Serie (V): Die zweite Generation Terrorzelle Stammheim Die Gründer der RAF entfalteten im Gefängnis größere Wirkung als in Freiheit. Gleichzeitig formierte sich im Untergrund, nach mehreren Rückschlägen, eine neue Truppe. Ihr Ziel war die Befreiung der inhaftierten Führung. Von Michael Sontheimer

enn Marieluise Becker im Jahr 1973 ihren Mandanten Andreas W Baader im Gefängnis Schwalm- stadt besuchte, wurden zunächst ihre Ta- sche und ihre Unterlagen gründlich durch- sucht. Dann musste sie sich bis auf die Unterhose und den BH ausziehen. Schließ- lich schaute eine Wachtmeisterin der Hei- delberger Anwältin vorn und hinten in den Slip. „Nach einer derart erniedrigenden Behandlung“, sagt Becker, „kam einem das Wort vom ,faschistischen Staat‘ leicht über die Lippen.“ So wie die Anwältin sahen es damals manche Linksradikale, nicht lange nach- dem die Gründer der RAF im Sommer 1972 fast ohne Ausnahme verhaftet worden waren. „Das Problem Baader-Meinhof ist erledigt“, hatte Walter Scheel festgestellt. Der liberale Vizekanzler hielt die Terror- gruppe nur für einen kurzen Irrweg der bundesdeutschen Erfolgsgeschichte, für eine düstere Episode, die nun zum Glück abgehakt war. Es sollte anders kommen. Die harten Haftbedingungen der RAF-Mitglieder lie- ferten den Sympathisanten der Terror- gruppe einen willkommenen Anlass, die Nachfolge der RAF-Gründer anzutreten und den fanatischen Feldzug gegen den demokratischen Staat fortzusetzen. Die meisten RAF-Untersuchungshäftlin- ge wurden konsequent innerhalb der Ge- fängnisse isoliert. Sie durften nicht an Ge- meinschaftsveranstaltungen teilnehmen, durften ihre Zelle nur gefesselt verlassen und waren beim Hofgang allein. Kamen Verwandte oder Freunde zu Besuch, saßen BKA-Beamte dabei. Hinterher wurden ge- wöhnlich die Gefangenen und ihre Zellen durchsucht. Besonders weit ging die Anstaltsleitung in Köln-Ossendorf. Zunächst wurde in einem „toten Trakt“ unterge- bracht. Sie saß allein in einem leerge- räumten Gefängnisflügel. „Ich dachte zunächst, sie übertreibt das mit den Haftbedingungen und deren Auswirkungen“, erinnert sich Ulrich K. Preuß, damals ihr Anwalt, heute Pro- fessor an der Berliner Hertie School

of Governance. „Doch sie war oft völlig BUNDESARCHIV FOTOS:

Inhaftierte Ensslin bei Gegenüberstellung (1972) „Totaler moralischer Anspruch“

98 der spiegel 41/2007 desorientiert.“ Preuß begann, über „sen- später in den Untergrund gingen und dafür in Rotterdam auf drei weitere Genossen. sorische Deprivation“, Reizentzug, zu for- sorgten, dass die RAF 23 Jahre lang Die Wiederaufbaugruppe hatte nur ein schen. Er war bald überzeugt, dass man schießen und bomben würde, kamen aus Ziel: die RAF-Gründer zu befreien, allen diese durchaus als „Folter“ bezeichnen diesen Gruppen. voran Baader, Ensslin und Meinhof. Ohne kann. In einer entscheidenden Position waren diese, davon waren sie überzeugt, ohne Nach Proll kam in die- die Anwälte der RAF-Gefangenen. Da sie deren politische und handwerkliche Er- selbe Zelle. Tag und Nacht brannte Neon- ihre Mandanten ausgiebig besuchen konn- fahrung ließe sich eine schlagkräftige Stadt- licht. Sie verbrachte insgesamt acht Mo- ten, waren sie die wichtigsten Verbin- guerilla nicht aufbauen. nate in dieser verschärften Variante der dungsleute zur Außenwelt, insbesondere Für die Befreiungsaktion wurde eine alte Einzelhaft. „Als Folter äußersten, viehi- zu den „Illegalen“, den Kadern im Unter- Allianz wiederbelebt: mit der palästinensi- schen Grades, dem der menschliche Or- grund. Gleichzeitig sorgten die Anwälte schen Fatah, dem bewaffneten Arm der ganismus nicht gewachsen ist“, beschrieb mit einem „Info“ für die Kommunikation PLO Jassir Arafats. In einem Fatah-Lager in sie den „akustisch abgeschafften Tag- der isolierten Gefangenen untereinander. Jordanien hatten schon die RAF-Gründer

