Hellmut O. Brunn, Thomas Kirn. Rechtsanwälte - Linksanwälte: 1971 bis 1981 - Das Rote Jahrzehnt vor Gericht. am Main: Eichborn Verlag, 2004. 397 S. ISBN 978-3-8218-5586-8.

Gudrun Ensslin, hrsg. von Christiane und Gottfried Ensslin. "Zieht den Trennungsstrich, jede Minute": Briefe an ihre Schwester Christiane und ihren Bruder Gottfried aus dem Gefängnis 1972-1973. : Konkret- Literatur-Verlag, 2005. 198 S. EUR 15.00, paper, ISBN 978-3-89458-239-5.

Wolfgang Kraushaar, Karin Wieland, Jan Philipp Reemtsma. Rudi Dutschke, und die RAF. Hamburg: Hamburger Edition, HIS Verlag, 2005. 143 S. , gebunden, ISBN 978-3-936096-54-5.

Butz Peters. Tödlicher Irrtum: Die Geschichte der RAF in Deutschland. Berlin: Argon Verlag, 2004. 863 S. , , ISBN 978-3-87024-673-0.

H-Net Reviews

Klaus Pfieger. Die Rote Armee Fraktion - RAF: 14.5.1970 bis 20.4.1998. Baden- Baden: Nomos Verlag, 2004. 207 S. , broschiert, ISBN 978-3-8329-0533-0.

Astrid Proll. Hans und Grete: Bilder der RAF 1967-1977. Berlin: Aufbau Verlag, 2004. 157 S. , broschiert, ISBN 978-3-351-02597-7.

Alexander Straßner. Die dritte Generation der "Roten Armee Fraktion": Entstehung, Struktur, Funktionslogik und Zerfall einer terroristischen Organisation. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 2005. 426 S. EUR 39.90, paper, ISBN 978-3-531-14114-5.

Reviewed by Stephan Scheiper

Published on H-Soz-u-Kult (June, 2005)

Mit dem Ende der Ausstellung zur Roten Ar‐ „Der Staat“ bot stets den Widerpart in einer mee Fraktion in den Berliner Kunst-Werken ha‐ die gesamte Gesellschaft beschäftigenden Schre‐ ben wir (vorerst) auch die Grabenkämpfe um ihre ckensgeschichte. Gut und Böse wechselten darin Bedeutung aus den Feuilletons verabschiedet. je nach Standpunkt des Betrachters. Vor allem Was bleibt, ist die Gewissheit, dass die RAF und kostete das Handeln der RAF zahlreiche Men‐ ihr Mythos die deutschen Gemüter noch immer schen das Leben, was ofensichtlich noch immer erregen. Ein Wiedersehen mit denselben Bildern betont werden muss. Dies verlangt nach einem und Polarisierungen erwartet uns voraussichtlich nüchternen Blick auf die jüngsten Veröfentli‐ im Jahr 2007. Die Diskussionsrudimente aus den chungen. Schließlich dringt die RAF nicht nur in 1970er-Jahren verschwinden bis dahin in den die Kunst vor, sondern soll spätestens seit ihrer jahrzehntealten Schubladen und werden auch bei Aufösung 1998 zunehmend zeithistorisch analy‐ der nächsten Reanimation wieder durch den Fil‐ siert werden. Dafür bot das Gezänk um das Kon‐ ter medialer Imagination gejagt.

