbunden waren. Von unten sahen die Turmkapitells sehr prächtig aus. Und die Scheinwerfer stiegen kerzengrade aus den Kapitells, die breit nach allen Seiten überkragten, empor – wie phantastische Lichtblüten. […] Die Sterne sah man kaum, soviel Licht schwebte und schaukelte in der Luft. (GT 107) Neben der expressionistischen Freude an vertikaler Erhebung, gesteigert durch das zu den Sternen sich ausdehnende ‚schwebende und schaukelnde‘ Licht, das hier wie beseelt – und damit an Fechners Astrallehren erinnernd – evoziert wird, fällt insbesondere die neoroman- tisch-ironische Akzentuierung ins Auge. Wie von Zauberhand erscheint ein märchenhaft leuchtendes Schloss mit „phantastische[n] Lichtblüten“, zudem gibt es auf dem Anwesen „Orchideen im blauen Blumenhaus“ (GT 108): Die blaue Glastransparenz des künstlichen Paradieses hat die Sehnsucht nach Transzendenzsymbolen abgelöst.53 Für die Handlung bedeutet dies ebenfalls eine Inversion: An die Stelle eines Strebens ins Unendliche tritt der Rückzug in die Innenwelt der Glasarchitektur, doch noch immer verbildlicht diese die „romantische[] Sehnsucht nach Erlösung und Verklärung durch die Kunst“.54 Dass diese Heilserwartung skeptisch beleuchtet wird, zeigt sich nirgendwo besser als bei der Schilderung des ideellen Zentrums, der Arbeitszimmer des Architekten. Man erwartet kathedralartig von buntem Licht durchflutete Räume. Sie sind aber

sämtlich nicht groß; ein paar hatten freien Ausblick auf den Lago Maggiore, andre dagegen gar keinen Ausblick – unten drei bis vier Meter hohe Eisenbetonwände und das Licht oben in farbigen Glasfenstern, die bis zu fünfzehn Metern hinaufgingen, während die sehr kleine Grundfläche einfarbiger dicker Tuchstoff bedeckte. Zumeist brannte in diesen kleinen Zimmern eine Wachskerze. Edgar las da viel und rauchte. (GT 106)

Kein Zeichentisch weit und breit: Krugs im Roman evozierte Glasarchitektur wird trans- parent als reine Architekturpoesie, als Gedankenarchitektur aus dem Gehäuse eines Ere- miten. Daran ändert auch nichts, dass ein Besucher seine Verwunderung darüber, „daß unser Architekt die abschließenden Wände nur bei sich zu Hause hat“, immerhin im Sinne der oben zitierten „Glasarchitektur“-Schrift damit beruhigt, dass es „doch auch sehr wohl- tuend“ sei, „wenn man mal zwischen ganz abgeschlossenen Wänden dasitzt und nichts von der Außenwelt durch allzu nahe Glasfenster gewahr wird“. Denn hier handelt es sich um Räume, die keineswegs das transparente Fensterglas durch doppelwandiges Buntglas, sondern durch teils üppige Wanddekorationen ersetzt haben. So ergänzt eine weitere Be- sucherin, sie finde

53 Zum Kontext des „künstlichen Kosmos der Passagen und Gewächshäuser des ausgehenden 19. Jahrhunderts“ vgl. Musielski (2016, 140). 54 Zu bereits ähnlich akzentuierten Glasarchitekturen in Scheerbarts erstem Werk Das Paradies! Die Heimat der Kunst! (1889), die dort „noch ganz der Vorstellungswelt des Symbolismus verpflichtet“ sind, Rausch (1986, 149), ebd., 150 mit Hinweis auf die Nähe zu „Wagners Gralsburg“. Vgl. auch Boyd Whyte (1996, 13).

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den Wandbelag der dunkleren Zimmer sehr interessant – besonders dunkles Linoleum mit niel- loartig eingelegter Lackornamentik. Gestickte Seide an den Wänden gefällt mir auch. Felle an den Wänden gefallen mir weniger. Sehr interessant jedoch sind die bunten Kolibrifedern an der abgeschlossenen Wand. Neben der Periegese präsentiert das Interieur-Gespräch, wie es hier stattfindet, eine Varian- te, mit der Scheerbart Handlung durch Architekturbeschreibung ersetzt. Dabei erweist es sich als symptomatische Weiterentwicklung des romantischen Galerie-Gesprächs: Anstelle gerahmter Bilder wird der gesamte umgebende Raum zum Gegenstand der Beschreibung. Gelobt werden die „bunte Majolika an der Wand“, „die Steinmosaikarbeiten – und Email­ ornament auf Metall“, erstaunlich sei allerdings „die heftige Ablehnung des Holzes, das auch in den Möbeln so eigensinnig umgangen wird“ (GT 107) – eine Parallele zur Glas- architektur. Das Haus birgt aber nicht nur eine Material- und Musterausstellung55 und ein „kleines Ornamentmuseum“ (GT 115), sondern auch Modellsäle für potentielle Bauherren:

Da gab es Schloßmodelle, die auf den ersten Blick wie ein Haufen bunter Glaskugeln wirkten. […] Auch Modelle von ganz kleinen Villen befanden sich in den Sälen – und auch Anlagen von kleinen Kolonieen [sic]. (GT 117) Im Kontext von Scheerbarts Fechner-Rezeption erscheinen die Siedlungen in diesem Mi- niaturkosmos wie kleine Galaxien, zu denen sich die einzelnen – wie Sterne im Dunkel leuchtenden – Glashäuser aus der im Roman so oft eingeübten Vogelperspektive zusam- menschließen würden. Gebaut werden die Architekturen offenbar nie, es bleibt beim Schöpfungsplan, denn die „Besucher hatten immer sehr viel guten Willen, wenn sie sehr wenig Geld besaßen. Und wenn sie über dieses in großer Fülle verfügten, so waren sie sehr eigenwillig“ (GT 117) und hatten unmögliche Sonderwünsche. So scheitern Utopien. Den Code zum Schöpfungsplan aber scheint Krug in den freistehenden „Stahlschränke[n]“ des ‚Ornamentmuseums‘ systematisch archiviert zu haben. Er deklariert die Sammlung als „Beitrag zur Zahlenmystik“, die gänzlich „auf die Sterne zurückgeführt“ sei. Dabei ergeht er sich in weitläufigen, teils wieder an Fechner erinnernden Ausführungen, um schließlich sein Credo zu formulieren: „[W]er einmal von der Glasarchitektur gepackt ist, der lebt in den Glasfarben“, in denen „natürlich die Ornamentik die Hauptsache“ sei – denn die Um- setzung von Zahlensymbolik wirke „wie etwas Heiliges“ (GT 115). Nachdem das Farblicht so abermals zur Erlösung verheißenden Offenbarung stilisiert worden ist, endet der Roman im ‚Allerheiligsten‘, dem „Turmsalon“ der Krugs. Dieser ist „fünfundsiebzig Meter hoch“ und mündet in „einen ganz spitzen Turm […]. Die Grundfläche – mit dickem grauen Tuch belegt – nahm kaum fünfzig Quadratmeter in Anspruch.“ Damit kombiniert diese Wohnarchitek- tur zwei komplementäre expressionistische Raumvisionen: die höhlenartige Behausung als Rückzugsort „vor dem Einbruch der rationalistischen Ordnung in den Bereich des einzelnen

55 Vgl. in Münchhausen und Clarissa die Erzählung des Barons über australische Interieurs mit „kristallinische[m] Rankenwerk“ an den Wänden, dessen „variable[] Beleuchtungseffekte sehr starke Momente erzeugten“. Auch gebe es „ganz neuartige Tapetenspäße […] auf Metallwänden“, deren „Muster […] immerzu variabel“ seien und „sich unaufhörlich“ veränderten, und zwar „durch Säuren und Dämpfe, die vom Innern der Wände aus auf die Metallplatten wirken. Da entstehen ganz fabelhafte Formen- und Farbenmuster, die zuweilen durch darübergehende Glasranken mit Geißlerschen Röhren gehoben werden.“ (MC 37 f.).

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[sic] und der Gemeinschaft“56 sowie den ‚Turmbau‘ als Symbol des „Erhöhten, Entrückten“ und als Inbegriff der vertikalisierten Architektur, die Zeichen ist für die Sehnsucht nach der „Erfahrbarkeit des Göttlichen in Erhebung und Ekstase“57 und bei Scheerbart noch durch die kathedralartige Farbglas-Mystik gesteigert wird. Die optimale Wahrnehmungshaltung in diesem Turm – ungewohnt für Zeitgenossen, die noch keine Hochhausarchitekturen in solcher Höhe kannten – erfordert eine stabile Halswirbelsäule, um den Blick „in die Kuppelspitze hinein“ zu genießen. Von ihren Ledersesseln aus blicken die beiden zurückgelehnt nach oben.

[Sie] sahen schweigend in die bunte Pracht der Spitze – das Rote, Blaue, Grüne, Weiße, Violette – usw. „Ja! Die Farbe!“ sagte Mr. Edgar. Und dabei schien plötzlich die Abendsonne durch das Glas der Turmspitze – und das funkelte und glühte. „Ja! Die Sonne!“ sagte Miß Clara.

Die Menschen erscheinen hier nur noch als Resonanzkörper oder tatsächlich in Scheerbarts Sinn als irdische Organe der Farblicht-Empfindung; ihre Sprechakte beschränken sich auf Affirmation und Deixis jener Phänomene, auf die hin die Architektur konzipiert worden ist. Und auch hier wird technische Illumination zur Verstärkung der Effekte eingesetzt, es wird „Licht gemacht – elektrisches – bis zur Turmspitze hinauf“:

„Libellenflügel!“ sagte [Mr. Krug] leise, „Paradiesvögel, Leuchtkäfer, Lichtfische, Orchideen, Mu- scheln, Perlen, Brillanten usw. usw. – alles das zusammen ist das Herrlichste auf der Erdoberfläche – und das finden wir alles in der Glasarchitektur wieder. Sie ist das Höchste – ein Kulturgipfel!“ Sie aßen dann geröstete Schnecken. Und sie tranken ganz frisches Bier aus dem nahegelegenen Brissago. Und dann rauchten die Beiden gute Kubazigarren und blickten wieder mit zurückgelehntem Kopfe hinauf – in die Turmkuppel hinein.

Schluß! (GT 120 f.)

Schwebender kann Utopie nicht ironisiert werden – als hätte der Autor der abgelehnten Glasarchitektur seinem Verleger eine Parodie auf das dort ernsthaft Entwickelte unterge- schoben. Denn die Schnecken essenden und Bier trinkenden Krugs wirken zwar kaum wie Protagonisten jener von Scheerbart erhofften Verfeinerung und Erneuerung, doch gerade die „erlösende Heiterkeit“58 der Scheerbart’schen Texte nimmt ihnen jede Erdenschwere.

III. Vom Glashaus zur ‚Gläsernen Kette‘. Scheerbarts Architekturpoesie mit ihrer eklek- tischen Farb- und Lichtmystik der Allbeseelung blieb nicht folgenlos in der Geschichte realisierter Architektur. Euphorisch wurde der 1915 verstorbene Scheerbart von einer Ge- neration junger Architekten im Ersten Weltkrieg verehrt – in den von Mangel geprägten

56 Schneider (1996, 148 f.). 57 Vgl. zur Konnotation mit dem babylonischen Turmbau Musielski (2003, 58 f.) sowie Pehnt (1973, 28) zur „Lust am Vertikalen“. 58 Musielski (2003, 200).

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Jahren stagnierender Bautätigkeit nach Kriegsende inspirierten seine Imaginationen eine Reihe architektonischer Phantasien. Bruno Taut nannte ihn „[u]nser[en] Schutz- geist“.59 In den Architekturvisionen Tauts wie Scheerbarts erweisen sich die Tendenzen zur „Auflösung der Materie, dynamische Licht- und Farbkompositionen, Transzendenz und Unendlichkeitsperspektive“ als Eckpunkte „bauästhetischer Konzeptionen“; ihre Entwürfe, literarisch wie zeichnerisch, sind geprägt von „kinetisch-visuelle[r] Sehnsucht“ und „kaleidoskopische[n] Formprinzipien“.60 Scheerbarts Wirkung auf die Architekten der Nachkriegsjahre ist nicht zu unterschätzen. Seine Schriften finden sich in den Literaturempfehlungen des Arbeitsrates für Kunst, zu dessen über 100 Mitgliedern 1919 neben den Brüdern Max und Bruno Taut unter andern Otto Bartning, Walter Gropius, Erich Mendelsohn, Hans Poelzig und Hans Scharoun gehörten.61 Im Februar 1919 übernahm Walter Gropius die Leitung des Arbeitsrates als Nachfolger von Bruno Taut – im April wurde er Direktor des Bauhauses in Weimar. Noch in den Schlussworten seiner Eröffnungsrede sind Scheerbart’sche Konzepte wiederzuerkennen, wenn Gropius prophezeit, der „neue[] Bau der Zukunft“ werde „einst gen Himmel steigen […] als kristallenes Sinnbild eines neuen kommenden Glaubens.“62 In einem Brief an vierzehn Architektenkollegen rief Taut am 24. November 1919 zum Austausch von zeichnerischen und verschriftlichten architektonischen Ideen auf, denn: „Zu bauen gibt es heute fast nichts“. Er forderte: „Seien wir mit Bewusstsein ‚imaginäre Architekten!‘“63 Der esoterische Zirkel nannte sich Die gläserne Kette; Auszüge aus ihrer Korrespondenz publizierte Taut in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Frühlicht. Deren erste Ausgabe (1920) trug auf dem Titelblatt ein Motto aus Scheerbarts Katerpoesie sowie den Titel Nieder den Seriosismus! Nach einer Reihe von polemischen Exklamationen gegen die „Sauertöpfe[]“, „Tran- und Trauerklöße[]“ werden die zeitgenössischen „Grabstein- und Friedhofsfassaden“ kritisiert: „Zerschmeißt die Muschelkalksteinsäulen in Dorisch, Jonisch und Korinthisch […] in Scherben der Marmor- und Edelholzkram, auf den Müllhaufen mit dem Plunder!“64 Gegen die „Mammon- und Molochanbeter[]“, die „Anbeter der Ge- walt“ wird der in der Ferne glänzende „Morgen“ beschworen: „Hoch das Durchsichtige, Klare! Hoch die Reinheit! Hoch der Kristall! […] [H]och das ewige Bauen!“ Im selben Heft druckte Taut auch Teile des Briefwechsels mit Scheerbart aus der Entstehungszeit des Glashauses bzw. der Glasarchitektur ab,65 im zweiten Heft zeugte u. a. ein Entwurf von Wenzel Hablik für ein „drehbare[s] Haus“ (vgl. Abb. 2) mit sichtbar kristalliner Dachform von Scheerbarts architekturpoetischen Vorbildern.66

59 Bruno Taut: Ex oriente lux. Aufruf an die Architekten. In: Neue Blätter für Kunst und Dichtung 2 (1919), April, 15 ff., zit. n. AdK (1980, 187). 60 Musielski (2003, 94 f). 61 Auch im Katalog zur Ausstellung Neues Bauen, die Hans und Wassili Luckhardt, beide Mitglieder der Gläsernen Kette, initiiert hatten, wurde ausdrücklich auf Paul Scheerbarts Glasarchitektur und seine sonstigen Schriften – also auch auf die unbestreitbar fiktionalen – hingewiesen, vgl. dazu Boyd Whyte (1996, 15). 62 Haag Bletter (1980, 92), das Zitat auf 94, Anm. 42. 63 Boyd Whyte, Schneider (1996, 25). 64 Abgebildet bei Günter (2019, 24). 65 Dazu Lütgens (2016, 16). 66 In Scheerbarts Das graue Tuch waren drehbare Architekturen beschrieben worden (vgl. GT 68 f.).

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Abb. 2: Wenzel Hablik: Entwurf für ein drehbares Haus mit kristalliner Dachform (1920).

Aus der „kristallinen U-topie“ der Gläsernen Kette ging schließlich „die konkrete Eu-topie des Neuen Bauens hervor“, die „Taut und seine[] Kollegen in den großen Wohnungs- bauprogrammen der späten zwanziger Jahre“67 realisierten. Erste von den Zeitgenossen als revolutionär beargwöhnte Projekte farbigen Bauens – nicht aus Glas – entwickelte Taut 1921 als Stadtbaurat von Magdeburg. Bereits 1919 hatte die Bauwelt einen von Taut angestoßenen „Aufruf zum farbigen Bauen“ veröffentlicht68 – mit forscher Polemik gegen den „gleich speckigen milchgrauen Saucenanstrich“ der städtischen Fassaden mit ihrer „Skala […] vom Milchgrau bis zur Erbsensuppe“.69 Mit den farbfreudigen

67 Boyd Whyte (1996, 19). Zur „Bipolarität“ von Tauts Schaffen zwischen zweckfreier Glasarchitektur und Wohn- reformprojekten nach Gartenstadt-Vorbild vgl. Bollerey, Hartmann (1980, 58 f). Der soziale Wohnungsbau stand für Taut ab der zweiten Hälfte der 1920er Jahre im Mittelpunkt; ich begrenze mich hier auf die Scheer- bart-Bezüge bis 1920. 68 Die Bauwelt 10 (8.9.1919), vgl. dazu Bollerey, Hartmann (1980, 66). 69 Magdeburger Zeitung (26.6.1921), Morgenblatt (26.6.1921) sowie Volksstimme (26.6.1921), zit. nach Bollerey, Hartmann (1980, 66).

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Innovationen im sozialen Siedlungsbau ist heute der Name Taut ungleich mehr verbun- den als mit seinen durch Scheerbart inspirierten Architekturvisionen der Kriegs- und Nachkriegszeit.70 Zu diesen Visionen gehören die imaginäre Alpine Architektur (1919) oder die Stadtkrone (1919), in der das „Kristallhaus“ gut Fechnerisch als „Träger eines kosmische[n] Empfindens“, einer „Religiosität“ erscheint.71 Taut imaginiert den über der Stadt thronenden Glasbau der „Stadtkrone“: „Der Glanz, das Leuchten des Reinen, Transzendentalen schimmert über der Festlichkeit der ungebrochen strahlenden Farben. Und als ein Farbenmeer breitet sich der Stadtbezirk rings umher aus, zum Zeichen des Glückes im neuen Leben.“ Er zitiert dazu Scheerbarts Vers „Das Licht will durch das ganze All | Und ist lebendig im Kristall“, der auf dem Glashaus der Kölner Werkbund- Ausstellung 1914 zu lesen war, gefolgt von Zitaten von Meister Eckhart, denn auch bei Taut zeigt sich die Nähe zur Mystik, wie sie als Tendenz auch Teile des Expressionismus geprägt hatte.72 Noch sein kosmisch-visionäres Der Weltbaumeister. Ein Architektur- schauspiel (1920) ist „dem Geiste Paul Scheerbarts“ gewidmet: In einem „kinetisch“ avancierten „Farben- und Formenspiel“ erscheinen „Wohnhäuser […] aus dem Boden […], eine Siedlungsstruktur bildet sich“ und wird von einem leuchtenden Glashaus bekrönt.73 Nicht nur das Licht, auch der Genius Scheerbarts scheint hier „lebendig im Kristall.“ In Die neue Wohnung (1924) schließlich integriert Bruno Taut Scheerbarts Konzepte in konkrete Bauvorschläge und verweist auf das Glashaus von 1914 (vgl. Abb. 3), wenn er für ein rundes Esszimmer „weiße Wände aus dicken Glasprismen“ vorschlägt, hinzu kommen eine Decke aus „Glasplatten in ringförmiger Abstufung von Farben“, eine Lampe mit „Mattglasplatte[n]“74 (vgl. Abb. 4) und andere Glasmöbelteile.

70 Zu Tauts „Visionen am Schreib- und Zeichentisch“ vgl. Musielski (2003, 97–119). 71 Taut (1919, 69), dazu mit Hinweis auf Fechner Musielski (2003, 101, 189). 72 Zu Tauts Auseinandersetzung mit Meister Eckhart und Jakob Böhme vgl. Boyd Whyte (1996, 12). In der Zeitschrift Frühlicht druckte Taut die Passagen aus der Offenbarung des Johannes mit der „Vision […] vom Neuen Jerusalem in voller Länge ab, dazu Auszüge aus den Schriften Meister Eckharts, Schwester Hadewychs und Jakob Böhmes“ (S. 12). Boyd Whyte hat auf die Nietzsche-Referenzen bei Taut hingewiesen, der die Entstehung eines Bauwerks als Resultat eines „Zusammenwirken[s] von Architekt und Glaube“ sah, wobei der Glaube keineswegs christlich determiniert sei (ebd.). 73 Musielski (2003, 111). 74 Taut (1924, 50). Ebd., 53 folgt das Foto der Treppe des Kölner Glaspalastes von 1914 mit Glasbaustein-Wänden und -Stufen (vgl. Abb. 3), ebd., 54 die Zeichnung des Speisezimmers (vgl. Abb. 4).

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Abb. 3: Bruno Taut bildete in Die neue Wohnung (1924) nochmals die Glastreppe des Kölner Glaspalastes von 1914 mit Glasbaustein-Wänden und -Stufen ab.

Abb. 4: Tauts Entwurf für ein rundes Esszimmer aus Glas (Die neue Wohnung, 1924).

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Tauts schmales Buch mit dem Untertitel „Die Frau als Schöpferin“ adressiert explizit die Bewohnerin der neuen Wohnung – doch anders als bei Scheerbart ist sie nun nicht mehr Leserin eines „Damenromans“, sondern der „durch die heutige Wohnung versklavt[en]“75 Frau sollen als Schöpferin geistige Freiräume eröffnet werden. Die solchermaßen inspirierende ‚neue Wohnung‘ ist bei allen pragmatischen Erwägungen durchaus visionär gedacht: Farb- und vor allem Lichtemphase, die Faszination durch goti- sche Kathedralen als Vorgänger der Glasarchitektur und die Begeisterung für die Kuppel- bauten der Dome sind wie bei Scheerbart auch bei Taut verbunden mit der Hoffnung auf eine neue Gemeinschaft der Menschheit im Zeichen einer geistig verfeinerten umfassenden Harmonie. „Ganz wie der Körper durch Verklärung vergeistigt werde“, imaginierte Taut die umgekehrte Wirkung: dass „der Geist durch das Medium ‚Architekt‘ körperliche, bauliche Formen erlangen“ könne, um so ein „Himmelreich auf Erden“ zu schaffen.76 In Architektur neuer Gemeinschaft stilisiert er den Architekten als messianische Ge- stalt;77 und als man sich im Kreis der Gläsernen Kette Pseudonyme zulegt, entscheidet sich Bruno Taut für „Glas“. Ralph Musielski sieht in dieser „‚Selbstkristallisierung‘“ Tauts den „Höhepunkt expressionistischer Kristallmythologie“ markiert.78

IV . Eine ‚Ironie‘ der Rezeption? Bei genauerer Betrachtung erscheint Tauts Reverenz an Scheerbart paradox; zumindest wird in der weiteren Geschichte des neuen Bauens deut- lich, wie eklektisch doch eigentlich nur an Scheerbart angeknüpft wurde und werden konnte. Zu groß scheinen die Unterschiede zwischen den Architekturvisionen des literari- schen Utopisten und den Anliegen der Protagonisten eines sozialen neuen Wohnungsbaus. Dies beginnt mit der Sprache: Statt eindeutiger Programmatik zeitgenössischer Manifeste verwendet Scheerbart, wie oben dargelegt, in seinen Romanen Verfahren romantischer Ironie, um selbstreflexiv die narrativen Modi seiner Schilderungen von ästhetischer Archi- tekturerfahrung zu kommentieren. Die Schrift Glasarchitektur präsentiert sich eher als neoromantische Fragment-Sammlung, die immer wieder das Propagierte zu ironisieren scheint, denn als Manifest neuen Bauens. In den Romanen zeigen sich immer wieder Re- miniszenzen an das romantische Strukturmodell par excellence, die Arabeske, und zwar nicht nur als Narrationsprinzip der digressiven Romanhandlungen, sondern ebenso moti- visch in der Ornamentik der geschilderten Bauten oder sogar als Sammlungsinteresse im ‚Ornamentmuseum‘ des Architekten Krug. Die Architekten des neuen Bauens hingegen lehnten ornamentale Gestaltungen generell eher ab. In Scheerbarts Texten fällt zudem auf, dass die arabeske Ornamentik – im Gegensatz zu den zeichnerisch-linearen Arabesken der Romantik – zunehmend immaterialisiert als Licht- und Farbspiel erscheint, beispielsweise in den Lichtbögen und aus Kapitellen entsprießenden Lichtblüten auf der Isola grande, auf der sich ja auch das blaue Orchideenhaus als Inbegriff einer Neoromantik im Zei- chen künstlicher Architekturparadiese befindet. An die Stelle der arabesken Blüten- und

75 Taut (1924, 10). 76 Boyd Whyte (1996, 11). 77 Bruno Taut: Architektur neuer Gemeinschaft. In: Alfred Wolfenstein (Hrsg.) (1920, 274): Die Erhebung. Jahrbuch für neue Dichtung und Wertung, 2. Buch, Berlin, zit. nach Boyd Whyte (1996, 11). 78 Musielski (2003, 94).

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Rankenphantasien wie in Zeichnungen Philipp Otto Runges sind Lichtblumen und Lichtgirlanden getreten; die gebaute Architektur wird durch Scheerbarts Lichtarabesken imaginär erweitert, Raumlogik und Schwerkraft werden durch temporäre Lichtstruktu- ren suspendiert.79 Neben ästhetischen Oppositionen zwischen Scheerbarts neoromantischen Utopien und den wegweisenden Konzepten neuen Bauens mit Tendenz zur Neuen Sachlichkeit, die von Bruno Taut nicht problematisiert werden, zeigt sich zudem eine soziale Diskrepanz. Denn Scheerbarts Romane präsentieren ausschließlich utopische Bauten einer Upper Class, deren Mitglieder (Millionäre, adlige Hochstapler, Künstler oder gelangweilte Gat- tinnen) als Luftschiff-Jetset um die Welt reisen und dabei jeden Realitätskontakt mit den ‚Backsteinhäuslern‘ vermeiden. Gerade diese Scheuklappen gegenüber den Exponenten der Industriegesellschaft und damit die gezielte Ausblendung des von dieser produzierten Mietskasernenelends stehen in jeder Hinsicht konträr zu den Siedlungskonzepten des neuen Bauens. Angesichts dieser fundamentalen Diskrepanzen ist zu vermuten, dass Bruno Taut und die anderen Architekten des neuen Bauens Scheerbarts soziales Setting satirisch ver- standen, anders ließe sich ihre begeisterte Rezeption, ja geradezu Verklärung Scheerbarts kaum erklären. Bei diesen doch fundamentalen Diskrepanzen stellt sich abschließend die Frage, wie satirisch man Scheerbarts Romane lesen soll und darf. Wohl zurecht lässt sich angesichts der Tatsache, dass der Protagonist von Münchhausen und Clarissa ein sagen- hafter und offenbar verarmter Lügenbaron ist, und mit Blick auf die Art und Weise, in der am Ende des Romans Das graue Tuch das Protagonistenpaar recht entlarvend beim Schneckenessen und Biertrinken gezeigt wird, vermuten, dass Scheerbart mit erheblicher Ironiekompetenz seiner Leser rechnete. Die Logik seiner Texte bleibt irritierend wie die in ihnen beschriebenen, plötzlich aufscheinenden Lichtarabesken oder unendlich variablen Wandformationen, die vermeintlich feste Strukturen immer wieder in Frage stellen.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Akademie Der Künste (1980, 181). Abb. 2: Thiekötter (1993, 52). Abb. 3: Akademie Der Künste (1980, 183). Abb. 4: [Bruno Taut]: Die neue Wohnung / die Frau als Schöpferin. Mit vierzehn Abbildungen auf sieben Tafeln und einer Abbildung im Text. Von Bruno Taut. [Selbstrezension]. In: Der Ci- cerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers (1924), H. 16, 647–659, 656.

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79 Für wertvolle Ergänzungen zu Scheerbarts arabesken Gestaltungen und den inhärenten Rezeptionsparadoxien danke ich Christiane Holm.

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Abstract Paul Scheerbart entwickelte in utopischen Romanen und in seiner Schrift Glasarchitektur (1914) avant- gardistische Konzepte von Bauten aus durchscheinendem farbigen Glas, die mit der Hoffnung auf einen ‚neuen Menschen‘ in vollkommener Harmonie mit dem Kosmos verbunden sind. Statt manifester Pro- grammatik findet man in den Texten fragmentarische Thesen, Spielarten (neo-)romantisch-ironischen Erzählens und eine Favorisierung von Ornamentik, die zeichnerische Arabesken der Zeit um 1800 in Form von Licht- und Farbphänomenen immaterialisiert. Die Protagonisten gehören einem elitären Jetset an, soziale Fragen werden ausgeblendet. Angesichts dieser Diskrepanzen zwischen Scheerbarts Texten und seiner Wirkung auf Architekten des sozialen Siedlungsbaus stellt sich die Frage nach dem satirischen Potential seiner Schriften, die eine Lesart gegen den Strich nahezulegen scheinen. In his utopian novels as well as in his text Glass Architecture (1914), Paul Scheerbart developed avant- garde concepts of buildings made of translucently coloured glass that went along with with hopes of a ‚New Man‘, living in complete cosmic harmony. Instead of explicit manifestos, fragmentary theses, playful variations of (neo-)romantic-ironic narrating and a predilection for ornaments prevail in these texts, immaterializing the graphic arabesques from around 1800 as phenomena of light and colour. The protagonists of Scheerbart’s novels belong to an elitist jet set, social matters are ignored. Considering the discrepancies between Scheerbart’s writings and his influence on architects of social housing, the satiric potential of his texts needs to be reconsidered as they seem to provoke readings against the grain. Keywords: Architektur, Expressionismus, Paul Scheerbart, Bruno Taut, Utopie

Anschrift der Verfasserin: Dr. Charlotte Kurbjuhn, Friedrich-Alexander-Universität Earlangen-Nürnberg, Department für Germanistik und Komparatistik, Bismarckstr. 1 B, 91054 Erlangen,

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) pen Zeitschrift für Germanistik | Neue Folge XXX (2020), Peter Lang, Bern | H. 1, S. 50–70

Hans-Georg von Arburg Die Siedlung: Wohnen im Rückzugsgebiet des modernen Hauses

„Jede Gesellschaftsschicht hat den ihr zugeordneten Raum“.1 Das diagnostizierte Siegfried Kracauer am 17. Juni 1930 in der Frankfurter Zeitung in einem Feuilleton Über Arbeits- nachweise. Die Diagnose gilt nicht nur für die nüchternen Berliner Arbeitslosenämter, sie gilt speziell auch für die Siedlung: „Als charakteristischer Ort der kleinen, abhängigen Existenzen, die sich noch immer gern dem verschollenen Mittelstand zurechnen, bildet sich mehr und mehr die Siedlung heraus“, erklärt Kracauer.2 Hier sind jene Angestellten zu Hause, denen der ausgebildete Architekt und Soziologe seine Reportage aus dem neu- esten Deutschland gewidmet hatte.3 Kracauer wusste, dass „die paar dort verwohnbaren Kubikmeter“ dem „engen Lebensspielraum dieser Schicht“ entsprechen.4 Und es war ihm klar, dass dieser Lebens- und Spielraum „auch durchs Radio nicht erweitert“ wurde.5 Er lokalisiert die Siedlung daher nicht nur soziologisch als ein Réduit des modernen Wohnens, sondern identifiziert sie auch medienästhetisch als ein Residuum. Die Siedlung ist eine Schwundstufe jenes international style, den Architekturzeitschriften und Kulturmagazine in der Öffentlichkeit propagierten und dessen traumhafte Verwirklichung das Radio zu Hause evozierte.6 Damit bringt Kracauer das Wohnen in der Siedlung und ihr Verhältnis zum modernen Haus auf eine elementare Formel. Zum einen verspricht der massenhafte Erfolg des Siedelns nach dem Ersten Weltkrieg moderne Lösungen für die dramatische Wohnungsnot in der Weimarer Republik. Zum anderen brüten gerade in der massenmedialen Verbreitung der Siedlungsbewegung gesellschaftliche Regression und technologische Illusion. Siedeln meint beides: den programmatischen Aufbruch in die Moderne und ihre praktische Ernüchterung. Und damit stellt es nicht zuletzt eine Rückfallposition für alternative Formen des modernen Wohnens zwischen progressiven Gesellschaftsentwürfen und konservativen Ideologien dar. Gesiedelt wird in der Zwischenkriegszeit also in einem Rückzugsgebiet des modernen Hauses: hinter der militanten Front des avantgardistischen Neuen Bauens und in deren Deckung, wo Haustypen und Wohnformen mit sehr verschiedenen Modernitätsbezügen gedeihen können. Im Verhältnis zum modernen Haus im emphatischen Sinne der Architekturavantgarde und der mit ihr verbündeten Architekturgeschichtsschreibung sind die Siedlung und das Siedeln daher mehrdeutig und widersprüchlich. Um diese

1 Kracauer (2011, 249). 2 Kracauer (2011, 249). 3 Kracauer (2006). „Aus dem neuesten Deutschland“ lautet der Untertitel von Kracauers soziologischer Unter- suchung. 4 Kracauer (2011, 249). 5 Kracauer (2011, 249). 6 Vgl. Eberhard (2011, 98–107), am Beispiel der Siedlungen Ernst Mays im ‚Neuen Frankfurt‘ speziell Henderson (2013–221).

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Mehrfachcodierung einer modernen Wohnform geht es in diesem Beitrag. Das Terrain ist sowohl von der älteren Literaturgeschichte als auch von der neueren Literatur- und Kulturwissenschaft kaum beachtet worden. Interessiert hat allenfalls noch die Literatur im Geiste der völkischen oder nationalsozialistischen Siedlungsideologie.7 Der Bezug zur sogenannten historischen oder klassischen Moderne dagegen ist bislang unberücksichtigt geblieben. Das Profil dieser terra incognita zwischen Architekturpublizistik und literarischer Produktion zeichnet sich am deutlichsten in der Zwischenkriegszeit ab. Hier wird das Siedeln zu einem gesamtgesellschaftlichen (Diskurs-)Phänomen, und hier akzentuieren sich auch die für die anarchische Siedlungsbewegung von Anfang an typischen weltan- schaulichen und ästhetischen Verwerfungen. Gleichzeitig differenziert sich eine Spezial- literatur aus, die das Siedeln von der Fachpublizistik bis zum Feuilleton und von ganz links bis ganz rechts popularisiert. Das Gelände, das erschlossen wird, ist unübersichtlich und die Orientierung darin ei- nigermaßen schwierig. Was heißt überhaupt siedeln? Welche Bautypen und Wohnformen gehören dazu? Und welche quantitative und ideelle Bedeutung hat die Siedlungsbewegung für die moderne Architektur in der Weimarer Republik? Neben einigen Zahlen und Fak- ten kann hier eine kleine Rundschau über die weitläufige Siedlungsliteratur einen ersten Überblick verschaffen. Einen Einblick in diese Literatur und ihre Eigentümlichkeiten gewinnt man freilich erst am Material selbst. Der Überblick soll darum um drei Fallbei- spiele von Siedlungstexten aus der Architekturmoderne ergänzt werden. Adolf Loos, der Übervater dieser Moderne, geht mit seiner Arbeit für das Siedlungsamt im ,Roten Wien‘ auf Distanz sowohl zum sozialen Wohnungsbau in städtischen Großsiedlungen als auch zur bourgeoisen Variante in den Mustersiedlungen der Avantgarde. Hannes Meyer, der spätere Dessauer Bauhausdirektor, entwirft Anfang der 1920er Jahre eine konsumgenossenschaft- liche Siedlung im Stil der regionalen Moderne und stellt diese als politisches Avantgarde- theater aus. Und Bruno Taut, der Berliner Spezialist für Großsiedlungen im Weltformat, positioniert sich in der kosmopolitischen Weißenhofsiedlung mit einem Arbeiterwohnhaus als Außenseiter und propagiert mit seinem eigenwilligen Wohnhaus ein neues Leben zwischen geometrischen Kubaturen und Komposthaufen. Alle diese Autoren reagieren idiosynkratisch auf den Kollektivtraum vom neuen Leben im modernen Haus, und auch die ästhetische Faktur ihrer Siedlungstexte ist individuell verschieden. Ihre Visionen sind jedoch gleichermaßen radikal. Und alle beflügelt dieselbe missionarische Überzeugung: Sie haben eine Aufgabe zu erfüllen. Diese Aufgabe bringt der Antikriegsromancier Edlef Köppen 1934 in seinem humoristischen Siedlungstagebuch Vier Mauern und ein Dach auf den Punkt: „Jawohl, siedeln ist eine Aufgabe. Ist ein Dienst, nicht nur an mir und meiner Familie. Nein, ist ein Dienst an allen. Siedeln schafft Arbeit, Brot. Siedeln schafft Verbundenheit.“8 Oder wie Leberecht Migge, der Hohepriester der modernen Siedlungs- bewegung, in seinem „Evangelium des Gartens“ predigt: Siedeln „ist Kult. Echtes Siedeln ist immer mit Glauben verbunden.“9

7 Vgl. Linse (1990), Hermand (2000). 8 Köppen (1934, 8). 9 Migge (1926, 195).

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 52 | Hans-Georg von Arburg: Die Siedlung

I. Überblick: Die Siedlungsbewegung in der Weimarer Republik und die moderne Architek- tur. Aber was heißt ‚siedeln‘ überhaupt, und was ist eine ‚Siedlung‘ im Sinne der histori- schen Akteure? Wasmuths Lexikon der Baukunst, das deutschsprachige Standardwerk zur Architektur des frühen 20. Jahrhunderts, definiert es 1932 wie folgt:

Siedlung bezeichnet im Sinne von Ansiedlung allgemein die Seßhaftwerdung von Menschen auf Grund und Boden. Siedlung bedeutet also zunächst die Schaffung ortsfester Wohnstätten; ist auch die wirtschaftliche Existenz an den Ort der Siedlung gebunden, so entsteht im Gegensatz zur bloßen Wohnsiedlung die Wirtschaftssiedlung. Hauptbeispiel der letztgenannten Siedlungsart (Wirtschaftsheimstätten) ist die ländliche Siedlung, zu deren ursprünglichsten Formen das Bau- ernhaus gehört; andere Beispiele sind Bergwerkssiedlungen, Fabriksiedlungen u. dgl. Eigentliche Wohnsiedlungen sind dagegen im wesentlichen neuzeitliche städtische Siedlungen, namentlich bei Trennung städtischer Wohnviertel von der City, den Industrievierteln usw. […] Träger des Bauver- fahrens waren in den Städten gemeinnützige Gesellschaften, die vom Jahre 1924 ab, veranlaßt von der leichteren Finanzierungsmöglichkeit des Mietshauses, den Flachbau zugunsten des drei- und vier- geschossigen Hauses zurücktreten ließen, und nun die Bezeichnung „Siedlung“ auf diese städtischen „Wohnblöcke“ übertrugen, ja sogar die Bezeichnung „Großsiedlung“ schufen.10

Demzufolge ist eine Siedlung und meint siedeln je nach der historischen und gesellschaft- lichen Situation wieder etwas ganz Anderes. Der Siedlungspionier Hans Kampffmeyer fasst dieses weite Bedeutungsspektrum in seiner Programmschrift Siedlung und Kleingarten von 1926 so zusammen:

Siedeln heißt, Menschen mit dem Boden in dauernden Zusammenhang zu bringen, sie in Wohnstätten seßhaft zu machen. Bei der dichten Bevölkerung unserer Kulturländer erfolgt das Siedeln zumeist in Gruppen. So entstehen städtische und ländliche Siedlungen.11

Entscheidend beim Siedeln und bei der Siedlung sind die Erschließung von Neuland und ein damit verbundener zivilisatorischer Pioniergeist, der Bezug zum eigenen, oft gemein- schaftlich genutzten Boden mit dem idealen Ziel einer Subsistenzökonomie („Wirtschafts- siedlung“) sowie die Randlage bei bestehenden Wohngebieten und daher auch der Austausch zwischen städtischen und ländlichen Zonen. Und gesiedelt wird immer kollektiv, kommunal geordnet oder genossenschaftlich organisiert. Ein Siedler ist also nie allein, auch wenn er seine Parzelle auf dem Siedlungsgelände individuell ersteht und bebaut. Diese allgemeine Phänomenologie erfährt in der Stabilisierungsphase der Weimarer Republik eine historische Verschiebung. Sie verändert das Verständnis vom Siedeln von Grund auf. Was ursprünglich kolonisatorische Landnahme bezeichnete, wird nun zu einem urbanen oder periurbanen Phänomen. Wasmuths Lexikon der Baukunst lokalisiert daher die „eigentlichen Wohnsiedlungen“ an der Peripherie der Großstädte. Ende der 1920er sind diese städtischen Großsiedlungen zum zeitdiagnostischen Massenphänomen gewor- den. 1928 konstatiert eine Bestandsaufnahme des Reichsarbeitsministeriums über den Deutschen Wohnungsbau: „Begriffe wie Wohnungsnot, Siedlung und Städtebau haben in

10 Wasmuths Lexikon der Baukunst Bd. 4 (1932, 374 f.). 11 Kampffmeyer (1926, 11).

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Hans-Georg von Arburg: Die Siedlung | 53 unserem öffentlichen Leben eine Bedeutung gewonnen wie nie zuvor.“12 Siedeln ist in der Weimarer Republik also in aller Munde. Und es ist dort in ein epochentypisches Junktim eingespannt: zwischen die Wohnungsnot als seine materielle Basis und die Stadtplanung als sein gouvernementales Dach. Wie kommt es dazu? Historisch gesehen geht die moderne Siedlungsbewegung auf frühe Werksiedlungen im 19. Jahrhundert zurück. Diese entstanden in Deutschland seit den 1840er Jahren und sollten der Arbeiterschaft einen möglichst ,gesunden‘ (sprich: regenerativen) und ,gut gelegenen‘ (sprich: werknahen) Wohnraum bieten.13 Allerdings wurden diese Fabrik- siedlungen von vielen Wohnreformern wegen ihrer kapitalistischen Motive heftig kritisiert. Als moderne Antwort auf die dringende Wohnungsfrage gewannen Siedlungsprojekte erst durch die Wohnungsbaupolitik der um die Jahrhundertwende gegründeten gemeinnützigen Baugenossenschaften an Akzeptanz. Modellhaft wirkten hier die aus England importierten Gartenstädte, allen voran die ab 1906 gebaute genossenschaftliche Gartenstadt in Hellerau bei Dresden.14 Als lebensreformerisches Gesamtkunstwerk mit Typenhäusern von führenden Architekten wie Theodor Fischer, Hermann Muthesius, Fritz Schumacher oder Richard Riemerschmid, einem von Heinrich Tessenow entworfenen funktionalen Festspielhaus für die rhythmische Gymnastik von Émile Jacques-Dalcroze und eigenen Deutschen Werkstätten für moderne Typenmöbel wurde Hellerau zum Flaggschiff des 1907 gegründeten Deutschen Werkbundes.15 Die anarchische Variante davon sind die auf den volksgesundheitlichen Re- formideen Moritz Schrebers aufbauenden Kleingartenkolonien.16 In der Pionierphase bis zum Ersten Weltkrieg blieben diese Siedlungsinitiativen jedoch vereinzelt. Beflügelt von einem zivilisations- und gesellschaftskritischen Geist zielten sie auf eine gegenurbane Lebens- und antikapitalistische Bodenreform. Viele waren kulturkonservativ bis völkisch inspiriert wie die Vegetarische Obstbau-Kolonie Eden bei Oranienburg in der Nähe von Berlin, die ‚rassisch‘ inspirierte ‚vegetarianische‘ Kolonie von Emil Strauß und Emil Gött auf der Rheinburg am Bodensee oder ein ganzes Netzwerk von Siedlungsexperimenten zwischen Naturmystik, Jugendbewegung und arischer ‚Aufartung‘ im Dunstkreis von Hugo Höppener alias Fidus.17 Es gab aber auch die kommunistisch-anarchistischen Siedlungspläne von Gustav Landauers Sozialistischem Bund und die modernistischen Künstlerkolonien in Worpswede oder auf dem Monte Verità in Ascona.18 Und es gab last not least die proto-ökologischen Selbstversorger- und Kompostvisionen des Garten- und Landschaftsarchitekten Leberecht Migge.19 Als allgemeiner Trend mit gesellschaftlicher Breitenwirkung konnte sich die Siedlungs- bewegung allerdings erst in den frühen 1920er Jahren etablieren. Unter dem Druck der Inflation zogen die Menschen in Deutschland und Österreich in Massen vor die ruinier- ten Städte, um sich in Wohnlauben und Schrebergartenkolonien einzurichten.20 Darauf

12 Deutscher Wohnungsbau (1928, 11). 13 Vgl. Reulecke (Hrsg.) (1997, 561–587). 14 Vgl. Reulecke (Hrsg.) (1997, 587–601), Hartmann (1976, 46–101). 15 Schwartz (1996, 75–145). 16 Vgl. Kampffmeyer (1926, 1–10). 17 Vgl. Kerbs, Reulecke (Hrsg.) (1998, 227–244), Frecot, Geist, Kerbs (1997, 36–46), Linse (1990). 18 Vgl. Knüppel (2006), Aschenbeck (2016), Szeemann (Hrsg.) (1980, 26–37, 55–64, 85–98). 19 Vgl. Uhlig (1981), Haney (2010, 86–154), Gadient, von Schwerin, Orga (2019, 192–225). 20 Vgl. Kähler (Hrsg.) (1996, 305–326, 394–398), Linse (1986, 72–94), Zimmerl (2002).

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 54 | Hans-Georg von Arburg: Die Siedlung reagierte das Reichssiedlungsgesetz von 1919, welches das wilde Siedeln regulierte und nach dem Vorbild der preußischen Landeskulturämter zentral organisierte.21 Im Brennpunkt der Siedlungsdebatte stand fortan der kommunale Siedlungsbau in den Großstädten.22 In Frankfurt am Main entstanden zwischen 1925 und 1930 über 15.000 neue Wohnungen für 50.000 Menschen in Großsiedlungen am Stadtrand.23 In Berlin waren es im gleichen Zeitraum fast doppelt so viele.24 Das Siedeln im XL-Format machte den beispiellosen Neu- wohnungsbau in der späteren Weimarer Republik überhaupt erst möglich. Und nicht nur die städtischen Hochbauämter demonstrierten ihren Leistungsausweis in programmatischen Zeitschriften wie Das Neue Frankfurt oder Das Neue Berlin.25 Auch übergeordnete Instan- zen wie das Reichsarbeitsministerium oder der deutsche Städtebund stellten die moderne Siedlungspolitik in Wort, Zahl und Bild publikumswirksam aus.26 Diese Public Relations hatte das kommunale Siedeln aber auch dringend nötig. Denn die Siedlungspolitik im wilhelminischen Reich hatte die Mieter „staatsfeindlich gemacht“.27 Es brauchte daher bei den Adressaten dieser offiziellen Bilanzen schon „ein wenig Liebe, ein bißchen verständnisvolles Eingehen auf das Gezeigte und eine gewisse soziale Einstellung“, damit sich ihnen das „beseligende[] Gefühl auftun“ konnte: „Unter dem Druck der Woh- nungsnot ist in Deutschland ein neues Wohnen entstanden.“28 Die Propaganda für dieses neue Wohnen in den modernen Siedlungen wurde darum auch auf anderen Kanälen gefördert, vorzugsweise in großen Publikumsausstellungen.29 Ein internationales Echo löste 1927 die Werkbundausstellung Die Wohnung in Stuttgart mit der avantgardistischen Mustersied- lung Weißenhof aus. Hier leistete der Werkbund für das moderne Siedeln eine beispiellose Öffentlichkeitsarbeit.30 Aber die Ausstellungspublicity für die Weißenhofsiedlung ist nur die Spitze des Eisberges. Nach dem Krieg überschwemmte eine Flut von Siedlungsratgebern den Markt. Alle bedienten das Medium: der Heimatschützer Paul Schultze-Naumburg ebenso wie der Modernisierer Wilhelm Lotz, der Landhausreformer Hermann Muthesius wie der Industriedesigner Peter Behrens, der frühe Gartenstadtpionier Heinrich Tessenow wie der spätere Siedlungstechnokrat Leberecht Migge. Und allein die Titel sprechen Bände: Vom sparsamen Bauen: Ein Beitrag zur Siedlungsfrage; Jedermann Selbstversorger! Eine Lösung der Siedlungsfrage durch neuen Gartenbau; Hausbau und dergleichen; Das ABC des Bauens; Wie baue ich mein Haus?; Kleinhaus und Kleinsiedlung; Die wachsende Siedlung nach bio- logischen Gesetzen; Wohnlaube und Siedlerheim: Wie bau ich und was brauch ich?31 Da gab

21 Wasmuths Lexikon der Baukunst Bd. 4 (1932, 376 f.). 22 Vgl. Kähler (Hrsg.) (1996, 326–394). 23 Mohr, Müller (1984). 24 Vgl. Hüter (1988, 215–236). 25 Vgl. Hirdina (1984), Wagner (Hrsg.) (1988). 26 Vgl. Gut (1928), Deutscher Wohnungsbau (1928). 27 Gut (1928, 17). 28 Gut (1928, 17). 29 Vgl. Cramer, Gutschow (1984, 37–63). 30 Vgl. Pommer, Otto (1991, 131–144). 31 Vgl. Schultze-Naumburg (1927), Lotz (1932), Muthesius (1917), Muthesius (1918), Behrens, de Fries (1918), Tessenow (1920), Migge (1919).

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Hans-Georg von Arburg: Die Siedlung | 55 es Hilfreiches und Handfestes für jeden Geschmack. Siedeln wurde Gegenstand einer breit nachgefragten und rasch ausdifferenzierten Spezialliteratur.

II.1. Erstes Fallbeispiel: Adolf Loos und das Wiener Siedlungsamt. Zu den populären Sied- lungsautoren zwischen den Weltkriegen gehörte auch Adolf Loos. Das ist mindestens aus der Sicht der heroischen Selbsthistoriografie der Architekturmoderne überraschend.32 Denn Loos hatte bis zum Ersten Weltkrieg den Aristokraten unter den modernen Kultur- arbeitern vornehme Toleranz gegenüber den niederen Bedürfnissen der einfachen Leute gepredigt.33 Sein ästhetischer Elitarismus hatte den Architekturpublizisten berühmt ge- macht, von der provokativ betitelten Zeitschrift Das Andere. Ein Blatt zur Einfuehrung abendlaendischer Kultur in Oesterreich (1903) bis zu seinem skandalträchtigen Vortrag Or- nament und Verbrechen (1908). Als Innenausstatter wurde Loos durch das Design schicker Bars und durch Interieurs für einen exklusiven Kreis kaufkräftiger Kunden zum Vorreiter der Architekturmoderne. Und mit seinem ‚Looshaus‘ am Wiener Michaelerplatz schuf er dank einer beispiellosen Kampagne gegen den banalen Publikumsgeschmack eine Ikone des modernen Hauses.34 Ab 1921 ergriff Loos dann aber ebenso vehement Partei für das proletarische Fußvolk und gegen das avantgardistische Establishment. Wie kam es dazu? Und warum ließ sich nach Loos die Moderne nun auf einmal am besten im Rückzugsgebi- et des Siedlungshauses bewohnen? Mit dem Zusammenbruch der Donaumonarchie im November 1918 ging in der Haupt- stadt des Kaiserreichs die Welt unter. Im Chaos der darauffolgenden Jahre war die Re- aktion auf die katastrophale Wohnungsnot hier besonders vehement. Auf dem Boden der seit 1916 angelegten Kriegsgemüsegärten schoss die Wiener Siedlungsbewegung ins Kraut. Der Gartenstadt- und Siedlungsspezialist Hans Kampffmeyer erklärt diese „Sturm- und Drangperiode“ damit, dass „in Österreich […] in den Jahren 1918 bis 1922 die wirtschaft- liche Not sehr viel rascher als in Deutschland“ gewachsen sei:

Als dann nach der Beendigung des Krieges die ungeheure Wohnungsnot entstand, da lag es für manchen Wohnungslosen nahe, die Wände [seines] Sommerhäuschens etwas fester und dichter auszubauen und auch den Winter in der Kleingartensiedlung zu verbringen. Ohne Zutun der Gemeinde, ja ohne Erlaubnis des Grundeigentümers und der Baupolizei sind durch die Selbst- hilfe der Kleingärtner Hunderte von Dauerwohnungen geschaffen worden. Darunter sind viele massiv ausgeführte Häuser; zumeist sind es jedoch Bretterhütten, die aus allem erdenklichen billigen Material zusammengezimmert sind. Es entstand die Gefahr, daß die unermüdliche Arbeit und das bescheidene Vermögen des Kleingärtners in schlecht vorbereiteten Bauvorhaben verloren gehe und daß die ungewöhnlich schöne, landschaftliche Umgebung von Wien durch diese wilde Bautätigkeit verunziert werde.35

Um die Verslumung des Roten Wien zu verhindern, gründete der Wiener Magistrat des- halb unter dem Druck von Massendemonstrationen mit hunderttausenden von Siedlern

32 Vgl. Lampugnani (2016, 220–250). 33 Vgl. Loos (1931, 81–94). 34 Vgl. Long (2011, 96–155). 35 Kampffmeyer (1926, unpag. Vorwort, 6), vgl. die materialreiche Dokumentation von Novy, Förster (1991).

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1920 das städtische Siedlungsamt.36 Diesem stand Kampffmeyer vor, und dafür arbeitete auch der Kulturmissionar Loos: zunächst als freischaffender Berater und ab 1921–1924 als angestellter Chefarchitekt, assistiert durch die junge Architektin Margarete Lihotzky, die später durch ihre ‚Frankfurter Küche‘ berühmt wurde.37 Auf dem Wiener Siedlungsamt engagierte sich Loos „teils im Dienste der Gemeinde, teils gegen diese“, wie sich sein erster Chef Max Ermers erinnert:

[Er] war wirklich der Diener der allerärmsten Siedler, die er durch Eigenheime entproletarisie- ren und zu Gentlemen erziehen wollte. Die Fülle seiner großen Entwürfe, Einzelbauten und Verbauungpläne […] wird noch Jahrzehnte hindurch Anregungen geben. Aber niemals hat eine bauende Bevölkerung einen wahreren, hilfreicheren und verständnisvolleren Freund gehabt. Innerer Reichtum, Erleichterung des Daseins, Wohligkeit des Wohnens, Sparsamkeit vor allem in allen Dingen, waren die Leitlinien seines Baudenkens. Er wird den Titel eines Bausozialisten ablehnen, aber er war es.38

Ermers’ Bilanz bringt den Widerstand auf den Punkt, gegen den der Geistesaristokrat Loos für die Volksgenossen anarbeitete und anschrieb. Tatsächlich hatte Widerstand den Kulturpropheten bei seinem Kampf für die moderne Kultur und das moderne Haus immer schon beflügelt. Nur hatte Loos diesen Kampf früher im Namen der Moderne geführt. Nun aber wendete er sich in einer Art Guerillakrieg gegen das triumphierende funktionalistische neue Bauen selbst. Und für eben dieses guerillamäßige Operieren im Rückzugsgebiet der Moderne bot sich das Siedlungs(reihen)haus an. 1924 begann das Massenmietshaus auch in Wien das Siedlungshaus als Modell aus der kommunalen Wohnbaupolitik zu verdrängen. Wie das sozialistische Frankfurt setzte nun auch das rote Wien auf kommunistische ‚Superblocks‘. Für Loos war das ein Graus.39 Ebenso kategorisch lehnte er allerdings auch die baukünstlerische Verbürgerlichung des Siedlungshauses ab, die in der Mustersiedlung des Deutschen Werkbundes in Stuttgart-Weißenhof auftrumpfte. „Ich weiß nicht“, beginnt Loos einen allgemeinbildenden Vortrag über Die moderne Siedlung von 1926,

ob das, worüber ich sprechen werde, sich ganz mit dem deckt, was sie unter einer siedlung verste- hen. Ich bin in Stuttgart durch eine siedlung geführt worden, die dem, was ich heute als siedlung erörtern werde, in nichts ähnelt. Was ich dort zu sehen bekommen habe, waren außerordentlich schöne bürgerhäuser. Was ich aber zu sagen habe, gilt der wohnung des arbeiters, der an die fabrik gebunden ist.40

Apodiktisch und mit einem Hang zum Skurrilen erklärt der Chefarchitekt des Wiener Siedlungsamtes darum das moderne Siedlungshaus zur Sache hochleistungsfähiger Schre- bergärtner.41 Seine Retorte ist der Kleingarten nach dem System gartenwirtschaftlicher

36 Vgl. Zimmerl (1998, 71–123), Wiehsmann (2002, 100–110). 37 Vgl. Rukschcio, Schachel (1982, 243–293). 38 Zit. nach Rukschcio, Schachel (1982, 259, 261). 39 Vgl. Rukschcio, Schachel (1982, 285). 40 Loos (1926/1931, 209). 41 Vgl. Loos (1926/1931, 209–215).

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Binnen-Kolonisation von Leberecht Öko-Migge.42 „Das Siedlerhaus hat vom garten aus entworfen zu werden, denn, vergessen wir es nicht: der garten ist das primäre, das haus das sekundäre“.43 Kein Wunder, dass Loos umgekehrt für Migge „wohl der klarste Baukenner unserer Tage“ ist.44 Denn bei keinem anderen Prediger unter den modernen Architekten „führt der Glaube“ für Migge so kompromisslos „zum Garten“ und „nährt der Garten“ so buchstäblich „den Glauben“.45 When modern was green, so bringt der Migge-Spezialist David Haney dieses epochale Joint Venture nachträglich auf den Punkt.46 Avantgardistische Wohnkisten und zukunftsträchtige Komposthaufen finden dabei einträchtig zusammen.47 Für Loos bekräftigt das freilich nur eine alte Allianz. Der Siedler als moderner „gentle- man rekrutiert sich aus dem bauernstand“, dem Loos immer schon mehr getraut hat als der akademischen Konkurrenz.48 Und deshalb muss sein Siedlungshaus aus „modernen gesichtspunkten heraus“ „vor allem anderen einen abort mit dungverwertung“ haben.49 Nur beim Düngen des geruchsempfindlichen Blumenkohls rät der Feinschmecker Loos zu Zurückhaltung in der Anwendung von Migges Fäkalienwirtschaft.50 Eine solche Ökonomie von Kopf, Herz und Bauch sabotiert die Idee der modernen Wohn- maschine und verabsolutiert gleichzeitig andere modernistische Phantasmen.51 So wird im oberen Stock von Loos’ Siedlungshaus überhaupt nicht mehr gewohnt, sondern nur noch geschlafen, in kleinen Kojen mit mobilen Wänden wie in Hotelzimmern.52 Ob dieses Haus aber ein Badezimmer hat, ist nur ein Detail – das Baden kann schließlich auch „in der spüle bewerkstelligt werden“.53 Und ob ein Siedlungshaus ein flaches oder geneigtes Dach haben soll, diese moderne Gretchenfrage wird mit dem Hinweis vertagt, „der dachwinkel“ könne eben nur fallweise „nach dem material der bedachung ermittelt“ werden.54 Entscheidender ist für Loos die Frage: „Wo soll der bauer seinen apfelwein unterbringen?“55 – Gemessen an der Agenda des Neuen Bauens in den 1920er Jahren ist dieser grass roots modernism absolut idiosynkratisch.56 Von Loos’ provokativen Frühschriften her gelesen ist das Durcheinan- der von modernen und anti-modernen Klischees jedoch nur konsequent. Zur – von Loos polemisch postulierten – Einführung der abendländischen Kultur in Österreich sollte der urbane Aristokrat einst in ornamentlosen Handwerkskisten amerikanische egg-plants und englisches Roastbeef essen.57 Jetzt reicht die Mutter in der Wohnküche des Siedlungshauses

42 Vgl. Loos (1926/1931, 216, 234 f.). 43 Loos (1926/1931, 219). 44 Migge (1926, 55). 45 Migge (1926, 195). 46 Vgl. Haney (2010). 47 Vgl. Migge (1926, 46–86). 48 Loos (1926/1931, 210), vgl. auch Loos (1909/1931, 95 f.). 49 Loos (1926/1931, 219). 50 Loos (1926/1931, 220, 222). 51 Vgl. Roth (1995, 191–197), Eberhard (2011). 52 Vgl. Loos (1926/1931, 226–228). 53 Loos (1926/1931, 230). 54 Loos (1926/1931, 231). 55 Loos (1926/1931, 234). 56 Vgl. Hochhäusl (2014). 57 Vgl. Loos (1903), Loos (1908/1931, 85).

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 58 | Hans-Georg von Arburg: Die Siedlung amerikanisches oatmeal.58 Am Beispiel des Amerikaners mit seinen „modernen nerven“ soll der Österreicher auch jetzt Wohnen lernen! Denn das ist für Loos die Aufgabe des Siedlers, nicht mehr und nicht weniger: „Wer siedeln will, muß umlernen. Das städtische zinshaus- wohnen müssen wir vergessen. Wenn wir aufs land wollen, müssen wir beim bauern in die schule gehen und sehen, wie ers macht. Wir müssen wohnen lernen.“59

II.2. Zweites Fallbeispiel: Hannes Meyer und die Siedlungsgenossenschaft „Freidorf“. Wie der Altmeister Loos verfolgte auch der junge Schweizer Architekt Hannes Meyer eine ähnlich radikale Pädagogik bei seinem Engagement für die Siedlungsbewegung. Nur verstand der spätere Funktionalist und Dessauer Bauhausdirektor Meyer seine Mission, anders als Loos, dezidiert parteipolitisch. Seinen ‚Sitz im Leben‘ hatte Meyers modernes Siedlungshaus in einem genossenschaftlichen Kollektiv sozialistischer bis kommunisti- scher Observanz. Der gelernte Maurer und Steinmetz war seit seinen Lehrjahren in der Schweizer Genossenschafts- und Freilandbewegung sowie in der Deutschen Bodenre- formbewegung aktiv. Während seiner Wanderjahre durch verschiedene Architekturbüros in Berlin, München und Essen hatte er u. a. für Krupp Pläne zu einer Werksiedlung mit 1.400 Wohnungen entworfen.60 Nach seiner Rückkehr in die Schweiz wurde Meyer dann im Frühjahr 1919 von der Schweizerischen Gesellschaft für Ansiedelung auf dem Lande mit dem Bau der „Siedelungsgenossenschaft Freidorf“ in Muttenz bei Basel beauftragt.61 Die 150 Familien dieser „volksgenossenschaftlichen Lebensgemeinschaft“ sollten möglichst autark wohnen, konsumieren und sich erholen können.62 Dafür schlug Meyer einen archi- tektonischen Bienenstock im Stile der regionalen Moderne vor, der die Gartenstadtidee der Jahrhundertwende mit der Großsiedlungsplanung der 1920er Jahre vermitteln sollte.63 Dieses von Meyer bis ins Detail geplante „Freidorf“ begleitete der Architekt von den ersten Planskizzen bis weit über die Fertigstellung der Siedlung im Jahre 1923 hinaus mit publizistischen Statements in verschiedenen Formaten und mit variabler Rhetorik. Dabei objektiviert sich nicht nur die Sicht auf diese Wohnutopie, es radikalisiert sich auch ihre sprachliche Vermittlung. 1921 führt Meyer den Leser in einer Werbebroschüre noch zu Fuß in die „Wohnzellengruppen der Siedlung“ und lässt ihn dort in einer merkwürdigen und doch vertrauten Architekturlandschaft stehen:

Verdutzt und ratlos steht der Fremde mitunter beim erstmaligen Besuch im Freidorf: Er erwartet eine romantisch-idyllische Dorfanlage, und er findet ein Gebilde, halb Kloster und Anstalt, halb Gartenstadt und Juranest.64

58 Loos (1921/1931). 59 Loos (1921/1931, 193). 60 Vgl. Kieren (1990, 20–30). 61 Kieren (1990, 34). 62 Kieren (1990, 37). 63 Kieren (1990, 39). 64 Zit. nach Kieren (1990, 39).

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1925 pilotiert Meyer seinen Leser dann – in einem von der Schweizer Werkbund-Zeitschrift Das Werk publizierten Artikel – in ein utopisches Zielgebiet zwischen den harten Fronten eines tobenden Häuserkampfs:

Seit 1920 bietet im Osten von Basel die Siedelung Freidorf dem Flieger wie dem Volksfreund ein gleicherweise rosig schimmerndes Peilziel. Dem Erdkundigen ein neuer Ort auf der Sieg- friedkarte, dem Bourgeois rotes Nest, dem Sovjetstern nicht rot genug, dem Aestheten Kaserne, dem Gläubigen Stätte der Religionslosigkeit, dem Eigenbrödler Zwangserziehungsanstalt, dem Privathändler Todschlagsversuch an seiner Wirtschaftsform, und dem Genossenschafter die erste schweizerische Vollgenossenschaft und eine cooperative Rarität Europas: Das ist die Siedelungs- genossenschaft Freidorf.65

Mitten in der angeheizten Debatte um Neues Bauen und Neues Wohnen verortet sich der ‚rote Meyer‘ hier zwischen den Fronten. Und auch sprachlich hält dieser Siedlungstext eine Mittellage. Die Idee zur Siedlung wächst am Anfang noch neuromantisch auf der grünen Wiese: „Maifreudig woben Durlips und Ackersenf am Ankaufstage einen grünen Plan über das Siedelungsgebiet zwischen autostaubiger Landstrasse und wiesenstillem Feldweg“.66 Das Siedeln im Freidorf selbst wird dann aber neusachlich auf Kurs gebracht:

Hier ist alles Co-op. Co-op heisst Cooperation. Cooperation heisst Genossenschaft. Co-op die Menschen und alle Nahrung und Satzung und Kleidung und Zeitung. Co-op aller Bedarf und Herbstobst und Kraftfutter und Brennstoff und Volksschuh. Co-op alle Behausung und Schenke und Schule und Tanzsaal und Kaufladen. Co-op alle Einrichtung und Versicherung und Volks- chor und Scheidemünze und Bankscheck. Co-op die Bücherstube, die Bücher darin, deren Inhalt, dessen Geist… und so ist diese Siedelung ein Stein und Raum gewordenes Prinzip, allseitig und allerorts unendlich angewendet, mathematische Formel, etwa (CO-OP)3 ∽.67

Co-op! Unter diesem Label läuft Meyers Listenpoetik auf einen Kollektivsingular hinaus: das Siedlungshaus als Bienenstock. Denn die „620 Menschen“ im „bienenwabenähnlichen Zellenbau“ des Freidorf bewohnten eigentlich nur „ein gemeinsames Haus auf gemeinsa- mer Erde“.68 Dabei stimmt Meyers Co-op-Rap vom globalen Siedlungshaus bereits jenen kollektivistischen Ton an, in dem der moderne Siedlungspionier drei Jahre später mit der avanciertesten Agrotechnik die ganze Neue Welt besiedeln will:

die gartenfräse des ingenieurs k. von meyenburg und der traktor von fordson verlegen die schwer- punkte der siedelungsbestrebungen, und sie fördern durch krümelstruktur der ackererde die landwirtschaftliche intensiv-bodenkultur. die rechenmaschine befreit unser gehirn, der parlograf unsere schreibhand, handley-page unsern erdgebundenen geist, daimler den ortsgebundenen sinn! […] unsere wohnung wird mobiler denn je und ist abklatsch unsrer beweglichkeit: sleeping-car / massen-miethaus / wohn-jacht / und das „internationale hotel“ der alpen, der riviera, der oase biskra…, sie untergraben alle den herkömmlichen begriff der „heimat“. das vaterland verfällt! wir lernen esperanto! wir werden weltbürger!69

65 Meyer (1925, 40). 66 Meyer (1925, 41 f.). 67 Meyer (1925, 42). 68 Meyer (1925, 42, 49). 69 Meyer (1928, 15).

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Das skandiert Meyer 1928 in der Paradeuniform der Neuen Typografie in seinem reformu- lierten und noch einmal radikalisierten Manifest die neue welt.70 Es evoziert sein legendäres Co-op-Interieur, das dem Bürgertraum vom Wohnen ins Gesicht schlägt: ein Bett, ein Tisch mit einem Grammofon, zwei Klappstühle, ein Regal mit Gläsern, das ist alles.71 Als modulare Zelle eines Siedlungskollektivs entwirft Meyer sein Co-op-Zimmer aber auch programmatisch gegen die von der Architekturavantgarde für die moderne Kleinfamilie und den alleinstehenden urban single konzipierte Wohnung für das Existenzminimum.72 Diese radikale Wohnutopie eines eigentumslosen Zimmers mit einem eigenschaftslosen Bewohner fasziniert bis heute.73 Das Siedeln scheint damit am Nullpunkt der Moderne angelangt. Meyer selbst jedoch ist modernistischen Heilsversprechen gegenüber immer skeptisch geblieben. „[W]o bleibt die seele? wo bleibt das gemüt? wo bleibt die persönlichkeit???“, fragt er unter dem Strich seines Modernemanifests die neue welt. Die Frage ist rhetorisch gestellt, aber ironisch gemeint. Meyers Antwort lautet nämlich: „Der Traditionismus ist der Erbfeind, der Modernismus ist der falsche Freund.“74 Bis heute wird dem Funktionalisten Meyer ein blindes Vertrauen in diesen ‚falschen Freund‘ nachgesagt. Zu unrecht.75 Das Co-op-Zimmer ist zwar ganz großes Kino der Avantgarde. Aber es ist nicht das erste und nicht das letzte Wort, das Meyer zum neuen Wohnen in einer neuen Welt gesprochen hat. Vor allen Dingen aber ist dieses Zimmer Teil eines ästhetischen und gesellschaftspolitischen Projekts. Und das wird angesichts seiner ikonischen Radikalität nur allzu leicht vergessen. Meyer entwickelte dieses Projekt zuerst auf einer mobilen Theaterbühne, zusammen mit dem Genfer Schauspieler-Ehepaar Jean und Iris Bard. Im Herbst 1924 bringt er seine Idee vom genossenschaftlichen Siedeln unter dem Titel Das Theater Co-op als pantomimische Performance unters Volk.76 Die Spielorte von Meyers Co-op-Theater sind so international wie provinziell. Das Stück wird zunächst auf der Internationalen Ausstellung des Genos- senschaftswesens und der sozialen Wohlfahrtspflege im belgischen Gent gezeigt. Mit fast 100 Aufführungen werden dort in einem für den Verband Schweizerischer Konsumvereine eingerichteten Schauraum zwischen Tafelbildern und Glasvitrinen insgesamt 15 000 Zu- schauer erreicht.77 Danach folgen drei Aufführungen im Genossenschaftshaus Freidorf für eine Handvoll Bewohner und Sympathisanten aus der Umgebung.78 Angesprochen sind schlechterdings alle, Arbeiter wie Analphabeten, Waisen, Schüler und Internationale.79 Deshalb richtet sich Meyers gestisches Siedlungstheater auch „vornehmlich an das Gefühl,

70 Die erste Fassung des Artikels Die Neue Welt war 1926 ebenfalls im Werk erschienen und folgt noch der gemäßigten Groß- und Kleinschreibung. Vgl. Meyer (1926). 71 Meyers Co-op Interieur ist einzig in einer auf der Rückseite beschrifteten Fotografie überliefert. Sie wurde erst- mals 1926 in Meyers Werk-Artikel Die Neue Welt in einem reduzierten Ausschnitt (mit nur einem an der Wand hängenden Klappstuhl und ohne das Bücherregal) unter dem lakonischen Titel Die Wohnung publiziert. Vgl. Meyer (1926, 219). 72 Franklin, Aureli, Antonas (Hrsg.) (2015, 7–13). 73 Vgl. Hays (1992, 55–81), Franklin, Aureli, Antonas (Hrsg.) (2015). 74 Meyer (1928, 20). 75 Vgl. z. B. Heynen (1991, 86–88). 76 Vgl. Winkler (1989, 46–55). 77 Meyer (1924, 329). 78 Meyer (1924/1990), recto. 79 Meyer (1924, 329).

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Hans-Georg von Arburg: Die Siedlung | 61 nicht an das Gehirn, an das Herz, nicht an den Bildungsgrad“.80 Der Phonograph produ- ziert dazu ein „zeitgenössische[s] Tohuwabohu[] von Jazzband, Peer Gynt, Jodler, Choral, Militärmarsch, Gounod, Schweizerlied, Pariser Tingeltangelschlager und Dalcroze-Rei- gen“.81 Und durch das „Zusammenspiel menschengroßer Puppen mit dem schauspielen- den Menschen“ wird die anti-naturalistische Ästhetik gezielt mit romantischen Klischees versetzt. So werden typische Szenen aus dem schweizerischen Genossenschaftsleben mehr durcheinandergeschüttelt als aneinandergereiht. Der pantomimische Traum einer Arbei- terfamilie von der wahren Genossenschaft verwandelt sich in den projizierten Bilderbogen der Siedlung Freidorf und weiter ins Gebärdenspiel vom fairen Handel in der Freidorfer Produktions- und Konsumgenossenschaft:

Eine Schweizerlandschaft! Davor eine Verbottafel. Davor eine Sitzbank. – Eine Hausfrau. Sie strickt. Sie wird romantisch. Der Mond geht auf. – Ein Bauer. Er schneuzt. Er spuckt. Ein Licht geht ihm auf. – Zwei Menschen unter gegenseitiger Anziehung. Eine Drahtseilbahn. Zwei Kinder. Liebessehnsuchtstränenstimmung… Plumps! Der Spekulant. Plumps! Der Migroshändler. Plumps! Die Krämersfrau. Plumps! Der Musterreisende. Schreckhafte Ernüchterung des Bauern und der Hausfrau. – Er bietet ihr eine Rübe. Sie bietet ihm ein Fünffrankenstück. Nie erhielt er so viel. Nie zahlte sie weniger. Die Viere lebten auf Beider Kosten. Zwischenhandel! Die Viere tanzen. Die Beiden verjagen sie. Die Viere verduften im All. Die Beiden umhalsen sich. Der Engel Co-op: Bauer + Hausfrau = Ewige Treue! Am Phonograph: Le ranz des vaches. – Echojodel. – Entlibucher Kuhreigen. – Yes, we have no bananas. – Credo du paysan.82

1927 radikalisierte Meyer als designierter Direktor des Dessauer Bauhauses dieses „zeit- genössische[] durcheinander[]“ in der hauseigenen Zeitschrift bauhaus „zur synthese des absoluten propagandatheaters“.83 In der Übergangsphase vom Siedlungsaktivisten zum Bauhausdirektor klang das alles noch viel unsicherer. „Ist das „Reklame? Propaganda?? Nein, Volkserziehung, genossenschaftliche und künstlerische!“ Diese Erklärung drückte Meyer 1924 dem Besucher seines Co-op-Theaters mit dem Programmheft in die Hand. Ob unter den Giebeldächern einer landschaftlichen Moderne gesiedelt wird oder im Design eines international style, war hier noch nicht entschieden. Wichtiger war das menschliche und politische Bekenntnis zum „Signalrot“ als materieller und symbolischer Farbe. Dieses Bekenntnis zum kollektiven Besiedeln der modernen Welt färbte den Zuschauerraum von Meyers Theater Co-op genauso ein wie die Häuser seiner Freidorf-Siedlung. Denn „Signalrot signalisierte allüberall Wärme“.84 Meyer blieb dieser Farbe auch später treu, als Bauhaus- direktor in Dessau und kommunistischer Hochschullehrer in Moskau und Mexiko. Anders als viele seiner vom Faschismus vertriebenen oder verführten Kollegen begann Meyer keine Villen und Hauptsitze für das internationale Kapital zu bauen, sondern hielt an der Siedlung

80 Meyer (1924/1990), recto. 81 Meyer (1924, 331). 82 Meyer (1924/1990), verso (Szene 6). 83 Meyer (1927, 5). 84 Meyer (1924, 329). Auch dieses Bekenntnis reduziert Meyer später in der überarbeiteten Version seines Artikels in der bauhaus-Zeitschrift auf das „propagandatheater co-op“: „signalrot signalisierte überall wärme und hetzte zur propaganda“. Vgl. Meyer (1927, 5).

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 62 | Hans-Georg von Arburg: Die Siedlung als elementarer Bauaufgabe für ein lokales Kollektiv fest. Nicht zuletzt deshalb wurde der als ‚schwierig‘ geltende Meyer aus der Heroengeschichte der Moderne verdrängt.85 Aus der Sicht der Siedlung und aus ihrem ambivalenten Verhältnis zum modernen Haus ist das nur konsequent. In einer Moderne, die ihren Bauprogrammen immer wieder die politische Überzeugung aufopferte, ließ sich zweifellos besser in Rückzugsgebieten siedeln.86

II.3. Drittes Fallbeispiel: Bruno Taut und die Siedlungspolitik des Neuen Bauens. Wie Han- nes Meyer war auch Bruno Taut unterwegs auf einer sozialistisch-anarchistischen Mission für das Siedeln in der neuen Welt. Als Stadtbaurat von Magdeburg baute Taut die 1913 als Gartenstadtkolonie begonnene Siedlung „Reform“ zwischen 1921 und 1924 kontinuierlich aus. Das farbige Bauen, Tauts späteres Markenzeichen, kam hier erstmals programmatisch zum Einsatz. Standardisierte und normierte Häuserzeilen wurden dabei durch kontrast- reiche Farben in den Innen- und Außenräumen belebt.87 Dieses Prinzip verfolgte Taut von 1925 bis 1932 in Berlin im großen Stil weiter. Hier plante und baute Taut zusammen mit dem Berliner Stadtbaurat Martin Wagner und einigen gleichgesinnten Architekten und Stadtplanern über ein Dutzend Großsiedlungen für fast 100.000 Menschen.88 Allein das Frankfurter Siedlungsprogramm von Ernst May konnte da mithalten. Das spektakuläre Neue Bauen für die Massen sollte sich nach Taut freilich in ein humanes Bauen für die Gemeinschaft verwandeln. Eben diese magische Funktion hatte die belebende Farbe. Sie sollte die überdimensionierten Großsiedlungen erst lebensfähig machen.89 Denn Taut ging es nicht in erster Linie um Architektur. Er wollte mit ihr modernen Lebensraum gestalten.90 Dafür sollten Architektur und Lebenspraxis kooperieren und eine neue Wohn- kultur für den Menschen des Industriezeitalters herstellen. Die vehemente Medialisierung seiner Siedlungen spielte Taut auf dieser humanitären Mission in die Karten. So machte das Berliner Tageblatt Tauts Gartenvorstadt am Falkenberg in Berlin-Grünau mit dem Spitznamen „Kolonie Tuschkasten“ als eine solche farbige Lebenswelt populär. Gleichzeitig bewies die starke mediale Präsenz seines farbigen Bauens aber auch, dass die in der Fachwelt tobende Entscheidungsschlacht um Flach- und Giebeldächer bei der Durchsetzung des Neuen Bauens und Wohnens nur eine Kampfzone unter vielen darstellte.91 Und wenn der Volksmund und die Lokalpresse die Siedlung am U-Bahnhof Onkel Toms Hütte in Berlin- Zehlendorf despektierlich „Onkel Tauts Hütten“ nannten, dann klärte das nur darüber auf, für wen diese Häuser eigentlich gedacht waren – Friede den Hütten! Krieg den Palästen!92 Am heftigsten diskutiert und dadurch am populärsten wurde Tauts Hufeisensiedlung in Britz in Berlin-Neukölln. In diesem gigantischen Großhausring fanden 2.000 Wohnungen Platz. Auch hier dampften im vitalen Zentrum mit seinen Blumen- und Gemüsegärten die

85 In der Gründungsurkunde dieser Geschichte, Sigfried Giedions Klassiker Space, Time and Architecture (1941), fällt der Name des Bauhausdirektors Meyer kein einziges Mal. Vgl. Giedion (1941/1949, 660 Index). 86 Vgl. dazu im Überblick Miller Lane (1968), Durth (1986). 87 Vgl. Junghanns (1983, 52–66), Nerdinger u. a. (Hrsg.) (2001, 114–136). 88 Vgl. Speidel (Hrsg.) (1995, 209–240), Nerdinger u. a. (Hrsg.) (2001, 137–155). 89 Taut (1928, 29). 90 Vgl. Hüter (1988, 193–214). 91 Speidel (Hrsg.) (1995, 117 f.), vgl. Taut (1936/1974, 761 f.). 92 Taut (1936/1974, 762).

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Komposthaufen von Leberecht Migge.93 Überhaupt bildete die Symbiose von Haus und Garten das Herzstück von Tauts Siedlungsarbeit. Und noch im Exil versuchte der von den Nazis als ‚Kulturbolschewist‘ vertriebene Taut von seinem Gartenhaus in Ortaköy aus Atatürks neue Türkei zu kultivieren.94 Wie Meyer mit genossenschaftlichen Bienenhäusern, so wollte Taut mit farbigen Gar- tenhäusern die ganze Welt besiedeln. Den literarischen Grundstein dazu legte die Zusam- menarbeit mit Paul Scheerbart. Dem Kultautor fantastischer Architekturtexte verdankte Taut nicht allein die Idee, die ganze Welt mit farbigen Glashäusern zu überbauen. Er schuf auf der Kölner Werkbund-Ausstellung von 1914 mit seinem Reklame-Pavillon für die Deutsche Glasindustrie, den er mit Scheerbarts visionären Sprüchen zur Glasarchitektur verzierte, auch den Zellkern für ihre materielle Verwirklichung.95 Das große Manifest dieses Weltsiedlungsplans ist Tauts Buch mit dem (sich selbst auflösenden) Titel Die Auflösung der Städte, oder: Die Welt eine gute Wohnung, oder auch: Der Weg zur Alpinen Architektur (1920). Hatte Meyer sich seine Siedlung Freidorf als ein einziges Haus vorgestellt, so imaginiert Taut in diesem expressionistischen Bilderbuch die ganze Erde als eine große Menschen- siedlung. Diese Vision formuliert er gleichzeitig in der Zeitschrift Die Volkswohnung so aus:

Wir wollen uns entschlossen das neue Angesicht der Erde vor Augen stellen: große Güter wie heute, genossenschaftlich und so bewirtschaftet, daß mehr Menschen als heute sie beackern und von ihnen leben. Alle […] Ländereien mit Kleingütern und Gärten bedeckt, dazwischen Wälder, Wiesen und Seen. Dann eingestreut weit ausgedehnte Siedlungen mit kleinen Häusern, mit Hütten und Gärten. […] Erheben wir uns im Ballon über die Erde, so sehen wir unter uns, wie Sandkörner hingestreut, die Häuser […]. Alles ist aufgelockert, die Menschen verstehen nun erst tief die notwendige Loslösung des architektonischen Kunstwerks, und dieses erblüht hier und da wie eine seltene kostbare Blume. Die Sterne am Himmel und die Sterne auf der Erde grüßen sich.96

Das „ist natürlich nur eine Utopie“, wie Taut auf dem Umschlag seines Manifests einräumt, „und eine kleine Unterhaltung, wenn auch mit ‚Beweisen‘ versehen im Litte- ratur-Anhang“.97 Und dieser Literaturanhang hat es in sich. Zu Tauts ‚Beweisen‘ gehören neben anarchistischen Siedlungstexten von Peter Kropotkin und Gustav Landauer auch Zitate aus der Weltliteratur von Tolstoi, Nietzsche, Hölderlin, Novalis oder Whitman. Man hat Tauts expressionistische Utopie einer Besiedelung des Planeten und seine neu- sachliche Konstruktion moderner Großsiedlungen immer wieder künstlich auseinander- dividiert. Aber Theorie und Praxis, Literatur und Architektur sind für den Siedlungsautor Taut nur zwei Seiten einer Medaille. Das lässt sich vom Kölner Glashaus von 1914 und den frühen expressionistischen Buchpublikationen über die publizistische Kampagne mit dem befreundeten Kunsthistoriker Adolf Behne für ein soziales Neues Bauen in der Weimarer Republik bis zur Monografie über die Houses and People of Japan (1936)

93 Vgl. Nerdinger u. a. (Hrsg.) (2001, 363 f.), Baumann (2002, 115). 94 Vgl. Volkmann (Red.) (1980, 144 f., Abb. 197.1–6). 95 Vgl. Thiekötter (Hrsg.) (1993), Innerhofer (2019, 89–126). 96 Zit. nach Speidel (Hrsg.) (1995, 152 f.). 97 Vgl. Taut (1920, vorderer Umschlag und Textanhang 1–82).

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 64 | Hans-Georg von Arburg: Die Siedlung lückenlos verfolgen. Die Literatur- und Medienästhetik, die das alles zusammenhält, wäre eine eigene Untersuchung wert.98 Soviel steht fest: Das gemeinschaftliche Siedeln in den sich auflösenden Städten ist Tauts persönlicher Beitrag zum Projekt Moderne. Auch dafür ist die Hufeisensiedlung das Musterbeispiel.99 Für seine Vision vom Siedeln im modernen Haus sind allerdings zwei kleinere Projekte noch aussagekräftiger: Tauts Arbeiterhaus in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung und sein eigenes Wohnhaus in Dahlewitz im Süden von Berlin. Hier zeigt sich noch deutlicher, wie Taut dieses Siedeln im Rückzugsgebiet der Moder- ne entwirft. Beide Siedlungshäuser wurden 1926 gebaut und beide Projekte 1927 in zwei programmatischen Monografien des Neuen Bauens publiziert. Auf der Stuttgarter Werkbund-Ausstellung, die den modernistischen international style lancierte,100 stellte der eigenwillige Taut einen farbig verputzen Ziegelbau in einen Haufen weißer Wohnkisten hinein. Im Schatten von J. J. P. Ouds kubistischen Reihenhäusern aus weiß getünchtem Beton und Mies van der Rohes scharf geschnittenem Wohnblock in moderner Skelettbau- weise nimmt sich Bruno Tauts Arbeiterwohnhaus mit seinem vorkragenden Dach und seinen Sprossenfenstern reichlich altväterisch aus. In der offiziellen Begleitpublikation zur Ausstellung, Bau und Wohnung, bezeichnet es Taut „seiner Programmfassung nach“ als den „Proletarier“ unter den Musterhäusern.101 Seine Ausführungen zum Projekt sind lapidar: Eine Familie mit vier Kindern soll darin wohnen können, sind nur drei Kinder da, gibt es noch Platz für ein Kindermädchen und bei zwei Kindern noch Raum für einen Gast. Im Serienbau kostet das Haus inklusive Haustechnik nicht mehr als 12.000 Mark. Das Raumprogramm koordiniert die elementaren Lebensvorgänge Kochen, Es- sen, Wohnen und Schlafen. Und die Thermos-Bauweise reguliert die jahreszeitlichen Klimaschwankungen. Das alles hat in Tauts Projektbeschreibung in Bau und Wohnung locker auf einer Seite Platz. Wesentlich ausführlicher sind die Zitate aus Tauts Architekturbüchern, die auf der folgenden Doppelseite ausgebreitet werden. Sie besagen, dass Taut den avantgardistischen Ikonoklasmus der Weißenhofarchitekten nur soweit mitmachen mochte, als dieser Stoff für das Siedeln als neue ästhetische Lebensform lieferte. Das rhetorische Zentralorgan dieses neuen Siedelns ist für Taut – einmal mehr – der von Migge her wohlbekannte Kompost- haufen.102 „Scherben bringen Glück“, zitiert Taut aus seinem eigenen Wohnungsratgeber Die neue Wohnung: Die Frau als Schöpferin (1924):

Hier werden vor allem zwei Begriffe zerschlagen: die Kunstindustrie und das Kunstgewerbe. Es bleibt das Saubere, Klare, was die Worte Industrie und Gewerbe ausdrücken, und die Kunst wird zur Selbstverständlichkeit, weil die gesamte Disposition der Wohnung dann eben künstlerisch sein soll.

98 Für die Kunst- und Architekturgeschichte ist das von Franziska Bollerey und Kristiana Hartmann längst ge- leistet worden. Vgl. Volkmann (1980, 15–85). 99 Barykina (2018). 100 Pommer, Otto (1991, 158–166). 101 Deutscher Werkbund (Hrsg.) (1927, 133). 102 Vgl. Migge (1919, 17–21).

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Und er präzisiert mit einer Stelle aus seiner Architekturmonografie Bauen (1927) über den Massenwohnungsbau in der Weimarer Republik:

Diese [ältere] Architektur und diese Kunst muß tatsächlich erst einmal sterben; alles, was diesem lebenden Leichnam zu seinem endgültigen Tode verhilft, ist nützlich. Seine Verwesungsstoffe bilden den Dünger für die neue Saat, damit sie möglichst gut aufgehen und Frucht bringen kann.

Zur Vererbungsfantasie umformuliert, wird diese Kompostierungsfantasie schließlich mit einem Zitat aus Tauts Hausbuch Ein Wohnhaus (1927) zum allgemeinen Lebensgesetz erhoben:

Strammforsche Urgesundheit mit stahlgehärtetem Griff am Motorhebel – wenn sie sich mit Nach- denken und Beschaulichkeit paaren könnte, so würde das ein herrliches Kind geben, vorausgesetzt, daß es beide Eigenschaften der Eltern erbt.103

Die organizistische und biologistische (bis sexistische) Sprach- und Bildpolitik in Bruno Tauts Siedlungstexten ist höchst problematisch. Auch da wäre endlich literaturwissenschaft- liche Aufklärungsarbeit zu leisten. Hier aber geht es erst einmal nur um ihre Produktivität für die Siedlung und das Siedeln als einem schwierigen Sprössling der Moderne. Und dafür gibt es kein besseres Beispiel als Tauts Buch über sein eigenes Wohnhaus in Berlin-Dahle- witz. Das meisterhafte Design von Johannes Molzahn im Stil der Neuen Typografie macht Ein Wohnhaus zu einer Zimelie moderner Architekturpublizistik.104 Betrachtet man das Buch allerdings als Tauts vielleicht persönlichstes Statement zum Siedeln, dann entdeckt man auch hinter diesem modernen Hausbuch den Hühnerhof und die Komposthaufen von Migges Selbstversorgern. Taut platziert sein Einfamilienhaus als stereometrisches Volumen mitten in eine ländliche Idylle: ein zweistöckiges Kreissegment von 90 Grad auf längsrechteckiger Parzelle, umzin- gelt von Äckern, Gärten und Giebeldächern. Dieselbe Dramaturgie zwischen Geometrie und Garten regiert auch sein Hausbuch. Dort beschreibt Taut sein bewohnbares ‚Torten- viertel‘ aus weiß und farbig verputzten Backsteinen und transluziden Glasbausteinen ganz im Sinn der internationalen Architekturavantgarde als „handlichen Nutzgegenstand“ und „saubere[s] Maschinenstück“.105 Wie die Hausdampfer der heroischen Moderne „schiebt [es] sich in das Wiesengebiet und seine frische Luft wie ein Schiff mit seinem Bug vor“.106 Und eine herausklappbare Farbtafel, die mit einem Farbencode im Fließtext korrespondiert, belebt dieses moderne Haus und lässt es beim Lesen tatsächlich zu einer kleinen imaginären Wohnmaschine werden.107

103 Deutscher Werkbund (Hrsg.) (1927, 134). 104 Jäger (1997, 56 f.). 105 Taut (1927, 20). 106 Taut (1927, 19), vgl. Kähler (1981, 72–74, 102–112). 107 Taut (1927, unpag. Anhang [120–121]). Die ausgeklügelte Lesemechanik ist im Neudruck durch die Reduktion der Farbtabelle auf einer normalen, nicht herausklappbaren Seite leider nicht mehr nachvollziehbar – trotz der vom Herausgeber Roland Jaeger im Nachwort gezogenen Verbindung von „Bau und Buch“! Vgl. Taut (1927/1995, 119–147 Nachwort, [148–149] Farbtabelle).

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Und doch bringt das alles offenbar noch nicht genug Leben ins moderne Siedlungs- haus. Damit das „Haustier Mensch“ in seinem Bau wirklich wohnen kann, braucht es die „Übereinstimmung von Mensch und Umwelt“.108 Das moderne Haus darf gemäß Taut daher auch „nicht als die bloße Gruppierung und Einrichtung von Räumen gezeigt wer- den, sondern muss als ein Gesamtkörper mit allen seinen inneren Funktionen und äußeren Ausstrahlungen, also als Wohnhaus unter Einbeziehung seiner Umgebung, des Gartens und der Landschaft“ erscheinen.109 Keine „vorgefaßte architektonische Schönheit als Selbst- zweck“, aber auch keine „Baukultur“, die sich einfach nur aus den „inneren Funktionen wie von selbst“ ergibt.110 Tauts Wohnhaus-Prototyp ist ein environmental system in einem ganz modernen Sinn. An seinen Rändern wuchern Wiesen und Gärten.111 Erst das selbstversor- gende Siedeln bringt dieses moderne Haus über die Phrase des form follows function hinaus und macht es zum Öko-Körper. Und deshalb brütet auch in diesem bunt schillernden und fantastisch duftenden Blumen- und Gewächshaus zuinnerst Migges „Gartendungsilo“.112

III. Schluss: Wie die Siedlung das moderne Haus überlebt. Bruno Tauts Buch Ein Wohn- haus ist wohl das avancierteste Manifest für ein als Siedlung konzipiertes modernes Haus aus den 1920er Jahren. Sein Text buchstabiert das spannungsvolle Konzept aus, die Typo- und Fotografie machen es augenfällig, und die farbige Klapptafel entfaltet es quasi mechanisch. Das Buch ist vielleicht aber auch die grundsätzlichste Antwort eines moder- nen Architekten auf die Gretchenfrage der historischen Moderne: „Was ist zeitgemäßes Leben?“ Leberecht Migge hatte diese Frage 1926 in seinem ‚grünen Manifest‘ gestellt und gemeint, dieses Leben könne „nur in einem Heim werden und gedeihen, das aus dem Leben selber entstand“.113 Für Migge hätte der Baumeister dieses Lebens gut und gerne Adolf Loos, Hannes Meyer oder Bruno Taut heißen können. Loos war für Migge „wohl der klarste Baukenner unserer Tage“, und die „Siedlung Stadtbaurat Bruno Taut, Dahle- witz“ hielt er für einen der bemerkenswertesten Versuche für „klimatisches Bauen“.114 Mit dieser ‚Siedlung‘ hatte Migge das moderne Haus schlechthin im Sinn. Von nichts ande- rem als von Tauts Dahlewitzer Wohnhaus aber ist hier die Rede. Wie in Tauts Berliner Großsiedlungen konnte auch in seiner „gute[n] Gartenwohnung“ das zeitgemäße Leben keimen, dem Migge auf der Spur war.115 Sein A und O ist das Siedeln. Zwischen ‚Bau- handwerk‘ und ‚Maschinenkultur‘ gedeiht es an der Peripherie, in einem Rückzugsgebiet der Moderne. Folgt man Migge und der mit ihm verbündeten alternativen Moderne, dann ist die eigentümliche ‚Technik‘ des Siedelns allerdings radikal ‚produktiv‘. Am Ende überwindet nämlich das Leben in der „siedlungsgerechte[n] Wohnung“ das moder- ne Haus mit seiner ‚profanen‘ Haustechnik, wenn Migge ein übermodernes Leben aus der neuen Welt herbeifantasiert:

108 Taut (1927, 3 –5). 109 Taut (1927, 13). 110 Taut (1927, 13). 111 Taut (1927, 7–10). 112 Taut (1927, 105). 113 Migge (1926, 53). 114 Migge (1926, 54 f.).

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Produktive Technik beim Wohnungsbau bedeutet aber nicht nur Schnelligkeit und Sicherung, sondern auch Beweglichkeit und Erleichterung. Der Amerikaner wirft sein Auto nach drei Jahren auf den Kompost und sein Bungalow nach zehn Jahren – so lebt er […] im ‚Biwak des Lebens‘ und bleibt geistig frisch: ein Kämpfer.116

Das ‚grüne Evangelium‘ des Siedelns predigt eine super-ökologische Zersetzung.117 Der moderne Mensch, seine Maschinen und schließlich auch seine Häuser werden recycelbar. In dieser radikalen Öko-Vision, die einem Science-Fiction-Roman das Wasser reichen kann, überlebt und überflügelt die Siedlung das moderne Haus, dessen rückständige Variante es im Grunde ist. Das konservative Siedeln wird zum progressiven booster für das orthodoxe moderne Wohnen in einer entspannteren Übermoderne. Diese verblüffende Schubkraft hat sich an den Siedlungstexten aus dem Rückzugsgebiet der Moderne im Einzelnen allent- halben gezeigt. Sie zeigt sich allerdings nur dann, wenn man diese Spezialliteratur als Texte mit ihren eigenen Rhetoriken und Bildlogiken ernst nimmt. Aus dem Wust regressiver Bau- formen und Wohnideen blitzt dann auf einmal etwas Fantastisches auf. Dass durch diese fantastische Zersetzung der Welt auch die Zersiedelung des Landes droht, wie heute im Schweizer Mittelland und in Mitteleuropa überhaupt, das steht auf einem anderen Blatt.118

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115 Vgl. Migge (1926, 55–61). 116 Migge (1926, 57). 117 Vgl. Migge (1926, 195–197). 118 Vgl. exemplarisch Benedikt Loderers Streitschrift zur (post-)modernen ,Hüslipest‘ in der Schweiz, Loderer (2015).

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Abstract Die Debatte um das Neue Bauen in den 1920er Jahren konstruiert auch eine neue Ikone: das moderne Haus. Gleichzeitig propagieren Verfechter einer allgemeinen Boden- und Lebensreform eine alternative Variante: die Siedlung. Siedeln wird zum Thema einer weit verbreiteten und ausdifferenzierten Spezial- literatur über das neue Wohnen. Die Beispiele von A. Loos, H. Meyer und B. Taut zeigen, wie eigenwillig und wie radikal die Visionen vom neuen Leben in diesem Rückzugsgebiet des modernen Hauses sind. The debate on New Building in the 1920’s also constructs a new idol: the modern house. At the same time, advocates of the land and life reform movement propagate the settlement as its alternative variant. Thus, settling and settlements become the subject of a very popular and differentiated special literature on new living. The examples of A. Loos, H. Meyer, and B. Taut show how idiosyncratic and how radical the visions of a new life in this retreat area of the modern house are. Keywords: Alternative Moderne, Architektur, Neues Wohnen, Sachliteratur, Siedlungsbewegung

Anschrift des Verfassers: Prof. Dr. Hans-Georg von Arburg, Université de Lausanne, Section d’allemand, Anthropole 4066, CH–1015 Lausanne,

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang pen Zeitschrift für Germanistik | Neue Folge XXX (2020), Peter Lang, Bern | H. 1, S. 71–90

Matthias Noell „This then is a possible house / This then is a possible Novel.“ Das Architekturbuch zwischen Entwurf und Aneignung

I. Das Buch als Substitut. Man könnte darin einen Widerspruch entdecken: Einerseits ist das Wohnhaus eine der zentralen Aufgaben der Architektur. Kein anderer Gebäudetyp hat in Architekturpublizistik und freier Literatur so viel Aufmerksamkeit erhalten wie das gewöhnliche Haus. Und von kaum einer anderen Bauaufgabe ist eine so große Anzahl in den Kanon der Architekturgeschichte eingegangen. Das Wohnhaus ist die ‚Urform‘ der Architektur, und als solche steht es im Zentrum jedes Nachdenkens über den gebauten Raum. Andererseits korreliert die Ikonizität solcher Häuser im Regelfall nicht mit ihrer ‚wirklichen‘ Kenntnis, denn sie sind meist nur schlecht zugänglich und vom öffentlichen Raum aus nur unzureichend und ausschnitthaft wahrzunehmen. Die Disposition, der An- schluss und die Einbindung des Hauses in den Freiraum oder gar das Wohnen selbst, also der eigentliche Zweck und ideale Inhalt dieser Anlagen, können von einem durchschnitt- lichen Rezipienten nur selten nachvollzogen werden. Die im Verhältnis zum Interesse der Öffentlichkeit schlechte Sichtbarkeit – häufig liegen Wohnhäuser für Besuche nicht besonders günstig – kann durch Beschreibungen in Text und Bild ausgeglichen werden, durch architekturbezogene Fachzeitschriften oder Maga- zine, durch Berichte von Besuchern und natürlich durch Bücher. Bekannt sind daher also meist nicht die Häuser in ihrer architektonischen Konstitution, sondern in ihrer medialen Übersetzung und daher auch Verfremdung.1 Berühmt geworden ist z. B. der Schlagabtausch – in der Zeitschrift des Deutschen Werkbunds Die Form – zwischen Walter Riezler, Justus Bier, Roger Ginsburger, Ludwig Hilberseimer sowie Grete und Fritz Tugendhat über die Bewohnbarkeit des Hauses Tugendhat in Brünn, der das Dilemma, nicht über die realen Räume, sondern über die Bilder zu reden, prototypisch widerspiegelt. Die Veröffentlichung – ob in Zeitschriften oder aber in Büchern, um die es im Folgenden hauptsächlich gehen wird – ist zunächst eine Entprivatisierung, die den ‚Sinn‘ eines Wohn- hauses verkehrt: Das Innere des Hauses, der Rückzugsort und damit seine in den textlichen Zeugnissen stark betonte Primärfunktion werden gewissermaßen auf links gedreht und ins Scheinwerferlicht gestellt – um „des Wohners Sinn im Hause“ wie auf einer Bühne für alle sichtbar machen zu können.2 Die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert stark zunehmende Anzahl von publizierten Bauten hängt mit dem hohen Stellenwert des Wohnhauses in der modernen Gesellschaft zusammen. Diese Bau- und Publikationsfreude löst die frühere Konzentration auf repräsentative Bauten – in Architektur und Beschreibung – ab: „Wir

1 Der Beitrag schließt an eine Reihe von thematisch verwandten Beiträgen an: Noell (2013), (2012), (2011), (2010), (2009). 2 Humboldt (1912, 429).

© 2020 Matthias Noell - http://doi.org/10.3726/92165_71 - Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 Internationalen Lizenz Weitere Informationen: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0 72 | Matthias Noell: Das Architekturbuch zwischen Entwurf und Aneignung haben die Architektur in das Wohnhaus verlegt, das bis jetzt nur der Fürsorge anonymer Fachleute überlassen war. Früher lag dem Architekten daran, Architektur auszusprechen im Bau der Dome und Paläste.“3 Die mediale, insbesondere fotografische Berichterstattung kann als der hauptsächli- che Motor für den Stellenwert eines Hauses in der öffentlichen Wahrnehmung gelten, auch wenn dem keine zunehmende Besucherfrequenz entspricht. Es ist wohl nicht übertrieben zu behaupten, dass z. B. der enorme Bekanntheitsgrad von Bruno Tauts kreissegmentförmigem Wohnhaus in Dahlewitz in der Nähe von Berlin durch sein begleitendes Buch Ein Wohnhaus (1927) verursacht wurde, nicht etwa durch eklatante Mengen an zeitgenössischen oder heutigen Besuchern. Zuerst kommt das Buch, dann erst kommen – vielleicht – die Besucher. Bekanntheitsgrad und Besucherfrequenz korrelieren kaum, anders als dies in Kirchen, Museen oder anderen frei zugänglichen Baudenkmalen der Fall ist. Die Möglichkeit des Armchair-Travelling zu den Häusern, die das programmatische Haus-Buch bietet, hat durchaus Auswirkungen auf das reale Reiseverhalten der Leser, denn die bestens bebilderte und ausgestattete Publikation eines Hauses verursacht nicht unbedingt den Wunsch einer tatsächlichen Besichtigung.4 Im Idealfall macht das Buch glauben, der Besuch sei bereits erfolgt, das beschriebene Haus durchschritten und begriffen – und sein Bau- und Wohnkonzept sei übertragbar. Das jeweilige Haus wird dabei zu einem Möglichkeitsraum für andere. Um die Aneignung durch Dritte zu gewährleisten, darf das Individuelle jedoch nicht zu deutlich hervortreten. Diese Zielrichtung über das Spezifische und Singuläre hinaus auf das Allgemeine und An- wendbare ist der Grund für die meist schlichten und unpersönlichen Titel der Bücher von Bruno Taut, Carl Larsson, Mario Botta, Robert Mallet-Stevens, Fritz Breuhaus, Alexander Koch oder Erich Mendelsohn: Ein Wohnhaus, Ett Hem, Una casa (vgl. Abb. 1), Une demeure 1934, Das Haus in der Landschaft. Ein Landsitz unserer Zeit, Das Haus eines Kunstfreundes, Neues Haus – Neue Welt. Nur selten lesen wir wie bei Emanuel von Seidl oder Paul Schultze-Naumburg auf den Buchdeckeln und Innentiteln Mein Landhaus, doch sogar diese Bücher rechnen mit der Übertragbarkeit, nur eben des Individuellen und Besonderen, des spezifisch auf die Bauherren angepassten Bauwerks. Hier wird der Architekt zum ‚Maßschneider‘ oder Hersteller eines passgenauen Futterals – Me- taphern, auf die wir immer wieder stoßen. Das Haus-Buch zielt jedenfalls nicht auf den potenziellen Besucher, sondern auf diejenigen Leser, die das behandelte Bauwerk als Modell oder Typ zu sehen gewillt sind. Der mikroskopische Blick auf ein einzelnes Haus drückt, insbesondere, wenn er in Buchform auftritt, einen überindividuellen, universellen Anspruch aus. Aus dem Einzelfall wird über den medialen Umweg ein allgemeingültiger Fall.

3 Le Corbusier (1929). 4 Vgl. Stiegler (2010).

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Abb. 1: Mario Botta: Una casa. Ausstellungskatalog.

Die Besuchersituation ändert sich schlagartig, wenn Häuser nach Beendigung ihrer Wohn- funktion einer musealen Nutzung zugeführt werden: In den sog. Haus-Museen oder Per- sonen-Museen kommen der Bekanntheitsgrad von Bewohnern oder Architektur und die Besucherfrequenz zur Deckung. Das Buch spielt neben dem Ortsbesuch im Regelfall keine substanzielle Rolle mehr. Bücher über Haus-Museen sind als erläuternde Hausführer nur mediale Ergänzung oder zur erinnernden Mitnahme nach dem Besuch konzipiert, nicht aber ein eigenständiges, gar substituierend gestaltetes Produkt. Ihnen fehlt, museumstypisch ausgewogen wie sie sind, die programmatische Eindeutigkeit der Bücher von Gestaltern und Bewohnern. Zudem sucht der heutige Besucher eines Goethe-, Rodin-, Farnsworth- oder Aalto-Hauses in erster Linie die auratische Erfahrung des Raums und dessen spezifische gestalterische Qualität – und das naheliegender Weise ohne medialen Umweg, denn die Aura geht den Weg über diese Buchform normalerweise nicht mit. Hier kann allerdings der konzeptionelle künstlerische Zugriff durchaus beeinflussend wirken.

II. Besuch bei den Normen von morgen: Kommunikation der Funktion. Mit den sich aus- differenzierenden und professionalisierenden universitären Disziplinen entstanden im ausgehenden 19. Jahrhundert auch im Bereich von Architektur und Städtebau neue Pu- blikations- und Vermittlungskonzepte. Verstärkt durch die neuen Drucktechniken und die explosionsartig zunehmenden Aufträge gerade auch im Bereich des Wohnhausbaus bildete sich zwischen 1900 und 1930 die Hausmonografie als eine neue Buchgattung heraus. Zwischen zwei Buchdeckeln konnten neue, seltener auch konventionelle Bau- und

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 74 | Matthias Noell: Das Architekturbuch zwischen Entwurf und Aneignung

Wohnkonzepte im Zusammenspiel mit Typografie, Fotografie und Begleittexten einer potenziellen Bauherrenschaft nahegebracht werden – ob diese neue Buchgattung nun eher als Marketingstrategie zur besseren Positionierung auf dem unübersichtlicher und zuneh- mend internationaler werdenden Markt entstand, oder weil modernes Wohnen in neuer Architektur – wie moderne Kunst auch – angesichts fehlender Konventionen nicht ohne Erläuterungen und Manifeste auszukommen schien. Der Bericht über die passende bauli- che Hülle für das Individuum und seine engsten Vertrauten, seien es nun Einzelpersonen, Familien oder auch Künstler- und andere Gemeinschaften, wurde mehr und mehr zu einer aufeinander abgestimmten Text-Bild-Strategie weiterentwickelt. Nicht selten entstanden aus diesen Konstellationen grafische Meisterwerke ihrer Zeit. Meistens enthalten sie wesentliche Bestandteile ihrer Vorläufermedien, zu denen die eher kargen Publikationen von Wohnhäusern in Architekturzeitschriften mit knappen Plänen, Ansichten und Kommentaren (wie von Ludwig Persius in Potsdam) zählen, die utopischen Beschreibungen einer neuen Wohnform (z. B. paternalistischer Reformbestrebungen wie von Jean-Baptiste André Godin in Guise oder privater Rückzugsräume wie in William Morris’ Roman News from Nowhere) und schließlich die Hausführer (wie John Soanes Description of the house and museum on the north side of Lincoln’s Inn-Fields). Grundsätzlich kann man drei unterschiedliche Blickwinkel – des Entwerfens, des Bewohnens und der Außensicht – erkennen, aus denen ein Haus betrachtet und dargestellt wird. Ein überwiegender Teil der Haus-Bücher wird von den Entwerfern, also meistens den Architekten verfasst, nur gelegentlich äußern sich die Bauherren zu ihrem bewohnten Haus. Nicht selten allerdings fallen diese beiden Kategorien zusammen, der Architekt spricht über sein eigenes Haus. Bücher, die von Dritten verfasst werden, zählen zu den Ausnahmen. Die Außensicht von Freunden, Kennern oder Berufenen, die einen vertieften Einblick in das Haus zu geben imstande sind, wird jedoch häufig als Textebene in die Bücher einge- arbeitet. So schrieben der Reichskunstwart der Weimarer Republik, Edwin Redslob, sowie der Maler und Kunsttheoretiker Amédée Ozenfant Begleittexte für Erich Mendelsohns Neues Haus – Neue Welt (1931) und gaben auf diese Weise Einblick in das künstlerische Schaffen, in die zeitgenössische moderne Auffassung vom Wohnen und natürlich auch in die Professionalität und Stilsicherheit des Berliner Architekten. Dass Mendelsohn sein Buch dreisprachig anlegte, zeigt, dass mit dem Wirkungs- auch der Tätigkeitsradius erweitert werden sollte – das Buch wird zu einer Visitenkarte des Architekten, zum Ausweis für seine Befähigung über den privaten Rahmen hinaus. Denn der Architekt, so macht uns z. B. Paul Schultze-Naumburg glauben, könne die Fehler eines Hauses beim eigenen Wohnen besser analysieren: „Ich habe aber an nichts mehr gelernt, als an meinem eigenen Hause und lernte an dem Verfehlten jeden Tag noch, was vermieden werden muß.“5 Entscheidend anders, aber im Kern vergleichbar, drückte sich Oswald Mathias Ungers aus: „Eigentlich habe ich immer nur für mich selbst gebaut.“6 Man kann in den ersten Jahrzehnten dieser neuen architektonischen Buchgattung verschiedene entwicklungsgeschichtliche Linien nachzeichnen, die überwiegend mit der Aufgabe der Architekturvermittlung zusammenhängen. So werden die Häuser häufig so

5 Schultze-Naumburg (1927, 11). 6 Ungers (1999, 6).

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Matthias Noell: Das Architekturbuch zwischen Entwurf und Aneignung | 75 vorgestellt, wie man sich ihnen auch real annähern würde. Die Fotos sind als „Rundgang um und durch das Haus geordnet“7. Die fotografische Runde durch das Haus ähnelt meist einer Hausführung durch die Bewohner, immer ist die Präsentation nachvollziehbar auf- gebaut. Erst jüngere Exemplare gehen einen stärker atmosphärischen Weg – die didaktische Struktur aber ist auch hier ablesbar.8 Porzellansammlungen, Weinvorräte, Bademäntel oder andere private Dinge werden in vielen Büchern so ungeniert geöffnet und präsentiert, dass man geneigt sein könnte, sich beim Blättern im Buch umzusehen, ob der Herr oder die Dame des Hauses nicht doch hinter einem stehen. Für das Verständnis der Funktionsweise und der räumlichen Zusammenhänge ist das durchaus nachvollziehbar und macht z. B. die Grundrisse auch für Laien besser lesbar. Dass der Blick immer wieder an praktischen und schönen Gegenständen der Einrichtung oder Ausstattung hängenbleibt, verdeutlicht, dass es im Haus Platz für die Annehmlichkeiten sowohl von Kunst und Kunstgewerbe als auch von moderner Technik gibt. Die Bücher von Bruno Taut oder Walter Gropius zeigen uns die technischen Neuigkeiten als Symbole, wir sehen in ihren Büchern allerhand leicht zu bedienende mechanische und elektrische Errungenschaften, die der Fortschritt für den modernen Wohner zu bieten hatte. Um den Fortschritt auch augenfällig nachweisen zu können, wurde nicht nur das Personal bei den Haushaltsgeschäften wie Spülen, Plätten, Waschen und Kochen durch die betei- ligten Fotografen abgelichtet, auch Tauts Tochter Clarissa oder die Dame des Hauses, Ise Gropius, bedienten Ventilatoren und Lüftungsklappen: „heute wirkt noch vieles als luxus, was morgen zur norm wird!“9 Gropius war es jedoch gar nicht primär um das Technische an sich gegangen, viel zentraler war für ihn das „Gestalten von Lebensvorgängen“, eine Formulierung, die sich auch bei Alfons Leitl mit dem „Bauen als Organisieren des Alltags“ wiederfindet.10 Taut hingegen war sich der Gefahr einer zu ausschließlichen Fokussierung auf das Mechanische und Maschinelle bewusst und forderte eine gesamtheitliche Denkweise ein: „Brauchbarkeit und Bequemlichkeit, derart, daß das Ästhetische überholt wird durch das Praktische und das Praktische wiederum durch einen andern Wunsch zur äußeren Erscheinung der Dinge.“11 Dennoch stand für viele Zeitgenossen die Technik zu sehr im Vordergrund. Das Schlagwort von der ‚Wohnmaschine‘ wurde erfolgreich gegen seine Erfinder gewendet. Le Corbusier selbst versuchte, nachdem er seine ‚überrhetorischen‘ Pariser Jahre rund um die Zeitschrift des Esprit nouveau hinter sich gelassen und das Denken über Architektur auf den ‚Nullpunkt‘ zurückgeführt hatte, die ihm von jeher ebenso wichtige Ebene der Architektur als Kunstform stärker in die Debatte einzubringen. Schon in seinem Buch Vers une architec- ture (1923) hatte er explizit darauf hingewiesen: „L’A RCHITEC T UR E est un fait d’art“12. Die zentrale Aufgabe der Architektur sei mit der Befriedigung der primären Bedürfnisse nicht beendet, letztendlich gehe es um eine poetische, bewegende und geistige Architektur:

7 Leitl (1937, 58). 8 Vgl. z. B. Olgiati (2015). 9 Gropius (1930, 112). 10 Gropius (1930, 92), Leitl (1937, 90). 11 Taut (1927, 3). 12 Le Corbusier (1923, 9).

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 76 | Matthias Noell: Das Architekturbuch zwischen Entwurf und Aneignung

„Wo beginnt die Architektur? Sie beginnt dort, wo die Maschine aufhört.“13 Nicht ohne ironischen Unterton bemerkte dies auch Walter Riezler, der ohnehin der Meinung war, dass das sich „von der Umgebung bewußt absondernde persönliche Leben“ „gerade den Gegensatz zu der mechanisierten Umwelt als eine Wohltat“ empfinde.14 Und auch die beiden Kommentatoren von Neues Haus – Neue Welt zielten ein Jahr zuvor mit präziser Wortwahl auf diese Technikkritik. Redslob enttarnt die Maschine als Ornament: „Mechanik ist hier nicht – wie heute so oft – spielerisch betontes Ornament […]“15, Ozenfant hingegen als Reklame: „Es gibt in diesem Hause viele Motoren und Maschinen. Muss man aus ihnen ein Aushängeschild machen?“16 Ozenfant, Mitbegründer des Esprit nouveau, präferiert das stumme Funktionieren, um auf diese Weise eine überzeitliche Ästhetik in ihrem aktuellen Gewand zu ihrem Recht kommen zu lassen: „Die Architektur eines Wohnhauses hat ein- fach zu sein – aber um uns glücklich zu machen, muss sie schön sein.“17 Man muss in den unterschiedlichen Formen der Versöhnung von Kunst und Technik, Ästhetik und Funktion nicht unbedingt die vitruvianischen Grundprinzipien der firmitas, utilitas und venustas erkennen,18 wohl aber jene der modernen Gestaltung des Industrie- zeitalters, wie sie seit Mitte des 19. Jahrhunderts vom englischen South Kensington circle um Henry Cole eindringlich propagiert worden war. So ging es dem Gestalter Christopher Dresser in seinen Ausführungen über das moderne design um einen harmonischen Ausgleich von utility und beauty, gerade auch im Bereich der Gebrauchs- und Alltagsgegenstände und sogar der technischen Einrichtungen: „When we create a gas-branch we shall ask, does it fulfil all requirements, and perfectly answer the end for which it is intended? and then, is it beautiful?“19 Wenn nun Ozenfant und Redslob in ihren Texten über Mendelsohns Haus vor allzu augenscheinlichen Zeigegesten des Technischen warnten, hatte Ersterer wohl auch sein eigenes Pariser Atelierwohnhaus vor Augen, das Le Corbusier für ihn entworfen hatte, und natürlich auch dessen Artikel über Maschinen, Ingenieurleistungen, Gebrauchs- und Alltagsgegenstände sowie Architektur. Der durchschnittlich informierte deutsche Leser von Neues Haus – Neue Welt erinnerte sich sicherlich an erster Stelle an Gropius’ Produk- te, Aussagen und Bilder, auch wenn in der Zeitschrift Die Form im selben Jahr 1931 das bereits genannte Streitgespräch zwischen Riezler, Ginsburger, Bier, Hilberseimer und den Tugendhats geführt wurde, wobei auch immer wieder die Positionen Le Corbusiers heran- gezogen wurden. Ozenfant jedenfalls hatte vor allzu viel „Betonung“ gewarnt: „Ein Haus, das seine technischen Spiele betont zeigt, erscheint bald wie ein Museum mechanischer Fossilien. Denn die neuesten Mechanismen machen schnell die älteren lächerlich.“20 Und auch der Redaktion der Zeitschrift des Schweizerischen Werkbunds Das Werk stand die

13 Le Corbusier (1929, 181). 14 Riezler (1931, 322, 324). 15 Edwin Redslob: Weltbild im Bau. In: Mendelsohn (1931, o. S.). 16 Amédée Ozenfant: Für Erich Mendelsohn. In: Mendelsohn (1931, o. S.). 17 Amédée Ozenfant: Für Erich Mendelsohn. In: Mendelsohn (1931, o. S.). 18 Mit den Begriffen ‚Festigkeit‘, ,Nützlichkeit‘ und ,Schönheit‘ benannte Vitruv die Grundanforderungen an das architektonische Entwerfen. 19 Dresser (1873, 22). 20 Amédée Ozenfant: Für Erich Mendelsohn. In: Mendelsohn (1931, o. S.).