Gegenüberstellungen der inhaftierten RAF-Mitglieder Meinhof und Meins (1972): Konsequent im Gefängnis isoliert

Nacht-Unterschied“. Meinhof überkamen Die zumeist jungen Anwälte standen un- schießen gelernt. Jetzt sollten zwei Palästi- „Auschwitz-Phantasien“. ter hohem Druck. Auf der einen Seite de- nenser und zwei RAF-Leute in Amsterdam Die Linken wühlte das auf. Solange die nunzierten konservative Politiker und die an Bord eines israelisches Flugzeugs gehen RAF-Mitglieder Banken überfielen, BMW Springer-Presse sie pauschal als „Terroris- und es entführen. Das Kommando wartete und Porsche fuhren, Menschen umbrach- tenanwälte“; sie wurden standesrechtlich nur noch auf das Startzeichen von Abu ten und damit Rechten wie dem CSU-Vor- belangt und mit Strafverfahren überzogen. Hassan, einem Vertrauten von Jassir Ara- sitzenden Franz Josef Strauß in die Hände Auf der anderen Seite versuchten die RAF- fat. Doch der zögerte die Aktion hinaus. spielten, hatte die Szene kaum Sympathien Gefangenen, sie – teilweise erfolgreich – Warum er sie hingehalten hatte, verstanden für die RAF. Sie wurde als arrogante, für ihre Propaganda einzuspannen oder die RAF-Illegalen erst Anfang Oktober militaristische Truppe abgelehnt. für das Schmuggeln von Kassibern zu ge- 1973 – als am Jom-Kippur-Tag ägyptische Jetzt im Knast erschienen die RAF-Mit- winnen. „Gudrun Ensslin“, sagt Ulrich K. und syrische Truppen Israel angriffen. glieder als Opfer des Staates und seiner Preuß, „machte einem mit ihrem totalen Die Wiederaufbaugruppe nahm in Frank- Justiz, des trotz aller Kritik an der Terror- moralischen Anspruch schon dafür ein furt mit jenem Mann Kontakt auf, der die taktik gemeinsamen Gegners. Auch die schlechtes Gewissen, dass man überhaupt Bombenhülsen für die Anschläge im Mai RAF-Führung erkannte sofort die Chance, noch in Freiheit war.“ 1972 geschweißt hatte. Auch andere Unter- die Haftbedingungen propagandistisch zu Preuß und auch Otto Schily hielten stets stützer der ersten Generation wurden ange- verwerten und mit Schlagworten wie „Iso- Distanz zu ihren Mandanten, doch Kurt sprochen. Aus einem Depot holte die Grup- lationsfolter“ oder „Vernichtungshaft“ ihr Groenewold, Klaus Croissant und andere pe ein paar Pistolen und Blankodokumen- Zerrbild vom „Neuen Faschismus“ in der übernahmen mehr und mehr deren fun- te, die Ulrike Meinhof gestohlen hatte. Bundesrepublik zu belegen. damentalistisches Weltbild. Baader bombardierte die Anfänger Gruppen wie die „Rote Hilfe“ nahmen Die Psychologiestudentin Margrit Schil- förmlich mit Kassibern, wie sie vorzugehen sich der „politischen Gefangenen“ an. Mit ler war im Oktober 1971 verhaftet und we- hätten. „Die gefangenen rausholen“, Hilfe von Anwälten entstanden in 23 Städ- gen Mitgliedschaft in einer kriminellen schrieb er, „solang ihr so schwach seid, alle ten „Komitees gegen die Folter von politi- Vereinigung verurteilt worden. Vier Mo- kräfte auf diesen job konzentrieren.“ Dafür schen Gefangenen“, die mehrere hundert nate nach ihrer Entlassung im Februar 1973 schlug er eine Geiselnahme vor: „bundes- jüngere Linksradikale anzogen. Alle, die ging sie wieder in den Untergrund und traf tagsabgeordnete – wo sie sich außerhalb bonns in ihren kreisen treffen – aber die richtige fraktion innerhalb der spd.“ Besser Baader: ãDie gefangenen rausholen, alle noch: „spitze: biedenkopf, genscher, kräfte auf diesen job konzentrieren.“ maihofer.“ Baader forderte auch zwei

