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SWR2 Musikstunde

Antiker Schmerz, griechische Thränen Christoph Willibald Gluck, ein Europäer der Oper Tartarus und Elysium - Gluck in Wien (2)

Von Karl Böhmer

Sendung: Dienstag, 01.07.2014 9.05 – 10.00 Uhr Redaktion: Bettina Winkler

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Musikstunde 01.07.2014 Antiker Schmerz, griechische Thränen Christoph Willibald Gluck, ein Europäer der Oper (2) Tartarus und Elysium - Gluck in Wien Mit Karl Böhmer

Ansage: …mit Karl Böhmer. „Antiker Schmerz, griechische Thränen“ – Christoph Willibald Gluck, ein Europäer der Oper. Teil II: „Gluck in Wien“

Im Wien der Theresianischen Zeit ist der 4. Oktober nicht nur der Festtag des Heiligen Franz von Assisi. Es ist der Namenstag des Kaisers. Seit 1745 herrscht Kaiser Franz I. über das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Seine Gemahlin Maria Theresia schenkt ihm zum Namenstag für gewöhnlich eine Oper. Der Namenstag des Jahres 1762 hält für den Kaiser eine besondere Überraschung bereit: Der Kastrat Guadagni singt Arien aus einer neuen Oper von Gluck, die am nächsten Tag uraufgeführt werden soll: . Seit Monaten spricht man schon davon. Bereits im Sommer hatte Gluck beim Grafen Zinzendorf die Furien aus seiner neuen Oper nachgeahmt, auch der Herzog von Braganza wurde schon mit Kostproben bedacht. Nun ist es am Kaiser, der Premiere den angemessenen Glanz zu verleihen: Am 5. Oktober 1762 erleben die Wiener die Uraufführung von Orfeo ed Euridice – ein Welterfolg der Oper wird geboren. Die Ouvertüre beginnt noch ganz wie eine kaiserliche Festmusik mit Pauken und Trompeten. Dann aber mischen sich düstere Vorahnungen ins gleißend helle Klangbild. Es spielt das Freiburger Barockorchester unter René Jacobs:

Gluck: Overtura (aus Orfeo ed Euridice), CD I, Track 1 (2’47) Freiburger Barockorchester, René Jacobs Harmonia mundi HMC 901742.43, LC 7045

Nach der Ouvertüre des Orfeo erwartet die Wiener der totale Bruch mit der Festtagsstimmung: düsteres c-Moll, Posaunenklänge, Chorgesang wie in einem Requiem. Die Hirten trauern um Eurydike, mitten hinein tönen die Klagerufe des Orpheus. Nach dem Willen Glucks soll der Sänger hier nicht mehr singen, er soll schreien. Dem Kastraten Guadagni muss er dies nicht zweimal sagen: Der Altist hatte bei John Garrick in London die Schauspielkunst studiert, das Ideal eines neuen Ausdruckstheaters, inspiriert von den Stücken Shakespeares. Nun kann er diese Darstellungsweise in experimentelles Musiktheater umwandeln. 3

Wir hören den englischen Countertenor Michael Chance in einer Aufnahme aus Ludwigsburg von 1991. Der Stuttgarter Kammerchor und das Tafelmusik Baroque Orchestra werden von Frieder Bernius geleitet:

Gluck: Ah, se intorno a quest’urna funesta (aus Orfeo ed Euridice), CD I, Track 2 (3’17) Michael Chance Stuttgarter Kammerchor, Tafelmusik Baroque Orchestra Frieder Bernius 06868 Sony Classical SX 2 K 48040

Die Wiener sind tief beeindruckt von diesem schlichten, ergreifenden Gesang, vom Auftritt eines Kastraten ohne Koloraturenglanz, vom Ernst des Chores. Graf Zinzendorf schreibt nach der Premiere in sein Tagebuch: „Die Musik von Gluck ist göttlich: ganz pathetisch und völlig dem Stoff angemessen.“ Noch Jahre später werden die Wiener dem englischen Musikreisenden Charles Burney erzählen, was sie an Glucks Orfeo bei der Uraufführung so tief beeindruckt hat: die Einheit des Stils und die Einfachheit. Freilich: Nicht alle Szenen dieser Oper sind so pathetisch wie der Anfang. Nach der großen Klage betritt der Liebesgott Amor die Bühne. Gluck hat ihm eine kleine, süße Ariette in den Mund gelegt, ganz im Wiener Stil geschrieben. Man hört erst eine zarte Siciliana, dann eine rasche Forlana, zwei Tänze im Wechsel wie in Figaros Arie „Se vuol ballare“. Und ganz so wie später bei Mozart wird der Gesang in simple Harmonien gekleidet, umhüllt vom Serenadenklang der Bläser und von gezupften Streichersaiten. In der Aufnahme unter René Jacobs singt die Sopranistin Veronica Cangemi den Amor:

Gluck: Gli sguardi trattieni (aus Orfeo ed Euridice), CD I, Track 8 (2’55) Veronica Cangemi Freiburger Barockorchester René Jacobs Harmonia mundi HMC 901742.43, LC 7045

Mit dieser Arie des Amor aus Orfeo ed Euridice wird im Wien des Jahres 1762 ein neuer Klang geboren: das Wienerische in der Musik, jene tänzerisch beschwingte Sinnlichkeit, wie sie Mozart und Haydn später übernehmen werden. Mit Arien wie diesen bezaubert Gluck den Wiener Hof zuerst. Keineswegs hat ihn Maria Theresia dafür angestellt, hemmungslos in den dunklen Farben des Tartarus zu schwelgen. Die Kaiserin liebt eine „musique agréable“, eine „annehmliche Musik“, wie man damals zu sagen pflegt. 4

Inbegriff dieses galanten Stils ist Johann Adolph Hasse, ihr Gesangslehrer, der Rivale von Gluck. Als die beiden alten Männer nach 1770 in Wien residieren, wird sie Charles Burney aufsuchen und Glucks Musik mit einem Schlagwort charakterisieren: er sei der „Michelangelo der Musik“. Für Glucks frühe Wiener Jahre hinkt dieser Vergleich. Damals benutzt er den wilden Pinselstrich des Michelangelo nur selten, eher die Pastellfarben des Rokoko. Tartarus und Elysium, Beides will man von ihm hören – alles zu seiner Zeit.

Gluck: Che puro ciel (aus: Orfeo ed Euridice), Track 16 (ausblenden bei 2’30) Iestyn Davies, Arcangelo, Jonathan Cohen Hyperion CDA67924, LC 7533

Der Countertenor Iestyn Davies war das mit einer der berühmtesten Nummern aus Orfeo ed Euridice, der Arie „Che puro ciel“. Orpheus ist im Elysium angekommen und atmet die reine Luft der Seligen Geister. Den russischen Dichter Turgenjew inspirierte diese Szene in einem seiner Gedichte zu folgenden schönen Versen: „So mögen in Elysium, dem Lande der Seligen, anmutige Schatten leidlos und freudlos zu den feierlichen Melodien Glucks langsam dahin schreiten.“ Die feierliche Melodie dieser Arie ist Gluck nicht erst für den Wiener Orfeo eingefallen, sondern schon zwölf Jahre früher in Prag, als er dort seinen komponiert hat. Damals hatte er noch nicht an die anmutigen Schatten des Elysiums gedacht, sondern an einen sanft rauschenden Bach. Für den Orfeo erweitert Gluck die Instrumentierung um ätherische Ornamente für Flöte und Cello. So erst gelingt ihm der überirdisch schöne Klang für das Reich der Seligen. Er kann sich dabei ganz auf die überragende Qualität der Wiener Orchestermusiker verlassen. Johann Kaspar Riesbeck hat dazu 1783 in seinen Briefen eines reisenden Franzosen deutliche Worte gefunden: „Was die Orchestermusiken zu Wien betrifft, so kann man schwerlich etwas Schöneres in der Welt hören. Ich habe schon gegen 30 bis 40 Instrumente zusammen spielen gehört, und alle geben einen so richtigen, reinen und bestimmten Ton, dass man glauben sollte, ein einziges übernatürlich starkes Instrument zu hören ... Es sind gegen 400 Musikanten hier, die oft viele Jahre ungetrennt zusammen arbeiten. Sie sind einander gewohnt, und haben gemeiniglich eine strenge Direktion.“ Charles Burney, der schon erwähnte englische Musikkenner, meint von Gluck er sei ein „strenger Zuchtmeister des Orchesters“. In Mailand hatte Gluck Gelegenheit, den berühmten Sammartini als Orchesterleiter zu erleben. Später ist er selbst für die Klangqualität diverser Opernorchester verantwortlich. In Wien aber ist der höchste Standard selbstverständlich, hier kann er hemmungslos im brillanten Klang der Instrumente schwelgen. Die folgende 5

