Serie (V): Die zweite Generation Terrorzelle Stammheim Die Gründer der RAF entfalteten im Gefängnis größere Wirkung als in Freiheit. Gleichzeitig formierte sich im Untergrund, nach mehreren Rückschlägen, eine neue Truppe. Ihr Ziel war die Befreiung der inhaftierten Führung. Von Michael Sontheimer enn Marieluise Becker im Jahr 1973 ihren Mandanten Andreas W Baader im Gefängnis Schwalm- stadt besuchte, wurden zunächst ihre Ta- sche und ihre Unterlagen gründlich durch- sucht. Dann musste sie sich bis auf die Unterhose und den BH ausziehen. Schließ- lich schaute eine Wachtmeisterin der Hei- delberger Anwältin vorn und hinten in den Slip. „Nach einer derart erniedrigenden Behandlung“, sagt Becker, „kam einem das Wort vom ,faschistischen Staat‘ leicht über die Lippen.“ So wie die Anwältin sahen es damals manche Linksradikale, nicht lange nach- dem die Gründer der RAF im Sommer 1972 fast ohne Ausnahme verhaftet worden waren. „Das Problem Baader-Meinhof ist erledigt“, hatte Walter Scheel festgestellt. Der liberale Vizekanzler hielt die Terror- gruppe nur für einen kurzen Irrweg der bundesdeutschen Erfolgsgeschichte, für eine düstere Episode, die nun zum Glück abgehakt war. Es sollte anders kommen. Die harten Haftbedingungen der RAF-Mitglieder lie- ferten den Sympathisanten der Terror- gruppe einen willkommenen Anlass, die Nachfolge der RAF-Gründer anzutreten und den fanatischen Feldzug gegen den demokratischen Staat fortzusetzen. Die meisten RAF-Untersuchungshäftlin- ge wurden konsequent innerhalb der Ge- fängnisse isoliert. Sie durften nicht an Ge- meinschaftsveranstaltungen teilnehmen, durften ihre Zelle nur gefesselt verlassen und waren beim Hofgang allein. Kamen Verwandte oder Freunde zu Besuch, saßen BKA-Beamte dabei. Hinterher wurden ge- wöhnlich die Gefangenen und ihre Zellen durchsucht. Besonders weit ging die Anstaltsleitung in Köln-Ossendorf. Zunächst wurde Astrid Proll in einem „toten Trakt“ unterge- bracht. Sie saß allein in einem leerge- räumten Gefängnisflügel. „Ich dachte zunächst, sie übertreibt das mit den Haftbedingungen und deren Auswirkungen“, erinnert sich Ulrich K. Preuß, damals ihr Anwalt, heute Pro- fessor an der Berliner Hertie School of Governance. „Doch sie war oft völlig BUNDESARCHIV FOTOS: Inhaftierte Ensslin bei Gegenüberstellung (1972) „Totaler moralischer Anspruch“ 98 der spiegel 41/2007 desorientiert.“ Preuß begann, über „sen- später in den Untergrund gingen und dafür in Rotterdam auf drei weitere Genossen. sorische Deprivation“, Reizentzug, zu for- sorgten, dass die RAF 23 Jahre lang Die Wiederaufbaugruppe hatte nur ein schen. Er war bald überzeugt, dass man schießen und bomben würde, kamen aus Ziel: die RAF-Gründer zu befreien, allen diese durchaus als „Folter“ bezeichnen diesen Gruppen. voran Baader, Ensslin und Meinhof. Ohne kann. In einer entscheidenden Position waren diese, davon waren sie überzeugt, ohne Nach Proll kam Ulrike Meinhof in die- die Anwälte der RAF-Gefangenen. Da sie deren politische und handwerkliche Er- selbe Zelle. Tag und Nacht brannte Neon- ihre Mandanten ausgiebig besuchen konn- fahrung ließe sich eine schlagkräftige Stadt- licht. Sie verbrachte insgesamt acht Mo- ten, waren sie die wichtigsten Verbin- guerilla nicht aufbauen. nate in