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„Es werden typen dabei kaputtgehen“, hatte Baader vor Beginn des Hungerstreiks angekündigt. Er stellte allerdings sicher, dass er nicht dazugehören würde, und ließ sich gelegentlich von einem Verteidiger ein Brathähnchen mitbringen. Gleichzeitig übermittelten Anwälte Baader das Gewicht der Hungernden, und er setzte diejenigen unter Druck, deren Gewichtskurve ihm zu langsam sank. Die Länderjustizminister und Bundes- justizminister Hans-Jochen Vogel reagier- ten auf den Streik mit Zwangsernährung. Die Gefangenen wurden festgeschnallt, man stieß ihnen einen Schlauch in den Magen und verabreichte ihnen Flüssig- nahrung. Manche Gefangene wehrten sich heftig gegen diese Tortur. Der CSU-Poli- tiker Richard Stücklen fragte, „ob es dem Steuerzahler zugemutet werden kann, dass der Staat für die künstliche Ernährung selbstverschuldet leidender Staatsfeinde riesige Summen ausgibt“.

DPA Als der Hungerstreik in die siebte Woche Angeklagter Mahler (M.), Verteidiger Ströbele, Schily (1972): „Nur ein bürgerliches Wrack“ ging, besetzten in 32 Aktivisten von „Anti-Folter-Komitees“ aus der ganzen Handgranaten an, um den Anwalt Josef Charisma gehabt und konnte „exzellent Republik die Zentrale von Amnesty Inter- Augstein, den Bruder des SPIEGEL-Her- militärische und politische Kräfteverhält- national, um gegen die „Vernichtungshaft“ ausgebers, als Geisel zu nehmen und so nisse analysieren“. zu protestieren. Bei der Räumung unterließ auszubrechen. Zudem regte er Anschläge Als seine Gefährtin Ensslin neue Deck- es die Polizei, die Personalien aller Besetzer auf den Bundesgerichtshof und Justizmi- namen verteilte und sich dabei zum Teil festzustellen. So wurde erst viel später klar, nisterien der Länder an, „die gebäude, in der Figuren aus Herman Melvilles „Moby dass rund die Hälfte sich später der RAF denen sie sitzen – natürlich am tag“. Dick“ bediente, bekam Baader den Deck- anschloss. namen „ahab“, nach dem besessenen Ka- Einen Tag nach der Amnesty-Besetzung och die Gruppe, deren Mitglieder pitän des Walfängers, der den weißen Wal schrieb einen Brief, der ex- sich kaum kannten und wenig ver- durch die Weltmeere jagt und schließlich emplarisch den brachialen Fundamenta- Dtrauten, rieb sich in Diskussionen auf im Kampf gegen ihn zugrunde geht. lismus der RAF offenbarte: „Entweder und geriet bald ins Visier des Verfassungs- Die RAF hatte inzwischen eine radikale schwein oder mensch, entweder überleben schutzes (VS). Über Monate wurde sie Rechtschreibreform vollzogen und war zur um jeden preis oder kampf bis zum tod, von Dutzenden VS-Männern observiert. In konsequenten Kleinschreibung überge- entweder problem oder lösung, dazwi- Mülltonnen versteckte Agenten fotogra- gangen. Alles Alte, so die Attitüde der schen gibt es nichts.