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Rhetorik z. B. des Bauhauses zu sehr im Vordergrund der Bemühungen. Man wünschte sich eine Hinwendung zum Leisen und Soliden und sah diese Richtung durch die neue Leitung der Dessauer Schule unter Hannes Meyer gewährleistet: „Das Sensationelle, Laute, Reklamenhafte tritt überall hinter solider Arbeit zurück, das war dringend nötig und wird dem Bauhaus selber in allererster Linie zustatten kommen.“21 Auf eine solche Form der Bildrhetorik und der Symbolwirkung der modernen Maschine verzichtete Paul Schultze-Naumburgs Buch Saaleck. Bilder von meinem Hause und Garten in der Thüringer Landschaft (1927/1928), das im Sinne seiner antagonistischen Bildstrategien sicherlich als ‚Gegenbuch‘ zur Betonung des Technischen entworfen worden war. Er setzte auf das Zeigen der 20.000 Bände seiner Bibliothek sowie den weitläufigen Garten und die Einbettung in die mitteldeutsche Landschaft – und äußerte sich dennoch zum Thema Funktionsabläufe und Haustechnik:

Und da ich so zahlreiche Häuser gebaut hatte, in denen das Problem des Haushaltsbetriebes mit größter Sorgfalt und Verwendung aller technischer Apparate gelöst war, hatte ich den sehr begreif- lichen Wunsch, auch meinen eigenen Haushalt nicht allzuweit hinter diesem Ideal zurückstehen zu lassen.22

Wie man weiß, trügt die durch den Autor gezeichnete Idylle des heimischen Landsitzes ebenso wie der nur scheinbare Verzicht auf Rhetorik: Nur kurz nach der Vorstellung seines Landhauses mit der Darstellung von „stummen und friedfertigen Brüdern, den Pflanzen und Bäumen“ in Buchform publizierte Schultze-Naumburg auch sein deutlich berühmteres, in jedem Fall folgenreicheres und berüchtigtes Pamphlet Kunst und Rasse (1928), das die diffamierenden Bildstrategien der Nationalsozialisten entscheidend vorwegnehmen und prägen sollte.23 Das Buch über das Eigene und Wertvolle, sein eigenes Haus in heimischer Landschaft, wird durch das Buch über das vermeintlich Fremde und Wertlose sekundiert – man kann diese beiden Bücher nur zusammen lesen und denken. Keine andere Publikation dieses Genres macht so überdeutlich, dass Haus-Bücher mehr sind als architektonische Eitelkeiten: Es sind immer auch Aussagen über Lebens- und Ge- sellschaftsformen und die damit zusammenhängenden Normen. Vor diesem Hintergrund sind auch die beiden Kommentatoren von Mendelsohns Haus zu verstehen: Ozenfant, der ein „Haus für einen Goethe von 1930“ vor sich sah und mit Mendelsohn zusammen eine neue Kunsthochschule plante – die Mittelmeerakademie, in der Künste und Musik miteinander vereint gewesen wären –, sowie Redslob, der auf die gelungene Synthese der Künste abzielte und schlussfolgerte: „Weltbild im Bau: so können wir den Eindruck zu- sammenfassen, der uns bewegt.“24 Tatsächlich geht es im Kern der Haus-Bücher um jene „psychosoziale Einstellung seiner Bewohner, mithin deren Individualität“, die im Interieur

21 [Red.] (1930, XXXI). 22 Schultze-Naumburg (1927, 33). Zur Bildrhetorik von Schultze-Naumburg vgl. u. a. Noell (2018). 23 Schultze-Naumburg (1927/28). 24 Edwin Redslob: Weltbild im Bau. In: Mendelsohn (1931, o. S.). Vgl. hierzu (neu erschienen, nicht konsultiert) Heinze-Greenberg (2019).

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 78 | Matthias Noell: Das Architekturbuch zwischen Entwurf und Aneignung und Haus sichtbar seien.25 Justus Bier betonte 1931 ebenfalls, jedes gute Wohnhaus solle „mehr von der Individualität seiner Bewohner als von der seines Erbauers“ verraten.26 Ein Topos?

III. Das Buch, das Werk und das Ich. Wie kaum eine andere Buchgattung aus dem Be- reich der Architektur hat sich das Reden über das Haus, und damit auch das Haus-Buch, entlang einer Reihe topischer Momente und Wendungen nicht zuletzt aus der Literatur entwickelt, diese aber auch in großer Zahl selbst hervorgebracht und weitergereicht. Zu diesen Topoi zählt die Interpretation des Hauses oder seines Interieurs als direktes Äquivalent seines Bewohners.27 Als weiteres Motiv kann der generelle Medienvergleich von Buch und Architektur gelten, der auch die Gleichsetzung von Architektur und Text in struktureller sowie semantischer Hinsicht einschließt. Im Fall von Künstlern oder Schriftstellern werden das Haus, das Atelier und die eigenen vier Wände nicht selten auf das Werk bezogen – eine Analogisierung, die manchmal sogar expliziert wird. Schon 1909 hatte Fritz Ostini die Gleichsetzung zwischen dem Maler Franz von Stuck und dessen Haus auf den eingängigen Nenner gebracht: „Dies Haus ist der Mann!“28, und in seinem Text über das Haus seines Freundes Alexander Koch schrieb Kuno Graf von Hardenberg 1926, das Arbeitszimmer sei „Matritze seines Wesens“29. Auch Edith Farnsworth setzte sich in eine äußerst enge Beziehung zu ihrem Wochenendhaus, mit dem sie nicht immer glücklich war: „One’s house is almost as personal as one’s skin“, schrieb sie, die Topoi von Kleidung und Futteral direkt auf den Körper beziehend, in ihren Erinnerungen.30 Die Einheit von Haus und Mensch, die Parallelisierung von menschlichem Charakter und Architektur, die Möglichkeit einer Interpretation des Raums als architektonisches Selbstporträt oder als autobiografisch konnotiertes, gar organhaftes Artefakt lassen sich vom frühen 18. Jahrhundert bis heute nachverfolgen. Es ist nicht zuletzt die Person Goethes, die man hierfür als idealen Beleg heranziehen kann, überschneidet sich doch in Weimar zunächst die literarische mit der architektonischen Produktion des Autors, während bei- de zusammen wiederum die Rezeption von Autor und Haus prägten. Goethe hatte die Übereinstimmung von Gebäude und Bewohnern beschrieben und griff seinerseits ent- werfend und gestaltend in den Umbau seines Hauses am Frauenplan ein. Die kaum mehr zu trennenden Untersuchungsobjekte Mensch, literarisches Werk und Haus wiederum führten den Weimarer Kunsthistoriker Alfred Jericke zu der Goethes Schriften vermutlich direkt entnommenen Denkform: „Beinahe wie in einem Buche, einem autobiographischen Werke, sollten wir darin [in seinem Haus] lesen.“31 Die Topoi des Autors fallen auf ihn

25 Wegmann (2016, 55). 26 Bier (1931, 392). 27 Vgl. hierzu ausführlich Noell 2013. Vgl. auch die verwandte Fragestellung in: Pisani, Oy Marra (2014). 28 Ostini (1909, 1, 21). 29 Hardenberg (1926, 1). 30 Zit. nach Churchill (2009, 1). 31 Jericke (1959, 19).

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Matthias Noell: Das Architekturbuch zwischen Entwurf und Aneignung | 79 selbst zurück, und damit auch auf die folgenden Generationen, deren Selbstverwirklichung im eigenen Interieur zur gesellschaftlichen Verpflichtung wurde. Dabei steckt durchaus etwas Zwanghaftes und Unheimliches in der Einrichtung des Hauses als Arbeit am Selbst. Eine entsprechende Kritik klingt womöglich aus Bruno Tauts Formulierungen, wenn er die Wohnung oder das Haus als „unmittelbarste[n] und grausamste[n] Spiegel jedes einzel- nen Menschen“ bezeichnete und „Übertreibungen“ sowie „mißverstandene Schlagworte“ zwar als Zeichen der notwendigen Veränderung des Bauens und Wohnens betrachtete, jedoch nicht als das Ziel: „Wohnen heißt nicht bloß Hausen“.32 Das „Haustier Mensch“, als das Taut auch sich selbst ansah, „formt seine Umwelt so, daß sie in Übereinstimmung zu seinem Leben steht.“33 Angesichts eines über 200 Jahre alten literarischen Topos haben wir jedenfalls kaum eine Wahl, als die Häuser immer auch als einen anderen Aggregatzustand des Ich, manchmal aber auch als ein personalisiertes Gegenüber anzusehen. Curzio Malaparte geriet sein Haus als ein „steinernes Porträt“, „traurig, streng und hart“.34 Sven Ivar Linds Haus wiederum wurde als „ein Selbstporträt […]; verfeinert, blass und klassisch klar“ aufgefasst,35 während Thomas Bernhard sein Haus als Spiegel seines Werks beschrieb:

Mein Haus ist eigentlich auch ein riesiger Kerker. Ich habe das sehr gern; möglichst kahle Wände. Es ist kahl und kalt: Das wirkt sich auf meine Arbeit sehr gut aus. Die Bücher, oder was ich schreib’ sind wie das, worin ich hause. Manchmal kommt mir vor, daß die einzelnen Kapitel in einem Buch so wie einzelne Räume in diesem Haus sind. Die Wände leben, die Seiten sind wie Wände, und das genügt. […] Tatsächlich gleichen Wand und Buchseite sich vollkommen.36

Bernhards Vorstellung vom Haus als Kerker ist im Werk des Künstlers Jean-Pierre Raynaud auf radikale Weise in die Wirklichkeit überführt (vgl. Abb. 2). Er mauerte sich buchstäblich in seinem Haus ein und verkleidete sämtliche Wände mit weißen Fliesen: „Et j’ai fermé la maison, je m’y suis enfermé“, erklärte er sich und sein Haus in La maison 1993. Sein Wohnhaus war mit ihm selbst darin ein dauernder Testfall, ein Laboratorium – auch dies ein weiterer Topos der Werkgenese des 20. Jahrhunderts –, in dem er seine künstlerische Praxis experimentell erprobte. Das Haus wurde darüber hinaus zum Zeugen, „témoin de ma sensibilité“.37

32 Taut (1927, 4). 33 Taut (1927, 3 f.). 34 Curzio Malaparte: Ritratto di pietra. In: Marida Talamona: Casa Malaparte. Mit einem Vorwort v. Giorgio Ciucci. Mailand 1991, 81–82. Deutsche Fassung zit. nach Talamona (1997, 46–55, hier 55). 35 Villor (1949), übers. v. M. N. 36 Thomas Bernhard, aus einem Interview von 1971, zit. nach Schmied (1995, 10). 37 Raynaud (1993, o. S.). Der Text stammt aus einem Filminterview von Michèle Porte. Vgl. auch Durand-Ruel, Tissier, Wauthier-Wurmser (1988).

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 80 | Matthias Noell: Das Architekturbuch zwischen Entwurf und Aneignung

Abb. 2: Jean-Pierre Raynaud: La maison 1993.

IV. Bewohnbarkeit, oder: Die Zähmung der Häuser.38 „This book documents the histo- ry of House VI and it’s owners attempt to tame it, and to maintain its integrity as an eminent work of architecture.“39 So beginnt ein Buch, das es sich zur Aufgabe macht, ein angeblich nahezu unbewohnbares, in jedem Fall nicht wohnliches Haus zu erklären und seine Existenzberechtigung nicht in der Erfüllung der primären Wohnbedürfnisse, sondern in einer anderen Sphäre, der Entwurfslogik zu verorten. Seine Autorin und Herausgeberin Suzanne Frank war gleichzeitig (zusammen mit ihrem Mann) die Bau- herrin und betrachtete, wie sie offen in ihrem Dankeswort zugab, wegen des zu pub- lizierenden Buchs das Haus erstmals wirklich: „I started really ‚looking‘ at the house’s architecture for the book.“40 Auch wenn der Begriff des ,Wohnens‘ ein nur ansatzweise definitorisch fassbarer ist, eher gefühlter Zustand oder Schlagwort als greifbare Handlung, so ist die Frage nach der Nutzer- und Rezipientenperspektive, den Auftraggebern, Bewohnern oder temporären Besuchern, doch eines der zentralen Themen in der Diskussion um das moderne Wohn- haus. Die Bewohnbarkeit stand im Kampf um das ‚richtige‘ Wohnhaus immer wieder im Mittelpunkt; Architekten wie Otto Wagner oder Auguste Perret setzten das Bewohnen des selbst entworfenen modernen Hauses – modern in konstruktiver, stilistischer Hinsicht oder mit Blick auf seine technische Ausstattung – und dessen Veröffentlichung ein, um zu belegen, dass das Wohnen darin tatsächlich ‚funktioniere‘. Viele der publizierten Haus-Büc- her der Zwischenkriegszeit folgen dieser simplen Idee des Bewohnbarkeitsnachweises. Die daraus hervorgehende ostentative Zertifizierung der Funktionalität durch den modernen Wohnmaschinisten nach dem Ersten Weltkrieg aber rief zusätzlichen Widerspruch hervor – und dies nicht nur im sog. konservativen Lager. Im Jargon der Zeit finden sich in diesen

38 Ausdruck „Bewohnbarkeit“ in der Erwiderung von Riezler auf Bier: Bier (1931, 393). 39 Roberto de Alba: Editor’s note. In: Frank (1994, 7). Zur Beschwerlichkeit des Wohnens vgl. den Sammelband von Ellison, Leach (2017). 40 Suzanne Frank: Acknowledgements. In: Frank (1994, 9).

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Matthias Noell: Das Architekturbuch zwischen Entwurf und Aneignung | 81

Zusammenhängen abwertende Begriffe wie „Vorwohnen“ oder „Ausstellungswohnen“.41 Zu viel Wert würde hier auf das Zeigen gelegt, zu wenig hingegen auf das wirkliche Gestalten des Lebens. Hauptaugenmerk müsse immer auf dem Bewohner liegen, so der Architekt und Architekturjournalist Alfons Leitl 1933:

Und letzten Endes steht im Hintergrund (und eigentlich im Vordergrund) der spätere Bewohner, der wohnen möchte und nicht vorwohnen – wie jener mutige Vorkämpfer der Wohnkultur, der sich plötzlich in einer Gesellschaft erhebt und sagt: er müsse nach Hause gehen, wohnen –.42

Jenseits der von Leitl ebenfalls nicht näher umrissenen Wohnkultur, die man eigentlich mit der in unseren Tagen eingeforderten und ebenso nebulösen Baukultur in Verbindung bringen müsste, wurde die Frage nach der Bewohnbarkeit, oder besser: Unbewohnbarkeit der modernen Bauten immer deutlicher gestellt. Berühmt geworden sind die Dispute um die „unlivability“ dreier kanonischer Wohnbauten der Moderne43 – das Haus Tugendhat und das Farnsworth House von Mies van der Rohe sowie die Villa Savoye von Le Corbusier. Walter Riezler, der weder das Haus Tugendhat gesehen noch die Auftraggeber und Be- wohner gesprochen hatte, setzte mit seinem Artikel in Die Form (1931) einen Disput in Gang: Wohnen sei mehr als das Funktionieren der Wohnabläufe, es bedeute „soviel wie Leben, und zwar Leben außerhalb der Arbeit“. Das Haus Tugendhat verkörpere einen „Raum ganz neuer Art“ und ermögliche damit auch ein neues Wohnen.44 Justus Bier hin- gegen (auch er reiste um seinen Schreibtisch und urteilte von dort aus) glaubte nicht an die Bewohnbarkeit des Hauses, weil „in diesem Wohnhaus, von dem man bei der Freiheit des Architekten von jeder Bindung an den Willen seines Auftraggebers den Prototyp eines Wohnhauses erwarten zu können glaubt, bestimmte Differenzierungen des Wohnorganis- mus aufgegeben sind, ohne die ein kultiviertes Wohnen auch für den heutigen Menschen schwerlich denkbar ist.“45 Architektur, egal wie und von wem sie unter welchen Umständen beauftragt worden war, hatte allgemeinen Konventionen des „heutigen“ Wohnens zu folgen. Biers rhetorische Frage – „Kann man im Haus Tugendhat wohnen?“ – zielte auf das unpersönlich-allgemeine ‚man‘ ab, also auf einen durchschnittlichen Bewohner. Ganz offensichtlich aber waren sich beide Kritiker über den Stellenwert des privaten Auftrags im Verhältnis zu einer allgemein zu formulierenden Anforderung an ein größeres Wohnhaus nicht ganz im Klaren, denn Riezler antwortete Bier in einem Kommentar:

Schließlich ist es ja ein Auftrag und kein Ausstellungshaus, das nur als Manifest des Architekten zu gelten hätte. Allerdings ist es auch als Auftrag so etwas wie ein Manifest, – auch der Bauherr wollte, indem er gerade diesem Architekten bei dem Auftrag freie Hand ließ, offenbar für die neue Wohnform manifestieren.46

41 Die Strategie des „Vorwohnens“, also die Beweisführung für das gute Wohnen, hatte vielleicht einen Vorläufer in dem von August Wilhelm Riehl vermuteten „Voressen“ des Gastwirts, vgl. Riehl (1861, 192). 42 Leitl (1933, 481). Der Begriff ,Ausstellungswohnen‘ findet sich bei Bier (1931, 393). 43 Gordon (1953, 250). 44 Riezler (1931, 321, 324). 45 Bier (1931, 392 f.). 46 Erwiderung von Walter Riezler. In: Bier (1931, 393).

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Roger Ginsburger, der streitbare marxistische Architekt und Architekturkritiker aus dem Elsass, verwies in dem Disput um das Tugendhat’sche Haus auf die zentrale Aufgabe der Architektur, bezahlbaren und ausreichenden Wohnraum für die bedürftige Masse zu schaffen:

Es gibt ein sehr einfaches Kriterium für die Wohnlichkeit, d. h. den funktionellen Wert eines Wohnraumes. Man stellt sich vor, daß man in dem Raume leben muß, daß man müde nach Hause kommt und sich ganz unzeremoniös in einen Sessel setzt, mit überschlagenen Beinen, daß man Freunde empfängt, Grammofon spielt, alle Möbel in eine Ecke rückt und tanzt, daß man einen großen Tisch aufstellt und Ping-Pong spielt.47

Onyxwand und aufwändige Haustechnik waren für Ginsburger geradezu amoralisch: „Ich gehe soweit zu sagen, daß sogar die Verwendung versenkbarer Glaswände heute ein unmo- ralischer Luxus ist.“48 Häuser oder Gegenstände seien nicht dazu da, einen Eindruck hervor- zurufen, sondern sie würden zur Benutzung durch Menschen entworfen und gefertigt.49 In der Zeitschrift wurde anhand von Fotografien und Plänen die Bewohnbarkeit eines Hauses diskutiert. Ludwig Hilberseimer, der als Freund und Kollege Mies van der Rohes dem Haus nicht ganz unvoreingenommen „Wohnlichkeit, Behaglichkeit, ja man könnte sagen Gemütlichkeit“ attestierte, war der einzige, der das Haus wirklich betreten hatte. Immerhin waren er und Riezler sich des Problems bewusst: „Die Frage, ob man in dem ‚Haus Tugendhat‘ wohnen könne, müßte eigentlich von den Bewohnern beantwortet wer- den“ – und: „Ein wirkliches Urteil über die Bewohnbarkeit eines Hauses haben letzthin nur die Bewohner selbst“.50 Die Form konnte die beiden Bauherren, das Ehepaar Tugendhat, schließlich für zwei Kommentare gewinnen, in denen die beiden ihrer äußerst reflektierten Sicht auf Architektur und Wohnvorgänge Ausdruck verliehen – und die Auseinandersetzung sowie deren Relevanz damit stark relativierten. So schrieb Grete Tugendhat: „Wir wohnen sehr gern in diesem Haus, so gern, daß wir uns nur schwer zu einer Reise entschließen können und uns befreit fühlen, wenn wir aus engen Zimmern wieder in unsere weiten, beruhigenden Räume kommen.“ Ihr Mann schloss mit den Worten: „Das ist Schönheit – das ist Wahrheit. Wahrheit – man kann verschiedene Anschauungen haben, aber jeder, der diese Räume sieht, wird früher oder später zu der Erkenntnis kommen, daß hier wahre Kunst ist. Dies danken wir Herrn Mies van der Rohe.“51 Aber es gab durchaus auch Klienten, die mit ihren Architekturikonen unzufrieden waren – die berühmtesten unter ihnen sind sicherlich Eugénie Savoye und Edith Farnsworth, die ihre Häuser unbewohnbar nannten. Während aber Eugénie Savoye sich ‚nur‘ über die schlechte Bauausführung Le Corbusiers beklagte,52 machte sich Edith Farnsworth in ihrer Kritik dadurch unglaubwürdig, dass sie zuvor dem Architekten freie Hand gelassen hatte:

47 Ginsburger, Riezler (1931, 433). 48 Ginsburger, Riezler (1931, 433). 49 Ginsburger, Riezler (1931, 434). 50 Hilberseimer (1931, 438). 51 Tugendhat (1931, 438). 52 Vgl. die Briefe von Eugénie Savoye an Le Corbusier, z. B. v. 7.9.1936 oder vom Herbst 1937. In: Sbriglio (2008, 111 f.).

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Matthias Noell: Das Architekturbuch zwischen Entwurf und Aneignung | 83

„Mies, design this as if you were designing it for yourself“, soll sie ihm als Richtlinie mit auf den Weg gegeben haben.53 In der Zeitschrift House Beautiful gab die praktizierende Ärztin später mit einem etwas schrägen Bild zum Besten, ihr aus Glas gebautes Haus (vgl. Abb. 3) sei zu durchsichtig: „[T]he house is transparent, like an X-ray“.54

Abb. 3: Ludwig Mies van der Rohe: Farnsworth House.

Einige Jahrzehnte später konnte auch Peter Eisenmans Wochenendhaus in Cornwall (Connecticut) für Suzanne und Dick Frank mit einer langen Reihe von Unzulänglich- keiten und Absonderlichkeiten aufwarten, bis hin zu der Tatsache, dass die Besitzer 1988, gerade einmal 13 Jahre nach seiner Fertigstellung, das Gebäude von Grund auf sanieren, ja nahezu neu errichten mussten. Suzanne Franks Bericht Peter Eisenman’s House VI. The Client’s Response (1994) ist eine der präzisesten Aussagen, die wir von der Bewohnbarkeit eines solchen „kanonischen Werks“, wie Kenneth Frampton das Haus nannte, kennen.55 Bezeichnenderweise betitelte die Kunst- und Architekturhistorikerin Frank das Buch und damit Haus nicht nach seinen Auftraggebern, was üblich gewesen wäre – die Farnsworths, Savoyes, Tugendhats oder Kaufmanns hätten dafür eine Blaupause abgegeben –, sondern nach seinem Werknamen, den ihm der Entwerfer gegeben hatte: Peter Eisenman’s House VI. Eine Serie von Häusern, durchnummeriert wie eine Kompositionsreihe der modernen Malerei, z. B. von Theo van Doesburg oder Ad Reinhardt. Der Werkzusammenhang und das geistige Eigentum verblieben somit beim Architekten; erst im zweiten Abschnitt des Buchs bekennt sich die Besitzerin zu ihrem materiellen Besitz, „House VI. The Frank Residence“, und erklärt hier dessen auf schlechte bauhandwerkliche Arbeit zurückgehende Defizite sowie seine funktionalen und ästhetischen Besonderheiten. Ihr Beitrag „The client’s response“ (vgl. Abb. 4), der bereits im Untertitel des Buchs auf die offensichtlich strittige Frage der Nutzung hinweist, startet mit einer Erinnerung

53 Lambert (2001, Anm. 20, 509). 54 Edith Farnsworth, zit. nach Barry (1953, 270). Vgl. auch Gordon (1953, 126–130, 250 f.), Friedman (2006, vor allem 141) sowie Blake (1964, 85–89). 55 Kenneth Frampton: Preface. In: Frank (1994, 13).

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 84 | Matthias Noell: Das Architekturbuch zwischen Entwurf und Aneignung an ihre „initial experience“ im neuen Haus, einer präzisen Kurzbeschreibung der Kom- positionsprinzipien und mit dem Hinweis auf die Dominanz der künstlerischen Form: „It seemed more like an enclosed sculpture. In contrast to the solidity of the exterior, the inside felt open. Light filtered in and for a moment life seemed a careless spiritual existence.“56 Die folgenden Erfahrungen waren eher prosaischer Natur und ähneln denen der Savoyes: „The house leaked almost from the start […].“ Aber das Haus blieb, bei allen Unzulänglichkeiten, „a continuous source of aesthetic delight, if not always a place that protected us from rain and snow.“57 Konnte man nun in House VI ‚wohnen‘? Oder besser: Sollte man überhaupt in House VI wohnen können? Oder war das Haus ‚nur‘ ein kompromissloses, auf formalen und systematischen Prinzipien beruhendes Design, auf dessen Primat der Entwerfer bereits 1963 in seiner Dissertation Formal Basis of Modern Architecture hingewiesen hatte?58 Suzanne Frank bezeichnete es als „a superbe cultural object“ – und nicht etwa als ‚Wohn- haus‘.59 Robert Stern äußerte sich noch deutlicher: „At house VI, mathematics triumphs over daily living.“60 Interessanterweise hatte Peter Eisenman vor dem Entwurf die Gewohnheiten der Franks analysiert und sie sogar in ihrem Apartment besucht. Dabei ging es ihm, so die Erinnerungen von Suzanne Frank, um ihre spezifischen Zirkulationsmuster, die dia- grammatisch zu fassenden Abbilder ihres persönlichen Wohnens. Er wendete damit ein klassisches Werkzeug des funktionalen, tayloristischen Entwerfens an. Immerhin sei es von Anbeginn an, so Eisenman selbst im Rückblick, um „the idea of inhabiting, or habitation“ gegangen.61 Die Umsetzung in die Struktur eines Wohnhauses erfolgte hingegen nicht. Stattdessen plante Eisenman eine doppelgeschossige Wohnhalle, dafür fehlte z. B. zunächst ein Schlafzimmer. Als dieses dann doch eingerichtet werden sollte, hatte Eisenman einen das Haus und Zimmer durchschneidenden Spalt entworfen, direkt durch die Position des Betts, das somit in zwei Einzelbetten getrennt wurde. Dick Frank fasste es später gegenüber dem Architekturkritiker Paul Goldberger bündig zusammen: „This house will not win any Most Functional House of the Year Award.“62 Die Franks wohnten dennoch – lässt man einmal die technischen Mängel außer Acht, die nach der Renovierung immerhin beseitigt werden konnten – auf unspektakuläre und selbstverständliche, man könnte sagen: unrhetorische Weise mit Tochter und Haustieren darin, wie in jedem anderen Haus. Sie schätzten die außergewöhnlichen Situationen, die das Haus wegen seiner Lichtführung, Raumbildung und Logik des Entwurfs zusätzlich hervorruft, und damit den dezidiert freien künstler- ischen Anteil des „small monument“. Suzanne Franks Sicht auf das Haus veränderte sich aber auch über die Jahre, sie beschreibt dies sehr deutlich in ihren Reflexionen: „I think of the house more as a home“.63

56 Suzanne Frank: The Client’s Response. In: Frank (1994, 49). Einige Beiträge des Buchs waren bereits in einer Ausgabe von Progressive Architecture, 58. Jg. (1977), H. 6, erschienen und wurden im Buch wieder abgedruckt. 57 Suzanne Frank: The Client’s Response. In: Frank (1994, 50). 58 Vgl. hierzu die deutsche Übersetzung Oechslin (2005, bes. 11–61). 59 Suzanne Frank: The Client’s Response. In: Frank (1994, 52). 60 Robert Stern: Dream Houses. In: Frank (1994, 43 f., hier 43). 61 Peter Eisenman: Afterword. In: Frank (1994, 110). 62 Paul Goldberger: The House as Sculptural Object. In: Frank (1994, 37–41, hier 37). 63 Beide Zitate Frank (1994, 70).

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Abb. 4: Suzanne Frank: Peter Eisenman’s House VI. The Client’s Response.

Über den offensichtlich recht robusten Prozess des Wohnens hinaus werden in der Frage um die Bewohnbarkeit, das kann man den Berichten und Diskussionen über Häuser und ihre Aufgaben deutlich ablesen, ästhetische und soziale Konventionen sowie Dogmen ver- handelt. Das zeigt sich auch in den von Suzanne Frank notierten Reaktionen mancher Nachbarn: Zu „nonkonformistisch“ sei das Haus, „not homelike“. Andere wiederum urteilen dezidiert: „This is what architecture should be like.“64 Die realen Unzulänglich- keiten oder Annehmlichkeiten eines Hauses sind für die Idee des Wohnens zunächst nicht besonders zentral – weder in die eine noch in die andere Richtung. Man könnte diese Erkenntnis auf andere Bereiche übertragen, in denen das ‚Funktionieren‘ von Stadtkon- zepten und städtebaulichen Umsetzungen der Moderne angezweifelt oder betont wird. Die Rede von der Unbewohnbarkeit ist, bei näherer Betrachtung, kein Analysekriterium, sondern ebenfalls ein Topos. Vielleicht spielten Ruth und Sam Ford auf diesen Topos und damit auf die Relativität der ‚Unbewohnbarkeit‘an, sicherlich aber auf jene der Ästhetik, als sie das berühmt gewordene Schild vor ihrem zugegebenermaßen eigenartigen, von Bruce Goff entworfenen, Haus – dem Ford House (1948/49) (vgl. Abb. 5) – aufstellten,

64 Frank (1994, 72).

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 86 | Matthias Noell: Das Architekturbuch zwischen Entwurf und Aneignung auf dem zu lesen war: „We Don’t Like Your House Either.“65 Auch diese Äußerung kann als eine Form der Publikation und selbst in ihrer extremen Kürze als Architekturtheorie des Wohnhauses gelesen werden.

Abb. 5: Bruce Goff: Ford House, 1948–1949.

V. Von der Freiheit des Entwerfens zum möglichen Haus. An wen aber richtete sich Suzan- ne Franks Erwiderung nun, ihr „client’s response“? Es scheint zunächst auf der Hand zu liegen, dass die Entgegnung dem Entwerfer gilt, Peter Eisenman. Das Buch könnte aber auch auf die allgemeine Meinung, sei es die der Nachbarn oder Besucher, sei es die der Fachwelt, zielen oder schließlich sogar an das Haus selbst adressiert sein. Das Buch gibt hier keine eindeutige Antwort, noch wird überhaupt eine vorangegangene Frage angespro- chen. Man kann diesbezüglich eine bereits zuvor entstandene Publikation hinzuziehen: Peter Eisenman hatte 1982 selbst ein Buch über eines seiner „Werk-Häuser“, House X, pu- bliziert.66 Das zehnte und letzte Haus der Werkreihe war nie gebaut worden, aber vor sei- ner Publikation im Buch Gegenstand mehrerer Vorträge und auch Artikel von Eisenman gewesen. Die von Massimo Vignelli auffallend sorgfältig gestaltete Publikation mit ihrem quadratischen Format, dem schwarzen Umschlag und ihrem Umgang mit farbiger Schrift zielt auf die Sichtbarmachung der Entwurfsmethodik als Prozess. Unter den Gesprächen und Textebenen findet sich eine „Unterhaltung“ des Architekten mit einer „Stimme“, in der Eisenman äußert, sein auf Autarkie zielendes architektonisches Entwerfen sei in ein „blasphemisches Objekt“ gemündet, möglicherweise sogar zwangsläufig.67 Die Frage nach dem Objekthaften war auch für House VI wesentlich gewesen, auch dieses Haus hatte

65 Der Text des Schilds scheint erstmals in der Zeitschrift Architectural Forum publiziert worden zu sein: Umbrella House. In: Architectural Forum, 94. Jg. (April 1951, 118–121, hier 119). Vgl. auch Life Magazine (19.3.1951, 70–75). 66 Eisenman (1982). 67 Eisenman (1982, 42).

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Matthias Noell: Das Architekturbuch zwischen Entwurf und Aneignung | 87 begonnen, sich von zahlreichen seiner Funktionen zu lösen und ein seltsames Eigenle- ben entwickelt, eine eigene Logik des Daseins. Der Entwurfsprozess, so Eisenman über House VI, würde selbst zum Objekt:

[T]he house is not an object in the traditional sense – that is the end result of a process – but more accurately a record of a process. The house […] is a series of film stills compressed in time and space. Thus, the process itself becomes an object; but not an object as an aesthetic experience or as a series of iconic meanings. Rather, it becomes an exploration into the range of potential manipulations latent in the nature of architecture, unavailable to our consciousness because they are obscured by cultural preconceptions.68

Suzanne Franks Buch rekontextualisiert in vollem Bewusstsein und vor dem Hintergrund der restlosen Abstraktion, die Eisenman in House X als Lesart seiner Häuser vorschlägt, ihr privates Heim in Form einer Erzählung der Wohnenden. Beide treffen sich aber in der Er- kenntnis, dass die resultierenden Entwürfe und Häuser als Möglichkeitsformen anzusehen sind. Der Schriftsteller David Shapiro trug zu beiden Büchern Texte bei, House X startet mit dem kurzen Text „To an Idea“ (vgl. Abb. 6), House VI endet mit einem Textausschnitt aus einem längeren Text Shapiros mit dem Titel „House“.

Abb. 6: Peter Eisenman: House X.

Neben dem Verweischarakter des einen Buchs auf das andere, den die Beteiligung Sha- piros mit seinen beiden Texten oder Textstellen nahelegt, wird hierdurch die Lesbarkeit der Hausobjekte geöffnet. Dem Vergleich der beiden Texte, die einerseits ‚idea‘, anderer- seits ‚novel‘ thematisieren, also abstrakte Konzeption und erzählerische Form (letzteres ausgerechnet in einem Gedicht), können wir die unterschiedlichen Interpretations- und

68 Peter Eisenman. In: Ders., William Gass, Robert Gutman: House VI. In: Frank (1994, 21–36, 23).

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 88 | Matthias Noell: Das Architekturbuch zwischen Entwurf und Aneignung

Erzählebenen von Häusern entnehmen. „I wanted to start Ex Nihilo […]“, – heißt es in „To an Idea“. In „House“ hingegen lesen wir: „This then is a possible house / This then is a possible Novel“.69

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Mario Botta: Una casa. Ausstellungskatalog Museo Vela, Ligornetto, Mailand 1989. Abb. 2: Jean-Pierre Raynaud: La maison 1993, Paris 1993. Abb. 3: Ludwig Mies van der Rohe: Farnsworth House, Plano/ Illinois 1950–1951. Abb. 4: Suzanne Frank: Peter Eisenman’s House VI. The Client’s Response, New York 1994. Abb. 5: Bruce Goff: Ford House, 1948–1949, Aurora/ Illinois (Foto: Anonym, Life Maga-zine ?). Abb. 6: Peter Eisenman: House X, New York 1982. Alle Abbildungen bis auf Nr. 5 Archiv des Autors.

Literaturverzeichnis

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Abstract Ein Haus ist zunächst einmal ein architektonischer Gegenstand zum Wohnen. Manchmal aber sind Wohnhäuser zugleich auch Manifeste des Bauens und Wohnens, die in Monographien publiziert werden, um aus einer persönlichen eine allgemeingültige architekturtheoretische Haltung zu formulieren. Denn aufgrund der Privatheit eines Wohnhauses sind diese nur in den seltensten Fällen anders als in einer medialen Übertragung sichtbar. Der Beitrag nimmt die Intentionen und Strategien dieser Buchgattung in den Fokus und untersucht die konträren Aspekte von Funktion und Ästhetik, architektonischer Ent- wurfssystematik und Bewohnerwünschen. First of all, a house is an architectural object for living. Sometimes, however, houses are also manifestos of building and living, published in order to communicate a universal architectural theory from a personal point of view. Due to their specific privacy, houses only rarely become visitable and visible other than in a media transfer. The article focuses on intentions and strategies of this book genre and examines the contrasting aspects of function and aesthetics, architectural design systematics and the residents’ wishes. Keywords: Architekturvermittlung, Bewohnbarkeit, Entwurfslogik, Rezipientenperspektive

Anschrift des Verfassers: Prof. Dr. Matthias Noell, Universität der Künste Berlin, Institut für Architektur und Städtebau, Hardenbergstr. 33, D–10623 Berlin,

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang pen Zeitschrift für Germanistik | Neue Folge XXX (2020), Peter Lang, Bern | H. 1, S. 91–111

Sabine Kalff Zurück in den Keller. Das Berliner Mietshaus im Bombenkrieg

I. Einleitung. Zwischen 1940 und 1945 suchte die Berliner Bevölkerung regelmäßig Schutz vor den zunächst britischen, später alliierten Luftangriffen. Die unter dem Ge- sichtspunkt des Luftschutzes effizienteste Bauform waren aufgrund des Rohstoffmangels nicht etwa unterirdische Konstruktionen, sondern große Hochbunker. Im Zuge des von Hitler Ende September 1940 erlassenen Bunkerbauprogramms für Berlin wurden mehrere Hochbunker realisiert, allen voran die drei zugleich als Leittürme, also zur Verteidigung genutzten Flakbunker im Tiergarten – der sog. Zoo-Bunker –, im Humboldthain und im Volkspark Friedrichshain (alle 1941), ferner der zivile Bunker am Anhalter Bahnhof (Ende 1942).12 Die drei Flakbunker fassten jeweils 15.000 Personen – für eine Bevölkerung von vier Millionen völlig unzureichend.3 Daher verbrachte die Mehrheit der Berliner den Luft- krieg überwiegend in häuslichen Luftschutzkellern. Mit der erheblichen Zunahme der Luftangriffe ab dem Spätsommer 1942 stieg auch die Nutzung der unterirdischen Räume schwunghaft an. Das unterirdische Leben der häuslichen „Kellergemeinde“4 ist ein häufig beschworener Topos in den literarischen und dokumentarischen Schilderungen des Luft- kriegs. Ausgeblendet wird erstaunlicherweise, dass ein nicht unerheblicher Anteil der Bevölke- rung dauerhaft im Keller residierte. Bei den vom britischen Flächenbombardement heim- gesuchten Gebäuden handelt es sich schließlich um eben jene Berliner Mietskasernen, deren hoffnungslose Überbevölkerung zwischen 1890 und 1910 im städtebaulichen und hygienischen Diskurs intensiv erörtert und kritisiert wurde. Was aber geschah mit den Berliner Mietern der Keller- und Dachwohnungen ab 1933? Da das Problem des Wohn- raummangels zwischenzeitlich nicht gelöst wurde, sondern sich durch den systematischen Abzug von Mitteln aus dem Wohnungsbau seit 1933 und durch die erhebliche Zerstörung von Wohnraum im Zuge des Luftkriegs verschärfte,5 stellt sich die Frage, warum reguläre Kellerbewohner in literarischen und dokumentarischen Zeugnissen des Zweiten Welt- kriegs nicht in Erscheinung treten. Anhand von überwiegend autobiographischen Texten soll deshalb gefragt werden, ob zwischenzeitlich ein Auszug aus Kellern und Mansarden

1 Arnold, Arnold, Salm (1997, 114). 2 Evans (2011, 22) spricht fälschlicherweise von vier Flakbunkern und suggeriert die Unsicherheit der Bunker- bauten im Allgemeinen, was ebenfalls nicht zutrifft. Wo sie existierten, hielten sie zumeist stand, oftmals sogar den hartnäckigen alliierten Sprengversuchen nach Kriegsende. 3 Vgl. Groehler (1990, 244). Die von Speer 1941 genannte Anzahl von realisierten und geplanten Bunkerplätzen beläuft sich auf eine Summe, die 6 % der Bevölkerung entsprach. Vgl. Arnold, Arnold, Salm (1997, 118). Genaue Zahlen der tatsächlich geschaffenen Bunkerplätze existieren nicht. Groehlers Befund von 1990, dass kein anderes Gebiet des Luftkriegs so schlecht erforscht sei wie der Luftschutzbau, gilt noch immer. 4 Anonyma (2003 [26.4.1945], 43). 5 Zum Wohnungsbau vgl. Groehler (1990, 254 f.), Geist, Kürvers (1984, 515).

© 2020 Sabine Kalff - http://doi.org/10.3726/92165_91 - Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 Internationalen Lizenz Weitere Informationen: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0 92 | Sabine Kalff: Zurück in den Keller. Das Berliner Mietshaus im Bombenkrieg stattgefunden hat, gefolgt von einer anschließenden luftkriegsbedingten Wiederkehr, oder ob das Phänomen der Dauernutzung an den vertikalen Rändern des Mietshauses tabuisiert wurde. Von diesen Fragen ausgehend wird im Folgenden die literarische und soziale Geschichte der Nutzung von Dachboden und Keller als Extremitäten des Berliner Mietshauses in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachgezeichnet. Darüber hinaus wird im Anschluss an Gaston Bachelards Poetik des Raumes (1957), der Keller und Dach- boden psychologische Qualitäten zugeschrieben hat, untersucht, wie die Wahrnehmung des Kellers im Bombenkrieg zwischen Schutz- und Angstraum oszilliert. In dem Band Großstädtisches Wohnungselend, 1908 in der von Hans Ostwald herausgege- benen Reihe der Großstadtdokumente erschienen, bezifferte der Journalist und sozialdemo- kratische Reichstagsabgeordnete Albert Südekum die Anzahl der Berliner Kellerwohnungen für das Jahr 1900 auf 25.170. Diese seien von 95.948 Personen bewohnt.6 Zehn Jahre später betrug die Anzahl der Berliner Kellerbewohner nur noch 60.000.7 Das war angesichts des Anstiegs der Berliner Bevölkerung auf 2,1 Millionen eine bemerkenswerte Verbesserung. Bis 1925 stagnierten die Zahlen jedoch. Friedrich Leyden spricht in Gross-Berlin – Geographie der Weltstadt (1933), wo er sich auf statistische Zahlen von 1925 stützt, von 17.671 Keller- wohnungen.8 Die kommunalen Bemühungen um den Wohnungsbau der Weimarer Republik waren enorm und erlebten ihren Höhepunkt während der Wirtschaftskrise zwischen 1929 und 1932, um mit dem Beginn des nationalsozialistischen Regimes stark abzusinken. Mit Ausnahme der Jahre 1937–1939, in denen ein Wohnungsbauprogramm zum Tragen kam,9 wurde durchweg deutlich weniger Wohnraum geschaffen als in den Jahren zuvor. Ab 1939 kam der Wohnungsbau angesichts dringlicher erscheinender militärischer Probleme komplett zum Erliegen, während der Luftkrieg den Wohnraum sukzessive verminderte.10 Mit rund 500.000 Wohnungen wurde im Zuge des Luftkriegs ca. ein Drittel des Berliner Bestands vernichtet.11 Dazu kam noch der Verlust von Wohnraum durch den von Albert Speer im Amt des Generalbauinspektors der Reichshauptstadt betriebenen Abriss für den Umbau .12 Das Wohnraumproblem mit seinen offensichtlichen Manifestationen wie der dauer- haften Bewohnung von Kellern und Mansarden blieb auch nach 1925 ungelöst. Der Fehlbestand wuchs zwischen 1933 und 1938 von 100.000 auf 190.000 Wohnungen an.13 Nach behördlichen Angaben lebten 1935 noch ca. 20.000 Berliner in Keller- und Dach- wohnungen, weitere 41.000 in Wohnlauben sowie weitere 100.000 in ebenso provisorischen Unterkünften wie Lauben und Baracken jenseits der Stadtgrenze.14 Wohnungsmangel war

6 Südekum (1908, 66). 7 Vgl. Beier (1982, 266). 8 Vgl. Geist, Kürvers (1984, 511). 9 Vgl. Willems (2000, 23). 10 Vgl. Bernhardt (2013, 188). Aus einer Berliner Statistik des Jahres 1945 geht abweichend hervor, dass der Wohnungsbau erst 1941 zum Erliegen gekommen sei. Es mag sich um geschönte Zahlen handeln. Vgl. Berlin in Zahlen (1945, 144 f.). 11 Vgl. Demps (2012, 94). 12 Zu diesem widersinnigen Unterfangen, in dessen Zuge zwischen 1940 und 1942 auch die Räumung Tausender jüdischer Mieter betrieben wurde, vgl. Willems (2000). 13 Vgl. Willems (2000, 23). 14 Vgl. Bernhardt (2013, 182) und Engeli, Ribbe (2002, 989). Die Zahlen von Engeli und Ribbe beziehen sich auf 1930. Sie scheinen innerhalb der fünf Jahre leicht gesunken zu sein.

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Sabine Kalff: Zurück in den Keller. Das Berliner Mietshaus im Bombenkrieg | 93 im nationalsozialistischen Berlin also ein ebenso massives Problem wie in den Jahren zuvor, nur wurde es nicht mehr offen thematisiert.

II. Das Berliner Mietshaus bis 1933. Albert Südekums Untersuchung über das großstädti- sche Wohnungselend, die sich auf die Berliner Situation konzentrierte, kritisierte die Wohnverhältnisse des urbanen Proletariats scharf, wie dies auch in marxistischer Tradi- tion verbreitet war, in der man die Wohnsituation für eine ubiquitäre Begleiterscheinung des Kapitalismus hielt.15 Zwischen 1901 und 1920 untersuchten die Berliner Ortskranken- kassen für den Gewerbebetrieb der Kaufleute, Handelsleute und Apotheker – die spätere AOK – das Berliner Wohnungselend in Form wiederholter Enquêten eingehend anhand ihrer Patienten und dokumentierten es in Berichten und Fotografien. Insbesondere die Fotografien bezeugten drastisch die lichtlosen, heillos überbelegten Kellerräume, in denen zudem oftmals noch Heimarbeit stattfand. In den Dachmansarden hingegen waren die Bewohner Hitze und Kälte schutzlos ausgeliefert. Die visuellen und statistischen Nach- weise der miserablen Berliner Wohnverhältnisse des Proletariats fachten die öffentliche Diskussion um die Wohnungsfrage an und stießen auf wenig Gegenliebe seitens der Berliner Grundeigentümer.16 Allerdings bekämpften die Ortskrankenkassen die Wohn- verhältnisse der urbanen Unterschicht nicht ganz uneigennützig: Sie erblickten in ihnen die Ursache der Krankheiten ihrer Patienten und erhofften sich von ihrer Beseitigung die Reduktion von Kosten. Bewohnte Keller waren kein auf Berlin begrenztes Phänomen, sondern traten allenthalben im Zuge der Industrialisierung in Erscheinung. So stellte ein deutscher Tourist schon im späten 18. Jahrhundert fest, ein Drittel der Londoner Bevölkerung lebe in Kellerwohnun- gen.17 In New York sah es, wie der Sozialreformer Jacob Riis 1890 in How the Other Half Lives betonte, nicht anders aus.18 In Odessa waren die Keller um die Jahrhundertwende sogar zweistöckig bewohnt.19 Das Interesse der Krankenkasse gab die medizinisch-hygienische Perspektive im Diskurs um den Wohnraummangel um 1900 vor. Der Zusammenhang zwischen den miserablen Wohnverhältnissen und dem Gesundheitszustand der Mieter wurde als unmittelbar kausal aufgefasst, gemäß der Heinrich Zille zugeschriebenen Sentenz: „Man kann einen Menschen mit einer Wohnung gerade so gut töten, wie mit einer Axt“, die Südekum seiner Unter- suchung als Motto vorangestellt hat.20 Proletarische Wohnungen bestanden üblicherweise aus Küche und Zimmer, in denen im Extremfall neben Eltern und einer mehr oder minder großen Anzahl von Kindern noch mehrere – bis zu sieben! – sog. Schlafleute wohnten.21 Neben der hygienisch und moralisch bedenklichen Überbelegung der Wohnräume betont

15 Zur marxistischen Kritik an Kellerbehausungen vgl. Graham (2018, 318). 16 Der Preußische Landesverband der Haus- und Grundbesitzervereine versuchte gar, ein Publikationsverbot für die Berichte der Wohnungsenquêten zu erwirken. Sachsse, Tennstedt (1982, 294). 17 Vgl. Ackroyd (2011, 7). 18 Graham (2018, 317). 19 Vgl. Jabotinsky (2017 [11936], 75). 20 Südekum (1908, 5). 21 Vgl. Südekum (1908, 47).

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Südekum beim Hausbesuch mit einem befreundeten Arzt im dritten Stock eines Quer- gebäudes im Arbeiterbezirk Wedding vor allem die fehlende Luftzirkulation. Aufgrund des Lärms auf dem Hof, der von dort angesiedeltem Gewerbe sowie von spielenden Kindern ausging, hielt die Patientin trotz drückender Hitze die Fenster in der von fünf Personen bewohnten kleinen Wohnung ganztägig geschlossen – die Tür zum Treppenhaus hingegen offen. Der Lärm aus dem Treppenhaus war jedoch kaum geringer: So bemerkte Südekum schon beim Hinaufsteigen: „Fast jede Stufe knarrte und ächzte laut unter unserem Tritt […]. Wie es erst in einem solchen Hause kracht und dröhnt, wenn ein müder, schwerer Mann mit derben Nagelstiefeln die Stufen hinaufstapft, davon macht sich der ‚herrschaftlich‘ Wohnende keine Vorstellung.“22 Die mit fünf Personen dicht bewohnte Wohnung ließ sich zudem nicht nach außen hin abschließen von den gemeinschaftlich genutzten Räumen wie dem Treppenhaus, sondern wurde akustisch von diesen durchdrungen. Es gab also keine wirkliche private Sphäre in den proletarischen Haushalten, die zudem für einen Teil der haushälterischen Verrichtungen auf kollektiv genutzte Räumlichkeiten außerhalb der Woh- nung angewiesen waren, insbesondere auf Toiletten, Waschküchen und Trockenböden.23 Die Besorgnis angesichts solcher Wohnverhältnisse bezog sich zu Beginn des Jahrhunderts vor allem auf zwei Dinge: zum einen auf die gesundheitliche Gefahr, die von ihnen aus- ging, zum anderen auf die moralische Verwahrlosung, die nicht zuletzt aus der äußersten Armut der Bewohner resultierte. Keller- und Dachwohnungen erschienen schon allein aus medizinischer Perspektive als Fanal des gesundheitsschädlichen Wohnens, insofern sich die Regulierung von Temperatur, Feuchtigkeit, Licht und Belüftung dort als besonders schwie- rig erwies. Dazu kam eine soziale Komponente: Die Bewohner der Hinterhäuser, Keller und Mansarden waren auch die sozial schwächsten einer typischen Berliner Mietskaserne. Während einige reiche Viertel im Berliner Westen und Südwesten sozial recht homogen waren, herrschte in den ärmeren Bezirken eine starke soziale Durchmischung innerhalb des Mietshauses. Auf horizontal Ebene standen dem repräsentativen Vorderhaus mit vor- nehmen Aufgängen und Balkonen armselige Hinterhäuser und Quergebäude gegenüber, die über kleinere, dunklere und oftmals niedrigere Wohnräume verfügten. Hinzu kam eine soziale Rangordnung, die sich in der Vertikalen über die Stockwerke ausdrückte, deren vornehmstes und bequemstes im ersten Stock lag, die Beletage.24 Romantisierend entwirft der Feuilletonist Arthur Eloesser das Berliner Mietshaus seiner Kindheit im südlichen Prenzlauer Berg als volkstümlichen Ort, an dem sich alle sozialen Schichten begegnen und zur Einheit verschmölzen: „Das Haus hatte nicht nur eine Nummer, sondern auch einen Charakter, eine einheitliche Persönlichkeit trotz aller Verschiedenheit der einzelnen Glieder.“25 Im ersten Stock residiert standesgemäß ein Kaufmann, wohingegen die Kellerbewohner bei Eloesser als mehr oder minder respek- table Handwerker in Erscheinung treten – so etwa ein Tapezierer, ein Raumausstatter, der „Rosshaarmatratzen aus Seegras“ herstelle.26 Realistischer schildert Clara Viebig die

22 Südekum (1908, 15). 23 Vgl. Geist, Kürvers (1984, 538). 24 Vgl. Beier (1982, 265). 25 Eloesser (1987, 13). 26 Eloesser (1987, 13).

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Lebensverhältnisse der Berliner Kellerbewohner kurz nach 1900. In der Novelle Der Klin- geljunge führen „nasskalte[] Stufen“ in die Kellerwohnung hinab, in der „immer halbe Nacht“ herrscht.27 Dort unten residiert der arbeitslose Schuhmachermeister Stibike, der nicht zuletzt von dem Geld seines als Klingeljunge arbeitenden Stiefsohns lebt, den er in seiner Wut halb totschlägt. Die Verhältnisse sind von äußerster Armut, Krankheit, Tod, Gewalt und Alkohol gekennzeichnet.

III. Wohnen im Nationalsozialismus. Eine vergleichbare soziale Durchmischung gab es of- fenbar auch noch im Nationalsozialismus. In Hans Falladas postum erschienenem letzten Roman Jeder stirbt für sich allein (1946) residiert im Jahr 1940 in der Jablonskistraße 55, wiederum im südlichen Prenzlauer Berg, im Vorderhaus eine kuriose Mischung von Mie- tern: im ersten Stock der pensionierte Kammergerichtsrat Fromm, darüber die stramm nationalsozialistische Familie Persicke, im dritten Stock die Überreste der Familie des Werkmeisters Quangel, ganz oben die nach der Deportation ihres Mannes allein verblie- bene alte Jüdin Rosenthal, ehemals Besitzerin eines Wäschegeschäfts. In der Kellerwoh- nung des Hinterhauses wohnt Barkhausen, der sich als Spitzel betätigt, zusammen mit seiner Frau, einer ehemaligen Prostituierten, und fünf gemeinsamen Kindern.28 An der sozialen Durchmischung des Mietshauses hat sich bis 1940 offenbar wenig verändert. Neu hinzugekommen sind die Aspekte der nationalsozialistischen Durchsetzung des Miets- hauses mit Partei- und SS-Mitgliedern und Spitzeln sowie die Vertreibung und Deporta- tion von Juden aus ihren Wohnungen. Geändert hatte sich zudem die Wohnungspolitik. War das kommunale und politische Interesse vor 1933 noch darauf ausgerichtet, Keller- und Mansardenwohnungen aus hygie- nischen und sozial-moralischen Gründen abzuschaffen – etwa aus Furcht vor zunehmender moralischer Verwahrlosung, z. B. durch Armenprostitution –, so ging das nationalsozialisti- sche Regime aus anderen Gründen gegen diese Wohnverhältnisse vor. Zum einen bestanden Interessen des Luftschutzes, zum anderen gab es einen ausgeprägten Wunsch, Kontrolle über die Häuser und ihre Bewohner zu erlangen. Der Reichsluftschutzbund zeigte bereits seit 1933 großes Interesse, die beiden exponiertesten Räumlichkeiten in der Vertikalen zu reglementieren – Keller und Mansarden. Schon die ersten Ausgaben der monatlichen Zeitschrift des Reichsluftschutzbundes, die Sirene, betonten 1934 die Notwendigkeit, diese Lokalitäten von allen Objekten zu räumen, die dem Brandschutz entgegenstehen könnten.29 Die „Hausgemeinschaftsordnung“, die seit 1935 anstelle der Hausordnung Teil von Mietverträgen wurde, schrieb vor:

Im Interesse des Luft- und Feuerschutzes dürfen leicht entzündliche Gegenstände, wie Packmate- rial, Papier- und Zeitungspakete, Matratzen, Strohsäcke, Lumpen, alte Kleider und Polstermöbel, Kleintierstallungen, Brennstoffe und größere Futtervorräte in den Keller- und Bodenräumen nicht vorhanden sein.30

27 Viebig (1952, 85). 28 Vgl. Fallada (2011, 28). 29 Vgl. Die Sirene (1934, H. 8, 4). 30 Zitiert nach Geist, Kürvers (1984, 435).

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Von Mietern war hier nicht die Rede, doch die Kleintierstallungen und Futtervorräte lassen vermuten, dass es neben menschlichen noch tierische Bewohner in Kellern und Mansarden gab. Bereits 1934 bezeichneten Beobachter, die für die Sozialdemokratische Partei ins Ausland (Sopade) berichteten, die Etablierung von Luftschutzmaßnahmen als Vorwand des Regimes, soziale Kontrolle über Mietskasernen in den ärmeren und tradi- tionell ‚roten‘ Vierteln wie z. B. dem Wedding zu erlangen, die dem Nationalsozialismus nicht zuneigten.31 Die Sirene schildert das großstädtische Mietshaus als „ein unübersichtliches Gewim- mel […] mit seinen Familien, handwerklichen und gewerblichen Betrieben, mit seinen Lagerräumen, Kellern, Treppen, Böden und Höfen.“32 Dieser Konfusion sollte durch den Einsatz eines Luftschutzwarts ein Ende gesetzt werden. Dessen Aufgabe war buchstäblich die Beherrschung des Mietshauses in der Vertikalen: Er sollte „das Haus durch […] orga- nisieren“, und zwar „vom Boden bis zum Keller“.33 Laut einem Informanten der Sopade war die Aufgabe dieser neuen Instanz auf der Ebene des Mietshauses, die neben derjenigen des Eigentümers und des Hauswarts implementiert wurde, auch das Sammeln von detaillierten Informationen über die Mieter zur Feststellung ihrer politischen Haltung. Auf Karteikarten würden Antworten auf über 100 Fragen festgehalten, wie etwa nach Beruf, sozialen Ge- wohnheiten und Postverkehr.34 Trotz dieser Absicht ist es unwahrscheinlich, dass die Bespitzelung in dieser Form ab 1934 sonderlich verbreitet war. In dem an der nördlichen Ackerstraße gelegenen Meyer’s Hof – für den Johann Friedrich Geists und Klaus Kürvers’ exemplarische Studie der Geschichte des Berliner Mietshauses eine Fülle von Dokumenten vorgelegt hat, die einen chronolo- gischen Überblick erlauben – gab es z. B. erst ab 1939, also seit Kriegsbeginn überhaupt einen Luftschutzwart.35 Das nationalsozialistische Regime verschaffte sich jedoch auch auf andere Weise Kontrolle über die Bewohner der Mietshäuser, nämlich durch die städtischen Wohnungsunternehmen, die schon seit 1935 auf Drängen des Staatskommissars Fragen wie die nach der „arischen Abstammung“ in ihre Bewerberbögen aufnahmen. Eine vergleichbare Kontrollfunktion gegenüber Angestellten und Mietern übte die Gemeinnützige Siedlungs- und Wohnungsbau-Gesellschaft (GSW) aus, die seit 1937 als Trägerin des kommunalen Woh- nungsbaus im Stadtgebiet fungierte, parallel und in engem Kontakt zur Stadtverwaltung.36 Seit 1933 vollzogen sich jedoch noch weitere Prozesse der Entmietung, die vor allem potentiell ‚rote‘ Berliner Mietskasernen betrafen. Der Artikel Ackerstraße 132/133. Ein Be- such in ‚Meyers Hof‘ nach acht Jahren, 1941 in der Zeitschrift Das Reich erschienen, benennt im Rückblick als Ziel der städtischen Wohnungspolitik die Entvölkerung des Hauses. Dieses Ziel konnte nach Meinung des Autors H. Günther als erreicht gelten: Von den 945 Bewohnern von 1933 waren 1941 nur noch 675 geblieben. Ein besonderes Anliegen war Günther der Auszug der Kellerbewohner: „Die Kellerwohnungen mußten ganz aufgehoben

31 Sozialdemokratische Partei Deutschlands (1990, Bd. 1, 781 f.). 32 Die Sirene (1934, H. 8, 2). 33 Vgl. Die Sirene (1934, H. 8, 2). 34 Sozialdemokratische Partei Deutschlands (1990, Bd. 1, 781 f.). 35 Vgl. Geist, Kürvers (1984, 561). 36 Vgl. Bernhardt (2013, 183, 186).

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Sabine Kalff: Zurück in den Keller. Das Berliner Mietshaus im Bombenkrieg | 97 werden, und das geschah auch in verhältnismäßig kurzer Zeit.“37 Keller waren dem Autor des Reichs ebenso suspekt wie Dachböden; er dämonisierte sie rückblickend auf die Wei- marer Republik als Brutstätten der Prostitution, Kriminalität und Asozialität: „In den Kellern quartierte sich die Prostitution ein, auf den Böden wurde genächtigt, oft holte die Polizei zehn, zwanzig und mehr solcher ‚Gäste‘, männlichen und weiblichen Geschlechts, zu gründlicher Durchleuchtung aufs Revier.“38 Interessant ist der Artikel auch im Hinblick auf die erhebliche Reduktion der Bewoh- nerzahl, die angesichts der keinesfalls verbesserten Situation auf dem Wohnungsmarkt erstaunlich ist. Mehrere Gründe hierfür werden verschwiegen. Zwischen 1932 und 1935 wechselten 50 % der Wohnungen in Meyer’s Hof ihre Mieter. Das war im Vergleich zu den anderen Jahren eine doppelte bis fünffache Auszugsrate.39 Die genauen Gründe dafür sind nicht bekannt. Doch die Verfolgung von politisch Andersgesinnten und Juden dürfte eine wesentliche Rolle gespielt haben. Der einstige Mieter Harry Kompisch berichtet von der Verhaftung von Kommunisten und Sozialdemokraten 1933/1934 und der Emigration des jüdischen Arztes aus der Beletage.40 Der Wegzug von Juden war tatsächlich in diesen frühen Jahren des nationalsozialistischen Regimes beträchtlich: Von den ca. 160.500 jüdischen Einwohnern Berlins des Jahres 193341 hatten 1937 bereits 20.000 die Stadt ver- lassen.42 1941 zählte man nur noch ca. 74.000.43 Während der Artikel des Reichs unter Bezug auf Meyer’s Hof in propagandistischer Absicht von einer Vergrößerung von Wohnungen spricht, wurde 1933/1934 ganz im Gegenteil bevorzugt kostengünstig ‚neuer‘ Wohnraum durch Wohnungsteilungen geschaffen. Es liegt nahe, dass die Wohnungen von Juden und politischen Emigranten einen großen Teil der aufgeteilten Großwohnungen bildeten.44 Felix Hartlaub deutet die bedrohliche Situation für Juden in seiner Prosaskizze Der Hund (1935–1937) an, in der an einem heißen Sommertag das Gesicht eines Juden am Fenster erscheint: „Aus einem kleinen Fenster hoch über den Bäumen schaut das schlohweiße, bärtige Gesicht eines uralten Juden starr auf den Garten hinab. Als er sich bemerkt sieht, zieht er sich blitzschnell zurück, wie ausgelöscht.“45 Zusätzliche Probleme auf dem Wohnungsmarkt erzeugte Hitlers Architekt Speer durch seine ehrgeizigen Pläne des Stadtumbaus ab 1937, die großzügigen Abriss umfassten. Nicht alle Teilprojekte standen in klarem Zusammenhang mit der Umgestaltung zur Reichs- hauptstadt. Das gilt vor allem für den Abriss in der südlichen Altstadt in der Umgebung des Molkenmarkts unweit der Parochialkirche, dem viele alte und malerische Bauten wie in der Gasse „Am Krögel“ zum Opfer fielen. Die Motivation war wohl ähnlich wie bei

37 Vgl. Günther (22.6.1941). Die vormalige Nutzung und der anschließende Auszug der Bewohner, Gewerbe und Lager aus dem Keller wird von Harry Kompisch, einem Mieter der Höfe, bestätigt. Vgl. Geist, Kürvers (1984, 545, 548, 561). 38 Günther (22.6.1941). 39 Vgl. Geist, Kürvers (1984, 434). 40 Geist, Kürvers (1984, 561). 41 Vgl. Wildt, Kreutzmüller (2013, 9). 42 Vgl. Bernhardt (2013, 181). 43 Vgl. Willems (2000, 11). 44 Vgl. Bernhardt (2013, 181). 45 Hartlaub (2014, 33).

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 98 | Sabine Kalff: Zurück in den Keller. Das Berliner Mietshaus im Bombenkrieg den städtebaulichen Plänen für Hamburg, Kontrolle über dicht besiedelte Viertel zu er- langen, indem man sie einfach abriss.46 Das betraf zumeist ‚rote‘ Viertel wie im Fall des ‚roten‘ Wedding, der infolge personeller Kontinuitäten wie dem Senatsbaudirektor Hans Stephan noch lange nach dem Krieg tatsächlich kahlschlagsaniert wurde.47 Gemäß dieser Logik hält auch der Journalist des Reichs den Abriss von Meyer’s Hof für die beste Lösung:

Vielleicht sind aber die Tage des Hauses selbst schon gezählt. Generalbauinspektor Speer antwortet auf eine Frage über das künftige Schicksal des Hauses am 17. Juli 1940, daß nach dem Stande seiner Planung ‚das Grundstück Ackerstraße 132/133 von den Maßnahmen zur Neugestaltung der Reichshauptstadt voraussichtlich betroffen‘ werde.48

Dass es sich bei der südlichen Altstadt um ein mehrheitlich jüdisches Viertel handelte, zeigt, dass auch der Wunsch, jüdische Bewohner zu vertreiben, ein Motiv für national- sozialistische Kahlschlagsanierungen sein konnte. Es scheint nicht, als ob sich Widerstand dagegen geregt hätte – weder gegen die Vernichtung von jüdischem Wohnraum noch gegen den Abriss der historischen Bausubstanz. Erneut ist es Hartlaub, der die Abbruch- arbeiten um den Molkenmarkt von 1938 schildert, und es ist beklemmend, wie die zum Zuschauer hin gewaltsam geöffneten Wohnungen auf die durch den Luftkrieg zerstörten Häuser vorausweisen:

Dann Abbruchgelände, grosse, gelbweisse Lücke, Kalkstaub darüber, in altersdunklen Schnee hineingefressen. Am Rande stehen noch ein paar halbe Häuser, zeigen ihr Inneres, rosa, blau tapezierte Stuben, der Boden schon herabgebrochen, die Tür führt ins Leere, Drahtstummel an der Decke, wo die Lampe sass, Rohrenden ragen aus dem Verputz, Dachstühle ohne Ziegel.49

Sicherlich wurden den jüdischen Mietern der südlichen Altstadt keine Ersatzwohnungen angeboten, wie es bei anderen Abrissprojekten der Fall war: „Abrissmieter“ benötigten Ersatzwohnungen, die Speer im Amt des Generalbauinspektors nicht zuletzt durch die Erfassung jüdischer Wohnungen seit 193850 und ihrer systematischen Räumung in drei „Aktionen“ zwischen Februar 1941 und August 1942 beschaffte. Auf diese Weise wurden 15.792 Wohnungen jüdischer Mieter geräumt, deren Bewohner in 6.454 Fällen umquartiert, in 9.338 Fällen deportiert wurden.51 Es gibt also einen direkten Zusammenhang zwischen den von Speer miterzeugten Problemen auf dem Wohnungsmarkt und ihrer gewaltsamen ‚Lösung‘. Speer begründete die Räumungen u. a. propagandistisch wirksam mit der Absicht, Wohnraum für Ausgebombte zu schaffen. Allerdings fand kaum ein Ausgebombter in den geräumten jüdischen Wohnungen tatsächlich ein neues Zuhause.52 Das Argument war nur vorgeschoben, wie sich schon allein daran ablesen lässt, dass die Räumungen den starken

46 Vgl. etwa Aly, Roth (1984, 141 f.). 47 Die Pläne stammten aus den frühen 1930er Jahren. Vgl. Bernhardt (2013, 190). 48 Das Reich v. 22.6.1941. 49 Hartlaub (2014, 33). 50 Vgl. Willems (2000, 77 f.). 51 Willems (2000, 361). 52 Willems (2000, 223).

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Bombardierungen Berlins ab Herbst 1942 zeitlich vorausgingen. Als Ersatzwohnungen dringend benötigt wurden, waren sie längst vergeben. Die Räumungsaktionen hatten Speer den Zugriff auf eine beträchtliche Menge von Wohnungen verschafft, die unter dem Eindruck der Luftangriffe ein rares Gut wurden. Großzügig verteilte er dieses Kontingent an die behördliche, kommunale und militärische Wohnungsfürsorge. Neben Abrissmietern kamen hochrangige Beamte etwa des Reichs- sicherheitshauptamts und der Gestapo zum Zug.53 Ein nicht unerheblicher Teil wurde von Behörden benutzt. Speer führte zudem auch Sonderräumungen für Unternehmen durch, und wer Geld hatte und eine gediegene Wohnung suchte, konnte sich an ihn wenden wie an einen Immobilienmakler, der konkurrenzlos über eine märchenhafte Menge schöner Wohnungen verfügte.54 Der bei Speer um eine Luxuswohnung bettelnden Oberschicht des ,Dritten Reichs‘ – unter ihnen hochdekorierte Militärs wie Adolf Galland, der ehemalige Bergfilmer Arnold Fanck, AEG-Direktoren, Professoren und Ärzte – scheint die Frage nach der Herkunft ihrer Wohnungen vollkommen gleichgültig gewesen zu sein.55 In der Literatur finden sich zwar häufiger Hinweise auf Deportationen, doch die Folge- nutzung derselben Wohnungen durch ‚arische‘ Mieter wird kaum jemals erwähnt. Das ist insbesondere bei den Kriegstagebüchern erstaunlich, die als Genre besonders geeignet wären, solche Prozesse festzuhalten.56 Auch Fallada, der in Jeder stirbt für sich allein den Suizid der alten Frau Rosenthal durch einen Sturz aus dem vierten Stock thematisiert, lässt die Wohnung entgegen aller historischen Wahrscheinlichkeit anschließend leer stehen.

IV. Das Berliner Mietshaus im Luftkrieg. Auf welche Weise nun die Bombengeschädigten zu Ersatzwohnungen kamen, scheint weder für das Deutsche Reich im Allgemeinen noch für Berlin im Besonderen vollends geklärt.57 Fest steht, dass die Ersatzbeschaffung des vernichteten Hausrats systematisch durch die Verfolgung, Deportation und Ermordung der europäischen Juden betrieben wurde.58 Im Zuge der sog. M-Aktion wurden Möbel enteigneter Juden aus Westeuropa in stattlichen Zahlen ins Deutsche Reich verfrachtet – allein aus Frankreich kamen 47.000 Wohnungseinrichtungen.59 Bis Sommer 1944 hat- te Karlsruhe 481 Waggons erhalten, Düsseldorf 488, Berlin 528, Hamburg 2.699, Köln 1.269, Osnabrück 1.269, Essen 518.60 Weniger klar ist, was mit den Mietwohnungen der deportierten Juden geschah. Götz Aly behauptet, dass die Deportationen der Juden im Deutschen Reich nach Maßgabe der Luftkriegsbedrohung erfolgten – in häufig bombar- dierten Städten früher als in anderen, um Ersatz zu schaffen für den luftkriegsbedingten

53 Willems (2000, 225 f.). 54 Willems (2000, 253). 55 Vgl. Willems (2000, 255–257). 56 Ruth Andreas-Friedrich etwa schildert mehrere Deportationen, aber keine anschließende Nutzung. Vgl. Andreas-Friedrich (1986 [16.2.1943], 100 f.). 57 Es gibt regionale Studien, zu Wien vgl. Botz (1975), zu Nürnberg Kuller (2004). Inwiefern die Befunde ver- allgemeinerbar sind, ist unklar. 58 Vgl. Blank (2004, 425), Aly (2005). 59 Vgl. hierzu Dean (2008). Fotografische Zeugnisse bei Gensburger (2015) und Nachama, Hesse (2011). 60 Vgl. Aly (2005, 146–148).

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Verlust an Wohnraum.61 Da sich jedoch auch Speer dieses Arguments bediente, ohne Bombengeschädigten den Wohnraum zur Verfügung zu stellen, bleibt dies zweifelhaft.62 Noch 1943 tat Speer in Berlin sein Möglichstes, um Ausgebombte aus den leerstehen- den Wohnungen wieder herauszudrängen. Lieber vergab er die Wohnungen an Behörden, Verbände und Konzerne. Willems zufolge mieden die Ausgebombten die staatliche Be- treuung und suchten sich lieber selbst Quartier bei Verwandten und Freunden.63 Die Kriegstagebücher bestätigen diesen Befund. Daneben existierte eine Unterbringung in den Wohnungen Evakuierter. Um einen sol- chen Fall scheint es sich bei der Journalistin und Schriftstellerin Margret Boveri zu handeln. Diese bezog bei ihrer Rückkehr nach Berlin im November 1943 als alleinstehende Person eine geräumige Dreizimmerwohnung im vierten Stock der Charlottenburger Wundtstraße 62 – angesichts des durch fortschreitende Zerstörung von Wohnraum immer angespannteren Berliner Wohnungsmarkts bemerkenswert. Sie habe die Wohnung von einem evakuierten Forstmeister namens Bier übernommen, wie Boveri erklärt.64 Im August 1943 – gleich im Anschluss an die desaströse Bombardierung Hamburgs – verließen rund 360.000 Berliner die Stadt. Bis Januar 1944 war die Zahl auf mehr als eine Million angewachsen.65 Dieser Umstand dürfte den Wohnungsmarkt in der Tat entspannt haben. Da Evakuierte die Stadt wohl kaum endgültig verließen, stellt sich die Frage, wie mit ihren Wohnungen verfahren wurde. Ungeklärt ist, ob Boveri die Wohnung direkt von dem Evakuierten übernommen oder durch Vermittlung einer Behörde bekommen hatte. Die Größe der Wohnung spricht für Ersteres. Wie aber waren solche Wohnungsübernahmen rechtlich geregelt? Befristete man das Mietverhältnis auf den unbestimmten Zeitpunkt des Kriegsendes? Demps deutet die hohe Wahrscheinlichkeit von Konflikten um das Hauptmietverhältnis im Nachkrieg an.66 Boveri hat nach Kriegsende ersichtliche Eile, ihre Charlottenburger Wohnung zu verlassen, was sie allerdings auf den Umstand schiebt, dass alle ihre Bekannten in Dahlem und Zehlendorf residierten.67 Offensichtlich aber war der 1. Juni 1945 ein wich- tiger Stichtag – wer bis dahin nicht zurück war, dessen Wohnung wurde einer behördlichen Bestimmung zufolge beschlagnahmt. Es ist allerdings ungewiss, wie rigide sie umgesetzt wurde.68 Die drohende Rückkehr des evakuierten Hauptmieters dürfte jedenfalls eine entscheidende Rolle für Boveri gespielt haben, kaum zwei Wochen nach Einstellung der Kriegshandlungen entgegen aller behördlichen Bestimmungen und praktischen Probleme einen Umzug zu bewerkstelligen. Spätestens mit der Intensivierung des Luftkriegs seit 1942 wandelten sich die Be- stimmungen des Luftschutzes von einem Vorwand, der der Partei zusätzliche Kontrolle

61 Vgl. Aly (2005, 140). 62 Unter Rekurs auf den Fall Nürnberg kommt Süß (2011, 200) zu dem Schluss, Bombengeschädigte zählten zwar zu den Profiteuren der „Vermögensverwertung“ der Deportationen, seien aber weder die einzigen noch die wichtigsten unter diesen. 63 Süß (2011, 223). 64 Boveri (1996, 18). 65 Vgl. Demps (2012, 77). 66 Vgl. Demps (2012, 81). 67 Boveri (1996 [5.6.1945], 195). 68 Boveri (1996 [9.6.1945], 203).

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Sabine Kalff: Zurück in den Keller. Das Berliner Mietshaus im Bombenkrieg | 101 ermöglichte, zu einer praktischen Notwendigkeit. Der Luftkrieg war eine Angelegenheit, die sich vor allem in der Vertikalen vollzog. Bald nach dem Ersten Weltkrieg kam William Mitchell, der ‚Vater‘ der amerikanischen Air Force, zu dem Schluss, dass Luftkrieg den Raum grundsätzlich neu strukturiere: „There are no longer frontiers, in the old way. A nation’s frontier now is a blanket of fair ten miles thick, laid entirely over it.“69 Die Metaphorik des Bombenkriegs ist überwiegend an der Horizontalen ausgerichtet – so wurden Luftangrif- fe etwa in „Wellen“ geflogen, „Bombenteppiche“ wurden gelegt, und ein Angriff auf das rumänisch Ploiesti im August 1943 erhielt den sinnfälligen Namen „Operation Tidal Wave“. Alle Verweise auf die Horizontale täuschen jedoch nicht darüber hinweg, dass der Luft- krieg vor allem daran interessiert war, die zehn Meilen dicke Decke über einem Territorium systematisch zu durchdringen. Das galt nicht minder für die Häuser darunter: In New Jersey testete man 1942, wie sich Nachbauten deutscher Dachkonstruktionen mit Brand- bomben möglichst effizient durchschlagen ließen.70 Durch jahrelange Praxis war man sich bei der Royal Air Force bewusst, dass unscheinbare Brandbomben gute Dienste beim Entfachen von Bränden leisteten, von denen man sich die Erzeugung eines unkontrollier- baren Großbrands erhoffte. Erst anschließend wurden Sprengbomben nachgeschickt, mit dem Ziel, „Fenster zerspringen zu lassen, die Straßen aufzureißen und die Luftschutz- und Brandschutzkräfte einzuschüchtern“.71 Das gelang mancherorts wie in Hamburg, Kassel und Dresden außerordentlich gut. Auf die vertikale Durchdringung reagierte auch der Luftschutz in Form einer vertikalen Durchstrukturierung der Mietshäuser. Keller und Dachboden wurden nun tatsächlich zu den sensiblen Zonen, als die sie die Publikationen des Reichsluftschutzbundes schon seit 1934 entworfen hatten. Auch die Berliner erwarben sich im Zuge des Luftkriegs ausgedehnte Erfahrung mit der Praxis der Bombardierung und der Durchdringung der Vertikalen. Die junge Schriftstellerin Hannelore Holtz, die später unter ihrem Ehenamen Krollpfeiffer Karriere als langjährige stellvertretende Chefredakteurin der Frauenzeitschrift Brigitte machte, schildert in ihrem Roman Wir lebten in Berlin (1947) eine junge Frau als regelrechte Expertin in Sachen Strategie des Luftkriegs. Sie beschreibt die Funktion der im Volksmund „Phosphorkanister“72 getauften Brandbomben genau als eine solche Öffnung und Durchdringung des Hauses in der Vertikalen vom Dach bis zum Keller:

Die Bomben […] wühlen sich ein in die stattlichen hohen Häuser, in die vornehmen, dezenten Villen und die grauen, engbrüstigen Mietskasernen. Die Brandbomben, die langen Stäbe, sind noch wie harmlose Schlangen. Man kann sie totschlagen, mit ein paar Eimern Wasser und Sand kann man sie totschlagen. Aber die Phosphorbomben sind giftige Nattern. Der Phosphor frißt sich tief ein ins Holz und frißt sich tief ein ins Fleisch, wenn man ihm zu nahe kommt. Der Phosphor glüht heimlich weiter, er ist wie eine tückische, schleichende Krankheit.73

69 Mitchell (1927, 38). 70 Overy (2014, 475). 71 Overy (2014, 473). 72 Holtz (1947, 10). 73 Holtz (1947, 25). Phosphorbomben sind eine Spezialform der Brandbomben.

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Darüber hinaus schreibt Holtz dem Luftkrieg eine egalisierende Wirkung in Bezug auf die Berliner Wohnhäuser zu: Wie die Vertreter der verschiedenen Schichten in den spätmittel­ alterlichen und frühneuzeitlichen Totentänzen ungeachtet ihres gesellschaftlichen Ranges vor dem Tod alle gleich sind, so erscheinen in Holtz’ Perspektive alle Häuser gleich prekär angesichts des Luftkriegs – die Villen wie die „engbrüstigen Mietskasernen“. Kenntnisreich schildert Holtz auch die verschiedenen Bombenarten und die von ihnen erzeugten Todes- arten: „Die Luftminen, die alles im Umkreis in Fetzen reißen, alles fein säuberlich zu Staub zermahlen – Häuser und Menschen. Aber es geht schnell bei den Luftminen. Phosphor ist qualvoller. Bei den Luftminen zerreißen gleich die Lungen. Das geht sehr schnell.“74 In seiner Poetik des Raumes hebt Bachelard hervor, moderne Städte verfügten nicht mehr über Häuser, sondern „die Bewohner der Großstadt wohn[t]en in übereinandergestellten Schachteln“75. Er kommt zu diesem Schluss, da er das Haus als ein „vertikales Wesen“ definiert, bei dem Keller und Dachboden zwei entgegengesetzte Pole in der Vertikalen bilden.76 Diesen beiden Orte schreibt er auch psychologische Qualitäten zu: Während der Dachboden eine erbauliche Funktion habe und mit der Klarheit der Gedanken einhergehe, erscheine der Keller als „dunkles Wesen“ des Hauses, das mit unterirdischen Mächten und dem Irrationalen im Bunde stehe.77 Die von Bachelard hier zugrunde gelegten Ausführungen Carl Gustav Jungs zur Seele als Haus, dessen Stockwerke aus unterschiedlichen Zeitaltern stammten, rekurrieren – bewusst oder unbewusst – auf eine historische Praxis.78 Das Un- heimliche des Kellers, das auch von den bombardierten Berlinern stark empfunden wird, rührt nicht zuletzt aus der historischen Qualität der unterirdischen Bauten: Keller sind mitunter wesentlich älter als die Gebäude über ihnen, die Geschichte ihrer Entstehung und Nutzung ist oftmals nicht mehr bekannt.79 Die allenfalls vage bewusste kulturelle Verbindung zwischen historischen Kelleranlagen, Kerkern, Gräbern und Krypten – als Orte der Aufbewahrung sakraler Dinge wie Reliquien80 – trug wenig dazu bei, den Keller vor allem als Schutzraum zu empfinden. Marta Hillers evoziert in ihrer Schilderung der Luftkriegsroutine den Keller als höchst ambivalenten Ort, der auch über eine Fülle angsterregender Konnotationen verfügt: „End- lich, hinter einer zentnerschweren, mit zwei Hebeln verschließbaren, gummigeränderten Eisentür unser Keller. Amtlich Schutzraum geheißen. Von uns Höhle, Unterwelt, Angst- katakombe, Massengrab genannt.“81 Mochte der unterirdische Raum auch Schutz bieten, so begrenzte er doch den Wahrnehmungsradius extrem: „Der Höhlenhaufen, die Familie, wie in Urzeiten. Der Horizont reicht hundert Schritte weit“, konstatierte Hillers.82 Dieselbe luft- kriegsbedingte „Schrumpfung des Horizonts“ beklagte auch Hartlaub im Dezember 1944.83

74 Holtz (1947, 25). 75 Bachelard (1975, 59). 76 Bachelard (1975, 50). 77 Bachelard (1975, 50). 78 Vgl. Jung (1950, 159). 79 Vgl. etwa die Ausführungen über die mittelalterlichen Kelleranlagen von Erfurt bei Altwasser, Schmeer (2013). 80 Altwasser, Schmeer (2013, 238). 81 Anonyma (2003, 14). 82 Anonyma (2003, 30). 83 Hartlaub (2007 [15.12.1944], 744).

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Während des Aufenthalts im Keller war man von dem Geschehen draußen abgeschnitten, der reale Horizont war buchstäblich außer Sichtweite. Diese Situation, wohl im Verein mit archaischen Ängsten, die im Keller geweckt wur- den, erzeugte nicht selten eine Aversion, sich überhaupt in den Keller zu begeben. Margret Boveri war gegen Ende des Kriegs nicht mehr dazu zu bewegen, in den Keller zu gehen. Sie verbrachte die Luftangriffe entweder in ihrer Wohnung im vierten Stock oder ganz im Freien, wie sie in der Retrospektive erläutert: „In den milden Vorfrühlingstagen, die damals herrschten, ging ich bei Alarmen fast nie mehr in den Keller, sondern meist im Park spazieren.“84 Damit war Boveri nicht allein. Auch Friedrich Panse schildert in seiner Untersuchung Angst und Schreck in klinisch-psychologischer und sozialmedizinischer Sicht (1952) vergleichbare Fälle von hartnäckiger Kelleraversion. Ein Mann berichtet:

Übrigens bin ich seit dem schweren Angriff nicht mehr in den Keller gegangen, sondern bei Alarm ins Freie gelaufen […]. Ich glaube, auch wenn es hart auf hart gegangen wäre, wäre ich nicht mehr in den Keller zu kriegen gewesen. Ich kam mir dort gleich vor wie lebendig begraben.85

Ganz gemäß Bachelards Definition des Dachs als Ort der Klarheit und Übersicht bleibt Boveri trotz drastischer Strafandrohung dem Keller fern – „Sonntagabend wurden mir von 2 Luftschutzleuten 3 Monate Gefängnis angekündigt, weil ich 35 Min. nach Ertönen der Sirene noch in meiner Wohnung angetroffen wurde“86 –, um durch das Abhören von Auslandssendern zu erfahren, „was wirklich los ist“87. Nicht zufrieden mit akustischer Klarheit steigt sie sogar aufs Dach, um visuell „abzuschätzen, in welchen Stadtteilen die verschiedenen Rauchsäulen und Brände liegen mögen“.88 Dieselbe Praxis lässt sich bei der versteckten Jüdin Margot Friedlander beobachten, die ebenfalls die Phasen von Luftan- griffen nutzt, um ausländische Sender abzuhören.89 Das Aufsuchen von Luftschutzräumen war obligatorisch, zumindest für jene Teile der Gesellschaft, deren Überleben aus national- sozialistischer Perspektive erwünscht war. Zu denen zählte Friedlander als Jüdin, zumal als untergetauchte, nicht, ebenso wenig wie Zigeuner und Kriegsgefangene und Zwangsarbei- ter, vor allem jene aus dem Osten wie Polen und der Sowjetunion.90 Deutsche, die nicht in den Luftschutzkeller wollten, waren von den nationalsozialistischen Regularien nicht vorgesehen und wurden pauschal verdächtigt, auf Diebstahl und Plünderung aus zu sein. So gerieten Keller während des Bombenkriegs zu hochgradig kontrollierten Räumen, was

84 Boveri (1996 [Kommentar zum 20.3.1945], 58). 85 Panse (1952, 141, vgl. auch 100 f., 142). Panses Untersuchung beruht auf 95 Protokollen von Personen, die er in einem von ihm betreuten Krankenhaus rekrutiert hatte. Panse war schon seit dem Ersten Weltkrieg als Verfechter des sog. „Pansens“, der Behandlung von Kriegsneurosen durch eine Elektroschocktherapie, in Er- scheinung getreten und war darüber hinaus am Euthanasie-Programm beteiligt. 86 Boveri (1996 [20.3.1945], 56 f.). 87 Boveri (1996 [20.3.1945], 57). 88 Boveri (1996 [25.4.1945], 71). 89 Vgl. Friedlander (2010, 163). 90 Vgl. Blank (2004, 409). Die Regularien und ihre Durchsetzung variierten jedoch von Ort zu Ort. Auch bezüglich Juden gab es Ausnahmen. Vgl. hierzu Süß (2011, 328 f.) und Friedrich (2002, 402 f.).

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 104 | Sabine Kalff: Zurück in den Keller. Das Berliner Mietshaus im Bombenkrieg zu einer sonderbaren Verkehrung führte: Nun waren all die verdächtig, die sich außerhalb von ihnen bewegten.

V. Ambivalente Räume. Der Luftkrieg machte Dachboden und Kellergeschoss, die den Großstädtern gemäß Bachelard üblicherweise verschlossen blieben, wieder einer großen Menge von Berlinern zugänglich. Anlässlich von 389 Luftalarmen bis 1945 wandelten sich Dachböden und Keller von baulichen Randzonen des Mietshauses im Kontext des Luftschutzes zu hochfrequentierten Lokalitäten.91 Häufig waren Frauen als Luftschutzwarte tätig, da sie auf die Dauer des Kriegs verlässli- cher verfügbar waren.92 Ihnen oblagen die Verhaltenskontrolle in den Luftschutzräumen, die Kontrolle der Einhaltung der Luftschutzbestimmungen wie Verdunklung und Verlassen der Wohnungen während des Alarms, die Erstellung einer Liste von im Keller Anwesenden (um zu wissen, wie viele Verschüttete es auszugraben galt) sowie Maßnahmen der Brand- bekämpfung und Rettung während der Angriffe. Hannelore Holtz schildert diese Vorgänge des Luftschutzes minutiös, inklusive der öffentlichen Aushänge mit Botschaften wie „Das Licht – dein Tod.“93 Verstöße gegen solche Verordnungen wurden nicht nur von Ordnungs- personal, sondern auch von wachsamen Nachbarn angemahnt. Als die Protagonistin Ursula das Licht im Bad anzündet, erschallt sofort von Nachbarsseite: „Liiicht aus! Verdunkeln! Unerhört!“94 Nonkonformes Verhalten lässt sich leicht sanktionieren, etwa in Form des Zugangs zum nahegelegenen Luftschutzkeller der SS, der jedoch schließlich aus anderen Gründen für die Zivilbevölkerung gesperrt wird: Die Lagerung von Akten hat Vorrang.95 Die Maßnahmen des Luftschutzes gaben den Repräsentanten des nationalsozialistischen Regimes im Interesse des Brandschutzes beinahe unbegrenzten Zugriff auf die Räume der Mieter. Wer etwas zu verbergen hatte, dürfte es wenig geschätzt haben, die Wohnung während der Luftangriffe offen zurückzulassen. Zudem stieg natürlich die Diebstahlgefahr. Sich fremden Besitz anzueignen war eine große Versuchung, vor allem nach dem Totalver- lust an Eigentum seitens der Ausgebombten. Eigentumsdelikte wurden zur Abschreckung überaus radikal mit der Todesstrafe geahndet.96 Sie dürften trotzdem ubiquitär gewesen sein. Neben traditionellen Eigentumsdelikten gab es auch solche, bei denen die Machtstruk- turen dazu führten, dass sie gar nicht erst zur Anzeige gelangten. So kolportiert Holtz eine Episode, bei der sich ein SS-Mann straflos in der Wohnung eines befreundeten Nachbarn in dessen Abwesenheit bedient.97 Die angesichts der Vielzahl von Luftangriffen ziemlich häufig offenstehenden Wohnungstüren schufen eine Situation, die der bereits um 1910 von Südekum geschilderten Lage in den proletarischen Haushalten stark ähnelte: Inzwischen

91 Vgl. Demps (2012, 12). 92 Vgl. Overy (2014, 627). 93 Vgl. Holtz (1947, 11). 94 Holtz (1947, 11). 95 Holtz (1947, 56). 96 Zwischen 1941 und 1945 wurden 15.000 Todesurteile gegen „Volksschädlinge“ vollstreckt, allerdings bezo- gen diese sich neben Plünderungen auch auf „Wehrkraftzersetzung“ und das Hören von Feindsendern. Vgl. Friedrich (2002, 444). 97 Vgl. Holtz (1947, 50).

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Sabine Kalff: Zurück in den Keller. Das Berliner Mietshaus im Bombenkrieg | 105 ließen sich auch die bürgerlichen Wohnungen nicht nach außen hin abschließen und blieben zu den kollektiv genutzten Räumen des Mietshauses geöffnet. Diese Maßnahmen transfor- mierten den intimen Raum der eigenen Wohnung in öffentlich zugängliche Räumlichkeiten, in denen private Dinge nicht privat blieben. Freien Zutritt zu Lagerräumen im Keller und auf Dachböden der Mietshäuser gewährten auch jene Brandschutzmaßnahmen, die während des Bombenkriegs dazu dienten, Flucht- und Zugangswege zu schaffen. Im Keller wurden Durchbrüche geschlagen, locker zuge- mauert und mit Farbe markiert, damit sie sich im Ernstfall durchhacken ließen.98 Auf diese Weise entstanden unterirdisch ganze Kellerketten und Gänge, die durch mehrere Gebäude ins Freie führten. Keller mochten zwar tendenziell die sichersten Räume im großstädti- schen Mietshaus sein, doch das waren sie nur vorübergehend. Stand das Haus darüber in Flammen, so galt es, sie so rasch wie möglich zu verlassen. Diesem taktisch angebrachten Verhalten standen jedoch psychische Widerstände im Weg: Der Aufenthalt im eigenen bzw. vertrauten Keller oder unterhalb der Treppe schien subjektiv der sicherste zu sein.99 Zumal, wenn es draußen allerorts brannte, war der Gang ins Freie lebensgefährlich. So fordert die Luftschutzwartin in Holtz‘ Text die Kellerinsassen während des Angriffs zunächst vergeb- lich zum Kontrollgang auf: „Niemand meldet sich. Nicht ein Mann. Nicht eine Frau.“100 Panische Angst beim Aufenthalt im Freien schildert ein Zeuge des Bombenkriegs bei Panse: „Es ging mir alles rund im Kopf, als ob ich irrsinnig würde. Am liebsten wäre ich direkt in die Flammen gelaufen, als ob die Flammen eine solche Anziehung auf mich ausübten, wie eine andere Macht, der ich mich fügen müßte.“101 Ein solcher ‚Stalldrang‘ zeigt, dass das Verlassen des Kellers während des Luftangriffs eine der Intuition zuwiderlaufende Hand- lung war, die erlernt werden musste.102 Keller waren also ambivalente Räume, die nicht nur als Schutz fungieren, sondern ebenso gut zur Falle für ihre Insassen werden konnten. Das galt auch für politisch und rassistisch Verfolgte, die sich in Berlin versteckten. Die hohe Zahl an Ausgebombten erleichterte es, eine falsche Identität anzunehmen. Das unternimmt eine Freundin in Ruth Andreas-Friedrichs Kriegstagebuch Der Schattenmann. Tagebuchaufzeichnungen 1938–1945 mit dem Ziel, Lebensmittelkarten für eine versteckte Jüdin zu erhalten. Mitte März 1945 haben auch die nationalsozialistischen Behörden keine Kapazitäten mehr zu prüfen, ob es sich bei der jungen Frau wirklich um eine Aus- gebombte aus Guben handelt.103 Doch als die beiden jungen Frauen unter den Trümmern ihres Hauses sterben und ein Beamter die Identität der Toten anhand ihrer Papiere klären möchte, wird die Behörde auf Ungereimtheiten aufmerksam: Hier geht die Kontrolle der Keller und ihrer Insassen sogar noch über deren Tod hinaus. Die Feststellung der Identität der Bombentoten war aber nicht nur eine Gefahr für Andersdenkende, sondern zugleich auch eine Chance, sich der Verfolgung entziehen. Die Identifizierung der Bombentoten war nicht immer einfach, insbesondere bei Frauen, da diese ihre Ausweispapiere selten am

98 Vgl. Overy (2014, 638). 99 Vgl. Vernon (1941, 458, 470). 100 Vgl. Holtz (1947, 26). 101 Vgl. Panse (1952, 57). 102 Vgl. auch Friedrich (2002, 377). 103 Vgl. Andreas-Friedrich (1986 [18.3.1945], 204).

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Körper trugen.104 So schildert Andreas-Friedrich im gleichen Atemzug, wie der Vater der ums Leben gekommenen Freundin geistesgegenwärtig auch noch seinen untergetauchten Sohn als Bombenopfer angibt und ihn solchermaßen auf bürokratischem Weg ‚beerdigt‘.105 Auch Durchbrüche in Kellern wie auf Dachböden boten neue Freiräume, da sie nicht nur dem Luftschutzpersonal, sondern auch den Mietern freien Zugang zu den Nachbarhäusern gewährten. Die zu Kriegsende 14-jährige Waltraud Süßmilch schildert die Öffnung der Zwischentüren auf dem Dachboden rückblickend als überaus angenehmes Ereignis im Hinblick auf die Spielmöglichkeiten: „wir [konnten] ungehindert über die Dachböden des gesamten Wohnblocks laufen. Natürlich hatte man bei dieser Luftschutzmaßnahme nicht an eine Rennstrecke für uns Kinder gedacht.“106 So führten Brandschutzmaßnahmen nicht zwangsläufig zu einer größeren Kontrolle des Regimes, sondern konnten auch eine größere Freizügigkeit zur Folge haben. Eine ähnliche Diskrepanz zwischen Luftschutzabsicht und Resultat wird im Fall von Marie Jalowicz Simon deutlich, die als versteckte Jüdin Nationalsozialismus und Bomben- krieg überlebte. Als untergetauchte Jüdin stand sie vor dem Problem, sich ohne Papiere oder mit schlecht gefälschten in einem engmaschigen Netz der Kontrolle zu bewegen. Unter dem Vorwand des Luftschutzes überzeugte der häusliche Hilfsluftschutzwart, der dem Nationalsozialismus überhaupt nicht zugetan war, den verantwortlichen Luftschutzwart, eine Fluchtroute über den Dachboden zu schaffen: „Sehen Sie, Kamerad,“ hatte er dem Luftschutzwart unterbreitet, „wohin flüchten die Leute? Wenn sie vor den Bomben von oben nach unten geflüchtet sind und die dann einschlagen, müssen sie ja wieder von unten nach oben fliehen.“107 Und so hackte ein Bautrupp mitten im Bombenkrieg einen Durch- bruch durch die Brandmauern im Dachgeschoss. Das war zwar widersinnig im Hinblick auf den Brandschutz – schließlich waren Brandmauern dazu da, Brände aufzuhalten. Im Hinblick auf eine mögliche Verhaftung durch die Gestapo war die Anlage einer solchen ‚oberen Fluchtroute‘ jedoch sinnvoll, da diese regelmäßig einen Mann im Erdgeschoss ab- stellten, um die ‚untere Fluchtroute‘ zu blockieren. So bewirkten (vorgebliche) Brand- und Luftschutzmaßnahmen nicht zwangsläufig eine größere Kontrolle des Regimes, sondern schufen auch unfreiwillig Freiräume, die ermöglichten, sich der Kontrolle zu entziehen.

VI. Die Wiederkehr des Unbewussten. Gegen Ende des Kriegs zogen viele Menschen mehr oder minder dauerhaft in den Keller, so etwa die Familie der 19-jährigen angehenden Schauspielerin Sabine Krug.108 Das schuf eine Vertrautheit und Nähe unter den Keller- insassen, die weit über das übliche bürgerliche Maß hinausging und sich zunehmend den proletarischen Verhältnissen zu Beginn des Jahrhunderts anglich. Gemeinsames bzw. ab- wechselndes Kochen und Essen gab ungewohnte Einblicke nicht nur in die Kochtöpfe, sondern auch in die genauen sozialen Verhältnisse und Konflikte der Nachbarsfamilien:

104 Vgl. Friedrich (2002, 433 f.). 105 Vgl. Andreas-Friedrich (1986 [24.3.1945], 214). 106 Süßmilch (2004, 39). 107 Jalowicz Simon (2014, 314 f.). 108 Vgl. Krug (1992, 380 f.).

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Im Keller kochten alle eifrig, jeder sein Töpfchen, immer hübsch nebeneinander. Allerdings war das Zusammenleben auch nicht mehr so idyllisch. Fräulein K. und Fräulein D. stänkerten bei jeder Gelegenheit, Frau B. fuhr Fräulein R. über den Mund, Fräulein O.s Stimme wurde vor lauter Kognak immer tiefer, Frau L. schimpfte, ihre Töchter heulten.109

Der dauerhafte Aufenthalt in Kellern und Bunkern wirkte sich negativ auf die Bewohner aus. Sie zeigten zunehmend Zeichen der Verwahrlosung und Apathie ihrem eigenen Schicksal und dem ihrer Nächsten gegenüber, wie ein Luftschutzarzt aus Hamm berichtete:

[S]chon wenige Tage […] machen die Menschen stumpf, roh und gleichgültig. […] Sie vergreifen sich an fremden Gegenständen, achten nicht Frau und Kinder; jeglicher Ordnungs- und Reinlich- keitssinn schwindet. Tagelang waschen und kämmen sie sich nicht, die sonst sehr gepflegt waren. Männer rasieren sich nicht, vernachlässigen ihre Kleidung, verdreckt und stinkend kommen sie in die Sprechstunde.110

Besorgt registrierte der Arzt „das langsame Vertieren und Verrohen von sonst ordentlichen Menschen, die plötzlich nach Verlust bzw. Zerstörung von Hab und Gut zu Höhlenbe- wohnern geworden sind.“111 Die Berliner verhielten sich mithin zu Kriegsende kaum anders als es aus bürgerlicher Perspektive die proletarischen Bewohner der Kellerbehausungen zu Beginn des Jahrhunderts getan hatten, ganz als ob den Kellerbehausungen eine Art genius loci innewohnte, der auf ihre Bewohner ausstrahlte. In den Kellern erlebten diese nicht nur ihre Nachbarn bei den alltäglichsten Verrichtungen aus nächster Nähe, sondern auch in psychischen Ausnahmesituationen, insbesondere beim Erleben von Todesangst, wie sie Hillers infolge ihrer Ausbombung beschreibt: „Meine Finger zittern noch am Füller. Ich bin naß wie nach schwerer Arbeit. […] Es sind immer die gleichen Symptome. Zuerst Schweiß ums Haar, Bohren im Rückenmark, im Hals sticht es, der Gaumen dörrt aus, und das Herz klopft Synkopen.“112 Darüber hinaus wurden die Menschen gegen Kriegsende auch zu Zeugen von Ver- gewaltigungen oder erlebten diese aus nächster Nähe mit. Im Gemeinschaftskeller gab es keine Rückzugsmöglichkeit. So musste Hillers dem „Kellervolk“, von dem sie sich verraten fühlt, nach einer Vergewaltigung gleich wieder unter die Augen treten und bemerkt: „Ich mag nicht, mag die Kellerfratzen nicht mehr sehen, steige in den ersten Stock hinauf, zu- sammen mit der Witwe, die um mich herum ist wie um eine Kranke, leise spricht, mich streichelt, mich beobachtet, daß es mir schon lästig ist.“113 Die erzwungene Nähe ist aber auch dafür verantwortlich, dass außerordentlich offen über die Kriegsvergewaltigungen gesprochen wird und das Ereignis dadurch zu einem kollektiven wird. Auch in diesem Zusammenhang scheint zumindest vorübergehend eine Annäherung von bürgerlichen an proletarische Normvorstellungen stattzufinden.

109 Krug (1992, 389). 110 Vgl. Blank (2004, 410 f.). 111 Vgl. Blank (2004, 411). 112 Anonyma (2003 [20.4.1945], 18 f.). 113 Anonyma (2003 [27.4.1945], 64).

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In proletarischen Kreisen waren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts etwa Prostitu- tion und uneheliche Mutterschaft wenig skandalös, sondern eine unvermeidliche Begleit- erscheinung allgemeiner Armut. Diese Solidarität im Elend ist jedoch Hillers’ Verlobtem fremd, der nach seiner Rückkehr den unbefangenen Austausch über Vergewaltigungen aus seiner unverändert bürgerlichen Perspektive als Zeichen des moralischen und sozialen Ver- falls deutet: „‚Ihr seid schamlos wie die Hündinnen geworden, ihr alle miteinander hier im Haus. Merkt ihr das denn nicht?‘ Er verzog angewidert sein Gesicht: ‚Es ist entsetzlich, mit euch umzugehen. Alle Maßstäbe sind euch abhanden gekommen.‘“114 Eine vergleichbare Anpassung an proletarische Normvorstellungen, die im Nationalsozialismus fortexistierten, entwirft Wolfgang Graetz in Die Welt von unten (1966). Der autobiographische Roman schildert eine unangepasste und delinquente Kriegsjugend, in der die proletarische Schicht geradezu als heile Gegenwelt gegenüber dem gehobenen Bürgertum gezeichnet wird, dem der Protagonist entstammt und dessen moralische Begriffe unter dem Einfluss des Natio- nalsozialismus heillos korrumpiert sind.115 Zu Kriegsende ist die Berliner Bevölkerung hinsichtlich Besitz und Moral recht kollektiv „auf’n Hund jekommen“116. Der Versuch des Nationalsozialismus, die schon von Seiten des Marxismus als Sinnbild der Kehrseite des Kapitalismus apostrophierten Kellerbewohner gewaltsam auszutreiben, kann als gründlich gescheitert betrachtet werden. Zu Kriegsende sitzen weit mehr Menschen in den Kellern als 1933. Durch den luftkriegsbedingten Rückzug in die Keller und Bunker, der aufgrund des eklatanten Mangels an Wohnraum in Berlin wie andernorts noch lange über den Krieg hinaus anhielt, wurden vielmehr die Wohn- verhältnisse des Berliner Proletariats der Jahrhundertwende ab 1943 auch für eine breite Mittelschicht zum Teil schmerzlich erfahrbar. Mit Jung und Bachelard, die den Keller als Sitz des Unbewussten beschrieben haben, als jenen Raum, in dem die „Ängste der Nacht“117 herrschen, lässt sich die kriegsbedingte Kellererfahrung des Bürgertums als eine Wiederkehr des Verdrängten verstehen – als Wiederkehr der jahrzehntelang ignorierten desaströsen Wohn- und Lebensverhältnisse des Berliner Proletariats. Der dauerhafte Rückzug in den Keller als Resultat der großflächigen Zerstörung war nicht nur in praktischer Hinsicht herausfordernd. Das zerstörte Haus war zugleich ein sinnfälliges Symbol der Reversion auf verschiedenen Ebenen – der psychischen, sozialen und politischen. Literaturverzeichnis

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114 Anonyma (2003 [16.6.–22.6.1945], 280). 115 Vgl. v. a. die Figur des Lehrmädchens Gisela Sawitzky – Graetz (1966, 19–24). 116 Vgl. Anonyma (2003 [22.4.1945], 28). 117 Bachelard (1975, 52).

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Abstract Während des Luftkriegs sowie zum Ende des Zweiten Weltkriegs residierte die Berliner Bevölkerung zum Teil dauerhaft im Keller. Sie kehrte damit an jenen Ort zurück, der um 1900 einen Hauptschau- platz des großstädtischen Wohnungselends darstellte. Anhand von Kriegstagebüchern und Prosatexten untersucht der Aufsatz die Reorganisation der Vertikalen unter dem Eindruck des Luftkriegs, zumal innerhalb des Mietshauses. Die Zerstörung der Häuser und die Rückkehr der Bevölkerung in den Keller werden als sinnfällige Indikatoren einer psychologischen, sozialen und politischen Reverso verstanden. As a consequence of air raids, towards the end of World War II a substantial part of the Berlin population resided permanently in cellars. Berliners thus returned to the space that around 1900 constituted an important dwelling place for the urban poor. Based on war diaries and literary texts, this essay exami- nes the reorganization of the vertical under the impression of the air war, especially within apartment buildings. The large-scale destruction of urban housing and the return of the population to cellars are understood as revealing indicators of a psychological, social and political regression.

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Sabine Kalff: Zurück in den Keller. Das Berliner Mietshaus im Bombenkrieg | 111

Keywords: Margret Boveri, Marta Hillers, Luftkrieg, Mietshaus, Albert Südekum

Anschrift der Verfasserin: Dr. Sabine Kalff, Humboldt-Universität zu Berlin, Sprach- und literaturwissenschaftliche Fakultät, Institut für deutsche Literatur, D–10099 Berlin,

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) pen Zeitschrift für Germanistik | Neue Folge XXX (2020), Peter Lang, Bern | H. 1, S. 112–133

Stephan Pabst Ost-Moderne Halle-Neustadt? Über einen Beitrag der Architekturgeschichte zur Literaturgeschichte der DDR

I. Ost-Moderne und Literatur. Die Modernität der DDR und ihrer Literatur war lange um- stritten. Sie galt als „vormodern“1 oder als ‚verspätete‘2 Moderne, weil sie weder dem stark formalisierten Modernebegriff der funktionalen Differenzierung noch dem ethischen Mo- dernebegriff der Individualisierung oder dem ästhetischen der Repräsentationskritik ent- sprach, und ein großer Teil der modernen Literatur in der DDR selbst als ‚modernistisch‘ „verfemt“3 wurde. Für die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Moderne insgesamt spielt die Literatur der DDR keine Rolle.4 Wenn sie doch einmal der Moderne zugerechnet wurde, geschah das nicht selten in der Absicht, die Moderne zu diskreditieren – die DDR und ihre Literatur wurden dann als eine ihrer konsequentesten Ausprägungen und ihr Scheitern als Scheitern der Moderne begriffen.5 Dieser Weigerung, den Beitrag der DDR zu einer Geschichte der Moderne zu begreifen, ist der Begriff der ,Ost-Moderne‘ entgegengestellt worden, der vornehmlich in architektur- geschichtlichen Zusammenhängen Verbreitung fand.6 War seine Anwendung zunächst auf die Berliner Nachkriegsarchitektur7 und die Baugeschichte der Stalin- bzw. Karl-Marx-Allee beschränkt,8 wird er inzwischen auch auf andere Städte der DDR9 und allgemein auf den Umgang mit ihrem architektonischen Nachlass angewandt.10 Wolfgang Engler brachte eine ‚ostdeutsche Moderne‘ an architekturgeschichtlichen Beispielen ins Spiel.11 Gerd Dietrich platziert die DDR insgesamt „zwischen Tradition und Moderne“12.

1 Hüppauf (1991, 223). 2 Vgl. Emmerich (1988, 209). 3 Vgl. Erbe (1993). 4 Im großen DFG-Sammelband Konzepte der Moderne ist viel vom 19. Jahrhundert, aber nirgendwo von der Moderne im Sozialismus die Rede. Vgl. Graevenitz (1999). 5 Pabst (2016, 410–430). 6 Ganz vereinzelt wurde der Begriff auch in literaturwissenschaftlichen Zusammenhängen gebraucht, hat sich hier aber nicht durchgesetzt, vgl. Grimm (2000). Böttiger (2004, 85) spricht von einer „späte[n] Moderne des Ostens“. Die Zusammenhänge, in denen der Begriff hier gebraucht wird, verraten auch etwas über die Gründe, aus denen er sich nicht durchgesetzt hat. Als ‚Ost-Moderne‘ wurden sehr späte Phänomene der DDR-Literatur bezeichnet, denen Modernität nur in dem Maße zugestanden werden sollte, in dem sie zum Sozialismus auf Distanz gingen. Man hätte sie also auch als Anti-Ost-Moderne bezeichnen können. 7 Butter, Hartung (2004). 8 Vgl. Flierl (2008, 80–95). 9 „Zwischen Bauhaus-Tradition und DDR-Moderne“ verorten Thöner, Müller (2006) den Chefarchitekten Halle-Neustadts Richard Paulick. Vgl. auch die Ausstellung des stadtgeschichtlichen Museums Leipzig Plan! Leipzig. Architektur und Städtebau 1945–1976 (, zuletzt: 30.6.2019) sowie Gerberstraße 18 (2019). 10 Escherich (2012). 11 Engler (1999, 33–52, 53–74). 12 Dietrich (2018, Bd. 1, 438).

© 2020 Stephan Pabst - http://doi.org/10.3726/92165_112 - Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 Internationalen Lizenz Weitere Informationen: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Stephan Pabst: Über einen Beitrag der Architektur- zur Literaturgeschichte der DDR | 113

Tatsächlich war der Verdacht gegen die Moderne als formalistisch, dekadent oder funk- tionalistisch nicht über alle Diskurse gleichmäßig und kontinuierlich verteilt. Vor allem aber betraf er nicht alle Aspekte der Moderne in derselben Weise: Wenigstens architekturgeschicht- lich unterlag sie auch anderen Wertungen. Nachdem die anfänglich offene Haltung gegenüber der architektonischen Moderne zu Beginn der 1950er Jahre verworfen und zugunsten eines monumentalen Neoklassizismus zurückgenommen worden war,13 lockerten sich diese Vor- behalte Mitte der 50er Jahren wieder und wurden bis zum Ende des Jahrzehnts auch offiziell revidiert.14 Dieser Umschwung hatte nicht nur ideologische Gründe, er resultierte auch aus dem Mangel an Wohnraum,15 der eine Folge des Krieges und der Konzentration von Ar- beitskräften in bestimmten Industriezentren war: Es musste schnell viel gebaut werden. Dieser Notwendigkeit versuchte man seit Mitte der 1950er Jahre durch die Industrialisierung des Wohnungsbaus gerecht zu werden.16 Die Lockerung der Vorbehalte gegenüber der Moderne und die Industrialisierung des Bauens sind Teil ein und desselben Prozesses. Der Wiedereintritt einer funktionalistischen Moderne in die Architektur der DDR wird durch die Industriali- sierung des Bauens einerseits möglich, ja es sieht so aus, als käme sie durch die Möglichkeiten industriellen Bauens zu sich selbst. Das ist andererseits die konkrete ökonomische, technische und planerische Beschränkung, der sie unterliegt. Der Versuch, den architekturhistorischen Begriff der,Ost-Moderne‘ auf die Literatur- geschichte zu übertragen, ist mit einigen Schwierigkeiten behaftet. Häufig war der Begriff der ,Moderne‘ hier mit negativen Wertungen verbunden,17 und die Ikonen der westlichen literarischen Moderne – Rimbaud, Proust oder Kafka – wurden in der DDR lange Zeit beargwöhnt und konnten erst erscheinen, als ihnen Modernität nur noch in einem histori- schen Sinne zukam. Vor allem aber wurden selbst die sozialistischen Avantgarden der 1920er Jahre lange Zeit vernachlässigt und erst in den 1970er Jahren langsam wiederentdeckt.18 Gleichwohl hat der Begriff der ,Ost-Moderne‘ auch für die Literaturgeschichte der DDR einen zumindest heuristischen Wert, weil er – jenseits der diskursiven Ächtung der Moderne – die Beschreibung einer genuin sozialistischen Vorstellung von Moderne ermöglicht. Be- sonders deutlich zeigt sich das an Halle-Neustadt, der größten sozialistischen Stadtgründung in der DDR,19 und an der Literatur, deren Gegenstand sie war. Die Bedeutung der Stadt bestand nicht allein in ihrem enormen Versorgungsauftrag – bis 1985 sollten 88.500 Menschen in Halle-Neustadt wohnen20 –, sondern auch im Konzept einer sozialistischen Moderne, das sie verkörpern sollte. Das galt erstens in einem sozialen Sinne: So sollten das Verhältnis von individuellem und öffentlichem Raum funktional neu organisiert, die Rolle der Frau neu definiert und die

13 Vgl. überblicksartig Dietrich (2018, Bd. 1, 438–447). 14 Vgl. Dietrich (2018, Bd. 2, 1067). 15 Dietrich (2018, Bd. 2, 873). 16 Palutzki (2000, 113–148). 17 Erbe (1993, 55–88). 18 Vgl. Barck, Schlenstedt, Thierse (1979). 19 Palutzki (2000, 280). 20 Palutzki (2000, 204).

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Wohnverhältnisse egalisiert werden.21 Das galt zweitens in einem technischen Sinne: Denn die Industrialisierung des Wohnungsbaus wurde mit der „Chemiearbeiterstadt“ quantitativ und qualitativ auf ein neues Niveau gehoben. Sie versorgte nicht nur eine der Kernindustrien des neuen Staates. Ihr Aufbau wurde auch durch eine Reihe technischer Innovationen wie die riesigen Kranstraßen und die sogenannten HP-Schalen (hyperbolische Paraboloidschalen) möglich, mit denen große Dachflächen in kurzer Zeit gedeckt werden konnten. Das galt drittens in einem planerischen Sinne: Mit der Zentralisierung der Planungsinstanzen und dem Entwurf eines „Generalbebauungsplans“22 wurde man nicht nur einer pragmatischen Notwendigkeit gerecht; vielmehr wurde eine spezifisch moderne Verherrlichung des Plans eingelöst und als neue städtebauliche Qualität gepriesen.23 Das galt viertens in einem ästheti­ schen Sinne: zunächst deshalb, weil die Funktion die Form hier radikal im Griff hatte, dann aber auch im Sinne einer ästhetischen Programmatik, die von der Kunst im öffentlichen Raum vorgetragen wurde. Anspruch auf Modernität erheben vor allem die Wandbilder von José Renau – mit ihrer Verbindung von Gegenständlichkeit und Abstraktion sowie ihrer utopischen Perspektive einer technisch optimierten Menschheit, die sie aus der Organisation der Masse als politische Einheit in der Arbeiterklasse und der Partei hervorgehen lassen (vgl. Abb. 1). Und das galt schließlich fünftens für die Herkunft und das Selbstbewusstsein der verantwortlichen Architekten: Mit dem ehemaligen Bauhäusler Richard Paulick wurde ein „Architekt[] der Moderne“24 zum Chefarchitekten berufen, von dem man freilich auch wusste, dass er mit den ökonomischen und ästhetischen Beschränkungen des industriellen Wohnungsbaus umzugehen vermochte.25 Die Architekten um Paulick nennen immer wie- der Le Corbusier, wenn es um architekturgeschichtliche Vorbilder geht.26 Ein Projekt der Moderne ist Halle-Neustadt nicht, weil dieser oder jener Aspekt von Modernität zuträfe, sondern weil sich diese Aspekte miteinander verschränkten und man davon ausgeht, dass sie nur in diesem Zusammenhang verwirklicht werden können. Es handelt sich um eine integrale Moderne.

21 Das sind Grundsätze des Bauens, wie sie Paulick selbst formuliert hat. Vgl. dazu Reich (2006, 133). Zum Gleichheitsanspruch vgl. Pasternack u. a. (2014, 62–65). 22 Zur zentralen Bedeutung dieser Planungsstruktur vgl. Schlesier (1967, 590). 23 Vgl. Gossing (1967, 198). 24 Dieser Moderne rechnete ihn sein Biograph Manfred Müller zu, der zunächst als Redakteur der Betriebszeitung taktstraße, später als eine Art Pressereferent Paulicks sehr gut mit der Geschichte Halle-Neustadts vertraut war (Müller [1975, 57]). Paulick hatte nicht in Weimar, sondern in Dresden und Berlin studiert, kam aber in den 1920er Jahren in Dessau mit den Architekten des Bauhauses in Berührung und wurde 1927 Mitarbeiter in Gropius’ Dessauer Baubüro (vgl. Thöner [2006, 29]). In der DDR wird er ganz ausdrücklich in die Bauhaus- tradition gestellt. Jan Koplowitz stellt einen geradezu zwingenden Zusammenhang zwischen Paulicks Bauhaus- Vergangenheit und seiner Bautätigkeit in der DDR her (vgl. Koplowitz [1969, 317]). 1975 erscheint in der DDR eine Biographie Paulicks, in der seine Werkgeschichte ausgehend von der architektonischen Initiation durch das Bauhaus teleologisch entfaltet wird. Dabei wird hervorgehoben, dass die frühen Bauhaus-Projekte mit der Zustimmung kommunistischer und sozialdemokratischer Politiker realisiert wurden (vgl. Müller [1975, 57, 67]), und die Typenbauweise der 1960er Jahre wird als Vollendung von Paulicks architektonischen Intentionen der 1920er Jahre beschrieben (vgl. Müller [1975, 121 f.]). 25 So werden die vier Jahre, die Paulick am Aufbau Schwedts beteiligt war, jedenfalls architekturgeschichtlich beurteilt, vgl. Springer (2006). 26 Bräunig u. a. (1969, 229). Karlheinz Schlesier, der Nachfolger Paulicks als Chefarchitekt, beruft sich im Rückblick auf Le Corbusier, vgl. Schlesier (2006, 161). Ähnlich der stellvertretende Chefarchitekt Joachim Bach (1993, 24).

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Abb. 1: Wandgestaltung José Renau am Bildungszentrum Halle-Neustadts.

Abb. 3: Der Tulpenbrunnen im dritten Wohnkomplex.

