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SPIEGEL-GESPRÄCH „Ich habe ein zweites Leben“ ARD-Moderator Ulrich Wickert, 63, über seine 15 Jahre bei den „“, das Nachrichtengeschäft, den Ruhm und die Zeit danach

SPIEGEL: Herr Wickert, am Donnerstag mo- SPIEGEL: Die Zahl der „Tagesthemen“-Zu- SPIEGEL: Gibt es eine Verrohung in der Prä- derieren Sie zum letzten Mal die „Tages- schauer stagniert bei rund 2,5 Millionen. sentation von Nachrichten? themen“. Wird Sie Ihre Redaktion mit Wickert: Wir haben in diesem Jahr durch Wickert: Eine zunehmende Beliebigkeit. einem Blumenstrauß überraschen? die frühere Sendezeit fast 200000 Zuschau- Als ich zuletzt in New York war, passier- Wickert: Wir sind eine Nachrichtensendung, er hinzugewonnen. Aber insgesamt ist die te nichts Aufregendes. Da hat CNN drei aber ich bin keine Nachricht. Es reicht also, Verteilung breiter. Als ich angefangen ha- Stunden lang einen Hotelbrand auf Puer- wenn ich den Zuschauern eine geruhsame be, waren die „Tagesthemen“ die letzte to Rico gezeigt. Natürlich ist das drama- Nacht wünsche. Nachrichtensendung des Tages und wur- tisch, Leute auf dem Dach, die mit dem SPIEGEL: Erinnern Sie sich noch an Ihre ers- den gegen halb eins nachts noch einmal Hubschrauber weggeholt werden. Aber te Sendung am 29. Juli 1991? wiederholt. Heute gibt es das „Nachtma- was hat das mit Nachrichten zu tun? Wickert: Das war eine Sondersendung. Die gazin“ und spätere Nachtausgaben der SPIEGEL: Wie lautet die kürzeste Frage, die „Tagesthemen“ gab es damals nicht am „Tagesschau“, die live gesendet werden. Sie als Moderator gestellt haben? Wochenende, ich musste samstags ran: der SPIEGEL: Immer mehr Menschen sehen die Wickert: Warum? Und das ist auch die am Jugoslawien-Krieg. Es ging also gleich Nachrichten dann, wenn sie Lust haben – schwersten zu beantwortende Frage. An- knallhart zur Sache. Da war kein Charme, im Internet. Ist der große Gong, der um gela Merkel war einmal sehr unglücklich keine schöne Formulierung gefragt. acht und viertel nach zehn am Abend er- darüber, als ich ihr diese Frage stellte, weil SPIEGEL: Der Terrorismus, die Angst vor klingt, nicht von gestern? Herr Schill, der mittlerweile flüchtige Vor- einem global operierenden Gegner, der Wickert: Das glaube ich nicht. Wir sehen ja, sitzende der Schill-Partei, hier in Hamburg schwer zu begreifen und zu fassen scheint wie viele Millionen bei uns einschalten. 20 Prozent bekommen hat. Sie hat sich – das alles war 1991 noch weit weg. Ist die SPIEGEL: Wie beurteilen Sie Ihre Nachrich- dafür auch gerächt. Welt gefährlicher geworden? tenkollegen im Ausland? SPIEGEL: Wie gerächt? Wickert: Die Welt ist vielleicht gefährlich, Wickert: Ein Jeremy Paxman von der BBC Wickert: Indem sie kurz darauf, als ich in aber sie ist nicht schlechter geworden. Ver- stellt Tony Blair zehnmal dieselbe Frage, einer Zeitschrift auf einen Vergleich zwi- gessen wir nicht, vor 15 Jahren war der der grillt den förmlich – nicht mein Stil. Ein schen George Bush und Osama Bin Laden Kalte Krieg gerade erst zu Ende! Patrick Poivre d’Arvor vom französischen hingewiesen habe, in der „Bild“-Zeitung SPIEGEL: Mittlerweile ist der Terrorismus TF1, der erzählt und erzählt. Und hinterher Fernsehverbot für Wickert forderte. in Deutschland angekommen. weiß ich nicht, was er mir erzählt hat. Aber SPIEGEL: Nicht nur Angela