2 H-Net Reviews zept und die Finanzierung der Ausstellung einen deutschen Geschichte. An diesem Dienstag ahnt zusätzlichen Anlass. allerdings niemand etwas davon.“ (S. 37) Zum Linksterrorismus in der Bundesrepublik Peters’ Sprache ist nicht nur für Linguisten Deutschland entstand zu Beginn der 1980er-Jahre zum Teil unzumutbar. Das Prädikat als den Satz im Auftrag des Bundesinnenministeriums eine tragendes Element hat bei ihm ausgedient. Man maßgebende Studie. Bundesministerium des In‐ muss zuweilen froh sein, ein Subjekt zu fnden: nern (Hg.), Analysen zum Terrorismus, 4 Bde., „Am Morgen der Tat waren die vier in Frankfurt Bonn 1981-1984. In den 1990er-Jahren setzte Peter angekommen. In aller Herrgottsfrühe, um fünf Waldmann durch überzeugende internationale Uhr dreißig. Aus München. Letzte Station einer Vergleiche neue Forschungsstandards. Wald‐ Reise durch die halbe Republik. Einer Abenteuer- mann, Peter, Beruf: Terrorist. Lebensläufe im Un‐ Tour im wahrsten Sinne des Wortes.“ (S. 44) Zu‐ tergrund, München 1993; Ders., Terrorismus. Pro‐ dem entbehrt Peters’ Buch jeglicher Quellennach‐ vokation der Macht, München 1998. In der Mehr‐ weise, und der wissenschaftliche Apparat im An‐ zahl orientieren sich seit Mitte der 1980er-Jahre hang birgt nur ergänzende Fakten. In den verhält‐ aber viele Publikationen an Stefan Austs zuerst nismäßig knappen Darstellungen der staatlichen 1985 erschienener Erzählung vom „Baader-Mein‐ Reaktionen gerät einiges durcheinander. Die ge‐ hof-Komplex“ und führen seither seinen „Kampf setzliche Regelung zum Verteidigerausschluss um die Wahrheit“ weiter. vom Dezember 1974 wird kurzerhand zum ersten Dies gilt besonders für Butz Peters, der be‐ Anti-Terror-Paket erklärt, und die weitreichende reits 1991 mit einem Werk aufwartete, das die Er‐ strafrechtliche Bedeutung des Paragraphen 129a eigniskette der 1970er und 1980er-Jahre nach‐ seit dem 18.8.1976, der – was Peters unterschlägt – zeichnete. Nun hat er unter dem Titel „Tödlicher neben der Gründung auch die Mitgliedschaft in Irrtum“ eine um 300 Seiten erweiterte Neuaufage einer terroristischen Vereinigung unter Strafe vorgelegt, die nicht als solche gekennzeichnet ist, stellt, blendet der gelernte Jurist völlig aus. Sämt‐ aber in unzähligen Passagen bereits Niederge‐ liche Entwicklungshintergründe der RAF werden schriebenes übernimmt. Peters bedient den lese‐ aus einigen Gerichtsverfahren und den überlie‐ begeisterten Kunden, erhebt jedoch nicht den An‐ ferten Schriften der Terroristen übernommen. Da‐ spruch, die Ereignisse in einen breiteren histori‐ her bietet das Buch auf seinen 863 Seiten auch schen Kontext zu setzen. Der Autor möchte erzäh‐ keine neuen Erkenntnisse zur Geschichte der RAF len, wie es eigentlich gewesen ist – was gegenwär‐ und erst recht nicht zur deutschen Nachkriegsge‐ tig en vogue zu sein scheint. Schwungvoll wird schichte. Populärwissenschaftliche Literatur ist in man in die Thematik eingeführt und erkennt auch dieser Form schlicht zeitraubend. ohne Hintergrundwissen über den Autor auf den Für weniger Geld und Lesezeit bekommt man ersten Seiten, wie fernsehtauglich die Sprache ge‐ mit Klaus Pfiegers Buch „Die Rote Armee Frakti‐ wählt ist und die Szenen zusammengestellt sind. on – RAF“ eine deutlich pointiertere Studie. Pfie‐ Peters ist Rechtsanwalt, ehemaliger Redakteur ger benötigt nur gut 200 Seiten, um wesentlich und Fernsehmoderator der ZDF-Sendung „Akten‐ stichhaltigere Informationen über die Geschichte zeichen XY ungelöst“. Er beginnt seine „Zeitreise der RAF zu liefern. Er gliedert das Buch nach RAF- durch drei Jahrzehnte deutscher Nachkriegsge‐ Standard in drei Großkapitel zu den einzelnen Ge‐ schichte“ folglich mit den unverwechselbaren Sät‐ nerationen und besticht durch kriminalistische zen: „Der 2. April [des Jahres 1968] ist ein nass‐ Akribie. Pfieger ist Generalstaatsanwalt am Ober‐ trüber Tag. Der Beginn eines neuen Kapitels der landesgericht Stuttgart und Zeitzeuge, weshalb die juristisch relevanten ballistischen und anato‐