“ fierten die RAF-Leute in aller Ruhe. Am RAF, muss weg. Eine Woche später bat Meins seinen 4. Februar 1974 stürmten Polizisten in den Um durchzusetzen, wie gewöhnliche Anwalt , ihn baldmöglichst frühen Morgenstunden in Hamburg und Gefangene behandelt zu werden, gingen zu besuchen. Als Haag am folgenden Tag zwei konspirative Wohnungen die RAF-Häftlinge in den Hungerstreik. im Gefängnis in Wittlich ankam, traf er auf und überraschten sieben RAF-Mitglieder Den dritten und längsten begannen sie im einen Mann, der bei einer Körpergröße im Schlaf; zwei weitere wurden in Amster- September 1974. „Menschen, die sich wei- von 1,83 Metern noch 39 Kilo wog. Meins dam geschnappt. Der erste Versuch des gern den kampf zu beenden, können nicht war so geschwächt, dass er auf einer Trage Wiederaufbaus der RAF war gescheitert. unterdrückt werden“, hieß es zum Auf- ins Sprechzimmer getragen werden musste Die Polizisten stellten eine umfang- takt. „Sie gewinnen entweder oder sie und nur noch flüstern konnte. Der Ge- reiche Fachbibliothek sicher, mit Titeln wie „Der erste Treffer zählt“ oder einem Schily: ãDie im Hungerstreik befindlichen „Handbuch für den Heimfeuerwerker“. Sie beschlagnahmten zehn Pistolen, vier Gefangenen werden in Raten hingerichtet.“ Maschinenpistolen und fünf Tretminen. Wie ein ganzer Stapel unverschlüsselter sterben, anstatt zu verlieren und zu ster- fängnisarzt hatte ihm bei der Zwangs- Kassiber der RAF-Gefangenen zeigte, war ben.“ Rund 40 Gefangene beteiligten sich ernährung schon eine Weile nur ein Drit- nun zum Motor der Trup- an dem Hungerstreik, doch zeigten sich tel der überlebensnotwendigen Kalorien- pe avanciert. Das von ihm vorherrschende deutliche Risse in der Gruppe. Astrid Proll menge verabreichen lassen und sich ins Bild des unpolitischen Bohemiens in Samt- sah sich nicht in der Lage zu hungern, an- verlängerte Wochenende verabschiedet. hosen, des ungebildeten Autoknackers und dere brachen den Streik ab. Eine Stunde nachdem Haag seinen Man- Waffennarren war stets überzeichnet, jetzt hatte schon zuvor die RAF öffentlich kriti- danten verlassen hatte, war dieser tot. war es widerlegt. siert. Seine einstige Referendarin Monika Meins wurde 33 Jahre alt. Als Mann mit einem „hellen und schnel- Berberich gab daraufhin den Ausschluss Zuvor hatte er geschrieben: „Für den len Verstand“ hat ihn die Anwältin Marie- des RAF-Gründervaters bekannt. Das Pro- fall, dass ich in der haft vom leben in den luise Becker in Erinnerung. Und der da- blem mit Mahler sei, „dass er ein dreckiger, tod komme, war’s mord – gleich was die malige Anwalt Preuß sagt ebenfalls: „Baader bürgerlicher Chauvinist geblieben ist“. Er schweine behaupten werden.“ Auf einer war auch als Gefangener in Stammheim sei von Anfang an „nur ein bürgerliches Pressekonferenz schlug Otto Schily in die noch von imposanter Spannkraft.“ Er habe Wrack“ gewesen. gleiche Kerbe. Der Anwalt sagte, „dass die