Sinfonia und der Marsch aus Glucks Ballett Alessandro werden zwei Jahre nach Orfeo uraufgeführt, ebenfalls zum Namenstag des Kaisers. Es spielt die Musica Antiqua Köln unter der Leitung von Reinhard Goebel:

Gluck: Sinfonia und Marche (aus: Alessandro), Track 16 (0’48) und 17 (2’42) Musica Antiqua Köln, Reinhard Goebel

Ein brillantes Orchesterstück wie dieses kann man im theresianischen Wien nicht nur am Kaiserhof hören, sondern auch in den Palais der Hochadligen, die sich alle ihre eigenen Kapellen leisten. Auf diese Weise erhält auch Gluck seine erste Festanstellung in Wien: beim Feldmarschall Friedrich Wilhelm von Sachsen-Hildburghausen. Der Militär ist ein Musikliebhaber, wie so viele. Die berühmte Arie „Se mai senti“ aus der Clemenza di Tito gefällt ihm so sehr, dass er 1753 Gluck als Kapellmeister verpflichtet. Damals konnte eine einzige Arie über eine ganze Karriere entscheiden. Bereits drei Jahre früher hat Gluck eine Wienerin geheiratet. Er ist 36, seine Braut nur halb so alt, Maria Anna Pergin, die Tochter eines Kaufmanns aus dem französischen Savoyen. Von Beginn an ist diese Verbindung auf eine solide finanzielle Grundlage gestellt: Beide Teile bringen ein stattliches Vermögen in die Ehe ein. Gluck wird im Ehevertrag nicht nur als „famoser Music- Compositore“ gerühmt, sondern auch als „guter Oeconomus“. Von seiner Geschäftstüchtigkeit können die Impresarii in Italien ein Lied singen. Seine Ehefrau Marianna wird ihm mehr sein als nur eine solide Wirtschafterin. Die Beiden leben glücklich und vergnügt zusammen. Auf einem Gemälde im Wien- Museum kann man sie noch heute bewundern, wie sie bei Champagner das Leben genießen – keine Schönheiten, aber zwei joviale Wiener von feuriger Gemütsart.

Gluck: Menuetto (aus Alessandro), Track 21 (2’33) Musica Antiqua Köln, Leitung: Reinhard Goebel Archiv Produktion 445 824-2, LC 0113

Das Menuett aus dem Ballett Alessandro, gespielt von Musica Antiqua Köln. Von der Lebenslust des Ehepaars Gluck legen diese Klänge beredtes Zeugnis ab. In vielerlei Hinsicht unterscheiden sich die Beiden von einem anderen Wiener Ehepaar, mit dem sie später Bekanntschaft schließen werden: von den Mozarts. Die Art, wie Mozarts Ehe mit Constanze zustande gekommen ist, kann den Ruch des Unsoliden nie ganz abschütteln, und finanziell kann Mozart dem berühmten Gluck nicht das Wasser reichen: Als Mozart nach Glucks Tod 1787 dessen Posten als Hofkomponist erbt, gesteht man ihm kaum die Hälfte des Gehalts zu. 6