3 H-Net Reviews mischen Beschreibungen relativ viel Raum ein‐ kette von Dutschke, der Studentenbewegung und nehmen (S. 28, 51, 58f.). Es scheint gar, als führe der Frankfurter Schule zum Terrorismus der RAF er erneut Prozess gegen die einzelnen Gruppen; konstruieren. Er ermittelt allerdings einen bisher damit verharrt er leider auch in der von Polarisie‐ „sträfich vernachlässigten“ (S. 50) Baustein in der rungen geprägten Atmosphäre der 1970er-Jahre. Geschichte des Konzepts Stadtguerilla und dem Dies vermittelt auch die Hauptthese des Bu‐ Verhältnis Dutschkes zur Gewalt. Durch die hand‐ ches, der Staat habe den erklärten Krieg niemals schriftlichen Notizen vom Februar 1966, das Orga‐ angenommen und daher die Aktionen der RAF nisationsreferat vom Juni 1967 und diverse Quer‐ auf das reduziert, was sie tatsächlich gewesen sei‐ verbindungen versucht Kraushaar nachzuweisen, en: Verbrechen. Gegen Pfiegers Interpretation Dutschke habe noch weit vor Carlos Marighelas spricht allerdings die überaus trefende Wertung „Minihandbuch des Stadtguerilleros“ (1970) Che der Kinkel-Initiative des Jahres 1992. Diese sollte Guevaras Guerillatheorie auf die West-Berliner die Möglichkeit der vorzeitigen Haftentlassung Verhältnisse übertragen. Bei der konkreten Ver‐ „auch bei Terroristen [einräumen], die zu lebens‐ hältnisbestimmung von Dutschke zur Gewalt hält langer Haft verurteilt sind“, und verdeutlichte die sich Kraushaar dann aber doch zurück, weil ihm bis dahin vorhandene Sonderstellung der RAF- die verstreuten Quellen keine stringente Argu‐ Häftlinge. Pfieger schärft das Bild der judikativen mentationskette erlauben. Er betont lediglich, Auseinandersetzung mit der RAF. Sein Hauptziel, dass sich in einer weiteren Schrift Dutschkes „in sich „in Zeiten von Al Quaida“ zu vergegenwärti‐ der Schale des Rebellen die Figur des Kriegers gen, „dass eine solche Serie von menschenverach‐ bzw. des Guerilleros zu erkennen“ gebe (S. 37). tender Gewalt auch wieder ein Ende fnden Kraushaar bilanziert, Dutschke sei dem Projekt kann“, basiert auf der Überzeugung, den