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Das Reich Sanftender Die Hippies wollten vögeln, die Punks zerstören, die Raver tanzen, was wollen die Visual Keis? In einer Welt leben, die es nur im Comic gibt. Wie kommt man da rein? Verkleiden, bi werden und Japanisch lernen.

VON MARC FISCHER FOTOS: SAMUEL ZUDER

82 SPIEGEL SPECIAL 1 | 2009 -Girls auf einer Brücke in Berlin Der tut nichts, der hat eine Rose auf der Brust

84 SPIEGEL SPECIAL 1 | 2009 Sweet Lolita? Nurse Lolita? Wer weiß das schon

SPIEGEL SPECIAL 1 | 2009 85 Es gibt keine zärtlichere Jugendkultur enn es stimmt, Touristen, die am Dom vorbeikommen, dass im Para- denken, sie seien in einen Märchenwald dies viele Frau- gestolpert. So ganz falsch ist das nicht. In en auf einen Märchen gibt es fremde Wesen und Zei- Mann kommen, chen. In Märchen sind die Gesetze der dannW ist A-chan jetzt schon da: 60, 70, 80 realen Welt aufgehoben. In der Jugend- Lolitas tanzen in kurzem Rock auf einer kultur der Visual Keis ist es manchmal grünen Wiese um ihn herum, minder- genauso. jährig die meisten, in allen möglichen Es war so um die Jahrtausendwende, Farben und Formen. Es gibt Sweet Loli- als die Bewegung nach Deutschland tas (mit viel Pink), Gothic Lolitas (mit kam, zu A-chan und den anderen. Ent- viel Schminke), Punk Lolitas (mit viel standen war sie im Japan der achtziger Leder), Victorian Lolitas (mit viel Rü- Jahre. Aus Protest gegen die Konfor- schen). Auch ein paar Sweet Gothic mität der Leistungsgesellschaft gründe- Punk Victorian Lolitas (mit viel von al- ten sich dort Rockbands wie X-Japan, lem) sind unter den Anwesenden. Sie Buck-Tick und , die sich vor alle mögen A-chan sehr. Ihm trauen sie. allem über ihr Äußeres definierten: Die Ihm laufen sie nicht weg, im Gegenteil. Mitglieder schminkten und kleideten Es liegt daran, dass A-chan ein beson- sich wie Frauen, in der Tradition von derer Mann ist. Er hat nichts von der westlichen Musikern wie Kiss, Alice Grobschlächtigkeit, dem Rohen, Bedroh- Cooper oder David Bowies „Ziggy Star- lichen, das viele der Lolitas von anderen dust“. Ihre Waffen, neben Haarspray, Männern kennen. A-chan ist ein weiche- Totenköpfen, Piercings: Rouge, Puder, rer Typ Mann. Ein Visual-Kei-Mann. Mascara, Kajal, Eyeliner, Lidschatten. Es ist ein Samstagnachmittag in Ber- Und farbige Kontaktlinsen, um ein biss- lin-Mitte, Top-Wetter, Sonne, 26 Grad. chen auf Raubkatze zu machen. Der Stil A-chan liegt auf der Wiese vor dem wurde bekannt als „Vijuaru Kei“, opti- Berliner Dom. Er trägt eine dunkle Son- scher Stil. Der Look war die Message. nenbrille, eine ’n’Roll-Blazer, Er sagte: Schaut mich an. Ich bin anders schmale schwarze Jeans, weiße Schu- als ihr. Ganz anders. Die Fans nahmen he. Er hat Gelenkringe an den Fingern, ihn auf, mixten ein paar Manga- und die immer ein wenig klackern, und ein -Comic-Details dazu und trugen Visual-Kei-Mann paar Kruzifixe um den Hals. Seine ihn in die Straßen, um die langweiligen A-chan vor schwarzgefärbten Haare (letzte Woche Bürotypen in den Business-Anzügen zu dem Berliner Dom war noch etwas Rot darin), sind mit schocken. Bekanntester Visual-Kei- Haarspray antoupiert; auf dem Gesicht Schauplatz wurde das Tokioter Viertel liegt Make-up. Der Mix macht’s, Baby. Harajuku, in dessen Yoyogi-Park sich je- A-chan ist 22 Jahre alt, hat eine schöne des Wochenende die irrsten Gestalten helle Stimme und arbeitet als Physio- treffen, vom Zombiepunk über 243 737 LAUTER FREMDE therapeut im Norden Berlins. Aber das verschiedene Lolita-Sorten bis zum Pa- ist jetzt nicht so wichtig. Wichtig ist, pagei im SS-Mantel. Den Harajuku-Stil, WESEN, WIE dass A-chan gerade sehr glücklich ist. ihr Vorbild also, feiern die Berliner Vi- sual Keis heute mit ihrem „Harajuku IN EINEM ER IST GLÜCKLICH, weil er von etwa Day“. 300 seltsamen Wesen umgeben ist, die Es ist nicht das einzige Ding seiner MÄRCHENWALD. auch alle sehr glücklich sind. Vor allem, Art: Mittlerweile ist die Szene so groß, toll für ihn, viele Mädchen sind da: dass an vielen Orten in Deutschland je- neben den 80 Lolitas noch Kranken- des Wochenende Treffen stattfinden, so- schwestern mit rosa Haaren; Marilyn- genannte Conventions. Es gibt deutsche Manson-artige Typen mit Frisuren, die Visual-Kei-Läden, deutsche Visual-Kei- ihnen wie Hellebarden vom Kopf abste- Bands, deutsche Visual-Kei-Modedesi- hen; hellblaue Comic-Käfer, die über gner. Und viele zehntausend Fans, die den Rasen wackeln. Eine Frau mit Vam- sich auf dem Online-Portal Animexx pirgebiss im Mund sagt, sie sei „eine Sen- über Konzerte, Bands, Stile, Zukunfts- se, die verfluchte Seelen und eine Hexe pläne, Videospiele austauschen. Die essen muss, um glücklich zu werden“; Kleidungsstile und Idole sind ähnlich, eine andere ist „ein Seelen-Ei, das un- was die Aussprache angeht, gibt es lokale sere Träume und Wünsche verkörpert“. Unterschiede. In Dresden sprechen sie Ja, es gibt viele Seelen hier. Eine läuft es „Wüschel Key“ aus, in Köln nennen als dicke gelbe Ente herum, mit einer sich einige auch „Vijuarus“; die haben Kapuze, an der ein Schnabel befestigt dann schon etwas Japanisch am Com- ist. Ab und zu quakt sie ein bisschen. Die puter gelernt. Berlin hat etwa 3000 bis

