„Wenn Ihr den Weg der Strategie erreicht habt, versteht Ihr alles, ausnahmslos. Ihr werden den Weg als Ganzes kennen.“ Miyamoto Musashi

Miyamoto Musashi

Frühe Reife

Miyamoto Musashi98 wurde 1584 in Miyamoto, einem kleinen Dorf in der Provinz von Harima99 im Zentrum von Honshû, der japanischen Hauptinsel, geboren. Er gehörte zum Klan der Niimi (Shinmen), die von den Akamatsu abstammten. Die Zeit seiner Geburt, die Tenshô-Ära, war durch große Un- ruhen im Lande geprägt. war der neue Herr des Landes, nachdem 1582 der Shôgun ermordet worden war. Zwar hatte bereits Oda versucht, auf dem Weg der Einigung voranzubringen und somit der Epoche der blutigen Bürgerkriege, die das Land bereits seit Jahrhun- derten heimsuchten, ein Ende zu setzen, aber noch immer herrschte kein Frie- den. In solch einem von Gewalt beherrschten Umfeld, in dem nur der Starke eine Chance hatte, zu überleben, wuchs der künftige Meister des Schwerts auf. Er trug in seiner Kindheit die Vornamen Bennosuke, Heima und auch Takezo. Sein ganzes Leben lang verwendete er auch unterschiedliche Familiennamen. Neben dem bekanntesten, Miyamoto, nannte er sich auch Takemura, Hirata, Shinmen oder Hirao. Seinem gebräuchlichsten Vornamen, Musashi, fügte er manchmal martialisch klingende Zusätze wie Masama oder Masanobu bei. Bennosuke war der zweite Sohn von Shinmen Muninosuke Nobutsuna, Lehnsmann von Môri Taizen Tayu Motonari, des Herrn der Burg von Ha- gui. Sein Vater war ein namhafter Experte im Umgang mit dem Kurzschwert und mit dem jite100. Einst hatte er sogar über einen der Meisterkämpfer des

98 Miyamoto Musashi, auch Shinmen Musashi-no-Kami Fujiwara-no-Genshin (1584-1645). 99 Die alte Provinz Harima entspricht der heutigen Präfektur von Hyôgo. 100 Jite: jpn. Lanze, deren metallische Spitze an ihrer Basis mit zwei Klingen ausgestattet war, die im rechten Winkel zur Spitze standen. Diese kreuzförmige Waff e wurde durch die ashigaru ein- gesetzt, und sie gestattete es, zu stoßen und beim Zurückziehen der Waff e zu schneiden. Später wurde sie zunehmend durch die naginata ersetzt und die Techniken für den Umgang mit ihr gingen verloren. – Habersetzer, R. u. G.: Encyclopédie des Arts Martiaux. Paris: Amphora 2004.

146 Shôguns den Sieg errungen. Aufgrund seiner großen Begabung nannte man Bennosukes Vater auch Munisai Shinmen (Niimi). Glaubt man den Geschichtsschreibern, so off enbarten sich die Begabungen des Bennosukes bereits in frühester Jugend. Sein ausgeprägtes kämpferisches Talent trug ihm den Spitznamen „kleiner Tengu“ ein, in Anspielung auf jene gefl ügelten, im Gebirge hausenden langnasigen Waldwesen, halb Mensch und halb Vogel, denen man außerordentliche Fähigkeiten im Schwertkampf nachsagte. Es gibt zahlreiche Anekdoten über die Zeit seiner Kindheit, von denen viele zweifelsohne stark übertrieben sind oder erst viel später ersonnen wurden. Um ihn als einen Meister mit übermenschlichen Fähigkeiten darzu- stellen, wurden Eigenschaften, die er sich erst in späteren Jahren erwarb, auf seine Jugendzeit übertragen. Im Bild des „Heiligen des Schwertes“, das uns überliefert wurde, sind Tatsachen und Legenden untrennbar miteinander ver- woben. Ein Beispiel für solch eine Kindheitsanekdote ist die Geschichte von der schlummernden Katze. „Schau dir diese Katze an, die auf dem Stein dort im Garten vor sich hindöst“, sagte eines Tages sein Vater zu ihm. „Wärest du in der Lage, das Tier mit einem einzigen Schwertstreich zu töten, ohne dabei mit der Klinge deines den Stein zu treff en und sie so zu beschädigen?“ Ohne ein Wort zu erwidern, näherte sich der Junge vorsichtig dem Tier, das arglos in der Sonne lag. Mit einem schrillen kiai riß Bennosuke das Schwert aus der Scheide. Die erschrockene Katze wollte aufspringen, aber es war schon zu spät. Die Klinge war bereits mit tödlichem Schwung herabgesaust, begleitet von einem Geräusch, das wie das Rascheln von Seide klang. Die Katze lag reg- los auf der Steinplatte. Sie hatte nicht die geringste Chance gehabt. Munisai näherte sich dem wie ein Fellbündel daliegenden Tier. Zu seiner Überraschung war kein Blut zu sehen. Hinter ihm hatte sein Sohn bereits das Schwert wieder in die Scheide gleiten lassen und lächelte vor sich hin. Munisai, der nicht ver- stand, was geschehen war, untersuchte die Katze von nahem. Verblüff t mußte er erkennen, daß sie noch immer atmete und daß das Schwert eine Hälfte ihres Schnurrbarts abrasiert hatte. Sie war off enbar vor Schreck ohnmächtig geworden. Als er seinen Sohn erstaunt anblickte, sagte dieser ruhig, indem er ihm fest in die Augen sah: „Man tötet nicht ohne Grund. Ich wollte die kleine Katze nicht umbringen. Selbst eine streunende Katze hat ihr Leben, und man darf es ihr nicht einfach zu seinem Vergnügen nehmen. Es wäre sehr leicht gewesen, ihr mehr anzutun, als ihr nur den Schnurrbart abzuschneiden, aber