Tätern des bewafneten Kampfes bereits vor 1968 sehr sei „bewusst gemacht“ worden, „dass sie mit ih‐ nahe gekommen, und die Stadtguerilla stamme ren kriminellen Aktionen die Welt nicht verän‐ als genuiner Bestandteil der „68er“ aus dem Zen‐ dern können“ (S. 13). Hier muss aus historischer trum der antiautoritären Bewegung. Sicht ein Fragezeichen gesetzt werden. Aus beiden Den Hauptakteur der RAF beleuchtet Karin genannten Terrorismusphänomenen erwuchsen Wieland im selben Bändchen unter dem Titel „a.“. bzw. erwachsen Veränderungen in Politik und Ge‐ Es geht um Andreas Baader, einen der von Wie‐ sellschaft, die man in Rechnung stellen muss, um land schon früher abgehandelten „deutschen den Gegenstand diferenziert zu historisieren. Dandys“. Wieland, Karin, Deutsche Dandys, in: Den Anspruch, die Geschichte der RAF zu ver‐ Kursbuch 127 (1997), S. 45-58. Die biografsche stehen, erhebt explizit das Hamburger Institut für Skizze verzichtet bewusst auf Vergleiche mit an‐ Sozialforschung (HIS) in einem kleinen dreiteili‐ deren RAF-Terroristen und zieht im Anschluss an gen Sammelband, der sich unterschiedlichen Ab‐ Kraushaar stärker die Verbindungslinie von anti‐ schnitten des „roten Jahrzehnts“ widmet. Zu‐ autoritärer Avantgarde und Dieter Kunzelmann nächst behandelt Wolfgang Kraushaar neben an‐ zum Terrorismus der RAF. Wieland wählt eine Va‐ deren Dokumenten eine 2002 durch Sigward Lön‐ riante der bereits von Jillian Becker 1977 vertrete‐ nendonker und Jochen Staadt ausgehobene Quel‐ nen Interpretation, die RAF-Terroristen und ihr le, welche Rudi Dutschkes positive Haltung zum unmittelbares Umfeld seien in die Tradition anti‐ bewafneten Kampf und seine Konzeption einer bürgerlich-extremistischer Jugendbewegungen Stadtguerilla aus dem Jahr 1966 belegt. In Abgren‐ Deutschlands einzuordnen, die Wegbereiter des zung von Gerd Langguth Langguth, Gerd, Mythos Nationalsozialismus gewesen seien. Becker, Jilli‐ ‘68, Bonn 2001. möchte Kraushaar keine Kausal‐ an, Hitler’s children. The story of the Baader- Meinhof terrorist gang, 1977. Baader

