SWR2 Musikstunde

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SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Musikstunde Antiker Schmerz, griechische Thränen Christoph Willibald Gluck, ein Europäer der Oper Tartarus und Elysium - Gluck in Wien (2) Von Karl Böhmer Sendung: Dienstag, 01.07.2014 9.05 – 10.00 Uhr Redaktion: Bettina Winkler Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Musik sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für € 12,50 erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. 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Der Namenstag des Jahres 1762 hält für den Kaiser eine besondere Überraschung bereit: Der Kastrat Guadagni singt Arien aus einer neuen Oper von Gluck, die am nächsten Tag uraufgeführt werden soll: Orfeo ed Euridice. Seit Monaten spricht man schon davon. Bereits im Sommer hatte Gluck beim Grafen Zinzendorf die Furien aus seiner neuen Oper nachgeahmt, auch der Herzog von Braganza wurde schon mit Kostproben bedacht. Nun ist es am Kaiser, der Premiere den angemessenen Glanz zu verleihen: Am 5. Oktober 1762 erleben die Wiener die Uraufführung von Orfeo ed Euridice – ein Welterfolg der Oper wird geboren. Die Ouvertüre beginnt noch ganz wie eine kaiserliche Festmusik mit Pauken und Trompeten. Dann aber mischen sich düstere Vorahnungen ins gleißend helle Klangbild. Es spielt das Freiburger Barockorchester unter René Jacobs: Gluck: Overtura (aus Orfeo ed Euridice), CD I, Track 1 (2’47) Freiburger Barockorchester, René Jacobs Harmonia mundi HMC 901742.43, LC 7045 Nach der Ouvertüre des Orfeo erwartet die Wiener der totale Bruch mit der Festtagsstimmung: düsteres c-Moll, Posaunenklänge, Chorgesang wie in einem Requiem. Die Hirten trauern um Eurydike, mitten hinein tönen die Klagerufe des Orpheus. Nach dem Willen Glucks soll der Sänger hier nicht mehr singen, er soll schreien. Dem Kastraten Guadagni muss er dies nicht zweimal sagen: Der Altist hatte bei John Garrick in London die Schauspielkunst studiert, das Ideal eines neuen Ausdruckstheaters, inspiriert von den Stücken Shakespeares. Nun kann er diese Darstellungsweise in experimentelles Musiktheater umwandeln. 3 Wir hören den englischen Countertenor Michael Chance in einer Aufnahme aus Ludwigsburg von 1991. Der Stuttgarter Kammerchor und das Tafelmusik Baroque Orchestra werden von Frieder Bernius geleitet: Gluck: Ah, se intorno a quest’urna funesta (aus Orfeo ed Euridice), CD I, Track 2 (3’17) Michael Chance Stuttgarter Kammerchor, Tafelmusik Baroque Orchestra Frieder Bernius 06868 Sony Classical SX 2 K 48040 Die Wiener sind tief beeindruckt von diesem schlichten, ergreifenden Gesang, vom Auftritt eines Kastraten ohne Koloraturenglanz, vom Ernst des Chores. Graf Zinzendorf schreibt nach der Premiere in sein Tagebuch: „Die Musik von Gluck ist göttlich: ganz pathetisch und völlig dem Stoff angemessen.“ Noch Jahre später werden die Wiener dem englischen Musikreisenden Charles Burney erzählen, was sie an Glucks Orfeo bei der Uraufführung so tief beeindruckt hat: die Einheit des Stils und die Einfachheit. Freilich: Nicht alle Szenen dieser Oper sind so pathetisch wie der Anfang. Nach der großen Klage betritt der Liebesgott Amor die Bühne. Gluck hat ihm eine kleine, süße Ariette in den Mund gelegt, ganz im Wiener Stil geschrieben. Man hört erst eine zarte Siciliana, dann eine rasche Forlana, zwei Tänze im Wechsel wie in Figaros Arie „Se vuol ballare“. Und ganz so wie später bei Mozart wird der Gesang in simple Harmonien gekleidet, umhüllt vom Serenadenklang der Bläser und von gezupften Streichersaiten. In der Aufnahme unter René Jacobs singt die Sopranistin Veronica Cangemi den Amor: Gluck: Gli sguardi trattieni (aus Orfeo ed Euridice), CD I, Track 8 (2’55) Veronica Cangemi Freiburger Barockorchester René Jacobs Harmonia mundi HMC 901742.43, LC 7045 Mit dieser Arie des Amor aus Orfeo ed Euridice wird im Wien des Jahres 1762 ein neuer Klang geboren: das Wienerische in der Musik, jene tänzerisch beschwingte Sinnlichkeit, wie sie Mozart und Haydn später übernehmen werden. Mit Arien wie diesen bezaubert Gluck den Wiener Hof zuerst. Keineswegs hat ihn Maria Theresia dafür angestellt, hemmungslos in den dunklen Farben des Tartarus zu schwelgen. Die Kaiserin liebt eine „musique agréable“, eine „annehmliche Musik“, wie man damals zu sagen pflegt. 