147 das hätte mir nichts gebracht.“ Der Vater murmelte eine unverständliche Antwort. Er legte seine Hand auf die Schulter Bennosukes. Schnell wandte er sein Gesicht ab, damit der Junge nicht den feuchten Glanz sehen konnte, der sich auf seine stolz blickenden Augen gelegt hatte. Tatsächlich hat es jedoch den Anschein, daß der junge Bennosuke eher da- durch auffi el, ungestüm, waghalsig und oft auch jähzornig zu sein und daß erst im Nachhinein versucht wurde, seinen Verhaltensweisen einen tieferen Sinn zu verleihen. Wahrscheinlich ist aber, daß sich dahinter nichts weiter ver- barg als Mut, Ehrgeiz und Überlebenswille, wie es in jener Zeit für viele junge Söhne von charakteristisch war. Es ist in der Geschichte oft zu beob- achten, daß nach dem Tode einer großen Persönlichkeit deren Biographie auf eine Weise umgedeutet wird, daß die Eigenschaften, die sie auf der Höhe ihres Ruhmes entwickelt hatte, auf ihr gesamtes Leben projiziert werden, bis in die früheste Kindheit. Aus diesem Grund wird sich die Erzählung im Folgenden auf das beschränken, wofür es authentische Belege gibt. Dies ist im übrigen vollkommen ausreichend, um Miyamoto Musashi als eine der größten histo- rischen Gestalten seiner Epoche zu charakterisieren. Bennosukes Vater starb in einem Duell, als der Junge sieben Jahre alt war. Ein Onkel mütterlicherseits, der Mönch war, nahm sich seiner an. Doch der Junge war nicht dafür geschaff en, Bonze zu werden. Er nutzte seinen Aufenthalt im Kloster, um sich weiter im Schwertkampf zu vervollkommnen. In einem Umfeld, das durch Spiritualität und Askese geprägt war, gelangte er so zu früher kämpferischer Reife. Bennosuke liebte es, seine Kräfte mit ande- ren zu messen. An Gelegenheiten zum Kampf mangelte es im ausgehenden 16. Jahrhundert nicht. Zu jener Zeit bereitete der Taikô Toyotomi Hideyoshi gerade seinen zweiten Koreafeldzug vor.101 Damit verfolgte er nicht nur das Ziel, das „Land der Morgenröte“ zu erobern, sondern es ging ihm auch dar- um, die kaum zu bändigende Aggressivität seiner Samurai gegen einen ge- meinsamen Gegner außerhalb zu richten. An seinen ersten Zweikampf sollte Musashi sich zeit seines Lebens erinnern. Zwei Jahre vor seinem Tod schrieb Musashi: „Seit frühester Kindheit übte ich mich in den Kampfkünsten. Meinen ersten Kampf focht ich im Alter von 13 Jahren gegen Kihei aus.“