4 H-Net Reviews steht für Wieland im Mittelpunkt; er habe sich auf tie“ konsequent lebten und für ihre Konsequenz den Gewinn von Macht sowohl in der Gruppe als bis zum Tod beneidet und bewundert wurden. auch nach außen fxiert. Der Sammelband des HIS wartet mit dem Vor‐ An diese Machtorientierung schließt Jan Phil‐ wurf der Heuchelei auf und richtet ihn gegen na‐ ipp Reemtsma an. Seine Frage „Was heißt ‚die Ge‐ hezu die gesamte radikale Linke der 68er- und schichte der RAF verstehen’?“ beantwortet er Post-68er-Jahre – bis hin zu jenen, die sich heute durch die Feststellung, die Machterfahrung sei in Amt und Würden befnden. Es bleibt fraglich, das entscheidende Charakteristikum der Lebens‐ ob diese Art der Betrachtung den linken Selbstzer‐ form RAF gewesen (S. 113). Die tiefenpsycholo‐ feischungsprozessen der 1970er-Jahre nicht eher gisch anmutende und stilvoll soziologisch um‐ ein weiteres Kapitel hinzufügt. mantelte These bezieht Reemtsma aus der Inter‐ Eine Rehabilitationsschrift für Teile der Lin‐ pretation eines Gesprächs zwischen dem Psycho‐ ken bieten der Rechtsanwalt Hellmut Brunn und analytiker Horst-Eberhard Richter und der zu le‐ der Journalist Thomas Kirn. Bereits 1974 strahlte benslanger Haft verurteilten . In‐ der NDR eine Sendung mit dem Titel „Rechtsan‐ des stellt sich die Frage, ob die Sucht nach Macht wälte – Linksanwälte“ aus Bundesarchiv Koblenz, über Leben und Tod nicht jedem Verbrechen ge‐ Bundesministerium der Justiz B 141/48332, Bl. 17f. gen Freiheit und Leben eines Menschen inne‐ , die auf heftige Kritik stieß. Die Autoren des wohnt. Wieviel dies zum Verständnis der RAF und gleichnamigen Bandes treten durch ausgewählte ihrer Bedeutung für die bundesdeutsche Gesell‐ Beispiele von annähernd 300 als „Linksanwälte“ schaft beitragen kann, erfährt der Leser beson‐ eingestuften Juristen den Beweis an, dass diese ders dort, wo Reemtsma auf die „Selbstexplikatio‐ Anwälte einer bereits damals kritisierten Hexen‐ nen“ Jan-Carl Raspes eingeht (S. 128f.). Neben der jagd ausgesetzt waren. Neben Otto Schily und Machterfahrung dienten gerade solche mit Todes‐ Christian Ströbele zählen hier Kurt Groenewold, teleologie und Eindeutigkeitssehnsucht angerei‐ , Klaus Croissant und Rupert von cherte Erklärungen und ihr konsequentes öfentli‐ Plottnitz zu den wichtigsten politischen Anwälten. ches Ausleben der zeitweiligen Attraktivität der Aus deren Sicht werfen Brunn und Kirn Schlag‐ Lebensform RAF. Laut Reemtsma bewunderte die lichter auf das „Rote Jahrzehnt“, wobei sie eine gesamte Linke in den 1970er-Jahren diese Lebens‐ wissenschaftliche Untersuchung explizit vermei‐ form und goutierte deren vermeintliche Authenti‐ den. Das Buch soll vielmehr die schwierige und zität. Schließlich folgert Reemtsma: „Keine terro‐ undankbare Position der gegen alle Widrigkeiten ristische Gruppe könnte sonderlich erfolgreich um den Rechtsstaat bemühten Anwälte darlegen. sein ohne solche verständnisvollen Dritten, die Schließlich sahen sich die Verteidiger in Stamm‐ die Sehnsüchte nach Authentizität, unentfremde‐ heim „nicht nur letztlich ungerechtfertigtem Miss‐ tem Leben sive Undiferenziertheit und Dumm‐ trauen ausgesetzt, sondern auch vielfältigem heit teilen, sich aber nicht trauen, selber zuzu‐ Druck von Seiten der Mandanten“ (S. 66). schlagen, und darum von der terroristischen Zu jeder Behauptung und Hypothese rund um Gruppe verachtet werden.“ (S. 142) die RAF nimmt das Buch aus der Linksanwalt-Per‐ Reemtsma sitzt damit keineswegs dem Sym‐ spektive Stellung, rollt Gerichtsurteile noch ein‐ pathisantensumpfgerede der 1970er-Jahre auf. mal auf (S. 95) und rechnet mit der damaligen Jus‐ Vielmehr erteilt er jenen Linken eine schallende tiz ab, die es bis zum Auftritt der Linksanwälte Ohrfeige. Hier schließt sich der Kreis der drei Auf‐ versäumt habe, „fanatische Nazi-Staatsanwälte sätze: Die Geschichte der RAF wird als Geschichte oder ihre Richterkollegen, die für ungezählte Jus‐ derjenigen verstanden, die als einzige „die Idio‐ tizmorde verantwortlich waren, ihrer Bestrafung