SPIEGEL SPECIAL 1 | 2009 87 Manga-Figuren am Alexanderplatz

88 SPIEGEL SPECIAL 1 | 2009 IST DIE SCHLIMMSTE BELEIDIGUNG.

4000 Visus, wie sie sich nennen, wenn’s schnell gehen muss. Es ist ein eigener kleiner Planet, eine Parallelwelt, von der über 25-Jährige kaum etwas mitkriegen. Über 30-Jährige existieren so gut wie gar nicht in diesem Kosmos. A-chan und die anderen hatten sich gegen Mittag an der Weltzeituhr des Alexanderplatzes getroffen, dieses Plat- zes, der schon so viele Jugendkulturen kommen und gehen gesehen hat: die Punks, von denen nur noch wenige ältere Exemplare etwas müde auf den Bänken beim Fernsehturm herum- hocken; die Hiphopper, die eine Zeit- lang herkamen, um ihre Beatboxes aufzustellen und ein bisschen rumzu- breaken; die Skater, die nachts vor der alten Saturn-Filiale rumsprangen; die , die am Neptunbrunnen oder vor Starbucks saßen und schlechtgelaunt Bier tranken, als das nicht verboten war – und die jetzt, wo es das ist, noch schlechter gelaunt dasitzen.

DIE EMOS kommen den Visual Keis immer wieder in die Quere. Sie sind ihre Lieblingsfeinde. Mit ihnen werden sie von Außenstehenden am meisten ver- wechselt. Es ist allerdings auch nicht ganz leicht, sie auseinanderzuhalten: Wie die Visus tragen auch Emos gern enge schwarze Hosen, Piercings, Kajal. Dazu teilen sie angeblich ein paar Cha- raktereigenschaften: Beide Gruppen ha- ben den Ruf, Außenseiter zu sein. Beide sind angeblich depressiv. Es soll sogar Visual Keis geben, die mal Emos waren und sich nun dafür schämen! Spätestens jetzt schreit A-chan auf, weil er nicht länger zuhören kann. Klackerklackerklacker machen seine Gelenkringe. Drei Todesbeleidigungen gibt es für ihn, in dieser Reihenfolge. 1. Man nennt ihn Emo. 2. Man nennt ihn . 3. Man nennt ihn Schwuchtel. Emo ist für A-chan eine Beleidigung, weil die bloß in der Ecke sitzen, an sich rumritzen und Drogen nehmen. Tokio Hotel ist eine Beleidigung, weil deren Sänger Bill mit Visual Kei nun wirklich gar nichts am Hut hat und mit seiner Frisur nur auf Manga macht, weil das