Doch zurück ins Jahr 1754, zur Geschichte von Glucks Anstellung am Kaiserhof. Diese Geschichte trägt einen exotischen Namen: , „Die Chinesinnen“. So heißt ein Einakter, in dem Gluck und sein Librettist Metastasio der Chinamode des Rokoko huldigen, der Chinoiserie. Vom Reich der Mitte haben die beiden freilich nur vage Vorstellungen. Die drei Chinesinnen in ihrer Oper singen natürlich Italienisch, und sie buhlen auf sehr europäische Art um die Gunst des einzigen Mannes auf der Bühne. Aus Langeweile kommen sie auf die Idee, theatralische Szenen zu spielen: eine tragische Szene, eine komische und eine pastorale. Mit der Pekingoper hat das rein gar nichts zu tun, und auch von chinesischen Musikinstrumenten, von Pipa und Erhu hat man in Wien keine Ahnung. Für die Ouvertüre benutzt Gluck deshalb türkisches Schlagwerk. Das gleiche Problem hat übrigens Friedrich der Große, als er sein chinesisches Teehaus im Park von Sanssouci mit Musikantenfiguren dekorieren möchte. Kaum einer dieser Musiker spielt am Ende wirklich ein chinesisches Instrument. Hier also Glucks chinesische Ouvertüre mit türkischem Schlagwerk, gespielt von der Schola Cantorum Basiliensis unter René Jacobs:

Gluck: Sinfonia, Allegro (aus Le Cinesi), Track 1 (bis 2’21) Schola Cantorum Basiliensis René Jacobs DHM GD 77174, LC 0761

Glucks kleine Oper „Die Chinesinnen“ wird im Rahmen eines höfischen Festes aufgeführt, wie man es sich prunkvoller kaum vorstellen kann. Glucks Dienstherr Hildburghausen möchte sein Landschloss bei Wien dem Kaiserpaar verkaufen und lädt die Beiden deshalb im September 1754 zu einem Herbstfest nach Schlosshof ein. Alles, was das Rokoko an verspielten Einfällen zu bieten hat, wird aufgeboten: ein Wasserturnier mit Gondolieri, die als Tiere verkleidet sind; Chorsänger, die auf den Ästen der Bäume sitzen; festliche Menüs und ein Ball. Glucks kleine Oper wird in einem Dekor aus böhmischen Kristallstäben inszeniert, ein Lichteffekt von atemberaubender Schönheit. Alle Details des Festes hat der Geiger und Komponist Dittersdorf in seinen Memoiren festgehalten. Die Kaiserin lacht, sie amüsiert sich und – sie kauft. Am Ende nimmt sie nicht nur das Schloss in Beschlag, sondern auch den Kapellmeister ihres Feldmarschalls, zunächst für eine Familienfeier in Schloss Laxenburg. Der kleine Erzherzog Leopold bekommt zu seinem achten Geburtstag das übliche Geschenk: eine Oper. Das kleine Spektakel, , hat einen großen Effekt: Gluck wird endlich in kaiserliche Dienste aufgenommen – und aus dem kleinen Geburtstagskind wird ein Gluck-Fan, lebenslang. Es ist der spätere Großherzog der Toskana und Kaiser Leopold II. 7

1755 wird Gluck offiziell am Kaiserhof angestellt und hat bald alle Hände voll zu tun. Er schreibt kleine Opern für die Kinder des Kaiserpaares und große für die Eltern, französische Opéras comiques für die frankophilen Kreise um den Kaiser und Ballette für die progressiven Vordenker eines neuen Tanzstils. Immer wieder entstehen auch Opern zu Kaisers Geburtstag. Zum 47. gratuliert man ihm mit der scheinbar harmlosen Festoper L’innocenza giustificata, „Die gerechtfertigte Unschuld“. In Wahrheit setzt der neue Hofopernintendant Graf Durazzo mit diesem Stück zum Sturm auf die Bastion Metastasio an. Um die Librettovorherrschaft des Römers zu brechen, propagiert er das neue Ideal einer antikisch-einfachen Handlung. Perfiderweise benutzt er dazu aber lauter Arientexte von Metastasio, die Gluck vertont hat. Manche dieser Arien stammen bereits aus dessen italienischen Frühwerken. Noch ist dies keine Reformoper, aber schon leuchtet unter der Oberfläche des galanten Stils eine neue Empfindsamkeit hervor. Die Sopranistin Verònica Cangemi singt eine Arie des Kastraten Tommaso Guarducci aus der Innocenza giustificata. Es begleitet die Cappella Coloniensis unter Christopher Moulds:

Gluck: Non è la mia speranza (aus: L’innocenza giustificata), CD II, Track 11 (bis 2’32) Verònica Cangemi, Cappella Coloniensis, Christopher Moulds DHM 82876 58796 2, LC 00761