4 Inbegriff dieses galanten Stils ist Johann Adolph Hasse, ihr Gesangslehrer, der Rivale von Gluck. Als die beiden alten Männer nach 1770 in Wien residieren, wird sie Charles Burney aufsuchen und Glucks Musik mit einem Schlagwort charakterisieren: er sei der „Michelangelo der Musik“. Für Glucks frühe Wiener Jahre hinkt dieser Vergleich. Damals benutzt er den wilden Pinselstrich des Michelangelo nur selten, eher die Pastellfarben des Rokoko. Tartarus und Elysium, Beides will man von ihm hören – alles zu seiner Zeit. Gluck: Che puro ciel (aus: Orfeo ed Euridice), Track 16 (ausblenden bei 2’30) Iestyn Davies, Arcangelo, Jonathan Cohen Hyperion CDA67924, LC 7533 Der Countertenor Iestyn Davies war das mit einer der berühmtesten Nummern aus Orfeo ed Euridice, der Arie „Che puro ciel“. Orpheus ist im Elysium angekommen und atmet die reine Luft der Seligen Geister. Den russischen Dichter Turgenjew inspirierte diese Szene in einem seiner Gedichte zu folgenden schönen Versen: „So mögen in Elysium, dem Lande der Seligen, anmutige Schatten leidlos und freudlos zu den feierlichen Melodien Glucks langsam dahin schreiten.“ Die feierliche Melodie dieser Arie ist Gluck nicht erst für den Wiener Orfeo eingefallen, sondern schon zwölf Jahre früher in Prag, als er dort seinen Ezio komponiert hat. Damals hatte er noch nicht an die anmutigen Schatten des Elysiums gedacht, sondern an einen sanft rauschenden Bach. Für den Orfeo erweitert Gluck die Instrumentierung um ätherische Ornamente für Flöte und Cello. So erst gelingt ihm der überirdisch schöne Klang für das Reich der Seligen. Er kann sich dabei ganz auf die überragende Qualität der Wiener Orchestermusiker verlassen. Johann Kaspar Riesbeck hat dazu 1783 in seinen Briefen eines reisenden Franzosen deutliche Worte gefunden: „Was die Orchestermusiken zu Wien betrifft, so kann man schwerlich etwas Schöneres in der Welt hören. Ich habe schon gegen 30 bis 40 Instrumente zusammen spielen gehört, und alle geben einen so richtigen, reinen und bestimmten Ton, dass man glauben sollte, ein einziges übernatürlich starkes Instrument zu hören ... Es sind gegen 400 Musikanten hier, die oft viele Jahre ungetrennt zusammen arbeiten. Sie sind einander gewohnt, und haben gemeiniglich eine strenge Direktion.“ Charles Burney, der schon erwähnte englische Musikkenner, meint von Gluck er sei ein „strenger Zuchtmeister des Orchesters“. In Mailand hatte Gluck Gelegenheit, den berühmten Sammartini als Orchesterleiter zu erleben. Später ist er selbst für die Klangqualität diverser Opernorchester verantwortlich. In Wien aber ist der höchste Standard selbstverständlich, hier kann er hemmungslos im brillanten Klang der Instrumente schwelgen. Die folgende 5 Sinfonia und der Marsch aus Glucks Ballett Alessandro werden zwei Jahre nach Orfeo uraufgeführt, ebenfalls zum Namenstag des Kaisers. Es spielt die Musica Antiqua Köln unter der Leitung von Reinhard Goebel: Gluck: Sinfonia und Marche (aus: Alessandro), Track 16 (0’48) und 17 (2’42) Musica Antiqua Köln, Reinhard Goebel Ein brillantes Orchesterstück wie dieses kann man im theresianischen Wien nicht nur am Kaiserhof hören, sondern auch in den Palais der Hochadligen, die sich alle ihre eigenen Kapellen leisten. Auf diese Weise erhält auch Gluck seine erste Festanstellung in Wien: beim Feldmarschall Friedrich Wilhelm von Sachsen-Hildburghausen. Der Militär ist ein Musikliebhaber, wie so viele. Die berühmte Arie „Se mai senti“ aus der Clemenza di Tito gefällt ihm so sehr, dass er 1753 Gluck als Kapellmeister verpflichtet. Damals konnte eine einzige Arie über eine ganze Karriere entscheiden. Bereits drei Jahre früher hat Gluck eine Wienerin geheiratet. Er ist 36, seine Braut nur halb so alt, Maria Anna Pergin, die Tochter eines Kaufmanns aus dem französischen Savoyen. Von Beginn an ist diese Verbindung auf eine solide finanzielle Grundlage gestellt: Beide Teile bringen ein stattliches Vermögen in die Ehe ein. Gluck wird im Ehevertrag nicht nur als „famoser Music- Compositore“ gerühmt, sondern auch als „guter Oeconomus“. Von seiner Geschäftstüchtigkeit können die Impresarii in Italien ein Lied singen. Seine Ehefrau Marianna wird ihm mehr sein

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