764 UTOPIE kreativ, H. 201/202 (Juli/August 2007), S. 764-782

SEBASTIAN STUDE /Saale 1989

Wende, Epochenbruch, Friedliche Revolution – die Begriffe für die Vorgänge in der DDR im Jahre 1989 sind vielfältig und unterschied- lich, die Deutungen auch. Was im Folgenden unternommen wird, ist die Untersuchung der Entwicklungen in einer eng begrenzten Region, einer Stadt, unter Nutzung breiten regionalen Quellenmaterials. Dabei geht es dem Autor nicht darum, mit sensationsgleichen Neuerkennt- nissen aufzuwarten. Vielmehr soll ein Beitrag geleistet werden zu einem Geschichtsbild, das weniger durch Emotionen und politisches Vorurteil gekennzeichnet ist. Die Chancen dafür sollten 18 Jahre nach den Ereignissen für eine neu heranreifende Historikergenera- tion besser stehen denn je.

Geschichte und Ausgangspunkte Sebastian Stude – Jg. 1979; Am 25. Juli 1952 waren auf Anweisung der Sowjetischen Militär- aufgewachsen und 1998 administration in Deutschland aus dem Land Sachsen-Anhalt die Abitur in Halle/Saale; nach Bezirke Magdeburg und Halle gebildet worden. Seit seiner Gründung Zivildienst Studium der war der Bezirk Halle mit seiner Bezirksstadt stark durch die hier im Geschichte, Politik und Philosophie zunächst an großen Maßstab angesiedelte Industrie geprägt. Neben dem größten der Martin-Luther-Univer- Industriekombinat der DDR, den Leuna-Werken »Walter Ulbricht«, sität Halle-, dann befanden sich im Bezirk Halle unter anderem die Buna-Werke sowie an der Humboldt-Universität das Chemie-Kombinat Bitterfeld. Folgerichtig sprach man vom zu Berlin; 2006 Magister ›Chemie-Dreieck‹ im Bezirk Halle.1 Mehr als 400 000 Industrie- artium, Abschlussarbeit arbeiter erwirtschafteten hier im Jahr 1989 fast 16 Prozent der indus- zum Thema »Die friedliche triellen Gesamtproduktion der DDR. Die chemische Industrie nahm Revolution in Halle/Saale. 2 Eine Studie zur Protest- dabei unangefochten die Schlüsselposition ein. bewegung in der späten Für die politischen Parteien, die sich auf die Arbeiterbewegung be- DDR«. riefen, nahm die Region Halle-Merseburg wegen ihres hohen Arbei- teranteils stets einen symbolischen Stellenwert ein. Die militärischen Aktivitäten der KPD während der Märzunruhen 1921 begründeten 1 Vgl. dazu auch Hans- den Mythos des »roten Herzens von Mitteldeutschland«. Die SED Joachim Plötze: Das Che- versuchte, an diese Traditionspflege anzuknüpfen.3 Das Bild von der miedreieck im Bezirk Halle aus der Sicht des MfS, SED als Interessenvertreter der Arbeiter und Bauern im Bezirk Halle Naumburg 1997. war jedoch bereits während der Streikbewegung um den 17. Juni 1953 erheblich in Frage gestellt worden. So war der Anteil der Strei- 2 Statistisches Amt der kenden im Bezirk Halle mit rund einem Drittel der Arbeitnehmer- DDR (Hrsg.): Statistisches schaft erheblich höher gewesen als im Republikdurchschnitt. Die re- Jahrbuch der Deutschen gionale Parteiführung der SED hatte sich damals zudem dadurch Demokratischen Republik 1990, Berlin 1990, S. 80. irritiert gezeigt, dass nicht selten SED-Mitglieder an den Streik- aktionen beteiligt waren und diese teilweise sogar anführten.4 Es ist 3 Noch im September zu vermuten, dass Streik für viele SED-Mitglieder 1953 noch als po- STUDE Halle 1989 765 litisch legitimes Mittel des Arbeiters in Deutschland galt. Demge- 1989 erklärte in diesem genüber musste der Parteigehorsam, als politisches Kampfmittel der Sinne der erste Sekretär der SED-Führung von den Kommunisten der Sowjetunion übernom- SED-Bezirksleitung Hans- men, noch zurückstehen. Die deutschen Arbeiter ließen sich 1953 Joachim Böhme: »Die DDR – das ist jener Arbeiter- und eben noch nicht »aus dem Subjekt ihrer eigenen Bewegung in ein Bauernstaat, für den die 5 durch die Partei zu bearbeitendes Objekt« verwandeln. Die betont Märzkämpfer 1920/21 ihr aggressive Rede, die Hans-Joachim Böhme im September 1989 vor Leben gegeben haben. den Leuna-Arbeitern hielt (vgl. 3), widerspiegelt die Politik der Gerade in einem Betrieb Staats- und Parteiführung der SED im Frühherbst 1989 und verdeut- wie Leuna, in dem das Silo licht den trügerischen Selbstanspruch der SED, die Interessen der steht, in dem die Konzern- gesamten Bevölkerung der DDR zu vertreten. herren von IG Farben die Arbeiter ermorden ließen, Das stark ausgeprägte Arbeitermilieu im Bezirk Halle wurde durch denen die sozialdemokrati- verschiedene natur- und geisteswissenschaftliche sowie kulturelle schen Führer die Waffe aus Institutionen ergänzt. Beispielgebend seien hier die Martin-Luther- der Hand schlugen, ehe der Universität Halle-Wittenberg, die Francke’schen Stiftungen, die Sieg errungen war, wird Hochschule für Industrielle Formgestaltung Burg Giebichenstein man nie vergessen, dass sowie die nahe gelegene Technische Hochschule in Merseburg ge- nur die Revolution etwas nannt. Von einem reinen Arbeiterbezirk zu sprechen, träfe demnach wert ist, die sich auch zu verteidigen versteht.« – die regionalen Gegebenheiten nicht. Rede auf dem Meeting im Die hohe Industrialisierung der Region bewirkte, dass zu den wirt- Leuna-Kombinat anlässlich schaftlichen und sozialen Problemfeldern ein weiteres hinzutrat – der Übergabe des Ehren- das der Umwelt. Die erste Veröffentlichung von Umweltdaten für banners zum 40. Jahrestag den Bezirk Halle im Jahr 1990 (!) zeichnete ein katastrophales Bild. der DDR vom 21. 9. 1989, In dem Umweltbericht hieß es: »(...) 30 Prozent der Emission der LHASA, MER, V/6/31/-79, Luftschadstoffe, 31 Prozent der Gewässerbelastung und 50 Prozent Bl. 14 f. des Anfalls von toxischen Abprodukten und Schadstoffen der DDR 4 Hermann-Josef Rupieper führen (...) zu Mehrfachbelastungen und komplizierten Wohnver- (Hrsg.): » ... und das wich- hältnissen.« Mehr als jeder zweite Baum der Region galt als geschä- tigste ist doch die Einheit.« digt.6 Die überwiegende Mehrzahl der Bevölkerung des Bezirkes Der 17. Juni 1953 in den Halle lebte das ganze Jahr über in einer auch nach DDR-Umwelt- Bezirken Halle und Magde- burg, Münster-Hamburg- recht überbelasteten Umwelt. London 2003, hier beson- Im Jahr 1989 bildete der Bezirk Halle mit über 250 000 SED-Mit- ders S. 9-29; Hans-Peter gliedern und Kandidaten die größte Bezirksparteiorganisation der Löhn: »Spitzbart, Bauch und gesamten DDR überhaupt.7 Seit den 1960er Jahren genossen die Brille – sind nicht des Volkes ersten Sekretäre der SED-Bezirksleitung Halle als Mitglieder des Wille!« Der Volksaufstand Politbüros des Zentralkomitees der SED direkten Zugang zur obersten am 17. Juni 1953 in Halle Etage der Macht. Neben dem aufgeblähten Parteiapparat wurde im an der Saale, Bremen 2003; sowie Angelika Klein: Aus- Bezirk Halle bis 1989 ein umfassendes Mitarbeiternetz des Ministe- gerechnet das »rote Herz« riums für Staatssicherheit (MfS) aufgebaut. Bis zu 3 000 Offiziere streikte besonders heftig. und Unteroffiziere waren im Einsatz. Sie wurden von geschätzten Der 17. Juni 1953 in der 6 500 inoffiziellen Mitarbeitern in ihrer Arbeit unterstützt.8 Provinz. Die Arbeiterrevolte im Bezirk Halle; http://sozia- Die Wahlen am 7. Mai 1989 listen.de/politik/ Die Kommunalwahlen im Mai 1989 sollten sich als Menetekel für publikationen/disput/view_ html?zid=2810&bs=1&n=11 die SED-Partei- und Bezirksführung herausstellen. Im Vorfeld der (9. 10. 2006). Wahlen traten zu den allgemeinen republikweiten Kritiken aus der DDR-Bevölkerung lokalspezifische Forderungen an die SED-Ver- 5 Jörn Schütrumpf: Die treter hinzu. Exemplarisch formulierten die Mitarbeiter der Rund- Juni-Insurrektion 1953. funkanstalt in Halle ihre Kritik am Verbot des Magazins »Sputnik« Schwierigkeiten mit der Klasse. Thesen, in: UTOPIE im Oktober 1988. So verstünden sie nicht, wieso das ZDF der Bun- kreativ, Heft 152 (Juni desrepublik in großen Teilen der DDR frei empfangbar sei – der Ver- 2003), S. 485-492, hier trieb des sowjetischen Magazins dagegen unterbunden werde.9 An- bes. S. 489 f. 766 STUDE Halle 1989

6 Rat des Bezirkes Halle – dererseits häuften sich auch die Hinweise über Störungen und Eng- Fachorgan Umweltschutz, pässe in der täglichen Versorgung der Stadt.10 Auf Grund fehlender Naturschutz und Wasser- beziehungsweise defekter Technik sah sich die hallesche Stadtwirt- wirtschaft (Hrsg.): Umwelt- schaft zu Jahresbeginn 1989 teilweise für einen Zeitraum von bis zu bericht des Bezirkes Halle 1989, Merseburg 1990, acht Wochen nicht in der Lage, die Müllentsorgung in den städti- S. 11 u. 139. schen Außenbezirken zu gewährleisten. Bei der Versorgung der Be- völkerung mit Grundnahrungsmitteln musste intern eingestanden 7 In: Statistischer Vergleich werden, dass diese nicht immer bis zum Ladenschluss gewährleistet ausgewählter Angaben aus war. Bezogen auf das Angebot von alkoholfreien Getränken und der Jahresanalyse über die Bier wurde festgestellt: »Die Produktion konnte den Bedarf nicht Entwicklung der Mitglieder- decken.«11 Das MfS schätzte ein: »Das Eingabegeschehen ist nicht bewegung des ZK 1988 – zu denen der Bezirkspartei- im breiten Umfang zu beeinflussen wegen fehlender Kapazitäten zur organisation Halle 1988, Beseitigung der berechtigt angesprochenen Mängel und Missstände. LHASA, MER, SED-Bezirks- Allein in der Warenbereitstellung für den Bezirk Halle besteht durch leitung Halle, IV/F-2/5, die Industrie Ende März 1989 ein Rückstand in Höhe von 152 Mio. Nr. 265, Bl. 178f. In dem Mark.«12 Analysepapier wird die Das Missverhältnis von regional festgestellten Problemen und den Zusammensetzung der zentral vorgegebenen Durchhalteparolen scheint evident für die Er- Bezirksparteiorganisation u. a. mit 60 Prozent Arbei- klärung eines nicht funktionierenden Konfliktregulationsmechanis- tern und 20 Prozent An- mus in der DDR. Der Parteiapparat der SED, nach dem Prinzip des gehörigen der Intelligenz ›demokratischen Zentralismus‹13 funktionierend, ließ Kritik unterer angegeben. Ebenen nicht konstruktiv wirksam werden. 1953 hatte sich die noch junge SED überrascht darüber gezeigt, dass sich ein Protestverhal- 8 Hans-Peter Löhn: ten, begründet auf den gesellschaftlichen Defiziten, außerhalb der »Unsere Nerven lagen Partei auf der Straße entwickelt hatte. Die Folge war eine zuneh- allmählich blank.