In diesem Stil eines empfindsamen Rokoko hätte Gluck endlos weiter schreiben können, hätte sich fern von Wien nicht Bedeutsames ereignet: Auf den Schlachtfeldern des Siebenjährigen Krieges verbluten die jungen Offiziere der Kaiserin, schlecht geführt von unfähigen Generälen. Glucks früherer Dienstherr Hildburghausen muss nach der verheerenden Niederlage gegen Friedrich den Großen bei Rossbach seinen Marschallstab abgeben. Das Morden setzt dem Optimismus des Rokoko ein blutiges, brutales Ende. Eine neue Generation junger Fürsten strebt an die Macht. Sie wollen auf der Bühne mehr sehen als die immer gleichen Seria-Opern nach Libretti Metastasios. Die Handlungen sollen bewegt sein, natürlich, auch tragisch und düster, kommentiert von Chor und Ballett. Um 1760 beginnt dieses Ideal zu gären: zuerst im italienischen Parma und in Stuttgart, dann auch am Mannheimer Musenhof Kurfürst Carl Theodors. Gluck ist also nicht der Erfinder der Reform, sondern nur ihr Ideologe, zusammen mit seinem Librettisten Calzabigi. Und er wird der Epochemacher, der Verdichter des europaweiten Trends. Während die Reformopern eines Traetta oder Jommelli heute fast vergessen sind, ist der Orfeo zum Klassiker des Repertoires geworden. 8

Mit der gehen die Reformer 1767 noch einen Schritt weiter. Gluck und Calzabigi muten dem Publikum das Äußerste an Leid und Tränen zu, was es gerade noch ertragen kann. Hier ein Ausschnitt: König ist gerade von einer tödlichen Krankheit genesen, doch aus überschwänglicher Freude stürzt er erneut in tiefstes Leid. Um seinen Tod zu verhindern, hat seine Frau Alceste den Göttern der Unterwelt ihr eigenes Leben im Tausch angeboten. Admeto will diesen Tausch nicht hinnehmen. „No, crudel, non posso vivere“. „Nein, Grausame, ich kann nicht leben ohne dich“. Der Kontrast zur gerade gehörten Arie könnte nicht größer sein: Statt eines Soprans singt hier ein , statt eines unglücklichen Liebhabers ein verzweifelter Ehemann und Vater. Statt einer prunkvollen Seria-Arie hören wir schlichten liedhaften Gesang, aufgeladen mit Affekt. Für die Hauptrollen wählt Gluck keine Sängerstars, sondern Buffa-Sänger, die er in seinen Ausdrucksvorstellungen genauestens unterrichtet. Daran hat sich auch der schwedische Dirigent Arnold Östman in seiner Aufnahme aus dem Schlosstheater Drottningholm orientiert. Der Tenor Justin Lavender mit einer Arie des Admeto aus Alceste:

Gluck: Nò, non posso vivere (aus Alceste), CD II, Track 19 (2’24) Justin Lavender, Drottningholm Theatre Orchestra, Arnold Östman Naxos 8.660066-68, LC 05537

Während Kaiserin Maria Theresia dieser Arie lauscht, wird sie vielleicht an ihren eigenen Gemahl gedacht haben: Kaiser Franz war im August 1765 völlig überraschend in Innsbruck gestorben, übrigens nach einem Ballettabend mit Gluckscher Musik. Nun regiert ihr Sohn, Kaiser Joseph II., der ein neues aufklärerisches Regiment in Wien eingeführt hat. Dazu passt die radikale Aufklärungsoper Alceste. Am zweiten Weihnachtstag 1767 kommt es endlich zur lange erwarteten Premiere. Die Reaktionen sind gespalten. Die Höflinge finden das Spektakel „über die Maßen pathétique und lugubre“, viel zu pathetisch und zu düster. Die Aufklärer aber jubeln, allen voran der progressive Theatermann Joseph von Sonnenfels: „Ich befinde mich in dem Lande der Wunderwerke. Ein ernsthaftes Singspiel ohne Kastraten, eine Musik ohne Gurgeley, ein wälsches Gedicht ohne Schwulst und Flitterwitz – mit diesem dreifachen Wunderwerk ist die Schaubühne nächst der Burg wieder eröffnet worden.“

Trotz solcher Lobeshymnen bleiben die ersten Aufführungen der Alceste in Wien umstritten. Andernorts gilt sie lange als Unding. In Mannheim wagt man es nur, den ersten Akt aufzuführen, mehr kann selbst der tolerante Kurfürst Carl Theodor nicht ertragen. Bei der Wiederaufnahme in Wien bearbeitet Gluck 9 den Tenorpart des Admeto für den Starkastraten Millico, um das sperrige Stück der seria wieder ein wenig anzunähern.