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Verstorbener Meins (1974), Gefangener Baader in Stammheim (1977): „Entweder überleben um jeden preis oder kampf bis zum tod“ im Hungerstreik befindlichen Gefangenen dienste geleistet hatte. Es gab nun eine auf dem Frankfurter Flughafen zu versam- in Raten hingerichtet werden“. neue Gruppe, die in einer konspirativen meln und auszufliegen; jedem seien 20000 – Sohn eines polni- Wohnung in Frankfurt lebte. Sie hatte drei Dollar mitzugeben. Bundeskanzler Helmut schen Zwangsarbeiters, der fünf Jahre Pistolen, aber nicht mal ein Auto. Schmidt lehnte das ab. Lagerhaft überlebt hatte – gehörte in West- Gleichzeitig machte Baader Druck, dass Zwei Monate zuvor hatte die anarchisti- Berlin zu den Unterstützern des Hunger- endlich eine Befreiungsaktion laufen müs- sche „Bewegung 2. Juni“ in West-Berlin streiks. Er stand gerade in einem Jugend- se. Die Gruppe verfügte nicht über die In- den CDU-Landesvorsitzenden Peter Lo- zentrum auf einem Tisch und hielt eine frastruktur für eine Entführung und fasste renz entführt und die Freilassung von sechs Rede. „In dem Moment“, erinnerte sich daher den Plan, eine bundesdeutsche Bot- inhaftierten Genossen gefordert. Während Wisniewski später, „kam jemand rein und schaft zu besetzen, dabei Geiseln zu neh- Schmidt mit hohem Fieber daniederlag, sagte: Der Holger ist tot. Mir – und nicht men und so die Genossen freizupressen. verständigten sich der Regierende Bürger- nur mir – sind die Tränen in die Augen ge- meister Klaus Schütz, der CDU-Vorsitzen- schossen.“ Die Beerdigung von Holger ie Wahl fiel auf Stockholm. Die de Helmut Kohl und die anderen Mitglieder Meins mitzuorganisieren sei für ihn „die Gruppe wusste um das hohe Risiko des Bonner Krisenstabs auf einen Aus- letzte legale politische Tätigkeit“ gewesen. D einer solchen Aktion ohne Rück- tausch. Schmidt stimmte zu, bereute es nun Nicht nur für Haag und Wisniewski, für zugsmöglichkeit, aber sie war zu allem be- aber. Für ihn war die Besetzung der Stock- alle RAF-Mitglieder der zweiten und die reit – obwohl sie die RAF-Gefangenen per- holmer Botschaft die Strafe für solche meisten der dritten Generation war der sönlich gar nicht kannte. „Wir müssen sie Nachgiebigkeit. Später erklärte der Bun- Hungertod von Meins das Schlüsselerleb- alle rausholen, wir müssen die Machtfrage deskanzler: „Denen musste doch mal ge- nis. Karl-Heinz Dellwo, der wenige Mona- stellen“, beschreibt das Kommandomit- zeigt werden, dass es einen Willen gibt, der te später in den Untergrund ging, sagt: glied Karl-Heinz Dellwo ihre Einstellung. stärker ist als ihrer.“ „Das war die Stunde der Wahrheit.“ „Wir müssen die Staatsmacht brechen.“ Der schwedische Justizminister teilte Als Meins in Hamburg beigesetzt wurde, Am Vormittag des 24. April 1975 betraten den Geiselnehmern in Stockholm am reiste auch Rudi Dutschke an, der einstige die sechs Mitglieder des „Kommandos Hol- Abend mit, dass die Bonner Regierung ihre Kopf der Studentenbewegung. In seinem ger Meins“ in Zweiergruppen die Botschaft, Forderungen kategorisch ablehne. Die Tagebuch klagte er über die „RAF- nahmen 14 Diplomaten und Angestellte als Botschaftsbesetzer erschossen daraufhin Scheiße“, doch am offenen Grab erhob er Geiseln und verbarrikadierten sich in der den Wirtschaftsreferenten Heinz Hillegaart den rechten Arm, ballte die Faust und sag- obersten Etage des viergeschossigen Kanz- und drohten, jede Stunde eine weitere Gei- te: „Holger, der Kampf geht weiter!“ leigebäudes. Nachdem schwedische Polizis- sel zu töten. Nie zuvor und nie mehr danach konnte ten in die unteren Stockwerke eingedrun- Doch ihnen war klar, dass sie gescheitert die RAF so viele Menschen mobilisieren. gen waren, forderten die Geiselnehmer de- waren. Sie kamen überein, ein letztes Ulti- Nach dem Tod von Meins marschierten in ren Rückzug. Andernfalls würden sie den matum zu setzen. Falls dieses auch ignoriert West-Berlin trotz Demonstrationsverbots Militärattaché Andreas Baron von Mirbach würde, wollten sie das Gebäude, die Gei- rund 5000 Linksradikale durch die City; es erschießen. Die Polizei nahm die Drohung seln und sich selbst in die Luft sprengen. kam zu einer heftigen Straßenschlacht. nicht ernst und ließ drei Ultimaten ver- „Ich hatte vor der Botschaftsbesetzung ak- In Heidelberg gingen vier ehemalige streichen. Die Terroristen streckten Mir- zeptiert, dass ich dabei sterben kann“, er- Mitglieder des Sozialistischen Patienten- bach mit fünf Schüssen nieder und warfen innert sich Karl-Heinz Dellwo heute. „Wer kollektivs, einer antikapitalistischen Psy- ihn die Treppe hinunter. wie wir bewaffnet agierte und auch für den chosekte, in den Untergrund. Eines von Als Nächstes versah das Kommando den Tod anderer verantwortlich war, konnte ihnen war Ulrich Wessel, Sohn eines Ham- mitgebrachten Sprengstoff mit Zündern nicht am eigenen Leben hängen.“ Um burger Tropenholzmagnaten und Multi- und verlangte, dass 26 „politische Gefan- sechs Uhr morgens sollte die Frist ablaufen. millionärs; ein anderes , gene“, zum allergrößten Teil von der RAF, Um kurz vor Mitternacht erschütterte der bereits für die RAF-Gründer Hilfs- freigelassen werden. Diese seien bis 21 Uhr eine Detonation das Botschaftsgebäude und eine Feuerwalze raste durch die obers- te Etage. „Sprengen, sprengen“, brüllte ei- Dellwo: „Wir müssen sie rausholen, wir ner der Besetzer. Er glaubte, der schon län- müssen die Machtfrage stellen.“ ger erwartete Angriff der Polizei habe be-