« MfS und SED im Bezirk Halle, Berlin mende Restriktivität innerhalb der Partei und außerhalb von ihr. Kri- 1996, S. 7. tik von außen wurde propagandistisch abgeschmettert. Kritik inner- halb der Partei verlor sich in der Regel auf ihrem Weg in die Höhen 9 Information des Leiters der Hierarchie. Auf den Wahlkreisveranstaltungen im Vorfeld der der MfS-Bezirksverwaltung Kommunalwahlen 1989 zeigte sich dabei, dass Teile der Bevölke- Halle, Heinz Schmidt, vom rung immer weniger gewillt waren, die schwierigen Lebensumstände 28.11.1988 über Reaktionen bedingungslos hinzunehmen. Als ›Störversuche‹ gewertete Fragen der Bevölkerung des Bezir- kes Halle zur Streichung der zum Umweltschutz, zu fehlenden Telefonanschlüssen oder langen Zeitschrift »Sputnik« von der Wartezeiten für PKW-Reparaturen wurden jedoch, so eine SED-in- Postzeitungsliste, BStU, terne Feststellung, »durch beherztes Auftreten der Kandidaten ent- Ast. Halle, MfS, BV-Halle, schieden unterbunden«.14 AKG 1573, Bl. 51 ff. Vgl. Als ein weiteres Indiz für eine hohe gesellschaftliche Unzufrie- auch Steffen Reichert: »Bis denheit im Bezirk Halle ist die Ausreisewilligkeit mehrerer tausend ins nächste Jahrtausend«. Die Einflussnahme des Bürger anzusehen. Im Frühjahr 1989 hatten laut Informationen des Ministeriums für Staats- MfS 6 273 Bürger einen Antrag auf ständige Ausreise gestellt. Ledig- sicherheit auf die Martin- lich 678 Personen erteilte man bis zum Sommer eine Genehmigung Luther-Universität Halle-Wit- zum Verlassen ihrer Heimat.15 tenberg zwischen 1968 und Diesem resignierenden Protestverhalten setzten vor allem die Frie- 1989, Halle 2005, S. 429 f. dens-, Umwelt- und Bürgerrechtsgruppen eine konstruktive DDR- kritische Position entgegen. Das MfS hatte herausgearbeitet, dass im 10 In einem Bericht an den Frühjahr 1989 im gesamten Bezirk Halle 20 Bürgerrechtsgruppen Oberbürgermeister heißt es: existierten. Von den geschätzten 350 Mitgliedern seien aber nur etwa »In einer Vielzahl der betref- 100 dem aktiven Kreis zuzurechnen.16 Dass sich solche Gruppen, fenden Eingaben wurde durch die Bürger Unver- denen das Vereinsrecht in der DDR vorenthalten wurde, bei der ständnis darüber zum Aus- evangelischen Kirche ansiedelten, ist auf zwei Bedingungen zurück- druck gebracht, dass der zuführen. Dies war zum einen kreative und selbstbestimmte Dies- VEB Stadtwirtschaft nach seitsgestaltung, die die Mitglieder der Gruppen anstrebten, und zum STUDE Halle 1989 767 anderen deren unumstößliche Ablehnung physischer und psychi- 40 Jahren DDR noch immer scher Gewalt. nicht in der Lage ist, die Von den Ausreisewilligen bewegte sich nur eine kleine Minderheit regelmäßigen Straßen- im Umfeld der Gruppen bei der Kirche.17 Der Grund hierfür waren reinigungen und Müllent- sorgungen zu gewährleisten zum Teil völlig verschiedene Ziele. Die kirchennahen Gruppen sa- bzw. dass sich die Situation hen sich nicht selten von den Antragstellern auf Ausreise, die durch drastisch verschlechtert ihre Mitarbeit eine schnellere Ausreise bei den Behörden provozie- hat.« ren wollten, missbraucht. Zudem wurde den kirchennahen Gruppen STAH, Oberbürgermeister von der staatlichen Seite das Etikett der sozialen Randständigkeit an- Nr. 118 Bd. 1, o. Pag. geheftet, deren Umgebung man meiden müsste. In mehreren offenen Briefen kurz vor den Kommunalwahlen 1989 11 Ebenda. an den Vorsitzenden der der DDR, Horst Sindermann, 12 BStU, Ast. Halle, MfS, und den Generalsekretär des ZK der SED, Erich Honecker, mahnten BV-Halle, AKG 373, Bl. 85. Mitglieder der halleschen kirchennahen Gruppen, die »Umgestal- tung und Erneuerung einzelner Bereiche« sei »dringend notwendig, 13 Zum ›demokratischen um eine weitere Stagnation unserer Gesellschaft zu verhindern.« Sie Zentralismus‹ vgl.: Kleines forderten unter anderem eine Reform des Wahlgesetzes.18 Ein weite- Politisches Wörterbuch; rer Brief stand unter der Überschrift »Neue Armut in der DDR«. Ost-Berlin 1967, S. 126 f. Die in diesem Zusammen- Darin wurden die gesellschaftlichen Widersprüche im östlichen hang interessanten Passa- Deutschland thematisiert, und es wurde zu einer offenen gesellschafts- gen: »demokratischer Zen- politischen Diskussion aufgefordert.19 Andere Teile der kirchennahen tralismus (...) Das bedeutet: Gruppen in Halle arbeiteten schon seit 1988 mit einem Thesenpapier Leitung der Partei von des ›Arbeitskreises Solidarische Kirche‹. Die ihm angehörende ›Ar- einem gewählten Zentrum beitsgruppe Wahlen‹ der ›Regionalgruppe Thüringen‹ hatte auf meh- aus; (...) straffe Parteidiszi- reren Seiten Sinn und Zweck der Wahlen in der DDR herausgear- plin und Unterordnung der Minderheit unter die Mehr- beitet. Scharfsinnig kam die Analyse zu dem Schluss, dass eine heit; unbedingte Verbindlich- Wahlverweigerung die größte politische Wirkung entfachen könnte, keit der Beschlüsse der da »in Bezug auf die Wahlbeteiligung auf den örtlichen Organen ein höheren Organe für die besonderer Druck lastet«.20 Zu konstatieren bleibt, dass innerhalb unteren Organe und die dieser Gruppen bereits ein wesentlich höheres Bewusstsein für die Mitglieder; aktive Mitarbeit gesellschaftliche Schieflage in der DDR vorhanden war als in ande- der Parteimitglieder in ihren ren Bevölkerungsteilen. Organisationen zur Durch- setzung der Beschlüsse.« Die internen Berichterstattungen an den ersten Sekretär der SED- Bezirksleitung Böhme am Wahltag, dem 7. Mai 1989, sind in der 14 STAH, Oberbürgermei- Regel von Formulierungen geprägt wie, überall herrsche »eine auf- ster Nr. 118, Bd. 1, o. Pag. geschlossene, festliche und optimistische Atmosphäre, (...) die da- von bestimmt ist, die Kommunalwahlen 1989 als einen bedeutenden 15 In: Erscheinungen und gesellschaftlichen Höhepunkt im 40. Jubiläumsjahr der DDR zu Tendenzen der politisch- 21 operativen Lageentwicklung begehen.« Im Tagesverlauf wurde diese positive Darstellung des 1. Halbjahr 1989, BStU, Wahlverlaufes lediglich durch Hinweise über vereinzelte Wahlkabi- Ast Halle, Sachakte-AKG, nennutzungen (!) sowie einzelne Ankündigungen von Arbeitern, Nr. 2263, Bl. 11, veröffent- nicht wählen zu wollen, getrübt. Im Falle des Nichterscheinens licht in: Hans-Peter Löhn: einzelner Wähler waren die lokalen Wahlvorstände angehalten, die »Unsere Nerven lagen Wählerlisten zu Gunsten einer höheren Wahlbeteiligung zu manipu- allmählich blank«, a. a. O., lieren. S. 8. Wenig erfreuliche Zahlen aus der Sicht der SED hatte die halle- sche Hochschule für Industrielle Formgestaltung zu vermelden. Bei 16 Georg Wagner-Kyora: 115 abgegebenen Stimmen waren 25 Gegenstimmen für die Kandi- Eine protestantische Revo- lution in Halle, in: Günther daten der Nationalen Front zu verzeichnen. Dies entsprach einem Heydemann, Gunther Mai, 22 Gegenstimmenanteil von nicht weniger als 21,74 Prozent! Die re- Werner Müller (Hrsg.): lativ schlechten Wahlergebnisse an den Hochschuleinrichtungen Revolution und Transforma- werden durch interne Materialien zu den Kommunalwahlen an der tion in der DDR 1989/90, 768 STUDE Halle 1989

Berlin 1999, S. 335-364, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg bestätigt. Bei einer re- hier S. 342. lativ hohen Wahlbeteiligung von 99 Prozent stimmten 5,5 Prozent gegen die Einheitsliste. Am schlechtesten – aus der Sicht der SED – 17 Ebenda. verliefen die Kommunalwahlen an den Fakultäten der Theologie so- 23 18 MDA Ki 10 e. Die kon- wie der Germanistik/Kunstwissenschaft. kreten Forderungen bestan- Am Montag, dem 8. Mai 1989, titelte das ›Neue Deutschland‹ mit den in der Zulassung von der Schlagzeile »Eindrucksvolles Bekenntnis zu unserer Politik des Kandidaten der Friedens-, Friedens und des Sozialismus«. Von einer hohen Wahlbeteiligung Menschenrechts- und war die Rede, von erfüllten und überbotenen Plänen der Arbeitskol- Umweltgruppen, die Bestim- lektive anlässlich der Wahlen und den künftigen Wettbewerben zum mungen für die Auszählung 40. Jahrestag der DDR. Die West-Berliner alternative ›tageszeitung‹ der Stimmzettel sollten ein- deutig und öffentlich darge- verkündete hingegen: »1 % weniger – für die DDR ein Erdrutsch. legt werden, objektive und (...) Oppositionelle vermuten Manipulation.« In der Tat wies das of- unabhängige Kontrollen fiziell verkündete Endergebnis mit 1,15 Prozent den höchsten Nein- sollten die Wahlen begleiten Stimmenanteil bei einer Wahl in der Geschichte der DDR aus. Für und die Diskreditierung von den Bezirk Halle war allerdings ein überdurchschnittlich gutes Wahlkabinennutzern und Wahlergebnis veröffentlicht worden. Bei 99,28 Prozent Beteiligung Nichtwählern sollte einge- hatten 99,37 Prozent der Wähler der Einheitsliste ihre Zustimmung stellt werden. gegeben. Lediglich der konnte eine höhere Zustim- 24 19 MDA RG-Bez 1.1 mung vorweisen. Für die Stadt Halle wurden eine Wahlbeteiligung Tenor des Briefes ist, dass von 98,94 Prozent und eine Zustimmung von 98,8 Prozent veröf- die seit den 1960er Jahren fentlicht. Für die Stadt Halle war die offizielle Zahl der Nichtwähler anhaltende »geistig-ideolo- im Vergleich zu den Volkskammerwahlen vom Jahr 1986 von 669 gische« Armut inzwischen auf 1 951 empor geschossen. In einem internen Analyse-Papier des in eine materielle Armut MfS wurde die Zahl der Nichtwähler für die Stadt Halle sogar mit umschlägt. Dies drücke sich außer in der Wirtschaft 9 219 angegeben. Dies entspräche einem reellen Nichtwähleranteil 25 zunehmend auch im Sozial- von fünf Prozent. und Gesundheitswesen aus. SED-intern wurde der Wahlausgang als Sieg gewertet, nicht zu- letzt darauf gestützt, dass man den Anteil der Parteimitglieder in den 20 Arbeitskreis Solidarische Kommunalvertretungen noch um 19 Mandate steigern konnte.26 Auf Kirche – Regionalgruppe der zentralen Parteiebene – dem Politbüro, dessen Mitglied auch der Thüringen – Arbeitsgruppe erste Sekretär der SED-Bezirksleitung Halle Hans-Joachim Böhme Wahlen, Arbeitsergebnis vom 23.11.1988, Archiv war – schätzte man die Wahl wie folgt ein: »Die Wahlbewegung de- Frank Eigenfeld, hier S. 3. monstrierte die lebendige, sich ständig vervollkommnende sozia- listische Demokratie in der DDR.«27 21 LHASA, MER, SED- Ein gänzlich anderes Bild zeichnete die regelrechte Eingabenflut, Bezirksleitung Halle, die sich über die verschiedenen an der Wahldurchführung beteiligten IV/F-2/13/366, o. Pag. Institutionen ergoss. In den überlieferten Aktenbeständen des zen- 22 Ebenda. tralen Wahlleiters Egon Krenz finden sich fast hundert Eingaben al- lein auf den Bezirk Halle bezogen.28 23 LHASA, MER, SED- Am 29. Mai 1989 musste der frisch gewählte Oberbürgermeister GO MLU Halle, IV/F-7/761, der Stadt Halle, Eckhard Pratsch, den Vorsitzenden des Rates des Nr. 2, Blatt 35. Bezirkes, Alfred Kolodniak, davon in Kenntnis setzen, »dass in der Stadt Halle an Abgeordnete der Stadtverordnetenversammlung und 24 Vgl. dazu: ›Freiheit‹ der Stadtbezirksversammlungen im Zusammenhang mit den Kom- vom 8. 5. 1989. munalwahlen am 7. Mai 1989 ein ›Offener Brief‹ verschickt wird.