SPIEGEL SPECIAL 1 | 2009 89 gerade gut ankommt und inzwischen so- gar in der „Bravo“ steht. Und warum Schwuchtel eine Beleidigung ist, muss man ja nicht groß erklären. Das ist ein- fach eine Hundsgemeinheit, wie sie nur Prolls fertigbringen. Aber mittlerweile macht A-chan sich da auch nichts mehr draus. Auf gewisse Art ist es sogar ein Kompliment. Doch dazu später. Am Ende läuft der Unterschied zwi- schen Emos und Visual Keis wohl darauf hinaus, dass Emos eher weinerliche amerikanische Rockmusik hören und von Japan keine Ahnung haben. Sie ken- nen nicht, den kultisch verehrten Gitarristen von X-Japan, dessen elften Todestag A-chan und die anderen heute auch vor dem Berliner Dom feiern. Die Emos haben von der Geschichtsschrei- bung des Visual Kei keine Ahnung. Ist die neue CD von Dir en grey noch Visual Key oder Metal oder doch Hardrock? Sind deutsche Visual-Kei-Bands wie Ko- gure und Cinema Bizarre ernst zu neh- men? Soll man eher das Visual-Kei-Ma- gazin „Peach“ oder „“ lesen? Ab Visual-Kei-Band wann wird aus einer Lolita eine Tussi? Kogure in Köln (o.), Kein Außenstehender kann das be- beim Konzert antworten. Weil man sich dazu ständig damit beschäftigen muss.

KAUM EINE der momentan existie- nicht allgemein verständlich sind. Dass schüchtern fühlt. Jeder sucht sich meist renden Jugendkulturen ist so komplex kaum einer der Visual Keis je in Japan die Figur, die am besten zu seinem Cha- wie Visual Kei. An Details und Querver- war, hilft eher, als dass es schadet. Der rakter passt. weisen von Bands, Mythen, Bildern ist Vorstellung sind keine Grenzen gesetzt, Das Ei muss sich keine Sorgen ma- sie so reich wie „Der Herr der Ringe“. sie kann sich ins Gigantische ausbrei- chen: Auch wenn einige Visus gefähr- Das ist als Distinktionsmerkmal nicht ten. Punks träumen von Freibier, Visus lich aussehen, mit aufgemalten Blut- unwichtig in Zeiten, in denen übers In- von Universen und unentdeckten Gala- flecken und den blassen Geistergesich- ternet jede Bewegung sofort adaptier- xien. So gesehen ist es eine der letzten tern – sie sind friedlich wie Hundewel- bar ist. Während es früher Wochen, Mo- Nischen, in die ein junger Mensch sich pen. Sie trinken Eistee mit Pfirsich- nate, manchmal Jahre dauerte, sich eine flüchten kann, ohne dass sich dort am geschmack, malen den Freunden, die bestimmte Platte oder ein bestimmtes nächsten Tag gleich hunderttausend an- sie über Animexx kennengelernt haben, Stück Kleidung zu besorgen, kann man dere drängeln. Das sichert die Identität kleine Bilder in Poesiealben, sogenann- sich die Soundtracks zu den Kulturen etwas länger. te ConHons. Einige von ihnen, die so- Techno, Gothic oder HipHop heute alle Was für eine Identität das ist, lässt genannten Costume Player, haben sich umsonst und innerhalb von Sekunden sich auf der Wiese des Berliner Doms als Figuren aus wie „Naruto“, aus dem Netz laden. Das T-Shirt, die sehr schön beobachten. Wie auf einem „Soul Eater“, „Death Note“ und dem schwarze Kutte oder die Turnschuhe Bild, das Renoir und der Cyberpapst Klassiker „Sailor Moon“ verkleidet. Sie gibt’s in der Ladenkette nebenan; im William Gibson zusammen gemalt ha- machen Gruppenfotos und Theater- Zweifelsfall haben’s sogar die Eltern im ben, tollen die Visual Keis in der Sonne spiele, bei denen man mit Tricks und Schrank. Wenn Jugend überall ist, ist miteinander herum. Drogen, Alkohol Kniffen eine imaginäre „5000 Millionen Jugend nirgends. Es sei denn, sie spricht und „pöbeln“ – angeblich soll das vor Meter hohe Mauer“ überwinden muss. Japanisch. Zumindest ein bisschen. Die Jahren mal auf dem Alexanderplatz vor- Wenn jemand versagt, bekommt er so- Spitznamen, die du dir aus geliebten gekommen sein – sind verboten. Wer fort Hilfe. Ständig herzen und drücken Zeichnern, Gitarristen oder Charakte- das nicht befolgt, bekommt einen Platz- sie sich. Eine zärtlichere Jugendkultur ren zusammenbaust, um deine Visual- verweis, sagt Yami, eine der Veranstal- als Visual Kei ist nicht denkbar. Dazu Kei-Existenz zu starten, sind erst der terinnen. Sie, klein, nett, 21, ein bisschen sind sie höflicher als jeder Japaner. Anfang. Schlau sein ist cool. Du musst rund, ist das Seelen-Ei von vorhin, das Aber was wollen sie? Jede Jugend- was lernen wollen als Visual Kei: Die unser aller Ideen und Träume verkör- kultur will ja irgendwas. Jede Ästhetik Kultur ist codiert, weil sie sich mit Japan pert. Es bezieht sich auf die Manga-Se- dient einem Zweck: Die Hippies woll- aus einem Land speist, dessen Sprache, rie „Shugo Chara“ und handelt von der ten mit der Welt schlafen, die Punks Schrift, Zeichen und Werte im Westen Schülerin Amu, die sich unsicher und wollten sie zerstören, die Skater woll-

