„…und nun setze ich sie wieder als Legende in die Welt“ Erinnerung in der neueren deutsch-jüdischen Literatur

Bettina Spoerri

Erinnerung ist ein zentrales Moment der Literatur überhaupt: Er- zählen setzt den Vorgang des Erinnerns voraus; die Rückkehr in die nähere oder fernere Vergangenheit respektive die Wiederkehr des Vergangenen in die Gegenwart beeinflusst und verändert aber auch Präsens und Zukunft. Wenn das Erinnern als strukturell-for- males Element mit einer intensiven inhaltlichen Auseinanderset- zung über Erinnerung in einem literarischen Text zusammentrifft, wird deutlich, wie sehr die Darstellung und Mitteilbarkeit einer Erinnerung immer auch mit einer narrativen Form gekoppelt ist. Was das konkret bedeutet, soll im Folgenden an mehreren Prosa- texten des späten 20. und des jungen 21. Jahrhunderts aufgezeigt werden, die sich mit dem Thema Erinnerung explizit auseinander- setzen. Im Spannungsfeld von Rückbesinnung, Vergessen und Aufbruch bewegen sich insbesondere die Texte von Schriftsteller- innen und Schriftstellern aus Deutschland und Österreich, die der zweiten (und auch dritten) Generation nach dem Zweiten Welt- krieg angehören. Ihre Texte zeigen seismografisch auf, wie Rekon- struktion von Erinnerung (zum Beispiel zwecks Herkunftssuche und Identitätsbildung) immer auch Konstruktion wird. Dabei ver- lagert sich der Fokus von der Frage der Wiedergabe und Verant- wortung einer Augenzeugenschaft hin zum Problem der Erinne- rung überhaupt: In welchem Verhältnis stehen Erinnerung und die Gegenwart des Erinnernden? Welche Rolle spielen das Vergessen und das Verschweigen? Wofür – und wogegen – soll erinnert wer- den? Wie soll Erinnerung tradiert werden – kann sie überhaupt tradiert werden?

Variations 14 (2006) 34 Bettina Spoerri

In besonderem Masse reflektieren diese Fragen jüngere Prosa- texte, die sich mit Erinnerung in jüdischen Familien auseinander- setzen. In diesem Beitrag möchte ich analysieren und in einer klei- nen Narratologie darstellen, wie die neuesten Romane von , , Monika Maron, Gila Lustiger und Doron Rabinovici Erinnerung als Figur der Rückkehr und gleich- zeitig als Figur der Veränderung gestalten.

In ihrem Roman Familienfest1 verbindet Anna Mitgutsch die Feier des traditionellen Pessachfestes mit der Bestandesaufnahme einer jüdischen Familie, deren Mitglieder als Einwanderer an der ameri- kanischen Ostküste leben. Ein letztes Mal hat die Grossmutter Edna ihre weitverzweigte Familie zum Pessachfest zu sich nach Hause eingeladen. Im oberen Stockwerk stehen bereits die ge- packten Kisten, nach dem Fest wird Edna ins Altersheim ziehen. Anna Mitgutsch verknüpft auf raffinierte und sinnfällige Weise die Feier aus Anlass der Erinnerung an die Befreiung des israelitischen Volkes aus Ägypten mit den Biografien einzelner Familienmitglie- der in der amerikanischen Diaspora. Die Vielschichtigkeit des Textes entsteht insbesondere durch die Auseinandersetzung mit dem Erinnerungskonzept in der jüdischen Kultur. In dieser ist Er- innerung ein zentrales Moment, sowohl in der religiösen Tradition als auch in den Erzählungen, den Haggadot. Die Pessach-Haggada, die wie eine Art Drehbuch für den Ab- lauf des Seder-Abends fungiert, fasst kurz die Vorgeschichte zu- sammen: Wie die israelitischen Nachkommen von Joseph zu Skla- ven der Landesherren wurden, und wie das israelitische Volk Gott um Hilfe anruft. Und sie berichtet, wie die Ägypter, geschlagen von den zehn Plagen, schliesslich nachgeben. Die Pessach-Haggada enthält zudem Passagen zur Übergabe der Thora an Moses auf dem Berg Sinai, zur Verheissung des Heiligen Landes und die Hoffnung auf die Erlösung am Ende der Zeiten. Zwischen den ein-