«29 25 BStU, Ast. Halle, MfS, Den Inhalt dieses Briefes schätzte man als so brisant ein, dass der BV-Halle, AKG 182, Leiter der Kreisstelle des MfS informiert wurde, um »notwendige Bl. 190 f. Maßnahmen« mit ihm abzustimmen. Was war der Grund? Auf vier Seiten hatten ›Wahlbeobachter‹ der kirchennahen Grup- 26 STAH, Z 30/64, o. Pag. pen die Ergebnisse und Schlussfolgerungen ihrer Arbeit am Wahltag 27 BArch, SAPMO, zusammengefasst und auf dem Postweg den neuen kommunalen Ab- STUDE Halle 1989 769 geordneten zugestellt.30 Das mit Abstand auffälligste Ergebnis hatten DY 30/J IV 2/2R/137, die Wahlbeobachter im Wahllokal 317 registriert. Bei einer Wahl- Blatt 55-75. beteiligung von lediglich 84,7 Prozent notierten sie 17,8 Prozent Gegenstimmen. Durchschnittlich hatten die Wahlbeobachter einen 28 BArch, SAPMO, DY 30 IV 2/2.039/173. Nein-Stimmenanteil von etwas über fünf Prozent ermittelt sowie einen Nicht-Wähleranteil von über acht Prozent. Zwischen dem of- 29 STAH, Oberbürger- fiziellen Ergebnis für die Stadt Halle, welches ja schon unter dem meister Nr. 139, o. Pag. Bezirksdurchschnitt lag, und den unabhängig festgehaltenen Teiler- gebnissen bestand also eine erhebliche Differenz. Als ein weiterer 30 Offener Brief an die Hauptkritikpunkt wurde in dem vierseitigen Schreiben der Umgang Abgeordneten der Stadtver- mit den Wählerlisten dargestellt. Die Wahlprotokolle in den einzel- ordneten- und Stadtbezirks- verordnetenversammlung nen Wahllokalen waren mit Bleistift ausgefüllt worden. Einer Halle, 4 Seiten, Archiv Frank nachträglichen Änderung der tatsächlichen Ergebnisse und der Eigenfeld. Die nachfolgen- Wahlbeteiligung waren somit Tür und Tor geöffnet.31 den Angaben und Zitate be- Die Beobachtung der Kommunalwahlen im Frühjahr 1989 stellte ziehen sich auf diesen Brief. eine erste regional übergreifende Protestform der kirchennahen Gruppen dar. Unter Inanspruchnahme von geltendem DDR-Recht 31 Später getätigte Aus- sagen von Wahlleitern wurde die Wahl von ihnen kritisch begleitet. Dies geschah zunächst bestätigen diese Vermutung: abseits einer breiten Öffentlichkeit. Der Versuch einer republikwei- »(…) 67 Stimmen gegen ten Dokumentation stellte die Samisdat-Schrift ›Wahlfall 89‹ dar.32 den Wahlvorschlag hatte ich Aus den unabhängigen Wahlbeobachtungen wird deutlich, dass jeweils auf dem Vordruck die Gründe für die Dynamik der Prozesse im Herbst 1989 in der einzutragen nach telefoni- DDR chronologisch erheblich früher wurzeln. Diese Dynamik kann scher Rücksprache mit den nämlich nur dann plausibel erklärt werden, wenn man zwei Faktoren 3 Wahlbüros. Wieder striktes Verbot der Weitergabe, eine berücksichtigt, denen sich die Parteiführung der SED sowie die Einsammlung der Staatsführung der DDR im Herbst 1989 ausgesetzt sahen. Erstens Vordrucke. Ungeduldig rief existierten schon seit längerem Friedens-, Bürgerrechts- und Um- schon eine Frau von der weltgruppen unter dem Dach der evangelischen Kirche. Diese Grup- Zentralen Rechengruppe pen verfügten über einen personellen und programmatischen Kern – an, wo blieben die Wahler- aber sie verfügten wohl über keine einheitliche zukunftsorientierte gebnisse. Nach ca. 15 min. dann die pendelnde Person Handlungskonzeption. Die kirchennahen Gruppen bestanden dabei mit den gefälschten Wahl- nicht lokal oder regional voneinander isoliert, sondern waren durch ergebnissen. Und hier frühere Aktivitäten personell und programmatisch miteinander lose erschien mir der Betrug verbunden. Zweitens thematisierten diese Gruppen unter strikter offensichtlich. Aus den 67 Berücksichtigung der Gesetzgebung reelle Missstände in der DDR. Stimmen gegen den Wahl- In der Saale-Stadt Halle bildeten sich in der ersten Hälfte der vorschlag wurden 37 ge- 1980er Jahre kirchennahe Gruppen mit unterschiedlichen themati- macht.« Vgl. ›Blattwerk‹ Nr. 6 vom 18.12.1989, S. 2; schen Schwerpunkten heraus. Bei einer geringen Anzahl von aktiven MDA PER 48. Mitgliedern waren personelle Verflechtungen und Überschneidungen in den verschiedenen Gruppen dabei nicht unüblich. Für alle kirchen- 32 Koordinierungsgruppe nahen Gruppen in Halle ist dabei die Einschätzung treffend, dass Wahlen (Hrsg.): Wahlfall nach deren Gründung ab Mitte der 1980er Jahre eine Phase der Re- 1989. Eine Dokumentation, signation und Gleichgültigkeit einsetzte. Grund dafür war offensicht- Samisdat, 37 Seiten; vgl. auch Ehrhart Neubert: lich die inhaltliche und personelle Einflussnahme des MfS. Erst Ende Geschichte der Opposition der 80er Jahre registrierte das Ministerium wieder zunehmende öf- in der DDR, Bonn 1997, fentlichkeitswirksame Aktivitäten.33 Die Namen der Gruppen stehen S. 810 ff. dabei plakativ für ihr Tätigkeitsfeld: ›Frauen für den Frieden‹; ›Öko- logische Arbeitsgruppe‹ oder ›Christliche Mediziner in sozialer Ver- 33 Christoph Kuhn: »Inoffi- antwortung‹. Für Jugendliche, die sich nicht den staatlichen Organi- ziell wurde bekannt ...« – Maßnahmen des Ministeri- sationen anschlossen, waren besonders die offene Jugendarbeit der ums für Staatssicherheit ge- ›Kirche von unten‹ sowie eine Baugruppe, die sich um die Instand- gen die ökologische Arbeits- setzung der Georgenkirche bemühte, attraktiv. gruppe beim Kirchenkreis 770 STUDE Halle 1989

Halle. Gutachten zum Ope- Als einzigartig in der Kirchengeschichte der DDR galt der ›Aktions- rativen Vorgang »Heide«; kreis Halle‹. Er stellte die einzige reformerisch-kritische Gruppe der Magdeburg 1996, S. 18 f. katholischen Kirche in der DDR dar. Um den Konflikt zwischen den Ausreisewilligen, die sich im Umfeld der Kirche bewegten, und den Reformgruppen in Halle zu entschärfen, wurde im August 1988 zu- dem die Veranstaltungsreihe der ›Nachtgebete‹ ins Leben gerufen. Innerhalb dieser Gruppen-Szene dienten unter anderem Samisdat- Schriften wie das ›Blattwerk‹ seit Mitte der 1980er Jahre als Kom- munikationsmittel. Letztlich durch den jeweiligen Superintendenten der evangelischen Kirche verantwortet, hatten die offiziellen Stellen kaum eine rechtliche Möglichkeit, gegen solche Schriften ›zum in- nerkirchlichen Gebrauch‹ vorzugehen. Nachdem im November 1988 eine gesamte Ausgabe des ›Blatt- werkes‹ durch die Polizei beschlagnahmt wurde, setzte unter den Aktiven ein Radikalisierungsschub ein. Von den basisdemokratischen Strukturen, die zum Teil der evangelischen Kirchenverwaltung ent- lehnt waren, entstand sich abkehrend ein ›harter Kern‹. Vereinzelte Aufsehen erregende Aktionen wurden nun unter konspirativen Um- ständen geplant und durchgeführt. Nach außen eher harmlosen Ak- tionen, wie das Anbringen von Umweltplakaten zum internationalen Weltumwelttag oder während eines Volksfestes, kommt neben der gestiegenen Inkaufnahme von harten persönlichen Konsequenzen eine weitere symbolische Bedeutung zu: das zunehmende Streben der Gruppen an die Öffentlichkeit. Nach Öffentlichkeit gegenüber 34 Diese These wird auch den staatlichen Institutionen – aber auch das Streben nach Öffent- von einem damaligen Grup- lichkeit gegenüber der Kirche.34 penmitglied bestätigt: »Ich Für die staatlichen Sicherheitsorgane war die Kontrolle der Gruppen habe es für mich immer so durch deren Anbindung an die Kirche einfacher geworden. Durch verstanden, dass wir nicht nur einen Gegner hatten, offizielle und inoffizielle Mitarbeiter – auf staatlicher und kirchli- dass natürlich auch die Kir- cher Seite – waren die Gruppen ständig der Beobachtung und Ein- che irgendwo der Gegner fluss-nahme ausgesetzt gewesen. Eine Studie der Magdeburger Kir- war. Sie haben uns, so wie chenleitung, der damals auch die Stadt Halle unterstellt war, belegt ich das verstanden habe, die unerwartet hohe Durchsetzung der evangelischen Kirchenleitung zensiert, reglementiert, sie mit MfS-Mitarbeitern. Die Studie kommt zu dem Schluss: durch die haben uns behindert, sie inoffiziellen Mitarbeiter in den Schlüsselpositionen »war die Stasi haben uns wohlmeinend 35 schützen wollen, behüten wirklich immer dabei.« Die Spitzelstruktur des MfS verlor mit dem wollen, damit entmündigt Radikalisierungsschub innerhalb der Gruppen und der damit einher- und die Arbeit sehr er- gehenden Konspiration jedoch bis in den Herbst 1989 hinein an Wir- schwert.« – Katrin Eigenfeld kung. in: Deutscher Bundestag (Hrsg.): Materialien der Das Neue Forum Enquete-Kommission »Auf- Den entscheidenden Schritt an die Öffentlichkeit, hinter den die Re- arbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Dikta- formgruppen auch in Halle nicht mehr zurückfallen konnten, vollzo- tur in Deutschland«; Frank- gen sie Anfang September 1989 republikweit mit der Gründung des furt am Main 1995, S. 256. Neuen Forums. Die gesellschaftspolitische Auswirkung des Gründungsaufrufes 35 Harald Schultze, durch die Vertreter des Neuen Forums kann am Beispiel der Saale- Waltraut Zachhuber: Stadt exemplarisch nachvollzogen werden. Mit Katrin und Frank Ei- Spionage gegen eine Kirchenleitung. Detlef genfeld nahmen zwei hallesche Vertreter an dem Gründungstreffen Hammer – Stasi-Offizier im des Neuen Forums auf dem Grundstück des verstorbenen Robert Konsistorium Magdeburg, Havemann in Grünheide teil. Beide Eigenfelds gehörten seit den Magdeburg 1994, S. 59. 1980er Jahren zu den aktivsten Bürgerrechtlern in Halle. Bereits STUDE Halle 1989 771

1986 gehörten sie zu den Erstunterzeichnern einer Parteitagseingabe der ›Initiative für Frieden und Menschenrechte‹ an den XI. Parteitag 36 Ehrhart Neubert: der SED.36 Die Teilnahme beider Eigenfelds an der Gründung des Geschichte der Opposition Neuen Forums verdeutlicht den Rückgriff der Reformbewegung in in der DDR, a. a. O., der DDR im Frühherbst 1989 auf bereits bestehende personelle Ver- S. 600 f. flechtungen. Damit gingen eine gewisse überregionale Organisation 37 Kleines Politisches und ein Mindestmaß an Infrastruktur einher. Dafür wiederum war Wörterbuch, a. a. O., die Ansiedlung der Reformgruppen an die evangelische Kirche un- S. 471. – Diesem Duktus abdingbar. verhaftet, heißt es in einem Auf die republikweite Anmeldung der Tätigkeit des Neuen Forums chiffrierten Fernschreiben am 19. September 1989 reagierte die SED-Führung um Erich Ho- des Generalsekretärs des necker gereizt. Das 40-jährige Jubiläum der Deutschen Demokrati- ZK der SED, Erich schen Republik sollte mit Staatsgästen aus aller Welt als Erfolgsge- Honecker, an die ersten Sekretäre der SED-Bezirks- schichte dargestellt werden. Politische Opposition galt im eigenen leitungen vom 22. Septem- Lande offiziell schon lange als überkommenes bürgerliches Relikt. ber 1989 in Bezugnahme Weil »die sozialistische Staatsmacht die Interessen des Volkes ver- auf die Anmeldung des körpert und seinen Willen verwirklicht, die Staatsmacht tatsächlich Neuen Forums: » (...) in der vom Volk ausgeht (...), dem Aufbau des Sozialismus und damit der letzten Zeit haben auf ver- kontinuierlichen Entfaltung umfassender Demokratie sowie der schiedenen Ebenen Aktivitä- ständig besseren Befriedigung der materiellen und ideellen Lebens- ten unserer Feinde stattge- funden, die darauf gerichtet bedürfnisse aller Werktätigen dient, richtete sich jegliche Opposition sind, entsprechend der bun- gegen die sozialistische Gesellschaftsordnung, gegen die Werktäti- desdeutschen Propaganda gen selbst«.37 konterrevolutionäre Gruppen Die Aktivitäten des Neuen Forums in der Stadt Halle konzentrier- zu organisieren. (...) Es ten sich bis Ende Oktober 1989 auf den strukturellen Aufbau in die bestand Übereinstimmung, Gesellschaft hinein sowie auf die offizielle Anerkennung als politi- dass diese feindlichen Aktio- scher Gesprächspartner in der Stadt. Bis zum 19. Oktober 1989 sa- nen im Keime erstickt wer- den müssen, dass keine hen sich die Gründungsmitglieder dabei immer wieder Repressalien Massenbasis dafür zugelas- 38 der Sicherheitsorgane ausgesetzt. Neben der Beschlagnahme von sen wird. (...) gleichzeitig ist Informationsmaterialien kam es wiederholt zu kurzzeitigen Inhaftie- dafür Sorge zu tragen, dass rungen. Derweil konnten die Vertreter des Neuen Forums bei ihrem die Organisatoren der kon- Einspruch gegen das staatliche Verbot dem Rat des Bezirkes ca. terrevolutionären Tätigkeit 2 000 gesammelte Unterstützer-Unterschriften vorlegen. Zudem war isoliert werden.