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Journalisten sogar Kugelschreiber und Uhren konfisziert. Der Bundestag hatte eilig ein Bündel von Sondergesetzen verabschiedet. Auf dieser Grundlage schloss das Gericht vier Anwälte, darunter Christian Ströbele, den heutigen Bundestagsabgeordneten der Grünen, kurz vor Beginn des Prozesses wegen Missbrauchs der Verteidigerrechte von dem Verfahren aus. Die Begründun- gen waren zum Teil dünn. Zudem konnte auch ohne die Angeklagten verhandelt werden. Obwohl die Anklageschrift 354 Seiten umfasste, war es der Bundesanwaltschaft vielfach nicht gelungen, den Angeklagten ihre jeweiligen Tatbeiträge zuzuordnen. Sie hatten eisern geschwiegen. Ausgesagt hat- ten nur ein paar Randfiguren. Um die Angeklagten vor Ort zu haben, war der

DPA 7. Stock des Gefängnisses in Stammheim zu Brennende Botschaft in Stockholm (1975): Auf dem Nullpunkt angelangt einem Hochsicherheitstrakt umgebaut wor- den. Auch als Reaktion auf den Hunger- gonnen. In Wahrheit war die Sprengladung Anfang Mai 1975 ging Siegfried Haag in streik wurden darin nun bis zu acht RAF- ohne fremde Einwirkung explodiert – wie den Untergrund. Der Anwalt kam über Gefangene versammelt. Die „Stammhei- sie sich entzündete, ist bis heute ungeklärt. den Tod seines Mandanten Holger Meins mer“, wie sie in der RAF bald hießen, Das Kommandomitglied Siegfried Haus- nicht hinweg. Ihn plagten Schuldgefühle. konnten sich täglich bis zu vier Stunden ner stand in einer Tür und erlitt deshalb „Es ist an der Zeit“, befand Haag in einem auf dem Flur des 7. Stocks treffen. Sie ent- lebensgefährliche Verbrennungen. Ulrich Abschiedsbrief, „im Kampf gegen den Im- warfen neue Pläne und schafften es, dass Wessel stürzte vornüber zu Boden. Ihm perialismus wichtigere Aufgaben in Angriff diese über Anwälte und Besucher zu den entglitt seine entsicherte Handgranate, ex- zu nehmen.“ Illegalen gelangten. plodierte zwei Meter vor ihm und tötete Zehn Tage nach Haags Verschwinden ihn. Den schwerstverletzten Hausner ließ begann in -Stammheim die Haupt- er wichtigste Mann im Untergrund die Bundesanwaltschaft ausliefern und in verhandlung gegen die seit Juni 1972 in- war ab Frühjahr 1975 der vormalige die Haftkrankenstation Stuttgart-Stamm- haftierte Führung der RAF. Zwar hieß es DAnwalt Siegfried Haag. Er hatte heim transportieren, obwohl diese für die stets, bei der „Baader-Meinhof-Bande“ schon den Stockholm-Attentätern gehol- Behandlung schwerer Verbrennungen nicht handele es sich um gewöhnliche Verbre- fen, jetzt nahm er Verbindungen zur ausgestattet war. Dort starb er. cher, doch für den Prozess war eigens eine „Volksfront zur Befreiung Palästinas – Die RAF war wieder auf dem Nullpunkt düstere „Mehrzweckhalle“ errichtet wor- Spezialkommando“ (PFLP-SC) auf, die angelangt. Sie bestand – von den Gefan- den: mit haushohen Betonwänden und unter anderem vom KGB unterstützt wur- genen abgesehen – nur noch aus Stefan ohne Fenster. Als das Gericht die Haupt- de. Ende 1975 trafen Haag und die ersten Wisniewski. Der sagte später: „Nach Stock- verhandlung gegen Andreas Baader, Gud- Mitglieder einer neuen RAF-Gruppe in holm stand ich quasi vor dem Nichts. Es run Ensslin, Ulrike Meinhof und Jan-Carl Aden ein, der Hauptstadt Südjemens. In gab noch ein paar Mark und zwei Pistolen, Raspe am 21. Mai 1975 in diesem Bunker einem Lager der PFLP-SC warteten be- die aber auch nicht richtig funktionierten.“ eröffnete, wurden bei Zuschauern und reits und Rolf Heißler, die bei der Lorenz-Entführung im März freigepresst worden waren. Sie kamen von der anarchistischen Bewegung 2. Juni. Aber da deren Aktivisten in Berlin ver- haftet worden waren, schlossen sie sich der RAF an. Eine zweite RAF-Aufbaugruppe hatte sich schon ab 1974 in Frankfurt formiert. Ihre treibende Kraft war Peter-Jürgen Boock, den Baader und Ensslin 1969 aus einem geschlossenen Heim geholt hatten. Neben Boocks Frau Waltraud zählte noch Rolf Klemens Wagner dazu. Die Truppe hatte, so Boock, bei rund 20 Banküberfäl- len bereits über eine halbe Million Mark erbeutet und rund 50 Schusswaffen be- schafft. Mitte des Jahres 1976 hatten sich gut zehn Deutsche bei der PFLP-SC in Aden versammelt. Auf Drängen der Palästinen- ser war Siegfried Haag zum „Leader“ be- stimmt worden, um mit den Gastgebern