101 Siehe Fußnote 87 auf S. 136.

148 Die erste Herausforderung

Es war im Jahre 1596, als Bennosuke durch Zufall ein Schriftstück las, das an der belebtesten Straßenkreuzung der Stadt angeschlagen war. Darauf forderte ein gewisser Arima Yoshibe (Kihei), ein Praktizierender des Shintô-ryû, jeder- mann, der dies wagen sollte, zum Zweikampf heraus. Ein solches Verfahren war nicht unüblich unter den notorischen Streithähnen des Ortes. Für sie war es eine Gelegenheit, sich zu erproben, ihre Erfahrungen zu bereichern und ihre Überlegenheit unter Beweis zu stellen, die bei zu langer Abwesenheit von der Kampfszene schnell in Zweifel gezogen werden würde. Natürlich barg die- se Vorgehensweise stets auch ein gewisses Risiko in sich und verlangte einiges an Mut. Bennosuke trug sich ohne zu zögern auf dem Herausforderungsschreiben ein. Die Gelegenheit, sich auf diese Weise einen Namen zu machen, erschien ihm verlockend. Keiner der Gegner kannte den anderen, aber die gegenseitige Herausforderung war nach den Regeln erfolgt, und die Begegnung würde somit stattfi nden. Bennosuke wußte nicht, daß der Mann, dessen Herausforderung er an- genommen hatte, der berühmten Familie der Tokisada angehörte und als Fechtmeister im Hause Tokugawa Ieyasus angestellt war. Obwohl alle ihm Nahestehenden eindringlich dazu rieten, verzichtete Bennosuke auf eine öf- fentliche Entschuldigung, die ihm den Kampf erspart hätte, auf den er sich mit jugendlicher Leichtfertigkeit eingelassen hatte. Wer glaubte, daß er von seinem Ansinnen zurücktreten würde, kannte den Jungen schlecht. Die Beteiligten trafen also auf dem Platz ein, der für die Begegnung verein- bart worden war. Bennosuke, mit erhobenem Haupt und festem Blick, ließ Kihei nicht einmal Zeit, seinen Gegner abschätzen zu können. Unverzüglich stürzte er sich, sein aus Eichenholz schwenkend, auf ihn. Sein über- raschter Gegner machte einen Schritt zur Seite und zog zugleich seine eigene Waff e. Wieder ergriff Bennosuke die Initiative durch eine für seinen Geg- ner höchst überraschende Tat: Er warf sein Holzschwert weit von sich. Kihei, der zunächst nicht wußte, wie er darauf reagieren sollte, begriff schließlich, daß Bennosuke ihn auf diese Weise zum waff enlosen Zweikampf auff orderte. Zwar war er für sein Alter in guter Form, aber Bennosuke hatte den Vorteil der Jugend. Kihei blieb keine Wahl: Wollte er nicht das Gesicht verlieren, mußte er sich dieser Herausforderung stellen. Der Fechtmeister warf sein

149 Schwert ebenfalls in den Sand. Unverzüglich stürzte sich Bennosuke auf ihn, packte ihn und schleuderte ihn mit Wucht zu Boden, so daß Kihei sich mehr- mals überschlug und am Ende halb betäubt liegenblieb. Als er versuchte, sich wieder aufzurappeln, ergriff Bennosuke sein bokken und schlug es ihm heftig auf den Schädel. Die Zuschauer, denen es buchstäblich den Atem verschlagen hatte, mußten zusehen, wie Kihei Blut spuckte und starb. Der künftige Musashi hatte in diesem Kampf zwei Prinzipien demonstriert. Das eine besagte, daß die Niederlage aus der Unterschätzung des Gegners er- wachsen kann, und das andere, daß in einem Kampf auf Leben und Tod alles erlaubt ist, um zu siegen und zu überleben. Moral hat in dieser verbürgten Geschichte, die eine ganz andere Sprache spricht als die von der schlummern- den Katze, keinen Raum. Es gibt sogar Versionen, nach denen der Sieger, kaum daß sein Opfer gestorben war, diesem im Blutrausch weitere Schläge auf den Schädel versetzt haben soll, so daß sich sein Gehirn im Sand verteilte. Auf diese Weise betrat der junge Kämpfer auf brutale und aufsehenerre- gende Weise die Welt der Krieger, nach der er sich schon lange gesehnt hatte. Daß er sich damit tödlicher Gefahr aussetzte, kümmerte ihn nicht im gering- sten. Das Leben als Krieger, der jeden Tag mit dem Tode konfrontiert werden konnte, war das, was seinem innersten Wesen entsprach. Ob er überleben würde, war allein Frage seines Karma. Die nächste Spur seines Daseins fi ndet sich drei Jahre später, als er Aki- yama, einen bekannten Krieger aus Tajima, in einem Duell tötete. Von nun an läßt sich der Lebensweg des Mannes, der sich inzwischen Miyamoto Musashi nannte, gut verfolgen. Er durchstreifte das Land als Rônin, als Krieger ohne Herr, stets danach bestrebt, in den kämpferischen Auseinandersetzungen, die ihm der Zufall bescherte, seine Kunst zu vervollkommnen. So begann sein Dasein als einsamer Krieger auf der Suche nach Vollendung (musha-shugyô- sha). Dieses Streben, dieser innere Drang, glich einem steten Feuer, das bis zu seinem Tode nicht erlöschen sollte. Im Alter von 17 Jahren schloß er sich den Truppen Toyotomi Hideyoris an, des Sohns des zwei Jahre zuvor verstorbenen Taikô Toyotomi Hideyoshi. To- yotomi kämpfte darum, die Legitimität seiner Nachfolgeschaft zu beweisen, um die Macht behalten zu können. Sein Gegner war der Klan des ehrgeizigen , des ehemaligen Verbündeten des alten Taikô, der inzwi- schen selbst davon träumte, ein einiges Japan zu schaff en. In der berühmten Schlacht von Sekigahara, die am 21. Oktober 1600 stattfand, trafen die beiden