« – Chiffrier- bereits in jedem halleschen Stadtbezirk ein Sprecherrat des Neuen tes Fernschreiben Erich Honeckers an die ersten Se- Forums installiert worden. Die faktische Anerkennung des Neuen kretäre der SED-Bezirkslei- Forums als Gesprächspartner in Halle erfolgte am 26. Oktober 1989. tungen vom 22.9.1989, Ar- Hans-Joachim Böhme hatte vier Vertreter des Neuen Forums zu chiv Roland Claus beim einem persönlichen Gespräch für den 30. Oktober in die SED-Be- ADS. zirksleitung eingeladen. Bereits am 26. Oktober hatte sich Günter Schabowski, wie Böhme Politbüro-Mitglied, in Berlin mit Mitbe- 38 Vgl. dazu Frank Eigen- gründern des Neuen Forums zu Gesprächen getroffen. Von der SED feld: Bürgerrechtsbewegun- gen 1988-1990; in: Andrea wurden diese Gespräche als Ausdruck der eigenen Dialogbereit- Pabst, Katharina Schultheiß, schaft auf der Grundlage der Verfassung der DDR bezeichnet. Man Peter Bohley (Hrsg.): Wir bezog sich dabei auf die Beschlüsse der 9. Tagung des Zentralkomi- sind das Volk? Ostdeutsche tees der SED vom 18. Oktober 1989, jener Sitzung, auf der Egon Bürgerrechtsbewegungen Krenz zum Nachfolger Honeckers gewählt wurde.39 und die Wende, Tübingen Die zwei Hauptforderungen der frühen Herbstproteste 1989 wur- 2001; sowie Frank Eigen- den durch das Neue Forum formuliert. Sie hießen Vereinigungsfrei- feld: Verzieht euch endlich, Pack, ihr elendes! Erleb- heit und offener Dialog innerhalb der DDR. Diese Punkte beinhalten nisse im Herbst 1989 in in ihrer politischen Konsequenz alle weiteren Forderungen nach Halle, unveröffentlichtes Meinungs-, Presse-, Versammlungsfreiheit, freien Wahlen und auch Manuskript im Besitz des Reisefreiheit. Wie wenig die führenden Politiker aller Parteien in der Verfassers. 772 STUDE Halle 1989

39 Vgl. ›Neues Deutsch- DDR im Herbst 1989 diesen Forderungen gerecht wurden, zeigte land‹ vom 27.10.1989; das einsetzende Protestverhalten der Bevölkerung. ebenso Hans-Hermann Hertle, Gerd-Rüdiger Der öffentliche Protest: konstituierende Phase Stephan (Hrsg.): Das Ende der SED: Die letzten Tage In Halle konnte Mitte Oktober 1989 von einer Demonstrations- des Zentralkomitees, Berlin kultur, wie sie sich in der nur 35 Kilometer entfernten Messe-Stadt 1997, S. 21. Leipzig mittlerweile etabliert hatte, noch keine Rede sein.40 In der Saale-Stadt schienen die gesellschaftlichen Verhältnisse – aus der 40 In Leipzig demonstrier- Sicht der SED – noch stabil zu sein. Ähnlich wie in Leipzig sollten ten am 2./9./16. Oktober aber in der Folgezeit auch in Halle die wöchentlich am Montag ver- 1989 10 000/50 000/ anstalteten Demonstrationen den Takt der gesellschafts-politischen 100 000 Menschen. Vgl. ›Die tageszeitung‹ vom Veränderungen vorgeben. 4. 10. 1989/11. 10. 1989/ Um die öffentliche Protestbewegung in Halle in den letzten Mo- 18. 10. 1989; zu den Ereig- naten des Jahres 1989 anschaulich erfassen zu können, bietet sich nissen in Leipzig vgl. u. a. methodisch eine Aufteilung in drei Phasen an. Der konstituierenden Ekkehard Kuhn: »Wir sind Phase in der ersten Oktoberhälfte schloss sich demnach eine kulmi- das Volk!« Die friedliche nierende Phase bis in den November an. Ab Mitte November setzte Revolution in Leipzig, dann eine regressive aber keineswegs restaurative Phase ein. Diese 9. Oktober 1989, Berlin 1999, sowie: Tobias Hollitzer: Phaseneinteilung bezieht sich dabei auf die Anzahl der Protestteil- Der friedliche Verlauf des nehmer – also die Quantität des öffentlichen Protestes. Gleichzeitig 9. Oktober 1989 in Leipzig – durchliefen Charakter und Inhalt – um im Bilde zu bleiben: die Qua- Kapitulation oder Reform- lität des öffentlichen Protestes – einen Wandel. Dieser qualitative bereitschaft? Vorgeschichte, Wandel soll im Folgenden ebenfalls herausgearbeitet werden. Verlauf und Nachwirkung, Die konstituierende Phase in Halle ist durch das Bemühen von den in: Günther Heydemann, Mitgliedern der kirchennahen Reformgruppen und ihrer Sympathi- Gunther Mai, Werner Müller (Hrsg.): Revolution und santen, eine öffentliche Protestkultur in der Stadt zu etablieren, ge- Transformation in der DDR prägt. Dabei bleibt deren Verhalten zunächst stark von Improvisation 1989/90, S. 247-289. geprägt und der Kreis der Rezipienten gering. Am Sonnabend, dem 7. Oktober 1989, dem Tag des 40. Staatsjubi- 41 Tagesbericht der AKG: läums der DDR, kam es in der Folge einer Kirchenveranstaltung zu Über die Wirksamkeit der Maßnahmen zur Absiche- einem ersten öffentlichen Protest auf dem städtischen Marktplatz. rung des 40. Jahrestages, Der Ansammlung am Abend ging dabei keinerlei Planung voraus; vom 8.10.1989; BStU, Ast. die Teilnehmer waren teilweise stark alkoholisiert und nicht dem Halle, Zugangsnummer Umfeld der Reformgruppen zuzurechnen. Im Zuge der vollen Ein- 7/93, o. Pag, abgedruckt in satzbereitschaft für die Sicherheitskräfte zum Staatsjubiläum waren Hans-Peter Löhn: »Unsere mehrere hundert Polizisten, MfS-Mitarbeiter sowie in Zivil die Nerven lagen allmählich Kampfgruppenhundertschaft ›Karl Meseberg‹ im Einsatz, um ›kon- blank«, a. a. O., S. 10.; siehe auch Zeitweilige Kommis- terrevolutionäre Tätigkeiten‹ zu verhindern. Insgesamt wurden an sion zur Untersuchung von diesem Abend 48 Personen auf dem halleschen Marktplatz ver- Willkür und Gewalt im Zu- haftet.41 Neben der Verhinderung eines öffentlichkeitswirksamen sammenhang mit dem De- Protestes zielte das MfS Anfang Oktober 1989 vor allem darauf ab, mokratisierungsprozess in »weitere Erkenntnisse über die Pläne und Absichten der feindlichen Halle 1989/1990, Abschlus- Kräfte und Gruppierungen herauszuarbeiten bzw. disziplinierend sbericht, Archiv des Verein und zersetzend einzuwirken.«42 Zeitgeschichte(n) e.V. Die Vorgeschichte der ersten Montagsdemonstration in der Saale- 42 BStU, Ast. Halle, MfS, Stadt verdeutlicht jedoch, wie sehr die Reformgruppen gelernt hat- BV-Halle, AKG, Sachakten ten, sich der Kontrolle des Staatssicherheitsdienstes der DDR zu ent- 1174, Bl. 30. ziehen. Im Umfeld der Reformgruppen wurde das Gerücht gestreut, dass am 9. Oktober 1989 ein ›sit in‹ vor der halleschen Marktkirche 43 Wieland Berg: Wasser auf die Mühlen. Die Saale- stattfinden würde. Tatsächlich fanden sich an besagtem Tag nach und 43 aktionen 1989 zwischen nach mehrere hundert Menschen ein. Ein Plakat der Organisatoren Wahlfälschung und Mon- erläuterte das Anliegen der schweigenden Menge: »Gewaltloses Wi- STUDE Halle 1989 773 derstehen, Schweigen für Leipzig, Schweigen für Reformen, Schwei- tagsdemos in Halle – und gen fürs Hierbleiben«. Blumen und Kerzen mussten noch fehlende wie die Stasi nur noch Sprechchöre ersetzen. Die Sicherheitskräfte der Stadt reagierten wie hinterherlief, Halle 2000, zwei Tage zuvor mit einem undifferenzierten gewaltsamen Vorge- S. 121; Frank Eigenfeld erinnert sich: »Die Kirche hen, um die Öffentlichkeitswirksamkeit der Ansammlung zu unter- dagegen war noch mit über binden. Dies spiegelte sich unter anderem darin wider, dass ein 2 000 Personen überfüllt Großteil der über 40 Verhafteten einfache Passanten waren. Der (...)«, in: Frank Eigenfeld: ›harte Kern‹ der Protestler hatte sich derweil in den Schutz der Verzieht euch endlich, Pack, Marktkirche begeben. Nach zähen Verhandlungen durften sie diese ihr elendes!, S. 8. Dagegen unbehelligt verlassen. ist im »Tagesbericht zur Wie inzwischen bekannt ist, waren die im Raum Halle stationier- Entwicklung der politisch- operativen Lage im Bezirk ten Armee-Einheiten an diesem Tag in erhöhte Gefechtsbereitschaft Halle am 9.10.1989« des versetzt worden. Was unter anderem bedeutete, dass an die ver- MfS von 400 Personen vor schiedenen Mannschaften Schusswaffen ausgehändigt wurden und der Kirche und 200 Perso- je Mann bereits 300 Schuss Munition auf LKW verladen waren.44 nen in der Kirche die Rede. Das hallesche Beispiel zeigt sehr deutlich, dass es am 9. Oktober BStU, Ast. Halle, MfS, BV- 1989 in der DDR keine zentrale Vorgabe zu einem Gewaltverzicht Halle, AKG, Sachakten für die verschiedenen Sicherheitsorgane gab. Das vorgegebene Ziel 1174, Bl. 9 f. war immer noch das Verhindern und Unterbinden von abweichen- 44 Vgl. Zeitweilige Kom- dem gesellschaftspolitischem Verhalten und Gedankengut. In Dres- mission (…), Abschluss- den hatte die ›Gruppe der 20‹ bereits am Vortag Gespräche mit dem bericht, S. 14. Bürgermeister Wolfgang Berghofer vereinbart, und in der inter- national weitaus stärker wahrgenommenen Messe-Stadt Leipzig 45 Vorschlag für ein schreckte die politische Führung nur wegen über 50 000 Demons- erstes, wenngleich außer-or- tranten vor einem repressiven Vorgehen am 9. Oktober 1989 zurück. dentliches Treffen der Initiative NEUES FORUM In Halle musste in der ersten Oktoberhälfte 1989 der Raum der Kir- zu einer Versammlung für che Andersdenkenden hingegen noch den Schutz bieten, den diese Gewaltfreiheit, Archiv Frank im Grunde nicht mehr beanspruchen wollten. Eigenfeld, auch Archiv In der Folgewoche wurden die programmatischen Forderungen Hans Hanewinckel. aufgestellt, hinter denen sich in Halle eine breite Protestbewegung formierte. Die Forderungen nach Gewalt-, Presse-, Versammlungs- 46 Telegramm des Leiters und Organisationsfreiheit unterschieden sich dabei nicht von denen der MfS Bezirksverwaltung Halle, Generalmajor in anderen städtischen Zentren. Sie wurden unter Federführung der Schmidt, vom 16. 10. 1989, 45 bereits jahrelang Engagierten aufgestellt. Mit der nächsten Demon- BStU, MfS, BV-Halle, AKG, stration am 16. Oktober 1989 wurde in Halle der Weg für die Insti- Sachakten 2162, Bl. 30 f. tutionalisierung der Montagsdemonstration nach dem Leipziger Vor- bild bereitet. Etwa 1 500 Hallenser forderten Gewaltfreiheit auch in 47 Vgl. dazu ›Freiheit‹ vom ihrer Stadt. Die Bedeutung dieser Demonstration liegt darin, dass sie 17. Oktober 1989, S. 2. die Spirale der Gewalt in Halle tatsächlich außer Kraft gesetzt hat. Bereits im Verlauf des Tages wurden die Sicherheitsorgane im Be- 48 Die lautstarken Forde- zirk dahingehend instruiert, »dass ein direkter Einsatz polizeilicher rungen zeugen von einem Kräfte und Mittel nur dann erfolgt, wenn Personen oder Objekte gewachsenen Selbstbe- wusstsein der Demonstra- angegriffen bzw. andere schwere Gewalthandlungen inszeniert tionsteilnehmer: »Wir sind 46 werden.« das Volk!«, »Wir bleiben Völlig unklar bleibt die Meldung der ZDF-Nachrichtensendung hier!«, »Schließt euch an!«, ›heute‹, in der von einer Demonstration mit angeblichen 20 000 Teil- »Weg mit den Kampfgrup- nehmern in der Saale-Stadt zu diesem Zeitpunkt die Rede war.47 pen!«. Das MfS zählte 34 Denn die erste ›richtige‹ Demonstration fand erst in der darauf Transparente. Sie trugen ex- emplarisch die Losungen: folgenden Woche statt. Wenige Tage nach der Absetzung Erich »NEUES FORUM zulas- Honeckers zogen am 23. Oktober 1989 annähernd 7 000 Menschen sen«, »Mehr sozial, weniger 48 durch die hallesche Innenstadt. Im Ergebnis der Demonstration muss!«, »Ja zur Demokra- stand ein Dialogangebot, welches dem halleschen Oberbürgermeis- tie«, »Pressefreiheit«, »Bei 774 STUDE Halle 1989