SÜDDEUTSCHER VERLAG SÜDDEUTSCHER zu verhandeln. Er vereinbarte, dass die Protest gegen Haftbedingungen der RAF-Kader in Frankfurt (1977): „Stunde der Wahrheit“ RAF-Aufbaugruppe panzerbrechende so-

106 der spiegel 41/2007 RAF-Serie (V): Die zweite Generation wjetische Raketen bekommen und Unangenehmer für die Illegalen dafür die Palästinenser mit elektro- war, dass Haag und Mayer brisante nischer Ausrüstung versorgen sollte. Dokumente im Auto liegen hatten: Vor allem aber erhielten die Deut- Strategiepapiere und Arbeitspläne. schen eine militärische Ausbildung. Von „Margarine“ war darin die Vor Sonnenaufgang standen etli- Rede, von „Big Money“ und „Big che Kilometer Dauerlauf auf dem Raushole“. Doch die Ermittler Programm, nach dem Frühstück konnten die kodierten Aufzeich- Theorie oder auch mal das Ausein- nungen nur zu einem kleinen Teil andernehmen eines Kalaschnikow- entschlüsseln. Schnellfeuergewehrs mit verbunde- Sie kamen nicht darauf, dass nen Augen. Am Abend folgten Stra- „Margarine“ der Deckname für das tegiediskussionen: Wie kann man Attentat auf den Generalbundesan- die Stammheimer aus dem Gefäng- walt war; seine In- nis holen? Die RAF war nun voll- itialen entsprachen der populären ends auf sich selbst bezogen: Die Margarinemarke SB; „Big Money“ Befreiung der Führung war das ent- sei die Tarnbezeichnung für die Ent- scheidende Ziel. führung Schleyers, hieß es später Die Stammheimer hatten eine im Urteil gegen Siegfried Haag und Liste mit Namen eines guten Dut- zwei Mitangeklagte. In Wahrheit, zends möglicher Entführungsopfer so erklären zwei Ex-RAF-Mitglie- aufgestellt: Bundeskanzler Helmut der heute, war das Kidnappen eines Schmidt war dabei, der baden- Industriellen gemeint, um mit ei- württembergische Ministerpräsident nem hohen Lösegeld die Kriegskas- Hans Filbinger, Mitglieder der In- se zu füllen. Die Bundesanwalt- dustriedynastien Quandt und Flick, schaft entzifferte „H. M.“ als Hanns aber auch Arbeitgeberpräsident Martin Schleyer. Doch dies, so sa- Hanns Martin Schleyer und der gen Ex-RAF-Kader, sei ebenfalls Bankier Jürgen Ponto. Unsinn. Mit H. M. war jener Indu-