1 Anna MITGUTSCH, Familienfest. Roman, München: Luchterhand Literaturverlag, 2003 [=AM]. Erinnerung in der neueren deutsch-jüdischen Literatur 35 zelnen Textabschnitten finden sich Regie-Anweisungen zu den vollziehenden Handlungen (Rezitation von Segenssprüchen, Wein trinken, Hände waschen u. a. m.). Der Seder-Abend orientiert sich an einer Zeitachse, die von der Befreiung aus der Unterdrückung bis zum neuem Bund unter Moses reicht – mit dem Vorschein auf die endgültige Erlösung. Doch die Erinnerung wird zur Er- Innerung im eigentlichen Sinn des Wortes: Der Auszug wird nicht nur nachvollzogen, sondern in der Gegenwart sinnlich und körperlich vollzogen: Durch symbolische Handlungen und das Verzehren von sinntragenden Speisen, die unmittelbar auf die Geschmacksnerven wirken: Das ungesäuerte Brot (mazzot) erinnert an die Eile des Aufbruchs, das Bitterkraut (maror) an die Knechts- chaft oder das Salzwasser an die vergossenen Tränen. Und immer wieder neu werden mit der Frage Ma nischtana halaila haze mi kol haleilot? (Warum ist diese Nacht anders als alle anderen Nächte?) die Jüngsten in der Seder-Runde in die jüdische Volks- und Religionsgeschichte als zukünftige Verantwortungsträger aktiv einbezogen. Die Inszenierung strebt die Auflösung der verschiedenen Zeit- ebenen und des Rollenspiels an: Die Vergangenheit kehrt als Ge- genwart zurück, und die Seder-Teilnehmenden werden zu Akteu- ren einer überindividuellen Geschichte. Innerhalb des literarischen Textes, der auf diese Weise mit religiösen Texten in Verbindung gesetzt wird, entsteht ein innerliterarisches Gedächtnis; die ver- schiedenen Narrationselemente bilden eine „Gedächtnisarchitek- tur“2, die einerseits auf die Gegenwart verweist, andererseits aber auf die Bibel, das „Paradigma des kulturellen Textes“3, abstellt.

2 Renate LACHMANN, Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1990, S. 35. 3 Aleida ASSMANN, „Was sind kulturelle Texte?“ In: Andreas Poltermann (Hg.), Literaturkanon – Medienereignis – kultureller Text: Formen interkultureller Kommunikation und Übersetzung, : Erich Schmidt Verlag, 1995, S. 237. Aleida Assmann unterscheidet in diesem Aufsatz zwischen literarischen und kulturellen Texten; kulturelle Texte haben normative Eigenschaften, indem es bei ihnen um überzeitliche Bedeutungsstiftung geht. Neben der Bibel zählt Assmann dazu literarische Werke, die in den Bildungskanon Eingang 36 Bettina Spoerri

Während das Ritual Punkt für Punkt vollzogen wird, lässt Edna aber ihre eigene und die Geschichte ihrer Familienmitglieder Revue passieren. Die Erzählung von der Befreiung aus der Knecht- schaft dient solchermassen als Folie, oder genauer: als Palimpsest, über den sich mehrere neue Erfahrungs- und Umdeutungsschich- ten legen. Der Holocaust im 20. Jahrhundert, die Flucht in die ganze Welt, Assimilation und die Auflösung der Traditionen: Das sind die modernen Phänomene, die hier mit dem Ursprungsnarra- tiv verknüpft - und auch provokativ konfrontiert werden. Denn im neuen 21. Jahrhundert droht sich - unter den aufmerksamen Augen der ‚Familienmutter’ Edna - alles das aufzulösen, was im Ritual beschworen wird: Der Zusammenhalt, die gemeinsamen Wurzeln, die kollektive Hoffnung auf die Rückkehr. Damit richten sich auch die Vektoren der Erzählung nicht mehr in die vorgegebene Rich- tung, sondern zeigen in divergierende Richtungen, abseits der Zeitachse der Verheissung. Gegen die eine grosse Erzählung stemmen sich die individuellen Geschichten. Die Grossmutter ist sich dessen bewusst, wenn sie fragt: „Und wisst ihr, dass damit alles Geschichtenerzählen überhaupt erst anfängt?“ (AM, 21). Ed- nas Erzählungen von der Emigration von Joseph Leondouri und seiner Frau nach Amerika überlagern und imitieren die Haggada; sie werden zu einer Art „contre-mémoire“/„Gegengedächtnis“, wie es Michel Foucault4 beschreibt:

Als letzte Zeugin der ersten Generation war Edna nicht zu bremsen, die Familiengeschichte war zu einem mächtigen Strom angewach- sen, der das dünn gewordene Rinnsal der Tradition leicht hinweg- spülte, und die Geschichte des aus der Sklaverei befreiten jüdischen

gefunden haben. Vgl. hierzu insbesondere auch: Birgit NEUMANN: „Literatur als Medium (der Inszenierung) kollektiver Erinnerungen und Identitäten“, in: Astrid Erll, Marion Gymnich, Ansgar Nünning (Hgg.), Literatur – Erinnerung – Identität. Theoriestudien und Fallstudien, Trier: Wissenschaftlicher Verlag (ELCH; Band 11), 2003, S. 49–77. 4 Michel FOUCAULT, Von der Subversion des Wissens, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1987, 85. Ein solches „Gegengedächtnis“ versucht den vorherrschenden etablierten, meist homogenen Gedächtnis-Raum durch eine „Erinnerungsminderheit“, die alternative Versionen der Erinnerungen besitzt, zu unterwandern und aufzubrechen. Erinnerung in der neueren deutsch-jüdischen Literatur 37

Volkes verlor sich in den Berichten von Joseph und Bessies Abenteu- ern diesseits und jenseits des Atlantiks. (AM, 20f.)

In Familienfest prägen sich die individuellen Geschichten in drei Perspektiven aus: Neben – im Aufbau des Buches: nach – derjeni- gen von Edna stehen die Sichtweisen von Marvin (1942 geboren) und der Enkelin Adina. Die Rekonstruktion des Vergangenen ist nicht nur an die Gegenwart gebunden und von ihr abhängig: Die Vielstimmigkeit und die Aufsplitterung der Perspektiven stellen das alte Sinnversprechen in Frage; die individuelle Identität for- miert sich – wie dies Aleida Assmann in „Erinnerungsräume“ seit der Zeit der Romantik beobachtet5 – durch einen selektiven und ausgewählt konstruktiven Bezug zur Vergangenheit. Doch diese Vergangenheit löst sich in Familienfest nicht auf, sondern bleibt noch als letzter Bezugspunkt bestehen – allerdings weniger als letzter metaphysischer und eschatologischer Trost, sondern viel- mehr als von den jüngeren Generationen in Mitgutschs Roman fast durchwegs verabschiedete Sinninstanz.

Die in Strassburg lebende deutsche Schriftstellerin Barbara Honigmann hat sich in ihren Büchern schon mehrfach mit der Ge- schichte ihrer Familie auseinandergesetzt und dabei immer wieder die Frage bearbeitet, wie Erinnerung – und Vergessen – funktionie- ren. In Eine Liebe aus nichts (1991)6 nähert sie sich der Geschichte ihres Vaters Georg Honigmann an, in Damals, dann und danach7 berichtet sie darüber folgendermassen:

Nach dem Tod meines Vaters habe ich ein Buch geschrieben, über ihn und über mich und unsere verfehlte Liebe, seine vielfachen Ehen und die Orte und Stationen seines Lebens. Ich erinnerte mich und phantasierte über alles, was zwischen uns war, und näherte und ent-

5 Aleida ASSMANN, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München: Beck Verlag, 1999. 6 Barbara HONIGMANN, Eine Liebe aus nichts, Reinbek bei : Rowohlt, 1991 [=BH1]. 7 Barbara HONIGMANN, Damals, dann und danach, München: Carl Hanser Verlag, 1999 [=BH2]. 38 Bettina Spoerri

fernte mich von ihm, wie es im Leben nicht möglich gewesen war. (BH2, 33)

Die Autorin reiht hier Erinnerung und Phantasie beinahe unauffäl- lig aneinander, sie scheinen sich für sie nicht wesentlich zu unter- scheiden, was ihren emotionalen Stellenwert und ihre psychologi- schen Möglichkeiten und Effekte anbelangt. Die Grenze zwischen Faktum und Fiktion wird fliessend, und die Phantasie erlaubt sogar eine neue Art der Distanzierung und Annäherung an die Vergangenheit – und damit auch an die Gegenwart der Schreibenden. Barbara Honigmann stellt ihre ‚Poetologie des Erinnerns’ in ihren Texten vor, indem sie sie praktiziert und ihren Lesern immer wieder auch explizit und reflektierend vorführt. In Damals, dann und danach (1999) greift die Schriftstellerin in neun kurzen Prosatexten in verschiedene Erinnerungsrichtungen aus, zum Beispiel schreibt sie über die Gräber ihrer Grosseltern in London, die lange ohne Grabsteine geblieben sind, über ihre männlichen Vorfahren und ihr Verhältnis zu ihnen. Sie analysiert und resümiert ihre Identitäts- und Wurzelsuche als Jugendliche in der DDR gegen das Schweigen der Eltern. Und sie erzählt von ihrer Gegenwart in Strasbourg als Mutter und Jüdin, vom Lernen im Bibelkreis und den sefardischen Freundinnen. An verschie- denen Stellen taucht in diesen Texten Barbara Honigmanns Mutter Lizzy Kohlmann auf, insbesondere in „Der Untergang von Wien“ und in „Gräber in London“.8 Diese Texte lesen sich heute wie Vorstudien zu dem Buch Ein Kapitel aus meinem Leben (2004)9, in dem die undurchdringliche Ambivalenz der Mutter wie das Auge eines Hurrikans im Zentrum steht. Denn die Mutter erweist sich als noch vielschichtiger als der schweigsame Vater; Lizzy Kohlmann ist sowohl verschwiegen als auch eine Meisterin der Ablenkung und Spurenverwischung. In Ein Kapitel aus meinem Leben – wie die