5 H-Net Reviews zuzuführen“ (S. 118). Obendrein warf ihnen „die Kommandos zum Dilemma der auf eindimensio‐ Justiz“ Prozessverschleppung, „die Mandanten‐ naler Wahrnehmung beruhenden Interpretation schaft Obrigkeitsgläubigkeit und das Publikum der politisch-gesellschaftlichen und wirtschaftli‐ Komplizenschaft“ vor (S. 133). Die Gefahr der kri‐ chen Wirklichkeit. Durch den polizeilichen Fahn‐ minellen Instrumentalisierung wurde aber eben‐ dungsdruck und die Isolation auch von einem so gebannt wie die unmittelbare Existenzbedro‐ vorher existierenden Unterstützerfeld entwickelte hung vieler Verteidiger in der „bleiernen Zeit“. Zu sich die Gruppe zu einer klandestinen Organisati‐ Beginn der 1980er-Jahre lösten sich die Fronten on, die die Bedürfnisse und Integrationsnotwen‐ auf, wofür der 5. Strafverteidigertag als Grund an‐ digkeiten eines sozialen Systems durch die völlige gefügt wird. So erfrischend ein Perspektivwechsel Exklusion aus gesellschaftlichen Zusammenhän‐ in der RAF-Literatur wirkt, so sehr wird die gesell‐ gen nicht erfüllen konnte. Dies lief nach Straßner schaftliche, politische und gerichtliche Rolle der zwangsläufg auf eine Aufösung der terroristi‐ Linksanwälte überstrapaziert. Die gravierenden schen Organisation hinaus. Veränderungen in der bundesdeutschen Nach‐ Die Schlussfolgerungen sind überzeugend, kriegsjustiz werden nahezu ausschließlich auf das haben aber einige Schönheitsfehler, da die konse‐ politische Engagement dieser Anwälte zurückge‐ quente Anwendung systemtheoretischer Prämis‐ führt. Das schmälert den Erkenntnisgewinn die‐ sen durch die Integration der Akteursebene auf‐ ses Bandes für die Geschichte der 1970er-Jahre geweicht wird. Die Zugehörigkeit zur dritten Ge‐ leider erheblich. neration der RAF ist für viele der genannten Per‐ Alexander Straßner wagt den Schritt in die sonen kaum nachweisbar und kann daher eigent‐ 1980er und 1990er-Jahre. Seine Studie über die lich nicht als Argumentationsfundament dienen. „dritte Generation“ der RAF ist als politikwissen‐ Dass die dritte Generation den Zuspruch in ihrem schaftliche Dissertation an der Universität Re‐ Umfeld erst im Laufe ihrer weiteren, als Professi‐ gensburg entstanden und versteht sich als Beitrag onalisierung interpretierbaren Radikalisierung in zur Extremismusforschung. Ziel der Arbeit ist es, den 1980er-Jahren verloren habe, ist ebenso we‐ den Zerfallsprozess einer terroristischen Organi‐ nig haltbar wie der für diesen Zeitraum behaupte‐ sation idealtypisch darzustellen und die bestim‐ te Wandel von einer Gruppe mit ideologischer menden Muster zu analysieren. Seine Hypothese Zielrichtung zu einer Häftlingsbefreiungsorgani‐ leitet Straßner aus strukturellen Mängeln terro‐ sation. Diese Schritte hatte die RAF bereits in den ristischer Gruppen ab, die ihre Ziele weder errei‐ 1970er-Jahren vollzogen, wobei die Relevanz der chen könnten noch dauerhaft überlebensfähig ideologischen Motivation selbst für den Beginn ih‐ seien, „da sie die Anforderungen an ihre Eigen‐ rer Aktionen nach wie vor überbewertet wird. schaft als soziale Systeme nicht zu erfüllen ver‐ Trotz dieser Einwände basiert die Arbeit auf einer mögen“ (S. 62). Folgerichtig bedient sich Straßner vorbildlichen Erschließung und Analyse der Quel‐ systemtheoretischer Prämissen, um diese Hypo‐ len. Für die Erforschung der (genauer zu bestim‐ these zu verifzieren und dabei explizit auf die menden) dritten Generation ist Straßners Werk Wechselwirkungen zwischen dem sozialen Sys‐ ein Meilenstein. tem RAF und seiner Umwelt einzugehen. Er greift In einer Sammelrezension zum Phänomen auf Gespräche mit Experten vom Bundeskriminal‐ RAF dürfen Beiträge ehemaliger Aktivisten nicht amt, dem Bundesamt für Verfassungsschutz und fehlen. Astrid Proll hat einen runderneuerten Er‐ Angehörigen der Länderpolizeien zurück, aber lebnisbildband zusammengestellt, den sie „Hans auch auf Analysen von Bekennerschreiben. Seine und Grete“ widmet. Erweiterte Neuausgabe von argumentative Linie verläuft überzeugend von Proll, Astrid (Hg.), Hans und Grete. Die RAF 67-77, den Analysen der einzelnen Akteure in den RAF-