dieser verschärften Variante der dungsleute zur Außenwelt, insbesondere Für die Befreiungsaktion wurde eine alte Einzelhaft. „Als Folter äußersten, viehi- zu den „Illegalen“, den Kadern im Unter- Allianz wiederbelebt: mit der palästinensi- schen Grades, dem der menschliche Or- grund. Gleichzeitig sorgten die Anwälte schen Fatah, dem bewaffneten Arm der ganismus nicht gewachsen ist“, beschrieb mit einem „Info“ für die Kommunikation PLO Jassir Arafats. In einem Fatah-Lager in sie den „akustisch abgeschafften Tag- der isolierten Gefangenen untereinander. Jordanien hatten schon die RAF-Gründer Gegenüberstellungen der inhaftierten RAF-Mitglieder Meinhof und Meins (1972): Konsequent im Gefängnis isoliert Nacht-Unterschied“. Meinhof überkamen Die zumeist jungen Anwälte standen un- schießen gelernt. Jetzt sollten zwei Palästi- „Auschwitz-Phantasien“. ter hohem Druck. Auf der einen Seite de- nenser und zwei RAF-Leute in Amsterdam Die Linken wühlte das auf. Solange die nunzierten konservative Politiker und die an Bord eines israelisches Flugzeugs gehen RAF-Mitglieder Banken überfielen, BMW Springer-Presse sie pauschal als „Terroris- und es entführen. Das Kommando wartete und Porsche fuhren, Menschen umbrach- tenanwälte“; sie wurden standesrechtlich nur noch auf das Startzeichen von Abu ten und damit Rechten wie dem CSU-Vor- belangt und mit Strafverfahren überzogen. Hassan, einem Vertrauten von Jassir Ara- sitzenden Franz Josef Strauß in die Hände Auf der anderen Seite versuchten die RAF- fat. Doch der zögerte die Aktion hinaus. spielten, hatte die Szene kaum Sympathien Gefangenen, sie – teilweise erfolgreich – Warum er sie hingehalten hatte, verstanden für die RAF. Sie wurde als arrogante, für ihre Propaganda einzuspannen oder die RAF-Illegalen erst Anfang Oktober militaristische Truppe abgelehnt. für das Schmuggeln von Kassibern zu ge- 1973 – als am Jom-Kippur-Tag ägyptische Jetzt im Knast erschienen die RAF-Mit- winnen. „Gudrun Ensslin“, sagt Ulrich K. und syrische Truppen Israel angriffen. glieder als Opfer des Staates und seiner Preuß, „machte einem mit ihrem totalen Die Wiederaufbaugruppe nahm in Frank- Justiz, des trotz aller Kritik an der Terror- moralischen Anspruch schon dafür ein furt mit jenem Mann Kontakt auf, der die taktik gemeinsamen Gegners. Auch die schlechtes Gewissen, dass man überhaupt Bombenhülsen für die Anschläge im Mai RAF-Führung erkannte sofort die Chance, noch in Freiheit war.“ 1972 geschweißt hatte. Auch andere Unter- die Haftbedingungen propagandistisch zu Preuß und auch Otto Schily hielten stets stützer der ersten Generation wurden ange- verwerten und mit Schlagworten wie „Iso- Distanz zu ihren Mandanten, doch Kurt sprochen. Aus einem Depot holte die Grup- lationsfolter“ oder „Vernichtungshaft“ ihr Groenewold, Klaus Croissant und andere pe ein paar Pistolen und Blankodokumen- Zerrbild vom „Neuen Faschismus“ in der übernahmen mehr und mehr deren fun- te, die Ulrike Meinhof gestohlen hatte. Bundesrepublik zu belegen. damentalistisches Weltbild. Baader bombardierte die Anfänger Gruppen wie die „Rote Hilfe“ nahmen Die Psychologiestudentin Margrit Schil- förmlich mit Kassibern, wie sie vorzugehen sich der „politischen Gefangenen“ an. Mit ler war im Oktober 1971 verhaftet und we- hätten. „Die gefangenen rausholen“, Hilfe von Anwälten entstanden in 23 Städ- gen Mitgliedschaft in einer kriminellen schrieb er, „solang ihr so schwach seid, alle ten „Komitees gegen die Folter von politi- Vereinigung verurteilt worden. Vier Mo- kräfte auf diesen job konzentrieren.