Merkel war da- Wickert: Diese Bedrohung müssen wir sehr ich bin gut unterhalten worden. mals irritiert. Der Bush-Bin-Laden Ver- ernst nehmen. Aber Angst? Angst ist doch SPIEGEL: Ihre amerikanischen Kollegen? gleich, war das Ihre größte persönliche Kri- ein sehr deutsches Wort. Wickert: Da wären die großen Drei, Dan se, Ihr GAU als Nachrichtensprecher? SPIEGEL: Ist die Welt komplizierter gewor- Rather, Peter Jennings und Tom Brokaw, Wickert: Es war nur fast ein GAU. Die ARD den, ist sie schwerer zu vermitteln? hervorragende Leute. Nur bin ich vorsich- hat sich sofort hinter mich gestellt. Aber Wickert: Das Komplizierte ist, dass wir so tig, die mit uns zu vergleichen. Deren ein großer Teil der deutschen Presse, auch viel mehr von dem wissen, was auf der Welt Nachrichten würde in Deutschland kein der SPIEGEL, hat mich kräftig geprügelt, passiert, aber wir können uns dieses Wissen öffentlich-rechtlicher Sender senden. Die anstatt die Pressefreiheit zu verteidigen. kaum noch erklären. Als Barbarossa er- sind so kurz, so schnell, zum Teil auch so SPIEGEL: Ihr schwierigster Tag war sicher- trunken ist, ist die Nachricht wahrscheinlich unwichtig. Die Anstalten machen die größ- lich der 11. September 2001. erst zwei Wochen später in Deutschland an- ten Gewinne durch die Werbung, die zwi- Wickert: Ich ging nachmittags ins Studio gekommen. schen die Nachrichten geschaltet wird. und wusste genau so viel wie der Zuschau- G. SCHLÄGER / ARD G. SCHLÄGER PICTURE-ALLIANCE/DPA (M.); ACTION PRESS (R.) (M.); ACTION PICTURE-ALLIANCE/DPA Mit Kollege Hanns Joachim Friedrichs (1991) Als ARD-Korrespondent in New York (1982) Als ARD-Korrespondent in (1990) Journalist Wickert, Lebensstationen: „Es sollte einen Filter geben zwischen dem Zuschauer und dem Ereignis“

76 der spiegel 35/2006 MANFRED WITT MANFRED Moderator Wickert: „Die Welt ist vielleicht gefährlich, aber sie ist nicht schlechter geworden“ er. Es hieß: Wir müssen auf Sendung ge- zelnen Nachrichtenelementen nicht gemein Wickert: Trotzdem habe ich Schröder in hen. Wir haben noch live gezeigt, wie die machen, aber durch die Auswahl allein be- den „Tagesthemen“ die kurze Frage ge- Türme zusammengebrochen sind. Kata- stimmen wir schon, ob wir etwas zur Nach- stellt: Haben Sie als Parteivorsitzender ver- strophen oder Kriege live zu senden, das richt machen oder nicht. Und so machen wir sagt? Ich habe immer Distanz zu Politikern halte ich für äußerst problematisch. Es soll- uns jeden Tag mit etwas gemein. Ein Bei- gehalten und duze mich mit ganz wenigen, te eine Instanz, einen Filter geben zwi- spiel: Wir haben bei den „Tagesthemen“ vor allerdings auch mit CSU-Politikern. schen dem Zuschauer und dem Ereignis. anderthalb Jahren ganz bewusst gesagt, in SPIEGEL: Ein Steckenpferd Ihrer Bericht- SPIEGEL: Hanns Joachim Friedrichs sprach Darfour bahnt sich ein Völkermord an, und erstattung war die Verständlichkeit. 1989 den historischen Satz: „Die Tore in wir müssen darüber berichten. Bedeutet das Wickert: Ich bin der Meinung, dass ein Be- der Mauer stehen weit offen.