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Göttingen 1998. Die „Tarnnamen“ für Andreas schwister. Die Zielsetzung des Urteils, die Untersu‐ Baader und Gudrun Ensslin symbolisieren Prolls chungsgefangene mit dieser Maßnahme „auf die enge Verbundenheit, die sie trotz der frühen Ab‐ Familie zurückzuwerfen“ (S. 7) und so zu resozia‐ kehr von der RAF weiterhin verspürt. So reiht lisieren, deuten die Herausgeber wie seinerzeit sich der Bildband in die lange Reihe der Bewälti‐ ihre Schwester als repressive Zwangsmaßnahme gungsliteratur ein. Proll bietet romantische Remi‐ und ofensichtliche Schwäche der demokrati‐ niszenzen an eine „wilde Jugend“ und erkennt schen Fundamente in der Bundesrepublik (S. 11). doch, dass die RAF kaum mehr war als eine „Be‐ Auch wenn hier Denkprozesse der führenden freit-Baader-Fraktion“ (S. 11). Der obligatorische RAF-Terroristin zum Vorschein kommen – in ei‐ Faschismusvorwurf ist in der Beschreibung Ens‐ ner Phase, die noch nicht von Hungerstreik und slins während der Untersuchungshaft zu bewun‐ Strafprozess gekennzeichnet war –, bleiben die dern: „In Kittel und Sandalen erscheint Gudrun Briefe Agitation der Geschwister. Die Taten und wie ein dressiertes Kind in einem Nazi-Heim.“ (S. die Opfer fnden keinerlei Erwähnung. 15) Zuletzt wird noch ein Vergleich mit Al Quaida Die Bücher zur RAF umfassen Beteiligtenlite‐ angeführt, der zeigen soll, wie harmlos die RAF ratur, Ereignisdarstellungen und erste analytische und ihre Helden doch eigentlich gewesen seien. Ansätze, die noch immer an den Arbeiten Peter Die Fotografen sind chronologisch angeordnet, Waldmanns und den „Analysen zum Terroris‐ wobei der Prolog den Titelhelden gewidmet ist. mus“ gemessen werden müssen. Zumeist kom‐ Über diesen Bestand hinaus sind die abgebildeten men die neueren Publikationen nicht darüber Fotos bekannt. Ein gewisses Maß an distanzierter hinaus. Erfreulich ist vor allem Straßners Ver‐ Refexion wäre für die Autorin und den interes‐ such, systemtheoretisch ein wenig Licht in das sierten Leser von Vorteil gewesen. Als Quellenfun‐ Dunkel der dritten Generation zu bringen. Der dus für die mediale Fremd- und Selbstinszenie‐ Schritt von der Ursachenforschung hin zu den rung der ersten Generation der RAF ist die Foto‐ Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlicher sammlung aber brauchbar. Realität und klandestiner Gruppe ist auch für die Schließlich möchten Christiane und Gottfried aktuelle Extremismusforschung ungeheuer wich‐ Ensslin ihre Schwester Gudrun selbst zu Wort tig, um die möglichen Zerfallsparameter terroris‐ kommen lassen. Deren Briefe aus der Untersu‐ tischer Organisationen zu beleuchten. Der Per‐ chungshaft von der Inhaftierung am 7. Juni 1972 spektivwechsel von Brunn und Kirn auf die Sicht bis zum 21. November 1973 sind von beiden als der juristischen Akteursgruppe „Linksanwälte“ Ergänzung zur Ausstellung in Berlin herausgege‐ bei der Auseinandersetzung zwischen der RAF ben worden. Im Anhang zu den Briefen fnden und dem politischen Gemeinwesen der Bundesre‐ sich die für den familiären Kontakt zentralen Ge‐ publik Deutschland verschaft ebenfalls neue Er‐ richtsurteile und einige Fotos aus der Vita Gudrun kenntnisse, ist aber zu stark von einer Opfermen‐ Ensslins. Die Kommentare zu den einzelnen Brie‐ talität geprägt. fen sind sehr ausführlich, pfegen indes weiterhin Es bleiben genügend Forschungsdesiderata, die politische Argumentation Ensslins. Die Briefe zumal die staatlichen und parteiinternen Akten ermöglichen einen tiefen Einblick in die zum Hass selbst für die 1970er-Jahre noch nicht vollständig gesteigerte Abneigung aller Bürgerlichkeit und zugänglich sind. Klaus Weinhauer hat bereits für die sich im Laufe eines Jahres, nicht zuletzt durch eine „Sozial- und Kulturgeschichte der Inneren Si‐ die Haft, verstärkende Neigung zu Verschwö‐ cherheit“ plädiert. Weinhauer, Klaus, Terrorismus rungstheorien. Das BGH-Urteil zur formalen Über‐ in der Bundesrepublik der Siebzigerjahre. Aspek‐ wachung des Schrift- und Besucherverkehrs ist te einer Sozial- und Kulturgeschichte der Inneren Orientierungs- und Kernpunkt aller Kritik der Ge‐