Für den Sopranisten Giuseppe Millico komponiert er auch seine letzte Wiener Reformoper, . Den Erfolg des Orfeo kann er mit diesem Stück ebenso wenig wiederholen wie mit der Alceste. Dabei singt der junge Prinz Paris zur Begleitung der Lyra ebenso hinreißend schön wie Orpheus. Der Trojaner möchte nämlich die schönste Frau der Welt, die Spartanerin Helena, mit seinem Gesang erobern. Sie bleibt zunächst so ablehnend wie die Furien – und gibt am Ende doch nach:

Gluck: Quegli occhi belli (aus: Paride ed Elena), CD I, Track 29 (bis 2’30) Magdalena Kozena Gabrieli Players Paul McCreesh, Leitung Archiv Produktion 00289 477 5415, LC 0113

Madgalena Kozena mit der Arie des Paris „Quegli occhi belli“ aus Paride ed Elena. In dieser Oper wagt Gluck noch ein weiteres Experiment. In den Balletten stellt er die krude Musik der kriegerischen Spartaner den sinnlichen Tänzen der weichen Trojaner gegenüber:

Gluck: Zwei Balli (aus: Paride ed Elena), CD I, Track 11 und 12 (0’43 und 1’13) Gabrieli Players Paul McCreesh, Leitung Archiv Produktion 00289 477 5415, LC 0113

Die Gabrieli Players unter Paul MacCreesh spielten zwei Tänze aus Paride ed Elena. Dass Gluck mit dieser dritten Wiener Reformoper kein Erfolg beschieden ist, hängt nicht mit der Musik zusammen, sondern mit dem Wandel des Publikumsgeschmacks. Um 1770 wenden sich die Wiener vom strengen Antikenideal ab und der Opera buffa zu. Sie gewinnt immer mehr an Boden, gefördert von Kaiser Joseph II. Gluck fühlt sich missverstanden und kehrt dem Burgtheater den Rücken zu. Stattdessen richtet er sein Augenmerk nun auf Paris, wohin im Frühjahr 1770 die jüngste Tochter Maria Theresias aufbricht. Aus Erzherzogin Maria Antonia wird Marie-Antoinette, die Gemahlin des französischen Thronfolgers. Mit ihr beginnt das nächste Kapitel in der Lebensgeschichte des Christoph Willibald Gluck: die Jahre in Paris, denen wir uns morgen zuwenden. Hören wir noch einen weiteren Ausschnitt aus Paride ed Elena, deren Uraufführung Marie-Antoinette in Wien nicht mehr hören konnte. Zu Beginn des ersten Aktes preisen die Trojaner die Macht der 10

Liebesgöttin Venus. Wieder hat Gluck dafür den Wiener Klang benutzt, wie wir ihn schon von seinem Amor aus dem Orfeo kennen: Pizzicato der Streicher, Tanzrhythmus, eine weich schwingende Melodie und Bläseruntermalung. Unmittelbar danach aber folgt ein ernster antikischer Gesang in Moll. Es ist die berühmte g-Moll-Arie des Paris, „O del mio dolce ardor“. Die beiden Stücke zeigen zwei wesentliche Seiten des Wiener Gluck, auf engstem Raum vereint:

Gluck: Non sdegnare und O del mio dolce ardor (aus: Paride ed Elena), CD I, Track 2 (2’30) und 3 (3’10) Magdalena Kozena Gabrieli Players Paul McCreesh, Leitung Archiv Produktion 00289 477 5415, LC 0113

Mit dieser Szene aus der Oper Paride ed Elena verabschieden wir uns von Gluck in Wien. Morgen stehen die Pariser Jahre auf dem Programm. Sie hörten den zweiten Teil unserer Musikstundenreihe zum 300. Geburtstag von Christoph Willibald Gluck. Am Mikrophon war Karl Böhmer.