Halle-Fragen alle fragen!«, ter Eckhard Pratsch abgerungen wurde. Diese, am 26. Oktober 1989 »Visafrei bis Shanghai«, im Volkspark durchgeführte Dialogveranstaltung, bildet den Schlus- »Reform Egon Krenz – spunkt der konstituierenden Phase des Protestes in Halle. Die Wahl sonst hast du keine Fans« des Veranstaltungsortes war dabei durchaus symbolträchtig: Der und »Freie Wahlen«. – »Zur Demonstration am Volkspark, im Jahr 1907 eröffnet, ist ein traditionsreicher Veranstal- 23. 10. 1989 mitgeführte tungsort der Arbeiterbewegung in Halle gewesen. Der linke Flügel Losungen«, BStU, Ast. der USPD sprach sich auf einem außerordentlichen Parteitag 1920 in Halle, MfS, BV Halle, AKG, jenem Volkspark für ein Zusammengehen mit der KPD aus. Im Jahr Sachakten 1174, Bl. 102 f; 1924 wurde der Rot-Front-Kämpferbund hier gegründet.49 Bis zu siehe auch »Bericht über 6 000 Bürger nahmen im Oktober 1989 an der Dialogveranstaltung den Verlauf der am im Volkspark teil. Die Podiumsdiskussion ist den Beteiligten vor 23. 10. 1989 auf dem Markt- platz in Halle durchgeführ- allem als eine verpasste Chance, um konkrete inhaltliche Reformen 50 ten Demonstration«, LHASA, einzuleiten, im Gedächtnis geblieben. Statt eines sachlichen Dia- MER, SED-Bezirksleitung logs entwickelten sich immer wieder emotionale Debatten. Hinzu Halle, IV/F-2/5/261, Bl. 64- kam eine völlig unzureichende technische Vorbereitung durch den 67; vgl. ›Freiheit‹ vom Veranstalter – die Stadt Halle. Mehrfach drohte die Veranstaltung in 24.10.1989; auch Frank einem Skandal zu enden, als wiederholt Gerüchte um eine Gegende- Eigenfeld: »Verzieht euch monstration der SED angesprochen wurden.51 endlich, Pack, ihr elendes!«, S. 12. Die erste Phase der offenen Protestbewegung in Halle, die bis in die zweite Hälfte des Oktobers 1989 reichte, war im wesentlichen 49 Vgl. Bezirksleitung durch die Akteure der kirchennahen Reformgruppen geprägt – am Halle der SED, Bezirkskom- stärksten durch die Gründungsmütter und -väter vom Neuen Forum. mission zur Erforschung der Diese Akteure waren die Einzigen, die sich zu diesem Zeitpunkt der Geschichte der örtlichen Gefahr des sozialen Abstiegs offen stellten, so sie ihn nicht schon Arbeiterbewegung (Hrsg.): vorher in Kauf genommen hatten. Denn, so drückte es der Hallenser Gedenk- und Erinnerungs- stätten der Arbeiterbewe- Frank Eigenfeld auf seine eigene Biographie bezogen aus: »In den gung im Bezirk Halle, späten Jahren der DDR riskierte man den sozialen Abstieg, Über- Halle 1971, S. 57 f. wachung, Berufsverbot, Reiseverbot, Gefängnis – aber nicht das Leben.«52 50 So äußerte sich unter In welchem Spannungsfeld die DDR-Kritiker, die ihre politischen anderem Prof. Reinhard Forderungen ja mit der geltenden Verfassung der Republik begrün- Mocek, der von Kirchen- deten, sich tatsächlich bewegten, zeigen die parteiinternen Äußerun- vertretern als sachlicher Moderator für die Veranstal- gen von führenden SED-Funktionären. Der erste Sekretär der SED- tung vorgeschlagen wurde, Stadtleitung Halle, Karl-Heinz Falkenstein, bezeichnete so unter in einem Gespräch mit dem anderem eine Veranstaltung, auf der sich die Demonstranten auf Verfasser am 20. 1. 2006. strikte Gewaltfreiheit verständigten, »als eine klare feindlich, nega- Prof. Mocek fungierte sei- tive Zusammenrottung«. Zusammenfassend schwor Falkenstein die nerzeit als Dekan der philo- anwesenden Sekretariatsmitglieder ein: »In Dresden, in Leipzig hat sophischen Fakultät der Martin-Luther-Universität der Gegner sein Ziel erreicht, ich sage das so, wie es ist, es ist ein- Halle-Wittenberg. deutig, von ihnen ist in Halle noch nicht erreicht worden, was sie wollen. Denn hier ist ja schließlich das Zentrum der Arbeiterklasse, das rote Halle. Da waren wir stolz drauf und das wollen sie jetzt er- 51 Vgl. Udo Grashoff: Keine Gewalt! Der revolu- reichen und deshalb konzentrieren sie sich voll auf uns und deshalb 53 tionäre Herbst 1989 in Halle machen sie alles, um das weiterzuführen.« an der Saale. Dokumente Im Sinne des in der Antrittsrede von Egon Krenz proklamierten und Interviews, Halle 2004, Dialogs »mit dem Gesicht zum Volke«54 stellten sich einzelne Mit- S. 48 f; ebenso André glieder der SED-Stadtleitung am 23. Oktober 1989 den Teilnehmern Gursky: 26. Oktober Volks- der Montagdemonstration zum Gespräch. In internen Berichten an park, in: Zeit-Geschichte(n) e.V. Halle Verein für erlebte die SED-Stadtleitung schilderten sie die Situation wie folgt: »Nach Geschichte (Hrsg.): ereig- meiner gestrigen zweieinhalbstündigen Diskussion mit Demonstran- nisse im herbst 89, S. 102 f; ten auf dem Marktplatz von Halle bin ich der Meinung: Die Mehr- vgl. auch ›Freiheit‹ vom zahl der demonstrierenden Bürger wollen den Dialog, sie sind um STUDE Halle 1989 775 den Sozialismus besorgt (...) Die Masse erwartet schnell sichtbare 27. 10. 1989 sowie Informa- Zeichen von unserer Parteiführung und Regierung sowie Dialogbe- tion über den Verlauf der reitschaft von allen auf allen Ebenen.« Diese durchaus realistische Veranstaltung im Volkspark Einschätzung der Situation mündete allerdings in der dogmatischen Halle vom 1. November 1989, BStU, Ast. Halle, MfS, Aufforderung an die Bezirksleitung der SED, »sichtbare Maßnah- BV-Halle, Abt. XX, Sach- men zu ergreifen, damit alle 250 000 Kommunisten unseres Bezirkes akten 1085, Bl. 15 ff. wirksam werden. Die alte Losung Kommunisten an die ›Front‹ hat nach meiner Meinung jetzt volle Gültigkeit.«55 Und der erste SED- 52 Vgl. Frank Eigenfeld: Bezirkssekretär Böhme formulierte seine Erwartungshaltung an die Bürgerrechtsbewegungen Partei am 19. Oktober 1989 intern so: »Es würde mit dem Teufel zu- 1988-1990, a. a. O., S. 65. gehen, wir können doch nicht zulassen, dass 1 500 Kerzchenträger 56 53 In: Protokoll über die die Stadt Halle bestimmen.« Sitzung der Stadtleitung Die Stimmung auf der unteren Parteiebene der SED war zu diesem Halle der SED vom Zeitpunkt bereits von einer zunehmenden Orientierungslosigkeit ge- 20. 10. 1989, LHASA, MER, prägt. Die über Jahre hinweg ausgebauten Parteistrukturen im Sinne SED-Stadtleitung Halle, des demokratischen Zentralismus führten dazu, dass Probleme zwar IV/F-5/01/12, Bl. 18-51. nach ›oben‹ weitergeleitet wurden, aber deren Lösung vor Ort nicht angegangen wurde. Immer wieder ertönte auf der unteren Partei- 54 Vgl. Antrittsrede von Egon Krenz, in ›Neues ebene Unmut über fehlende ›zentrale‹ Anweisungen. So entsteht das Deutschland‹ vom Bild überforderter Nomenklaturkader und einer orientierungslosen 19. 10. 1989. Um wieder Parteibasis.57 in die »politische Offensive« Die SED war in dieser Situation nicht in der Lage, sich von ihrem zu gelangen, wie es im ideologischen Ballast zu befreien. Dieses Urteil bezieht sich auf pro- SED-Jargon hieß, forderte grammatische sowie personelle Entscheidungen in der Partei. Zum der erste SED-Bezirks- Ausdruck kam dies nicht zuletzt durch anlaufende Planungen zu ei- sekretär, Böhme, von den SED-Kreissekretären, die ner Großdemonstration in Halle. Am 24. Oktober 1989 hatte das Antrittsrede von Krenz im Sekretariat der SED-Stadtleitung auf einer Sondersitzung die Kon- Kollektiv zu verfolgen. Vgl. zeption zu einer Veranstaltung mit 60 000 Teilnehmern im Zentrum Chiffriertes Fernschreiben der Stadt beraten. Die Demonstration sollte am darauf folgenden der Bezirksleitung der SED, Montag, dem 30. Oktober 1989 stattfinden.58 Vermutlich war sie Gen. Kitzing an alle 1. Se- als Machtdemonstration zu den im Vergleich bisher relativ kleinen kretäre der Kreisleitungen Montagsdemonstrationen in Halle geplant. Die Demonstration der SED vom 18. 10. 1989, LHASA, MER, SED-Bezirks- scheiterte schließlich daran, dass die Parteibasis in den Betrieben leitung Halle, IV/F-2/5, den Aufrufen der Partei nicht Folge leistete. In der Tat muss man da- Nr. 256, Bl. 163. von ausgehen, dass die SED die angedachte Demonstration nutzen wollte, um friedlich ihre vermeintliche Stärke in der Stadt unter 55 »Information« vom Beweis zu stellen. In diesem Sinne stehen Äußerungen des ersten 24. 10. 1989, LHASA, MER, Sekretärs der SED-Stadtleitung Falkenstein auf der Stadtleitungssit- SED-Bezirksleitung Halle, zung am 20. Oktober 1989: »Das nächste mal bei einer solche Ak- IV/F-2/5, Nr. 257, Bl. 88. tion eben 5- oder 10 000 Kommunisten auf diesen Markt zu bringen, 56 »Protokoll der außer- um hier entgegenzuhalten, dann muss das auch kurzfristig möglich ordentlichen Sekretariatssit- sein. Auch darauf muss man sich in jeder Parteiorganisation einstel- zung vom 19. 10. 1989«, len. Nicht, um dort eine Prügelei zu veranstalten, nein um sie poli- LHASA, MER, SED-Bezirks- tisch praktisch auseinanderzubringen.«59 leitung Halle, IV/F-2/1, Interessanterweise griff die SED hier die Idee eines Krisenregula- Nr. 12, Bl. 46. tionsmechanismus aus dem Jahre 1953 auf. In Halle hatte die SED am 26. Juni 1953 – knapp eine Woche nach der Streikbewegung – 57 Resignierte Parteimit- eine Großkundgebung mit etwa 75 000 Teilnehmern durchgeführt. glieder berichteten an die SED-Bezirksleitung: »Ich Das offensichtliche Anliegen war es gewesen, die zurück gewon- habe nach bestem Wissen nene Macht über den öffentlichen Raum zu demonstrieren. In einem und Gewissen versucht, auf Polizeibericht zu der Kundgebung im Jahr 1953 heißt es: »Als alle anstehenden Fragen Genosse Fred Oelssner (Mitglied des ZK der SED – d. A.) konkret überzeugende Antworten 776 STUDE Halle 1989 zu geben. Ich konnte mich noch einmal die Ursachen des 17. und 18. 