8 BH1: Gräber in London, S. 19-37. Der Untergang von Wien, S. 89–120. 9 Barbara HONIGMANN, Ein Kapitel aus meinem Leben, München: Carl Hanser Verlag, 2004 [=BH3]. Erinnerung in der neueren deutsch-jüdischen Literatur 39

(zum Zeitpunkt der Entstehung des Textes bereits verstorbene) Mutter ihre Ehe mit dem Doppelspion Kim Philby verharmlosend nannte – nähert sich die Tochter dem Leben von Lizzy alias Litzy alias Lizy alias Lisa Kohlmann (oder auch: Kollmann) in kreisenden Bewegungen. Erstens sind da die Männer – der Vater, der holländische Geliebte Pieter, die Memoiren von Kim Philby –, die Auskunft geben; zweitens gibt es die Lebensstationen der Mutter: Orte wie Wien, London, Ungarn und Paris, die Reisen in die Vergangenheit erlauben; drittens hat die Mutter vor ihrem Tod ihrer Tochter einige Erinnerungen vorgetragen. Doch die Erinnerungen der Männer sind alles andere als objektiv, und die Wahrnehmung der Orte mit ihren Erinnerungen hat die Mutter – wie sehr bewusst und wie unbewusst?, fragt sich die Tochter – mit ihrer ausgeklügelten und widersprüchlichen Technik der Camouflage einerseits und der Verbrämung andererseits im- prägniert. Und die Frau eines Meisterspions schien selbst die Überlebensstrategie der richtigen Balance zwischen Lüge und Wahrheit perfekt zu beherrschen, wenn sie ihre Erinnerungen ihrer Tochter erzählte – denn sie verdeckte dabei mehr, als sie enthüllte:

Immer, wenn meine Mutter mit mir über „dieses Kapitel in meinem Leben“ sprach, tat sie es in einer Mischung aus andeutungsvollem Erzählen und vielem Verschweigen, mit der sie mich gleichzeitig zur Mitwisserin machte und aus der Geschichte ausschloss. (BH3, 75)

Dabei folgte die Mutter dem biblischen Gebot, und das lehrte sie auch ihre Tochter Barbara, nicht zu lügen; allerdings unterwan- derte sie eben dieses Gebot durch eine zweite Handlungsanwei- sung:

Erstens, du sollst nicht lügen, zweitens, aber wenn du lügst, dann lüge so nah wie möglich an der Wahrheit. (BH3, 23)

Dieselbe Ambivalenz arbeitet Barbara Honigmann an der Art und Weise heraus, wie ihre Mutter Fotos aufbewahrte – in einem Schuhkarton, ohne sie anzuschreiben und zu sortieren –, ihr Ge- 40 Bettina Spoerri burtsdatum und andere wichtige Lebensdaten im Ungefähren liess, Namen verdrehte und Orte umbenannte, oder in der – (un)absicht- lichen? – Nachlässigkeit, mit der sie das Namensschild ihres Vormieters in Wien nie durch ein eigenes ersetzte. Diese Mutter erklärte auch immer wieder: „[...] das weiss ich nicht mehr, ich hab’s wirklich vergessen!“ (BH3, 5).10 Das Einkreisen um die Mutter, um die Frage, wer und wie sie wirklich war, und die Unge- reimtheiten und Brüche, die dabei entstehen, kittet Barbara Honig- mann nicht zu; im Gegenteil: Sie macht sie zum strukturellen Zentrum ihres Textes. Die Autorin legt ihre Unsicherheiten offen, sie formuliert ihr Misstrauen gegenüber ihren eigenen Erinnerun- gen und ihrer unvermeidlichen Subjektivität und reflektiert darauf, dass ihre Erinnerungen zu einem beträchtlichen Teil Konstruktio- nen sind, die vor allem für sie, die Tochter, Sinn machen müssen:

Ich reimte mir die Welt der Vorspiegelungen, Täuschungen und des doppelten Spiels in diesem Kapitel aus ihrem Leben mehr zusam- men, als dass ich wirklich etwas wusste oder verstand. (BH3, 75)

So entsteht langsam ein zusammen gepuzzeltes Bild von der Mut- ter und ihrer Biografie. Doch dann schlägt Barbara Honigmann ihre eigene Volte, wenn sie im Schlusskapitel rückblickend ihre Methode diskutiert. Dabei scheint sie Wert auf die Feststellung zu legen, dass sie für das Buch keine systematischen Recherchen durchgeführt habe:

Ich bin nirgends hingereist, hingefahren, hingegangen. Habe keine Dokumente gesucht, gefunden, gesehen. Ich habe mit niemandem gesprochen und keinem Menschen Fragen gestellt. Ich hätte es tun können, aber ich habe es nicht getan. (BH3, 141)

Diese Sätze, voneinander abgesetzt und dadurch besonders her- vorgehoben, irritieren, denn der vorausgehende Versuch einer Re-

10 Vergleiche das Mutter-Zitat in Damals, dann und danach: „Auf jede Frage hat meine Mutter geantwortet: Ich weiss nicht. Kann mich nicht erinnern.“ (BH2, 24). Erinnerung in der neueren deutsch-jüdischen Literatur 41 konstruktion der Mutter-Biografie macht eben genau das, was hier vereint wird: Wie bereits erwähnt, basiert er ja durchaus auf Ge- sprächen, Dokumenten (Briefe, Fotografien, Amtspapiere) und einzelnen Reisen der Autorin! Was also sollen die Leser mit der Erklärung Barbara Honigmanns anfangen, sie habe keine „Revan- che“ nehmen und der Mutter nicht „nachspionieren“ (BH3, 141) wollen? Nur ein Schluss kann aus dieser wortreichen Erklärung gezo- gen werden: Dass es die Tochter der Mutter gleich macht. Tatsäch- lich schreibt die Autorin im selben letzten Kapitel auch:

Sie hat mich geboren, und nun setze ich sie wieder als Legende in die Welt. Kurz hinter der Wahrheit und dicht neben der Lüge, so wie es ihr Credo war. (BH3, 138)

Die Tochter entpuppt sich hier als mindestens ebenso raffinierte Mythen-Erschafferin wie ihre Mutter. Der Text über die Erzeugerin ahmt deren Ambivalenz mimetisch nach und versucht sie zu ver- einnahmen, indem er seine Schaffung imitiert und als Geburtsvor- gang bezeichnet. Eine logische Konsequenz und wahrscheinlich die einzig mögliche Art, sich der rätselhaften Frau anzunähern. Die Mutter setzt Barbara Honigmann als „Legende“ wieder „in die Welt“: Also als das – wörtlich verstanden – ‚zu Lesende‘. Und ei- gentlich als eine ‚Anti-Legende‘, denn diese Heldin will keine sein, und damit verliert die Legende ihren Gegenstand. Jene Sätze sind auch eine Kapitulationserklärung: Die Autorin ist am Ende auf sich selbst zurück geworfen; sie sucht die Mutter, doch sie erkennt nur immer sich selbst. Was ihr aber doch immerhin ermöglicht hat, sich über sich und ihre Beziehung zu ihrer Mutter klarer zu werden. Und das ist nun letztlich gar nicht so paradox, wie es scheint.

Monika Maron versucht in literarischen Texten ebenfalls eine Rekonstruktion verschiedener Stränge einer Familiengeschichte 42 Bettina Spoerri des 20. Jahrhunderts. In Pawels Briefe11 findet auch sie gegen das lähmende Schweigen der Eltern – „[k]annst du dir vorstellen, wa- rum ich nichts, aber auch gar nichts mehr davon weiss?“, fragt die Mutter ihre Tochter (MM1, 11) – einen Weg zu den verdrängten Geschichten. Im Bedürfnis der Enkelin, mehr über den Tod ihres Grossvaters zu erfahren, kehrt das Gefühl eines Versäumnisses wieder, das endlich nachgeholt werden soll:

Aber dass mein Grossvater als Jude umgekommen war, dass er dem Leben etwas schuldig bleiben musste, weil man ihn gehindert hatte, es zu Ende zu leben, und dass darum ich ihm etwas schuldete, mag für meine Wahl, wenn auch nicht so bewusst, den Ausschlag gege- ben haben. Vielleicht war es auch nur mein erster Versuch, dem ei- genen Leben einen Sinn und ein Geheimnis zu erfinden. (MM1, 9)

Auch hier dient die Spurensuche nach einer Kontinuität in einer Familiengeschichte der Autorin am Ende dazu, ihre eigene Identi- tät zu stärken. Doch auch Monika Maron ist sich des Trugbildes bewusst, zu dem Erinnerungen gerne verleiten. Erinnerungen sind nie einfach nur Erinnerungen, sondern immer auch Interpretatio- nen des Vergangenen, bei denen die Frage der Erzählperspektive und des Standpunktes eine wesentliche Rolle spielen:

Ich neige dazu, den Zufällen und spontanen Entscheidungen der Vergangenheit zu unterstellen, sie seien insgeheim schon immer ei- nem sich viel später offenbarenden Sinn gefolgt, und ich befürchte, es könnte ebenso umgekehrt sein: weil man das Chaos der Vergan- genheit nicht erträgt, korrigiert man es ins Sinnhafte, indem man ihm nachträglich ein Ziel schafft, wie jemand, der versehentlich eine Strasse ins Leere gepflastert hat und erst dann, weil es die Strasse nun einmal gibt, an ihr beliebiges Ende ein Haus baut. (MM1, 13)

Die ‚Korrekturen’ werden aus dem Rückblick vorgenommen, aus dem Bedürfnis heraus, eine Logik aufzubauen, den Geschehnissen einen ‚roten Faden’ zu verleihen. Dass ein solcher kontrollierender – und zwangsläufig auch zensierender – Umgang mit der Vergan-

11 Monika MARON, Pawels Briefe, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 1999 [=MM1]. Erinnerung in der neueren deutsch-jüdischen Literatur 43 genheit sich lähmend auf die Gegenwart auswirkt, kommt in Monika Marons Roman Stille Zeile Sechs (2003)12 zum Ausdruck: Die Historikerin Rosalind Polkowski begegnet dem ehemaligen DDR-Funktionär Herbert Beerenbaum, der die Arbeitslose mit der Niederschrift seiner Memoiren beschäftigt. Die Auseinanderset- zung mit Beerenbaum und ihr wachsender Widerstand gegen seine manipulierten persönlichen Erinnerungen, die nur die offizielle Geschichtsschreibung des morschen totalitären Systems wieder- holen und bestätigen, wird für die Ich-Figur Rosalind Polkowski zu einer nachträglichen Konfrontation mit ihrer Kindheit und ih- rem strengen, buchstabengetreuen Vater, der in Rückblenden er- scheint. Mit ihm kann sie am Ende dieses inneren Prozesses bei der Beerdigung Beerenbaums – Jahre verspätet – endlich zum ersten Mal Mitleid empfinden.13 Die sich in der Erinnerung vollziehende mentale und emotionale Rückkehr in die Kindheit ermöglicht es Rosalind, sich von ihrer Lähmung zu befreien und endlich ihr ei- genes Leben zu leben (zum Beispiel nimmt sie endlich Klavier- stunden, wovon sie immer geträumt hat).

Gila Lustiger und Doron Rabinovici stammen aus einer jüngeren Generation als Barbara Honigmann, Anna Mitgutsch und Monika Maron. Während diese drei Schriftstellerinnen zur sogenannten ‚zweiten Generation‘ gehören, die in der Nachkriegszeit (nach dem Zweiten Weltkrieg) aufgewachsen sind,14 sind Doron Rabinovici und Gila Lustiger 1961 respektive 1963 geboren. Gila Lustiger be- schreibt in ihrem Roman So sind wir15 von 2005, wie ihr Vater Arno Lustiger, ein Überlebender des Konzentrationslagers Auschwitz, in obsessiver Art und Weise Zeitungen in acht Sprachen las, Artikel herausriss und sie doch wieder verlor. Am Ende landeten sie, von

12 Monika MARON, Stille Zeile Sechs. Roman, Frankfurt am Main, S. Fischer, 2003 [=MM2]. 13 Vgl. MM, 169. 14 Monika Maron ist 1941 geboren, Anna Mitgutsch 1948 und Barbara Honigmann 1949. 15 Gila LUSTIGER, So sind wir. Ein Familienroman, Berlin: Berlin Verlag, 2005 [=GL]. 44 Bettina Spoerri der Mutter weggeräumt, im Mülleimer. Und die Tochter versteht irgendwann:

Mein Vater sammelte die Zeitungen aus einem Grund: Er hatte sich einmal von der Welt überrumpeln lassen, das sollte ihm nie wieder geschehen. (GL, 22)

Das scheinbar sinnlose Sammeln und Verlieren von Zeitungs- artikeln entpuppt sich als Versuch des Traumatisierten, die Rück- kehr der Vergangenheit zu verhindern. Die beobachtende Tochter interpretiert die Handlungen des Vaters, gerade weil dieser so be- harrlich über seine Vergangenheit schweigt. Und dieses Schwei- gen, erkennt sie später, wird von den anderen in der Familie erwi- dert:

[…] ich hatte beschlossen, ihn zu schonen, so wie er beschlossen hatte, uns zu schonen. Wir waren und sind eine Familie, die scho- nend über die Vergangenheit schweigt. Nirgends wurde und wird so schonend und beschützend über die Vergangenheit geschwiegen wie bei uns. (GL, 68)

Doch das Schweigen wird schreibend gebrochen, sowohl vom Va- ter, der in einem Buch über seine Erlebnisse berichtet, als auch durch den Roman seiner Tochter. Die Dinge könnten Geschichten erzählen. Doch die meisten sind verschwunden, weil die Häuser geplündert, die Gegenstände geraubt wurden. Die letzten erhaltenen Überreste: ein Briefbe- schwerer aus Kristall und Fotografien. Der Tochter fehlt die Erin- nerung, um den Briefbeschwerer, ein „modernes Totem“ (GL, 101), „gesprächig“ (GL, 81) zu machen. Und zum Verwechseln ähnlich zu Barbara Honigmanns Schilderung ist der Abschnitt, in dem Gila Lustiger von ihrer Grossmutter schreibt, welche die alten, mittler- weile vergilbten Fotografien in einem Schuhkarton aufbewahrt, ohne sie je auszusortieren und in ein Album zu kleben.16

16 Vgl. GL, 102. Erinnerung in der neueren deutsch-jüdischen Literatur 45

Doron Rabinovici, in Tel Aviv geboren und in Wien aufge- wachsen, lässt seinen Roman Ohnehin17 in der österreichischen Hauptstadt zur Zeit des Jugoslawien-Krieges spielen. Die Fäden der Handlungen, in deren Zentrum eine lose Gruppe von jungen Menschen, vor allem Studenten, steht, laufen im Wiener Nasch- markt zusammen: Ein multikultureller Treffpunkt, wo sie Zeit verbringen, sich verlieben und streiten. Es beginnt damit, dass der junge Neurologe Stefan Sandtner zu einem älteren Mann, Armin Kerber, gerufen wird, um dessen Gedächtnisschwund zu behan- deln oder mindestens zu verlangsamen. Im Laufe der Behandlung stellt sich heraus, dass Kerber offensichtlich ein Nazi war und als solcher einen wichtigen Posten inne hatte. Als der alte Mann mit Korsakow-Syndrom18 auf die Behandlung gut reagiert und sich an immer mehr erinnert, beginnt die Tochter ihren Vater zu seinen Taten zu befragen. Ihr Bedürfnis, endlich Klarheit über seine Kriegsverbrechen und seine moralische Schuld zu erhalten, treibt sie zu einem extremen Verhalten: Die Tochter kauft sich alte Kar- ten, Gegenstände und Kleider aus der Kriegszeit und inszeniert die Vergangenheit, sie stellt alles nach und will vom kranken Vater ein Geständnis erzwingen. Trotzdem bringt sie immer nur einzelne Bruchstücke in Erfahrung, und am Ende ist sogar nicht auszu- schliessen, dass der Vater die Tochter an der Nase herumgeführt hat. Auch die genaue Rekonstruktion der Vergangenheit hilft nicht, die ‚Wahrheit’ zu erfahren; sie muss zwangsläufig scheitern. Gila Lustiger und Doron Rabinovici blicken beide zurück und setzen sich mit dem Schweigen der Opfer- und Tätergeneration auseinander; doch sie stellen in ihren Texten vor allem auch immer wieder die Frage: Und wie soll es jetzt weitergehen? Wie gehen die neuen Generationen mit den wiederkehrenden Erinnerungen und