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Sicherheit, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 219-242, online unter URL: . Diese zu schrei‐ ben wäre eine große Herausforderung: Man müsste den internationalen Strukturwandel in Po‐ litik und Gesellschaft der 1960er-Jahre in Rech‐ nung stellen, anstatt ihn auf die Chifre „1968“ und die Studentenbewegung zu reduzieren. Auf diesem Weg wäre es möglich, sich den Verände‐ rungen im Territorialstaat der 1970er-Jahre in in‐ ternationaler Perspektive zu nähern sowie die Entstehung von und Auseinandersetzung mit Ge‐ waltkriminalität in den westlichen Staaten ent‐ sprechend einzuordnen. Nach der Frage, wie Ge‐ waltkriminalität entstehen konnte, sollte man sich verstärkt der Frage zuwenden, weshalb sie in dem einen oder anderen Staat zu solch großer Be‐ deutung gelangt ist. Zudem müssen größere zeitli‐ che Längsschnitte durch das 20. Jahrhundert ge‐ zogen werden, um die Besonderheiten der 1970er-Jahre herauspräparieren zu können. Das Verhältnis des Staats zu Wirtschaft und Gesell‐ schaft wäre eine zentrale Achse, an der sich die zeithistorische Forschung orientieren könnte. Die Auseinandersetzung mit der RAF ist also noch im‐ mer nicht beendet; für die Geschichtswissenschaft beginnt sie eigentlich erst jetzt.

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Citation: Stephan Scheiper. Review of Brunn, Hellmut O.; Kirn, Thomas. Rechtsanwälte - Linksanwälte: 1971 bis 1981 - Das Rote Jahrzehnt vor Gericht. ; Ensslin, Gudrun; hrsg. von Christiane und Gottfried Ensslin. "Zieht den Trennungsstrich, jede Minute": Briefe an ihre Schwester Christiane und ihren Bruder Gottfried aus dem Gefängnis 1972-1973. ; Kraushaar, Wolfgang; Wieland, Karin; Reemtsma, Jan Philipp. Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF. ; Peters, Butz. Tödlicher Irrtum: Die Geschichte der RAF in Deutschland. ; Pfieger, Klaus. Die Rote Armee Fraktion - RAF: 14.5.1970 bis 20.4.1998. ; Proll, Astrid. Hans und Grete: Bilder der RAF 1967-1977. ; Straßner, Alexander. Die dritte Generation der "Roten Armee Fraktion": Entstehung, Struktur, Funktionslogik und Zerfall einer terroristischen Organisation. H-Soz-u-Kult, H-Net Reviews. June, 2005.

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