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Die literaturgeschichtliche Bedeutung Halle-Neustadts ist überschaubar, wenn man sie an der Kanonizität der Autoren misst, die an ihr mitschrieben. Außer Werner Bräunig und Rainer Kirsch sind kaum Namen im Gedächtnis der Literaturgeschichtsschreibung hängen geblieben. Interessant sind diese literarischen Texte vor allem deshalb, weil sie die Stadt von ihrer Entstehung bis zu ihrer großen Transformation nach dem Ende der DDR begleiten: Begonnen mit einer Betriebszeitung – die taktstraße –, aus der Jan Koplowitz’ gleichnamige Reportage hervorgeht, führt die Text- und Filmgeschichte der Stadt über eine Kollektivreportage, an der neben Koplowitz Werner Bräunig, Peter Gosse und Hans- Jürgen Steinmann mitarbeiten, die Erzählungen von Bräunig, die Romane von Steinmann, Koplowitz und Alfred Wellm, die Dramen von Kirsch und Alfred Matusche bis hin zu den Dokumentarfilmen von Thomas Heise, die Anfang der 1990er Jahre die Transformation der Stadt zeigen. An drei dieser Texte will ich zeigen, wie sie die Frage der Moderne im Städtebau in einem integralen Sinne als gesellschaftliche, technische und ästhetische Mo- derne verhandeln und dabei zugleich – mehr oder weniger explizit – Aussagen über eine spezifische ‚Ost-Moderne‘ der Literatur treffen. Dabei schreite ich den Text-Parcours noch einmal ab, den zuletzt Michael Ostheimer in seiner Studie über die Chronotopographie des Leselands DDR einer genauen Lektüre unterzogen hat,27 und versuche, den Blick über die zeitlogische Betrachtung der Halle-Neustadt-Literatur hinaus zugunsten ihrer Positio- nierung in der Epochenformation der Moderne etwas zu weiten.

II. Moderne Architektur als Entwurf der modernen Gesellschaft: Die Kollektivreportage „Städte machen Leute“. Die Literaturgeschichte der Stadt beginnt mit der Eintracht städtebaulicher, politischer und literarischer Modernevorstellungen. Städte machen Leute, eine Kollektivreportage, die Koplowitz, Gosse, Bräunig und Steinmann 1969 im Mittel- deutschen Verlag herausbringen, konstatiert zwar hier und da Mängel der Planung, der Motivation oder der Beteiligung. Die Reportage lässt aber keinen Zweifel daran, dass Halle-Neustadt Ausdruck einer Zukunft sei, die nicht nur in absehbarer Zeit eintreten werde, sondern deren Modernität auf Dauer gestellt werden könnte, weil die permanen- te Interaktion zwischen der Stadt und ihren Einwohnern verhindert, dass die Stadt in ihrer architektonischen Gestalt erstarrt. Sie soll ein dynamischer sozialer Zusammenhang bleiben: „Leute machen Städte, Städte machen Leute!“28 Diese Korrelation zwischen der städtebaulichen Prägung des Sozialen und der sozialen Prägung des Städtebaus macht für die Autoren den Kern des sozialistischen Projekts der Moderne aus, im Gegensatz zur Moderne der Bundesrepublik, die sich auf technische Aspekte beschränke. Immer noch halte man dort z. B. an der alten Hierarchie der Wohnverhältnisse fest (vgl. SmL 238). Eine soziale Moderne schließe aber die anderen Aspekte der Moderne ein. Viel Raum wird der technischen Innovation der HP-Schale und ihrem Konstrukteur Herbert Müller eingeräumt (SmL 24, 184 ff.), auch von den dem Band beigegebenen Fotografien Gerald Großes, die aus diesem Motiv bildästhetisch das größtmögliche Formalisierungskapital schlagen (vgl. Abb. 2). Kontrovers wird die ästhetische Moderne diskutiert. Hier läuft die

27 Ostheimer (2018, 116–152). 28 Die Reportage Städte machen Leute wird fortan im Text zitiert: SmL 18.

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Stephan Pabst: Über einen Beitrag der Architektur- zur Literaturgeschichte der DDR | 117 alte Formalismus-Debatte noch mit und ein gewisses, ästhetisches Misstrauen gegenüber der modernen Architektur. An die bloße ‚Schönheit der Zweckmäßigkeit, Schönheit als Zweck‘ glaubt man eben doch nicht und meint in Bezug auf die sozialistische Intention konkreter werden zu müssen. Der Begriff der „Menschengestaltung“ (SmL 96), den die Autoren hier ins Spiel bringen, verlässt sich nicht einfach darauf, dass Menschen durch die räumlich und funktional neue Organisation ‚gestaltet‘ werden. In welchem Sinne das geschehen soll, werde durch die bloßen Baukörper nicht hinreichend klar oder könnte durch ihre Abstraktheit und Monotonie sogar auf die falsche Weise verwirklicht werden. Vielmehr soll das „elementar-ästhetische Ensemble“ durch die Darstellung des Menschen „ideologiegeschwängert“ (SmL 89) werden, wie Peter Gosse schreibt – „[g]egenständlich, selbstverständlich“ (SmL 92), wie der Chefarchitekt Paulick ergänzt. Kunst soll den Stadt- raum sozialistisch semantisieren.29

Abb. 2: Montage der HP-Schalen.

Allerdings würde man die Frage nach der Moderne verkürzen, wenn man sie mit dem Votum für Gegenständlichkeit bereits für entschieden hielte. Auch für die ästhetische Moderne im Städtebau gilt, dass sie sich nicht allein in einem bestimmten Stil verwirklicht, sondern im Anteil, den die Kunst an der Gestaltung der Stadt nimmt und nehmen kann. Das ist der eigentliche Dissens zwischen Paulick, der der Kunst bei der Planung wenig Platz einräumt, und Willi Sitte, der Teil des Planungskollektivs für das Kulturzentrum war, und der genau das beklagt: „Der Künstler darf im Grunde nicht handeln, sondern er wird gehandelt“ (SmL 92). Mit dem damals noch in Planung befindlichen Kulturzentrum sollte sich das ändern – erstmals wurde hier

ein praktischer Versuch unternommen, bereits im ersten Entwurfsstadium […] Städtebauer, Architekten, bildende Künstler und Spezialisten zusammenzuführen und gemeinsam mit dem Auftraggeber und den späteren Nutzern […] eine […] Konzeption zu entwickeln.30

29 Zur Semantisierung des Stadtraums durch Kunst in der DDR vgl. Guth (1995, 254). 30 Schlesier (1972, 148).

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Aus der Perspektive der Architekten, der Künstler und der Autoren hängt die Moder- nität der städtischen Kunst nicht von ihrer Gegenständlichkeit oder ihrer Abstraktheit ab, sondern von ihrer Beteiligung. Dass das Kulturzentrum nie gebaut werden sollte, konnten sie da noch nicht wissen. Das Einverständnis der Literatur mit der städtebaulichen Modernevorstellung zeigt sich auch an der Reportageform selbst, die wie die bildende Kunst Anspruch auf Beteiligung er- hebt. Nicht ästhetische Gestaltungsverfahren sind für diese Modernität zentral, sondern in erster Linie die Autorschaft als soziales Verfahren. Gerade das macht ja das Besondere dieser Reportage aus, der „erste[n] literarische[n] Kollektivarbeit unserer jüngeren Literatur“, wie das Verlagsgutachten vermerkt.31 Während für einen großen Teil der in der DDR geschriebenen Literatur – selbst jener, die sich explizit als sozialistisch versteht – die Frage gestellt werden könnte, ob es sich in einem produktionsästhetischen Sinn wirklich um sozialistische Literatur handelt, macht Städte machen Leute in dieser Hinsicht ernst mit der Idee des Sozialismus. Die vier Autoren begreifen sich als Teil des Prozesses und der Kollektive, die sie beschreiben, so wie sie sich selbst zum Arbeitskollektiv zusammenschließen. Der Text vollzieht Kollektivierung geradezu performativ: Während man anfangs noch gut erkennt, wann welcher Autor spricht, ist das im weiteren Verlauf des Textes immer seltener möglich. Die Stimmen der Reporter gehen zunehmend in einem indifferenten ‚Wir‘ auf. Ihr Text unterläuft ästhetische Autonomie- vorstellungen und versucht, Anteil am Aufbauprozess zu nehmen und auch den „Kollege[n] Leser“ (SmL 92) als aktives Moment in diesen Prozess einzubeziehen. „Der Schriftsteller“ begreift sich ebenso wie den Leser „als Produktivkraft!“ (SmL 109)32 Diese buchstäbliche Produktionsästhetik erinnert stark an die faktographische Repor- tage-Literatur, die in der Sowjetunion der 1920er Jahre vor allem von Sergej Tretjakow geprägt worden war. Tretjakow hatte Ende der 1920er mehrere Monate in einer Kolchose verbracht, an deren Arbeit er als Zeitungsredakteur und in einer Reihe anderer Funktionen teilnahm. Die daraus hervorgegangenen Texte erschienen 1931 in Deutschland unter dem Titel Feld-Herren und sorgten im Zusammenhang mit einer Reihe von Vorträgen, die Tret- jakow im selben Jahr in Deutschland hielt, für einiges Aufsehen, sowohl bei bürgerlichen als auch bei linken Intellektuellen.33 Die Aufregung galt wesentlich seinem Konzept des ‚operativen Schriftstellers‘, das er in den Vorträgen entwickelte und in Feld-Herren reali- sierte. Mit diesem Konzept grenzte sich Tretjakow literarisch von der Autonomieästhetik und journalistisch von der bloßen Informationsfunktion ab:

Unter dem operativen Charakter meiner Arbeiten verstehe ich ihre unmittelbare praktische Wirk- samkeit. Ein Beispiel hierfür ist meine Tätigkeit in den Kollektivwirtschaften. 1928 kam ich als Zuschauer hin. Bald wurde mir klar, daß ich nichts verstehen werde, wenn ich nicht längere Zeit dort bliebe. Ich blieb lange. Bald darauf wurde mir etwas anderes klar: Mein Bericht würde oberflächlich sein, wenn ich mich nicht in das Leben und die Kollektivwirtschaften einreihte.34

31 Verlagsgutachten Städte machen Leute, Bundesarchiv Berlin DR 1/2171a, B. 576. 32 Vgl. auch Koplowitz (1969, 64). 33 Vgl. dazu Uecker (2007, 171–179) und Pabst (2019). 34 Tretjakow (1972, 21). Zur Gesamtdarstellung der poetologischen Position und Entwicklung Tretjakows vgl. Mierau (1972).

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1937 wurde Tretjakow in einem der stalinistischen Schauprozesse aufgrund absurder Vorwürfe zum Tode verurteilt. Nach seiner Hinrichtung wurde es still um ihn und die operative Literatur. Sie wurden buchstäblich von ihren linken Kritikern überlebt, vornehm- lich Georg Lukács und Johannes R. Becher, die der Reportageliteratur schon in den frühen 30er Jahren den parteilichen Segen entzogen hatten. In der DDR fiel die Erinnerung an Tretjakow lange Zeit dem öffentlichen Schweigen über den Stalinismus zum Opfer.35 Dass Jan Koplowitz, der als ältester der vier Autoren mit diesen Ursprüngen einer so- zialistischen Faktographie noch vertraut gewesen sein dürfte, immer wieder von „[s]einem Lehrer“36 Egon Erwin Kisch spricht, obwohl die Kollektivreportage wenigstens hinsicht- lich der kollektiven Autorschaft, der Transparenz des Beobachtungsverhältnisses und der Montagepoetik keine Ähnlichkeiten mit den Reportagen Kischs aufweist, scheint der Camouflage dieser poetologischen Herkunft zu dienen. Allein der Begriff ‚Operativität‘ der Literatur ist für Eingeweihte als Hinweis auf Tretjakow lesbar.37 Allerdings zeigen sich in der Reportage auch die Grenzen dieser spezifisch sozialisti- schen literarischen Moderne. Dass deren eigentliche Urheber nicht erwähnt werden dürfen oder einfach vergessen wurden, ist dabei noch das kleinste Problem. Wesentlicher ist, dass das Engagement der Autoren ins Leere läuft. Es beschränkt sich auf Bücherbasare (vgl. SmL 107) und auf einen Aufruf an die Bewohner, sich an der Bepflanzung der Stadt mit Sonnenblumen zu beteiligen (vgl. SmL 58). Unfreiwillig annoncieren die vier Autoren damit die ‚Marginalität des Spielraums‘,38 mit dem sie sich ebenso wie die Bewohner der Stadt und die bildenden Künstler begnügen müssen. Und noch mit diesen geringen Ge- staltungsansprüchen scheitern sie. Sie handeln sich eine Rüge der Begrünungsplaner ein, die lieber selbst entscheiden, was wo gepflanzt wird, und sich darüber mokieren, dass die Sonnenblumen nur einen sehr kurzfristigen Beschönigungseffekt haben, weil sie nach ihrer Blüte die Stadt eher verunstalteten. Die Emphase des Engagements steht in einem gera- dezu lächerlichen Missverhältnis zu den Beteiligungsmöglichkeiten der Autoren. Was in ihrem Text als produktive Kritik erscheint, ist ein Repetitorium längst bekannter Mängel, die Paulick, Sitte oder den diversen Bauleitern ohnehin bewusst waren. Die Reportage kritisiert also strenggenommen nicht, sondern führt den Nachweis, dass Kritik als Selbst- kritik schon Teil des Bauvorgangs ist. Sie produziert eher den Schein einer Produktivkraft Kritik. Daraus resultiert auch die merkwürdige Wirkung des Textes, der seinem Gestus nach aktionistisch ist, mit seiner inszenierten Mündlichkeit und seinen Ellipsen rasant zu wirken versucht und doch stagniert. Das Konzept der Beteiligung wird aber auch dadurch korrumpiert, dass eine ganz andere Motivation der Bürgerbeteiligung verdeckt bleibt. Denn die Bürger kompensie- ren mit ihrem Engagement einen ökonomischen, ästhetischen und sozialen Mangel. Die

35 Obwohl viele prägende Intellektuelle der frühen DDR wie Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, John Heartfield oder Alfred Kurella mit Tretjakow persönlich oder als Übersetzer vertraut waren, dauerte es bis in die 1970er Jahre, bis eine öffentliche Auseinandersetzung mit seiner Poetik wieder möglich war. 36 Koplowitz (1972, 7). 37 Zum Begriff ,operatives Genre‘ vgl. Koplowitz (1969, 240) und ders. (1973). Der Begriff wird auch offiziell diskutiert. Vgl N. W. (1967). 38 Ostheimer (2018, 126).

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„Masseninitiativen“ und „Feierabendbrigaden“ (SmL 55) sind nicht nur der Vorschein des kommenden Menschen, der die Gestaltung der Gesellschaft als sein ureigenstes Anliegen begreift und zwischen beidem keinen Unterschied mehr macht, sondern markieren die Notwendigkeit einer Beteiligung qua ökonomischem, sozialem und politischem Druck. Die scheinbar kritische Auseinandersetzung mit einer ungenügenden Einbindung der Bürger reproduziert die Idee der Beteiligung der Einwohner, die in der Planungsgeschichte der Stadt tatsächlich eine Rolle gespielt hatte, die aber 1969 längst obsolet und weniger strukturellen Widersprüchen zwischen Plan und Initiative, sondern bloßer Bürokratie und Kompensation zum Opfer gefallen war.39 Ein drittes Problem schließlich macht das Konzept der operativen Reportage fragwürdig. Ein wesentlicher Wirkungsaspekt der Operationalität ist Beobachtung. Indem der opera- tive Autor einen Vorgang beobachtet und diese Beobachtung öffentlich macht, greift er in diesen beobachteten Vorgang ein. So hatte Tretjakow unter dem Titel Arbeiter richten über Arbeiter in der Betriebszeitung zum Prozess gegen den „Faulenzer Badulin“40 aufgerufen und als positives Beispiel einen Arbeiter einer sogenannten Stoßbrigade erwähnt, der die Arbeitsversäumnisse seines eigenen Vaters öffentlich gemacht hatte41 – die Observanz des operativen Genres kann also die Grenze zur Denunziation überschreiten. Das ist auch im Fall der Reportage Städte machen Leute und dort vor allem in den von Jan Koplowitz ver- fassten Passagen so. Der Bauleiter Rainer Höll und der Arbeiter Armin Bergmann werden in der Reportage angegriffen, weil private Verfehlungen Auswirkungen auf ihre Arbeits- leistung hätten. Es fällt nicht schwer sich vorzustellen, dass die Arbeiter eine solche – vermutlich folgen- reiche – Beobachtung ablehnten. Koplowitz konstruiert deshalb ein Subjekt der Beobach- tung, das sich der Beobachtung freiwillig unterwirft und seine Privatsphäre gewissermaßen als bürgerlichen Rest der Geschichte hinter sich lässt, da diese Art der Indiskretion nur zu ihrem Besten ist. So erkennt der Bauleiter Manfred Schmitt, dem Koplowitz in seiner Reportage die taktstraße einen längeren Abschnitt einräumt,

was man mit einer Betriebszeitung beginnen kann und wie er seine eigenen Schwierigkeiten, für deren Überwindung er die Hilfe anderer braucht, in seiner Zeitung darlegen kann. […] Er weiß, daß ihm die Zeitung bereits geholfen hat, und deshalb läßt er sich ‚verhören‘.42

Hier findet sich gewissermaßen eine Sollbruchstelle des Genres unter den systemischen Bedingungen des Sozialismus. Denn die operative Beobachtung lässt sich nun von bloßer Denunziation kaum noch unterscheiden. Dass Jan Koplowitz zur Zeit der Entstehung der

39 Anscheinend ist das Konzept der Beteiligung von Anfang an nur mäßig wahrgenommen worden. In einem Interview verweist Bernard Koenen, 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung, auf 10.000 Flugblätter, in denen die Bürger um Vorschläge zur Stadtgestaltung aufgefordert worden waren, auf die indes nur 400 Antworten ein- gegangen seien. Vgl. Koenen (1962, 136). 40 Tretjakow (1972, 256). 41 Tretjakow (1972, 254). 42 Koplowitz (1969, 140).

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Reportage als GMS „Jan“ für die Staatssicherheit tätig war43 und eine der Kernvokabeln der sicherheitsdienstlichen Arbeit – der „operative Vorgang“44 – begrifflich an das operative Genre erinnert, scheint da mehr als ein Zufall zu sein. Der Übergang mithin „vom faktual zentrierten zum fiktiv orientierten Schreiben“, den Ostheimer in der Literaturgeschichte der „Neubaustadt“45 konstatiert, resultiert daraus, dass nicht nur die sozialistischen Vorstellungen von einer modernen Stadt durch den Mangel an Beteiligung in Frage gestellt werden, sondern auch das Konzept der operativen Reportage zweifelhaft wird, das seinerseits von solchen Beteiligungsmöglichkeiten abhängt.

III. Kultur als Kompensation der Moderne: Hans-Jürgen Steinmanns Roman „Zwei Schritte vor dem Glück“. Die Tatsache, dass nach den Reportagen vor allem Romane über Halle- Neustadt geschrieben werden, kann als Widerruf des Konzepts der operativen Reportage gelesen werden. Denn so eng sich auch Jan Koplowitz in seinem Roman Sumpfhühner von 1977 an seine Reportage anzulehnen versucht, handelt es sich doch um eine Fiktion, die zehn Jahre nach den Prozessen entsteht, die sie beschreibt. Schon deshalb hat Koplowitz strukturell nicht mehr die Möglichkeit zu intervenieren, zumal ihn die Redaktion der Be- triebszeitung inzwischen längst vor die Tür gesetzt hatte.46 Der Roman glättet vielmehr eine Reihe von Widersprüchen, an denen die Reportage scheiterte. So entwirft er etwa jenen idealen gesellschaftlichen Beobachtungszusammenhang, den die Reportage nur be- haupten konnte. Auch Hans-Jürgen Steinmanns etwa zeitgleich entstehender Roman Zwei Schritte vor dem Glück hat sich von den operativen Hoffnungen der Reportage verabschiedet. Er ist knapp zehn Jahre nach der Reportage Städte machen Leute entstanden und erzählt schon eine andere Phase aus der Geschichte der Stadt. Während Halle-Neustadt noch weiter gebaut wird, sind die ersten Bewohner eingezogen, und es geht nun um die Frage, wie sie sich die Stadt zu eigen machen in einer Situation, in der die von Anfang an bestehende Befürchtung der Monotonie, Anonymität, Geschichtslosigkeit47 und des Mangels an Natur längst Wirklichkeit geworden ist und kaum noch Aussicht besteht, sie architekto- nisch zu bewältigen. Die beiden Protagonisten repräsentieren diese beiden Phasen: Der Bürgermeister Heinz Matthey, dem es um den Plan, um Effizienz und das große Ganze geht, repräsentiert als ‚harter Hund‘ die Aufbauphase, während sich der jüngere Stadtrat für Kultur mit dem sprechenden Namen Werner Urban eher um das soziale Auskommen einzelner Individuen sorgt. Der Konflikt zwischen diesen beiden Charakteren ist also auch als Konflikt der beiden Phasen und der Bewusstseinsformen zu lesen, die sie hervorgebracht haben. Der heroische Selbstverzicht Mattheys, dessen Härte gegen sich selbst und gegen andere in die Ver- nachlässigung des Privaten mündet, entspricht der Aufbauphase, die Rücksicht Urbans auf

43 Vgl. Walter (1999, 722–727). 44 Lucht (2015, 164). 45 Ostheimer (2018, 132). 46 Koplowitz (1969, 222). 47 Ostheimer (2018, 136–140) liest den Roman v. a. als Kompensation der fehlenden Geschichte der Stadt.

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 122 | Stephan Pabst: Über einen Beitrag der Architektur- zur Literaturgeschichte der DDR privates Glück der Situation des Ankommens. Da sich Aufbau und Ankommen gleich- zeitig vollziehen, werden beide Positionen durch die Situation gerechtfertigt, aus der sie hervorgingen. Allerdings ist klar, dass Mattheys Haltung mittelfristig veralten und in der neuen Stadt dysfunktional werden wird. Die Anpassung der Stadt an die Bedürfnisse ihrer Bewohner wird dem Stadtrat für Kultur obliegen. Darin steckt auch die Rücknahme einer zentralen Annahme der gesellschaftlichen Erneuerung, wie sie die Reportage noch vertrat: Der Verzicht auf das zehn Jahre zuvor noch unter Generalverdacht stehende „Privatglück“ (SmL 35) lässt sich nicht verstetigen. Auch in Zwei Schritte vor dem Glück spielt Beteiligung eine zentrale Rolle, wenngleich nicht mehr auf einer auktorialen Ebene. Der Roman beschreibt die Konstitution von Ge- meinschaften – bei der gemeinsamen Suche nach einem Kind, bei der Bepflanzung eines Beetes oder bei Diskussionen über die Gestaltung des öffentlichen Raums. Anders aber als in der Kollektivreportage hat diese Beteiligung ihren utopischen Zug verloren und sie fällt aus der integralen Moderne heraus: Die Kooperation und die Initiative der Bewohner sind bei Steinmann nicht mehr die soziale Utopie, die von der Architektur präfiguriert wird. Vielmehr handelt es sich hier um die Notwendigkeit einer Korrektur der städtebaulichen Situation. Denn zwar mag manches, was im Roman angesprochen wird – vom Baulärm bis zum Schlamm oder fehlenden Kindergartenplätzen –, temporärer Natur sein. Aber Steinmanns Text spekuliert nicht mehr auf Modernität im Sinne eines stetigen Erneue- rungsprozesses, sondern schon eher auf einen zeitnahen Abschluss des Aufbauprozesses. Da geht es nicht um neue soziale Konzepte, sondern einfach um bewohnbare Wohnungen und ganz konventionelle soziale Formen. Der Roman ist eben auch ein Eheroman, die Bekanntschaft der Bewohner untereinander reproduziert Konzepte der Vertrautheit, wie sie die Bewohner aus den Dörfern und Kleinstädten ihrer Herkunft mitbringen, und die Bepflanzung soll schlicht den Mangel an Natur kompensieren. Die Verschiebung lässt sich daran beobachten, wie die Begrünungsinitiative aus der Reportage im Roman aufgegriffen wird. Diesmal ist es die Altkommunistin Erna Simon, die sich mit dem Kind Rainer Kolessa zusammenschließt und die Stadt mit der Anpflan- zung von „Stiefmütterchen“ verschönern will. Wieder ist es die städtische Verwaltung, die daran Anstoß nimmt, die Blumen ausreißt, um an ihrer Stelle „Ziersträucher“ (ZS 258) zu pflanzen, deren botanische Anonymität der städtebaulich provozierten Anonymität der Be- wohner fatal ähnelt. Dieser Eingriff der Verwaltung aber mobilisiert die Hausgemeinschaft als Kollektiv, sozusagen als miniaturisierte Bürgerbewegung. Im Sinne der Sozialisierung der Hausgemeinschaft ist das Projekt durchaus erfolgreich, auch wenn es an der Frage der tatsächlichen Begrünung scheitert. Blumen bekommt die Stadt trotzdem: Im Roman wird der 1978 erbaute Tulpenbrunnen (vgl. Abb. 3) zum Anlass einer Diskussion über das ästhetische Programm der Stadt. Ein erster Entwurf dieses Brunnens besteht aus „Quader[n], Würfel[n], Oktaeder[n]“48 (ZS 125), weil das am besten zur Architektur der Stadt passe: „Der Zweck dominiert“ (ZS 126). Gleißner, der dafür zuständige Künstler, versteht das als Kritik an der „Eintönigkeit“ (ebd.) der Architektur und am Zentralismus ihrer Planung, aus der die Bedürfnisse der Bewohner vollkommen ausgeschlossen seien. Dieser Entwurf wird

48 Der Roman Zwei Schritte vor dem Glück wird fortan im Text zitiert: ZS, 190.

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Stephan Pabst: Über einen Beitrag der Architektur- zur Literaturgeschichte der DDR | 123 indes von Urban, Matthey, den Bewohnern und letztlich dem Künstler selbst zugunsten eines alternativen Entwurfs abgelehnt: abstrahierte Tulpen. Eine Lösung stellt das auf unter- schiedlichen Ebenen dar. Erstens wird durch die Diskussion die Intention der Beteiligung der städtischen Funktionsträger, der Künstler und der Bewohner eingelöst. Zweitens wird ein formsprachlicher Kompromiss zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit gefunden. Und drittens wird Erna Simons Wunsch nach Blumen doch noch berücksichtigt, wenn- gleich in der denaturierten Gestalt der steinernen Blumen. Das heißt aber auch, dass der Zusammenhang zwischen ästhetischer, gesellschaftlicher und architektonischer Moderne hier auseinandergefallen ist. Indem sie die Entscheidung für den Tulpenentwurf gemein- schaftlich fällt, spricht sich die Gemeinschaft auch gegen die Architektur ihrer Stadt aus: Das Ideal der sozialistischen Gemeinschaft verwirklicht sich nicht im Einklang mit der Architektur, sondern im Einspruch gegen sie. Die Form des Textes ist auf eine widersprüchliche Weise Teil dieses Einspruchs, denn die Abkehr der städtischen Gemeinschaft von einer abstrakten Formsprache der Moderne geht mit einer Abkehr des realistischen, psychologischen Romans von der operativen, fakto- graphischen Reportage einher. Der pathetische Schlusssatz, Ausdruck der Subjektivierung und Emanzipation der weiblichen Hauptfigur, die ihn denkt, artikuliert doch auch den Zweifel, dem der Roman entspringt: „Hoffentlich verirren wir uns nicht.“ (ZS 378) Konkret wird hier auf die Gleichförmigkeit der Häuserblöcke angespielt, doch dieser Satz ist – da- raus resultiert sein Pathos – auch als Aussage über den Zustand der Gesellschaft zu lesen. Wenn sich die sozialistische Gemeinschaft in ihr nicht verirren soll, muss die Architektur humanisiert werden. Indem sich der Roman zum Agenten dieser Humanisierung macht, teilt er ihren Einwand gegen die städtebauliche Moderne.

IV. Ost-Postmoderne? Alfred Wellms Roman „Morisco“. Alfred Wellms Roman Morisco (1987) nimmt die gesamte Diskussion über Städtebau und Moderne mit einer anti-moder- nistischen Pointe noch einmal auf. Ob er damit ausdrücklich auf die anderen Halle-Neu- stadt-Texte reagiert, ist ungewiss. Letztlich interessiert Halle-Neustadt in Morisco nicht als konkreter, sondern als symbolischer Ort. Entsprechend ist die Stadt zwar erkennbar, wird aber nicht beim Namen genannt. Der Roman erzählt den sozialen Auf- und Abstieg des Arbeiterkindes Andreas Lenk, der nach seinem Architektur-Studium als Bauleiter auf die Großbaustelle einer neuen Stadt geht, dort schnell aufsteigt, schließlich sogar die Möglichkeit hat, zum Chefarchitekten zu werden, dieses Angebot jedoch ausschlägt. Nach seiner beruflichen Demission und der Scheidung seiner Ehe mit der bürgerlichen Anna zieht er sich auf ein Renaissanceschloss zurück, mit dessen Restauration er fortan beschäftigt ist. Nachdem im Schloss ein Feuer ausgebrochen und Lenk aufgrund eines ausgesprochen zweifelhaften Geständnisses zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wird, endet der Roman kurz nach seiner Freilassung. Wellm verschränkt die berufliche und die private Desillusionierungsgeschichte seiner Figur. Lenk tritt seinen Beruf als Bauleiter mit den ehrgeizigsten gesellschaftlichen und städtebaulichen Vorstellungen an, steigt dann aber in dem Maße auf, in dem diese Vor- stellungen korrumpiert werden. Seine erste Beförderung ergibt sich aus der erzwungenen Kündigung eines anderen Bauleiters, der zu lange an der Rettung einer alten Fabrik fest- gehalten hatte, die er zu anderen, vom Typenbau abweichenden Wohnungen hatte umbauen

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 124 | Stephan Pabst: Über einen Beitrag der Architektur- zur Literaturgeschichte der DDR wollen. Der Plan einer zukünftigen Stadt namens Helianthea, an dem Lenk in seiner Frei- zeit arbeitet, wird durch den industriellen Funktionalismus, den er in seinem beruflichen Alltag exekutiert, immer fragwürdiger und verschwindet schließlich ganz in der Schublade. Sehr genau beobachtet der Roman, welchen Zwängen das moderne Bauen unterliegt. So hat die Beschränkung des Architekten nicht einfach ideologische Gründe, sondern ist den technischen und ökonomischen Grenzen des „Industriebau[s]“49 geschuldet. Was als Ursache städtebaulicher Monotonie von Anfang an, in den 1980er Jahren aber verstärkt diskutiert wurde, beschneidet auch die städtebaulichen Ambitionen Lenks, nämlich die Typenbauweise („Typ CR 68-Ratio“, M 227) und die Abstimmung der Archi- tektur auf die Bewegungsradien der Kräne (vgl. M 164).50 Selbst der Versuch, die Monotonie des städtischen Raumes dadurch aufzubrechen, dass er „vier Blöcke quer“ (M 185) baut, laufen ins Leere. Allerdings ist sich Lenk darüber im Klaren, dass der Widerspruch, an dem seine Modernevorstellung scheitert, von Anfang an in den funktionalen Anforderungen steckte, die den Re-Entry der Moderne in der Architektur der DDR möglich machten. Mit diesem Bewusstsein für den Widerspruch zwischen dem städtebaulich Wünschens­ werten und der Praxis ist Lenk nicht allein. Er teilt es mit allen, die am Bau der neuen Stadt beteiligt sind – vom Bürgermeister über die Architekten bis zum Bauleiter. Während sie noch auf Lenks Entwürfe einer neuen Stadt anstoßen (vgl. M 179), haben sie den industriellen Funktionalismus beim Bau ihrer Einfamilienhäuser längst zu Gunsten eines historischen Eklektizismus hinter sich gelassen – ein bisschen Holzhütte, ein bisschen schottisches Land- haus, ein bisschen Giebel. Das ist die sozialistische Bigotterie einer neuen bürgerlichen Elite, der sich Lenk schließlich entzieht. Als er die Möglichkeit hat, zum Chefarchitekten aufzu- steigen, schlägt er sie aus, indem er nun seinerseits an der Erhaltung jener alten Fabrik, der er einmal seinen Aufstieg verdankte, so lange festhält, bis er selbst unhaltbar geworden ist. Die Geschichte der privaten Resignation hängt mit dieser beruflichen so eng zusammen, weil sie der Roman mit der Geschichte des Wohnens verknüpft. Von Anfang an bezieht der Architekt der neuen Stadt mit seiner Familie eine Altbauwohnung, deren geradezu anarchischer, individueller Umbau in einem krassen Widerspruch zum utopischen Pla- nungsanspruch des Architekten und zum industriellen Plan des realen Städtebaus stehen. Als Lenk zu einigem Ansehen gekommen ist, zieht die Familie in eine Villa aus dem 19. Jahrhundert. Der Umzug geht bereits mit einem gewissen Widerwillen einher, weil er für Lenk mit dem Bewusstsein für den Anachronismus seiner Entscheidung und die eigene Korrumpierbarkeit verbunden ist. Anachronistisch ist das Wohnen bis in die Interieurs, hier ein „Rokokotischchen“ (M 90), dort ein „barocker Kerzenleuchter“ (114). Gleichzeitig ist die Wohngeschichte Ausdruck der Zugehörigkeit zu einem System der Privilegien. Als das Leben konsolidiert, das zweite Kind geboren und die Ehe fast am Ende ist, entwirft der

49 Wellms Roman Morisco wird fortan im Text zitiert: M 220. 50 Schon in der Ausschreibung des Wettbewerbs für Hoyerswerda hieß es: „Auf die durch die Anwendung von Turmdrehkränen sich ergebenden Bedingungen dieser Baumethode hat schon der städtebauliche Plan Rücksicht zu nehmen.“ (zit. nach Reich [2006, 127]). Paulick selbst war mit den Beschränkungen, die ihm das auferlegte, unglücklich und machte das auch öffentlich: Der dritte Wohnkomplex sei „der Krantechnologie zum Opfer gefallen“ (zit. nach ebd., 131). Vgl. hierzu Dietrich (2018, Bd. II, 876) sowie Palutzki (2000, 131).

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Architekt eine Datsche für die Familie auf dem Land, die mit einer Ironie als „Château“ (304) bezeichnet wird, von der auch Lenk weiß, wie präzise sie die Widersprüche trifft, in denen er lebt. Nach der Trennung von Anna und den Kindern zieht Lenk schließlich in das Schloss, das er restauriert. Zwar befreit er sich damit auch aus dem Widerspruch, in dem die Geschichte seines Wohnens zur Geschichte seines Bauens stand, lebt aber nun endgültig in dem Anachronismus, der ihn schon immer begleitet hatte. Der finale Gefängnisaufenthalt ist ein bitterer Kommentar zu dieser Wohngeschichte: Die Zelle ist die einzige ‚Wohnung‘, die nicht im Widerspruch zu seiner Arbeit als Architekt steht. Im Rahmen dieses Desillusionierungsprozesses unterliegt die zeitliche Markierung des utopischen Projekts einem Wandel. Darauf hat v. a. Ostheimer hingewiesen.51 Allerdings besteht die Leistung des Romans nicht allein darin, dass er das Scheitern des utopischen Anspruchs konstatiert, sondern darin, dass er es tatsächlich aus ihm entwickelt. Erstens im Sinne ihrer städteplanerischen Prägung: Als Nicht-Orte sind Utopien eben topographische Fiktionen, und sie gehen seit der Renaissance bei Filarete, Morus oder Campanella mit raum- und städteplanerischen Vorstellungen einher.52 Lenks Haftsituation, aus der heraus er seine Geschichte erzählt, mag auch eine an die Entstehungsgeschichte der Utopien sein, die wenigstens bei Campanella schon von einem Autor stammt, der von gesellschaftlicher Gestaltung faktisch ausgeschlossen war: Auch Campanella saß, während er Civitas Solis schrieb, im Gefängnis. Wenn Wellm die Geschichte der DDR von der städtebaulichen Seite her aufgreift, misst er sie nicht nur an ihrem eigenen sozialpolitischen Erfolgsmaßstab. Er reproduziert vielmehr Lenks Situation als Ursprungsszenario utopischen Denkens. Zweitens greift Wellm den Ursprung der Utopien in einem zeitlichen Sinne auf: Die ersten Gesellschaftsutopien, die mit städtebaulichen Plänen einhergehen, stammen aus der Renais- sance. Erst im 18. Jahrhundert mit Merciers L’An 2440 ‚bricht‘ die Zukunft in die Utopie ‚ein‘.53 Wellms Roman spielt die beiden Zeitebenen – die entstehungsgeschichtliche und die temporal utopische – gegeneinander aus. Indem Lenk auf die Baumeister zurückgreift und anfangs einzulösen behauptet, was seit der Renaissance historisch latent ist, perspektiviert er sein Bauen auf eine Zukunft, in der verwirklicht wird, was in der Renaissance begann:

Der lange Stillstand, sagte ich prophetisch, wäre nun vorbei, wir würden dort ansetzen, wo einst die Renaissance begonnen habe, würden das Mittelalter endgültig verlassen, würden jetzt einen Schritt vollziehen, zu dem wir uns ja nie mit voller Konsequenz entschlossen hätten. (M 39)

Je weiter der Roman aber voranschreitet, umso mehr krümmt sich der Zeitpfeil des utopi- schen Städtebaus, bis er seinen Anfang wieder berührt und als Kreisform die Zukunftsdi- mension zugunsten einer Unzeit der historischen Beliebigkeit aufhebt. Dass Lenk in seinem früh verstorbenen Jugendfreund Marinello den fiktiven Renaissance-Baumeister gleichen

51 Vgl. Ostheimer (2018, 140–152). 52 Für die Architekten Halle-Neustadts war das durchaus ein Bezugspunkt, wenngleich keiner, von dem man meinte, dass er verwirklicht werden könnte. 1969 schreibt der stellvertretende Chefarchitekt Karlheinz Schle- sier: „Es zeigt sich, dass eine Planung etwa nach dem Beispiel der Idealstädte der Renaissance unter unseren Bedingungen nicht möglich ist.“ Schlesier (1969, 590). 53 Koselleck (2000, 131).

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Namens wieder erkennt, stellt nicht nur subjektiv die Zugehörigkeit zu seiner Gegenwart in Frage, es verschiebt die Implikation der Renaissance von der Figur der linearen Vollendung auf die Figur der Wiederholung: „Ach, Marinello, daß es dich immer wieder gibt!“ (M 151) Die Aufhebung der zeitlichen Ordnung ist aber bei Wellm nicht als gewissermaßen poetologische Dissidenz zu verstehen, ebenso wenig wie etwa Lenks Verhalten ein ausdrücklicher Akt des Widerstands oder eine geglückte Form der „wahren Innerlich- keit“ ist.54 Ein Architekt ist Lenk als subalterner Bauleiter am Anfang so wenig wie als Restaurator am Ende. Es ist eher eine Form des Eskapismus, die bereits systemisch geworden ist. Lenks Weiterarbeiten an der Utopie erweist sich nach und nach als nost- algisches Projekt, das endgültig korrumpiert wird, als er ein ‚fast barockes‘ Haus mit Giebel baut. Der Wiederaufbau des Schlosses schließlich macht einen Zustand zum Programm, der ohnehin längst eingetreten war. Das liegt durchaus auf einer Linie mit dem städtebaulichen Selbstverständnis in der DDR der 1970er und 80er Jahre. In diese Jahre fallen der Wiederaufbau des Schauspielhauses von Schinkel in Berlin und der Semperoper in Dresden. Auch die städtebauliche Räson veränderte sich und pass- te sich wie in der Hallenser Altstadt in bestehende Stadtstrukturen ein, nutzte dabei gleichwohl die Möglichkeiten des industriellen Bauens (vgl. Abb. 4).55 Das Ergebnis war ein merkwürdiger Eklektizismus, der die historischen Zitate erkennen ließ, ohne die planerische und technische Zugehörigkeit zur Moderne zu verleugnen. Bruno Flierl, führender Architekturtheoretiker der DDR und lange Jahre Herausgeber der Zeitschrift Deutsche Architektur, beschreibt die städtebauliche Räson dieser Zeit:

Abb. 4: Das restaurierte Graseweg-Haus und die gegenüberliegende historisierende Bebauung.

54 Scharsich (2003, 312). 55 Dietrich (2018, Bd. 3, 1759).

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Im Rahmen des bis 1990 reichenden Wohnungsbauprogramms wird am Rande der Stadt weiterhin ungebunden modern, in der Innenstadt hingegen zunehmend gebunden und angepasst in Form eines Neohistorismus gebaut – in beiden Fällen mit denselben Methoden, Systemen und Bauteilen des industriellen Montagebaus.56

Die Aufhebung der Zeit wird auch erzählerisch statuiert. Die sprunghaften Wechsel zwi- schen der Vergangenheit als Städtebauer, der Gegenwart der Restauration des Schlosses und der Unzeit der Renaissance, die Lenk in traumähnlichen Sequenzen zu erleben scheint, heben die zeitliche Ordnung Lenks ebenso wie die des Lesers auf. Diese Aufhebung findet ihre Entsprechung in der eklektischen Intertextualität des Romans. Im Ganzen gibt er sich als sozialistische Variation von Hölderlins Hyperion zu erkennen.57 Das ist einzelnen Zitaten ebenso zu entnehmen wie den Analogien im Aufbau beider Texte: Ein autodiegetischer Erzähler spricht zu einem engen Freund, nachdem er sich aus einem großen gesellschaft- lichen Projekt – bei Hölderlin Griechenland und dessen Befreiungskampf, bei Wellm der Sozialismus – zurückgezogen hat. Das hindert den Erzähler indes nicht, den Zustand der späten DDR mit dem Verweis auf Grillparzers Tagebücher (M 371) als neobürgerliches Biedermeier zu deuten, und das mit Anleihen bei Max Frisch, Wolfgang Hildesheimer und Thomas Bernhard zu verbinden. Lenks zweifelhaftes Geständnis der Brandstiftung erinnert an Frischs Roman Stiller. Hildesheimers Poetik der alternativen Biographie wird mit der Erfindung der Biographie des Renaissance-Baumeisters Marinello imitiert.58 Und Bernhard scheint in den bewusst redundanten Perioden des Textes seine Spuren hinterlassen zu haben. Ebenso wie man die Moderne in der Literatur der DDR suchte und vielleicht deshalb nicht fand, weil sie so aussehen sollte wie Kafka,59 meinte man auch von der Postmoderne in der Literatur der DDR nur einen verspäteten Vorschein zu erkennen: wohl deshalb, weil man ihn in der DDR nicht60 oder nur in den kleinen inoffiziellen Literaturszenen vermu- tete,61 deren Autoren lange als die modernsten und deshalb (außer Heiner Müller) als die einzig denkbaren Adressaten der Frage nach einer Postmoderne in der DDR galten. Alfred Wellm aber hat ein postmodernes Buch geschrieben, zumindest dann, wenn man darunter den Abschied von der Moderne, von der mit ihr verbundenen normativen Zeitordnung, der Ästhetik des Funktionalismus und dem in ihr eingeschlossenen Gesellschaftsentwurf versteht. Dieser Abschied geht weniger mit einer normativen Umkehr im Sinne einer ‚konservatorischen‘ Ethik des ‚Bewahrens‘ einher62 als mit einer Aufhebung der zeitlichen

56 Flierl (1985, 93). Flierl steht damit in einem architekturgeschichtlichen Debattenzusammenhang. Im selben Jahr wie seine Vorträge erscheinen die Aufsätze des Architekturtheoretikers Lothar Kühne, der den „Postmo- dernismus“ als „Krise des Kapitalismus“ (Kühne [1985, 189]) verwarf und am Funktionalismus festhielt. 57 Ostheimer (2018, 149). 58 Auf eine andere Parallele weist Ostheimer (2018, 151) hin, der Lenks zwanghafte Vergegenwärtigung der sozialistischen Zukunftsperspektive mit der zwanghaften Vergegenwärtigung des Holocaust in Hildesheimers Roman Tynset gegenliest. 59 Die Arbeit von Erbe (1993) zur Moderne in der DDR ist zu drei Vierteln eine Arbeit über die Kafka-Rezeption in der DDR. 60 Welsch (1991) erwähnt im Zusammenhang mit der Post-Moderne keinen Autor aus der DDR. 61 Emmerich (1988, 209). 62 Mit dieser Perspektive beschließt Ostheimer (2018, 152) seine Überlegungen zu Wellms Roman.

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Ordnung selbst, der entsprechend auch keine Handlungs- und Wertungsperspektiven mehr entspringen. Das ist nicht unbedingt besser als die schizoide Struktur, in der der utopisch inspirierte Architekt mit dem Rokokotischchen schon lange lebte. Es ist nur die vollendete, von allen Widersprüchen befreite Einkehr ins Eskapistische, die in gewisser Weise schon in der Utopie steckte. Das ist weniger als kohärente theoretische Position zu lesen, die Wellms Roman verträte, sondern eher als literarischer Effekt, der einer bestimmten historischen Konstellation ent- springt. Auffallend ist, dass der Roman parallel zu den ersten Debatten entsteht, die in der DDR über den Begriff der ,Postmoderne‘ geführt werden. Auch sie setzen architekturge- schichtlich an. Und wenngleich der Architekturtheoretiker Flierl schon aus soziologischen Gründen bestreitet, dass es eine Postmoderne in der DDR geben könne, konzediert er doch verwandte Phänomene, die er als Neo-Historismus bezeichnet. Sie teilen ihre Wendung gegen den Funktionalismus, der von Flierl im Grunde als Synonym von Moderne gebraucht wird, und die Besinnung aufs Ornament, auch wenn sie sich ihrer Funktion nach und in der Art ihres Vergangenheitsbezugs unterscheiden: Der neohistoristischen Retusche des Funktionalen stehe der explizite Widerspruch zwischen Funktion und Ästhetik in der Postmoderne gegenüber, so wie die Behauptung substantieller historischen Kontinuität einer Betonung der Diskontinuität entgegenstehe.63 Diese Unterscheidung ist auch einer Begriffspolitik geschuldet, die dazu angehalten ist, die Entwicklung der Ästhetik im Sozialismus klar von der kapitalistischen zu trennen. Und sie trifft – wenn man Flierls Unterscheidungen versuchsweise auf die Literatur überträgt – nur bedingt auf Wellms Roman zu. Lenk wird im Moment seiner sozialen Funktionslosigkeit zum Erzähler. Die Poetik der Ungleichzeitigkeiten retuschiert die Funktion nicht, sie ist Ausdruck des Funktionsverlustes. Die historischen Anspielungen des Romans behaupten auch keine historische Kontinuität. Hölderlin ist nicht mehr als kulturpolitische Erbschaft zu reklamieren. Die Bezüge auf ihn mögen zwar an die Sentimentalität erinnern, mit der sich in den 1970er und 80er Jahren ostdeutsche Intellektuelle in Hölderlin erkennen woll- ten, weil sie ihre und seine Situation für vergleichbar hielten und sich in dieser Ähnlichkeit ihrer Subjektivität versicherten. Doch der Schlusssatz von Wellms Roman geht mit einer solchen physiologischen Reduktion seiner Hauptfigur einher, dass der Eindruck entsteht, mit dem Hölderlin-Palimpsest solle einem vollkommen ausgehöhlten Subjekt der Glanz fremder Subjektivität angeklebt werden: „Also ging ich – wie es meine Schritte von mir wollten.“ (M 544) Der Rückgriff auf Hölderlin wirkt eher wie eine Subjektivitätssimula- tion. Hölderlin wäre für Wellms Roman dann das, was der barocke Scheingiebel für den Architekten Lenk ist. So rückt Wellms Roman doch nah an das heran, was Flierl 1985 als Postmoderne beschrieb.

V. Schluss. Halle-Neustadt und die ‚Moderne von unten‘ (Wolfgang Engler). Wolfgang Eng- lers Versuch, die Moderne der DDR gegen den Vorwurf ihrer Vor- oder verspäteten Mo- dernität und gegen eine Identifikation des kulturpolitischen Umgangs mit der kulturellen Praxis in Stellung zu bringen, setzt über weite Strecken bei einer Rekapitulation ihrer

63 Flierl (1985, 140 f.).

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Baugeschichte an. Wie so oft in Darstellungen der DDR-Architektur, die auf ihre Mo- dernität zielen, kommt der Berliner Karl-Marx-Allee zentrale Bedeutung zu. Dass sich die elegante Modernität des Kino International oder des Café Moskau aber nicht einfach auf die städtebauliche Normalität in Eisenhüttenstadt, Hoyerswerda und Halle-Neustadt übertragen lässt, ist Engler als Problem bewusst. Denn offenkundig ist der architekto- nische Befund ein anderer, und das stellt auch den sozialen Effekt der räumlichen und körperlichen Befreiung in Frage. Engler verfolgt zwei Strategien, um zu verhindern, dass die repräsentative Anschauung der Moderne in Berlin und die städtebauliche Normalität in der DDR auseinanderbrechen. Er behandelt erstens die Differenz als bloß graduelle Ab- stufung. „Das Neue gab sich in der Provinz eher spröde, einsilbig.“64 Aber es war, heißt das, eben nicht kategorial anders. Und er arbeitet zweitens eine dialektische Verlaufsform der Moderne in der DDR aus, derzufolge eine Moderne, die architektonisch ganz wesent- lich ‚von oben‘ in Gang gesetzt worden war, ‚von unten‘ sozial eingelöst wurde, wobei ‚unten‘ hier nicht die ökonomische Schichtung meint, sondern eine sozialistische Funk- tionselite bezeichnet, die einen gewissen ästhetischen und sozialen Spielraum hatte und nutzte: „Und so geschah es. Architekten verbanden sich mit Formgestaltern, Graphikern, Designern, Technikern und arbeiteten das soziale Projekt der Moderne wenigstens in Ansätzen aus.“65 Es ist ein bestimmter Zeitpunkt, den Engler damit beschreibt. Er liegt irgendwo in den 1960er Jahren, und seine Moderne ‚von unten‘ beträfe insofern noch Halle-Neustadt in seiner Gründungsphase, wie sie von der Reportage Städte machen Leute dokumentiert wird. Allerdings zeigt sich wenigstens in Bezug auf diese Reportage, wie irreführend der Begriff einer Moderne ‚von unten‘ sein kann. Es ist ja eher eine Moderne der Mitte, die die baupolitischen Vorgaben einerseits modern auszulegen und andererseits die moderni- sierungsresistenten Arbeiter ‚unten‘ in das soziale Projekt der Moderne einzubeziehen ver- sucht. Steinmanns Roman fiele dann schon in die Zeit der ‚Stagnation‘, wie es bei Engler heißt, weil er die Zeit der Moderne hier rhetorisch staut, die er dann für einen neuerlichen Entwicklungsschub nach 1989 freisetzen möchte. Tatsächlich wird die Entwicklung einer sozialistischen Gesellschaft hier nicht mehr an ihrer Modernität gemessen. Eher verbündet sich die Modernekritik von oben mit der von unten, und die Funktionseliten moderieren diesen Prozess. Das Verständnis, das Engler rückblickend für eine Nachkriegsgesellschaft aufbringt, der es schwerfiel, „das alte, mir nichts, dir nichts, von sich abzutun“,66 ist in Steinmanns Roman als humanistische Ideologie am Werk, die das Vertraute zum Mensch- licheren erklärt und ihre Modernekritik daraus ableitet. Ideologisch ist das nicht nur des- halb, weil die alte Formalismuskritik nun doch noch ins Recht gesetzt wird – als Wille der Bewohner Halle-Neustadts, der nun aus anthropologischen Gründen mit dem der Partei übereinstimmen soll. Ideologisch ist es auch, die städtebauliche Eintönigkeit und soziale Anonymität allein dem Konzept einer abstrakten Moderne zuzuschreiben und nicht den ökonomischen und planerischen Bedingungen, unter denen es (nicht) verwirklicht wurde.

64 Engler (1999, 59). 65 Engler (1999, 62). 66 Engler (1999, 66).

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Was sich aber schließlich mit Englers Konzept einer Moderne von unten nicht mehr fassen lässt, ist Wellms Roman – und das, obwohl der Architekt Lenk zunächst ein perfek- ter Vertreter dieser Moderne zu sein scheint: als Angehöriger einer mittleren, gebildeten, sozialistisch überzeugten, aber nicht dogmatischen Funktionsebene, die das Ganze im Blick hat, ohne auf die Verwirklichung ihrer individuellen Bedürfnisse verzichten zu wollen. Aber Lenks Moderne ist von Anfang an ein Hobby. Sein utopischer Stadtentwurf wird nicht nur nicht realisiert. Er fungiert als Gegenentwurf der Stadt, die tatsächlich gebaut wird. Und je mehr Lenk nun wirklich nach ‚unten‘ sinkt, im Sinne des Verlustes seiner bürgerlichen Position, umso fragwürdiger werden seine Entwürfe. In funktionaler Hinsicht tritt an deren Stelle das Schloss: eine andere Form des Eskapismus. Das Ergebnis ist keine Moderne von unten, sondern eine Post-Moderne von unten, die nicht als Sieger der Geschichte, nicht mal als Befreiung auftritt, sondern als Resignation. Sie resultiert nicht nur daraus, dass die Moderneintention unter den widrigen Verhältnissen nicht hätte realisiert werden können, sondern auch aus dem planerischen Ehrgeiz der Moderne, der sich im Rückblick selbst schon als Teil einer Fluchtbewegung erweist. Gleichwohl ist auch diese Abkehr von der Moderne nur lesbar, wenn man jenseits der oft anderslautenden kulturpolitischen Diskurse von einer spezifischen Moderne in der DDR ausgeht, wie sie etwa in ihrer Architekturgeschichte niedergelegt und von der Literatur animiert wurde.

Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Wandgestaltung José Renau am Bildungszentrum Halle-Neustadts: Einheit der Arbeiterklasse und Grün- dung der DDR, 1974, Foto Gerald Große um 1974. Abb. 2: Montage der HP-Schalen, Foto Gerald Große. In: Bräunig u. a. (1969, 186 f.). Abb. 3: Der Tulpenbrunnen im 3. Wohnkomplex wurde nach Entwürfen von Heinz Beberniß im Jahr 1978 errichtet, in dem auch das Foto von Heinrich Renner entstand. Abb. 4: Das restaurierte Graseweg-Haus und die gegenüberliegende historisierende Bebauung in der Großen Klausstraße in Halle/S., Foto Josef Münzberg, damals Denkmalpfleger beim Rat der Stadt Halle, ver- mutlich 1989. Ich möchte Gerald Große für die Bereitstellung der Fotos und Ralf Jacob, dem Leiter des Hallenser Stadtarchivs, für die Unterstützung bei der Bildrecherche herzlich danken.

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Abstract Während die Zugehörigkeit der DDR und ihrer Literatur zur Moderne bis heute umstritten ist, werden ihr typische Ausprägungen der DDR-Architektur inzwischen ohne Weiteres zugerechnet. Das gilt auch für die größte sozialistische Stadtgründung – Halle-Neustadt. Am Beispiel der Literatur, die sich mit dieser städtebaulichen Moderne auseinandersetzte, unterzieht der Beitrag das Verhältnis der DDR-Lite- ratur zur Moderne einer Revision, die sich weder auf die westlich geprägten Vorstellungen von Moderne noch auf die kulturpolitische Kritik beschränkt, der sie in der DDR unterlag. While it is still contestable that and its literature belong to modernity, typical East German architecture, however, seems to suit this paradigm very well. This also applies to the largest socialist municipal foundation, namely Halle-Neustadt. The article critically reviews the relationship of East German literature and modernity by analysing texts which dealt with this kind of urbanistic modernism. In doing so, the revision neither follows western concepts of modernity nor limits itself to the critique of the former East German politics of culture. Keywords: Werner Bräunig, DDR-Literatur, Halle-Neustadt, Jan Koplowitz, Moderne, Hans-Jürgen Steinmann, Alfred Wellm

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Stephan Pabst: Über einen Beitrag der Architektur- zur Literaturgeschichte der DDR | 133

Anschrift des Verfassers: PD Dr. Stephan Pabst, Martin-Luther-Universität, Philosophische Fakultät II, Germanistisches Institut, D–06099 Halle (S.),

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) pen Zeitschrift für Germanistik | Neue Folge XXX (2020), Peter Lang, Bern | H. 1, S. 134–157

Annina Klappert

Haus im Prozess: Story-stories der Gegenwart und Glenn Pattersons Roman „Number 5“

Das englische Wort story bedeutet ‚Geschichte‘ oder ‚Stockwerk‘. Eines der Spezifika von Literatur ist, dass in ihr beide Bedeutungen zugleich zutreffen können, und ihre topogra- phische Betrachtung vermag, diese intrikate Bezogenheit deutlich zu machen: Als solche stories erweisen sich dann Geschichten, die sich in den Etagen eines Hauses ereignen und diese als (Erzähl-)Räume konstituieren, während sie nur in der spezifischen (Erzähl-) Räumlichkeit stattfinden können, ‚in die hinein‘ sie erzählt werden. Diese Art Geschich- ten (die man story-stories nennen könnte) konstituieren die Etagen eines Hauses ebenso als Raum, wie in ihnen die Etagen eines Hauses den Raum für die Geschichten konstituieren. Paradigmatisch für ein solches literarisches Raum-Geschehen ist die Erzählung vom Haus in der Rue Simon Crubellier 11 in Georges Perecs Roman La Vie mode d’emploi (1978).1 Die story-stories verteilen sich hier auf ein Mehrparteienhaus und finden entsprechend der jeweiligen Wohnungssituation neben-, über- und untereinander bzw. im Treppenhaus und Durchgängen statt, so dass sich der Raum des Hauses durch topologische Bezüge zwischen ihnen entfaltet. Während hier – wie auch in weiteren Mehrparteienhaus-Romanen2 – viele Etagen mit je mehreren Wohnungen komplexe Relationierungen zwischen den dort gleichzeitig Woh- nenden ermöglichen, gibt es auch eine Reihe von Romanen, in denen sich die Geschichten in einem Einfamilienhaus abspielen und zeitlich aufeinander folgen. Der Beitrag interes- siert sich für diese letztere Art von story-stories, in denen sich die Geschichte eines Hauses durch die Erzählung von den einander ablösenden Geschichten der in ihm Wohnenden entwickelt. Das Haus wird hierdurch von einem gegebenen Ort, an dem etwas stattfindet, zu einem prozessual sich in Intraaktion mit seinen Bewohner*innen verändernden Raum3 – ein Vorgang, der auch die materielle Transformation des Hauses prägt. Im Folgenden werden nach einer kurzen Skizze solcher Romane in der aktuellen Literatur architekturtheo- retische Ansätze vorgestellt, die Häuser als prozessual konzeptualisieren. Schließlich wird Glenn Pattersons Roman Number 5 (2003) als literarische Reflexion auf die Prozessualität von Häusern gelesen: Er erzählt die Geschichte eines Einfamilien-Reihenhauses und die Geschichten der nacheinander darin Wohnenden, deren Spuren sich teils erst Jahre später unter den Tapeten als Wohn(ge)schichten zeigen.4

1 Perec (1978). 2 Vgl. z. B. Ballard (1975), Brownstein (2002), Saramago (2011), Ware (2012). 3 Vgl. zum entsprechenden ,Raum‘-Begriff de Certeau (1988, 4) und zum Begriff der ,Intraaktion‘ Barad (2007). 4 Patterson (2003).

© 2020 Annina Klappert - http://doi.org/10.3726/92165_134 - Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 Internationalen Lizenz Weitere Informationen: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0 Annina Klappert: Story-Stories der Gegenwart | 135

I. Gegenwärtige literarische Häuser im Prozess. Pattersons Number 5 eröffnet zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine Reihe von anglo-amerikanischen und deutschsprachigen Romanen, in denen ein Haus als Dreh- und Angelpunkt aller Handlungen zum Protagonisten wird. Wenige Jahre später ist in Peter Zimmermanns Roman Das tote Haus (2006) das titel- gebende Haus Schauplatz einer Familiengeschichte, die von einem traumatischen Bruch gekennzeichnet ist: Der Ich-Erzähler ermordet als Kind seine Eltern, kehrt aber als Er- wachsener wieder zurück, weil sein Bruder ihm das Haus nach dem Tod der Großmutter schenkt. Mit der Übernahme des Hauses beginnt er, die Geschehnisse aufzuarbeiten, die zur Ermordung der eigenen Eltern, zur Übernahme der Schuld durch den Großvater und dessen Selbstmord im Gefängnis geführt haben. In diesem ‚toten‘ Haus verbarrikadiert sich der Ich-Erzähler, indem er es zu einer veritablen Festung ausbaut. Jenny Erpenbecks Roman Heimsuchung (2008) wiederum erzählt von einem Haus an einem See am Stadtrand von Berlin.5 Der Roman setzt mit einer Darstellung der geologi- schen Prozesse ein, die jahrtausendelang die spezifische Umgebung des Hauses gebildet haben, dessen eigene Geschichte über einen Zeitraum von hundert Jahren reicht. Es wird von einem Architekten aus Berlin für seine Frau gebaut, zwischenzeitlich von einem sow­ jetischen Rotarmisten und dann von einer aus dem sowjetischen Exil zurückgekehrten Schriftstellerin bewohnt. Eines der Kapitel basiert auf historischen Fakten; es erzählt von der Vertreibung und Ermordung der jüdischen Familie eines Tuchfabrikanten, der das Nachbargrundstück gehört, das der Architekt nach deren Vertreibung aufkauft.6 Die Geschichten der im Haus Wohnenden sind von zahlreichen Diskontinuitäten geprägt, die jeder genealogischen Fortsetzungslogik zuwiderlaufen.7 Dies gilt für die histoire ebenso wie für den discours, denn in der Lektüre sind die Beziehungen zwischen den Erzählsträngen und Figuren zuallererst herzustellen, da der Text Übergänge oder Erläuterungen ausspart. Gerade in dieser Disparatheit erweist sich die Narration als archivarisch.8 Eine Konstante ist neben dem Haus lediglich der Gärtner, der das Grundstück pflegt und als einziger fast den gesamten Zeitraum über dort wohnt. Er lebt mit seiner sich stets wiederholenden gärtnerischen Tätigkeit im Zyklus der Jahreszeiten, und auch auf der Ebene der Erzählung stellen die Passagen, die von ihm handeln, vor jedem neuen Kapitel wiederkehrende Binde- glieder zwischen den ansonsten stets abgebrochenen Erzählsträngen her. Anfang und Ende des Romans situieren das Haus in der Landschaft, die nach dessen Abriss „für einen kurzen Moment wieder sich selbst“ gleicht.9 Der Roman des britischen Autors Thomas Harding The House by the Lake (2015) ist besonders in Bezug zu Heimsuchung interessant.10 Auch dieses Haus befindet sich an einem See am Rande Berlins, auch hier wird die deutsch-deutsche Geschichte zum Thema und werden Familiengeschichten erzählt, die sich über hundert Jahre in diesem Haus aneinander- reihen; auf dem Buchumschlag heißt es: Berlin. One House. Five Families. A Hundred Years

5 Erpenbeck (2008). 6 Vgl. dazu die Erläuterungen in Erpenbeck (2015). 7 Vgl. Probst (2010), Vedder (2014). 8 Vgl. zum Haus als Erinnerungsort und für eine detaillierte Analyse des Romans Shafi (2012). 9 Erpenbeck (2008, 188). Hervorhebung i. O. 10 Vgl. Harding (2015).

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 136 | Annina Klappert: Story-Stories der Gegenwart of History. Im Gegensatz zu Heimsuchung ist Hardings Roman weniger eine Fiktion mit dokumentarischen Elementen als ein dokumentarischer Bericht mit fiktionalen Einschüben. Die Familiengeschichten sind chronologisch erzählt und im Inhaltsverzeichnis datiert; gleich am Anfang sorgen Stammbäume für Übersicht und Kartenmaterial für räumliche und politikgeschichtliche Orientierung. Im Verlauf des Textes dokumentieren Fotos von den im Haus wohnenden Personen, vom Haus und von dessen Umgebung sowie Abbil- dungen von archivarischem Material deren Authentizität; Zeichnungen, die den Grundriss des Hauses abbilden, werden mit dem Bezug einer jeden neuen Familie aktualisiert. Schon die Lage des Hauses im kleinen Ort Groß-Glienicke, auf der Westseite des Groß-Glienicke Sees am westlichen Rand von Berlin im Osten Deutschlands, sorgt für die Brisanz der Geschichte, da die deutsch-deutsche Grenze durch den See führte und das Haus seit dem Bau der Mauer nicht nur vom See und vom Blick auf diesen, sondern auch von West-Berlin getrennt wurde. In Verbindung mit diesen Authentizitätsgesten berichtet der Erzähler in fiktionalisierter Form vom Kauf der Besitzung mit See durch einen reichen Unternehmer Ende des 19. Jahrhunderts, vom Bau des Hauses am Seeufer durch eine jüdische Arztfamilie in den 1920er Jahren, von deren Vertreibung und der Übernahme des Hauses durch die Gestapo und später dann durch die sowjetischen Besatzer, vom Bezug des Hauses durch einen ‚Inoffiziellen Mitarbeiter‘ der Stasi, von der Rückeignung des Hauses an die Erben der jüdischen Familie nach dem Mauerfall und der Weitervermietung an die alten Bewohner sowie nach deren Auszug von der Verwaltung des Hauses durch die Stadt Potsdam. Bei alldem erscheint als eigentlicher Protagonist das Haus, das der Erzähler als den „soul place“ seiner Großmutter aufsucht und das ihn in seiner „melancholy of a building abandoned“11 rührt. Dies führt zu dem Entschluss, dessen Geschichte zu erzählen:

This is the story of a wooden house built on the shore of a lake near Berlin. A story of nine rooms, a small garage, a long lawn and a vegetable patch. It is a story of how it came to be, how it was transformed by its inhabitants, and how it transformed them in turn.12

Auch in der Graphic Novel Here (2014) des US-amerikanischen Autors und Illustra- tors Richard McGuire wird die Prozessualität eines Hauses thematisiert, und zwar besonders über die Form der Panelorganisation.13 Ein gleichbleibender Ort erscheint zu verschiedenen Zeitpunkten, wobei in die Panels von Doppelseitengröße kleinere Panels mit Vor- oder Rückblenden eingeschoben sind, die Parallelitäten oder Abweichungen erkennbar werden lassen und die Bedeutung des Ortes temporalisieren. Der Ort des Hauses ist die Konstante eines sich gleichwohl mit der Zeit jeweils verschiebenden here. So befindet sich z. B. das here von 1957 zwar an derselben Stelle, ist aber durch die historischen, biographischen und wohnkulturellen Entwicklungen ein anderes als das here von z. B. 2015. Die Zeitspanne in der Graphic Novel reicht von drei Milliarden Jahren v. u. Z. bis ins Jahr 10175; hervorgehoben werden historische Ereignisse wie der Unabhängigkeitskrieg 1775 oder Begegnungen zwischen der indigenen Bevölkerung

11 Harding (2015, 3). 12 Harding (2015, 7). 13 Vgl. McGuire (2014).

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Annina Klappert: Story-Stories der Gegenwart | 137 und den Kolonisatoren ebenso wie die Fundamentlegung des Hauses 1904 oder diverse Familienfeiern. Unschwer lässt sich hier eine Lektüre mit Karl Schlögel ansetzen, wonach Geschichte sich im Raum ereignet und es daher wichtig ist, den Raum zu betrachten und ihre Spuren in ihm zu lesen.14 Die Ereignisse der Geschichte im Raum stellt Here durch die Einschübe von kleineren Panels in die seitengroßen Panels aus. So zeigt das folgende Panel nicht nur eine Szene im Jahr 1957 (vgl. Abb. 1), sondern verschränkt damit auch eine weitere Zeitschicht von 1999. Im Panel auf der Folgeseite wird ein kleiner Ausschnitt der Szene von 1957 nachgebil- det (vgl. Abb. 2). Die neue ‚Schicht‘ von 1623 ist im Stil eines Gemäldes gezeichnet und verweist damit auf eine zeitgemäße Medialität. Der Ausschnitt von 1999 bleibt erhalten; allerdings befindet sich die Katze in einem anderen Bewegungsmoment, sodass nicht nur der Fortlauf der Geschichte 1999 ausgestellt wird, sondern sich auch quer durch die Seiten und Zeitschichten ein ‚Tunnel‘ bildet.

Abb. 1: McGuire: Here: 1957, 1999.

14 Vgl. Schlögel (2003).

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 138 | Annina Klappert: Story-Stories der Gegenwart

Abb. 2: McGuire: Here: 1623, 1957, 1999.

Im Innenraum des Hauses steht immer das Wohnzimmer im Fokus: Das Mobiliar und dessen Anordnung, die Kleidung der im Haus Wohnenden, die technische Ausstattung – all dies verändert sich im Laufe der Zeit, wobei das Neben- und Ineinander der Ausschnitte Anlass zu Vergleichen geben (vgl. Abb. 3). Der Junge, der im Panel von 1933 neben seiner Schwester auf dem Teppich liegt und ein Bild mit ihr ansieht, wird auf mehreren Seiten in verschiedene Zeitschichten eingebettet. In einer Szene von 2015 ist er anders gekleidet und turnt allein auf dem Boden vor dem Kamin herum (vgl. Abb. 4):

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Annina Klappert: Story-Stories der Gegenwart | 139

Abb. 3: McGuire: Here: 1933, 1988, 1983.

Abb. 4: McGuire: Here: 2015, 1964, 1933.

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 140 | Annina Klappert: Story-Stories der Gegenwart

Das Sofa ist ‚hier‘ 2015 um 90 Grad verschoben, während die Bedeutung seines vorherigen Standorts für die Familie 1964 durch die Einblendung eines ‚Zeitfensters‘ deutlich wird. Orientierende Elemente im Wohnzimmer sind das Fenster, durch das man auch auf dem Titelbild ‚von außen‘ in das Buch ‚hineinblickt‘, sowie der Kamin, der auf die ursprüngliche Bedeutung vom Haus als Schutz des Herdes verweist. McGuires Graphic Novel Here und Erpenbecks Roman Heimsuchung sind für den vor- liegenden Beitrag besonders interessant, weil sie ihre Haus-Geschichten in die Erdgeschichte einbetten und damit die Vorstellung der ‚Tiefenzeit‘ aufrufen, die um 1800 entsteht: die Entdeckung jener Zeit, die sich in den Erdschichten ‚ablagert‘ und in ihnen ablesbar ist. Sie sind hiermit Beispiele „für die literarische Thematisierung einer erdgeschichtlichen Vorgeschichte des Menschen [durch die] Perspektivierung der Tiefenzeit“.15 Die Erzählung hört also weder bei den Auszügen der einzelnen Familien auf (als Ende ihrer Geschichten im Haus) noch bleibt sie im Rahmen des gebauten Hauses (als dessen eigene Geschichte), sondern sie reicht auch in seine Vorgeschichte. Wenn in den im Folgenden zu betrachtenden Texten das Augenmerk auf Tapeten gelegt wird, die nach und nach auf den Hauswänden übereinandergeschichtet werden, so zeigt sich darin auch in einem gleichsam mikroskopisch kleinen Ausschnitt, wie die Geschichte des Menschen ‚in die Tiefe hinein‘ weiterzudenken ist. An diesem Punkt kann der Vergleich mit La vie mode d’emploi noch einmal die Spezifik der ‚Häuser im Prozess‘ zeigen. In Perecs Puzzle-Roman von 1978 wird das Haus – gleich der Ekphrasis eines Puppenhausbildes – von Zimmer zu Zimmer in einem bestimmten Moment beschrieben (wenn auch vor dem Hintergrund aller Geschichten, die zu erzählen dieses Zimmer Anlass gibt). Im Gegensatz zu diesem sukzessiven Schweifen der Fokalisie- rungsinstanz durch ein Haus im Modus des ‚Während‘ ist das Erzählmodell in den soeben beschriebenen Romanen das einer sukzessiven Schichtung im Modus des ‚Nachdem‘. Hier- durch verschiebt sich der Fokus von den stories im Haus zu der story des Hauses: Während Menschen ein- und wieder ausziehen, verändert sich das Haus; es trägt Spuren und altert. Pattersons Roman, der im dritten Abschnitt dieses Beitrags ins Zentrum rückt, steht mit- hin in einem literarischen Feld von story-stories, in denen ein Haus sich nicht nur aufgrund alternden Materials verändert, sondern auch durch die Nutzung der in ihm Wohnenden, die seine Geschichte bilden: Das Haus ‚erinnert‘ sich.

II. Architekturtheoretisches Denken von Prozessualität. Buildings tell stories if they’re allowed – if their past is flaunted rather than concealed.16

Dass Häuser entgegen jeder bauherrlichen Logik nicht ‚fertig‘ sind, wenn sie zum ersten Mal bezogen werden können, ist vielleicht keine architekturtheoretisch völlig neue Ein- sicht, aber diese Einsicht wird seit Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend theoriebildend. Mit dem Neuen Bauen wird in den 1920er Jahren mit Überschreitungen der Innen-/ Außengrenze von Häusern nicht nur ein Kontrapunkt zur Idee des ‚ganzen Hauses‘17

15 Vgl. Heringman (2016, 77). 16 Brand (1994, 4). 17 Riehl (1855), Brunner (1968).

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Annina Klappert: Story-Stories der Gegenwart | 141 im 19. Jahrhundert gesetzt, sondern Hausgrenzen werden auch in temporaler Hinsicht offe- ner konzeptualisiert. In den 1960er Jahren gibt es zunehmend Einsätze, die die Prozessualität von Häusern betonen. Reyner Banham etwa konzipiert in seinen architekturtheoretischen Texten – Gedanken der architecture autre und der Pop Art aufnehmend – Architektur als ein responsives environment,18 als „fit environments for human activities“.19 Bernard Tschumi beschreibt in seinen Essays der 1970er Jahre Architektur dynamisch als Raum und Ereignis zugleich.20 Gebäude antworten demnach auf und intensivieren die Aktivitäten, die in ihnen vor sich gehen – ein Gedanke, den Tschumi noch in Projekten der 1990er Jahre verfolgt, in denen er z. B. Kulturstätten in bestehende Gebäude einfügt: „[h]ow an ‚in-between‘ space is activated by the motion of bodies in that space“.21 Wird das Haus als Raum aufgefasst, der im Wechsel mit menschlicher Aktivität entsteht, ist es nicht mehr als ‚abgeschlossenes Ganzes‘ oder ‚fertig‘ Gebautes zu denken, sondern als sich temporal entwickelnd und sich materiell verändernd, und dies weist auf jene Unabschließbarkeit, die das architekturale Denken nach Jacques Derrida ausmacht.22 Auch Brian Massumis architekturtheoretisches Denken setzt an der Unabschließbar- keit an23 und ist im größeren Kontext seiner Philosophie des unrest zu sehen,24 mit der er Phänomene grundsätzlich in ihrer Prozesshaftigkeit begreift. Diese entsteht nach Massumi in der Architektur unter anderem durch topologisches Denken, da es die Relationalität von räumlichen Anordnungen hervorhebt:

The topological turn entails a shift in the very object of the architectural design process. Traditio- nally, form was thought of as both the raw material and end product of architecture, its origin and telos. […] Approached topologically, the architect’s raw material is no longer form but deformation. […] Far from directing it, form emerges from the process, derivative of a movement that exceeds it. The formal origin is swept into transition.25

Ausgangsmaterial und Zielprodukt sind demnach nicht als feste Formen zu begreifen, son- dern als Emergenzen einer Bewegung, aus der sie entstehen und in die sie eingehen. Diese Idee des Übergängigen gewinnt Massumi aus dem Anschluss an das Virtualitätskonzept von Gilles Deleuze, das von philosophisch instruierten Architekturtheorien seit den 1990er Jahren mit Gewinn rezipiert wird.26 Was dieses Virtualitätskonzept architekturtheoretisch so interessant macht, ist zunächst Deleuzes Grundentscheidung, das Virtuelle vom Ak- tuellen (und nicht vom Realen) zu differenzieren: „Das Virtuelle steht nicht dem Realen, sondern bloß dem Aktuellen gegenüber. Das Virtuelle besitzt volle Realität, als Virtuelles.“27 Das Virtuelle ist demnach immer real, aber nie aktuell; es hat eine reale Struktur, die sich

18 Vgl. Banham (1969). 19 Banham (1960, 93). 20 Vgl. Tschumi (1994). 21 Tschumi (1997, 21). 22 Vgl. Derrida (1986). 23 Vgl. Massumi (1998). 24 Massumi (2017). 25 Massumi (1998, 3). 26 Vgl. besonders Grosz (2002). 27 Deleuze (1992, 264). Hervorhebung i. O.

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 142 | Annina Klappert: Story-Stories der Gegenwart aber nicht als solche, sondern nur in ihren Aktualisierungen zeigt. Das Virtuelle ist ein problematischer Komplex, der nach einer Lösung sucht:

Das Virtuelle besitzt die Realität einer zu erfüllenden Aufgabe, nämlich eines zu lösenden Prob- lems; das Problem ist es, das die Lösungen ausrichtet, bedingt, erzeugt, diese aber ähneln nicht den Bedingungen des Problems.28

Aktuelle Lösungen realisieren sich also immer aus dem Problem der Virtualität heraus. Architektural gedacht bedeutet das: Das Gebaute ist immer ein je Aktuelles, das sich einer Aktualisierung (dem Bauprozess) verdankt, die eine Lösung für ein Problem der Virtualität darstellt (für das Problem: wie bauen?), aber selbst wieder virtualisiert werden kann (wie könnte anders oder umgebaut werden?). Virtualität und Aktualität sind damit dialektisch aufeinander bezogen, indem das Aktuelle (die Lösung) noch das Virtuelle (das nun gelöste Problem) und das Virtuelle (ein noch ungelöstes Problem) schon das Aktuelle (eine ak- tualisierbare Lösung) enthält.29 Der Prozess des Bauens ist daher vom Gebauten nicht zu trennen, da das zu Bauende dem Gebauten ebenso vorausgeht wie das aktuell Gebaute noch andere Möglichkeiten seines Gebautseins enthält. In diesem Sinne überträgt Massumi das Konzept von Deleuze auf den Bauprozess, als

the actual relation between the built forms that emerge from its process and the process as it hap- pened. In other words, if the idea is to yield to virtuality and bring it out, where is the virtuality in the final product? Precisely what trace of it is left in the concrete form it deposits as its residue? What of emergence is left in the emerged?30

Jedes Haus als ein in einem Prozess Emergiertes trägt demnach noch Spuren, Residuen, Res- te dieses Emergierens und setzt den architektonischen Prozess in einem „after-process“ fort:

The building is the processual end of the architectural process, but since it is an end that animates the process all along, it is an immanent end. Its finality is that of a threshold that belongs integ- rally to the process, but whose crossing is also where the process ceases, to be taken up by other processes endowing the design with an afterlife. The most obvious after-processes are two: looking and dwelling. The exterior of the building takes its place as an object in the cultural landscape, becoming an unavoidable monument in the visual experience of all or most of the inhabitants of its locale. And the building becomes an experienced form of interiority for the minority of those people who live in it, work in it, or otherwise pass through it.31

Zweierlei ist hier festzuhalten. Zum einen ist die Fertigstellung eines Hauses nur der Mo- ment eines Übergangs („threshold“) zu weiteren Prozessen („looking“ und „dwelling“), die Massumi affirmierend als „life of the building“ bzw. „afterlife“ beschreibt. Zum anderen ist dieses „life of the building“ durch Vorübergehende (deren „looking“) ebenso geprägt wie durch die in ihm Wohnenden und durch es Hindurchgehenden (deren „dwelling“). Das Akzidenzielle ist für Massumi daher ein notwendiger Teil des Gebauten, „a necessary part

28 Deleuze (1992, 268). 29 Vgl. Deleuze (1992, 230). 30 Massumi (1998, 9). 31 Massumi (1998, 10).

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Annina Klappert: Story-Stories der Gegenwart | 143 of the experience of looking at it or dwelling in it. The building would not be considered an end-form so much as a beginning of a new process“.32 Bei der Idee des afterlife setzt Stuart Brands architekturtheoretisches Interesse an. In How Buildings Learn: What Happens After They’re Built33 beschreibt er die Weisen, in denen vermeintlich ‚fertige‘ Häuser ihre Formen in Abhängigkeit von Moden, Gewohnheiten und technischen Neuerungen verändern. Schon im Titel propagiert der anthropomorph for- mulierte Vorgang des ‚Lernens‘ – wie die ebenfalls anthropomorphe Semantik des ‚Lebens‘ bei Massumi – die Prozessualität, die sich, so Brand, im englischen Substantiv building ebenso ausdrücke wie das Gebäude selbst. Entgegen allen Bestrebungen, Häuser statisch zu denken, und allen Bemühungen, ihren Zustand zu erhalten, trotzten sie dem nämlich:

They are designed not to adapt, also budgeted and financed not to, constructed not to, administered not to, maintained not to, regulated and taxed not to, even remodeled not to. But all buildings […] adapt anyway, however poorly, because the usages in and around them are changing constantly.34

Als eines der vielen Beispiele für diese These zeigt Brand die folgenden zwei identisch ge- bauten Nachbarhäuser, die sich im Laufe von 40 Jahren bis zur Unkenntlichkeit verändern (vgl. Abb. 5, 6):

Abb. 5: Beispiel von Stuart Brand: zwei benachbarte Häuser bald nach ihrer Fertigstellung 1850.

32 Massumi (1998, 18). 33 Brand (1994). 34 Brand (1994, 2).

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 144 | Annina Klappert: Story-Stories der Gegenwart

Abb. 6: Beispiel von Stuart Brand: dieselben beiden Häuser 40 Jahre später.

Brands Ansatz ist es daher, das building – und dieses Wort ist in seinem sowohl statischen als auch prozessualen Sinne gar nicht ins Deutsche zu übersetzen – als ein Ganzes zu untersuchen, und zwar „not just whole in space, but whole in time. […] From the first drawings to the final demolition, buildings are shaped and reshaped by changing cultural currents, changing real-estate value, and changing usage.“35 Für diese Gestaltwandel spielen kulturelle, ökonomische und individuelle Einflüsse eine Rolle, so dass sich private Häuser am stetigsten transformieren, da sie direkt auf die Vorstellungen und Bedürfnisse der in ihnen Wohnenden – häufig Familien – reagieren. Wenn etwa ein verwitweter Elternteil ein- oder ein Kind auszieht, stehen Veränderungen ‚ins Haus‘, ebenso, wenn genug Geld für die neue Küche gespart ist, ein Hobbyraum in der Garage eingerichtet werden muss oder ein Spielzimmer im Dachboden.36 Häuser und Familien „mold to each other twenty-four hours a day“;37 sie formen sich gegenseitig. Auch technologische Entwicklungen und der Zustand des Hauses sind entscheidend:

Deterioration is constant, in new buildings as much as old. The roof leaks. The furnace is dying. The walls have cracks. The windows are a disgrace. […] The whole place is going to have to be redone! And you can’t fix or remodel an old place in the old way. Techniques and materials keep changing. Factory-hung windows and doors are better than the old site-built ones, but they have different shapes. Sheetrock replaces plaster; steel studs replace wood.38

Zur Analyse der sich in Wechselwirkung von Haus und Wohnenden vollziehenden Verände- rungen entwickelt Brand folgendes Schichten-Modell (vgl. Abb. 7):

35 Brand (1994, 2). 36 Vgl. Brand (1994, 10). 37 Brand (1994, 7). 38 Brand (1994, 5).

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Abb. 7: Stuart Brand: Haus-Schichten.

In diesem Modell identifiziert Brand sechs Schichten, die einer je eigenen prozessualen Logik folgen.

1. Site. Der Platz, an dem das Haus steht: überdauert Generationen von ephemeren Gebäuden 2. Structure. Fundament und tragende Wände: teurer Wechsel, geschieht alle 30–300 Jahre 3. Skin. Äußere Oberfläche: Wechsel etwa alle 20 Jahre aus Geschmacks- oder aus technischen Gründen 4. Services. ‚Eingeweide‘ eines Hauses wie Elektrik, Rohre, Heizung: Wechsel wegen Erneuerung oder Reparatur alle 7–15 Jahre 5. Space Plan. Das innere Layout, das das tägliche Wohnen prägt, wie Böden und Tape- ten oder die Lage von Wänden, Türen und Fenstern: Wechsel je nach Nutzung alle 3–30 Jahre 6. Stuff. Herumliegendes und Bewegliches wie Möbel, Mülleimer, Telefone: poten- ziell immer im Wechsel

Die Veränderungsprozesse, die in diesen Schichten vor sich gehen, wirken aufeinander ein, wobei es schnellere (stuff, services) und langsamere (space plan, skin, structure) Prozesse gibt, aber auch relative Unveränderlichkeit (site).39

III. Glenn Patterson: „Number 5“. Pattersons Roman Number 5 reflektiert diese unter- schiedlichen Prozessualitäten von Häusern und ist hierin ein Beispiel und Beitrag ar- chitekturalen Denkens.40 Der Roman handelt vom afterlife eines Einfamilienhauses in einem Neubaugebiet am Rand einer größeren, nicht bezeichneten Stadt, das mehrere Eigentümer(innen) von etwa 1959–2003 nacheinander bewohnen, durch-leben und verändern. Auf dem Buchumschlag (aber nicht mehr im Buch) steht – möglicherweise zu

39 Brand (1994, 17), d. h. der site verändert sich, aber nicht die Tatsache, dass das Haus dort steht. 40 Patterson (2003); ausschließlich für diesen Text erfolgen die Seitennachweise im Fließtext in Klammern.

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Werbezwecken – der Untertitel „Five families, five decades – one house…“, der für den Untertitel von Hardings The House by the Lake („One House. Five Families. A Hundred Years of History“) Modell gestanden haben mag. In jedem Fall weist die fast identische Rei- hung auf das ähnliche Erzählsetting hin, mit zwei signifikanten Unterschieden. Zum einen ist das Haus in Pattersons Text nicht genau lokalisierbar, so dass es exemplarischen Cha- rakter erhält, während Hardings Haus am See durch genaue Koordinaten erfasst ist und die Ortsangabe ‚Berlin‘ schon im Titel auf die Bedeutung dieser Referenz hinweist. Auch wenn es nicht namentlich erwähnt wird, lassen einige Anhaltspunkte darauf schließen, dass Nummer 5 in Belfast steht: die Größe und Entwicklung der Stadt, einige Orte wie der zentrale Platz oder das Kunstzentrum (dessen fiktiver Name auf den realen Belfaster Maler Daniel O’Neill referiert) sowie Andeutungen des in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun- derts sich zuspitzenden Nordirlandkonflikts mit zunehmender Gewalt auf den Straßen. All dies bleibt jedoch so vage, dass das Haus in jedem sich entwickelnden Vorort am Rande einer jeden größeren Stadt stehen könnte, weshalb Laura Pelaschiar die Stadt in Number 5 als „Everycity“ bezeichnet.41 Entsprechend könnte man die im Haus Wohnenden trotz ihrer Individualitäten ‚Everybodys‘ nennen, insofern ihre Lebensumstände typisch für ihre Zeit sind. Während Hardings Text durch die erzählerische Nähe zu den historisch belegten Lebensläufen und Wohnverhältnissen eher identifizierend als identifikatorisch verfährt, setzt Pattersons Roman Number 5 auf Vieldeutigkeit. Bereits der Buchtitel ist mehrfach kodiert: Nummer 5 kann auf die Hausnummer, die Anzahl der Einzüge und die Anzahl der erzählten Jahrzehnte deuten. In dieses der eindeutigen Referenzialisierbarkeit entzogene Haus werden die Geschichten dann aber auf geradezu konkretistische – nämlich Gegenstände, Materialitäten, Umgebungen topographisch detailliert beschreibende42 – Wei- se ‚hineinerzählt‘, wodurch wiederrum das Konkrete paradigmatischen Charakter erhält.

III.1. Ein- und Auszüge: Wechsel von Wohnweisen. Die Wohnphasen strukturieren den Roman in fünf Teile: Falloon (1959–1968), McGovern (1968–1975), Tan (1975–1989), Eliot (1989–1996) und Butler/Baker (1996–2001). Wechselt das Haus die Besitzenden, wechselt die Erzählung die Fokalisierung, so dass das historisch Typische immer nur aus dem spezifischen Blickwinkel einer Figur erkennbar wird. Die jeweiligen Wohnweisen vermitteln sich durch den Umgang mit stuff und werden bedingt von stuff, wie im Folgen- den deutlich werden soll. Die erste Wohnphase steht im Zeichen des Rechnens, Sparens und Aufzählens. Stella rechnet bereits bei der Hausbesichtigung im Kopf die Abzahlungs- raten aus:

I calculated that by the time we had paid off the twelve hundred pounds I would be forty-nine and Harry would be forty-eight. The woman pushing her pram up the ridged concrete roadway would be…what? forty-three? … the baby in the pram in its twenty-sixth year. The century would be eighty-four, my mother thirty-three years dead. (7)

41 Pelaschiar (2000, 130). Den Hinweis auf Pelaschiar verdanke ich Schmideder (2012, 60). 42 Vgl. zur topographischen Betrachtung von Literatur Nitsch (2015).

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Während Stella gern und aus Spaß kopfrechnet, kalkuliert ihr Mann Harry aus Gründen der Sparsamkeit. Er, ein „boilermaker“, besteht darauf, das Familieneinkommen allein zu verdienen, obwohl Stella eine passende Stelle als Sekretärin angeboten bekommt. Ein vornehmliches Thema dieser Wohnphase ist die Auseinandersetzung mit Moralitätsvor­ stellungen, nach denen Frauen nicht arbeiten sollen, ihr Kirchgang (es gibt vier Kirchen) eine Selbstverständlichkeit und ihre Alltagsrealität von öder Einsamkeit geprägt ist. Der starren moralischen und sozialen Ordnung sowie der Wichtigkeit ihrer Repräsentation entsprechend hat der meiste stuff seinen festen Ort, an dem Stella ihn in vor ihrem inneren Auge erscheinen lassen kann:

Our house: Hall mat, tan coir, from Noble Bros on the main road. On the wall to the left, a joined VW of coat pegs, red balls on black stalks, bought from Nobles […]; on the wall to the right, a mirror, […] a wedding present from my Aunt Mildred […]. Through door to: dark-grey moquette armchair […] making up, with the tree-seater settee beneath the window, the Chesterfield suite, from the Co-op on the instalment plan. Either side of the second chair, a radiogram, […] a wedding present from my father, and an occasional table said to have been in Harry‘s family ‚for generati- ons‘. […] Opposite the settee, a hearth rug, burgundy with navy and gold motif, a hearth set and matching coal scuttle (all Nobles’), a mantel clock from the girls I used to work with, a delft cat, ‚Souvenir of the Isle of Man‘, souvenir of our honeymoon, Busy Lizzie in a plastic pot. Through kitchen door, right to: G-Plan dinette table and chairs, present from Harry’s parents; long, low china cabinet, mahogany, double doors (Harry’s sisters), containing a twenty-four-piece dinner service, ‚Spring Meadow‘ flowers on white, from Harry’s boilermaker colleagues […]. Whenever I attempted this mental inventory, I rarely even made it into the kitchen. So many things and so many still to buy. (23 f.)

Stellas Beschreibung vermittelt nicht nur eine gute erste Orientierung im Haus, sondern es fällt auch auf, dass es ihr weniger um den Besitz an sich als um dessen Beziehungswert geht sowie um seine Ordnung im Raum. In ihre sozial bezogenen, mentalen Inventuren des Feststehenden mischen sich jedoch mit zunehmender Einsamkeit Gedanken, die sie wegdriften lassen, und zwar mit Hilfe der Hauswände:

I started counting the rows of bricks above the bunker, I counted the bricks in each row. I con- templated calculating the number of bricks that had gone into the making of the whole house and then I have no idea where I went, but the next thing I was aware of was rain hitting the kitchen window (42).

Während Stellas Tagträume sich zunehmend auf andere Männer richten, kann sie Harry, als er länger im Krankenhaus liegt, aufgrund ihrer festen Moralvorstellungen „(there were people watching)“ (58) nur auf die Stirn küssen. Die Episode endet damit, dass der gerade erwachsene Nachbarssohn Graham vorbeikommt, um ihr seine Hilfe beim Nachfüllen der Kohle anzubieten, und sie ihn verführt, während Harry im Krankenhaus liegt. Im Kapitel McGovern wohnt ein älteres Ehepaar mit Bildungsinteressen im Haus Num- mer 5. Die kulturelle Neugier war der Anlass, aus einer kleinen Stadt ohne Orchester, Theater und gutem Kinoangebot an den Stadtrand der Großstadt zu ziehen (81). Rod- ney, aus dessen Perspektive hier erzählt wird, verfolgt engagiert politische Themen und hört als einer der ersten (so gut es geht) auf zu rauchen, sobald er einen Artikel über den

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Zusammenhang von Rauchen und Lungenkrebs gelesen hat. Er ist eine Art Pionier (und dafür mag auch sein Beruf als Lokführer stehen), auch in Bezug auf seine eigene Bildung. Das Wissen um den ‚guten Geschmack‘, der sich in der ‚richtigen‘ Auswahl von stuff zeigt, hat er sich indessen nie erarbeiten können, denn

the dinner table, chairs, settee and wireless in my own family’s house weren’t the at all, but a, some: versions rather than the definitive articles and, what was worse, that there was no way of telling whether they were the right versions. (114)

Wo Stella die Einrichtung gedanklich auflistet, reflektiert Rodney über die Gegenstände, mit denen er lebt, und macht auch hier ‚Entdeckungen‘: „It was like discovering television for the first time, getting colour.“ (87) Vor allem verfolgt er ein selbst erdachtes Projekt, das ihn weit über die Wände des eigenen Hauses hinausträgt, indem er auf eben dessen Wände (der Abstellkammer) eine Weltkarte zeichnet: „In the room next door the Sudan awaited the drawing of its eighth and final land border.“ (86) Sein Vorgehen beschreibt er so:

I worked out the scale from the atlas, marking on the wall the four points of a territory – extreme north, south, east and west – and drawing between them freehand. I had been on the South Sea Islands then for the best part of six months. Fiji, Tonga, Samoa, the Ratak Group and Rajik Group, some of them even on my scale little bigger than dots. (97)

Wie für Stella wird für Rodney eine Wand zum Ausgangspunkt entgrenzender Imagina- tion, die bei ihm die Form einer gedanklichen Bildungsreise annimmt. Rodney reist auf der Tapete und produziert hierbei, wie selbst sein Konkurrent Hideg anerkennen muss, „a work of art“, auf das noch zurückzukommen sein wird. Die nordirischen Konflikte der 1970er Jahre machen indessen jedes unbeschwerte kulturelle Vergnügen in der Innenstadt unmöglich, sodass die McGoverns wieder aufs Land ziehen. Rodney entzieht die Weltkarte aber zuvor den Augen der Welt durch eine neue Tapetenschicht, nicht ohne auch diese in einer Art Abschiedsgeste für seine Imaginationen zu nutzen:

I performed a neat turn of my own to face the newly papered boxroom wall. Crown Vinyl P85832, a Rorschach test in shades of pink. I saw giant butterflies against the white background, a devil in a bow tie. I saw what would have been a perfect colour for the common Market countries lying underneath. It was my one big regret that I hadn’t got round to colouring my continents. Oceans and ice caps, that was a far as I’d got. (112)

Stehen die ersten beiden Wohnphasen paradigmatisch für Moralität (Falloon) und Bildungs- streben (McGovern), handelt die Wohnphase der Tans, einer chinesischen Immigranten- familie, von Soziabilität. Aus diesem Grund erhält erstmals der Briefkasten des Hauses eine besondere Bedeutung: Vor ihm sitzt die gesamte Familie und sieht von innen schweigend zu, wie von außen ein Teller mit einem Hundehaufen hindurchgeschoben wird. Der Rassismus einiger Nachbarn begleitet die Familie ständig und kulminiert in einem Fake-Inserat, in dem das Haus zum Verkauf angeboten wird, so dass sich plötzlich ein Mann unangemeldet darin umsieht, als sei es schon seins (128). Passend zu dieser Fokussierung auf Soziabilität erhält das Haus in diesem Kapitel weniger Bedeutung als das Neubauviertel, das der Sohn,

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Annina Klappert: Story-Stories der Gegenwart | 149 aus dessen Perspektive erzählt wird, mit seinem Freund durchstreift, oder die Stadt, in deren Kneipen man sich trifft. Wichtiger wird das Haus selbst wieder in der Wohnphase der Familie Eliot, die von materiellem Wohlstand und individueller Selbstsuche geprägt ist. Das Kapitel verhandelt für diese Zeit typische Veränderungen, die auch Brand beschreibt:

In this century the houses of America and Europe have been altered utterly […]. Cars came, grew in size and number, then shrank in size, and garages and car parks tried to keep pace. ‚Family rooms‘ expanded around the television. In the 1960s, women joined the work force, transforming both the workplace and the home. […] Unremitting revolutions in communication technology require rewiring of whole buildings every seven years on average.43

Bei den Eliots arbeitet erstmals auch die Frau, Catriona, und diese konstatiert als Fokali- sierungsinstanz mehrfach, wie ihre beiden Kinder fortwährend vor dem Fernseher sitzen und für alles andere nicht erreichbar sind. Nur als Journalisten von außen den Leichenzug filmen, der an ihrem Haus vorbeizieht, so dass sie es im Fernsehen von außen sehen können, sagt der Sohn (und sagt der Text über seinen Protagonisten): „Magic […]. Our house is famous“ (189). Steve, der Vater, erneuert die gesamte Elektrik und überredet Catriona, im Vorgarten eine Garage zu bauen. Diese arbeitet in einem Kunstzentrum, dessen ‚unmora- lische‘ Exponate zu aufgeregten Gegendemonstrationen durch christliche Gruppen führen, und sie ist die einzige, die der phasenweisen christlichen Erweckungswelle widersteht, die von ihrer Tochter ausgehend nach und nach den Rest der (eigentlich betont atheistischen) Familie ergreift. In ihrem Haus finden nun regelmäßig Bibel-Treffen statt, und sie fragt sich, ob man es von außen als ‚heiliges Haus‘ erkennt, denn „all such houses had an odd look about them, as if something of what went on inside had leaked, the way I’d read radiation did, into the very bricks and mortar.“ (219) Hiermit ist jener Aspekt vom afterlife eines Hauses angesprochen, der im looking at besteht, aber Catriona kann sich beruhigen, dass das Haus zumindest nicht als ‚heiliges‘ fortlebt: „But all I saw was what I had helped make, a none-too-shabby, going-on-thirty- five-year-old inside-terrace with off-street parking.“ (219) Beim Blick auf das eigene Haus fällt ihr indessen auf, dass es – mit Ausnahme des Hauses von Ivy Moore – das einzige mit dem originalen Hausnummernschild ist, so dass sie umgehend dieses Schild durch ein neues (aus Keramik) ersetzt. Während Mann und Kinder ihr Selbst über den christlichen Glauben zu definieren versuchen, trägt Catriona Sorge, ihrem Hausnummernschild indi- viduellen Ausdruck zu verleihen. Mit der Entwicklung des Neubaugebietes zu einem florierenden städtischen Vorort ist der Wert des Hauses im Kapitel Butler/Baker enorm gestiegen. Dies ist dem ersten Dialog zu entnehmen, der sich zwischen Toni und Mel entspinnt, „a young man and a young woman“ (246), die sich Nummer 5, ihr Geschäft und gelegentlich unverbindlich ein Bett teilen. Reihenhaus Nummer 12, das sich noch im Zustand der 1970er Jahre be- findet, steht bereits für 87.500 Pfund zum Verkauf, während Toni ihr Haus wenige Jahre zuvor für 46.000 erworben hat und aufgrund des modernen Innendesigns, das sie ihm

43 Brand (1994, 3–5).

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 150 | Annina Klappert: Story-Stories der Gegenwart verliehen hat, mit einem Verkaufswert von mindestens doppelt so viel rechnen darf (241). Mel ist diesmal die Fokalisierungsinstanz: „Ours was a two-car, no-vacuum household […]. Vacuums scoored floorboards, vacuums bollocked stone, and every floor in this house was either one or the other.“ (253) In diesem Kapitel taucht auch Penny Falloon, die Tochter von Stella und Harry, wieder auf, die als 41-Jährige aus Australien mit dem Wunsch kommt, ihr Geburtshaus wiederzusehen. Die hierdurch etablierte Kreisstruktur steht indessen nicht für genealogische Kontinuität, vielmehr versammeln sich in Nummer 5 nun Einzelpersonen, die nicht familiär miteinander verbunden sind und die Fäden der Geschichte von verschiedenen Standpunkten aus aufnehmen, auch wenn Mel das unheim- liche Gefühl hat, „that she was after all in some way connected to me.“ (259) Der Roman führt so durch das Haus mit seinem stuff von der Moralität der Falloons in den 1950er Jahren über das Bildungsstreben der McGoverns, das Problem der Soziabilität bei Tans und der von Wohlstand gesättigten individuellen Selbstsuche der Eliots hin zum Lifestyle und den Projekten der Selbstverwirklichung im 21. Jahrhundert.

III.2. Die Nachbarschaft, die Straße und ihr Gedächtnis. Das Haus Nummer 5 steht in einem Neubaugebiet, in dem alle Häuser (so wie jene in Abbildung 6) identisch gebaut sind und sich zunächst nur durch den stuff unterscheiden, wie Stella im Nachbarhaus be- merkt. Dort sind

plates mounted on the walls between the cupboards and appliances, with bits of verse on them, a recipe for soda bread, shamrock and shillelagh, a portrait of Edward VIII. Such were the things that made one house begin to look unlike another. (39)

Die Bebauung ist eng, die Wände sind dünn, die Geräusche der Nachbarn allgegenwärtig und die gegenüberliegenden Häuser so nah, dass man hineinsehen kann. In keiner Wohn- phase sind die Geräusche so wichtig wie für die von Prüderie geprägte der Falloons (welche Autos fahren die Straße entlang; welche Geräusche kommen aus welchen Häusern), und in keinem anderen ist die Frage so brisant, was die Nachbarn sehen können und was nicht. So macht Stella beim Besuch im Haus der Nachbarin Ivy Moore schräg gegenüber eine zufällige Entdeckung:

My eye followed Ivy, past the wardrobe and the chest of drawers to the bedroom window, and followed her eye in the thirty feet across the street to the inevitable conclusion of her view. I could see the alarm clock on my own bedside table. I could nearly read the hands. (10)

Dies führt dazu, dass Falloons Schlafzimmer nach hinten verlegt werden muss, wobei Stella ihrem Mann gegenüber ebenso schamhaft den wahren Grund hierfür verschweigt (hinten heraus sei es heller). Die Neugier von Tans Sohn wiederum wird von der guten gegenseitigen Einsichtnahme begünstigt, da er problemlos Ivys Versuche mit dem Selbstbräuner in deren Schlafzimmer verfolgen kann. Es entfaltet sich hierdurch ein Zwischenraum der Nachbarschaft, in den auch die Geschichten aus Nummer 5 eintreten – und vice versa. So ist etwa neben dem schon erwähnten Graham auch András Hideg, der ungarische Nachbar, in allen Episoden präsent: Sein Name wird zunächst als „Andy Headache“ missverstanden (Falloon), er

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Annina Klappert: Story-Stories der Gegenwart | 151 veranstaltet jährlich Silvesterfeiern für die Nachbarschaft (McGovern), wartet samstags auf der Hauptstraße auf den Sohn der chinesischen Familie, um mit ihm nach Hause zu gehen, (Tan) und wird – schwarzhumorige Anspielung auf Headache – schließlich mit einem Kopfschuss ermordet und im Sarg an Nummer 5 vorbeigetragen (Eliot). In der letzten Episode (Butler/Baker) ist „the Hungarian man“ nur noch Geschichte, aber „in a sense everyone’s history“ (266). Für das Transitorische des Neubauviertels steht der immer („always“) präsente Immobi- lienmakler Artie Eliot: „‚Mr. Eliot?‘ Harry said. […] ‚Artie,‘ said Artie, early middle-age, sandy hair, a rawness at the corner of his left eyelid. ‚Always Artie‘“ (5). Alle Häuser des Neubauviertels gehen über seinen Schreibtisch: „‚Just come in,‘ said the estate agent. (‚Ar- tie, for dear sake. Call me Artie.‘). He showed me the brochure. Inside terrace, royal blue door, Bakelite number 5“ (82). Artie organisiert die Wohnwechsel und hält sich gern im transitorischen Raum der Straße auf: „It did seem to be the street Artie visited“ (16). Im Gegensatz zu Artie steht Ivy – wie der Gärtner in Erpenbecks Roman Heimsuchung – für Kontinuität. Sie ist das personifizierte Gedächtnis der Nachbarschaft und von Anfang an vor Ort und zur Stelle: „[A] petite woman in a white cloche hat was backing out the door of number – 2,4,6 – 8, an end-terrace across the way“ (6). Das Kontinuierliche vermittelt sich im Roman über das Salz, das sie jeder neuen Familie von Nummer 5 zum Einzug schenkt, auch wenn die Reaktionen hierauf unterschiedlich ausfallen. Ivy geht in dieselbe Kirche wie die Falloons, begleitet sie mit „ceaseless chatter“ (20) und ist äußerst emotional, wie Rodney bemerkt:

Ivy was in full flow. I noticed her hands as she talked, touching forearms, shoulders […]. She leaned in whispering, drew back, laughed with complete abandon. The woman was incapable of moderate emotion. I remembered her, the day we got the keys for the house, practically weeping when I met her in the street. (92)

Ivy kennt aber eben auch alle Geschichten der Straße, sie ist „the person who told [Margaret] that the woman who lived here before us [Stella] lost all her hair in a single night“ (101). Als schon ältere Dame von fast 60 Jahren sitzt sie oft bei Butler/Baker in der Küche, um nach den für sie ungewöhnlichen Dingen zu fragen, die sukzessive aus den Einkaufstüten gepackt werden. In der Küche von Nummer 5 beginnt sie auch, die Entwicklung seit den 1960er Jahren zu rekapitulieren: „We couldn’t imagine what it was like, she said, back when these houses were built. They didn’t see it themselves at the time, but they were quite cut off, more like a village really than a suburb.“ (265) Da Ivy das Gedächtnis der Straße ist, endet mit ihrem Kapitel auch das Buch. Hier driftet sie an ihrem 60. Geburtstag beim Blumengießen in Nummer 5 in Erinnerungen ab: „I imagined that the memories would get more and more jumbled up, but they’re all there in their proper order, like slides packed on to a carousel. Just, sometimes […] the carousel jumps.“ (289) Ivys Kapitel bietet eine Gesamtschau der Nachbarschaft, eine Karussellfahrt durch die Zeit und das Aufdecken einiger Geheimnisse. In diesem perspektivischen Wechsel werden alle Geschichten und Personen kursorisch betrachtet, und da Ivy schräg gegenüber von Nummer 5 wohnt, nimmt dieses letzte Kapitel auch in einem topologischen Sinne die Perspektive ‚von gegenüber‘ ein.

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III.3. Number 5: Haus im Prozess

Buildings loom over us and persist beyond us. They have the perfect memory of materiality. When we deal with buildings we deal with decisions taken long ago for remote reasons. We argue with anonymous predecessors and lose.44

Neben Ivys gutem Gedächtnis gewährleistet eben dieses „perfect memory of materiality“ des Gebäudes die Übermittlung der Geschichte von Nummer 5. Mit Brands Modell kann gezeigt werden, wie in Number 5 die Schichten des Hauses dessen Geschichte erzählen und wie die Erzählung diese Vorgänge des Schichtens vorantreibt. Wie in McGuires Graphic Novel Here überlappen sich im ‚here‘ des Hauses die Wohnschichten als ‚heres‘ in der Zeit und in der Erzählung. Eine Markierung dieses Zusammenhangs ist das zu Beginn eines jeden Kapitels wiederkehrende Inserat zum Verkauf des Hauses, dem sein veränderter Zu- stand jeweils abzulesen ist. Die Inserate indizieren die Prozessualität des Hauses und sie prozessieren die Erzählung. Mit Blick auf die ersten drei Kategorien von Brand site, structure, skin lässt sich erkennen, inwiefern das Haus über die Jahrzehnte hinweg konstant bleibt: Der Platz, an dem es steht (site), ist immer derselbe (was nicht überraschend, aber in Anbetracht transportabler Häuser doch nennenswert ist), Fundament und tragende Wände (structure) werden ebenso wenig verändert wie die äußere Oberfläche (skin). Alles im Haus Bewegliche und ‚Herumfliegende‘ wie das Mobiliar und Gebrauchsgegenstände (stuff) wechselt hingegen fast vollständig mit jedem Aus- und Einzug und deutet auf den je individuellen Wohn- und Lebensstil und oft auch auf den Zeitgeist hin – nur manches bleibt als Spur erhalten wie eine sorgfältig notierte Nutzungsanweisung für den Öltank oder alte Kinderzimmermöbel. Anhand des wechselnden stuff entwickelt sich auch die Geschichte der Fernsehtechnik: von Falloons, die noch gar keinen eigenen Fernseher besitzen, über Rodney McGovern, der schon die Magie des Farbfernsehens bewundert, und Familie Tan, die sich nie den ersehnten Video- rekorder leisten kann, bis hin zu Steve Eliot, der die Zahl der Fernsehprogramme durch eine Satellitenschüssel erweitert. Während sich in Number 5 diese technischen Entwicklungen durch Rekursionen auf das Thema in der Narration abzeichnen, werden sie in McGuires Here ins Bild gesetzt: An derselben Stelle, an der im Panel von 1957 (zur Zeit der Falloons) noch ein Bild an der Wand hängt und in diesem ‚here‘ kein Fernseher ist, läuft im Panel von 2015 eine Sendung auf einem bereits ultraflachen Screen (nach der Zeit von Butler/Baker).45 Für die Geschichte von Nummer 5 und seiner Materialität als Gedächtnisträger sind vor allem die beiden übrigen Schichten von Interesse: services und space plan. Die services, die ‚Eingeweide‘ des Hauses, werden in jedem Zeitabschnitt, wenn auch unterschiedlich intensiv, modernisiert. Der „boilermaker“ Harry Falloon installiert einen neuen Boiler sowie im Bad eine elektrische Heizung für die neugeborene Penny, Rodney McGoverns ‚neues Hobby‘ ist die Zentralheizung, und Steve Eliot reißt fast das ganze Haus auf, um Heizungen zu montieren und die Elektrik zu erneuern. Am eindrücklichsten zeigt sich das

44 Brand (1994, 2). 45 Vgl. Abb. 3 und 4.

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Prozessuale jedoch im space plan, dem inneren Layout von Nummer 5. An einigen Stellen des Hauses nämlich entwickeln sich intensive Baugeschichten: Am ‚here‘ des einen Orts verknüpfen sich sukzessive verschiedene andere. So beginnt Tans Vater, eine Treppe zum Dachboden zu bauen: „‚Here,‘ he said, pointing with the saw at the door of the built-in cupboard“ (131). Dieser Einbauschrank in Tans ‚here‘ wurde in der Gegenwart der Falloons nur als Zugang zum Wassertank genutzt, aber von Tans ‚here‘ aus wird nun der Dachboden erschlossen. Die Treppe bleibt indessen solange provisorisch, bis sie Steve Eliot fertigstellt, der zudem ein Velux-Fenster ins Dach einbaut (190). Von nun an wird das Haus mit vier Räumen inseriert (287). Die Regel „[a]ll buildings grow“ gelte immer, schreibt Brand, sie wüchsen nach oben, nach hinten in den Garten, nach unten in den Grund.46 Auch die Garage, die Steve in den Vorgarten baut, zeigt dies exemplarisch (210) – und die ganze Straße folgt diesem Beispiel. Eine der wichtigsten Baugeschichten erzählt der Kamin. Das ist insofern markant, als auch in Here der Kamin eine kontinuierende Funktion hat. Blättert man die Graphic Novel wie ein Daumenkino durch, ‚steht‘ der Kamin immer an derselben Stelle, während der stuff mit der Zeit wechselt. Der Kamin stellt somit einen wichtigen Orientierungspunkt in der Topographie des Zimmers dar. In Number 5 entwickelt sich der Kamin im Verlauf der Erzählung zu einem narrativen ‚Brennpunkt‘. In den 1960er Jahren ist er noch Stellas täglicher Begleiter:

I had to administer countless times in between, opening, closing, raking, collecting ashes, polishing the brass surround […]. At the back of the fire was the boiler which gave us our hot water, and further up the chimney (this was the innovation of our houses) a fan had been added to blow air through two adjustable vents […]. (35)

Hingegen gerät der Kamin mit der Einführung der Zentralheizung zur Mimikry: Steve „took away the old solid-fuel fire from the living room and replaced it with a flame-effect electric one“ (190). Jahre später entfernt schließlich Toni den Kamin ganz, wodurch die- ser jedoch nicht im Gedächtnis des Hauses gelöscht ist, in dem die Stelle als signifikante Leerstelle bestehen bleibt. Als sich Penny nach fast 40 Jahren mit den Worten „it’s a total blank“ eingesteht, dass sie sich an nichts im Haus (das nun von Toni und Mel bewohnt wird) erinnert, überlagert sich diese Leerstelle im Gedächtnis an das Haus mit der Leerstelle im materiellen Gedächtnis des Hauses. Vergessen ist die Geschichte deswegen nicht: „Well, right about where you’re standing“, sagt ihr Mel, „would have been the fireplace […]. She [Penny] took a quick step as though burned.“ (262) Die plötzliche Überlagerung der beiden Leerstellen führt zu einer Verknüpfung von zeit- lich eigentlich auseinanderliegenden Szenen an dieser Stelle. „[T]he carousel jumps“, würde Ivy sagen, die – vor Jahrzehnten – von Penny nach jener Nacht zu Hilfe geholt wurde, in der ihre Mutter Stella Pennys Vater mit dem Nachbarn Graham betrog. Das springende Karussell Ivys ist auch eine präzise Beschreibung für das Verfahren in McGuires Here, in dem auf derselben Seite Panels mit zeitlich fernen Szenen nebeneinandergestellt und

46 Brand (1994, 10).

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 154 | Annina Klappert: Story-Stories der Gegenwart ineinandergeblendet werden, so dass – wie im Gedächtnis – Nachbarschaften entstehen, die ursprünglich nicht bestanden; oder in dem beim Umblättern einer Seite ‚plötzlich‘ an der gleichen Stelle Dinge auftauchen, von dieser Stelle verschwinden oder andere ersetzen. Der Konnex ist in Here wie in Number 5 das Haus. Auch in Ivys Erinnerungen springen in dieser Weise in der Räumlichkeit von Nummer 5 die Temporalitäten ineinander: „I stand now, where I stood then, if here can really be there when there is no longer a hallway as such, when the staircase is different and the floor at the end of it is new.“ (291) Now und then, here und there überlagern sich, wenn auch nicht bruchlos, da das Innenleben des Hauses nicht wiederzuerkennen ist; ‚here‘ erinnert sich Ivy, wie Penny auf den Punkt ‚there‘ zeigt, an dem sie ihre Mutter mit Graham gesehen hat: „Penny pointed to the carpet in front of the fire as we passed through the living room. ‚There‘, she said.“ (295) Wenn Penny vor dieser Stelle zurückschreckt, als hätte sie sich verbrannt, so resultiert dies aus einer Verschränkung der Zeitschichten an diesem Ort, an dem ein für die Familie traumatisches Geschehen seinen Anfang nahm, denn Stella verlor in dieser Nacht nach dem Ehebruch vor dem Kamin alle Haare und die Familie emigrierte.47 Toni hat in Nummer 5 auch sonst reichlich für Leerstellen gesorgt: Glas, Stahl (rost- frei) und Stein prägen nun den Charakter des Hauses, und Ivy, die noch weiß, wie alles zu Beginn aussah, erscheint diese Veränderung wie ein Rückbau: „Ivy never walked through here but her head seemed, almost imperceptibly, to shake in contemplation of the floors, the exposed staircase, walls taken back to brick: what are you, unbuilding the place?” (253) Toni hat jedoch durchaus einen Sinn für Konservierung, wie ein Blick auf die Geschichte einer Zimmertapete zeigt, die mit dem Wasser beginnt, das eines Nachts von Decke und Wand in Pennys Wiege läuft: „We had to strip two entire widths of duckling-and-teddy-bear paper off the front bedroom walls, damaging a third in the process beyond repair, and roll up the lino to let the boards dry underneath.“ (39) Die Tapete erweist sich als ausverkauft; Harry möchte nur die kaputten Stellen ausbessern, Stella dagegen alles einheitlich tapezieren, und über diesen Streit wird gar nicht renoviert. Der Nachmieter Rodney McGovern kann daher bei der Tapezierung der Wände folgende Entdeckung machen:

I had finally got around to stripping the two remaining bedrooms. (I had striped the one with the baby paper before Margaret and I even moved in.) There was a slight discoloration in the plaster towards the top of the boxroom’s party wall, a foot and a half left of centre. Something about the shape – I drew around it in pencil the better to see it and, yes, I was right – it looked a bit like Greenland. (75)

Die kleine Spur, die das Wasser auch in der Tapete der Abstellkammer hinterlassen hat, interpretiert Rodney imaginativ als die Umrisse von Grönland, woraufhin der lang verjährte Wasserschaden zum Auslöser für das große Weltkartenprojekt in der Abstellkammer wird. Bei seinem Auszug tapeziert Rodney erneut, hinterlässt aber ein Zeichen:

47 Dies verweist auf das Ritual, Ehebrecherinnen das Haar zu scheren und sie öffentlich aus dem Haus zu treiben, das schon bei Tacitus und in frühmodernen Strafpraktiken belegt ist.

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Annina Klappert: Story-Stories der Gegenwart | 155

At the last moment before starting to paper, I dug out an old bit of crimson crayon from the tin […] and knelt by the bottom left-hand corner of the wall, between Chile and the Maria Theresa Reef. ‚The World by Rodney McGovern,‘ I wrote and added the dates: ‚October 1968 - March 1975‘. (116)

Mel beschreibt über 20 Jahre später, wie Rodneys Karte bei den Renovierungsarbeiten zutage trat: „[They were] steaming and scraping – in places finger-picking – away the overlaying decades of paper.“ (253 f.) Der Prozess des Schichtens wird durch den Versuch, eine einzelne Schicht freizulegen, deutlich. Brand zeigt zur Illustration folgendes Ausstellungsstück im Cooper-Hewitt Museum, das 13 Schichten Tapete zeigt, die in einem Haus in Fairfield, Connecticut, zwischen 1820 und 1910 übereinander gekleistert wurden (vgl. Abb. 8):

Abb. 8: Ausstellungsstück im Cooper-Hewitt Museum in New York City.

Die Kunst besteht, wie die Abbildung zeigt, nicht im Schichten, sondern in der Reflexion auf das Schichten durch dessen Exposition. Diese Art Haus-Kunst betreibt auch Toni: In der Küche von Butler/Baker hängt das gerahmte Cover eines lokalen Lifestyle-Magazins; es zeigt ein Bild von Toni vor der Weltkarte – die sie konserviert hat – mit der Titelzeile „Welcome to my world“. Das Haus ist also noch einmal ‚berühmt‘ geworden, aber diesmal nicht durch einen Leichenzug auf der Straße, sondern aufgrund von Rodneys Weltkarte und deren Übernahme durch Toni, die sie als Aufhänger für den Artikel über ihr ‚stylisch‘ um- strukturiertes Haus nutzt. Wenn Penny nach langer Zeit wieder in das ‚here‘ von Nummer 5 kommt, kann sie im ‚here‘ der erzählten Gegenwart durch die abgekratzten Tapetenschichten der Zwischenzeit die Tapetenschicht vom einstigen ‚here‘ ihrer Kindheit aufsuchen. Das weitere Schicksal des Hauses ist offen und davon abhängig, ob Toni und Mel ihre unbestimmte Beziehung neu definieren und dort wohnen bleiben; jedenfalls wurde das Inserat, aus dem auch die komplette Umstrukturierung des space plan hervorgeht, zunächst zurückgezogen. Den Abschluss der Erzählung bildet Ivys Blick aus dem (nun nicht mehr so neuen) Velux-Dachfenster über die Häuser der Nachbarschaft, ein Blick, der topologisch den Bezug nach außen in die Horizontale markiert, aber vom Bezug nach innen überlagert wird: In der Fensterecke hängt eine Spinne, die Ivys Aufmerksamkeit auf sich zieht. Eine Spinne fiel auch Stella bei der ersten Hausbesichtigung auf, und zum ersten Mal erschien

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 156 | Annina Klappert: Story-Stories der Gegenwart ihr damals das Haus „alive and possible“ (7). Der Kreis schließt sich, aber nur, indem er zugleich einen anderen Fortlauf der Geschichte initiiert: ‚Hier‘ wie ‚dort‘ entwirft der Ro- man kein geschlossenes Modell, sondern das einer rekursiven Prozessualität, und er zeigt sich in dieser Unabgeschlossenheit als ein Text, der architekturales Denken ermöglicht.