“ Hatten Sie nun, dass wir uns mit der Nachricht gemein richt auch ohne Fremdwörter auskommt. einen vergleichbaren Satz? machen? Man darf den Satz von Hajo nicht Wer weiß, was Holocaust wirklich bedeu- Wickert: Ich hatte viele, kleinere Sätze. als Alibi benutzen, um als Journalist sein tet? In der Moderation spreche ich von Ju- SPIEGEL: Das Vermächtnis Ihres Vorgängers fehlendes Engagement zu begründen. denvernichtung. Dieses Wort gibt all das lautet: Mach dich nicht gemein. SPIEGEL: Als Duzfreund von Gerhard Schrö- Schreckliche wieder, das geschehen ist. Wickert: Ich gehe mit diesem Satz sehr vor- der – ist es um den journalistischen Min- SPIEGEL: Wie kein Nachrichtenmann vor sichtig um. Natürlich soll man sich mit ein- destabstand da nicht schon geschehen? Ihnen haben Sie den Humor, die Ironie im STEFAN MENNE / THOMAS & THOMAS MENNE / THOMAS STEFAN MILAN HORACEK / BILDERBERG (L.); ARD (M.) / BILDERBERG MILAN HORACEK Als Feinschmecker (1994) In der ARD-Sondersendung am 11. September 2001 Mit Ehefrau Julia Jäkel (2003)

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Fernsehen etabliert. Ist Charme eine jour- te der schon vor 2300 Jahren: Die Regeln nalistische Tugend? entstehen aus der Vernunft. Also nicht aus Wickert: Ich bin so, wie ich bin – eigentlich dem Glauben. Insofern sind gesellschaft- ein sehr kindlicher Mensch. Deswegen liche Regeln ohne Glauben möglich. kommt dann halt auch mal eine ironische SPIEGEL: Warum soll man nicht töten? Formulierung heraus. Wickert: Jede Ethik entspringt der Men- SPIEGEL: Ihre Popularität als Fernsehmann, schenwürde. Wenn wir so wollen, gehen wie hat Sie die verändert? wir zurück zu Rousseaus Contrat social, Wickert: Die hat mich erst einmal erschla- wonach wir uns auf Regeln einigen, nach

gen. Ich habe ja 15 Jahre als Korrespondent WITT MANFRED denen wir gemeinsam leben wollen. im Ausland gearbeitet und wusste nicht, Wickert beim SPIEGEL-Gespräch* SPIEGEL: Der Terrorist akzeptiert diese Re- wie populär ein Hajo Friedrichs hier ist. „Die Popularität hat mich erschlagen“ geln nicht, weil sie ihm nicht nützen. SPIEGEL: Da wurde die Ehe des Nachrich- Wickert: Nicht nur der Terrorist! Aber da tenmannes plötzlich zur Nachricht. wieder Deutschland, USA und so weiter. liegt eines der großen Probleme, die wir in Wickert: Wenn eine persönliche Beziehung Ich habe mehrere Wurzeln, nicht eine. der Bundesrepublik erleben: Dass wir nicht gelingt, ist das privat schon sehr SPIEGEL: Sie hatten die Funktion des Ent- durch die gesellschaftlich wenig begleitete unangenehm. Und wenn das dann in der schleunigers im deutschen Fernsehen: Zuwanderung Bereiche geschaffen haben, Öffentlichkeit stattfindet, dann ist es noch Glaubwürdigkeit gegen Geschwindigkeit. in denen einige Gruppierungen die vor- unangenehmer. Dann leidet man doppelt. Wickert: Meinen Sie? Natürlich gibt es eine handenen Regeln nicht akzeptieren. SPIEGEL: Der „Tagesthemen“-Moderator ist Explosion an Bildern, an Tempo. Und un- SPIEGEL: Wickert, der Gardinenprediger? weit mehr als eine öffentliche Person – eine ser Job ist es, dagegenzuhalten, mit gegen- Wickert: Wenn Sie meinen. Ich bin kein Instanz, eine Vertrauensfigur, eine Art recherchierten Informationen. Prediger, ich bin ein Journalist, der sich Daddy der Nation. Wer waren Sie? Eine SPIEGEL: Wo stecken Sie all die schlechten anschaut, was in der Gesellschaft falsch Art sympathischer Schwiegersohn? Nachrichten hin? Sind die vergessen, so- läuft. Und der nach Ursachen sucht, wes- Wickert: Das ist eine Außenansicht, die ich bald sie gesendet sind? halb unsere Gesellschaft mit dem Einhalten so nie angestellt habe. Ich habe mir immer Wickert: Man braucht als Nachrichtenmann von Regeln kämpft. Einer der Gründe mag gesagt: Denk nicht an den Zuschauer, ein Talent zum Verdrängen, sonst schläft sein, dass die Leute sich immer häufiger wenn du in die Kamera guckst, sondern man nachts schlecht. ihre eigenen Regeln machen. nur daran, was du inhaltlich zu sagen hast. SPIEGEL: Macht das Fernsehen eigentlich SPIEGEL: Und nun machen Sie eine Bücher- SPIEGEL: Was ist mit den Liebesbriefen? süchtig? Einige Ihrer Kollegen, die haben sendung. Ist das Ihre Vorstellung von ei- Wickert: Welchen Liebesbriefen? das Gefühl, wenn sie nicht gesendet wer- nem geruhsamen Lebensabend? SPIEGEL: Die Sie bekommen haben. den, dann gibt es sie nicht mehr. Wickert: Es ist ein Traum. Und obwohl es Wickert: Ich bewahre sie in einem Karton Wickert: Gott sei Dank weiß ich, dass es ein Traum ist, stehe ich schon wieder ein in meinem Büro auf. Ich habe auf die Brie- mich gibt. Ich habe ja ein zweites Leben, bisschen seitlich dazu, weil ich jetzt gucken fe nie geantwortet, weil man den Absen- das ist das desjenigen, der Bücher schreibt. muss: Wie machst du das handwerklich? dern ja keine Hoffnung machen darf. Man SPIEGEL: Woher kommt Ihr Ehrgeiz zu SPIEGEL: Es kommt ja nicht jedes Mal, wie ist nicht selbst gemeint. Die Briefe richten schreiben? bei Ihrer Eröffnungssendung, ein Grass mit sich an eine Figur im Fernsehen. Wickert: Das ist bei mir kein Ehrgeiz, son- einer SS-Enthüllung auf Sie zu. SPIEGEL: Einen Teil Ihrer Glaubwürdigkeit, dern ein Vergnügen. So weit ich zurück- Wickert: Das wollen wir auch hoffen. so unser Befund, haben Sie dadurch ver- denken kann, saß mein Vater immer an ei- SPIEGEL: Wie heißt Ihr deutscher Lieblings- mittelt, dass Sie in die TV-Landschaft, so ner Schreibmaschine. Er hatte in meinen roman? wie sie sich heute präsentiert, nicht hinein- kindlichen Augen nichts zu tun. Er schrieb. Wickert: Wollen mal sagen, der „Simplicis- gehören. Sie saßen, auf angenehme Art, SPIEGEL: Immer wieder schreiben Sie über simus“ von Grimmelshausen. immer leicht daneben. Moral. Ist Moral ohne Religion möglich? SPIEGEL: Ihr Lieblinsgedicht? Wickert: Vielleicht stimmt das. Mein Gefühl Wickert: Ich habe nicht unbedingt über Mo- Wickert: „Das Karussell“ von Rilke. Es steht war immer, ich gehöre nirgendwo rein. ral, sondern über unsere Gesellschaft und ja heute noch im Jardin du Luxembourg. Schon auf Kinderfotos war ich immer der- das Versagen der ethischen Regeln in die- „Mit einem Dach und seinem Schatten / jenige, der zwei Meter neben der Gruppe ser Gesellschaft geschrieben. Und wenn dreht sich eine kleine Weile der Bestand / steht und sagt: Ich gucke da lieber ein biss- Sie sich an Aristoteles erinnern, dann sag- von bunten Pferden … und dann und wann chen zu. Das mag mit meiner Biografie ein weißer Elefant.“ Wunderbar. zusammenhängen – in Japan geboren, * Mit den Redakteuren Moritz von Uslar, Matthias Ma- SPIEGEL: Herr Wickert, wir danken Ihnen dann nach Deutschland, dann Frankreich, tussek. für das Gespräch. MARKUS HANSEN / ACTION PRESS HANSEN / ACTION MARKUS / DPA PICTURE-ALLIANCE DIRK UHLENBROCK / NDR DIRK UHLENBROCK Im Gespräch mit Günter Grass (2002) BBC-Moderator Jeremy Paxman „Tagesthemen“-Moderatorin Interviewer Wickert, Kollegen: „Man braucht als Nachrichtenmann ein Talent zum Verdrängen“

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