6. 1953 aufzeigte und die allerdings des Eindrucks Kundgebungsteilnehmer von den Regierungsbeschlüssen zur Ver- nicht erwehren, dass die besserung der allgemeinen Lebenslage überzeugen konnte, kannte Genossen (...) in gedrückter die Begeisterung keine Grenzen, die ihre Ovation fand in Hochrufen Stimmung und in Sorge aus dieser Gesprächsrunde in auf den Genossen Wilhelm Pieck, auf die Regierung, auf das ZK, so- 60 ihre Wohnungen zurückge- wie auf den Genossen Fred Oelssner.« gangen sind.« – Information 35 Jahre später haben die Spekulationen um eine ›Gegendemon- über ein politisches Ge- stration‹ unter dem Slogan ›Rote Fahnen gegen weiße Kerzen‹ den spräch mit Parteiveteranen Machtverlust der SED jedoch erheblich beschleunigt. Zudem wurde des Hochhauses Steg 5 durch dieses im Vorfeld publik gewordene Demonstrationsvorhaben vom 17. 10. 1989, LHASA, ein anderer Teil des Krisenregulationskonzeptes der SED-Bezirks- MER, SED-Bezirksleitung Halle, IV/F-2/5, Nr. 256, leitung Halle bereits im Ansatz konterkariert – nämlich das Bestre- Bl. 173. ben, den offenen Protest von der Straße in viele kleine überschau- bare Veranstaltungen zu kanalisieren.61 Resümierend bringt eine 58 Information über die interne Analyse der SED-Kreisleitung Buna Ende Oktober 1989 die aktuelle Lage in der Stadt Situation aus Sicht der SED im Raum Halle, die zu diesem Zeitpunkt Halle vom 25.10.1989, ihren Machtanspruch noch keineswegs aufgegeben hatte, so zum LHASA, MER, SED-Bezirks- leitung Halle, IV/F-2/5, Ausdruck: »Es zeigt sich, dass die Parteiorganisationen dabei sind, Nr. 257, Bl. 95. den Kampf wieder aufzunehmen und das verlorengegangene Ver- trauen wieder zurückgewinnen wollen. In der Partei führen wir kei- 59 In: Protokoll über die nen Dialog, sondern parteiliche Gespräche. Die Erwartungshaltun- Sitzung der Stadtleitung gen werden immer größer.«62 Halle der SED vom 20.10.1989, LHASA, MER, SED-Stadtleitung Halle, Der öffentliche Protest: kulminierende Phase IV/F-5/01/12, Bl. 18-51. Die kulminierende Phase der öffentlichen Protestbewegung in Halle 1989 ist durch drei wesentliche Merkmale gekennzeichnet: erstens 60 Polizeibericht vom die Ende Oktober einsetzenden Massendemonstrationen, zweitens 26. 6. 1953, zitiert nach: eine massive Machterosion der alten politischen Kräfte und drittens Zeit-Geschichte(n) e.V. – Verein für erlebte Ge- ein sich andeutender Einflussverlust der Bürgerrechtler auf die wei- schichte (Hrsg.): Der teren Entwicklungen. Exemplarisch für die angespannte Situation in 17. Juni 1953 in Halle – Halle im Oktober 1989 steht dabei ein Aufruf der Grundorganisation ein Tag der Zivilcourage; der SED an der Sektion Orient- und Altertumswissenschaften der 2. erweiterte Auflage, Halle Martin-Luther-Universität. Die Grundorganisation bemängelte, »dass 2003, S. 28. die Stadt Halle, die hinsichtlich des Umfangs der zu lösenden Pro- 61 Der erste SED-Bezirks- bleme gewiss ganz vorn rangiert in unserem Land, langsam zum 63 sekretär empfahl Ende Ok- Schlusslicht in Sachen öffentlicher Dialog gerät.« tober während einer Sekre- Durch die Gewaltlosigkeit der vorangegangenen Demonstrationen tariatssitzung, »den Dialog am 16. und 23. Oktober 1989 war deren Attraktivität innerhalb der von großen emotional auf- Bevölkerung in Halle enorm angestiegen. Die Gerüchte um die auf geladenen Massenveran- der Ebene der SED-Kreissekretäre geplanten ›Gegendemonstration‹ staltungen auf viele kleine bewirkten einen zusätzlichen Mobilisierungsschub. Inzwischen war sachliche und substantielle Gespräche auf kommunaler dieser Plan zwar fallengelassen worden, die Empörung in der Be- und betrieblicher Ebene zu völkerung – auch unter SED-Mitgliedern – war dennoch ungebro- verlagern«, in: Protokoll chen. Am 30. Oktober beteiligten sich unter diesen Voraussetzungen Nr. 23 der Sitzung des mehr als 50 000 Menschen an der Montagsdemonstration in Halle.64 Sekretariats der Bezirks- Mit Sprechchören und Transparenten forderten die Demonstranten leitung Halle am 29. 10. vehement personelle Veränderungen an der Spitze der SED-Bezirks- 1989, LHASA, MER, leitung sowie die Umsetzung der angekündigten Politik der ›Wende‹.65 SED-Bezirksleitung, IV/F-2/3/144, Bl. 195. Zur Nachfolgeveranstaltung des Dialogs im Volkspark kamen am 62 LHASA, MER, 2. November 1989 bis zu 10 000 Bürger – diesmal auf den halle- SED-Kreisleitung Buna, schen Marktplatz. Mit dem Auftritt des ersten Sekretärs der SED- IV/F-405/99, Bl. 3. Bezirksleitung wurde dessen Ansehensverlust unter der Bevölke- STUDE Halle 1989 777 rung erneut deutlich. Als Nachfolger von Horst Sindermann und 63 LHASA, MER, Werner Felfe seit 1981 im Amt, traute man dem jahrelangen Polit- SED-GO MLU Halle, büromitglied Hans-Joachim Böhme keine Reformpolitik zu. Er galt IV/F-7/761, Nr. 4, Bl. 31. in den Augen der Bevölkerung vielmehr als Prototyp eines unbehol- 64 Die Schätzung der fenen Nomenklatur-Kaders. Der Vorsitzende der republikweit größ- Teilnehmerzahlen liegt ten Bezirksparteiorganisation der SED musste sich vor den auf- zwischen 50 000 in der gebrachten Hallensern für kostspielige Prestigeobjekte, wie den ›Freiheit‹ vom 31. 10. 1989 neuen Anbau der SED-Bezirksleitung, im Volksmund ironisch ›Café und 80 000 in der ›Liberal- Böhme‹ genannt, rechtfertigen. Dagegen gelang es dem im Mai demokratischen Zeitung‹ vom 31. 10. 1989; unrea- 1989 neu gewählten Oberbürgermeister Eckhard Pratsch, sich mit listisch klingt demgegenüber dem Vorschlag zur Bildung einer Bürgerkommission zur Untersu- die Teilnehmerzahl in MfS- chung der Vorgänge Anfang Oktober in der Saale-Stadt als reform- Berichten von 20 000, vgl. fähiger Politiker zu profilieren.66 Vorwürfe wegen MfS-Zusammen- Bericht über den Verlauf der arbeit beendeten 1990 die Politikambitionen von Pratsch jäh. am 30. 10. 1989 in Halle Die Lage in Halle drohte 1989 schließlich zu eskalieren, als die und Halle-Neustadt durch- Masse der fast 80 000 Montagsdemonstranten am 6. November er- geführten Demonstration, LHASA, MER, SED-Bezirks- neut heftig den Rücktritt Böhmes und weiterer SED-Führungskräfte leitung Halle, IV/F-2/5/261, forderte. In einem MfS-Bericht heißt es unumwunden: »Die Atmo- Bl. 118 ff. sphäre war insbesondere von einer aggressiven Haltung der Mehrzahl der Teilnehmer gegen den 1. Sekretär der Bezirksleitung bestimmt. 65 Das MfS registrierte In Wortmeldungen, Sprechchören und auf Transparenten wurde der 50 Transparente, auf denen 67 unter anderem zu lesen Rücktritt des 1. Sekretärs gefordert.« Zeugnis der emotional zuge- war: »Keine Alleinherrschaft spitzten Situation auf dem halleschen Marktplatz ist eine öffentliche mehr durch SED«, »Rechts- Entschuldigung des Neuen Forums gegenüber Hans-Joachim Böhme sicherheit statt Staatssicher- wenige Tage später in der Tagespresse! Darin hieß es: »Die Ereig- heit«, »Freie Wahlen für ein nisse und Bedingungen am letzten Montag auf den Treppen vor dem freies Volk«, »Wer einmal Ratshof können nicht wortlos übergangen werden. (...) fand ein wil- lügt ...«, »Macht ist Dienen der, erbitterter Kampf um das Mikrofon statt, und Achim Böhme ohne Privilegien«, »Refor- men statt Phrasen«, wurde dort oben persönlich beleidigt, bespuckt und angegriffen. »Erneuerung des Lohn- 68 Dieses darf nicht noch einmal passieren!« systems«, »Keine Verspre- Wiederholt wird hier die pazifistische Grundeinstellung der De- chen. Konkrete Taten«, monstrationsinitiatoren aus dem Umfeld der kirchennahen Gruppen »Dialog ist gut – Taten sichtbar. Gleichzeitig verdeutlicht die Situation die bereits einge- sind besser« und »Neues setzte Entkoppelung der Initiatoren der ersten Demonstrationen ge- Forum«. Als regionalspezifi- genüber einem bedeutenden Teil der Teilnehmer der Massenproteste sche Forderungen kamen zum Ausdruck: »Stoppt die Ende Oktober 1989 in Halle. So hielten die Initiatoren aus dem Um- Abrisspolitik in Halle« und feld der Kirche als Ausdruck dafür, sich auf dem Boden geltenden »Mehr Demokratie in Halle«. Rechtes zu bewegen, weiterhin an der SED als Gesprächspartner fest Neue Rufe wie: »Stasi in – nicht zuletzt auch deshalb, weil das Anmeldeverfahren des Neuen die Volkswirtschaft« und Forums bei den staatlichen Behörden immer noch bearbeitet wurde. »Deutschland erwache« Lauter werdende Gruppierungen auf den Demonstrationen folgten ertönten. Zudem registrierte dieser Strategie, auf die Dialogpolitik der SED einzugehen, nicht. das MfS in Halle erstmals eine mitgeführte Deutsch- Berichte von inoffiziellen Mitarbeitern des MfS stützen die Vermu- landfahne. Noch wurde zum tung eines schwindenden Einflusses der radikal friedlichen, sich am Ende der Demonstration geltenden Recht der DDR orientierenden Reformkräfte auf die ein- aber die »Internationale« setzenden Massendemonstrationen in Halle. Die Quelle ›Bruno‹ be- gesungen. – Vgl. Anlage richtete Anfang November 1989: »Dort war mir nicht klar, ob dann zum Bericht über den Ver- die friedlichen Demonstranten in der Lage sind, diese Kräfte einzu- lauf der am 30. 10. 1989 in Halle und Halle-Neustadt grenzen, (...) dass es nicht zu solchen Handgreiflichkeiten kommen durchgeführten Demonstra- 69 kann.« Den sich krass wandelnden Charakter der Proteste verdeut- tion vom 31. 10. 1989, BStU, lichen die nunmehr lautstarken Forderungen der Demonstranten. Ast. Halle, MfS, Auf den fast 70 gezählten Transparenten der ersten Montagsdemon- BV-Halle, AKG, Sachakten 778 STUDE Halle 1989