Abbildungsverzeichnis Abb. 1–4: Richard McGuire: Here. New York 2014: Pantheon Graphic Library. Abbildungen [im Original Farbabbildungen] mit freundlicher Genehmigung des Autors. Abb. 5–6: Fotos v. Robert S. Brantley, 1993; Abb. 7: Schema v. Stewart Brand im Design v. Donald Ryan; Abb. 8: Ausstellungsstück des Cooper-Hewitt Museums in New York. Abb. 5–8: Zit. n. Steward Brand: How Buildings Learn: What Happens After They’re Built. New York 1994: Viking Adult, S. viii, 1, 13, 12.

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Abstract Der Beitrag nimmt Romane der Gegenwart in den Blick, in denen die Geschichte eines Hauses erzählt wird, wie sie sich in Wechselwirkung mit den Geschichten der sukzessive in ihm wohnenden Menschen entwickelt. Nach einer kurzen Skizze entsprechender Romane werden architekturtheoretische Ansätze vorgestellt, die Häuser als prozessual konzeptualisieren. Sodann wird Glenn Pattersons Roman Number 5 als literarische Reflexion dieses Konzepts gelesen: als Geschichte eines Hauses im Prozess. The paper deals with a range of novels at the beginning of the 21st century in which a house’s story is told in its intra-action with the stories of the people living in it successively. After a short introduction to the respective novels, the paper gives a description of architectural theories which conceptualize houses as ongoing processes. In a third step, Glenn Patterson’s novel Number 5 is read as a literary reflection of these concepts and therefore as the story of a house in process. Keywords: Architekturtheorie, Haus, Literatur, literaturwissenschaftliche Raumforschung, Prozessualität

Anschrift der Verfasserin: PD Dr. Annina Klappert, Universität Erfurt, Philosophische Fakultät, Seminar für Literaturwissenschaft (NdL und AVL), Postfach 900 221, D–99105 Erfurt,

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) pen Zeitschrift für Germanistik | Neue Folge XXX (2020), Peter Lang, Bern | H. 1, S. 158–178

Thomas Wegmann Was du nicht siehst. Über die imaginäre und zumeist heimliche Aneignung von Wohnräumen anderer

I. Fensterblicke oder: visuell dabei. Im Mittelpunkt von Alfred Hitchcocks ebenso po- pulärem wie intrikatem Spielfilm Das Fenster zum Hof (Orig.: Rear Window, 1954) steht der Fotoreporter L. B. „Jeff“ Jefferies, der aufgrund eines Beinbruchs vorübergehend auf einen Rollstuhl und seine Wohnung angewiesen ist. Zur Untätigkeit gezwungen und an Lektüre offenbar nicht interessiert, blickt er unermüdlich aus seinem Fenster. Dieses Sze- nario ist im Film von Beginn an als Bühne arrangiert: Wie der Vorhang im Theater öffnen sich im Vorspann peu à peu die Rollos vor den Fenstern und geben den Blick frei auf den Hinterhof und die gegenüberliegenden Wohnungen einer Apartmentanlage in Greenwich Village. Auf der Handlungsebene verknüpft der Film die Beziehungskrise zwischen Jeff und seiner Freundin Lisa mit der Beobachtung und Aufklärung eines Verbrechens – auf der Motivebene geht es um den optischen Zugriff auf die Wohnung und damit die Privatsphäre anderer.1 „Wir sind doch ein Volk von Spannern geworden“, befindet die Krankenschwester Stella, die sich um den alleinlebenden und in den Hof blickenden Patienten kümmert, „die Leute sollten mal, statt bei anderen ihre Nase reinzustecken, vor ihrer eigenen Haustür kehren.“ (8:49)2 Entsprechend bezeichnet sie die Kamera mit Teleobjektiv, die Jeff wie ein Fernglas benutzt, als „tragbares Schlüsselloch“ (1:30:14) – und das zu einem Zeitpunkt, da aus dem Reporter, der seine Umgebung auf magazintaugliche Fotos taxiert, längst ein Detektiv geworden ist, der Indizien sucht und findet und bei der Beobachtung nicht beobachtet werden will. Doch was ihm dabei zunehmend verdächtig im Sinne kriminellen Verhaltens erscheint, deutet der befreundete Detective Ltd. Thomas „Tom“ J. Doyle als Effekt von Jeffs eigenem, ebenfalls illegitimem Verhalten: „Es ist nun mal eine private Welt, in die Du da hineinsiehst“, konstatiert er, „die Leute tun im Privatleben vieles, das sie unmöglich in der Öffentlichkeit erklären können.“ (1:15:29) Hitchcocks Film, in dem nur zu sehen ist, was man in und von der Wohnung des Pro- tagonisten aus sehen kann, wenn auch teilweise mit optischen Hilfsmitteln, liefert ein für mein Thema grundlegendes Szenario. Dazu gehört erstens der Blick aus dem Fenster und die mit ihm verbundene Tradition, die auch literarisch wie literaturwissenschaftlich längst einschlägig ist:

1 Vgl. dazu ausführlich Belton (1999), Kramer (1999), Stiegler (2004). 2 Zitiert wird die deutsche, bei Dailymotion frei zugängliche Synchronfassung (, zuletzt 6.6.2019).

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Der Fensterblick ist als Reflex auf die Umorganisation des öffentlichen Raumes anzusehen, wie er sich am Übergang zur Moderne herausbildete und private und öffentliche Lebenssphäre aus- einander treten ließ. Im Zuge dieser Umorganisation entstand der Typus des isolierten Zuschauers, dessen Verortung am Fenster als Geste eines vereinsamten Ich verstanden werden muß.3

Zum einen verfügt das Fenster über eine Rahmungsfunktion, indem es das Blickfeld be- grenzt und reale Beobachtungsobjekte zu ausschnitthaften Erkenntnisobjekten transfor- miert. Zum anderen „markiert das Fenster eine Schwelle, die innen und außen voneinander trennt, zugleich aber auch miteinander in Beziehung setzt“.4 Der aus dem Fenster schauende Betrachter ist in der Regel in einem Privatraum situiert, den er jedoch mit seinen Blicken überschreitet und so visuell an der Außenwelt partizipiert, ohne jedoch physisch ein Teil von ihr zu werden. Er überwindet die mit dem Fenster evozierte Distanz mit seinem visuellen Fernsinn und hält sie zugleich mit seiner Entfernung zum betrachteten Geschehen aufrecht. Literarhistorisch paradigmatisch und bis heute vielfach gedeutet und kommentiert wurde ein solcher Blick aus dem Fenster in E.T.A. Hoffmanns Erzählung Des Vetters Eckfenster, die 1822 in der Zeitschrift Der Zuschauer. Zeitblatt für Belehrung und Aufheiterung erschien. Darin besucht der Ich-Erzähler seinen älteren Vetter, einen Dichter, dessen „Rädergang der Phantasie“5 durch Lähmungserscheinungen an Händen und Füßen beeinträchtigt ist und der krankheitsbedingt seine Wohnung nicht mehr verlassen kann. Trost bietet ihm ledig- lich der Blick aus seinem erhöht gelegenen Eckfenster auf das rege Treiben des darunter- liegenden Marktplatzes.6 Die Erzählung selbst besteht in erster Linie aus einem Gespräch zwischen den beiden Vettern über das vom Fenster aus Gesehene, weswegen man zu Recht konstatiert hat, der „eigentliche Protagonist“ sei „das Wahrnehmungsproblem, genauer gesagt, der Prozeß des Vollzugs oder der Inszenierung solcher Wahrnehmungsvorgänge“.7 Dazu wiederum zählt nicht nur in diesem Fall zwingend die schöpferische Einbildungs- kraft insbesondere des älteren Vetters, die seinen aufklärerischen Scharfsinn gleichermaßen flankiert wie überschreitet und das Gesehene mit immer neuen Geschichten ausstattet.8 Zweitens aber, und das ist anders als bei Hoffmanns Vettern und für mein Thema noch entscheidender, blickt Hitchcocks Jeff in Das Fenster zum Hof nicht nur von seinem Fenster in den Hof hinaus, sondern auch in die Wohnung anderer hinein. Sein Blick durchmisst also zwei Fenster, geht von innen nach außen und wieder nach innen und wird damit durch eine doppelte Rahmungs- und Schwellenfunktion formatiert. Dadurch ist sein Blickfeld zwar doppelt begrenzt, erfasst aber das Interieur einer fremden Wohnung, das in der abendländischen Kulturgeschichte seit dem späten 18. Jahrhundert mit Intimität konnotiert ist:

3 Welle (2009, 252). Ganz ähnlich konstatieren auch Ulrich Stadler und Karl Wagner: „Dem heimlichen Blick eines einzelnen Subjekts kommt ganz offensichtlich vom Ende des 18. Jahrhunderts an eine wachsende Bedeu- tung zu.“ Stadler, Wagner (2005, 8). Vgl. dazu auch die nach wie vor einschlägige Studie von Brüggemann (1989). 4 Welle (2009, 226). Dort auch weitere Details und Hinweise zur kultur- wie literaturgeschichtlichen Rahmungs- und Schwellenfunktion des Fensters. 5 Hoffmann (2004, 468). 6 Vgl. dazu aus der Fülle der Forschung bspw. Stadler (1986), Vowe (2005), Welle (2009, 223 ff.). 7 Neumann (2003, 74). 8 Vgl. dazu ausführlich Oesterle (2004).

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 160 | Thomas Wegmann: Was du nicht siehst

Beim Interieur handelt es sich um das Raummodell der Innerlichkeit schlechthin. Das Interieur hat in der bildenden Kunst in den ‚Wochenstuben der Heiligen‘ und den ‚Studierzimmern der Kirchenväter‘ seine Anfänge, avanciert dann aber im bürgerlichen Zeitalter zu einer explizit welt- lichen Gattung, innerhalb deren Intimität repräsentiert, bespiegelt und reflektiert werden kann.9

Konstitutiv für derartige Blicke in fremde Privaträume, wie Hitchcocks Protagonist sie praktiziert, ist ihre Einseitigkeit; man beobachtet, ohne selbst dabei bemerkt zu werden. Auch dieses Tableau findet sich bereits in der romantischen Literatur, in Achim von Arnims Erzählung Die Majoratsherren (1820) genauso wie in Wilhelm Hauffs Erzählung Freie Stunden am Fenster (1826):

Aber bald entdeckte ich ein Meuble, das mir noch größern Genuß verschaffte als das Klavier; es war mein Fenster. Mein Stübchen lag im zweiten Stock; ich konnte, wenn ich mein Opernglas zu Hülfe nahm, ganz bequem in die Etagen meiner Nachbarn schauen; ich lernte beobachten und stundenlang saß ich an meinem Fenster.10

Doppelt gerahmt durch zwei Fenster und zudem formatiert durch ein optisches Hilfsmittel, entspricht der Blick von Hauffs Ich-Erzähler in nuce dem von Hitchcocks Jeff, zumal hier wie dort das Gesehene mit Nichtsichtbarem angereichert wird, mit Informationen, Begrif- fen und Wissen, Deutungen und Schlussfolgerungen, Spekulationen und Vorgestelltem. Zudem sind beide Beobachter im Rahmen ihrer jeweiligen Diegese darum bemüht, selbst nicht beobachtet zu werden – und werden es auf einer anderen Ebene, nämlich innerhalb des medialen Gesamtarrangements am Ende doch: durch die Leser bzw. Filmzuschauer. Vor diesem Hintergrund geht es im Folgenden um die überwiegend visuelle und gleich- zeitig von den Beobachteten unbemerkt bleibende Teilhabe an ihrem Privatleben, das spätestens seit dem 18. Jahrhundert mit dem eigenen Haus bzw. der eigenen Wohnung assoziiert ist. Fokussiert werden dazu grosso modo und exemplarisch heimliche Blicke in die Wohn- und Privaträume anderer, wie sie sich nach 1945 unter den Bedingungen di- versifizierender Medien und Wohnformen manifestieren. Dazu werden literarische Texte,11 Bildbände und Filme, aber auch Blogs und diverse Websites herangezogen. All diese ver- schiedenen Blickregimes generieren auf je spezifische Weise Mitbewohner ohne physische Präsenz und stellen eine perzeptive Form von Aneignung dar,12 wobei sowohl fiktive wie auch reale Wohnungsbesichtigungen berücksichtigt werden. Diese konstituieren, so die These, über alle Unterschiede hinweg eine Variante des Mitbewohners, die zwischen Anwesenheit und Abwesenheit oszilliert und zwar in dreifacher Hinsicht: Erstens partizipieren die diver- sen Beobachter lediglich heimlich und über den visuellen Fernsinn am Wohngeschehen, wodurch das Gesehene zwangsläufig mit den jeweiligen Erinnerungen, Vorstellungen und

9 Öhlschläger (2005, 131). Johann Heinrich Voß feiert in Luise. Ein ländliches Gedicht in drei Idyllen (1795) das kreativ gestaltete Interieur. Vgl. zur kulturpoetischen Funktion des Interieurs auch Oesterle (2013). 10 Hauff (1970, 74). 11 Vgl. dazu grundlegend die komparatistische Studie von Zocco (2014), die zunächst Fensterszenen aus 59 Textbeispielen der Gegenwartsliteratur nach inhaltlichen und formalen Kriterien klassifiziert, um dann 18 von ihnen einer detaillierten Analyse zu unterziehen. 12 Die zunächst unklare juristische Stellung einer solchen Beobachtung, auf die an dieser Stelle nicht näher ein- gegangen werden soll, zeigt sich schon in dem paradoxen Sprichwort: „Mit den Augen stehlen ist keine Sünde.“

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Phantasien der Betrachter angereichert wird. Zweitens werden die Beobachtenden von den Wohnungsinhabern in der Regel nicht bemerkt, sondern allenfalls erahnt. Und drittens amalgamieren all diese Aggregatzustände zwischen Sehen und Nicht-Sehen, Imagination und Realität für den medialen Endverbraucher zu einem Hybrid aus Absenz und Präsenz – und das sowohl bei dokumentarischen als auch bei fiktionalen Artefakten. Für Letztere gilt überdies: „Imaginäres und Reales heben sich im Fiktiven des Textes wechselseitig auf. Die wiederholte Realität wird zum Zeichen für ein Imaginäres und das Imaginäre in der konkreten Gestalt des Textes vorstellbar als scheinbar Reales.“13

II. Schauen, wohnen und verwalten bei Doderer. Eine solche Aufhebung von Imaginärem und Realem in einem fiktionalen Text findet sich thematisch einschlägig für mein Anlie- gen in Heimito von Doderers Roman Die erleuchteten Fenster oder die Menschwerdung des Amtsrats Julius Zihal (1951). Erzählt wird ein kurzer, aber bedeutungsvoller Abschnitt im Leben des Julius Zihal, Amtsrat des k. k. Zentral-Tax- und Gebühren-Bemessungsamtes. Die Geschichte beginnt mit dessen Pensionierung an einem Frühlingstag; eine Jahres- zahl wird nicht angegeben, man darf aber vermuten, dass sich das Ganze irgendwann zwischen 1911 und 1914 abspielt.14 Situiert ist sie in Wien, wo der verwitwete Amtsrat eine neue Wohnung bezieht, deren Mietzins seinem nunmehr reduzierten Ruhegehalt besser entspricht als die alte. Doderer hat den Text nicht nur dem „wohllöblichen K. K. Zentral – Tax- und Gebühren – Bemessungsamte ehrfurchtsvollst zugeeignet“, sondern ihn in einer den stets um größtmögliche Korrektheit bemühten Kanzleistil persiflierenden Sprache verfasst:15

Die neue Wohnung des Amtsrates lag im seltsam schmalbrüstigen Seitenflügel eines hohen Hauses und zwar im vierten Stockwerk, eine Küche und zwei Zimmer, wie früher, jedoch alle drei Räume hintereinander und auf einer Achse, wie man zu sagen pflegt. Das rückwärtige Fenster hatte zwei Fenster einander gegenüber so daß der Blick in verschiedene Gassen ausfallen konnte […].16

Es handelt sich also um eine Wohnung in einem mehrgeschossigen Haus und um ein spezi- fisch urbanes Setting, das mit der Verdichtung des Wohnraums auch Blicke in die Fenster der umliegenden Wohnungen ermöglicht. Und es sind eben diese Fenster, die Doderers Protagonisten in der Folgezeit eine bis dato nicht gekannte Obsession entwickeln lassen, der er vor allem abends nachgeht. Indem er immer häufiger und hartnäckiger durch die Fenster seiner dunklen Wohnung in die erleuchteten Fenster der gegenüberliegenden Woh- nungen blickt, nimmt er heimlich am Leben der dortigen Bewohner teil – allerdings nur aus der Ferne und mittels der Ausschnitte, die ihm der durch die Fenster gleichermaßen ermöglichte wie eingeschränkte Blick erlaubt.

13 Sill (2001, 129). 14 Vgl. zur Begründung Augustin (2009, 23). Dort auch Näheres zur komplexen Poetik und dichten Leitmotivik von Doderers Text. Ich beschränke mich im Folgenden auf die für mein Thema zentralen Aspekte. 15 Der Humor Heimito von Doderers „bedarf eben der verschnörkelten Sprache und der schnurrbärtigen Austria- zismen“, schon um des Wiener Lokalkolorits im kaiserlichköniglichen Österreichs willen, befand der Rezensent der Zeit kurz nach Erscheinen des Romans, Maier (1951). 16 Doderer (1995, 22).

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Dieser Blick wiederum ist alles andere als frei von voyeuristischem Interesse, wenn er etwa ein „junges schwarzhaariges dralles Frauenzimmer“ dabei beobachtet, wie es sich „von oben bis unten wäscht“, und der Erzähler dem Protagonisten überdies „eine gewisse, stille, schnurrbartstreichende Vorliebe für ein wenig reifere Frauenspersonen“ zugesteht.17 Dennoch geht es dem Roman weniger darum, die Pathogenese eines klassischen Voyeurs mit männlich aktivem Subjekt und weiblich-passivem Objekt zu rekonstruieren,18 als viel- mehr – wie der Titel annonciert – von der Menschwerdung19 eines gerade pensionierten Beamten zu erzählen. Dieser entdeckt in den Wohnungen ringsum nicht nur eine ihm bisher verschlossene Welt, sondern ein ganzes Universum, in dem die erleuchteten Fenster wie Sterne funkeln und zusammen den „Weltraum draußen“ bilden, den „Raum jener neuen Welt von Möglichkeiten, die sich ihm erschlossen hatte“.20 Durch optische Hilfs- mittel holt er sie sich gleichzeitig visuell näher heran und hält sie sich dennoch buchstäblich vom Leib – zunächst mit einem bei einem Trödler erworbenen altmodischen Feldstecher, der seinerseits schon viel gesehen hat (u. a. die Schlacht bei Königgrätz 1866, weswegen ihn der Erzähler den „Sechsundsechziger“ nennt). Dabei bleibt der Protagonist auch im Ruhestand pedantischer Beamter, der von Beginn an seine allabendlichen Observationen systematisiert und katalogisiert. Letzteres geschieht im Schein einer Taschenlampe, denn seine Wohnung belässt der „Troglodyte“, als den ihn der Erzähler des Öfteren bezeichnet, im Dunklen, um selbst nicht gesehen zu werden. Später wird Julius Zihal optisch aufrüsten und sich ein leistungsstarkes Fernrohr samt Stativ zulegen, einen Refraktor, mit dem man für gewöhnlich Sterne, Planeten und Kometen ins Visier nimmt, der aber nunmehr dem pensionierten Amtsrat nicht nur die gegenüber Badende greifbar naherückt, sondern auch

viele Einzelheiten der Einrichtung eines fremden Raumes, der jetzt unmittelbar an Zihals Obser- vatorium grenzte, nur durch eine Glaswand davon getrennt. Der Amtsrat […] nahm Deckung. Das Mädchen hatte ihm geradezu in’s Gesicht geschaut. Solch ein erster Blick in Weltraumtiefen, Aug in Aug mit dem Unbegreiflichen, muß jeden Menschen schwindeln machen.21

Erst eine medial nicht nur formatierte, sondern allererst konstituierte Weise des Sehens lässt die Badende mitsamt ihrer häuslichen Umgebung beinahe zu einem Teil der eigenen

17 Doderer (1995, 53). 18 Vgl. dazu allgemein Öhlschläger (1995), passim, Welle (2009, 254 f.). Zocco (2014, 286) hat diese Konstella- tion als die am häufigsten vorkommende in den von ihr untersuchten Texten ausgemacht und resümiert dazu: „In allen Szenen begründen die asymmetrischen Sichtverhältnisse asymmetrische, ‚panoptische‘ Machtverhältnisse, die eine Aneignung, eine Transformation des Anderen hinter dem Fenster in einen ‚Objekt-Anderen‘ […] zur Folge haben. In unterschiedlich starkem Ausmaß wird diese Asymmetrie durch eine ambivalente Darstellung der beobachtenden Figur gebrochen: Das Gefühl von Scham, die Angst ertappt zu werden und die Vorstellung, in den Augen eines anderen als ‚Spanner‘ oder ‚Voyeur‘ zu erscheinen führen dazu, dass der vermeintlich pan- optische Blick der beobachtenden Figuren zugleich die Merkmale eines verletzlichen, instabilen Blicks haben kann. Im Akt des Sehens wird die Möglichkeit des Gesehen-Werdens, der Transformation vom wahrnehmenden Subjekt zum wahrgenommenen Objekt bereits antizipiert.“ 19 Vgl. dazu Kerscher (1998, 115–157). 20 Doderer (1995, 32). 21 Doderer (1995, 127).

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Wohnung werden, „als würden sich hier bei Nacht die Wohnungen traumhaft durchein- ander schieben, Außen und Innen sich vermischen“.22 Zudem verändert das neue Tubus telescopius auch Zihals Aufzeichnungstechnik. War diese anfangs noch sowohl in Worten als auch in Zahlen abgefasst, verzichtet er nun auf Sprache:

[M]it der primitiven, für eine wenig entwickelte Sternwelt noch zulangenden Art und Weise der Standort-Bezeichnung war’s nun ein für alle Mal vorbei: Draufsicht, unten, rechts, oder gegenüber; und auch mit kindlich-märchenhaften Namen: die Waldfee – sie hieß jetzt etwa: II 1360 / 220, 10 Uhr. Nein, noch besser kein Wort (etwa ‚Uhr‘), nur Ziffern, und auch die Grad-Zeichen konnten entfallen: II 136 22 10.23

Auch wenn die diversen Beschreibungen des neuen Fernrohrs betont phallisch gestaltet sind,24 wird spätestens an dieser Stelle deutlich, dass Zihals Schaulust zwar sexuell motiviert sein mag, aber alsbald umgewandelt bzw. sublimiert wird durch einen archivierenden Ver- waltungsakt. „Dieser Unersättliche schaut und schaut, aber nicht zum eignen unmittelbaren Verzehr […]. Nein, er schaut um seiner Niederschriften willen.“25 Diese Niederschriften nehmen die Schaulust buchstäblich zu den Akten, beseitigen und bewahren sie also gleich- ermaßen. Mit anderen Worten: Mittels eines kulturgeschichtlich gut erforschten Verfahrens werden „Körperströme“ durch „Aufschreibesysteme“ substituiert.26 Im Fall Zihal lässt ein solcher Transformationsprozess des Weiteren das in fremden Wohnungen Gesehene ganz materiell zu einem Teil des eigenen Privatraums werden, nämlich zu einem Teil der dort produzierten und aufbewahrten Aufzeichnungen, so dass der medial induzierte Effekt der sich traumhaft durcheinanderschiebenden Wohnungen (s. o.) auf einer anderen Ebene noch verstärkt wird. Auf diese Weise nimmt der Protagonist am Wohngeschehen wie an den Körpern anderer nicht nur visuell (und selber ungesehen) teil, er eignet sich auch beides symbolisch an, indem er es in sein eigenes Aufzeichnungssystem überführt. Nicht zu Unrecht hat man Zihal darüber hinaus mit dem Typus des „allvermögenden und allgegenwärtigen, des sogenannten allwissenden Erzählers“ verglichen, „wenn er un- erkannt und überlegen, am Fernrohr drehend, seine menschlichen Objekte nach Belieben perspektiviert“ und so mit ihnen am Ende nicht anders verfährt „als Doderers Erzähler mit ihm, dem ahnungslosen Romanhelden“.27 Ausgerechnet Zihal, der sich von Romanen fernhält und in seinem ganzen Leben nur ein einziges Buch gelesen hat, nämlich die k.u.k. Dienst-Pragmatik, wird von seinem Erzähler auf subtile Weise mit einem fiktiven Poeten in Verbindung gebracht. Von diesem ungenannten Dichter werden einige Sätze ‚zitiert‘, die zum einen Parallelen zur Kunst des Schauens in Des Vetters Eckfenster aufweisen und zum anderen erkennen lassen, dass er sich ebenfalls mit erleuchteten Fenstern beschäftigte:

22 Doderer (1995, 53). 23 Doderer (1995, 128). Mit römischen Zahlzeichen hatte der Amtsrat mit Beginn seiner Aufzeichnungen die verschiedenen Fenster durchnummeriert, die er von seiner Wohnung aus sehen konnte. 24 Vgl. dazu Augustin (2009, 34). 25 Klotz (1992, 190). 26 Einschlägig dazu: Koschorke (1999), Kittler (1985). 27 Klotz (1992, 190). Zocco (2014, 291) hat ebenfalls eine Ähnlichkeit erkannt „zwischen dem Medium des literarischen Textes und dem Medium des Fensters, die beide einerseits einen Zugang zu einem Ausschnitt der Außenwelt bieten (‚mimesis‘), andererseits eine medial vermittelte, künstliche Welt erzeugen (‚poiesis‘)“.

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 164 | Thomas Wegmann: Was du nicht siehst

„Es gibt nichts tieferes, geheimnisvolleres, reicheres, verhüllteres, leuchtenderes als ein ker- zenerhelltes Fenster. Nie fesselt, was man im Sonnenlicht betrachtet, so sehr wie das, was hinter einer Scheibe geschieht.“28 Was das Schauen dieses fiktiven Dichters wie das des Hoffmann’schen Vetters mit dem von Julius Zihal verbindet, ist die Koppelung von Realem und Imaginärem. In allen drei Fällen werden das hinter einer Scheibe Gesehene und die durch Perzeption gewonnenen Sinnesdaten maßgeblich durch Vorstellungen und Phantasien, mithin durch die poetische Kreativität der Schauenden ergänzt. Schon bei den ersten Blicken durch den neu erworbe- nen Feldstecher, den „Sechsundsechziger“, heißt es grundlegend: „Hier traten nun in dem Amtsrate zum ersten Mal gewisse blitzschnell arbeitende und combinierende Mechanismen des Denkens und Vorstellens auf, die ihn von da an bei seiner seltsamen Beschäftigung stets begleiteten […].“29 Diese imaginäre Seite seines im Rahmen der Fiktion realen Schauens durch optische Instrumente lässt ihn die erleuchteten Fenster der Wohnungen ringsum als ein bis dato nicht gekanntes Universum wahrnehmen – und damit etwas dezidiert Irdisches als bestirnt Himmlisches, vor allem wenn er entkleidete Bewohnerinnen fokussiert. Dabei geht es um die visuell-phantastische Eroberung unbekannter (Wohn)Welten, wohingegen missbilligt wird, was ihn unbewusst an sein früheres Leben erinnert, wie etwa ein im Bett Zeitung lesendes junges Paar.

Vor diesem verächtlichen Anblicke (den er selbst mit seiner Gattin Jahr für Jahr, Abend für Abend einst geboten, nur war ihm dies allerdings in keiner Weise praesent) vor dieser platten, all’ seine Anstalten durchkreuzenden Torheit, blieb dem Amtsrate im Augenblick durchaus nichts anderes übrig, als auf sein Junggesellentum stolz zu sein.30

In diesem Fall ist die imaginäre Seite des Blicks in fremde Wohnungen weniger von der Phantasie als von der Erinnerung an eine eigene, offenbar nicht sonderlich geschätzte Wohn- situation überformt, zumindest unbewusst. Auch hier wird die Wohnung der anderen im Akt eines niemals neutralen bzw. voraussetzungslosen Schauens vorübergehend zur eigenen.

III. Die Fenster der Gegenwartliteratur. Mit einem ähnlichen, wenn auch poetologisch weniger durchkomponierten Szenario wartet auch Thommie Bayer in seinem Roman Das Aquarium (2002) auf.31 Der Tontechniker Barry, aus dessen Perspektive erzählt wird, zieht sich nach einem Verkehrsunfall in seine Wohnung im sechsten Stock zurück: „Ich fühlte

28 Doderer (1995, 131). Dieser kurze Passus verweist zudem darauf, dass der Werkstoff Glas nicht nur mit der nüchternen Transparenz und Durchsichtigkeit der architektonischen Moderne konnotiert ist, sondern auch die Tradition eines märchenhaft-unheimlichen Arkanums birgt. Erinnert sei nur an das Glasmotiv in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, an den gläsernen Sarg Schneewittchens oder an den verwunschenen Glasberg in den Sieben Raben. Im 20. Jahrhundert zeugen Paul Scheerbarts Phantasien zur Glasarchitektur (1914) ebenso von dieser magischen Komponente wie Hugo von Hofmannsthals Märchen der 672. Nacht (1895), in dem das Schaufenster eines ärmlichen Juweliers sowie zwei gläserne Gewächshäuser den Eintritt des Protagonisten in eine zunehmend fremde und für ihn schließlich tödliche Welt markieren. 29 Doderer (1995, 52). 30 Doderer (1995, 60). 31 Vgl. dazu Zocco (2014, 177–183), die den Roman als ästhetisch wenig ambitionierte „Unterhaltungsliteratur“ liest und ihn in den Kontext einer „New Surveillance“ stellt (vgl. 268–275).

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Thomas Wegmann: Was du nicht siehst | 165 mich einsam und fühlte mich wohl. Wenn ich Gesellschaft suchte, dann nur noch die von Fremden. Als Zaungast.“32 Sein Blickfeld wird dominiert von der anfangs leerstehenden Wohnung gegenüber, die er „das Aquarium“ nennt:

Die mir zugewandte Seite bestand fast vollständig aus Fenstern, die vom Boden zur Decke und von Wand zu Wand reichten. Drei schöne Räume, Schlafzimmer, Wohnzimmer und Küche sahen zu mir herüber, und alle drei hatten breite Schiebetüren zu einem Flur, durch die man Bad, Toilette und Vorratsraum sehen konnte, wenn die Türen offenstanden.33

Folgt man dieser Beschreibung, handelt es sich um eine Wohnung von größtmöglicher Transparenz, wie sie in der Architekturgeschichte wohl erstmals und programmatisch von Walter Gropius mit dem Bauhaus Dessau und seiner berühmten Glasfassade realisiert wurde (1925/26). Hier wie dort ermöglichen die großen Glasfronten zumindest visuell eine Koppelung von Innen- und Außenraum; die Fenster werden zu Schaufenstern, wobei das Schauen in beide Richtungen erfolgen kann. Was in den 1920er Jahren Symbol für eine transparente Demokratie war, die nichts zu verbergen hat, evoziert in Bayers Roman die zunächst visuell, später durch digitale Kommunikationsmedien geprägte Verschaltung priva- ter Obsessionen. Als in die Wohnung gegenüber eine junge Frau einzieht, die im Rollstuhl sitzt, beginnt der Ich-Erzähler eine Art visueller Belagerung.34 Ausgestattet mit diversen technischen Medien, folgt er der Frau mit den Augen in ihrer Wohnung, um festzustellen, dass sie mehrheitlich tut, was auch er tut: Sie schreibt. Darüber hinaus werden aber auch seine voyeuristischen Neigungen befriedigt: „Noch an der Tür zog sie ihr Sweat-Shirt über den Kopf […]. Darunter trug sie nichts. Den Moment, als ihr Oberkörper entblößt und ihr Gesicht verborgen war, zögerte sie hinaus. Fast so, als wolle sie mir einen ruhigen Blick auf sich gewähren. Unsinn.“35 Während sich der Voyeur zunächst unbemerkt wähnt, nimmt die Frau namens June eines Tages Kontakt zu ihrem heimlichen Beobachter auf. In großen roten Buchstaben schreibt sie ihre E-Mail-Adresse an die Wand, was dem Ganzen eine andere Wendung gibt: „Auf einmal fühlte ich mich beobachtet. Sie sah mich mit ihrem Rücken, ihrem Hinterkopf, den Ellbogen, womit auch immer. Sie wußte, daß ich da war, und konnte sicher sein, daß ich zu ihr hinübersah, das war dasselbe, wie mich zu sehen.“36 Anders als bei Doderer kann man hier zu Recht von einem „Fenster-Theater“37 sprechen, da die Blicke durchs Fenster zunehmend Teil eines Spiels werden, genauer: Die Schaulust des männlichen Ich-Erzählers erweist sich sukzessive als Teil eines Schauspiels, das die Beschaute nicht nur goutiert, son- dern auch steuert. Und das schließlich in sprachliche Kommunikation mündet, bei der die beiden Beteiligten ihre Wohnung nicht verlassen, da sie sich vor allem in Form von E-Mails und Chats abspielt, begleitet von Blicken durch nahe und ferne Fenster. Geprägt ist dieser

32 Bayer (2002, 5). 33 Bayer (2002, 8). 34 Hitchcocks Beobachtungsordnung gerät hier gewissermaßen in gender-trouble: Während die beobachtete June an ihr Sitzmöbel gebunden ist, war der Rollstuhl für Jeff notwendig, um überhaupt zum Zimmer-Voyeur zu werden. 35 Bayer (2002, 57). 36 Bayer (2002, 74). 37 Vgl. dazu Gunia, Kremer (2001).

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 166 | Thomas Wegmann: Was du nicht siehst virtuelle Kontakt durch Junes masochistische Obsession mit einem Tänzer in New York, von der sie Barry in mehreren Mails erzählt. Es handelt sich um eine Beziehung, in der die Körperlichkeit des anderen vor allem eine visuelle, aber keine taktile Rolle spielt – er tanzt z. B. nackt, sie schaut zu und onaniert –, und in der „er“ zunehmend dominiert, wie June schreibt: „Ich bin nichts, er ist alles. Ich begehre ihn, er lässt es zu.“38 Im Grunde handelt es sich um die radikalisierte Variante dessen, was sich auch zwischen June und Barry abspielt, nur mit umgekehrter Rollenverteilung, was den Voyeurismus betrifft. Dieser wiederum ist im Fall des Ich-Erzählers durch eine urbane Wohnsituation, durch auf breiter Fläche näher rückende Häuser und die damit einhergehende Verdichtung von Privaträumen bedingt, welche Einblicke in die Wohnungen anderer ermöglicht, ohne die eigene zu verlassen. Diese Gleichzeitigkeit von sichtbarer Nähe und taktiler Unerreich- barkeit generiert, so die These, eine spezifische Neugierde am Wohnen der anderen – Barry schaut z. B. auch einer alten Frau in ihrer Wohnung beim Nudelessen zu –, die mitunter in ein spezifisches Begehren umschlagen kann, das eine eben dieses Begehren generierende Kultur zugleich mit dem Terminus ‚Voyeurismus‘ pathologisiert.39 In beiden Fällen ist die Schaulust indes mit einer dezidiert urbanen Durchmischung und Kontingenz konnotiert: Es könnte gegenüber auch eine / ein andere*r wohnen. Es ist eine Form des Schauens, die im Zufall eine Notwendigkeit findet – und sei es als unverfügbares Begehren aus nächster Ferne. Nämliches gilt für die Blicke, welche die jugendliche Ich-Erzählerin in Helene Hege- manns Roman Bungalow (2018) auf und in das titelgebende Gebäude wirft, auch wenn diese anders motiviert sind:

Das Viertel, in dem ich zur Jahrtausendwende geboren wurde, war im Zweiten Weltkrieg zerbombt und Mitte der Fünfziger als Demonstrationsobjekt für die Leistungsfähigkeit des Kapitalismus wiederaufgebaut worden, es war zerrissen und hässlich und lag am Ende der Welt.40

In diesem Viertel befinden sich 16 Bungalows mit Flachdächern, in denen ein überwiegend saturiertes, aber kulturell ambitioniertes Bürgertum wohnt, nicht aber die Protagonistin Charlie:

Ich lebte mit meiner Mutter in der zweiten Häusergruppe, einem die Bungalows umgebenden Rechteck aus Betonmietskasernen. Von unserem Balkon sahen die Bungalows und ihre Hinterhöfe aus wie Hakenkreuze. Rein optisch wären sie problemlos als das durchgegangen, was man sich vorstellt, wenn man an das Ölgemälde einer Wellblechhütte denkt. Trotzdem gehörten sie zum Weltkulturerbe.41

38 Bayer (2002, 153). 39 Roloff (2003, 27) hat als Alternative „den Begriff der Schaulust“ vorgeschlagen, „weil er im Unterschied zu ‚Schautrieb‘ oder ‚Voyeurismus‘ die Ästhetik, Sinnlichkeit und Kreativität des Sehens hervorhebt, ohne Abwer- tungen und Einengungen“. Sigmund Freud indes kennt in seinen Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905) auch eine explizit als „pervers“ bezeichnete Schaulust, nutzt den Begriff also ebenfalls zur Diskriminierung devianten Verhaltens, auch wenn er auf der anderen Seite konzediert, dass die Schaulust entwicklungspsycho- logisch bereits im Kleinkind angelegt sei. 40 Hegemann (2018, 47). 41 Hegemann (2018, 47).

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In diesem fiktiven Großstadt-Szenario teilen sich sehr Reiche und sehr Arme Parkplätze und Grünstreifen – und Charlie teilt mit ihrer alkoholabhängigen und finanziell stets klammen Mutter die Wohnung. Dieser ebenso akribisch wie distanziert beschriebenen Lage entkommt die Protagonistin nur, wenn sie mit Iskender, einem Jungen aus ihrer Klasse, zusammen ist – oder wenn sie die Bungalows mit ihren Bewohnern beobachtet. So sieht sie, wie ein jüngeres Paar in den Bungalow gegenüber einzieht. Später wird Charlie die Frau im Fernsehen erkennen und herausfinden, dass es sich um eine russisch-stämmige Schau- spielerin handelt. Maria und ihr Mann Georg faszinieren Charlie durch ihre bewusst als unkonventionell inszenierte Lebensweise. „Wenn Maria nicht gerade Penthesilea oder einen umfallenden Baum spielte, spielte sie, dass sie eine gute Schauspielerin, eine gute Ehefrau oder eine gute Trinkerin war.“42 Irgendwann begnügt sich Charlie nicht mehr mit Blicken vom Balkon der mütterlichen Wohnung, sondern klettert immer häufiger über die Gartenmauer, um das Paar heimlich durch das bodentiefe Wohnzimmerfenster zu beobachten. Als sie die beiden einmal nackt im Wohnzimmer beim Sex erblickt, hämmert sie so lange an die Scheibe, bis diese einen Riss bekommt und Maria anfängt zu schreien. Charlies Attacke auf das Glas wiederum lässt sich nicht zuletzt als symbolischer Akt lesen: Gerade bodentiefe Fenster, von Anke Stelling 2015 sogar programmatisch zum Titel eines Romans erhoben, sind zum Signum gegenwärtiger, häufig gentrifizierter Wohnwelten in den großen Städten geworden; sie suggerieren Nähe und Transparenz, schaffen aber auch physische und soziale Distanz. Charlies aus dem Affekt entstandener Angriff gilt genau diesem Hiatus und mit ihm einem Werkstoff, der sich in visueller Hinsicht gewissermaßen selbst negiert und lediglich taktil – und sei es durch Faustschläge – wahrnehmbar ist. Auch in Hegemanns Fiktion separiert und verbindet er gleichermaßen zwei ganz unterschiedliche, aber durch entsprechende Stadtplanung räumlich nahe Welten. Für Charlie wird dabei der Bungalow mitsamt sei- nem schauspielernden Paar zunehmend zu einem Sehnsuchtsort, zur Projektionsfläche für ein anderes Leben, während sie schließlich dem eigenen nicht mehr nur durch heimliche Blicke zu entkommen sucht. Die Blicke in die Wohnungen anderer entwickeln sich hingegen in Kristine Bilkaus 2015 erschienenem Debütroman Die Glücklichen von sozialer Inklusion zur visuellen Ex- klusion. Erzählt wird die Geschichte eines kultivierten und anfangs wohlversorgten Paares: Er, knapp über vierzig und Redakteur bei einer renommierten Zeitung, sie Mitte dreißig und Cellistin mit passablem Engagement, beide vorbildlich bemüht um ihren kleinen Sohn Matti. Sie wohnen in einem der besseren Viertel einer nicht genannten Großstadt, wo die Altbauten renoviert und der Verkehr beruhigt ist, wo es kleine Läden gibt, in denen man handgemachte Brötchen und Petits Fours, Wiesenblumen aus Zinkbadewannen und Kräuter aus Emaillekübeln kaufen kann. Im Verlauf des Romans erleben Isabell und Georg indes Schritt für Schritt einen sozialen und ökonomischen Abstieg. Durch ein offenbar psychisch bedingtes Zittern in der Hand ist sie nicht mehr in der Lage, Cello zu spielen; er verliert seinen Redakteursposten bei dem immer defizitäreren Blatt. Aus gesicherten Existenzen werden so zwei Arbeitslose, die um den Verlust ihrer großzügigen Wohnung

42 Hegemann (2018, 32).

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 168 | Thomas Wegmann: Was du nicht siehst fürchten, während Sorgen und Zweifel die Rituale des Familienlebens kontaminieren. In dieser Situation verändern sich auch Georgs Blicke in die Wohnungen anderer:

Auf dem Heimweg schaut er wieder in die Fenster der anderen, dringt mit seinem Blick in ihre hellen Räume ein. Früher haben er und Isabell das oft gemeinsam gemacht. Zusammen schauten sie in fremde Zimmer. Bei abendlichen Spaziergängen wurden sie zu Voyeuren. Regalwände vol- ler Bücher, geschmackvolle Deckenlampen, moderne offene Küchen, die bunten Vorhänge der Kinderzimmer. Signale gesicherter Existenzen, die ihnen immer ein wohliges Gefühl gaben. Das eigene Leben in den fremden Wohnungen erkennen. Inzwischen freut er sich, wenn irgendwo vergilbte altmodische Gardinen oder rebellisch schmutzige Bettlaken in den Fenstern hängen. […] Doch ansonsten lässt ihn seine Nachbarschaft im Stich. Sie stößt ihn davon. Die gesicherten Existenzen mit ihren geschmackvollen Wandfarben sagen alle dasselbe: Wir können, du nicht.43

Die auf diese Weise Schauenden versuchen nicht, heimlich am Leben der anderen teilzu- nehmen; das Interieur der fremden Wohnungen fungiert vielmehr als Reflektor, der die eigene Wohnsituation, den eigenen Lebensstil spiegelt und im Idealfall bestätigt. Es sind Blicke durch Fenster, die eine Versicherungsleistung durch soziale Ähnlichkeit evozieren, vor allem bei dem aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammenden Georg.

IV. Wie privat ist öffentlich? Zu einer zwischen Privatheit und Öffentlichkeit differen- zierenden wie oszillierenden Moderne gehört es auch, private Räume öffentlich zu ma- chen – und das jenseits höfischer Repräsentation. Einer der ersten, der dies zumindest in Ansätzen tat, war Johann Wolfgang Goethe.44 Mittlerweile machen das nicht alle, aber viele. Meist in einer medialisierten, also nicht begehbaren Form, in Printmedien, Filmen und vor allem online, öffnen sie freiwillig virtuelle Fenster zu ihren Privaträumen, die dann öffentlich als private Räume inszeniert werden. Zu den bekanntesten Projekten im Internet gehört in diesem Zusammenhang das mittlerweile auf Englisch erscheinende Interview-Blog Freunde von Freunden (FvF).45 Seit 2009 besuchen, fotografieren und befragen die Designer der Berliner Agentur MoreSleep ihre ebenfalls kreativen Freunde und deren Freunde zu Hause und dokumentieren diese Besuche im Netz. Was als Blog begann, wurde schnell zu einer umfassenden Plattform plus wachsendem redaktionellem Netzwerk, das mittlerweile international agiert, Bücher herausbringt und verschiedene Kooperationen, etwa mit ZeitOnline,46 eingegangen ist. „Anfangs mussten wir noch sehr viel erklären“, erinnert sich Tim Seifert, einer der FvF- Geschäftsführer. „Heute freuen sich die Menschen, wenn wir sie ansprechen.“47

43 Bilkau (2017, 200 f.) (Kursivierung i. O.). 44 Vgl. dazu Holm (2012). Goethe hatte sein Haus am Frauenplan in Weimar konzeptionell in zwei Bereiche aufgeteilt: der eine war den immer zahlreicher werdenden Besuchern, der andere seiner Familie und engsten Mitarbeitern vorbehalten. 45 Vgl. dazu und zum Folgenden Braun (2014). Auch auf YouTube erfreuen sich so genannte Roomtours großer Beliebtheit, bei denen Wohnungsbesitzer mit Hilfe einer Kamera durch die eigene Wohnung führen. 46 , zuletzt: 6.6.2019. 47 , zuletzt: 6.6.2019.

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Thomas Wegmann: Was du nicht siehst | 169

Zum Kreis der Angesprochenen gehört z. B. Silke Neumann, die mit ihrer Kommu- nikationsagentur ebenfalls Teil der Berliner Kunst- und Kulturszene ist. Initial war ein Abendessen mit einem Teil des FvF-Teams in ihrer Moabiter Wohnung, die kurze Zeit danach auch betrachten konnte, wer diese noch nie betreten hatte. Silke Neumann ver- mutet, dass der Erfolg der virtuellen Wohnungsbesichtigungen in den Details begründet liegt: „Das besondere sind […] die Sachen, die man nicht im Möbelladen bekommt oder in Hochglanz-Wohnzeitschriften sieht – die dann aber die eigene Persönlichkeit so wunderbar widerspiegeln.“ Offenbar sei es nicht nur ihr immer schon so gegangen, dass sie, kaum in eine Wohnung eingetreten, am liebsten erst einmal herumstöbern wollte. „Der Blick in die Küche, das Bücherregal, die Plattensammlung. Es macht einen vertraut mit der Person.“48 Ein zugleich ähnliches und doch etwas anderes Konzept verfolgt das Projekt SoLebIch. de, das sich als „die größte deutschsprachige Wohncommunity im Internet“ bezeichnet.49 Name und Webadresse sind Programm, denn es sollen sich laut Selbstauskunft „Wohn- begeisterte“ dort täglich neue Einblicke in ihre Wohnungen teilen, ihre Einrichtungsideen zeigen und sich über alle Themen rund ums Wohnen austauschen. Selbsterklärtes Ziel ist die Neuinterpretation der begrifflich tendenziell eher unscharfen Homestory, die vor allem in Zeitschriften und Magazinen Einblicke in die Privatsphäre von Prominenten vermittelt,50 während es bei SoLebIch.de die registrierten Mitglieder sind, die ihre Wohnungen in Wort und Bild öffentlich machen. Auch an die rezipierenden Nicht-Mitglieder ergeht dabei die folgende Aufforderung:

Du bist herzlich eingeladen, dir die zahlreichen Bilder und die dazugehörigen Interviews anzu- sehen und dir tolle Inspirationen für dein Zuhause zu holen. Lass dich von den Wohnideen aus den Homestorys faszinieren und lerne die Menschen hinter den Wohnungsfotos auf SoLebIch. de besser kennen!51

Die Homestory printmedialen Zuschnitts folgt in der Regel auf klassische Weise einer Ökonomie der Aufmerksamkeit, wobei Aufmerksamkeit in diesem Zusammenhang eine kapitalisierungsfähige Form von Beachtung darstellt.52 Porträtiert werden folglich vor allem Personen, die bereits über ein hohes Einkommen an medialer Aufmerksamkeit verfügen,

48 , zuletzt: 6.6.2019. Während anfangs vor allem Berliner Kulturschaffende, Galeristen, Barbesitzer, Fotografen und Designer mit ihren Wohnungen porträtiert wurden, werden inzwischen auch Künstlerinnen aus Istanbul und Beirut, Kuratoren aus Amsterdam und Modedesignerinnen aus Los Angeles ins Bild gerückt. 49 , zuletzt: 6.6.2019. 50 So ließ sich z. B. Bertolt Brecht 1927 zusammen mit Freunden, darunter der bekannte Boxer Samson-Körner, in seiner Atelierwohnung für das Magazin Uhu fotografieren, den dazugehörigen Text schrieb er unter dem Titel Der Dichter Bert Brecht bei der Arbeit gleich selbst. Und in den 1930er Jahren, so erzählt Barbara Honigmann, öffnete ihre Mutter ihre Pariser Wohnung für eine Fotoreportage, die dann unter dem Titel L’Appartement de Madame Philby in einer Zeitschrift erschien. Sie war verheiratet mit Kim Philby, damals als politisch engagierter Journalist bekannt, später als britischer Doppelagent enttarnt. Vgl. Honigmann (2015, 87). Ähnliche Beispiele lassen sich mitunter auch für frühere Zeiten nachweisen: So berichtet etwa Die Gartenlaube (1854, H. 2, 24) von einem Besuch bei Alexander von Humboldt in dessen Berliner Wohnung. 51 , zuletzt: 6.6.2019. 52 Vgl. dazu Franck (2005).

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 170 | Thomas Wegmann: Was du nicht siehst vulgo als prominent gelten, und somit auch für die Homestory Interesse und Beachtung versprechen. Die Crux dieses Formats besteht darin, dass es zwischen öffentlichem und privatem Raum intrikate Verbindungen herstellt. Denn verdient wurde das Aufmerk- samkeitsvermögen an den darauf spezialisierten Märkten, den Medien, und damit in der Öffentlichkeit; fokussiert werden soll jedoch der Bereich, welcher der Öffentlichkeit ab- gewandt und zunächst verborgen bleibt, nämlich die Wohnung als maßgeblicher Teil der Privatsphäre. Besucht werden mit anderen Worten prominente Personen an einem Ort, an dem sie vermeintlich weniger prominent, sondern vor allem privat sind. Das jedenfalls ist das intrinsische Versprechen einer jeden Homestory, welches sie im Moment ihrer Pu- blikation gleichermaßen erfüllt wie beseitigt: Das Privatleben der Prominenz bleibt dann nicht länger privat, sondern wird öffentlich und damit selbst prominent. Als langfristige Folgeerscheinung wird sukzessive die Privatsphäre per se zum Gegenstand öffentlichen Interesses – und das gilt im digitalen Zeitalter längst nicht mehr nur für die mediale Prominenz. Davon wiederum profitieren Projekte wie SoLebIch.de, aber auch zahlreiche Instagram-Accounts, die gleichzeitig diese Tendenz verstärken und dabei Prominenz erst erzeugen können. Im Vergleich zur klassischen Homestory wird also der umgekehrte Weg beschritten: Man kann prominent werden, indem man Privates öffentlich macht. Wem dies auf messbar erfolgreiche Weise gelingt, der wird mit dem Neologismus ‚Influencer‘ bedacht und gilt als digitaler Aufmerksamkeitsmillionär. Wer die eigene Wohnung auf Seiten wie SoLebIch.de medial öffnet, setzt das eigene Interieur als „Raummodell der Innerlichkeit“ (s. o.) bewusst anonymen wie womöglich massenhaften Blicken aus. Aus einem Interieur wird so ein Exterieur. Die aus virtueller Ferne in die öffentlich gemachten Wohnungen Schauenden bleiben dabei so unsichtbar wie der analoge Voyeur, nur dass sich anders als bei diesem genau bestimmen lässt, was die Rezipienten im Internet von der eigenen Privatsphäre zu sehen bekommen und was nicht. Zudem schauen sie zwar nicht durch Fenster, doch sind auch ihre Blicke formatiert, gerahmt und begrenzt, in erster Linie durch Digitalfotografie und Bildschirm, mithin durch Medientechnik. Was man auf diese Weise zu sehen bekommt, sind realiter bewohnte Wohnungen; nachprüfen kann man das am Bildschirm indes nicht. Was die virtuellen Wohnwelten darüber hinaus auszeichnet, sind zwei miteinander zusammenhängende Verbindungen: die von Interieur und Individualität und die von Krea- tivität und Wohnungseinrichtung. Denn es gehört zu ihren Prämissen, dass das Interieur als gestalteter Innenraum belastbare Rückschlüsse auf die Individualität seiner Bewohner zulässt, also einen Aus- oder Abdruck jener Persönlichkeit darstellt, die es so und nicht anders gebaut bzw. arrangiert hat.53 Noch immer gilt dabei Walter Benjamins vielzitiertes Diktum: „Wohnen heißt Spuren hinterlassen. Im Interieur werden sie betont. […] Auch

53 Paradigmatisch umgesetzt finden sich diese Zusammenhänge etwa in der im Januar 2019 erstmals vom Hessi- schen Rundfunk ausgestrahlten Fernsehserie 3 Zimmer, Küche, Date. Darin bekommt ein*e Kandidat*in drei verschiedene Wohnungen zu sehen, nicht aber deren Bewohner*in, und muss aufgrund dieses Ortstermins ent- scheiden, mit wem sie oder er sich zum Abendessen treffen möchte. Für die Fernsehzuschauer als Kommentator mit dabei ist außerdem der als „Wohnungspsychologe“ vorgestellte Uwe Linke, der von der jeweiligen Einrichtung auf den Charakter des Bewohners schließt. , zuletzt: 6.6.2019.

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Thomas Wegmann: Was du nicht siehst | 171 die Spuren der Wohnenden drücken sich im Interieur ab.“54 Der Wohnraum wird nun überdies paratextuell als Kreativraum deklariert, in dem die eigene Originalität profiliert werden kann und soll.55 Das „Kreativitätsdispositiv“ wiederum erweist sich auch in diesem Zusammenhang als Kennzeichen zeitgenössischer Identitätspolitik im Sinne von Andreas Reckwitz. Reckwitz hat die These entwickelt, dass die Kultur des Besonderen, die in der Moderne einer Logik des Allgemeinen untergeordnet war, in der Spätmoderne selbst struk- turbildend wirkt. Er verweist in diesem Zusammenhang ebenso auf eine seit den 1970er Jahren virulent gewordene kulturelle „Authentizitätsrevolution“ wie auf die Veränderungen durch die Digitalisierung und rekonstruiert die Entwicklung von einer Industriegesellschaft zu einer Wissens- und Kulturökonomie, in der es darum geht, „Singularitätskapital“ zu mehren.56 Das kann z. B. durch Einblicke in die emphatisch eigene und individuell gestaltete Wohnung geschehen, die in Ausschnitten fotografiert, als Ganzes entortet und in digitali- sierter Form in einen neuen Zusammenhang gestellt wird, nämlich in den virtuellen Raum des Internets. Dort verbinden sich diese Bildausschnitte auf entsprechenden Plattformen mit anderen Bildern von Behausungen zu einem virtuellen Kollektiv von Singularitäten. Diese können realiter an weit auseinanderliegenden Orten situiert sein, sind hier aber nur einen Klick voneinander entfernt. Als Kreativraum in doppelter Hinsicht lassen sich die Wohnungen professionell Kreativer inszenieren, etwa auf der Internetplattform Freunde von Freunden (s. o.). Doch auch das Interesse an den Behausungen von Akteuren aus den traditionellen Künsten scheint groß, wird aber tendenziell eher im Printbereich realisiert. Exemplarisch angeführt sei dafür ein viel beachteter Bildband, den die Fotografin Lillian Birnbaum 2011 unter dem Titel Peter Handke. Portrait des Dichters in seiner Abwesenheit veröffentlichte. Sie hatte Handke zuvor viele Male über Jahre hinweg in seinem Haus in Chaville bei Paris besucht, das seit 1990 Wohnsitz und Refugium des Schriftstellers ist und mitsamt seiner Umgebung in das Opus Magnum Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994) eingearbeitet wurde. Nicht zuletzt durch diesen Roman und den zwei Jahre zuvor erschienenen Film Die Abwesenheit, der zumindest partiell in Handkes Haus spielt, sowie entsprechende Para- und Metatexte erlangte dieses Haus im Verlauf der Jahre selbst eine gewisse Prominenz und einen besonderen Status: „Er hat es so sehr zu seinem Ort gemacht, dass es mittlerweile untrennbar mit der ‚Erzählung Peter Handke‘ verbunden ist. Und wann immer sein Bewohner befragt oder porträtiert wird, scheint das Haus die Rolle des zweiten Protagonisten einzunehmen.“57 Bei ihren Besuchen fielen der Fotografin sukzessive die auf den ersten Blick wie zufällig verstreut wirkenden, aber offenbar nach bestimmten Regularien angeordneten Dinge in Handkes Haus und Garten auf: Federn, Steine, Notizbücher, Nüsse, Postkarten, Pilze, Bleistifte, Münzen und vieles mehr. Es sind zu einem nicht geringen Teil Dinge, die auch in Handkes Texten eine Rolle spielen, allen voran Bleistifte und Pilze. Darüber hinaus sieht

54 Benjamin (1982, 53). 55 Es gehe in der virtuellen Wohncommunity „um das inspirierende Zeigen der Vielfalt beim Wohnen und der Einrichtung. Diese kreative Bandbreite beleuchtet SoLebIch mit den Homestorys der Mitglieder.“ , zuletzt: 6.6.2019. 56 Vgl. Reckwitz (2017). 57 Osterland (2017).

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 172 | Thomas Wegmann: Was du nicht siehst man aber auch eine Olivenölflasche im Schattenwurf auf dem Abendbrottisch zwischen Brot, Quark, Karotten und aufgeschnittener Wurst. Oder, beinahe wie ein Fremdkörper, das Überraschungsei in einer Schale. All das und noch einiges mehr wird in einer Folge von Fotografien zum inszenierten und zeichenhaften Gesamtbild einer Behausung arrangiert, das stets auf den abwesenden Dichter verweist. Denn Handke selbst bekommt man nicht zu sehen, lediglich seine Hände im letzten Bild des Bandes, auf dem er Pilze putzt. Ent- sprechend ist das zentrale Motiv dieses Bildbandes ein geradezu religiöses und damit zum späten Handke passendes, nämlich die Präsenz in der Absenz. Konzeptionell basiert das Projekt auf einer Verdichtung visueller Leerstellen: Der pro- minente Bewohner des Hauses ist nicht zu sehen, die ihn besuchende Fotografin ebenfalls nicht, und die zuschauenden Rezipienten, an welche diese spezielle Hausbesichtigung im Moment ihrer Publikation adressiert ist, schon gar nicht. Gleichzeitig werden diese drei Abwesenden bzw. Nicht-Sichtbaren auf andere Weise als präsent markiert, allen voran der Schriftsteller und Hausbewohner, auf den die dinglichen Ablagerungen auf den Fotos stets verweisen. Aber auch die Fotografin, die für Auswahl, Ausschnitt und Rahmen ver- antwortlich ist und als Autorin fungiert, weil sie sieht und fotografiert, was auch Handke so nicht sieht, aber nachfolgend sehen und legalisieren wird. Der abwesende Zuschauer wiederum, der das alles betrachten und potenziell wiederum anders sehen wird, ist der große Unbekannte in dieser Bildband-Gleichung. Zumindest die publik gewordenen Reaktionen der damit nicht mehr heimlichen Be- trachter von Handkes Wohnhaus fielen disparat aus: Mario Osterland sah „Stillleben“, „die sich aus einer kunsthistorischen Tradition heraus betrachten lassen“.58 Alexander Schimmel- busch mochte dagegen keine Ordnung zwischen den Dingen erkennen, sondern polemisch

eine beklemmende Verwahrlosung, als sei der Komposthaufen auf einer Woge aus Weltschmerz in die Wohnräume hinein geschwappt. […] Nüchtern betrachtet […] scheint klar, dass Handke einfach schon seit Jahren nicht mehr zum Scheuerlappen gegriffen hat. Nirgends im Haus ist ein Abfalleimer zu sehen, das Haus selbst ist der Abfalleimer.59

In beiden Fällen ist das bzw. der Abwesende auf eine Weise präsent, wie man sie aus der Verabredungskultur religiöser Welten und fiktionaler Texte kennt: In seiner sichtbaren Schöpfung manifestiert sich der unsichtbare Schöpfer. Und das gilt offensichtlich auch für das Verhältnis von Wohnung und Bewohner – nicht nur in diesem Bildband über den abwesenden Peter Handke.

V. Gespenstische Heimsuchungen. Eine andere Qualität erhält das Verhältnis von Absenz und Präsenz, wenn aus heimlichen Blicken in die Wohnungen anderer die unheimliche, weil verborgene Anwesenheit eines Anderen in der eigenen Wohnung bzw. im eigenen Haus wird. In Florian Henckel von Donnersmarcks Spielfilm Das Leben der Anderen (2006), dessen Handlung in der DDR des Jahres 1984 angesiedelt ist, überwacht der Stasi- Hauptmann Gerd Wiesler (Ulrich Mühe) im Auftrag seiner Vorgesetzten eine Wohnung,

58 Osterland (2017). 59 Schimmelbusch (2011).

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Thomas Wegmann: Was du nicht siehst | 173 in welcher der Theaterschriftsteller Georg Dreyman (Sebastian Koch) und die Schauspie- lerin Christa-Maria Sieland (Martina Gedeck) zusammenleben. Die Motive für diese Ak- tion sind allerdings nicht nur politisch, sondern auch privat motiviert: Der Kulturminister will den Schriftsteller ausschalten, um dessen Lebensgefährtin für sich zu gewinnen. Die weiteren Details der Handlung sollen hier ebenso wenig verfolgt werden wie Machart und Rezeption des Films. Fokussiert werden soll stattdessen die Überwachung der Wohnung durch das Ministe- rium für Staatssicherheit (MfS), die ebenfalls auch über eine private Komponente verfügt. Diese besteht in der heimlichen Partizipation Wieslers am Leben von Dreyman und Sieland, die allmählich zu einer moderaten Änderung seiner politischen Einstellung60 und zu einer verhaltenen Sympathie seitens des MfS-Hauptmanns für das von Kunst und Kultur geprägte Leben der Überwachten führt. Während diese in ihrer großzügigen und geschmackvoll gestalteten Wohnung mit Freunden aus der Kunst- und Theaterszene Dreymanns 40. Ge- burtstag feiern, verfügt Wiesler weder über soziale Kontakte noch über ein nennenswertes Privatleben und wohnt allein in einem trostlosen Plattenbau. Die Überwachung der angeblichen ‚Feinde des Sozialismus‘ wiederum erfolgt zunächst akustisch, über Abhörgeräte, die in ihrer Wohnung installiert wurden, während auf dem Dachboden des Hauses eine technisch gut ausgestatte Abhörzentrale eingerichtet wird.61 Von hier aus hört Wiesler alles, was sich in der Wohnung abspielt, verfolgt und proto- kolliert das „Leben der Anderen“, das dem seinen so gar nicht ähnelt und das mit dieser Aktion überdies aufhört, ein Privatleben zu sein. Stattdessen wird es zumindest für Wiesler mehr und mehr zu einem Hörspiel der besonderen Art, das ihm eine andere und bis dato unbekannte Welt erschließt. Zwischen dem Dachboden als Abhörzentrale und der Woh- nung des Künstlerpaares besteht dabei einerseits eine semantische wie räumliche Oppo- sition. Andererseits wird die Grenze zwischen diesen beiden Lebenswelten immer wieder überschritten, zunächst und vor allem akustisch, dann aber auch physisch. Denn nachdem Wiesler Ohrenzeuge eines Geschlechtsakts zwischen dem Paar wurde, betritt er in beider Abwesenheit ihre Wohnung. Eine Kameraeinstellung zeigt ihn vor dem menschenleeren Bett des Paares hockend, seine linke Hand streicht über das Bettlaken. Vor dem Verlassen der Wohnung entwendet er einen Brecht-Band, den er in seiner Freizeit zu lesen beginnt. Zu diesem Zeitpunkt hat die Wohnung längst aufgehört, ein Refugium gegenüber der Außenwelt zu sein; stattdessen dringt alles, was in ihr geschieht, akustisch und von ihren Bewohnern unbemerkt nach außen, in die Abhörzentrale der Stasi auf dem Dachboden. Zudem bestimmt zwar der abhörende Wiesler die Einblicke des Filmzuschauers; dieser sieht jedoch auch, was Wiesler nur hört.62 Die privaten Lebensbereiche sind also nicht nur seinem Ohr, sondern auch seinem Blick ausgesetzt. Er ist derjenige, der allen Blicken folgt und alle Beobachtungen beobachtet, er ist der heimliche Mitbewohner des Künstlerpaares.

60 In seinen Berichten für das MfS schreibt er immer häufiger Belangloses und unterschlägt zudem die sich ent- faltenden oppositionellen Aktivitäten Dreymans. 61 Wie auch andere Aspekte des Films wurde diese Abhörsituation als unrealistisch kritisiert. Vgl. dazu Brüggemann (2010, 83). 62 Wie sehr dabei Kameraperspektive und Montage den Zuschauer zum Teil des Überwachungsapparats werden lassen, wurde bereits häufiger betont; vgl. etwa Vierck (2008).

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Auch in der Tatort-Folge Borowski und der stille Gast (2012) werden Wohnungen von einer dubiosen Macht besetzt, in diesem Fall sind es Wohnungen von Frauen, und die Macht besteht aus einem einzelnen Mann ohne Anbindung an einen staatlich organisierten Überwachungsapparat. Zu Beginn sieht man in einigen Nahaufnahmen, wie jemand in einem dunklen Raum voller Werkzeuge und Memorabilien Schlüssel herstellt, mit Handschu- hen und unterlegt von dramatischer Musik. Später wird man wissen, dass es die Schlüssel zu den Wohnungen anderer sind – und gleichzeitig die Schlüssel zum Verständnis dieses Films. Denn mit den Schlüsseln verschafft sich ein zunächst nicht identifizierter Mann Zugang zu den Wohnungen eher zufällig ausgewählter Frauen; zudem symbolisieren die Schlüssel ein zentrales Motiv dieses Films, in dem es ums Auf- und Abschließen und damit um die Spannung von Exklusion und Inklusion bezüglich einer potenziell bedrohlichen Außenwelt geht. Das wird bereits in dem die Handlung initiierenden Kriminalfall deutlich: Kurz vor ihrer Ermordung ruft eine Frau bei der Kieler Polizei an und bittet um Hilfe, da sich ein Unbekannter in ihrer Wohnung befinde. Trotz aller Bemühungen kommt jede Hilfe zu spät, die Frau namens Carmen Kessler wird ermordet in ihrer Wohnung aufgefunden. Die mit dem Fall befassten Ermittler stehen vor einem Rätsel. Denn obwohl die Wohnungstür verriegelt war und der Täter keine Spuren hinterließ, scheint er bei Carmen Kessler ein- und ausgegan- gen zu sein – es finden sich Hinweise, dass er bei ihr gewohnt, ihr Geschenke gemacht und sie genau studiert hat. Es handelt sich offenbar um Heimsuchungen der besonderen Art.63 Im weiteren Verlauf wird peu à peu deutlich, was der Mann, gespielt von Lars Eidinger, in den Wohnungen fremder Frauen tut: Er schaut mit dem Zahnarztspiegel durch den Türspalt, öffnet Briefe über Wasserdampf, zählt Tampons, stellt eigene CDs als Geschenk in ein fremdes Regal, er putzt seine Zähne mit fremden Bürsten und schnüffelt am fremden Turnschuh, kümmert sich aber auch um das zufällig anwesende Kleinkind einer ‚Aus- erwählten‘. Es ist ein Verhalten, bei dem Empathie ins Monströse gesteigert wird, wenn der ungebetene Eindringling sich ganz körperlich und dennoch unsichtbar in eine fremde Wohnung und in ein anderes Leben buchstäblich hineinversetzt. „Er sorgt sich um diese Frauen, er lebt mit ihnen, ohne dass sie es wissen. Sie ahnen es nur. Die Morde, die der Mann begeht, sind Beziehungstaten eines Beziehungsgestörten, denn sie beenden Beziehungen, die nur er als Beziehungen empfindet.“64 Bei dem Mann handelt es sich um den fiktiven Post- und Paketboten Kai Korthals, der seinen Opfern u. a. bringt, was er selbst für sie bestellt hat: Bücher und Einrichtungsgegenstände, am Ende aber auch in mindestens zwei Fällen den Tod. Konzipiert ist er als ein moderner Hermes, eine ambivalente Figur, die ihre Identität heimlich in den Wohnungen anderer sucht. Und die darüber hinaus auf zeitgemäße Weise das Unheimliche verkörpert, wie es Sigmund Freud in seinen Ausführungen über Das Unheimliche (1919) bestimmt hat. Freud entwickelt das Unheimliche etymologisch und semantisch als das Andere des Heimlichen, dem er zunächst nachgeht. ‚Heimlich‘ wiederum, so lernt er aus verschiedenen Wörterbüchern des 19. Jahrhunderts, wird zunächst definiert als „heimelig, zum Hause, zur

63 Das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm weist für den Terminus ‚Heimsuchung‘ ein breites Bedeutungsspektrum nach, das vom schlichten Besuch bis zum rechtshistorischen Tatbestand: „eindringen in ein haus als friedensbrecher“ reicht. 64 Gertz (2012).

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Familie gehörig“, als „nicht fremd, vertraut“.65 Dabei liegt jedoch das Hinübergleiten vom Heim zum Heimlichen, zum Verborgenen, zum Abtritt (‚das heimliche Gemach’), zum Geheimen und schließlich zur Zauberei (‚die heimliche Kunst‘) als zweite Bedeutungsschicht nahe. Und von dort ist es nur noch ein kleiner Schritt zum Unheimlichen, das von Freud bestimmt wird als „jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht.“66 Mit anderen Worten: Unter den verschiedenen Bedeutungsnuancen, über die „das Wörtchen heimlich“ verfügt, gibt es auch eine, so Freud, bei „der es mit seinem Gegen- satz unheimlich zusammenfällt“. Und genau das tritt bei Spukhäusern auf, in denen Freud zufolge das Unheimliche anschaulich und erzählbar wird: Sie relativieren eine Architektur, die ein heimeliges Innen von einem potenziell bedrohlichen Außen räumlich separiert, indem sie von dämonischen Agenten handeln, die als furchteinflößende Hybridwesen im Haus selbst wohnen und so das Unheimliche als Bestandteil des Heimlichen ausweisen. In diesem Sinne repräsentiert der fiktive Paketbote Kai Korthals das Unheimliche gera- dezu paradigmatisch für das frühe 21. Jahrhundert.67 Er ist – zumindest temporär – auf ge- spenstische Weise in fremden Wohnungen anwesend und aktualisiert zudem das alte Motiv der Tarnkappe, wenn er für die fiktiven Figuren in ihren Wohnungen unsichtbar bleibt, für die Rezipienten hingegen stets sichtbar ist. Und das gilt gleichermaßen, wenn auch in einem anderen Medium für die Ich-Erzählerin in Sarah Bergers „punkfeministischer Miniatur“68 Sein Zimmer für mich allein (2018). Sie nimmt ebenfalls, wenn auch weniger gewalttätig als provokativ, Besitz von den Privaträumen anderer. In diesem Fall sind es die Wohnungen von Männern, in denen sie nach gemeinsam verbrachter Nacht regelmäßig aufwacht, wenn ihre Besitzer diese bereits verlassen haben. „Dann beginnt ein Prozess der ästhetischen Penetration dieser Wohnhöhlen, eine Aneignung, die zur Orgie der Umgestaltung wird.“69 Es werden Bücher im Regal und Pullover im Schrank neu sortiert, Haare und Zehennägel unauffällig hin- terlassen, es wird in die Badewanne uriniert und alles akribisch mit der Kamera festgehalten. Wenn die Ich-Erzählerin auf diese Weise eigene Spuren in fremden Räumen hinterlässt, deutet sie in nuce an, welch komplexer Prozesse es generell bedarf, um verfügbaren Wohn- raum in eine eigene Wohnung zu transformieren – und dass dabei imaginäre und symboli- sche Aspekte eine wichtige Rolle spielen. In diesem Zusammenhang produziert modernes Wohnen dingliche Arrangements, die zeichenhaft auf ihre Bewohner verweisen – und vice versa. Noch der ‚klassische‘ Voyeur, der seine sexuell motivierte Schaulust andernorts mit weniger Aufwand befriedigen könnte, sieht die nackte Bewohnerin in genau dieser Span- nung – als Person entkleidet und zugleich umgeben von den dinglichen Ablagerungen ihrer Privatsphäre. Sich selbst wähnt der Beobachter dabei unbeobachtet und reaktiviert damit

65 Freud (1970, 245). 66 Freud (1970, 244). 67 Vgl. zur aktuellen Bedeutung des Unheimlichen auf der Basis von Freud und Lacan auch Binotto (2013, 19–54). 68 Jungen (2018). Dieser Genre-Neologismus mutet originell an, wird aber nicht weiter plausibilisiert. 69 Jungen (2018). Mit Einbrüchen in eigene und fremde Privatsphären arbeitet auch Sophie Calle in vielen ihrer Kunstprojekte, wenn sie etwa 45 Menschen – Freunde, Bekannte, Unbekannte – einlädt, in ihrem Bett zu schlafen und sich dabei von ihr fotografieren zu lassen, ihre Mutter bittet, einen Detektiv zu beauftragen, sie zu beschatten und Nachforschungen über ihr eigenes Leben als Künstlerin anzustellen, oder als Zimmermädchen in einem Hotel in Venedig arbeitet, damit sie die Gegenstände und Schriftstücke der Hotelgäste erforschen kann.

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 176 | Thomas Wegmann: Was du nicht siehst nicht zuletzt einen infantilen Wunsch. Wenn ein Motiv der kindlichen Lust am Verstecken spielen, von der etwa Walter Benjamin in seiner Berliner Kindheit erzählt,70 darin besteht, unbemerkt am Leben der Erwachsenen teilzunehmen, das damit auch unbeeinflusst von der Präsenz des Kindes bleibt, sind die heimlichen Blicke in die Wohnungen anderer ihre zugleich erwachsene wie kindlich gebliebene Fortsetzung. Auch sie sind motiviert durch das Phantasma, dass der Beobachter selbst nicht ins Bild gerät und somit Wohnungen und Wohngeschehen von ihm unbeeinflusst bleiben. Der Wunsch, dabei sein zu wollen, ohne sich zeigen zu müssen, ist darüber hinaus und über alle differierenden Motive hinweg stets der Wunsch, auf moderne Weise zum Gespenst zu werden. Waren Gespenster in der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts vornehmlich auf Häuser fixiert,71 haben sie ihr Habitat längst auf einzelne Wohnungen ausgedehnt, auf die sie sogar aus der Ferne zugreifen können – nicht nur, aber auch mit Hilfe von Nachrichten- und Medientechnik. Die Gespenster haben sich also diversifiziert und modernisiert und betrachten mitunter lediglich Bildbände der Wohnung eines sich selbst als gespenstisch, weil zugleich abwesend und anwesend inszenierenden Dichters – gewissermaßen von Gespenst zu Gespenst und auf eine Weise, bei der Fiktion und Dokumentation interferieren. Nach wie vor markieren sie dabei Figuren der Devianz bzw. der kategorialen Ratlosigkeit, für die jenseits der Opposition von Präsenz und Nicht-Präsenz andere Grenzen und Gesetze gelten. Unheimlich im Freud’schen Sinne sind sie genau deswegen geblieben. Literaturverzeichnis

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70 Vgl. dazu Wegmann (2009). 71 Vgl. dazu Vidler (2002), Wegmann (2016, 52–54).

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Abstract Der Beitrag untersucht die zumeist visuelle und gleichzeitig von den Beobachteten unbemerkt bleibende Teilhabe an ihrem Privatleben. Fokussiert werden dazu heimliche Blicke in die Wohn- und Privaträume anderer, wie sie sich seit den 1950er Jahren unter den Bedingungen diversifizierender Medien und Wohnformen manifestieren. Dazu werden literarische Texte, Bildbände und Filme, aber auch Blogs und diverse Websites herangezogen. All diese medial unterschiedlich konzipierten Blickregimes gene- rieren auf je spezifische Weise Mitbewohner ohne physische Präsenz und stellen eine perzeptive Form von Aneignung dar, wobei sowohl fiktive wie auch reale Wohnungsbesichtigungen in verschiedenen Medien berücksichtigt werden. The paper examines a special kind of participation in private lives which is mostly visual and at the same time unnoticed by the observed. It focuses on secret glimpses into the private spaces of others as they appear since the 1950s under the conditions of diversifying media and lifestyles in literary texts, illustrated books, and films, but also in blogs and various websites. Taking into account both fictional and real housing inspections in various media, these differently designed gaze regimes generate specific roommates without physical presence and therefore represent a very special form of appropriation. Keywords: Fensterblicke, Gespenster, Interieur, Privatsphäre, Wohnräume

Anschrift des Verfassers: Prof. Dr. Thomas Wegmann, Universität Innsbruck, Institut für Germanistik, Innrain 52, A–6020 Innsbruck,

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang pen Zeitschrift für Germanistik | Neue Folge XXX (2020), Peter Lang, Bern | H. 1, S. 179–183

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Alexander Košenina Ein „Familiengemälde“ Ifflands dient Goethe als Vorlage für seine Ferdinand-Novelle in den „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“

Ob die Kurfürstin Elisabeth Auguste von der Pfalz kleine Szene ziemlich zutreffend. Ifflands über 70 am 9. März 1784 im Mannheimer Nationaltheater Dramen bestreiten im Verbund mit August von tatsächlich völlig aus dem Häuschen war, wie es Kotzebues rund 230 Stücken auf allen deutsch- Martin Weinharts Fernsehfilm Schiller (2005) sprachigen Bühnen der Zeit bis zu zwei Drittel nahelegt, ist kaum nachprüfbar. Die Premiere von der Spielpläne – Goethes Weimarer Hoftheater August Wilhelm Ifflands zweitem Drama Verbre- eingeschlossen. Im Falle von Verbrechen aus Ehr- chen aus Ehrsucht (1784) ist dort gerade über die sucht bringt das zwei besondere Pointen mit sich. Bretter gegangen. Zu sehen ist die Schlussszene, Erstens hat die in Mannheim präsentierte ‚Schule die Schiller höchst amüsiert verfolgt. Im Foyer der Sitten‘ einen juristisch schwerwiegenden Ma- begrüßt die Serenissima sodann den Dramatiker kel, weil ein Verbrechen im Familienkreis heimlich und gefeierten Darsteller des Franz Moor als beigelegt und damit eine gerechte Strafe vereitelt Genie, der die Bühne zu einer „Schule der Sitten“ wird. Und zweitens hat Goethe die Handlung gemacht habe. Sie schenkt ihm gleich noch einen in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten wertvollen Ring, der von den Zuschauern wohl (1795) schamlos kopiert. Ifflands Stück brachte er mit dem legendären „Iffland-Ring“ irgendwie ab 11. Januar 1791 in Weimar mit Nonchalance in Verbindung gebracht werden soll. Natürlich auf die Bühne und bemerkte dazu: „Ein Director hat diese Fürstengabe mit dem späteren Porträt­ spielt alles ohne zu prüfen; was fällt, hat doch ring nichts zu tun, mit dem 1815 zuerst Ludwig einen Abend ausgefüllt, was bleibt, wird sorgfältig Devrient als bester deutschsprachiger Schauspieler benutzt.“2 Seit der Hamburger Ausgabe liest man ausgezeichnet wurde und den nach Bruno Ganz zu seiner Ferdinand-Novelle in Editionen: Quelle jetzt Jens Harzer trägt. Dennoch ist die Bevorzu- unbekannt3 oder, wie im Goethe Handbuch: „frei gung Ifflands vor seinem populären Konkurrenten erfunden“.4 Goethe hat die Fährte zur Quelle Schiller unübersehbar.1 Als der Intendant Wolf- von ‚Ferdinands Schuld und Wandlung‘ in der gang Heribert von Dalberg bei der Gelegenheit Rahmengeschichte indes mehr als deutlich legt. auch noch den Verfasser der Räuber vorzustellen Er verweist nämlich auf „Familiengemälde“, also versucht, wendet die Gemahlin des Kurfürsten den auf dem Titelblatt angekündigten Genretitel sich angesichts der darin vorkommenden Gräuel des Iffland’schen Stücks, und bemerkt: „Sie sehen voller Abscheu ab. einander alle so gleich, und wir haben fast alle Den Geschmack des zeitgenössischen Pub- Verhältnisse derselben schon gut bearbeitet auf likums – nicht nur in Mannheim – erfasst die unsern Theatern gesehen.“5

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sich fälschlich als Täterin an, der Vater rät zur Flucht. Schließlich ersetzt ein Oberkommissar den Schaden privat, weil er seinen Sohn in die gleiche Familie verheiraten will und deshalb um deren guten Ruf besorgt sein muss. In der Schlussszene, die auch im Schiller-Film zu sehen ist und dort von Schiller fröhlich beklatscht wird, lautet die zweifelhafte Moral des Kom- missars über diese Strafvereitelung: „Ehre er eine edle Freyheit, bleibe er bey seines gleichen – sey er redlich, gut und froh – und wenn ich schon lange vermodert bin – sage er seinen Kindern, daß sie es auch so machen – und trinkt ein Glas deutschen Weins zum Andenken des alten Obercommissairs.“6 Auch beim (schwach) promovierten Juristen Goethe mag sich hier zumindest das Rechtsgefühl gegen ein nichtöffentliches Gentlemen-Agreement geregt haben. Ansonsten hat er den Plot aber ziemlich unverändert in seine unbetitelte mora- lische Erzählung übernommen.7 Sein Ferdinand versucht ebenfalls einer anspruchsvollen Dame zu imponieren, die ihn aber angesichts seiner Spielsucht und gesellschaftlichen Stellung nicht sonderlich beachtet. Ferdinand nutzt mehrfach einen zufällig entdeckten losen Mechanismus am Schreibtisch seines Vaters aus, um Geld aus dessen Privatschatulle zum Kauf teurer Geschenke zu entwenden. Schlechtes Gewissen lässt ihn die Tat auf geheime Weise anzeigen, der Tisch wird repariert, Ferdinand versucht den Verlust diskret zu ersetzen. Doch durch einige seltene Münzsorten Abb. 1: Goethes Quelle, seit der HA bestritten. und die unnachgiebigen Ermittlungen der Mutter kommt die Sache heraus, Ferdinand muss ihr, Ganz so beliebig gleich wie Ifflands Stück und aber nicht dem Vater gestehen, er erhält Gelegen- Goethes moralische Erzählung sehen sie sich heit zur Reue. Am Ende entscheidet er sich für aber doch nicht. Iffland konstruiert eine klei- eine stille, anspruchslose Frau und ist schließlich ne Kriminalfallgeschichte um – ausgerechnet „überzeugt, daß der Mensch Kraft habe, das Gute – einen jungen Juristen, der sich um eine Stan- zu wollen und zu vollbringen“.8 Ähnlich wie in desdame bemüht, da er über seine bürgerliche Ifflands Schlussapell zur Genügsamkeit und Be- Herkunft – mit adeliger Mutter! – hinausstrebt. scheidenheit bewahrt auch Ferdinand in späteren So etwas kostet Geld, das er nicht hat. Erst ver- Jahren die Angewohnheit aus dieser Erfahrung sucht er sein Glück im Spiel, dann vergreift er bei, „sich manchmal etwas, das ihm Freude würde sich an der Rentenkasse, die sein Vater verwaltet. gemacht haben, zu versagen, um nur nicht aus der Der Diebstahl öffentlicher Gelder fällt bei einer Übung einer so schönen Tugend zu kommen“.9 Revision auf, der Vater gerät in den Verdacht der Seine Kinder erzieht er im gleichen Geiste der Veruntreuung, es wird ermittelt, die Mutter gibt Entsagungsbereitschaft.

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Alexander Košenina: Goethes Quelle für die Ferdinand-Novelle | 181

Zeit zu übernehmen. Man mag es als Revanche des Theaterdirektors in Weimar verstehen, der solche Stücke gegen sein eigenes ästhetisches Programm ständig auf den Spielplan setzen musste.

Anmerkungen

1 Die Jahrgangsgenossen Iffland und Schiller haben miteinander gewetteifert, sich aber auch gegenseitig angeregt und gefördert. Vgl. Alexander Košenina: Ifflands und Schillers dramatischer Start von Mann- heims Bühnenrampe. In: T. Wortmann (Hrsg.): Mannheimer Anfänge. Beiträge zu den Gründungs- jahren des Nationaltheaters Mannheim 1777–1820. Göttingen 2017, S. 135–150. 2 Goethes Werke. Weimarer Ausgabe (= WA), Bd. I, 35. Weimar 1892, S. 19. Vgl. den Tagebucheintrag am 11. Januar 1791: „Verbr. aus Ehrs.“ (WA III, 2, S. 25). 3 „Eine Quelle wie bei den anderen Novellen liegt nicht vor; selbständige Erzählung Goethes“ (Ham- burger Ausgabe, Bd. 6. Hrsg. v. Erich Trunz. Hamburg 1951, S. 612). 4 Goethe Handbuch, Bd. 3: Prosaschriften. Hrsg. v. Bernd Witte. Stuttgart, Weimar 1997, S. 239. 5 WA I, 18, S. 191. 6 August Wilhelm Iffland: Verbrechen aus Ehrsucht. Ein ernsthaftes Familiengemälde in fünf Aufzügen. Mit einem Nachwort hrsg. v. A. Košenina. Hanno- ver 2014, S. 97. 7 WA I, 18, S. 192–222. Vgl. hierzu Alexander Košeni- na: Anthropologische Kriminalfallgeschichte. Karl Abb. 2: Titelbild der zweiten Ausgabe des Müchlers Diebstahl aus kindlicher Liebe und Goethes Stücks mit Porträt-Vignette Ifflands (1787). Ferdinand-Erzählung. In: Ders., C. Zelle (Hrsg.): Kleine anthropologische Prosaformen der Goethe- Goethe, der nicht müde wird, gegen die „Nullität“10 zeit (1750–1830). Hannover 2011, S. 255–270. 8 WA I, 18, S. 216. eines Kotzebue, gegen „nivellierende Naturen“ wie 9 WA I, 18, S. 221. Sophie von La Roche und überhaupt gegen das „Ver- 10 WA I, 36, S. 283. bertuchen“ – also das von ihm nach Friedrich Justin 11 Vgl. Siegfried Seifert: Goethe/Schiller und die Bertuch benannte Popularisieren – zu wettern,11 ist „nivellirenden Naturen“. Literarische Diskurse im sich selbst nicht zu schade, diese relativ einfache klassischen Weimar. In: G. Theile (Hrsg.): Das Moralgeschichte aus einem der Erfolgsstücke seiner Schöne und das Triviale. München 2003, S. 79–92.

Anschrift des Verfassers: Prof. Dr. Alexander Košenina, Leibniz Universität Hannover, Deutsches Seminar, Königsworther Platz 1, D–30167 Hannover,

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 182 | Neue Materialien / Quellenfunde

Jeffrey L. High, Lisa Beesley Wielands „Novelle ohne Titel“ geht auf Mereau-Brentanos Übersetzungen von María de Zayas’ „Spanische Novellen“ zurück

Inwieweit die Novellensammlung Novelas amorosas handelt es sich um Merkmale, die auch für Kleist y ejemplares (1637) von María de Zayas y Soto- typisch sind. mayor (ca. 1590–1661),1 die 1804–1806 in den Nicht anders verhält es sich mit Wieland. In Übersetzungen von Sophie Mereau (1770–1806) seiner 1803 erschienenen Novelle ohne Titel – dem und Clemens Brentano (1778–1842) auf Deutsch einzigen gattungsgerechten Text in der Sammlung erschien,2 den Stil und Inhalt der deutschen No- Hexameron von Rosenhain (1805) – liefert Wieland velle beeinflusste, ist bisher nicht aufgefallen und die einzige kleistisch wirkende Novelle innerhalb daher nicht untersucht worden.3 Mit mindestens seines weitreichenden Œuvres. Als Wielands No- zwei auffälligen Ausnahmen – Christoph Martin velle geschrieben und veröffentlicht wurde, hatte Wieland (1733–1813) und Heinrich von Kleist Kleist aber noch kein einziges Prosawerk geschrie- (1777–1811) – scheint der Germanist Hugo Aust ben. Wie es auch bei vielen jetzt als kleistisch er- zu den wenigen zu gehören, die die große Wirkung scheinenden Gesten der Fall ist, gibt es auffallende und literarische Innovation der Übersetzungen von Ähnlichkeiten zwischen den Novellen Zayas’ und Mereau und Brentano auf den Entwicklungsver- Wielands gothic atmosphere in Novelle ohne Titel. lauf der deutschen Novelle überhaupt wahrgenom- Die Handlung von Wielands Novelle trägt sich men haben. Aust bezeichnet die Übersetzungen in Spanien zu, die Hauptfigur (Galora) wird als als noch bedeutender als Brentanos Märchen und „ein so grimmiges, blutdürstiges, cannibalisches seine kanonische Novelle Geschichte vom braven Geschöpf“ beschrieben (Wieland 19, S. 282). Kasperl und dem schönen Annerl (1817).4 Auch durch die mysteriöse Stimmung und den Erst 1804 erschien der erste Band, Spanische rätselhaften, beim Kerzenschein der Mitternacht, und Italienische Novellen, des gemeinschaftlichen auftretenden Trübsinn demonstriert Wieland seine Übersetzungsprojekts von Mereau und Brentano, Bekanntheit mit den aufkommenden Übersetz­ die am 29. Oktober 1803 heirateten. Auf den ersten ungen von Mereau und Brentano, die zur gleichen Blick scheinen diese zwei Bände eine Sammlung Zeit entstanden, und die Novelle nimmt sogar von Novellen aus Spanien (und Italien) zu sein. konkreten Bezug auf Zayas’ Novellenband. Sie enthalten jedoch ausschließlich Übertra­ Wielands Rahmenerzähler erklärt zunächst, gungen der ersten acht der zehn Novellen aus dass Herr M. vorhabe, eine kleine Novelle zu Zayas’ Novelas amorosas y ejemplares (1637). erzählen, „die er ehmals in einem alten wenig Von Dezember 1801 bis zum Winter 1803 ver- bekannten Spanischen Buche gelesen zu haben brachte Kleist beträchtliche Zeit mit Mitgliedern vorgab“ (Wieland 19, S. 256). Zum Schluss des prominenten Kreises, zu dem neben Mereau der Novelle kontrastiert Wielands Herr M. die und Brentano auch Wieland, Wielands Sohn wielandische Komödien- und Novellentradition Ludwig Wieland und dessen Schwager Heinrich („alle Komödien und beinahe alle Novellen“) Gessner gehörten.5 Es ist sehr wahrscheinlich, mit den damals noch relativ wenigen Beispielen dass eins der Gesprächsthemen das Übersetz­ tragischer Kurzprosawerke – Novellen – „die ein ungsprojekt war, aus dem höchstwahrscheinlich tragisches Ende nehmen“ und ihre Leser „mit der auch vorgelesen wurde. Denn verglichen mit Anwartschaft auf gräßliche Träume zu Bette“ Kleists Werken zeigt eine genaue Lektüre aus- schicken (Wieland 19, S. 278–279). Herr M. gewählter Mereau-Brentano-Übersetzungen von droht nun, eine Schauergeschichte zu spinnen, Zayas’ Texten eine bemerkenswerte Zahl von „wie es heutzutag die Mode ist, auf die höchste transtextuellen Beziehungen.6 Bei einer Reihe von Spitze des Schrecklichen und Unsinnigen getrie- Erzählprinzipien und Stilelementen sowie bei der ben – meinen Sie nicht, daß meine Novelle neben Interpunktion und Syntax, die für die Mereau- den allergräßlichsten sich mit Ehren sehen lassen Brentano-Übersetzungen charakteristisch sind, dürfte?“ (Wieland 19, S. 280).

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Jeffrey High, Lisa Beesley: Die Quellen für Wielands „Novelle ohne Titel“ | 183

Die erste Figur, die nach Herr M. spricht, 2 Sophie Brentano (Hrsg.): Spanische und Italienische Nadine von Thalheim, fasst das Vorige mit einer Novellen. Penig: Dienemann 1804 u. 1806. vielsagenden rhetorischen Geste für das Jahr 1803 3 Die offensichtlichen transtextuellen Parallelen und zusammen und kontrastiert die zeitgenössische der intertextuelle Transfer von Zayas über Mere- gattungsgerechte Novelle ihres Vorgängers mit au und Brentano zu Kleist ist Gegenstand einer detaillierteren Untersuchung der beiden Autoren. folgender Anekdote und drei vorangehenden Jeffrey L. High und Lisa Beesley: Sophie Mereaus „Erzählungen“: „Herr M. hat sich mit einer spa- und Clemens Brentanos Übersetzungen von María nischen Novelle aus der Sache gezogen; was bleibt de Zayas: ‚Spanische Novellen‘ und die Prosawerke mir also, um etwas Neues auf die Bahn zu bringen, Heinrich von Kleists. In: Jahrbuch der Kleist-Ge- als eine Anekdote?“ (Wieland 19, S. 286). Es be- sellschaft. Stuttgart 2020. steht kaum Zweifel, dass sich beide Figuren auf die 4 Hugo Aust: Novelle. Stuttgart 2012, S. 108. Spanischen Novellen von María de Zayas beziehen. 5 Vom 16. Dezember 1801 bis Oktober 1802 war Die Novelle ohne Titel, die zwischen Januar 1802 Kleist in der Schweiz, häufig in der Begleitung von und Januar 1803 entstand, wurde kurz vor der Zeit Ludwig Wieland (1777–1819) und Heinrich Geßner vollendet, als Kleist im Winter 1803 sechs Wochen (1768–1813), der im Jahre 1795 Charlotte Wieland (1776–1816) heiratete und 1803 Kleists Die Familie als Gast bei Wieland verbrachte. Folglich signali- Schroffenstein veröffentlichte. Bis zu dieser Zeit siert Wielands Novelle ohne Titel den Anfang der kannte Ludwig Wieland schon lange sowohl Clemens literarischen Rezeption der Mereau-Brentano-Über- Brentano als auch Brentanos Schwester Sophie, die setzungen von Zayas’ Novellen, was Aust als „[f]ür regelmäßig zu Gast bei Christoph Martin Wieland die Entstehung der Novelle in Deutschland weitaus in Oßmanstedt war und im Sommer 1800 bei den wichtiger“ beschreibt, als Brentanos eigene Novellen Wielands lebte, bis sie am 19. September 1800 un- (Aust, S. 108). Wielands Novelle erscheint während erwartet starb. Noch am 3. März 1803 wurde Kleist der letzten Arbeitsphase am ersten Band von Mereau von Wieland zu einem Besuch eingeladen (vgl. C. M. und Brentanos Spanischen Novellen, die im Mai 1804 Wieland: Sämmtliche Werke, Bd. 2. Leipzig: Göschen veröffentlicht wurden und die schon am 14. Juni 1804 1853, S. 731). 6 Hier wird Genettes Konzept von Transtextualität in der Nummer 118 von Der Freimüthige oder Berlini- verwendet: „alles, was [den Text] in eine manifeste sche Zeitung für gebildete, unbefangene Leser rezensiert oder geheime Beziehung zu anderen Texten bringt“. wurden. Etwa ein Jahr nach der Veröffentlichung Gerard Genette: Palimpseste: Die Literatur auf von Wielands Text begann Kleist mit dem Verfassen zweiter Stufe. Frankfurt a. M. 1993, S. 9. seiner ersten Novelle: Michael Kohlhaas. Ab 1806 7 C. M. Wieland: Sämmtliche Werke, Bd. 19. Leipzig: arbeitete er an der in mehrfachem Sinne ‚spanischen‘ Göschen 1853, S. 258–286. Novelle Das Erdbeben in Chili (1807) und seiner ersten 8 Wir möchten den Folgenden für ihre-Unterstützung­ ‚italienischen‘ Novelle Die Marquise von O… (1808).8 bei der Recherche und Erstellung dieses Manuskripts danken: Natalie Martz und Courtney Yamagiwa (California State University, Long Beach), Johannes Anmerkungen Endres (University of California, Riverside), Friede- rike von Schwerin-High (Pomona College), Rebecca 1 María de Zayas y Sotomayor: Novelas amorosas y ejem- Stewart (Harvard University) und Regina Range plares. Hrsg. v. Augustín G. de Amezúa. Madrid 1948. (University of Alabama).

Anschrift der Verfasser: Prof. Dr. Jeffrey L. High, Section Chair and Graduate Advisor for German Studies, California State University, Long Beach, USA; Dr. Lisa Beesley, Lecturer for German Studies, California State University, Long Beach, USA, ,

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) pen Zeitschrift für Germanistik | Neue Folge XXX (2020), Peter Lang, Bern | H. 1, S. 184–200

Konferenzberichte

Johann Michael Moscheroschs Textwelten (Interdisziplinäre und internationale Tagung in Willstätt v. 3.–5.4.2019)

Die Tagung wurde anlässlich des 350. Todestags Sinngebung zu erkennen, durch die der Schreib- des frühneuzeitlichen Dichters und Gelehrten kalender in die Nähe der Tagebuchliteratur rücke. Johann Michael Moscherosch (1601–1669) von Ein Dokument der Moscherosch-Rezeption aus Sylvia Brockstieger und Dirk Werle (Heidel- der Zeit des Ersten Weltkrieges war Gegenstand berg) in Kooperation mit der Gemeinde Willstätt des Vortrags von Martin Frank (Marbach) zum (Heimatstadt Moscheroschs), der Arbeitsstelle für Auftakt der zweiten Sektion „Kultur und Trans- literarische Museen, Archive und Gedenkstätten fer“. Er las Edmund Kreuschs 1915 publizierte in Baden-Württemberg (DLA Marbach) und der Erzählung Moscherosch und Grimmelshausen im Grimmelshausen-Gesellschaft veranstaltet. Schützengraben vor dem Hintergrund der politi- Nach einer Einführung durch die Veranstalter schen Ausrichtung der Zeitschrift März und stellte referierte Martin Ruch (Willstätt) in der ersten Überlegungen zur Autorintention an. Sektion „Autor und Netzwerk“ über die Spuren Elsa Kammerer (Lille) identifizierte die bisher Moscheroschs in den Rechnungsbüchern der unbekannte Vorlage der Méditation sur la vie de Gemeinde Willstätt. Diese seien als Quellen für Jesus Christ (1646) als Robert Arnauld d’Andillys das alltägliche Leben in Willstätt zur Zeit des Poeme sur la vie de Jesus Christ (1645). Mit der Dreißigjährigen Krieges ergiebig. Änderung des Titels habe Moscherosch entspre- Mit dem verlegerischen Netzwerk Moscheroschs chend der Lehren des Straßburger Kirchenpräsiden- befasste sich Holger Thomas Gräf (Marburg). Er ten Johann Schmidt darauf aufmerksam gemacht, zeigte Verbindungen zwischen Moscherosch und dass sich diese Schrift zur Anwendung in der dem Frankfurter Kupferstecher Johann Philipp privaten Meditation eigne. Im Gegensatz zur Vor- Thelott auf, der Moscherosch in seinem Rech- lage habe Moscherosch zudem in diversen Passagen nungsbuch für die Jahre 1665–1671 als Kunden dezidiert katholische Begriffe geändert oder getilgt. nennt. Denkbar sei, dass es sich bei Thelott um Den Abschluss des ersten Konferenztags bil- den bisher unbekannten Stecher des Titelkupfers dete ein öffentlicher Abendvortrag von Wilhelm der Ausgabe der Gesichte Philanders von Sittewalt Kühlmann (Heidelberg), in dem es um die aus dem Jahre 1666 handele. ambivalente und vielschichtige Bedeutung der Sylvia Brockstieger (Heidelberg) zeigte an- Alamode-Kritik in den Gesichten Philanders von hand von Moscheroschs Schreibkalender literatur- Sittewalt ging. wissenschaftliche Fragestellungen auf, die sich bei Maximilian Bergengruen (Karlsruhe) befasste der Auseinandersetzung mit dieser Gattung stellen, sich in seinem Vortrag in der dritten Sektion „Sa- etwa zum Verhältnis von dokumentierendem und tire und Roman“ mit den Höllendarstellungen in erzählendem Schreiben sowie nach dem Ausdruck La Genestes Übersetzung von Quevedos Sueños, eines Autor-Bewusstseins. Einzelne Einträge Mo- Moscheroschs Hoff-Schule und der Continuatio scheroschs erschienen zwar oft beliebig, in den des Simplicissmus Teutsch. Die Tyrannenthematik zahlreichen Tilgungen und Verbesserungen werde aus Moscheroschs Vorlage sei angereichert und jedoch ein Bewusstsein für die Archivierbarkeit in ihrer Komplexität gesteigert worden. Auch des Geschriebenen erkennbar. Man könne nicht vor dem Hintergrund der in anderen Vorträgen von einer durchgängigen Selbstinszenierung spre- betonten Komplexität und Selbstreflexivität des chen, es seien aber Versuche von Ordnungs- und Moscherosch’schen Œuvre erscheint die Folgerung

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Bergengruens plausibel, dies gehöre zu einer um- Die explizite und implizite Gattungsreflexion, fassenden Hofkritik, die jeden Teilnehmer des die in den fortlaufenden Überarbeitungen der Ge- Hoflebens als Teil eines gottvergessenen politischen sichte stattfindet, führte Nora Ramtke (Bochum) Systems versteht, was auch den Sprecher Philander exemplarisch an vier Episoden vor, in denen sich mit einschließt. Philander in Gerichtsverhandlungen für sein Mit der Selbstrechtfertigung des Moralsati- Schreiben verantworten muss. Die einzelnen Ge- rikers Moscherosch im Gesicht Reformation be- richtsverfahren variieren dabei in der Zusammen- fasste sich der Vortrag von Peter Hesselmann setzung des Gerichts, im Anklagegegenstand und (Münster). In der Reformation verteidigt Philander im Urteil – am Ende des vierten Verfahrens stehe zwar die bereits verfassten Satiren und besteht jedoch der Freispruch Philanders und damit der auf den artikulierten moralischen Ansprüchen, Freispruch seiner Satiren. verspricht aber auch, keine weiteren Satiren mehr Misia Sophia Doms (Baden b. Wien) zeigte zu schreiben. Philander gelange damit zu der Er- in der vierten Sektion „Literatur und Wissen“ kenntnis, dass Gesellschaftskritik zwar notwendig mögliche Ordnungsprinzipien des Wörterbuchs sei, sich jedoch am gesellschaftlichen Wandel Technologie Allemande & Françoise auf. In Abgren- orientieren müsse; eine Rückbesinnung auf die zung von Walter Ernst Schäfers Urteil, es handle Vergangenheit stelle keine Alternative zu Reformen sich um eine mehr oder weniger unsystematische in der Gegenwart dar. Auflistung von Wörtern und Wortgruppen, Rosmarie Zeller (Basel) stellte einige Beobach- stellte Doms in dem Text zwei miteinander kon- tungen zu den Paratexten der Gesichte Philanders von kurrierende Ordnungssysteme fest. So sei zum Sittewalt an. Das Verfassen einer Vorrede zu jedem einen eine Anordnung vom Geistig-Erhabenen der Gesichte stelle eine Auffälligkeit dar, zumal sie zum Materiell-Niedrigen im ersten Abschnitt des nicht zur Einzelveröffentlichung bestimmt waren. Wörterbuchs erkennbar, die in den Abschnitten Außerdem seien die Vorreden durch ihre Heteroge- 2–7 umgekehrt werde. Zum anderen könnten die nität gekennzeichnet: So fänden sich ebenso solche, Schöpfungsgeschichte und der Sündenfall (Gen. die die Gattung der Satire verteidigen, wie Vorreden, 1–3) als narrativer Hintergrund für das gesamte die um das Wohlwollen des Lesers werben oder aber Wörterbuch verstanden werden. Doms machte den Leser beschimpfen. Bezüglich der ab 1650 vor- plausibel, dass es sich bei dem Wörterbuch um ein handenen Titelkupfer für jedes der Gesichte lasse sich Sprachlehrbuch gehandelt haben könnte. feststellen, dass deren Verhältnis zum Text häufig Mit der Insomnis Cura Parentum (1643) befasste erst durch die Lektüre erkennbar werde. sich der Vortrag von Simon Zeisberg (Berlin). In Mit dem Verhältnis von ‚Guter Policey‘ und der diesem Text, der sich in einem zweifachen Ad- menippeischen Satire bei Moscherosch befasste ressatenbezug sowohl an Moscheroschs Kinder sich Philip Ajouri (Stuttgart). Im ersten Teil der als auch an die Öffentlichkeit richtet, inszeniere Gesichte dienten der gesellschaftliche Stand und die sich Moscherosch durch eine Rhetorik des Kunst- ‚Gute Policey‘ als Ordnungskriterien, gleichzeitig losen als Practicus, dessen Wort durch seine liege der Satire bei Moscherosch aber eine Ord- Welterfahrung Gewicht gewinne. Eine ähnliche nung zugrunde, die nicht ständisch begründet sei. Strategie lasse sich in Schupps Freund in der Not Als Grund hierfür wurde die Krise der Ständege- beobachten. Dieses Schreibprinzip werde dann sellschaft durch den Dreißigjährigen Krieg ge- von Grimmelshausen in seinem Ewigwährenden nannt, mit der sich auch neue Wege für die Satire Kalender parodiert, die Unordnung werde hier zu eröffneten. Dementsprechend sei der Gegenstand Unterhaltungszwecken eingesetzt. Gleichzeitig der Alamode-Kritik nicht ein Überschreiten der stelle die Insomnis Cura Parentum Genealogie Ständegrenzen, sondern ein ständeübergreifend diskursiv her. ‚undeutsches‘ Verhalten, das durch die Abführung Der Bibliothekskatalog Moscheroschs war finanzieller Mittel ins Ausland dem ‚gemeinen Gegenstand des Vortrags von Dirk Werle (Hei- Nutz‘ in Deutschland schade. Damit seien Mo- delberg). Moscheroschs Bibliothek sei laut diesem scheroschs Satiren ein Normrelativismus und Dokument bemerkenswert gut ausgestattet gewe- eine Komplexität zu eigen, die die Tradition der sen, wobei jedoch berücksichtigt werden müsse, Menippea überstiegen. dass der Katalog keinen Einblick in den Wandel

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 186 | Konferenzberichte der Bibliothek gewährt. Bereits zum aktuellen geringen Qualität der französischen Übersetzung Zeitpunkt der erst beginnenden Erschließung von La Geneste, auf der die Gesichte Philanders von ließen punktuelle Beobachtungen aus dem Be- Sittewalt beruhen, müsse vor diesem Hintergrund stand der Bibliothek ziehen. So verzeichne der überdacht werden. Katalog z. B. Texte, die sich mit der Erfindung Hans-Joachim Jakob (Siegen) befasste sich des Buchdrucks befassen, wie er im Soldatenleben mit der Rezeption Moscheroschs in den Schul- thematisiert wird. programmen des 19. Jahrhunderts. Die geringe Jörg Riecke (Heidelberg) näherte sich der Aufmerksamkeit, die Moscherosch zwischen 1820 Verwendung von Geheimsprachen und Rotwelsch und 1914 in den Schulprogrammen und ihren bei Moscherosch aus sprachwissenschaftlicher Abhandlungen zukam, sei repräsentativ für das Perspektive an. Das Glossar rotwelscher Wörter wenig ausgeprägte Interesse an der Literatur des 17. im Soldatenleben lasse sich zu großen Teilen auf Jahrhunderts. Dennoch lasse sich in den (literatur-) den Liber Vagatorum (zuerst 1510) zurückführen, pädagogischen Periodika eine frühe Moscherosch- Moscherosch folge der Überarbeitung Martin Forschung erkennen, die zwar zum Teil unter den Luthers. Festzustellen sei auch, dass Moscherosch Vorzeichen nationalistischer Bewegungen stehe, das Rotwelsche nicht gut genug beherrscht hat, um aber auch philologische Abhandlungen biete. einige Fehler zu vermeiden. Aufgrund der Wort- In der Abschlussdiskussion wurde festgestellt, bildungen lasse sich von einem nahezu sprachwis- dass sich die thematische Vielfalt von Moscheroschs senschaftlichen Interesse Moscheroschs sprechen. Œuvre in den Tagungsbeiträgen widerspiegele, und Der Vortrag von Dieter Breuer (Aachen) dass es gelungen sei, an die vorhandene Forschung befasste sich zu Beginn der fünften Sektion „Re- anzuknüpfen und diese zu ergänzen. Gleichzeitig zeption“ mit den Pseudo-Moscheroschiana, die wurde wiederholt auf das Desiderat einer Mosche- zwischen 1646 und 1648 von dem Frankfurter rosch-Gesamtedition hingewiesen. Zusätzlich Verleger Johann Theobald Schönwetter publiziert zum Tagungsprogramm wurde eine gemeinsame worden. Diese insgesamt achtbändige Ausgabe ver- Besichtigung der Dauerausstellung Johann Michael sammle neben Moscheroschs Gesichten auch Mo- Moscherosch: Aus Willstätt nach Europa unter der ralsatiren, die nicht von Moscherosch stammen, Leitung von Thomas Schmidt unternommen. sowie in fünf Bänden unterhaltsame Erzählungen, Insgesamt bot die Tagung eine Vielzahl neuer Historien und aktuelle politische Informationen. Erkenntnisse, etwa bezüglich der Prätexte Mosche- Dabei würden Stoffe für das 17. Jahrhundert aktu- roschs, seinem Netzwerk oder der Selbstreflexivität alisiert, die zum Teil seit dem Mittelalter bekannt seiner Satiren. Eine Publikation der Beiträge wird sind. Literaturwissenschaftlich relevant seien die in den Beiheften zu Simpliciana erfolgen. Pseudo-Moscheroschiana vor allem deswegen, weil sie zur stofflichen Fundgrube für jüngere Autoren Sofia Derer wurden, darunter Grimmelshausen. Universität Heidelberg Eric Achermann (Münster) führte anhand Neuphilologische Fakultät einer Detailanalyse einiger Textstellen vor, dass die Germanistisches Seminar angemessene Übersetzung von Quevedos Sueños Hauptstraße 207–209 aus dem Spanischen in das Französische überaus D–69117 Heidelberg anspruchsvoll ist. Die gängige Kritik an der

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„Die deutsche Freiheit erdolcht!“. Tagung zu Leben, Werk und Tod August von Kotzebues anlässlich seiner Ermordung vor 200 Jahren (Interdisziplinäre Tagung in Mannheim v. 21.–23.3.2019)

Zur 200. Wiederkehr von Kotzebues Todestag lu- Der Musikwissenschaftler A xel Schröter den die Organisatoren Julia Bohnengel (Heidel- (Bremen) ging auf Kotzebues spannungsvolles berg) und Thomas Wortmann (Mannheim), u. a. Verhältnis zur Musik ein, indem er einerseits die in Kooperation mit dem Mannheimer Altertums- erhaltene Theatermusik zu Kotzebues Dramen verein, Germanisten und Komparatisten, Histori- analysierte (wobei im Fall des Mannheimer Natio- ker und Musikwissenschaftler sowie Experten aus naltheaters der Großteil der Bühnenmusik verloren Museen zu einer interdisziplinären Tagung nach ist) und andererseits aufzeigte, wie der Dramatiker Mannheim ein. Ziel war es, sowohl das Attentat selbst durch Anweisungen und Vorgaben versuch- und dessen Folgen als auch das schriftstellerische te, stets den Primat seines Textes gegenüber der Werk Kotzebues neu in den Blick zu nehmen. Musik zu wahren. In ihrer Einführung in die Tagung wiesen Die Komparatistin Julia Bohnengel (Heidel- Bohnengel und Wortmann auf die national- berg) nahm mit Kotzebues Laientheaterstücken historische Bedeutung des Kotzebue-Attentates ein Genre in den Blick, für das sich die Forschung hin. Denn als der Student Karl Ludwig Sand bisher wenig interessiert hat, obwohl es fast die am 23. März 1819 den Schriftsteller August von Hälfte seines dramatischen Gesamtœuvres be- Kotzebue in dessen Mannheimer Wohnhaus stimmt. Bohnengel verortete zum einen die Ent- erstach, setzte er nicht nur dem Leben des meist- stehungsumstände von Kotzebues Laienstücken in gespielten Dramatikers der Goethezeit ein jähes der literarischen Fehde mit Goethe von 1801/02 Ende. Die Ermordung zog mit den Karlsbader und spürte zum anderen seinen französischen Beschlüssen auch tiefgreifende gesellschaftliche Vorbildern (insbes. Louis Carrogis de Carmon- Konsequenzen nach sich. Von nun an wurde telle) nach. die Freiheiten der Universitäten beschnitten, die Thomas Wortmann (Mannheim) setzte sich Burschenschaften verboten und die ‚Demagogen- mit Kotzebues Südseedrama La Peyrouse ausein- verfolgung‘ begann. ander. Der Literaturwissenschaftler interpretierte Die erste Sektion der Tagung trug den Titel das Drama im Hinblick auf den darin verhandel- „Kotzebues Theater. Der Dramatiker im eu- ten kolonialen Diskurs, den Kotzebue insofern ropäischen Kontext“ und wurde von der Literatur- durchkreuzt, als er durch die Gleichsetzung der wissenschaftlerin Irmtraud Hnilica (Hagen/ französischen und polynesischen ‚Gattinnen‘ des Trier) eröffnet, die in ihrem Vortrag herausarbei- Protagonisten Zuschreibungen und Wertungen tete, wie Kotzebues Abolitionsdrama Die Neger- des ‚Eigenen‘ und des ‚Fremden‘ kollabieren lässt. sklaven auf die Mitleidsästhetik des bürgerlichen Die folgende Diskussion kreiste um die Frage, Trauerspiels rekurriert, um mittels einer daran inwiefern die ‚exotischen‘ Texte Kotzebues, zu geschulten Affektpoetik – und weniger durch denen z. B. auch die Negersklaven zählen, im Hin- eine Fakten gesättigte Darstellung – die Sklaven- blick auf eine Textproduktion, die auf Effekte von haltung zu problematisieren. Serialität setzt, zu verstehen sind: Der Liebesplot, Unter dem provokanten Titel Alles nur geklaut? der zahlreiche Kotzebue-Stücke organisiert, wird widmete sich Johannes Birgfeld (Saarbrücken) hier wiederholt, aber eben auch entscheidend durch Kotzebues oftmals negativ ausgelegter Praxis, po- ein nicht-europäisches Setting und die damit ver- puläre Prätexte für die Bühne zu modifizieren. Am bundenen Verschiebungen variiert. Beispiel von Kotzebues Auseinandersetzung mit Kotzebues Adaptionsstrategien standen auch im den Texten des dänisch-norwegischen Dramatikers Zentrum des Vortrags der Literaturwissenschaft- Ludvig Holberg zeigte der Literaturwissenschaftler lerin Anke Detken (Göttingen), der sich mit den die Strategien auf, mittels derer Kotzebue seine Deutschen Kleinstädtern, dem wohl bekanntesten Prätexte adaptierte und zog eine Linie zum Theater Text August von Kotzebues, beschäftigte. Detken der Gegenwart. las das Drama vor der Folie seines französischen

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Prätextes, Louis-Benoît Picards La petite ville, um fragten nach den Kontexten des Attentats und die Unterschiede in der Schilderung der Provinz den Folgen der Ermordung. Den ersten Vortrag bei Kotzebue und Picard herauszuarbeiten, die hielt die Historikerin Sarah Pister (Mannheim), in der anschließenden Diskussion auch darauf die in intensiver Auseinandersetzung mit stadt- zurückgeführt wurden, dass der Status von Paris historischen Quellen rekonstruierte, an welchen in der zeitgenössischen deutschen Kultur keine Ort Kotzebue 1818 übersiedelte bzw. mit welcher Entsprechung findet. Eine szenische Lesung der Stadtgesellschaft der Dramatiker, der an seinen Le- Deutschen Kleinstädter im Werkhaus des Mann- bensorten stets die Öffentlichkeit gesucht und sich heimer Nationaltheaters beschloss diesen ersten am kulturellen Leben beteiligt hatte, in Mannheim Konferenztag. konfrontiert war. Am nächsten Tag nahm die zweite Sektion der Sylvia Schraut (München), ebenfalls Histori- Konferenz „Kotzebues Vielfalt“ dessen schriftstel- kerin, arbeitete in ihrem Beitrag auf, wie Kotzebue lerisches Engagement jenseits der Bühne in den durch seine Texte zum Feindbild der liberalen Fokus. Eröffnet wurde sie durch den Literaturwis- Bewegung avancierte. Der populäre Dramatiker, senschaftler Max Graff (Heidelberg) mit einem durch seine Arbeit als russischer Generalkonsul als Beitrag zu Kotzebues frühen Verserzählungen, die Spion verschrien, wurde zur Projektionsfläche, auf bisher von der Forschung noch nicht untersucht die sich ein Feindbild werfen ließ, das schließlich worden sind. Graff konnte dabei u. a. frühneu­ sogar den Mord zu legitimieren versprach und nach zeitliche Quellen Kotzebues, aber auch den Einfluss dem Attentat dafür sorgte, dass nicht das Opfer be- Wielands identifizieren, zeigte jedoch zugleich die dauert, sondern der Täter gefeiert wurde. Intensiv Konventionalität der ersten schriftstellerischen diskutiert wurde im Anschluss an diesen Vortrag, Versuche Kotzebues auf. inwiefern Sands Attentat als ein terroristischer Akt Im folgenden Vortrag diskutierte Alexander verstanden werden kann. Schraut selbst ließ daran Košenina (Hannover), ebenfalls Literaturwissen- keinen Zweifel. schaftler, wie Kotzebue in seinem Almanach der Der Bedeutung der Studentenbewegung im Chroniken (1803) auf die Gespenstermode der Kontext der Kotzebue-Ermordung widmete sich Romantik antwortete, und zog Linien zu anderen, Wilhelm Kreutz (Mannheim). In einer akribi- heute kanonisierten Autoren wie etwa Heinrich schen Auseinandersetzung mit dem Quellenma- von Kleist, um damit ein weiteres Desiderat der terial zeichnete der Geschichtswissenschaftler die Forschung zu benennen, das in der Folge kon­ Ideologien der radikalen Burschenschaften nach, trovers diskutiert wurde: Zu untersuchen wäre, denen Karl Ludwig Sand in seinem Anschlag auf inwiefern Autoren wie Schiller und Kleist in den Dramatiker in Mannheim zu folgen versuchte. ihren Texten auf narrative Strategien und Stoffe Den Tag beschloss der Literaturwissenschaftler zurückgreifen, derer sich auch der populäre Kot- Pierre Mattern (Offenburg), der Kotzebue als zebue bedient, um Gemeinsamkeiten und Unter- einen streitbaren und streitlustigen Autor präsen- schiede der jeweiligen Erzählungen zu bestimmen. tierte. Mattern besprach die Feindschaften, die Für den Reiseschriftsteller August von Kotze- Kotzebue Zeit seines Lebens pflegte und die den bue interessierte sich der Literaturwissenschaftler Dramatiker nicht nur zu einem berühmten, son- Albert Meier (Kiel) im letzten Vortrag der zwei- dern auch zu einem berüchtigten Autor machten. ten Sektion. Meier setzte sich mit der Faktur von Der letzte Konferenztag, der die Sektion des Kotzebues Reiseberichten über Italien auseinander, Vortags vorführte und hierbei insbesondere Carl deren Fragmentarität er problematisierte, um die Ludwig Sand in den Fokus rückte, wurde von Reiseschilderungen insgesamt als epigonal zu be- Liselotte Homering (Mannheim) eröffnet. Als werten. Die anschließende Diskussion kreiste um Leiterin der theater- und literaturgeschichtlichen die Frage, inwiefern Kotzebues Reisedichtung Sammlungen der Mannheimer Reiss-Engelhorn eher als modern gelten kann, gerade weil sie kein Museen erschloss sie auf Basis des Archivmaterials ‚geschlossenes‘ Bild mehr entwirft, sondern epi- in einem ersten Schritt dem Devotionalienkult sodenhaft, vielleicht gar ‚journalistisch‘ erzählt. um Karl Ludwig Sand, um in einem zweiten die Die dritte und größte Sektion der Tagung politisch höchst unterschiedlichen Ansätze zu dis- kreiste um „Kotzebues Tod“ – ihre Beiträge kutieren, mit denen die Stadt Mannheim in den

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Konferenzberichte | 189 letzten 200 Jahren das Gedenken an das Attentat die Unterhaltung zentral, sie erfüllen ein ‚Format‘ gestaltete und den Mord semantisierte. und haben als künstlerische Artefakte keines. Und Die Literaturwissenschaftlerin Sandra Beck selbst wenn man Kotzebue noch den Willen zuge- (Mannheim) widmete sich Kotzebue und Sand als steht, gesellschaftskritisch wirken zu wollen, dann Protagonisten (populärer) Fallgeschichten und zeigte scheitere er daran grandios mit seinen Stücken, auf, inwiefern die in diesen Textsammlungen erfol- weil er sich dem Publikumsgeschmack anbiedere. gende Pathologisierung des Täters immer auch eine Die Mannheimer Konferenz hat diesen kultur- politische Frage ist. Eine politische Frage ist ebenfalls, kritischen Blick auf den populären Schriftsteller wie Beck zeigte, die Behandlung Kotzebues in germa- August von Kotzebue grundlegend in Frage ge- nistischen Literaturgeschichten, die in den meisten stellt. Pauschalverurteilungen wie aus Erenz’ Feder Fällen nicht den Autor, sondern das Opfer Kotzebue erscheinen vor diesem Hintergrund problematisch. besprechen und damit eine Wertung vornehmen, die Die Vorträge und die intensiven Diskussionen bis heute die germanistische Rezeption beeinflusst. der Konferenz belegten, dass es sich lohnt, den Hermann Wiegand (Mannheim/Heidelberg), populärsten Autor der Goethezeit einer Neupers­ Vorsitzender des Mannheimer Altertumsvereins, pektivierung zu unterziehen. Der Blick auf die beschloss die Konferenz mit seinem Vortrag, in Stücke, die die Deutschen schauten, während ihrer dem er in einer materialreichen Studie die wechsel- Klassiker schrieben, ist von Bedeutung – auch weil vollen Wege aufzeigte, in denen sowohl Kotzebue diese klassischen Texte vor der Folie derjenigen als auch Sand ihren Weg in die belletristische gelesen werden müssen, die zur Entstehungszeit Literatur des 20. Jahrhunderts gefunden haben. populär waren und als Orientierungspunkte Auch hier, so Wiegands Befund, ist Sand eindeutig dienten, ob im positiven oder im negativen Sinne. die populärere Figur. Auch deshalb werden die Ergebnisse der Ta- Um zu einem Fazit zu kommen: Vor gut 35 gung in einem Sammelband dokumentiert, der im Jahren hat der Kulturjournalist Benedikt Erenz Wehrhahn Verlag in Hannover erscheinen wird, August von Kotzebue als Erfinder des Fernsehens der bereits zahlreiche Theatertexte Kotzebues in bezeichnet: „Am 23. November 1788 wurde in Neuausgaben publiziert und damit wieder einer einem kleinen Theater der estländischen Haupt- Leserschaft zugänglich gemacht hat. stadt Reval das Fernsehen geboren. Auf dem Spiel- plan stand die Uraufführung von Menschenhaß und Reue […]. Mit Kotzebues Stücken entstand je- Anmerkung ner Unterhaltungsstil, […] der in seinem heillosen, virtuosen Eklektizismus aus Spannung, Rührung, 1 Benedikt Erenz: Dallas 1788. In: Die Zeit v. 13.12.1985. moralisierendem Räsonnement, billigen Effekten und teuren Garderoben alles zu ‚Fernsehen‘ ver- Katja Holweck wurstet, was an gesellschaftlichem Konfliktstoff im Raum liegt […].“1 Erenz’ Kommentar ist von Universität Mannheim Interesse, weil er die Vorbehalte, die gemeinhin Seminar für Deutsche Philologie in der Germanistik über Kotzebues verbreitet D–68131 Mannheim sind, präzise zusammenfasst: Die Stücke setzen

„Ach, die Wahrheit“. Theodor Fontane und das Erbe der Aufklärung. Symposium zum 200. Geburtstag des Dichters (Symposium in Leipzig v. 12.–13.4.2019)

„Ach, die Wahrheit“. Das Motto aus Fontanes Symposium stellten, regte im 200. Geburtsjahr Graf Petöfy, unter das die Organisatoren Mat- Fontanes dazu an, dessen vielfältige Zugriffe thias Grüne und Jana Kittelmann das in der auf den Begriff, die Ideen und die Epoche der Bibliotheca Albertina in Leipzig stattfindende Aufklärung in den Blick zu nehmen. Im Zentrum

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 190 | Konferenzberichte Konferenzberichte | 190 der Einführung Matthias Grünes (Leipzig, Fontane zu verweigern. Auch der mit Freiheit asso- Wuppertal) stand die Erkenntnis, dass die seit dem ziierte Fortschrittsglauben wird in Quitt zumindest frühen 19. Jahrhundert oft gestellte Frage nach ambivalent bewertet. Kritisch betrachtet erscheint dem Erbe der Aufklärung gerade in der zentralen der Begriff Fontane als bloße „Phrase“ (Von Schaffenszeit Fontanes an Aktualität gewinnt. In Zwanzig bis Dreißig). Ihm wird eine Geschichts- einer Zeit wiederholter Infragestellung der im Ka- auffassung vorgezogen, die das Fortschreiten der nonisierungsprozess befindlichen aufklärerischen Zeit selbst in den Mittelpunkt rückt. So bedeutet Werte lässt sich bei Fontane eine hohe Diversität Geschichte zu schreiben, „mit der Zeit zu gehen“, in den Auffassungen von Aufklärung, Normen statt die Zeit voranzutreiben. und Wissen belegen. Eindrücklich skizzierten Die zweite Sektion leitete Dirk Oschmann die Beiträge, wie sich diese Auseinandersetzung (Leipzig) (Freiheit bei Fontane) ein: Er kontras- sowohl literarisch als auch biographisch und in den tierte zunächst die durch aufklärerische Diskurse verschiedensten Gattungen niederschlägt. aufgeladene und um 1800 mit Pathos behauptete Hubertus Fischer (Hannover) („...und spielt Idee der Freiheit mit einem „depotenzierten“, „re- sich trotzdem auf Aufklärung und Liberalismus aus“ lativierten“ und in gewisser Weise pragmatisierten – Philosophisch-Politisches bei Fontane) widmete Begriff von Freiheit bei Fontane. Der Versuch, sich im Eröffnungsvortrag der ersten Sektion der diesen „Pragmatismus der Freiheit“ vor dem Beobachtung, dass die Begriffe „Aufklärung“, Hintergrund einer im politischen Vormärz reali- „Liberalismus“ und „Judenherrschaft“ häufig Fon- sierten Freiheit in den Romanen zu lesen, wurde tanes politische Äußerungen prägen. Das schwan- paradigmatisch an Stine, Quitt und Der Stechlin kende Verhältnis des Dichters gegenüber liberalen dokumentiert. Dort führt die lebenspraktische Parteien, vor allem gegenüber dem Nationallibe- Konfrontation mit der erlebten politischen Freiheit ralismus, wurde als Wurzel seiner Aufklärungs- quasi zwangsläufig zu einer Relativierung des emo- skepsis angesehen. Mit seinem Austritt aus der tionalen und gesellschaftskritischen Ideals. Nach Fortschrittspartei und den einsetzenden Beziehun- Oschmann versteht Fontane unter Freiheit mehr gen zu Mitgliedern der Kreuzzeitungspartei (etwa die innerliche Befreiung als z. B. den sozialen Aus- Leopold von Ledebur) – Fontanes „konservative stieg, die Auswanderung nach Amerika oder den Phase“ – korrelierte eine zunehmende Ablehnung wirtschaftlichen Liberalismus. Freiheit in diesem des neuen politischen Aufklärungsideals. Fontane Sinn sei immer als Wahlfreiheit im Rahmen einer setzte es mit dem „säkularen Staatsbürgerbegriff“ spezifischen lokal-sozialen Realität anzusehen. gleich und identifizierte es als Grundsatz des von Leonhard Herrmann (Leipzig) („‚Freiheit‘, ihm abgelehnten Sozialismus. Fontanes konkrete wiederholte Botho“ – Das Trauerspiel des Bürgertums Stellung zu politischen Ideen der Aufklärung bei Lessing und Fontane) ging auf die Rezeption wurde von Fischer an dessen Ablehnung exempli- des von Lessing etablierten bürgerlichen Trauer- fiziert, einen Prolog zur Jubiläumsaufführung von spiels bei Fontane ein. Die für die deutsche Bühne Nathan der Weise anlässlich des 100. Todestages reformatorischen Grundsätze, die Lessing in der Lessings zu verfassen. Fontanes distanzierte Hal- Hamburgischen Dramaturgie entwarf, zielen auf tung gegenüber der Aufklärung erscheint dabei als eine Überführung der aufklärerischen Anthro- ein Unbehagen, sich dem ideologischen Zwang des pologie ins Trauerspiel: Mitleidsästhetik, Liebe Liberalismus sowie verbindlichen Freiheits- und für den Gegenstand und Identifikation stellen Toleranzideen zu unterwerfen. Grundgedanken dar, die die Geschichte des Dra- Bei der Suche nach Spuren des Fortschritts- mas zu einer „bürgerlichen“ – im Sinne einer begriffs in den späten Romanen Fontanes sah sich individuellen, privaten – Angelegenheit machen. Christian Helmreich (Halle) („Comme philo- An Effi Briest und Irrungen, Wirrungen wurden sophe“? Fortschrittsgedanke und Fortschrittsskepsis Parallelen zu Lessings Dramentheorie belegt. Eine in Fontanes späten Romanen) mit ernüchternden zentrale These war, dass die Handlung nicht von Ergebnissen konfrontiert. Dem Begriff selbst, einer politischen oder gesellschaftlichen Kontexten, historiographisch-philosophischen Neuschöpfung sondern von individuellen Emotionen und Nei- der Spätaufklärung, die zu einem „Leitbegriff des gungen getragen werde, die ihrerseits mit sozialen 19. Jahrhunderts“ (Koselleck) wurde, scheint sich Normen kollidieren.