90 SPIEGEL SPECIAL 1 | 2009 ten sie durchfahren, die Raver wollten ist so konsequent Visual-Kei-Mann, dass Wie steht’s mit der Politik, A-chan? sie durchtanzen. selbst die Art Typen, die anderen auf der „Entschuldigung, aber das interes- Die Visual Keis wollen sich von der Straße hinterherbrüllen, sie für einen siert mich eher nicht so.“ Welt, wie sie sie bisher erlebt haben, be- Kerl halten. Insofern ist es fast eine Aus- Und Sex? Ist es nicht Sex, in dem al- freien. Weil diese Welt nicht immer gut zeichnung, wenn sie „Schwuchtel“ ru- les zusammenkommt, was den jungen zu ihnen war. fen. Nur ihr Chef und ihre Eltern sagen Menschen ausmacht, seine Wünsche, A-chan war nicht immer der Typ, der noch Anne. In der Visual-Kei-Szene aber Ängste, Träume? Stimmt’s, dass die Vi- er heute ist, das strahlende Schönheits- sagen alle ER, wenn sie von A-chan re- sual Keis alle bisexuell sind, wie man es ideal der Visual-Kei-Szene. Ehrlich ge- den. Kaum einer kommt dem ästheti- immer wieder hört? Oder mode-bi, wie sagt war A-chan nicht mal ein Typ. schen Ideal des Visual Kei so nah wie man es auch immer wieder hört? Fra- Es dauert etwas, bis man es begreift, A-chan. Viele der Mädchen verlieben gen wir die Lolitas, sie sind alle zwi- weil er die Rolle so gut spielt. Weil er sich darum in ihn. Und vielleicht auch schen 15 und 20 Jahre alt, sie müssen es den Großteil seines Gesichts hinter Son- deshalb, weil ein Mann, der eigentlich wissen. nenbrille und Schminke versteckt, die ein Mädchen ist, einem Mädchen nicht Sweet Lolita! Wann hattest du deinen Brust mit einer Weste einklemmt und so fremd vorkommt. So jedenfalls be- letzten One-Night-Stand? sich so männlich gibt. Aber bevor A- gründet A-chan seinen Schlag bei den „Noch nie. Sex hab ich nur, wenn ich chan zum Visual Kei kam, hieß er Anne Ladys. „Klingt ein bisschen crazy, ich in einer Beziehung bin.“ und war ein Mädchen aus Wandlitz. weiß.“ Gothic Lolita! Wie oft am Tag wollen Du bist okay, egal, wie du aussiehst, dich lüsterne alte Männer zum Eis ein- ALLES WAR GUT, bis Anne in die fünf- rumläufst oder sexuell orientiert bist; laden? te Klasse kam. Sie, Tochter einer Haus- oder ob du ein bisschen Übergewicht „Keine Ahnung, wovon du redest.“ frau und eines Heizers, war glücklich, Punk Lolita! Für wen hast du dich so hatte die richtigen Freunde. Dann war fein gemacht? auf einmal alles falsch. Die, die eben KEIN PORNO, „Für Hide und uns alle hier.“ noch Freunde gewesen waren, waren Gothic Victorian Sweet Punk Lolita! das plötzlich nicht mehr. Sie lachten nur LIEBER Magst du Männer oder Frauen? noch: über Annes Kleidung, ihre kurzen „Ich bin mir da, ehrlich gesagt, noch Haare, ihre Art zu reden. Dass Anne un- nicht so sicher.“ gefähr um diese Zeit entdeckte, dass sie KUSCHELN. Nichts Nabokovsches, nichts Ver- sich eher für Mädchen interessierte als ruchtes ist an ihnen, im Gegenteil: für Jungs, half auch nicht unbedingt Statt wie die Roman-Lolita möglichst weiter. Sie wurde bespuckt, mit Müll be- hast und komische Hobbys – das ist die schnell erwachsen werden zu wollen, worfen, geschlagen, Scheißlesbe geru- Botschaft der Visual-Kei-Figuren auf der wollen die Gothic Lolitas und die ande- fen. Wäre sie damals Emo gewesen, hät- großen