1174, Bl. 146-149; vgl. auch stration im November 1989 war unter anderem zu lesen: »Zeigt her ›Freiheit‹ vom 31. 10. 1989. eure Häuschen«, »Reisegesetzentwurf ist nur Hinhaltetaktik«, »Sagt den Wendehälsen ab«, »40 Jahre Klassenkampf – 30 Tage unbezahl- 66 Mit 35 Jahren galt Pratsch zum Amtsantritt ter Urlaub« und »Halle ist kein böhmisches Dorf«. Bekannt gewor- 1989 als einer der jüngsten dene und vermutete Privilegien von Parteifunktionären trugen wei- Bürgermeister der DDR. Vgl. ter zu einer emotionalen Zuspitzung der Situation bei. Auf einem ›Freiheit‹ vom Transparent war als politische Herausforderung an die SED bereits 24. 6. 1989; vgl. weiter: zu lesen »SDP – Die Partei des Volkes«.70 Bericht über den Verlauf und Einen tiefen Blick in die gesellschaftlichen Verhältnisse der Saale- den Inhalt der am Stadt am Vorabend des Mauerfalls gewährt ein Analysepapier der 2. 11. 1989 im Bezirk Halle 71 stattgefundenen bedeut- MfS-Bezirksverwaltung vom 8. November 1989. In dem Dokument samen Veranstaltung vom werden die anhaltenden Gründungsaktivitäten des Neuen Forum, der 3. 11. 1989, BStU, Ast. SDP, des Demokratischen Aufbruch und von ›Demokratie jetzt‹ mit Halle, MfS, BV-Halle, AKG, der Unterstützung von Kirchenvertretern konstatiert. Die steigenden Sachakten 1174, Bl. 191 f; Teilnehmerzahlen der Demonstrationen Anfang November 1989 gin- vgl. auch ›Freiheit‹ vom gen, so wurde festgehalten, mit einer gleichzeitig zunehmenden Ag- 3. 11. 1989. gressivität einher. Der Unmut der Demonstranten richtete sich dabei 67 LHASA, MER, SED- gegen die unglaubwürdige ›Wendepolitik‹ der SED und zunehmend Bezirksleitung Halle, auch gegen das Ministerium für Staatssicherheit. Wobei im Bezirk IV/F-2/5/261, Bl. 167. Halle vor allem die alten ›gewendeten‹ Kader für Unverständnis sorg- ten. Als die politischen Hauptforderungen hatte das MfS, neben der 68 ›Freiheit‹ vom 8.11.1989; auch ›Liberal ungeklärten Reisefrage, völlig zutreffend die Streichung des festge- Demokratische Zeitung‹ schriebenen Führungsanspruches der SED aus der Verfassung der vom 9. 11. 1989. DDR sowie die Forderung nach freien Wahlen erkannt. Besonders beim Neuen Forum glaubte das MfS bereits Anfang November 1989 69 BStU, Ast. Halle, MfS, zugleich eine »gewisse Konzeptionslosigkeit«72 feststellen zu können, BV-Halle, Abt. XX, Sach- an die es sich für die SED anzuknüpfen lohne. In der Tat mehrten sich akten 1085, Bl. 22 f. mit dem einsetzenden Massenzuspruch zu den Demonstrationen ab 70 Tagesbericht zur Ende Oktober auch die kritischen Stimmen in der Bevölkerung zur Ar- politisch-operativen Lage beit der neuen politischen Bewegungen in Halle. Neben einer gerin- im Bezirk Halle vom gen programmatischen Initiative enttäuschten vor allem ungeklärte 6. 11. 1989, BStU, Ast. Organisationsfragen die Erwartungen mancher Bürger.73 Halle, MfS, BV-Halle, AKG, Spätestens als Hans-Joachim Böhme am 8. November 1989 auf Sachakten 979, Bl. 10-15. der 10. Tagung des Zentralkomitees erneut ins Politbüro gewählt 71 Thesen zur politisch- wurde, schlugen auch die verschiedenen SED-Parteiorganisationen operativen Lageentwicklung des Bezirkes Halle Alarm. In unzähligen Protestschreiben an die Be- vom 8. 11. 1989, BStU, Ast. zirksebene verlangten Parteimitglieder im Namen einer glaubwürdi- Halle, MfS, BV-Halle, AKG, gen Reformpolitik die sofortige Absetzung des ersten SED-Bezirks- Sachakten 980, Bl. 51-56. sekretärs. Die Parteileitung der Martin-Luther-Universität wandte 72 Ebenda. sich sogar direkt an das noch tagende Plenum des Zentralkomitees. Mit der dringenden Bitte um Korrektur dieser Kaderentscheidung 73 LHASA, MER, SED- verwies die größte Parteiorganisation der Stadt Halle darauf, dass Bezirksleitung Halle, IV/F- »die Existenz und Handlungsfähigkeit unserer Bezirksparteiorga- 2/5/261, Bl. 27 und Bl. 164. nisation« auf dem Spiel stünde.74 Am 9. November 1989 war der 74 LHASA, MER, Druck auf den ersten SED-Bezirkssekretär schließlich so stark an- SED-GO MLU Halle, gewachsen, dass er auf einer nächtlichen Sondersitzung des Sekreta- IV/F-7/761, Nr. 4, Bl. 83. riats zurücktrat. Wie Hans-Joachim Böhme dankten in einer zweiten Rücktrittswelle auch die ersten SED-Bezirkssekretäre von Erfurt, 75 Gorbatschow nennt Modrow in diesem Zusam- Magdeburg, Rostock und Karl-Marx-Stadt ab. Kurz zuvor war be- menhang einen »Rebellen«. reits die Regierung unter Willi Stoph zurückgetreten. Sein Nachfol- Vgl. Michail Gorbatschow: ger wurde der als Reformer75 geltende erste Sekretär der SED-Be- Erinnerungen, Berlin 1996, zirkleitung Dresden, Hans Modrow. STUDE Halle 1989 779

Die Umkehrung der Machtverhältnisse in der Saale-Stadt Halle ver- S. 936. Noch im Sommer deutlichte eine Kundgebung der SED am 10. November 1989. We- 1989 war Modrow vom Zen- niger als 4 000 Sympathisanten waren noch bereit, dem Aufruf der tralkomitee der SED gerügt Partei Folge zu leisten.76 worden. Modrow hatte einen relativ ungeschönten Bericht Am 11. November 1989 wurde Roland Claus in das Amt des ersten zur Situation im Bezirk 77 SED-Bezirkssekretärs Halle gewählt. Mit seiner Person ist die Ein- Dresden vorgelegt. Darauf- führung eines grundsätzlich anderen Politikstils auf der Bezirks- hin wurden ihm von der ebene verbunden. Diese Veränderungen sind vor allem an zwei SED-Führung fehlende Punkten festzumachen. Zum einen entfiel, durch den aufgenötigten Leistungsfähigkeit und zu Amtsverzicht Böhmes, die funktionale Verflechtung des ersten Se- nachgiebiges Vorgehen ge- kretärs der SED-Bezirksleitung Halle mit dem Politbüro. Zugespitzt gen »bürgerliche und feind- liche Auffassungen« im formuliert, findet sich darin ein Ursprung einer neuen unabhängigen vorgewor- Regionalpolitik des Bezirkes Halle wieder. Zum anderen änderte fen. Vgl. ›tageszeitung‹ vom sich unter dem neuen Bezirkssekretär Roland Claus der Umgangston 24. 6. 1989. erheblich. Beispielhaft dafür stehen Äußerungen wie: »Ich hätte viele Ideen für Demonstrationen und Begegnungen, aber ich möchte diese 76 Vgl. ›Freiheit‹ vom demokratische Bewegung nicht vereinnahmen. Das Misstrauen muss 11. 11. 1989. ich akzeptieren und kann es mit Politsymbolismus nicht abbauen«.78 77 Mit 34 Jahren ist Damit konnte Claus jedoch nicht den inzwischen eingesetzten Zer- Roland Claus der jüngste fallsprozess der SED im Bezirk aufhalten. Aufgaben zur Sicherung jemals in der DDR gewählte des Alltagslebens absorbierten zudem in hohem Maße die Kräfte des SED-Bezirkssekretär. Vgl. neuen SED-Bezirkssekretärs. Zum Zeitpunkt des Amtsantritts von ›Freiheit‹ vom 14. 11. 1989. Roland Claus waren bereits mehr als die Hälfte der SED-Kreis- sekretäre ihrer Ämter enthoben worden; der erste Kreissekretär in 78 ›Neues Deutschland‹ Köthen hatte sich gar das Leben genommen.79 vom 21. 11. 1989. Ein anderes Ereignis überragte diese Personalentscheidungen je- 79 LHASA, MER, SED- doch. Noch bevor sich die Bevölkerung der DDR an die neuen Poli- Bezirksleitung Halle, tiker-Gesichter gewöhnen konnte, wurde die Mauer, die Berlin in IV/F-2/1, Nr. 13, Bl. 13. zwei Städte teilte, geöffnet. Die politischen Entscheidungsträger der 80 Carl Chung, Hans- DDR liefen ab diesem Zeitpunkt mit ihren Entscheidungen den Tat- Hermann Hertle (unter sachen, die das Volk auf der Straße schuf, nur noch hinterher. Die Mitarbeit von Franz-Otto SED wurde sozusagen von der eigenen ›Wende‹ überrollt.80 Dazu Gilles und Jürgen Kädtler): zählt auch die erneute Prüfung auf Zulassung des Neuen Forum durch Restrukturierung der indus- das Ost-Berliner Innenministerium. Die Bevölkerung der DDR hatte triellen Beziehungen in der das Neue Forum längst zugelassen. chemischen Industrie auf In Halle hatten sich derweil die Sicherheitskräfte der Polizei und dem Gebiet der ehemaligen DDR. Betriebsstudie Buna; die Veranstalter der Montagsdemonstrationen auf eine ›Sicherheits- unveröffentlichtes Manu- partnerschaft‹ geeinigt, die den friedlichen Verlauf der Demonstra- skript im Besitz des Verfas- tionen gewährleisten sollte. Im ›Reformhaus‹ zusammengeschlos- sers, S. 17; minutiös zum sen, übernahmen die neuen politischen Kräfte fortan abwechselnd Mauerfall vgl. Hans-Her- die Organisation und Verantwortung für den Verlauf der Demonstra- mann Hertle: Chronik des tionen.81 Mauerfalls. Die dramati- Die Bündelung der neuen politischen Strömungen unter einem schen Ereignisse um den 9. November 1989, Berlin Dach konnte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass seit Anfang 1996. November 1989 dort ein zunehmend destruktiver Profilierungspro- zess eingesetzt hatte. Immer häufiger traten jetzt die Überforderung 81 Im ›Reformhaus‹ ver- und die Hilflosigkeit der Organisatoren der öffentlichen Proteste ge- treten waren: Antifaschisti- genüber der entstandenen Dynamik der Prozesse zu Tage. Dies sche Aktion, Christliche äußerte sich einerseits durch Defizite innerhalb der Gruppenarbeit, Mediziner/IPPNW, Demo- kratischer Aufbruch, Demo- aber auch durch mangelhafte Organisation der Abschlusskundge- kratie jetzt, Grüne Liga, bungen der Montagsdemonstrationen. Die Äußerungen eines Pfar- Grüne Partei, Neues Forum, rers der evangelischen Kirche in Halle, dem Protokoll der Telefon- SDP, Vereinigte Linke, evan- 780 STUDE Halle 1989 gelische Kirche, katholische überwachung durch das MfS entnommen, verdeutlichen die Schwie- Kirche sowie Künstler und rigkeiten, denen sich die noch junge politische Opposition ausgesetzt Kulturschaffende. Vgl. Klaus sah: »Inzwischen gäbe es die paradoxe Situation, dass man mit den Keitel: Die Reformzeitung ehemaligen Gegnern besser zusammenarbeiten kann, als mit den Halle, in: Hermann-Josef Rupieper (Hrsg.): Die fried- Neuen in den eigenen Reihen. Vor allem in den unteren Reihen der 82 liche Revolution in Sachsen- Partei gäbe es hervorragende Leute.« Anhalt, Halle 2004, S. 99- 102, hier S. 99; vgl. auch Der öffentliche Protest: regressive Phase ›Freiheit‹ vom 4.11.1989. Die regressive Phase des offenen Protestes in Halle wurde durch ein Bemerkenswerterweise Kuriosum eingeleitet. So wurde die für den 13. November 1989 stellte die Stadt Halle dem geplante Montagsdemonstration kurzfristig abgesagt. Vertreter der ›Reformhaus‹ eine Immo- bilie in zentraler Lage zur Stadt und der Reformgruppen hatten sie zusammen geplant, der hal- Verfügung, und trug die ge- lesche Oberbürgermeister Pratsch schon Tage vorher in der Presse samten anfallenden Kosten; seine ausdrückliche Unterstützung und sein Kommen zugesichert. vgl. Beschlussprotokoll der Doch wegen dichten Nebels wurde die Kundgebung, die außerhalb 4. Sitzung des Rates der des Stadtzentrums vor der Bezirksverwaltung des MfS geplant war, Stadt Halle am 14. Februar abgesagt. Durch die Grenzöffnung und schlechtes Wetter bedingt, 1990, STAH, o. Pag. Zum fiel die Teilnehmerzahl von annähernd 80 000 in der Vorwoche auf ›Reformhaus‹ auch: Reform- haus Halle e. V. (Hrsg.): ›Re- nicht einmal 5 000, die trotz der offiziellen Absage demonstrierend formhaus Halle‹ Haus der durch die Stadt zogen. Bürgerbewegungen. Wer Die Öffnung der Mauer hatte in der Tat in den ersten Wochen eine sind wir – was wollen wir? Art Ventilwirkung. Auch die Bürger im Raum Halle wollten nun die Bürgerbewegungen, Vereine neuen Reisemöglichkeiten für »das Kennenlernen der westlichen und Initiativen in Selbstdar- Verhältnisse« in Anspruch nehmen.83 stellungen, Halle 1994. Ab dem 20. November 1989 entwickelte sich ein relativ gleich- 82 BStU, MfS, BV-Halle, mäßiger Ablauf der Montagsdemonstrationen in Halle. Das ›Fahnen- Abt. XX, Nr. 1038, Bl. 47. monument‹ am innerstädtischen Verkehrsring wurde zum festen Austragungsort der Abschlussveranstaltungen.84 Die verschiedenen 83 Chiffriertes Fernschrei- Gruppen des ›Reformhauses‹ organisierten nun abwechselnd die De- ben an die MfS-Bezirks- verwaltung Halle über die monstrationen, die fortan unter variierenden Losungen stattfanden. »Reaktion der Bevölkerung« Dabei ist unter den Organisatoren eine zunehmend politisch diver- vom 10.11.1989, BStU, Ast. gierende Meinung festzustellen, was sich auch auf die Durchführung Halle, MfS, BV-Halle, AKG, der Demonstrationen seit Anfang November auswirkte.85 Eine Ver- Sachakten 2843, Bl. 207 f. anstaltungsteilnehmerzahl von 30 000 wurde in der folgenden Zeit nicht mehr überschritten. Der neue Bezirkssekretär der SED, Roland 84 Die ›Flamme der Revo- lution‹, wegen ihres Ausse- Claus, verpflichtete sich fortan, persönlich für eine angemessene 86 hens in der Bevölkerung technische Vorbereitung der Abschlusskundgebungen zu sorgen. ›Fahnenmonument‹ ge- Neben der rückläufigen Teilnehmerzahl wandelten sich auch die nannt, war 1967 als Erinne- Forderungen auf den Demonstrationen. Der Ruf nach Bürgerrechten rungs- und Gedenkstätte und personellen Veränderungen auf der Partei- und Staatsebene wich zum 50. Jahrestag der Bestrebungen, die erreichten Zugeständnisse durch einen gesellschafts- ›Großen Sozialistischen politischen Paradigmenwechsel unumkehrbar zu machen. Dazu ge- Oktoberrevolution‹ geschaf- fen worden. Vgl. Bezirkslei- hörte neben der Streichung des Führungsanspruches der SED aus der tung Halle der SED (Hrsg.): Verfassung der DDR die Zurückdrängung des allgegenwärtigen Mi- Gedenk- und Erinnerungs- nisteriums für Staatssicherheit aus der Gesellschaft. stätten, S. 52. Unter einer zugespitzten Stimmungslage, geprägt von geschürten Emotionen und Misstrauen, litt vor allem die konstruktive sachbe- 85 Einschätzung zur poli- zogene Regionalpolitik. Auf einer Sitzung des SED-Bezirksleitung tisch-operativen Lageent- wicklung vom 24. 