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Im Abendvortrag präsentierte Roland Berbig Anett Lütteken (Bern) („Und möchten wir (Berlin) (Fontane – Aufklärer, Verklärer, Erklärer?) von der entkirchlichten Zeit/ Auch nicht das Gute den Vorschlag, Fontanes literarisches Leben durch missen...“ – Glaubensdinge des 18. und 19. Jahr- die drei Zuschreibungen in drei Schaffensphasen hunderts im Werk Theodor Fontanes) führte aus, zu unterteilen. Als Aufklärer zeige sich der junge wie Fontane vergangene Jahrhunderte vielfach Fontane dort, wo vor 1848 das Versprechen einer durch den Blick auf „noch kirchliche Zeiten“ übergreifenden neuen Aufklärung gepaart mit Frei- charakterisierte, der jedoch oft als „Diagnose der heits- und Fortschrittsidealen den Geist der Zeit eigenen Zeit“ fungierte. Objekte des Glaubens bestimmte. Seine unzureichende philosophische und des Ritus spielen dann eine Rolle, wenn sie Bildung verhinderte allerdings eine intensivere Be- als überfällige Reste einer älteren Kirchengemein- teiligung an den neuaufklärerischen Ideen. Beim schaft erscheinen; sie unterstreichen den Wandel mittleren Fontane dominiere die programmati- in den Zeitwahrnehmungen, indem sie einerseits sche Idee der Verklärung – ein zentraler Aspekt Frömmigkeit und Respekt erwecken, andererseits seines Realismuskonzepts. Mit Rückblick auf die einem Sinn- und Raumpragmatismus weichen Forschung konnte Berbig deutlich machen, dass müssen. Zudem erläuterte Lütteken die Funktion Fontane in seiner mittleren Phase mit der Hin- der Frömmigkeitsbewegungen und besonders gabe an das Vaterländische und in seiner Verherr- des Kirchenlieds (Gerhardt, Woltersdorf) auf lichung der preußischen Geschichte als Verklärer der Suche nach Authentizität des Gefühls und agierte. Auf das Briefwerk gestützt, führte Berbig des Glaubens, die bei vielen Figuren in Fontanes schließlich vor, wie Fontane die Rolle des Erklärers Romanen von handlungsentscheidender Aktualität in den späten Jahren als seine wahre Bestimmung ist. Anhand des Prologs zur Feier anläßlich des zwei- zu begreifen schien: Von allgemein-medizinischen hundertjährigen Bestehens der französischen Kolonie Ratschlägen bis zu politischen Lösungen verstand in Berlin (1885) zeigte sie schließlich Fontanes sich Fontane auf weitgreifende Erklärungen aller Kritik an einer schwach gewordenen protestanti- Art. Schlussthese des Vortrags war, dass alle drei schen Staatskirche. Masken des Schriftstellers den literarisch gebro- In der vierten Sektion ging Jana Kittelmann chenen Umgang mit Wahrheit gemeinsam haben. (Halle) (Geselligkeitskonzepte bei Fontane) den Ge- Am Samstag eröffnete Monika Ritzer (Leipzig) meinsamkeiten zwischen Fontanes Geselligkeits- (Wahrheit oder Wahrnehmung? Positionen der Er- konzepten und den Geselligkeitstraditionen der kenntniskritik in Naturwissenschaft und Philosophie Aufklärungszeit nach. Kittelmann führte zunächst [1860–1890] und die Modifikationen realistischen drei „Spielformen der Vergesellschaftung“ (Sim- Schreibens bei Fontane, Meyer und Raabe) die dritte mel) ein: das Tischgespräch als gelehrter Austausch Sektion mit der Feststellung, dass Fontane den durch (ironisiert in Frau Jenny Treibel), die Neuprägung Kritik an der romantisch-idealistischen Wahrneh- des geselligen Freundeskreises nach dem Modell mungstheorie begründeten Wahrheitsanspruch der empfindsamer Kreise um 1750 (so in der Pick- frühen Realisten (Keller, Stifter) nicht völlig integriert nick-Erzählung in Ein Sommer in London) und die habe. Deutlich wurde, wie die „Nivellierung“ der geheimen Gesellschaften (vgl. Wanderungen durch naturwissenschaftlich-weltanschaulichen Bedingun- die Mark Brandenburg). Auch in der „Topographie gen der Erkenntnis (Helmholtz, Haeckel) Fontanes der Geselligkeit“ zeigte sich eine erstaunliche Nähe Realismusauffassung beeinflusste. Im zweiten Teil zu den Motiven des 18. Jahrhunderts, nicht nur verwies Ritzer auf die Rezeption des Darwinismus bezogen auf den Garten oder die Natur allgemein, durch die Realisten und die Wandlung von Fontanes sondern auch hinsichtlich konkreter Orte (Berlin Realismusbegriff ab den 1860er Jahren. Wie Meyer als Hauptstadt der Geselligkeit) und erzählerischer und Raabe in dieser Zeit, reflektierte Fontane das Motive wie der Bootsfahrt (Irrungen, Wirrungen) Verhältnis zwischen Charakter bestimmender oder der Begegnung in der Laube (L’Adultera). Ab- Natur und freier Persönlichkeit als eines zwischen schließend wandte sich Kittelmann den Differen- determiniertem Schicksal und individueller Ver- zen zu, die häufig den Ausgang der nur scheinbar schuldung. Hier verortete Ritzer letztlich die bei am Geselligkeitsgebot orientierten Erzählungen Fontane sehr präsente Schicksalsthematik (z. B. kennzeichnen: Entfernung, Verstörung, Um- Zeichen, Ahnungen). orientierung, oder gar Selbstmord deuten vielmehr

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 192 | Konferenzberichte Konferenzberichte | 192 auf Konzepte der „Gegengeselligkeiten“ im Werk von der Bildbeschreibung zur Beschreibungs- Fontanes hin. kunst“ sind bei Fontane in der Einbeziehung Sophia Wege (Halle) (Das Maß der Dinge. Zur der lokalen und nationalen Identität sowie der Funktion der Homöopathie in „Unwiederbringlich“) Künstlergeschichte in die Kunstanalyse (vgl. zeigte an der Diskussion um die Homöopathie im die Berichte von der Londoner Weltausstellung Roman, dass deren Geschichte und Theorie Deu- 1851), aber auch in der eigentlichen Kunstbe- tungsmöglichkeiten für die Gesamtentwicklung trachtung zu finden (z. B. Die Berliner Synagoge, von Unwiederbringlich berge. Das Prinzip Similia 1865). Der Beitrag spannte den Bogen bis in die similibus („Gleiches löst sich in Gleichem“) wurde in Formierungsphase der neueren Kunstgeschichte: Bezug auf seine Bedeutung für die psychologische Die Bekanntschaft mit mehreren Akteuren dieser Charakterisierung der Figuren untersucht. Des Institutionalisierung, die Rezension der Bücher Weiteren wurde die homöopathische Grundan- Wilhelm Lübkes oder der Artikel Stendal und nahme, das Übel nur durch kleine Dosen kurieren die Winckelmann-Statue (1859) zeugen von der zu können, für die Romaninterpretation frucht- Anteilnahme Fontanes an der Geschichte der bar gemacht. Gerade weil die Romanfiguren den jungen Disziplin sowie an der Diskussion um die Grundsatz vom „Maß der Dinge“ mehrfach verlet- Rolle der Kunstgeschichte für die zeitgenössische zen, sei das homöopathische Prinzip in einem durch- Öffentlichkeit, womit er auf ein zentrales Motiv aus therapeutischen Sinne auf die Gefühlskrankheit des aufklärerischen Kunstdiskurses (Winckel- der beiden Protagonisten übertragbar. mann, Heinse, Lessing) zurückgreift. In der fünften Sektion ging Iwan-Michelange- Mike Rottmann (Halle) (Aufklärendes Lesen? lo DʾAprile (Potsdam) (Autodidaxe und populäre – Zur jüdischen Rezeption Fontanes) präsentierte Medien bei Fontane) auf die Verbindung zwischen aufklärerische Momente in der Rezeption Fon- den populären Medien und dem Modell autono- tanes durch jüdische Gelehrte und Leser(innen). mer gelehrter Bildung ein, deren Wurzeln in die Rottmann wies zunächst auf die Widersprüchlich- Aufklärungszeit liegen (so Lessing, Mendelssohn keit in den Urteilen hin: Sie schwanken zwischen und Nicolai in ihren Briefe[n], die neueste Littera- der Bewertung Fontanes als „Verbündeten im tur betreffend). Unter Rückgriff auf vier Faktoren Streit um die Emanzipation“ und als Exempel der – Geselligkeitsformen, Medienformen, literarische Unversöhnbarkeit mit dem Judentum. Rottmann Praktiken, Diskurse –, deren Zusammenwirkung stellte die Rezeptionszeugnisse in den Kontext als kulturelles Umbruchsmoment identifiziert des jüdischen Aufklärungsdiskurses der Zeit. wurde, hob D’Aprile die Bedeutung der medialen ,Aufklärung‘ wurde dort als kultureller Prozess Ausdifferenzierung hervor und führte dafür vier einer Assimilation und Funktionalisierung des Beispiele an: den Literaturverein, der zugleich als Werkes Fontanes im Zuge der Judenemanzipation Produkt aufklärerischen Bewusstseins und als und nicht zuletzt der Klassikerbildung des frühen Organ „preußischen Selbstbewusstseins“ fungier- 20. Jahrhunderts verhandelt. „Aufklärendes Lesen“ te; die Gattung des Reisetextes, die bei Fontanes – eine (jüdische) Würdigung des von Fontane Englands- und Italienreisen als Bildungsmedium zeitlebens gepflegten aufklärenden Schreibens? Die fungiert; die populäre Enzyklopädie, positiv als Beiträge des Symposions verdeutlichen jedenfalls, Quelle und „Wissenswerkzeug“ sowie als Muster dass die Antwort auf solche Fragen differenziert für lexikographisches, vielstimmiges Schreiben ausfallen und doch fragmentarisch bleiben muss. (vgl. die Wanderungen durch die Mark Brandenburg Eine zeitnahe Publikation der Konferenz-Bei­ als Sammelsurium) erscheint; und die Zeitung, ein träge in der Reihe Schriften der Theodor-Fontane- Kernmedium der Spätaufklärung, das Fontane Gesellschaft ist vorgesehen. durchaus kritisch zu betrachten wusste. Carmen Aus der Au (Zürich) (Die Kunstbe- Baptiste Baumann schreibung Fontanes im Vergleich mit der Kunst- Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg beschreibung der Aufklärung) verglich Fontanes Germanistisches Institut Kunstkritik mit Johann Joachim Winckelmanns Ludwig-Wucherer-Straße 2 Modell der Kunstbeschreibung. Spuren des seit D–06108 Halle (S.) den 1750er Jahren vorangetriebenen „Wandels

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Sich einrichten. Zur Poetik und Semiotik des Wohnens seit 1850 (Tagung in Lausanne v. 11.–13.4.2019)

Die Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft (einsamen) Sammler als Insassen des Interieurs. für Kulturtheorie und Semiotik (SGKS) Marie Benjamins Fokus auf das 19. Jahrhundert betont Theres Stauffer und die beiden Tagungsorga- die Trennung von Arbeitsplatz und Interieur, mit nisatoren Hans-Georg von Arburg (Lausanne) der die Entfremdung von Ding und Gebrauchs- und Thomas Wegmann (Innsbruck) eröffneten wert einherging. Mit der Abschottung nach außen die interdisziplinäre Jahrestagung der SGKS an der wird das Interieur zum Kreativraum, in dem die Universität Lausanne. Die Kollaboration zwischen eigene Originalität profiliert werden kann, und der SGKS und der Literaturwissenschaftlichen Fa- die Möglichkeit eines anderen Erfahrungsraums kultät bildete das Fundament für diese dreitägige entsteht. Tour durch zwei Jahrhunderte Wohngeschichte. Was passiert, wenn die Dinge im Interieur ihren Im Entrée strich Hans-Georg von Arburg he- Bezug zum Bewohner verlieren, zeigte Alexandra raus, dass Wohnen als prekäre Praxis zu bewerten Schamel (München) (Dysfunktionales Wohnen ist, die sich zwischen Immobilität (Immobilien, in Adalbert Stifters „Turmalin“). Ein Haus, das Sich-Einrichten) und Mobilität (Umziehen) sowie angefüllt ist mit Bildern berühmter Männer, zu Privatheit und Öffentlichkeit bewegt. Man richtet denen der Bewohner in keinem Verhältnis steht, sich nie alleine ein, da Wohnen eine soziale Inter- wirft sowohl die Frage nach Identitätsbildung als aktion und eine Auseinandersetzung mit dem auch nach einer Normalität des Wohnens auf. Das Eigenleben der Dinge (Möbel, Pflanzen, Tiere) Zimmer wird zum Schauraum, in dem sich das an- darstellt: „Wohnen heißt Spuren hinterlassen. Im schauende Ich nicht verankern kann und auflöst. Interieur werden sie betont.“, konstatierte von Letztendlich verschwinden sogar die Bewohner*- Arburg mit Walter Benjamin, der so seinerseits innen und lassen das Haus funktionslos zurück. bereits im Eingangsbereich dieser Tagung Spuren Roland Innerhofer (Wien) (Mobilis in mobi- hinterließ. Thomas Wegmann verdeutlichte mit le: Jules Vernes fahrbare, schwimmende und fliegende Blick auf Martin Heidegger, dass Wohnen eine Interieurs) begab sich mit Jules Verne auf Zimmer- anthropologische Grundkonstante ist: Man kann reise. In Vernes Romanen geht das Interieur auf nicht Nicht-Wohnen (Gert Selle) und muss dieses Reisen, seien es Unterseeboot oder Raumkapsel. immer tun, gleichgültig wo (Vilém Flusser). Trotz Die Verschränkung von Wohnen und Reisen der scheinbaren Banalität und Ubiquität des Woh- verknüpft das Interieur mit Mobilität. Gleichzei- nens sind die darunter gefassten Tätigkeiten nicht tig öffnet und verschließt sich der so mobilisierte unmittelbar erfahr- und wahrnehmbar. Erst über Innenraum vor der Außenwelt, wobei besonders Ablagerungen, Bilder, Narrative und Reflexionen deren Gefahren den Intimitätswert des Hauses werden Spuren sichtbar, deren Bedeutungen ge- erhöhen (Bachelard). Vernes Reisemaschinen sind lesen werden können. Die sowohl begriffliche Ausdruck technischer Neuerungen, die zwischen als auch praktische Unschärfe des Wohnens ist Wohnsucht und Wohnflucht changieren. jedoch Garant für die diskursive Erfolgsgeschich- Dass sich am Interieur ein bestimmtes Wohn- te. Wegmann betonte in dieser Hinsicht, dass wissen ablesen lässt, zeigte Irene Nierhaus erst die kulturelle Poiesis eine Phänomenologie (Bremen) (Sich Ein_Richten: Wohnen, Wohnwissen des Wohnens und des Menschen als wohnendes und Wohnsubjekte). Wohnwissen ist ein Zeige- Wesen ermöglicht. system, das über verschiedene Mediasierungen Die erste Sektion „Wohnen im langen 19. Jahr- sowohl einen Diskurs über das Wohnen als auch hundert“ wurde von Günter Oesterle (Gießen) über den Bewohner entfaltet. Es bedarf allerdings (Die aisthesis des Interieurs und der leere Raum) zumeist des fremden Blicks, um dieses Wissen dar- eröffnet. Mit Benjamin unterschied er zwei Mo- zustellen. Nierhaus verdeutlichte am Beispiel des delle des Interieurs – zum einen das historistische Neuen Bauens um 1920 eine Zäsur, die dem 19. Requisiten- und Kulisseninterieur, das jedoch zu Jahrhundert mit seinen vollgestopften Interieurs komplexitätsreduzierend ist, zum anderen den eine Leichtigkeit aus geraden Linien und weißen

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Flächen entgegensetzt. Während in der Theorie von Subjekttechniken sind. Der Mensch wird ganz eindeutig das alte Wissen ausgehebelt wird durch Gerüche – ephemer, persistent, ungreifbar und ein neues Subjekt entsteht, zeigen sich in der – in einem Milieu eingerichtet, das zwischen dem Praxis Mischformen, die eher eine Kippfigur als Ideal der frischen Luft, dem Blumenwohlgeruch einen Bruch nahelegen. und -rausch und dem Gestank changiert. Wie das Wohnen zwischen verschieden Zei- Die Kunst des Einrichtens und das Einrichten ten funktioniert, veranschaulichte Dave Lüthi der Kunst präsentierte Beate Söntgen (Lüneburg) (Lausanne) (Leben in einem Museum: Dynastische (Wohnen in Bildern: Bloomsbury and Company) an- Burgen in der Schweiz im 19. Jahrhundert) anhand schaulich am Beispiel der Bloomsbury Gruppe, die historischen Materials. Im 19. Jahrhundert wurden während und nach dem Ersten Weltkrieg in einem Schlösser in der Schweiz von Privatpersonen ge- englischen Landhaus lebte. Das Interieur wird hier kauft und nach historischem Vorbild eingerichtet. zum Resonanzraum und Rahmen einer modernen Es entstand ein Spannungsverhältnis zwischen Häuslichkeit und künstlerischen Einrichtung. der Rückbesinnung auf die Vergangenheit einer- Durch die Aufhebung der Trennung von Arbeit seits, die die Inszenierung historischen Wohnens (Atelier, Werkstatt) und Wohnen fließt die Kunst bewirkte: Möbel und Gemälde werden zu Spuren in die Raumausstattung ein, und gleichzeitig ma- und Symbolen der Geschichte; sie sind Teil des terialisiert sich in der Kunst das Leben im Sinne Schlosses und nicht mehr unmittelbarer Besitz des einer Lebendigkeit und nicht einer abbildenden Bewohners und somit Zeugnis von dessen Leben. Mimesis. Es entstehen neue Verflechtungen mit Andererseits fand in diesen Schlössern, abseits der wechselnden Bewohnern und wechselnder Ein- Öffentlichkeit, das alltägliche Leben mit moder- richtung, die andere Künstler zitiert, transformiert nem Komfort statt, über das es jedoch nur wenige und sich aneignet. Aufzeichnungen gibt. Die zweite Sektion „Die Moderne bewohnen“ Vom Leben im musealen Schloss leitete Bernd führte zunächst ins Schlafzimmer und ganz kon- Stiegler (Konstanz) (Die Brüder Goncourt: Die kret zum Bett. Peter Brandes (Bochum) (Litera- Ordnung der Dinge) über zur Bricobracomanie der rische Klinologie um 1900 [Thomas Mann, Proust, Brüder Goncourt, deren besondere Sammelleiden- Kafka]) zeichnete keine bloße Motivgeschichte des schaft in ihrem Haus in Auteuil zum Ausdruck Bettes nach. Brandes versteht das Bett als Medium kam und in La maison d’un artiste (1880/81) und des Wissens, an dem seine Genese als Aktant den Photographien Ferdinand Lochards festge- (Riehl), Ware, Erbstück, Ort der Krankheit und halten wurde. Das zur Sammlung gewordene 18. Rekonvaleszenz und verschiedene Funktionen (pri- Jahrhundert entfaltet sich in einer Listenprosa, die vater Rückzugsraum, Medium der Introspektion) den Menschen verdrängt und ihm ihre Ordnung abgelesen werden können. Anhand ausgewählter aufzwingt. Lediglich als Betrachter, Selektierer literarischer Texte veranschaulicht Brandes, wie und Vermittler der Geschichten der Dinge tritt das Bett zur Keimzelle des Erzählens wird und eine der Mensch auf. Hier wird die Welt zum Haus Ich- und Welterkenntnis ermöglicht. und das Haus zum Buch. Dass Wohnen auch Arbeit bedeutet, zeigte Anknüpfend an Walter Benjamin verwies Szilvia Gellai (Karlsruhe) (Das Interieur als Sergej Rickenbacher (Aachen) (Eingerichtet wer- Exterieur: Vom Leben im Glashaus zur Semiotik den: Olfaktorische Konditionierung in literarischen des Wohnens) am Beispiel des Glashauses. Es ist Wohnräumen um 1900 [Zola, Fontane, Scheer- Modell und Verkörperung einer Arbeit an den bart, Friedländer]) darauf, dass das Hinterlassen Grenzen, die destabilisiert und neukonstituiert von Spuren oft visuell und haptisch geprägt ist. werden (nach Isobel Armstrong manifestiert sich Dabei lassen sich an Gerüchen Spuren der Ge- in der Transparenz und der Barriere eine Ästhetik sundheit, Sittlichkeit, Schichtzugehörigkeit und der Widersprüche). Gellai stellte an verschiedenen Individualität ablesen. Anhand ausgewählter Glashäusern (Gewächshaus, Ausstellungsbau, literarischer Beispiele, die das Gewächshaus in Glass House Philip Johnsons) dar, dass es sowohl den Blick nahmen, zeichnete Rickenbacher das um ein Hereinholen des Außen als auch um die Narrativ eines Ensembles aus Reinigungs- und Öffnung des Innen geht. Nichtdestotrotz mar- Hybridisierungspraktiken nach, die Ausdruck kiert Glas ebenso Barrieren und setzt Spuren an.

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Benjamins Entwurf des Glashauses als Gegenbild des Romans, der reine Poesie und Poetik des Mülls zum Interieur des 19. Jahrhunderts ist in dieser vereint. Hinsicht Gellai zufolge zu vereinfacht gedacht. Claudia Keller (Zürich) (Angeschwemmt im Michael Jennings (Princeton) (Nomadism and „dichtergefügten Strandgut“. Peter Handkes episch- Domesticity: Walter Benjamin’s perpetuum mobile) nomadisches Hausen) verschränkte Handkes verdeutlichte, dass Wohnen für Benjamin ein De- Schreiben und Wohnen mit dem Bild des Strand- siderat ist, das jedoch nicht erreicht wird. Anstatt guts. Das Angeschwemmte ist sowohl Ausdruck sich Dinge gefügig zu machen, muss man sich mit der Spurenbeseitigung als auch der Neuordnung, ihnen arrangieren. Das Interieur zwingt dem Men- die dichterisch vorgenommen wird. Dadurch schen Gewohnheiten auf und macht ihn „zu einer entstehen Resonanzräume, die das Wohnen in- Funktion von Verrichtungen“. Die kapitalistische szenieren und den Bewohner poetologisch lesen. Moderne produziert Phantasmen, die die eigent- Keller deutete die Wohnräume als raumgewor- lichen Mechanismen des Kapitalismus verbergen dene Poetik des Epischen und archäologische und zum Verfall menschlicher Erfahrung führen. Stätte der Moderne, die in Bildern und Texten In beinahe schamanistischer Weise besteht eine sichtbar wird. Lösung für Benjamin in der Angleichung des Be- Den Ausgang dieser Tagung bildete der Beitrag wohners an die unbelebten Objekte. von Sarah Pogoda (Bangor) (Theorien und Prak- Vera Bachmann (Regensburg) (Rationalisierte tiken ‚poetischen Instituierens‘ in Künsten der Gegen- Frauenzimmer: Kitchentalk in der Weimarer Re- wart). Mit verschiedenen Projekten Christoph publik) führte uns in die Küche und zeigte, dass Schlingensiefs und der Stuttgarter Künstlergruppe „Kitchentalk“ mehr ist als nur Tratsch. Besonders Die Institution stellte Pogoda den performativen im Zuge des Neuen Bauens steht die Küche im Charakter des Wohnens aus, der sich zwischen Zentrum von architektonischen, ökonomischen Alltäglichkeit, Arbeit und Kunst bewegt. Die und politischen Veränderungen. Die Frankfurter ästhetischen Strategien durchbrechen gewöhnliche Küche wird zum Symbol einer neuen Zeit, die Abläufe und befragen somit diskursive Strategien, sich zwischen Funktionalität (Rationalisierung die sich auf Machtverhältnisse, die Rolle des Zu- von Arbeitsvorgängen) und Ästhetik (Design) schauers und das Vorübergehende und Provisori- bewegt; und die Rolle der Hausfrau hervorhebt, sche des Wohnens richten (Zelt, Wohncontainer). die die Doppelbelastung von Arbeit und Haushalt Alle Vorträge widmeten sich einem Aspekt des bewältigen muss und trotzdem nur beschränkt Wohnens, doch wie bereits die Inventarlisten der am Diskurs über Küchen oder gar als Architektin Goncourts oder die Auslegungen der Hausordnung beteiligt ist. deutlich machten, lässt sich die Liste unendlich Die verwaltungstechnische Seite des Woh- fortsetzen, dekonstruieren und neu zusammen- nens beleuchtete David-Christopher Assmann setzen. Sich dem Wohnen künstlerisch zu nähern, (Turin/Frankfurt a. M.) (‚Wohnen allein genügt bedeutet eine Ästhetisierung des Alltäglichen, die nicht.‘ Reinheit und Gefährdung in H.G. Adlers Verschränkung verschiedener Medien (Texte, „Hausordnung“) anhand der Hausordnung (1972) Fotos, Filme) und ein ständiger Umgang mit von H.G. Adler zu Beginn der dritten Sektion Spuren (Herstellung, Bewahrung, Beseitigung, „Wohnkünste in der Spätmoderne“. Er stellte Auslegung). seinen Kommentar zu einem zunächst profan erscheinenden Alltagstext vor, der auf der Ebene Cindy Heine der histoire und des discours um Reinigungs- und Universität Lausanne Ordnungsprozesse sowie störende, verunreinigen- Fakultät für Germanistik de Elemente und Texturen kreist. Die Inszenierung Campus UNIL der bürokratischen Vorschrift verweist auf die zer- CH–1015 Lausanne gliedernde und neuordnende Produktionsästhetik

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Welt Wollen. Gottfried Kellers Moderne (1819–1890) (Internationaler Kongress in Zürich v. 23.–25.5.2019)

„Eine Geburtstagsfeier mit 100 Gästen aus sieben deshalb von einer spezifischen Modernität von Ländern“. Mit diesen Worten eröffnete Frauke Kellers paradigmatischem Erzählen sprechen. Berndt (Zürich) den internationalen Jubiläums­ Demgegenüber lasse sich in der überarbeiteten kongress zum 200. Geburtstag von Gottfried Version des Romans eine nicht weniger moderne Keller, der von Berndt und Philipp Theisohn „syntagmatisch-integr­ierende“ narrative Funktion (Zürich) an der Universität Zürich veranstaltet der Feste beobachten. Denn indem dort der Oster- wurde. Konstitutiv für den programmatischen sonntag durch einen gewöhnlichen Sonntag ersetzt Fragehorizont der Tagung war die Feststellung, wird, werde die paradigmatische Ordnung der dass Kellers Texte „andere Welten wollen“ und sich ‚Theologie‘ auf die syntagmatische Struktur des produktiv in „großangelegte, diskursübergreifende ‚Kalenders‘ projiziert: Heinrichs Lebensweg ist nun Transformationsprozesse“ einschreiben. Mit Kel- als eine nur mehr serielle Bewegung beschreibbar: lers Werk betritt man somit ein „Laboratorium der von (Sonn-)Tag zu (Sonn-)Tag. Den zweiten Teil Moderne“, das von den 81 vortragenden Literatur-, seines Vortrags verwendete Kammer, um anhand Medien- und Kulturwissenschaftler*innen in fünf der Novelle Dietegen (1873/74) die ‚Feststruktur‘ Parallelsektionen erkundet wurde. Im Folgenden des Textes, die der erste Teil systematisch und werde ich mich auf sechs Keynotes sowie zwei exemplarisch für den Grünen Heinrich erarbeitet weitere Vorträge beschränken – eine Auswahl, die hatte, um eine Beschreibung der Struktur der Feste den Reichtum dieser Tagung zwar nur bedingt zu ergänzen, die in Dietegen dargestellt werden. In spiegelt, aber einige Einblicke in die spezifische der Novelle folgten die Feste einer Eskalationslo- Modernität der Keller’schen Texte eröffnet, die im gik des Gabentauschs, wie sie von Marcel Mauss Zentrum der Tagungsbeiträge stand. beschrieben wurde, und prägten so wiederum die Stephan Kammer (München) widmete sich, narrative Matrix des Textes. ganz dem Anlass eines Jubiläumskongresses Der Modernität des Erzählens stellte Elisa- gemäß, Gottfried Kellers Festen. Den Festen kom- beth Strowick (New York) die Modernität des me in Kellers literarischen Texten eine „narrative Erzählten an die Seite. Sie nutzte ihre Keynote Integrationsleistung“ zu – diese These explizierte zu Kellers Szenographien des Wirklichen dazu, Kammer durch einen Vergleich der Szenen aus den die Exploration der brüchigen Wirklichkeit vor beiden Fassungen des Grünen Heinrichs (1854/55; dem Hintergrund einer modernen Epistemologie 1879/80), in denen Heinrich in München an- des Realismus am Beispiel des Grünen Heinrichs kommt. Während die Ankunft in der ersten (1. Fassung) zu entwickeln. Dessen Eingangspas- Romanfassung auf den Ostersonntag fällt, findet sage exponierte Strowick als Modell für Kellers sie in der Überarbeitung an einem gewöhnlichen szenische Wirklichkeitsgestaltung. Eine Szene Sonntag statt. Kammer nutzte diese Beobach- – ‚Zürich‘ – eröffnet sich zu Beginn des Romans. tung, um eine Differenz in der Narrationslogik Sie erzeuge aber keine Illusion, sondern richte eine zu markieren. Die Ankunft in München an szenische Wirklichkeit ein. Mit der szenischen einem hohen christlichen Feiertag, wie sie in der Wirklichkeit ‚Zürich‘ male Keller keinen Hinter- früheren Fassung geschildert wird, evoziere eine grund, vor dem dann der Protagonist erscheint, theologische Konnotation dieser Station von Hein- sondern stelle eine „chorische“ Szene dar, in der richs Biographie, so dass alle weiteren markanten „Kollektiva“ die agency zukomme und in die der Etappen des Lebenswegs des Protagonisten in eine Protagonist implementiert sei. Heinrich erscheine paradigmatische, nämlich theologische Ordnung in der Eröffnungsszene, in der die Farbe Grün all- eingeordnet werden. Das Paradigma ‚Theologie‘ gegenwärtig ist, nur als ein weiterer „grüner Punkt stelle so das Modell der narrativen Distributions- unter anderen“. ‚Grün‘ fungiere dabei – so arbeitete logik bereit, die Kammer als eine „paradigma- Strowick unter Verweis auf den „grüne[n] Faden“2 tisch-integrierende Funktion“ kennzeichnete. (HKKA 18, 27) aus Kellers Tagebuch (1843) heraus Mit Bezug auf Moritz Baßler1 könnte man genau – auch als „Gewebe- und Textmetapher“, wodurch

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Konferenzberichte | 197 die szenische Wirklichkeit auch zu einer Wirklich- von Kellers Stilprinzip der Dissonanz plausibel keit der Schrift werde. Metaphorisch eingelassen in machte. Ein solches „Mikrodouble“ rechnete Go- die szenische Wirklichkeit modifiziert die Schrift etschel auf den Realismusbegriff hoch, der sich die Realität, indem sie ihr ein Reales einschreibt. gerade nicht durch poetische Verklärung aus- In Strowicks Interpretation der Schlussszene wird zeichne, sondern durch die Dissonanz einer Ko- das Reale der Schrift als Schreibszene sichtbar: Präsenz. Als produktionsästhetisch bedeutsame „Er schrieb alles an den Grafen; aber ehe eine Kategorie extrapolierte Goetschel die Dissonanz Antwort da sein konnte, rieb es ihn auf, sein Leib aus einem Brief Kellers an Paul Heyse, in dem er und Leben brach, und er starb in wenigen Tagen.“ von der „ungeschriebene[n] Komödie“ berichtet, (HKKA 12, 469; Hervorhebungen J. H.) Der die „in“ ihm ablaufe „wie eine endlose Schraube Binnenreim lege es nahe, in Heinrichs Tod die (vulgo Melodie)“.4 Dissonanz erscheine hier als „tödliche Wirkung der Schrift“ zu sehen: „[sch] eine unter- wie abgründige produktionsästheti- rieb es ihn auf“. Den von Kellers Szenographien sche Dimension von Kellers Texten, welche die des Wirklichen eröffneten Schauplatz des Realen germanistische Forschung meist unzureichend bestimmte Strowick ferner als einen „doppelten unter dem Label des ‚Humors‘ verbuche – ein Schauplatz“. Auf diesem wird nach dem Muster „Feigenblatt der Letztbegründung des poetischen von Freuds Fort-Da-Spiel Absenz vergegenwärtigt Realismus“, weil damit die Dissonanzen ausge- – Kellers Zitat „Dortchen ist nicht Hierchen“ blendet werden. Kellers Formprinzip sei daher (HKKA 12, 435) darf in diesem Zusammenhang nicht ohne Heines Ästhetik der Dissonanz zu als echte Trouvaille gelten. Präsenz und Absenz denken, welche die „Hegel’sche Zerrissenheit“ werden auf dem „doppelten Schauplatz“ der aufgreife und an einer Denktradition partizipie- Szene ineinandergeschoben – man denke z. B. an re, die zuletzt in der Kritischen Theorie münde, Heinrichs eigentlich an Anna gerichteten, aber an wie z. B. in Theodor W. Adornos Dissonanzen. Judiths Brust angeschwemmten Liebesbrief, der Dergestalt an Heine angeschlossen und über Hei- seinen Zweck gerade in der Verfehlung erreicht, da ne auf Adorno verweisend ist Keller zuletzt, so Anna und Judith paradigmatisch miteinander ver- lässt es Goetschels souveräne ideengeschichtliche bunden sind. Die Fort-Da-Struktur der szenischen Hermeneutik bereits erahnen, vielleicht „doch Wirklichkeit wird, das zeigte Strowick anhand von nicht so unmodern“. Kellers Realismus wäre Heinrichs erster Begegnung mit der Welt des Thea- dann nicht nur systematisch neu zu bestimmen, ters, auch poetologisch als eine Verschränkung sondern auch Anlass, die literaturgeschichtliche von Wirklichkeit und Künstlichkeit reflektiert. So Einhegung der Epoche zu überdenken. verschwindet etwa für Heinrich gerade mit dem Einen eminent modernen Zug von Kellers Fallen des Vorhangs und dem Ende der theatralen erzählten Welten betonte auch Stefan Tetzlaff Illusion auch das Wirklichkeitsgefühl. (Kassel) in seinem Vortrag, indem er am Bei- Auch Willi Goetschel (Toronto) verwies spiel des Sinngedichts (1881) ihre ontologisch in seiner Keynote zu Kellers Dissonanzenauf ein unhintergehbare Zeichenhaftigkeit exponierte Reales im Keller’schen Realismus und damit (Theatrale Weltmodelle. Zur poietischen Macht wie Strowick auf eine spezifische Modernität der Inszenierung in Kellers „Das Sinngedicht“). In von Kellers erzählten Welten. Ausgehend von Kellers Text komme es zu einer ontologischen Ver- Fontanes Bemerkung über den „Ton“ von Kellers festigung von Zeichen, etwa wenn Liebschaften Prosa – „Dissonanzen, die sich gelegentlich bis bloß geführt werden, um ‚Trophäen‘ zu sammeln. zu schreienden steigern“3 – bestimmte Goetschel Das Sinngedicht stelle die Wirklichkeit dergestalt die ästhetisch-philosophische Form der Dis- als Lotman’sche „Semiosphäre“ dar und lasse sich sonanz als prägend für das Werk, freilich unter in diesem Punkt als Metatheorie des Realismus Verzicht auf Fontanes literaturkritischen Gestus. in ein Verhältnis zu anderen realistischen Auto- Dissonanz komme in Kellers Texten zunächst ren setzen, die ebenfalls Formen ontologischen durch die Differenz zwischen schriftsprachlicher Zeichengebrauchs vorführen: Fontane, bei dem Formulierung und mundartlicher Artikulation die Sphäre des Sozialen aus Zeichen bestehe, und zustande. So entstehe eine akustische Ambigu- Raabe, der die semiotische Struktur von Erinne- ität, die Goetschel als lautliches „Mikrodouble“ rungsräumen zeige.

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Peter von Matt (Zürich) entlarvte in seiner Schweiz“ nach. Zu diesem Zweck führte er ein close Keynote Kellers Schufte als Symptome von Kellers reading vor, das kognitionspsychologische Aspekte politischem Bewusstsein. Von Matt begann seine des Lesens sowie die Wahrnehmungstheorie des Überlegungen bei Kellers Lied vom Schuft (1846), predictive coding einbezog. Im Zentrum stand die das den Schuft als abnormen Einzelnen aus der „zeitliche Trajektorie“, die von den Erwartungen Menge der „unverdorbne[n] Menschen“ (HKKA und Überraschungen des Lesenden bestimmt wer- 13, 148) ausschließt und zuletzt die utopische Aus- de. Aus dieser trajektoriellen Perspektive existiert sicht auf ein „Aussterben aller Schufte“ eröffnet. zwischen den einzelnen Zeitpunkten des Lesens – Hier habe man es nicht mit naiver poetischer Ge- z. B. zwischen zwei aufeinanderfolgenden Wörtern rechtigkeit zu tun, sondern mit einem „unerhörten – eine „Übergangswahrscheinlichkeit“, die – grob politischen Triumphgefühl“, das sich aus den revo- formuliert – den Grad der Überraschung benennt, lutionären politischen Dynamiken der kantonalen den ein Lektüremoment bzw. ein Wort aufgrund Revolution von 1830 und der nationalen von 1848 der ihm syntagmatisch vorausgehenden auslöst. speise. Diese hätten einen starken demokratischen Mit anderen Worten: Die Übergangswahrschein­ Patriotismus bei Keller erzeugt, der sich als Glaube lichkeit bietet einen Index zur Bestimmung des an gesellschaftlichen und politischen Fortschritt Grads an paradigmatischer Abweichung zwischen bis zur imaginären Utopie aus dem Lied vom Schuft zwei syntagmatisch verbundenen Lektüremomen- habe steigern können. In Kellers politischem Be- ten. Vor dem Hintergrund dieses Modells stellte wusstsein figuriere die neue politische Ordnung als Menninghaus den trajektoriellen Verlauf dar, der ein ‚Ganzes‘ von religiös konnotiertem absolutem die Lektüre des ersten Satzes von Kellers Grünem Wert, in das alle Menschen demokratisch einbe- Heinrich (1. Fassung) auszeichnet. Ersichtlich wird zogen seien – mit Ausnahme der Schufte. Diesen dabei, in welchem Maß die kognitive Struktur des kommt in von Matts Argumentation daher eine Lesevorgangs selbst als Generator von Bedeutung politische Dimension zu, welche die Art und Weise fungiert. Keller wählt einen sperrigen Satzeingang: ihrer literarischen Darstellung bestimmt. Denn „Zu den Schönsten vor Allen in der Schweiz“. Die Kellers politisch konnotiertes Bild des Schufts Wortfolge initiiere zunächst einen Spannungs- als einer minderen, überwindbaren Störung im anstieg bei den Lesenden. Denn die ersten drei guten gesellschaftlichen ‚Ganzen‘ drücke sich in Wörter „zu den Schönsten“ wecken die Erwartung, seinen Erzählungen in einer Tendenz zur schnellen dass auf das Adjektivattribut nun ein Bezugswort „Schuftentsorgung“ aus. So verschwinden etwa in im Plural folgen müsse, das durch den Superlativ den Missbrauchten Liebesbriefen (1873/74) Viggi näher bestimmt werde – eine Erwartung, die Keller und Kätter ebenso abrupt aus der Geschichte, wie enttäuscht, da es mit „vor Allen“ weitergeht. Die der Ritter Gebizo in den Sieben Legenden (1872) daran anschließende adverbiale Bestimmung „in jäh in eine Kluft stürzt. Kellers Ungeduld mit der Schweiz“ steigere diese Spannung sogar noch, Schuften sei also seinem demokratischen Enthusi- da sie nicht nur das Erscheinen der ‚schönsten‘ asmus geschuldet. Als Gegenprobe zu seiner These Objekte weiter verzögert, sondern als Ortsangabe zog von Matt den späten Roman Martin Salander an dieser Stelle im Satz extrem ungewöhnlich (1886) heran, in dem die rasche „Schuftentsor- platziert ist. Der daraus entstehende Effekt sei der gung“ an Louis Wohlwend scheitert. Es artikuliere einer semantischen Akzentuierung: Die ‚Schweiz‘ sich dadurch die „Angst des alternden Dichters vor werde betont, trete buchstäblich hervor – man einem Scheitern des Staates“ angesichts „großer mag hier an die von Strowick hervorgehobene Kollektive“, die auf der politischen Bühne zu- Eröffnung einer ‚Szene‘ in der Eingangspassage nehmend den vernünftigen und für die Demo- des Romans denken. Keller implementiere in kratie engagierten einzelnen Bürger verdrängten, seinen ersten Satz also eine „Sprachgebärde des verkörpert durch den Archetypus Arnold Salander. ästhetischen Elektivs“, in der durch grammatische Nicht den ganz großen politischen Zusam- Hindernisse ein „Podest“ errichtet werde, auf dem menhängen in Kellers Werk, aber den ganz klei- dann „Zürich erscheint“. Erst eine trajektorielle nen Kohärenzprinzipien des Keller-Lesens spürte Perspektive auf den Lesevorgang selbst sei in der Winfried Menninghaus (Frankfurt a. M.) in Lage, diese bedeutungsgenerierende Funktion des seiner Keynote „Zu den Schönsten vor Allen in der „ästhetischen Elektivs“ zu beschreiben.

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Ähnlich wie Menninghaus fragte auch Fritz aufgefasst werden. So feiere etwa Gotthelf in der Breithaupt (Bloomington) in seinem Vortrag Der Großstadt große Erfolge, und zwar mutmaßlich moralische Code der Narration und das aufgestaute gerade weil er seine literarischen sujets auf das Erzählen danach, welchen Modus des Lesens Kel- Schweizer Landleben beschränke und so eine im lers Texte aktivieren. Es sei, so seine Antwort, der Stadtleben florierende imaginäre Idyllensehn- Modus einer moralischen Lektüre in der Form sucht befriedigen könne. Die Texte, die Keller eines fortwährenden moralischen Urteilens, das in Berlin konzipiert und verfasst – allen voran nicht nur die Grundhaltung beim Keller-Lesen die Seldwyla-Novellen (1856; 1873/74) und der ausmache, sondern sich als ein allgemeiner Grund- Grüne Heinrich – wiesen Osterkamp zufolge zug narrativen Rezeptionsverhaltens auch empi- eine zu Gotthelf zumindest strukturell analoge risch nachweisen lasse. In Anlehnung an die fünf Themenwahl auf. Die technische und in Berlin Codes aus Roland Barthes’ S/Z lässt sich somit von ubiquitäre „Realität der Moderne“ fände hier einem „moralischen Code“ sprechen, der den Tex- nur in begrenztem Maß Eingang. Stattdessen ten Kellers immanent ist und in der Lektüre akti- schreibe Keller über das „Nest“ Seldwyla sowie viert wird. Der moralische Code bei Keller zeichne die Streifzüge eines Schweizer Jünglings und be- sich dabei dadurch aus, dass er eine Zweiteilung diene damit ein mit großstädtischen Sehnsüchten der Handlungsstruktur – Charaktere werden auf rechnendes literarisches Kalkül. Neben Gotthelf die Probe gestellt (1) und dann entweder belohnt verwies Osterkamp außerdem auf Karl Gutz- oder sanktioniert (2) – sowie eine moralische und kow als weiteren Berliner Einfluss auf Kellers emotionale Auflösung am Ende der Narration literarische Themenwahl. Gutzkow sei dabei als herbeiführe. Indem er sich der typischen morali- Kontrastfolie zu begreifen. Denn anders als im schen Haltung der Lesenden widmete, wurde es Fall von Gutzkows literarischer Darstellung des Breithaupt möglich, wesentliche Charakteristika industriellen Berlins sei Kellers Modernität vor der Texte in ein neues Licht zu stellen. So erscheint allem bei den Frauenfiguren zu suchen – einige etwa Kellers viel besprochene Ironie aus diesem davon heimliche Berlinerinnen. Gotthelf und Blickwinkel nicht unbedingt als eine Subversion Gutzkow hätten deshalb auf verschiedene Weise von Moralvorstellungen, sondern kann ebenso gut entscheidenden Einfluss auf Kellers Modernität als Stufe 2 des moralischen Codes gewertet werden genommen, die eine Berliner Modernität sei. – als Sanktionierung der Charaktere durch die Zurück bleibt vom beeindruckend organisierten ironische Verspottung im Lesen. Gegenüber dem Jubiläumskongress mit Sicherheit die Erinnerung Mainstream der neueren Kellerforschung, die eher an eine schon aufgrund der großen Zahl der Bei- die Unterwanderung normativer Moralvorstel- tragenden Staunen machende kaleidoskopische lungen betont, bieten Breithaupts Ausführungen Vielfalt der Blicke auf Keller. In Vorträgen, die sich dadurch einen fruchtbaren Neuansatz, der zu regen ergänzten, kontrastiv präzisierten, widersprachen Diskussionen führte. und gegenseitig befragten markierte die Tagung Ernst Osterk amp (Berlin) widmete sich viele Desiderate der Keller-Forschung, zeigte aber zum Abschluss der Tagung in seiner Keynote vor allem deren Lebendigkeit und die Aktualität Gottfried Kellers Berlin – eine lokale Beziehung, von Kellers Moderne, die sich durch eine radikales deren Relevanz für das Werk auf den ersten Blick „Welt Wollen“ auszeichnet. nicht zu Tage tritt. Nicht nur in Züs Bünzlins Städtekatalog fehlt Berlin, sondern auch die „innere Topographie“ von Kellers aus Berlin ver- Anmerkungen schickten Briefen kommt beinahe komplett ohne Schilderungen der Stadt aus. Und dennoch sei 1 Moritz Baßler: Deutsche Erzählprosa 1850–1950. Berlin als entscheidender Katalysator von Kellers Eine Geschichte literarischer Verfahren. Berlin 2015. schriftstellerischer Entwicklung zu begreifen – 2 Gottfried Keller: Sämtliche Werke. Historisch- Kritische Ausgabe. Hrsg. u. d. Leitung v. Walter die Blaupause seiner Modernität. Erstens müsse Morgenthaler i. A. der Stiftung Historisch-Kritische Berlin in der Zeit von Kellers dortigem Aufent- Gottfried Keller-Ausgabe. Basel u. a. 1996–2013) halt als „Hauptstadt der Schweizer Literatur“ (im Folgenden: HKKA).

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3 Theodor Fontane: Gottfried Keller. Ein literarischer Johannes Hees Essay von O. Brahm. In: T. F.: Werke, Schriften und Universität Zürich Briefe, Abt. 3, Bd. 1: Aufsätze und Aufzeichnun- Deutsches Seminar gen. Hrsg. v. Walter Keitel, Helmuth Nürnberger. Schönberggasse 2 München 1969, S. 499–508, hier S. 501 f. CH–8001 Zürich 4 Gottfried Keller: Gesammelte Briefe in vier Banden. Hrsg. v. Carl Helbling. Bern 1950–1954, hier Bd. 3.1, S. 56 f.

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang pen Zeitschrift für Germanistik | Neue Folge XXX (2020), Peter Lang, Bern | H. 1, S. 201–279

Besprechungen

Michael Auer, Claude Haas (Hrsg.) Kriegstheater. Darstellungen von Krieg, Kampf und Schlacht in Drama und Theater seit der Antike. Unter Mitarbeit von Gwendolin Engels. J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2018, 301 S. (I.)

Edith Zehm (Hrsg.) Johann Conrad Wagner: „Meine Erfahrungen in dem gegenwärtigen Kriege“. Tagebuch des Feldzugs mit Herzog Carl August von Weimar. Mit einer Einführung v. Gustav Seibt (Schriften der Goethe-Gesellschaft, Bd. 78). Wallstein Verlag, Göttingen 2018, 552 S. (II.)

(I.) Der Sammelband von Michael Auer und Claude Diese Projektskizze wirft Fragen auf: Weder Haas vereint 18 Beiträge (17 Originalbeiträge),1 existiert eine über die Jahrhunderte konstante und die auf Vorträge einer Berliner Tagung Ende 2016 auf Vorstellungen von Sichtbarkeit und Sicherheit zurückgehen. Untersucht werden griechische, reduzierbare Deutung der theatrum belli-Formel2 französische, englische und deutsche Theaterstücke noch ist vorauszusetzen, dass diese Metapher von der Antike bis zur Gegenwart. Ausgangspunkt mehrheitlich bei der Entstehung von Dramen ist die ab dem 17. Jahrhundert gebrauchte Meta- mit Kriegsthematik ein notwendiger Referenz- pher vom Kriegstheater bzw. theatrum belli, die, punkt war. In letzter Konsequenz wäre von den so die Herausgeber, suggeriere, „dass kriegerische Beiträgern also zunächst der Nachweis zu führen, Handlungen sichtbar, überschaubar und begrenz- dass in den untersuchten Texten überhaupt auf bar seien, dass ihnen eine innere, nachvollziehbare die Metapher Bezug genommen und eine dezi- Folgerichtigkeit wie ein determinierbarer zeitlicher dierte Ablehnung der ihr angeblich inhärenten Verlauf eigne und dass sie daher auch aus einer si- Vorstellungen zu beobachten ist. Zudem ist die cheren Distanz heraus beobachtet werden könnten“ Widerständigkeit von Drama und Theater, Krieg (S. 1). Die „Imaginationsversprechen“ der Metapher „unmittelbar auf die Bühne zu bringen“ (S. 3), jedoch löse das tatsächliche Kriegstheater, also keineswegs so ‚ubiquitär‘, wie nahegelegt.3 das mit Krieg befasste Drama, mitnichten ein: Es Der Band möchte – vorgebliche – Defizite der hintertreibe „die erwarteten Eindrücke von Sicht- Forschung kompensieren: einerseits eine „gängige barkeit oder Sicherheit […] seit alters her“ (S. 2). Zu Tendenz, bedeutende historische, politische und konstatieren sei hier eine „geradezu ubiquitär[e]“ mediale Entwicklungen beinahe ausschließlich Widerständigkeit gegen die ästhetisierenden Ten- in narrativen Texten reflektiert und exemplifiziert denzen der Metapher; die „Kriegserfahrung von zu sehen“,4 andererseits den Umstand, dass die Kampf und Schlacht“ werde „praktisch durchweg deutsche Dramenforschung „Krieg, Kampf und als ein ungehegtes, der Sicht- und Verfügbarkeit Schlacht“ (S. 4) seit dem Ende des Ersten Welt- […] entzogenes und damit im strengen Sinne kriegs nicht mehr in monographischen Gesamtdar- unfigurierbares Geschehen gefasst“ (S. 3). Die stellungen behandelt habe. Auch diesen Prämissen Aufsätze des Bandes sollen die „bühnenmedialen, kann nicht vorbehaltlos zugestimmt werden.5 dramenästhetischen, soziopolitischen und wahr- Den Auftakt des Sammelbandes bilden zwei nehmungstheoretischen Gründe für die Ablehnung Beiträge, deren Ausgangspunkt das griechische der in der Kriegsmetaphorik verschränkten Vor- Theater ist: Susanne Gödde belegt das in der stellungen von Sichtbarkeit und Sicherheit“ (S. 4) Frage nach einer inneren Logik der An- oder Ab- in dramatischen Texten untersuchen. wesenheit von Kriegsszenen im Drama ruhende

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Erkenntnispotential. Sie untersucht „das Darstel- staatlicher Ordnung überschreitet“ (S. 95). Eine lungsmuster des Zweikampfes, das den Krieg zum abschließende Synthese der Überlegungen fehlt. In ,Schau‘ platz, zum theatron werden lässt“ (S. 9) einer detaillierten Analyse von Horace (1640) deutet bei Homer, Aischylos und Euripides. Gödde Claude Haas Corneilles Entscheidung, das zen­ erläutert die im antiken griechischen Theater trale Kampfgeschehen des historischen Stoffes nicht gängigen Darstellungsmodi von Kriegsgeschehen auf der Bühne zu zeigen, als Versuch, das Stück durch Mauerschau, Botenbericht und vor allem konsequent zur Vermittlung und Legitimierung durch den Zweikampf: Dieser inszeniert eine des absolutistischen Herrschaftsmodells sowie zur „Symmetrie und das Gleichmaß der Kräfte“, Durchsetzung eines dem Absolutismus parallelen doch der mit dem Tod beider Kontrahenten en- Zuschauer- und Theaterkonzepts zu nutzen. Haas dende totale Einsatz im Nahkampf scheint „dem skizziert zudem, wie Corneilles Text und der Stoff in archaischen Heroenmodell des Ruhms durch Sieg deutschsprachigen Bearbeitungen und Adaptionen entgegenzuwirken“ (S. 23). Wolf Kittler skizziert zwischen 1741 und 1809 unter veränderten epocha- in einem kursorischen Essay die Bedeutung von len und politischen Veränderungen dramaturgisch Kriegen in Stücken ohne Kriegsszenen an Homer, different gestaltet wurden. Sophokles, Euripides, Corneille und Kleist, so etwa Armin Schäfer betrachtet Daniel Casper von in Hinblick auf Kleists große Aufmerksamkeit Lohensteins Tauerspiele Cleopatra und Sophonisbe, für militärtechnische Entwicklungen, und geht die auf die Darstellung militärischer Kampfhand- abschließend auf kriegstechnische Innovationen lungen verzichten: „die Rede über den Krieg [wird] im 20. Jahrhundert ein. Über den Grund, warum zu einem Operator im Kriegsgeschehen selbst“ Kriegsszenen in Tragödie und Trauerspiel meist (S. 137). Schäfers Analyse des Kriegs der Worte, nur „als epische Einsprengsel“ auftreten, kann also der Debatten über die Handlungsoptionen im Kittler „nur spekulieren: Vielleicht ist die Bühne Krieg, belegt schlüssig, dass beide Stücke Krieg als […] zu klein […]. Vielleicht verträgt sich die „ein kontingentes Geschehen“ deuten, in dem der sprachlose Gewalt des Krieges nicht mit den feier- die Oberhand behält, der „die unvermeidlichen lichen […] Chorgesängen der Tragödie. Vielleicht Kontingenzen, die im Krieg auftreten, zu seinen gehört es sich auch nicht, das Sterben öffentlich Gunsten auszunutzen“ (S. 142) vermag, ohne dass zur Schau zu stellen“ (S. 27). die Tugend verloren gehe. Einen zweiten Schwerpunkt bilden Dramen In den Beiträgen von Mona Körte, Steffen des 17. und 18. Jahrhunderts: Während Björn Martus, Johannes F. Lehmann und Michael Quiring Ambivalenzen in Shakespeares Umgang Auer stehen deutschsprachige Dramen des 18. mit dem Krieg auf der Bühne nachgeht und zeigt, Jahrhunderts im Mittelpunkt. Für Lessings nach wie das Schlachtfeld mal als „Ort der Darstellung Ende des Siebenjährigen Kriegs spielende Minna von Transzendenz“ (S. 51), dann wieder „als ein von Barnhelm schlägt Körte eine interessante Les- Netzwerk menschlicher Handlungen und Unter- art vor, die den „unordentliche[n] Aufbau“ (S. 146) lassungen“ (S. 61) erscheint, rekonstruiert Romain und permanenten „Informationsrückstand“ Jobez dicht die „Befriedung der unregelmäßigen (S. 147) im Stück in den Blick nimmt und davon Bühne und Beendung des Kriegsschauspiels“ ausgeht, die „Unordnung des Krieges“ werde „in (S. 69) im Theater der französischen Klassik eine unordentliche Affektökonomie überführt, anhand poetologischer Debatten und Racines die die Gefühlswerte von Tragödie und Komödie Bérénice (1670). einander“ (S. 153) annähere. Auf Martus’ genaue Hans-Christian von Herrmann betrachtet Untersuchung der „Ästhetik des Krieges“ in „Konstellation[en] von Krieg, Staat und Theater“ Goethes Götz folgt Lehmanns origineller Hin- (S. 83) bei Corneille, Schiller und Grabbe: Während weis auf J. M. R. Lenz’ Fragment Der tugendhafte Le Cid die historische „Verstaatlichung des Krieges“ Taugenichts: Neben der Imagination einer verita- (84), Die Braut von Messina aber „die Erschütterung blen Kriegsszene mit Toten gehe es im Fragment der Autorität des Staates und die neue Herrschaft inhaltlich und dramaturgisch primär „um Bilder des Zufalls“ (S. 91) thematisierten, erscheine in von sozialen Beziehungen, die allesamt als para- Napoleon oder die hundert Tage der Krieg „vor allem sitäre Beziehungen auf den Körper verweisen“ als Chiffre für ein Mächtespiel, das den Innenraum (S. 187). Leider nutzt der Beitrag in seinem ersten

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Teil zum deutschsprachigen Soldatenstück die Thalheim schildert in seinem Nachruf auf Buhss, aktuelle Forschung zu diesem Genre kaum.6 dass das vom Wiener Götz Fritsch im Rahmen Das letzte Drittel des Sammelbandes ist Texten einer Kulturkooperation inszenierte Stück keine nach 1800 gewidmet: Antitriumphalismus in Genehmigung für die Bühne erhielt und nur durch Kleists Penthesilea und der Krieg als Zeitkampf eine List Gerhard Meyers „über eine Potsdamer in Eichendorffs Ezelin von Romano werden von Werkstatt-Aufführung auf die Karl-Marx-Städter Juliane Vogel und Michael Gamper differenziert Bretter geschleust“ werden konnte.7 Vor diesem analysiert. Leicht irritierend untersucht Hannah Hintergrund greift Münkners weitgehend unkon- Wiemers Aufsatz zu Paul Scheerbart (S. 231–246) krete Deutung zu kurz, das Stück sei „Gleichnis keine Dramen, sondern kurze Prosaskizzen, die für die Ambivalenz des Hoffens und Wartens, Kriegstheater imaginieren (und verzichtet auf Be- die den Menschen zu größten Anstrengungen zugnahmen auf die Scheerbart-Forschung). Eine befähigt“ (S. 285). unerwartete Volte schlägt Daniel Weidners Aus- Insgesamt variiert der Fokus der meist dicht einandersetzung mit Karl Kraus’ Stück Die letzten argumentierenden und erkenntnisreichen Beiträge Tage der Menschheit, indem er das so intensiv aus des Bandes zum Teil erheblich, so dass sehr der Berichterstattung der Zeit geschöpfte Drama vielfältige Blicke auf das Verhältnis von Bühne und zum Anlass einer Umdeutung von Mauerschau Krieg seit der Antike geworfen werden, dem Band und Botenbericht im Theater des 20. Jahrhunderts aber auch mehr Kohärenz zu wünschen gewesen nimmt. Mitunter jedoch formuliert Weidner stark wäre. Auf eine erheblich befremdliche Formulie- metaphorisch, was das Verständnis erschwert. So rung aus der Einleitung sei abschließend hingewie- heißt es in Hinblick auf den Bedeutungswandel der sen: Vielleicht sei „die Atombombe nichts anderes Mauerschau: „[D]er Blick richtet sich nicht mehr als ein Produkt aus dem Off der abendländischen über die Wand auf die Wirklichkeit, sondern auf Dramenbühne“ (S. 4). Bedauerlich ist zudem, dass die Wand selbst, auf der die technischen Medien ein Verzeichnis der Beiträger fehlt. Vorstellungen von Übersicht und Beherrschbarkeit suggerieren“ (S. 253). (II.) Ein editorisches Juwel liegt mit dem von Edith Präzise Ausführungen von Norbert Otto Eke Zehm herausgegebenen Druck jenes Tagebuchs vor, zu Heiner Müller und Lothar Trolle sowie von das Johann Conrad Wagner (1737–1802) vom 28. Maria Kuberg zu Schillers Ästhetik in Elfriede März 1792 bis zum 2. März 1794 als Cämmerier Jelineks Sportstück rahmen zum Schluss einen des Herzogs Carl August von Sachsen-Weimar- Beitrag von Jörn Münkner über Werner Buhss’ Eisenach während der Teilnahme des Herzogs am Theaterstück Die Festung, der dem wenig er- Ersten Koalitionskrieg gegen Frankreich geführt forschten Buhss nicht recht dient: Genau referiert hat. 1762 war Wagner am Hof in Weimar ange- Münkner die Unbestimmtheit von Ort und Zeit stellt worden, zunächst, um „als Lakai dem damals sowie den Verlauf der auf Dino Buzzatis Roman Il fünfjährigen Erbprinzen Carl August zu dienen“ deserto dei Tartari (1940) basierenden Handlung, (S. 30). Wagner verblieb bis zu seinem Tod in die sich in einer entlegenen Festung zuträgt, deren dienenden Verhältnissen am Hof, avancierte erst Besatzung dazu bestimmt ist, einen mutmaßlich zum Kammerdiener, dann zum Cämmerier, dem hypothetisch bleibenden Großangriff abzuwehren. „die Verwaltung von herzoglichen Geldern und Münkner bietet aber weder einen detaillierten deren Abrechnung oblag“ (S. 30). Wagner schrieb Vergleich zwischen Vorlage und Bearbeitung sein detailliertes Tagebuch der Vorkommnisse, die noch differenzierte Hinweise zu Buhss’ Leben er während der zweijährigen militärischen Parti- und Werk, obgleich beides unverzichtbar ist, weil zipation am Koalitionskrieg wahrnahm, zunächst Die Festung in der DDR entstand, die im Subtext allein zu seiner „eignen Nachricht und WiederEr- offensichtlich mit verhandelt wird. So täuscht rinnerung“ nieder (S. 59). Gleichwohl ließ er sich Münkners Behauptung – „Am 12. Juli 1986 hatte bewegen, zwei handschriftliche Exemplare der Die Festung von Werner Buhss an den Städtischen Herzoglichen Bibliothek in Weimar zu übergeben, Theater Karl-Marx-Stadt Premiere, Regie führte wo sie Goethe, seit 1797 Direktor der Bibliothek, der Autor selbst“ (S. 279) – über die politisch wiederfand und später als Quelle für seine Campa- komplexe Aufführungslage hinweg. Matthias gne in Frankreich 1792 nutzte.

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Der Rang von Wagners Tagebuch als Quelle und Tote auf Schlachtfeldern, die Gewalt militäri- Goethes ist unumstritten – schon 1919 hat Gus- scher Besatzer, in Brand geschossene Bauten etc. tav Roethe Goethes Übernahmen „präzis doku- finden sich in verschiedenem Umfang in Dramen mentiert“ (S. 9). Auch drüber hinaus stellt das von der frühen Neuzeit bis in die jüngste Gegen- Tagebuch eine bemerkenswerte zeit- und menta- wart, von Petrus Mussonius’ Pompeius Magnus (1621), Nicolaus Avancinis Pietas victrix (1650), litätsgeschichtliche Quelle dar, deren Edition den über Karl Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit vorhandenen Bestand edierter Feldzugstagebücher (1922) oder Markus Scholz’ Berlin. Fragment in 18 aus dem 18. Jahrhundert wertvoll ergänzt. Nicht Bildern von 1948 bis hin zu Sarah Kanes blasted nur der Rang der edierten Quelle ist hervorzu- (1995). Zu prüfen wären zudem die über 840 heben, sondern die in jeder Hinsicht mustergülti- Kriegsstücke, die 1871 bis 1914 auf den Bühnen ge Edition selbst: Eine kurze Einführung von des Kaiserreiches auftauchten (vgl. Hans Daiber, Gustav Seibt skizziert den historischen Kontext Friedrich Michael: Geschichte des deutschen der militärischen Ereignisse. Edith Zehm fügt Theaters. Frankfurt a. M. 1989, S. 97). eine angesichts der wenigen Lebensspuren dichte 4 Belege für diese aus Sicht der regen Dramen- und und erhellende Lebensskizze Wagners an, bevor Theaterforschung nicht schlüssige These (vgl. Arbei- ten zu Schiller, Büchner, Kraus, Toller, Hochhuth, das Tagebuch selbst in diplomatischem Ab- Kipphardt, Peter Weiss, Handke, Milo Rau u.v.m.) druck präsentiert wird. Detaillierte Wort- und fehlen in der Einleitung. Sacherläuterungen auf jeder Seite helfen bei der 5 Die Forschung zum Verhältnis von Krieg und Dra- Textaufschließung; über 70 Abbildungen, die alle ma ist im Feld monographischer Arbeiten durchaus drucktechnisch hervorragend präsentiert werden, rege – so aus jüngerer Zeit u. a.: Ralf Trinks: Zwi- illustrieren und ergänzen den Text vorbildlich. schen Ende und Anfang. Die Heimkehrerdramatik Anhänge „Zur Handschrift“, „Zur Edition“, Zeit- der ersten Nachkriegsjahre (1945–1949). Würzburg tafeln und eine Übersicht militärischer Fachbegrif- 2002; Martin Baumeister: Kriegstheater. Großstadt, fe, schließlich ein detailliertes Personenverzeichnis Front und Massenkultur 1914–1918. Essen 2005; sowie eine beigelegte, auffaltbare Landkarte mit Johannes Birgfeld: Krieg und Aufklärung. Studien zum Kriegsdiskurs in der deutschsprachigen Lite- den „Etappen nach Wagners Tagebuch“ runden ratur des 18. Jahrhunderts. 2 Bd. Hannover 2012; die Edition ab und lassen keine Wünsche offen. Eva Krivanec: Kriegsbühnen. Theater im Ersten Der Herausgeberin und dem Verlag muss man für Weltkrieg. Bielefeld 2012. die Genauigkeit und Umsicht, mit der dieser Text 6 Nicht erwähnt wird etwa die Studie von Anne herausgegeben wurde, schlicht danken. Feuchter-Feler: Le drame militaire en Allemagne au XVIIIe siècle. Esthétique et cité. Bern u. a. 2002, auch werden zahlreiche einschlägige Aufsätze bzw. Buchkapitel nicht genannt. Anmerkungen 7 Matthias Thalheim: Die raue Stimme des Werner Buhss. Nachruf, , zuletzt erschienen Buches erneut ab. 18.7.2019. 2 Zedler etwa definiert 1745 (Bd. 45, Sp. 462) das Kriegstheater schlicht als „dasjenige Land oder die- Johannes Birgfeld jenige Gegend […], wo ein paar Armeen gegen ein- ander Krieg führen“; s. a. das Deutsche Wörterbuch Universität des Saarlandes von Jacob und Wilhelm Grimm 1873: „ganz geläufig Philosophische Fakultäten die übersetzung kriegsschauplatz“ (Bd. 11, Sp. 2296). Fachrichtung Germanistik 3 Kämpfende Soldaten, Schlachtszenen, Granaten- Postfach 15 11 50 explosionen, Erschießungen im Krieg, Sterbende

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Nicola Kaminski, Robert Schütze (Hrsg.) Gryphius-Handbuch. Verlag Walter de Gruyter, Berlin, Boston 2016, 933 S., 11 Abb.

Andreas Gryphius ist der berühmteste deutsche Der Ruhm des Andreas Gryphius ist mithin Dichter des 17. Jahrhunderts. Ohnehin ist der erkauft durch eine radikale Reduktion der Re- Kanon der Autoren dieser Zeit, die man heute zeption; er beruht großenteils auf einem einzigen außerhalb von Spezialistenkreisen wenigstens dem Gedicht. Selbst literarhistorisch Gebildete und Namen nach kennt, nicht sehr groß. Unter diesen Germanisten kennen aus Gryphius’ Œuvre zwar Autoren sticht Gryphius aber auch die bekann- noch einige Sonette mehr und außerdem vielleicht testen aus: Martin Opitz, der – natürlich von der auch einige seiner Lust- und Trauerspiele, aber die Forschung nicht unhinterfragt – als Neubegründer darüberhinausgehende Vielgestaltigkeit seines deutschsprachiger Kunstdichtung Anfang des 17. Werks und seine epochale Bedeutung werden Jahrhunderts gilt, und Hans Jacob Christoffel von selten in ihrer Differenziertheit gewürdigt. Das Grimmelshausen, den Verfasser des berühmtesten betrifft freilich nicht die einigermaßen rege Gry- deutschsprachigen Romans des Jahrhunderts, des phius-Forschung; hier werden seit Jahrzehnten 1668/69 erschienenen Simplicissimus Teutsch, nicht regelmäßig wichtige Ergebnisse erzielt und die zu reden von literarhistorisch höchst bedeutenden, Kenntnisse über Gryphius und sein Werk emsig aber eben im kulturellen Diskurs nicht gerade vermehrt – nur dringt wenig davon über die Ex- omnipräsenten Autoren wie z. B. Paul Fleming, pertenkreise hinaus. Simon Dach, Daniel Casper von Lohenstein oder Nicht zuletzt aufgrund dieses Befundes ist Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau, es nicht genug zu loben, dass Nicola Kaminski ganz zu schweigen von Sibylla Schwarz, Catharina und Robert Schütze als Herausgeber dem Autor Regina von Greiffenberg, Quirinus Kuhlmann, postum und der Welt zum richtigen Zeitpunkt Friedrich Spee, David Schirmer oder Gottfried pünktlich zu Gryphius’ 400. Geburtstag 2016 ein Finckelthaus. Handbuch geschenkt haben, das die Ergebnisse der Der Grund, warum Gryphius all diese Au- Gryphius-Forschung sichert, das Leben und Werk toren an Bekanntheit übertrifft, ist ein einziges sowie deren relevante Kontexte handbuchförmig Sonett, das der Schlesier verfasst hat und das als aufbereitet und so einer differenzierten Kenntnis berühmtestes deutschsprachiges Sonett des 17. und weiterer Forschung den Boden bereitet.1 Jahrhunderts gelten darf: Thränen des Vaterlandes/ Das Handbuch ist hinsichtlich seiner Makro- Anno 1636 – vielleicht noch neben dem ebenfalls struktur ganz traditionell in drei Teile geteilt: von Gryphius verfassten Vanitas-Gedicht Es ist Leben, Werk und Wirkung. Vom Umfang her alles Eitel. Diese beiden Gedichte, vor allem aber sind diese drei Teile aber sehr unterschiedlich das erstgenannte Gedicht, finden sich in jeder gewichtet: Über Gryphius’ Leben informiert Anthologie der deutschen Lyrik; keine Barock- knapp, aber kundig und sehr gut lesbar ein 15-sei- lyrik-Einheit an deutschen Schulen kommt ohne tiger Überblicksartikel von Ralf Georg Bogner Thränen des Vaterlandes aus. Ja, mehr noch, das, (S. 3–17); quellenkritisch reflektiert der Beitrag was allgemein als Gruppe der Charakteristika nebenbei die Probleme der Ermittlung biographi- der Epoche des deutschen Barock gilt, findet sich scher Informationen in einer Zeit, in der es keine in diesem Gedicht mustergültig repräsentiert. moderne Individualitätsvorstellung gab. Da aber Autoren nicht schreiben, um ‚Epochen- Der zweite Hauptteil zum Werk ist ungleich merkmale‘ zu erfüllen, muss man wohl umgekehrt umfangreicher, er umfasst über 700 Seiten und annehmen, dass die ‚Epochenmerkmale‘ des deut- ist intern vielfältig gegliedert: Auf eine solide schen literarischen Barock u. a. an diesem Gedicht wissenschaftshistorische Situierung, die aus entwickelt worden sind: Trauerklage über die einem Forschungsüberblick einen Kompass Schrecken des Krieges, rhetorische Durchformt- der Gryphius-Forschung entwickelt (S. 21–33, heit, Jenseitsangst und Jenseitshoffnung, Denken Robert Schütze), und ein mehrteiliges Kapitel in Antithesen. zu diskursgeschichtlichen Rahmenbedingungen

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– dem Dreißigjährigen Krieg (S. 34–44, Michael Darüber hinaus enthält dieser werkbezogene K aiser), Aspekten der Geschichte Schlesiens Hauptteil Artikel zu Gesichtspunkten, die für das (S. 45–58, Arno Herzig), Martin Opitz’ Litera- Verständnis des Autors und seines Werks sach- turreform (S. 59–67, Nicola Kaminski)2 – folgen lich wichtig sind – im Handbuch etwas ungenau solche zu den einzelnen Texten, die Gryphius’ „Systematische Aspekte“ genannt – von ‚Allegorie‘ Œuvre bilden, großenteils gegliedert nach Gat- (S. 604–614, Heinz Drügh) über ‚Intertextualität‘ tungen: Lyrik, Trauerspiele, Lustspiele, Festspiele, (S. 632–642), ‚Neustoizismus‘ (S. 682–691, beide Prosa, Übersetzungen und Bearbeitungen. Nicht Stefanie Arend)5 und ‚Schwarze Magie‘ (S. 710– vergessen wird, dass Gryphius neben deutschen 723, Maximilian Bergengruen) bis ‚Verstechnik‘ auch lateinische Werke verfasst hat; Ralf Georg (S. 74–756, Andreas Beck) und ‚Zahlenkomposi- Czaplas Beitrag informiert auf der Basis früherer tion‘ (S. 757–763, Stefanie Knöll). Forschungen des Autors3 über Gryphius’ latei- Der dritte, wieder weniger umfangreiche Haupt- nische Epen, Panegyrica, Epigramme und Ge- teil zur „Wirkung“ bietet auf 50 Seiten instruktive legenheitsgedichte (S. 68–89).4 Die umfassende und differenzierte Informationen über die zeit- Werkschau berücksichtigt den anfangs skizzierten genössische Rezeption des Dichters und Gelehrten berühmten Teil von Gryphius’ Dichtungen, Gryphius im 17. Jahrhundert (S. 767–778, Jörg die Sonette (S. 90–112, souveräner Überblick Wesche) und über die Nachwirkung mit ihren von Thomas Borgstedt), Lust- (etwa mit der Konjunkturen in der Aufklärung (S. 779–790, subtilen Analyse des Herrn Peter Squentz durch Benedikt Jessing), in der Romantik (S. 791–801) Bernhard Greiner, S. 313–329) und Trauer- und im 20. Jahrhundert (S. 802–814, beide Artikel spiele, aber darüber hinaus auch und besonders Dieter Martin). Diese Beiträge zur Gryphius- weniger bekannte und erforschte Gebiete: so etwa Rezeption sind besonders wertvoll, da sie in vielem die geistlichen Oden (mit einem leider etwas des­ Neuland betreten und, insbesondere im Fall des kriptiv bleibenden, gleichwohl instruktiven Arti- Artikels zur Rezeption im 20. Jahrhundert, stau- kel von Benedikt Jessing, S. 113–130) und die nenswerte Rechercheleistungen präsentieren. Epigramme (so ein weiträumig mit allgemeinen Abgerundet wird das Handbuch durch einen poetologischen Entwicklungen und relevanten vierten Hauptteil, den Anhang, der neben den Intertexten kontextualisierender Beitrag von obligatorischen Siglen- und Abbildungsverzeich- Thomas Althaus, S. 131–145), aber auch Texte nissen, dem Personen- und Werkregister noch ein wie das interkonfessionell auf Gedichte Jakob Angebot ganz eigenen Werts enthält: eine 90-sei- Baldes bezogene Langgedicht der Gedancken/ tige, umfassende Gryphius-Bibliographie von Vber den Kirchhoff (S. 146–152, Johann Anselm Robert Schütze (S. 824–915). Sie stellt gleicher- Steiger), die Übertragung von Nicolaus Caussins maßen eine immense Rechercheleistung dar und Tragödie Felicitas, die in manchem als Nukleus ist von unschätzbarem Wert für die Forschung, der späteren Trauerspiele des Schlesiers gelten nicht zuletzt, weil sie mit ihrer beeindruckenden kann (S. 162–184, Barbara Mahlmann-Bauer), Ausführlichkeit dem Ideal der vollständigen Er- die Festspiele Majuma (S. 357–367, Bernhard schließung recht nahekommt. Das kann man am Jahn), Piastus (S. 368–380, Robert Schütze) besten durch Stichproben überprüfen; eine solche und Verlibtes Gespenste/Die gelibte Dornrose hat der Rezensent für die „Lateinischen Werke“ (S. 381–399, ders.) oder auch den interpretato- vorgenommen; hier führt die Bibliographie nicht risch vertrackten Prosabericht Fewrige Freystadt nur fast alle neueren Forschungsbeiträge des 20. (S. 400–413, Nicola Kaminski). Auch die Grup- und 21. Jahrhunderts auf, sondern auch die seltene pe der erst 1666 postum gesammelt erschienenen und wenig bekannte, 1895 und 1896 im Rahmen 13 Leichabdankungen – nicht überblickshaft eines Schulprogramms erschienene Abhandlung als Sammelwerk, sondern in 13 Einzelartikeln! von Emil Stern über „Das deutsche Epos des 17. – oder auch die bis heute nur ein einziges Mal, Jahrhunderts“ (S. 840 f.).6 1622 aufgelegte Abhandlung über eine Sektion an Erschlossen werden soll mit dem Handbuch in Breslau aufbewahrten altägyptischen Mumien erkennbar und explizit der ‚ganze Gryphius‘ (vgl. (Mumiae Wratislavienses, S. 582–593, Joachim auch Vorwort, S. X), inklusive jener Werkteile und Śliwa) werden kundig vorgestellt. Facetten des Autors, die man leicht einmal vergisst

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– wie die lateinischen Schriften, die Prosaschrif- auf alte Drucke zurückzugreifen. Das dahinter- ten, den Redner Gryphius, den Übersetzer (mit stehende Argument ist in der Theorie durchaus eigenem Beitrag von Hans Kuhn, S. 594–603). nachvollziehbar: In Zeiten, in denen die meisten Wenn hier überhaupt ein inhaltliches Desiderat alten Drucke als Digitalisate im Internet verfügbar anzuzeigen wäre, dann beträfe es vielleicht den sind, sind diese in vielerlei Hinsicht bessere Text- Verkaufskatalog von Gryphius’ Bibliothek und zeugen als nachträglich gefertigte, immer auch der seines Sohns Christian, dessen Edition zurzeit durch ihre Entstehungsbedingungen tingierte und von Achim Aurnhammer und Dieter Martin damit den ursprünglichen Textbestand tendenziell (Freiburg i. Br.) vorbereitet wird.7 verfälschende Editionen. De facto werden alte Das Gryphius-Handbuch ist durchdacht Texte aber in vielen Fällen in gut gemachten und/ konzipiert und von umfassendem Format; es ist oder verbreiteten Neueditionen genutzt, und auf gelungen, für die einzelnen Artikel überwiegend diese sollte man sich in einem Handbuch auch be- die für das jeweilige Thema einschlägigen Ex- ziehen, gerade wenn man nicht nur Expertinnen pertinnen und Experten zu gewinnen. Insofern und Experten, sondern auch interessierte Laien, präsentiert es sich als Modell eines Handbuchs zu Schüler und Studierende ansprechen will. So wirkt einem frühneuzeitlichen deutschsprachigen Autor. etwa die Zitation von Martin Opitz’ Buch von der Literaturwissenschaftliche Handbücher entstehen Deutschen Poeterey nach dem Originaldruck von ja in den letzten Jahren mehr und mehr, befördert 1624 und nicht nach der geläufigen und guten nicht zuletzt durch die Bemühungen großer Verlage Reclam-Studienausgabe von Herbert Jaumann9 wie J. B. Metzler oder eben Walter de Gruyter um eher befremdlich und verwirrend, ähnlich wie die diese Textsorte. Handbücher zu frühneuzeitlichen Zitation von Thomas Hobbes’ Leviathan nach deutschen Autoren bilden aber großenteils ein De- dem Originaldruck von 1650 und nicht nach einer siderat, abgesehen von dem höchst verdienstvollen, modernen Hobbes-Edition.10 Die Herausgeber aber bereits etwas älteren, daher in Teilen nicht formulieren als Ziel, „das Handbuch auf Ausgaben mehr ganz zeitgemäßen und eher knapp gehalte- umzustellen, wie sie die zeitgenössischen Leser nen Grimmelshausen-Handbuch Dieter Breuers.8 vor Augen hatten“ (S. XII). Es ist aber im Einzel- Künftige Projekte, die weiter zur Behebung dieses nen durchaus nicht immer leicht zu entscheiden, Desiderats beitragen könnten, werden sich am Gry- welche das jeweils waren, ob z. B. die Erstausgabe phius-Handbuch messen lassen müssen. eines Texts auch jene ist, die den Großteil der zeit- Das Gryphius-Handbuch ist sehr sorgfältig genössischen Leser erreicht hat. redigiert; es enthält kaum Rechtschreib-, Druck- Das ist aber natürlich kein zentraler Einwand und Flüchtigkeitsfehler. Ein elaborierteres und gegen ein Handbuch, das seinen Autor in durch- angemesseneres äußeres Erscheinungsbild wäre dachter, kundiger und differenzierter Weise auf hingegen durchaus vorstellbar gewesen – das dem neuesten Stand der Forschung präsentiert und Schriftbild im nicht in jeder Hinsicht gelungenen dadurch in musterhafter Weise geeignet ist, weitere de Gruyter-‚Hausstil‘ wäre vielleicht vermeidbar Forschungen zu unterstützen und zu befördern – gewesen; statt eines Pappeinbands wäre bei einem und dem Autor auch darüber hinaus eine weitere solch monumentalen Werk ein Leineneinband Leserschaft zu erschließen. Chapeau! nicht übertrieben gewesen, und eine ansprechen- dere Papiersorte hätte man wohl auch noch finden können. Schön ist immerhin, dass das Handbuch fadengeheftet ist, so dass einem das dicke Buch Anmerkungen nicht zwischen den Händen zerfällt. Einige kleinere Entscheidungen der Heraus- 1 Die im vorigen Absatz skizzierte Rezeptionssitua- tion wird im Handbuch an verschiedenen Stellen geber erscheinen ein wenig rigoristisch und manie- reflektiert, etwa in prägnanter Knappheit von Dieter riert: Im Jahr 2016 auf der alten Rechtschreibung Martin: „Andreas Gryphius zählt zu den wenigen zu beharren, ist vielleicht nur etwas schrullig. deutschen Barockdichtern, deren Namen auch über Wirklich diskutabel ist aber die Entscheidung, bei die Aufklärung hinweg im Gedächtnis geblieben der Zitation von Texten aus der frühen Neuzeit sind. […] Das fortgeschriebene Klischee beruhte in- konsequent nicht auf moderne Editionen, sondern dessen kaum auf fundierter Werkkenntnis“ (S. 791).

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2 Hierbei handelt es sich fast um einen eigenständigen 6 Emil Stern: Das deutsche Epos des XVII. Jahr- Forschungsbeitrag, in dem Kaminski Thesen ihrer hunderts. In: Programm der deutschen k. k. Staats- Habilitationsschrift aufgreift und weiterentwickelt. Realschule in Budweis. Budweis 1895, S. 1–26 Vgl. Nicola Kaminski: Ex bello ars oder Ursprung [T. 1] u. 1896, S. 3–36 [T. 2]. der „Deutschen Poeterey“. Heidelberg 2004. 7 Catalogus Bibliothecae Gryphianae. Breslau 1707. 3 Vgl. Ralf Georg Czapla: Nachwort. In: Andreas 8 Dieter Breuer: Grimmelshausen-Handbuch. Gryphius: Herodes. Der Ölberg. Lateinische Epik. München 1999. Hrsg., übers. u. komm. v. R. G. C. Berlin 1999, 9 Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey S. 327–349; ders.: Das Bibelepos in der Frühen Neu- (1624). Studienausgabe. Hrsg. v. Herbert Jaumann. zeit. Zur deutschen Geschichte einer europäischen Stuttgart 2002. Gattung. Berlin, Boston 2013, S. 390–472. 10 Etwa der zwar nicht editionsphilologisch mit allen 4 Hierzu (S. 79) sei eine ganz punktuelle termino- Wassern gewaschenen, aber eben verbreiteten Suhr- logische Korrektur erlaubt: „Sintflut“ und „beth- kamp-Übersetzung: Thomas Hobbes: Leviathan lehemitische[r] Kindermord“ mögen in Gryphius’ oder Stoff Form und Gewalt eines kirchlichen und Epen als Allegorien für den Dreißigjährigen Krieg bürgerlichen Staates. Hrsg. u. eingel. v. Iring Fet- fungieren, als „Metapher[n]“ aber wohl nicht. scher, übers. v. W. Euchner. Frankfurt a. M. 1966, 5 Ich erlaube mir eine weitere punktuelle, diesmal besser natürlich einer guten Edition des englischen inhaltliche Anmerkung. Stefanie Arend schreibt ein- Originals. leitend zu dem letztgenannten Artikel: „Gryphius’ Texte sind entstanden in einer ideengeschichtlich Dirk Werle brisanten Umbruchsphase. Sie schließen einerseits an Traditionen an, andererseits weisen sie auf die Universität Heidelberg Moderne voraus“ (S. 682). Das scheint mir eine Germanistisches Seminar wenig spezifische historische Aussage zu sein; kann Hauptstr. 207–209 man das nicht mit Blick auf jeden Zeitraum der D–69117 Heidelberg Neuzeit behaupten?

Nicolas Detering Krise und Kontinent. Die Entstehung der deutschen Europa-Literatur in der Frühen Neuzeit. Böhlau Verlag, Köln u. a. 2017, 628 S.

Im 17. Jahrhundert erlebt der Europa-Begriff eine Textkorpus ist, dass „der Begriff ‚Europa‘ häufig Hochkonjunktur in der Literatur. Genealogien, oder an zentraler Stelle vorkommt“ (S. 48). Solche Meßrelationen, Flugblätter, Reiseführer und poe­ Texte versteht Detering als Europatexte. tische Werke geben sich durch die Verwendung Im Mittelalter und Spätmittelalter verband des Begriffs ,Europa‘ in Titel und Text eine inter- sich der Gemeinschaftsgedanke noch eher mit nationale Note und versuchen so, eine breitere der Christianitas. Diese stand zwar in Beziehung Leserschaft zu gewinnen. Trotz der Expansion zu Europa (etwa wenn es heißt, Europa sei gegen des Europa-Begriffs in den Texten der Frühen die Türken gezogen), dennoch werden Europa Neuzeit beschäftigte sich die literaturwissenschaft- und Christianitas in zeitgenössischen Texten oft liche Frühe Neuzeit-Forschung bisher wenig mit deutlich unterschieden (vgl. S. 64 ff.). Offenbar Europaliteratur – ein Desiderat, das die Studie von wurde Europa eben nicht als rein christliches Nikolas Detering zu schließen versucht. Konzept verstanden. Zwar führte die osmanische Obwohl sich die Studie vor allem auf literarische Bedrohung im 15. und 16. Jahrhundert zu einem Werke konzentrieren will, werden auch Texte wie Anstieg der Europaliteratur, dennoch verzeichnen Meßrelationen und Journale breit behandelt. Die etwa Länderkataloge des 16. und 17. Jahrhunderts Analyse dieser faktualen Texte bildet die Grund- das Osmanische Reich und die Türken meist unter lage für die im Folgenden skizzierte Entwicklung dem Hyperonym Europa. Festzustellen ist, dass der Europaliteratur in den Werken der fiktionalen ein grundsätzlicher Antagonismus zwischen dem Literatur. Wesentliches Auswahlkriterium für den Europaverständnis und dem Osmanischen Reich

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Besprechungen | 209 daher wohl nicht bestanden zu haben scheint. 17. Jahrhunderts die Jetztzeit für die Zeitgenossen Vielmehr bezeichnete ‚Europa‘ in erster Linie die wahrnehmbar macht. Leser von Meßrelationen, Sammlung von Ländern und Staaten, die auf dem Wochenzeitungen und Flugschriften konnten Gebiet des Erdteils angesiedelt waren. durch relativ zeitnahe Berichte aus ganz Europa Der Hauptteil der Studie gliedert sich in drei Zeitgenossenschaft (Contemporaneity, S. 199) Teile: Der erste Teil ist vor allem faktualen Texten empfinden. So verband sich der Europa-Begriff gewidmet, der zweite Teil Europa als Allegorie, der mit einer Vorstellung von Aktualität. dritte Teil Europa-Narrationen. Gemeinsam ist Meßrelationen, Zeitungen und In einer weit angelegten Analyse der Meßrela­ Chroniken, dass sie ein dunkles Bild von Europa tionen, Flugschriften und des Theatrum Euro- zeichnen. Europa leidet unter Krieg und den paeum kann Detering im ersten Teil zeigen, dass Machtspielen der Fürsten. Da der Kontinent vor al- sich mit der Etablierung neuer Printmedien ein lem als Kriegsschauplatz beschrieben wird, erfährt Europabegriff bildete, der bestimmte Länder der Europabegriff eine nachhaltige Pejorisierung. inkludierte und so ‚Europa‘ als Einheitskonzept Der zweite Teil beschäftigt sich vorrangig mit verstehbar machte. Kartographisch wird Europa in Europa als Allegorie in Flugblättern, Dramen einer Art Verschmelzung von Allegorie und Land- und Balletten. Hier erkennt Detering, was in den karte als Königin dargestellt, deren Körperteile aus journalistischen und historiografischen Texten den einzelnen Ländern bestehen; etwa Spanien bereits angelegt ist. Elias Rüdels und Andreas als Kopf, Frankreich als Brust, Böhmen als Herz, Bretschneiders Einblattdruck Europa querula et Ungarn als Rumpf und Russland und Griechen- vulnerata, Paul Flemings Schreiben Vertriebener Fr. land in der Beinpartie (vgl. S. 81 ff.). Germanien und Michael Prauns Liebesneigungen Zunehmend verbreiteten sich im 16. Jahrhun- der Princessin Europa zeichnen einen verheerenden dert Kosmographien, Topographien und Reisebe- Zustand Europas. Teils werden Europa-Allego- schreibungen, was eine Erweiterung des Wissens rien totum pro partibus als geschändete, verletzte, über Europa mit sich brachte. Flugschriften wie der zerstörte Figuren inszeniert, teils beklagen Länder- Hinckende Both und Meßrelationen wie Aitzings Allegorien (etwas Germania) ihren bedauerns- Relation Historica oder Jacob Francus’ Continuatio werten Zustand und ihr schwieriges Verhältnis zu Historicae Relationis warben damit, nicht nur loka- den übrigen europäischen Ländern und zu Europa. le, sondern auch Nachrichten aus ganz Europa zu Dabei nehmen die Texte auf gegenwärtige Nach- enthalten. In ihren Titelformeln verwendeten sie richten und die aktuelle politische Lage Bezug. So Europadiäresen, die europäische Länder aufzählen bildet sich ein Repertoire an Tropen, das die Ent- und so dazu beitragen, den Europa-Begriff inhalt- wicklung der weiteren Europaliteratur nachhaltig lich zu umreißen (etwa „Vnparteiische Beschrei- beeinflusst. Gleichzeitig können Schriften wie bung / von allen sachen waß gedenckwürdiges Rüdels Europa querula und Prauns Princessin Euro- vnd seltzames sich […] in Franckreich / Engelland pa als Gegenentwurf verstanden werden. Europa / Frießland / Hoch vnd Nieder Teutschland / wie querula zeigt die Hoffnung auf Frieden bei einer auch in Dennemarck / Vngern / Böhmen / Polen – eher utopisch zu verstehenden – Einigung der / Spanien / Jtalien / vnd sonst in den mehren deutschen Fürsten. Princessin Europa entwickelt theil von Europa“1 zugetragen haben). Allerdings gar den Entwurf einer europäischen Föderation, beanspruchen diese Europadiäresen keineswegs freilich in utopischer Fiktion. Vollständigkeit, sondern zählen vorwiegend Anhand der detaillierten Analyse von Europa- Länder auf, aus denen in der jeweiligen Ausgabe und Länderallegorien in Dramen (etwa Japeta berichtet wird. Der Rezipient kann so an aktu- von Harsdörffer, Von der erlösten Germania von ellen Ereignissen in ganz Europa teilhaben. Die Johannes Riemer, Das durch den Frieden erfreuete Meßrelationen entwerfen auf dieses Weise „ein Europa von Johann Ernst Müller), Balletten und eindrückliches europäisches Nachrichtenpanora- der Verspanegyrik von Benjamin Neukirch, ma, in dem sich Zeit und Raum auf erfolgreiche Ernst Gottfried Spener, Christian Friedrich Weise verbinden“ (S. 119). Mit Bezug auf Achim Hunold und Johann Christoph Gottsched kann Landwehrs Geburt der Gegenwart2 konstatiert De- Detering zeigen, dass aufeinander folgend der tering, dass die sich entwickelnde Publizistik des Zustand des Heiligen Römischen Reichs, das

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Hegemonialstreben Spaniens, das expandierende Technik gezeichnet. Die Idee von Europa als Ort Osmanische Reich und die Politik Louis XIV. moderner Entwicklung setzte sich insofern fort, von Frankreich als Bedrohung für Europa wahr- als dass Europa in der Frühaufklärung, auch genommen wurden. im direkten Vergleich zu anderen Kontinenten, Insgesamt erfährt der Europa-Begriff um 1700 als einzigartig begnadeter Raum für die Ent- eine Erweiterung, so dass Europa nicht mehr wicklung von Architektur, Mode, Kulinarik, nur mit der Jetzt-Zeit verbunden wird, sondern Wissenschaft und Technik verstanden wird, zugleich mit einer Fortschritts-Vorstellung. Der etwa in Faßmanns Reisender Chineser. Diesen Aufstieg Preußens und die zivilisatorische Ent- Prozess nennt Detering „Kulturalisierung des wicklung Russlands werden in Bezug zur gesamt- Europadenkens“ (S. 464): Der Europabegriff europäischen Entwicklung gesetzt und erweitern erfährt in den Texten der Frühaufklärung durch so die Idee von Europa. die Konzentration auf gemeinsame kulturelle Der dritte große Teil behandelt schließlich Traditionen im Vergleich mit nicht-europäischen narrative Texte. Unter Anwendung von Lützelers Kulturen eine Aufwertung. Begriff der ,Kontinentalisierung‘3 auf die Frühe Insgesamt zeigt Deterings Studie auf einer Neuzeit zeigt Detering, wie sich in Abgrenzung breiten Grundlage, wie sich der Europa-Begriff zu nicht-europäischen Kulturen die Vorstellung in der Literatur der Frühen Neuzeit etabliert und eines multinationalen, doch gleichgearteten transformiert. Journalistische Konzepte prägen die Europas manifestiert. Als Beleg zieht er vor allem frühneuzeitliche Erzählliteratur, umgekehrt prägt die Europa-Absage in der Continuatio des Sim- die Erzählliteratur aber auch den frühneuzeitlichen plicissimus sowie Werner Happels unvollendete Europa-Diskurs mit. Indem Detering sowohl jour- Erdteil-Pentalogie Mundus mirabilis und dessen nalistische als auch literarische Quellen zugrunde- Europaerzählungen heran. legt und die jeweiligen Medien reflektiert, kann Der als Einsiedler auf einer Insel lebende Sim- von einer Mediengeschichte des frühneuzeitlichen plicius erteilt Kapitän Cornelissen eine Absage, als Europa-Diskurses gesprochen werden. Damit dieser ihn mit nach Europa nehmen will. Dabei leistet die Studien einen bedeutenden Beitrag zur bedient sich Simplicius zunächst traditioneller Europa-Forschung insgesamt. Topoi der Weltabsage (Falschheit, Betrug, Eifer, Sorgen, Geiz, Zorn, Neid usw.), bezieht diese dann aber ausdrücklich auf Europa: Aus der Weltabsage Anmerkungen wird eine Europaabsage. Ähnlich verfahren das 1 Jacob Francus [Anon. Übers.]: Historicæ Relationis Höllenkonzil zu Beginn der Continuatio und die Compelementum. [Frankfurt a. M.] 1591. Rotes-Meer-Episode. Auch Happels Europa-Ro- 2 Vgl. Achim Landwehr: Geburt der Gegenwart. Eine mane entwerfen ein kritisches Bild von Europa, Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert. Frankfurt beziehen sich aber mehr auf tatsächliche politische a. M. 2014. Ereignisse, die Journalen entnommen und litera- 3 Vgl. Paul Michael Lützeler: Kontinentalisierung. rische verarbeitet sind. Das Europa der Schriftsteller. Bielefeld 2007. (Fiktionale) Reiseberichte und Utopien wie Erasmus Franciscis Sitten-Spiegel oder Faßmanns Michael Beck Reisender Chineser sehen asiatische und ame- Universität Rostock rikanische Völker im Vergleich mit Europa in Philosophische Fakultät einer Art natürlichem Urzustand. Darüber wird Institut für Germanistik Europa ambivalent als dekadent, aber auch als Kröpeliner Straße 57 Ort moderner Entwicklung im Bereich der D–18055 Rostock Architektur, Mode, Kulinarik, Wissenschaft und

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Stephanie Arend Glückseligkeit. Geschichte einer Faszination der Aufklärung. Von Aristoteles bis Lessing. Wallstein Verlag, Göttingen 2019, 324 S.

In der Einleitung zu ihrer „Geschichte der Glückse- mit leitmotivischem Blick auf die Frage „wie redet ligkeit“ (S. 11) erklärt Stephanie Arend das Wort oder schreibt man über Glückseligkeit?“ Arend „Glückseligkeit“ für „heute fast vergessen“ (S. 9), stellt die These auf, „daß die Menschen selbst das da es etwas Unwahrscheinliches, „Subjektives“, Wort ‚glückselig‘ nicht leichtfertig verwenden“ „Sublimes“ und „Unbegreifliches“ bezeichne. (S. 34). Dass solche Konzepte wenig geeignet seien in Das Kapitel beschließen zwei Dialoge Sene- einer „durchökonomisierten“ (S. 9) Massenkultur, cas, die ein Musterbild dialektischen Verfahrens erinnert an Schillers bereits 1795 geäußerte Dia- zwischen philosophischer Abhandlung und gnose „der Nutzen ist das grosse Idol der Zeit“.1 poetischem Erzähltext bilden: Vom glückseligen In kritischen Begriffsgeschichten von Reinhard Leben und Über die Standhaftigkeit des Weisen. Koselleck (1979) bis zur Laura Anna Macor (2013) Aus Arends Sicht kann Vom glückseligen Leben als erstaunt es immer wieder, wie wenig Achtung ein eine Antwort auf die von Aristoteles gestellte Frage zentraler Begriff wie die ,Glückseligkeit‘ erfährt, nach der Sprache der Glückseligkeit gelten. Statt was von Arend ausführlich beschrieben wird der theoretischen Schreibart Aristoteles’ verwendet (S. 14 f.). Ganz anders verhielt es sich mit dem Seneca die rhetorische Stimme eines „Redelehrers“, omnipräsenten Eudämoniekonzept der Antike, „um von seiner Philosophie zu überzeugen“ (S. 44). das auf einer besonderen Beziehung zu den Schick­ Arends Darstellung von Senecas Dialog Über die salsgöttern beruhte. Auch im Nachlebenskonzept Standhaftigkeit des Weisen etabliert auch zwei der des Christentums stand eine „vollumfängliche Grundthemen des Buches, nämlich das Problem Glückseligkeit“ im Mittelpunkt. Schließlich mach- des kaum erreichbaren Prinzips der Glückseligkeit ten die in zahlreichen und „voluminösen“ (S. 9) und die Frage nach denjenigen, die in die seltene Schriften neuer Wissenskulturen dargebotenen Lage gelangen, sie zu erreichen. Senecas Weiser Kenntnisse die Spätaufklärung zum „Zeitalter erscheint als einer, der dazu begabt ist, durch seine der Glückseligkeit“ (S. 12). Der Einleitung folgen „inneren Stärke“ und Harmonie alles gleichmütig sieben weitere Kapitel mit jeweiligem Fokus auf zu ertragen, wodurch er „die Grenze zum Göttli­ einem foucaultischen „Diskursivitätsbegründer“ chen berühren“ kann (S. 55–56). Dieser Weise (S. 12) und dessen Wirkungskreisen (III. Hobbes, wird, wie Arend bemerkt, „für die Aufklärer eine S. 65–86, IV. Shaftesbury, S. 87–176, V Thoma- Herausforderung darstellen“ (S. 56). Als besonders sius, 177–226, VI. Wolff, S. 227–248, VII. La erhellend erweist sich das Kapitel in Hinblick auf Mettrie, S. 249–276, VIII. Lessing, S. 277–306). den Zusammenhang zwischen antiker Eudämonie Im zweiten Kapitel stellt Arend Aristoteles’ und christlicher Scholastik, dem im Schlussteil Nikomachischer Ethik (ca. 330 v. Chr.) als ersten am Beispiel von Aristoteles’ Nikomachischer Ethik systematischen Versuch vor, den Sinn eines tu- und Thomas von Aquins christlich orientierten gendhaften bzw. glückseligen Lebens zu erklären. Glückseligkeit-Theorien in seiner Schrift Über die Dass Aristoteles viele Lücken in seiner Theorie Glückseligkeit (De beatitudine) nachgegangen wird. ließ, ist seiner praktischen Vorgehensweise zu- Im dritten Kapitel stellt Arend den an­ zuschreiben, die Arend Platons theoretischer thropologisch-antithetischen Ansatz in Hobbes’ Denkweise gegenüberstellt. Die Anknüpfungs- Leviathan (1651) als Grundlegungstext der punkte zwischen antiker Eudämonie und christ- aufklärerischen Glückseligkeitsdebatte vor. Er- licher Scholastik untersucht sie im zweiten Teil neut wird hier das für Arend zentrale Thema der des Kapitels dahingehend, dass Letztere das Sprache der Glückseligkeit angesprochen. Schon Übermenschliche und kaum begreifliche Element Hobbes bezeichnete die Sprache der antiken an der Eudämonie der Nikomachischen Ethik zu Denker im Munde von christlichen Eudämonis- vereinnahmen versucht habe. Hier werden die ten als „Kauderwelsch“ (S. 68), die auch Kant aus Anfänge der Glückseligkeitsphilosophie dargelegt, ausführlicheren moral-philosophischen Gründen

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 212 | Besprechungen später 1785 in Grundlegung einer Metaphysik der ein Modell für die metaphorischen Repräsentanten Sitten „Pfuscherei“ nennen wird. Hobbes’ Polemik des Naturgesetzes im späten 18. Jahrhundert. gegen den Missbrauch der Sprache der antiken Die letzten drei Kapitel bauen auf der Vorarbeit Eudämonisten durch die christlichen Scholastiker der vorangehenden Kapitel auf. Im fünften Kapitel untermauert Arends Kritik an der Undeutlich- zu Christian Thomasius knüpft Arend wieder an keit der Sprache der Glückseligkeit. Arend hebt das historische Problem des Vermögens an, über Hobbes’ dialektische Methode hervor, die eine die Glückseligkeit mit philosophischer Klarheit zu genauere Begriffssprache anstrebe, liege doch der reden. Arend demonstriert, dass Thomasius’ Von Schwerpunkt von Hobbes Glückseligkeitstheorie denen Mängeln der Aristotelischen Ethic (1688) ein auf dem Vermögen, „in Zukunft das Gefühl der ähnliches „Argumentationsmuster“ wie das von Zufriedenheit genießen zu können“ (S. 80). Dies Hobbes’ Leviathan aufweist, indem Thomasius erscheint Hobbes viel wahrscheinlicher als ein die Unverfügbarkeit des Glückseligkeitsbegriffs kaum begreifbares oder gar unerreichbares Kon- in der Tat als etwas auffasst, was „[h]andgreiflich“ zept der Glückseligkeit. sei (S. 182). Durch die Untersuchung der Schrift In Kapitel IV, dem für die moderne Glückse­ Einleitung zur Sittenlehre (1692) verfolgt Arend ligkeitstheorie wohl wichtigsten Untersuchungs- einen zweiten Faden, nämlich wie die Glückse­ abschnitt und daher mit rund 90 Seiten längsten ligkeitstheorien des Zusammenlebens und der Kapitel, werden Shaftesburys Die Moralisten Liebe zum Mitmenschen sich in den Schriften ausführlich besprochen. Shaftesburys literari- von Hobbes und Shaftesbury aneinanderreihen. scher und philosophischer Aufsatz schlägt eine Im sechsten Kapitel zu Christian Wolff unter- Brücke zwischen den alten Texten, die Arends streicht Arend ein wiederkehrendes Thema im Buch einleiten, und den modernen Texten, die es Bezug auf den Glückseligkeitsdiskurs, d. h. den beschließen. Er erschien erstmals 1704 und dann dialektischen Wechsel zwischen philosophisch erneut in seinem Sammelband Characteristicks of systematischen Abhandlungen und philosophisch Men, Manners, Opinions, Times (1711), aus dem poetischen Kunstwerken, die versuchen, das die resonantesten Glückseligkeitstheoretiker des schwer begreifliche Konzept zu versinnbildlichen. späten 18. Jahrhunderts (Iselin, Jefferson, Adams, In diesem Kapitel geht es um Christian Wolffs Schiller) schöpften. Obwohl Shaftesbury anders als präzisen Versuch einer „Wissenschaft der Glückse­ seine Anhänger im späten 18. Jahrhundert nicht in ligkeit“, den er in Vernünfftigen Gedancken Von der die konkrete Politik einsteigt, erwidert er Hobbes’ Menschen Thun und Laßen, Zu Beförderung ihrer Pessimismus mit Optimismus, präsentiert in Glückseligkeit (1720) darlegte. La Metteries Anti- versöhnter Form „Rhapsodie“ und „Unterredung“ Seneca oder das höchste Gut (1750) widmet Arend (S. 92), da Poesie und Philosophie in Diskussionen das siebte Kapitel ihres Buches. Die anfänglich über das Glück zusammengehören, und demons- verbotene Abhandlung fungiert in ihren Augen triert trotz alles Pochens auf die „wahre Religion“ als Vorspiel zu Lessing, da die Empfindlichkeit eine unverkennbare Feindseligkeit gegenüber der und ihre Harmonie mit dem menschlichen Körper religiösen Ideologie. Shaftesburys Denken erweist für La Metterie eine besondere Rolle bezüglich sich für das Denken des späten 18. Jahrhunderts menschlichem Glücksempfindens spielt. Im letzten als ebenso bezeichnend wie seine polarisierte He- Kapitel erreicht Arend mit Lessings Aus einem Ge- rangehensweise an Aberglauben und Philosophie. dichte über die menschliche Glückseligkeit und Miss Dabei besteht Shaftesbury auf der Verbesserung Sara Sampson (1755) eine komplizierte Synthese des irdischen Lebens im Gegensatz zum Glück der vorigen Denker und ihrer Schriften. im Jenseits (S. 140) und geht davon aus, dass der Nicht alles zu einem Thema passt in ein Glaube an das Jenseits den Menschen dazu verleite, Buch, und Arends Richtlinien werden klar be- seine zentrale Mission des Strebens nach Glückse­ schrieben und ausführlich vollzogen. So achtet ligkeit zu vergessen. Trotz des Begriffs der „wahren Arend hier mehr auf die linguistischen Details Religion“ und der Betonung der Vereinbarkeit von des Altgriechischen und Deutschen, während es antiker Philosophie und Christentum (S. 139), die im Englischen bzw. Schottischen der Blütezeit in Shaftesburys Werken wiederholt vorkommen, der modernen „Theory of Happiness“ (Shaftes- liefert das Sinnbild des ‚Wächters‘ des Universums bury, Hutcheson, Ferguson, Smith) – anders als

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Besprechungen | 213 im Deutschen – keinen Unterschied zwischen den Spätaufklärern Kant, Jefferson, Schiller, Glück (happiness: die Erfahrung der unmorali- Robespierre, um nur einige bedeutende post-Les- schen oder moralisch gleichgültigen Freiheit – die sing’sche Diskursivitätsbegründer zu nennen. Ins- happiness eines Bankräubers) und Glückseligkeit gesamt zeigt Arend eine bemerkenswerte Vorsicht (Autonomie oder Freiheit von jedem äußerlichen gegenüber der Schule, die leichtfertig meint, dass oder innerlichen Zwang – die Glückseligkeit Kants wiederholte Kritik an den Eudämonisten eines sterbenden Sokrates oder die Freiheit in der seiner Zeit gleichbedeutend damit sei, dass die Erscheinung von Schillers „Freund, geprüft im Glückseligkeitsphilosophie schon zur Zeit Kants Tod“)2 gibt. Es wäre zu wünschen gewesen, dass (und Humes) überholt gewesen wäre. Weit davon der politische Höhepunkt des „Zeitalter[s] der entfernt. Glückseligkeit“ (S. 12), die Revolutionen in Nord- Abschließend bleibt es, die gesellschafts- und amerika und Frankreich und die Philosophie von bildungskritische Signifikanz einer so wichtigen deren gemeinsamen Zeitgenossen, am Ende doch Begriffsgeschichte wie die dieses Buches zu beto- noch zur Sprache gekommen wäre, zumindest nen, das ironischer Weise bald keiner mehr im re- kurz. Doch Arend hält Wort, „die Aufklärer [die] publikanischen Abendland wird verstehen können, auf je eigene Weise an der Geschichte mitschrei- wenn die Glückseligkeit – die ,,Bestimmung des ben“ und Gestus sowie Ziele, mit denen sie „an Menschen“ des jungen Schiller (NA 20, 11) – nicht dieser partizipieren“ (S. 12 f.), methodologisch wieder neben dem modernen Glücksbegriff in der klar und in einem kohärent zu lesendem Narrativ politischen und bildungspolitischen Tagesordnung vorzustellen, und kurzum die „ästhetisch-rhetori­ ernst genommen wird. sche Faktur“ der Aufklärer durch diejenigen ihrer Vorgänger zu erläutern. Eines der (zahlreichen) großen Verdienste ist die komplexe Darstellung Anmerkungen der Entwicklung der Glückseligkeitstheorie. Die christliche Glückseligkeitstheorie leitete sich recht 1 Friedrich Schiller: Werke. Nationalausgabe, Bd. 21: Philosophische Schriften, Teil II. Unter Mitwirk. unlogisch (da das diesseitige Glück außer Acht v. Helmut Koopmann hrsg. v. Benno von Wiese, gelassen wird) vom antiken griechischen Konzept Weimar 21987, S. 311. Im Folgenden: NA. her, fand in einem dann wieder nachvollziehba- 2 NA, Bd. 1: Gedichte in der Reihenfolge ihres reren Übergang zurück zum Naturgesetz und zu Erscheinens. Hrsg. v. Julius Petersen, Friedrich den vernünftigeren Thesen der Deisten, Atheisten Beißner, Weimar 21992, S. 171. und modernen Republikanern. In erster Linie gelingt es Arend, eine seit langem bestehende Jeffrey L. High, Luke Beller Lücke zu beheben und eine nicht nur desiderate, California State University sondern auch unverzichtbare Begriffsgeschichte Department of Roman, German, Russian zu liefern, die leider dort aufhören muss, wo die German Studies Arbeit der Frühaufklärer in Sachen Glückseligkeit Long Beach, USA endlich moralphilosophische und politische Di- mensionen erreichte: nämlich bei deren Lesern,

Joel Lande Persistence of Folly. On the Origins of German Dramatic Literature. Cornell University Press, Ithaca 2018, 354 S.