Picknickwiese an diesem Tag. ren Visual Keis möglichst lange Kind te sie wohl angefangen, die Rasierklin- Und dass sie alle hier so unbeschwert bleiben. Oder es ganz schnell wieder gen herauszuholen. Stattdessen kaute rumtollen, hat auch viel damit zu tun, werden. sie sich die Fingernägel runter, bis aufs dass es den meisten lange eben nicht so Nicht Sünde, sondern Unschuld ist Fleisch, immerzu. Sie versuchte ein paar ging. Nicht alle von ihnen haben Bio- ihr Ziel. Ihre schlimmste Vorstellung: Therapeuten, aber die halfen nicht. Was grafien wie A-chan, aber viele haben in Sex mit 50 Cent oder Sylvester Stallone. half, war ein Paket aus Japan. der Schule gelitten, weil sie zu dünn, zu Sie sind nicht Porno, sie kuscheln lieber, Der Nachbarsjunge, ihr einziger dick, zu laut, zu still, zu normal oder zu gern auch gleichgeschlechtlich, und ge- Freund damals, hatte es bekommen. Co- anders waren. Die dicke Ente da drüben ben sich lange, lange Küsse. So wie mics und Videospiele waren darin und etwa, die immer noch rumquakt; oder A-chan, der nun die Hand der langen die CD einer Band namens Buck-Tick. Hikaru, eigentlich Uli, die früher immer weißen Gothic Lady ergreift, die immer Die Musik war relativ hart, der Sänger wegen ihrer komischen Art zu laufen wieder um seine Picknickdecke herum- Atsushi Sakurai sah absolut irre aus: gehänselt wurde (sie wackelt ein biss- geschlichen war. Irgendwo zwischen weich, hübsch, androgyn. Ein Mann, der chen); oder Shiza, die lange als düsteres den Bäumen verschwinden sie dann – sich gibt wie eine Frau und dafür von Gruft-Girl missverstanden wurde, ob- in den kleinen Zauberwald der Toleranz, den Frauen geliebt wird. Kein schlechtes wohl sie doch eine der charmantesten in dem jeder sein darf, was er will: Rollenmodell, fand Anne. Wenn es das Gothic-Lolitas ist, die man sich vorstel- Mann, Frau, Mannfrau, Comic-Held, Po- geben kann, warum dann nicht auch len kann. Sie litten, weil sie nicht wuss- kémon. eine Frau (Anne), die sich gibt wie ein ten, wie man sich verteidigen soll, wenn Die Visual Keis müssen die Welt nicht Mann, der sich gibt wie eine Frau (At- man nicht mal weiß, warum man an- verändern. Sie haben eine eigene er- sushi) und dafür von den Frauen ge- gegriffen wird. schaffen. Eine, in der jeden Morgen eine liebt wird? So wurde aus dem Mädchen Hier, in der Visual-Kei-Welt, haben rote Sonne über ihnen aufgeht; eine, in Anne der Visual-Kei-Mann A-chan. Es sie die Macho-Unterdrücker vom Schul- der sie sexuell und spirituell frei sind, brauchte nicht einmal eine Geschlechts- hof abgeschafft. Hier, in der Visual-Kei- bis sie erwachsen werden. Alles, was sie umwandlung, bloß Schminke, Haar- Welt, ist alles weich und nichts hart. dazu brauchen, sind ein bisschen Ver- spray und die Kleider eines japanischen Hier werden sie nicht verlacht, sondern kleidung und ein japanisch klingender Rockstars. Und vor allem eine neue Hal- in den Arm genommen. Hier geben sie Vorname. tung: Anne war nun stolz darauf, anders den Ton an. Bösewichter kommen nicht Eigentlich kein schlechter Deal. Soll- zu sein, statt sich dafür zu schämen. Sie ins Paradies. te mal jemand den Emos erzählen.

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