“ Dafür schen Gefangenen“, die mehrere hundert nate nach ihrer Entlassung im Februar 1973 schlug er eine Geiselnahme vor: „bundes- jüngere Linksradikale anzogen. Alle, die ging sie wieder in den Untergrund und traf tagsabgeordnete – wo sie sich außerhalb bonns in ihren kreisen treffen – aber die richtige fraktion innerhalb der spd.“ Besser Baader: „Die gefangenen rausholen, alle noch: „spitze: biedenkopf, genscher, kräfte auf diesen job konzentrieren.“ maihofer.“ Baader forderte auch zwei der spiegel 41/2007 99 RAF-Serie (V): Die zweite Generation „Es werden typen dabei kaputtgehen“, hatte Baader vor Beginn des Hungerstreiks angekündigt. Er stellte allerdings sicher, dass er nicht dazugehören würde, und ließ sich gelegentlich von einem Verteidiger ein Brathähnchen mitbringen. Gleichzeitig übermittelten Anwälte Baader das Gewicht der Hungernden, und er setzte diejenigen unter Druck, deren Gewichtskurve ihm zu langsam sank. Die Länderjustizminister und Bundes- justizminister Hans-Jochen Vogel reagier- ten auf den Streik mit Zwangsernährung. Die Gefangenen wurden festgeschnallt, man stieß ihnen einen Schlauch in den Magen und verabreichte ihnen Flüssig- nahrung. Manche Gefangene wehrten sich heftig gegen diese Tortur. Der CSU-Poli- tiker Richard Stücklen fragte, „ob es dem Steuerzahler zugemutet werden kann, dass der Staat für die künstliche Ernährung selbstverschuldet leidender Staatsfeinde riesige Summen ausgibt“. DPA Als der Hungerstreik in die siebte Woche Angeklagter Mahler (M.), Verteidiger Ströbele, Schily (1972): „Nur ein bürgerliches Wrack“ ging, besetzten in Hamburg 32 Aktivisten von „Anti-Folter-Komitees“ aus der ganzen Handgranaten an, um den Anwalt Josef Charisma gehabt und konnte „exzellent Republik die Zentrale von Amnesty Inter- Augstein, den Bruder des SPIEGEL-Her- militärische und politische Kräfteverhält- national, um gegen die „Vernichtungshaft“ ausgebers, als Geisel zu nehmen und so nisse analysieren“. zu protestieren. Bei der Räumung unterließ auszubrechen. Zudem regte er Anschläge Als seine Gefährtin Ensslin neue Deck- es die Polizei, die Personalien aller Besetzer auf den Bundesgerichtshof und Justizmi- namen verteilte und sich dabei zum Teil festzustellen. So wurde erst viel später klar, nisterien der Länder an, „die gebäude, in der Figuren aus Herman Melvilles „Moby dass rund die Hälfte sich später der RAF denen sie sitzen – natürlich am tag“. Dick“ bediente, bekam Baader den Deck- anschloss. namen „ahab“, nach dem besessenen Ka- Einen Tag nach der Amnesty-Besetzung och die Gruppe, deren Mitglieder pitän des Walfängers, der den weißen Wal schrieb Holger Meins einen Brief, der ex- sich kaum kannten und wenig ver- durch die Weltmeere jagt und schließlich emplarisch den brachialen Fundamenta- Dtrauten, rieb sich in Diskussionen auf im Kampf gegen ihn
Details
-
File Typepdf
-
Upload Time-
-
Content LanguagesEnglish
-
Upload UserAnonymous/Not logged-in
-
File Pages6 Page
-
File Size-