Die im Jahr 1737 durch Karoline Neuber auf noch immer nicht ganz zu Ende gedeutet ist, weil einer Leipziger Bühne inszenierte Verbannung des es undokumentiert blieb. Klarheit besteht immer- Harlekins gehört zu den ominöseren Ereignissen hin darüber, dass die Aktion der Konkurrenz der deutschen Literaturgeschichte, das auch darum mit dem populären Harlekin-Darsteller Joseph

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Ferdinand Müller entsprang, wie etwa bei Daniela Problemlagen kennt und eingehend reflektiert, die Weiss-Schletterer oder Bärbel Rudin nachzulesen Existenz ihres Untersuchungsgegenstands aber ist.1 Was aber stand dabei ästhetisch auf dem Spiel? nichtsdestoweniger souverän behauptet. Ihr Vorge- Welche theatralische Welt wurde damit bekämpft, hen scheint zunächst paradox: nämlich close reading. und wie wirkte sich dieser Kampf auf die deutsche Schließlich haben die englischen Komödianten im Komödie aus? Bei dem Versuch, die theatralische 17. Jahrhundert trotz alledem ganze fünf Bände von Arbeit der Wanderbühne in die Geschichte der Komödien publiziert – faszinierendes Material, das deutschen Literatur einzuschreiben, sieht sich von Manfred Brauneck wieder herausgegeben wur- die Forschung mit systematischen Problemen de, bislang jedoch leider weitgehend unter dem Ra- konfrontiert: So war die Publikation von Texten dar der Literaturgeschichtsschreibung geblieben ist.2 für die auf musikalische und tänzerische Einla- Am Gegenstand dieser Lektüren gewinnt Lande ein gen spezialisierten englischen Komödianten und Verständnis dafür, wie sich die ästhetischen Praxis ihre Nachfolger zweitrangig, unter Umständen der komischen Person des 17. Jahrhunderts zu einer ökonomisch sogar kontraproduktiv. Zwischen Text stabilen literarischen Form ausprägt hat, und unter und Performance klafft bei der Wanderbühne also der Voraussetzung dieser Formanalyse kann Lande noch ein Abgrund, und dies hat sich analytisch auf die in der Forschung existierenden Problemlagen im Auseinanderfallen von Theatergeschichte und erfrischend klare Antworten geben: Mit den mora- Dramenanalyse niedergeschlagen. Ihre Stoffe lie- lisch funktionalisierten Narren des Fastnachtsspiels hen sich die Komödianten zudem von den renom- habe die komische Person der in Deutschland tou- mierten Autoren des elisabethanischen Theaters, renden englischen Truppen nichts mehr zu tun, vom die sie bis zur Unkenntlichkeit deformierten. Die clown des elisabethanischen Theater unterscheidet dabei entstandenen Spieltexte scheinen nurmehr sie sich aber ebenfalls fundamental, nicht zuletzt Spuren der eigentlichen Aufführung aufzuwei- deshalb, weil die Sprachbarriere die Schauspieler zu sen, und sie können kaum Originalitätsanspruch permanenten performativen Innovationen nötigte. erheben. Schwierigkeiten bereitet aber auch die Und ebenso klar unterscheidet Lande seinen Gegen- Tatsache, dass es sich bei den „Englischen Komödi- stand von der commedia dell’arte und dem Erfolg anten“ des 17. Jahrhunderts zunächst nicht um eine ihres Harlekins insbesondere in höfischen Kreisen, genuine Angelegenheit der deutschen Literatur ungeachtet dessen, dass Hanswurst und Harlekin zu zu handeln scheint, zumal der Import sowohl der Beginn des 18. Jahrhunderts weitgehend synonym commedia dell’arte als auch des elisabethanischen als Bezeichnung der komischen Figur verwendet Theaters verglichen mit den Ursprungskontexten wurden (S. 97). in deutscher Sprache auf den ersten Blick keine Landes zentrale literaturhistorische These geht Produkte von gleichwertigem Rang gezeitigt hat. aber über die synthetische Kraft dieser Formana- Hinzu kommt die Vielgestaltigkeit der komischen lyse hinaus: Die komische Figur der deutschen Figur: Sind Hanswurst und Harlekin im 18. Jahr- Literatur sei, so Lande, im 18. Jahrhundert eben hundert dieselben, und wer ist ihnen gegenüber nicht von der Theaterbühne verschwunden. Ihre der Pickelhering des 17. Jahrhunderts? Wie also diversen Transformationen hätten im Gegenteil lässt sich die Existenz eines einzigen ästhetischen Entscheidendes zur Etablierung eines literarischen Prinzips nachweisen, wenn die komische Figur in Dramas in deutscher Sprache beigetragen. Diese der Schauspielpraxis von unterschiedlichen Ak- Argumentation entfaltet sich folgendermaßen: teuren doch immer wieder neu erfunden, mit der Im alles entscheidenden ersten Kapitel The Fool individuellen Signatur des jeweiligen Schauspie- at Play: Comic Practice and the Strolling Players lers versehen wurde und unendlich viele Namen handelt Lande nicht nur die komplexen Voraus- kannte? Kein Wunder also, dass der fool in diesem setzungen und epistemischen Hindernisse zur Er- Sinne, als komische Figur der modernen deutschen forschung der Figur ab, sondern er analysiert auch Literatur, noch kaum erforscht wurde – seine eine Reihe der von den Komödianten publizierten literarische Existenz könnte mit guten Gründen Stücke und charakterisiert dabei die ästhetische angezweifelt werden. Logik der sie beherrschenden komischen Figur, die Nun ist es Joel Landes Studie The Persiten- insbesondere in ihrer liminalen Position und der ce of Folly hoch anzurechnen, dass sie all diese fluiden Transgression der zwei kommunikativen

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Achsen (intern/extern: Dialog auf der Bühne und autochthoner Traditionen u. a. durch Herder und mit dem Publikum) sowie in der spezifischen Flögel kann sich Lande in Teil IV, The Vitality of Temporalität (Punktualität, Episodizität, Extem- Folly in Goethe’s Faust and Kleist’s Jug, schließlich poralität) ihres komischen Spiels bestehe. Teil II, der bis dato auffallend knapp ausfallenden Dra- Fabricating Comedy and The Fate of the Fool in menanalyse widmen. In diesen Lektüren erweist the Age of Reform, zeichnet dann die Verbannung sich dann der von der Studie erzielte Erkenntnis- des Harlekins im Kontext des Gottsched’schen gewinn, denn die zuvor profund aufgefächerte Reformprogramms und seiner hygienischen Logik Geschichte und Formcharakteristik der komischen („hygenic logic“, S. 140) nach. Lande versteht die Bühnenperson schärft den Blick für die Funktion Verbannung des Harlekins als Ursprungsmythos des Komischen in der Analyse der beiden kano- der deutschen Literatur, die seit Gottsched als nischen Dramen erheblich. Mephistopheles im Resultat einer Feedbackschleife von regelmäßiger Faust und Adam im Zerbrochenen Krug, die Lande Autorschaft und regulierender Kritik konzipiert zielsicher als Reinkarnationen der lustigen Person worden sei. Zentrales Argument ist hierbei, dass ausmacht, teilen mit dieser nicht nur ihre mondäne der Ausschluss der Narrenfigur überhaupt erst Orientierung an der Befriedigung sinnlichen Be- die Einheit der Gattung Komödie ermöglicht gehrens, sondern insbesondere formal ihre liminale habe. Die komische Figur bedrohte Lande zufolge Position im dramatischen Figurenensemble, die allerdings nicht nur die generische Ordnung und, doppelte Adressierung von anderen Figuren und wie zu erwarten wäre, die moralischen Absich- Publikum gleichermaßen sowie die Position der ten der Reformbühne, sondern seine spezifische heimlichen Regieführung. Beide Dramen erweisen Temporalität habe auch die Notwendigkeit der sich zudem ohne große Mühe als Zwittergebilde syntagmatischen Kontinuität der komödiantischen zwischen Tragödie/Komödie. Dass der Narr oder Narrative sabotiert. Dass die Disziplinierung das Närrische – verstanden nicht als Charakter, des komischen Spiels nämlich auch für die auf sondern als ästhetisches Prinzip – selbst in der Finalität abstellenden Handlungskonzeptionen deutschen Klassik noch das Salz in der Suppe oder der Frühaufklärung wesentlich war, zeigt sich – wie es bei Gryphius heißt – die Bratwurst auf besonders markant bei der Analyse von Johann dem Sauerkraut ist, hat Lande damit eindrucksvoll Elias Schlegels Der geschäftige Müßiggänger (1741). demonstriert. Bereits hier wird deutlich, dass der Narr nicht Für die Rettung der komischen Person liegt einfach verschwunden ist, sondern durch die in seiner Nobilitierung durch Goethe und Kleist Beschränktheit und Belehrbarkeit des Menschen indes auch ein Problem: Mit den Schlusskapiteln insgesamt ersetzt wurde: Der Narr wird zu der wird zwar der Untertitel der Studie, On the Ori- jeder Komödienfigur innewohnenden Fehlbarkeit. gins of German Dramatic Literature, eingelöst. Teil III, Life, Theater, and the Restoration of the Während der Beitrag des Narren zur Entwick- Fool, zeigt schließlich, dass die Verbannung der lung der deutschen Literatur am Ende der Studie komischen Person nie wirklich vollständig voll- sichtbar geworden ist, haben die dabei erbrachten zogen wurde, sondern im Gegenteil vom Gegen- Verluste jedoch wieder an Kontur verloren. Die stand der ästhetischen Disziplinierung zu ihrem teleologische Zuspitzung auf die global bedeut- Agenten umfunktionalisiert werden konnte, und samen Dramen um 1800 verbannt die historische zwar insbesondere im Kontext der entstehenden Vielfalt der lustigen Person und ihrer ästhetischen Polizeiwissenschaft. Dies zeigt Lande etwa am Praxis in Landes Studie schließlich auch wieder Beispiel von Justus Mösers vieldiskutierter Schrift dorthin, woraus sie eigentlich befreit werden soll- Harlekin, oder Vertheidigung des Groteske=Komi- te: in die Position des Supplements, ins exotische schen (1761), die ihre Sprengkraft als Kombination Abseits der Literaturgeschichte. rhetorischen und polizeilichen Wissens entfaltet Schwerer dürfte indes ein anderer Einwand habe. Vermittelt über Lessings umfassende Re- wiegen. Wenn Lande im dritten Kapitel an einer evaluierung des Komischen, die Entdeckung der eindrucksvollen Fülle von Material die Funktion Komödie als privilegierter Agentin für die Dar- des Narren und seines Spiels für die von der histo- stellung der konkret-materiellen Welt und damit rischen Polizeiwissenschaft propagierte Steigerung auch für die Revitalisierung nationalkulturell der Arbeitsproduktivität diagnostiziert, so wäre

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 216 | Besprechungen anzumerken, dass dieser ökonomische Kontext der es vermeidet, dass die existierenden epochalen bereits zur Geburtsstunde der modernen komi- Zäsuren in einer Zensur der historiografischen schen Figur gehört. Diese betritt – etwa als Jahn Reflexion resultieren, ist Lande eindrucksvoll Posset in den Stücken Jakob Ayrers – die Bühne gelungen. In Erinnerung gerufen ist damit die um 1600 eben nicht, wie Lande behauptet, als fundamentale Funktion der Dialektik von Komik „comic servant“ (S. 55), sondern als freier Arbeiter, und Komödie für die nicht selten als allzu ernst der mit seinem Arbeitgeber einen Arbeitsvertrag verschriene deutsche Literatur. aushandelt. Dass der Pickelhering im 17. Jahr- hundert nicht nur Anhänger, sondern auch viele Feinde hatte, liegt ursächlich daran, dass er die Anmerkungen damit einhergehende ökonomisch-soziale Ent- bindung repräsentiert. Anregungen hätte hierfür 1 Daniela Schletterer: Die Verbannung des Harlekin die insbesondere von Rudolf Münz vertretene – programmatischer Akt oder komödiantische In- apokryphe Linie der Theatergeschichte liefern vektive? In: Frühneuzeit-Info 8 (1997), S. 161–169; können.3 Dass Lande die Fabel der Komödien Bärbel Rudin: Venedig im Norden oder: Harlekin und damit auch die ökonomische Dimension der und die Buffonisten. Die Hochfürstl. Braunschw. Figur weitgehend marginalisiert, ist wohl ein wohl Lüneb. Wolffenbüttelschen Teutschen Hof-Acteurs kaum vermeidbarer Effekt der gut begründeten (1727–1732). Reichenbach i. V. 2000. Form-Konzentration seiner Studie. An ihr mag 2 Manfred Brauneck, Alfred Noe (Hrsg.): Spieltexte der Wanderbühne. 5 Bde. Berlin u. a. 1970–1999. es ebenso liegen, dass die subversive Rolle, die 3 Rudolf Münz: Das „andere“ Theater. Studien über der Narr gegenüber Geschlechterordnungen ein- ein deutschsprachiges teatro dell´arte der Lessing- nimmt, wie u. a. die Arbeiten von M. A. Katritzky zeit. Berlin 1979. gezeigt haben, unerwähnt bleibt.4 4 M. A. Katritzky: Women, Medicine and Theatre Das Projekt und Verdienst von Persistence of 1500–1750: Literary Mountebanks and Performing Folly besteht aber nicht in der allumfassenden Quacks, Aldershot u. a. 2007. Darstellung der modernen Komödiengeschichte, sondern in der Behauptung eines sehr spezifischen Roman Widder Gegenstands in seiner genuinen ästhetischen Qua- Humboldt-Universität zu Berlin lität sowie in der Darstellung seiner historischen Sprach- und literaturwissenschaftliche Fakultät Beharrlichkeit. Die umstrittene Geschichte der Institut für deutsche Literatur komischen Figur des 17. und 18. Jahrhunderts in D–10099 Berlin einem konsistenten Zusammenhang zu erzählen,

Friedrich Vollhardt Gotthold Ephraim Lessing. Epoche und Werk. Wallstein Verlag, Göttingen 2018, 490 S., 12 Abb.

Nicht wenige Leserinnen und Leser werden sich das grundlegende, bei Metzler erschienene Lessing die Frage stellen, ob Friedrich Vollhardts fast Handbuch von Monika Fick, das seit 2016 in der 500 Seiten umfassende Lessing-Werkbiographie vierten Auflage vorliegt.2 Erwähnt werden muss mehr als eine Liebesmühe ist. Schließlich stehen aber in erster Linie die umfassende Lessing-Bio- bereits zahl- wie hilfreiche Arbeiten zur Verfügung, graphie von Hugh Barr Nisbet. Sie wurde 2008 die je nach konkretem Rezipientenbedürfnis bei C. H. Beck publiziert3 und zurecht vom Ver- vorbildlich über Lessings Werk, Leben und Zeit lag als „Die erste große Lessing-Biographie seit informieren. Das gilt für die kleine Lessing-Bio- fast 100 Jahren“ beworben. Sie ist ausgesprochen graphie, die Vollhardt selbst erst 2016 in der zuverlässig und umfangreich. Warum also eine Beck’schen Reihe vorgelegt hat1 ebenso wie für zweite Lessing-Biographie?

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In gewisser Weise wirft Vollhardt selbst diese keine psychologisierenden oder gar altväterlich an- Frage auf, wenn er einleitend Nisbets Buch als mutenden Wertungen vornimmt. Bei Nisbet erfahren „Ereignis“ bezeichnet, seine Stärken nennt und wir etwa: „Lessings Vater war ein Mann von großer sogar erklärt, dass dessen Gliederung auch die Ernsthaftigkeit und festen moralischen Überzeugu- seiner Werkbiographie „angeregt“ (S. 15) habe. ngen, geradezu und herrisch im Umgang. […] Sein Zudem hat Nisbets Werk zumindest für philo- größter Fehler war seine Entscheidung, vielleicht logische Puristen einen Vorteil: Er zitiert nach unter dem Einfluß von finanziellen Erwägungen der zwar deutlich in die Jahre gekommenen, aber […], die 1717 an ihn ergangene Aufforderung immer noch einzigen historisch-kritischen Aus- anzunehmen, als Prediger und Katechet in seine gabe von Karl Lachmann und Franz Munker, Heimatstadt Kamenz zurückzukehren.“4 Vollhardt während Vollhardt die Edition Wilfried Barners beurteilt hingegen nicht die Rückkehr von Lessings im Deutschen Klassikerverlag zugrunde legt, die Vater nach Kamenz, wo dann sein Sohn Gotthold bekanntlich modernisiert ist. Ephraim geboren werden sollte. Er rekonstruiert viel- Vollhardt breitet Lessings Leben deutlich mehr ausführlich den ideengeschichtlichen – und das kompakter (knapp 500 S.) aus als Nisbet (gut heißt zuvörderst: den theologischen – Kontext, der 1000 S.). Das führt – das sei vorweggenommen Johann Gottfried Lessing während seines Studiums in – zu größerer Konzentration und dazu, dass Wittenberg geprägt hat. Er stellt dessen Dissertation, Vollhardt insgesamt seine Leserinnen und Leser eine Verteidigungsschrift der Reformation, vor, nennt mehr fordert. Auch finden sich bei ihm seltener ihre impliziten und expliziten Gegner sowie ihre argu- essayistische Passagen, während Nisbet wieder- mentative Abhängigkeit von Valentin Ernst Löscher. holt Lessings Texte zum Ausgangspunkt nimmt, En passant hält Vollhardt zudem fest, dass Johann um generellere Fragen zu thematisieren – so etwa Gottfried Lessing seine Dissertation selbst verfasst im Kapitel zum Nathan, in dem er ergänzend die hat (vgl. S. 28), was letztlich mindestens ebenso viel Wirkungsgeschichte des ‚dramatischen Gedichts‘ besagt wie die Analyse ihres Inhalts. Vollhardt charak- skizziert und darüber reflektiert, wie der Holocaust terisiert Lessings Vater also durch dessen Dissertation. die Rezeption des Stücks bis heute beeinflusst. Wo Nisbet auf Breite setzt, die Mutter vorstellt Solche Exkurse finden sich bei Vollhardt nicht. und die Bedeutung von Kamenz innerhalb der Allerdings heißt das nicht, dass seine Lessing- Oberlausitz sowie Sachsens insgesamt skizziert, Studie die Gegenwart nicht im Blick hat: „Für setzt Vollhardt auf die Rekonstruktion von theo- unseren noch auf längere Zeit vom 11. Septem- logischen Fragestellungen und Positionen. Zwar ber 2001 geprägten Alltag hält das von Nathan hat er in der Einleitung Nisbet höflich attestiert, erzählte Märchen keine Rezepte bereit, was von eine „biographie intellectuelle“ (S. 15) vorgelegt Lessings Hoffnung auf Versöhnung, formuliert in zu haben. Doch verglichen mit dessen Studie ist einer ästhetisch komplexen Form, auch nicht zu er- es Vollhardts Lessing, für den diese Bezeichnung warten ist; dennoch ist der Text wichtig geblieben wirklich überzeugt. in seiner, es lässt sich nicht besser sagen, ‚hilflosen Manch eine Leserin, manch ein Leser mag sich Souveränität‘ (Overath).“ (S. 19) daran stören, dass durch diese Darstellungsweise Diese Feststellung liefert in nuce das Programm, die Männer um Lessing weit umfassender zu Wort dem Vollhardts Lessing-Werkbiographie verpflichtet kommen als die ohnehin nicht besonders zahl- ist. Der Münchener Ordinarius lässt keine Zweifel reichen Frauen. Bei Nisbet wird das fast schon aufkommen, dass Lessings Werke selbstverständlich romantisch anmutende Verhältnis Lessings zu Er- auch in der Gegenwart von substantieller Bedeutung nestine Reiske zu Beginn der Wolfenbütteler Zeit sind. Nur hat die Beschäftigung mit ihnen immer ausführlich geschildert und gedeutet, Vollhardt wieder zu leichten, vermeintlich gut konsumierbaren verliert dazu einen halben Satz. Seine Werkbiogra- Antworten (‚Rezepten‘) geführt, obwohl Lessings lite- phie ist entschieden auf die ideengeschichtlichen rarische Texte deutlich komplexer und facettenreicher Diskurse fokussiert, während Nisbets Buch um ein sind, als das vielfach ihre Deutungen, etwa in der umfassendes Bild bemüht ist, dabei aber wieder- Schule oder auf dem Gegenwartstheater, nahelegen. holt im Vergleich zu Vollhardt just die Themen nur Daraus folgt im Hinblick auf die Darstellung streift, die aktuell von besonderem Interesse sind zunächst, dass Vollhardt im Unterschied zu Nisbet – wie eben Religion und Toleranz.

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Einleitend erklärt Vollhardt zunächst einen hat selbstverständlich die Entwicklungen der planen sozialhistorischen Ansatz, der in erster Linie Aufklärungsforschung deutlich vor Augen nach gesellschaftlichem Status und Stand fragt, (schließlich hat er in den letzten Jahrzehnten für überholt. Dass der in der Forschung längst selbst entschieden dazu beigetragen). Das ausdifferenziert, ergänzt und revidiert wurde, ist konkretisiert sich maßgeblich etwa im Kapitel zweifellos richtig, und manche Fachkollegen mögen III über Lessings frühes Schriftstellertum in sich wundern, was diese Volte bezwecken soll. Doch der zweiten Hälfte der 1750er Jahre: Voll- angesichts des Umstands, dass Lessing eben kein hardt präzisiert ‚bürgerlich‘ hier eben nicht als Autor allein fürs Fachpublikum, sondern weiter- Oppositionsbegriff zu ‚adelig‘, sondern durch hin eine der kanonischen Instanzen der deutschen einen prägnanten Rekurs auf Pufendorfs De Literaturgeschichte ist, die – wie erwähnt – immer officio hominis et civis (1673) und damit auf die wieder zu schlichter Vereinnahmung und flachen Pflichten und den Status des Bürgers innerhalb Interpretationen einlädt, ist der Hinweis auf den des Staates, wodurch zugleich das innovative Stand der Forschung von großer Bedeutung. So Potential von Miß Sara Sampson zwar keineswegs wird offenbar im Schulunterricht weiterhin ein geschmälert, aber eben entschieden kontextua- Lessing-Bild propagiert, das die Entwicklungen lisiert wird. der Forschung gar nicht oder lediglich rudimentär Mit der Relation „Individualität und Au- zur Kenntnis nimmt und bevorzugt schlichte, ver- torschaft“ nimmt er sozial- und wirkungsge- meintlich sozialhistorisch-kritische Interpretationen schichtliche Impulse der 1970er Jahre sowie etwa von Emilia Galotti vermittelt, die zu Beginn jüngere werkpolitische auf und bezieht sie des Studiums mit Candide’schem Selbstbewusst- konkret und ausgesprochen anschaulich auf sein reproduziert werden. Und auf dem Theater Lessings Schreiben sowie seine Schreibstrate- wird die literarische Komplexität von Lessings gien. Auf diese Weise kann im selben Kapitel Stücken vielfach missachtet und mit dem kalten, III der Abschnitt zu Lessings Faust-Fragment ironischen Lächeln des Regietheaters entsorgt. Vor und dem 17. Literaturbrief ausführlicher ge- diesem Hintergrund sind die klaren Feststellungen raten als etwa der ihm vorausgehende zu Miß und Positionierungen Vollhardts zu Beginn als ent- Sara Sampson oder der ihm nachfolgende schiedener Widerspruch gegen eine Lessing-Exegese zum Briefwechsel über das Trauerspiel. Präzise zu begreifen, die sich den Aufklärer mundgerecht zeigt Vollhardt hier, wie Lessing den Faust- zubereitet und damit gerade sein kritisches Poten- stoff konkret in Auseinandersetzung mit der tial nivelliert. So klar und prägnant wie Vollhardt zeitgenössischen Philosophie und Theologie positioniert sich die Literaturwissenschaft viel zu gestaltet und profiliert damit das individuelle selten. Schon allein deswegen sind dieser Lessing- Schriftstellertum des Aufklärers. Monographie aufmerksame Leserinnen und Leser Die Relationen sind damit nicht nur aus sich auch jenseits der Universitäten zu wünschen. heraus je ungemein schlüssig. Vollhardt zeigt Um diese differenzierte Darstellung insbeson- überzeugend, wie sie sich immer wieder entschie- dere von Lessings Werk zu erreichen, geht Voll- den bedingen und miteinander in Verbindung ste- hardt von drei substantiellen, erkenntnisleitenden hen. Seine Werkbiographie Lessings ist also nicht Begriffspaaren aus, die er „Relationen“ (S. 11) nur für alle Leserinnen und Leser ein Gewinn, die nennt. Zentral sind zunächst – und das überrascht eine aktuelle, ausgesprochen kluge und – im Sinne angesichts seiner bisherigen Forschungen nicht Lessings – ‚witzige‘ Biographie lesen wollen. Sie – „Natur und Recht“. Hinzu tritt zweitens die für kann sogar allen zur Lektüre empfohlen werden, die Gegenwart, wie bereits dargelegt, mutmaßlich die schon Nisbets monumentale Biographie mit aktuellste Relation, die von „Aufklärung und großem Gewinn gelesen haben. Religion“. Ergänzt werden beide zur Profilierung von Lessings Schriftstellertum drittens durch „Individualität und Autorschaft“. Anmerkungen Die drei Relationen führen zugleich vor, was den Reiz und den fundamentalen Mehr- 1 Friedrich Vollhardt: Gotthold Ephraim Lessing. wert der Werkbiographie ausmacht. Vollhardt München 2016.

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2 Monika Fick: Lessing Handbuch. Leben – Werk Kai Bremer – Wirkung. Stuttgart 42016. Universität Osnabrück 3 Hugh Barr Nisbet: Lessing. Eine Biographie. Forschungszentrum Institut für München 2008. Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit 4 Hugh Barr Nisbet: Lessing. Eine Biographie. Neuer Graben 19/21 München 2008, S. 21. D–49074 Osnabrück

Helmut Koopmann Schiller und die Folgen. J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2016, 157 S. Die ‚Folgen‘-Reihe, J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2016–2018, 13 Bde.

Die Personen-Handbücher des Metzler Ver- Nicht unerheblich unterscheiden sich die lages sind bekannt, von der Fachwelt vielfach einzelnen Studien in der Umsetzung des gerühmt – und ebenso oft kritisch beäugt. Der Grundkonzepts, und das nicht nur qualitativ: Interessierte findet in ihnen erste und meist Jeder Verfasser setzt andere Schwerpunkte bei auch weiterführende Informationen zu „Leben Biographie, Werk und Wirkung. In ihrer je – Werk – Wirkung“, so der Untertitel der Auto- eigenen Weise gewähren fast alle Darstellungen ren-Handbücher, und gewinnt einen Überblick einen lesenswerten ersten Zugang zu Autor und über die wichtigsten Forschungspositionen. Werk. Nicht immer gleichermaßen gehaltvoll Die Qualität der Bände wie auch der einzelnen sind die dargelegten ‚Folgen‘. Aufzählungen, Beiträge dieser oftmals in Sammelband-Manier wer sich in welcher Form zur betreffenden verfertigten Publikationen variiert zwar erheb- ‚großen Persönlichkeit‘ geäußert hat, werden lich, doch tut dies ihrer Beliebtheit keinen Ab- schnell langatmig und tendieren zum Boulevar- bruch, denn: Eine im Allgemeinen zuverlässige desken.2 Inhaltliche Wiederholungen auf engem Adresse für den Einstieg sind sie allemal, zudem Raum beeinträchtigen das Lesevergnügen eben- schnell zur Hand, und somit dann auch eine falls.3 Im Großen und Ganzen kommen die sichere Einnahmequelle für den Verlag. einzelnen Studien aber dem Versprechen des Ein ähnliches Konzept liegt der seit 2016 Verlages einer „[l]ebendige[n] Geistesgeschich- ebenfalls bei Metzler erscheinenden und auch als te“4 nach, wobei ihre Lebendigkeit immer auch E-Book verfügbaren Reihe „… und die Folgen“ ein Stück weit der vorgegebenen komprimierten zugrunde. Auf 140–200 Seiten werden, so wirbt Zusammenführung von Werk und Autor zu der Verlag, „[g]roße Persönlichkeiten und deren verdanken ist. Folgen aus heutiger Sicht“1 präsentiert. Platon, Noch eine grundsätzliche Anmerkung zu Leibniz, Schiller, Hölderlin, Kleist, Schopen- einem Werbeversprechen des Verlages und seiner hauer, Heine, Marx, Nietzsche, Kafka, Jünger, Umsetzung: Geworben wird mit einem einfa- Brecht, Arendt – das sind die Größen der Geis- chen Zugriff auf die Großen der Literatur- und teswelt, die es bisher in das Verlagsprogramm Philosophiegeschichte und ihr voraussetzungs- geschafft haben. Der Großteil der Monographien reiches Werk, „[g]ut lesbar“ und zudem: „ohne stellt zunächst einen Autor und sein Werk vor, Fußnoten“5. – Ob da nicht jemand sein Publikum bevor in einem gleichgewichtigen zweiten Teil unterschätzt? – Unter den Verfassern zumindest näher auf ‚die Folgen‘ seines Schaffens ein- finden sich nicht wenige illustre Namen aus der gegangen wird: auf die Rezeption von Werk Geisteswissenschaft, denen es augenscheinlich und Autor im In- und Ausland, den Einfluss nicht immer leichtgefallen ist, dem Wunsch auf andere Autoren und ihr Denken, aber auch des Verlages nach einem Text ‚ohne Fußnoten‘ auf die politische Instrumentalisierung oder die in einer den Leser zufriedenstellenden Weise kulturelle Inanspruchnahme des Autors. Genüge zu tun. Denn ‚ohne Fußnoten‘ heißt

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 220 | Besprechungen ganz offensichtlich nicht ‚ohne Zitate‘, und Aufstand gegen Staat und Obrigkeit geprobt zitiert wird viel – und vielfach ohne Nachweis.6 wurde“ (S. 24). Der Werbestrategie des Verlages haben sich aber Familienkonstellationen, Aufklärung, Revolu- einige, leider nicht alle Autoren widersetzt, wenn tion, Freiheit und Selbstbestimmung, Fortschritts- sie zumindest Zitate aus den Werkausgaben und glauben – die zentralen Fragen, die Schiller mal bisweilen sogar aus der Forschungsliteratur mit mehr, mal weniger, jedoch zunehmend pessimis- Siglen im Fließtext nachgewiesen haben.7 tischer in seinem Werk behandelt, werden von Wie ärgerlich der nachlässige Umgang mit Koopmann nicht nur anhand der Dramen, son- Quellen und Forschung sein kann, fällt bei der im dern auch am Beispiel von Schillers theoretischen Übrigen gelungenen Studie von Helmut Koop- Schriften, seiner Geschichts- und seiner Kunst- mann zu Schiller auf, die neben den Darstellungen philosophie erörtert. Mit Leichtigkeit werden zu Hölderlin (Rüdiger Görner) und Heine (Joseph Werkgenese und Schillers Weltsicht in Beziehung A. Kruse) den Auftakt der Reihe bildet.8 Nicht zu seinem Leben wie zu der politischen Situation nur die genauen Fundstellen der vielen Schiller- entwickelt, die Französische Revolution als Leit- zitate, sondern auch die Namen der Autoren der motiv herausgearbeitet. Auch in dieser Arbeit fehlt im Ansatz referierten Forschungspositionen, die die Freundschaft mit Goethe nicht, genauso wenig er oftmals zur Rahmung seiner eigenen Interpre- wie eine Bewertung des Schiller’schen Schaffens tation bzw. der von ihm bevorzugten Lesart eines und seines Beitrags zur Weimarer Klassik. Wie Werks entwickelt,9 würde der Leser gern erfahren. Koopmann es vermag, die verschiedenen Stränge Konzeptionell weiß Koopmann Werkdarstellung zu verbinden und immer wieder literarhistorisch und Interpretation gekonnt zu verbinden, ver- zu verorten, ohne in Wiederholungen oder unange- schiedene Lesarten und die Vielschichtigkeit des messene Vereinfachungen zu verfallen, ist bemer- Schiller’schen Œuvres darzustellen. kenswert und trägt dann auch zum Verständnis des Eingebettet sind die Ausführungen zu Werk Schiller-Kults bzw. der Schiller-Rezeption bei, der und (literaturwissenschaftlicher) Rezeption in sich der zweite Teil der Studie widmet. die Erzählung von Schillers Leben. Der Anfang Die Geschichte der Rezeption Schillers ist auch der Schiller-Studie weist bereits auf das Ende, und in erster Linie eine der Instrumentalisierung. das vorläufige zumindest, voraus: Schillers Tod Sein Werk, genauer: seine Sprache bietet sich hierzu und seine geradezu kultische Verehrung, schon an: „Es war nicht der skeptische, desillusionierte, zu Lebzeiten. Wie der Schiller-Kult zu erklären fatalistische Schiller, der weiterlebte, sondern vor sei, fragt Koopmann dann auch vorab mit Blick allem der Schiller der Sprichworte, der Sentenzen, auf ‚die Folgen‘, den zweiten Teil des Bandes. der überall verwendbaren Zitate, die, wenn auch Die ersten 80 Seiten widmet er der Beantwor- aus dem Zusammenhang gerissen, dennoch einen tung dieser Frage: Schillers Herkunft, seine Zeit Sinn ergaben, der sogleich einleuchtete. Seine an der Karlsschule sowie seine ersten ‚Schreib- Sprache war klar und ohne Weitschweifigkeiten, versuche‘ in Briefen werden beschrieben und und es waren oft Lebenseinsichten, die hier, jeder- die Bedeutung dieser prägenden Jahre für das mann verständlich, in ein oder zwei Verse gepackt Werk aufgezeigt. Die entscheidenden Themen worden waren.“ (S. 85) Dem Bürgertum des 19. kommen bereits in seinem ersten großen Erfolg, Jahrhunderts wurde hier die gesuchte Orientierung den Räubern (1781), zum Zug: Emanzipation geboten und sein Bedürfnis „nach einer handlichen des Ich (vgl. S. 22), Vater-Sohn-Konflikt und und leicht faßlichen Ethik, nach Vorbildern, die „Angriff auf die Familienideologie des 18. Jahr- das eigene Handeln steuern konnten, nach sym- hunderts“ (S. 23), die Frage nach der Herkunft bolischen Szenen“ (S. 88) gestillt. des Bösen (vgl. S. 23) und, natürlich, „Auf- Auch politisch wurde Schiller vielfach ver- bruch“ (S. 20) und „Rebellion“ (S. 22). Nicht einnahmt, was Koopmann detailliert schildert. als Drama der Aufklärung will Koopmann das Hatte sich zur Schiller-Feier 1859 vorwiegend Stück gelesen wissen, sondern als Beginn ihres das Bürgertum versammelt, um mit Schiller die Endes und als „Verlangen nach revolutionärer Hoffnung auf ein einheitliches Deutschland Veränderung“ (S. 24). Als solches kam es dann zu beschwören, belebten die Sozialdemokraten auch „immer wieder auf die Bühnen, wenn der zu Schillers 100. Todestag den „Mythos vom

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Geschichtsoptimisten, vom Menschheitsbeglücker, Stelle trat und was Kleist aus Schillers Werken vom Freiheitshelden.“ (S. 114) 1934 folgten die machte, darüber geben Tom Kindt und Klaus Nationalsozialisten mit einer „Reichsschillerwo- Müller-Salget in weiteren lesenswerten Bänden che“ in Weimar, Schiller wurde zum Revolutionär der Reihe „… und die Folgen“ Auskunft.10 der Nazis erklärt. Seine „Freiheitsideen und Kampfvorstellungen […], Opfergedanken und Treuegelöbnisse“ (S. 143) und insbesondere die Anmerkungen Schiller-Nationalfeiern im 19. Jahrhundert mach- ten es den Nationalsozialisten leicht, ihn für ihre 1 So die Verlagswerbung auf der Webseite; , zuletzt: 19.8.2019. Vor allem waren Schillers Dramen leicht in den 2 Etwa in der Arbeit von Helmut Koopmann: Schiller und die Folgen. Stuttgart 2016. Dienst einer völkischen, nationalen Theaterpolitik 3 Vgl. z. B. Robert Zimmer: Schopenhauer und die einzubringen, und von Schillers Vorstellung von Folgen. Stuttgart 2018, S. 12/ 33, 11/ 34. der Schaubühne als einer ‚moralischen Anstalt‘ 4 , zuletzt: 19.8.2019. Anstalt‘, als ‚nationalpolitischer Erziehungsanstalt‘ 5 , zuletzt: nalbühne, aus seiner Zeit völlig verständlich und 19.8.2019. unpolitisch gedacht, verband sich scheinbar bruch- 6 So z. B. bei Rüdiger Görner: Hölderlin und die los mit den Forderungen der Nationalsozialisten Folgen. Stuttgart 2016; Koopmann (wie Anm. 2); nach einem deutschen Nationaltheater – im NS- Joseph A. Kruse: Heine und die Folgen. Stuttgart 2016; Niels Penke: Jünger und die Folgen. Stuttgart Verständnis.“ (S. 143) Dass die Vereinnahmung 2018; Jana V. Schmidt: Arendt und die Folgen. Schillers dann doch nicht von Dauer sein konnte, Stuttgart 2018; oder auch Robert Zimmer: Schopen- zeigen, wie Koopmann hervorhebt, die Beispiele hauer und die Folgen. Stuttgart 2018. Weder die des Don Karlos und des Wilhelm Tell. Letzterer Zitate aus den Quellen noch die aus der Forschungs- wurde, nachdem er zunächst über Jahre gefeiert literatur werden bei ihnen belegt. worden war, 1943 schließlich verboten. 7 Vgl. u. a. Dieter Lamping: Kafka und die Folgen. Bekanntlich haben Schiller und sein Werk Stuttgart 2017; Klaus Müller-Salget: Kleist und die auch die literarische Welt nicht wenig beschäftigt Folgen. Stuttgart 2017; Tom Kindt: Brecht und die und beeinflusst. Eichendorff kritisierte „Selbst- Folgen. Stuttgart 2018 oder Jörg Zimmer: Leibniz herrlichkeit“ und „Lebensferne“ (S. 94), die und die Folgen. Stuttgart 2018. 8 Koopmann (wie Anm. 2); Görner (wie Anm. 6); Jungdeutschen attestierten Schiller „Gegen- Kruse (wie Anm. 6). wartsverweigerung“ (S. 95) – bei gleichzeitiger 9 Exemplarisch sei auf das Kapitel zu den Räubern Bewunderung für den Autor der Räuber –, verwiesen in Koopmann (wie Anm. 2), S. 19–24. während Hölderlin einem „fast magischen Ein- 10 Vgl. Müller-Salget (wie Anm. 7), Kindt (wie Anm. 7). fluss“ Schillers unterlag, ihn „nahezu grenzen- los[]“ (S. 98) verehrte, und Kleist Schillers Werk intensiv rezipierte, in Teilen übernahm und neu Olga Katharina Schwarz akzentuierte. Auch Büchner, Thomas Mann und Freie Universität Berlin Brecht stehen in der ein oder anderen Weise im Institut für Deutsche und Niederländische ‚Banne‘ Schillers, wenn auch letzterer trotz seiner Philologie großen Liebe zum Don Karlos bekannte, diesen Habelschwerdter Allee 45 „nicht mehr recht ernst nehmen“ (S. 128) zu D–14195 Berlin können. – Was bzw. wer für Brecht an Schillers

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Kaltërina Latifi (Hrsg.) August Wilhelm Schlegel. Hamlet-Manuskript. Kritische Ausgabe. Georg Olms Verlag, Hil- desheim u. a. 2018, 428 S.

August Wilhelm Schlegel zählt zu den editionswis- des Löwit Verlag in einem Band geschenkt bekom- senschaftlich vernachlässigten Schriftstellern der men und sie dann nicht gelesen, weil die kleine deutschen Literaturgeschichte. Die noch von ihm Schrift eine Lupe erfordert hätte.) Doch gerade selbst vorbereitete und von seinem Schüler Eduard der buchhändlerische Erfolg der überall greif- Böcking bewerkstelligte Ausgabe der Sämmtlichen baren Gesamtausgabe dürfte entscheidend dazu Werke in 16 Bänden, 1846/47 in der Weidmann’- beigetragen haben, dass von Seiten der Klassiker- schen Buchhandlung erschienen, ist bis heute die verlage und des Lesepublikums wenig Interesse Grundlage jeder wissenschaftlichen Beschäftigung an einer kritischen Einzeledition von Schlegels mit dem zu Lebzeiten wirkmächtigsten Autor der Shakespeare-Übersetzungen bestand. Umgekehrt deutschen und europäischen Romantik geblieben, setzte sich die bereits von dem Literaturwissen- obwohl sie sich auf eine weitgehend vollständige schaftler Michael Bernay in seiner Habilitations- Sammlung der von Schlegel publizierten Schriften schrift Zur Entstehungsgeschichte des Schlegelschen und eine sorgfältige Dokumentation ihrer unter- Shakespeare (Leipzig 1872) konstatierte Korruption schiedlichen Drucke beschränkt. Damals vorbild- der ursprünglichen Texte Schlegels mit jeder lich, genügt sie den wissenschaftlichen Standards textkritisch ungeprüften und gegebenenfalls re- der heutigen Zeit in keiner Weise mehr. daktionell überarbeiteten, etwa orthographisch Böckings Ausgabe enthält in den Bänden 3 und normalisierten Neuauflage fort. 4 eine Auswahl von Poetischen Übersetzungen und Auch das professionelle Interesse germanisti- Nachbildungen, bemerkenswert genug, weil es belegt, scher Literaturwissenschaftler reichte nicht aus, dass Schlegel diese Arbeiten als integralen Bestand- um eine kritische Edition auf den Weg zu bringen, teil des eigenen dichterischen Werks auffasste. Seine die den heutigen Standards der Editionsphilologie Übersetzungen von 17 Shakespeare-Dramen, die entspräche. Zwar hatte Michael Bernays, rund 20 zwischen 1797 und 1809 in neun Bänden gedruckt Jahre nach seiner erwähnten Habilitationsschrift, worden waren, wurden jedoch in Böckings Ausgabe ab 1891 eine revidierte Ausgabe der Schlegel- nicht berücksichtigt. Abgesehen davon, dass der Tieck-Übersetzung von Shakespeares dramati- Seitenumfang der Shakespeare-Übersetzung die schen Werken vorgelegt, die auf die aus Böckings Dimension der Sämmtlichen Werke gesprengt hätte, Besitz nach Dresden gelangten Handschriften war dafür ausschlaggebend, dass der Verlag Georg von Schlegels Übersetzungen zurückgriff, um als Reimer die 1825 erstmals erschienene Gesamtaus- korrupt bezeichnete Stellen der späteren Drucke gabe von Shakespeares Werken in deutscher Sprache, zu verbessern. Doch auf diese Weise entstand die von Ludwig Tieck, seiner Tochter Dorothea und eine Mischung unterschiedlicher Textstufen und Wolf Graf von Baudissin vervollständigt worden Druckfassungen, die von der heutigen Editions- war, in den Jahren 1838–1841 in einer 2., revidierten wissenschaft als problematische Kontamination Auflage auf den Markt gebracht hatte. zurückgewiesen würde. Das mangelnde edito- Da die sogenannte Schlegel-Tieck-Übersetzung rische Engagement der germanistischen Zunft, von Shakespeares Werken, die schon bald als bei der allgemein die Wertschätzung von August deutscher Klassiker galt, im Laufe des 19. und Wilhelm Schlegel eher gering ausgeprägt war (und 20. Jahrhunderts in zahlreichen Ausgaben immer leider mehrheitlich noch ist), hing im besonderen wieder aufgelegt worden ist, scheint es für die Fall der Shakespeare-Übersetzungen sicherlich heutigen Leserinnen und Leser keine Schwierig- auch damit zusammen, dass sogar meisterhafte keit zu sein, Zugang zu diesem Teil von August Übersetzungen nicht als genuin dichterische Wilhelm Schlegels Œuvre zu bekommen. (Der Schöpfungen galten. Für die Lektüre der Shake- Rezensent hat, diese autobiographische Randbe- speare-Übersetzungen Schlegels waren reine merkung sei erlaubt, zu seinem 17. Geburtstag die Leseausgaben doch gut genug. Und die wenigen Schlegel-Tieck-Übersetzung als wohlfeile Ausgabe Literaturwissenschaftler, die sich tiefer mit Fragen

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Besprechungen | 223 der Shakespeare-Übersetzungen auseinandersetzen In diesem Manuskript findet das statt, was man wollten, konnten ja zusätzlich die Handschriften als Poetisierungsprozess der vorher rein stofflich in der Staats- und Landesbibliothek Dresden stu- angelegten Übersetzungsversuche bezeichnen dieren. Es dauerte nach Bernays nur 55-seitiger könnte, mit anderen Worten: die eigentliche Habilitationsschrift fast ein Jahrhundert, bis mit ‚sprachschöpferische Transformation‘. Zum Ende Peter Gebhardts Buch A. W. Schlegels Shakespeare- erfolgte drittens die für die Druckerei bestimmte Übersetzung. Untersuchungen zu seinem Überset­ Reinschrift.“ (S. 412) zungsverfahren am Beispiel des ‚Hamlet‘ (Göttingen Auf den Bögen des Manuskripts, denen Schle- 1970) eine erste detaillierte Analyse unter Heran- gel durch Faltung des Papiers einen ca. fünf Zenti- ziehung der Dresdner Handschrift veröffentlicht meter breiten Korrekturrand gab, arbeitete er seit wurde. Wieder ein halbes Jahrhundert später ist sie dem 17. Februar 1798 intensiv an der ersten deut- noch immer das einzige Standardwerk zu Schlegels schen Hamlet-Übersetzung in Versform, bis er für Shakespeare-Übersetzungen. die meisten Stellen eine ihn befriedigende Lösung In der letzten Zeit hat sich allerdings die gefunden hatte. Von dem hier erreichten Stand Forschung stärker für das kulturwissenschaftli- weicht die Fassung des Erstdrucks, der verspätet che Paradigma und für interkulturelle Praktiken im Herbst desselben Jahres erschien, nur selten ab. der Übersetzung interessiert. Ob dies vermehrt In Latifis Edition werden sämtliche Seiten zu konkreten Textanalysen von literarischen des Manuskripts als Schwarz-Weiß-Faksimiles in Übersetzungen führen wird, muss sich noch zei- Originalgröße wiedergegeben. Den Abbildungen gen. Möglicherweise wird ein anderer Trend in der der Vorder- und der Rückseiten steht jeweils die Literaturwissenschaft, nämlich der ‚material turn‘ Transkription der Handschrift gegenüber, die, mit seiner Hinwendung zu materiellen Formativen da die Schrift überwiegend sehr gut lesbar und literarischer Praktiken, hier stärkere Impulse ge- trotz der eingefügten Korrekturen klar geordnet ben. Jedenfalls drängt sich diese Forschungsper- ist, mit einem vergleichsweise geringen Aufwand spektive auf, wenn man die jetzt von Kaltërina an textkritischen Zeichen auskommt. Geschulte Latifi vorgelegte Kritische Ausgabe des in Dresden Leserinnen und Leser finden sich nach kurzer aufbewahrten Manuskripts von Schlegels Hamlet- Eingewöhnungszeit leicht zurecht. Die Edition Übersetzung näher betrachtet. Und damit wenden der Handschrift wird durch einen kurzen Bericht wir uns der Besprechung der am Department of der Herausgeberin sowie ein 14-seitiges Nach- German at Queen Mary, University of London wort ergänzt, das sich auf die nötigsten, meist aus entstandenen Edition zu, für deren auch ästhetisch Bernay und Gebhardt entlehnten Informationen gelungene Einrichtung als Buch nicht zuletzt der zur Entstehungsgeschichte von August Wilhelm Olms Verlag ein Lob verdient. Schlegels Hamlet-Übersetzung beschränkt und Man weiß aus den Studien von Bernay und fast völlig auf anders geartete Hinweise oder gar Gebhardt, dass im Falle von 13 der 17 Dramen interpretatorische Ausführungen verzichtet. Mit Shakespeares, die Schlegel übersetzt hat, eine von bemerkenswerter Deutlichkeit weist Latifi immer- ihm selbst stammende Handschrift im Dresdner hin die immer wieder in der Romantik-Forschung Nachlass vorhanden ist. Keine wurde bislang als Verdacht geäußerte – und kürzlich von dem einer Edition gewürdigt. Bei dem nun erstmals Schlegel-Biographen Roger Paulin verschärfte von Latifi herausgegebenen Manuskript handelt − Behauptung zurück, Caroline Schlegel, deren es sich um den vollständigen Text der Ham- Hand da und dort im Manuskript zu erken- let-Übersetzung auf insgesamt 86, vorder- und nen ist, habe einen weit größeren Anteil an der rückseitig beschriebenen Blättern in Quartformat. Übersetzung gehabt, als dies von August Wilhelm Die Herausgeberin nimmt mit Gebhardt an, dass eingeräumt worden sei: „Die wenigen Stellen im es eine Zwischenstufe in einem mehrteiligen Hamlet-Manuskript belegen dies nicht“ (S. 415). Arbeitsprozess darstellt: „Man kann demnach gros- Auch in diesem Punkt beruft sich Latifi allerdings so modo drei Arbeitsschritte festhalten: Die vorab wieder auf die Einschätzungen von Gebhardt. Der entstandenen Übersetzungsentwürfe hat Schlegel Rezensent hätte sich von der Herausgeberin ins- in einem zweiten Schritt innerhalb einer separaten, gesamt mehr Mut gewünscht, aus ihrer genauen der hier edierten Handschrift zusammengeführt. Kenntnis des Materials heraus eigene Positionen

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 224 | Besprechungen zu formulieren und auch einmal eine Verbindung anschaulichen Bild im Deutschen, vielmehr zu aktuellen Forschungsfragen herzustellen. Über zielen sie auf eine rhythmische und lautliche das bereits Genannte hinaus enthält der Band Intensivierung der Verssprache, die zugleich schließlich 42 Dokumente zur Entstehungsge- eine gestische Qualität bekommt. So wird etwa schichte der Hamlet-Übersetzung, meist kurze aus „Denn wer ertrüg’ den Hohn u Trotz der Auszüge aus Briefen von und an August Wilhelm Zeiten“ durch eine Inversion im Satzbau und Schlegel. Substitutionen in der Wortwahl „Denn wer Da also die Edition im Wesentlichen die ertrüg’ der Zeiten Spott und Geißel“. Faksimiles und die Transkription der Hand- Nach diesem Einblick in Schlegels Werkstatt, schrift bietet, werden sich geneigte Leserinnen der die in der Geschichtsschreibung der neueren und Leser darauf konzentrieren, die konkrete deutschen Literatur zur bloßen Leerformel gewor- Übersetzungsarbeit im sprachlichen Material dene Rede von der sprachschöpferischen Qualität zu beobachten. Und dieser Arbeitsprozess, den seiner Shakespeare-Übersetzungen mit der mate- Latifi, wie bereits zitiert, als „sprachschöpferi- riellen Anschauung künstlerischer Arbeit erfüllt, sche Transformation“ bezeichnet, ist faszinie- erscheint eine kritische Edition sämtlicher Shakes- rend genug. Nimmt man den berühmtesten peare-Übertragungen mehr denn je als dringliches Hamlet-Monolog „To be, or not to be, that is Desiderat der Philologie. Dabei käme es freilich the question“ als Beispiel, so kann man in der darauf an, über die Handschriften hinaus auch die Handschrift unter anderem verfolgen, wie Schle- – von Latifi nicht berücksichtigte – Geschichte der gel beim ersten Vers unterschiedliche Varianten unterschiedlichen Drucke mit ihren Abweichun- für die Übersetzung von „that is“ durchspielt gen in die Dokumentation einzubeziehen. („dieses“ statt „das“, „jetzt“ oder „nun“ statt „hier“) und sogar erwägt, die so nahe am Ori- Kai Kauffmann ginal bleibende Version „das ist […] die Frage“ Universität Bielefeld durch „darauf kommt es an“ zu ersetzen. Viele Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft Änderungen erklären sich nicht aus der Suche Universitätsstraße 25 nach einem möglichst genauen Äquivalent für D–33615 Bielefeld einen englischen Ausdruck oder einem ebenso

Ingrid Pepperle (Hrsg.) Georg Herwegh. Werke und Briefe. Kritische und kommentierte Gesamtausgabe. 6 Bde. Hrsg. in Verbindung mit Volker Giel, Heinz Pepperle, Norbert Rothe, Hendrik Stein, Aisthesis Verlag, Bielefeld 2005–2019. Bd. I 884 S., Bd. II 556 S., Bd. III 630 S., Bd. IV 336 S., Bd. V 466 S., Bd. VI 782 S.

Die bisher einzige Edition von Werken Georg Her- Alle Räder stehen still,/ Wenn dein starker Arm weghs stammt aus dem Jahr 1909? Also eine Aus- es will“? gabe, die nicht nur Gedichte beinhaltete, sondern Die vor wenigen Monaten mit dem dritten auch Prosatexte? So ist es in der Tat. Herwegh, der Band abgeschlossene, von Ingrid Pepperle in bekannteste und einflussreichste deutsche Lyriker langjähriger Arbeit herausgegebene sechsbändige der Vormärzzeit, blieb für ewig als Lyriker bekannt Ausgabe von Werken und Briefen unternimmt es, – und ist nun auch als Lyriker zunehmend aus den Autor als Künstler und Publizisten wieder in dem Horizont der Leserschaft geschwunden. Wer Erinnerung zu bringen. Der Abschluss der Edi- weiß heute noch, dass von ihm auch die Zeilen tion bietet den Anlass zu einem Fazit. Man sollte des bekannten Bundeslieds für den Allgemeinen Herwegh literarisch nicht überschätzen – aber Deutschen Arbeiterverein stammen: „Mann der auch nicht unterschätzen. In jedem Fall konnte Arbeit, aufgewacht!/ Und erkenne deine Macht!/ er, pathetisch oder bissig, eingängig dichten. Das

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Besprechungen | 225 trug ihm von Heine, vielleicht nicht ohne Neid All das führt diese Ausgabe vor Augen. Sie vorgebracht, den Beinamen ‚eiserne Lerche‘ ein. stützt sich, wo vorhanden, editorisch vorbildlich, Heine zählte auch ihn zu den Tendenzdichtern, auf Erstdrucke, und zwar ohne orthographische mehr mit Charakter als mit Talent gesegnet. Hatte und andere Anpassungen und Modernisierungen. Herwegh nicht 1841 enthusiastisch skandiert: Und sie dokumentiert Herweghs Schaffen in seiner „Partei! Partei! Wer sollte sie nicht nehmen,/ Die Gesamtbreite: Lyrik (zusätzlich Aphorismen und noch die Mutter aller Siege war“? Und hatte er Xenien), Prosa sowie Briefe (von diesen Briefen nicht zur selben Zeit in einer Xenie – die nun in der sind fast ein Drittel gänzliche Erstpublikationen, vorliegenden Edition erstmals aus dem Nachlass und bisherige Auszüge werden komplett veröffent- veröffentlicht wurde – unter dem Titel Der poli- licht). Insbesondere die kenntnisreichen Kom- tische Dichter konstatiert: „Ich weiß, mein Name mentare machen die Ausgabe zu einem großen wird vergehn. Und doch, ich kann nicht anders Gewinn nicht nur für die Herweghforschung, singen“ (Bd. 2, S. 269)? sondern auch für die Vormärz-, die Exil- und die Die Gedichte eines Lebendigen aus den Jahren Lyrikforschung, um hier die wohl wichtigsten 1841/43, die die oben genannte Eloge auf dich- Schwerpunkte zu nennen. terische Parteinahme enthielten, boten die wohl Pepperles Gesamtausgabe gliedert sich wie erfolgreichste vormärzliche Lyrikpublikation folgt: Der erste Band umfasst die Gedichte eines überhaupt: 7 Auflagen in eineinhalb Jahren mit Lebendigen und die parallellaufende bzw. darauf- vermutlich insgesamt 19.000 Exemplaren. Sie folgende Lyrik bis 1848. Hier möchte der Rezen- begründeten den damaligen Ruhm des Autors. sent den einzigen kleineren Einwand vorbringen: Mit ihrem Pathos von ‚Volk‘ und ‚Freiheit‘ und Zwar wurde klugerweise der Zusammenhangs­ mit ihrer Adelskritik gaben sie unzähligen Nach- charakter der Gedichte eines Lebendigen gewahrt, folgern und Nachahmern ein Skript vor. Das und er ist nicht in einer denkbaren Chronologie war aufrüttelnde Oppositionsliteratur, liberal unveröffentlichter und veröffentlichter Gedichte und demokratisch ausgerichtet, und vielen aufgehoben worden. Aber über die Entstehung die- jungen Dichtern diente Herwegh als Vorbild. ser Gedichtsammlung, etwa über Verlagsverhand- 1848 wurde er zum Republikaner und Gesin- lungen, erfährt man in „Anhang“ einschließlich nungssozialisten. Die Niederlage der Revolution „Apparat“ gar nichts, auch nichts über eventuelle führte ihn, der schon in den 1840er Jahren in Zensurverbote in den verschiedenen deutschen die Schweiz und nach Paris gegangen war, er- Staaten. Auch die in der „Einleitung“ erwähnten neut in die Schweiz und stürzte ihn in eine lang sieben Auflagen innerhalb von eineinhalb Jah- anhaltende Schaffenskrise. Erst in den 1860er ren werden an keiner Stelle nachgewiesen. Hier Jahren wurde er als Dichter wieder reger, ohne scheint sich, zumindest im Kommentarteil, die dass er an seine früheren Erfolge anknüpfen einstige Sammlung doch wieder in Einzelgedichte konnte. Nunmehr verklärte er mitunter das aufzulösen (deren jeweilige Entstehungsgeschichte Proletariat als revolutionäre Kraft und schrieb und Erstdrucke – z. T. in Journalen – ebenso wie 1863 auf Drängen Lassalles das schon erwähnte die späteren Nachdrucke in ‚externen‘ Lyriksamm- Bundeslied über die Macht des ‚Arbeitsmannes‘ lungen überaus sorgfältig nachgewiesen werden). (mit Lassalle verband ihn ein enges Verhältnis, Darüber hinaus hat man sich bei dieser für das mit Marx und Engels stand er auf keinem guten Werk Herweghs zentralen Gedichtausgabe mit der Fuß). Das jedoch blieb ein Einzelerfolg. Eine von kommentierenden Angabe zu begnügen, dass sie in Herwegh, noch mehr aber von seinen Vertrauten zwei Bänden 1841/43 in Zürich und Winterthur betriebene eigenständige neue Gedichtsammlung erschien ist (vgl. Bd. 1, S. 273, 278). Um den Verlag kam zu Lebzeiten nicht mehr zustande. Der ex- zu erfahren, muss man sich als Leser an den Text plizit politische Dichter, dem nunmehr die un- der Gesamtausgabe selbst zurückwenden (der rich- mittelbare öffentliche Resonanz der Vormärzzeit tigerweise auch die Titelblätter der beiden Bände fehlte, betrieb die Arbeit daran letztlich nicht einschließlich dieser Verlagsangabe miterfasst energisch genug. Hinzu kamen Zensurvorbehalte hat). Diese Selbstbeschränkung fällt umso mehr möglicher Verleger, aber auch unrealistische Ho- auf, als in der „Einleitung“ zum zweiten Band norarvorstellungen von Herweghs Seite. durchaus der Entstehungsgeschichte der 1877

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 226 | Besprechungen postum erschienenen zweiten Gedichtsammlung außerhalb dieses Feldes, gegebenenfalls über die Herweghs nachgegangen wird (Bd. 2, S. I–VI). universitäre Ausbildung von Deutschlehrer(innen) Hier zeigt sich ein unterschiedliches Herangehen hinaus? Seine Briefe sind eine Quelle für die Zeit- der jeweiligen Bearbeiter der Bände und eine ge- geschichte, aber kein für sich stehendes literari- wisse Uneinheitlichkeit des Informationsflusses. sches Werk. Und als Erzähler und Dramatiker hat Der zweite Band veröffentlicht die publizierten sich Herwegh (bis auf ein frühes und kurzes Lust- und unpublizierten Gedichte von 1849–1875 (also spielfragment, Bd. 1, S. 266–270) nie versucht, er auch diejenigen, die Herwegh in mehreren ver- wusste um die Begrenztheit seiner künstlerischen geblichen Anläufen selbst in einer eigenständigen Mittel. Liest man aber seine Gedichte nicht als Ausgabe veröffentlichen wollte). Im dritten, 2019 ‚hohe Literatur‘, sondern als Lieder, dann erkennt erschienenen Band ist die die Prosa der Jahre man: Er war ein begnadeter Pop- und Schlagertex- 1833–1848 (vorrangig Literaturkritiken, aber aus ter der Demokratie (später auch der Revolution). dem Jahr 1848 auch politische Publizistik) ver- Manche seiner Gedichte tragen bereits im Titel sammelt. Der vierte Band beinhaltet mit der Prosa das Signalwort „Lied“ und sind fast folgerichtig 1849–1875, die erst vergleichsweise spät in den vertont worden. Sie wurden zu Hits, ergriffen das Fokus der Forschung rückte, vor allem politische Publikum und rüttelten es auf. Herwegh war – Publizistik (Korrespondentenberichte, Stellung- nach dem Ende der ‚Kunstperiode‘ – ein Virtuose nahmen, offene Briefe), aber auch Herweghs Vor- operativer Lyrik, und vor allem wohl das macht worte zu seinen Shakespeare-Übersetzungen. Band seine Bedeutung aus. fünf und sechs enthalten, wiederum sorgfältig und ausführlich kommentiert, die Briefe Herweghs der Olaf Briese Jahre 1832–1848 und 1849–1875. Humboldt-Universität zu Berlin Damit ist insgesamt eine hervorragende Basis Kultur-, Sozial- und Bildungswissenschaftliche für die weitere Forschung gelegt. Nur für die Fakultät Forschung? Natürlich, denn für diesen Bereich Institut für Kulturwissenschaft ist eine „Kritische und kommentierte Gesamt- D–10099 Berlin ausgabe“ gedacht. Was aber bleibt von Herwegh

Philipp Böttcher Gustav Freytag – Konstellationen des Realismus (Deutsche Literatur. Studien und Quellen, Bd. 27). Verlag Walter de Gruyter, Berlin, Boston 2018, 541 S.

Das Untersuchungsgebäude dieser Forschungs- Zusammenhang eingerückt, nämlich den von arbeit ruht auf einem so prall gefüllten Keller- – nicht nur – Freytags ‚Realismus‘. Der wiederum gewölbe aus Fußnoten, wie kaum ein Kaufmann wird in den Zusammenhang der seinerzeitigen des 19. Jahrhunderts die seinen mit Waren hätte Realität und ihrer Realien gestellt. füllen können. Dennoch, um im Feld der vor- Rezeptionsgeschichtlich und feldtheoretisch liegenden Arbeit zu bleiben, ist noch das kleinste nach Bourdieu orientiert, unternimmt es Böttcher, Nägelchen ein Aufhänger für Beweise oder Argu- Freytag und dessen Werk, genauerhin das Lustspiel mente. Philipp Böttcher hat sich in seiner bestens Die Journalisten (1852) und den Roman Soll und lesbaren Studie, je nach Sichtweise, noch einmal Haben (1855), aus den vielfältigen projektiven oder einmal mehr Gustav Freytags angenommen. Zuschreibungen ex post herauszuschälen, um Zu ihm gab es in den letzten Jahren nicht eben in der geradezu minutiösen Rekonstruktion der wenige Beiträge, allerdings allermeist um die Rezeption Freytags in Journalismus und Litera- Frage nach seines und seines Werks Antisemitis- turwissenschaft nicht nur die Gründe für den so mus zentriert. Das spielt unweigerlich auch hier lange anhaltenden, geradezu übermächtigen Erfolg eine Rolle, wird aber in einen viel umfassenderen wie dessen in der jüngeren Zeit weitgehendes

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Verschwinden herauszuarbeiten, sondern darin Rezeptionsvisitationsmuster, sondern schon eine auch seine Bedeutung für den Realismus des 19. zielgerichtete Perspektivierung hin auf die Frage- Jahrhunderts neu zu justieren. Im Zentrum steht stellungen. Zunächst einmal darin vergewissert, dabei die – höchst erfolgreiche – Literaturpolitik dass Freytag sowohl gegen seine „vermeintlichen Freytags (und Julian Schmidts) im Dreieck von Verteidiger“ (S. 23) geschützt als auch kritisch Literatur – Journalismus – und Literaturwissen- angegangen werden muss. Was allerdings auch im- schaft resp. Literaturgeschichtsschreibung. pliziert, seine einschlägigen Figuren „im Rahmen Geradezu detektivisch arbeitet Böttcher heraus, der komplexen Geschichte des kulturell und sozial wie Freytag über das bis heute lehrbuchnotori- begründeten Antisemitismus und Antislawismus sche Dramenschema und dessen Umfeldtexte die seiner Zeit zu betrachten, nicht jedoch bloß als zeitgenössische Diskussion normativ bestimmt, simplifizierter Markstein einer ideologiegeschicht- wie seine Komödie als schlechthin mustergültig lichen Einbahnstraße ‚von Luther über Freytag zu rezipiert und kanonisiert wird, und wie schließlich Hitler‘“ (S. 27). Entsprechend wird die Arbeit in sein Roman zur autoritativen Erfüllung der vom ihrer detaillierteren Argumentation stärker auf die Drama her auf die Prosa übertragenen Kriterien komplexe Anlage der Werke abstellen denn auf die wird, so dass von hierher das Fundament für die penetranten Ideologeme. darin gefeierte bürgerliche Selbsterwartung und Der zunächst kursorische Durchgang durch -erhöhung gelegt ist. Derart wurden seine Figuren, die wesentlichen Positionen der bisherigen Bolz und Adelheid aus den Journalisten, Anton Veröffentlichungen zu Freytag dient Böttcher zu Wohlfart aus Soll und Haben, Ingo und Ingraban einer Kritik an Tendenzen der Literaturwissen- aus Die Ahnen, zu bürgerlich approbierenden role schaft, die Historizität der eigenen Urteilsposition models wie in der Jugendliteratur dann nur noch Old ebenso außer Acht zu lassen wie in einem „auf den Shatterhand und Winnetou. Zwar wurden seine gegenwärtigen Kanon und dessen Maßstäbe ver- resp. der Grenzboten programmatischen Positionen engten“ (S. 49) Blick die wechselvolle Geschichte zur ‚Poesie des Geschäfts‘, ‚Poesie der Arbeit‘ und der Kanonisierung oder Nicht-Kanonisierung ‚Poesie des Prosaischen‘ zeitgenössisch prinzipiell auszublenden. Umso intensiver arbeitet Böttcher kontrovers diskutiert, von Teilen der Kritik oder sich hierzu folgend durch noch die abgelegen­ Kollegen wie Gutzkow, Grillparzer oder Hebbel sten und bislang völlig ignorierten Quellen und vehement abgelehnt, dafür wiederum von anderen Zeugnisse, nicht zuletzt um deren Redundanzen bedingungslos begrüßt. Woran eben die strategische als Beweismittel zu nutzen: „Schon angesichts Trias von Literatur, Journalismus und Literaturge- des quantitativen Ausmaßes wie der qualitativen schichtsschreibung – Julian Schmidt als Cerberus Streuung literarischer Kommunikation in der und Freytag als sein feiner Herr (vgl. die auf S. 369 zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lässt sich bei- abgebildete Karikatur) ihren entscheidenden Anteil nahe für jede beliebige These ein entsprechendes hatte. Derart wurde Freytag als literarischer Mit- rezeptionsgeschichtliches Zeugnis finden. Rezep- telständler (und Mittlerständler1) und Virtuose der tionshistorisch verfahrende Studien sind daher zeitgenössischen Trendformatierung zum Lobsänger m. E. in der Bringschuld, ihre Quellen einzu- des nachmärzlichen Aufstiegsbürgertums und zum ordnen und zentrale Thesen in einem quantitativ Feldbeherrscher, so sehr, dass sich noch lange später aussagekräftigen Maße zu stützen“ (S. 32, Anm. Kollegen wie Raabe oder Storm darüber grämten. 9). Von daher sein Programm, vorwiegend an- Man muss hier einfach daran erinnern, dass die hand der beiden Werke Die Journalisten und Soll Gesamtauflage der Freytag’schen Werke 1925 bei und Haben, die – der These nach – „mit ihrem über zweieinhalb Millionen lag (vgl. S. 15). gegenwartsnahen, optimistischen und humorvoll- versöhnlichen Weltzugriff mustergültig“ (S. 38) I. Was Böttcher eingangs an Beispielen der die Bedürfnisse des nachmärzlichen Bürgertums Rezeption zusammenträgt, offenbart deutlich bedienten, deren komödien- resp. romangeschicht- den unbedingten Jubelwillen gegenüber einer lichen Ort sowie deren Wertungsgeschichte zu re- ‚tätigen‘ Bürgerikone. Doch ist das hier bereits konstruieren und zu historisieren, um daraus über – wie im Folgenden dann systematisch – nicht Zusammenhänge von Text, Kontexten, Program- das üblicherweise solchen Arbeiten vorgelagerte matik und Rezeption „Verbindungen zwischen

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Entstehungszusammenhang, früher Rezeption Breslauer Anzeiger für polizeiliche Nachrichten und und Kanonisierungsgeschichte“ aufzuzeigen, und Lokalangelegenheiten im Dezember 1852: „Die damit die gängigen literarhistorischen Urteile zu ‚Journalisten‘ sind ein polemischer Zeitungsarti- korrigieren (S. 50, vgl. a. S. 40). So gelingt ihm im kel, scharf gepfeffert, dramatisirt und in vier Akte Folgenden tatsächlich, zum einen die Komplexität eingetheilt.“ (zit. n. S. 215). Hier fände man in der des Freytag’schen Werks – freilich abzüglich der Komödie, zumal dieser über den Journalismus, historisierenden Werke wie Die Ahnen oder Bil- und ihrem Verhältnis zur Presse ein deutsches der aus der deutschen Vergangenheit2 – in seinem Pendant zu der von Ethel Matala de Mazza be- Zusammenspiel von vielfältigen literarischen, obachteten Beziehung von Operette und Feuil- publizistischen, paratextuellen, philologisch- leton in Frankreich.3 Die Rezeption in unserer populärwissenschaftlichen Elementen zu zeigen, Zeit hat sich bei der Wahrnehmung des Stücks zum anderen, „epochal charakteristische Kontexte vorwiegend auf die jüdische Figur des Schmock und Konstellationen des Realismus“ (S. 447), zu- kapriziert, vor allem auf jenen Satz: „Ich habe mal in seiner nachmärzlichen Phase, in größerer geschrieben links, und wieder rechts. Ich kann Differenzierung herauszuarbeiten. schreiben nach jeder Richtung.“ (zit. n. S. 266). Böttcher zeigt nun nicht nur, dass dieser Satz aus II. Gustav Freytags Die Journalisten bildete in der dem Zusammenhang gerissen ist,4 sondern ent- Bewertung über viele Jahrzehnte neben Lessings wickelt differenziert die Figur des Schmock als Minna von Barnhelm und Kleists Zerbrochenem „eine moderne Sozialfigur mit jüdischen Wurzeln“ Krug die unangefochtene Trias der besten deut- (S. 265), zumal der Name ursprünglich in ganz an- schen Lustspiele, erhielt und hielt lange den Rang derer, positiverer Konnotation daherkam als in der einer Musterkomödie. Nicht ohne auf die Ironie späteren Ablösung von Freytags Figur zum Typus hinzuweisen, die darin liegt, dass Freytag als Ur- des gesinnungslosen Journalisten (vgl. S. 262 ff.). heber der wohl wirksamsten Tragödientheorie des Schmock ist denn auch bei Freytag mehr denn 19. Jahrhunderts – die noch heute lehrbuchmäßig als jüdisch karikierter Journalist die unglückliche nachwirkt –, kein erfolgreiches Trauerspiel, wohl Figur einer prekären Existenz, des „Pfennigjourna- aber – ohne eine vergleichbare Theorie dazu – eine listen“, „Tintensklaven“ (S. 267) oder Zeilenschrei- Komödie schrieb, der einzig unter seinen Stücken bers. Gleichwohl, so arbeitet Böttcher heraus, ist sie ein außergewöhnlicher Erfolg beschieden war, – auch in wohlwollenderer Sicht – problematisch analysiert Böttcher anhand der Rezeptionsge- angelegt. Deutlich wird im Stück, dass Schmock schichte, wie das Stück bald und vollends durch die anderen Figuren einerseits dauert, dass sie die „sich an der Schnittstelle von Publizistik und ihn andererseits aber als unangenehm möglichst Wissenschaft entwickelnde gegenwartsorientierte umgehend loswerden wollen. Genereller sieht Literaturgeschichtsschreibung der 1880er Jahre“ Böttcher darin einen exemplarischen Zwiespalt (S. 83), in den Status des Musterexemplars erho- des damaligen liberalen Denkens, das einerseits ben wurde. Zusammen mit der vorgeschalteten abstrakt die Judenemanzipation begrüßt, anderer- Rekonstruktion der Komödientheorie um 1850 seits „massive Assimilationsleistungen fordert, die ist dieser Teil der Arbeit, der unbesehen tradierte jüdischen Mitbürger in der eigenen Optik aber in Forschungsmeinungen widerlegt und wesentliche, der Devianz belässt“ (S. 281). Analog, kann man bisher nicht beachtete Quellen hinzufügt, auch hier vorgreifen, die Konstruktion des Veitel Itzig ganz abgesehen vom spezifischen Interesse an in Soll und Haben (vgl. etwa S. 416 f.). Freytag eine Grundlage, an der keine zukünftige Die Figur des Schmock sieht Böttcher zurecht Forschung zur Geschichte der deutschen Komödie auf der Folie der von Freytag kritisierten Agona- vorbeisehen kann. lität der damaligen Parteipresse. Ebenso kritisiert Hier kann die Rekonstruktion in ihrer Dif- Freytag in dem Stück die Problematiken des seiner- ferenziertheit nicht einmal nur ansatzweise zeitigen Wahlrechts (vgl. S. 142 ff.) Freytag verteilt nachgezeichnet werden, vielmehr soll nur ein durchaus seine Sympathien an die Liberalen, ohne bezeichnender Aspekt hervorgehoben werden, sich explizit parteilich gegen den Konservatismus die Beziehung zum Journalismus nicht nur im zu stellen (vgl. S. 166 f.). „Tatsächlich liegt die Inhalt, sondern auch in der Form. So schrieb der Aufmerksamkeit des Textes nicht auf der Frage,

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Besprechungen | 229 worum die politischen Kontrahenten streiten, einer erweiternden, feldtheoretischen Perspektive sondern darauf, wie sie dabei agieren.“ (S. 167) Für [S. 423 ff.]). Freytag ist die Presse idealerweise Mittlerinstanz Verkürzt lief das so: In der bis dato geradezu zwischen Volk und Politik (vgl. S. 250) – und als dilemmatischen Diskussion um Poesie und Prosa einen ebensolchen Mittler sieht er sich selbst. Er etablieren die beiden den Roman als gelungene idealisiert – im Gegensatz zum seinerzeit kommu- Versöhnung, indem er sowohl die bürgerliche nen, insbesondere konservativen (Vor-)Urteil – den Lebenswelt poetisiere als auch den Prosa-Roman Journalistenberuf, indem er im Stück zwischen in der Gattungshierarchie endgültig aufwerte. guten und schlechten Vertretern des Standes unter- Das führt zum einen über die Referenz auf Goe- scheidet. Insbesondere in der positiven Figur des thes Wilhelm Meister, indem Schmidt Goethe Bolz entwirft er die „Verkörperung eines modernen zunächst, etwa gegenüber den Romantikern, Journalisten“ (S. 233), als die dieser denn auch lobend erhebt, um ihm dann ein entscheidendes zeitgenössisch wahrgenommen wurde. Der von Defizit zu attestieren, nämlich, dass einzig der den Zeitgenossen durchaus als Journalist gesehene Adel an der Poesie des Lebens teilhabe, während Freytag integriert so seinesgleichen in seine Stra- das Bürgertum, „das wichtigste Moment des tegie der allseitigen Verbürgerlichung. Böttcher deutschen Volkslebens“, fehle, denn Werner sei findet dazu eine sehr schöne Pointe: In den Ahnen lediglich ein „armseliges Zerrbild“ (zit. n. S. 376). wird der jüngste Nachfahre des Vandalenkönigs Wiewohl, das ist eine von Böttchers vielen klugen Ingo ein liberaler Journalist sein (vgl. S. 257). Beobachtungen, gerade dadurch hinterrücks Goe- thes Roman als normbildend etabliert wird (vgl. III. Mit den hier erprobten bürgerlichen Idealisie- S. 389). Hier punktet denn also Soll und Haben auf rungs- und Versöhnungsqualitäten des – journalis- der ganzen Linie – und sticht zugleich die beiden tischen, feuilletonistischen – Humors geht Freytag härtesten Konkurrenten, Immermanns Epigonen an sein ehrgeizigeres Projekt der Poetisierung des und Gutzkows Ritter vom Geiste aus (vgl. etwa bürgerlichen Alltags und zugleich Nobilitierung S. 378). Zum anderen elaboriert man das Verhältnis des Romans in der Nachfolge von Goethes Wil- zur führenden Dorfgeschichte, der man die Rolle helm Meister und dessen Überbietung. Für diesen einer Übergangsstufe zuschrieb (vgl. S. 321). Den Humor hatte er in der Technik des Dramas die Knoten schürzte man dann über die Referenz Devise ausgegeben: „Grundlage des Humors ist die auf das Drama und damit auf das von Freytag unbeschränkte Freiheit eines reichen Gemüthes, etablierte Schema. welches seine überlegene Kraft an den Gestalten Schon die Formel vom „Bau des Romans“ refe- seiner Umgebung mit spielender Laune erweist.“ riert auf das Dramen-Modell. Die Forderung nach (zit. n. S. 409). der strengen kompositorischen Geschlossenheit des Die zeitgenössische Rezeption führte ihn gera- Romans gehören Einheit, strenge Konsequenz und dewegs zu den Weihen eines ‚realistischen Mus- Gesetzmäßigkeit, wodurch dem Leser – so Freytag terromans‘, Vorzeigestück des programmatischen programmatisch in seiner Rezension zu Willibald Grenzboten-Realismus. Böttcher liest ihn als einen Alexis 1854 – „das behagliche Gefühl der Sicher- Roman, der als Zeit-, Bildungs- und Gesellschafts- heit und Freiheit“ (zit. n. S. 338) entstehe. Eine roman „auf eine sich in dieser Phase stark aus- schöne Pointe – deren ironische Übererfüllung der differenzierende Sozialwelt referiert“ (S. 289) und Reverenz an Freytag man jedoch nicht außer Acht – mit Hugh Ridley5 – als einen, der ausführlich lassen sollte – ist Theodor Fontanes Rezension von Habitus-Formen der verschiedenen Klassen be- 1855, der Soll und Haben gleich gar „die innige schreibt. Trotz dieser Voraussetzungen kommt Verschmelzung dreier Dramen“ attestiert, nicht der Ruf des Romans damals nicht von ungefähr, weniger als „zwei Tragödien und ein Schauspiel“ sondern ist das literaturstrategisch erfolgreiche (zit. n. 337). Projekt der beiden Grenzboten-Dioskuren Freytag Aus der nachfolgenden, detaillierten, zugleich und Schmidt, deren Zusammenspiel Böttcher immer an Aspekten der Rezeption entlangführen- hier erstmals umfassend herausarbeitet. (In einem den Analyse des Romans sei selbst nur noch ein letzten Kapitel reflektiert Böttcher denn auch auf Detail hervorgehoben, das einen Aspekt der Rea- dieser Folie noch einmal den Grenzboten-Streit in lismus-Forschung, der hier weniger zur Geltung

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 230 | Besprechungen kommt, nämlich die Rolle von Fakten6 oder diese Weise der geschichts- und erinnerungspoliti- Realien, und zu einer erneuerten Überlegung zum schen Werke angenommen hat. Denn damit hätte Verhältnis von typisierendem und faktographi- ein Werk vorgelegen, das zum gesamten Schaffen schem (oder parabolischem und exemplarischen) Gustav Freytags kaum noch Wünsche offenließe. Realismus führen könnte: das der unterschied- 3 Vgl. Ethel Matala de Mazza: Der populäre Pakt. Verhandlungen der Moderne zwischen Operette lichen Lektüren des Romanpersonals, durch die und Feuilleton. Frankfurt a. M. 2018. Vgl. dazu die einzelnen Figuren jeweils signifiziert werden a. meine Rezension in: ZfGerm NF, 29. Jg. (2019), und im didaktischen Effekt Leihbibliotheken H. 3, S. 647–651. und Zeitschriftenliteratur gegenüber der von 4 Auch der Rezensent hat sich dessen schuldig gemacht. Freytag geforderten bürgerlichen Hausbibliothek Vgl. Erhard Schütz: „…das Brandmal unsrer neuen abgewertet werden (vgl. S. 418). Zwar liest Anton Welt“. Literarische Reflexe zum Journal im 19. Jahr- Wohlfart notgedrungen noch Cooper und Scott, hundert, nebst ein paar vorherigen Bemerkungen zur ist nun aber für die Zukunft für Soll und Haben Zeit danach. In: G. Berg, M. Gronau, M. Pilz (Hrsg.): bereit. So denn der letzte Satz des Romans: „Das Zwischen Literatur und Journalistik. Generische alte Buch seines Lebens ist zu Ende“, fortan öffnet Formen in Periodika des 18. bis 21. Jahrhunderts. Heidelberg 2017, S. 211–239, hier S. 220. sich für ihn das „Geheimbuch“, „fortan ‚mit Gott‘ 5 Hugh Ridley. Zwischen Anstand und Ästhetik: Zu verzeichnet: sein neues Soll und Haben“. sozialen und literarischen Codes in Gustav Freytags ‚Soll und Haben‘. In: ZfGerm NF, 11. Jg. (2001), H. 1, S. 105–116. Anmerkungen 6 Vgl. Bernd W. Seiler: Die leidigen Tatsachen. Von den Grenzen der Wahrscheinlichkeit in der deut- 1 Dies gerade auch hinsichtlich der beiden kontrover- schen Literatur seit dem 18. Jahrhundert. Stuttgart sen Positionen zur medialen Situation der Literatur 1983. Vgl. zu Freytag, allerdings zu Bilder aus der damals, nämlich jene, die die Publikationsvoraus- deutschen Vergangenheit, S. 128. setzungen autonomieästhetisch als vor allem Korsett für die Autoren betrachteten und jener medien- Erhard Schütz systemtheoretischen, die die Texte aus der internen Humboldt-Universität zu Berlin Logik der verfügbaren Medien liest (vgl. bes. S. 344). Sprach- und literaturwissenschaftliche Fakultät 2 Zwar ist es unbillig angesichts der vorliegenden immensen Arbeit, aber man bedauert angesichts Institut für deutsche Literatur Böttchers akribischen und zugleich luziden Er- D–10099 Berlin schließungen doch, dass er sich nicht auch noch auf

Alexander Honold Die Tugenden und die Laster. Gottfried Kellers ‚Die Leute von Seldwyla‘. Schwabe Verlag, Berlin 2018, 398 S.

Obgleich Alexander Honolds Monografie Die „quasi-mythische[n]“ Erinnerungsorts genießt Tugenden und die Laster bereits ein Jahr vor dem (S. 9). Die außergewöhnlich weite Zeitspanne zwi- Jubiläum von Gottfried Kellers 200. Geburtstag schen der Publikation der ersten und zweiten, um erschienen ist, kann sie doch als Einladung zur fünf weitere Texte ergänzten Ausgabe 1856 und Re-Lektüre von Kellers Werk verstanden werden. 1873/4 disponiert die Leute von Seldwyla zudem, Nicht nur konzentriert sich die Studie mit den auch für die Romanpoetik aufschlussreichen form- Leuten von Seldwyla auf einen schon zu Lebzeiten und wissensgeschichtlichen Kontinuitäten und des Autors äußerst populären Novellenzyklus, der Brüchen in Kellers Werk nachzugehen. Honolds bekanntlich mit Romeo und Julia auf dem Lande Untersuchung richtet ihr Hauptaugenmerk auf das oder Kleider machen Leute hochgradig kanonisierte Themenfeld der Gattungstheorie der Novelle und Texte enthält und darüber hinaus zumindest im der literarischen Ökonomik. Insofern nimmt er kollektiven Gedächtnis der Schweiz den Rang eines Die Leute von Seldwyla als Vorboten einer ‚Literatur

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Besprechungen | 231 der Arbeitswelt‘ und als ‚Fallgeschichten‘ zur Er- und narratologische Aspekte richten. Dabei ist es kundung des wirtschaftlichen Liberalismus in der zweifellos als Verdienst der Studie anzusehen, neben zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Blick. den kanonisierten und häufig auch in der Forschung Das qua Namensgebung dezidiert als ‚Glücksd- privilegierten Texten auf die wirtschaftshistorische orf‘ ausgewiesene Seldwyla (mhd. ‚saelde‘, Glück; und ästhetische Signifikanz von vermeintlichen ‚wyla‘, Weiler) wird von Keller in den Vorworten Nebenwerken wie Dietegen, Das verlorene Lachen zu beiden Ausgaben selbst expressis verbis als oder Spiegel, das Kätzchen aufmerksam zu machen. Studienobjekt eines frühindustriellen Menta- Die generelle Präferenz der frühen Novellen in der litätswandels exponiert. Entsprechend der Ein- Forschung mag durchaus mit der augenschein- fassung und Definition des Lebens durch die lichen Modernität ihres Erzählverfahrens zusam- Wirtschaft werden deshalb nicht nur die Figuren menhängen, siedelt Keller die Erzählinstanz hier konsequenterweise von Kellers Erzähler über ihre zum Zweck einer „ethnografisch ausforschenden, „Einstellung zur Arbeit“ (S. 364) charakterisiert. teilnehmenden Beobachtung“ noch „unterhalb jener Auch ihre moralische Integrität ist eng an die Schwelle der Figurenwerdung“ an, bevor diese in den Kompetenz gekoppelt, ihren durch die gesell- späteren Texten einem „unpersönlichen Rhapsoden“ schaftliche Liberalisierung ins Ungleichgewicht Platz macht, der sich „um ebenso vieles oberhalb geratenen Lebensentwürfen dauerhaft Stabilität der Augenhöhe der Figuren befindet“ (S. 358) und zu verleihen. Verkompliziert wird die Situation dessen Urteile insgesamt doch „eine zunehmend in dem Novellenzyklus durch die Lockungen konservative Färbung“ aufweisen (S. 183 f.). Wie eines kapitalistischen Glücksversprechens, das Honold argumentiert, könnten diese Eindrücke aber als konstantes Hintergrundrauschen auftritt, so leicht dazu verleiten, die Komplexität der literarischen dass viele von Keller zu Studien- und Unterhal- Versuchsanordnung in den später entstandenen tungszwecken aufgebotenen Projektemacher dazu Texten zu unterschätzen, zeugt diese doch sowohl übergehen, „aus der redlichen und mühsamen von einer auf den Martin Salander vorausweisenden Arbeit ins Geschäftemachen“ (S. 52) zu flüchten. Zuspitzung der Sozialkritik (Dietegen) als auch von Wie Honold darlegt, vergegenwärtigen die beiden einer Reflexion auf die gesellschaftsformativen Kräfte Bände der Leute von Seldwyla eine signifikante von Diskursen und Fiktionen. Anstelle des relativ Zäsur hinsichtlich des sozialen Drucks, mit dem stabilen Identitätsmodells der frühen Novellen steht sich in den früheren und späteren Texten Nobilitie- im Schmied seines Glücks, den Mißbrauchten Liebes- rungswünsche des Einzelnen artikulieren. Bezieht briefen und dem Verlorenen Lachen eine Ästhetisi- sich die Sammlung von 1856 noch primär auf eine erung der Lebenswelt zur Disposition, die sich u. bäuerliche Lebenswelt und das Kleingewerbe mit a. in einem expandierenden Literaturbetrieb, aber seinen eingehegten Aufstiegshoffnungen, entwer- eben auch in einer hypertrophen Ausbreitung von fen die 1873/74 erstveröffentlichten Novellen das „Selbstschöpfungs- und Selbststilisierungs-Fantas- Szenario einer zunehmenden Dominanz indivi- men“ (S. 191) manifestiert. Kellers novellistische dueller Geltungsbedürfnisse. Während sich die Fallgeschichten sind daher zunehmend mit den Ambitionen in der ländlich geprägten Lebenswelt „Schwierigkeiten der künstlichen Genese“ (S. 242) der Erstausgabe also noch in weitgehend geregelten von Identitäten konfrontiert, die sich kaum mehr Bahnen bewegen, machen sich, wie Keller notiert, mit den herkömmlichen Erzählformen fassen lassen. Jahrzehnte später „überall verbreitete Spekulations- Folglich reizt Keller laut Honold das erzählerische bethätigungen“ bemerkbar, durch die nachgerade Formenrepertoire u. a. durch digressive resp. episie- alle Seldwyler zu „geborene[n] Agenten“ mutieren,1 rende Passagen, symbolische Übercodierungen oder die letztlich auch vor einer parvenühaften ‚Er- „medienästhetische[] Katachresen“ (S. 327) aus, um dichtung‘ ihrer Biografien samt Namensänderung die aus der gesellschaftlichen Ökonomisierung resul- nicht mehr zurückschrecken. tierenden „kybernetischen Erfordernisse“ (S. 15) im Honold umrahmt die Einzelanalysen der Novel- Sinne des poetischen Realismus narrativ integrieren len mit zwei Kapiteln, die einerseits in antike und zu können. mittelalterliche Tugendkonzepte sowie die Entste- Als Strukturmerkmal der Leute von Seldwyla hungsgeschichte der Leute von Seldwyla einführen, hat die Forschung wiederholt herausgearbei- andererseits den Fokus auf gattungsgeschichtliche tet, dass Keller die einzelnen Texte der beiden

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Zyklen als Pendant-Geschichten anlegt.2 An- Anmerkungen hand von Honolds close readings lassen sich die „Schemabildung“ (S. 385) und die vielfältigen 1 Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla. Sämtliche werkimmanenten Verweisungszusammenhänge Werke. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 2. Hrsg. nachvollziehen, während die Studie zugleich v. Peter Villwock u. a. Basel 2000, S. 8. auch Kellers Modell einer literarischen Obser- 2 Hubert Ohl: Das zyklische Prinzip von Gottfried Kellers Novellensammlung . vation wirtschaftlicher Wandlungen konturiert. Die Leute von Seldwyla In: Euphorion 63 (1969), S. 216–226; Gerhard Durch die Betonung strukturalistischer Lesarten Kaiser: Gottfried Keller. Das gedichtete Leben. und formgeschichtlicher bzw. narratologischer Frankfurt a. M. 1981. Referenzen geraten wissens- oder kulturpoe­ 3 Vgl. hierzu u. a. die Seldwyla-Kapitel in Chris- tische Perspektiven in der Studie allerdings tian Rakow: Die Ökonomien des Realismus. tendenziell ins Hintertreffen.3 Nichtdestotrotz Kulturpoetische Untersuchungen zur Literatur kann Honolds Studie gerade angesichts einer und Volkwirtschaftslehre 1850–1900. Berlin methodologisch überwiegend diskursanalytisch u. a. 2013. ausgerichteten Fallgeschichten-Forschung im Umkehrschluss als genuin philologische Variante Philipp Hubmann an Profil gewinnen, indem sie vorführt, wie sich Universität Zürich das exemplarische Erzählen unter den Bedingun- Deutsches Seminar gen des poetischen Realismus bei Keller gerade Schönberggasse 9 in Abgrenzung zu humanwissenschaftlichen CH–8001 Zürich Genres entwickelt.

Norbert Otto Julian Schmidt – Eine Spurensuche. Georg Olms Verlag, Hildesheim u. a. 2018, 252 S.

Karl Gutzkow forderte ihn 1852 beinahe zum Obgleich bereits Zeitgenossen wie Friedrich Duell, schon 1847 wollte Friedrich Hebbels Ehe- Spielhagen Schmidts Stellung als „damals weitaus frau Christine ihn am liebsten erschießen (vgl. einflußreichste[r] aller deutschen Journalisten“ S. 47) und mit dem Anspruch, den „Ignoranten- betonten,3 obwohl auch die Forschung Schmidts kaiser“ zumindest im übertragenen Sinne „vor Bedeutung als „prominentester Literarhistoriker versammeltem Volk zu schlachten“,1 verfassten des Nachmärz“4 und „eigentliche[r] Wortführer Ferdinand Lassalle und Lothar Bucher 1862 eine des ‚programmatischen Realismus‘“,5 wie sie u. a. ganze Streitschrift gegen ihn. Von den einen als den einschlägigen Anthologien und realistischen „ästhetischer Kannegießer“ und „kritischer Attila“ Literaturdiskussion ablesbar ist, Mal um Mal (Hebbel) verspottet sowie für jene Mischung aus hervorhob, lassen sich Schmidts Werke wie sein „Grazie und Brutalität“ (Paul Lindau), mit der er Wirken nur als eklatant untererforscht bezeichnen „eine wunderliche Tyrannis“ (Carl Bleibtreu) im und ist über sein Leben lediglich wenig bekannt. literarischen Feld der Zeit ausübte, gleichermaßen Mit seinem Buch Julian Schmidt – Eine Spurensu- berüchtigt wie gefürchtet, galt er den anderen – wie che hat Norbert Otto zum 200. Geburtstag des etwa Wilhelm Dilthey oder Wilhelm Scherer – als Literaturkritikers jüngst den Versuch vorgelegt, zwar erbarmungsloser, aber notwendiger und hoch zumindest letztere Lücke beträchtlich aufzufüllen. geachteter Vorkämpfer einer literarisch-politischen Der bescheiden gehaltene Untertitel ver- Geisteswende.2 Die Rede ist von Julian Schmidt weist unmittelbar auf die Malaise, in die ein (1818–1886), der vor allem in seiner Funktion als Schmidt-Biograph unausweichlich hineingerät Mitherausgeber der Zeitschrift Die Grenzboten und die das Verfassen einer Biographie im klas- (1847–1861), dem maßgeblichen realistischen Pro- sischen Sinne geradezu unmöglich macht: Wer grammorgan, zum profiliertesten Literaturkritiker Schmidts Leben nacherzählen will, dem fehlt es der Epoche wurde. nicht nur an größeren Vorgängerarbeiten oder

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Besprechungen | 233 umfangreicheren autobiographischen Quellen, Positionen beobachten lässt. Dass es sich bei vielmehr überhaupt an Lebenszeugnissen und Schmidts Schule im ehemaligen westpreußischen grundlegenden Informationen. Über mögliche Marienwerder (heute: Kwidzyn) um eine eins- Antworten auf viele relevante Fragen (z. B.: Wo tige Problemschule handelte (vgl. S. 17 f.), genau unterrichtete Schmidt nach dem Studium? an der sich preußische Bildungsreformen und Warum zog es ihn nach Berlin? Woher stammte -expansion nachvollziehen lassen, verdeutlicht das Geld zum Ankauf der Grenzboten? Wo liegt die spezifischen Ermöglichungsbedingungen er begraben? Was geschah mit seinem Nach- des bürgerlichen Journalisten als Zeitfigur. Sein lass?) lässt sich nur mutmaßen. Es gehört zu den Weg vom Klassenprimus zum studentischen Vorzügen von Ottos Darstellung, dass er dies nie Rebellen, vom pädagogischen zum literaturkriti- leichtfertig, unseriös oder unargumentativ tut, schen Oberlehrer, vom liberalen Tonangeber zum stattdessen selbst auf Leerstellen hinweist, die er ‚Altliberalen‘, vom gefeierten zum geschmähten wiederum zum einen durch sorgfältige Recher- Literatur-Türsteher spiegelt mehr als nur eine che und abwägende Hypothesen zu schließen bürgerlich-liberale Entwicklungsgeschichte. versucht. Zum anderen greift Otto u. a. auf In diesem Sinne ist es nur zu begrüßen, wenn Dokumente aus Schmidts Nachlass in der Hand- Ottos ‚Spurensuche‘ sich z. B. auch vermeintlichen schriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin Nebensächlichkeiten wie dem örtlichen „Stürmer­ zurück, den er für seine Monographie intensiv fe­st“ zuwendet – immerhin bildet sich das Fest im gesichtet und ausgewertet hat – darin besteht ein 19. Jahrhundert zum elementaren Bestandteil einer unbestreitbares Verdienst des Verfassers. städtebürgerlichen Kultur aus. Ob Schmidt dabei Weil allerdings auch der Nachlass nur lücken­ha­ft nun aber „vom kalten Braten genossen und sich überliefert ist, kann selbst die findigste ‚Spuren- unter der Aufsicht der Lehrer bei gesitteten Spielen suche‘ und gewissenhafteste Rekonstruktionsarbeit seines Lebens erfreut hat“ (S. 20), wie hier etwas das grundsätzliche Quellenproblem nicht beheben. betulich fantasiert wird, erscheint dagegen weder Dieses bedingt hier letztlich die Stärken wie die relevant noch beantwortbar. Solch überschie- Schwächen des Zugriffs. Dem Quellenmangel be- ßenden Konkretisierungswillen kann man dem gegnet Otto dadurch, dass er keinen engen biogra- Verfasser ohne Weiteres nachsehen, da dessen phischen Fokus auf Schmidt richtet, sondern diesen weiter Suchwinkel und umfassendes kulturhisto- gewissermaßen über dessen ‚Umwelt‘ und Umfeld risches Interesse viele ergiebige Zusammenhänge erzählt. Über persönliche, kulturhistorische und fokussieren, so wenn z. B. wiederholt ökonomische politische Kontexte, über Orte, Institutionen und Aspekte recherchiert und veranschaulicht werden insbesondere den Freundeskreis ‚umschreibt‘ er oder das Berliner Salonleben um die Jahrhundert- seinen Gegenstand gleichsam oder nähert sich ihm mitte als wichtiger Kontext skizziert wird (vgl. von dort aus. Für einen Publizisten wie Schmidt, S. 165–167). der sich als bürgerlich-nationalliberales Sprachrohr Darüber hinaus hat Otto in seiner Biographie einer imaginierten Gesellschaft mittlerer Existen- allerlei für Schmidt selbst bezeichnende Einzel- zen verstand, der seinen häufig polemischen und informationen zusammengetragen – dass er z. B. unnachgiebigen literaturpolitischen ‚Extremismus als Sohn eines preußischen Kalkulators geboren der Mitte‘ aus ebendieser inszenierten Sprecher- wurde (vgl. S. 14). Diese Tatsache ist schon allein position heraus rechtfertigte und der tatsächlich deshalb lesenswert, weil Schmidt darin mit Anton weniger als herausragendes Individuum denn als Wohlfart übereinstimmt, dem Protagonisten von repräsentativer Phänotyp seines Jahrhunderts Gustav Freytags Roman Soll und Haben, für den interessant ist, erweist sich eine derartige Darstel- der Literaturkritiker programmatischer Stichwort- lungsweise gerade als adäquate. geber war und den er in seiner Literaturgeschichte Aus solcher Perspektive betrachtet ist es so- unmittelbar nach Erscheinen als realistischen wohl für Schmidt als auch überindividuell auf- Musterroman kanonisierte. Als ebenso verblüffend schlussreich, etwa von der Bildungsemphase, der präsentiert sich der Umstand, dass Schmidts Aufklärungs- und Reformabsolutismus-Begeiste- jahrzehntelanger Antipode auf dem Feld der Li- rung in seiner Familie zu erfahren, ­deren Fortwirken teraturkritik und -geschichtsschreibung, Rudolf sich nicht zuletzt in Schmidts späteren politischen Gottschall, Mitglied derselben Königsberger

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Studentenverbindung „Hochhemia“ war. So auf relevanter Studien angeboten, die hier leider eine Ähnlichkeit hingewiesen und beide Akteure insgesamt unberücksichtigt blieben.7 mit etwas Abstand besehend, stellen sich Schmidts Auf die zeitgenössische Kritik an Schmidt und Gottschalls publizistische Positionierungen sowie die Kontroversen um ihn geht Otto jedoch nicht so sehr als Gegensätze, vielmehr als Kom- ausführlich ein. Als Zeugnisse eines symptomati- plementärpositionen eines literarisch-politischen schen Macht- und Paradigmenwechsels im litera- Programms dar. rischen Feld wären die Auseinandersetzungen mit Überhaupt zeigt sich das Buch dort besonders Ferdinand Lassalle und vor allem mit Paul Lindau erhellend, wo es die Personen um Schmidt herum (vgl. S. 145–152, 200–204) eine eingehendere in den Blick nimmt – sei es, weil tatsächlich literaturwissenschaftliche Beschäftigung wert. engerer persönlicher Kontakt bestand, dieser Dies gilt mehr noch für Schmidts bisher kaum sich beruflich-institutionell ergab oder sich erforschte Schriften, deren wichtigste die vorlie- Wege historisch aussagekräftig kreuzten. Zwar gende Biographie zumindest jeweils anreißt. Noch folgt die Gliederung von Ottos Studie im Kern ihren Nebenbemerkungen lassen sich Hinweise Schmidts Lebensphasen bzw. -stationen, kürzere auf weitere möglicherweise lehrreiche Materialien Seitenblicke oder ausführliche Exkurse zum entnehmen – über Schmidts Briefwechsel mit Netzwerk, das sich um Schmidt herum zeichnen Julius Rodenberg oder seine Korrespondenz zum lässt, bilden jedoch den eigentlichen Modus der Schiller-Preis (vgl. S. 166, 205) hätte man etwa Darstellung, die so an Breite gewinnt. Neben gerne mehr erfahren. Nun versteht Norbert Otto Berthold Auerbach, Wilhelm Dilthey, Hermann selbst seine äußerst verdienstvolle und anerken- Grimm, Claire von Glümer und Fritz Reuter nenswerte Pionierleistung ausdrücklich als einen widmet sich das Buch vor allem dem Grenz- „Anfang“ und zugleich als „eine Aufforderung, boten-Kreis (vgl. bes. Kap. III.2), darunter z. B. sie zu erweitern und zu verbessern“ (S. 8). Dieser Moritz Busch, Jacob Kaufmann oder Julius von Aufforderung sollte die Literaturwissenschaft un- Eckardt. Besonderes Augenmerk legt Otto aller- bedingt nachkommen. dings auf das wechselvolle Verhältnis der beiden Grenzboten-Herausgeber Gustav Freytag und Julian Schmidt, das hier erstmals ausführlich Anmerkungen und unter Einbeziehung von bisher unbeachte- ten Dokumenten beleuchtet wird. Zu bedauern 1 Ferdinand Lassalle, [Lothar Bucher]: Herr Julian ist indes, dass die strategische Dimension der Schmidt der Literarhistoriker. Leipzig 1872, S. 48, Partnerschaft von Freytag und Schmidt, ihr kon- 11. kretes literaturpolitisches Zusammenspiel nicht 2 Zit. n. Philipp Böttcher: Gustav Freytag – Kon- stellationen des Realismus. Berlin, Boston 2018, beachtet oder untersucht wird.6 Eher wird – etwa S. 433, 368, 374, 385. Zu Diltheys und Scherers in den Ausführungen zum sog. Grenzbotenstreit Schmidt-Rezeption vgl. S. 290 f., 372, 431. mit Karl Gutzkow – Freytags nachträgliche 3 Friedrich Spielhagen: Erinnerungen aus meinem Deutung des Konflikts ohne reflektierende Leben. Durchgesehene Auswahl aus „Finder und Distanz übernommen (vgl. S. 47–49), so wie an Erfinder“. Mit Einleitung u. Anmerkungen hrsg. v. anderer Stelle Schmidts Selbstinszenierung als H. Henning. Leipzig 1911, S. 377. unermüdlicher Verfechter der „Wahrheit“ (S. 48, 4 Peter Uwe Hohendahl: Literarische Kultur im Zeit- 154) recht unkritisch fortgeschrieben wird. Die alter des Liberalismus 1830–1870. München 1985, Neigung, sich einige der wenigen Quellenaus- S. 228. sagen mitunter zu sehr zu eigen zu machen (vgl. 5 Gerhard Plumpe: Einleitung. In: E. McInnes, ders. (Hrsg.): Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit z. B. auch S. 60 zur äußeren Erscheinung Jacob 1848–1890. München, Wien 1996, S. 7–83, hier Kaufmanns), mag sich aus dem bereits angespro- S. 62. chenen Quellenmangel erklären. Gleichsam als 6 Vgl. dazu genauer: Philipp Böttcher: Die Poesie des kontextualisierendes Korrektiv hätte sich da- Prosaischen. Zur Literaturprogrammatik der Grenz- gegen, gerade im Zusammenhang mit Schmidts boten und der feldstrategischen Positionierung von Tätigkeit und Selbstverständnis als Literatur- Gustav Freytags Soll und Haben. In: E. Böhm, kritiker und -historiker, die Einarbeitung einiger K. Dennerlein (Hrsg.): Der Bildungsroman im lite-

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rarischen Feld. Neue Perspektiven auf eine Gattung Vorstellungen. Stuttgart 1972; Hermann Kinder: mit Bourdieus Feldtheorie. Berlin, New York 2016, Poesie als Synthese. Ausbreitung eines deutschen S. 165–220. Realismus-Verständnisses in der Mitte des 19. 7 So etwa neben Böttcher und Hohendahl: Ingo Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1973; Helmuth Stöckmann: Julian Schmidt – Für eine Rhetorik Widhammer: Realismus und klassizistische Tra- der Vernichtung. In: Diagonal. Zeitschrift der dition. Zur Theorie der Literatur in Deutschland Universität-Gesamthochschule-Siegen (1997), 1848–1860. Tübingen 1972. H. 1 (Thema: Einfach Schmidt. Hrsg. v. K. Riha), S. 129–136; Alex Köster: Julian Schmidt als litera- Philipp Böttcher rischer Kritiker. Ein Beitrag zur Entwicklung des Humboldt-Universität zu Berlin Realismus im 19. Jahrhundert und zur Geschich- Sprach- und literaturwissenschaftliche Fakultät te der Kritik. Bochum 1933; Bernd Peschken: Institut für deutsche Literatur Versuch einer germanistischen Ideologiekritik. Goethe, Lessing, Novalis, Tieck, Hölderlin, D–10999 Berlin Heine in Wilhelm Diltheys und Julian Schmidts

Paul Kahl Das Goethe-Nationalmuseum in Weimar. Bd. 2: Goethehaus und Goethe-Museum im 20. Jahrhundert. Dokumente. Wallstein Verlag, Göttingen 2019, 1036 S.

„Die nunmehr zweibändig vorliegende Doku- einer umfassenden Quellensammlung zum 19. mentensammlung zum Goethe-Nationalmuseum Jahrhundert vorgelegt,2 die jetzt mit dem zweiten (GNM) in Weimar versteht sich als ein Baustein Band aus dem 20. Jahrhundert abgeschlossen wird. einer künftigen, umfassenden Kulturgeschichte Es empfiehlt sich, die Monographie heranzuziehen, literarischer Erinnerungsorte, als ein Baustein einer wenn man auf dem hier präsentierten Bauplatz die künftigen ‚Kulturgeschichte des Dichterhauses‘.“ Orientierung verlieren sollte. Bescheiden präsentiert sich dieses Buch im Back- In insgesamt fünf Kapiteln sind mehr als 1.000 steinformat von über 1.000 Seiten als ein ‚Bau- Zeugnisse zur Geschichte des Goethe-National- stein‘ für ein später zu errichtendes Gebäude, das museums abgedruckt. Die Gliederung orientiert eine die „Grundlagen abendländischer kultureller sich an der politischen Ereignisgeschichte: Die Erinnerung“ (S. 5) berührende Darstellung des ersten beiden Abschnitte sind den letzten Jahren Phänomens Dichterhaus werden soll. Die Goethe- der Monarchie (I) und der Weimarer Republik (II) Philologie kennt die Tücken dieser Metaphorik, gewidmet; sie nehmen jeweils ca. hundert Seiten wurde ihr doch schon vor mehr als hundert Jahren ein. Sehr viel mehr Platz wird den Teilen über den vorgehalten, dass sie „einem Bauunternehmer“ Nationalsozialismus (III), die (Amerikanisch-) gleiche, „der eine Villenkolonie bauen will und Sowjetische Besatzungszone und DDR (IV) so- nun lange Jahre hindurch unendliche Massen wie über das wiedervereinigte Deutschland (V) von Steinen und Bauholz herbeischaffen und aufs eingeräumt. Das kann sachlich begründet werden, sorgfältigste behauen und zubereiten läßt, aber man darf es aber ebenso als Relevanzentscheidung nichts von Baukunst versteht und auch nicht daran werten. Für die 12 Jahre der NS-Diktatur werden denkt, einen kundigen Architekten zuzuziehen.“1 320 Einträge auf über 200 Seiten präsentiert, Die Zeiten haben sich geändert. Hier steht während die 45 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg nämlich die Aufhäufung ‚unendlicher Massen‘ mit knapp 500 Dokumenten und etwa 370 Seiten von Baumaterial nicht am Anfang, sondern am vertreten sind. Das Jahrzehnt nach der Wieder- Ende einer von der DFG geförderten Untersu- vereinigung bringt es immerhin auf knapp 200 chung zum Goethe-Nationalmuseum in Weimar. Dokumente und 140 Seiten. Daran schließen sich Bereits 2015 hat Paul Kahl eine Monographie noch einige Nachträge zum ersten Band an. Hilf- über die Erfindung des Dichterhauses und zu- reich für gezielte Recherchen sind im Anhang die sammen mit Hendrick Kalvelage den ersten Teil Zeittafel, ein umfangreiches Literaturverzeichnis

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 236 | Besprechungen und das Personenregister mit seinen knappen bio- Effekt einer Personalisierung des Problems. Denn graphischen Daten. auch vor und nach dem Nationalsozialismus war Der Herausgeber konzediert in der Einleitung, das Verhältnis von Kultur und Staat alles andere dass die vorliegenden Quellenbände trotz ihres als unproblematisch; bemerkenswert selten kam Umfangs nicht dem Anspruch auf Vollständigkeit es dabei zu einem solchen Eklat wie beim Besuch gerecht werden wollen und können. Vielmehr des chinesischen Ministerpräsidenten Li Peng im sollen sie das historisch überlieferte Material Jahr 1994 (vgl. S. 818 ff.). Dass indessen Hans bündeln und damit Grundlagen für anschließende Wahl derart ins Zentrum gerückt ist, hat sicher Forschungen bereitstellen. Tatsächlich laden die mit dem Nationalsozialismus zu tun, dürfte aber Dokumente zur quellenkritischen Auseinander- auch strukturell bedingt sein. Mit der Gründung setzung und zum Vergleich ein.3 Die Logik ihrer der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten Anordnung nach der Chronologie der beschrie- und später der Klassik Stiftung Weimar waren die benen Ereignisse verlangt eine perspektivische Handlungsmöglichkeiten eines Museumsdirektors Wahrnehmung. Man muss beständig zwischen deutlich eingeschränkt. Selbst- und Fremdbeschreibung unterscheiden: Der Schwerpunkt des Dokumentenbandes Dokumente aus dem institutionellen Innenleben liegt auf der Konzeption des Dichterhauses. Der des Goethe-Nationalmuseums sehen sich mit ex- Ökonomie und Organisationsstruktur werden ternen Beobachtungen von Besuchern, von den dagegen weit weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Medien, aber mit auch persönlichen Äußerungen Zwar finden sich einzelne Angaben über Kosten konfrontiert. Das Montageprinzip ermöglicht und Mittelzuweisungen, doch ein systematisches einen historisch-differenzierenden Blick auf das Interesse an solchen Fragen ist in der Auswahl der Goethe-Nationalmuseum im Kontext von Weimar Quellen nicht zu erkennen. Wie wichtig dieser als Ort gedächtnispolitischer Auseinandersetzun- Aspekt ist, war dem Präsidenten der Goethe- gen. Hier zeichnen sich interessante Kontinuitäten, Gesellschaft klar, als er im April 1954 Benno aber auch Diskontinuitäten ab. von Wiese mitteilte, dass man „im Osten bereit“ Exemplarisch lässt sich für das Goethe-Natio- sei, „sich die Kulturbedeutung von Weimar sehr nalmuseum nachvollziehen, wie die Strukturen viel Geld kosten zu lassen.“ (S. 584) Man wüsste von auf Dauer ausgerichteten Institutionen etwa schon gerne: wie viel ist „sehr viel“? Ernst Beutler durch öffentliche Diskussionen (über Goethes weist auf einen gravierenden Unterschied zum Gartenmauer oder das duplizierte Gartenhaus), Freien Deutschen Hochstift hin, wenn er betont, durch Museums- und Ausstellungskonzeptionen dass „die Weimarer Institute Staatsinstitute sind“ sowie personelle Stellenbesetzungen geprägt wer- (S. 503) und deshalb über ganz andere Ressourcen den. Damit wird die Bedeutung der politischen verfügen, sofern die Politik zustimmt. Daran hat Zäsuren zumindest relativiert. Das betrifft z. B. sich nach der Wiedervereinigung wenig geändert. die beständige Frage nach der Authentizität des Für den 1999 fertiggestellten Neubau des Goethe- Dichterhauses und seines Inventars, die man nicht Museums sollten zunächst 15,2 Millionen Mark zu hoch veranschlagen sollte. Es gilt ferner für die aufgewendet werden (S. 845); am Ende waren es andauernden Diskussionen über zeitgemäße Aus- wohl eher 18 Millionen (S. 882). Bezeichnend stellungskonzeptionen, die gar nicht selten ihre dürfte eine kleine Anekdote sein, die Gerhard Zeit mit nur kleinen Änderungen überdauern. Dies Schuster eher beiläufig über die Fertigstellung des zeigt sich in besonderer Weise an der Person von neuen Katalogs berichtet: „MP Vogel läßt fragen: Hans Wahl, der von 1918–1949 u. a. als Direktor ‚Wie viel Geld brauchen Sie?‘ Ich überschlage noch des Museums gewirkt hatte und dem besondere am Telefon: eine Viertelmillion für Honorare Aufmerksamkeit gewidmet wird, weil er sich auf und Druckkosten sollte genügen, inclusive einer geradezu unheimliche Weise verschiedenen politi- Panikpufferung für Nothelfer.“ (S. 927) schen Systemen scheinbar problemlos anzupassen Nun ist das Geld nicht nur in einzelne Bauten und sein eigenes nationalsozialistisches Engage- und Projekte geflossen, sondern in Weimar ist ein ment lange zu vertuschen verstand.4 Die Entlar- erinnerungspolitischer Großbetrieb entstanden. Zu vung dieser Legende wird mit besonderer Akribie Beginn des 20. Jahrhunderts waren vier Aufseher und nicht ohne Redundanz betrieben – mit dem und ein Hausmeister im Goethe-Nationalmuseum

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Besprechungen | 237 beschäftigt; außerhalb der Öffnungszeiten konnte funktional für solche modernen Tendenzen? Wel- man die „Einlaßkarten bei Hoflieferant Bauden- che alternativen Konstruktionspläne bieten sich bacher“ (S. 20) erstehen. Seitdem stiegen nicht nur unter diesen Bedingungen an? Die Fundamente, die Besucherzahlen exorbitant an. Um 2000 waren solche Fragen nicht nur zu stellen, sondern sie auch allein im Museumsbereich der Stiftung Weimarer einer Bearbeitung zuzuführen, sind geschaffen, die Klassik „rund 100 Personen, davon allein zwölf Bausteine liegen bereit – wer traut sich ans Werk? Wissenschaftler in der Besoldungsgruppe BAT IIa“ (S. 922) beschäftigt. Über Helmut Holtzhauer heißt es, er habe „sich selbst zum Generaldirektor Anmerkungen gekürt und um sich ein Heer von Direktoren, von Stellvertretern geschart, die ihrerseits eigene 1 Heinrich Meyer-Benfey: Die gegenwärtige Lage der Hierarchien schufen“ (S. 780). Gibt es darüber im deutschen Literaturwissenschaft. In: Frankfurter Zeitung v. 28.1.1914, Nr. 28. Archiv keine Dokumente? Keine Angaben über 2 Paul Kahl: Die Erfindung des Dichterhauses. Das den Haushalt? Kein Organigramm? Goethe-Nationalmuseum. Eine Kulturgeschichte. Die Bauweise von Paul Kahls Buch Die Er- Göttingen 2015; P. K., Heinrich Kalvelage (Hrsg.): findung des Dichterhauses orientiert sich an Das Goethe-Nationalmuseum in Weimar. Bd. 1: einer kulturgeschichtlichen Konzeption. Sie ist Das Goethehaus im 19. Jahrhundert. Dokumente. an symbolischen Ordnungen ausgerichtet. Das Göttingen 2015; vgl. die Rezensionen von Sonja bestimmt auch die vorliegende Auswahl der Vandenrath (ZfGerm NF, 17. Jg. [2017], H. 2, Bausteine und damit diesen polyphonen Doku- S. 428–430) und von Stefan Matuschek (Goethe- mentenband. Die kritische Darstellung richtet Jahrbuch 132 [2015], S. 270–272). sich gegen Verfälschungen; dieses Anliegen soll 3 Vgl. auch die chronikalische Dokumentation von Wilfried Lehrke: Die Weimarer Klassikerstätten. die Anhäufung authentischer Quellen belegen. 4 Bde. Bucha b. Jena 2014–17. Die bislang erschie- Vielstimmigkeit und Montagetechnik relativie- nenen Bände erfassen den Zeitraum von 1945–1957. ren diese Absicht: Sie ermöglichen andere Deu- 4 Vgl. Hans Wahl im Kontext. Weimarer Kultur- tungsperspektiven, die über eine rein kritische eliten im Nationalsozialismus. Hrsg. v. F. Bomski, Perspektive hinausgehen. Wie funktioniert die R. Haufe, W. D. Wilson. Sonderheft der Publica- institutionelle, die organisatorische Infrastruktur tions of the English Goethe Society 84.3 (2015). des Kulturellen Gedächtnisses? Welche Folgen hat die Verflechtung von Erinnerungspolitik und Holger Dainat, Arin Haideri Ökonomie? Wie ist umzugehen mit der Vermark- Universität Bielefeld tung Goethes, der Klassik, Weimars im Kultur- Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft tourismus, die für die Inklusion eines signifikant Universitätsstraße 25 größeren Publikums in die Literatur sorgt und D-33615 Bielefeld Arbeitsplätze schafft? Inwieweit sind gerade die ‚Erfindungen‘ von Dichterhaus und Kulturnation

Thomas Assinger, Elisabeth Grabenweger, Annegret Pelz (Hrsg.) Die Antrittsvorlesung. Wiener Universitätsreden der Philosophischen Fakultät. Verlag V&R unipress, Göttingen 2019, 252 S.