150 Anwärter auf die höchste Macht im Lande aufeinander. In einem nebelver- hangenen Tal kämpften mehr als 200 000 Krieger auf vom Regen aufgeweich- tem Grund. Die gewaltigste Schlacht, die das alte Japan je gesehen hat, wurde durch den Verrat der Kobayakawa entschieden, die während der Kämpfe auf die Seite des Stärkeren wechselten. Damit fi el die Macht endgültig an Tokuga- wa Ieyasu. Viele berühmte Kämpfer verloren an jenem Oktobertag ihr Leben. Musashi, der auf der Seite der Verlierer gekämpft hatte, blieb schwerverletzt auf dem Schlachtfeld liegen; man hatte ihn für tot gehalten. Mehrere Tage lag er inmitten unzähliger Leichen. Nur seiner robusten Verfassung hatte er es zu verdanken, daß er überlebte.

Kämpfe gegen den Yoshioka-Klan

Ab 1604 befand Musashi sich in Kyôto, der Kaiserstadt. Er war 21 Jahre alt und auf der Höhe seiner Kräfte. Seine Schwerttechnik war allmählich immer ausgereifter geworden, vor allem dank etlicher Zweikämpfe, aus denen er aus- nahmslos als Sieger hervorgegangen war. Doch dies war ihm nicht genug. Er strebte nach der absoluten Vollendung. Bereits jetzt eilte sein Ruf ihm stets voraus. Es überrascht also nicht, daß die Herausforderung, die er an Yoshioka Seijûrô, dem Meister eines der bedeutendsten dôjô der Stadt, richtete, ange- nommen wurde. Dessen Vater, Yoshioka Shozaemon, ein Meisterkämpfer des Shôguns, war zu seiner Zeit bereits gegen Musashis Vater angetreten. Musashi nahm den bevorstehenden Kampf nicht auf die leichte Schulter. Insgeheim hatte er die Schwerttechnik Yoshiokas bereits aufs genaueste stu- diert, indem er durch ein Fenster des dôjô gespäht hatte. Aber es langte ihm nicht, dessen bevorzugte Techniken oder die Art und Weise, wie er sich be- wegte, zu kennen. Den Gegner wirklich kennenzulernen hieß für ihn auch, Studien über das Temperament und den Charakter des Mannes, den er her- ausgefordert hatte, zu betreiben. Allmählich nahm seine Strategie Form an. Der vereinbarte Tag brach an. Man wollte sich um zehn Uhr morgens auf einem Gelände in der Nähe des Tempels Rendai-ji treff en, in der nördlichen Vorstadt Kyôtos. Voll Ungeduld war Yoshioka Seijûrô bereits im Morgengrau- en am vereinbarten Ort erschienen, begleitet von Schülern. Doch um zehn Uhr war von Musashi weit und breit nichts zu sehen. Er traf schließlich mit zweistündiger Verspätung ein. Tatsächlich war er zu der Überzeugung gelangt,

151