11. 1989, bemängelte der erste Sekretär Roland Claus deswegen: »Noch nicht in: Ulrich Schlademann, zustande gekommen sind konstruktive Gespräche und Diskussionen Wieland Berg, Daniel mit Vertretern demokratischer Bewegungen und Strömungen. Wir Cyranka (Hrsg.): »Keine sind in Kontakt getreten, aber es gibt noch kein Miteinander. Erfor- STUDE Halle 1989 781 derlich ist es deshalb, (...) die Gespräche (...) noch vielgestaltiger Überraschung zulassen!« und möglichst thematisch fortzuführen, weil sie eine konstruktive Berichte und Praktiken der Erörterung von Sach- und Fachfragen mit allen Bevölkerungs- Staatssicherheit in Halle bis schichten ermöglichen.«87 Ende November 1989, Halle 1991, S. 117. Auf der letzten Montagsdemonstration im November erschienen in Halle erstmals Transparente mit der Forderung »Keine sozialisti- 86 ›Freiheit‹ vom schen Experimente – Wiedervereinigung sofort«.88 Der Gesang der 21. 11. 1989. »Internationale« war den Rufen »Deutschland einig Vaterland!« ge- wichen. Am 4. Dezember 1989 kam es fast zu handgreiflichen Aus- 87 Rede Roland Claus einandersetzungen, als sich Vertreter der Antifaschistischen Aktion auf der Tagung der Bezirks- gegen nationalistische und faschistische Tendenzen aussprachen. leitung vom 29. 11. 1989, LHASA, MER, SED-Bezirks- Unter der Androhung eines Generalstreiks wurde auf derselben Ver- leitung Halle, IV/F-2/1/014, anstaltung die Auflösung des umstrukturierten Geheimdienstes, die Bl. 8. Auflösung des hauptamtlichen Parteiapparates der SED sowie die Auflösung der Kampfgruppen gefordert.89 88 Bericht über die poli- Fast schon anachronistische Züge trägt vor diesem Hintergrund tisch-operative Lage im der Beitrag eines Autors aus der Bürgerrechtsbewegung im ›Blatt- Bezirk Halle vom 27. 11. werk‹ zu diesem Zeitpunkt: »Ist der Schrei nach Wiedervereinigung 1989, BStU, Ast. Halle, MfS, BV-Halle, AKG, Sachakten wirklich die ursprüngliche Sehnsucht der Menschen in der DDR? 979, Bl. 64. Ich bin davon überzeugt, dass eine Vereinigung der beiden existie- renden deutschen Staaten zum heutigen Zeitpunkt weder vernünftig 89 Vgl. ›Freiheit‹ vom noch nützlich wäre.«90 Exemplarisch wird hier das Programm der In- 5. 12. 1989 und 12. 12. 1989; itiatoren des Protestes in Halle widergespiegelt, die sich vor allem siehe auch Bericht über die mit ihrer Haltung zur Deutschlandfrage schnell wieder ins politische politisch-operative Lage im Bezirk Halle vom 4.12.1989, Abseits manövrierten. Wissenschaftlich-historisch kann man am BStU, Ast. Halle, MfS, BV Beispiel der Stadt Halle keinen Zusammenhang mit den Protest- Halle, AKG, Sachakten 979, initiatoren der kirchennahen Reformgruppen und den ersten Vereini- Bl. 82. Im Zusammenhang gungsforderungen auf den Demonstrationen herausarbeiten. Forde- mit der zunehmenden Ag- rungen nach einer deutschen Vereinigung, der allgemeinen Gefühls- gressivität auf den Demon- lage der Demonstranten im Dezember entsprechend, standen die strationen steht auch ein halleschen Protestinitiatoren zurückhaltend bis ablehnend gegenüber. Appell der Polizei: »Für Ge- waltfreie Über den innerparteilichen Zustand der SED, der sich seit No- Erneuerung unserer Gesell- vember weiter zugespitzt hatte, gibt eine Analyse der Abteilung Par- schaft (...) Betroffen wenden teiorgane der SED-Stadtleitung Halle Auskunft: »Das Ansehen der sich Bürger unserer Stadt SED hat in der Stadt Halle nahezu den Nullpunkt erreicht. Auch an uns, die ihre Besorgnis zahlreiche Parteikader verstehen die Welt nicht mehr. Jeglicher Ver- über Erscheinungen zuneh- such, die SED neu zu formieren, stößt auf Desinteresse und Wider- mender Aggressivität bei den bisher friedlich verlau- stand sowohl unter Parteimitgliedern, wie Werktätigen aus den Be- fenden Demonstrationen 91 trieben und Einrichtungen.« Die SED war faktisch nicht mehr zum Ausdruck bringen. Wir arbeitsfähig. Seit Mitte November galt daher auch als Arbeitsmittel- wenden uns daher an alle punkt »der Kampf um den Erhalt und die Einheit der Partei«.92 Nur Parteien, gesellschaftlichen wenige Wochen später herrschte jedoch außerhalb und innerhalb der Organisationen und Bürger- Partei die Meinung vor, »die Partei soll endlich aufgelöst werden, sie bewegungen und bieten zur 93 Absicherung ihrer Demon- hat sowieso verspielt.« strationen unsere Sicher- Der linearen Entwicklung des offenen politischen Protestes vom heitspartnerschaft an, damit September bis Dezember 1989 in der DDR gerecht werdend, titelte der Erneuerungsprozess eine Hallesche Tageszeitung am 19. Dezember mit der Schlagzeile: auch weiterhin friedlich »Die deutsche Frage ist zur zentralen Frage auch der politischen verläuft.« ›Freiheit« vom Bewegung in Halle geworden«.94 Diese ›neue Frage‹ ins Kalkül zie- 8. 12. 1989. hend, besuchte am 16. Dezember 1989 der damalige Außenminister 90 ›Blattwerk‹ vom der Bundesrepublik Hans-Dietrich Genscher seine Geburtsstadt 11.12.1989, MDA PER 48. Halle. Die Gespräche mit Mitgliedern der Reformgruppen in der 91 LHASA, MER, 782 STUDE Halle 1989

SED-Bezirksleitung Halle, St. Georgengemeinde charakterisierte ein Teilnehmer so: »Ein Tref- IV/F-2/5, Nr. 263, Bl. 66. fen zwischen Vertretern von unten, die versuchen müssen, sich und unser Land ›am eigenen Zopf‹ aus dem Dreck zu ziehen, mit denen, 92 Anlage Nr. 3 des Proto- kolls Nr. 27 des Sekretariats die ganz von oben aus Bonn kommen und eine perfekt organisierte der SED-Bezirksleitung Politik betreiben.«95 Halle »Aktuelle Aufgaben in Aus der ursprünglichen Forderung »Gewaltfreiheit für unsere Vorbereitung des außeror- Stadt« einiger weniger hallescher Bürger war eine Massenbewegung dentlichen Parteitages«, LHASA, MER, SED-Bezirks- entstanden, die eine grundsätzlich neue Politik einforderte. Ähnlich leitung, IV/F-2/3, Nr. 146, den Demonstrationen in Leipzig wandelten sich auch in Halle die Bl. 44. Forderungen der Demonstranten in den verschiedenen Phasen zuge- spitzt formuliert von »Wir sind das Volk!« zu »Deutschland einig 93 LHASA, MER, Vaterland!« SED-Bezirksleitung Halle, IV/F-2/5, Nr. 263, Bl. 126. In der Saale-Stadt fand der öffentliche Protest in Form der Mon- tagsdemonstrationen am 13. Februar 1990 seinen formellen Ab- 94 ›Freiheit‹ vom schluss. Die Organisatoren des ›Reformhauses‹ trugen damit der po- 19. 12. 1989. litischen Entwicklung Rechnung. Denn die Demonstrationen waren 95 ›Blattwerk‹ vom im Frühjahr 1990 von einer rückläufigen Teilnehmerzahl gekenn- 18. 12. 1989. zeichnet. Und zudem überlagerte der einsetzende Wahlkampf zu den vorgezogenen Volkskammerwahlen am 18. März 1990 bereits das 96 Zum ›Runden Tisch‹ politische Tagesgeschäft. Mit der Beteiligung an den Runden Tischen im Bezirk Halle vgl. Her- mann-Josef Rupieper: auf Stadt- und Bezirksebene waren die Reformkräfte außerdem, zu- 96 Runde Tische in Sachsen- mindest indirekt, in die Exekutive eingebunden. Anhalt 1989/90: Einige Der Nachfolger des MfS – das Amt für Nationale Sicherheit – war Bemerkungen zur For- zu diesem Zeitpunkt bereits ein passiver Beobachter der Ereignisse. schungsproblematik, in: Zu konstatieren bleibt, dass im Herbst 1989 der von der SED zum Ders. (Hrsg.): Die friedliche Revolution 1989/90 in Sach- Objekt degradierten Bevölkerung ausgehend von der Bürgerrechts- sen-Anhalt; sowie auch: bewegung wieder eine kreative Subjektrolle angeboten wurde. Die Detlev Lintzel: Einhundert- übergroße Mehrheit der Bevölkerung in der DDR, und die Stadt neunzig Tage: Der Runde Halle bildet hier keine Ausnahme, entschied sich jedoch ähnlich wie Tisch des Bezirkes Halle 1989-1990, Halle 1997. die Bevölkerung im westlichen Teil Deutschlands rund 40 Jahre zu- vor. Seit den 1950er Jahren hatte in der Bundesrepublik unter ande- 97 Vgl. dazu Heinrich rem durch den ›Korea-Boom‹ ein immenser wirtschaftlicher Auf- August Winkler: Der lange schwung eingesetzt.97 Die Folge war ein nicht für möglich gehaltener Weg nach Westen. Deut- sche Geschichte 1933- wirtschaftlicher Wohlstand nur wenige Jahre nach dem Ende des von 1990, Bonn 2004, hier Deutschland begonnenen Zweiten Weltkrieges. In der Folge fun- S. 159 f. gierte die Marktwirtschaft in der Bundesrepublik als eine Art ›Er- satzverfassung‹. Negative Kriegsfolgen wie der Gebietsverlust östli- 98 Zur gesellschaftlichen Situation in der Bundesrepu- cher Territorien, die faktische Spaltung Restdeutschlands sowie eine blik der 1960er Jahre scharf fehlende Identität schienen durch die einsetzende Wohlstands- und Karl Jaspers: Wohin treibt Wohlsfahrtsmehrung erträglicher. Nach der Erfahrung von 40 Jahren die Bundesrepublik? Tatsa- DDR strebte nun auch die Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung chen, Gefahren, Chancen, eben nach dieser ›Ersatzverfassung‹ – einer Marktwirtschaft bundes- München 1966. republikanischer Prägung. Dieses Streben drückte sich entsprechend in den verschiedenen Wahlergebnissen des Jahres 1990 aus. Die politischen Parteien, die das Konzept der bundesrepublikanischen Marktwirtschaft am vehementesten einforderten, gingen als Sieger aus den Wahlen hervor. Der Preis, den die Bevölkerung der DDR zu entrichten hatte, war – ähnlich der Bevölkerung der Bundesrepublik Jahrzehnte vorher98 –, ihre Rolle als Subjekt.