Am 21. Mai 2019 konnte man sie im Doppel- Kaum verwunderlich: Von Felsch, der mit einer pack an einem Abend erleben: Zwei neu berufene Geschichte des Merve-Verlags resonanzreich an Professoren der Humboldt-Universität zu Berlin den Langen Sommer der Theorie erinnert hatte hielten ihre Antrittsvorlesung. Der Hörsaal für und am HU-Institut für Kulturwissenschaften die nacheinander stattfindenden Lektionen von die Nachfolge von Thomas Macho antrat, wurden Philipp Felsch und Stefan Willer war gut gefüllt. ebenso weichenstellende Ansagen erwartet wie

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 238 | Besprechungen vom Osterkamp-Nachfolger Willer, der als Vize- – und zwar vor dem Forum der Fakultät sowie vor Direktor des Berliner Zentrums für Literatur- und der universitären und kulturellen Öffentlichkeit. Kulturforschung schon unter Sigrid Weigel und Denn natürlich kamen die Hörer dieser Antritts- Eva Geulen gewirkt hatte. Die Besucher der rou- vorlesungen im Mai 2019 nicht nur wegen der im tiniert vorgetragenen Vorlesungen wurden nicht Anschluss servierten Häppchen: Man wollte sich enttäuscht. Philipp Felsch rekonstruierte unter ein Bild von jenen Wissenschaftlern machen, die dem Titel Nietzsches Stunden Null mit philologi- hier in Zukunft wirken würden. scher Akribie die Genese der historisch-kritischen Vor diesem Hintergrund gewinnt der von Nietzsche-Ausgabe von Giorgio Colli und Maz- Thomas Assinger, Elisabeth Grabenweger und zino Montinari aus Geist und Buchstaben der Annegret Pelz herausgegebene Sammelband mit Archive von Weimar, in die sich der italienische ihrer Dokumentation von 13 Antrittsvorlesungen Kommunist Mazzino Montinari zwischen 1963 und sachkundigen Erläuterungen an der ‚alten‘ und 1970 vergraben hatte (wo er nicht nur den real Philosophischen Fakultät der Universität Wien existierenden Sozialismus erfahren, sondern auch besondere Signifikanz. Denn er zeigt, wie be- Vater von vier Kindern werden sollte). deutsam die Antrittsvorlesung in historischen Stefan Willer widmete sich unter der Über­ Konstellationen war, in denen namhafte Fachver- schrift Selbst/kontrolle. Überlegungen mit Karl treter mit weitreichenden Erkenntnisinteressen Philipp Moritz und Rainald Goetz den Techniken aktiv waren und etwas bewegen wollten – und der – nun ja: Selbstkontrolle (und machte mit dazu neben Kostproben ihres Wissens auch zahlreichen Foucault-Zitaten klar, woher der Wind drängende Problemstellungen ihrer Disziplin auch in Zukunft wehen würde). Den französischen mitsamt Lösungsangeboten entfalteten. Das Ideenhistoriker hatte bereits Philipp Felsch in Spektrum dieser Antrittsvorlesungen reicht von Stellung gebracht, als er dessen Problematisierun- Alexander Conzes Lektion Ueber die Bedeutung gen des Werk-Begriffs in der prominenten Rede der classischen Archaeologie (1869) bis zu Erwin Was ist ein Autor von 1969 als Reaktion auf die Schrödingers Vortrag Die Krise des Atombegriffs editionsphilologischen Schwierigkeiten mit den (1956), der hier erstmals publiziert wird. Die pro- schriftlichen Hinterlassenschaften des deutschen grammatischen Texte von bedeutenden Vertreter Philosophen Friedrich Nietzsche deutete: Die der Geistes-, Kultur- und Naturwissenschaften Frage, was ein Werk sei und ob Wäscherei-Rechnu- – unter ihnen der phänomenologische Philosoph ngen ebenso dazu gehörten wie veröffentlichte Franz Brentano, der Physiker Ernst Mach und der Aufsätze und ideenreiche Notizbücher, ließ sich Repräsentant des ,Wiener Kreises‘ Moritz Schlick so als weiterhallendes Echo der Arbeit der Italiener – werden aber nicht nur abgedruckt, sondern auch Colli und Montinari verstehen, denen Foucault bei von ausgewiesenen Expertinnen und Experten der Suche nach einem französischen Verleger für wissenschafts- und universitätshistorisch erläutert ihre Nietzsche-Ausgabe geholfen hatte. und in ihren gesellschaftspolitischen Kontexten Zu erleben waren also zwei sehr unterschiedli- verortet. Damit leistet der Band einen wesentlichen che Antrittsvorlesungen. Während der Kulturwis- Beitrag zur Geschichte der Antrittsvorlesung, die senschaftler Felsch philologische Grundlagenarbeit als universitäres Ritual und richtungsweisende leistete, laborierte Willer weiter an kulturalis- Textgattung noch immer ihrer historisch-praxeo- tischen Entgrenzungen und erläuterte Rave als logischen Aufarbeitung harrt.1 „Resultat komplizierter Spiele mit den Codes Besonders wichtig für uns germanistische Philo- und Codierungen einer neu einzuübenden logen sind Abdruck und sachkundige Erläuterung Geselligkeit“. Dennoch machten ihre grund- der Lektionen von Erich Schmidt und Elise Richter verschiedenen Lektionen nachhaltig deutlich, sowie von Heinz Kindermann. Der Neugermanist welche Bedeutung(en) diese Auftritte im Rahmen Erich Schmidt – ein Schüler von Wilhelm Scherer universitärer Wissenskulturen noch immer haben: – hatte 1880 im Alter von 27 Jahren das Wiener Sie dokumentieren nicht nur das Spezialwissen be- Ordinariat übernommen und beeindruckte seine rufener Experten, die Proben ihrer Gelehrsamkeit Hörer mit der fulminanten Vorlesung Wege und Ziele ablegen, sondern präsentieren zugleich künftige der deutschen Litteraturgeschichte. Kommentatorin Arbeitsgebiete und konzeptionelle Positionen Elisabeth Grabenweger ordnet den akademischen

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Frühstarter umsichtig als öffentlichkeitswirksamen Worten einen „Wald von Fragezeichen“ (S. 85), Innovator des nach Wissenschaftlichkeit strebenden mit denen er die noch wenig beforschten Gebiete Faches ein und liefert wertvolle Hinweise auf eine der neueren Poesie zu erfassen suchte. Neben fachhistorisch wichtige Gestalt, dessen Biographie gesellschaftlichen Zuständen und kulturellen noch immer ungeschrieben ist. Elise Richter ist Konditionen seien der „Zustand in der universitas bedeutsam, weil sie 1907 mit der Antrittsvorlesung literarum“ ebenso zu untersuchen wie die „Ten- Zur Geschichte der Indeklinabilien als erste Frau im denzen der Forschung“ und der „Geist der Gene- deutschsprachigen Raum die venia legendi erhielt rationen“ sowie die „Stellung der Frauen“ (S. 83). und zu einer bedeutenden Romanistin und Sprach- Die dabei formulierten Fragen sind keines- wissenschaftlerin aufstieg, bevor sie von den Nazis wegs erledigt. Auch die Hinweise auf die „Vor- nach Theresienstadt deportiert wurde und dort und Nachgeschichte“ des Einzelwerks (S. 84) umkam. Erschreckend ist dagegen die Antritts- zeigen den Weitblick eines Forschers, der zum An- vorlesung Theaterwissenschaft als Lebenswissenschaft tritt seines Berliner Rektorats im Oktober 1909 von Heinz Kindermann, mit welcher der Günstling mit der Rede Die litterarische Persönlichkeit auf von Gauleiter Baldur von Schirach 1943 ein eigens die epistemischen Veränderungen seiner Disziplin gegründetes „Zentralinstitut für Theaterwissen- reagierte und angesichts geistesgeschichtlicher schaft“ übernahm. Dass er sein Wiener Ordinariat Modernisierer neue Perspektiven eröffnete. ebenso wie die Leitung des theaterwissenschaftlichen Zum anderen belegen diese Antrittsvorlesungen Instituts 1954 trotz massiver studentischer Proteste und die in den Kommentaren mitgeteilten Reso- wiedererhalten sollte und unter „postnazistischen nanzen, wie wesentlich personale Akteure in der gesellschaftlichen Prämissen“ fortsetzen konnte (so Wissenschaftsentwicklung sind – und wie wichtig der Kommentar von Birgit Peter, S. 236), gehört zu ihre sichtbare Präsenz und längerfristige Tätigkeit den fatalen Kontinuitäten unseres Faches. an den Universitäten bleiben. Nicht grundlos Doch warum sollten uns Akteure der digitalen beschreibt der Wiener Germanist Alexander von Auflösung traditioneller philologischer Diszipli- Weilen die Wirkungen des mit „weit ausgreifenden nen diese Antrittsvorlesungen aus dem 19. und raschen Schritten auf den Katheder“ eilenden Erich 20. Jahrhundert interessieren? Was lässt sich aus Schmidt als ein emotional bewegendes Ereignis, diesen programmatischen Reden und namentlich auf welches die akademische Jugend „mit der aus den germanistischen Lektionen wie Erich ganzen Hingabe unserer Empfindung“ reagierte Schmidts Darstellung Wege und Ziele der deutschen (S. 92). Auch wenn es schon damals einen Beru- Litteraturgeschichte von 1880 lernen? fungstourismus gab und prominente Fachvertreter Zum einen führen diese Lektionen un- wie Erich Schmidt nach dem Wiener Ordinariat mittelbar vor Augen, welche weitreichenden weitere glanzvolle Positionen übernehmen soll- Programme die damaligen Lehrstuhlinhaber ten, blieb die Bindung an die Alma Mater und für ihre noch an der Philosophischen Fakultät die universitäre Lehre zweifellos eng – während versammelten Wissenskulturen entwarfen. So es heute zu den ersten Projekten neu berufener hatte Alexander Conze, der 1869 den ersten Professoren gehört, sich mit Forschungsfreise- Lehrstuhl für das in Österreich neu eingeführte mestern oder Tätigkeiten an Graduiertenschulen Fach Klassische Archäologie besetzte und die und Sonderforschungsbereichen von lästigen dementsprechend essentielle Antrittsrede Ueber Lehrverpflichtungen zu dispensieren bzw. mit die Bedeutung der classischen Archaeologie hielt, Rufen anderer Universitäten die eigenen Arbeits- nicht nur die Begründung eines „Archäologisch- bedingungen zu verbessern. Wer unmittelbar nach epigraphischen Seminars“ (mitsamt einer eigenen dem Antritt einer Professorenstelle (mit lukrativer Institutszeitschrift) vor Augen. Bereits in seiner Verbeamtung) ins Freisemester geht oder weitere Antrittsvorlesung projektierte er auch die Schaf- Bewerbungen aussendet, demonstriert seine Prio- fung eines „Bilderapparates“ (S. 27) für seine ritäten: und macht zugleich damit klar, wie sich Studenten, der diesen später beim Unterrichten die Verhältnisse (auch hinsichtlich des Transfers in Gymnasien zu Gute kommen sollte. Erich von Wissen und Werten an den Nachwuchs und Schmidt entwickelte in seiner Rede Wege und Zie- damit verbundener Schulen-Bildungen) gewandelt le der deutschen Litteraturgeschichte nach eigenen haben. Nun ja.

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Schließlich und nicht zuletzt eröffnet dieser seiner personalen Akteure und ihrer Konstellatio- Band diverse Blicke in die Abgründe des Wis- nen neu zu studieren und zu schreiben. senschaftsbetriebs. Schon erwähnt wurde das An die Arbeit. tragische Schicksal von Elise Richter, deren An- trittsvorlesung Zur Geschichte der Indeklinabilien von 1907 deutlich macht, welche starken szien- Anmerkung tistischen Geschütze eine Frau auffahren musste, um sich in einer männerdominierten Wissenschaft 1 Dazu bislang erst Mark-Georg Dehrmann: Prüfung, durchzusetzen. Kein Opfer politischer Willkür, Forschung, Gruß. Antrittsprogramme und An- sondern der eigenen manisch-depressiven Anlage trittsvorlesungen als akademische Praktiken im 19. wurde dagegen Ludwig Boltzmann, der in diesem Jahrhundert. In: ZfGerm NF, 23. Jg. (2013), H. 2, S. 226–241. Die Antrittsvorlesung als Inszenie- Band mit zwei Antrittsvorlesungen vertreten ist: rungspraktik (vor allem in den Universitätsstädten Er beendete im September 1906 – einen Tag vor Jena und Berlin) untersucht die Dissertation von der geplanten Rückkehr aus dem Sommerurlaub Martin Schippan: Die akademische Antrittsrede um in die Universitätsstadt Wien – sein Leben. 1800. Literarische Konstitution der philosophischen Um zusammenzufassen: Dieser Band ist eine Öffentlichkeit. Heidelberg 2018. verdienstvolle Erinnerung an bedeutsame Zeiten der Wissenschaft. Zu bedauern bleibt, dass keine Ralf Klausnitzer vollständige Verzeichnung der Wiener Antritts- Humboldt-Universität zu Berlin reden beigegeben wurde. Auch ein Personenver- Sprach- und literaturwissenschaftliche Fakultät zeichnis hätte die Nutzbarkeit erhöht. Dennoch Institut für deutsche Literatur ein weiterer Impuls, die Geschichte(n) des univer- D–10999 Berlin sitären Betriebs unter besonderer Berücksichtigung

Nicole Mattern, Stefan Neuhaus (Hrsg.) Buddenbrooks-Handbuch. J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2018, 312 S.

Die literaturwissenschaftliche Handbuch-Reihe Lesepublikum“ (S. VIII). Der Roman selbst le- aus dem Metzler Verlag deckt mittlerweile eine gitimiere die extensive Beschäftigung im Hand- ganze Bandbreite an kanonischen Autorinnen buchformat: Es handele sich um „eine[n] der und Autoren, Epochen, Theorie- und Methoden- zentralen Texte am Beginn der literarischen oder darstellungen und Stoffkomplexen ab. Mit dem klassischen Moderne um 1900“ (S. VIII), mithin Buddenbrooks-Handbuch liegt nun auch das „ers- um ein „zentrale[s] Werk der deutschsprachigen te Metzler-Werk-Handbuch“1 vor: pünktlich zum Literatur und Kultur“ (S. IX) und „den vielleicht 250. Jahrestag der „Gründung der Firma Bud- bedeutendsten deutschen Roman des kultur- und denbrook“ (S. IX) im Jahr 1768. Das vorliegende mentalitätsgeschichtlichen Epochenumbruchs Kompendium begeht nicht nur dieses fiktionale der Frühen Moderne“ (S. 78). Als „Longseller“ Jubiläum, sondern verschreibt sich zugleich auch (S. IX) und als Stoff etwa für TV-Adaptionen augenzwinkernd „dem Arbeitsethos von Thomas und Dramen (S. 58 ff., 70 ff.) weist Thomas Buddenbrook“, dessen letztliches „Scheitern“ Manns Erstlingsroman noch heute anhaltenden im Roman es freilich gleich mit einräumt Erfolg auf. (S. VII). Im Austarieren zwischen notwendiger Wie Thomas Buddenbrook baut auch das Begrenzung und interpretatorischer Vertiefung Buddenbrooks-Handbuch auf der Leistung seiner sowie von einführenden und weiterführenden Vorgänger auf, um die bisherigen und kanoni- Auseinandersetzungen mit dem Roman setzen sierten Erkenntnisse der Forschung zu ergänzen Nicole Mattern und Stefan Neuhaus in der und neu zu perspektivieren. Gegenüber einem Einleitung „auf ein im Prinzip wohlwollendes früheren Handbuch von 19882 setzt es sich jedoch

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Besprechungen | 241 insbesondere dahingehend ab, dass „stärker von disziplinierte Arbeitsweise Thomas Manns er- der Bedeutung des Autors für sein Werk abstra- probe sich hier erstmals in der Beherrschung eines hiert“ und stattdessen „Kontextualisierungen“ umfangreichen Stoffes (vgl. S. 24 ff.). Andreas mehr Raum gegeben werden soll (S. VII). Die Blödorn diskutiert den „ambivalente[n] Deu- einzelnen Beiträge bemühen sich folglich, dem tungshorizont“ von Buddenbrooks als „Schwel- Autor keinen privilegierten Deutungszugang zu lenroman“ (S. 74) vor dem Hintergrund der seinem Werk zu unterstellen – das erste Kapitel notorischen Forschungsdebatten über seine gat- „Grundlagen“ eröffnet Rolf Selbmann mit einem tungsmäßige und epochale Zugehörigkeit. Ledig- Abriss über „Selbstaussagen Thomas Manns“, die lich Johann Holzners Beitrag zur „Rezeption in stets „adressatenbezogen“ und ihrer Textsorte der Literaturwissenschaft“ irritiert mit der Emp- gemäß zu lesen sind (S. 7). Deutlich wird, wie fehlung einiger weniger Forschungsbeiträge zur Thomas Manns spätere Perspektive auf seinen „Orientierung“ in einer „Flut von Abhandlungen Debütroman sich im historischen und politischen über Mann und über seinen bekanntesten Roman“ Kontext der jeweiligen Äußerung aktualisiert: (S. 48), die einige Forschungsfragen ein für alle von der Betonung des „deutsche[n] Element[s]“ Mal gelöst hätten. Die neueren Forschungs- hin zu der des „internationale[n], oder sagen ansätze, deren Erprobung sich das Handbuch in wir getrost, allgemein menschliche[n] Zug[s]“ der Einleitung vorgenommen hatte, erscheinen (S. 9). Weitere biographische Bezüge werden im hier als latente Gefahr und müssen zunächst Rahmen der „Grundlagen“ ebenfalls erwähnt, auf die Linie der bisherigen Forschung gebracht etwa die systematischen Verweise, die Mann über werden: „Auch neue Perspektiven, mögen sie noch Binnenwidmungen einzelner Kapitel legt, oder so sehr en vogue sein, können die mehrfach ge- die Rezeptionszeugnisse des Lübecker Publikums, sicherten Erträge der Forschung nicht zerbröseln. die Romanfiguren auf reale Personen zurückzu- Wenn sie aber diese Erträge respektieren und führen versuchen (vgl. S. 32 f., 39 ff.). Bei aller daran anknüpfen, kann noch immer eine Re- berechtigter Kritik an der Autorfixierung in lektüre mit recht überraschenden Blickrichtungen Teilen der früheren Forschung wäre es vielleicht angestoßen werden“ (S. 56). produktiver gewesen, stärker nach den Funk- Im zweiten Kapitel erkundet das Handbuch tionen solcher rezeptionssteuernder Merkmale „Themen und Strukturen“ des Romans. Einen Teil und Aussagen zu fragen, anstatt sich ihrer durch dieses Kapitels machen Überlegungen zu zentralen die Delegierung an eine nicht mehr zeitgemäße thematischen, formalen oder diskursiven Aspekten Forschung zu entledigen.3 Auch die Ausstattung des Textes aus: Helmut Grugger diskutiert den und der Absatz der zahlreichen Buddenbrooks- „Verfall der familialen Beziehungsstruktur“ vor Ausgaben werden zwar detailliert beschrieben dem Hintergrund von Wilhelm Heinrich Riehls (vgl. S. 31 f.), die dahinterstehenden Strategien Die Familie (1855) – eine Referenz, die im Hand- des S. Fischer Verlags und des Autors selbst, mit buch mehrfach herangezogen wird (vgl. auch dem nobelpreisgekrönten Buch unterschiedliche S. VII) – und Riehls Idee eines „Übergang[s] vom Segmente des Buchmarkts zu bespielen und Tho- ‚ganzen Haus‘ zur bürgerlichen Kleinfamilie“ mas Mann neben enormen Honorargewinnen (S. 121). Julian Reidy regt an, der intertextuelle[n] auch maximales ‚symbolisches Kapital‘ zu ver- Verweisstruktur“ (S. 183) des Romans noch weiter schaffen, bleiben weitgehend unerwähnt.4 zu folgen als bisher, und sich dabei nicht nur von Über derartige Detailkritik hinaus führen den Hinweisen des Autors leiten zu lassen. Katrin die „Grundlagen“ in kondensierter Weise in die Max vermisst den philosophischen Einfluss Nietz- Entstehungsbedingungen, Rezeptionsverhältnis- sches und Schopenhauers und schlussfolgert, der se und basalen Strukturen der Romanpoetik Roman sei „ironisch offen gehalten, nicht zuletzt wie Erzählverfahren, Figurenkonstellation und da er durch den Verweis auf verschiedene philoso- Leitmotivtechnik ein. Yahya Elsaghe verortet phische Aspekte mögliche Weltdeutungsangebote Buddenbrooks knapp und pointiert im Frühwerk offeriert und durch die omnipräsente Relativierung Thomas Manns und legt einige Linien ins eine Art eigene Philosophie präsentiert.“ (S. 194) Gesamtwerk; auch die später perfektionierte Daneben stehen bisher noch weniger behandelte

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Aspekte des Romans wie „Essen und Trinken“ aristokratischen Anleihen auf die notwendige (Sven Hanuschek) oder „Rituale“ (Veronika Differenzierung des Begriffs ‚Bürgertum‘ zu Schuchter) und konzise, forschungsgesättigte verweisen (vgl. S. 223 f., 226, auch S. 136). Überblicke über thematische Fokussierungen der Weiterhin weicht Mann bei der Darstellung neueren Forschung (z. B. Nicole Mattern über der revolutionären Vorgänge 1848 von der „Ökonomie“). historischen Realität in Lübeck ab: Er lässt den Zu den von den Beiträgen des Handbuchs am Konsul Jean Buddenbrook „mäßigend[]“ und stärksten akzentuierten Neujustierungen gehört „harmonisierend“ (S. 225 ff.) in die Unruhen indes die Aufmerksamkeit für antisemitische eingreifen und übernimmt die Perspektive einer Figurenzeichnungen und Topoi in Thomas an ständischen Semantiken orientierten konser- Mann frühestem Roman. Grundlegend arbeitet vativen Bürgerschaftspartei. Fr anzisk a Schössler dies im Anschluss an Diese produktiven Interpretationsansätze die jüngere Forschung heraus.5 Konkret geht es eines bekannten Romans stehen neben immer um die Darstellung der aufsteigenden Familie wieder überraschenden Detailbeobachtungen Hagenström, deren antijüdische Zuschrei- und schon länger virulenten Forschungskon- bungen Schößler von der Physiognomie bis zu stellationen. Die im letzten Teil vorgestellten Demokratieneigungen ebenso beschreibt wie Forschungsperspektiven zeugen von dem Willen, die Konnotation des Jüdischen mit spekulativen Thomas Mann und Buddenbrooks mit kultur- Geschäftspraktiken (S. 203 ff.). Diese Beobach- wissenschaftlich ausgerichteten methodischen tungen greifen auch Elsaghe in Hinblick auf den Zugängen zu profilieren und in den Kanon Antisemitismus als verbindendes Element des theorieaffiner Autor(innen) einzugliedern. Der Mann’schen Frühwerks sowie Sabine Egger für Band verzichtet dafür weitgehend auf die Stimme die Verfahren der Herstellung von Alterität auf des Autors. Es bleibt die Frage, ob man auch im (vgl. S. 17 f., 276 f.). Rahmen eines „Werk-Handbuchs“ den „Kontex- Letzteres geschieht im dritten Kapitel, das tualisierungen“ noch mehr Raum geben könnte. „Theoretische Zugänge“ vorstellt und Desiderate Braucht es z. B. ein Kapitel zur „Handlung“ für die künftige Forschung formuliert und an- (S. 80 ff.) in den Buddenbrooks, wenn schon eine deutungsweise skizziert. In ihrem Beitrag zur „Chronologie der Handlung“ (S. 3 ff.) am Beginn „Dekonstruktion“ konstatiert Irmtraud Hnili- steht? Wäre es unter Umständen hilfreich, eigene ca einen „gewisse[n] Methodenkonservatismus Kapitel zu thematischen, gattungsmäßigen und und sich daraus ergebende Vorbehalte […] der diskursiven Zusammenhängen einzuschalten, die Thomas-Mann-Forschung“ (S. 252) gegenüber die Quellen zu diesen Kontexten ausführlicher neueren Theorien. Auf dem Feld der Dekonst- vorstellen? Oder anders gefragt: Muss es eigent- ruktion gebe es gleichwohl schon erste Versuche lich im Buddenbrooks-Handbuch immer um die der Auseinandersetzung, an die sich anschließen Buddenbrooks gehen? lasse (vgl. ebd.). Generell werden in diesem Kapitel aber Forschungslücken identifiziert. Die Heraus- Anmerkungen geber(innen) stellen diese neuen Ansätze in den Horizont der „Cultural Turns“ (VII) – darunter 1 , zuletzt: 19.8.2019. und Medialität(en)“, „Gender Studies“ und 2 Ken Moulden, Gero v. Wilpert (Hrsg.): Budden- „Wissenspoetologie“. brooks-Handbuch. Stuttgart 1988. Zu den vielversprechendsten der vorgestellten 3 Vgl. hierzu vor allem Michael Ansel, Hans-Edwin Friedrich, Gerhard Lauer (Hrsg.): Die Erfindung Zugänge gehört gleichwohl Lothar Bluhms Vor- des Schriftstellers Thomas Mann. Berlin, New York schlag einer sozialgeschichtlichen Betrachtung 2009. vor dem Hintergrund der politischen Geschichte 4 Vgl. Wilhelm Haefs: Geist, Geld und Buch. Thomas Lübecks und seiner Sozialstruktur. Zunächst ist Manns Aufstieg zum Erfolgsautor im S. Fischer Ver- angesichts der nach dem Ständeprinzip orga- lag in der Weimarer Republik. In: Ansel u. a. (wie nisierten Lübecker Stadtgesellschaft und ihrer Anm. 3), S. 123–159, hier bes. S. 146 ff.

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5 Vgl. vor allem Yahya Elsaghe: Die imaginäre Daniel Zimmer Nation. Thomas Mann und das „Deutsche“. Humboldt-Universität zu Berlin München 2000; Rolf Thiede: Stereotype vom Sprach- und literaturwissenschaftliche Fakultät Juden. Die frühen Schriften von Heinrich und Institut für deutsche Literatur Thomas Mann. Zum antisemitischen Diskurs der D–10099 Berlin Moderne und dem Versuch seiner Überwindung. Berlin 1998.

Clemens Özelt Literatur im Jahrhundert der Physik. Geschichte und Funktion interaktiver Gattungen 1900–1975. Wallstein-Verlag, Göttingen 2018, 472 S.

Die Dissertation von Clemens Özelt unter- stattdessen den sich öffnenden Zwischenraum als sucht aus gattungshistorischer wie -typologischer Einsatzpunkt für die hier angestellte ‚interaktive Perspektive Austauschbeziehungen zwischen Gattungsanalyse‘ begreift. Den theoretischen Back- Literatur und Physik von der Jahrhundertwende ground bilden Jürgen Links Überlegungen zum bis ins letzte Viertel des 20. Jahrhunderts. Ein sol- ‚Kollektivsymbol‘, dessen Funktion Özelt erstmals ches Unternehmen ist durchaus ambitioniert und auf literarische Gattungen ausweitet. Dieser me- scheint vor dem Hintergrund bereits etablierter thodische Kniff erweist sich als klug, denn er ver- Forschungsfelder, etwa zur Wissenspoetik und wandelt die vermeintliche Begründungslücke in ein zu literarischen Experimentalkulturen1, Spezial- umso stärkeres Argument, erscheinen doch nun die untersuchungen zu einzelnen hierfür einschlägigen Gattungen selbst als ‚Agenten‘ der Vermittlung von Autoren2, Gattungen3 oder auch Interferenzen der Naturwissenschaften und Künsten. Deren Leistun- Literatur mit Teilbereichen der modernen Physik4 gen und Funktionen vermag die Arbeit durchweg auch nicht ganz ohne Risiko. überzeugend darzulegen. In systematischer Hinsicht Doch findet Özelt für sein Vorhaben zweifellos ist je eines von insgesamt fünf Kapiteln einer ‚inter- genügend ‚Gegenspiel‘ und liefert für selbiges eine aktiven Gattung‘ – dem (Eponym)Roman, Dialog, hervorragende Begründung. Denn ein Grundpro- Brief, der Tagebuchnotiz und Tragödie – gewidmet; blem von Verhältnisbestimmungen zwischen den historisch ergibt sich ein mit der Jahrhundertwende seit dem 19. Jahrhundert mehr und mehr auseinan- einsetzender Bogen einander mehr oder weniger derdriftenden zwei Kulturen bestand in bisherigen ablösender Gattungskonjunkturen, der zum einen Studien zum Thema meist darin, zu plausibilisieren, erstmals die Interessen- und Schwerpunktverlage- dass tatsächlich ‚Transfers‘ zwischen Dichtung und rungen innerhalb eines literarisch-physikalischen Naturwissenschaft/ Physik stattfanden, und dass Gattungsgefüges von Physik und Literatur im 20. diese sich überdies (wie etwa für die Frühe Neuzeit Jahrhundert hervortreten lässt, und zum anderen noch gut zu zeigen) auch noch in der Moderne auf auch eine Reihe neuer Einsichten bezüglich der ein und derselben epistemischen Ebene ereigneten. Selbstverortung bzw. -inszenierung von Dichtern Angesichts des zunehmenden Unanschaulichwer- und Physikern innerhalb des literarischen Feldes dens der Physik, ihrer fortschreitenden Verlagerung dieser Zeit erlaubt. in die Abgeschiedenheit moderner Labore einerseits Das vielleicht beeindruckendste Beispiel für und des sich spätestens seit 1900 rasch ausdifferen- eine interaktive Gattung präsentiert Özelt gleich zierenden literarischen Feldes andererseits hat man zu Beginn mit dem ‚Eponymroman‘. Gemeint sind derartige breiter angelegte Relationierungsversuche damit in den 1910er und frühen 1920er Jahren oft – und nicht ganz unbegründet – mit einer Reihe (mit lokalem Schwerpunkt in Prag) aufkommende von Fragezeichen versehen. Romane, die wie Max Brods Tycho Brahes Weg zu Solchen methodischen Schwierigkeiten entgeht Gott (1915), Ernst Weiß’ Die Galeere (1913) und die Arbeit geschickt, indem sie gar nicht erst zu- Leo Perutz’ Der Meister des Jüngsten Tages (1923) sammenzuspannen versucht, was ‚im Jahrhundert physikalische Eponyme (= auf Eigennamen basie- der Physik‘ oft bereits getrennt erscheint, sondern rende Begriffe wie die Kepler’schen Gesetze) zum

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Gegenstand ihrer Narrationen machen. Eponymen Syntheseversuch (etwa im Briefwechsel zwischen kommt dabei in zweifacher Weise „Schwellencha- Sigmund Freud und Albert Einstein), als Schreib- rakter“ zu, sofern sie zum einen „einen Übergang form einer nicht-korrumpierbaren Humanität (so zwischen biographischem und wissenschaftlichem in Walter Benjamins Deutsche Menschen [1936]) Faktum“ (S. 57), zwischen Physik und Erzählung, oder auch als Form einer ‚verdeckten Schreibweise‘ anzeigen und sich auf ihrer Basis zum anderen die (wie in Max Benses Briefe großer Naturforscher und Austauschbeziehungen zwischen Romanform und Mathematiker [1943]) dienen; letztere, darunter Physiker-Biographie herausarbeiten lassen. u. a. die Tagebuchaufzeichnungen Ernst Jüngers, Der Studie gelingt es mit dieser Neuperspekti- Arno Schmidts oder des Technikphilosophen vierung, die weniger auf die Abbildung von Wissen Günther Anders’, dokumentieren und reflektieren innerhalb der Dichtung als auf literarische Anschluss- insbesondere die Nachwirkungen des mit Kriegs- kommunikationen gerichtet ist, zu zeigen, dass die ende unmittelbar anbrechenden Atomzeitalters. Literatur gerade in dieser Rolle sehr wohl die (non- Die Verschiebung hin zu literarischen Perspek- fiktionale) Wissensproduktion vorzubereiten vermag: tivierungen der moralischen Verantwortlichkeit etwa über den überzeugenden (und zudem akribisch bzw. Schuld des Physikers leistet von den frühen recherchierten) Nachweis, dass Brods zeitgenössisch 1950er Jahren an gut zwei Jahrzehnte lang die viel beachteter Tycho-Roman, der nach seinem Er- reaktualisierte Gattung der (Physiker-)Tragödie, scheinen als Schlüsselroman, u. a. auf Einstein ge- als deren bekannteste Beispiele sicherlich Hei- lesen wurde, in seiner Modellierung eines modernen nar Kipphardts Dokumentarstück In der Sache Physikers wiederum die frühen Einstein-Biographien J. Robert Oppenheimer (1964) sowie Friedrich Rudolf Kaysers (Albert Einstein. A biographical portrait Dürrenmatts Schullektüren-‚Klassiker‘ Die Physi- [1931]) und Philipp Franks (Einstein. Sein Leben und ker (1962) gelten dürfen. Ab der Mitte der 1970er seine Zeit [1949]) entscheidend geprägt hat. Jahre erschöpft sich schließlich jedoch auch diese Entgegen der Großform des Romans gestaltet Form zunehmend – „der schuldhafte oder schuld­ sich mit dem Anbruch der Zwischenkriegszeit unfähige Physiker [scheint nun] keiner weiteren der Austausch von Literatur und Physik sodann literarischen Gestaltung mehr zu bedürfen, er ist vermehrt in kleinen und temporalisierten bzw. bereits zum Stereotyp geworden.“ (S. 417) dynamisierten Formen. Dichter und Physiker Bezüglich der gesetzten Zäsur, als deren greifen nun verstärkt auf den inzwischen stehen- Kronzeugentext Özelt passenderweise Wolfgang den Topos der ‚kopernikanischen Wende‘ und die Hildesheimers Merkur-Essay The End of Fiction frühneuzeitliche des Diskursform des Dialogs (in (1976) anführt, ließe sich natürlich (weil in der der Nachfolge Galileis) zurück. Bot ihnen die ita- Natur von Erzählschlüssen liegend) rückfragen, lienische Renaissance-Kultur in gleich mehrfacher ob die literarisch-physikalischen Austausch- bzw. – „epistemischer“, „öffentlichkeitsgeschichtlicher“ Gattungsbeziehungen hier tatsächlich an ein Ende und „politisch-taktischer“ – Hinsicht ein breites gelangen. Für eine mögliche Fortsetzung derselben Identifikationsmuster (vgl. S. 139, 151), so wurde könnten etwa die als science wars geführten und die Dialogform dabei in durchaus unterschied- nicht zuletzt auch ins literarische Feld der 1990er licher und geradezu gegenläufiger Weise funktio- Jahre ausstrahlenden Theoriedebatten um die so- nalisiert: für einen relativistischen Blickwechsel genannte ‚Postmoderne‘, aber auch die jüngeren bei Albert Einstein, eine sozialistische bzw. poeto- Bemühungen von Gegenwartsautorinnen und logische Wende in Bertolt Brechts Dialogfragment -autoren wie Ulrike Draesner, Durs Grünbein, Der Messingkauf oder eine „kopernikanische Kon- Reinhard Jirgl oder Raoul Schrott um einen Dia- terrevolution“ (S. 190) im Werk Alfred Döblins. log der Literatur mit der modernen Physik und den Die Verschiebung hin zu einem dezidiert Naturwissenschaften angeführt werden.5 ‚engagierten‘ Gattungsbewusstsein, aus welchem Dessen ungeachtet sortiert Özelt auf ungemein heraus die Rolle des Physikers nach 1933 primär kenntnisreiche Weise und in elegant geschriebener mit der Wirklichkeit des Krieges und der Ver- Form das bislang noch weitgehend unvermessene nichtung konfrontiert wurde, zeigt sich insbeson- Feld literarisch-physikalischer Anschlusskommunika- dere an den Gattungen Brief und Tagebuchnotiz: tion. Hierauf deuten nicht zuletzt eine ganze Reihe Erstere kann als kollektiver und interdisziplinärer von bislang kaum beachteten Texten hin, darunter

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Besprechungen | 245 die ‚Eponymromane‘ zu Beginn des Jahrhunderts, 2 Vgl. Christian Kassung: Entropiegeschichten. Ro- Frank Zwillingers Drama Kettenreaktion (1973) bert Musils Der Mann ohne Eigenschaften im Diskurs oder auch Alfred Döblins dialogischer Text Der der modernen Physik. München 2001; Jochen Einfluß der Gestirne auf das deutsche Theater (1924). Kriens: Die Poetik des Experiments. Provozierte Er- Im Besonderen jedoch erweist sich die Studie über fahrung und künstlerische Erkenntnis bei Friedrich Dürrenmatt. Tübingen 2014. ihre Perspektivierung einer interaktiven Gattungs- 3 Vgl. Rémy Charbon: Die Naturwissenschaften im analyse, deren Produktivität Özelt in seinen ebenso modernen deutschen Drama. Zürich, München präzisen wie umsichtigen Einzellektüren eindrucks- 1974; Werner Michler: Kulturen der Gattung. voll demonstriert, für künftige Untersuchungen auf Poetik im Kontext 1750–1950. Göttingen 2015. diesem Feld als richtungsweisend. 4 Vgl. Elisabeth Emter [1995]: Literatur und Quan- Ob die Physik, die im 20. Jahrhundert un- tentheorie. Die Rezeption der modernen Physik in bestritten die „größte Sozialreformerin“ war Schriften zur Literatur und Philosophie deutsch- (E. v. Kahler), auch eine große Literaturreformerin sprachiger Autoren (1925–1970). Berlin, New York gewesen ist – diese Frage wird man künftig be- 2012. jahen dürfen. Mag es stimmen, dass Physiker 5 Die genannten Autor*innen sind etwa allesamt Beiträger*innen in einem neueren Sammelband des und Schriftsteller einander nun immer weniger Erlanger Zentrums für Literatur und Naturwissen- verstanden, so bot ihnen u. a. dies doch auch eine schaft (ELINAS): Aura Heydenreich, Klaus Mecke Gelegenheit, darüber zu schreiben. (Hrsg.): Physik und Poetik. Produktionsästhetik und Werkgenese. Autorinnen und Autoren im Dialog. Berlin, Boston 2015. Anmerkungen Reto Rössler 1 Vgl. Raul Calzoni, Massimo Salgaro (Hrsg.): „Ein in der Phantasie durchgeführtes Experiment“. Li- Europa-Universität Flensburg teratur und Wissenschaft nach Neunzehnhundert. Institut für Sprache, Literatur und Medien Göttingen 2010; Michael Bies, Michael Gamper Auf dem Campus 1 (Hrsg.): „Es ist ein Laboratorium, ein Laborato- D–24943 Flensburg rium für Worte“. Experiment und Literatur III: 1890–2010. Göttingen 2011.

Johannes Wassmer Die neuen Zeiten im Westen und das ästhetische Niemandsland. Phänomenologie der Be- schleunigung und Metaphysik der Geschichte in den Westfront-Romanen des Ersten Welt- kriegs. Rombach Verlag, Freiburg i. Br. u. a. 2018, 437 S.

Wenn das kontingente Geschehen in den Gräben aussagekräftig ist, gehört zu den Prämissen der des Ersten Weltkrieges als sinnlos erfahren wur- Studie, die darauf zielt, die besprochenen Romane de, wie kann es dann sein, so fragt Johannes als Ausdruck der Modernitätserfahrung zu lesen. Wassmer, dass den Ereignissen in der retrospekti- Zur Diskussion stehen ‚Klassiker‘ der West- ven literarischen Verarbeitung geschichtlicher Sinn front-Literatur: Ernst Jüngers In Stahlgewittern zugeschrieben wurde – und zwar, wenn auch mit sowie seine Erzählung Sturm, Henri Barbusses Das unterschiedlicher Perspektive, von Autoren, die im Feuer, Erich Maria Remarques Im Westen nichts Spektrum des soldatischen Nationalismus, sozialis- Neues, ergänzt um Der Weg zurück sowie Werner tischer Zukunftshoffnungen oder eines bürgerlich Beumelburgs Die Gruppe Bosemüller. Nun fehlte orientierten Pazifismus zu verorten wären? Dass eigentlich nur noch Edlef Köppens Heeresbericht die gängige Einteilung in kriegsaffirmative und im Feld prominenter Westfront-Romane. Stattdes- tendenziell pazifistische Texte angesichts ge- sen wartet Johannes Waßmer mit einer Erzählung meinsamer ästhetischer Verfahren ohnehin wenig aus dem Jahre 2008 auf: Christian Krachts Ich

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 246 | Besprechungen werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten, während des Krieges erschienene Roman Das Feuer eine kontrafaktische Betrachtung der ‚Urkatastro- deutlich eschatologisch-apokalyptische Züge in phe‘ des 20. Jahrhunderts. Auch deshalb ist dieser seinem Bildprogramm aufweist. Detailliert setzt Text in die Auswahl der zu besprechenden Romane sich Waßmer mit der patriotischen Dimension eingerückt, weil es einmal mehr um Aspekte ge- des Romans als ‚Durchhaltebroschüre‘ mit uto- schichtsphilosophischer Deutung gehen könnte, pisch-pazifistischer Botschaft auseinander und nur eben nun aus postmoderner Perspektive. Die arbeitet eine den Schriften Jüngers analoge Be- Modernitätserfahrung wird mit Walter Benjamin schleunigungserfahrung heraus, wobei sowohl einleitend als Verlusterfahrung verbucht, für die die Plötzlichkeit der Wahrnehmungssensationen die Beschleunigungsphänomene der industriellen als auch die Auflösung des vertrauten Raum- Modernisierung in Anschlag zu bringen wären, Zeit-Kontinuums eine Rolle spielen. Nur eben: die in den Gräben des Ersten Weltkriegs ihre Hier werden die Soldaten durch die maschinelle ultimative Auswirkung fanden. Immobilisiert im Kriegführung nivelliert. Das rauschhafte Kriegs- Graben wurde die jederzeit mögliche Verletzung erlebnis findet bei Barbusse nicht statt. oder Vernichtung zum Alltagsgeschehen. Die Zeit- Die Phänomenologie der Beschleunigung ist in erfahrung fließender Gegenwarten wurde außer Remarques Erfolgsroman Im Westen nichts Neues Kraft gesetzt. Auch deshalb favorisiert Waßmer nicht minder ausgeprägt. Die Nähe zu Jüngers nicht den von Karl-Heinz Bohrer geprägten ästhetischen Verfahren ist oft betont worden. Aber Terminus der ‚Plötzlichkeit‘, um die Qualität der weder hier noch in dem inhaltlich anschließenden neuen Wahrnehmungssensationen zu markieren, Roman Der Weg zurück, mit dem das schriftstel- sondern das Oxymoron des ‚rasenden Stillstands‘. lerische Weltkriegsprojekt ursprünglich zu einer Die Metapher ist Virilio entlehnt und meint hier Trilogie ausgebaut werden sollte, lassen sich An- die maschinelle Beschleunigung bei gleichzeitiger haltspunkte einer sinnstiftenden Geschichtsdeu- Immobilisierung des Beobachters. tung finden. Den Romanen fehlt gewissermaßen Das Phänomen des ‚rasenden Stillstands‘als ein Zukunftshorizont, was dazu beigetragen haben einer spezifischen Ausprägung der Plötzlichkeits- mag, dass insbesondere Im Westen nichts Neues zu erfahrung ist es auch, das Waßmer an der ersten einem Selbstverständigungstext für die ‚verlorene Fassung der Stahlgewitter interessiert, als Jünger Generation‘ werden konnte. In seiner Feier der seine Beschreibungen noch ausschließlich dem Frontkameradschaft als letztem verbleibenden Wahrnehmungserlebnis des Krieges widmet. Der Wert und seiner weitgehend unpolitischen Deu- ‚rasende Stillstand‘ bildet in solcher Betrachtung tungsoffenheit blieb er allseits anschlussfähig, gleichsam die Grunderfahrung, die mit der Im- eben auch, wie Waßmers Analyse von Werner plosion verlässlicher Raum- und Zeitkoordinaten Beumelburgs Roman zeigt, für eine soldatisch- einhergeht und von Rauschzuständen im Kampf- nationalistische Aufladung des Fronterlebnisses. geschehen kompensiert wird. Erst in der dritten Beumelburgs Frontgemeinschaft der ‚Gruppe Fassung der Stahlgewitter schreiben sich vor dem Bosemüller‘ wird im Sinne der ‚Ideen von 1914‘ Hintergrund der beginnenden nationalrevolu- zur Ersatzfamilie und mit der heranreifenden tionären Orientierung Jüngers Deutungsmuster Führerfigur des Erich Siewers zum Vorschein der des Kriegserlebnisses ein. Waßmer befragt die Volksgemeinschaft. Nur gelinge es dabei nicht, novellistische Erzählung Sturm eingehend in Hin- so Waßmers Argumentation, die Fronterfahrung blick auf die sich abzeichnenden Sinnstiftungen. der Soldaten bruchlos in eine Geschichtsdeu- In Sturm, so die Lesart, erzähle Jünger, wie das tung zu überführen. Denn die Schrecken des individuelle Kriegserlebnis zum Scheitern ver- ‚rasenden Stillstands‘, denen auch sie ausgesetzt urteilt ist, wenn es nicht in einem kollektivistisch sind, werden nicht durch rauschhaft erfahrene orientierten, nationalen Programm aufgehoben Kampfsituationen kompensiert. Entsprechend wird. Das geschichtliche Telos wird im Begriff der bleibe das Kriegserlebnis negativ konnotiert und Nation restituiert. mit dem Gemeinschaftskonzept als Sinnstiftung Solche Zielorientierung findet sich bei Hen- nur notdürftig verbunden. Schade, dass Waßmer ri Barbusse eher in einer egalitär-marxistisch in diesem Kontext nicht auf Beumelburgs Roman geprägten Geschichtsteleologie, wobei der schon Das eherne Gesetz. Ein Buch für die Kommenden

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(1934) eingeht. Denn ebenso wie Remarque hatte einen zivilisatorischen Urzustand zurückkehren, auch Beumelburg eine Fortsetzung seines Welt- der nicht zufällig in Afrika verortet ist und ein kriegsromans veröffentlicht: bestückt mit dem zyklisches Geschichtsverständnis vermuten lässt. überlebenden Personal der Gruppe Bosemüller, Johannes Waßmers bestens zu lesende Studie angesiedelt im Zeitraum von 1930–1933 und mit beeindruckt durch präzise Lektüren der Ro- seiner Opferhandlung als sinngründelnde Devo- mane, die durch eingehende Erkundungen der tionalie an die ‚neue Zeit‘ gerichtet. Wenn es um geschichtsphilosophischen Hintergründe, der welt- die Frage geht, inwieweit sich Beumelburg mit anschaulichen Implikationen und des jeweiligen seiner Ausgestaltung der Frontgemeinschaft und Diskursumfeldes konturiert werden. Dabei gelingt seinen Opfermythen nationalsozialistischen Posi- es ihm, neue Akzente zu setzen. Auch deshalb ist tionen genähert hat, kann dieser Roman durchaus anzunehmen, dass Die neuen Zeiten im Westen zu Antworten liefern. einer Referenzliteratur werden, wenn es gilt, das In Christian Krachts Ich werde hier sein im Niemandsland des Ersten Weltkrieges in Hinblick Sonnenschein und im Schatten wird der Erste Welt- auf seine ästhetischen Einschreibungen literatur- krieg hochgerechnet zu einem weltumspannenden wissenschaftlich zu befragen. Kriegszustand, der in der Erzählgegenwart schon bald hundert Jahre angedauert hat und dessen Manuel Köppen Ende nicht abzusehen ist. Der ‚rasende Stillstand‘ Humboldt-Universität zu Berlin ist ubiquitär geworden. Waßmer liest den Roman Sprach- und literaturwissenschaftliche Fakultät – mit überzeugenden Bezügen zu Jünger – als Institut für deutsche Literatur radikale Dekonstruktion geschichtsteleologischer D–10099 Berlin Vorstellungen. Schließlich wird der namenlos bleibende Ich-Erzähler am Ende des Romans in

Herbert Kopp-Oberstebrink, Hannah Markus, Martin Treml, Sigrid Weigel (Hrsg.) Gershom Scholem: Poetica. Schriften zur Literatur / Übersetzungen / Gedichte. Hrsg. u. Mit- arb. v. Theresia Heuer. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2019, 783 S.

I. Gershom Scholem (1897–1982) gehört zu den 1970 durch den Wiederabdruck im zweiten Band Pionieren der Wissenschaft der jüdischen Mystik, der Judaica Scholems, den er programmatisch deren Erforschung er noch vor seiner 1923 im eröffnet.2 Zeichen des Zionismus unternommenen Aus- Dieser zweite Band der Judaica ist durch die wanderung nach Palästina begann. Seit 1933 war Verzwirnung von Politik und Literatur geprägt: Scholem dann an der Hebräischen Universität Neben Texten zu Fragen der jüdischen Identität in Jerusalem Professor für jüdische Mystik, und zwar der Moderne und zum Verhältnis von Juden und auf einem Lehrstuhl, der eigens für ihn geschaffen Deutschen finden sich Aufsätze zu Samuel Joseph wurde. Acht Jahre nach seiner Berufung erschien Agnon, Martin Buber und Walter Benjamin. Mit mit Major Trends in Jewish Mysticism die erste Letzterem verband Scholem seit den Tagen des seiner großen Darstellungen der jüdischen Mystik, Ersten Weltkriegs eine intensive Freundschaft, insbesondere der Kabbala. Deren Drucklegung im der er 1975 in seinem Buch Walter Benjamin – die Zeitalter der Shoah deutet auf das Maß, in dem Geschichte einer Freundschaft ein so nüchternes sich die Verwerfungen der deutsch-jüdischen Ge- wie bewegendes Denkmal gesetzt hat. Gerade in schichte in Scholems Leben und Werk eingeschrie- den drei Anfangskapiteln dieses Buches rekons­ ben haben. Das bedeutendste Zeugnis davon ist truiert Scholem das faszinierende Kaleidoskop aus sein Text Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen George-Bewunderung, Jugendbewegung, Zionis- Gespräch, der 1964 als ‚offener Brief‘ an Manfred mus, Kommunismus und jüdischer Mystik, das Schlösser erschien.1 Breitere Wirkung erhielt er beide Freunde bis zu Benjamins Selbstmord auf

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 248 | Besprechungen der Flucht vor dem ‚Dritten Reich‘ immer neu Texte in sechs Abteilungen ordnet. Diese heißen: konstelliert haben. I. Klage und Klagelieder, II. Übersetzungen religiöser Überhaupt war es die anhaltende und produk- Texte, III. Sprach- und Übersetzungstheoretisches, tive Reibung mit dem Denken Benjamins, die IV. Chaim Nachman Bialik und Samuel Josef Agnon Scholems wissenschaftliche Beschäftigung mit der (Übersetzungen und Kritiken), V. Literatur und jüdischen Mystik, mit der Kabbala und insbeson- Kritik und VI. Gedichte von 1914–1974. dere mit der Gestalt Sabbatai Zwis entscheidend Die editorische Entscheidung für eine syste- motiviert und geprägt hat. Dank dieser Reibung matische Anordnung der Texte hat naturgemäß spielte die deutsche Literatur von den george- und Vor- und Nachteile. Zu den Nachteilen zählt, dass rilkebegeisterten Anfängen der Jugendzeit an über man den für Scholem jeweils aktuellen Themen, die intensiven Moritz-Lektüren im Zeichen meta- mit denen er sich zeitgleich in unterschiedlichen physischer Verunsicherung3 bis hin zur Ausein­ poetischen, kritischen und theoretischen Texten andersetzung mit der Prosa Kafkas eine wichtige auseinandersetzte, in den verschiedenen Abteilun- Rolle im Denken Scholems, und zwar auch nach gen nachspüren muss. Zu den Vorteilen wiederum der Übersiedlung nach Palästina, ja auch nach dem gehört die Geschlossenheit der Textkonfiguratio- Tode des Freundes. nen, insbesondere, und das soll hier exemplarisch II. Diese etwas umständliche Einleitung scheint dargestellt werden, die der Texte zum Themen- mir wichtig, um auf die Bedeutung des von Her- komplex ‚Klage‘. In der ‚Klage‘ sah Scholem, so bert Kopp-Oberstebrink, Hannah Markus, die Herausgeber(innen) in ihrer Einführung, Martin Treml, Siegrid Weigel und Theresia ein „‚Konstituens‘ des jüdischen Volkes“ und ein Heuer edierten Bandes der Scholem’schen Poetica „Gedächtnis der Trauer“ (S. 28) mit überzeitlichem angemessen hinweisen zu können. Die von ihnen Anspruch. Zugleich war ihm die Klage die Form erschlossenen 119 Texte ermöglichen nämlich des existenziellen Gedichts, eine literarische Form, nicht nur eine genauere Beobachtung der Denk- in der Artistik und Metaphysik zusammenfallen. bewegungen Scholems, sie stellen zugleich eine So schreibt Scholem schon im 1917 entstandenen so faszinierende wie bewegende deutsch-jüdische und erst posthum publizierten Text Über Klage Literaturgeschichte in nuce dar. Mit der Wahl und Klagelied: „Jede Klage kann als Dichtung des Titels haben die Herausgeber(innen) ihren ausgesprochen werden, denn eben ihre besondere Band den Judaica als integralen Bestandteil des Grenzhaftigkeit zwischen den sprachlichen Rei- Scholem’schen Schreibens an die Seite gestellt. chen, ihre tragische Paradoxie macht sie dazu. (So Und in der Tat gehören viele der hier edierten hat auch das Hebräische für Klage und Klagelied Texte in den unmittelbaren Umkreis der Judaica- dasselbe Wort: Qinah.) Ja, vielleicht haben die Interventionen; diese Nähe gilt auch im Hinblick Sprachen der symbolischen Gegenstände keine auf Scholems pointierten, bewusst den konkreten andere Möglichkeit, zu Sprachen der Poesie zu wer- Anlass als Impuls zur grundsätzlichen Überlegung den, als in der Beschaffenheit der Klage.“ (S. 38) verwendenden Zugriff auf die jeweilige Materie. Für den jungen zionistischen Aktivisten avan- Anders als im Falle der Judaica jedoch, die ciert die biblische Klage zugleich zum Vehikel zumeist aus Reden und Vorträgen Scholems her- einer theologischen negativen Dialektik und zum vorgingen, sind die in den Poetica versammelten Inbegriff mythischer Rede. „Die Monotonie [der Texte äußerst heterogen. Teilweise handelt es sich Klage]“, schreibt Scholem, „ist das tiefe sprachliche um nicht für die Publikation vorgesehene Tage- Symbol des Ausdruckslosen, das seine Strahlen bucheinträge, teilweise sind es kurze öffentliche nach innen sendet, der Dunkelheit aller Trauer, die Statements, teilweise aber auch umfangreiche ihr eigenes Licht absorbiert. Jedes Wort erscheint diskursive Einlassungen auf Themenfelder, die nur, um zu sterben, und vielleicht darf die Ver- Scholem elementar wichtig waren – und nicht mutung gewagt werden, daß die Kunstform der zuletzt gehören mit seinen Gedichten auch genu- meisten späthebräischen Klagelieder: das alphabe- in poetische Texte zum Textbestand des Bandes. tische Akrostichon, mit diesen symbolischen Sinn Diese Heterogenität hat die Herausgeber(innen) hat, zum mindesten damit zusammenhängt, daß dazu bewogen, sich für ein prinzipiell systemati- die Klage alle Sprache umfaßt und alle Sprache ver- sches Ordnungsprinzip zu entscheiden, dass die nichtet. […] So ist die Klage in der Dichtung, was

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Besprechungen | 249 der Tod in der Sphäre des Lebens ist.“ (S. 39)4 Dass zumeist ausgesprochen polemisch vorgebrachte sich Scholem und Benjamin 1918 und 1919 in Bern Abgrenzung gegen die Wissenschaft des Juden- intensiv über die Klage austauschten, ist angesichts tums ist so nicht länger zu halten. Vielmehr der Nähe des oben zitierten zur Sprachphilosophie ist es durchaus möglich, Scholems Philologie des jungen Benjamin verständlich. Für Scholem des Hebräischen als Teil der Wissenschaft des jedoch waren diese theoretischen Überlegungen Judentums anzusehen. Leider gehen die Heraus- immer auch der trigonometrische Punkt für seine geber(innen) auf dieses Spannungsverhältnis nur Übersetzungen hebräischer Klagen. am Rande, und dann zumeist glättend, ein.6 Auf Diese Übersetzungen stehen, das zeigen die im jeden Fall erschließt der Band in diesen ersten Band angedruckten Texte sehr eindrücklich, unter beiden Abteilungen hochinteressantes Material, dem Primat dichterischen Sprechens. Scholems das zur Neubewertung der Scholem’schen Verdikte Auseinandersetzung mit den Klagen des Jeremias, gegen die Wissenschaft des Judentums allgemein des Hiob, mit dem Buch Joel und mit mittelalter- und speziell gegen Leopold Zunz einlädt. lichen hebräischen Klagen zielen ebenso wie seine Die dritte Abteilung – Sprach- und Übersetzu- weiteren Übersetzungen religiöser Texte, die im ngstheoretisches – ist vielleicht die konzeptuell zweiten Abschnitt des Bandes aufgenommen sind, spannendste. Zugleich bietet sie vorwiegend Un- auf eine Poesie des Erhabenen, bei der es vor allem bekanntes, denn nur drei der hier präsentierten auf den gelungenen dichterischen Zugriff an- 17 Texte sind zuvor abgedruckt gewesen. Im kommt. Dabei ist der Einfluss der lyrischen Spra- Zentrum der Sprachphilosophie und -theologie che Georges bis in die Zeichensetzung hinein zu Scholems steht das Hebräische, konkret das „Bibel- spüren. Scholem selbst hat im Rahmen einer um- hebräisch“. An dessen „Würde und Strenge“, so die fangreichen Auseinandersetzung mit Meir Wieners Herausgeber(innen), misst Scholem „jede Art des Übersetzungspraxis im Band Die Lyrik der Kabbala Umgangs mit dem Hebräischen, Übersetzungen explizit auf dieses Vorbild hingewiesen: „Man hat der Überlieferung ebenso wie die neuhebräische im Deutschen Stefan Georges Schlußgedicht des Literatur und Umgangssprache“ (S. 208). Das ‚Stern des Bundes‘: ‚Gottes Glanz ist uns ergossen‘, führt in der Konsequenz zu einer Radikalität, vor man lese es und man wird sich einen besseren Be- der jeder gelebte und sprachlich bewältigte Alltag griff von einer Hechaloth-Hymne machen können nur defizitär ausfallen kann. In der Tat gerät der als Wieners mörderische Übersetzungstechnik Zionist Scholem nach seiner Alija (Einwanderung erlaubt […]“ (S. 562). nach Palästina) schon bald an den Rand des zio- Überhaupt gehört es zu den faszinierenden nistischen Spektrums und muss erleben, dass die Erlebnissen der Poetica-Lektüre, beobachten messianische Welt des Bibelhebräischen unver- zu können, wie sich Scholems Philologie des mittelt auf die profane des Neuhebräischen trifft. Hebräischen aus dem Erlebnis der Dichtungen Aus diesem Spannungsverhältnis resultieren von Rilke, George, Hölderlin („Wer unter den zahlreiche Texte des Bandes. Besonders pointiert Deutschen hat über Dichtung Tieferes gesagt als wird diese Torsion im chronologisch letzten Text Hölderlin?“, S. 420) konstelliert. Scholem ging es der dritten Abteilung geschildert, der auch des- dabei weniger um die philologische Rekonstruk- wegen bedeutsam ist, weil Scholem hier seinen tion als vielmehr um eine Wiederbelebung aus deutschen Sprach-Ursprung in Beziehung zum dem Geist philologischer Kenntnis. Er verstand, neuen Hebräisch setzt. Die 1970 niedergeschrie- so die Einleitung, „seine Philologisierung und bene Reflexion Sprache sei ob ihrer Bedeutung Kommentierung kabbalistischer Texte […] als und Prägnanz ausführlich zitiert: „Bis um 1930 ‚säkularisierte Verlängerung der Tradition‘5 und blieb ich in Kontakt mit meiner Muttersprache. somit als Verwandlung“ (S. 18). Ich habe 1933 den Kontakt zu ihr verloren, und In dieser Hinsicht trägt die Lektüre der Scho- die Phase der deutschen Sprache, die mit Hitler lem’schen Übersetzungen aus dem Hebräischen einsetzte, nicht miterlebt oder durchgemacht. und Jiddischen, aber auch die seiner theoretischen So bin ich, wenn ich hin und wieder Deutsch Überlegungen Entscheidendes zur Korrektur des schreibe, ein altmodischer Autor, ich schreibe noch tradierten (Selbst-)Bildes von Scholem bei. Ins- immer das Deutsch meiner Jugend und bin dann besondere die von Scholem immer wieder und plötzlich betroffen, wenn sich herausstellt, daß

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Worte, Bilder und Assoziationen, die Sinn, Würde interessiert wir die narrativen Unzuverlässigkeiten; und Zusammenhalt hatten, tabu geworden sind selbst die Tatsache, dass Portnoys ‚Beschwerde‘, wie und nicht mehr gebraucht werden können, weil es im Deutschen bedeutungseinschränkend heißt, sie in der Sprache des 3. Reiches zu Tode geritten sich aus der Tradition der Klage herschreibt und worden sind […]. / Aber dasselbe Erlebnis, nur diese in die amerikanische Gegenwart überführt, von der entgegengesetzten Richtung, habe ich im scheint Scholem entweder zu entgehen oder nicht Hebräischen gehabt. Die Sprache, die wir in Israel zu interessieren. Sein Verdikt ist eindeutig: „Das entwickelten, ist nicht mehr die Sprache, die wir ist das Buch, das alle Antisemiten sehnsüchtig vor 50 Jahren aus den alten Büchern zu lernen erwartet haben, und ich wage zu behaupten, dass unternahmen, als uns von dort ein merkwürdig dieses Buch uns allen vorgehalten werden wird, verführerischer Glanz entgegenkam.“ (S. 310, alle wenn sich die Zeiten einmal ändern sollten, was Hervorhebungen im Original.) kaum mehr lange dauern dürfte, und wir werden Dass sich Scholem trotz dieser auch in anderen es sein, die dafür gerade stehen müssen, nicht Texten des Bandes durchscheinenden melancho- der Autor mit seinen unflätig-pornographischen lischen Erkenntnis nicht aus dem Tagesgeschäft Worten.“ (S. 610) des israelischen Intellektuellen zurückgezogen Dieser Kritik, deren Beweggrund verständlich, hat, sondern weiter deutliche und streitbare Posi- deren Ergebnis jedoch zutiefst unliterarisch (und tionen bezog, das lässt sich in vielen literarischen ungerecht) ist, stehen in der Auswahl des Bandes Kritiken beobachten. 15 von ihnen sind in der andere, wunderbare Arbeiten gegenüber. Mich fünften Abteilung des Bandes – Literatur und hat v. a. die umfangreiche Auseinandersetzung Kritik – versammelt; ihr zeitliches Spektrum reicht Scholems mit dem Roman Nur wie ein Gast zur über sechs Jahrzehnte von 1918 (Gedanken über Nacht (1939) von Samuel Josef Agnon fasziniert, Mörikes „Maler Nolten“) bis 1979 (Die Spürnase die 1965 in der Neuen Rundschau erschien. Sie von Slabodka). Bei der en-suite-Lektüre dieser kri- findet sich in der vierten Abteilung der Poetica, die tischen Interventionen fasziniert, wie konsequent ausschließlich übersetzerische und kritische Texte Scholem an seiner messianischen Agenda auch Scholems zu Chaim Nachman Bialik und Samuel im Hinblick auf die Literatur festhält und wie Josef Agnon bringt, jenen Autoren, die für Scholem intensiv er die unterschiedlichsten Texte aus einer die entscheidenden hebräischen Dichter der Mo- jüdischen Perspektive betrachtet. Scholem liest die derne waren. Scholem findet für diesen Roman, Weltliteratur prononciert als Jude, d. h. auch, dass der die Welt des polnischen Judentums – aus der im Zweifelsfall der ästhetische Wert geringer wiegt Agnon schon kurz nach der Jahrhundertwende mit als der (vermeintliche) ethische. seiner Alija ausbrach – kurz vor ihrer Auslöschung Ein gutes Beispiel dafür ist seine intensive Aus- beschreibt, Bilder von melancholischer Großartig- einandersetzung mit Philip Roths Roman Portnoy’s keit; Bilder, die diese kritische Annäherung selbst Complaint, die 1969 in der Tageszeitung Haaretz zu einem kleinen literarischen Kunstwerk machen. erschien. Hier spricht Scholem halb ernst, halb Und auch Scholems eindrückliche Erinnerungen ironisch von seinem „Hobby, antisemitische Lite- an seine Begegnungen mit Agnon gehören, eben ratur aufmerksam zu verfolgen“ – und in diesem weil sie Literatur intensiv mit den geschichtlichen Zusammenhang avanciert Portnoy’s Complaint Momenten jüdischer Existenz zwischen Europa für ihn zum Paradesbeispiel einer erzählerischen und Palästina verbinden, zu den Höhepunkten Umsetzung des jüdischen Selbsthasses. „Es ist ein des Bandes. allgemein bekanntes Phänomen“, so Scholem, Die sechste und letzte Abteilung der Poetica „dass die Antisemiten sehnsüchtig davon träumen, schließlich bietet eine Auswahl von 52 Gedichten die Juden dadurch in Verruf zu bringen, solche Scholems, die zwischen 1914 und 1974 entstanden Literatur zu produzieren, die ihren moralischen sind. Das ist mehr als ein Drittel seiner insgesamt Tiefstand, ihre Sittenverderbnis speziell in se- 140 überlieferten Gedichte. Scholems Lyrik, das xuellen Angelegenheiten offen legt.“ Ein solches zeigt diese gelungene Auswahl nachdrücklich, Buch nun sieht Scholem im Roman von Philip hat gewaltige Amplituden, die vom quasi im- Roth, dessen ironische Anlage, die spätestens mit provisierten humoristischen Gelegenheitsgedicht dem letzten Satz evident wird, ihn ebenso wenig („Heißa ruft’s aus Scholems Mund, / meine Niere

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Besprechungen | 251 ist gesund / und in diesem Buchgeviert / fließt eingehend nach. Lesen Sie Anton Reiser von Moritz. die Arbeit wie geschmiert […]“ [S. 753]) bis zur Es ist eines der größten Bücher[,] die es gibt, unend- geschichtsphilosophischen Standortbestimmung lich traurig, von einem unglücklichen Menschen und lyrischen Selbstvergewisserung reichen. Dazu geschrieben in einem wahrhaft historischen Stil, gehören natürlich in erster Linie jene Gedichte an der von derselben metaphysischen Größe und Ein- dringlichkeit ist wie der alter Chroniken […]“. In: Benjamin, in denen Scholem die Gemeinsamkei- Gershom Scholem: Briefe (3 Bde.). Bd. I: 1914–1947. ten und das Trennende auslotet, wie etwa der für Hrsg. v. Itta Shedletzky. München 1994, S. 159). Benjamins Geschichtsphilosophie wichtige Gruß In den Tagebüchern der Jahre 1918/1919 heißt es vom Angelus oder das Sonett W.B. aus dem Juli über den Anton Reiser: „Niemals wird ein größerer 1918, das zugleich ein bewegendes Zeugnis von Katechismus wahrhaftester religiöser Ironie auf die Freundschaft, ja Liebe und Distanz ist. Erlösung geschrieben werden. Und doch erhebt III. Soweit einige Schlaglichter auf die Tex- sich über all die Lüge der Erlösung, die in diesem te dieses wunderbaren Bandes, der für alle an Buch keinen rühmlichen Tod stirbt, mit doppelter der deutsch-jüdischen Geschichte Interessierte Gewalt die Klage, die die höhere Erlösung ist.“ In: ebenso unverzichtbar ist wie für Literaturwis- G. S.: Tagebücher nebst Aufsätzen und Entwürfen bis 1923. Zweiter Halbband: 1917–1923. Hrsg. v. senschaftler(innen) und Philosoph(inn)en. Das Karlfried Gründer, Herbert Kopp-Oberstebrink, Spektrum der umfangreichen Auswahl ist aus- Friedrich Niewöhner. Frankfurt a. M. 2000, gesprochen breit und dokumentiert so nicht nur S. 228 f. Dort auch weitere Zeugnisse der intensiven die weitgespannten Interessen Scholems, sondern Auseinandersetzung Scholems mit diesem Roman. auch seine literarische Wandlungsfähigkeit. Für Insbesondere auf das Motiv (und die Gattung) der jene, die sich zum ersten Mal mit Scholem be- Klage für Scholems weiteres literarisches Denken fassen, bieten die Poetica eine – man darf sagen: ist hinzuweisen. unverzichtbare – Ergänzung zu seinen wissen- 4 Von dieser Theorie der Klage ausgehend, scheint mir schaftlichen und (kultur-)politischen Arbeiten; die in der Einleitung aufgemachte Dichotomie von Kenner(innen) der Materie hingegen dürften griechisch-lateinischer und jüdischer antiker Klage falsch. Einleitend heißt es einigermaßen verwirrend: vom glänzenden Stil, dem Ideenreichtum und „Anders als die Klage in der griechischen Antike, der dichten Verzwirnung der hier verfolgten die sich aus Epos und Tragödie herschreibt, sind literarischen Gedanken überrascht sein. – Die die Klagen der jüdischen Tradition durch Merkmale umsichtig edierten7 und von Eva-Maria Thimme der poetischen Sprache gekennzeichnet, womit sie teilweise aus dem Hebräischen übersetzten Texte für Scholem in der Nähe der Dichtung stehen.“ sind jeweils am Ende kommentiert, wobei ein den (S. 27) Nun ist mir erstens nicht klar, warum die sich Band abschließendes Glossar die wichtigsten wie- aus ‚Epos und Tragödie herschreibende‘ griechisch- derkehrenden Judaica und Hebraica aufschlüsselt. antike Klage im Gegensatz zur Klage der ‚jüdischen Den Herausgeber(inne)n kann man für diesen Tradition‘ nicht durch Merkmale der ‚poetischen sorgfältig gemachten und zur Wieder- und Neu- Sprache‘ gekennzeichnet sein soll; und zweitens übersieht diese Einteilung doch wohl den Ursprung entdeckung Scholems einladenden Band kaum der griechischen antiken Klage aus dem sakralen genug danken. Bereich der Tragödie, der integraler Bestandteil des Dionysoskultes war. 5 Dieses Zitat der Einleitung entstammt Daniel Anmerkungen Weidners Studie: Gershom Scholem. Politisches, esoterisches und historiographisches Schreiben. 1 Gershom Scholem: Wider den Mythos vom deutsch- München 2003. jüdischen Gespräch. In: Auf gespaltenem Pfad. Zum 6 Diese Unschärfe betrifft auch Scholems Spannungs- neunzigsten Geburtstag von Margarete Susman. verhältnis zur Haskala. Beides kommt in seinen Hrsg. v. Manfred Schlösser. Darmstadt 1964, Texten implizit und explizit (und oft en passant) zur S. 229–232. Sprache, wird im Kommentar aber nicht aufgegrif- 2 Gershom Scholem: Judaica 2. Frankfurt a. M. 1970 fen. Ja manche Bemerkungen sind schlicht falsch, (62003), S. 7–11. so die zu Mendelssohns Pentateuch-Übersetzung, 3 Vgl. die Erwähnungen des Anton Reiser in den zu der es in Verkennung seines philologischen und Tagebüchern und im Brief an Escha Burchardt sprachpolitischen Vorhabens heißt, sie sei „durch die vom 21.6.1918: „Über manche Bücher denke ich Entfremdung der deutschsprachig aufwachsenden

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jungen Generation seiner Zeit von der hebräischen Benjamin Kedar über Portnoy’s Complaint fand 1969 Überlieferung motiviert“ (S. 131). Vgl. dazu Grit und nicht (wie im Text auf S. 611 zu lesen) 1929 statt. Schorch: Moses Mendelssohns Sprachpolitik. Berlin, Boston 2012. 7 Mir sind bei der Lektüre nur zwei sinnentstellende Cord-Friedrich Berghahn Fehler aufgefallen; so dürfte Scholem in seiner Aus- Technische Universität Braunschweig einandersetzung mit Rilkes Malte Laurids Brigge Institut für Germanistik von der Versdichtung Rilkes schreiben (im Text auf Bienroder Weg 80 S. 534: Verdichtung), und die Auseinandersetzung mit D–38106 Braunschweig

Rainer Barbey, Thomas Petraschka (Hrsg.) Ernst Jünger. Gespräche im Weltstaat. Interviews und Dialoge 1929–1997. Verlag Klett-Cot- ta, Stuttgart 2019, 575 S. (I.)

Anja Keith, Detlev Schöttker (Hrsg.) Ernst Jünger / Joseph Wulf. Der Briefwechsel 1962–1974. Vittorio Klostermann Verlag, Frankfurt a. M. 2019, 168 S. (II.)

I. Der von Rainer Barbey und Thomas Petrasch- und informativ, weder geschwätzig noch senil. ka herausgegebene Band Gespräche im Weltstaat Nietzsche, Schmitt und Heidegger erscheinen als bietet einen Wiederabdruck von 43 der insgesamt wichtigste Stichwortgeber. 105 nachgewiesenen Interviews mit Jünger. Nur Hier wird Jüngers Denken eindrücklich deutlich: fünf davon erfolgten vor 1945, die allermeisten seine politische Wendung vom Nationalismus zum betreffen späte und späteste Jahre. Es überwiegt Konzept des ‚Weltstaats‘ ebenso wie die Metaphysik deshalb der vielfältige Rückblick auf die zentralen vom ‚Arbeiter‘ in der Weltzeit der ‚Titanen‘. Mit Fragen der weiteren Öffentlichkeit an Jüngers Novalis, Hölderlin und Heidegger besteht Jünger, Leben und Werk: Fragen nach Jüngers Verhältnis auch gegen Schmitt, auf einer ‚magischen‘, religiösen zum Nationalsozialismus und zum Krieg, zu den und dichterischen Erfahrung der gegenwärtigen Begegnungen mit berühmten Weggefährten und ‚Gestalt‘ der Zeit. Seinen hermeneutischen Anspruch Zeitgenossen, zur Lage bei Kriegsende in Paris, verschiebt er dabei im Alter von seinen Romanen zur politischen Biographie und Wendung vom verstärkt auf das Tagebuchwerk, das er in seiner – dezidierten Nationalisten zum Visionär des ‚Welt- früh prospektierten (S. 45) – Gesamtausgabe „in die staats‘, zur metaphysischen Deutung des Lebens erste Abteilung gesetzt“ (S. 489) hat. Die Auffassung als Traum. vom Dichter als hermeneutischem Zeitgenossen Der prägnant eingeleitete und sorgfältig edierte wird im Interview in der Nähe zu Heidegger deut- seitenstarke Band ist im Kommentar allzu knapp lich. Die sehr abstrakte Rede vom ‚Weltstaat‘ grenzt gehalten. So wären nähere Informationen zu den Jünger dabei nur vage gegen die Lage der EU und – oft französischen – Interviewpartnern und der BRD ab. Es bleibt offen, ob seine Alternative Umständen der Gespräche wünschenswert ge- zum Nationalstaat nicht eher eine Dystopie ist. So wesen. Die Interviews zeigen weniger die Wand- formulierte Jünger 1993 in Übereinstimmung mit lungen Jüngers als rückblickende Variationen Schmitt: „Im Weltstaat wird der Krieg zwischen seiner Kernfragen und eignen sich deshalb auch den Nationen durch den Bürgerkrieg ersetzt.“ als Einstiegslektüre in sein Leben und Werk. (S. 398) Dagegen versteht und erläutert er sich im- Zwei Großinterviews (mit Hervier und mit Gnoli/ mer wieder als ‚Anarch‘, der sich stoisch aus dem ta- Volpi), 1985 und 1995 anlässlich des 90. und des gespolitischen Engagement zurückzieht. Die späten 100. Geburtstags geführt, dominieren quantitativ. Interviews assoziieren die eigene Flucht aus Krieg, Jüngers Erörterungen sind im redaktionierten Großstadt und Zivilisation in die Naturbeobachtung Text durchgängig eindrücklich konzentriert und das oberschwäbische Landleben aber auch mit

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Besprechungen | 253 der zeitgenössischen ökologischen Bewegung. Für Eindeutigkeit einfordert, besteht Jünger auf dem Jüngers intellektuelle Biographie sind die Interviews Vorrang der Dichtung und einer Unterscheidung eine zentrale Quelle. Der subtile Jäger und Anarch zwischen „Realität“ und höherer „Wirklichkeit“ fesselt im Interview durch nuancierte Erinnerungen (S. 63). Ein Fernsehinterview mit Wulf oder und Einblicke. Seine Klarstellungen machen Berge G. Gaus lehnt er ab. Als Wulf die Wehrmachtsver- von Deutungsliteratur überflüssig. brechen schonungslos anspricht (S. 65 ff.), verweist Jünger auf seine anderen Insidererfahrungen und II. Immer wieder betonte Jünger im Interview die allgemeine Lage ‚nach Versailles‘. seine Distanz zum Nationalsozialismus. Er verwies Nach dem Tod seiner Frau beging Wulf 1974 in dafür u. a. auf seine Zurückweisung der Avancen Berlin Suizid. Zuvor kaufte er für Jüngers Trauer- von Hitler und Goebbels, seinen Weggang aus gabe noch fünf Bäume zur Pflanzung in Israel. Die Berlin und Umgang mit der militärischen Oppo- vorzügliche Edition bildet die Dankesurkunde des sition in Paris (z. B. mit Stülpnagel). Zum Anti- Jüdischen Nationalfonds an Jünger ab (S. 104). semitismus und Holocaust äußerte er sich kaum. Die dichte Korrespondenz umfasst in 12 Jahren Der von Anja Keith und Detlev Schöttker 159 Texte. Das Herausgebernachwort spricht bei herausgegebene erste Band der neuen Jünger- der Rekonstruktion der Beziehung von „gegen- Studien widmete sich dieser zentralen Frage. Die seitigem Interesse“ und „freundschaftlicher Ver- Publikation des Briefwechsels mit dem im Werk bindung“ (S. 157). Während die Zunft den linken sehr selten, in den Interviews zumindest gelegent- jüdischen Historiker weitgehend ignoriert, lässt lich erwähnten jüdischen Historiker Joseph Wulf sich ausgerechnet der alte Krieger und subtile Jäger verbreitert nun die Quellenbasis der Diskussion. auf die Korrespondenz und Beziehung ein. Wulfs Wulf (1912–1974) war Auschwitz-Überlebender, konfrontativer Insistenz auf den Fakten und seinem freier Autor und Publizist ohne institutionellen moralischen Standpunkt weicht Jünger aber vielfach Rückhalt und angemessene Anerkennung durch aus, und er erwähnt ihn in seinem publiken Werk die Historikerzunft. Die detaillierte Dokumenta- kaum. Nicht zuletzt aus Respekt vor Wulfs ‚objek- tion des Holocaust war seine Mission. Wulf suchte tivistischem‘ Umgang mit dem Holocaust hielt er das Gespräch, Korrespondenz wie persönliche wohl den Kontakt. Die Herausgeber betonen Wulfs Begegnung, in hoher „Wertschätzung“ (S. 9) von Außenseiterstellung im Fach. Gibt es vergleichbar Jüngers Haltung im Nationalsozialismus. Jünger intensive Beziehungen mit etablierten professionellen verkörperte ihm in der moralistischen Revision des Historikern? Schätzte Jünger vielleicht gerade den Geschehens geradezu die humane Hoffnung auf dokumentatorischen Umgang mit dem Holocaust, die Möglichkeit persönlicher Integrität. während er stärkere historische Deutungen aus der Wulf litt erklärtermaßen an „Archivitis“ (S. 12): Rolle des überlegenen Dichters ablehnte? Im Ver- Er suchte „objektivistische“ Worte für den Holo- gleich mit dem Interviewband fällt auf: In Interviews caust in der dokumentarischen Archivarbeit und äußerte Jünger sich zur Geschichte sehr faktisch; den entdeckte für Jünger sogleich mancherlei entlasten- konfrontativen Fragen des rigiden Positivisten und des Material, so dessen Austrittsbrief aus der Ber- Moralisten aber wich er vielfach aus: Er verweigerte liner Dichterakademie. Die „Pilgerfahrt“ (S. 17) die Antwort zwar nicht, antwortete aber mitunter nach Wilflingen verglich der sich als „Schicksalsju- sehr knapp und indirekt. Jüngers dichterischer de“ (S. 31) fühlende Wulf einmal mit der Stellung Anspruch und seine postkonventionelle moralische des Spinoza zu Descartes. Als er seine Forschungen Haltung wird durch beide lesenswerte Editionen auf die Geschichte der Wehrmacht und der SS deutlicher. konzentrierte, zeigten sich deutliche Differenzen in den Wertungen, die Jünger aber durch den Reinhard Mehring Hinweis auf die überlegene humane Substanz der Pädagogische Hochschule Heidelberg Beziehung relativierte. Der Zugang zum Problem Institut für Gesellschaftswissenschaften konnte unterschiedlicher kaum sein: Jünger rela- Abt. Politikwissenschaft tiviert die Bedeutung der Geschichte durch seine Postfach 10 42 40 Frage nach der Zukunft des „Weltstaats“ (S. 50). D–69032 Heidelberg Wo Wulf Faktendokumentation und moralische

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 254 | Besprechungen

Michael Woll Hofmannsthals „Der Schwierige“ und seine Interpreten. Wallstein Verlag, Göttingen 2019, 435 S.

Michael Woll unternimmt in seiner Disserta- Protagonisten; der Schwierige selbst analysiere anhand tionsschrift den Versuch, die Interpretation des der getrennt voneinander existierenden Perspektiven, berühmten Dramas Hugo von Hofmannsthals mit „was eine Komödie unter modernen Bedingungen der Erforschung seines Nachlebens zu verbinden. Der sein kann.“ Die Modernität des Stücks sieht Woll Autor steht dabei der von Jean Bollack begründe- nicht zuletzt in der „Analyse verschiedener Perspekti- ten Kritischen Hermeneutik nahe, auf die er sich ven als mehrerer ‚Welten‘“ (S. 38), deren Vermittlung überwiegend über die Schriften Christoph Königs letztlich scheitere. bezieht. Im Sinne eines „Streitsubjekts“ (S. 13) wird Der Abschnitt zu Hofmannsthals Essays, der das Werk als partikulare Komposition begriffen, die allerdings in gleichem Maß auch andere drama- sich der Idee der Deutungspluralität versperrt: „Das tische Werke des Dichters berührt, zeigt auf, in- Werk schafft einen Streit und entscheidet ihn.“ (ebd.) wieweit die poetischen Verfahren des Schwierigen Im Interesse dieses Streits werden Interpretation und im Übrigen Werk Erwähnung finden. Hierbei ist Wissenschaftsgeschichte durchweg aufeinander Woll der vorsichtige Umgang mit poetologischen bezogen; Analyse und Kritik der philologischen Äußerungen Hofmannsthals ein besonderes Prämissen bereits existierender Lektüren werden in Anliegen. So soll der allzu gerade Weg von den Wechselwirkung mit der eigenen Deutung gesetzt. Essays zum Einzelwerk vermieden werden, der in Die Studie ist in drei Hauptteile untergliedert: der Forschung insbesondere bezüglich der Auf- Auf eine eigene Interpretation des Dramas, das Pe- zeichnungen Ad me ipsum oftmals eingeschlagen ter Szondi 1956 „das wohl vollendetste Schauspiel worden sei. Besprochen werden hier in einem neuerer deutscher Literatur“1 nannte, lässt Woll hohen Tempo u. a. die Essays zu Balzac, Raimund einen Abschnitt folgen, der Vergleichspunkte zwi- und Molière, aber auch dramatische Texte wie Der schen Hofmannsthals Essays und dem Schwierigen weiße Fächer oder Ariadne auf Naxos. Eine Kon­ sucht, bevor der letzte Hauptteil ausführlich die stante bildet erneut die Gattungsreflexion, die Geschichte der Rezeption des Stücks nachzeichnet. Woll als eine der zentralen Fragen Hofmannsthals Wolls Deutung des Schwierigen, der Komödie, die nach der Jahrhundertwende beschreibt – die Suche von der überraschenden Verlobung des Protagonisten nach der Gattung und einer ihr korrespondieren- Hans Karl handelt, vor allem aber von den zahllosen den Perspektive komme stets in der Kompositions- Missverständnissen und Wirrungen, die sich auf dem logik der Werke selbst zum Tragen. Weg dorthin ergeben, sobald die Figuren des Dramas Die Geschichte der Interpretationen des Schwie- sich zu reden anschicken, beruht auf der Annahme rigen sowie ihre wissenschaftshistorischen Im- eines erkenntnistheoretischen Problems: Inmitten plikationen untersucht Woll chronologisch, des Misslingens nahezu jeglicher Verständigung wobei zunächst auffällt, dass zu Beginn eines richte sich der Protagonist nach einer Logik, „durch jeden Abschnitts ein literaturwissenschaftlicher die die Handlung aus dessen Sicht nicht ‚zufällig‘, ‚Nachlassverwalter‘ vorgestellt wird, um einen er- sondern ‚notwendig‘ erscheint.“ (S. 55) Da die Er- weiterten Blick auf die institutionellen Prämissen fahrung dieser Notwendigkeit aber dem Problem der Erforschung des Werks zu ermöglichen. Von den unterworfen ist, dass „die reflektierende Sprache dem zeitgenössischen Reaktionen auf den Schwierigen Phänomen der Unmittelbarkeit“ (S. 33) nicht ohne über die Forschungen der Nachkriegszeit bis zu weiteres gerecht wird, bleibe sie auf eine individuelle ideologiekritischen Debatten und methodenplu- Perspektive beschränkt. Neu an Wolls Deutung ist ralistischen Ansätzen seit den 1970er Jahren wird die Annahme einer an die Innenperspektive des ein detailliertes Bild entworfen. Hier überzeugt Protagonisten geknüpften Gattungsreflexion inner- besonders die Analyse vielfältiger weltanschauli- halb des Stücks: „Dichten heißt, eine Perspektive cher Aneignungen, denen das Werk ausgesetzt war einnehmen“ (S. 58). So beschränke sich die klassische – etwa in den Hypostasierungen des Dichterischen Form einer Verlobungskomödie auf die Sicht des durch Emil Staiger, der metaphysisch-existentiellen

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Lesart Wilhelm Emrichs oder dem Einsatz für Prinzipien reflektierende Rückkehr zu Lektüreresul- das ‚Zeitlose‘ durch Richard Exner.2 Lediglich taten einschließlich der Interpretationsgeschichte im zu bedauern ist, dass Woll die innerliterarische Vergleich mit dem Werk.“3 Dagegen hätte ich eher Rezeption ausschließt, da „nicht das Verstehen des eine gegenläufige Bewegung erwartet, der zufolge Ausgangstexts ihr Hauptanliegen ist, sondern die die kritische Auseinandersetzung mit der Sekundär- Kreativität.“ (S. 25) Es hätte das hier entworfene literatur erst eigentlich auf den eigenen Standpunkt Tableau vervollständigen können, die Analyse des abzielt, der dem vom ‚Streitsubjekt‘ geforderten einer rezipierenden Kreativität prinzipiell zugrun- ‚Zwangsverhältnis‘ so genau wie möglich entspricht. deliegenden Verstehens oder Missverstehens in die Sosehr die Grundzüge der Interpretation sowie zahl- Studie einzubeziehen. reiche Positionierungen in Einzelfragen überzeugen, Dass der dritte Teil das eigentliche Kernstück sosehr enthält sich Woll zuweilen einer eindeutigen der Arbeit ausmacht, drückt sich nicht nur im Festlegung; etwa in der Frage nach einer möglichen Seitenumfang aus, der die übrigen Kapitel bei Opposition von „analytischem Drama“ und „pro- Weitem übersteigt: Wenn es gilt, eine bestehende gressiver Lesart“ (S. 73 f.). Auch nehmen einige Interpretation zu historisieren und zu zeigen, gewichtige Aspekte der bisherigen Forschung er- inwiefern die Interpreten den Forderungen der staunlich geringen Raum ein. So wird etwa dem das Partikularität des Werks mehr oder weniger gut Stück durchziehenden Motiv der Absichtslosigkeit, entsprochen haben, überzeugt die Studie am das sich nicht allein im anfänglich von Hofmanns- meisten. So entsteht induktiv vom Einzelwerk thal erwogenen Titel „Der Mann ohne Absicht“ her ein aufschlussreicher Bildausschnitt der Hof- andeutet, nur randständige Bedeutung beigemessen mannsthalforschung sowie der Germanistik des (z. B. S. 39, 56). Die Interpretation verschiedener 20. Jahrhunderts im Allgemeinen. Einzelaspekte des Stücks wird zudem durch einen Indes hätte ich mir von der Deutung des stetigen Wechsel der Beschreibungsebenen ver- Schwierigen gelegentlich etwas mehr Entschie- kompliziert: Zuweilen gerät über die Pluralität an denheit gewünscht. Die vom Autor formulierte Perspektiven im Stück (Innenperspektive des Pro­ Annahme eines Zwangsverhältnisses, das zwischen tagonisten, Außenperspektive der übrigen Figuren, einem Werk und seiner Interpretation besteht, Publikumsperspektive sowie Selbstdeutungen des verlangt eine Lektüre von größtmöglicher Ab- Autors) eine umfassende Kompositionsperspektive geschlossenheit. Sie bildet die Basis, von der aus des Textes selbst etwas außer Sicht, die die Pluralität erst die Kritik der Deutungsgeschichte umfassend nach eigenen Regeln unter sich fassen könnte. In unternommen werden kann. Zugleich schwächt dieser Hinsicht hätte ich mir gewünscht, dass die der Autor selbst diese Forderung an mehreren Stel- Studie ihrem Gegenstand etwas weniger entspräche. len ab. So heißt es: „Es wäre ein Missverständnis anzunehmen, dass die Interpretation, die ich vor- lege, als Maßstab gemeint ist oder gar als ‚richtige‘ Anmerkungen Interpretation: Zwar folge ich dem Gedanken, dass zwischen dem Werk und seiner Interpretation ein 1 Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas. In: Schriften I. Hrsg. v. J. Bollack. Frankfurt a. M. ‚Zwangsverhältnis‘ besteht, doch darunter verstehe 1978, S. 82. ich ein Ideal, dem man sich annähern kann, indem 2 Vgl. hierzu die Kapitel IV.2.2.1, IV.2.2.2 und man sich an Syntax und Kompositionslogik des IV.3.2.2 in Wolls Buch. Werks orientiert.“ (S. 20) 3 Christoph König: „O komm und geh“. Skeptische Wie aber wäre die kritische Durchsicht der For- Lektüren der ‚Sonette an Orpheus‘ von Rilke. schungsgeschichte möglich, wenn der Autor nicht Göttingen 2014, S. 43. tatsächlich bereits einen Maßstab anlegte, der in seiner eigenen Lektüre fußt und Urteile begründet? Leonard Pinke Woll schreibt mit Verweis auf Christoph König: Université de Nantes „Der eigene Standpunkt ist notwendig für die Aus- Département d’Études Germaniques einandersetzung mit der Sekundärliteratur, aber in Chemin la Censive du Tertre dieser Auseinandersetzung wird er überwunden“ F–44312 Nantes Cedex 3 (S. 20) – und zwar durch die „ständige, die

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Thomas Ehrsam (Hrsg.) Friedo Lampe. Briefe und Zeugnisse. 2 Bde. Wallstein Verlag, Göttingen 2018, 1109 S.

Einen norddeutschen Klabautermann nannte sind. Hartlaubs Tagebüchern, ebenfalls jüngst neu Wolfgang Koeppen einmal den Poeten und späte- erschienen, sind die Briefe Lampes in Ausdrucks- ren Rowohlt-Lektor Friedo Lampe, einen Seismo- kraft an die Seite zu stellen. Der vorzüglich aus- graphen mit Pfeife, der im düsteren Nachtleben gestattete Doppelband erleichtert es, sich Lampes der Berliner Kriegszeit das Unheil anzukündigen Werk genauer zu erschließen: Er vereint, so der schien, einer, der eine Sprache gefunden hatte für editorische Bericht, nicht nur sämtliche Privat- den Spuk in den Jahren des deutschen Schiff- und Verlagskorrespondenz (Teilnachlass DLA bruchs während des Nationalsozialismus – und Marbach), sondern – nebst kleineren Rezensionen einer, der doch von diesem Spuk förmlich angezo- – auch verstreut erschienene Erinnerungszeugnis- gen wurde. So unaufdringlich das subtile, schmale se, die den Stellenwert des Autors unterstreichen. Werk dieses Autors ist, so bestimmten doch auch Zum tragischen Zeugen wurde Lampe nicht Begegnungen im Zwielicht das Leben Lampes. zufällig: Noch 1944, nach den großen Luftan- Wie in einem Brennglas deutet dies sein Tod an: griffen, schreibt er über seinen Alltag am Rand Lampe fand sein tragisches Ende auf zufällige, des ‚Vulkans‘ Berlin: „Mein Leben ist weiterhin aber bezeichnende Weise am 2.5.1945, dem Tag hin- und hergerissen zwischen Kleinmachnower der Berliner Kapitulation, bei einer Kontrolle Sommeridyll und hartem Frontleben […,] und durch sowjetische Soldaten, die ihn versehentlich dann interessiert mich der Untergangsprozess für einen SS-Mann hielten, in Kleinmachnow bei einer grossen Stadt.“ (Bd. 1, S. 431) Dabei hatte Berlin (vgl. Bd. 2, S. 111). es zunächst nicht danach ausgesehen, als würde Mit der vorliegenden, von Thomas Ehrsam Lampe, aus dem Bremer Bürgertum stammend, sorgsam edierten Ausgabe von Briefen und Le- seinen Weg nach Berlin, ins Zentrum des Zeit- benszeugnissen steht den Lesern – gemeinsam geschehens, finden. Ein erster Versuch, mit dem mit dem bei Wallstein erschienen Prosawerk – Roman Am Ende der Nacht zu reüssieren, scheiterte erstmals das ganze Schaffen Lampes vor Augen. auf heikle Weise. Der Roman gerät in den Umsturz Einsichtig wird, was schon Koeppen vermutete: des Jahres 1933; er wird als ‚dekadent‘ konfisziert. dass hier das Werk eines großen Unbekannten Die Briefe aus dieser Zeit legen Zeugnis davon ab, zutage gefördert wurde, ein „nobles, noch unaus- wie ein zunächst Unbescholtener in neuen Ga- geschöpftes Œuvre“ (Bd. 2, S. 55) – ein Werk, das rantielosigkeiten im Dunkeln zu tappen beginnt von seinem Anfang bis zum Ende im Schatten des (vgl. Bd. 1, S. 249–295). Alte Verlässlichkeiten Nationalsozialismus steht, wie der Kommentar gelten nicht mehr; Lampe droht die Denunziation zur zweibändigen Ausgabe deutlich macht (vgl. wegen Homosexualität. Er macht die Erfahrung Bd. 2, S. 429).1 Es ist ein Werk mit einer stillen der Illoyalität, schreibt in Unwägbarkeiten. Zum Wirkungsgeschichte, wie nicht nur Koeppens im Helden taugt er dennoch kaum: Lampe passt sich Zeugnisband abgedrucktes Portrait zeigt, sondern an, tritt – ein vermutlich strategischer Akt – der ebenso die akribisch gesammelten Kommentare NSDAP bei (vgl. Bd. 2, S. 429 f.). Als zeitweili- und Anekdoten von befreundeten Autoren und ger Bibliothekar im Staatsdienst hat er dennoch Kritikern wie Horst Lange, Kurt Kusenberg oder versucht, etwas vom Geist aus Weimarer Tagen Karl Korn (Bd. 2, S. 33–35, 40–47, 48 f.). Sie alle hinüberzuretten (vgl. Bd. 2, S. 430). versuchten vergeblich, das Werk Lampes vor einem 1937 wechselt Lampe zum Rowohlt Verlag, – durch die Kriegswirren bedingten – frühen nachdem die geschassten und verfolgten Lektoren Vergessen in der Bundesrepublik zu bewahren. Franz Hessel und Paul Mayer den Verlag und Lampes Schicksal trägt unverkennbar die Züge Berlin verlassen mussten. Lampe übernimmt das seiner Generation, jener ‚verlorenen‘, zu denen Lektorat von Hans Falladas Werk; mit seiner Hilfe neben Exilanten wie Hans Sahl oder Hermann – er verbringt einige Tage bei Fallada in Carwitz Kesten, Dagebliebene wie Koeppen oder der (vgl. Bd. 1, S. 307 f.) – entsteht u. a. Falladas Wolf Chronist des Untergangs Felix Hartlaub zu zählen unter Wölfen (1937). Lampe selbst schreibt, nach

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Besprechungen | 257 dem ebenfalls bei Rowohlt erschienen Kurzroman auf tragische Weise löst.5 Diese ‚dämonische Am- Septembergewitter (1937), nurmehr kleine, okka- bivalenz‘ spürt der Leser der Briefe und Zeugnisse sionelle Miniaturen – oder für die Schublade. Er auch bei Lampe. Bezeichnend ist sein bewusster greift zum Mittel allegorisierenden oder ‚verdeck- Entschluss, beim Untergang Berlins als Zeuge ten Schreibens‘, wie es Dolf Sternberger einmal dabei zu sein (vgl. Bd. 1, S. 432). nannte. Der Sinn wandert in die zweite Ebene: Den stärksten literarischen Wert haben jene quasi ‚unter Deck‘. Dass dies ein durchaus bewuss- Schilderungen nach dem Luftangriff 1943, die ter Vorgang war, zeigen Lampes Anmerkungen zu ihn als städtischen Robinson in den „Tagen des seiner letzten Sammlung kleiner Schriften Von Tür Umherirrens“ (Bd. 1, S. 419) zeigen. Hier sind zu Tür, die noch 1944 erschienen: Er habe hier seine Briefe denen Martin Kessels an die Seite bewusst einen „verdeckt literarischen Titel“ (Bd. 1, zu stellen – wie dem jüngst wieder erschienenen S. 555) gewählt, so Lampe an seinen Verleger Prosawerk Karl Friedrich Borées, der Berlin nach Claassen, der seinen Weg an der Zensur vorbei ma- den Angriffen mit einer leeren Vakuole verglich.6 chen könne. Ähnliches kennt man von Autoren wie In Lampes Briefen erscheint der Luftkrieg als ein Wolfgang Koeppen oder Martin Kessel. Lampe Herausfallen aus allen Orientierungsachsen. Er musste diesen Stil jedoch nicht eigens lernen: Der wird greifbar als eine Vergegenwärtigungskrise: an Hofmannsthal wie am Film geschulte Autor Das Erleben hält mit den Ereignissen nicht schritt. war ein Könner atmosphärischen Zwielichts, der es Die Briefe zeigen Lampe auf der Suche nach einer auf poetische Mehrdeutigkeit angelegt hatte. Lam- angemessenen Sprache: Berlin habe sein „Gesicht“ pe war in der Lage, die Stimmung seiner Zeit wie verloren, das Zentrum verlassen, und bei ihm habe ein Film-Noir-Regisseur einzufangen. Er pflegte sich ein ‚wunderliches Gefühl‘ zwischen Schock einen bildhaften Stil, wie es exemplarisch das und Betäubung eingestellt. Dabei hält Lampe seine Capriccio Lustgarten (1941) zeigt, ein Text, dessen Urteilskraft erstaunlich wach – und sieht das Feuer Doppelbödigkeit die Stimmung einer an Piranesi nur nach Berlin, an den Anfang, heimgekehrt: erinnernden Stadtansicht annimmt. Das Capriccio „Man sieht die alte Welt aufbrennen. Die Men- ist hier die Form – darin seinen Briefen verwandt schen haben selbst das Feuer heraufbeschworen, – des Bedrohlichen in der Stadt: Schwere Wolken um sich zu verbrennen.“ (S. 420) hängen dort über dem Berlin im Krieg und aus Der letzte Brief Lampes vor seinem Tod ist „dem schwarzen, teerig spiegelnden Kanalwasser ein kleines Vermächtnis: Er spüre den Bruch, die sprang ein Aal schlangenhaft ins Silberlicht“2 – so „äußerste Verzweiflung“, in die sich alle gebracht als sei das Unheimliche in diesem Berlin Hitlers haben. Aber Lampe sieht am Ende der Tragödie stets präsent. die „Ahnung einer neuen Freiheit“ aufschimmern. Lampes Miniaturen sind somit auch in eine Eine andere Ethik sei zu suchen: „Sicherlich kann Berliner Tradition zu stellen; er selbst zeigte in diese Zeit ihr Gutes haben. Man darf sich nur nicht seinen werkbegleitenden Briefen eine wirkungs- dem Nihilismus und Fanatismus überlassen. Es geschichtliche Parallele zu den Capriccios eines kann sein, dass durch diese schweren Erlebnisse die E.T.A. Hoffmann auf (vgl. Bd. 1, S. 554). Schon Menschen zu Dingen geführt werden, von denen Heine erkannte zur Zeit der Restauration und sie sonst keine Ahnung gehabt hätten.“ (S. 452) unter verschärfter Zensur die Quintessenz des un- Hier macht sich, noch vor Kriegsende, eine andere heimlichen Berlins in den teils der Zensur geschul- Seite des Dämonischen bemerkbar: Das in daimon deten Verfahren Hoffmanns.3 Und es war einige steckende Gewissen verschafft sich wieder Luft. Jahre vor Lampe, als Walter Benjamin das Bild Aber sein Werk bleibt Vermächtnis in fragmen- vom ‚dämonischen Berlin‘ wieder aufgriff und die tarischer Form. So schreibt Lampe einmal an eine Stunde für Hoffmann gekommen sah.4 So weist Freundin, die ihm Hebels ‚Ruinenfragment‘ unter auch Ehrsam anhand eines Benn-Zitats auf diesen widrigen Bedingungen nachgeschickt hatte: Die- Zug ins Dämonische bei Lampe hin (vgl. Bd. 2, ses Stück sei sein „Lieblingsstück“ (S. 431). Es ist S. 419). Was aber macht das Dämonische aus? Für derselbe Brief, in dem er seinen Verbleib in Berlin Benjamin war es das Zweideutige schlechthin, ankündigt: Er wolle bleiben, „bis man mir das Haus das Anzeichen einer Ambivalenz bzw. einer Ver- kaputt macht“. Lampes eigenes Werk hat genau diese strickung in ein Geschehen, das sich mitunter nur Fragment-Form angenommen. Es scheint die Form

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 258 | Besprechungen der Daseinszeugenschaft seiner ‚verlorenen Genera- 4 Vgl. Walter Benjamin: Das dämonische Berlin tion‘ zu sein, die nach wie vor nur im Pandämonium (1930). In: Ders.: Über Städte und Architekturen. der deutschen Literatur ihren Ort hat. Hrsg. v. Detlev Schöttker. Berlin 2017, S. 40–44. 5 Vgl. Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels (1925). In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. I/1. Hrsg. v. Rolf Tiedemann, Her- Anmerkungen mann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1980, S. 203–403, hier S. 288. 1 Zur neueren Würdigung und Einordnung Lampes: 6 Vgl. Karl Friedrich Borée: Frühling 45. Chronik Hans Dieter Schäfer: Moderne im Dritten Reich. einer Berliner Familie. Düsseldorf 2017, S. 254. Kultur der Intimität bei Oskar Loerke, Friedo Lampe und Helmut Käutner. Stuttgart 2003. Till Greite 2 Friedo Lampe: Lustgarten 23:30 abends (1941). In: Ders.: Von Tür zu Tür. Phantasien und Capriccios. Humboldt-Universität zu Berlin Göttingen 2002, S. 131 f. Sprach- und literaturwissenschaftliche Fakultät 3 Vgl. Heinrich Heine: Briefe aus Berlin (1822). In: Institut für deutsche Literatur Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 5. Leipzig 1914, D–10099 Berlin S. 206–281, hier S. 278.

Erhard Schütz Mediendiktatur Nationalsozialismus (Beiträge zur Literatur, Sprach- und Medienwissen- schaft, Bd. 179). Universitätsverlag Winter. Heidelberg 2019, 422 S.

Neues ist anzuzeigen, aber an eine wichtige These, von Büchern wie Hitlerjunge Quex zum kritisch beglaubigt und ausdifferenziert durch eine Fülle darüberstehenden und abweisenden Literatur- von Materialien, ist zu erinnern. Außer der im Juni wissenschaftler wurde, dann aber, angeregt durch 2018 geschriebenen „Vorbemerkung“ war alles in die Arbeiten von Horst Denkler, Hans Dieter weitgehend identischer Form schon einmal zu Schäfer und Karsten Witte, seine frühere Faszi- lesen. Denn der Band Mediendiktatur National- nation in Form einer bewussten diagnostischen sozialismus vereinigt die diagnostisch wichtigsten Neugier fruchtbar machte. Seitdem, so heißt es und materialiter ergiebigsten Aufsätze, die Erhard zusammenfassend, verfolgte er „historisch die Ver- Schütz seit Ende der 1990er Jahre zur medialen quickung von Weimarer Republik und NS-Zeit, Inszenierung des Nationalsozialismus und zur medienkulturell von vermeintlich ubiquitärer All- medialen Stabilisierung der NS-Herrschaft ge- tags- und selbsterklärter Edelkultur, psychosozial schrieben hat. Dass er daneben zahlreiche andere die Ambivalenzen von Begeisterung, Opportunis- Aufsätze publiziert hat, die vielerlei zu unserem mus, Abstinenz und Widerständigkeit, sowie […] Bild der Zwischenkriegszeit beigetragen haben, sei von Zentrum und Peripherien“ (S. 11). In späteren nicht übergangen; Mediendiktatur Nationalsozialis- Ausführungen zeigt er sich als passionierter, ja mus ist eine durchaus begrenzte, aber gewichtige lustvoller Sammler einschlägiger Bücher und Auswahl, für die neben dem Verfasser den Heraus- Dokumente aller Art und reflektiert seine eigene gebern der Siegener Reihe Beiträge zur Literatur, Rolle, seine Faszination und Sammlerlust, bei der Sprach- und Medienwissenschaft Dank gebührt. Ausgestaltung der allgemeinen oder offiziellen Der Band enthebt uns der Mühe, die in ihm „Gedächtniskultur“ (S. 301 ff.). Hinter der Wis- thematisch geordneten Aufsätze selber zusammen- sensfülle der Aufsätze wird der von seinem Gegen- zutragen und erlaubt eine rasche Wahrnehmung stand faszinierte, aber auch zur Distanzierung einer Fülle sich ergänzender Informationen und fähige Forscher sichtbar. Einsichten. Die schon erwähnte „Vorbemerkung“ Die 13 Aufsätze sind auf fünf Gruppen ver- skizziert knapp den Weg des Verfassers, der vom teilt. Die beiden stehen unter der Überschrift unreflektiert faszinierten jugendlichen Leser „Literatur und Künste“ und verdeutlichen einige

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Besprechungen | 259 dominierende Gegebenheiten und Tendenzen der berücksichtigen wie die Rolle der verschiedenen künstlerischen Produktion im ,Dritten Reich‘: Genres, die Möglichkeiten, nebenher oder vor- Organisatorisch war sie geprägt durch die Kon- rangig für Film und Rundfunk zu arbeiten, kurrenz verschiedener Instanzen und Klüngel, schließlich das signifikant differente Verhalten die sich permanent in die Quere kamen und der verschiedenen Generationen und die jeweiligen statt „Vereinheitlichung und Verbindlichkeit“ Protektions- und Animositätsverhältnisse“ (S. 63). Widersprüche, Durcheinander und Unüber- Welchen Unterbau eine solche Literaturge- sichtlichkeit produzierten (vgl. S. 23 f., 55 ff.). schichte bräuchte, zeigen die folgenden Aufsätze, Ideell kam es zu einem sich wechselseitig sowohl die den Themen Wald (S. 85–150), Mobilität ergänzenden als auch neutralisierenden Neben- (Amerikareisen, Autobahnen, Volkswagen) einander von „Heroischem und Harmonischem“ (S. 153–227) sowie Luftfahrt und Luftkrieg samt oder, anders gesagt, der Komplexe „von Heroi- städtebaulichen und charakterologischen Folgen schem, Pathetischem, Gigantischem, Gewaltigem (S. 231–387) gelten. Das Waldkapitel ist nicht und Übermächtigem, auch bloß Bombastischem weniger als eine kleine Ideologiegeschichte des oder Opulentem“ einerseits und „von Harmonie, deutsches Waldes seit dem 18. Jahrhundert, die Versöhnung, Vereinigung, Schlichtheit, Einfach- zugleich den „Holzweg ins ,Dritte Reich‘“ (S. 85) heit und Bescheidung“ (S. 24) andererseits, woran beschreibt, in dem mit einer Fülle von „Waldan- man sich je nach Bedarf bedienen konnte. Zu be- schauungsbüchern“ (S. 115) die „NS-Baumgemein- obachten ist diese Kombination in der Literatur, schaft“ (S. 123: Alexander Demandt) propagiert aber auch in der Musik, der Architektur und den und gepflegt wurde. Die Ausführungen, die sich bildenden Künsten. aus Texten von Zedlers Universallexikon bis zu Die literarische Produktion wurde wesentlich einem Roman aus dem Jahr 2008 speisen, zeigen durch vier Autorentypen bestimmt, die Schütz nicht nur die bewundernswürdige Belesenheit des in sinnfälliger Alliteration „Seher, Sinnende, Verfassers, sondern auch seine nicht weniger be- Sachliche und Seichte“ (S. 55) bezeichnet: die wundernswürdige Kunst des Komprimierens – die „Dichterpriester“ des neuen Deutschland, die auch den Kalauer nutzt – und des Einordnens von skeptischen oder widerständigen Autoren der Einzelbeobachtungen in einen großen historischen Inneren Emigration, die an der Fortentwicklung Zusammenhang. Auch die „Mediendiktatur Na- der technischen Moderne interessierten Autoren tionalsozialismus“ speiste sich aus solchen Quellen. von „Tatsachenromanen“ und schließlich die Ver- Die Intensität, mit der Medien zum Einsatz fasser von unterhaltsamen Gegenwartsromanen. gebracht wurden, um Großprojekte der NS-Re- Beiläufig macht Schütz auf einer knappen halben gierung zu stützen und zugleich die Vorstellung Seite einige überaus bedenkenswerte Vorgaben für der großen Volksgemeinschaft zu fördern, zeigt eine „Literaturgeschichte jener Jahre“, die eine Li- sich in den Aufsätzen über Kraftwagen, Autobah- teraturgeschichte „zwischen Markt und Ideologie, nen und Luftfahrt. Es reichte den Machthabern Lenkungs- und Anpassungsversuchen“ oder eben nicht aus, dafür mit „starken Reden“ zu werben; eine Literaturgeschichte „bilateraler Annäherungs- alles „musste sinnfällig, wenigstens imaginier- und Anpassungsschritte“ sein müsste: „Autoren bar gemacht, und das hieß: medial aufbereitet, (und Leser) adaptierten sich an die angenommenen massiv suggeriert und regelrecht eingeübt werden. Wünsche und expliziten Forderungen des Re- / Daher ist das Bauprojekt Autobahn nicht zu gimes, die Partei- und Staatsinstanzen ließen sich trennen vom Medienprojekt Autobahn, ein sich aus pragmatischen oder taktischen Gründen auf verselbständigendes Netz medialer Effekte. Von die Bedürfnisse der Buchwirtschaft und der Leser Plakaten, ob von Städten oder Autofirmen, von ein. Wollte man eine solche Literaturgeschichte Briefmarken bis Brettspielen, von Gemälden bis wirklich systematisch schreiben, dann müsste zu Fotobänden, von Schulaufsätzen über Lyrik, man neben den Konkurrenzen und Wendungen Erzählungen, Romanen bis zum Weihespiel, von in der Ideologie, neben den jeweiligen Kampag- der Rundfunkansprache bis zur Ringschaltung, nen z. B. für oder gegen England, für oder gegen von Wochenschau bis Dokumentar- und Spielfilm, Russland, die Profile der jeweiligen Verlage und von Zeitungsnachrichten bis Feuilletons, ob als deren Anpassungsversuche zumindest ebenso Reisetipp oder Rätselspiel, ob in der Frankfurter

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Zeitung oder im Völkischen Beobachter, ob in der Künste und Medien kam vorbereitend, unterstüt­ Dame oder der Neuen Linie – allesamt integrieren zend und sichernd hinzu. Zudem gilt zweifellos sie sich in die Erzählung vom Zusammenhang“, in auch für den Einsatz der Medien, was Schütz für dem die einzelnen Bauabschnitte nach der „Vision die Literatur gesagt hat: dass sich die Medien des Führers“ (S. 185 f.) zu sehen waren. „an die angenommenen Wünsche und explizi- In den Aufsätzen über die Autobahnen und ten Forderungen des Regimes“ adaptierten, die das „Luft-Reich“ der zivilen und militärischen „Mediendiktatur Nationalsozialismus“ also ein Fliegerhelden und ihrer medialen Bewunderer komplexer und interaktiver Vorgang oder Ver- brilliert der Sammler Schütz, der vermutlich blendungszusammenhang war. Es wurde nicht mehr Fliegertexte gelesen und mehr Fliegerfilme nur von oben angeordnet, sondern auch von gesehen hat als jeder andere und daraus eine unten aus Überzeugung oder Opportunismus Ideologiegeschichte des Fliegens im ,Dritten zugearbeitet, weil Herrschende und Beherrsch- Reich‘ kondensierte, die nicht nur im Hinblick te, Machthaber und Medienmacher in vielem auf die zivile und militärische Nutzung des Flie- einer Meinung waren. Deswegen hat Schütz gens von Bedeutung ist, sondern auch im Hin- auch recht, wenn er – mit einer seiner beiläufig blick auf die „unspezifische Modernität“ (S. 267) angebrachten, aber nichtsdestoweniger wichti- des ,Dritten Reichs‘, das ja bekanntlich alles gen Thesen – feststellt, dass das ,Dritte Reich‘ andere war als ein mittelalterlicher Agrarstaat. keineswegs auf den sogenannten „autoritären Besonders bemerkenswert ist in diesem Teil die Charakter“ angewiesen war, sondern auf einem Auseinandersetzung mit der von Winfried G. „von uns“ nicht grundsätzlich verschiedenen Sebald aufgeworfene Frage, warum der alliierte Typus aufbaute: „[V]on der Ikonologie der Bombenkrieg gegen die deutschen Städte keine Medien bis hin zu den Entwürfen der Anthro­ adäquate Schmerzens- und Erinnerungsspur po-Biologie, als Wissenschaft der sozialen hinterlassen habe. Schütz zufolge ist dies nicht Rechtfertigung durch biosoziale Rückkop­­ zuletzt darauf zurückzuführen, dass die „katas- pelungen, wurde jene Flexibilität, funktionale trophischen Folgen“ von Luftbombardements Differenzierung und Diversifikation gezeigt und von den NS-Medien „schon lange vor den gerechtfertigt, die wir gemeinhin für komplexe, tatsächlichen Bombenangriffen ins kollektive moderne Gesellschaften als notwendige Voraus- Bewusstsein gebleut worden waren“ (S. 292, setzung annehmen. Und zwar in einem Maße, 294, 360). Man war gegen die Schadenswahr- das die seinerzeitigen feiertäglichen holistischen nehmung gleichsam immunisiert und zugleich Harmonisierungen und Totalisierungen ad dazu konditioniert, den Zerstörungen mit heroi- absurdum führt“ (S. 290). scher Sachlichkeit entgegenzutreten. Die Belege, Indem der Band dies alles material- und ana- die Schütz für die Einstimmung auf den Luft- lysenreich deutlich macht, steht er gleichwertig krieg bietet, zeigen erneut die außerordentliche neben Büchern wie Das gespaltene Bewußtsein: Bedeutung der Medien im ,Dritten Reich‘ und deutsche Kultur und Lebenswirklichkeit 1933–1945 sind damit auch eine weitere Legitimation des (Hans Dieter Schäfer, 1981), Verführung und Ge- Bandtitels Mediendiktatur Nationalsozialismus. walt (Hans-Ulrich Thamer, 1986) und Der schöne Gleichwohl sollte man ihn nicht ganz und Schein des Dritten Reiches: Faszination und Gewalt gar wörtlich nehmen oder verabsolutieren. Die des Faschismus (Peter Reichel, 1991). Hauptinstrumente der NS-Herrschaft waren die verbrecherisch ausgeübte Gewalt, mit der vor der Helmuth Kiesel ,Machtergreifung‘ Einschüchterung betrieben Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und danach sofort jede Opposition unterdrückt Germanistisches Seminar wurde, und die progressive Entrechtung der Hauptstraße 207–209 Menschen und der Lebensverhältnisse. Der D–69117 Heidelberg gebündelte und oftmals ingeniöse Einsatz der

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Jörg Döring Peter Handke beschimpft die Gruppe 47. Mit einem autobiographischen Nachwort v. Helmut Schanze. Universitätsverlag Siegen, Siegen 2019, 125 S.