FRANZ RUCH FRANZ strielle gemeint, der dann doch nabhängig von Haags Truppe RAF-Terroristen Haag (1975), Wisniewski: Training in Jemen nicht entführt wurde; die Ent- und den Frankfurtern hatte führung Schleyers wurde erst später Usich in Karlsruhe eine dritte ins Auge gefasst. Gruppe formiert, die den bewaff- Bei den Decknamen griffen die neten Kampf aufnehmen wollte: Ermittler ebenfalls gründlich dane- Knut Folkerts, Roland Mayer, Gün- ben. So wurde Johannes Thimme, ter Sonnenberg, und ein ehemaliger Schulkamerad und dessen Freundin . Freund Christian Klars, als „Tim“ Sie hatten für selbstverwaltete Ju- identifiziert. Thimme, der zwar die gendzentren gekämpft, aber auch RAF unterstützte, aber ihr nie an- RAF-Gefangene im Knast besucht. gehörte, saß dann unter anderem Sie beteiligten sich an einem wegen „Mitgliedschaft in einer ter- Hungerstreik vor dem Gebäude der roristischen Vereinigung“ 22 Mona- Bundesanwaltschaft, fuhren nach te in Isolationshaft. In Wahrheit ver- Köln zu einer Demonstration gegen barg sich Boock hinter „Tim“. den „toten Trakt“ und waren bei Horst Herold, der unermüdlich der Besetzung des Amnesty-Büros Freigepresste Terroristen*: Auf sich selbst bezogen die Rasterfahndung weiterentwi- in Hamburg dabei. Nach dem Tod ckelt hatte, sagte später: „Ende 1976 von Holger Meins begannen die Karlsruher Aber zunächst habe man versucht, aus den war das Ziel der informatorischen Über- ernsthaft über den bewaffneten Kampf zu Fehlern der RAF-Gründer zu lernen. Die legenheit über die RAF erreicht. Ende 1976 diskutieren. Gruppe erkundete Ruheräume in Öster- wussten wir mehr als diese über sich Vor allem versuchten sie, mit der RAF in reich, der Schweiz, in Frankreich und den selbst.“ Doch was Herold und seine Fahn- Kontakt zu kommen, aber das gestaltete Niederlanden. Sie fand Wege, auf denen der nicht wussten: In Stammheim war zu sich schwierig und dauerte lange. Als im sich unkontrolliert grüne Grenzen über- dieser Zeit vor allem Gudrun Ensslin damit Frühjahr und Sommer 1976 die Gruppe um schreiten ließen. beschäftigt, eine Frau zu instruieren, die Siegfried Haag von Jemen nach Deutsch- Die Bundesrepublik war für sie das ge- ihre Nachfolge antreten sollte. land zurückgekehrt war, schlossen sich die fährlichste Terrain. Als Siegfried Haag und Es handelte sich um . Karlsruher ihr an. Roland Mayer am 30. November 1976 mit Sie bekam den Auftrag, nach ihrer bevor- Die „Förstergruppe“, wie die Karlsru- einem gestohlenen Opel Admiral unter- stehenden Haftentlassung die Illegalen auf her intern genannt wurden, hatte bereits wegs waren, brachten Zivilfahnder sie auf Vordermann zu bringen und eine Offensive eine Aktion ins Auge gefasst: die Ermor- der Autobahn nahe dem hessischen Butz- zu starten, mit der die Bundesregierung dung von Generalbundesanwalt Siegfried bach auf. Die beiden waren bewaffnet, endlich in die Knie gezwungen werden Buback. Gemeinsam mit den Jemen-Rück- ließen sich aber ohne nennenswerten Wi- würde. kehrern erwogen sie zudem, einen reichen derstand festnehmen. Andreas Baader Industriellen zu entführen, um den ständi- nahm ihnen das sehr übel. Im nächsten Heft: gen Geldbedarf zu decken. Die „Offensive 77“ – mit einer Anschlags- „Das Problem war“, sagt einer von ih- serie und dem infamen Mord an Dresdner- * Rolf Pohle (l.) und Rolf Heißler (r.) auf dem Frankfurter nen, „dass die Stammheimer großen Druck Flughafen kurz vor dem Abflug nach Jemen am 3. März Bank-Chef Jürgen Ponto stellte die RAF gemacht haben, dass wir sie rausholen.“ 1975. die Machtfrage.

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