17 Doron RABINOVICI, Ohnehin. Roman, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2004 [=DR]. 18 Bei dieser Gedächtnisstörung (benannt nach dem russischen Neurologen Sergei Korsakow, 1854-1900) kann der Patient – im Gegensatz zu Alzheimer – sich phasenweise in einer früheren Zeit und an einem ganz anderen Ort zu wähnen. „Er ist“, beschreibt Sandtner Kerbers Kindern, „wie ein kaputte Schallplatte, an einem Kratzer bleibt alles in ihm hängen, springt es immer wieder zurück“ (DR, 33). 46 Bettina Spoerri ihrer Verantwortung um? In Ohnehin zeichnet Rabinovici ein sar- kastisches Bild von der Auseinandersetzung Österreichs mit seiner Vergangenheit: Stefan Sandtner begleitet seinen jüdischen Freund Lew Feininger (eine Art Alter Ego von Rabinovici) nach Oberöster- reich, wo ein Denkmal für ermordete Juden errichtet worden ist. Während im Nachbarort, „zum Ausgleich“, wie ein Besucher der Einweihung seiner Frau zuraunt, ein Mahnmal für den Kamerad- schaftsbund der Kriegsveteranen errichtet wird.19 Einen weiteren Aspekt behandeln Gila Lustigers und Doron Rabinovicis Romane: Über der Erinnerung an die Vergangenheit kann die Gegenwart vergessen gehen. So merkt beispielsweise Stefan Sandtner, der un- ter anderem aufgrund seiner intensiven Beschäftigung mit seinem Patienten Kerber, erst sehr spät, in welcher schwierigen Lage seine neue Freundin Flora Dema steckt, die vor den Massenermordun- gen in dem vom Bürgerkrieg zerrütteten Jugoslawien geflohen ist.

Die Texte von Anna Mitgutsch, Barbara Honigmann, Monika Maron, Gila Lustiger und Doron Rabinovici zeichnen sich insbe- sondere dadurch aus, dass sie sich zu Erinnerungen nicht deskrip- tiv, sondern aktiv verhalten. Die Texte formen die Erinnerung nicht nur mit, sondern greifen in sie ein. Und sie werden selbst Erinne- rung, indem sie sie (nach-)vollziehen. Trotzdem müssen die Texte, um überhaupt erzählen zu können, Erinnerungen durch retro- spektive Sinnstiftungen entstehen lassen und sie ‚narrativ aufbe- reiten’. Die Texte erzählen, aber reflektieren gleichzeitig immer auch, dass die Rückkehr in die Vergangenheit respektive die Rückkehr der Vergangenheit in die Gegenwart immer selektiv und von Interessen geleitet ist. Erinnerungen werden als unterschiedli- che Versionen von Vergangenheit begriffen, die an den Standort des Erzählenden und den Zeitpunkt, in dem er erzählt, gebunden sind. Dieses Misstrauen gegenüber Informationsträgern, das die Ich-Erzähler auch sich selbst gegenüber hegen, und gegen Wie-

19 DR, 94. Erinnerung in der neueren deutsch-jüdischen Literatur 47 derholungen und neue Mythenbildungen wird beinahe unablässig thematisiert. Es wird erinnert gegen das Vergessen – und vor allem gegen das (Ver-)Schweigen der Eltern und Grosseltern. Es wird erinnert, um eine Kontinuität herzustellen und die Prägungen der früheren Generationen und der eigenen Kindheit – wie es auch die Psychoanalyse anstrebt – zu erkennen und auf diesem Weg die tief verwurzelten Traumata von Verfolgung und Flucht (und die Hoff- nung des Aufbruchs in eine neue Welt) wenn nicht zu bewältigen und in eine allgemeine Versöhnung einmünden zu lassen, so doch zu benennen und aktiv neu zu formen.

Bettina Spoerri, Dr. phil., ist Autorin, Kulturvermittlerin und Stipendiatin der Stiefel-Zangger-Stiftung der Universität Zürich; sie arbeitet an einer Habilitation über die Literatur von Autor(inn)en mit Migrationshintergrund in der Schweiz. Vgl.: www.seismograf.ch.

Abstract Anna Mitgutsch, Barbara Honigmann, Monika Maron, Gila Lustiger und Doron Rabinovici: Fünf SchriftstellerInnen jüdischer Abstam- mung, die sich mit den Traumata und dem Schweigen in ihren Familien auseinandersetzen und in ihren Texten die Aporien von Erinnerung aufzeigen: Rekonstruktion ist immer auch Konstruktion, abhängig von den (Erzähl-)Perspektiven. Durch narrative Ge- dächtnisarchitekturen, Selbstreferenzen und den Fokus auf Brüche und Widersprüche loten die ‚Nachgeborenen‘ ein Spannungsfeld aus, das ihnen einen autonomeren Umgang mit Familienerinne- rungen erlauben soll.