Jörg Dörings Buch widmet sich dem wahrschein- Seiten des German Departments die gesamte lich meistkommentierten Treffen der Gruppe 47. Tagung und somit auch die Handke’sche Inter- Die Tagung vom 22.–24.4.1966 an der Princeton vention im Kontext akustisch nachvollziehen.3 University war, abgesehen von nachträglichen Wenn es um Darstellungen und Deutungen der Zusammenkünften,1 die vorletzte. Die Konflikte, Tagung geht, bilden die Princeton-Recordings eine die sich hier beobachten lassen, werden zurecht Wasserscheide. Nur wer sie ihn Betracht zieht, wird häufig auf das Auseinanderfallen der Gruppe sich ein genaues Bild von der Tagung, der Rolle nach 1967 bezogen. So sagten Heinrich Böll und Handkes auf der Tagung sowie der Rolle, die die Martin Walser die Teilnahme ab, der eine, weil er Tagung für Handkes Karriere spielte, machen in der Tagung eine Normalisierung des Bildes des können. BRD im Ausland, der andere, weil er darin ein Bislang ist hier einerseits die als Collage ge- Gutheißen des US-Imperialismus erblicken wollte. staltete Aufbereitung Nikolaus Wegmanns und In Princeton selbst kam es zum Eklat, weil Peter Cornelius Reibers zu nennen.4 Die Autoren haben Weiss und Reinhard Lettau an Protesten gegen den auch für die elektronische Bereitstellung des Ma- Vietnamkrieg teilnahmen. Darüber hinaus war die terials gesorgt. Andererseits ist auf Jörg Magenaus Tagung vom Konflikt unterschiedlicher poetolo- Monographie von 2016 zu verweisen.5 Letztere, gischer Positionen geprägt: hier das Festhalten der wie Döring anmerkt, „erzählt wie ein historischer Älteren an einem Nachkriegsrealismus, dort die Roman oder eine Großreportage […]. Als Litera- ‚Colloquiumsjugend‘, die sich eher experimentellen turwissenschaft kann und will dieser Text ersicht- Schreibweisen verpflichtet sah. lich nicht verstanden werden.“ (S. 37) Als umstritten gelten kann die Rolle des 23-jäh­ Dörings Darstellung stützt sich auf Abschriften, rigen Peter Handke beim Auseinanderfallen der die nach dem Minimalstandard des Gesprächsana- Gruppe. Allerdings firmiert dessen Rede von lytischen Transkriptionssystem 2 wiedergegeben der „Beschreibungsimpotenz“ der gegenwärtigen werden (vgl. S. 42). Anhand dieser kann er eine Literatur am zweiten Tag des Treffens schon in erste These erhärten, wonach man „den Handke- den zeitgenössischen Presseberichten als Ereignis. Eklat, der sich gegen Ende der Tagung ereignete, Princeton markiert einerseits den Anfang vom nur dann recht verstehen“ könne, „wenn man die Ende der in der Geschichte der Bundesrepublik Handke-Lesung einen Tag zuvor als Kontext vor- einflussreichsten Autorenassoziation. Andererseits anstellt. Handkes berühmte Schimpfrede ist nicht kann es als Chiffre für die Karriere eines der bis zuletzt die Resonanz auf das harsche Kritikerurteil“ heute erfolgreichsten deutschsprachigen Nach- (S. 39). kriegsautoren gelten. Am ersten Tag hatte Handke aus seinem Dörings Titel, der auf Handkes im Juni 1966 Roman Der Hausierer gelesen6 und war ‚durch- uraufgeführtes Stück Publikumsbeschimpfung gefallen‘. Die Rekonstruktion und Bewertung rekurriert, wirkt eher irreleitend. Denn sein Buch der mündlich vorgetragenen Kritik ist ein großer will den Nachweis führen, bei Handkes Suada Verdienst Dörings. Er zeigt, wie sich die Kri- habe es sich weniger um eine Inszenierung ge- tiker bei ihren Wortmeldungen zu überbieten handelt als um eine Reaktion auf die Kritik an der suchen und dabei qualitativ differieren. Bei eigenen Autorschaftsperformance. Marcel Reich-Ranicki sieht Döring bereits den Zur Erhärtung dieser These kann Döring späteren Fernsehkritiker und „das Prinzip der auf Tonbandaufnahmen zurückgreifen, die erst begründungsfreien, kunstrichterlichen Attitude kürzlich im German Department der Princeton in der Urteilsrede“ (S. 55) am Werk, in Walter University gefunden wurden. Zwar existierten Jens’ Kritik eine „Scharfsinnigkeit und Eloquenz schon zuvor Mitschnitt und Abschrift der „Be- […], die beim ersten Hören des Textes schon schimpfung“,2 erst jetzt aber kann man auf den in einer belastbaren Interpretationshypothese

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 262 | Besprechungen mündet“ (S. 52). Was jedoch „zu keiner Zeit philologisch dadurch stützt, dass Handke in späte- überhörbar“ sei, so Döring: „die Herablassung, ren Fassungen seines Hausierer-Textes durchaus das Altväterliche, das feixend Joviale dieses Kurz- die Kritik auf der Tagung verarbeitet und somit referates, das immer auch die eigenen Haltungs- deren Werkstatt-Charakter für die eigene Arbeit noten im Kritikerwettstreit im Blick hat“ (S. 52). ernstnahm (vgl. S. 46), wendet sich Döring auch Hier könne man die „Gruppe 47 in a nutshell“ gegen Helmut Böttigers These von der „Geburt beobachten: „eine wirklich substantielle Werk- der Popliteratur aus dem Geist der Gruppe 47“.7 statt-Kritik am Text und nur zu ihm (Regel: nur Dass Handke im Nachspiel durchaus der zum Text, nichts zur Person) – und zugleich der Oberflächenemphase des Pops folgt, indem er das agonale Überschuss, die Tendenz zur battle in Bild übernahm, das die zeitgenössische Tagungsbe- einem Stehgreif-Schaulaufen“ (S. 52 f.). richterstattung vom jungen Provokateur zeichnete, Dörings zweite These lautet, dass auch die ist eine Pointe, die hier vielleicht verspielt wird. Kritik an Handkes Lesung einen eigenen Kontext Sie würde auch erklären, warum nicht Handkes hat. Der bestehe darin, dass dieser bereits am Lesung, aber sein Auftritt als Kritiker in Princeton ersten Tag, im Anschluss an die Lesung Walter Teil einer populären Forschungserzählung über Höllerers, „den Generationenaufstand geprobt“ die Gruppe 47 in Princeton werden konnte, die (S. 39) habe. Schon hier habe Handke gegen Dörings kleines Buch korrigiert hat. Wer über die eine ungeschriebene Gruppenregel verstoßen, Gruppe 47 oder Peter Handke spricht, wird daran indem er Höllerers Text als „völlig indiskuta- nicht mehr vorbeikommen. bel“ abgetan habe. Dass Hans Werner Richter Handke gleich im Anschluss zum Lesen auf- forderte, interpretiert Döring als Reaktion auf Anmerkungen diesen Verstoß, mit der Folge, dass damit „eine gewisse Fallhöhe auch für den Handke-Text her- 1 1972, 1977 und 1990. Vgl. Heinz Ludwig Arnold: beimoderiert [wurde]. Und die Diskussionslust Die Gruppe 47. Reinbek b. Hamburg 2004, S. 130 f. der Gruppe musste das nur noch performativ 2 Vgl. Heinz Ludwig Arnold: Die Gruppe 47. Reinbek unkenntlich machen.“ (S. 57) b. Hamburg 2004, S. 124. 3 , zuletzt: selbst zur Schilderung eines Schauspiels, dessen 8.7.2019. dramatis personae vor allem in der Verstellung 4 Nikolaus Wegmann, Cornelius Reiber: Deutsche brillieren. Von hier aus ließe sich der Titel und Literatur. Die Gruppe 47 in Princeton. In: Sprache seine Anspielung auf Handkes Theaterstück auch und Literatur 110 (2012), S. 50–65. anders deuten: als ablaufendes Drama nämlich, 5 Jörg Magenau: Princeton 66. Die abenteuerliche nicht als geplante Inszenierung. Reise der Gruppe 47. Stuttgart 2016. Man sollte Dörings Aufforderung Folge leisten 6 Frankfurt a. M. 1967. und sich den Beitrag anzuhören: „Ich höre darin 7 Helmut Böttiger: Die Gruppe 47. Als die deutsche nicht in erster Linie einen inszenierungsgewissen Literatur Geschichte schrieb. München 2012. Kafka-Darsteller und Publikumsbeschimpfer, son- dern einen, der stockend und stammelnd seinen Mladen Gladic vorgeschriebenen Zettel abliest, der mühsam ein der Freitag Grundsatzreferat zu halten versucht und dadurch Kulturredaktion mit dem Gruppenprinzip bricht, einzig zum vor- Hegelplatz 1 gelesenen Text zu sprechen.“ (S. 66) Dem ist zu- D–10117 Berlin zustimmen. Mit dieser Einschätzung, die Döring

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Susanne Lüdemann, Kristian Wachinger (Hrsg.) Elias Canetti. Prozesse. Über Franz Kafka. Hrsg. im Auftrag der Canetti-Stiftung. Carl Han- ser Verlag, München 2019, 381 S.

„Ich möchte in Kafka verschwinden, in seinen Tatsächlich ist in den Aufzeichnungen nicht im- Sätzen verharren, keine anderen mehr hören, mer eindeutig zu entscheiden, ob mit „er“ Kafka büßen und verstummen.“ Kniefälle wie dieser oder Canetti gemeint ist. sind nicht selten in den jetzt überwiegend erst- Canettis Meisterschaft der knappsten Charak- publizierten Aufzeichnungen über Franz Kafka terisierung, die er vor allem in Der Ohrenzeuge aus Elias Canettis Nachlass. „Jede Zeile von unter Beweis gestellt hat, bewährt sich auch im Kafka ist mir lieber als mein ganzes Werk“, heißt vorliegenden Fall. Joyce, Proust und Kafka bringt es da etwa, oder: „Es gibt nichts in der neueren er auf die Formel „Welt der Worte, der Empfin- Literatur, das einen so bescheiden macht.“ Wie dungen und des Zweifels“. Joyce repräsentiert ist diese „unaufhörliche Selbsterniedrigung vor wortreich die Gegenwart eines einzigen Tages in Kafka“, die Canetti einerseits häufig formu- Dublin, Proust begibt sich durch dreizehn Bände liert, andererseits aber enerviert zurückweist, zu auf der Suche nach der verlorenen Zeit in einen nie erklären? Zumal von einem, den Bescheidenheit endenden Empfindungs- und Erinnerungsstrom, und Selbstzurücknahme nicht unbedingt aus- und Kafka verlängert den Zweifel an sich und der zeichnen? Als ihm 1981 der Nobelpreis verliehen Welt in Pläne über zukünftige Ereignisse. Canetti wurde, trat er diese höchste literarische Auszeich- spricht vom „Prozess des Zweifelns“. Konkret auf nung in seiner Dankesrede symbolisch an Broch, die legendäre Verlobung mit und die Entlobung Kafka und Musil ab. Als Abtretender behielt er in von Felice Bauer (das „Gericht“ im Askanischen dieser rhetorischen Generosität jedoch die Ober- Hof in Berlin) bezogen, leitet er einen schier un- hand und bezeichnete sich gerne selbstkritisch als endlichen Prozess des Werbens, Annäherns, For- „Bescheidenheitsspieler“. derns, Versprechens, Distanzierens, Demütigens, Mit Bescheidenheit hat Canettis Kafka-Ver- Zurückweisens, Verurteilens aus der 750-seitigen ehrung also wenig zu tun. Besessenheit ist viel Korrespondenz ab. eher der Eindruck nach Lektüre der von Susanne Selten ist ein Briefwechsel mit vergleichbarer Lüdemann und Kristian Wachinger herausge- Akribie, detektivischer Kombinatorik und kühner gebenen, jetzt vorliegenden Aufzeichnungen aus Anwendung auf das literarische Werk analysiert den Jahren 1946–1994, der hundertseitigen Studie worden. Canetti traut sich da etwas, das unter Der andere Prozeß. Kafkas Briefe an Felice (1968) Literaturwissenschaftlern verpönt ist: Er betrachtet sowie des aus dem Englischen übersetzten Essays die Prosatexte Die Verwandlung, Das Urteil und Proust – Kafka – Joyce (1948) und der kurzen Rede Der Prozeß als Spiegelungen des Verhältnisses Hebel und Kafka (1980). Merkwürdig, dass hier von Franz und Felice, Verhaftung und Verlobung die Kafka-Preisrede von 1981 fehlt, die als Typo- gehen wie Verurteilung und Verstoßung Hand skript von der Österreichischen Gesellschaft für in Hand. Mehr noch: Canetti setzt sich zu dieser Literatur verwahrt wird. Auch sie beginnt mit der Verschränkung von Biographie und Dichtung Verbeugung, niemand verdiene eine Auszeichnung noch selbst in Beziehung, nicht zuletzt durch in diesem übergroßen Namen, und sie enthält das Überblendungen seines aktuell erfüllenden Liebes- Bekenntnis, dass Canetti über 51 Jahre hinweg verhältnisses zu Hera Buschor (H. B.) mit Kafkas Kafka aufgenommen habe, „wie man sein eigenes Felice Bauer (F. B.). Kafka hingegen, den Asketen Leben aufnimmt“. Diese Bemerkung über die und Vegetarier, lässt er sich selbst als „der magerste engste eigene Beziehung, den ständigen Abgleich Mensch, den ich kenne“, charakterisieren. Ganz bis hin zur Identifikation, bestätigt der Band Seite im Gegensatz zu Canetti selbst – „verachtest du für Seite. Susanne Lüdemann bedient sich in ihrem mein Gewicht, meine Wollust, meinen Bauch?“ klugen Vorwort dazu Harold Blooms Begriff der – ist so ein „Nicht-Körper“ à la Peter Kien aus der „Einfluss-Angst“, also jener Ambivalenz zwischen Blendung zur Liebe und zum Leben eigentlich gar Gefolgschaft und notwendiger Abgrenzung. nicht fähig.

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Damit gewinnt der Titel dieser Textsammlung Büchner oder Johann Peter Hebel. Über letz- an Bedeutung: Canetti revidiert hier ersten den teren heißt es in Canettis Rede, dass man im biographischen Prozess über Felice und Kafka, Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes nie in dem der Angeklagte mit Grete Bloch um den das Gefühl habe, „dass es ein Geringstes gibt“. Richterposten ringt. Er verbindet ihn zweitens Auch das Unscheinbarste ist eben von Bedeu- mit dem literarischen Prozess über Josef K. – tung. Nachdem Canetti 1936 in Grinzing bei wobei in der „Einschrumpfung“ zum Initial K. Wien Ludwig Hardt daraus lesen hörte, zeigte natürlich auch „Kafka, ein Riese an Kleinheit“, ihm der Rezitator Kafkas eigenes Exemplar des steckt. Darüber legt er drittens den poetischen Schatzkästleins mit einer Widmung an ihn, „um Prozess von Kafkas und seines eigenen Schreibens. Hebel eine Freude zu machen“. Diese gemein- „Bedenke die Prozesse, nichts sonst“, heißt es in same Schätzung des Kleinsten machte Kafka einer Aufzeichnung, denn von „den Gebilden“, wie Hebel für Canetti unsterblich. Was aber also den Werken, „führt kein Weg zurück zu den den erbittertsten Kämpfer gegen den Tod selbst Prozessen.“ Nicht nur Das Urteil entsteht parallel bewegte, wenn er ans Sterben dachte, war die zu den Krisenbriefen in einer einzigen Nacht. schreckliche „Vorstellung, dass ich mich von Kafka zieht sich dazu völlig in sich selbst zurück Kafka trennen soll.“ – „sich unendlich klein machen“, heißt es einmal, sei „der erste Beginn, also Tat“. Canetti, der dem Alexander Košenina Hund und dem Maulwurf bei Kafka nachspürt, Leibniz Universität Hannover prägt im Broch-Essay das Wort vom Dichter als Deutsches Seminar dem fein witternden „Hund seiner Zeit“. Königsworther Platz 1 Der Sinn für das Kleinste, das Geringste, D–30167 Hannover verbindet Canetti mit Kafka ebenso wie mit

Isabelle Lehn, Sascha Macht, Katja Stopka Schreiben lernen im Sozialismus. Das Institut für Literatur „Johannes R. Becher“. Wallstein Verlag, Göttingen 2018, 600 S.

Der Klappentext bezeichnet das Institut für Unterhaltungs- und Kinderbuchautoren wie Rudi Literatur „Johannes R. Becher“ in Leipzig (IfL) Strahl und Werner Lindemann über auch heute als „Schlüsselinstitution der DDR-Literaturhis- namhafte wie Kerstin Hensel und Thomas Ro- torie“. Zu Recht. Wie in einem „Mikrokosmos“ senlöcher bis hin zu Autoren, die später die DDR (S. 186) spiegeln sich in ihm die literarischen verließen, z. B. Sarah Kirsch oder Erich Loest. Entwicklungen in der DDR und deren Konflikte „Kaderschmiede der DDR-Kulturpolitik“, zwischen kulturpolitischem Steuerungsanspruch „Oase geistiger Freiheit“, „Käseglocke“ – die Urtei- und dem „poetischen Eigensinn“ literarischer le über das IfL sind kontrovers. Zur Schließung Praxis. 1955 vom DDR-Kulturministerium und des Instituts 1993 schrieb Günter Gießler, einst dem Schriftstellerverband gegründet, bot das dort Dozent: „[I]n zehn Jahren wird das Urteil IfL eine institutionelle Ausbildung für Schrift- sicherer und genauer sein.“2 Es hat länger gedauert. steller; es war „die erste und lange Zeit auch Mit Schreiben lernen im Sozialismus präsentieren einzige akademische Einrichtung für literarisches Katja Stopka, Isabelle Lehn und Sascha Macht Schreiben im deutschsprachigen Raum“ (S. 11). die Ergebnisse eines Forschungsprojektes, das von Bis zu seiner Schließung 19931 studierten an ihm 2013–2017 am Deutschen Literaturinstitut Leipzig knapp 1.000 sowohl angehende wie auch bereits (DLL), dem Nachfolger des IfL, durchgeführt etablierte Autoren. Sie umfassen einen weiten und wurde.3 In diesem Projekt wurden Geschichte divergenten Kreis: von „staatstragenden“ Autoren und Praxis des Instituts erstmals auf umfassender wie Günter Görlich und in der DDR populären Materialbasis aufgearbeitet.

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Anliegen der Studie ist es, die Entwicklung „theoretischen, konzeptionellen und didaktischen des IfL, insbesondere der Ausbildungskonzeption Aspekten des Selbstverständnisses“ des IfL (S. 25), und Unterrichtspraxis, von der Gründung bis zur u. a. zum Sozialistischen Realismus und zu den Schließung nachzuzeichnen sowie die „kulturpoli- poetologischen Konfessionen der Studenten. Einen tischen Einflussfaktoren“ (S. 19) zu untersuchen. dritten Zugang geben biographische Porträts zu Daneben werden „literaturwissenschaftliche Ana- Personen, die das Institut prägten: Alfred Kurella lysen der am Institut entstandenen literarischen als Gründungsdirektor, Max Walter Schulz, der Studienarbeiten sowie deren literaturhistorische von 1957–1959 am IfL studierte, danach dort als Einordnung in die DDR-Literaturlandschaft“ Dozent lehrte und von 1964–1983 das Institut (S. 20) vorgenommen, um das IfL auch in seinen leitete, sowie zu den Dozenten Werner Bräunig, ästhetischen Ergebnissen zu betrachten. Quellen- auch er zuvor Student am IfL, und Georg Maurer. grundlage sind der „nachgelassene Aktenkorpus Diese Herangehensweise bietet neben den „großen des Instituts“ im Sächsischen Staatsarchiv, das Linien“ vertiefende Betrachtungen aus unterschied- Pressearchiv des IfL, Bestände des Staats- und lichen Blickwinkeln. Ein Nachteil ist, dass es häufig Parteiapparates im Bundesarchiv und Stasiakten, zu Wiederholungen kommt. Auch hätte man sich Nachlässe und autobiographische Zeugnisse von neben dem Personenregister ein Verzeichnis der einstigen Dozenten und Studenten sowie im Projekt Studenten und Dozenten gewünscht, das einen geführte Zeitzeugeninterviews (vgl. S. 555 ff.). Eine Überblick gibt, wer wann am Literaturinstitut stu- besondere Quelle sind zudem die literarischen und dierte und lehrte. theoretischen Abschlussarbeiten der IfL-Studenten. Das IfL bot drei Studiengänge an: „ein dreijähri- Der überraschende Fund von rund 500 dieser, im ges Direktstudium für angehende Autoren […], ein Keller des DLL in vergessenen Kisten gelagerten, berufsbegleitendes Fernstudium für schreibende Arbeiten aus dem Direktstudium4 – dem „Herzstück Arbeiter […] (ab 1969) und einen einjährigen Son- der Schriftstellerausbildung“ (S. 559) – war Aus- derkurs […] für bereits bekanntere Schriftsteller (ab gangspunkt des Projektes. Sie wurden in einer 1966)“ (S. 53); 1957 gab es zudem einen einjährigen Datenbank systematisch mit Inhaltsbeschreibung Lektorenlehrgang (vgl. S. 173), ab 1960 veranstaltete und bio-bibliographischen Angaben erfasst und aus- das IfL zusammen mit dem Schriftstellerverband gewertet. Wie die Datenbank weiter zur Verfügung auch Ferienkurse (vgl. S. 230). Die Studie legt den stehen wird, ist momentan leider noch unklar; ge- Fokus auf den „Kernstudiengang“: das Direktstu- plant ist jedoch eine kommentierte Anthologie mit dium mit insgesamt rund 350 Studenten. Einige ausgewählten Abschlussarbeiten. von ihnen studierten zuvor bereits im Fernstudium Stopka, Lehn und Macht nähern sich der Ge- oder besuchten später Sonderkurse. Für das Direkt- schichte des IfL über verschiedene Zugänge. Den studium lasse sich, so die Einschätzung, „das Span- Hauptteil der Studie bilden chronologische Dar- nungsfeld von kulturpolitischer Vereinnahmung, stellungen zu den einzelnen Dekaden: die 1950er pädagogischem Experimentieren und poetischen Jahre mit der Gründung des Instituts und den ersten Eigensinn besonders gut ausleuchten“ (S. 25). Die Jahrgängen; die „wechselhaften 60er Jahre“ mit Verfasser loten dieses Spannungsfeld mit Blick auf Bitterfelder Weg, Mauerbau, Tauwetter, Kahlschlag- die Unterrichtspraxis sowie auf die Studenten und Plenum und Prager Frühling; die 1970er „zwischen ihr Schreiben facettenreich aus. Viel Augenmerk vorsichtigen Liberalisierungstendenzen“ und erneu- legen sie auf die Widersprüche und das Wechselspiel ter Restriktion nach der Biermann-Ausbürgerung; zwischen den politischen Ansprüchen und der „in- die „undogmatischen 80er Jahre“, in denen sich trinsischen“ Logik einer künstlerischen Ausbildung. institutsintern die Freiräume weiteten; sowie die So zeigen sie u. a., wie die Ausdifferenzierung von Abwicklung des IfL 1990. Für die Dekaden wird anfangs einem in drei Studiengänge einerseits aus jeweils die „Ereignis-, Konflikt-, Ausbildungs- und den Erfahrungen der Lehre resultierte, andererseits Beziehungsgeschichte“ (S. 24) nachgezeichnet; da- auch eine Reaktion auf kulturpolitische Ziele und neben werden literarische Arbeiten der Studenten Vorgaben war. unter ästhetischen wie auch politischen Aspekten Mit der Konzentration auf das Direktstu­dium vorgestellt und analysiert. Ergänzt wird die chrono- betrachten Stopka, Lehn und Macht das IfL vor- logische Darstellung durch thematische Exkurse zu rangig unter dem Aspekt literarischer „Begabten-

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Förderung“. Die Beschränkung ist arbeitsprag- moniert, dass zu wenig Zeit für das Schreiben und matisch verständlich. Doch bleibt, wie bereits für die Diskussion eigener Texte sei. Der Ort für die Christiane Baumann in ihrer Rezension anmerkt,5 Auseinandersetzung mit den selbst verfassten Texten durch das Ausklammern des Fernstudiengangs waren die Schöpferischen Seminare. Die einzelnen ein bedeutsamer Teil des IfL unberücksichtigt: Dozenten gaben dem unterschiedlich Raum; doch Dessen Einbindung in die Bewegung Schreibender im Laufe der vier Jahrzehnte, so ein Befund der Arbeiter im Sinne „literarischer ­Breitenförderung“ Studie, wurde die gegenseitige Kritik von Texten wird nicht näher untersucht. Dadurch werden der Studenten zu „einer zentralen Lehrmethode“ auch mögliche Traditionsbezüge wie zum Bund (S. 61) am IfL. proletarisch-revolutionärer Schriftsteller mit seinen Nicht alle der Absolventen etablierten sich als Erfahrungen, Arbeiter zum Schreiben anzuleiten, Schriftsteller. Viele kehrten nach dem Studium in leider vernachlässigt. Auch auf die Sonderkurse als ihren alten Beruf zurück, andere gingen in den Ver- Weiterbildungsangebot an bereits etablierte Autoren lags- und Kulturbereich (z. B. als Zirkelleiter). Rund wird nicht näher eingegangen. 50 % der knapp 350 Direktstudenten sind aktuell Aufbau, Methoden und Inhalte des Studiums, in Lexika als Schriftsteller verzeichnet. Stopka, Lehn so ein Befund, wurden anhand der Erfahrungen in und Macht können auf die Wege der Studenten der Lehre „immer wieder modifiziert“ und „an die nach dem Studium nur in Einzelfällen eingehen. sich wandelnden kultur- und bildungspolitischen Die eingangs genannten Namen deuten jedoch Bedingungen angepasst“ (S. 50). Die Autoren die Vielfalt beruflicher und ästhetischer Positionen zeichnen dies ausführlich nach und heben hervor, an. Es ist ein breites Spektrum über die Gattungen dass es keine Erfahrungen für eine „Schriftsteller- und Genres: von Lyrik und Dramatik über Unter- schule“ dieser Art gab. Auch das Moskauer Gorki- haltungsliteratur bis zu Essayistik, Reportage und Institut diente nur bedingt als Vorbild. Es war ein Film. Auffällig ist u. a., dass viele Absolventen sich Experimentieren und auch Improvisieren. Viel der Kinder- und Jugendliteratur zuwandten – hier lag in der Hand der jeweiligen Dozenten, deren hätte man gerne mehr erfahren, welche Rolle dabei Agieren, ihre Freiräume und Grenzen werden für möglicherweise Seminarzusammenhänge und am einzelne herausgearbeitet, u. a. für Georg Maurer, IfL entstandene Netzwerke und Verlagsbeziehungen Wieland Herzfelde, Werner Bräunig, Gerhard spielten. Die Verfasser arbeiten die Spannbreite im Rothbauer. Anhand v. a. von Institutsdokumen- ästhetischen wie auch politischen Selbstverständnis ten (Konzeptionspapiere, Lehrpläne etc.) sowie der Studenten insbesondere in den Analysen Aufzeichnungen und Erinnerungen von Insti- der Studien- und Abschlussarbeiten heraus. Das tutsangehörigen – für Herzfeldes Prosa-Seminare Spektrum verdeutliche zum einen „die heterogene existieren sogar Seminarprotokolle – versuchen Zusammensetzung der Studiengruppen“ und die Stopka, Lehn und Macht zu rekonstruieren, wie unterschiedlichen „biographischen Erfahrungen, und was unterrichtet wurde. künstlerischen Voraussetzungen und Erwartungen“. Das Direktstudium setzte sich zusammen aus Zum anderen zeige es auch, dass sich eine „staatlich den sog. Schöpferischen Seminaren für Prosa, Lyrik verordnete Konformität in der Unterrichtspraxis und Dramatik sowie aus Seminaren und Vorlesun- nicht aufrechterhalten ließ“ (S. 403). Anhand der gen zur Literaturgeschichte, Ästhetik, Deutschen Themen und Schreibweisen der Studenten erörtern Sprache, zu Allgemeiner Geschichte und Gesell- die Autoren detailliert deren Suche nach eigenen schaftswissenschaften (Politische Ökonomie und ästhetischen Positionen. Deutlich wird, dass diese Marxismus-Leninismus). Zusätzlich gab es Gast- nicht losgelöst waren von den allgemeinen litera- vorträge externer Dozenten aus den verschiedensten rischen Entwicklungen in der DDR und in den Wissensgebieten, u. a. Psychologie, Kriminalistik, 1980er Jahren in eine „literarisch zum Ausdruck Physik oder Kunstgeschichte. Verpflichtend waren gebracht[e]“ „grundsätzlich antiideologische und weiterhin mehrwöchige Praktika, anfangs in Ver- staatsabgewandte Haltung“ (S. 474) mündeten. lagen und Kulturinstitutionen, später v. a. in Betrie- Ab den 1970er Jahren setzte sich, wie Gießler es ben. Viele der Studenten erinnern das Studium als beschrieb, eine „Ästhetik des genauen artifiziellen ein umfassendes und intensives Bildungsprogramm. Sprachgebrauchs, der Differenzierung und des Be- Immer wieder wurde von ihrer Seite aus jedoch kenntnisses zur Individualität des Autors“ durch.6

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Das IfL bot dafür einerseits einen Schutzraum Indem sie das Schwarz-Weiß-Raster von Wider- – hierauf beruht das Bild vom Institut als „Oase“. stand oder Konformismus auflösen, kommen sie Andererseits hatten Liberalität und Offenheit zu jenem genaueren Urteil, wie Gießler es erhoffte, Grenzen, besonders dann, wenn das IfL in Kritik und eröffnen eine differenzierte Sicht auf das IfL der Politik geriet. Davon zeugen die wiederkeh- sowie auf das Agieren seiner Akteure. renden Konflikte und Exmatrikulationen, v. a. Darüber hinaus zeigt die Studie das Potential, das in den 1960er Jahren. Stopka, Lehn und Macht in einer derartigen Aufarbeitung der Geschichte von untersuchen diese Konflikte an vielen Beispielen, Institutionen des Literatur- und Kulturbetriebs für sie betonen aber, dass sich die Geschichte des IfL die Forschung zur Literatur in der DDR liegt. Im nicht auf „eine kulturpolitische Konfliktgeschichte Zentrum standen lange v. a. die Folgen politischer reduzieren“ lasse: „[Z]ahlreiche der am und über Eingriffe; wir wissen jedoch wenig, wie die einzelnen das Institut geführten Auseinandersetzungen [sind] Institutionen – z. B. auch der DDR-Schriftstellerver- nicht allein auf ideologische bzw. politische Katego- band – im Alltag funktionierten, über ihr Wirken rien zurückzuführen“, sondern aus der „Eigenlogik im literarischen Feld zwischen „Eigenlogik“ und einer künstlerischen Schriftstellerausbildung“ zu kulturpolitischer Vereinnahmung. In dem Sinne verstehen (S. 547). wäre die Studie auch für das IfL fortzuführen, z. B. Im Herausarbeiten dieser „Eigenlogik“ dicht zu den an ihm entstandenen Netzwerken, gerade am Material liegt eine Stärke der Studie. Die Ver- zu Verlagen, zur Einbindung in die Bewegung fasser zeigen, wie die Institutsstrukturen und die Schreibender Arbeiter und zu den damit verbunde- Ausbildungspraxis jenseits politischer Absichten nen Emanzipationsansprüchen. Stopka, Lehn und funktionierten und auf einem „weitgehend auto- Macht weisen auf entsprechende „Perspektiven für nom verstandenen Kunstverständnis“ (S. 547) Anschlussuntersuchungen“ (S. 548) hin. beruhten. Es verwundert jedoch, wie sehr sie auf der anderen Seite von den ideologischen Vorgaben ausgehen. So heißt es, Ziel des IfL sei es gewesen, Anmerkungen „sozialistische Schriftsteller“ auszubilden. Ein ganzes Kapitel ist dem Sozialistischen Realismus 1 Aufgrund der Proteste gegen die Ende 1990 von der als „ästhetischer Doktrin“ gewidmet. Den offi- neuen sächsischen Landesregierung beschlossene ziellen Verlautbarungen wird so eine Bedeutung Abwicklung wurde das Institut dann als Deutsches gegeben, die sie womöglich gar nicht hatten – wie Literaturinstitut Leipzig 1995 neu gegründet. etwa die Erinnerungen ehemaliger Dozenten und 2 Günter Gießler: Das wars? Versuch einer Annähe­ Studenten an die Neufassung des IfL-Statuts 1981 rung an das abgewickelte Johannes-R.-Becher-In- und dessen „doktrinärer Worthuberei“ (S. 477 ff.) stitut. In: Berliner Debatte Initial 4 (1993), H. 5, illustrieren. Das Abarbeiten daran führt zu einem S. 84–90, hier S. 89. Ton der Verteidigung der IfL-Praxis gegen die 3 Erste Ergebnisse des Projektes wurden bereits als Vorstellungen einer ideologischen Durchdringung. Themenschwerpunkt im Heft 3/2016 der Zeitschrift Dies scheint ein Grundproblem in der Betrachtung für Germanistik veröffentlicht. 4 Die Abschlussarbeiten der weiteren Studiengänge von Literatur und Literaturverhältnissen in der befinden sich im Sächsischen Staatsarchiv. DDR zu sein: Der diskursive Rahmen für sie ist das 5 Vgl. Schattenblick – Rezension/027 (2018), , zuletzt 17.4.2019. Mit ihren breiten Archiv- und Quellenstudien 6 Günter Gießler: Das wars? Versuch einer Annäheru- geben Stopka, Lehn und Macht für die Betrach- ng an das abgewickelte Johannes-R.-Becher-Institut. tung des IfL indes eine neue Grundlage, die den In: Berliner Debatte Initial 4 (1993), H. 5, S. 84–90, Blick versachlicht. Sie verdeutlichen, dass dieses hier S. 88. nicht allein anhand der normativen Vorsätze und Zwänge zu beurteilen ist, sondern im Blick auf Thomas Möbius seine konkrete Unterrichtspraxis und seine Stu- Gleimstraße 36 denten und deren Schreiben. Ihre Studie ist dort D–10437 Berlin am stärksten, wo sie sich ganz darauf einlassen.

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Michael Ostheimer Leseland. Chronotopographie der DDR- und Post-DDR-Literatur. Wallstein Verlag, Göt­ tingen 2018, 486 S.

Michael Ostheimer legt mit seiner Monografie (Chronotopik, Chronokinetik und Chrononoetik), eine Studie vor, die eine bemerkenswerte Alternati- die in ihrer Interaktion einen gemeinsamen Chro- ve zu den klassischen Ordnungsmustern der DDR- notopos bilden. Jedoch ließen sich DDR- und Post- Literaturgeschichtsschreibung bietet. Ostheimer DDR-Literatur nicht – so die Ausgangsthese des versammelt und untersucht literarische Texte Autors und eine der zentralen Pointen der Studie unterschiedlicher Provenienz quer zu den Kate- – auf einen unitarischen Chronotopos reduzieren, gorien der Aufbau-, Ankunfts-, Mauerfall-, Ver- sondern profilierten sich erst in der „Konstellation einigungs-, Nachwende- oder Post-DDR-Literatur unterschiedlicher Chronotopoi“ (S. 55). und sekundarisiert damit die oftmals bemühten Um dieses komplexe Gefüge zu erfassen und zu (kultur-)politischen Daten der Zeitgeschichte als systematisieren, entwirft die Studie eine Typologie leitende Organisationsprinzipien für die Literatur- von fünf Chronotopoi, welche zugleich den Auf- geschichtsschreibung. In Anlehnung an Michail bau der Arbeit strukturieren: Die DDR-Literatur Bachtin schlägt er eine „chronotopographische zeichnet sich für Ostheimer vorrangig durch einen Literaturgeschichte“ (S. 454) vor, die „nach den utopischen, idyllischen und einen liminalen Chro- literarästhetisch repräsentierten Eigenzeiten in notopos, die Post-DDR-Literatur insbesondere Gestalt multipler Chronotopoi“ (S. 454) fragt und durch einen memorialen und einen transformatori- verschiedene Raumzeiterfahrungen innerhalb der schen Chronotopos aus. Seine Untersuchung dieser DDR- und Post-DDR-Literatur exponiert. fünf Chronotopoi wird durch die Verschränkung Das Projekt, das im Kontext des DFG-geförder- der drei besagten Chronomodi operativ geleitet. ten Schwerpunktprogramms Ästhetische Eigen- Dies erlaubt, die „temporale Perspektivierung des zeiten. Zeit und Darstellung in der polychronen Anschauungsraums“, die „raumzeitliche Perspek- Moderne bearbeitet wurde, verfolgt damit zugleich tivierung des Handlungsraums“ sowie die „raum- zwei Ziele: Es soll sowohl eine literatur- und kul- zeitliche Perspektivierung des Vorstellungsraums“ turgeschichtliche Differenzierung der DDR- und (S. 53) der DDR-Gegenwart in den jeweiligen Post-DDR-Literatur vor dem Hintergrund einer Texten aufeinander zu beziehen. „Modellierung räumlicher Polychronie“ (S. 454) Den utopischen Chronotopos, der einen „li- leisten, als auch eine begriffliche Fortführung und terarisch manifestierten Fortschrittsoptimismus erzähltheoretische Präzisierung des Bachtin’schen am Beispiel geographischer Räume innerhalb des Chronotopos bereitstellen. DDR-Territoriums“ (S. 55) artikuliere, identifiziert Als „Zeit-Raum-Konzept, das die literari- der Autor z. B. in Joachim Knappes Mein namens- sche Konfiguration von kulturell präfigurierten loses Land, Alfred Welms Morisco oder Juliane Räumen und Raumvorstellungen mit den sich auf Bobrowskis Ottilie Müntzer. In diesen Texten sie beziehenden Zeitperspektiven und Zeitvorstel- werden etwa die Semantisierungen industrieller lungen kombiniert“ (S. 51), verwendet Ostheimer Produktionsstätten wie in Eisenhüttenstadt, so- Bachtins Chronotopos, um unterschiedliche „For- zialistischer Städte wie Halle-Neustadt oder histo- men der literarischen Darstellung verzeitlichter rischer Kriegsschauplätze wie Bad Frankenhausen Räume bzw. verräumlichter Zeiten“ (S. 53) zu chronotopisch untersucht und als „imaginative beschreiben. Mit dem Anliegen, das Konzept des Antizipation der politischen Heilserwartung“ Chronotopos als „Interpretationskategorie“ (S. 52) (S. 452) präsentiert. Im Gegensatz zu dem im und „erzähltheoretischen Kompaktbegriff“ (S. 52) utopischen Chronotopos implementierten Auf- stärker als bisher in der Forschung zu nobilitieren, bau- und Fortschrittsoptimismus akzentuiere der differenziert Ostheimer präzise zwischen der idyllische Chronotopos – ein bereits von Bachtin „Raumzeitlichkeit von Anschauung, Handlung registrierter Erzähltypus – „eine Abkehr von und Vorstellung“ (S. 52) und abstrahiert aus diesen präskriptiver Geschichtsteleologie“ (S. 452). An- Komponenten drei spezifische Darstellungsmodi hand von literarischen Hiddensee-Darstellungen

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Besprechungen | 269 rekurriere dieses Narrativ auf eine insulare „Mi- „Raumrevolution“ (S. 57), wofür der memoriale krowelt“,1 die sich abgeschottet und entlegen als und transformatorische Chronotopos sinnbildlich „den Imponderabilien des staatlichen Zugriffs stehen, da sie den „ursprünglichen Georaum der entziehende[r] Rückzugs- und Schonraum[]“ DDR in Gestalt einer imaginären Erinnerungs- (S. 227) zeige. Die Insel Hiddensee würde etwa landschaft“ (S. 57) literarisch inszenieren. in Lutz Seilers 2014 erschienenen Roman Kruso Hierbei zeichne sich der memoriale Chronoto- als „geschützte[r] Kleinraum gleichsam außerhalb pos als Medium der „ostdeutsche[n] kulturelle[n] des historischen Geschehens“ (S. 261) imaginiert, Selbstverortung“ (S. 327) aus, der eine „raumzeit- während Christoph Heins Tangospieler eine „idylli- liche Fremdheitserfahrung“ (S. 327) ästhetisiere sche Nische“ (S. 247) innerhalb des akademischen und historisiere. Durch den Mauerfall werde ein Leben des Protagonisten perspektiviere. Reinhard Fremdheitsgefühl ermöglicht. Ostheimer exempli- Jirgls MER – Insel der Ordnung präsentiere dagegen fiziert dies nachfolgend anhand des Sächsischen eine Art „Anti-Idylle“ (S. 262). Tagebaugebiets und des Mansfelder Lands im Mit dem Einstieg in das Betrachtungsfeld des Werk Wolfgang Hilbigs (und im Genaueren an liminalen Chronotopos wird der Blick auf eines den Textbeispielen das meer in sachsen und Eine der zentralen Merkmale der (Post-)DDR-Litera- Übertragung). tur gelegt – die Mauer und die deutsch-deutsche Einen zweiten Schwerpunkt legt das Kapitel mit Grenze. Diese historische und in der Rezeption der Problematisierung und Begriffsklärung einer auch literarische Zäsur wird als solche aus ver- sogenannten „Wismut-Literatur“ (S. 342), deren schiedenen Perspektiven beleuchtet, wobei die Merkmale aus der Lektüre von Texten Werner raumorientierte Bedeutung in diesem Kapitel Bräunigs, Angela Krausʼ und Lutz Seilers bei- besonders deutlich wird. Theoretisch konzeptu- spielhaft herausgearbeitet werden. Beiden Schwer- alisiert werden die Ausführungen im Rekurs auf punkten gemein ist die Form der Erinnerung als Bachtins Topos der Schwelle als „‚Chronotopos der „Gegenwärtigkeit der Vergangenheit“ (S. 453). Krise und des Wendepunkts im Leben‘“ sowie im Als Exkurs und Übergangskapitel kann das Rückgriff auf Victor Turners „Überlegungen zur sogenannte „Zwischenspiel“ (S. 372) zu Heiner Liminalität als Phase eines krisenhaften Schwel- Müller verstanden werden, in dem vor allem des- lenzustands“ (S. 280). Hierbei rückt Ostheimer sen Zeitverständnis reflektiert wird. Hierbei wird nicht nur die Reflexion und Verarbeitung der die „kulturelle Fremdheit der Ostdeutschen […] Mauer als zeit-räumliche Zäsur in den Mittel- auf der Ebene der Zeiterfahrung reflektiert und punkt, sondern arbeitet vor allem ihre Wirkung als temporale Entfremdung artikuliert“ (S. 385) auf das „eingeschlossene Subjekt“ (S. 280) heraus. sowie die Mittlerfunktion Müllers zwischen der Die „elektrisierende Leerstelle“ (S. 275) der Mauer Form der Erinnerung bei Wolfgang Hilbig und setzt er der Liminalität als sichtbare und mentale der Wahrnehmung der Wende bei Ingo Schulze Manifestation von Schwelle und Stagnation der dargestellt. Zeit gleich und bezieht sie unmittelbar auf Litera- Die Monographie schließt mit dem Kapitel zum tur als raumzeitliches Imaginäres. Ausgeführt wird transformatorischen Chronotopos, der anhand von dies an Beispieltexten, die von Uwe Johnsons Zwei Ingo Schulzes Simple Stories. Ein Roman aus der Ansichten, Klaus Schlesingers Neun und Die Spal- ostdeutschen Provinz und Neue Leben. Die Jugend tung des Erwin Racholl, Thomas Braschs Fliegen im Enrico Türmers in Briefen und Prosa exemplarisch Gesicht bis in die Post-DDR zu Wolfang Hilbigs untersucht wird. Dieser transformatorische Chro- Die Kunde von den Bäumen reichen. notopos lässt sich nicht mehr so trennscharf vom Durch den Übergang zum Begriff des me- memorialen Chronotopos abgrenzen, wie dies bei morialen Chronotopos wird nicht nur der „Epo- den anderen Chronotopoi der Fall war. Vielmehr chenzäsur 1989/1990“ (S. 57) endgültig Rechnung ergänzen sich der transformatorische in seinem getragen, es werden auch die bisher behandelten „realistisch-symbolischen“ und der memoriale Chronotopoi des utopischen, idyllischen und Chronotopos in seinem „historisch-reflexiven liminalen abgelöst. Begründung findet dies Gestus“ (S. 452). In Ostheimers ausführlichen in der „Auflösung der institutionellen Hinter- Textanalysen wird das Bewusstsein und die Wahr- grundstabilität“ (S. 57) und der ihr folgenden nehmung einer Veränderung der Zeit mit einer

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 270 | Besprechungen damit einhergehenden „Zeitenwende“ (S. 453) dem theoretisch-konzeptionellen ersten Teil der samt „Transformationserfahrungen“ (S. 388) an- Arbeit noch so präzise literaturwissenschaftlich- hand des zentralen Handlungsraumes Altenburg analytische Blick bei einzelnen Textbeispielen dargestellt und somit ein Mikrokosmos der vom nicht immer eingelöst (z. B. gilt das für die Mauerfall ausgelösten Veränderungen im Sozia- auch im Umfang recht knappen Betrachtungen len, Ökonomischen, Kulturellen und Mentalen von Uwe Johnsons Zwei Ansichten und Thomas erzeugt. Braschs Fliegen im Gesicht). Es entsteht somit eine Ostheimer leistet mit seiner Chronotopographie unterschiedliche Gewichtung zwischen den ein- der DDR- und Post-DDR-Literatur einen äußerst zelnen Analysen, was hinsichtlich des beträchtli- fundierten und auch in seiner Textauswahl ge- chen Umfangs der Untersuchungsgegenstände wichtigen Beitrag zur (Neu-)Strukturierung verständlich, im Sinne der jeweiligen spezifischen von DDR- und Post-DDR-Literatur, der sich Fallbeispiele jedoch mitunter bedauerlich ist. durch eine sinnvolle Beispieltextauswahl und Nichtsdestotrotz werden zukünftige Arbeiten zur einen beeindruckenden Kenntnisreichtum aus- DDR- und Post-DDR-Literatur an Ostheimers zeichnet. Hilfreich für ein vertiefendes und grundlegende Studie anschließen müssen. weiterführendes Verständnis wäre jedoch eine Erklärung, Herleitung und Problematisierung der vorgeschlagenen Chronotopoi gewesen. So Anmerkung versammelt die Chronotopographie nach Ost- heimer „mithin die Menge aller vorstellbaren 1 Michail Bachtin: Chronotopos. Frankfurt a. M. literarischen Chronotopoi für einen geographisch 2008. S. 160. abgegrenzten Raum“ (S. 10). Die Differenzie- rung der unterschiedlichen Chronotopoi wird Nico Schmidtner, Friederike Schruhl jedoch nur knapp begründet. Hier hätte eine Universität Bayreuth ausführlichere Erklärung die Bedeutung der Neuere deutsche Literaturwissenschaft vorgeschlagenen Topoi noch erhellen und die Sprach- u. Literaturwissenschaftliche Fakultät Relevanz für einen DDR-Literatur spezifischen Universitätsstraße 30 Zugriff unterstreichen können. Gerne hätte man D–95447 Bayreuth auch hierzu die Überlegungen und Reflexionen des Autors gelesen. Leider wird auch der in

Karl S. Guthke Von Heidelberg nach Harvard. Erinnerungen eines Literaturwissenschaftlers an die Goldenen Jahre der Migration nach Nordamerika. Narr Francke Attempto Verlag, Tübingen 2018, 172 S.

Weder eine soziologische oder wissenschafts- schmalen Rahmen dieses Bildes hat Guthke geschichtliche Studie noch eine persönliche in einen durchaus schmalen Band gefasst. In Bildungsgeschichte oder Autobiographie wollen neun knappen Episoden skizziert der Verfasser die Erinnerungen sein, mit denen der Literatur- seine biographischen und beruflichen Statio- wissenschaftler Karl S. Guthke durch die fast nen: Kindheit und Jugend im ostfriesischen sieben Jahrzehnte seiner beruflichen Laufbahn Leer, die erste Begegnung mit den USA als führt. Anspruch und Ertrag des Rückblicks Austauschschüler in Texas, Studium in Austin umreißt der Verfasser vielmehr als „eine Art und Heidelberg, Promotion in Göttingen, und Stimmungsbild oder individueller Erlebnis- schließlich Professuren in Berkeley, Toronto und bericht über einen deutsch-amerikanischen Harvard, wo Guthke bis zu seiner Emeritierung Encounter, in dem sich auch andere Migranten 2005 als Kuno Francke Professor for German Art erkennen mögen“ (S. 146). Den nicht eben and Culture den wohl angesehensten Lehrstuhl

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Besprechungen | 271 für deutsche Literatur in den USA innehatte. Universitätskulturen und an mitunter „sympa- Die Weitläufigkeit dieses akademischen Lebens- thisch schrullige […] Rituale und Usancen des laufes und seine institutionelle Verankerung in akademischen Alltags“ (S. 98), die sich hier zu Deutschland und Amerika sind wegweisend für einem unterhaltsamen Geflecht von Lebens- und eine Laufbahn, die von Beginn an im Zeichen Wissenschaftsgeschichte fügen. eines „geistigen Handelsverkehrs“1 zwischen Nach sieben Jahrzehnten in den USA ist es auch alter und neuer Heimat steht. Über Jahrzehnte und vor allem ein „Buch des Dankes an ein Land hat sich Guthke als Germanist um den wissen- und seine Menschen“ (S. 10), die das hier beschrie- schaftlichen Brückenbau zwischen den USA und bene lebenslange „Experiment in International Deutschland verdient gemacht; der Austausch Living“ (S. 26) mit kollegialer und freundschaft- über nationale, sprachliche und kulturelle Gren- licher Offenheit erfüllt haben. zen hinweg bildet die programmatische Leitlinie Es ist, angesichts der in diesem Land verbrei- eines wissenschaftlichen Werks,2 das ein Beitrag teten und sich verhärtenden Skepsis gegenüber sein will zur „Erweiterung und Präzisierung […] den Geisteswissenschaften, zudem ein Dank einer weltweiten Germanistik“ (S. 87). an die Literatur selbst, ein nachdrückliches Seine Voraussetzungen hat dieses Bemühen Plädoyer für ihren Bildungswert und ihre welt- um eine dialogische Verständigung beider anschauliche und gesellschaftliche Relevanz. Für Wissenschaftskulturen „zwischen den Stühlen“ die Überzeugung, „daß […] literarische Werke (S. 85) der Disziplin: Angehöriger weder der als sprachkünstlerische Gebilde menschliche Emigrantengeneration des Zweiten Weltkriegs Erfahrung gestalten und bewahren […] und noch der Zuwandererwelle nach dem ‚Sputnik- Einsichten in die conditione humaine in ihrer Schock‘ 1957, sondern der „Silent Generation“ Vielgestaltigkeit, in Möglichkeiten des mensch- (S. 58) der frühen 1950er Jahre, beginnt Guthke lichen In-der-Welt-Seins“ (S. 149) geben, hat seine universitäre Laufbahn im Spannungsfeld Guthke mit diesem Erinnerungsbuch selbst ein eines kanonischen Kulturkonservatismus der überaus lesenswertes Beispiel vorgelegt. unmittelbaren Nachkriegszeit einerseits und Man hätte diesem mit persönlichen Fotografien der soziopolitischen Instrumentalisierung von bebilderten Rückblick ein aufmerksameres Lek- Literatur(wissenschaft) unter den Einflüssen des torat gewünscht – die Häufung orthographischer Kalten Krieges andererseits. Fehler verwundert, tut der vergnüglichen Lektüre Die Gestaltbarkeit und Potentiale gerade dieser vielseitigen wissenschaftlichen Biographie dieses fachlichen „Niemandslands“ (S. 86) aber keinen Abbruch. aber erweisen sich für Guthke als produktiver Ausgangspunkt der eigenen beruflichen Ent- wicklung. Die Entscheidung, „weder Schmal- Anmerkungen spur-Germanist noch Schmalspur-Anglist zu werden, sondern Komparatist“ (S. 76) ist nicht 1 Karl S. Guthke: Geistiger Handelsverkehr. Streifzüge zuletzt eine gegen die miterlebten Tendenzen im Zeitalter der Weltliteratur. Tübingen 2015. disziplinärer Verengung. 2 Beispielhaft seien genannt: Karl S. Guthke: Die Durchsetzt von den Entwicklungen und Krisen, Reise ans Ende der Welt. Erkundungen zur Kultur- Spannungen und Umbrüchen der Zeitgeschichte geschichte der Literatur. Tübingen 2011; ders.: Die führt Guthke den Leser in, dies darf durchaus Erfindung der Welt: Globalität und Grenzen in der hervorgehoben werden, überaus amüsanter Weise Kulturgeschichte der Literatur. Tübingen 2005. durch die Stationen eines „interkontinentalen Professorenlebens“ (S. 146) und arrangiert fach- Susanna Froböse liche Wegmarken wie -begleiter zu einem illustren Humboldt-Universität zu Berlin Panorama der US-Germanistik von den 1950er Sprach- und literaturwissenschaftliche Fakultät Jahren bis in die Gegenwart. Institut für deutsche Literatur Es sind Erinnerungen an ein „Goldenes Zeit- PhD-Net „Das Wissen der Literatur“ alter“ (S. 87) der Disziplin, an die Erträge der D–10099 Berlin europäischen Migration nach Nordamerika, an

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 272 | Besprechungen

Frank Zipfel (Hrsg.) Fremde Ähnlichkeiten. Die ‚Große Wanderung‘ als Herausforderung der Komparatistik. J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2017, 227 S.

In der gleichnamigen und programmatischen Literatur des 21. Jahrhunderts „unter den Vorzei- Einleitung von Frank Zipfel steht der Versuch, chen der Postkolonialismus- und Imperialismus- mit dem Leitbegriff fremde Ähnlichkeiten des Debatten sowie der Globalisierung“ (S. 22) präziser Bandes ein auf „vielfältige Weise verwendbares zu beschreiben, aber nicht mit den bisherigen Rahmenkonzept“ (S. 26) für das Verhältnis Methoden und Gegenstandsbestimmungen der zwischen Wanderung und Literatur zu entwer- Komparatistik brechen. fen. Dabei hält der Autor vier Aspekte dieses Nach dieser programmatischen Einleitung Verhältnisses fest, die von der Wanderung der deutet Immacolata Amodeo („Gast ist keine Autorinnen und Autoren, Wanderung als Thema leichte Berufung“. Dimensionen der Komparatis- der Literatur, Wanderung von konkreten Texten tik im Zeitalter der Migration) das Konzept der bis zur Wanderung von Stoffen und Formen fremden Ähnlichkeit weiter aus. Zentrum ihrer reichen. Sie sind auf je unterschiedliche und spe- Ausführungen ist das Anliegen, den „Status des zifische Weise an der Entwicklung einer sich bis Gastes“ (S. 29) für die Komparatistik zu stärken. heute ständig verändernden Literatur beteiligt. Zu Beginn steht ihr Befund, dass die Literatur Um die Bewegungen und Mannigfaltigkeit des eingewanderter Autoren in der Bundesrepublik Verhältnisses von Literatur und Wanderung zu be- „trotz vielseitiger, ernstgemeinter und teilweise stimmen, greift Zipfel mit dem Terminus der frem- fruchtbarer Bemühungen“ weiterhin nicht Teil den Ähnlichkeit auf eine Untersuchung Friedrich des Kanons deutschsprachiger Literatur ist. Schleiermachers von 1813 zur Übersetzungstheorie Es wurden transnationale und transkulturelle zurück. Nach Schleiermacher geht es bei der frem- Sparten neben der Nationalliteratur eröffnet, den Ähnlichkeit um eine Form der Übersetzung, die eine verortende und zugleich aber auch eine in der letztere selbst eine ‚Art der Wanderschaft‘ ausgrenzende Funktion ausübten und weiterhin darstellt. Denn die Übersetzungsmaximen, den ausüben. Mit Verweisen auf die Arbeiten des Leser zum Autor zu bewegen bzw. den Autor zum neapolitanischen Philosophen und Philologen Leser, werden jeweils für sich der Komplexität des Giambattista Vico, des Romanisten Erich Auer- Verhältnisses von Wanderung und Literatur nicht bach und des Kulturwissenschaftlers Edward gerecht. Besonders um die Komplexität der Litera- Said setzt Amodeo auf den Status des Gastseins tur im 21. Jahrhundert aus einer komparatistischen (Fremd-Sein) als kulturgeschichtliche und globale Perspektive zu greifen, sind beide Verfahren der „anthropologische Konstante“ (S. 37). Dabei ist Übersetzung notwendig: erstens das die Fremd- der Übergang des Fremden zum Gast entschei- heit überwindende ‚Verstehen‘ und zweitens die dend, da hier bereits eine Angleichung stattfindet, die Fremdheit bewahrende ‚Verfremdung‘. Um die denn der Fremde muss bereits die ihm fremde Fremdheit zwischen Ausgangs- und Zielsprache, Sprache sprechen, um die Gastfreundschaft wahr- zwischen Ausgangs- und Zielkultur einerseits zu nehmen zu können. Zugleich wird der Einheimi- überwinden (Einbürgerung), sie aber auch ande- sche erst zum Gastgeber, wenn er dem Fremden rerseits auf eine besondere Weise als Differenz zu etwas anbietet (S. 38). Es ist nach Amodeo dieses bewahren (Verfremdung), müssen das Verfahren Verhältnis, das die hegemoniale Unterscheidung der Übersetzung und ihre Sprache nach Schleier- von Zentrum und Peripherie nachhaltig stören macher „zu einer fremden Ähnlichkeit hinüberg- kann. Doch stellt sich hier die Frage, wie lange so ebogen“ werden (S. 15). Eine einbürgernde und ein Verhältnis dauern und anhalten kann, wenn eine zugleich verfremdende Übersetzungspraxis Migrationen und Einwanderungsprozesse von müssen dabei Hand in Hand gehen. Nach Zipfel Personen, Sprachen, Dingen und Formen über sind die Überwindung und die Bewahrung von Generationen erfolgen und damit weit über die Fremdheit die relevanten Aspekte der fremden Dauer und das fluide Verhältnis der Gast-Freund- Ähnlichkeit. Sie sollen helfen, die Spezifizität der schaft hinausgehen.

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In Elke Sturm-Trigonakis Beitrag (Neue) auf die Arbeiten Art as Device (1916) von Viktor Weltliteratur und (Post)Kolonialismen. Wanderun- Shklovsky und Et si les œuvres changeaient d’auteur gen durch die aktuelle Komparatistik ist die kon- (2010) von Pierre Bayard die These, dass „cognitive zeptuelle Rahmung von Literatur und Wanderung shocks“ für den Rezipienten und eine „playful selbst Ergebnis und Teil eines Wanderungsprozes- dimension“ (S. 73) in der Literatur die zentralen ses. Der Aufbau ihres Textes ist von drei Wande- Aspekte der Defamiliarization sind. Nach Lavocat rungen bestimmt: erstens von der Weltliteratur zur ist die Literatur jeden großen Autors von diesen Neuen Weltliteratur, zweitens von den Postcolonial Aspekten bestimmt. Der Fokus auf Prozesse der Studies zu einer (Neuen) Weltliteratur des Kolonialen Defamiliarization in der Literatur und ihrer Rezep- und drittens von den Globalisierungen zur Kompa- tion hat eine besondere Form der Dekanonisierung ratistik. Ziel des Beitrages ist es, ein Konzept der („unsettling corpora“, S. 71) zur Folge. Diesen Neuen Weltliteratur (NWL) für mehrsprachige Zugang möchte Lavocat für die gegenwärtige und Globalisierungsphänomene thematisierende globalisierte Weltliteratur fruchtbar machen. Literatur zu entwerfen (S. 53) – für eine Literatur, Wenn die ersten vier Beiträge als eine theore- die zwischen „Transnationalismus und Regionalis- tische und konzeptuelle Ausbuchstabierung des mus in Personal, setting und Zeit“ (S. 48) oszilliert. Haupttitels begriffen werden können, folgen mit Damit soll das Fach der Komparatistik über seine den folgenden sechs Beiträgen Materialanalysen, „europäisch-westliche Perspektivierung hinaus in die von Lyrik über Romane bis zu politischen eine tatsächlich globale Dimension“ (S. 47) geführt Autobiografien reichen. In der Analyse Die werden. Entgegen dem kontingenten ‚discursive „fremde Ähnlichkeit“ der Übersetzung. Hölderlins construction‘ postkolonialer Literaturtheorie soll ‚Hälfte des Lebens‘ im Echo seiner französischen und mit dem Konzept der NWL hier eine Basis gelegt englischen Übertragungen unternimmt Peter Utz werden, die den Diskurs über das Koloniale und den Versuch, mit Hölderlins bekanntem Gedicht die Grundlagen der Komparatistik neu ausrichtet. Antworten auf zentrale Fragen der Übersetzung Sturm-Trigonakis schließt ihren Beitrag mit dem zu finden: „[W]ie fremd müssen, wie ähnlich Befund, dass unter den aktuellen Bedingungen können Übersetzungen dem Original sein [?]“ einer „intensivierten Globalisierung“ die Praxis (S. 78). In seinem Vergleich von Hölderlins deut- der Komparatistik „mehr denn je auf einer höheren schem Original mit der französischen Übersetzung Ebene mit anderen vergleichenden Vorgängen La moitié de la vie von 1993 und der englischen Half reflektiert werden“ muss (S. 64). So einleuch- of Life von 2009 fasst er seine Antworten in vier tend und richtig Ausgangs- und Endpunkt ihrer Thesen zusammen. Im ersten analytischen Befund Ausführungen sind, wird das Spezifische und Be- konstatiert er, dass die Übersetzungen „interpre- sondere der NWL nicht ersichtlich, u. a., weil es tationsbedürftige Stellen des Originals“ aufzeigen an einem oder mehreren analytischen Beispielen und so eine „hermeneutisch produktive Fremd- mangelt. stellung des Eigenen“ (S. 83) bewirken. Dadurch Die französische Komparatistin Françoise zeigen sich, so die zweite These, die Übersetzungen Lavocat versucht dagegen, die Spannung zwi- als „ein sinnstiftendes ‚Fortleben‘ des Originals“ schen Fremdheit und Ähnlichkeit in ihrem Bei- (S. 85). Drittens verweisen die Übersetzungen trag Comparatism and Defamiliarization mit der so auf das Transgressionspotential des Originals theoretischen Ausbuchstabierung des Begriffs durch die Übertragungen. Und schließlich, so Defamiliarization zu greifen. Dabei ist der Pro- die vierte These, entfalten die Übersetzungen zess der Defamiliarization vor allem eine Praxis die „innere, antithetische Poetik des Originals“ des „‚making foreign‘“ (S. 68). Wenn Zipfel und (S. 87), die nach Utz selbst als eine Übersetzung Sturm-Trigonakis zwischen „Einbürgerung“ und verstanden werden kann. Letztlich wird nach Utz „Verfremdung“, zwischen „Transnationalismus und in der Übersetzung weder das „ganz Identische“ Regionalismus“ versuchen, neue Zwischenlagen noch das „ganz Differente“ bestimmt, sondern für die Komparatistik zu eruieren, entscheidet sich vielmehr „das Ähnliche“ (S. 90) anerkannt. Lavocat mit der Defamiliarization als einem „heu- Markus Winkler unternimmt in seinem Auf- ristic tool“ (S. 70) für eine bestimmte Perspektive. satz Warten auf die Barbaren: Rimbaud – Whitman Im Zentrum dieses Zugangs steht mit Bezügen – Kavafis einen Vergleich der „poetischen Figur

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 274 | Besprechungen des Wartens auf die Barbaren“ (S. 94). Wort und (S. 140). Im Sinne einer „literarischen Exilgeogra- Begriff des Barbaren ist die „semantische Schnitt- fie“ wird eine „raumtheoretisch-raumsemantisch stelle“ (S. 93) der drei Gedichte. Während die orientierte Relektüre der Exilliteratur“ (S. 140) ver- Praxis der ‚barbarischen‘ Rede und das Reden über sucht. In Werfels Science-Fiction-Roman Stern der das Barbarische in Rimbauds Gedicht Barbare aus Ungeborenen erfolgt die Raumdarstellung topisch dem Gedichtszyklus Illuminations (1872–1875) ein und utopisch zugleich (S. 149). Mit existentiellen nicht aufzulösendes Paradox darstellt, ist die poe- Darstellungen und Themen wie „Weite, Leere, tische Figur des Barbarischen in Walt Whitmans Wüste, Formlosigkeit, Künstlichkeit, Alterität, Gedicht Song of Myself aus dem bekannten Zyklus Isolation und Einsamkeit“ (S. 154) weist Werfels Leaves of Grass (1855) eindeutig positiv besetzt. dargestellte utopisch-fantastische Zukunftsland- Zwar sei auch bei Whitman die wohlgeformte schaft eindeutige semantische Parallelen zu Texten Rede selbst praktisch „‚barbarisch‘ umgeformt“, nicht-fiktionaler Exilliteratur auf. Werfels Roman doch im Unterscheid zu Rimbaud steht diese bediene sich der Topoi des Exils, ohne diese jedoch Übertragung auf „positivem Fundament“, nämlich zu „romantisieren“ (S. 159). Für Thomas Manns auf der Erde, aus der das ‚Barbarische‘ „wie ein Romantetralogie sind ebenfalls die Topografien Grashalm hervorgehen soll“ (S. 103). Konstantin Wüste, Garten und Zeit konstitutiv. Dabei wird Kafavis’ Gedicht hebt sich deutlich von Barbare der Garten bei Mann dem Topos Wüste entgegen- und Song of Myself durch eine strenge äußere Form gestellt. Wenn Ersterer Joseph überhaupt erst die und eine klare Bedeutungsstruktur ab (S. 106). Möglichkeitsbedingungen einer neuen Heimat In Kafavis’ Gedicht Warten auf die Barbaren von aufzeigt, steht letztere für Weite, Leere und Ge- 1904 tritt das Barbarische zudem nicht ein. Viel- fahr zugleich. Doch die Topik des Zeltes ist als ein mehr geht es Kafavis um die gesellschaftlichen und „drittes spatiales Paradigma“ (S. 170) in Manns zivilisatorischen Folgen der „Bedeutungsrhetorik“ Roman die realistischste Form der Behausung vom Ankommen der Barbaren (S. 110). Sie wurde für Joseph, die Reidy und Wagner auch aus dem schon immer „zu einem Gründungsmythos der vierten Band der Tetralogie zitieren: „Wer erzählt, Zivilisation verdichtet“, die diese zugleich „unter- erwandert in Abenteuern manche Situation; aber miniert hat“ (S. 111). nur zeltender Weise verharrt er dort“ (S. 171). So Einer vergleichbaren Wanderungsbewegung sind für Reidy und Wagner Beschreibungen von geht Hannah Berners (Herr Oluf hand rider saa Räumen und Topografien in den Romanen von vide“. Stationen der Wanderung einer dänischen Werfel und Mann eng mit den Strategien der Ballade von Herder bis Heine) nach. Zu Beginn des Identitätsstiftung und Krisenbewältigung ver- Aufsatzes steht die deutschsprachige Übersetzung bunden (S. 173). der dänischen Ballade durch Wilhelm Grimm. In Wandernde Apokalypsen, apokalyptische Wan- Diese unterscheidet sich von Johann Gottfried derungen. Migration und Krise in zeitgenössischer Herders Nachbildung der Ballade als Erlkönigs apokalyptischer Literatur untersucht Sandy Lunau Tochter. Im Falle von Heinrich Heines Romanze anhand der Romane Winters Garten von Valerie Ritter Olaf erfährt sie eine regelrechte Umdichtung Fritsch und The Road von Cormac McCarthy aus durch eine „andere, freiere Form der Übertragung“ den Jahren 2015 und 2006, wie die Apokalyptik als (S. 136). In Berners intertextueller Untersuchung „Schema eines Krisennarrativs fungiert“ (S. 186 f.). erfährt das Schleiermach’sche Konzept in einem In Fritschs‘ Text steht die Apokalypse bevor, konkreten übersetzungstheoretischen Sinn eine in McCarthys Roman befinden wir uns bereits Anwendung (S. 25). in einer Welt nach der Apokalypse. Wenn im Im Beitrag „Sternenwanderschaften“ – Topo- deutschsprachigen Roman die Wiederherstellung grafien der Exilerfahrung in Franz Werfels „Stern der Gemeinschaft über die Natur und über die der Ungeborenen“ und Thomas Manns „Joseph soziale Einheit der Kernfamilie möglich erscheint, und seine Brüder“ von Julian Reidy und Moritz ist dies im amerikanischen Roman weder durch Wagner geht es um das Aufzeigen exilliterarischer Natur noch durch die Familie möglich, obwohl Topografien in diesen von Migration und Exil be- hier eine Vater-Sohn-Beziehung im Zentrum steht. stimmten fiktionalen Werken. Im Zentrum steht Trotz dieser Differenz zeigt Lunau überzeugend der Zusammenhang von Räumlichkeit und Exil auf, dass neben der Apokalyptik als Krisennarrativ

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Besprechungen | 275 der „bevorstehende Untergang als universaler Nach Lamping ist die intellektuelle Grundlage Gleichmacher“ (S. 200) in den Romanen fungiert. der Texte beider Autoren ein „kosmopolitisches Die Apokalypse ebnet sozialstrukturelle Unter- Denken“ als Reaktion auf den deutschen National- schiede und familiäre Hierarchien ein. Allgemein sozialismus und seine Folgen, das er in Goethes hält Lunau mit Verweisen auf das Buch Daniel der Konzept der Weltliteratur wiederfindet (S. 222). hebräischen Bibel, auf das Johannes-Evangelium Mit der Beschreibung dieser fremden Ähnlichkeit und auf die Divina Comedia Dantes fest, dass die schließt der Band. Apokalypse als eine „wandernde Textform“ be- Die zehn Beiträge bieten über weite Strecken zeichnet werden kann, die „zeitliche und kulturelle anregende Analysen und Lektüren. Dass diese Grenzen überwindet“ (S. 182). Ein Befund, der Ausführungen der Komparatistik helfen, ihre sich im Vergleich der zeitgenössischen fiktionalen bislang westlich und europäisch bestimmte Texte von Fritsch und McCarthy – zwischen Perspektive auf eine neue globale Dimension aus- Österreich und USA – erneut zeige. zurichten, muss leider bezweifelt werden. Allein Der Band schließt mit dem Beitrag Hannah das analysierte Material in diesem Band reicht von Arendt und Karl Jaspers. Zwei Emigranten aus Griechenland bis zu den Vereinigten Staaten selbst Deutschland und die Literatur der Wanderung nicht über die westlich-europäische Geographie von Dieter Lamping. Im Unterschied zu den hinaus. Es hätten ebenfalls Texte aus dem afrika- bisherigen Untersuchungen zur Wanderung von nischen, arabischen, lateinamerikanischen oder Schemata, Topografien und Inhalten steht in im asiatischen Raum zur Disposition stehen müssen, Zentrum von Lampings Überlegungen zum Zu- wenn man der Herausforderung der Großen Wan- sammenhang von Weltliteratur und Migration derung hätte wirklich gerecht werden wollen. Ein die Migration der Personen Hannah Arendt und etwas erweitertes Feld der Korpora und Analyse Karl Jaspers. Auch wenn die Gründe Arendts und von nicht-europäischer Literatur hätte zudem eine Jaspers, Deutschland in den Jahren 1933 und spezifischere konzeptuelle Rahmung der Neuen 1948 zu verlassen, auf den ersten Blick sehr unter- Weltliteratur und der Fremden Ähnlichkeit mit sich schiedlich sind – Arendt musste zwischen 1933 gebracht. Literaturen des ‚Orients‘ und des ‚Reichs und 1940 über die Schweiz und Frankreich in die der Mitte‘ waren z. B. auch für Goethes konzep- USA fliehen, Jaspers folgte 1948 einem Ruf nach tuelle Ausführungen zur Weltliteratur konstitutiv. Basel in die Schweiz –, weist Lamping besonders anhand Arendts Essay über Flüchtlinge und Jaspers Özkan Ezli Bericht über seine Auswanderung Philosophische Universität Tübingen Autobiografie nach, welche Ähnlichkeiten sich in Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft / den beiden Migrationen wiederspiegeln. In beiden Kulturtheorie Texten zeigen sich „Innenansichten der Emigra- D–72074 Tübingen tion“, deren Kraft aus einer nachdenkenden und , nachdenklichen Erzählung resultiert (S. 219 f.).

Susanne Düwell, Andrea Bartl, Christof Hamann, Oliver Ruf (Hrsg.) Handbuch Kriminalliteratur. Theorie – Geschichte – Medien. J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2018, 431 S.

Am 1.7.2019 wurde in Münster der Sonderfor- kann mittlerweile als Forschungstradition bezeichnet schungsbereich Recht und Literatur eingerichtet: nur werden, und auch in Deutschland wird die Verbin- eines von vielen Indizien dafür, dass die Erforschung dung der beiden Kulturfelder seit längerem kontinu- der interdisziplinären Verbindungen und Schnitt- ierlich bearbeitet. Bereits seit 1982 veröffentlicht die stellen von ‚Recht und Literatur‘ noch immer aktuell Neue Juristische Wochenschrift jährlich einen Sonder- ist. Die amerikanische law-and-literature-Bewegung band zum Thema ‚Recht und Literatur‘.

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Angesichts dessen wirkt das Erscheinen des die zudem viele Beiträge Bezug nehmen. Darüber Handbuchs Kriminalliteratur beinahe überfällig. hinaus spielt die skandinavische Literatur seit dem Es dokumentiert das ungebrochene Interesse an 20. Jahrhundert eine nicht zu vernachlässigende einem Genre, das als ein Kernbereich dieses For- Rolle. Andererseits gibt es systematische Argu- schungsgebiets gelten darf. Die Veröffentlichung mente für eine mindestens europäisch-diachrone trägt auch dem Umstand Rechnung, dass sich Perspektive. Denn im dritten Abschnitt zu den die Literaturwissenschaft mittlerweile ungeniert poetologischen Reflexionen, der dezidiert nach Au- mit populärer Literatur auseinandersetzt. Im tor*innen geordnet ist, werden auch Positionen von Handbuch trägt dem insbesondere der vierte nicht-deutschsprachigen Schriftsteller*innen ver- Abschnitt („Zentrale Aspekte“) Rechnung, denn handelt. Nicht zuletzt stellt Metin Genç in seinem hier kommen einige renommierte Forscher*innen Beitrag über aktuelle Forschungsperspektiven den zu Wort, deren Beiträge sich durch Fachexpertise Ansatz ‚Kriminalliteratur als Weltliteratur‘ vor, der im Bereich ,Recht und Literatur‘ auszeichnen: sogar für eine Erweiterung der eurozentristischen Michael Niehaus z. B. kondensiert sein Wissen Perspektive plädiert (S. 55 f.). zum ‚Geständnis‘ und ‚Verhör‘, Antonia Eder Insgesamt weist das Handbuch einige Über­ schreibt über ihr Gebiet der ‚Indizien‘, Alex- schneidungen auf. Diese kommen z. T. dadurch ander Košenina übernimmt mit ‚Verbrechen‘ zustande, dass manche Beiträge aus den synchro- ein Themenfeld, mit dem er sich in vorherigen nen Abschnitten in sich selbst diachron angelegt Forschungsarbeiten gründlich auseinandergesetzt sind. Doppelungen hätten teilweise durch the- hat. Neben den im Fachgebiet bereits etablierten matische Zuspitzung der Artikel getilgt werden Autor*innen – die vorangegangene Aufzählung können. Gleichzeitig sind Wiederholungen in ist selbstredend nicht vollständig – kommen im Handbüchern geboten, da diese selten chronolo- Handbuch Kriminalliteratur auch eine Reihe gisch durchgearbeitet, sondern in der Regel selektiv Nachwuchswissenschaftler*innen zu Wort. So genutzt werden. Eine Verweisstruktur, wie man entsteht der Eindruck einer ausgewogenen Au- sie aus anderen Nachschlagewerken kennt, hätte tor*innen-Auswahl, auch wenn auffällt, dass fast Überschneidungen allerdings minimieren können, die Hälfte von ihnen aus dem Umfeld der Heraus- so z. B. bei der Frage nach dem Genre (vgl. u. a. geber*innen stammt. die Beiträge zur ‚Gattungspoetologie‘ und ‚Narra- Das Handbuch ist in sieben Abschnitte ge- tologie‘ in Abschnitt I). Ähnlich verhält es sich bei gliedert, die zentrale Felder der Kriminalliteratur der Beschreibung des Einflusses von Pitavals Causes aufgreifen. Synchron werden neben literaturwissen- Célèbres und der Rolle August Gottlieb Meißners schaftlichen Konzepten (I) Theorien eingeführt, für den Beginn der deutschen Kriminalgeschichts- die sich allerdings nur auf den Kriminalroman schreibung (vgl. u. a. ‚Fallgeschichte‘, ‚Aufklärung‘, beziehen (II). Neben poetologischen Reflexionen ‚Verbrechen‘, ‚Richter‘, ‚Kriminalliteratur im 17./18. (III) und den bereits genannten Einzelaspekten Jahrhundert‘, ‚Kanonische Kriminalliteratur des (IV) werden zentrale Charaktere (V) der Kri- 19. Jahrhunderts‘). minalliteratur vorgestellt. Der letzte Abschnitt Gut abgestimmt sind die Beiträge zur ‚Wis- schließlich verlässt den engen literarischen Bereich sensgeschichte‘ und ‚Kriminologie‘ in Abschnitt und blickt auf Krimis in anderen Medien (VII). II. Hania Siebenpfeiffer gibt einen informativen Lediglich der Abschnitt zur deutschen Kriminal- Überblick über ‚Kriminologie‘. Sie geht nicht geschichtsschreibung (VI), der den gesamten Zeit- nur auf die verschiedenen Denkschulen ein und raum von ihrem Beginn an der Schwelle vom 17. verortet sie im größeren anthropologischen und zum 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart (2018) gesellschaftstheoretischen Rahmen, sondern abdeckt, ist diachron angelegt. Die Beschränkung stellt auch wichtige Vertreter kriminologischer des historischen Überblicks auf den deutsch- Strömungen kurz vor. Michael Eggers und Pat- sprachigen Raum wirkt dabei in doppelter Weise rick Hohlweck arbeiten sich in ihrem Beitrag zur unzulässig: Einerseits sprechen sachliche Gründe Wissensgeschichte zwar auch an kriminologischem dagegen, nämlich die herausragende Bedeutung Wissen ab, perspektivieren dieses allerdings an- englischer und französischer Literatur am Beginn ders, nämlich anhand ausgewählter literarischer der modernen Kriminalgeschichtsschreibung, auf Beispiele.

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Im Abschnitt IV zu den zentralen Figuren Meißners Skizzen historisch falsch ein, datiert die kommen Doppelungen dadurch zustande, dass erste Sammlung (1778) ins Jahr 1783, dem Jahr, die Figuren innerhalb des Gesellschaftsfeldes in dem schon die vierte Sammlung erscheint und ‚Kriminalität‘ tatsächlich zentral sind, ihre Rollen die erste Sammlung bereits in die zweite Auflage in der deutschen Literatur selbst aber oft nicht aus- geht. Bedauerlich ist dies nicht nur, weil er zu den differenziert genug sind. So gruppieren sich um die zentralen Protagonisten der deutschen Kriminal- bereits eingehend erforschte Figur des Detektivs geschichtsschreibung gehört, sondern auch, weil weitere ermittelnde Figuren bzw. Institutionen wie die Leser*innen gerade von Handbuch-Artikeln z. B. ‚Gerichtsmedizin und Spurensicherung‘. Die eine konzentrierte Form der Wissensverdichtung Referenztexte und -serien sind hauptsächlich aus erwarten dürfen. dem angelsächsischen Raum. Die Ausführungen Im Abschnitt zur medialen Transformation zum ‚Richter‘, den Niklas Schmitt ebenfalls weisen die Beiträge ‚Film‘ und ‚TV‘ eine ausführli- als ermittelnde, dem Detektiv ähnliche, Instanz che Kontextualisierung in die Mediengeschichte beschreibt (vgl. S. 251) stellen in weiten Teilen auf. Implizit wird in diesem letzten Abschnitt allgemeine, historische Entwicklungslinien dar Popularisierung (z. B. S. 353 ff.) und in diesem Zu- und verlieren die Spezifik der Rolle des Richters sammenhang die Serialität der Krimi-Genres mit- zuweilen aus dem Blick. Ein Artikel über die Figur verhandelt. Der Anhang ergänzt die Ausführungen des Verteidigers fehlt dagegen. um eine Übersicht verschiedener Institutionen Die Ausführungen zu den poetologischen und Online-Plattformen zum Thema sowie eine Reflexionen (III) konzentrieren sich stark auf das Aufzählung von Festivals im deutschsprachigen 20. Jahrhundert. Mit Bernhard Jaumann wird Raum und die Beschreibung verschiedener Krimi- nur ein Autor des 21. Jahrhunderts besprochen, preise samt Dotierung. der in seiner dreiteiligen Poetik-Vorlesung über Abschließend lässt sich trotz einiger kritischer die Verbindung von Verbrechen und Ort, Schreib- Punkte konstatieren, dass die einzelnen Beiträge strategien und die Grenzen des Krimis spricht (vgl. insgesamt kohärent sind. Das Handbuch leistet S. 158), diese Themen aber auch metadiegetisch einen wichtigen Beitrag zur systematischen Er- in seinen Romanen reflektiert (vgl. S. 160 f.). fassung der deutschen Kriminalliteratur und lädt Immerhin sind mit Edgar Allen Poe und Arthur interessierte Leser*innen zur Lektüre und vertie- Conan Doyle zwei wichtige Protagonisten des 19. fenden Auseinandersetzung ein. Jahrhunderts vertreten. Dass das 18. Jahrhundert ausgeblendet wird, ist angesichts der Überlegungen Sarah Seidel Schillers und Meißners zur Kriminalliteratur sowie Universität Konstanz deren vielfacher Behandlung in anderen Beiträgen Fachbereich Literatur-, Kunst- und Medienwis- nicht nachvollziehbar. Die Übersicht über Ver- senschaften brechensdarstellungen von der Frühen Neuzeit D–78457 Konstanz bis zu Heinrich von Kleist (S. 265–273) bindet

Lena Abraham, Kira Jürjens, Edith Anna Kurz, Elias Zimmermann (Hrsg.) Fenster – Korridor – Treppe. Architektonische Wahrnehmungsdispositive in der Literatur und in den Künsten. Aisthesis Verlag, Bielefeld 2019, 219 S.

Wenn ein Buch mit Studien über Fenster, Kor- und Eigenschaften zu zeigen, die dem schlichten ridore und Treppen in der Literatur und in den Gebrauch dieser ubiquitären Elemente der Archi- Künsten erscheint, ist das für Leser*innen, die tektur neue Bedeutungsebenen und neuen Sinn sich mit Räumen und räumlichen Gestaltungspro- entlocken. zessen beschäftigen, von großem Interesse. Denn Der Titel des von vier Literaturwissenschaft- schon die Themensetzung verspricht, Aspekte ler*innen herausgegebenen Bandes kündigt die

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Untersuchung dreier Architekturelemente als Sábato führt Lena Abraham die Funktion von „Wahrnehmungsdispositive“ an, die durch ge- Architekturelementen in der Aufzeichnung der meinsame Eigenschaften verbunden sind: Sie fiktiven Geschichte eines vereinsamten Malers vor, sind durchlässig, sie können durchblickt und/ der, unfähig zur Kommunikation und maßlos in oder durchgangen werden, und sie sind, das gilt seinen Ansprüchen an sie, zum Mörder wird. Das wohl deutlicher für Korridore und Treppen als für Gefangensein im ‚Tunnel‘ ist das Gefangensein Fenster, nicht für dauernde Aufenthalte bestimmt. im Ich: Das ‚Fenster‘ wie die ‚Brücke‘ hingegen Die drei Elemente haben eine lange Geschichte sind, allerdings störanfällige, Möglichkeiten des in der Architektur und in den Künsten, und es ist Entrinnens. Anja Gerigk zeigt, wie in zentralen davon ist auszugehen, dass die Leser und Leserin- (Fenster-)Szenen zweier Romane, in Siegfried nen reiche Erfahrung mit Situationen haben, in Kracauers Ginster (1928) und – im Beitrag sehr denen diese Elemente eine Rolle gespielt haben. viel ausführlicher behandelt – in Ernst-Wilhelm Das bemerkenswerte Titelbild, eine Faltarbeit aus Händlers Sturm (1999), die jeweils infrage stehende dem Jahr 2016 von Simon Schubert, führt schon Rolle des entwerfenden Architekten verhandelt auf den ersten Blick in ein menschenleeres Inte- wird. in anregender Exkurs in architekturhistori- rieur mit Fenstern, Korridor und Treppe und bietet sche Forschungen ist Sonja Hildebrands Beitrag. die Gelegenheit, der Fülle eigener Assoziationen Er diskutiert die hohen Fenster Auguste Perrets, freien Lauf zu lassen. die Fensterbänder Le Corbusiers und die Fenster- In literarischen Texten können Fenster, Korrido- situationen Aldo van Eycks im Hinblick auf ihre re und Treppen vielfältige Funktionen übernehmen, sinnlichen und medialen Effekte, ihren möglichen und diesen ist der Sammelband auf der Spur. Die Gebrauch und die jeweils in den Entwürfen mani- einzelnen Beiträge fragen, wie es im „Einstieg“, dem festierte Auffassung der Vermittlung von Außenwelt kurzen einleitenden Text von Elias Zimmermann und Innenwelt. Kira Jürjens fragt, in welcher Weise heißt, „wie Fenster, Treppe und Korridor als Para- opake Fenster-Szenen im 19. Jahrhundert in der po- digmen ästhetisch-künstlerischer Welterfahrung pulären Vermittlung naturwissenschaftlichen Wis- Verwendung finden“, wobei die drei ausgewählten sens, in Einrichtungsratgebern, in bildender Kunst Elemente „für die Aktivierung des Raums in der wie in der Literatur von Bedeutung sind. Annette Bewegung von Blicken und Körpern“ stehen Droste-Hülshoffs Ledwina (1825), Adolf Menzels (S. 7). Sie werden – und das soll die hier vorgelegten Balkonzimmer (1845) und Berthold Sigismunds Studien von der Untersuchung rhetorischer Figuren Beobachtungen am Fenster, 1857 erschienen und aller Art abheben – betrachtet als „Gegenstände, der Betrachtung von Eisblumen gewidmet, stehen die ‚neben sich zeigen‘“ und damit „sich selbst und in diesem sehr dichten Beitrag für unterschied- ihre Kontexte intelligibel machen“ (S. 8). Es wird liche Aspekte einer sich verändernden „Ordnung also um literarische Texte gehen, in denen archi- von Wahrnehmung, Erkenntnis und Darstellung“ tektonische Elemente sich nicht in einer Funktion (S. 103). Rina Schmeller untersucht die Rolle des als Metaphern oder Symbole erschöpfen, sondern Fensters in Virginia Woolfs Poetologie und führt in denen ihre lebensweltliche Funktion und Mate- den Platz am Fenster anhand zahlreicher Szenen rialität Bedeutung hat. im literarischen wie essayistischen Werk Woolfs Das Fenster ist eindeutig das prominenteste überzeugend als inspirierenden Ort vor: Literatur unter den hier gewählten Elementen. Die Vielfalt entsteht „an der durchlässigen Grenze zwischen seiner literarischen Wandlungen ist groß, und innen und außen, der transparenten Stelle zwischen die literaturwissenschaftliche Forschung dazu, Ich und Welt.“ (S. 128) Caio Yurgel widmet sich die die Beiträge in unterschiedlicher Dichte und im einzigen englischsprachigen Text des Bandes den Deutlichkeit zitieren, ist bereits weit entwickelt. Fensterblicken im Werk Heinrich Bölls: Sie richten Es erstaunt also nicht, dass das Fenster in sieben sich, häufig aus Zugfenstern, auch durch Spalten der zehn Beiträge in den Blick genommen wird. in Ruinenwänden, auf die zufälligen Schrecknissen Gleich im ersten Beitrag wird die Möglichkeit, unterworfene Kriegs- und Nachkriegslandschaft über Fensterblicke eine trostlose Isolation auf- und in die dem menschlichen Elend gleichgültig zubrechen, das beherrschende Thema: In ihrer begegnende Natur. Die so gerahmten Blicke zeu- Lektüre des Romans El túnel (1948) von Ernesto gen, so Caio Yurgel in seinem aufschlussreichen

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Beitrag, von Bölls „fundamentally humane retreat einem ‚unentwirrbaren‘ Palast bei Jorge Luis Borges indoors“ (S. 166). Gianna Zocco zitiert im Titel (1949) und die Treppengänge, auf die Christoph ihres Beitrags den letzten Satz aus Nella Larsens Geiser den berauschten und verwirrten Baumeister Passing (1929): „Let’s go up and have another look (1998) schickt, der nicht mehr zeichnet, sondern at the window“, der eine eigene literatur- und kul- nur schreibt. Ein Kommentar zur Debatte zwischen turwissenschaftliche Deutungsgeschichte angeregt Bernard Tschumi und Jacques Derrida über die hat. Ihr Thema ist die Verhandlung von race und folies im Parc de la Villete schließt den Text, der gender. In diesem Kontext führen die dramatischen der gebauten Architektur keine mediale Funktion Fensterszenen des Romans die Ambivalenzen von zugesteht. Das wäre zu diskutieren. Sichtbarkeit und Sehen, Nicht-Sichtbarkeit und Der Band bietet u. a. poetologische, subjekt- Gesehenwerden vor – und seine Treppenszenen theoretische, diskurskritische und wahrneh- verleihen Situationen, in denen Über- und Unter- mungshistorische Untersuchungen zu literarischen legenheit in verschiedensten Dimensionen bedeu- Texten. Die Vielfalt der Ansätze ist also groß, und tend wird, die räumliche Überzeugungskraft: Mit so bleibt das im Untertitel angesprochene­ Konzept Referenz auf Jurij Lotmans Literaturtheorie werden der „Wahrnehmungsdispositive“ vage. Program- sie von Zocco konsequent entschlüsselt. matische Forschungsfragen­ teilen die Autor*innen Mit Nella Larsens Roman sind bereits einige aus vier Projekten in Lausanne und Berlin vor literarische Treppen vorgestellt. Eine der eindrucks- allem insoweit, als sie sich auf die Erkundung vollsten dieser Art ist nun zweifelsohne diejenige, der vielfältigen Rollen und Positionen von Archi- die George Perec in seinem Hauptwerk La Vie mode tekturelementen in literarischen Texten beziehen. (1978) entworfen hat: Es ist diese immer d’emploi Das Fenster ist dabei, wie erwähnt, das Element, wieder vom Erzähler, und mit ihm von den Le- dem die größte Aufmerksamkeit gilt, während es ser*innen, betretene Treppe, die ein großes Haus in an Korridoren völlig mangelt, es sei denn, man Paris, seine Bewohnerschaft, ihre höchst eigenwil- will, wohl dann etwas kurzschlüssig, den túnel ligen Behausungen und ihre vielfach verknüpften im Roman Er­nesto Sábatos als solchen auffassen. Geschichten ordnet, situiert und verbindet. Julia Nachvollziehbar ist die Konzentration auf Dettke verweist dazu auf Perecs Bevorzugung der Fenster insofern, als die (visuelle) Scheidung Zwischenräume, zeigt ihn unter Bezug auf Espèces d’Espaces (1974) gar als ihren Bewohner und erin- zwischen Innen und Außen ein so fundamentales nert an Homi K. Bhabhas Referenz auf die Treppe, Thema der Architektur wie der Literatur ist, dass die als ‚liminal space‘ mobile Identitäten ermögliche daneben die ohnehin seltener literarisch gestalteten Durchgänge und Zwischenzonen, die Korridore (S. 39). Benedikt Tremp verbindet in seinem Text über „Wiederaufrichtung und Erbauung des deut- und Treppen, verblassen. Der Titel wie der „Ein- schen Volks im U-Bahntreppen-Gleichnis Wolf- stieg“ wecken so allerdings Erwartungen, die nicht gang Weyrauchs“ (1946) einen Aufstieg aus den erfüllt werden. Der Vorzug dieses Bandes aber ist, U-Bahnschächten Berlins kurz nach Ende des Zwei- dass er einige ausgezeichnete Untersuchungen zu ten Weltkriegs auf einer ikonologischen Ebene mit Texten vorlegt, in denen die Räume der Literatur Jakobsleitern in christlicher Tradition, eine Option, diejenigen der Architektur besetzt, überwunden, in die, ebenso wie der Verweis auf das neuplatonische Frage gestellt und ihren reichen Sinnproduktionen Dreistufenmodell, eine ausführlichere Darlegung unterworfen haben. verlangt hätte. Elias Zimmermann verweist, aus- gehend von Piranesis Carceri, auf „schwindel- Susanne Hauser erregende Treppen“ in literarischen Architekturen, Universität der Künste die er als „kritisches Wahrnehmungsdispositiv des Fakultät 2, Gestaltung „verunsicherten künstlerischen Subjekts“ (S. 198) Architektur / Kunst- und Kulturgeschichte sieht: Beispiele sind die in Opiumträumen auf- Franklinstr. 11 tauchenden Treppenszenen Thomas de Quinceys D–10587 Berlin (1821), die albtraumhaften Irrwege über Treppen in

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) pen Zeitschrift für Germanistik | Neue Folge XXX (2020), Peter Lang, Bern | H. 1, S. 280–283

Informationen

Eingegangene Literatur

Ajouri, Philip, Benjamin Specht (Hrsg.): Em- Berghahn, Cord-Friedrich, Gerd Biegel, Till pirisierung des Transzendalen. Erkenntnis- Kinzel (Hrsg.): Justus Friedrich Wilhelm Za- bedingungen in Wissenschaft und Kunst chariä. Studien zu Leben und Werk. Winter 1850–1920. Wallstein Verlag, Göttingen 2019, Verlag, Heidelberg 2018, 435 S. 430 S. Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wis- Ammon, Frieder von, Dirk von Petersdorff senschaften, Akademie der Wissenschaften zu (Hrsg.): Lyrik / Lyrics. Songtexte als Gegen- Göttingen, Heidelberger Akademie der Wis­ stand der Literaturwissenschaft. Wallstein senschaften (Hrsg.): Goethe-Wörterbuch, Bd. 7, Verlag, Göttingen 2019, 424 S. 1. Lfg.: Promenadentag – radikal. Verlag W. Aufenanger, Jörg: Else Lasker-Schüler in Berlin. ­Kohlhammer, Stuttgart 2019, 127 S. be.bra Verlag, Berlin 2019, 207 S. Born, Stephanie: „Die Weltgeschichte aus den Aurnhammer, Achim, Nicolas Detering: Fugen?“. Paul Celans kritische Poetik und Deutsche Literatur der Frühen Neuzeit. Hu- Martin Heideggers Seins-Philosophie nach manismus, Barock, Frühaufklärung. Narr den schwarzen Heften. Verlag Königshausen Francke Attempto Verlag, Tübingen 2019, & Neumann, Würzburg 2019, 422 S. 623 S. Canetti, Elias: Prozesse. Über Franz Kafka. Barbey, Rainer, Thomas Petraschka (Hrsg.): Im Auftrag der Canetti-Stiftung hrsg. v. Ernst Jünger. Gespräche im Weltstaat. Inter- S. Lüdemann, K. Wachinger. Carl Hanser views und Dialoge 1929–1997. Verlag Klett- Verlag, München 2019, 381 S. Cotta, Stuttgart 2019, 575 S. Colli Staude, Chiara: Friedrich Nietzsche, Baschera, Marco, Pietro de Marchi, San- Giorgio Colli und die Griechen. Philologie dro Zanetti (Hrsg.): Zwischen den Spra- chen / Entre les langues. Mehrsprachigkeit, und Philosophie zwischen Unzeitgemäßheit Übersetzung, Öffnung der Sprachen / Pluri- und Leben. Verlag Königshausen & Neu- linguisme, traduction, ouverture des langues. mann, Würzburg 2019, 208 S. Aisthesis Verlag, Bielefeld 2019, 247 S. Dácz, Enikö, Christina Rossi (Hrsg.): Wend- Bauer, Matthias, Nils Kasper (Hrsg.): Zwischen emanöver. Beiträge zum Werk Richard Wagners. Mythos und Moderne. Thomas Manns „Jo- Mit literarischen Texten von Felicitas Hoppe, sephs“-Tetralogie. Aisthesis Verlag, Bielefeld Johann Lippet und Richard Wagner. Friedrich 2019, 236 S. Pustet Verlag, Regensburg 2018, 206 S. Bazarkaya, Onur: Der gelehrte Scharlatan. Stu- Descher, Stefan, Thomas Petraschka: Argu- dien zur Poetik einer wissenschaftsgeschichtli- mentieren in der Literaturwissenschaft. Eine chen Figur. Verlag Königshausen & Neumann Einführung. Reclam Verlag, Stuttgart 2019, Verlag, Würzburg 2019, 210 S. 188 S. Benninghoff-Lühl, Sibylle: Die ganze Welt Deutsch als Fremdsprache. Zeitschrift zur Theo- ein Garten? Flora und Fauna in Ernst Jüngers rie und Praxis des Faches Deutsch als Fremd- schriftlichem Nachlass. Kadmos Verlag, Berlin sprache 56 (2019), H. 2. Erich Schmidt Verlag, 2018, 213 S. Berlin, S. 65–128.

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Informationen | 281

Deutsch als Fremdsprache. Zeitschrift zur Theo- Mittelalters. Verlag W. Kohlhammer, Stutt- rie und Praxis des Faches Deutsch als Fremd- gart 2019, 486 S. sprache 56 (2019), H. 1. Erich Schmidt Verlag, Heisserer, Dirk, AdK (Hrsg.): Archiv-Blätter Berlin, 64 S. 25. Dichter und Kritker. Thomas Mann – Eickenrodt, Sabine, Peter Stocker (Hrsg.): Bernhard Diebold. Akademie der Künste / Robert Walser: Werke. Berner Ausgabe, Archiv, Berlin 2019, 214 S. Bd. 13: Kleine Prosa. Suhrkamp Verlag, Herweg, Nikola, Harald Tausch (Hrsg.): Das Frankfurt a. M. 2019, 93 S. Werk von Felix Hartlaub. Einflüsse, Kontexte, Eke, Norbert Otto, Stefan Elit (Hrsg.): Grund- Rezeption. Wallstein Verlag, Göttingen 2019, themen der Literaturwissenschaft. Literari- 159 S. sche Institutionen. Verlag Walter de Gruyter, Heske, Henning: Fensterschau. Gedichtinter- Berlin, Boston 2019, 540 S. pretationen nordrheinwestfälischer Autorin- Erb, Andreas (Hrsg.): Christof Hamann: Gehen, nen und Autoren. Edition Virgines Verlag, Stolpern, Schreiben. Aisthesis Verlag, Bielefeld Düsseldorf 2018, 127 S. 2019, 257 S. Hildebrandt, Annika: Die Mobilisierung der Ezli, Özkan, Deniz Göktürk, Uwe Wirth Poesie. Literatur und Krieg um 1750. Verlag (Hrsg.): Komik der Integration. Grenzprakti- Walter de Gruyter, Berlin, Boston 2019, 496 S. ken und Identifikationen des Sozialen. Aisthe- Hopf, Michael: Mystische Kurzdialoge um Meis- sis Verlag, Bielefeld 2019, 305 S. ter Eckart. Editionen und Untersuchungen. Fortmann-Hijazi, Sarah: Gehen, um zu erin- Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2019, 552 S. neren. Identitätssuche vor irakischem Hin- Jaekel, Charlotte: Vive la Bagatelle. Animismus tergrund: Sherko Fatah, Semier Insayif und und Agency bei Friedrich Theodor Vischer. Abbas Khider. Aisthesis Verlag, Bielefeld Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2019, 298 S. 2019, 329 S. Fromm, Waldemar, Manfred Knedlik, Mar- Jähnig, Dieter: Dichtung und Geschichte. cel Schellong (Hrsg.): Literaturgeschichte Beiträge zu Hölderlins Geschichtsphilosophie Münchens. Verlag Friedrich Pustet, Regens- und zur Philosophie der Künste. Hrsg. v. D. burg 2019, 615 S. Rahn. Georg Olms Verlag, Hildesheim u. a. Gfereis, Heike, Anna Kinder, Sandra Richter 2019, 362 S. (Hrsg.): marbacher magazin 165&166: #Li- Japanische Gesellschaft für Germanistik (Hrsg.): teraturbewegt 1. Lachen. Kabarett. Marbach Neue Beiträge zur Germanistik, Japanische 2019, 220 S. Ausgabe von Doitsu Bungaku 17 (2018), H. 1: Gisi, Lucas Marco u. a. (Hrsg.): Robert Walser: Analogie – Ähnlichkeitsdenken in Litera- Werke. Berner Ausgabe, Bd. 12: Prosastücke. tur und Kultur. iudicium Verlag, München, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2019, 194 S. 178 S. Jessen, Caroline: Kanon im Exil. Lektüren Goldmann, Stefan: „Alles Wissen ist Stückwerk“. deutsch-jüdischer Emigranten in Palästina/Is- Studien zu Sigmund Freuds Krankengeschich- rael. Wallstein Verlag, Göttingen 2019, 398 S. ten und zur Traumdeutung. Psychosozial Ver- Jung, Werner, Liane Schüller (Hrsg.): Orwells lag, Gießen 2019, 173 S. Enkel. Überwachungsnarrative. Aisthesis Ver- Häfner, Yvonne (Hrsg.): Johann Caspar Lavater: lag, Bielefeld 2019, 255 S. Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Kahl, Paul: Das Goethe-Nationalmuseum in Ausgabe, Bd. VI/2: Werke 1782–1785. Verlag Weimar. Bd. 2: Goethehaus und Goethe-Mu- NZZ Libro, Zürich 2019, 1712 S. seum im 20. Jahrhundert. Dokumente. Wall- Handke, Peter: Zeichnungen. Mit einem Essay stein Verlag, Göttingen 2019, 1036 S. von Giorgio Agamben. Verlag Schirmer/ Keith, Anja, Detlev Schöttker (Hrsg.): Ernst Mosel, München 2019, 140 S. Jünger – Joseph Wulf. Der Briefwechsel 1962– Haustein, J. u. a. (Hrsg.): Traditionelles und 1974. Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt Innovatives in der geistlichen Literatur des a. M. 2019, 168 S.

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) 282 | Informationen

Knapp, Lore (Hrsg.): Literarische Netzwerke in der Romanliteratur des 17. und 18. Jahr- im 18. Jahrhundert. Mit den Übersetzungen hunderts. Verlag Königshausen & Neumannn, zweier Aufsätze von Latour und Sapiro. Ais­ Würzburg 2019, 240 S. thesis Verlag, Bielefeld 2019, 339 S. Meuser, Mirjam: Schwarzer Karneval – Heiner Knedlik, Manfred (Hrsg.): Das Passions- und Müllers Poetik des Grotesken. Verlag Walter Osterspiel (1566) von Sebastian Wild. Editio de Gruyter, Berlin, Boston 2019, 488 S. Bavarica VII. Verlag Friedrich Pustet, Regens- Mokrohs, Laura: Dichtung ist Revolution. Kurt burg 2019, 144 S. Eisner – Gustav Landauer – Erich Mühsam Kölbel, Martin (Hrsg.): Zwischen den Kriegen. – Ernst Toller. Bilder, Dokumente, Kommen- Blätter gegen die Zeit. Eine Zeitschrift von tare. Verlag Friedrich Pustet, München 2018, Werner Riegel und Peter Rühmkorf. Wallstein 128 S. Verlag, Göttingen 2019, 615 S. Monatshefte für deutschsprachige Literatur und König, Christoph, Glenn W. Most (Hrsg.): Kultur 111 (Frühling 2019), Nr. 1. Wunsch, Indianer zu werden. Versuche über Murnane, Barry u. a. (Hrsg.): Essen, töten, einen Satz von Franz Kafka. Wallstein Verlag, heilen. Praktiken literaturkritischen Schrei- Göttingen 2019, 64 S. bens im 18. Jahrhundert. Wallstein Verlag, Lehmann-Brauns, Uwe: Benns letzte Lieben. Göttingen 2019, 294 S. Mit Originalbriefen von Gottfried Benn. Ver- Nell, Werner, Marc Weiland (Hrsg.): Dorf. Ein brecher Verlag, Berlin 2019, 111 S. interdisziplinäres Handbuch. J. B. Metzler LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Verlag, Stuttgart 2019, 396 S. Linguistik 49 (2019), H. 2: Sprachgeschichte Nitsche, Jessica, Werner, Nadine (Hrsg.): Ent- als Kulturgeschichte – revisited. J. B. Metzler wendungen. Walter Benjamin und seine Quel- Verlag, Stuttgart, S. 163–367. len. Wilhelm Fink Verlag, München 2019, Limpinsel, Mirco: Was ist organische Architek- 486 S. tur? Zur Topik und Semantik eines mehrdeu- Passavant, Nicolas von: Nachromantische Exzen­ tigen Begriffs. Edition Staub im Skript-Verlag, trik. Literarische Konfigurationen des Gewöhn­ Neuss 2019, 115 S. lichen. Wallstein Verlag, Göttingen 2019, 328 S. Lindauer, Natalie: Traum, Tod und Trost. Stu- Patrut, Iulia-Karin, Reto Rössler (Hrsg.): dien zur Gefängnislyrik am Beispiel Albrecht Ähnlichkeit um 1800. Konturen eines litera- Haushofers und Ernst Tollers. Mattes Verlag, tur- und kulturtheoretischen Paradigmas am Heidelberg 2019, 257 S. Beginn der Moderne. Aisthesis Verlag, Biele- Lubrich, Oliver, Thomas Nehrlich (Hrsg.): Ale- feld 2019, 291 S. xander von Humboldt: Sämtliche Schriften. Pettersdorf, Dirk von: „Und lieben, Götter, dtv Verlag, München 2019, 6848 S. welch ein Glück“. Glaube und Liebe in Goe- Lütgemeier-Davin, Reinhold (Hrsg.): Kurt Hil- thes Gedichten. Wallstein Verlag, Göttingen ler – Rezeptionsgeschichte(n). Beiträge einer 2019, 270 S. Tagung der Kurt Hiller Gesellschaft und des Pietzcker, Carl: Psychoanalytische Studien zur Instituts für Braunschweigische Regionalge- Literatur 2. Verlag Königshausen & Neu- schichte. Bockel Verlag, Neumünster 2019, mann, Würzburg 2019, 274 S. 221 S. Ponzi, Mauro, Altea Koenig (Hrsg.): Karl Marx Lyon, B. John, Brian Tucker (Hrsg.): Fontane und die Krise, Verlag Königshausen & Neu- in the Twenty-First Century. Verlag Camden mann. Würzburg 2019, 278 S. House, Rochester, New York 2019, 256 S. Puccioni, Linda: Farbensprachen. Chromatik Magerski, Christine, Christa Karpenstein- und Synästhesie bei Hugo von Hofmannsthal. Essbach (Hrsg.): Literatursoziologie. Grund- Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg lagen, Problemstellungen und Theorien. 2019, 247 S. Springer VS Verlag, Wiesbaden 2019, 226 S. Renner, Rolf G.: Zeichenspiele. Archäologie und Maute, Andrea: Der Dritte als dynamischer Signatur der Moderne. Rombach Verlag, Frei- Faktor der liebessemantischen Entwicklung burg i. Br. u. a. 2019, 573 S.

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Schmitz-Emans, Monika: Enzyklopädische Phan- Wagner, Karl, Reto Sorg (Hrsg.): Robert tasien. Wissensvermittelnde Darstellungsformen Walser: Werke. Berner Ausgabe, Bd. 6: Der in der Literatur – Fallstudien und Poetiken. Gehülfe. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. Georg Olms Verlag, Hildesheim, Zürich, New 2019, 291 S. York 2019, 752 S. Wagner, Martin, Ellwood Wiggins (Hrsg.): Se- Schütz, Erhard: Mediendiktatur Nationalso- lected Works by J.M.R. Lenz. Plays, Stories, zialismus. Winter Verlag, Heidelberg 2019, Essays, and Poems. Übers. v. M. Wagner, E. 422 S. Wiggins. Camden House Verlag, Rochester, Schwarz, Ingo, Oliver Schwarz (Hrsg.): Ale- New York 2019, 372 S. xander von Humboldt – Friedrich Argelan- Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwis- der: Briefwechsel. Verlag Walter de Gruyter, senschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaft Berlin, Boston 2019, 158 S. 65 (2019), H. 2. Passagen Verlag, Berlin, Sinn und Form 71 (2019), H. 4. Aufbau Verlag, S. 165–320. Berlin, S. 438–576. Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwis- Sprengel, Peter (Hrsg.): Adolf Glaßbrenner: Eine senschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaft Fahrt nach Oranienburg. Feuilleton-Erzäh- 65 (2019), H. 1. Passagen Verlag, Berlin, lung. Mit anderen neuentdeckten Beiträgen S. 1–160. zum Freimüthigen (1839), m. e. Vorwort u. Zeisberg, Simon: Das Handeln des Anderen. Pi- Kommentar v. P. S. Aisthesis Verlag, Bielefeld karischer Roman und Ökonomie im 17. Jahr- 2019, 158 S. hundert. Verlag Walter de Gruyter, Berlin, Twellmann, Marcus: Dorfgeschichten. Wie die Boston 2019, 451 S. Welt zur Literatur kommt. Wallstein Verlag, Zeitschrift für Deutsche Philologie (ZfdPh) 138 Göttingen 2019, 515 S. (2019), H. 1. Erich Schmidt Verlag, Berlin, Venzl, Tilman: „Itzt kommen die Soldaten“. S. 1–156. Studien zum deutschsprachigen Militätdrama Zeitschrift für Deutsche Philologie (ZfdPh) 138 des 18. Jahrhunderts. Verlag Vittorio Kloster- (2019), H. 2. Erich Schmidt Verlag, Berlin, mann, Frankfurt a. M. 2019, 607 S. S. 157–316.

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Heft 2/2020 bringt u. a. folgende Beiträge

Schwerpunkt: Provinz erzählen

Claudia Stockinger (Berlin) Provinz erzählen. Editorial

Solvejg Nitzke (Dresden) Genealogie und Arbeit: Ökologisches Erzählen bei Franz Michael Felder und Ludwig Anzengruber

Caroline Rosenthal, Peter Braun (Jena) Landmarken: Das Konzept des Bioregionalismus bei Gary Snyder und Helmut Salzinger

Felix Knode (Göttingen) Poesie demokratischen Widerstands. Das Erzählen der Provinz des Wendlands in Walter Moosmanns „Lied vom Lebensvogel. Gorleben“

Philipp Böttcher (Berlin) Fürstenfelde erzählt. Dörflichkeit und narrative Verfahren in Saša Stanišićs „Vor dem Fest“

Marc Weiland (Weimar) Böse Bücher aus der Provinz? Alina Herbings „Niemand ist bei den Kälbern“ und der Anti-Heimatroman

Christian Hissnauer (Berlin) „Unser Dorf hat Wochenende“. Die mediale Aufwertung der Provinz und des Dörflichen im Fernsehdokumentarismus der Dritten Programme

Thomas Klein (Berlin) Doku-Kunst als narrative Form für Transformationsprozesse im ländlichen Mecklenburg-Vorpommern

*

Ingo Müller (Freiburg) „Das Flackern der Zeichen: Identität und Alterität in Heines „Belsatzar-Romanze“

Dossier Dirk Sangmeister (Erfurt) Der Erfinder des Bildungsromans. Karl Morgenstern zum 250. Geburtstag

Konferenzberichte, Besprechungen und Informationen

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang In der Reihe Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik sind bereits erschienen:

Band 1 Walter Delabar, Horst Denkler, Erhard Schütz (Hrsg.): Banalität mit Stil. Zur Widersprüchlichkeit der Literaturproduktion im Nationalsozialis- mus, Bern 1999, 289 S., ISBN 3-906762-18-1, br.

Band 2 Alexander Honold, Klaus R. Scherpe (Hrsg.): Das Fremde. Reiseerfahrungen, Schreibformen und kulturelles Wissen, unter Mitarbeit von Stephan Besser, Markus Joch, Oliver Simons, Bern 1999, 341 S., zahlr. Abb., ISBN 3-906765-28-8, br., 2. überarb. Aufl. 2002.

Band 3 Werner Röcke (Hrsg.): Thomas Mann. Doktor Faustus. 1947–1997, Bern 2001, 378 S., zahlr. Abb., ISBN 3-906766-29-2, br., 2. Aufl. 2004.

Band 4 Kai Kauffmann (Hrsg.): Dichterische Politik. Studien zu Rudolf Borchardt, Bern 2001, 214 S., ISBN 3-906768-85-6, br.

Band 5 Ernst Osterkamp (Hrsg.): Wechselwirkungen. Kunst und Wissenschaft in Berlin und Weimar im Zeichen Goethes, Bern 2002, 341 S., zahlr. Abb., ISBN 3-906770-13-3, br.

Band 6 Erhard Schütz, Gregor Streim (Hrsg.): Reflexe und Reflexionen von Modernisierung. 1933–1945, Bern 2002, 364 S., zahl. Abb., ISBN 3-906770-14-1, br.

Band 7 Inge Stephan, Hans-Gerd Winter (Hrsg.): „Die Wunde Lenz“. J. M. R. Lenz. Leben, Werk und Rezeption, Bern 2003, 507 S., zahl. Abb., ISBN 3-03910-050-5, br.

Band 8 Christina Lechtermann, Carsten Morsch (Hrsg.): Kunst der Bewegung. Kinästhetische Wahrnehmung und Probehandeln in virtuellen Welten, Bern 2004, 364 S., zahlr. Abb., ISBN 3-03910-418-7, br.

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Band 9 Institut für Deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin (Hrsg.): „lasst uns, da es uns vergönnt ist, vernünftig seyn! –“. Ludwig Tieck (1773–1853), Bern 2004, 407 S., 5 Abb, 1 Tab., 2 Notenbeispiele, ISBN 3-03910-419-5, br.

Band 10 Inge Stephan, Barbara Becker-Cantarino (Hrsg.): „Von der Unzerstörbarkeit des Menschen“. Ingeborg Drewitz im literarischen und politischen Feld der 50er bis 80er Jahre, Bern 2004, 441 S., zahlr. Abb., ISBN 3-03910-429-2, br.

Band 11 Steffen Martus, Stefan Scherer, Claudia Stockinger (Hrsg.): Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur, Bern 2005, 486 S., ISBN 3-03910-608-2, br.

Band 12 Thomas Wegmann (Hrsg.): MARKT. Literarisch, Bern 2005, 258 S., zahlr. Abb., ISBN 3-03910-693-7, br.

Band 13 Steffen Martus, Andrea Polaschegg (Hrsg.): Das Buch der Bücher – gelesen. Lesarten der Bibel in den Wissenschaften und Künsten, Bern 2006, 490 S., zahl. Abb., ISBN 3-03910-839-5, br.

Band 14 Inge Stephan, Hans-Gerd Winter (Hrsg.): Jakob Michael Reinhold Lenz. Zwischen Kunst und Wissenschaft, Bern 2006, 307 S., zahlr. Abb., ISBN 3-03910-885-9, br.

Band 15 Manuel Köppen, Erhard Schütz (Hrsg.): Kunst der Propaganda. Der Film im Dritten Reich, Bern 2007, 300 S., zahlr. Abb., ISBN 978-03911-179-4, br., 2. überarb. Aufl. 2008.

Band 16 Joachim Rickes, Volker Ladenthin, Michael Baum (Hrsg.): 1955–2005: Emil Staiger und Die Kunst der Interpretation heute, Bern 2007, 288 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-03911-171-8, br.

Band 17 Carsten Würmann, Ansgar Warner (Hrsg.): Im Pausenraum des Dritten Reiches. Zur Populärkultur im nationalsozialistischen Deutsch- land, Bern 2008, 273 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-03911-443-6, br.

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang Band 18 Christina Lechtermann, Haiko Wandhoff (Hrsg.): unter Mitarbeit von Christof L. Diedrichs, Kathrin Kiesele, Carsten Morsch, Jörn Münkner, Julia Plappert, Moritz Wedell: Licht, Glanz, Blendung: Beiträge zu einer Kulturgeschichte des Scheinens, Bern 2007, 253 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-03911-309-5, br.

Band 19 Ralf Klausnsitzer, Carlos Spoerhase (Hrsg.): Kontroversen in der Literaturtheorie/ Literaturtheorie in der Kontroverse, Bern 2007, 516 S., ISBN 978-3-03911-247-0, br.

Band 20 Katja Gvozdeva, Werner Röcke (Hrsg.): „risus sacer – sacrum risibile“. Interaktionsfelder von Sakralität und Gelächter im kulturellen und historischen Wandel, Bern 2009, 339 S., ISBN 978-3-03911-520-4, br.

Band 21 Marina Münkler (Hrsg.): Aspekte einer Sprache der Liebe. Formen des Dialogischen im Minnesang, Bern 2010, 342 S., ISBN 978-3-03911-783-3, br.

Band 22 Mark-Georg Dehrmann, Alexander Nebrig (Hrsg.): Poeta philologus. Eine Schwellenfigur im 19. Jahrhundert, Bern 2010, 288 S., ISBN 978-3-0343-0009-4, br.

Band 23 Brigitte Peters, Erhard Schütz (Hrsg.): 200 Jahre Berliner Universität. 200 Jahre Berliner Germanistik. 1810–2010 (TeiI III), Bern 2011, 391 S., ISBN 978-3-0343-0622-5, br.

Band 24 Nordverbund Germanistik (Hrsg.): Frühe Neuzeit – Späte Neuzeit. Phänomene der Wiederkehr in Literaturen und Künsten ab 1970, Bern 2011, 239 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-03943-0469-6, br.

Band 25 Alexander Nebrig, Carlos Spoerhase (Hrsg.): Die Poesie der Zeichensetzung. Studien zur Stilistik der Interpunktion, Bern 2012, 455 S. zahlr. Abb., ISBN 978-3-0343-1000-0, br.

Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Band 26 Peter Uwe Hohendahl, Erhard Schütz (Hrsg.): Perspektiven konservativen Denkens. Deutschland und die Vereinigten Staaten nach 1945, Bern 2012, 362 S., ISBN 978-3-0343-1139-7, br.

Band 27 Elisabeth Strowick, Ulrike Vedder (Hrsg.): Wirklichkeit und Wahrnehmung: Neue Perspektiven auf Theodor Storm, Bern 2013, 240 S., ISBN 978-3-0343-1404-6 pb., ISBN 978-3-0351-0644-2 eBook.

Band 28 Tanja van Hoorn, Alexander Košenina (Hrsg.): Naturkunde im Wochentakt. Zeitschriftenwissen der Aufklärung, Bern 2014, 274 S., ISBN 978-3-0343-1513-5 pb., ISBN 978-3-0351-0753-1 eBook.

Band 29 Hans Jürgen Scheuer, Ulrike Vedder (Hrsg.): Tier im Text. Exemplarität und Allegorizität literarischer Lebewesen, Bern 2015, 338 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-0343-1652-1 pb., ISBN 978-3-0351-0875-0 eBook.

Band 30 Annika Hildebrandt, Charlotte Kurbjuhn, Steffen Martus (Hrsg.): Topographien der Antike in der literarischen Aufklärung, Bern 2016, 373 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-0343-2116-7 pb., ISBN 978-3-0343-2731-2 eBook.

Band 31 Bernhard Jahn, Alexander Košenina (Hrsg.): Friedrich Ludwig Schröders Hamburgische Dramaturgie, Bern 2017, 239 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-0343-2759-6 pb., ISBN 978-3-0343-2933-0 eBook.

Band 32 Mark-Georg Dehrmann, Friederike Felicitas Günther (Hrsg.): Brockes-Lektüren. Ästhetik – Religion – Politik, Bern 2020, 326 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-0343-3682-6 pb., ISBN 978-3-0343-3923-0 eBook.

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang