Inhaltsverzeichnis Plenarprotokoll 18/101

Deutscher

Stenografischer Bericht

101. Sitzung

Berlin, Freitag, den 24. April 2015

Inhalt:

Tagesordnungspunkt 25: (SPD) ...... 9659 C a) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU) ...... 9660 C SPD: Erinnerung und Gedenken an die (SPD) ...... 9661 D Vertreibungen und Massaker an den Armeniern vor 100 Jahren (CDU/CSU) ...... 9663 A Drucksache 18/4684 ...... 9653 D Dr. (CDU/CSU) ...... 9664 B b) Antrag der Abgeordneten , Katrin Kunert, Wolfgang Gehrcke, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE Tagesordnungspunkt 24: LINKE: 100. Jahresgedenken des Völ- kermords an den Armenierinnen und Antrag der Abgeordneten Sabine Armeniern 1915/1916 – Deutschland Zimmermann (Zwickau), , muss zur Aufarbeitung und Versöh- , weiterer Abgeordneter und der nung beitragen Fraktion DIE LINKE: Programm für gute Drucksache 18/4335 ...... 9654 A öffentlich geförderte Beschäftigung aufle- gen Drucksache 18/4449 ...... 9665 C in Verbindung mit Heike Werner, Ministerin (Thüringen) ...... 9665 C Dr. (CDU/CSU) ...... 9667 D Zusatztagesordnungspunkt 5: Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE) ...... 9669 D Antrag der Abgeordneten Cem Özdemir, (Augsburg), Peter Meiwald, Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) ...... 9670 C weiterer Abgeordneter und der Fraktion Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gedenken an DIE GRÜNEN) ...... 9670 D den 100. Jahrestag des Völkermords an den Armeniern – Versöhnung durch Auf- (SPD) ...... 9672 B arbeitung und Austausch fördern Drucksache 18/4687 ...... 9654 A (CDU/CSU) ...... 9674 B Dr. (SPD) ...... 9676 C Präsident Dr. ...... 9653 A Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ Dr. h. c. Gernot Erler (SPD) ...... 9654 B DIE GRÜNEN) ...... 9677 D Ulla Jelpke (DIE LINKE) ...... 9655 B Dr. (DIE LINKE) ...... 9678 B Dr. (CDU/CSU) ...... 9656 C Dr. Matthias Bartke (SPD) ...... 9678 D Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/ Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn DIE GRÜNEN) ...... 9657 D (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ...... 9679 A II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. , Freitag, den 24. April 2015

Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE Dr. André Hahn (DIE LINKE) ...... 9696 C LINKE) ...... 9679 C Uli Grötsch (SPD) ...... 9697 D Christel Voßbeck-Kayser (CDU/CSU) ...... 9680 B (BÜNDNIS 90/ Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) ...... 9681 D DIE GRÜNEN) ...... 9699 B Jutta Eckenbach (CDU/CSU) ...... 9683 A (CDU/CSU) ...... 9700 B (SPD) ...... 9684 B Wolfgang Gunkel (SPD) ...... 9702 A Dr. (CDU/CSU) ...... 9685 C Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 9704 A (Weil am Rhein) (CDU/CSU) 9705 A Tagesordnungspunkt 23: Dr. (BÜNDNIS 90/ a) Erste Beratung des von der Bundesregie- DIE GRÜNEN) ...... 9705 C rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Dr. André Hahn (DIE LINKE) ...... 9706 B zes zur Verbesserung der Zusammenar- beit im Bereich des Verfassungsschutzes Drucksache 18/4654 ...... 9686 D Tagesordnungspunkt 26: b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und Umsetzungsstand der Empfehlungen SPD: Die NVV-Überprüfungskonferenz des 2. Untersuchungsausschusses des zum Erfolg führen Deutschen Bundestages in der Drucksache 18/4685 ...... 9708 C 17. Wahlperiode (NSU-Untersuchungs- ausschuss) in Verbindung mit Drucksache 18/710 ...... 9686 D c) Antrag der Abgeordneten , , Dr. André Hahn, weiterer Abgeord- Zusatztagesordnungspunkt 7: neter und der Fraktion DIE LINKE: Wirksame Alternativen zum nachrich- Antrag der Abgeordneten Inge Höger, tendienstlich arbeitenden Verfassungs- Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer schutz schaffen Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Drucksache 18/4682 ...... 9686 D Die europäische Sicherheitsstruktur retten – Übereinkommen in Gefahr Drucksache 18/4681 ...... 9708 C in Verbindung mit Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD) ...... 9708 C Inge Höger (DIE LINKE) ...... 9709 D Zusatztagesordnungspunkt 6: Dr. (CDU/CSU) ...... 9710 C Antrag der Abgeordneten Dr. Konstantin von (BÜNDNIS 90/ Notz, Hans-Christian Ströbele, Irene Mihalic, DIE GRÜNEN) ...... 9711 D weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für eine (SPD) ...... 9712 D Zäsur und einen Neustart in der deutschen Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU) ...... 9713 D Sicherheitsarchitektur Drucksache 18/4690 ...... 9687 A Dr. (CDU/CSU) ...... 9714 B Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister BMI ...... 9687 A Tagesordnungspunkt 27: Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 9689 B Antrag der Abgeordneten Elisabeth Scharfenberg, Kordula Schulz-Asche, Maria Petra Pau (DIE LINKE) ...... 9690 B Klein-Schmeink, weiterer Abgeordneter und (SPD) ...... 9691 B der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gute Versorgung am Lebensende sichern – Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ Palliativ- und Hospizversorgung stärken DIE GRÜNEN) ...... 9692 B Drucksache 18/4563 ...... 9715 C (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . 9693 C Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 9715 D Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 9695 C (CDU/CSU) ...... 9717 A Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 III

Pia Zimmermann (DIE LINKE) ...... 9718 B Tagesordnungspunkt 29: Helga Kühn-Mengel (SPD) ...... 9719 B Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs Erwin Rüddel (CDU/CSU) ...... 9720 A eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Bettina Müller (SPD) ...... 9720 D Erneuerbare-Energien-Gesetzes Drucksache 18/4683 ...... 9727 C Dr. Roy Kühne (CDU/CSU) ...... 9721 D (SPD) ...... 9727 D Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) ...... 9729 B Tagesordnungspunkt 28: Dr. (CDU/CSU) ...... 9730 A Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Dr. (BÜNDNIS 90/ Änderung von Bestimmungen des Rechts DIE GRÜNEN) ...... 9731 C des Energieleitungsbaus Drucksache 18/4655 ...... 9722 D Nächste Sitzung ...... 9732 D , Parl. Staatssekretär BMWi ...... 9722 D Anlage 1 Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) ...... 9723 B Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 9733 A (CDU/CSU) ...... 9724 B (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 9725 C Anlage 2 Johann Saathoff (SPD) ...... 9726 C Amtliche Mitteilungen ...... 9733 D

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(A) (C)

101. Sitzung

Berlin, Freitag, den 24. April 2015

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert: fahrungen des 20. Jahrhunderts wissen wir, dass es kei- Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet. nen wirklichen Frieden geben kann, solange nicht den Opfern, ihren Angehörigen und Nachkommen Gerech- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle tigkeit widerfährt, im Erinnern an das, was tatsächlich herzlich zu dieser Plenarsitzung, insbesondere auch die geschehen ist. zahlreichen Gäste, die zum ersten Tagesordnungspunkt erschienen sind. Dieser Tagesordnungspunkt behandelt Auch heute werden Menschen Opfer von Verfolgung, ein herausragendes historisches Ereignis mit nachhalti- aus politischen, ethnischen und auch aus religiösen gen Folgen nicht nur für das Nachbarschaftsverhältnis Gründen, darunter Tausende Christen. Die Türkei leistet zwischen der Türkei und Armenien. Schon die Vereinba- mit der Aufnahme von weit über 1 Million Flüchtlingen rung dieser Debatte im Deutschen Bundestag hat große eine immense, zu selten gewürdigte und manchen in Eu- öffentliche Aufmerksamkeit gefunden. ropa beschämende humanitäre Hilfe. Diese Bereitschaft, Verantwortung in der Gegenwart zu übernehmen, ver- (B) Völkermord ist ein Straftatbestand im Völkerrecht für gessen wir ausdrücklich nicht, wenn wir an das Bewusst- (D) Taten mit der Absicht, „eine nationale, ethnische, rassi- sein auch der Verantwortung für die eigene Vergangen- sche oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise heit appellieren. zu zerstören“. Das, was mitten im Ersten Weltkrieg im Osmanischen Reich stattgefunden hat, unter den Augen Die heutige Regierung in der Türkei ist nicht verant- der Weltöffentlichkeit, war ein Völkermord. Er ist nicht wortlich für das, was vor 100 Jahren geschah, aber sie ist der letzte im 20. Jahrhundert geblieben. Umso größer ist mitverantwortlich für das, was daraus wird. Dass sie in unsere Verpflichtung, im Respekt vor den Opfern und in einer eigenen Zeremonie einen Schritt auf die Nachfah- der Verantwortung für Ursachen und Wirkungen die da- ren und den Nachbarn zugeht, würdigen wir ausdrück- maligen Verbrechen weder zu verdrängen noch zu be- lich, vor allem aber die vielen mutigen Türken und Kur- schönigen. den, die sich zusammen mit Armeniern bereits seit Jahren um eine ehrliche Aufarbeitung dieses finsteren Wir Deutsche haben niemanden über den Umgang Kapitels der gemeinsamen Geschichte bemühen: Schrift- mit seiner Vergangenheit zu belehren. Aber wir können steller, Journalisten, Bürgermeister, religiöse Führer. Ich durch unsere eigene Erfahrung andere ermutigen, sich denke an den Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk ihrer Geschichte zu stellen, auch wenn es schmerzt: Das und an den Journalisten Hrant Dink, der seinen Einsatz selbstkritische Bekenntnis zur Wahrheit ist Vorausset- für die historische Wahrheit mit dem Leben bezahlte. Sie zung für Versöhnung. Dazu gehört, die Mitverantwor- verdienen unsere Unterstützung, und sie brauchen sie tung des Deutschen Reiches an den Verbrechen vor auch. Dazu wollen wir mit unserer heutigen Debatte bei- 100 Jahren zu benennen. Obwohl die Reichsleitung um- tragen. fassend informiert war, nutzte sie ihre Einflussmöglich- Vielen Dank. keiten nicht. Das Militärbündnis mit dem Osmanischen Reich war ihr wichtiger als die Intervention zur Rettung (Beifall im ganzen Hause) von Menschenleben. Diese Mitschuld einzuräumen, ist Voraussetzung unserer Glaubwürdigkeit gegenüber Ar- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a und b sowie menien wie der Türkei. den Zusatzpunkt 5 auf: 25 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der Liebe Kolleginnen und Kollegen, verehrte Gäste, Ge- CDU/CSU und SPD schichte erzwingt jenseits der historischen Fakten eine Deutung. Sie ist damit zwangsläufig politisch. Diesen Erinnerung und Gedenken an die Vertrei- Streit mag man beklagen. Aber er ist unvermeidlich, und bungen und Massaker an den Armeniern er gehört ins Parlament. Seit den beispiellosen Gewalter- vor 100 Jahren 9654 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Drucksache 18/4684 Mitverantwortung heißt hier auch historische Mitschuld, (C) Überweisungsvorschlag: die wir rückhaltlos einräumen. Denn längst steht fest Auswärtiger Ausschuss (f) – es ist gut belegt –, dass deutsche Diplomaten über die Innenausschuss Ausrottung und Vernichtung der christlichen Armenier Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe nach Hause berichteten, dass deutsche Offiziere in türki- Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung schen Diensten beteiligt waren, die Reichsregierung aber Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen mit Rücksicht auf die Türkei als Weltkriegsverbündeten Union keinerlei Einwände gegen die genozidale Vertreibungs- Ausschuss für Kultur und Medien politik geltend machte, sondern ihr durch Wegschauen Haushaltsausschuss und Stillschweigen Deckung verschaffte. b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke, Katrin Kunert, Wolfgang Gehrcke, Was Deportation damals bedeutete, das hat Armin weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE Theophil Wegner aus dem Stab des berühmten im Otto- LINKE manischen Reich eingesetzten Feldmarschalls Colmar von der Goltz uns in einem nachträglich verfassten Be- 100. Jahresgedenken des Völkermords an richt überliefert. Ich zitiere: den Armenierinnen und Armeniern 1915/ 1916 – Deutschland muss zur Aufarbei- Die Armenier wurden auf dem Weg in die Wüste tung und Versöhnung beitragen von Kurden erschlagen, von Gendarmen beraubt, erschossen, erhängt, vergiftet, erdolcht, erdrosselt, Drucksache 18/4335 von Seuchen verzehrt, ertränkt, sie erfroren, ver- Überweisungsvorschlag: dursteten, verhungerten, verfaulten, wurden von Auswärtiger Ausschuss (f) Schakalen angefressen. Kinder weinten sich in den Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Tod, Männer zerschmetterten sich an den Felsen, Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Mütter warfen ihre Kleinen in die Brunnen, Schwangere stürzten sich mit Gesang in den Euph- ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cem rat. Alle Tode der Erde, die Tode aller Jahrhunderte Özdemir, Claudia Roth (Augsburg), Peter starben sie. Meiwald, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Liebe Kolleginnen und Kollegen, Gedenktage sind dazu da, dass man innehalten kann, dass man Trauerar- Gedenken an den 100. Jahrestag des Völker- beit leistet. Sie dienen gerade bei einem in der Diaspora mords an den Armeniern – Versöhnung zerstreuten Volk der Identitätsstiftung. Aber sie mahnen (B) durch Aufarbeitung und Austausch fördern auch, sich um eine bessere Zukunft zu bemühen. (D) Drucksache 18/4687 Vorgestern erreichte uns eine Botschaft des armeni- Überweisungsvorschlag: schen Präsidenten Sersch Sargsjan. Darin wird er wie Auswärtiger Ausschuss (f) folgt zitiert: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Es geht um ein wichtiges geschichtliches Datum für Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für das armenische Volk und die internationale Ge- diese Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Dazu gibt meinschaft. es offensichtlich Einvernehmen. Also können wir so ver- Dabei wolle Armenien aber „nicht nur zurückschauen fahren. und über historische Fakten nachdenken“. „Niemals Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem wieder“ müsse die Botschaft lauten. Dieser Ansatz ver- Kollegen Gernot Erler für die SPD-Fraktion. dient Unterstützung. Er will ganz offensichtlich das tra- ditionelle armenische Opfervolk narrativ aufbrechen und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten den engen Rahmen des Memory War verlassen. „Nicht der CDU/CSU) nur zurückschauen“ heißt in der Konsequenz, sich für eine bessere Zukunft Armeniens einzusetzen und dabei Dr. h. c. Gernot Erler (SPD): das immer noch verbissen geführte Ringen um die Völ- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am kermordfrage in einen wirklich von beiden Seiten getra- heutigen 24. April, an dem 100. Jahrestag des Beginns genen Versöhnungsprozess münden zu lassen. Ohne ei- der Vertreibung und Massaker an den im Osmanischen nen solchen tatsächlich von beiden Seiten ehrlich Reich lebenden Armeniern, verneigen wir uns vor den geführten Versöhnungsprozess wird das Leiden an der Opfern, und wir trauern mit ihren Nachkommen. Wir tun Vergangenheit, die Fesselung in den historischen Trau- dies in anhaltender Erschütterung über das Massenhafte mata in beiden Ländern nicht aufhören können. und Wahllose des damaligen Tötens und Vernichtens Im Oktober 2010 schien der Einstieg in die Normali- und im Wissen darum, dass heute nicht nur in Jerewan sierung der Beziehungen zwischen beiden Ländern zum und ganz Armenien, sondern an vielen Orten der welt- Greifen nahe. Die beiden Züricher Protokolle – Produkt weiten armenischen Diaspora an das tragische Schicksal zweijähriger über die Schweiz vermittelter Geheimver- der Opfer erinnert wird. handlungen – sahen die Aufnahme diplomatischer Be- Im gleichen Atemzug bekennen wir uns aber auch zur ziehungen, die Öffnung der seit 1993 geschlossenen deutschen Mitverantwortung für das Geschehen. Und Grenzen und den Ausbau der politischen, wirtschaftli- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9655

Dr. h. c. Gernot Erler (A) chen und kulturellen Beziehungen vor, einschließlich ei- treterinnen und Vertreter der armenischen und assyri- (C) ner gemeinsamen Beschäftigung mit der Vergangenheit. schen Verbände, die dieser historischen Debatte folgen. Die Züricher Dokumente wurden nicht ratifiziert. Sie (Beifall) zerschellten am Widerstand nationalistischer Kräfte in beiden Ländern. Eine Tragödie! Was wäre angemesse- Meine Damen und Herren, wir gedenken heute der ner, als dass der große Gedenktag heute zum Ausgangs- Opfer des Völkermordes an den Armeniern im Osmani- punkt eines neuen Normalisierungs- und Aussöhnungs- schen Reich. Diesem Verbrechen fielen 1,5 Millionen prozesses wird? Nichts anderes will der hier vorliegende Menschen zum Opfer. Hunderttausende Assyrer und an- Antrag der Koalition, der die Bundesregierung nach- dere Christen wurden damals ermordet. Die Armenier drücklich auffordert, einen solchen Prozess zu unterstüt- sprechen von „Aghet“, der Katastrophe; die Assyrer zen. Dasselbe Ziel hat ein am 15. April beschlossener nennen diese Ereignisse „Sayfo“, das Schwert. Wir ver- Antrag des Europäischen Parlaments. neigen uns vor den Toten, und ihren Nachfahren drücken wir unser tief empfundenes Mitgefühl aus. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt auch auf tür- kischer Seite positive Signale. Schon im vergangenen Meine Damen und Herren, Völkermord wird von den Jahr hat Präsident Erdogan sein Mitleid mit den armeni- Vereinten Nationen als Handlung mit der Absicht defi- schen Opfern bekundet und von unmenschlichen Vertrei- niert – wir haben es eben schon gehört –, „eine nationale, bungen gesprochen. In einem Schreiben von Minister- ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche präsident Davutoglu heißt es – ich zitiere –: ganz oder teilweise zu zerstören“. Genau darum ging es den Jungtürken mit ihrem Geheimplan zur – so wörtlich – Wir gedenken der unschuldigen osmanischen Ar- „Ausmerzung des armenischen Volkes in seiner Gesamt- menier, die ihr Leben ließen, mit Respekt. Wir spre- heit“. Ihr Ziel war die Schaffung eines ethnisch homo- chen ihren Nachkommen unser Mitgefühl aus. genen Nationalstaates in Anatolien und der Raub ar- Das sind Anknüpfungspunkte. Sich zu Mitverantwor- menischen Besitzes. Zuerst wurden im Februar 1915 tung, ja zur Mitschuld zu bekennen, reicht nicht aus. In armenische Soldaten der osmanischen Armee entwaffnet Deutschland stehen wir in der Pflicht, unsere Beziehun- und erschossen, dann, am 24. April, die armenische Füh- gen zu beiden Ländern zu nutzen, um bei der Suche nach rungselite aus Konstantinopel deportiert. Anschließend Auswegen zu helfen. wurden bei landesweiten Dorfrazzien die armenischen Männer von der jungtürkischen Sonderorganisation mas- Wir wissen aber auch um die schwierige Situation der sakriert und Frauen, Kinder und Alte auf Todesmärsche kleinen Republik Armenien: mit den geschlossenen getrieben. Die angeblich kriegsbedingten Deportationen Grenzen zur Türkei und zu Aserbaidschan, mit dem un- waren Verbannungen ins Nichts – das hatte Innenminis- (B) gelösten Konflikt in Nagornij Karabach, an dessen ter Talaat Pascha offen eingestanden. Diejenigen Arme- (D) Grenze im Jahr 2014 mehr Verluste an Menschenleben nier, die Angriffe von kurdischen und kaukasischen Räu- zu verzeichnen waren als in allen Jahren zuvor, mit den berbanden, Krankheiten, Hunger und Durst überlebt besonderen Abhängigkeiten, die deutlich geworden sind, hatten, wurden im Sommer 1916 in der mesopotami- als Armenien erst mit der EU ein Assoziierungsabkom- schen Wüste von Todesschwadronen niedergemetzelt. men ausgehandelt hat, dann aber im Herbst 2013 den Ohne jeden Zweifel handelte es sich um einen vorsätz- Entschluss fasste, Mitglied der von Russland geführten lich geplanten und durchgeführten Völkermord. Zollunion und heute der Eurasischen Wirtschaftsunion zu werden, und mit der Ausdehnung von Armut im eige- An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich denjenigen nen Land. Die friedliche Lösung des Karabach-Problems Kolleginnen und Kollegen in den Fraktionen von Union und die Normalisierung des Verhältnisses zwischen Je- und SPD danken, die in dieser Frage nie ein Blatt vor rewan und Ankara sind die beiden Schlüsselfragen für den Mund genommen haben. die 3 Millionen Menschen in Armenien. Das Land (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der braucht gerade an einem Tag wie heute Hoffnung. Von SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- unserer Debatte sollten eine solche Hoffnung und das NEN) klare Signal unserer Hilfsbereitschaft ausgehen. Denn Ihrem Drängen ist es – gemeinsam mit den deutli- Vielen Dank. chen Worten des Papstes, aber auch des Bundespräsiden- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem ten Gauck – zu verdanken, dass im Antrag der Koalition BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- zumindest das Wort „Völkermord“ enthalten ist. Doch geordneten der LINKEN) explizit als Völkermord benannt wird die Vernichtung der Armenier im Koalitionsantrag immer noch nicht. Dieses Verstecken hinter sprachlichen Spitzfindigkeiten Präsident Dr. Norbert Lammert: ist einfach beschämend und diesem Anlass zutiefst un- Ulla Jelpke ist die nächste Rednerin für die Fraktion würdig. Die Linke. Meine Damen und Herren, es geht hier keinesfalls da- (Beifall bei der LINKEN) rum, Millionen in der BRD lebende türkischstämmige Bürgerinnen und Bürger für die Verbrechen vor 100 Jah- Ulla Jelpke (DIE LINKE): ren in Kollektivhaftung zu nehmen. Doch Kenntnis und Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich be- Eingeständnis historischer Wahrheiten sind die Voraus- grüße die Gäste auf der Tribüne, insbesondere die Ver- setzung für einen Aussöhnungsprozess zwischen Türken 9656 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015

Ulla Jelpke (A) und Armeniern. Es soll hier auch nicht um eine selbstge- Ich danke Ihnen. (C) rechte Belehrung der Türkei gehen. Denn wer über (Beifall bei der LINKEN) 1915/1916 spricht, der muss auch über unsere eigene Geschichte sprechen. Schließlich war das Deutsche Kai- serreich der engste Verbündete des Osmanischen Rei- Präsident Dr. Norbert Lammert: ches. Ohne dieses Kriegsbündnis, das der türkischen Das Wort erhält nun der Kollege Christoph Bergner Führung den Rücken freihielt, wäre der Völkermord so für die CDU/CSU-Fraktion. nicht möglich gewesen. Die Koalition verharmlost dies (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- in ihrem Antrag als „unrühmliche Rolle des Deutschen neten der SPD) Reiches“, das nicht versucht habe, diese Verbrechen zu stoppen. Auch der Grünen-Antrag erkennt nur in diesem einen Punkt eine deutsche Mitverantwortung. Doch die Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU): verbrecherische Komplizenschaft ging weit über unter- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrte lassene Hilfeleistung hinaus. Es handelte sich vielmehr Gäste! Heute vor 100 Jahren hat auf Befehl der jungtür- um Beihilfe zum Völkermord. Der Reichskanzler unter- kischen Regierung eine Verhaftung der politischen und sagte jede Kritik am türkischen Bündnis. Ich zitiere: kulturellen Elite der Armenier in Istanbul stattgefunden. Sie sind verschleppt und ermordet worden. Dies war der Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Auftakt zu einer umfassenden Verschleppung und plan- Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob mäßigen Vernichtung der armenischen Untertanen des darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht. Osmanischen Reiches. Mit dieser Debatte wollen wir uns in das Gedenken an diese schrecklichen Ereignisse Lediglich der sozialistische Abgeordnete Karl einreihen. Ich möchte Sie einladen, der Opfer und der Liebknecht protestierte damals im Reichstag gegen die Verwüstungen dieses Geschehens zu gedenken, zu ge- Ausrottung der Armenier. Hohe deutsche Offiziere und denken der Hunderttausenden Armenier, eingeschlossen Diplomaten in der Türkei befürworteten sogar offen die zahlreiche aramäische, chaldäische und assyrische Vernichtung der Armenier. So notierte der deutsche Chef Christen, die brutal vertrieben, furchtbar misshandelt der osmanischen Flotte, Admiral Souchon – ich zitiere –: und mit planvoller Konsequenz und oft hemmungsloser Für die Türkei würde es eine Erlösung sein, wenn Grausamkeit getötet wurden. Ich möchte Sie einladen, sie den letzten Armenier umgebracht hat, sie würde zu gedenken der jahrhundertealten armenischen Kultur dann die staatsfeindlichen Blutsauger los sein. Anatoliens, die infolge dieser Ereignisse weitgehend vernichtet wurde, einer Kultur, die sich in langer Koexis- Einige deutsche Offiziere unterzeichneten sogar Depor- tenz mit anderen Kulturen der Region entwickelt und (B) tationsbefehle und ließen armenische Stadtviertel be- entfaltet hat und deren Verlust für uns alle dauerhaft (D) schießen. Deshalb fordert die Linke heute die Bundes- schmerzhaft bleibt. regierung dazu auf, sich vorbehaltlos zur historischen Wir Abgeordnete des Deutschen Bundestages haben Mitverantwortung des Deutschen Reiches zu bekennen. eine besondere historisch-moralische Verpflichtung, uns (Beifall bei der LINKEN) an dem weltweiten Gedenken anlässlich des 100. Jahres- tages dieser Ereignisse zu beteiligen und uns zu deut- Der Bundestag muss – genauso wie das der Präsident schen Fehlern und deutscher Schuld zu bekennen. Neben heute bereits gemacht hat – bei den Armenierinnen und dem Osmanischen Reich war das Deutsche Kaiserreich Armeniern um Verzeihung bitten. der am tiefsten involvierte Staat. Aus Rücksicht auf seine militärischen Ziele im Ersten Weltkrieg machte er Lassen Sie mich noch ein paar Anmerkungen zur Ge- sich unterlassener Hilfeleistung gegenüber den der Ver- genwart machen; denn wer Augenzeugenberichte aus nichtung ausgesetzten Armeniern schuldig. Hierfür bit- den Jahren 1915/1916 über Massaker und Massenverge- ten wir um Entschuldigung. Wir stehen in der Rechts- waltigungen liest, dem kommen unweigerlich aktuelle nachfolge des Deutschen Reiches, und wir haben Bilder aus der Region in den Sinn. Dort, wo vor 100 Jah- deshalb hier mit besonderer Ernsthaftigkeit die Debatten ren der Todesgang des armenischen Volkes in der syri- zu führen, die seinerzeit den Mitgliedern des Reichsta- schen Wüste endete, herrschen heute die Schlächter des ges wegen Zensurmaßnahmen der Reichsregierung nicht sogenannten Islamischen Staates und der Al-Nusra- möglich waren. Front. Christen, deren Vorfahren als Überlebende des Genozids nach Syrien flohen, sind heute erneut auf der Vor zehn Jahren hat der Deutsche Bundestag mit einer Flucht. Kirchen werden angezündet, Frauen werden ver- einstimmig verabschiedeten Resolution endlich eine sklavt. Die dschihadistischen Mörderbanden kommen 90 Jahre dauernde Sprachlosigkeit der deutschen Politik ungehindert über die türkische Grenze. Sie erhalten lo- zum Schicksal der osmanischen Armenier beendet. Ich gistische Hilfe, Munition und sogar Feuerschutz aus erlebte damals die Erarbeitung und Einbringung dieses der Türkei. Die Bundesregierung weiß das, doch sie Antrages, der mit wissenschaftlicher Unterstützung des schweigt dazu. Ihr einziges Ziel scheint zu sein, den leider viel zu früh verstorbenen Hermann Goltz entstand. NATO-Partner Türkei an ihrer Seite zu halten, gleichgül- Ich erlebte damals einen vielfältigen türkischen Wider- tig ob darüber Kurden oder Armenier zugrunde gehen. spruch zu dieser Initiative – von der türkischen Botschaft Deswegen fordere ich die Bundesregierung auf, mit über Abgeordnete der AKP, aus dem türkischen Parla- Erdogan und seiner Regierung über 1915 und über die ment bis hin zu CDU-Mitgliedern türkischer Herkunft. Gegenwart endlich Klartext zu reden. Ich erinnere mich besonders an die Worte eines CDU- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9657

Dr. Christoph Bergner (A) Ortsvorsitzenden aus Berlin – ich führe ihn exemplarisch und um des Zieles der Versöhnung willen jede polarisie- (C) an –, der mir sagte: Ich werde meinem Sohn nie sagen, rende Wortwahl vermeiden wollen. Aber die Berech- eine türkische Regierung habe Armenier vertrieben und tigung dieses Anliegens endet dort, wo semantische getötet; das ist für mich eine Frage der Ehre. – Meine Zurückhaltung zur faktischen Verharmlosung und Rela- Damen und Herren, spätestens da habe ich begriffen, wie tivierung der Tragödie führt, die im Mittelpunkt unseres schwierig das Selbstverständnis ist, mit dem wir hier zu Gedenkens steht. ringen haben. Das ist ein Ehrbegriff, der sich an dem (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem Gründungsmythos des türkischen Staates orientiert. Da- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- mit haben wir uns auseinanderzusetzen. Ich möchte dazu geordneten der LINKEN) einladen, dass wir dieser Auseinandersetzung nicht aus- weichen Es ist richtig: Der Straftatbestand des Völkermordes, geschweige denn der Begriff, existierte vor 100 Jahren (Beifall im ganzen Hause) noch nicht. Seine Formulierung und Definition ist erst und die Forderung ernst nehmen, die wir in unserem da- im Zuge der Erarbeitung der UN-Konvention über die maligen Antrag beschlossen haben: Deutschland muss Verhütung und Bestrafung von Genoziden gefunden zur Versöhnung von Armeniern und Türken beitragen. – worden. Das war 1948, 33 Jahre nach der Vernichtung Das ist eine Forderung, die nicht an Aktualität verloren der osmanischen Armenier. Aber ist es ein Grund, die hat. Verwendung des Begriffes „Völkermord“ für unange- bracht zu halten? Ist es nicht normaler Ausdruck einer Der Versöhnungsauftrag, den wir uns gegeben haben, lebendigen Sprachentwicklung, wenn sich zur Beschrei- bezieht sich nicht nur, so wichtig das ist – Kollege Erler bung alter Sachverhalte auch jüngerer Begriffe bedient ist darauf eingegangen –, auf das Verhältnis zwischen wird? Dies gilt umso mehr, als die Massaker an den Ar- der Türkei und Armenien. Er bezieht sich auch und ins- meniern vor 100 Jahren nachträglich zum zentralen Be- besondere auf die Diaspora, auf die Menschen armeni- zugspunkt der Erarbeitung der Völkermordkonvention scher und türkischer Herkunft in unserem Land. Er be- wurden. Für Raphael Lemkin, den Schöpfer des Begrif- zieht sich beispielsweise auf die Kinder türkischer und fes „Genozid“ und Initiator der Völkermordkonvention armenischer Familien; diese Kinder haben einen An- der Vereinten Nationen, schien dies jedenfalls wichtig zu spruch darauf, in unseren Schulen ein Geschichtsbild sein; denn er stellt rückblickend fest – ich zitiere Lemkin –: vermittelt zu bekommen, das sich von den Ergebnissen der historischen Wissenschaft und dem Geiste der Auf- Die Leiden armenischer Männer, Frauen und Kin- klärung ableitet und durch seine Objektivität für Aus- der, die in den Euphrat geworfen … wurden, haben gleich sorgt. den Weg für die Annahme der UN-Genozidkonven- (B) tion vorbereitet. (D) Der deutsche Staat muss ein Interesse daran haben, dass Konflikte, die Zuwanderer als Teil ihrer Identität in Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben vor zehn unsere Gesellschaft mitbringen, nicht durch beschwich- Jahren die Sprachlosigkeit angesichts des Schicksals der tigende Zurückhaltung und Indifferenz deutscher Politik osmanischen Armenier überwinden können. Lassen Sie auf Dauer unbewältigt bleiben. uns die Beratung dieser Anträge im Ausschuss zum An- lass nehmen, unsere Sprachfähigkeit weiter zu üben und (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem fortzuentwickeln, und lassen Sie uns unter dem Auftrag BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) handeln, den wir uns vor zehn Jahren gegeben haben: Mir liegt ein Aufruf verschiedener türkischer Verbände Deutschland muss zur Versöhnung zwischen Armeniern zu einer Demonstration am morgigen Tag am Branden- und Türken beitragen. burger Tor vor, in dessen Überschrift es heißt: „Der Völ- Herzlichen Dank. kermordlüge ein Ende! Nimm Deine Flagge und komm!“ Es ist das Recht dieser Verbände, für ihre Auf- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem fassung zu demonstrieren. Aber ist es nicht unsere BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- Pflicht als frei gewählte Vertreter des deutschen Volkes, geordneten der LINKEN) klar zu bekennen, welche Deutung der Ereignisse vor 100 Jahren uns angemessen und richtig erscheint? Präsident Dr. Norbert Lammert: Nächster Redner ist der Kollege Cem Özdemir für die (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- geordneten der LINKEN) Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich habe Zweifel, dass wir, wenn wir in dieser Dis- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe kussion überzeugend auftreten und klar Stellung bezie- Gäste! Ich möchte mich zunächst bei unserem Bundes- hen wollen, auf den Begriff „Völkermord“ verzichten präsidenten Gauck für seine klaren Worte gestern Abend können. aus Anlass des Gedenkgottesdienstes zum 100. Jahrestag (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) des Völkermordes an den Armeniern, Aramäern und As- syrern bedanken. Ich danke unserem Bundespräsidenten Wir haben in der Koalition um die Angemessenheit die- insbesondere für diese gewisse Portion Unbeirrbarkeit, ses Begriffes intensiv gerungen. Ich verstehe und re- die ihn auszeichnet, für die wir ihn schätzen und lieben. spektiere das Anliegen derer, die um der Verständigung Ich füge nach der heutigen Rede des Bundestagspräsi- 9658 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015

Cem Özdemir (A) denten hinzu: Das gilt natürlich in derselben Weise auch an mich gerichtet haben: Was wird der Deutsche Bun- (C) für Sie, Herr Bundestagspräsident. destag 100 Jahre nach dem Völkermord in dieser Frage machen? Ich habe dort Folgendes gesagt: Der Deutsche (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Bundestag wird mit all seinen Rednern, mit all seinen bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Ab- Fraktionen 100 Jahre danach aufhören, so zu tun, als ob geordneten der LINKEN) wir nichts mit dem Völkermord zu tun gehabt hätten. Er Leider kann ich die Vertreter der Bundesregierung in wird ihn anerkennen, und er wird heute eine neue Seite dieses Lob nicht mit einschließen. Denn wäre es nach Ih- aufschlagen. – Und wir sind heute Zeugen davon, liebe nen gegangen, dann würden wir bis heute das türkische Kolleginnen und Kollegen. Narrativ wiederholen, dass es den Völkermord nicht gab. Ich habe noch etwas gesagt: Kein deutsches Außen- Ich verstehe das nicht; denn ich unterstelle Ihnen gute ministerium, kein deutsches Auswärtiges Amt wird Absichten. Auch Sie wollen zur Versöhnung beitragen. mehr Formulierungen verwenden wie – ich zitiere – Aber diese Haltung trägt nicht zur Versöhnung bei, son- „Aufarbeitung der geschichtlichen Ereignisse von 1915/ dern stützt diejenigen, die den Völkermord leugnen, und 1916“, um die damals unterlassene Hilfeleistung und diejenigen, die Unterstützung brauchen, die Vertreter der Mitverantwortung zu verleugnen. Auch das wird mit türkischen Zivilgesellschaft, werden im Stich gelassen. dem heutigen Tag der Vergangenheit angehören, liebe Da kenne ich mich, glaube ich, ganz gut aus. Kolleginnen und Kollegen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich war im März zusammen mit der Kollegin Ekin Deligöz in Armenien. Ich habe mit Vertretern der Regie- Es ist aber auch für die Türkei selber wichtig, dass die rung, der Opposition, der Zivilgesellschaft, mit vielen Ereignisse von 1915 aufgearbeitet werden. Denn hätte gesprochen. Niemand dort bemerkt, dass wir die Mittel die Türkei den Völkermord aufgearbeitet, dann hätte für die Versöhnungsarbeit im Auswärtigen Amt deutlich 1938 nicht das Massaker an den Aleviten in Dersim erhöht haben. Auch unsere Diplomaten beklagen sich stattgefunden, darüber, dass sie diese Mittel gar nicht einsetzen können; (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) denn an Veranstaltungen, wo der Begriff Völkermord auftaucht, dürfen sie nicht teilnehmen. Das versteht nie- dann hätten die Griechen am 6./7. September 1955 kein mand. Ich hoffe, dass sich das nach dem heutigen Tage Pogrom erleben müssen, dann hätte vielleicht der ändern wird. schmutzige Krieg mit den Kurden nicht stattgefunden. (B) Ich bin mir auch sicher: Hätte man sich nicht am Besitz (D) Ich habe mich, als ich dort im Andenken an die Opfer der Armenier bereichert, wäre das Verständnis für die des Völkermordes den Kranz niedergelegt habe, gefragt: Normen der Rechtsstaatlichkeit stärker ausgeprägt wor- In welcher Eigenschaft mache ich das? Natürlich als Ab- den. geordneter des Deutschen Bundestages, als Vorsitzender einer deutschen Partei. Aber wenn man im Ausland un- Wie sagte mein ermordeter türkisch-armenischer terwegs ist, zumal in Armenien, und Cem Özdemir Freund Hrant Dink: Wären die Armenier heute noch am heißt, dann reist die Herkunft logischerweise mit. In Leben, die osttürkische Stadt Van wäre heute so etwas meinem Fall zeigt es die ganze Zerrissenheit der Türkei. wie das Paris des Ostens. – Es ist wichtig, zu verstehen, Denn ein Teil meiner Vorfahren kommt aus dem Kauka- dass damals Geistliche, Ärzte, Verleger, Journalisten, sus; sie sind tscherkessischer Herkunft. Die Tscherkes- Anwälte, Lehrer wie auch Politiker umgebracht worden sen haben genauso wie die Muslime auf dem Balkan sind. Manche haben sich für sie eingesetzt, beispiels- selber schrecklichstes Leid erfahren, sind vertrieben weise der damalige US-Botschafter Henry Morgenthau, worden, sind Opfer von Mord und Vernichtung gewor- der immerhin durchsetzen konnte, dass der berühmte os- den. Und dieselben Tscherkessen haben sich in der Tür- manische – nicht nur armenische, sondern auch osmani- kei zum Teil am Völkermord an den Armeniern beteiligt. sche – Komponist Komitas gerettet wurde. Er hat nach seiner Rettung nie wieder eine Note angerührt, nie wie- Ich sage dies auch, weil es endlich Zeit ist, sich an die der ein Wort geäußert angesichts des Leids, das er erfah- Opfer aller Völkermorde, aller Vernichtungen zu erin- ren hat. nern. Wir sind es den Opfern und ihren Hinterbliebenen schuldig, dass niemand ausgelassen wird und ab heute Ich wünsche mir künftige türkische Schulbücher, in alles beim Namen genannt wird. denen an das Leid dieser Menschen erinnert wird. Ich (Beifall im ganzen Hause) wünsche mir in der Türkei Schulbücher, in denen die Kinder etwas darüber erfahren, was dem Osmanischen Ich habe gelesen, dass es auch darum geht, dass wir Reich und der Türkei verlorengegangen ist. Ich wünsche den Versöhnungsprozess nicht unterbrechen. Ich kann mir, dass Kinder in der Türkei künftig lernen: Nicht Sie beruhigen. Ich war gestern in Istanbul. Ich habe an Talaat Pascha und Enver Pascha sind die Helden für die einer türkisch-armenischen Veranstaltung zum Anden- Türken von heute, sondern es war der Gouverneur von ken an die Opfer vom 24. April 1915 teilgenommen. An Kütahya, der gesagt hat: In meinem Verwaltungsbezirk dieser Veranstaltung haben Vertreter der Zivilgesell- wird der Befehl aus Istanbul nicht angewendet. Kein ein- schaft, auch türkische Abgeordnete und andere Personen ziger Armenier wird angerührt. – Das sollten die Vorbil- teilgenommen. Alle waren sich einig in der Frage, die sie der sein, über die unsere Kinder etwas lernen. Dann ler- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9659

Cem Özdemir (A) nen sie nämlich auch, dass sich so etwas nie wiederholen Frank Schwabe (SPD): (C) darf. Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Ich habe gestern in der Süddeutschen Zeitung einen Hinweis (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, auf ein faszinierendes Internetprojekt gelesen. Nicht mit bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Ab- dem Ziel der Wiederaneignung, sondern als Projekt der geordneten der LINKEN) Aufklärung und Erinnerung werden dort das Leben und Um auch das klar zu sagen: Es geht hier nicht um die Geschichte, die Kultur, die religiösen Riten, die fa- Überheblichkeit. Es geht hier nicht darum, dass wir mit miliären Gebräuche der 2 Millionen Armenier auf dem erhobenem Zeigefinger sprechen, sondern wir sprechen Gebiet der heutigen Türkei zu Beginn des 20. Jahrhun- als Freunde zu Freunden. Wir wollen als Freunde der derts dargestellt. Man mag gar nicht aufhören, darin zu Türkei sagen: Es liegt auch im türkischen Interesse, dass schmökern, weiterzuklicken und sich das anzusehen, sich die Grenze zu Armenien öffnet und sich eines Tages weil es so faszinierend ist. Man bekommt in etwa ein die Grenze zwischen der Türkei und Armenien so dar- Bild und einen Eindruck davon, wie das armenische Le- stellt wie heute Gott sei Dank die Grenze zwischen ben in der Türkei heute aussehen könnte, wenn es den Deutschland und Polen und zwischen Deutschland und Völkermord nicht gegeben hätte. Frankreich. Das muss geschaffen werden, das kann ge- Wir verneigen uns heute vor den armenischen Opfern schaffen werden, und dazu müssen wir alle unseren Bei- des Völkermords und gedenken auch der Massaker an trag leisten, liebe Kolleginnen und Kollegen. und der Vertreibung von Assyrern, Aramäern, osmani- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- schen Griechen und anderen. Warum tun wir dies? Wir SES 90/DIE GRÜNEN) können niemandem das Leben zurückgeben; aber wir können versuchen, ein Stück der Würde zurückzugeben; Ich will ein Weiteres sagen: Das zweifelhafte Privileg vielleicht ist auch das eine Chance für armenische Fami- des ersten Völkermordes in diesem Jahrhundert haben lien und das armenische Volk, das Erlittene zu verarbei- leider wir Deutsche. Denn das, was damals im sogenann- ten. ten Deutsch-Südwestafrika, in unserer damaligen Kolo- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nie, mit den Herero und Nama passierte, erfüllt ebenfalls der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE den Tatbestand eines Völkermordes. Auch deshalb eig- GRÜNEN) nen wir uns nicht als Lehrer, sondern höchstens als Rat- geber, Und wir warnen – deshalb sind wir es uns schuldig, die Geschehnisse so klar zu benennen –: Niemand auf (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Welt, der Auslöschung oder Ausradieren von Bevöl- (B) sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- kerungsgruppen planen könnte – ich fürchte, es gibt sol- (D) KEN) che Leute auch heutzutage auf der Welt –, niemand von als diejenigen, die sagen können: Wer sich mit den dunk- denen wird, ohne Rechenschaft dafür ablegen zu müs- len Flecken der eigenen Geschichte beschäftigt, der wird sen, davonkommen; das ist auch die Botschaft des heuti- daran nicht kleiner, sondern – im Gegenteil – wächst da- gen Tages. ran. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Es ist darum höchste Zeit, dass wir den Opfern end- der CDU/CSU und der Abg. Dr. Petra Sitte lich unser Mitgefühl aussprechen und uns entschuldigen: [DIE LINKE]) bei den Armeniern, bei den Aramäern, bei all denen, die Sehr geehrte Damen und Herren, ich bin Vorsitzender durch das Osmanische Reich damals Leid erfahren ha- eines Deutsch-Griechisch-Türkischen Städtepartner- ben. Aber auch wir hatten eben ein Deutsches Kaiser- schaftsvereins, eines Dreierbündnisses, das dem Gedan- reich, das nichts dafür getan hat, dass diese Menschen ken des Verständnisses, der Verständigung und der Aus- geschützt werden. Ich hoffe, dass künftige Generationen söhnung verpflichtet ist. Nicht nur deshalb liegt mir die in Armenien und in der Türkei wieder die Chance be- Freundschaft mit der Türkei und den Türkinnen und Tür- kommen, als Nachbarn, als Freunde, als Brüder und ken besonders am Herzen. Ich versuche die tiefen Ge- Schwestern aufzuwachsen. Heute leisten wir einen Bei- fühle und die Verletzungen der Armenier zu verstehen; trag dazu. ich versuche aber auch zu verstehen, warum es eigent- lich in der Türkei so schwierig ist und ihr so schwerfällt, Herzlichen Dank. das Ganze zu verarbeiten und auch als Völkermord zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bezeichnen. bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Ab- Ich habe eine Zuschrift bekommen von einem tür- geordneten der LINKEN) kischstämmigen Mitbürger. Er hat geschrieben: Ich bin mir sicher, dass meine Vorfahren so nicht gehandelt ha- Präsident Dr. Norbert Lammert: ben. – Gestern Abend bin ich mit einem Fahrer unter- Das Wort erhält nun der Kollege Frank Schwabe für wegs gewesen, der mir gesagt hat: Wenn Sie da morgen die SPD-Fraktion. sprechen, denken Sie bitte auch an die Türken in Deutschland, die möglicherweise nicht verstehen wer- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten den, wie Sie die Dinge diskutieren und wie Sie sie be- der CDU/CSU) nennen. 9660 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015

Frank Schwabe (A) Ich glaube, wir alle versuchen, diese Gefühle zu ver- meinsame Ausstellung betrachten können, in der die bei- (C) stehen, wir versuchen, zu verstehen, wie sich Menschen den Länder sich gemeinsam der Verantwortung stellen, fühlen, und wir versuchen, deutlich zu machen: Es geht sich gemeinsam mit dieser Völkermordsituation aus- nicht um persönliche Verantwortung – wie könnte es um einandersetzen und daraus Kraft schöpfen für sich selbst, persönliche Verantwortung gehen bei einem Völker- für die Region, für Europa, aber auch für die gesamte mord, der 100 Jahre zurückliegt! –, aber es geht um eine Welt. Gesamtverantwortung der Türkei, und es geht um eine Verantwortung den Armeniern gegenüber. Deswegen ist (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten es richtig, dass wir heute so breit der Aufforderung des der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE Europaparlaments nachkommen und den Völkermord GRÜNEN) auch Völkermord nennen, und es ist gut, dass wir das in so großer Übereinstimmung der Institutionen nach einer Präsident Dr. Norbert Lammert: durchaus intensiven Debatte in den letzten Wochen tun. Nächster Redner ist der Kollege Norbert Röttgen für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der (Beifall bei der CDU/CSU) CDU/CSU und der LINKEN) Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Wir kommen unserer Verantwortung auch nach, weil es – auch das ist angesprochen worden – ein ganz dunk- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! les Kapitel deutscher Geschichte gibt. Deutschland trägt Auch ich möchte mich in meinem Beitrag auf die Frage Mitverantwortung, mindestens durch Unterlassung, bis konzentrieren, warum es so wichtig, ja warum es so not- an die Spitze der Reichsregierung. Und Deutschland war wendig ist, dass der Deutsche Bundestag in der heutigen auch eingebunden in die Kommandostrukturen des Os- Debatte und fortan über den und vor allen Dingen von manischen Reiches. Deswegen ist es gut – wir müssen dem Völkermord an den Armeniern vor 100 Jahren dafür danken –, dass es mittlerweile Publikationen zu spricht. Ich glaube, dazu müssen wir uns bewusst ma- diesem Thema gibt – man kann das nachlesen – und dass chen bzw. bewusst zu machen versuchen, was eigentlich dazu auch weiter geforscht wird. Völkermord ausmacht, gewissermaßen der Fragestel- lung nachgehen, worin das spezifische Unwesen von Wir benennen heute die Verbrechen der Vergangen- Völkermord liegt. heit, um in die Zukunft schauen zu können. Was mir da- bei Hoffnung macht, ist, dass es in der Tat – auch das ist Nach meiner Beobachtung geht es den Organisatoren angesprochen worden – zarte Pflanzen von Verständi- von Völkermord regelmäßig darum, durch physische (B) gungsprozessen gibt. So hatten sich – auch das gehört Vernichtung ein Volk für immer zum Schweigen zu brin- (D) zur Wahrheit – vor 100 Jahren auch Kurden an der Ver- gen, es aus der Geschichte zu tilgen, sei es als Ganzes treibung von und an Massakern an Armeniern beteiligt. oder als Minderheit in einer Bevölkerung. Völkermord Mittlerweile, seit 2011, ist die armenische St.-Giragos- ist gewissermaßen die umfassende Negation des Rechts Kathedrale in Diyarbakir wieder renoviert und wurde der physischen Existenz und der Erinnerung an ein Volk. auch wieder geweiht, mit Unterstützung der Kurden. Ich Dieser umfassenden Negation dürfen wir nicht auch finde, das ist ein gutes Signal, wie Verständigung ausse- noch die Negation des Verbrechens als solches hinzufü- hen kann. gen, meine Damen und Herren. Das dürfen wir nicht! (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ neten der SPD, der LINKEN und des BÜND- CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NISSES 90/DIE GRÜNEN) NEN) Vielmehr ist es ein zwingendes Gebot der Solidarität Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen mit den Opfern und ihren Nachfahren, von dem Verbre- und Kollegen, ich komme gerade von der Parlamentari- chen als einem Völkermordverbrechen zu sprechen. Das schen Versammlung des Europarates in Straßburg. Dort schulden wir den Opfern und ihren Nachfahren. gibt es einen Plenarsaal wie hier, und vor dem Plenarsaal sind zwei Ausstellungen zu betrachten, ungefähr 20 Me- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- ter voneinander entfernt. Vielleicht ist es nicht ganz zu- wie der Abg. Kordula Schulz-Asche [BÜND- fällig, dass es genau zwei Ausstellungen gibt. Die eine NIS 90/DIE GRÜNEN]) wird von Armenien ausgerichtet zum Thema „100 Jahre Gemäß diesem Verständnis ist die Bezeichnung als Völkermord“; Herr Jung nickt, wir waren gemeinsam da. Völkermord darum nicht eine Möglichkeit, angemessen Die von der Türkei ausgerichtete Ausstellung heißt: Safe von den damaligen Geschehnissen zu sprechen, sondern Harbour Turkey, also Sicherer Hafen Türkei; dabei geht nach meiner Überzeugung die einzige Möglichkeit einer es darum, was die Türkei geleistet hat während des Ho- angemessenen Sprache über die historischen Gescheh- locaust, aber auch aktuell in der Syrien-Krise – es ist an- nisse. gesprochen worden –, um Menschen zu helfen, um Men- schen bei sich zu beherbergen. Das ist eine wirklich (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem beachtliche Leistung der Türkei. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich wünsche mir – das ist, glaube ich, die Hoffnung In der Verwendung dieses Begriffes liegt keine Reduk- von uns allen –, dass wir dort in einigen Jahren eine ge- tion der Geschehnisse auf einen Begriff, sondern die Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9661

Dr. Norbert Röttgen (A) Verwendung des Begriffes ist die Beschreibung der Di- kermord, genauer gesagt, das Bestreiten des Völkermor- (C) mension dessen, was stattgefunden hat. Es ist also genau des für das nationale Empfinden und für die nationale andersherum. Identität in der Türkei eine besondere Rolle spielt. Das macht die Schwierigkeit aus, aber wir dürfen die feh- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des lende Aufarbeitung nicht durch Verschweigen fortset- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zen, sondern müssen versuchen, einen Beitrag zu leisten. Wenn das so ist, dann gehört zu einer ehrlichen De- Ich will kurz noch aus meiner Sicht betonen: All das batte heute allerdings auch die Frage: Warum geschieht gilt prinzipiell, aber es gilt besonders für Deutsche und das, auch in Deutschland, erst 100 Jahre später, erst Deutschland, weil es von Anfang an deutsche Mitwisser- heute? schaft gegeben hat, weil das Deutsche Reich erheblich (Beifall der Abg. Kordula Schulz-Asche Einfluss hätte nehmen können, um dieses Verbrechen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Claudia aufzuhalten, zu behindern, zu stoppen, und weil es von Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Anfang an – darauf hat Professor Wolfgang Seibel vor NEN]: Ja, sehr gut!) kurzem hingewiesen – eine Komplizenschaft auch des Deutschen Reiches und Deutschlands beim Verschwei- Es gehört zur Ehrlichkeit, die wir uns selbst schulden, gen und Vertuschen gegeben hat. uns mit dieser Frage zu beschäftigen. Ich glaube nicht, dass das in Polemik abgehandelt werden sollte. Aller- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dings liegt dem ein Argument zugrunde, das ich für sowie der Abg. [SPD]) falsch halte, und ich möchte es aussprechen und mich Darum gibt es auch eine besondere deutsche Verant- damit beschäftigen. Das Argument war, dass man abwä- wortung. gen müsse. Zwar lägen allen die Fakten vor Augen, doch wir müssten – so lautete das Gegenargument – abwägen, Es gab Verschweigen, Verdrängen und Vertuschen da wir, wenn wir in dieser Weise in die Identität und das von Anfang an. Heute beenden wir das Verdrängen und Identitätsgefühl der Türken eingriffen, möglicherweise Vertuschen, aber nicht mit dem Verständnis, dass damit keinen Beitrag zu Aussöhnung und Aufarbeitung leiste- ein Ende gesetzt wird, sondern in dem Bemühen, dass ten. Das lag und liegt bei manchen womöglich noch dem durch das Aussprechen ein Beitrag zu einem Anfang für Argument der Abwägung zugrunde. Aufarbeitung und Versöhnung geleistet wird. Auch 100 Jahre danach ist es nicht zu spät. Es ist überfällig, Ich bin der Auffassung, dass Abwägung ein Wesens- und wir versuchen, einen Beitrag dazu zu leisten. prinzip demokratischer Politik ist. Dadurch unterschei- det sich demokratische Politik von extremistischen und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (D) (B) populistischen Auffassungen. Aber, um es etwas untech- neten der SPD, der LINKEN und des BÜND- nisch zu formulieren: Bei Völkermord hört die Abwä- NISSES 90/DIE GRÜNEN) gung auf, meine Damen und Herren! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Präsident Dr. Norbert Lammert: sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Für die SPD-Fraktion erhält nun der Kollege Dietmar SPD und der LINKEN) Nietan das Wort. Die Würde des Menschen ist unantastbar – das ist das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten universelle, nicht abwägungsfähige normative Grundbe- der CDU/CSU) kenntnis unserer Verfassung. Es bindet uns politisch und normativ. Die Anerkennung von Völkermord ist eine Dietmar Nietan (SPD): Frage der Menschenwürde, meine Damen und Herren. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- 27. Januar des Jahres 2000 hat hier, an diesem Redner- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- pult, der große Elie Wiesel zu uns gesprochen. Er hat uns ten der SPD und der LINKEN) damals, am Holocaust-Gedenktag, eine Mahnung mit auf den Weg gegeben. Er sagte – ich zitiere –: Es widerspricht jeder Erfahrung, dass durch fortge- setztes Verschweigen ein Beitrag zum Dialog geleistet Wer sich dazu herbeilässt, die Erinnerung an die werden könnte. Alle Erfahrung belegt das Gegenteil. Opfer zu verdunkeln, der tötet sie ein zweites Mal. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Heute sind wir hier in diesem Hohen Hause zusam- SES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulli mengekommen, um den Opfern des Völkermords an den Nissen [SPD]) Armeniern vor 100 Jahren unsere Ehre zu erweisen. Dass nunmehr in den Entschließungsanträgen aller Frak- Auch wenn es der schwierige, schmerzhafte Schritt sein tionen vom Völkermord gesprochen wird, geschieht soll, wie auch wir aus unserer Erfahrung beitragen kön- nicht, um Hass zu schüren oder ein befreundetes Land nen: Mit dem Aussprechen dessen, was geschehen ist, ist wie die Türkei belehren oder gar beleidigen zu wollen. die Chance auf Aussöhnung und Aufarbeitung gegeben. Vielmehr wollen wir heute deutlich machen – ganz im Dieser erste Schritt muss getan werden. Wir wissen, dass Sinne von Elie Wiesels Mahnung –, dass wir uns eben es schmerzhaft ist. Es ist nicht zu billigen, es nicht zu nicht dazu herbeilassen wollen, die Erinnerung an die schildern; aber wir müssen verstehen, dass dieser Völ- Opfer zu verdunkeln. 9662 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015

Dietmar Nietan (A) Aus diesem Grund, weil wir den unschuldigen Opfern rei. Das geht nur, wenn wir dabei auch die türkischen (C) Gerechtigkeit widerfahren lassen wollen, haben wir uns Freunde mitnehmen. dazu entschlossen, die vom damaligen jungtürkischen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Regime befohlene systematische Vertreibung und Ver- der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- nichtung der anatolischen Armenier wie auch die der NISSES 90/DIE GRÜNEN) Aramäer, Assyrer, der chaldäischen Christen und Pontusgriechen als das zu bezeichnen, was diese Verbre- An dieser Stelle möchte ich daran erinnern, dass es chen ohne Zweifel waren: ein Völkermord. selbstverständlich zu begrüßen ist, wenn es jetzt und auch schon im letzten Jahr Aussagen türkischer Regie- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rungsmitglieder gibt bzw. gegeben hat, die den Nachfah- der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- ren der Opfer ihr Beileid aussprechen. Allerdings wer- NISSES 90/DIE GRÜNEN) den in diesen Erklärungen die Verbrechen an den Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestern Abend hat Armeniern gleichzeitig weiter relativiert, indem sie als unser Bundespräsident in einer sehr beeindruckenden eine Art unvermeidliche, fast schon natürliche Begleiter- Rede zu Recht gefordert, dass wir Deutsche uns insge- scheinung des Ersten Weltkriegs dargestellt werden. Wir samt der Aufarbeitung unserer Mitverantwortung oder alle, aber auch die jetzige türkische Regierung wissen, vielleicht sogar Mitschuld beim Völkermord an den Ar- dass die Armenier nicht zufällig irgendwelchen Kriegs- meniern stellen müssen. Wir, die Abgeordneten des wirren, sondern einem eiskalt geplanten Verbrechen des Deutschen Bundestages, sollten uns deshalb in aller damaligen türkischen Staates zum Opfer gefallen sind. Form gegenüber dem armenischen Volk für die damalige Dazu muss sich die Türkei bekennen, liebe Kolleginnen moralische Gleichgültigkeit des Deutschen Reiches ent- und Kollegen. schuldigen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN) NISSES 90/DIE GRÜNEN) Generationen von heranwachsenden Menschen in der Gott sei Dank sind heute viele Menschen in der Tür- Türkei wurde in den Schulbüchern ein Bild der Ereig- kei in der Frage des Umgangs mit diesem Völkermord nisse eingepflanzt – so möchte ich es nennen –, mit dem viel weiter als ihre eigene Regierung. Schauen wir uns versucht wurde, auch nicht den leisesten Verdacht auf- nur an, welche wirklich guten zivilgesellschaftlichen Ini- kommen zu lassen, dass sich der türkische Staat an den tiativen sich in der Türkei in den letzten zehn Jahren ge- Armeniern vergangen hat. Deshalb war es so leicht, gründet haben, die das Wort „Völkermord“ nicht aus- Emotionen in der Türkei zu schüren, weil man den Men- (B) (D) sprechen, um zu polarisieren, sondern weil eben die schen erzählt hat: All die, die innerhalb und außerhalb Wahrheit die Grundlage der Versöhnung sein muss. Hin- der Türkei von Völkermord sprechen, tun das, weil sie ter dieser beispielhaften, mutigen Arbeit der türkischen den Ruf unseres Landes beschädigen wollen. – Das ist Zivilgesellschaft sollten wir als Bundestag nicht zurück- falsch. Leider ist es genau umgekehrt; denn aus dem hin- bleiben. ter diesem Geschichtsbild stehenden Zwang, die wahren Ausmaße der damaligen Verbrechen und ihre Urheber zu Was meine ich damit? Ich bin froh, dass die heute verleugnen, weil man glaubt, sonst die nationale Identi- vorliegenden Anträge in die Ausschüsse verwiesen wer- tät zu verlieren, erwächst am Ende nur erneutes Unrecht. den. Ich hätte mir natürlich gewünscht, dass wir heute ei- Diesen Zyklus kann nur einer durchbrechen, nämlich die nen gemeinsamen Antrag vorgelegt hätten. türkische Regierung. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Ich hoffe sehr, dass in der Ausschussberatung deutlich NEN) wird, dass wir die richtige Balance zwischen Eifer und Zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen, möchte Gleichgültigkeit finden. ich deutlich machen, dass ich der festen Überzeugung (Beifall der Abg. Dr. bin, dass am Ende die Menschen in der Türkei selbst [SPD]) wissen wollen, wie ihre Geschichte war, und dass sie auch zu den dunklen Seiten ihrer Geschichte stehen wol- Es geht nämlich nicht darum, dass der Antrag der beste len. Weil das so ist, bin ich fest davon überzeugt, dass es ist, in dem das Wort „Völkermord“ am häufigsten auf- zu einer Versöhnung kommen wird. Immer mehr Men- taucht. Es geht nicht darum, etwas zu unterstellen, weil schen in der Türkei fragen nach ihrer Vergangenheit und wir eine andere Meinung haben, wie man das Wort auch entdecken dabei zum Beispiel ihre eigene verschüttete im offiziellen diplomatischen Gebaren verwendet. Es armenische Geschichte. geht auch nicht darum, der Bundesregierung zu unter- stellen, dass sie bisher nicht alles getan hat, oft auch hin- Deshalb kann man sagen: Der 1915 gestartete Ver- ter den Kulissen, damit es zur Versöhnung kommt und such, das westarmenische Volk und seine Kultur auszu- damit sich auch die Türkei der Auseinandersetzung mit löschen, ist gescheitert. Er musste scheitern, weil es ei- dem Völkermord stellt. Vielmehr geht es darum, dass nen uneinnehmbaren Ort gibt: Er nennt sich Erinnerung. wir eine verantwortungsvolle Arbeit leisten, die nur ein Diesen Ort gibt es nicht nur in den Herzen der Nachfah- Ziel haben kann, nämlich Versöhnung, nicht Rechthabe- ren der Opfer, sondern auch in den Herzen einer wach- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9663

Dietmar Nietan (A) senden Zahl von Menschen, die nicht vergessen und ver- Geschichte umgegangen wird, wenn beispielsweise Bot- (C) tuschen wollen. Das Großartige ist, dass die Zahl dieser schafter nur deshalb abgerufen werden, weil eine Voka- Menschen wächst – in einem wunderbaren Land, wel- bel verwendet wurde, mit der man sich nicht auseinan- ches wir Türkei nennen. dersetzen möchte. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Unverständlich und für mich unbegreiflich ist die Ve- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hemenz, mit der heute noch auch bei uns in Deutschland der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- in Teilen von Politik und Gesellschaft gegen eine unge- NISSES 90/DIE GRÜNEN) schönte und unrelativierende Benennung dieses Geno- zids als Genozid reagiert wird. Ich kann es nicht verste- hen. Präsident Dr. Norbert Lammert: Erika Steinbach ist die nächste Rednerin für die CDU/ In dem vorliegenden Antrag wird mit Fug und Recht CSU-Fraktion. die seinerzeitige viel zu große Rücksichtnahme der deut- schen Reichsregierung auf den türkischen Bündnispart- (Beifall bei der CDU/CSU) ner im Ersten Weltkrieg angeprangert. Frau Kollegin Jelpke hat darauf hingewiesen: Karl Liebknecht war ei- Erika Steinbach (CDU/CSU): ner derjenigen, der das öffentlich angeprangert hat. Aber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir es gab noch jemanden, der das getan hat, und zwar der haben uns heute Vormittag hier versammelt, um Anteil Zentrumspolitiker Matthias Erzberger. Ganze zwei Poli- an dem Schicksal der Opfer des Genozids im Osmani- tiker im Deutschen Reich haben sich öffentlich mit die- schen Reich zu nehmen. Wir haben uns nicht versam- ser Thematik auseinandergesetzt. melt, um irgendjemanden an den Pranger zu stellen. Wir wollen derer gedenken, die Opfer geworden sind, und Angesichts der Zurückhaltung, etwas eindeutig zu be- daraus auch die Lehren ziehen. nennen, das eindeutig ist, stellt sich die Frage, ob es nicht auch heute eine unangemessene Rücksichtnahme Auf den Tag genau vor 100 Jahren begann der Völ- auf den NATO-Bündnispartner Türkei ist, die verhindern kermord an den Armeniern, den Aramäern, den Assy- will, dass der Genozid im Osmanischen Reich ohne Um- rern, den Chaldäern und auch den Pontosgriechen im schweife und Verbrämung schlicht und wahrheitsgemäß Osmanischen Reich. Es waren alle dort ansässigen Genozid genannt wird. Die vorangegangenen Diskussio- christlichen Religionsgemeinschaften davon betroffen. nen in den letzten Wochen haben das im Grunde genom- „Dieses schreckliche Geschehen sollte als das be- men deutlich gemacht. Was ist denn die Folge daraus? Wir fallen damit den mutigen Kräften in der Türkei in (B) zeichnet werden, was es war: ein Genozid“, stellte Josef (D) Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in den Rücken. Das kann nicht unser Anliegen sein. Deutschland, mit Recht fest. Und er fügte an: „Hitler hat Was mit dem Genozid seinerzeit verbunden war, ist sich später den Völkermord an den Armeniern quasi zum für uns unvorstellbar. Es war nicht nur die Tötung einer Vorbild für die Vernichtung der Juden genommen“. ganzen Gruppe von Menschen; es ging mit einer un- Prophetisch hat Franz Werfel in seinem Roman „Die glaublichen Brutalität vor sich. Man massakrierte die vierzig Tage des Musa Dagh“ die Todesmärsche als Menschen. Martin Niepage, von 1913 bis 1916 Lehrer wandernde Konzentrationslager geschildert. Es kommt an der Deutschen Schule in Aleppo, berichtete: nicht von ungefähr, dass und ich seinerzeit, Viel entsetzlichere Dinge erzählten die Ingenieure vor 15 Jahren, den Menschenrechtspreis der Stiftung der Baghdad-Bahn, nachdem sie nach Hause zu- „Zentrum gegen Vertreibungen“ nach Franz Werfel be- rückgekehrt waren. Sie berichteten, dass am Bahn- nannt haben, um damit einen Denkstein zu setzen. Der damm bei Tel Abbait und Rasulain geschändete erste Preisträger im Jahr 2003 war Mihran Dabag, der Frauenleichen massenhaft herumlagen. Vielen von Armenier, der sich mit der Genozidforschung beschäftigt ihnen hatte man Knüppel in den After hineingetrie- hat. ben. Aufarbeitung und Gedenken beginnen mit der Aus- Der deutsche Konsul aus Mosul, Herr Holstein, be- einandersetzung über das Geschehene. Es ist gut, dass richtete, er habe auf manchen Stücken des Weges Künstler, Intellektuelle und Teile der türkischen Bevöl- von Mosul nach Aleppo so viele abgehackte Kin- kerung längst über das Stadium der stillen innerlichen derhände liegen sehen, dass man damit den ganzen Artikulation hinaus sind. Die Reflektion erfolgt öffent- Weg hätte pflastern können. lich. Man setzt sich mit dem Schicksal der früheren ar- menischen Mitbürger auseinander und nimmt Anteil da- Ja, es war wohl wahr: Kinder und Frauen wurden ran. auch in die Sklaverei geschickt. Die Zerstörung und die Entweihung unzähliger Kirchen und Klöster, die Ver- So haben im Jahr 2008 viele Menschen in der Türkei nichtung ganzer Dörfer gehörten zu dem perfiden Plan. eine Erklärung veröffentlicht und das unerträgliche lang- jährige Schweigen durchbrochen. Das war ein wichtiger Die Vertreibung geschah systematisch zur Vernich- und mutiger Schritt. Denn Mut gehörte damals wie heute tung der Menschen. Opfer starben auf den Todesmär- dazu, und diesen Mut sollten wir unterstützen. Das lässt schen in der syrischen Wüste. Ein Beamter des deut- sich schon daran ermessen, wie auch heute noch seitens schen Konsulats beschreibt die Lage im Juli 1916 in der türkischen Regierung mit diesem Teil ihrer eigenen einem Schreiben an den Reichskanzler – die deutschen 9664 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015

Erika Steinbach (A) Diplomaten haben immer wieder darauf hingewiesen ten –, die Versöhnung zwischen Armenien und der Tür- (C) und gemahnt, aber es ist nichts erfolgt – wie folgt: kei voranzubringen. … die Strecke von Sabkha über Hammam nach Grundlage jeder Versöhnung ist eine wahrheitsgetreue, Meskene sei mit … Kleidungsstücken übersät; sie kritische Auseinandersetzung mit der jeweils eigenen Ge- sähe aus, als ob dort eine Armee zurückgegangen schichte, eine ungeschönte historische Wahrhaftigkeit. wäre. Das wissen gerade auch die deutschen Heimatvertriebe- nen sehr genau. Dazu gehört auch die zutreffende Ein- Er schrieb weiter, dass allein in Meskene 55 000 Arme- ordnung der an den Armeniern verübten Verbrechen. nier begraben seien. Dabei geht es beileibe nicht um bloße juristische Kate- Von mancher Seite kommt heute der Rat, die Arme- gorisierung. Davon zeugt allein schon die intensive De- nier und andere Opfergruppen sollten sich auf die Gegen- batte der vergangenen Tage. Es geht um Anerkennung wart und die Zukunft konzentrieren, statt Kraft darauf zu des Leides in seinem vollen Umfang. verwenden, die Staaten der Welt zur Anerkennung des Der Vorwurf des Völkermordes wiegt schwer. Die Genozids am eigenen Volk aufzufordern. Die Frage völkerrechtliche Definition wurde heute schon mehrfach drängt sich direkt auf, ob die Wirkung eines solchen Ver- zitiert. Diese Definition hat übrigens keinesfalls eine brechens an einem Volk alle Zukunftsorientierung über zeitlich einschränkende Komponente, etwa erst ab In- Generationen hinweg lahmlegt oder sie gar gänzlich krafttreten der einschlägigen UN-Konvention im Jahr nimmt. 1951. Diese regelt nämlich nur die Konsequenzen für ei- Ich glaube, dieses Leid zu teilen, es anzuerkennen, es nen schrecklichen Sachverhalt, der vor Inkrafttreten die- beim Namen zu nennen, hilft den Nachfahren der Opfer, ser Konvention nicht etwa weniger schrecklich gewesen ihre eigenen Kräfte wieder zu stärken, zu bündeln und ist. Es kommt auch niemand auf die Idee, andere Völker- die Zukunft besser zu bewältigen. Man braucht Solidari- morde vor 1951 mit dem gleichen Argument zu beschö- tät von anderen, die keine Opfer waren, oder von ande- nigen. ren, die auch Opfer waren und sich an die Seite stellen. Mit einem solchen Vorwurf geht man nicht leichtfer- tig um. Wenn wir jedoch unserer Verpflichtung zur Das hat Papst Franziskus sehr deutlich gemacht. Ihm Wahrheitsförderung gerecht werden wollen, müssen wir zufolge ist das Gedenken eine unabdingbare Pflicht der aus meiner Sicht anerkennen: Die Vertreibung und Er- Menschen; „… denn“, so Papst Franziskus, „wo es keine mordung der Armenier vor 100 Jahren war Völkermord. Erinnerung gibt, hält das Böse die Wunde … offen“. Eine solche Feststellung ist schon allein deshalb so Deshalb ist es gut, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wichtig, weil sie die Opfer und deren Nachfahren vor der wir uns heute gemeinsam erinnern und an der Seite der (B) ständig präsenten Relativierung oder gar Leugnung des (D) Nachfahren der Opfer stehen. Erlittenen befreit und somit angemessenes – auch ge- Danke. meinsames – Gedenken und Erinnern ohne Rechtferti- gungsnot ermöglicht. Nicht nur aus diesem Grund bin (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ich froh, dass mit dem vorliegenden Koalitionsantrag ein neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Weg begonnen wurde, sich historischen Tatsachen zu nä- GRÜNEN) hern und diese beim Namen zu nennen. Ich verstehe auch den Ansatz hinter der gewählten Formulierung. Die Präsident Dr. Norbert Lammert: Aufarbeitung des Geschehens und die Versöhnung zwi- Zum Schluss dieser Aussprache erhält der Kollege schen Armeniern und Türken – unsere Hauptanliegen – Bernd Fabritius für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. können nicht bei uns in Deutschland erfolgen. Wir kön- nen dafür aber Impulse geben. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich sage ganz aufrichtig: Eine klare Formulierung halte ich für unerlässlich, und dafür plädiere ich. Ob ein Dr. Bernd Fabritius (CDU/CSU): Völkermord als solcher bezeichnet wird oder nicht, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Geehrte macht das Geschehene um nichts besser. Beschönigun- Gäste! Lassen Sie es mich gleich beim Namen nennen: gen hingegen perpetuieren Unrecht in die Zukunft. Wir gedenken heute des Völkermordes an den Armeni- Schon deswegen ermuntere ich die Türkei, hier etwas ern, und wir beraten Anträge. Die abscheulichen und mutiger zu werden. Gleichzeitig liegt mir viel daran, brutalen Ereignisse vor nunmehr 100 Jahren im Osmani- deutlich zu machen, dass sich die Bezeichnung der Ver- schen Reich sind von meinen Vorrednern bereits be- brechen als Völkermord in keiner Weise gegen die Tür- leuchtet worden. Nicht übersehen dürfen wir hier im kei oder gar ihre Bevölkerung richtet. Es ist kein Angriff Deutschen Bundestag die unrühmliche Rolle des Deut- auf das Ansehen der modernen Türkei, wenn wir an das schen Reiches, das über die Vorgänge bestens informiert Leid der Opfer des Völkermords an den Armeniern erin- war und nichts dagegen unternommen hat. nern und das auch so nennen. Ganz im Gegenteil: Ein Staat, der auch zu den dunkelsten Seiten der eigenen Ge- Daraus erwächst für uns Deutsche heute eine ganz be- schichte steht, zeigt Stärke und wahre Souveränität. sondere Verantwortung. Diese gebietet uns erstens, das geschehene Grauen niemals zu vergessen, zweitens, die Gerade wir Deutschen haben unsere Erfahrungen mit bedrückende, aber unzweifelhafte historische Wahrheit der Aufarbeitung der eigenen Geschichte gemacht. Vor zu fördern, drittens – und aus meiner Sicht am wichtigs- Jahrzehnten hätte kaum jemand zu hoffen gewagt, dass Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9665

Dr. Bernd Fabritius (A) Deutschland – nach der Schoah und den Verbrechen der Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 24: (C) Nazis – im Jahre 2015 nicht nur mit seinen Nachbarstaa- Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine ten, sondern gerade auch mit Israel in enger Freund- Zimmermann (Zwickau), Jutta Krellmann, Klaus schaft verbunden sein würde. Wir haben gelernt, dass ein Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Prozess der Aufarbeitung auch schmerzhafte Erkennt- DIE LINKE nisse erfordert. Diese auszuhalten, macht aber stärker. Verzögerung wichtiger Aufklärungsarbeit oder gar Programm für gute öffentlich geförderte Be- Schönfärberei begangener Verbrechen hingegen ist si- schäftigung auflegen cher nicht der richtige Weg, um mit der eigenen Vergan- genheit umzugehen. Drucksache 18/4449 Überweisungsvorschlag: Bedauerlich finde ich, dass in der Türkei diesbezüg- Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) lich eher das Muster „einen Schritt vor, zwei Schritte zu- Haushaltsausschuss rück“ zu beobachten war. Das den Armeniern zugefügte Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Leid wird dort inzwischen zwar offener diskutiert; ermu- die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Einen Wider- tigenden Signalen aus der türkischen Zivilgesellschaft spruch dazu sehe ich nicht. folgen jedoch allzu oft Rückschläge seitens der Regie- rung. Jenen, die es wagten, die Wahrheit offen auszu- Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst der sprechen – und Orhan Pamuk ist nur ein Beispiel –, wur- Landesministerin Heike Werner das Wort. den Strafen angedroht, und wenn der Papst, das (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Europäische Parlament oder der Europarat den Völker- neten der SPD) mord an den Armeniern als solchen benennen, reagiert die türkische Regierung mit wütenden verbalen Ausfäl- Heike Werner, Ministerin (Thüringen): len und mit Drohungen. Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident! Sehr geehrte Die ehrliche Auseinandersetzung mit der eigenen Damen und Herren! Die Beschäftigungslage in Deutsch- Vergangenheit wäre jedoch unabdingbare Voraussetzung land zeichnet sich durch drei Dinge aus: einen hohen Be- für einen echten, nachhaltigen Versöhnungsprozess mit schäftigungsgrad, einen hohen Anteil an niedrig entlohn- den armenischen Nachbarn. Von diesen erwarte ich Of- ter und unsicherer Beschäftigung und einen hohen Anteil fenheit, Versöhnungsbereitschaft und den Verzicht auf dauerhaft erwerbsloser Menschen. Trotz der sogenann- verbale Rache. Die türkische Regierung fordere ich auf, ten Hartz-IV-Reformen und der derzeit guten Konjunk- sich offen mit der Vergangenheit des Osmanischen turlage stagniert die Zahl der Menschen, die länger als Reichs auseinanderzusetzen und eine systematische Auf- ein Jahr erwerbslos sind, seit 2011 bei über 1 Million. (B) (D) arbeitung der Ereignisse vor 100 Jahren anzugehen. Das Sehr geehrte Damen und Herren, hinter dieser Zahl wäre letztlich auch im Interesse der Türkei selbst. verbergen sich individuelle Biografien von Menschen, Vielen Dank. die über Jahre hinweg die Erfahrung machen müssen, dass sie in der Arbeitswelt nicht gebraucht werden, dass (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie ihr Beitrag zum Wohlstand nicht benötigt wird. Das ist bei Abgeordneten der LINKEN und des eine erniedrigende Erfahrung. Ich denke, darüber sind BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wir uns in diesem Haus alle einig. Ich gehe auch davon aus, dass wir darin übereinstimmen, dass wir deshalb Präsident Dr. Norbert Lammert: mehr für diese Menschen tun müssen, als dies in der Ver- Ich schließe die Aussprache. gangenheit der Fall war. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen Es mehren sich auch schon seit längerem die Stim- auf den Drucksachen 18/4684, 18/4335 und 18/4687 an men, nicht nur in der Linken, die Zweifel an der Agenda die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- 2010 äußern; denn, sehr geehrte Damen und Herren, es schlagen. Die Vorlage auf der Drucksache 18/4335 zum ist vollkommen richtig, dass nicht mehr Menschen des- Tagesordnungspunkt 25 b soll ebenfalls federführend halb eine Arbeit finden, weil man sie mit Leistungskür- beim Auswärtigen Ausschuss beraten werden. Sind Sie zungen zwingt, miese Jobs anzunehmen. Umgekehrt ist damit einverstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. es ja wohl so, dass die Reformen mit schlecht bezahlter Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Arbeit gut bezahlte Arbeit verdrängt haben. Ich möchte Sie dann noch darauf aufmerksam ma- (Beifall bei der LINKEN) chen, dass sich der Ältestenrat in seiner gestrigen Sit- Was also tun, wenn der einstige Heilsweg sich als Holz- zung darauf verständigt hat, wegen des gesetzlichen weg erweist? Feiertags am 1. Mai, den wir selbstverständlich nicht auf- heben wollen, die Frist für die Einreichung von Fragen In den 90er-Jahren hatte sich die richtige Erkenntnis zur mündlichen Beantwortung, die üblicherweise freitag- durchgesetzt, dass die Arbeitsmarktpolitik die kontinu- mittags endet, in der Sitzungswoche vom 4. Mai aus die- ierliche Anpassung der beruflichen Qualifikationen an sem Grund auf Donnerstag, den 30. April, 10 Uhr, zu ver- die sich wandelnden Anforderungen der Arbeitswelt un- legen, und frage, ob jemand dagegen Widerspruch terstützen muss. Zum Glück wurde mit Hartz IV diese anmeldet. – Das ist nicht der Fall. Dann haben wir auch aktive Arbeitsmarktpolitik nicht ganz aufgegeben, auch das einvernehmlich so festgehalten. wenn ich hinzufügen muss, dass mit Hartz IV das For- 9666 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015

Ministerin Heike Werner (Thüringen) (A) dern eindeutig die Oberhand über das Fördern gewonnen gung kennen die Menschen schon das Datum, an dem sie (C) hat. wieder mit Hartz IV auf der Straße stehen werden. Das ist keine Perspektive. Dabei ist es erwiesen, dass die Instrumente der akti- ven Arbeitsmarktpolitik, also berufliche Qualifizierung, (Beifall bei der LINKEN) Einarbeitungszuschüsse, Umschulungen usw., in einer So sieht das im Übrigen auch der Chef der Bundes- bestimmten Situation von Nutzen sein können. Wir wis- agentur für Arbeit, Herr Weise. Er sagte: „Wir müssen sen, dass davon vor allem diejenigen profitieren, die feststellen, dass für diese Menschen kein Angebot da noch nicht lange erwerbslos sind oder unmittelbar von ist.“ Eine wirkliche Perspektive – auch das hat Herr der Arbeitslosigkeit bedroht sind. Deshalb sollten wir an Weise in dieser Woche gesagt – besteht darin, öffentlich diesen Instrumenten festhalten. geförderte Arbeitsplätze zu schaffen, die prinzipiell auch Aber wir müssen uns auch fragen: Was tun wir für von Dauer sein können. Genau dieser Aufgabe stellen diejenigen, die schon seit Jahren raus sind aus dem Job? wir uns in Thüringen. Viele von ihnen haben Hunderte Bewerbungen geschrie- Ich möchte dabei eines klarstellen: Mir geht es nicht ben, haben sich weitergebildet oder umschulen lassen. darum, Leistungen für Ausbildung, Qualifizierungen, Sie haben Bewerbungstrainings mitgemacht, haben sich Praktika usw. zurückzufahren. Das ist aber in den letzten in 1-Euro-Jobs verdingt, haben als Leiharbeiter gejobbt Jahren im Bund geschehen, was ich ausdrücklich kriti- oder für ein, zwei Jahre in einem Beschäftigungsprojekt siere. Wir müssen beides tun: die Vermittlung stärken gearbeitet. Was sagen wir diesen Menschen? Erzählen und Arbeitsplätze für diejenigen schaffen, die anderwei- wir ihnen weiterhin, dass nur die zweite Beschäftigungs- tig keine realistische Chance auf einen Job haben. Das maßnahme, die dritte Schulung oder das vierte Bewer- sind nicht wenige Menschen. Nach Auffassung der Bun- bungstraining durchlaufen werden muss und dann ganz desagentur für Arbeit hat von den 1 Million Langzeit- bestimmt ein fester Arbeitsplatz da sein wird? Ich bitte arbeitslosen in Deutschland nur rund die Hälfte mithilfe Sie! Das kann nicht unser Ernst sein. Diese Menschen von Qualifizierungs- und Schulungsangeboten eine wissen ganz genau, genauso gut wie wir hier, dass ihnen Chance, auf dem regulären Arbeitsmarkt eine Stelle zu eine weitere Maßnahme nichts nützen wird. bekommen. Weitere 300 000 Langzeitarbeitslose bedürf- (Beifall bei der LINKEN) ten Trainingsmaßnahmen und sind damit vielleicht auf mittlere Frist in eine Stelle zu vermitteln. Weitere Es ist gut gemeint, wenn es heißt, dass die Arbeits- 200 000 Menschen haben keinerlei Chance auf dem Ar- marktpolitik den Menschen eine Brücke in den ersten beitsmarkt, darunter viele Ältere und Menschen mit ge- Arbeitsmarkt bauen soll. Aber in den Ohren derjenigen, sundheitlichen Einschränkungen. In Thüringen sind das (B) die schon über viele dieser Brücken gegangen sind, ohne 20 000 Menschen. Sie beziehen seit 2005 durchgängig (D) dass am anderen Ende ein Arbeitsplatz gestanden hat, Hartz IV. sind das leere Worte. Ich sage Ihnen: Die Menschen ha- ben damit recht. Sie haben recht, wenn sie sagen, dass Dennoch haben viele dieser Menschen immer noch sie einen anständigen Arbeitsplatz wollen, an dem sie den starken Wunsch, sich über Arbeit in die Gesellschaft zeigen können, was in ihnen steckt, an dem sie Bestäti- einzubringen. Das zeigt die große Nachfrage, die bereits gung erfahren und wo ihre Leistung wertgeschätzt wird. die Ankündigung unseres geplanten Beschäftigungspro- gramms für Langzeitarbeitslose ausgelöst hat. Wir müs- (Beifall bei der LINKEN) sen feststellen, dass unter denjenigen, die nachfragen, Wenn es diese Arbeitsplätze weder in Unternehmen vor allem ältere Menschen sind, deren sogenanntes Ver- noch im öffentlichen Dienst gibt, dann sind wir dazu mittlungshemmnis einzig und allein ihr Alter ist. Wer verpflichtet, anderswo ordentliche Arbeitsplätze zu mit 56 oder 57 Jahren erst einmal ein Jahr oder länger schaffen. raus aus dem Job ist, dem helfen keine Qualifizierungs- maßnahmen. Kommen dann vielleicht noch gesundheit- (Beifall bei der LINKEN) liche Probleme dazu – zum Beispiel der kaputte Rücken bei einem Handwerker oder einer Krankenschwester –, Manche mögen jetzt einwenden, dass das bereits dann finden diese Menschen schlicht und einfach keinen geschieht. Richtig: Wir haben Bürgerarbeit, wir haben Arbeitsplatz mehr, selbst dann nicht, wenn sie hochmoti- 1-Euro-Jobs. Aber ist das gute Arbeit? Sind das die Ar- viert und leistungsbereit sind. Diesen Menschen sollten beitsplätze, die die Menschen brauchen? Von einem gu- wir mit öffentlich geförderter Beschäftigung eine ten Arbeitsplatz erwarten die Menschen zu Recht, dass Chance geben, sich produktiv einzubringen. er anständig entlohnt ist, dass er voll sozialversiche- rungspflichtig ist, dass er auf Freiwilligkeit beruht und (Beifall bei der LINKEN) die Chance auf eine dauerhafte Beschäftigung bietet. All Die Gesellschaft würde davon profitieren. das bieten die diversen Modelle von Bürgerarbeit gerade nicht. Auch das neue Programm von Arbeitsministerin Lassen Sie mich eines deutlich sagen: Das ist keine Nahles für 10 000 geförderte Arbeitsplätze, das wir Beschäftigungstherapie, sondern das sind produktive Tä- grundsätzlich begrüßen, erfüllt diese Anforderungen lei- tigkeiten, die erfüllt werden können, die unserem Ge- der nicht. Die zentrale Schwachstelle dieser Programme meinwohl dienen. In diesem Sinne haben wir in Thürin- ist, dass sie denjenigen Menschen, die keine Chance auf gen vor zwei Tagen gemeinsam mit der Bundesagentur dem Arbeitsmarkt haben, keine dauerhafte Beschäfti- für Arbeit ein Programm für gemeinwohlorientierte Be- gungsperspektive bieten. Mit Beginn ihrer Beschäfti- schäftigungsförderung auf den Weg gebracht. In diesem Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9667

Ministerin Heike Werner (Thüringen) (A) Jahr fördern wir gemeinsam mit der Bundesagentur bisschen einfach. Meine Damen und Herren, wir reden (C) 500 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze bei Kom- hier darüber, Zehntausenden Menschen eine für sie und munen, Vereinen, Kirchen, Umweltinitiativen und der- die Gesellschaft sinnvolle Alternative zur Arbeitslosig- gleichen. In den kommenden Jahren wollen wir die Zahl keit zu erschließen. Und der Finanzminister lässt mittei- erhöhen. Der Bruttolohn liegt bei 1 100 Euro, und die len, es sei ihm zu aufwendig, die notwendigen Berech- Beschäftigungsdauer beträgt bis zu drei Jahre. nungen anzustellen. Jetzt werden Sie sagen: Das ist nicht der große Wurf, (Beifall bei der LINKEN – Matthias W. Birkwald und es entspricht auch nicht eins zu eins dem Antrag, [DIE LINKE]: Unglaublich!) den die Linke heute eingebracht hat. – Da kann ich nur antworten: Sie haben recht. Wir würden gern mehr Ar- Sehr verehrte Damen und Herren, Ihnen liegt der An- beitsplätze fördern, mit höheren Löhnen und längerer trag der Linken vor, der die Grundzüge eines Programms Laufzeit. Dazu braucht es aber Partner. Das gilt für Thü- für öffentliche Beschäftigung enthält. Darin machen wir ringen wie für jedes andere Bundesland. Wir haben in einen konkreten Vorschlag, wie Hartz-IV-Leistungen in Thüringen das Glück, mit der Bundesagentur für Arbeit Lohnleistungen umgewandelt werden können. Dazu einen Partner zu haben, der unsere Sicht teilt. Es ist bes- müssten nicht einmal die Gesetze geändert werden. Mit ser, für diejenigen, die keine Chance mehr auf eine Stelle einem Haushaltsvermerk über die gegenseitige De- haben, Arbeit zu finanzieren, als sie mit Hartz IV nach ckungsfähigkeit der verschiedenen Titel der Arbeits- Hause zu schicken. marktpolitik wäre es möglich, dass das bei den passiven Leistungen nicht ausgegebene Geld für aktive Leistun- (Beifall bei der LINKEN) gen – also die Bezahlung von Arbeit – verwendet wer- den kann. Warum also nicht passive Leistungen aktiv in Löhne umwandeln? Ohne den Bund – das wissen wir alle ganz (Beifall bei der LINKEN) genau – kann kein Bundesland auf dem Arbeitsmarkt dauerhaft und substanziell etwas bewegen. Darum hatten Die öffentlich geförderte Beschäftigung gemeinwohl- wir uns über das positive Signal aus dem Bundesarbeits- orientierter Arbeit ist eine Win-win-Situation für alle ministerium im Hinblick auf einen Passiv-Aktiv-Trans- Beteiligten. Die Kommunen könnten davon profitieren, fer gefreut. Jetzt heißt es leider: Finanzminister Schäuble zum einen durch die eingesparten Kosten der Unter- zieht nicht mit. Und in der Tat: Es ist so. Frau Kipping kunft, zum anderen durch die Unterstützung ihrer so- hat im Finanzministerium nachgefragt und bekam eine zialen Infrastruktur. Sie profitieren auch, weil Kosten entsprechende Antwort. gespart werden, die durch die Folgen von Langzeitar- beitslosigkeit entstehen. Nach Auffassung des Staatssekretärs Kampeter lassen (B) (D) sich das Arbeitslosengeld II und die Kosten der Unter- Sehr geehrte Damen und Herren, ich bitte Sie sehr kunft nicht in Lohnkostenzuschüsse umwandeln, weil herzlich, dem Antrag der Linken zuzustimmen; denn ge- – ich zitiere – „eine belastbare Einschätzung über das meinwohlorientierte Arbeit über einen Passiv-Aktiv- Realisieren der Einsparungen durch Wegfall dieser Leis- Transfer ist für einen Teil der Langzeitarbeitslosen der tungen bei ausgewählten Leistungsempfängern nicht einzige Weg in Beschäftigung. Die soziale Infrastruktur möglich ist“. wird durch die erbrachte Arbeitsleistung gestärkt, was uns allen zugutekommt. Schließlich werden die öffentli- Zwei Dinge an dieser Antwort sind bemerkenswert: chen Haushalte nachhaltig von den Folgekosten der erstens die Auffassung des Finanzministeriums, bei der Langzeitarbeitslosigkeit entlastet. Es wäre also in unser Umwandlung von Hartz-IV-Leistungen in Löhne gehe aller Interesse, wenn sich die Union dieser Einsicht nicht es um Einsparungen. Nein, meine Damen und Herren, es länger verschließen würde. geht um Investitionen. Indem wir Löhne statt Hartz IV auszahlen, schaffen wir Arbeitsplätze. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. (Beifall bei der LINKEN) Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]) Präsident Dr. Norbert Lammert: Mit der Arbeit in Vereinen, in Kirchengemeinden und in Nächster Redner ist der Kollege Matthias Zimmer für Kommunen schaffen diese Menschen Werte, die der Ge- die CDU/CSU-Fraktion. sellschaft zugutekommen. Es wäre schön, wenn das (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Bundesfinanzministerium einmal zur Kenntnis nehmen würde, dass Arbeit im Gemeinwohlbereich echte Wert- Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): schöpfung ist. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten nicht das erste Mal, dass wir aufgrund eines Antrags der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Linken über öffentlich geförderte Beschäftigung reden; aber es ist das erste Mal, dass von der Fraktion der Lin- Zweitens. In der Antwort – dieser Aspekt der Antwort ken zu einem eigenen Antrag niemand das Wort ergreift – ist beachtlich – heißt es sinngemäß, es sei recht kompli- ganz so, als ob sie sich des Antrags schämen würde. ziert, die haushalterischen Auswirkungen der Umwand- lung von Hartz-IV-Leistungen in Löhne zu bestimmen. (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Da kam das Le- Darauf kann ich nur antworten: Sie machen es sich ein ben daher! Eine Sozialministerin!) 9668 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015

Dr. Matthias Zimmer (A) Dieser Eindruck wird auch dadurch verstärkt, dass die Präsident Dr. Norbert Lammert: (C) Ministerin offensichtlich keinerlei Anlass sah, über den Herr Kollege Zimmer, lassen Sie eine Zwischenfrage Antrag zu reden, sondern im Wesentlichen über die Si- der Kollegin Zimmermann zu? tuation in Thüringen gesprochen hat. Das finde ich schon sehr seltsam. Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): Nein; denn sie hatte die Möglichkeit, selber zu spre- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- chen, und hat die Ministerin sprechen lassen. neten der SPD – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das muss doch nicht sein! Stimmt gar nicht!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Zurufe von der LINKEN) Nichtsdestotrotz: Ein solcher Antrag der Linken er- möglicht es natürlich, über die unterschiedlichen Grund- Meine Damen und Herren, hier wird die Differenz philosophien nachzudenken. Der Antrag der Linken zwischen Ihrer und unserer Grundphilosophie deutlich. verfolgt den Ansatz der öffentlichen Förderung von Be- Die Linke will einfach 200 000 Stellen zur Verfügung schäftigung. Wir in der Koalition hingegen sehen in der haben. Darauf kann sich jeder bewerben. Die Fallmana- ger mit ihrer Qualifikation und Erfahrung sind nicht Förderung der Menschen den richtigen Weg. mehr gefragt, weil es gar nicht darum geht, Langzeitar- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – beitslosen zu helfen, passgenaue Maßnahmen zu finden. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das muss jetzt (Beifall der Abg. Jutta Eckenbach [CDU/ aber nicht sein!) CSU]) Wir wollen die Stärken und Begabungen der Menschen Der einzelne Mensch mit seinen Stärken und Schwächen in den Fokus nehmen und helfen, diese weiterzuent- ist egal – Hauptsache, öffentlich gefördert. Die Wahrheit wickeln. aber ist: Sie fördern damit niemanden, sondern Sie ver- stecken Arbeitslosigkeit hinter öffentlich geförderter Be- (Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE schäftigung. LINKE]: Wie denn?) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wir haben, wie Sie selbst im Antrag schreiben, mehr Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Hartz IV ist bes- als 500 000 Menschen, die länger als zwei Jahre keine ser?) Arbeit hatten. Vermutlich ist die Zahl höher. Sie ist si- Sie machen alle Menschen gleich, weil Ihnen die Unter- cherlich höher, wenn wir die Menschen einbeziehen, die schiede egal sind. Mit der gleichen Grundphilosophie (B) ein Jahr oder länger arbeitslos sind. Nun wollen Sie öf- hat es schließlich und endlich auch in der DDR keine (D) fentlich geförderte Beschäftigung im Umfang von Arbeitslosen gegeben. 200 000 Stellen schaffen. Die Stellen sollen jedem offen- stehen, der ein Jahr oder länger arbeitslos ist. Eingren- (Beifall bei der CDU/CSU) zungen oder Auswahlverfahren finden nicht statt. Ich Dann enthält Ihr Antrag viel linke Folklore, etwa dass stelle mir die Frage: Wie stellen Sie sicher, wenn sich wir nicht die Arbeitslosigkeit bekämpfen, sondern die 500 000 und mehr auf Ihr Programm bewerben, dass die Arbeitslosen, dass die Hartz-IV-Leistungen unter der 200 000 Stellen auskömmlich sind? Dazu schreiben Sie Armutsgrenze seien oder die 1-Euro-Jobs perspektivlos. nichts in Ihrem Antrag. Zu jedem dieser Punkte ließe sich trefflich etwas sagen. Ich versage es mir hier, weil mir schon klar ist: Folklore (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ist gegen Argumente immun. der SPD – Zuruf von der LINKEN: Besser als 500 000 Arbeitslose!) (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Oh Mann!) Folklore wärmt das Herz, weniger den Verstand. – Ich merke schon aufgrund der Zwischenrufe, dass das Bedürfnis bei der Fraktion der Linken, zu diesem Tages- (Sigrid Hupach [DIE LINKE]: Herz und Ver- ordnungspunkt zu reden, groß ist. Aber dann hätten Sie stand!) nicht die Ministerin reden lassen sollen. Aber auf eines will ich schon einmal eingehen: Sie wol- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Petra Sitte len von den Arbeitgebern eine zeitlich befristete Sonder- [DIE LINKE]: Das müssen Sie sich nicht an- abgabe zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit er- tun! Das ist wirklich lächerlich!) heben. Angesichts solcher Forderungen – das ist nicht Ihre einzige Forderung – frage ich mich dann schon: Ha- Also, meine Damen und Herren, ich vermute einmal, ben Sie denn keine Bedenken, dass Ihnen irgendwann dass Sie, wenn die 200 000 Stellen nicht auskömmlich das Geld anderer Leute ausgehen könnte? sind, ganz schnell 1 Million Stellen fordern. Es gibt aus (Beifall bei der CDU/CSU) Ihrer Sicht nämlich nichts, was man nicht mit mehr Geld regeln könnte. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist in den letzten Jahren zurückgegangen. Insofern war die Arbeitsmarkt- (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das haben Sie politik der letzten Jahre erfolgreich. Aber auch hier zeigt echt nicht nötig, auf der Ebene zu argumentie- sich Ihr kreativer Umgang mit Statistiken. Zwischen ren!) 2009 und 2014, so schreiben Sie, sei der Anteil der Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9669

Dr. Matthias Zimmer (A) Langzeitarbeitslosen an allen Arbeitslosen von 33,3 auf dass es in Berlin Fälle gibt, in denen die Beiräte weitge- (C) 37,2 Prozent gestiegen. hend ignoriert werden. Das geht aus meiner Sicht nicht. Hier muss die Bundesagentur für Arbeit deutlich ma- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Stimmt chen, dass eine erfolgreiche Leitung vor Ort auch ein gu- doch!) tes Verhältnis zu den lokalen Akteuren pflegt. Sie verschweigen aber zweierlei: Zum einen ist die An- Meine Damen und Herren, ich freue mich immer, zahl der Arbeitslosen deutlich gesunken, zum anderen wenn wir einen Antrag der Linken diskutieren. auch die Anzahl der Langzeitarbeitslosen. Von beiden haben wir heute deutlich weniger als 2009. (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Den Eindruck habe ich gerade nicht! – Matthias W. Birkwald (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 1 Mil- [DIE LINKE]: Der beste Satz der ganzen lion Langzeitarbeitslose sind 1 Million zu Rede! – Weitere Zurufe von der LINKEN) viel!) – Ich sehe schon an der Unruhe, dass die Freude nur auf Lediglich das Verhältnis von Arbeitslosen zu Langzeitar- meiner Seite ist; ich dachte zumindest, dass die Freude beitslosen hat sich geändert, aber auf niedrigerem Ni- auch bei Ihnen durchaus vorhanden ist. veau. Ihre Zahlen hingegen unterstellen, die Zahl der Langzeitarbeitslosen sei irgendwie gestiegen. Das ist (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der aber überhaupt nicht der Fall. CDU/CSU und der SPD) (Daniela Kolbe [SPD]: Aber sie sinkt nicht!) Die halbsozialistische Folklore wärmt vielen das Herz, Richtig hingegen ist, dass es einen schwer zu vermit- telnden Kern von Erwerbslosen gibt. Hier reichen die (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ist das langwei- bisherigen Antworten vermutlich nicht mehr aus. lig!) (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE und die Welt ist auf wundersame Weise einfach, ganz GRÜNEN]: Jetzt wird es interessant!) ähnlich wie in der bösen Karikatur, die einmal in der Titanic gezeigt wurde. Der Untertitel war: „Endlich: Der Daher ist es richtig, dass wir uns den Werkzeugkasten Hunger in der Welt ist besiegt“. In der Zeichnung sah der Arbeitsmarktpolitik noch einmal genauer anschauen. man einen älteren Mann, der lächelnd eine Schöpfkelle Ich will drei Aspekte exemplarisch nennen, die wir in- schwang und rief: „Einfach mehr essen“. nerhalb der Koalition in den kommenden Wochen inten- siver zu erörtern haben. (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das ist aber ein bisschen zynisch!) (B) Ein erster Punkt betrifft die Förderung von sozialver- (D) sicherungspflichtiger Beschäftigung. Hier halte ich die So kommt mir Ihr Antrag auch daher. Er hilft keinem, Integration von Leistungen wie die sozialpädagogische weil er der Komplexität des Themas nicht gerecht wird. Betreuung oder auch die Vermittlung von beruflichen Er ist schädlich, weil er die Menschen gleichmacht, an- Kenntnissen, also von Leistungen nach § 45 SGB III, in statt nach ihren Stärken zu fragen. Er beruht auf der fal- § 16 SGB II für sinnvoll, um Leistungen aus einer Hand schen Idee, man könne mit anderer Leute Geld alle Pro- für die Betroffenen zu ermöglichen. Dazu gehört, dass bleme lösen. Das ist Grund genug, den Antrag zu wir Maßnahme und Begleitung praxistauglich in einem diskutieren, aber auch Grund genug, ihn abzulehnen. Er Instrument zusammenfassen und aufeinander abstim- ist nämlich auch irgendwie eine Karikatur. men. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU so- Der zweite Punkt betrifft die zeitliche Befristung der wie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Petra Förderung. Es macht meines Erachtens keinen Sinn, er- Sitte [DIE LINKE]: Peinlich!) folgversprechende Fördermaßnahmen mit einer starren Grenze von zwei Jahren innerhalb eines Zeitraums von Präsident Dr. Norbert Lammert: fünf Jahren zulasten der Betroffenen zu begrenzen. Statt- Zu einer Kurzintervention erhält die Kollegin dessen sollten wir über ein Jahresmodell nachdenken, Zimmermann das Wort. bei dem die Fallmanager vor Ort jedes Jahr neu über die Maßnahme bzw. die Höhe der Förderung entscheiden, Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE): auch für eine Zeit von insgesamt mehr als zwei Jahren. Lieber Kollege Zimmer, ich habe Ihnen sehr aufmerk- Der letzte Punkt, den ich an dieser Stelle anregen sam zugehört und muss Ihnen ehrlich sagen: Ich bin mag: Wir sollten die Kriterien für Arbeitsgelegenheiten schon sehr enttäuscht, überdenken. Ich meine, dass Maßnahmen, die in erster (Beifall der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]) Linie den Gedanken der Wettbewerbsneutralität und der Zusätzlichkeit und weniger dem Interesse der Langzeit- dass Sie das Thema Langzeitarbeitslosigkeit im Eingang erwerbslosen entsprechen müssen, eher zu Beschäfti- und auch im Abgang Ihrer Rede so in die Lächerlichkeit gungstherapien pervertieren, als dass sie Menschen hel- gezogen haben. fen, wieder auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Mein (Beifall bei der LINKEN) Plädoyer ist daher, diese Kriterien abzuschaffen oder zu- mindest so abzuschwächen, dass die Kompetenz der lo- Das ist eine große Schweinerei – ich muss es Ihnen kalen Akteure berücksichtigt wird. Ich höre übrigens, wirklich so deutlich sagen –, denn Ihre Fraktion hat die 9670 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015

Sabine Zimmermann (Zwickau) (A) 1 Million langzeitarbeitslosen Menschen in diesem Land Präsident Dr. Norbert Lammert: (C) schon lange abgeschrieben. Zur Erwiderung Herr Kollege Zimmer. ( [CDU/CSU]: Ach, komm! – Kai Whittaker [CDU/CSU]: Ein weit herge- Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): holtes Argument, Frau Kollegin!) Verehrte Frau Kollegin Zimmermann, für das Erfüllen Ihrer Erwartungen sind meine Reden sicherlich nicht zu- Das ist die Realität, und der sollten Sie sich wenigstens ständig. Wenn Sie da enttäuscht gewesen sind, dann liegt einmal stellen. es vielleicht daran, dass ich Argumente vorgebracht (Beifall bei der LINKEN) habe, die Sie so noch nicht gehört haben. Insofern mag es Ihnen vielleicht auch gutgetan haben, der Rede zuzu- Nehmen Sie auch zur Kenntnis, dass die Landesmi- hören. nisterin zum Thema, zu unserem Antrag, gesprochen hat (Zuruf von der LINKEN: Die war grotten- (Max Straubinger [CDU/CSU]: Davon haben schlecht!) wir nichts gemerkt!) Allerdings habe ich jetzt auch festgestellt, dass Sie re- und damit gleichzeitig verbunden hat, darzustellen, wie lativ gut vorbereitet gewesen sind. es in der Praxis aussieht, was die Bundesregierung alles nicht tut, warum es im Land Thüringen und in allen an- (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das haben wir deren Bundesländern nicht zum Passiv-Aktiv-Transfer so drauf! – Gegenruf des Abg. Dr. Matthias kommt und Langzeitarbeitslosigkeit nicht wirklich ernst- Bartke [SPD]: Alles abgelesen!) haft bekämpft werden kann. Ich frage mich schon, warum Sie nicht selber in die Bütt (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Das ist gegangen sind. ein Redebeitrag der Linken, vorgefertigt!) (Sigrid Hupach [DIE LINKE]: Lächerlich!) Ich muss Ihnen sagen: Es haben hier auch schon CDU- Stattdessen haben wir einer Ministerin zuhören dürfen, Landesminister gesprochen; das ist nichts Neues. Das die ganz im Sinne einer präventiven Immunisierung sollten Sie vielleicht einmal zur Kenntnis nehmen. schon heute erklärt, warum das im Land Thüringen alles (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der LIN- nicht funktionieren wird, nämlich weil am Ende der KEN: Da war er nicht da!) Bund schuldig ist. Dass Sie sich hergegeben haben, da- für eine parlamentarische Plattform zu bilden, das finde Sie sagten in Ihrer Rede, der Mensch stehe bei Ihnen ich ausgesprochen schade. (B) im Mittelpunkt. Jawohl! Dazu muss ich sagen: Ministe- (D) rin Nahles hat ein Programm für 43 000 Teilnehmer auf- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Petra Sitte gelegt. Damit will sie die Langzeitarbeitslosigkeit von [DIE LINKE]: Ein bisschen peinlich war der 1 Million Menschen bekämpfen. Ich muss Ihnen sagen: Auftritt! – Susanna Karawanskij [DIE Das ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Bei Ihnen steht LINKE]: Sie hätten zuhören sollen! – nicht der Mensch im Mittelpunkt; das sieht man hier Dr. [DIE LINKE]: Sie blei- ganz deutlich. ben hinter Ihren Möglichkeiten zurück! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Unterir- (Beifall bei der LINKEN) disch!) Im Übrigen muss ich Ihnen sagen: Die Zahl der Lang- zeitarbeitslosen geht seit 2012 wieder hoch. Die Zahlen Präsident Dr. Norbert Lammert: sind vom Bundesministerium; sie werden sicherlich Das Wort erhält jetzt die Kollegin Brigitte Pothmer stimmen. Die Zahl der Arbeitslosengeld-II-Bezieher ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. nur um 9,2 Prozent zurückgegangen. Das Geld, das Sie in den letzten Jahren eingespart haben, steht dazu in gar Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): keinem Verhältnis. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Sie kritisieren, dass 200 000 Stellen geschaffen wer- Zimmer, vielleicht zunächst ein Wort zu dem Begriff den sollen. Angesichts der wenigen Arbeitsstellen und „kreative Statistik“. Die Langzeitarbeitslosigkeit ist nach der vielen arbeitslosen Menschen – wir haben ein Miss- Ihrer Statistik seit 2010 um 7 Prozent zurückgegangen. verhältnis von 1:3 – frage ich mich doch aber: Haben die Aber wenn Sie die Zahl derjenigen, die Sie schlicht und arbeitslosen Menschen überhaupt eine Chance auf eine ergreifend ungerechtfertigterweise nicht mitzählen, zum solche Stelle? Ihre Argumente sind doch Schwachsinn. Beispiel die 58-Jährigen, die ein Jahr lang kein Angebot bekommen haben, berücksichtigen – das sind über Zum Schluss möchte ich Ihnen sagen: Die Teilneh- 166 000 Menschen –, dann sind Sie bei einem Rückgang merzahl ist von 2010 bis 2013 von 342 534 auf 110 000 der Langzeitarbeitslosigkeit von 0,6 Prozent. Herr zurückgegangen. Daran sehen Sie doch, dass das, was Zimmer, wenn Sie an dieser Stelle wirklich eine Debatte Sie für langzeitarbeitslose Menschen tun, ein Tropfen über Statistik führen wollen, dann machen Sie sich erst auf den heißen Stein ist. Damit werden Sie die Langzeit- einmal ehrlich. arbeitslosigkeit in unserem Land nicht bekämpfen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der LINKEN) und bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9671

Brigitte Pothmer (A) Hören Sie auf, das Problem kleinzureden! (Kai Whittaker [CDU/CSU]: Endlich mal ein (C) vernünftiger Satz!) (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ja!) Ich finde, Sie fallen sehr weit hinter Erkenntnisse zu- Ich weiß nicht, ob Sie manchmal auch Zeitung lesen. rück, die wir längst haben. In der Süddeutschen Zeitung vom 22. April stand, dass selbst Herr Alt, Vorstand der Bundesagentur für Arbeit, (Beifall der Abg. Daniela Kolbe [SPD]) der Meinung ist, dass von den 1 Million Langzeitarbeits- losen 500 000 bis auf Weiteres und die Hälfte von diesen Das Beharren auf dem Kriterium der Zusätzlichkeit führt 500 000 auch langfristig keine Chance haben werden, dazu, dass sehr arbeitsmarktferne Arbeitsplätze geschaf- auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Er sagt, sie fen werden. Der Verzicht auf jedes Kriterium bei der Frage, brauchen mindestens zum Übergang einen zweiten Ar- wer in dieses Programm aufgenommen werden soll, führt beitsmarkt. Ich zitiere ihn: „Hier wurde in den vergange- zu extremen Creaming-Effekten. Wir haben 1 Million Lang- nen Jahren deutlich abgebaut“. Ich ergänze: Es wurde zeitarbeitslose. Sie reden von 200 000 Plätzen. Die Ge- deutlich abgebaut, und zwar über 200 000 Stellen. fahr ist sehr groß, dass ausgerechnet die, die das Pro- gramm am dringendsten brauchen, hinten herunterfallen. Herr Zimmer, Sie wissen, ich schätze Sie, aber heute haben Sie wirklich nicht den richtigen Ton getroffen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das war selbstgefällig. sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bei einer Fokussierung auf die gemeinwohlorientierte und bei der LINKEN) Arbeit werden eben nicht die positiven Effekte berück- sichtigt, die zum Beispiel Baden-Württemberg durch die Sie bieten ein ESF-Programm mit 33 000 Plätzen an, das Einbeziehung privater Unternehmer erzielt. nur das einst von Frau von der Leyen initiierte Pro- gramm „Bürgerarbeit“ mit ebenfalls 33 000 Plätzen er- Richtig katastrophal finde ich aber Ihren Vorschlag, setzt. Damit schaffen Sie keinen einzigen zusätzlichen allen über 55-Jährigen einen Rechtsanspruch zu geben. Platz für die Langzeitarbeitslosen. Dabei geht es hier Das heißt, Sie halten diese Menschen in einem Sonderar- um, ich wiederhole, 500 000 Menschen! beitsmarkt. Damit entlasten Sie die Unternehmen von ih- rer Verantwortung, auch für diese Gruppe etwas zu tun. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ist es!) (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Haben Sie einen besseren Vorschlag?) Im Zuge des Teilhabeprogramms werden 10 000 Plätze geschaffen. Das Geld für dieses Teilhabeprogramm wird Ich habe also viel Kritik im Detail. Aber, Herr (B) den Jobcentern aber vorher abgezogen. Das Programm, Zimmer, Ihre Kritik wäre glaubwürdiger, wenn Sie (D) das hier aufgelegt wird, geht also zulasten von Plätzen in selbst etwas anzubieten hätten. anderen Bereichen. Sie schaffen kein einziges zusätzli- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ches Angebot. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Was Sie hier heute angedeutet haben, wird der Grö- Sie sagen – ich halte das für einen Treppenwitz der Welt- ßenordnung und der Dimension des Problems in keiner geschichte –, bei Ihnen stehe die Förderung von Men- Weise gerecht. Das ist weder quantitativ noch qualitativ schen im Fokus. Seit dieser Legislaturperiode, seit Be- wirklich ein Angebot. ginn der Amtszeit von Frau Nahles haben sich die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Chancen der Langzeitarbeitslosen noch einmal ver- und bei der LINKEN) schlechtert. Die Aktivierungsquote ist 2014, in Ihrer Amtsperiode, mit 17,4 Prozent so niedrig wie seit 2010 Wir brauchen öffentlich geförderte Beschäftigung. nicht mehr. Ich finde wirklich, Sie sollten ein bisschen Wir brauchen einen sozialen Arbeitsmarkt, und wenn kleinere Brötchen backen. wir den finanzieren wollen, dann brauchen wir einen Passiv-Aktiv-Transfer. Darüber sind sich wirklich alle (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Arbeitsmarktexperten und alle Akteure auf dem Arbeits- und bei der LINKEN) markt inklusive der BA einig. Sie lassen die Langzeitarbeitslosen wirklich im Stich (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE und nehmen sehenden Auges in Kauf, dass das Teilhabe- GRÜNEN]: Nur die CDU nicht!) versprechen für Langzeitarbeitslose nicht mehr gilt. Es gab Zeiten, in denen auch die SPD zu den kundigen Das BMAS hat neulich auf einer Tagung der Hans- Thebanern gehörte. Böckler-Stiftung auf die Forderung der Länder nach zu- sätzlichen Instrumenten, insbesondere des sozialen Ar- (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- beitsmarktes, gesagt, eine Instrumentenreform würde zu NEN]: Bei der CDU gibt es auch ein paar Auf- viel Unruhe in die Jobcenter bringen. geklärte! Sogar da!) (Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Ich glaube allerdings nicht – das will ich an dieser SES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN) Stelle deutlich sagen –, dass die öffentlich geförderte Be- schäftigung so umgesetzt werden könnte und sollte, wie Wissen Sie, was die Länder dem BMAS geantwortet ha- die Linken das vorschlagen. ben? Unruhe bringt das ständige Programmhopping. Zi- 9672 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015

Brigitte Pothmer (A) tat: Hören Sie endlich auf, uns mit Sonderprogrammen sehr stabile wirtschaftliche Situation, und auch der Ar- (C) zu überfallen. – Ja, hören Sie damit endlich auf. beitsmarkt zeigt sich erstaunlich robust. Wir sehen gute Tarifsteigerungen, und wir haben einen gesetzlichen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mindestlohn, der sehr viele Menschen aus dem Hilfebe- und bei der LINKEN) zug holt. Ich habe diese Woche mit einem Mitarbeiter aus ei- nem Jobcenter in Bad Segeberg telefoniert. Er hat mir Es gäbe also einige gute Argumente für Partylaune – gesagt, mit wie viel Engagement sie das Programm zumindest theoretisch. Gleichzeitig sehen wir praktisch, „50 plus“ aufgebaut haben. Dieses Programm läuft über- dass sich in bestimmten Bereichen des Arbeitsmarktes, aus erfolgreich, aber jetzt wird es einkassiert, weil Sie gerade im Bereich der Langzeitarbeitslosigkeit, seit eini- mit den Aktivierungszentren um die Ecke kommen. Ich gen Jahren de facto nichts bewegt. Es ist offenkundig, finde, Sie sollten sich einmal fragen, welchen Sinn Mo- dass die sehr gute konjunkturelle Lage Hunderttausen- dellprojekte haben, wenn man sie, sobald sie erfolgreich den Menschen in Deutschland nicht hilft, ebenjenen laufen, wieder einkassiert und eben nicht in die Regel- Menschen, die sehr lange arbeitslos sind; sie können förderung übernimmt. Das macht doch keinen Sinn. auch unter diesen tollen Rahmenbedingungen nicht ohne Weiteres zurück auf den Arbeitsmarkt finden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Jetzt gibt es verschiedene Strategien, damit umzuge- hen. Es gibt die Strategie der Vorgängerregierung, deren Richtig verzweifelt sind die Jobcenter übrigens, wenn Fokus auf schönen Arbeitsmarktzahlen und guten Nach- es um den bürokratischen Aufwand für das ESF-Pro- richten lag. Man vertraute darauf, dass sich dadurch von gramm geht. Der Aufwand ist offenbar so groß, und alleine etwas bewegen würde, dass es dadurch leichter zwar nicht nur bei der Beantragung, sondern auch bei würde, die Arbeitslosen zu vermitteln, und dass in der der Bewilligung, dass wir immer noch nicht wissen, was Folge die aktive Arbeitsmarktförderung reduziert wer- aus diesem Nahles-Programm geworden ist, obwohl die den könnte. Prüfungen bis Ende März abgeschlossen sein sollten. Diese Bundesregierung mit als Minis- Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Wir haben terin für Arbeit und Soziales verfolgt eine ganz andere jetzt eine Menge Erfahrung gesammelt und wissen, wel- Strategie. Sie sagt: Uns ist es ganz besonders wichtig, che Konsequenzen wir ziehen sollten und wie wir mit hinzuschauen. Wir anerkennen, dass es eine große He- Langzeitarbeitslosen umgehen sollten. Dazu will ich Ih- rausforderung ist, die Menschen, die sehr lange aus dem nen drei Punkte nennen: Erstens. Die Strategie der Erwerbsleben heraus sind, zurückzuholen in die Gesell- schnellen Vermittlung ist gescheitert. schaft, ihre Teilhabe zu organisieren und sie im besten (B) (D) Fall im ersten Arbeitsmarkt unterzubringen. Das ist Präsident Dr. Norbert Lammert: Andrea Nahles und der SPD ein Herzensanliegen. Wir Frau Kollegin Pothmer, das wird ein bisschen schwie- werden nicht zuschauen, wie 1 Million Menschen und rig. ihre Familien zu Hause sitzen, hinter ihren Gardinen ver- schwinden und weitgehend vom sozialen Leben ausge- Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): schlossen sind. Das wird schwierig? – Dann sage ich noch ein Letztes (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und zitiere Frau Mast, die eine kluge Kollegin ist: Unter- der CDU/CSU – Dr. Wolfgang Strengmann- stützung für Menschen, die am Rand stehen, gibt es nicht Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann zum Nulltarif. Wir müssen ausreichend Geld in die Hand muss man auch was tun!) nehmen, um Langzeitarbeitslose zu fördern. – Ich kann nur sagen: Das war in der letzten Legislaturperiode rich- Das zeigt sich auch daran, dass Andrea Nahles eigentlich tig, und das ist auch in dieser Legislaturperiode richtig. bei jeder Grundsatz- oder Haushaltsrede in diesem Ho- Aber es gibt nichts Gutes, außer man tut es. hen Hause das Thema Langzeitarbeitslosigkeit als eine Ich danke Ihnen. ihrer Topprioritäten benennt und deutlich macht, was sie diesbezüglich plant. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Es gibt 1 Million gute Gründe und sehr viele objek- tive Fakten, die zeigen, dass wir mit Blick auf die Ge- sellschaft bei diesem Thema etwas unternehmen müs- Präsident Dr. Norbert Lammert: sen. Nächste Rednerin ist die Kollegin Daniela Kolbe für die SPD-Fraktion. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten NIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann macht doch der CDU/CSU) mal endlich!) Da ist natürlich die materielle Armut der Langzeit- Daniela Kolbe (SPD): erwerbslosen. 84 Prozent der Langzeiterwerbslosen le- Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und ben unter der Armutsrisikogrenze. Erwerbsarbeit ist in Kollegen! Die Situation auf dem deutschen Arbeitsmarkt Deutschland Grundlage für soziale Teilhabe. Arbeit zu ist außerordentlich gut. Wir alle freuen uns über eine verlieren bedeutet den Verlust sozialer Beziehungen, den Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9673

Daniela Kolbe (A) Verlust des sozialen Status, und für viele Menschen ist es (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) auch subjektiv ein ganz massiver Schicksalsschlag. NEN]: Ja, ich muss jetzt schon die Linken ver- teidigen!) Langzeitarbeitslosigkeit hat gesundheitliche Auswir- kungen. Der Gesundheitszustand der Betroffenen ist Alleinerziehende mit kleinen Kindern und ohne so- objektiv und subjektiv schlechter. 64 Prozent der Be- ziales Umfeld haben doch ganz andere Probleme als je- troffenen haben schwerwiegende gesundheitliche Ein- mand, der keine Berufsausbildung gemacht hat oder bei schränkungen. Das ist kein Henne-Ei-Problem, sondern dem sie ewig lange her ist. Deswegen hat Andrea Nahles das bedingt sich gegenseitig. Wer langzeiterwerbslos ist, Ende letzten Jahres ein ganzes Bündel von Maßnahmen wird kränker, und wer kränker wird, hat größere Pro- vorgestellt und eben nicht eine Lösung für alle. Diese bleme, aus der Langzeiterwerbslosigkeit herauszukom- Vielfalt der Maßnahmen wird auch der Vielfalt der men. Gruppe gerecht. Es gibt familiäre Probleme, seelische Probleme, kör- Es wird das ESF-Programm „Perspektive in Betrie- perliche Probleme. Die Menschen werden stigmatisiert. ben“ für Langzeitarbeitslose ohne verwertbaren Berufs- Langzeiterwerbslosigkeit hat auch schwerwiegende ge- abschluss geben. Es wird ein Bundesprogramm für sehr sellschaftliche Folgen. Wir sehen, dass Kinder in Fami- arbeitsmarktferne Langzeiterwerbslose geben. lien groß werden, in denen die Eltern langzeiterwerbslos sind. Wir erleben sozialräumliche Effekte. Ganze Stadt- (Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE teile sind massiv von Langzeiterwerbslosigkeit betroffen LINKE]: Zu wenig! Viel zu wenig! – Matthias und auch geprägt. Außerdem verursacht Langzeiterwerbs- W. Birkwald [DIE LINKE]: Was kommt losigkeit massive gesellschaftliche Kosten: fehlende Steu- dann?) ereinnahmen, hohe Kosten der Arbeitslosigkeit, hohe Darüber hinaus wird es eine viel bessere Betreuung in Gesundheitskosten usw. Aktivierungszentren geben. Darüber ist hier überhaupt Das sind genügend Gründe, dies anzugehen und auch noch nicht gesprochen worden. mit dem Klischee aufzuräumen, dass Langzeiterwerbs- lose nicht arbeiten wollen. Ich kenne in meinem Wahl- (Beifall bei der SPD) kreis sehr viele Betroffene. Sie sagen: Ich will raus. Ich Wir wollen diejenigen 46 Prozent mit gesundheitlichen will etwas Sinnvolles tun. Ich will wieder Sinn und Einschränkungen in den Fokus nehmen und natürlich Struktur in meinem Leben haben. Ich will nicht stigmati- auch der Situation der Alleinerziehenden viel mehr ge- sierende, sondern würdevolle Beschäftigung. – Das ist recht werden. Dazu haben Sie schon einiges von dieser es, was ich von den Betroffenen höre. Dabei müssen wir Regierung gehört. (B) sie unterstützen. (D) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD) der CDU/CSU) Die Mittel des Bundes für aktive Arbeitsmarktförde- So sehr wir als Sozialdemokraten öffentlich geför- rung sind von der Vorgängerregierung massiv gekürzt derte Beschäftigung als wichtigen Aspekt sehen und uns worden. Erst diese Regierung hat das Thema wieder da auch mehr vorstellen und mehr wünschen, an einem ganz weit nach oben auf die Agenda gesetzt. Dafür ge- Punkt widersprechen wir den Aussagen im Antrag der bührt Ministerin Andrea Nahles ein großes Lob. Linken fundamental. Sie wollen den Zugang zu diesem (Beifall bei der SPD) Programm einfach so, ohne Kriterien gewähren. Das ist ja schön und gut gemeint, kann aber im Zweifel mehr Andrea Nahles reagiert mit einem differenzierten Ansatz Schaden anrichten als nutzen. und hat damit dem Antrag der Linken, von wem auch immer er präsentiert wurde, einige Denkschritte voraus. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Matthias Denn es gibt nicht die eine Gruppe Langzeiterwerbslose, W. Birkwald [DIE LINKE]: Warum?) die man mit öffentlich geförderter Beschäftigung be- glückt, und dann ist das Problem gelöst. Wir können Wir reden über eine sehr teure Maßnahme. Ohne Zu- doch nicht dem Anfang 20-Jährigen, der ein Drogenpro- gangskriterien würde es Creaming- und Lock-in-Effekte blem hat und den Anfang seiner Berufskarriere verstol- geben. Dadurch würden Personen in das Programm pert, kommen, denen mit Weiterbildung, mit einer guten Ver- mittlung, mit einer guten Kinderbetreuung viel mehr ge- (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- holfen wäre. Schlussendlich diskreditieren Sie mit dem NEN]: Das steht da ausdrücklich drin!) gutgemeinten Ansatz, immer noch eine Schippe draufle- mit der Diplom-Ingenieurin vergleichen, die mit Mitte gen zu wollen, ein wirklich sinnvolles Projekt. 50 durch eine Insolvenz des Unternehmens keine Arbeit Schauen Sie sich bitte Ihren Antrag und die Konzepte, mehr hat und keinen Fuß mehr in die Tür bekommt. die schon auf dem Tisch liegen, noch einmal an. Über (Beifall bei der SPD – Abg. Brigitte Pothmer Passiv-Aktiv-Tausch wollen wir als Sozialdemokraten [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Also wirk- natürlich sehr gerne reden. Das wollen wir gerne verfol- lich, lies mal den Antrag! Da steht ausdrück- gen. lich etwas anderes drin!) (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- – Ich komme gleich dazu, Brigitte, keine Sorge. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen!) 9674 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015

Daniela Kolbe (A) Aber dieser Gut-gemeint-Ansatz, den Sie hier in typi- (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Ihre Rede heute (C) scher Linken-Manier vorbringen, geht an der Zielgruppe ist genauso schlecht wie Ihre erste!) vorbei, Sie fordern, alle Menschen, die länger als ein Jahr ar- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sagen beitslos sind, sollen sich auf einen sozialen Arbeitsplatz Sie das mal den Betroffenen!) bewerben können; das sind mehr als 1 Million Menschen die viel diverser ist, als Sie es hier darstellen. in Deutschland. Gleichzeitig fordern Sie in Ihrem An- trag, dass es – nur – 200 000 solcher Arbeitsplätze geben (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten soll. Was ist mit den anderen 800 000 Menschen? Wer der CDU/CSU – Zurufe von der LINKEN) soll diese 200 000 Arbeitsplätze überhaupt bekommen? Gerade die Antwort auf die letzte Frage bleiben Sie Vizepräsidentin : schuldig; denn Sie grenzen die Zielgruppe nicht ein. Da- Aber jetzt müssen Sie bitte zum Schluss kommen, mit erreichen Sie eben nicht diejenigen, die am weitesten Frau Kollegin Kolbe. vom Arbeitsmarkt entfernt sind, sondern Sie helfen aus- gerechnet denjenigen, die diese Hilfe nicht brauchen. Daniela Kolbe (SPD): Da wollen Sie uns immer in das gelobte Land, in dem Das tue ich. Das Thema bleibt ja sowieso auf der Milch und Honig fließen, führen, und dann bleiben Sie Agenda. – Jedenfalls werden wir Sozialdemokraten wei- mitten in der Wüste Sinai stecken. ter dafür sorgen, dass Langzeiterwerbslose in unserem Land eine Chance bekommen. (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Die haben doch Laktoseintoleranz!) (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die brauchen keine Chance, die brauchen einen Aber in der politischen Wüste sind Sie ja zu Hause. Job!) (Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE Bis zum nächsten Mal zu diesem Thema. LINKE]: Sagen Sie auch mal etwas zum Thema?) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Tragischerweise machen Sie in Ihrem Antrag genauso weiter. Sie verlangen für die sozialen Arbeitsplätze einen Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Bruttolohn von 1 500 Euro. Das entspricht für den Steu- Vielen Dank. – Der Kollege Kai Whittaker ist jetzt für erzahler einem Betrag von fast 2 000 Euro. die CDU/CSU-Fraktion der nächste Redner. (Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU) LINKE]: 1 700!) Bei 200 000 Arbeitsplätzen sind das pro Jahr sage und Kai Whittaker (CDU/CSU): schreibe 4,7 Milliarden Euro, die Sie zusätzlich ausge- Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Liebe Linksfrak- ben wollen. tion, Sie kennen sich ja bestens mit dem Thema Lang- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Tragen zeitarbeitslosigkeit aus. Das ist kein Wunder; denn Sie Sie mal die Refinanzierungseffekte vor!) befinden sich ja in einer Art politischen Langzeitarbeits- losigkeit. Seit zehn Jahren sind Sie in der Opposition, Das ist ein Viertel dessen, was der Bund jedes Jahr für und Besserung ist nicht in Sicht. das Arbeitslosengeld II ausgibt. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Damit nicht genug: Sie schaffen es mit Ihrem Antrag NEN]: Was ist das denn für eine Aussage? – auch noch, ein Zweiklassensystem von Arbeitslosen zu Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE installieren. Die 800 000 Menschen, die es nicht in Ihr LINKE]: Was ist das denn für ein demokrati- Programm schaffen, bekommen weiterhin Hartz IV. Die sches Verständnis?) anderen 200 000 Menschen, die in Ihrer Soziallotterie Wer Ihren Antrag liest, sieht auch keine Perspektive für gewonnen haben, bekommen doppelt so viel. eine Vermittlung in die Regierung. Deshalb lautet mein (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Und was be- Vorschlag an Sie: Lassen Sie uns uns gemeinsam Gedan- kommen sie bei Ihnen? – Sabine Zimmermann ken machen, woran das liegen könnte. Welche Vermitt- [Zwickau] [DIE LINKE]: Bei Ihnen kriegen lungshemmnisse liegen bei Ihnen offenkundig vor? sie Hartz IV!) ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Somit schafft die Linke das, was sie der FDP immer vor- NEN]: Das ist wie bei der CDU in Baden- geworfen hat: eine Umverteilung von unten nach oben Württemberg!) im Hartz-IV-System. Schon in meiner ersten Rede hier im Deutschen Bun- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Alle destag habe ich bedauerlicherweise feststellen müssen, kriegen bei uns Mindestsicherung?) dass es mit Ihren volkswirtschaftlichen Kenntnissen nicht allzu weit her ist. Ihr heutiger Antrag ist der Be- Man könnte meinen, das sei genug. Aber Sie setzen weis, dass Sie auch mit der Lebenswirklichkeit nicht noch eins drauf: Sie schlagen eine Sonderabgabe von allzu viel anfangen können. 0,5 Prozent der Lohnsumme vor. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9675

Kai Whittaker (A) (Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE gedacht: Jetzt probieren wir es durch die Hintertür, näm- (C) LINKE]: Genau! Die ist gut!) lich bei den Arbeitslosen. Selbstverständlich sollen die Arbeitgeber sie bezahlen; (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Wie kann etwas anderes haben wir von Ihnen auch nicht wirklich man nur so über dieses Thema reden?) erwartet. Denn Sie fordern für die sozialen Arbeitsplätze ja einen (Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE Mindestlohn von 10 Euro. LINKE]: Genau!) Sie fordern in Ihrem Antrag auch eine 35-Stunden- Bei Ihrem Vorschlag bleiben Sie aber seltsam vage. Woche. Aber darüber möchte ich mich gar nicht be- schweren; das wäre nämlich ein höheres Arbeitspensum Dafür gibt es zwei mögliche Erklärungen: Entweder als bei Ihnen üblich. wollen Sie sich ganz dreist an der Arbeitslosenversiche- rung bedienen. Denn die Arbeitgeber und die Versicher- (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) ten bezahlen jedes Jahr einen 3-prozentigen Beitragssatz Liebe Linke, nachdem ich Ihr Vermittlungshemmnis an die Arbeitslosenversicherung – das sind ungefähr jetzt anschaulich beleuchtet habe, möchte ich Ihnen et- 30 Milliarden Euro im Jahr –, und Ihre 0,5 Prozent Son- was an die Hand geben. derabgabe ergäbe – oh Wunder, oh Wunder! – genau die 5 Milliarden Euro, die Sie brauchen. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist alles peinlich hier! Ein (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das ist Zufall! bisschen mehr Ernsthaftigkeit beim Thema Die können doch gar nicht rechnen!) Arbeitslosigkeit wäre nicht schlecht!) Nur: Dieses Geld gehört den Versicherten und nicht Ih- Schließlich ist es ja unser gemeinsames Ziel, Vermitt- rem aufgeblähten Steuerstaat. lungshemmnisse abzubauen, also auch Ihre. Worum geht (Beifall bei der CDU/CSU – Jutta Krellmann es der Union bei der Integration der Langzeitarbeitslo- [DIE LINKE]: Da machen wir einen Finanzie- sen? Ich habe es schon in meiner letzten Rede hier im rungsvorschlag, und dann ist es auch wieder Deutschen Bundestag gesagt – ich wiederhole es –: nicht richtig! Was wollen Sie denn nun? – (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wie oft wol- Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE len Sie von dieser Rede denn noch reden?) LINKE]: Mensch, Sie müssen sich richtig da- mit beschäftigen!) nicht Integration durch Beschäftigung, sondern Integra- tion durch Arbeit. So bringen wir die Menschen wieder (B) Oder aber – das ist die Alternative – Sie wollen eine in den ersten Arbeitsmarkt hinein. Wir dürfen die Men- (D) Strafsteuer für Arbeitgeber einführen; Sie nennen sie schen nicht vernachlässigen, wir dürfen sie nicht in ir- eben Sonderabgabe. Für eine solche Abgabe aber muss gendwelchen sozialen Arbeitsmärkten parken, und wir es eine ganz spezifische Verbindung zwischen dem Zah- dürfen sie auch nicht aufgeben, sondern wir müssen ihre ler und dem Zweck geben; das schreibt unsere Verfas- Stärken in den Mittelpunkt stellen. Das Ziel ist ganz klar, sung vor. sie an den ersten Arbeitsmarkt heranzubringen. Dafür (Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE gibt es meiner Meinung nach fünf Ansatzpunkte: LINKE]: Ach, wirklich?) Wenn wir die Langzeitarbeitslosen wieder in die Nähe Aber die schließen Sie ja aus, weil private Arbeitgeber des ersten Arbeitsmarktes bringen wollen, brauchen wir die sozialen Arbeitsplätze gar nicht anbieten dürfen. bessere Konzepte statt Maßnahmen. Der Mehrwert der meisten Maßnahmen geht gegen null. Was diese Men- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die schen eigentlich brauchen, sind Fähigkeiten, die am ers- können ja richtige Arbeitsplätze anbieten! Sie ten Arbeitsmarkt gefragt sind. Ein Beispiel wären, können über 50-Jährige einstellen!) glaube ich, die sogenannten Sozial- und Integrationsfir- Kommen wir zu einem weiteren Vermittlungshemm- men; dieses Konzept haben wir im SGB IX bei den nis bei Ihnen: zum logischen Denken. In meiner ersten Menschen mit Behinderung bereits verankert. Einer der Rede im Bundestag ging es um Ihren Antrag im Hin- Hauptunterschiede zwischen den bestehenden Instru- blick auf einen Mindestlohn von 10 Euro die Stunde. menten im SGB II und diesen Sozialfirmen ist die Stel- Damals fand ich Ihren Antrag irgendwie süß. lung der Langzeitarbeitslosen: In einer Maßnahme sind sie nur Teilnehmer; aber in einer Sozialfirma sind sie Be- (Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: schäftigte. Ein weiterer Vorteil ist meiner Meinung nach, Süß fanden Sie den? Aha!) dass die Sozialfirmen Betreuung aus einer Hand anbie- Denn wir haben uns in der Großen Koalition auf einen ten können, und sie bieten insbesondere arbeitsmarkt- Mindestlohn von 8,50 Euro verständigt; nahe Beschäftigung. Dadurch können die Übergänge in den ersten Arbeitsmarkt besser gestaltet werden. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Weil Wie können wir diese Übergänge noch erleichtern? wir Sie zum Jagen getragen haben!) Damit wären wir beim zweiten Punkt: Ausbildung för- seitdem ist Ihnen dieses Thema ja abhandengekommen. dern. Über 40 Prozent der Arbeitslosengeld-II-Bezieher Da Sie den flächendeckenden Mindestlohn von 10 Euro haben keinen Berufsabschluss. In der Vergangenheit ha- nicht einführen konnten, haben Sie sich wahrscheinlich ben wir den Fokus zu sehr auf die schnelle Vermittlung 9676 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015

Kai Whittaker (A) gelegt. Wir wollen nicht, dass Langzeitarbeitslose in (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) Zeit- und Leiharbeit vermittelt werden, um sich in weni- der CDU/CSU) gen Monaten wieder einen neuen Job suchen zu müssen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Was ist Dr. Matthias Bartke (SPD): der Unterschied zwischen Zeit- und Leihar- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und beit, Herr Kollege?) Herren! Lassen Sie mich zunächst einmal sagen, dass ich finde, dass wir heute einem bemerkenswerten parlamen- Deshalb muss der Vorrang von Ausbildung vor Vermitt- tarischen Schauspiel beiwohnen dürfen: Die Linkspartei lung konsequent in die Praxis umgesetzt werden. hat einen Antrag geschrieben und ihre gesamte Redezeit Ein dritter Ansatzpunkt sind die Jobcenter. Es ist die an eine Landesministerin aus Thüringen gegeben. Aufgabe der Jobcenter, individuelle und passgenaue (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Warum denn Möglichkeiten für Langzeitarbeitslose zu finden. nicht?) (Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE Nachdem die Redezeit verbraucht war, wurde eine Kurz- LINKE]: Dann brauchen Sie mehr Personal intervention – eher eine Langintervention – gemacht, die bei den Jobcentern!) vorbereitet war. Diesem Anspruch können die Jobcenter nicht immer ge- (Widerspruch bei der LINKEN) recht werden. Deswegen sollten wir an dieser Stelle auch darüber diskutieren, wie wir die freie Förderung refor- Man kann so etwas als Missbrauch parlamentarischer mieren, sie flexibler gestalten können. Dies würde den Bräuche beschreiben. Das nur vorab. Jobcentern die Freiheit geben, eine ganzheitliche Betreu- ung anzubieten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ein weiterer Aspekt ist die Verbesserung des Arbeit- Das ist ja albern!) geberservices. Die Jobcenter müssen ihren lokalen Ar- beitsmarkt viel besser kennen, um passgenau vermitteln Meine Damen und Herren, es ist jedes Mal wieder zu können. eine hervorragende Nachricht: Die Arbeitslosenzahlen sinken. Dieser Trend setzt sich nun schon seit langem Als Letztes möchte ich noch die Notwendigkeit von fort. Gleichzeitig – das ist natürlich auch wahr – müssen Evaluierungen ansprechen. Meiner Meinung nach müs- wir uns aber eingestehen: Bei den Langzeitarbeitslosen sen wir alle arbeitsmarktpolitischen Instrumente nach ih- hat sich bislang leider zu wenig getan. Auch wenn es an- rer Einführung regelmäßig überprüfen. Dadurch können derslautende Stimmen gibt: Die Zahlen bleiben seit lan- (B) wir schneller feststellen, was wirkt und was nicht wirkt gem auf gleichem Niveau, nämlich bei etwa 1 Million (D) und wo wir nachsteuern müssen. stehen. Werte Kollegen, in der Arbeitsmarktpolitik verfolgen Sorgen machen muss uns dabei vor allem die Mi- wir alle das gleiche Ziel: Wir möchten Menschen wieder schung aus strukturellen Bedingungen und persönlichen in Arbeit bringen. Unsere Wege sind jedoch höchst un- Einschränkungen, die dahintersteckt. Diese Mischung terschiedlich. Leider werden viele Anträge von den Lin- macht aus Lebenssituationen Vermittlungshemmnisse, ken immer noch von ideologischen Blaupausen domi- lässt aus Menschen Langzeitarbeitslose werden und niert, führt zur Ausgrenzung aus unserer Gesellschaft. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Lang- Meine Damen und Herren, wir stellen uns dieser Rea- zeitarbeitslosen zu helfen ist ideologisch? Das lität. Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles hat bereits merken wir uns! Ich werde in meinem Wahl- im vergangenen Jahr ein umfassendes Konzept zum Ab- kreis erzählen, was Sie hier gesagt haben! So bau der Langzeitarbeitslosigkeit vorgelegt. ein Unsinn!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der wie wir heute mehr als einmal festgestellt haben. Darin CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE liegt, denke ich, die Krux der ganzen Sache. Der LINKE]: Umfassend?) Schweizer Aphoristiker Paul Schibler hat einmal sehr treffend und passend formuliert: „Ideologie ist ein Syn- Es ist völlig klar: Die Chance von Langzeitarbeitslosen, onym für Begrenztheit.“ Ihr Antrag, liebe Linke, ist ein im nächsten Monat eine Beschäftigung zu haben, ist mo- Synonym für Begrenztheit. Deshalb lehnen wir ihn ab. mentan viel zu niedrig. Diejenigen, die weniger als ein Jahr arbeitslos sind, haben eine sechsmal höhere Chance, Herzlichen Dank. einen Job zu bekommen. Das macht erschreckend deut- (Beifall bei der CDU/CSU – Steffi Lemke lich, wie gering die Chancen Langzeitarbeitsloser sind. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Denken Sie Dieses Problem werden wir angehen. Das ist auch drin- heute Abend noch einmal nach über den gend notwendig; denn Langzeitarbeitslosigkeit bedeutet Spruch!) nicht nur, kein Geld zu verdienen. Im schlimmsten Fall bedeutet sie auch fehlendes Selbstwertgefühl, fehlende Anerkennung und fehlende Teilhabe an der Gesellschaft. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Als Nächster hat der Kollege Matthias Viel zu häufig begegnen wir auch Vorurteilen gegen- Bartke, SPD-Fraktion, das Wort. über Arbeitslosen, die deren mangelndes Selbstwertge- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9677

Dr. Matthias Bartke (A) fühl dann noch verstärken. Natürlich gibt es immer den Wir wollen auch kein Geheimnis daraus machen, dass (C) einen oder anderen, der keinen Job haben will und sich dies vom Finanzminister derzeit verhindert wird. in der Arbeitslosigkeit scheinbar gut eingerichtet hat. Aber die überwiegende Mehrheit der Langzeitarbeitslo- Es gibt Dinge, die man schlicht nicht versteht: Meine sen möchte gern arbeiten. Manche – das ist leider auch Heimatstadt Hamburg hat angeboten, bei einem Passiv- die Wahrheit – trauen sich reguläre Arbeit nicht mehr zu, Aktiv-Transfer die Finanzierung eventuell notwendiger auch wenn sie durchaus noch arbeiten könnten. Restmittel zu übernehmen. Also null Kostenrisiko für den Bund! Das ist mit dem Finanzminister trotzdem Die konjunkturelle Entwicklung in unserem Land ist nicht zu machen. Ich frage mich, ob man im Alter wirk- momentan vielversprechend, aber auch ihre Wirkung hat lich immer weiser wird. Grenzen. Langzeitarbeitslose sind manchmal nicht mehr arbeitsmarktfähig. Das heißt aber nicht, dass sie arbeits- (Heiterkeit bei der SPD) unfähig sind. Für ihre Probleme gibt es kein Patentre- Aber, verehrte Frau Ministerin Werner, Ihren Rezepten zept. Vielmehr brauchen wir Angebote, die helfen, die kann ich auch nur begrenzt etwas abgewinnen. Mit Ihrer spezifischen Probleme zu bewältigen. Genau dieser An- Situationsanalyse gehe ich in weiten Teilen mit, bei der satz findet sich in dem Konzept von Arbeitsministerin Therapie aber nicht. Sie fordern 200 Stellen in einem öf- Andrea Nahles zum Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit fentlich geförderten Beschäftigungssektor, auf die sich wieder. In den geplanten Aktivierungszentren – meine alle Langzeitarbeitslosen Kollegin Kolbe hat schon darauf hingewiesen – werden Leistungsberechtigte gebündelt Unterstützungsleistun- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Mit 200 gen erhalten. Hier wird auf soziale, psychische und ge- geben wir uns nicht zufrieden!) sundheitliche Vermittlungshemmnisse eingegangen. Genauso wird auch an die Bewältigung von Bildungs- – 200 000 Stellen – bewerben können. Es ist hier eben defiziten und Alltagsproblemen herangegangen; „maß- schon gesagt worden: Sie sagen nichts über die Aus- geschneidertes Betreuungsprogramm“ ist hier das Stich- wahlkriterien für die Vergabe dieser Stellen. Dabei ist wort. Die Aktivierungszentren werden noch in diesem doch klar, dass bei einem solchen Konzept ein Creaming Jahr vorbereitet. Anfang nächsten Jahres werden sie ar- stattfinden wird. Das heißt, die mit den besten Ver- beitsfähig sein. mittlungsaussichten bekommen die Stellen, und die Schwächsten der Schwachen gucken wieder einmal in Ebenfalls Bestandteil des Konzepts ist das ESF-Pro- die Röhre. gramm zur Eingliederung langzeitarbeitsloser Leistungs- berechtigter. Dessen Umsetzung ist bereits gestartet. Die Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Unterscheidung zwischen nicht arbeitsmarktfähig und Herr Kollege Bartke, gestatten Sie eine Zwischen- (B) arbeitsunfähig wird hier unmittelbar gelebt. (D) frage der Kollegin Pothmer? Arbeitsmarktferne Langzeitarbeitslose ohne verwert- baren Berufsabschluss werden bei der Integration in den Dr. Matthias Bartke (SPD): Arbeitsmarkt unterstützt. Dabei sind Arbeitnehmercoa- Ja, gern. ching auch nach Beginn der Beschäftigung und Lohn- kostenzuschüsse zentrale Elemente; dazu kommt – ganz wesentlich im Programm – die gezielte Ansprache und Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Beratung der Arbeitgeber, auch wenn das in manchen Bitte schön, Frau Kollegin. Ohren banal klingt. Fakt ist aber leider, dass nur jeder dritte Betrieb bereit ist, Langzeitarbeitslosen im Einstel- Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): lungsprozess überhaupt eine Chance zu geben. Dabei Herr Kollege Bartke, Sie haben gerade darauf hinge- bewertet etwa die Hälfte der Betriebe, die Langzeit- wiesen, dass der Erste Bürgermeister der Hansestadt arbeitslose berücksichtigen, deren Motivation und Zu- Hamburg das Angebot gemacht hat, zur Einrichtung ei- verlässigkeit als gut oder sogar sehr gut. nes sozialen Arbeitsmarktes eventuell sogar zusätzlich Denjenigen, die auch nach intensiver Förderung nicht Geld zur Verfügung zu stellen, und Sie haben den Bun- in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden können, desfinanzminister – wie ich finde, zu Recht – kritisiert. bietet das Programm „Chancen eröffnen – soziale Teil- Ist Ihnen eigentlich bekannt, dass Herr Scholz auch ein- habe sichern“ eine neue Chance. Der Name ist dabei mal Bundesarbeitsminister war und in seiner Amtszeit Programm: Vorderstes Ziel ist die soziale Teilhabe am den Passiv-Aktiv-Transfer seinerseits abgelehnt hat? Arbeitsmarkt und am gesellschaftlichen Leben. Durch Zuschüsse bis zu 100 Prozent sollen sozialversiche- (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das Sein rungspflichtige Arbeitsverhältnisse gefördert werden. bestimmt das Bewusstsein!) Auch dieses Programm startet noch in diesem Jahr. Dr. Matthias Bartke (SPD): (Beifall bei der SPD) Das ist schon längere Zeit her. Herr Scholz ist derzeit Darüber hinaus befürworten wir Sozialdemokraten Erster Bürgermeister in Hamburg. Die Diskussion um auch die Einführung eines sozialen Arbeitsmarktes über den Passiv-Aktiv-Transfer hat es damals in dieser Inten- den Passiv-Aktiv-Transfer; das ist kein Geheimnis. sität ja noch gar nicht gegeben. (Beifall bei der SPD – Sabine Zimmermann [Zwi- (Jutta Eckenbach [CDU/CSU]: Das kann man ckau] [DIE LINKE]: Aber ihr tut nichts!) ja heute gut sagen!) 9678 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015

Dr. Matthias Bartke (A) Unser Wunsch ist es – das ist ja bekanntermaßen auch Gesellschaft liegt. Ihren heutigen Beitrag dazu fand ich (C) bei Teilen der CDU so –, den Passiv-Aktiv-Transfer suboptimal, um es einmal so zu beschreiben. durchzuführen. Wenn wir das in dieser Legislaturperiode nicht tun, dann werden wir uns bemühen, das in der (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten nächsten Legislaturperiode zu machen. Gute Sachen soll des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) man tun, und wenn man sie nicht heute macht, dann Das Zweite, was ich als Parlamentarische Geschäfts- macht man sie morgen. führerin gerne anmerken möchte, weil es der Kollege der SPD für notwendig befunden hat, noch einmal Bezug (Beifall bei der SPD – Steffi Lemke [BÜND- darauf zu nehmen: Unser Vorgehen ist übliche Praxis im NIS 90/DIE GRÜNEN]: Und was machen Sie Deutschen Bundestag. Artikel 43 Absatz 2 des Grundge- in der übernächsten Legislaturperiode?) setzes gibt den Mitgliedern des Bundesrates und der Das Konzept des sozialen Arbeitsmarktes und die so- Bundesregierung sowie ihren Beauftragten nämlich das ziale Teilhabe am Arbeitsmarkt richten sich an die Recht, sowohl in den Ausschüssen als auch im Plenum Schwächsten der Schwachen. Das Institut für Arbeits- des Deutschen Bundestages zu sprechen. Liebe Kolle- markt- und Berufsforschung schätzt diese Gruppe auf ginnen und Kollegen, es gibt keine Fraktion, die das hier 100 000 bis 200 000 Personen. Für diese eingegrenzte nicht schon praktiziert hat. Im Gegenteil: Das ist auch Gruppe der ganz Schwachen sollte eine öffentlich geför- eine Begegnung mit dem Leben von Landesministerien. derte Beschäftigung geschaffen werden. Sie erhalten Unser Antrag beschreibt die Probleme auf Bundes- dann eine öffentlich finanzierte Beschäftigung, damit sie ebene. Die Diskussion darüber wurde hier um das er- überhaupt wieder am sozialen Leben teilnehmen kön- gänzt, was man in Thüringen tun kann. Das ist doch eine nen, der Tag strukturiert wird und sie Anerkennung fin- wirklich gute Verbindung; das muss man nicht beklagen. den. Die Integration auf den allgemeinen Arbeitsmarkt Wenn man die Chance dazu hat, dann sollte man sie nut- steht dabei durchaus nicht im Vordergrund. zen, und wir hatten die Chance. Das Konzept von Andrea Nahles ist ein gutes Kon- Da wir die Landesministerin von Thüringen selbst- zept. Bei der Umsetzung dieses Konzepts haben wir ein verständlich nicht für einen sechsminütigen Redebeitrag gutes Stück harte Arbeit zu bewältigen, aber am Ende herholen wollten, hat sie natürlich unsere zwölf Minuten lohnt es sich. Aber auch hier gilt die alte Weisheit von Redezeit bekommen. Marie Curie, die einmal gesagt hat: Danke. Man merkt nie, was schon getan wurde; man sieht immer nur das, was noch zu tun bleibt. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (B) Ich danke Ihnen. (D) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Vizepräsidentin Ulla Schmidt: der CDU/CSU – Dr. Matthias Zimmer [CDU/ Herr Kollege Bartke. CSU]: Merci Curie!) Dr. Matthias Bartke (SPD): Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Das Bemerkenswerte an dieser Sache ist doch, dass Vielen Dank. – Bevor ich den nächsten Redner auf- Sie selber einen Antrag geschrieben haben, zu dem es in rufe, erteile ich der Kollegin Sitte das Wort, die Gelegen- der Kernzeit eine 96-minütige Debatte gibt, und Ihre ge- heit zu einer Kurzintervention hat. samte Redezeit weggeben und selbst nicht dazu reden. (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Was ist (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist jetzt schon wieder?) kein Missbrauch!) – Formalrechtlich ist das, was Sie gemacht haben, natür- Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): lich total zulässig, aber ich habe das als einen Miss- Recht schönen Dank, Frau Präsidentin. – Ich muss brauch bezeichnet, und Sie müssen mir auch freistellen, jetzt doch einmal etwas klarstellen, damit sich das bei so etwas zu tun. den Zuhörerinnen und Zuhörern nicht falsch einschleift: Danke. Erstens. Kurzinterventionen – ob vorbereitet oder un- vorbereitet; das schreibt die Geschäftsordnung nicht vor – (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Bernhard sind gängiges Mittel hier im Bundestag. Kaster [CDU/CSU]: Das kann man hier sa- gen!) (Beifall der Abg. Brigitte Pothmer [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Herrn Zimmers sonstige Beiträge in diesem Bundestag Zur allgemeinen Verständigung: Generell darf jeder haben bei uns nicht den Wunsch ausgelöst, eine vorbe- Parlamentarier hier im Saal das sagen, was er gerne sa- reitete Kurzintervention zu bieten. Auch die heutige war gen möchte, solange er andere nicht beleidigt. Da der unvorbereitet. Gerade als Vertreter der CDA haben Sie amtierende Bundestagspräsident zu der Zeit auch als hier schon ziemlich kluge Beiträge zum Thema Arbeits- oberster Hüter der Geschäftsordnung hier gesessen hat, losigkeit und dazu geleistet, wo die Verantwortung der gehe ich davon aus, dass er sich voll bewusst darüber ge- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9679

Vizepräsidentin Ulla Schmidt (A) wesen ist, dass die Geschäftsordnung so ausgelegt wer- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (C) den kann, wie Frau Sitte das gerade gesagt hat. Herr Kollege Strengmann-Kuhn, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Zimmermann? Jetzt hat der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann- Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Er wartet schon darauf! – Dr. Matthias Bartke [SPD]: Jetzt Nein sagen!) Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN): Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen DIE GRÜNEN): und Kollegen! Das Thema ist in der Tat viel zu ernst, als dass man hier mit solchen merkwürdigen Scharmützeln Ich gestatte sie sehr gerne. arbeiten sollte. Ich fand den Stil in manchen Reden von Vertretern der Koalition etwas unangemessen. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Bitte schön. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE): Ansonsten bin ich den Linken für ihren Antrag sehr Ich habe mich vorbereitet; das wollte ich vorweg sa- dankbar, weil damit auf ein zentral wichtiges Thema hin- gen. – Vielen Dank, Kollege Strengmann-Kuhn. gewiesen wird. Außerdem gibt er uns noch einmal die Ich will einfach nur etwas klarstellen. In unserem An- Möglichkeit, die unterschiedlichen Ansätze von Linken trag steht: Qualifizierung und Weiterbildung haben Vor- und Grünen klar darzustellen. Die Linken machen in ih- rang. – Wenn jemand auf dem ersten Arbeitsmarkt ver- rem Antrag sehr deutlich, dass sie zentrale Merkmale mittelt werden kann, ist das gut. Deswegen möchte ich unseres Ansatzes eines grünen sozialen Arbeitsmarktes einfach klarstellen, dass nicht alle Langzeitarbeitslosen ablehnen. Darauf werde ich jetzt eingehen. in den öffentlichen Sektor hinein sollen, sondern für uns Das Ziel der Grünen ist eine Gesellschaft, an der alle steht die Vermittlung auf dem ersten Arbeitsmarkt wirk- Menschen selbstbestimmt teilhaben können. Wir streben lich an erster Stelle. eine Gesellschaft an, in der niemand ausgegrenzt wird. (Beifall bei der LINKEN) Die Umsetzung der Forderungen im Antrag der Linken würde in der Tat eher das Gegenteil bewirken, was ich Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ an ein paar Punkten ausführen möchte. DIE GRÜNEN): (B) (D) Der erste Punkt ist die Frage: Wer ist eigentlich die Sie schreiben aber in Ihrem Antrag, dass sich auf die Zielgruppe? Da sagen Sie: alle Langzeitarbeitslosen. 200 000 Plätze alle Langzeitarbeitslosen bewerben kön- Alle Langzeitarbeitslosen – so schimmerte es sowohl in nen, und zwar ohne Einschränkungen. Das gilt dann der Rede von Frau Werner als auch in Ihrem Antrag auch für diejenigen, die Chancen auf eine Stelle auf dem durch – hätten überhaupt keine Chance auf dem Arbeits- ersten Arbeitsmarkt hätten. Das führt dazu, dass diejeni- markt. Das ist eine Stigmatisierung der Langzeitarbeits- gen, die keine Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, losen, die wir unterlassen sollten. auch keine Chance auf einen ihrer 200 000 Arbeitsplätze haben. Das heißt, die Ausgrenzung an dieser Stelle, die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wir mit dem sozialen Arbeitsmarkt angehen wollen, be- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und steht in Ihrem Konzept weiterhin. Die 200 000 Men- der SPD) schen, die langzeitarbeitslos sind und mehrere Vermitt- lungshemmnisse haben, hätten auch in Ihrer öffentlich Es ist mitnichten so, dass alle Langzeitarbeitslosen geförderten Beschäftigung keine Chance. Das führt zur überhaupt keine Chance haben. Viele Langzeitarbeits- Ausgrenzung. Das ist ein Punkt, den wir in Ihrem Vor- lose sind gut qualifiziert und verfügen über besondere schlag kritisieren. Fähigkeiten. Mit einer guten Förderung eröffnen wir ih- nen viele Möglichkeiten. Viele Menschen finden auch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nach mehr als einem Jahr Arbeitslosigkeit wieder aus der Arbeitslosigkeit heraus. Der zweite Punkt ist: In welche Art von Beschäfti- gung kommen diese Menschen? Es ist für uns wichtig, (Abg. Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE] dass Barrieren abgebaut werden und dass wir an die Sa- meldet sich zu einer Zwischenfrage) che inklusiv herangehen. Deswegen sprechen wir nicht von einem zweiten oder dritten Arbeitsmarkt mit einem – Frau Präsidentin. hierarchischen Aufbau, sondern wir sprechen von einem sozialen Arbeitsmarkt ohne Barrieren und Hindernisse (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Genau zum normalen Arbeitsmarkt. Die Grenzen zwischen so- das, was ich dachte: Keine Redezeit, aber lau- zialem Arbeitsmarkt und normalem Arbeitsmarkt sollen fend Zwischenfragen stellen! – Gegenruf des fließend sein. Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das würden wir sonst auch machen! – Gegen- Genau diese Grenzen ziehen Sie in Ihrem Antrag wie- ruf des Abg. Dr. Matthias Zimmer [CDU/ der ein, indem Sie sagen: Die Beschäftigung muss zu- CSU]: Ach so!) sätzlich sein. – Was heißt denn „zusätzlich“? Das heißt, 9680 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (A) es ist keine normale Beschäftigung. Das heißt also, die wurde schon gesagt. Wiederholungen werden sich wohl (C) Beschäftigung besteht darin, einen Laubhaufen von ei- nicht vermeiden lassen. ner Stelle zu einer anderen zu schieben. Das macht kei- nen Sinn. Wir brauchen normale Beschäftigung, die Wir haben in Deutschland eine hervorragende Ar- nicht zusätzlich ist, die allen offensteht und mit der die beitsmarktlage, und wir können hohe Beschäftigungs- Menschen gefördert werden können, die geringe Chan- zahlen vorweisen. In der Gruppe der Langzeitarbeitslo- cen auf dem Arbeitsmarkt haben. sen in Deutschland bewegt sich zum Teil weniger, oder genauer gesagt: In diesem Bereich verfestigen sich be- Das Gleiche gilt für die Frage, ob es nur um öffentlich stimmte Personengruppen. Wenn wir gemeinsam fest- geförderte Beschäftigung gehen soll. Kollegin Pothmer stellen, dass wir die Zielgruppe der Langzeitarbeitslosen hat schon auf das Modell in Baden-Württemberg verwie- mit den vorhandenen Vermittlungsstrukturen nicht oder sen, wo explizit und vorrangig private Unternehmen an- nur unzureichend erreichen können, dann müssen wir gesprochen werden. Das ist genau der richtige Weg. Wir die Vermittlungsstrukturen und den vorhandenen Instru- müssen mit dem sozialen Arbeitsmarkt auch Beschäfti- mentenkasten prüfen und entsprechend anpassen. Ziel gung fördern, die der auf dem ersten Arbeitsmarkt ent- aller Maßnahmen und Programme muss es sein, den spricht und marktgängig ist. Nur dadurch bekommen wir Übergang in den ersten Arbeitsmarkt und damit in die es tatsächlich hin, dass die Menschen am sozialen Ar- sozialen Sicherungssysteme zu ermöglichen. beitsmarkt nicht in einem Sondersystem sind und stig- matisiert und ausgegrenzt werden. Ich glaube aber, dass wir gerade bei diesem Thema, das uns allen wichtig ist, verschiedene Aspekte beleuch- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ten müssen. Ob Ihre Vorstellung, Kollegen der Fraktion Es gibt schon gute Beispiele Die Linke, die öffentlich geförderte Beschäftigung mit 200 000 Stellen auszubauen, die richtige Lösung für die (Jutta Eckenbach [CDU/CSU]: Welche denn?) Beseitigung von Langzeitarbeitslosigkeit ist, wage ich wie Nordrhein-Westfalen, wo die Grünen an einer rot- zu bezweifeln. Wir müssen uns dabei nämlich auch die grünen Regierung beteiligt sind, und das Baden-Würt- Frage stellen, ob wir nicht mitunter diese Personen- temberger Modell – dort koalieren die Grünen mit der gruppe in dem System sogar verfestigen. Es gibt nämlich SPD –, wo diese Kriterien enthalten sind. In Hessen ha- nicht den Normalfall bei Langzeitarbeitslosen. Es ist Teil ben sich die Koalitionspartner Grüne und CDU diese der Herausforderung, dass wir es bei den Langzeitar- Woche auf einen Einstieg in einen sozialen Arbeitsmarkt beitslosen nicht mit einer homogenen Gruppe zu tun ha- geeinigt, der auch diesen Kriterien entspricht. Das zeigt: ben; es sind vielmehr Menschen, die häufig mehrere Da, wo Grüne regieren, geht es in die richtige Richtung. Vermittlungshemmnisse aufweisen und auch unter- (B) Grün wirkt! schiedlichen Unterstützungsbedarf haben. (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die unterschiedlichen Erwerbslosenbiografien sind bereits angesprochen worden. Circa 1 Million Menschen Es ist der SPD, die auch Sympathien für den sozialen sind schon länger als ein Jahr ohne Arbeit. Fast die Arbeitsmarkt hat, auf Bundesebene nicht gelungen, die Hälfte von ihnen ist länger als zwei Jahre arbeitslos. CDU zu überzeugen. Dass 20 Prozent vier Jahre oder länger arbeitslos sind, ist (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nicht gut; dem müssen wir entgegenwirken. Wir müssen NEN]: Das schaffen wir auch noch!) – die Bundesarbeitsagentur agiert bereits entsprechend – die individuellen Potenziale der Langzeitarbeitslosen Das haben wir, wie gesagt, in Hessen geschafft. verstärkt in den Blick nehmen und nach Talenten und Ich fordere die Regierungskoalition noch einmal auf, Begabung fragen und den Betroffenen die Möglichkeit sich einen Ruck zu geben. Nehmen Sie sich ein Beispiel geben, diese weiterzuentwickeln. an den Bundesländern, in denen die Grünen mitregieren! Denn nur dann, wenn wir es auf Bundesebene schaffen, Wir müssen aber auch zur Kenntnis nehmen, dass die den Passiv-Aktiv-Transfer umzusetzen, kann es einen Langzeitarbeitslosen vielfach soziale, gesundheitliche, flächendeckenden sozialen Arbeitsmarkt geben, bei dem schulische oder familiäre Probleme haben. Deshalb die Dauerarbeitslosen nicht mehr ausgegrenzt werden. gehört es für uns in der Union dazu, dass wir die Rah- menbedingungen so gestalten wollen, dass sich Betreu- Vielen Dank. ungsintensität, Betreuungsqualität und auch Betreuungs- dichte steigern lassen, wobei es einer Abstimmung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zwischen den Akteuren, die an diesem Prozess beteiligt sind, bedarf. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion erhält Sie wissen: Ich habe 30 Jahre im Gesundheits- und jetzt die Kollegin Christel Voßbeck-Kayser das Wort. Sozialbereich gearbeitet. Ich bin der Meinung, dass Un- terstützungsleistungen wie Schuldnerberatung, psycho- (Beifall bei der CDU/CSU) soziale Beratung und anderes einen immensen Stellen- wert bei der Begleitung von Langzeitarbeitslosen haben. Christel Voßbeck-Kayser (CDU/CSU): Häufig scheitert diese Unterstützung aber an zu weiten Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wegen. Dabei entscheidet sie oft über Erfolg oder Miss- Auch ich werde teilweise aus NRW-Sicht reden. Vieles erfolg von Maßnahmen für Langzeitarbeitslose. Wir Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9681

Christel Voßbeck-Kayser (A) müssen hier die Rahmenbedingungen so setzen, dass die Christel Voßbeck-Kayser (CDU/CSU): (C) räumliche Bündelung besser möglich wird. Ein Umdenken wegen offener Azubistellen, die nicht besetzt werden können, findet bei den Arbeitgebern in (Beifall bei der CDU/CSU) unterschiedlichem Maße schon statt, auch angesichts des Wir schaffen mit dem Instrument der assistierten Be- regionalen Fachkräftemangels. Ein Beispiel aus meinem gleitung eine sinnvolle ergänzende Hilfe. Das ist schon Wahlkreis: Ein Bäcker, der ein Familienunternehmen be- angesprochen worden. Bei der Begleitung oder Beratung treibt, hat einer alleinerziehenden Mutter durch ver- kommt es nicht darauf an, ob sie von einem Pädagogen kürzte Arbeitszeiten, angepasst an die Kitaöffnungszeit, oder einem Sozialpädagogen geleistet wird. Ich habe die Möglichkeit geboten, eine Ausbildung als Bäckerei- auch große Sympathien für Menschen, die lebens- und fachverkäuferin zu machen. Das ist ein gutes Beispiel, berufserfahren sind, die schon im Ruhestand sind, aber das zeigt, dass Instrumente wirken und aufseiten der Ar- sagen: Ich bin fit, ich bringe meine Kenntnisse und Fer- beitgeber, der Handwerksbetriebe und auch der Gewerk- tigkeiten ein, ich übernehme Patenschaften für Men- schaften einiges im Fluss ist. schen, die arbeitslos sind – ob das nun junge oder ältere (Beifall bei der CDU/CSU) Leute sind –, und begleite sie. – Das sind erfolgreiche Instrumente. Deshalb glaube ich auch, dass wir mit die- Sie wundern sich vielleicht, dass ich heute etwas sem Instrument, das über den Zeitraum einer Maßnahme milde bin, liebe Kolleginnen und Kollegen. hinaus eingesetzt werden soll, auf dem richtigen Weg (Heiterkeit bei der LINKEN) sind. Das Thema ist uns allen wichtig. Nur, jetzt muss ich Des Weiteren soll die Vereinbarung von Zwischenzie- folgenden Punkt erwähnen: die Finanzierung öffentlich len möglich sein, und zwar im Sinne eines Stufensys- geförderter Berufstätigkeit. Sie wollen den Eingliede- tems. Manches Training, ob in einer Berufsbildungsstätte rungstitel durch eine Sonderabgabe der Arbeitgeber in oder in einem Verein, oder auch manches Praktikum, wo Höhe von 0,5 Prozent der Lohnsumme deutlich erhöhen. durch das Zusammensein mit anderen Menschen kom- Dazu kann ich nur ein Bild aus der Landwirtschaft neh- munikative Kompetenzen, Kritik- und Teamfähigkeit, men und sagen: Wie lange wollen Sie eine Kuh melken? aber auch einfache Alltagsstrukturen wie das Einhalten von Terminen und Regeln gelebt oder wieder erlernt (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: So lange, wie werden, ist dabei hilfreich. sie Milch gibt!) Wir müssen aber auch zur Kenntnis nehmen, dass die Jeder von uns weiß: Eine gesunde Kuh kann man nur be- Hälfte der Langzeitarbeitslosen leider keinen Berufsab- grenzt melken. Auch unsere gesunde Kuh, die deutsche Wirtschaft und den Mittelstand, kann man nicht unbe- (B) schluss hat. Also muss es unser Ziel sein, bei den Maß- (D) nahmen zu schauen, wie wir Langzeitarbeitslose ohne grenzt melken. Berufsabschluss in eine Ausbildung vermitteln können, (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Unsere anstatt sie einfach irgendwie zu beschäftigen. Kühe stehen sehr gut da!) Ich meine, dass wir bei der Gruppe der Alleinerzie- Lassen Sie mich zum Abschluss sagen: Langzeitar- henden ein gutes Beispiel finden, wie Instrumente, die beitslosigkeit ist ein komplexes Problem, schon auf den Weg gebracht worden sind, gut wirken. Ja, es gibt 120 000 Alleinerziehende in der Gruppe der (Zurufe von der LINKEN) Langzeitarbeitslosen. Für sie ist zum einen notwendig, das – darf ich dies noch zu Ende ausführen? – nicht ein- dass Kinderbetreuungsmöglichkeiten vorhanden sind. fach mit neuen Arbeitsmarktprogrammen oder der Aus- Die haben wir mit dem Kitaausbau, mit Betreuungsplät- dehnung der öffentlich geförderten Beschäftigung zu lö- zen und regionalen Netzwerken vor Ort geschaffen; wir sen ist. Vielmehr ist ein Bündel von Maßnahmen in der haben sogar vielfältige Möglichkeiten geschaffen. Auf Arbeitsmarktpolitik erforderlich. Es ist ferner nötig, im der anderen Seite müssen wir aber auch die Arbeitgeber Bildungssystem Maßnahmen, die räumlich gebündelt so einbinden, dass die Vereinbarkeit von Familie und und vernetzt sind, auf den Weg zu bringen. Ihr Antrag Beruf möglich ist. greift aus unserer Sicht zu kurz, und deshalb lehnen wir ihn ab. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (Beifall bei der CDU/CSU) Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pothmer? Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Waltraud Wolff, Christel Voßbeck-Kayser (CDU/CSU): SPD-Fraktion. Im Moment nicht. Ich würde gerne erst den Gedanken zu Ende führen. (Beifall bei der SPD)

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): NEN]: Aber später schon?) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren auf den Zu- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: schauertribünen! Letztes Jahr im August haben meine Wenn die Redezeit nicht zu Ende ist. Kollegin Daniela Kolbe und ich die Forderung der ost- 9682 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015

Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (A) deutschen Bundestagsabgeordneten nach einem sozialen mir persönlich und allen, die an dieser Debatte teilneh- (C) Arbeitsmarkt vorgestellt. Ganz ehrlich: Wir haben im men, reicht das nicht. letzten August nicht geglaubt, dass die Bundesarbeitsmi- nisterin in der Zwischenzeit mehrfach hier im Hohen Sie haben in Ihrem Antrag auch die Kosten für diesen Hause diese Forderung unterstützen und sagen würde, Ansatz benannt. Wenn man die Zahlen einmal zusam- sie werde Lösungsmöglichkeiten vorstellen. Wir wissen menrechnet, sieht man: Es handelt sich um 6 Milliarden ja, dass wir im Haushalt keine zusätzlichen Mittel haben. Euro. 6 Milliarden Euro! Das ist auch von meinen Kolle- Meine beiden Kollegen, Herr Bartke und Frau Kolbe, gen aus der Union schon angesprochen worden. Auch haben schon dargestellt, welche die Zielgruppen sind die Sonderabgabe ist erwähnt worden. Ich sehe nicht, und wie wichtig es ist, dass hier etwas passiert. überhaupt nicht, dass diese Vorschläge durchsetzbar sind. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- Wenn wir keine zusätzlichen Mittel im Haushalt ha- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Kollege Bartke hat ben, ist der Einstieg, den Frau Nahles hier macht, das gesagt, dass es ohne zusätzliche Mittel mög- Beste, was uns überhaupt passieren kann; lich ist!) (Beifall bei der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich ist für uns oberstes Gebot, Brücken in den ersten Arbeitsmarkt zu denn ohne zusätzliche Mittel im Haushalt hat Ministerin bauen; das ist richtig. Richtig ist aber auch, dass für Nahles für dieses Jahr 75 Millionen Euro freigekämpft, Menschen, die sehr lange arbeitslos sind, die Angebote und sie hat es möglich gemacht, für das nächste Jahr der Arbeitsmarktpolitik nicht passen. Richtig ist also 150 Millionen Euro bereitzustellen. Ich sage noch ein- auch, dass neben der Brücke auf den ersten Arbeitsmarkt mal: ohne zusätzliche Haushaltsmittel. Ich glaube, dass die Teilhabe am Erwerbsleben und damit auch am ge- es hier einen Anfang gibt, der wichtig ist und mit dem sellschaftlichen Leben ein wichtiges Ziel der Arbeits- man soziale Teilhabe möglich machen kann. marktpolitik sein muss. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Warum ist der Konsens dazu derart breit? Weil nicht der CDU/CSU) nur wir, sondern auch die Länder diesen Weg mitgehen! Dieses Ziel wird uns gemeinsam immer wichtiger, weil Sie haben das für Thüringen gesagt, Frau Ministerin wir die Dringlichkeit und die Not erkannt haben. Da- Werner. Nordrhein-Westfalen, Hessen, alle haben sich rüber, muss ich sagen, bin ich persönlich sehr froh. Ich hier schon geoutet. Dann schaue ich mal zu mir nach bin auch deshalb sehr froh darüber, weil Arbeit mehr ist Hause, nach Sachsen-Anhalt. Ich freue mich, dass ge- (B) als Broterwerb. Arbeit ist Grundlage für gesellschaftli- rade daran gearbeitet wird, dieses Bundesprogramm von (D) che Teilhabe, und auf diese Teilhabe hat ein Teil der Frau Nahles um 1 000 Stellen aufzustocken. Sachsen- Menschen in unserem Land keine Chance mehr. Diesen Anhalt ist nicht gerade ein Land, das mit Reichtum ge- Menschen – das haben wir in dieser Debatte schon breit segnet ist. Aber wir nehmen 35 Millionen Euro ESF- diskutiert – können wir mit öffentlich geförderter Be- Mittel zusätzlich in die Hand und schaffen für die nächs- schäftigung helfen. Das halte ich für sinnvoll und not- ten drei Jahre für 1 000 Menschen eine Beschäftigungs- wendig. möglichkeit. Liebe Kolleginnen und Kollegen, im August 2014 ha- Menschen brauchen das Gefühl, gebraucht zu wer- ben wir als SPD unseren Vorschlag vorgestellt. Im Okto- den. Die meisten wollen arbeiten. Sie wollen Teil der ber 2014 hat eine Gruppe von Unionskollegen ihren Vor- Gesellschaft sein. Sie brauchen die Kontakte, die über schlag zu öffentlich geförderter Arbeit gemacht. Heute die Arbeit entstehen. diskutieren wir einen Antrag der Linken. Das heißt also, Meine Damen und Herren, es gibt gleichzeitig viele dass es eine breite Unterstützung für einen solchen An- Aufgaben, die überhaupt nicht wahrgenommen werden. satz gibt. Die gute Nachricht ist: Es bleibt nicht nur bei Es heißt immer: Soziale Arbeit kann nur stattfinden, Anträgen; es bleibt nicht nur bei Lippenbekenntnissen. wenn keine ordentlichen Arbeitsplätze gefährdet wer- Es wird auch die Umsetzung dieses Ansatzes geben. den. – Etliche Kommunen in Ostdeutschland schrump- fen. Nicht nur Wohnungen stehen leer, auch Kleingärten (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- fallen brach. Die gemeinnützigen Gartenvereine können NEN]: Wann?) es nie im Leben schaffen, hier den Rückbau zu leisten. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird mit Da sehe ich eine gute Möglichkeit. seinem Programm – darüber haben wir auch schon dis- (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kutiert – 10 000 Menschen einen Einstieg über das ESF- NEN]: Was? Langzeitarbeitslose als Kleingärt- Programm ermöglichen. Das ist ein wichtiger Schritt. ner?) (Beifall bei der SPD) In Krankenhäusern, in Pflegeheimen ist die Einsamkeit Es ist wichtig, einen Einstieg zu finden. greifbar. Pflegekräfte haben nicht die Zeit, die notwen- dig ist. Das ist eine zusätzliche Aufgabe. In vielen Orten, Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie ha- in vielen Dörfern gibt es nicht einmal mehr Geschäfte, ben in Ihrem Antrag deutlich gemacht, dass Ihnen das sodass Kommunen sagen: Wir müssen wenigstens einen nicht weit genug geht. Ich habe dafür Verständnis. Auch Dorfladen schaffen. – Auch da sind Möglichkeiten vor- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9683

Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (A) handen. Es gibt tausend Ideen. Die wenigen Beispiele (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Deswegen (C) sollen zeigen, dass im Rahmen von sozialer Arbeit sinn- wird das in Thüringen auch nie gut!) volle und wichtige Beschäftigung möglich ist. Dafür müssen wir eine Unterstützung hinbekommen. Es gibt ja kein Andocken an den Arbeitgeber. Sie schaf- fen einen öffentlich geförderten, geschützten Arbeits- Natürlich muss man das vor Ort entscheiden. Ich raum für drei Jahre. Da frage ich mich: Was ist eigent- sage, dass die Beiräte bei den Jobcentern das am besten lich mit dem, der psychosoziale Schwierigkeiten hat, der entscheiden sollten: Da sind Arbeitgeber. Da sind Ge- gar nicht acht Stunden arbeiten kann? Werden Sie den werkschaften. Da ist Politik. Es fehlen zwar die Sozial- auch mit 1 100 Euro ausstatten? Das sind für mich ganz verbände, aber das sollte keine unüberwindbare Hürde wichtige Fragen, wenn es um das Thema Passiv-Aktiv- sein. Transfer geht. Sie wissen, dass auch ich das verfechte. Aber für mich sind noch nicht alle Fragen beantwortet. Es heißt immer, meine Damen und Herren: Politik ist Ich bekomme nämlich aus diesem System nur denjeni- die Kunst des Möglichen. Uns eint das Ziel, soziale Teil- gen heraus, der voll arbeitsfähig ist. Bei demjenigen, der habe für alle Menschen zu gewährleisten. große Schwierigkeiten hat, bin ich sofort wieder bei der (Beifall bei der SPD) Aufstockung, weil er nicht aus dem System heraus ist. Lassen Sie uns diesen Weg doch gemeinsam gehen! Uns kann es doch nur darum gehen, die Menschen he- Aber lassen Sie uns dabei auch immer im Blick behalten, rauszubekommen und an einen Arbeitgeber, in den ers- was möglich ist! Dann, glaube ich, werden auf diesen ten Arbeitsmarkt zu vermitteln. Was ist dafür notwen- ersten Schritt weitere Schritte folgen. dig? Dafür sind nicht nur die Programme, die Frau Nahles jetzt auflegt, notwendig. Frau Nahles hat in der Vielen herzlichen Dank. Tat die Programme alleine aufgelegt, liebe Kollegen der (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) SPD; denn politisch haben wir diese hier im Hohen Hause noch nicht beraten. Insofern werden wir – da Vizepräsidentin Ulla Schmidt: freue ich mich auf eine spannende Diskussion – diskutie- ren müssen, wie wir damit umgehen. Aber im Moment Vielen Dank. – Als Nächste spricht die Kollegin Jutta ist es ein Nahles-Programm und kein Programm der Eckenbach, CDU/CSU-Fraktion. SPD, kein Programm der CDU. Es ist ein Programm der (Beifall bei der CDU/CSU) Ministerin. Wenn man sich einmal damit beschäftigt – das habe Jutta Eckenbach (CDU/CSU): ich getan – und vor Ort schaut, wie das Programm läuft, (B) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und dann kann man feststellen, dass wir momentan nicht alle (D) Herren! Als eine der letzten Rednerinnen und als eine, Stellen besetzt bekommen. Wir haben eigentlich 33 000 die heute in diesem Hohen Hause, im Bundestag, schon Stellen, bekommen mit Mühe und Not aber nur 24 000 viele Reden gehört hat, will ich sagen: Eigentlich eint Stellen besetzt. Woran liegt das? Das liegt daran, dass uns Sozialpolitiker vieles. Ich möchte die Unterschiede wir die Arbeitgeber brauchen. Das liegt daran, dass wir aber doch noch einmal deutlich machen. Menschen befähigen müssen, genau dort, wo sie ge- Bei den Linken ist es so: Sie wollen eigentlich den braucht werden, die Arbeit aufzunehmen. Dazu ist aber Arbeitsplatz, den Arbeitgeber mehr belasten. Ich habe ein enormer Aufwand an Begleitung erforderlich. Des- das einmal ausgerechnet. Es handelt sich nicht um Milli- wegen ist es wichtig, dass wir darauf achten: Jede Re- ardensummen. Aber wenn Sie das, was Sie fordern, auf gion ist anders; jeder Mensch ist anders. Jeder Mensch einen Arbeitgeber beziehen, heißt das, dass er bei 35 muss die Fähigkeiten, die er besitzt, ausbauen. Ich habe Mitarbeitern einen Ausbildungsplatz weniger finanzie- das hier einmal mit „Wir müssen die Stärken stärken“ ren kann. Da frage ich mich, inwiefern das sozial sein umschrieben. Genau das ist es doch, wofür wir bei dem soll. Einzelnen zunächst einmal sorgen müssen. Meines Er- achtens müssen wir in der Tat sehr flexibel sein. Wir (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) werden für Hamburg andere Programme als für das Ruhrgebiet oder Bayern brauchen, wo ganz andere Pro- Ich will auch Ausbildungsplätze schaffen. Ihr Vorschlag bleme vorherrschen. Darüber werden wir zukünftig re- läuft dem aber entgegen. den müssen. Vieles haben wir ja probiert. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Haben Sie mal die Gewinne angeschaut?) Frau Pothmer, gestatten Sie mir, da Sie behaupten, wir hätten in der letzten Regierung nichts getan, eine Be- Sie vertreten die Philosophie – das wurde ja hier merkung – ich habe gerade noch einmal nachgefragt –: schon mehrmals erwähnt –: Ich schaffe einen Arbeits- Das ganze Programm einschließlich der Systematik, in markt, packe die Menschen dort hinein und – wenn ich die Langzeitarbeitslosigkeit zu kommen, ist ein Pro- Frau Werner aus Thüringen richtig verstanden habe – gramm von Rot-Grün. Ich will das nur richtigstellen. gebe ihnen 1 100 Euro im Monat, lasse sie drei Jahre in Das Ganze ist letztendlich auf Hartz IV zurückzuführen, einer öffentlich geförderten Beschäftigung; danach sind weil wir genau an dieser Stelle nicht die richtigen Instru- sie ein Jahr in der Arbeitslosenversicherung, und dann mente eingeführt haben. Wir sollten also die gegenseiti- stecke ich sie wieder in ein Programm. – Wie lange wol- gen Schuldzuweisungen lassen. Wir sollten vielleicht len Sie das durchziehen? auch diese Anträge lassen, die uns vorgaukeln, wir könn- 9684 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015

Jutta Eckenbach (A) ten das Ganze über einen Arbeitsplatz und mit viel Geld Seit zwei Jahren erhalten wir fast monatlich Erfolgs- (C) steuern. meldungen wie: „Bester Arbeitsmarkt seit der Wieder- vereinigung“, „Arbeitslosigkeit geht weiter zurück“ oder (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das auch „Viel Arbeit, die Arbeitslosenquote ist so niedrig werden wir zum Glück noch selber entschei- wie seit langem nicht mehr“. den, Frau Kollegin! Sie spornen uns an!) (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Das Arbeits- Nein, wir brauchen Regionalität. Wir brauchen die volumen ist gleich geblieben!) Anerkennung dessen, was der einzelne Langzeitarbeits- lose an unterschiedlichen Fähigkeiten braucht. Gerade Ja, es liegt noch viel Arbeit vor uns. Denn wir hören vor dem Hintergrund, dass wir schon viele Langzeitar- zwar, dass die Arbeitslosenzahlen gesunken sind. Das beitslose in Arbeit gebracht haben und es heute mit einer verleitet einige auch dazu, zu denken, alles sei im grünen Gruppe zu tun haben, die wirklich enorme Hilfe benö- Bereich; es verleitet dazu, zu denken, am Arbeitsmarkt tigt, wird uns das sehr schwerfallen. sei alles in Ordnung. Aber es ist nicht alles in Ordnung; denn die Joberfolge kaschieren Probleme. So schreibt es Wir haben in Essen – um das zum Schluss als Beispiel die Börsen-Zeitung, und sie steht wahrlich nicht im Ver- zu nennen – ganz früh eine Joborientierung – aber immer dacht, eine sozialdemokratische Hauspostille zu sein. stufenorientiert, also ausstiegsorientiert – genau für diese Menschen angeboten. Wir wollen sie befähigen, in Fakt ist: Viele Langzeitarbeitslose profitieren nicht den ersten Arbeitsmarkt zu kommen. Ich glaube, dass von diesen Erfolgszahlen. Sie haben keinen Anteil an dies Maßnahmen sind, die wir in der Tat benötigen. Ich den guten Entwicklungen. Jeder von uns wünscht sich, kann für die CDU/CSU-Fraktion hier und heute sagen: dass jeder Mensch – ob Mann oder Frau, ob jung oder äl- Wir werden uns genau daran orientieren. ter – seinen Platz auf dem ersten Arbeitsmarkt finden kann. Die Realität ist aber leider eine andere: Nicht we- Ich freue mich schon heute auf eine sehr interessante nige Menschen in Deutschland bekommen leider keine Debatte, die sich mit den Fragen beschäftigen wird: Wie Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt. beseitigen wir Langzeitarbeitslosigkeit? Wie bringen wir Menschen in Arbeit, die heute noch in der Langzeitar- Es gibt definitiv einen Bedarf an individuellen Lösun- beitslosigkeit sind? Was muss ich genau für diese Men- gen, die es jedem Menschen ermöglichen, Anteil am ge- schen tun? Wenn wir das alle gemeinsam machen, sind sellschaftlichen Leben zu nehmen. Ein wichtiger Be- wir, glaube ich, auf einem richtigen Weg. Wir werden standteil dieses gesellschaftlichen Lebens ist bei uns die dabei Haushaltsdisziplin wahren müssen, und wir müs- Erwerbsarbeit, das Gefühl, gebraucht zu werden und sei- sen dabei darauf achten, wie wir die Arbeitgeber mitneh- nen Beitrag für die Gesellschaft leisten zu können. (B) men können. Aber diese Ziele sollten uns Sozialpolitike- Wir brauchen Lösungen, die die Stärken, aber auch (D) rinnen und Sozialpolitiker hier alle bewegen. Insofern die Schwächen des Einzelnen berücksichtigen. Wir brau- freue ich mich auf die nächsten Debatten. Sie werden an- chen also Angebote für diejenigen, die heute die Chance strengend genug sein. auf einen Platz im ersten Arbeitsmarkt nicht haben. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Diese Angebote müssen die derzeitige physische und psychische Situation sowie die Fähigkeiten des Einzel- (Beifall bei der CDU/CSU) nen berücksichtigen. Die betroffenen Menschen brau- chen wieder die Chance, Mut zu fassen und ihre Fähig- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: keiten weiterzuentwickeln. Und sie brauchen vor allen Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Dingen das Gefühl, wieder gebraucht zu werden. Das al- Kollege Markus Paschke. les sollte immer mit dem Ziel vor Augen geschehen, ir- gendwann wieder auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu (Beifall bei der SPD) fassen. Das kann zwei, drei oder fünf Jahre oder auch länger Markus Paschke (SPD): dauern. Wir brauchen ganzheitliche Konzepte, die die Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Menschen in den Mittelpunkt stellen. Wir brauchen Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kol- Konzepte, die dort, wo Hilfe benötigt wird, diese Hilfe legin Eckenbach, ich muss das, was Sie eben gesagt ha- auch sicherstellen. Dafür brauchen wir Geld. Denn auch ben, doch ein bisschen korrigieren. Die Ministerin hat das gehört zur Ehrlichkeit dazu: Solche ganzheitlichen dieses Programm höchstpersönlich im Ausschuss vorge- Konzepte sind nicht kostenlos zu haben. Schon das Wort stellt. Wir haben intensiv darüber diskutiert. Es würde „Langzeitarbeitslosigkeit“ signalisiert ja deutlich, dass mich freuen – und ich lade Sie dazu ein –, wenn wir auf häufig keine kurzfristigen Maßnahmen sinnvoll sind. diesem Weg weitergehen würden und den Schwerpunkt, den wir gesetzt haben, nämlich für die Langzeitarbeitslo- Wir dürfen also nicht in Haushaltsjahren rechnen, sen etwas zu machen, noch stärker ausbauen und weitere sondern wir müssen die positiven Wirkungen mittel- bis Mittel dafür zur Verfügung stellen könnten. langfristig betrachten. Deutschland ist schließlich kein DAX-Konzern, der seine Aktionäre befriedigen muss, (Beifall bei der SPD – Dr. Wolfgang sondern eine soziale und demokratische Gesellschaft. In Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- diese Gesellschaft und ihren Zusammenhalt den einen NEN]: Was ist denn mit den nicht besetzten oder anderen Euro mehr zu investieren, sollten wir ruhig Stellen, von denen sie gesprochen hat?) bereit sein. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9685

Markus Paschke (A) (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) der CDU/CSU) Die meisten Menschen, die ich kenne, wollen arbei- ten. Warum geben wir ihnen nicht die Chance? Warum finanzieren wir Arbeitslosigkeit statt Arbeit? Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Letzte Rednerin zu diesem Tagesord- (Zuruf von der LINKEN: Eine gute Frage!) nungspunkt ist die Kollegin Dr. Astrid Freudenstein, CDU/CSU-Fraktion. Wie es gehen kann, zeigen Modellprojekte aus Nord- rhein-Westfalen oder Baden-Württemberg. (Beifall bei der CDU/CSU)

(Jutta Eckenbach [CDU/CSU]: Wo in Nord- Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU): rhein-Westfalen?) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- Nehmen wir das Beispiel Baden-Württemberg. Dort gen! Meine Damen und Herren! Mehr als 1 Million wird als einer von fünf Bausteinen des Landespro- Menschen in unserem Land sind langzeitarbeitslos – gramms „Gute und sichere Arbeit“ der Passiv-Aktiv- mehr als 1 Million ganz unterschiedliche Schicksale. Oft Tausch, also ein sozialer Arbeitsmarkt, erprobt. Statt den sind sie langzeitarbeitslos, weil sie neben den Stärken, sogenannten Regelbedarf und die Kosten für die Unter- die selbstverständlich jeder Mensch hat, nicht nur ein kunft zu finanzieren, können die verwendeten Gelder als Problem mitbringen, sondern gleich mehrere. Sie haben Zuschuss für eine Beschäftigung eingesetzt werden. Ba- keinen Schulabschluss oder keine Berufsausbildung, sie den-Württemberg erprobt das in einem Programm mit sind krank oder müssen sich um jemanden kümmern, sie 562 Plätzen, die auch genutzt werden. Eine Evaluation sind alleinerziehend oder nicht mehr ganz jung, sie ha- ist für 2015, 2016 vorgesehen. Ich bin davon überzeugt, ben Schulden, es gibt einfach nicht die passende Stelle, dass es uns Erkenntnisse liefern wird, die unsere Arbeit sie sind alkoholkrank oder nehmen Drogen, sie sprechen für nachhaltige Beschäftigungserfolge für Langzeitar- unsere Sprache nicht, sind nicht belastbar oder motiviert; beitslose voranbringen wird. manche haben Vorstrafen, und andere können oder wol- len nicht umziehen. Wer erst einmal längere Zeit arbeits- (Beifall bei der SPD) los ist, bei dem wird die Langzeitarbeitslosigkeit an sich zum sogenannten Vermittlungshemmnis. In der Bundesregierung ist die Bekämpfung der Lang- zeitarbeitslosigkeit als ein wichtiger Schwerpunkt er- Jeder Fall ist anders zu bewerten. Eines jedenfalls ist kannt. Das Programm, das Bundesministerin Andrea sicher nicht richtig, nämlich dass all diese Menschen für Nahles vor einigen Monaten vorgestellt hat, weist in die den ersten Arbeitsmarkt nicht mehr zu gebrauchen sind (B) richtige Richtung. Die wesentlichen Bestandteile sind und von Haus aus für eine öffentlich geförderte Beschäf- (D) heute mehrfach erwähnt worden. Angesichts der Zeit tigung infrage kommen. Mit Ihrem Antrag fordern Sie werde ich sie nicht wiederholen. Aus meiner Sicht sind groß angelegte Beschäftigungsprogramme. Sie stellen es gute und wichtige Schritte. Ich danke der Bundes- damit viele, viele Menschen auf das Abstellgleis. Das ministerin ausdrücklich dafür, dass sie sich dieses The- Gleis führt nämlich nicht weiter auf den ersten Arbeits- mas angenommen und es sich auf die Fahnen geschrie- markt; da ist dann einfach Endstation. ben hat. (Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE (Beifall bei der SPD) LINKE]: Aber bei Ihnen ist bei den Jobcentern schon Schluss! – Matthias W. Birkwald [DIE Wir sind also schon einen Schritt weiter, als Ihr An- LINKE]: Andersrum wird ein Schuh draus!) trag suggeriert. Natürlich wäre mehr wünschenswert. Sie wissen gut, dass wir als Koalition die Bekämp- Wir werden auch dafür kämpfen, mehr Geld für die He- fung der Langzeitarbeitslosigkeit zu einem unserer rausforderungen auf dem Arbeitsmarkt für Langzeitar- obersten Ziele erklärt haben. Ihre Behauptung im An- beitslose zur Verfügung zu haben. Das Programm der trag, nicht die Arbeitslosigkeit sei bekämpft worden, Bundesregierung mit seinen konkreten Vorschlägen ist sondern die Betroffenen seien bekämpft worden, ist des- im Gegensatz zu Ihrer Wünsch-dir-was-Liste gut ange- halb reichlich verfehlt, liebe Kollegen. legtes Geld. Es ist wichtig, dass wir mit den Steuergel- dern und den Haushaltsmitteln ordentlich umgehen. (Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Haben Sie denn mit Es ist mir zu einfach, zu leicht und zu billig, immer denen mal geredet? Das sagen die Ihnen bei je- mehr zu fordern. Ich finde, die SPD macht eine gute dem Bürgergespräch!) Politik. Sie sagt nämlich: Im Mittelpunkt unserer Politik muss der einzelne Mensch stehen. Die, die es am Das Arbeitsministerium hat die verschiedenen Pro- schwersten haben, sind auf unsere Unterstützung und gramme für Langzeitarbeitslose hier bereits vorgestellt, Solidarität angewiesen. Deshalb halten wir die Bekämp- und wir haben auch schon öfter darüber diskutiert. Un- fung der Langzeitarbeitslosigkeit für wichtig. Das Mög- sere Programme eint, dass sie auf eine intensive Bera- liche machen und weiter für das Wünschenswerte kämp- tung und Betreuung der einzelnen Betroffenen setzen, fen, das ist gute sozialdemokratische Politik, meine dass sie eben die individuelle Lebenssituation der eigen- Damen und Herren. verantwortlich handelnden Menschen in den Mittelpunkt stellen und sie unterstützen, dass sie auf Stärken der Vielen Dank. Menschen aufbauen und sie dabei unterstützen, eine 9686 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015

Dr. Astrid Freudenstein (A) Stelle auf dem ersten Arbeitsmarkt zu finden und zu be- sorgt und schon einmal grob aufgezeigt, wie das Ihrer (C) halten. Meinung nach funktionieren könnte, zum Beispiel da- durch, die Arbeitgeber mit einer Sonderabgabe in Höhe Öffentlich geförderte Beschäftigung kann in so guten von 5 Milliarden Euro zu belasten. Wenn das so einfach Zeiten, wie sie unser Arbeitsmarkt momentan erlebt, im- wäre! Der wichtigste Schlüssel zum Abbau von Arbeits- mer nur für einen sehr kleinen Personenkreis sinnvoll losigkeit ist die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft, sein. Dieser muss sehr genau definiert sein. Auch müs- die damit neue Arbeitsplätze schafft. Sie schreiben in Ih- sen die Tätigkeiten sehr genau definiert sein, damit keine rem Antrag selbst, dass die Arbeitslosigkeit durch feh- regulären Jobs verdrängt werden. In Ihrem Antrag ist lei- lende Arbeitsplätze entsteht. Nun wollen Sie aber die der keiner dieser Punkte berücksichtigt. Unternehmen belasten und die Arbeit teurer machen? Das kann, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Lin- Um Ihnen das Problem deutlich zu machen, möchte ken, nicht gut gehen. Arbeitslosigkeit können wir nur ge- ich mit Ihnen einen kurzen Ausflug in die Geschichte meinsam mit den Arbeitgebern abbauen, unternehmen. Schon im 19. Jahrhundert hatten Städte und Gemeinden versucht, Teile der erwerbslosen Bevöl- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das funktio- kerung mit sogenannten Notstandsarbeiten in Arbeit zu niert ja nicht, so wie Sie das machen!) bringen. Wie der Name aber schon sagt, wurde diese Form der Beschäftigung nur in ganz besonders schlech- und sicher nicht, indem wir sie mit 5 Milliarden Euro zur ten Arbeitsmarktsituationen eingeführt, zum Beispiel bei Kasse bitten. Missernten oder Konjunktureinbrüchen. Auch in der Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Weimarer Republik gab es solche Programme, weil breite Bevölkerungsschichten damals Gefahr liefen, aus (Beifall bei der CDU/CSU) der Gesellschaft ausgegliedert zu werden. Das betraf beispielsweise die vielen Kriegsveteranen und junge Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Menschen, die infolge der Wirtschaftskrise von 1923 Vielen Dank. – Damit ist die Aussprache beendet. ohne jede Chance auf Arbeit waren. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Eine ganz besondere Bedeutung erlangte die öffent- Drucksache 18/4449 an die in der Tagesordnung aufge- lich geförderte Beschäftigung mit der Wiedervereini- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- gung. Die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wurden in verstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die den 90er-Jahren bekanntlich in außerordentlichem Maße Überweisung so beschlossen. eingesetzt. Sie sollten damals als Brücke fungieren. Das Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 c sowie (B) entstandene Arbeitsplatzdefizit in den neuen Bundeslän- (D) dern sollte damit verringert werden. Die Teilnehmer Zusatzpunkt 6 auf: sollten neue Qualifikationen erlangen. 23 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung Was aber hatten all diese Situationen in der Ge- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur schichte gemeinsam? Es waren extrem schwere Zeiten Verbesserung der Zusammenarbeit im Be- auf dem Arbeitsmarkt. Die öffentlich geförderte Be- reich des Verfassungsschutzes schäftigung war dafür da, die extremsten Folgen für die Drucksache 18/4654 Menschen abzufedern. Sie war noch nie der Königsweg Überweisungsvorschlag: der Arbeitsförderung; sie war immer nur die Ultima Ra- Innenausschuss (f) tio. Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss Das hat seine Gründe. Vor allem nach der letzten gro- Ausschuss Digitale Agenda ßen Welle öffentlich geförderter Beschäftigung wurde Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO geschaut, was diese Maßnahmen denn eigentlich brin- b) Beratung der Unterrichtung durch die Bun- gen, außer dass sie natürlich die Statistik verbessern. Je desregierung mehr man forschte, umso deutlicher wurde, dass die positiven Erfahrungen recht begrenzt waren und die ne- Bericht der Bundesregierung über den gativen Effekte überwogen. Da gab es Lock-in-Effekte: Umsetzungsstand der Empfehlungen des Menschen, die in öffentlich geförderter Beschäftigung 2. Untersuchungsausschusses des Deut- standen, nahmen seltener eine reguläre Arbeit auf, vor schen Bundestages in der 17. Wahlperiode allem deswegen, weil sie weniger Zeit für Arbeitssuche (NSU-Untersuchungsausschuss) und Bewerbungen hatten. Es gab auch Creaming-Effekte Drucksache 18/710 – sie wurden heute schon erwähnt –: Es kamen Men- schen in öffentlich geförderte Beschäftigung, die auch so Überweisungsvorschlag: eine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt gehabt hätten. Innenausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Daran, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Lin- ken, krankt Ihr Antrag. Aber Sie geben wenigstens zu, c) Beratung des Antrags der Abgeordneten dass Ihr Vorschlag richtig teuer ist, mal eben ein paar Petra Pau, Jan Korte, Dr. André Hahn, weite- Milliarden kosten würde. Weil Sie wissen, dass die Fi- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE nanzierungsfrage zwangsläufig kommt, haben Sie vorge- LINKE Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9687

Vizepräsidentin Ulla Schmidt (A) Wirksame Alternativen zum nachrichten- kunftsorientiert aufstellen. Die Aufklärungsarbeit zum (C) dienstlich arbeitenden Verfassungsschutz terroristischen NSU, an der der Untersuchungsausschuss schaffen dieses Hauses in der letzten Legislaturperiode maßgeb- lich beteiligt war, und auch die Debatten in dieser Legis- Drucksache 18/4682 laturperiode haben das eindrücklich aufgezeigt. Der Ver- Überweisungsvorschlag: fassungsschutz hat diese Herausforderung seit 2012 Innenausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz angenommen, sowohl im Verbund der Verfassungs- schutzbehörden von Bund und Ländern als auch beim ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Bundesamt, das seine Binnenreform in 230 Einzelpro- Dr. Konstantin von Notz, Hans-Christian jekten konzentriert betrieben hat, weiter betreibt und Ströbele, Irene Mihalic, weiterer Abgeordneter weiter betreiben muss. und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mit dem heute in erster Lesung zu behandelnden Ge- Für eine Zäsur und einen Neustart in der setzentwurf der Bundesregierung setzen wir diesen Re- deutschen Sicherheitsarchitektur formprozess nun auch legislativ um. Drucksache 18/4690 Das ist richtig. Das haben wir uns in der Koalition Überweisungsvorschlag: vorgenommen, und das ist sorgfältig mit den Ländern Innenausschuss abgestimmt. Auch damit folgen wir den Empfehlungen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für des NSU-Untersuchungsausschusses. die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- Die zentralen Ziele dieses Gesetzentwurfs sind: Stär- nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. kung der Zentralstelle und des Verbundes, Verbesserung Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Bundes- des Informationsflusses und Ausbau der Analysefähig- minister Thomas de Maizière für die Bundesregierung. keit, Klarheit beim Einsatz von V-Leuten. Lassen Sie mich dazu im Einzelnen vortragen. (Beifall bei der CDU/CSU) Erstens: zur Stärkung der Zentralstelle. Für eine bes- sere Zusammenarbeit im Verfassungsschutzverbund wird Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In- das Bundesamt für Verfassungsschutz in seiner Zentral- nern: stellenfunktion gestärkt. Es koordiniert das arbeitsteilige Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zusammenwirken aller Verfassungsschutzbehörden. Ich Meine Damen und Herren! Im November letzten Jahres sage dazu aber auch: Wichtiger als Paragrafen im Bun- haben wir des dritten Jahrestages – man scheut sich, das (B) desgesetzblatt ist hier die echte Bereitschaft zu verstärk- (D) Wort „Jahrestag“ zu verwenden – der Aufdeckung der ter Zusammenarbeit. Dieser Geist der Zusammenarbeit terroristischen Mordserie des sogenannten Nationalso- wird mit diesem Gesetz gefördert. Im Grunde muss er zialistischen Untergrunds gedacht. Wir haben festgestellt aber von jedem einzelnen Mitarbeiter gelebt werden. und sind uns einig: Das waren nicht nur einzelne Pan- Hier ist, ehrlich gesagt, noch ziemlich viel zu tun. nen, das waren nicht nur einzelne Ermittlungsfehler, die dafür gesorgt haben, dass diese Mordserie so lange un- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) entdeckt bleiben konnte. Nein, es waren auch Struktu- Das wird deutlich, wenn man die Bereitschaft zur Zu- ren, es waren Haltungen von Sicherheitsbehörden, von sammenarbeit im Polizeibereich mit der im Verfassungs- Verantwortlichen, die dazu führten, dass die Ermittlun- schutzbereich vergleicht. Mit dem Gesetzentwurf wird gen so lange – zu lange – auf das Umfeld der Opfer be- es jedenfalls ein gesetzlicher Auftrag des BfV, also des grenzt blieben, mit all den Folgen, die wir diskutiert ha- Bundesamtes, dieses Potenzial zu entwickeln. ben und an denen wir noch arbeiten. Es ist deshalb unsere Pflicht, dafür zu sorgen, dass so etwas in unserem Zum anderen kann in Zukunft das Bundesamt, wo es Land nicht mehr passiert. nötig ist, bei lediglich regionalen, aber gewaltorientier- ten Bestrebungen im Benehmen mit dem Land selbst in (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) die Beobachtung eintreten. Das haben manche Länder Der Verfassungsschutz von Bund und Ländern stand kritisiert, manchmal scharf. Dazu möchte ich hier sagen: damals stark in der Kritik. Das ging bis hin zu der Forde- Manches an dieser Kritik wundert mich, weil exakt dies rung, man solle Verfassungsschutzbehörden abschaffen. Gegenstand eines Kompromisses mit zum Teil den In- Ich halte das für falsch. Das würde die Sicherheit unserer nenministern war, die das anschließend kritisiert haben. Bürgerinnen und Bürger und unseres Landes schädigen. Gut, das mag in der Politik mitunter so sein. Ich will Die aktuelle Bedrohungslage unterstreicht die Bedeu- jetzt keine Namen nennen, aber doch sagen, dass mich tung des Verfassungsschutzes für unseren Rechtsstaat, das jedenfalls gewundert hat. bei islamistischem Terrorismus ebenso wie bei massiven Gewaltanwendungen, bei Demonstrationen und den Er- Diese Regelung verdrängt die Länderzuständigkeit kenntnissen im Vorfeld dazu oder bei rechtsextremisti- nicht. Sie hat vielmehr eine Auffangfunktion, die – das scher Hetze zum Thema Flüchtlinge. zeigen die Erfahrungen, die wir gemacht haben – aus fachlicher Sicht in der Sache geboten ist. In der Praxis Der Verfassungsschutz ist und bleibt ein wichtiger wird schon aus Ressourcengründen nicht leichtfertig da- Teil unserer Sicherheitsarchitektur. Gerade deshalb aber von Gebrauch gemacht werden. Hinzu kommt: Das Bun- muss er sich fortentwickeln, weiterentwickeln, sich zu- desamt wird nur tätig, wenn es nach dem Benehmen mit 9688 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015

Bundesminister Dr. Thomas de Maizière (A) dem Land gar nicht anders geht, zum Beispiel, wenn ein Dritter Punkt – das wird sicher gleich diskutiert wer- (C) Land sich weigert, eine regional gewalttätige verfas- den; es ist auch ein schwieriger Punkt –: Einsatz von sungsfeindliche Organisation zu beobachten. Wollen wir V-Leuten. Wir schaffen hier bei einem wichtigen Punkt wirklich, dass das Verfassungsschutzsystem in einem Klarheit. V-Leute – das will ich noch einmal unterstrei- solchen Fall blind ist? Wir haben doch gelernt: Beim ge- chen – sind keine verdeckten Ermittler, keine Beamten. waltorientierten Extremismus darf es in Deutschland V-Leute sind mitunter Menschen, mit denen man eigent- keine blinden Flecken geben. lich nicht so gerne zusammenarbeiten möchte. Sie leben in einer Szene, in der es szenetypisches Verhalten gibt, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) das wir politisch und häufig auch rechtlich missbilligen. Man braucht sie aber, um an Informationen zu gelangen. Zweiter Punkt: Verbesserung des Informationsflusses. Für jeden Nachrichtendienst sind sie ein unverzichtbares Der NSU-Untersuchungsausschuss hat gerade hier klare Aufklärungsmittel. Bisher gab es zum Einsatz von Mängel aufgezeigt. Die einen wussten nicht, was die an- V-Leuten nähere Regelungen nur in Verwaltungsvor- deren wussten, und haben nicht weitergegeben, was sie schriften. Das ändern wir jetzt, indem wir eine klare wussten, und vieles hätte vielleicht verhindert werden rechtsstaatliche Grundlage für den Einsatz von V-Leuten können. Bund und Länder haben zügig gehandelt, bereits schaffen. Auch das hat der NSU-Untersuchungsaus- im Dezember 2011, mit der Einrichtung des Gemeinsa- schuss gefordert. men Abwehrzentrums gegen Rechtsextremismus. Mit diesem Gesetzentwurf vertiefen und verbreitern wir jetzt (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) diesen zusammenführenden Ansatz im Verfassungs- Auswahl und Führung von V-Leuten erhalten jetzt schutzverbund. Der NSU-Untersuchungsausschuss hat erstmalig einen klaren gesetzlichen Rahmen und klare zum Verfassungsschutz an erster Stelle klipp und klar Grenzen. Bei der Auswahl gibt es Ausschlusskriterien, empfohlen – ich zitiere –: Informationen zentral zusam- zum Beispiel Minderjährigkeit oder Vorstrafen. Es gilt menführen und gründlich auswerten. – Das ist eigentlich der Grundsatz: Verurteilung wegen eines Verbrechens selbstverständlich. Das ist jetzt wesentliches Kernele- oder zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung schließen ment des Gesetzentwurfs und trotzdem umstritten. die Anwerbung eines V-Manns oder einer V-Frau aus. Künftig müssen alle relevanten Informationen zwi- (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE schen den Verfassungsschutzbehörden ausgetauscht wer- GRÜNEN]: Der Grundsatz!) den. Ich wiederhole: Das ist eigentlich selbstverständ- Das ist der Grundsatz. Ausnahmen sind möglich, hier je- lich. Nun wird das gesetzlich bekräftigt. Dazu gibt es das doch nur durch die Behördenleitung. Verbundsystem NADIS, Nachrichtendienstliches Infor- (B) mationssystem. Es muss jetzt auch dafür genutzt werden. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE (D) NADIS ist zugleich das Analysetool, um Beziehungen GRÜNEN]: Tja! Durch wen sonst?) zwischen Personen und Ereignissen zu erkennen und ge- Das ist, Herr von Notz, sicher diskussionswürdig, zielt Strukturen aufzuklären. Bislang war NADIS jedoch teils auf einen bloßen Aktennachweis beschränkt. Diese (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Beschränkung soll entfallen. So vermeiden wir gefährli- GRÜNEN]: Ja!) che Informationsinseln und gewinnen einen verbesserten und auch mir ist es nicht leichtgefallen, das so zu regeln. bundesweiten Überblick über extremistische Strukturen. Es wäre aus meiner Sicht unverantwortlich, weiter nur in (Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: regionaler Abschottung zu operieren. All das, worüber Hätten Sie ja anders machen können!) wir hier reden, nämlich die Nutzung von nachrichten- Aber wenn wir durch eine solche V-Person Einblicke in dienstlichen Informationen innerhalb eines Landes, in- die Szene bekommen und dadurch die Möglichkeit er- nerhalb der Verfassungsschutzbehörden eines Landes, ist halten, Schlimmes zu verhindern, dann kann es unsere dort längst selbstverständlich und vollständig unproble- Verantwortung für die Sicherheit unserer Bürgerinnen matisch. Die Analyse länderübergreifender Zusammen- und Bürger unter wenigen einzelnen Umständen gebie- hänge erfordert aber eine zentrale Auswertung auf Basis ten, auch eine solche Quelle zu nutzen. der zusammengeführten Daten. Darum geht es bei NADIS, um nicht mehr und nicht weniger. Das hat der In der Strafprozessordnung gilt übrigens Ähnliches. NSU-Untersuchungsausschuss gefordert, und das setzen Selbst Schwerverbrecher sind geeignete Kronzeugen, wir jetzt um. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das macht es nicht besser!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Uli Grötsch [SPD]) wenn sie zuverlässige Informationen bieten, die zur Auf- klärung oder Verhinderung weiterer schwerer Straftaten Diese Erweiterung ist auch datenschutzrechtlich ein- führen. gebettet; denn wir haben einerseits die Zugriffs- und Abfragerechte derer, die darauf zugreifen können, be- (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist etwas ganz anderes!) schränkt und andererseits eine Vollprotokollierung im Gesetz festgeschrieben. Es besteht also eine vollständige Ein gegenläufiger Rigorismus bei der nachrichtendienst- Kontrolle auch im Nachhinein, wer welche Information lichen Informationsbeschaffung ist für mich sachlich mit welcher Berechtigung nachgefragt hat. nicht überzeugend und wäre im Vergleich dazu auch Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9689

Bundesminister Dr. Thomas de Maizière (A) wertungswidersprüchlich. Dazu werden Sie sicher gleich desverfassungsschutzgesetz geändert werden –, der auch (C) vortragen. in § 9 b Anwendung findet, folgende Regelung enthält: Damit hier kein Missverständnis entsteht, möchte ich Sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür ausdrücklich betonen: Ich habe von der Vorstrafenrele- bestehen, dass Verdeckte Mitarbeiter rechtswidrig ei- vanz für eine Anwerbung gesprochen. Im Einsatz selbst nen Straftatbestand von erheblicher Bedeutung ver- erhält die V-Person natürlich keine Befugnis, andere zu wirklicht haben, soll der Einsatz unverzüglich be- schädigen. endet werden; (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE – jetzt kommt der entscheidende Satz – GRÜNEN]: Mit Ausnahmen!) über Ausnahmen entscheidet der Behördenleiter Wir legen im Gesetzentwurf konkret fest, was jemand oder sein Vertreter. als V-Mann darf und was er nicht darf; auch das gab es Das heißt, das, was Sie hier so darstellen, als sei es bisher nicht. Klar ist: Um strafbare und terroristische Gesetz, hat auch wieder Ausnahmen. Wir wissen, wie Vereinigungen von innen aufzuklären, muss die V-Per- von diesem Ausnahmerecht Gebrauch gemacht wird. son Mitglied einer solchen Organisation sein können oder sich im Unterstützungsumfeld betätigen dürfen. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Daher enthält der Gesetzentwurf dazu eine entspre- GRÜNEN]: Interne Abreden!) chende Befugnis. Wenn sich eine solche V-Person in der Darauf kommen wir nachher noch zu sprechen. Geben Szene bewegt, so muss sie sich szenetypisch verhalten Sie mir recht, dass das hier drinsteht? können. Hierbei schaffen wir aber klare rechtliche Gren- zen. Voraussetzung ist, dass das Verhalten zur Akzeptanz in der Szene unerlässlich und nicht unverhältnismäßig Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In- ist. In der rechtsextremistischen Szene kann das bei- nern: spielsweise die Verwendung verbotener Nazisymbole Ja, natürlich, ich habe das auch genauso vorgetragen. sein, ein Hitlergruß oder Ähnliches. Das ist szenety- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE pisch; das kann man noch akzeptieren. Klare Grenze ist GRÜNEN]: Nein!) jedoch: keine Eingriffe in Individualrechte. Sachbeschä- digungen bleiben verboten, egal ob sie szenetypisch sind Diese Ausnahme muss eng begrenzt sein. oder nicht; hier gibt es keine Ausnahmen. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) GRÜNEN]: Wo steht das?) (B) (D) Wenn die V-Person also nicht nur an einer militanten De- – Das können wir da gerne hineinschreiben. Das ist gar monstration teilnimmt, sondern selbst Sachbeschädi- kein Problem. gung begeht, ist und bleibt das strafbar. Es bliebe dann (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE nur, den situativen Bezug und den Einsatzzusammen- GRÜNEN]: Ja bitte! – [BÜND- hang bei der Frage einer Verfahrenseinstellung zu würdi- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht jetzt im gen – das kennen wir im Strafprozessrecht auch –, und Protokoll!) auch dafür setzt der Gesetzentwurf klare Grenzen. Tatsache ist, dass es eine Sollregelung und ein Grund- Alles in allem enthalten die Regelungen zu V-Leuten satz ist. Ein Grundsatz – unter uns Juristen gesprochen, schwierige rechtsstaatliche Abwägungsentscheidungen. Herr Kollege Ströbele – bedeutet immer, dass alles an- Sie sind im Gesetzentwurf meines Erachtens ausgewo- dere eine Ausnahme ist. Das ist bei jeder Sollregelung gen gelungen. Wir können in den Ausschussberatungen so. Deswegen kann man trotzdem „Ausnahmen“ hinein- gerne weiter darüber diskutieren. schreiben. Entscheidend ist nur, dass in diesen Fällen nicht der V-Mann-Führer alleine entscheiden kann, die Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Arbeit fortzusetzen, sondern das muss der Behördenlei- Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischen- ter oder sein Stellvertreter entscheiden. frage des Kollegen Ströbele? Ich will in diesem Zusammenhang gerne noch etwas anderes sagen. Es geht nicht nur um die V-Leute, wo wir Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In- uns einig sind, dass wir vieles von dem, was sie tun, nern: missbilligen, sondern es geht auch um den Schutz der Bitte schön, sonst redet er hinterher sowieso. Mitarbeiter – es sind überwiegend Beamte – in den Ver- fassungsschutzbehörden. Denn wenn ein V-Mann eine Straftat begeht und der V-Mann-Führer die Arbeit fort- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: setzt, dann könnte es sein, dass gegen diesen Beamten Herr Kollege Ströbele. ein Ermittlungsverfahren wegen Beihilfe eingeleitet wird. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ( [DIE LINKE]: Zu Recht!) Herr Minister, geben Sie mir recht, dass der von Ihnen Wenn das der Fall ist, dann, glaube ich, kann man das vorgelegte Gesetzentwurf in § 9 a – hier soll das Bun- V-Mann-Geschäft insgesamt vergessen. Die Linke will 9690 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015

Bundesminister Dr. Thomas de Maizière (A) dies natürlich: entweder den Verfassungsschutz ganz ab- Das klingt gut, ist es aber nicht; denn de facto bleibt alles (C) schaffen oder keine V-Leute. beim Alten. (Beifall der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE]) Dazu eine exemplarische Geschichte aus dem NSU- Das ist, wenn man so will, schlüssig, aber falsch. Nazi-Mord-Desaster. Carsten S. war ein strammer Nazi aus Brandenburg. Gemeinsam mit rechtsextremen Kum- (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Schlüssig und panen versuchte er, einen Nigerianer zu erschlagen, zu richtig!) verbrennen, zu ertränken. Das Opfer entkam nur knapp dem Tod. Carsten S. wurde zu einer mehrjährigen Haft- – Nein, schlüssig, aber falsch. Konsistent ist das, was Sie strafe verurteilt. Von da an wurde er für den Verfassungs- vortragen; dem kann ich nicht widersprechen. schutz interessant, als V-Mann „Piatto“. Sein V-Mann- (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Führer vom Verfassungsschutz chauffierte „Piatto“ ver- GRÜNEN]: Das ist schon mal etwas!) lässlich aus dem Gefängnis zu Nazikonzerten. So blieb Carsten S. in der Szene und für sie aktiv. Später absol- Wenn man aber daran festhält, nicht weil diese Men- vierte Carsten S. ein Praktikum. Obendrein hatte er eine schen besonders sympathisch sind oder weil man sie be- Festanstellung in Aussicht. sonders schön findet, sondern weil wir ihre Informatio- nen brauchen, um Schlimmeres von der Gesellschaft Das beeindruckte offenbar auch eine Richterin. Er abzuwenden, wenn man diesen Grundsatz bejaht, dann wurde vorzeitig entlassen, mit der klaren Auflage, sich muss man sich in den schwierigen Abwägungsprozess künftig strikt von der Naziszene fernzuhalten. Der Rich- begeben: Was darf der V-Mann, was darf er nicht, und terin wurden allerdings zwei wesentliche Fakten ver- was bedeutet das für den V-Mann-Führer? Hierzu haben schwiegen: Das gelobte Praktikum hatte „Piatto“ in ei- wir einen Vorschlag vorgelegt. Darüber sollten wir in nem Naziszeneladen absolviert, und seine mögliche den Ausschussberatungen weiter entscheiden. Festanstellung sollte in einer neuen Filiale desselben sein – alles von Verfassungsschutzes Gnaden, Täu- Meine Damen und Herren, wir ziehen mit diesem Ge- schung der Justiz inklusive. Kurzum: Der Verfassungs- setzentwurf die Lehren aus den festgestellten Mängeln schutz half, Verfassungsfeinde aufzubauen, anstatt die bei der Arbeit unserer Sicherheitsbehörden. Wir entwi- Verfassung zu schützen. Klarer kann sich das Amt nicht ckeln den kritisierten Rahmen fort. Wir stellen die Män- delegitimieren. gel ab, soweit das mit einem Gesetz geht. Der Reform- prozess im Übrigen bleibt bestehen. Im Reformprozess (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- des Verfassungsschutzes ist dieses Gesetz ein wichtiger NIS 90/DIE GRÜNEN) (B) Baustein, beileibe nicht der einzige. Ich bitte um gründli- (D) che und konstruktive Beratungen – dazu sind wir bereit – Nun zum neuen Gesetz. Es besagt, dass Nazis, die und dann um eine breite Unterstützung. sich schwerer Verbrechen gegen Leib und Leben schul- dig gemacht haben, in aller Regel nicht mehr als V-Leute Vielen Dank. angeworben werden dürfen. Sind damit neue „Piattos“ (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) ausgeschlossen? Nein; denn „in aller Regel“ bedeutet eben: Es gibt Ausnahmen, zum Beispiel wenn das Infor- mationsinteresse der Ämter für Verfassungsschutz schwe- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: rer wiege als die Straftaten von Nazis. In diesen Fällen Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin werde die V-Leute-Frage zur Chefsache – Sie haben das Petra Pau, Fraktion Die Linke. eben ja auch noch einmal zitiert –, und diese Chefs (Beifall bei der LINKEN) müssten dann klug abwägen. Also zurück zu „Piatto“. Ich habe den damaligen Petra Pau (DIE LINKE): V-Mann-Führer von Carsten S. gefragt: Wie sehen Sie Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! das im Rückblick? Glauben Sie nicht auch, dass das ein Wir reden über ein Gesetz, das Schlussfolgerungen für fataler Fehler war? Seine Antwort war unmissverständ- den Verfassungsschutz aus dem NSU-Nazi-Mord-Desas- lich: Nein. Wochen später wurde derselbe „Piatto“-Füh- ter verheißt. Ich greife daraus jetzt nur einen Aspekt auf: rer Präsident des Verfassungsschutzes im Freistaat Sach- das V-Mann-Unwesen. Ein Vorzug sei – das stellten Sie sen. Wenn sich Sachsen entschließen würde, Ihren gerade wieder dar, Herr Bundesinnenminister –, dass die Gesetzentwurf als Landesgesetz zu übernehmen, wäre er fragwürdige V-Leute-Praxis der Sicherheitsbehörden also heute der neue Chefentscheider. Sie sehen: Das Ge- nunmehr besser geregelt werde. Ich zitiere, was Sie setz hält nicht, was es verspricht. Deshalb wird die Linke kürzlich in einer Befragung der Bundesregierung gesagt Nein sagen. haben: Ich bleibe bei der V-Mann-Kontroverse. Der Thürin- Wir haben … Klarheit bei den V-Leuten geschaf- ger Landtag gehört zu den wenigen Parlamenten, die fen. … Szenetypisches Verhalten einschließlich sich intensiv mit dem NSU-Desaster auseinandergesetzt Straftaten ist zulässig. … Die Verletzung von Indi- haben. Die rot-rot-grüne Regierung zog Konsequenzen: vidualgütern wie Körperverletzung … nicht … Wenn es im Einzelfall einmal anders ist, muss da- (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Die fal- rüber der Behördenleiter … entscheiden. schen!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9691

Petra Pau (A) Die V-Leute-Praxis soll radikal heruntergefahren wer- Verpflichtung, alles dafür zu tun, dass es einen zweiten (C) den. NSU-Fall nie wieder gibt. (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Abge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schafft!) der CDU/CSU und des Abg. Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Dafür wird sie heftig als Sicherheitsrisiko beschimpft. Meine Damen und Herren, der vorliegende Gesetzent- (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Zu Recht!) wurf ist ein kleiner, aber eben auch kein unwesentlicher – Ich finde: zu Unrecht, Kollege Schipanski. Baustein, die richtigen Lehren aus dem NSU-Desaster zu ziehen. Die verschiedenen NSU-Untersuchungsaus- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- schüsse sind vor allen Dingen auch mit einer regelrech- NIS 90/DIE GRÜNEN – Tankred Schipanski ten Krankheit unserer Verfassungsschutzbehörden kon- [CDU/CSU]: Eine Gefährdung der Bürgerin- frontiert worden: dass man sich nicht austauscht, dass nen und Bürger!) man Informationen für sich behält, dass man sie nicht Denn wer eine Praxis beendet, die Nazis verharmlost weiterleitet. Wir wissen heute: Nur etwa 20 Prozent der und letztlich stärkt, handelt rechtsstaatlich und humanis- Informationen, die seit 1998 zu dem NSU-Mördertrio in tisch. Was sonst? den Landesämtern für Verfassungsschutz vorlagen, wur- den auch tatsächlich weitergeleitet. Das war fatal; denn Gestatten Sie mir noch ein, zwei Sätze zu dem An- so konnte nirgendwo ein Gesamtbild der Lage entstehen, trag, den die Linke als Alternative vorgelegt hat. Im noch konnte das Bundesamt für Verfassungsschutz sei- Kern geht es um zwei Vorschläge: Die Ämter für Verfas- ner Koordinierungsfunktion nachkommen. Das NSU- sungsschutz sollen als Geheimdienste aufgelöst und in Mördertrio musste nur von einem Bundesland in das eine transparente Politikberatung umgewandelt werden. nächste ziehen, und schon verlor sich die Spur. Dieses Und: Die V-Leute-Praxis der Sicherheitsbehörden ist Neben- und Gegeneinander der Verfassungsschützer, das umgehend zu beenden. Unser Vorschlag ist weitgehend, wir da erlebt haben, gefährdet unsere innere Sicherheit. grundgesetzkonform und obendrein geeignet, gesell- 16 Schlapphutprovinzen, die alle vor sich hin werkeln, schaftliches Engagement für Demokratie und Toleranz können wir uns nicht leisten; damit muss Schluss sein, zu stärken. Ich freue mich auf Ihre Neugier beim Stu- meine Damen und Herren! dium dieses Antrags und auf Ihre kluge Zustimmung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- der CDU/CSU) neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (B) Deshalb ist für uns Sozialdemokraten von entschei- (D) dender Bedeutung, dass künftig die Zentralstellenfunk- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: tion des Bundesamtes für Verfassungsschutz deutlich Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion hat jetzt gestärkt wird durch einen verpflichtenden Informations- Burkhard Lischka das Wort. austausch und, ja – da, wo notwendig –, auch mit ei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten genen Durchgriffsrechten. Gerade föderale Strukturen der CDU/CSU) verlangen beim Antiterrorkampf klare Führung und Ver- antwortung sowie einen schnellen Daten- und Informa- tionsaustausch auch über Ländergrenzen hinweg. Ich Burkhard Lischka (SPD): weiß, dass sich einige Bundesländer mit der Stärkung der Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist Zentralstellenfunktion des Bundesamtes sehr schwer- kein normaler Gesetzentwurf, den wir heute beraten, und tun. Aber ich sage auch: Für Behördenegoismen darf es alltäglich ist der Gesetzentwurf erst recht nicht. Er ist nach dem NSU-Skandal keinen Platz mehr geben. eine Reaktion auf einen Skandal, der niemals in Verges- senheit geraten darf, einen Skandal, der übrigens nicht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nur darin bestand, dass eine rechtsextremistische Terror- der CDU/CSU) gruppe 13 Jahre lang unerkannt mindestens zehn Morde, Der NSU konnte auch nur deshalb jahrelang mordend zwei Bombenanschläge und zahlreiche Banküberfälle und raubend durch Deutschland ziehen, weil unsere Si- verüben konnte, sondern auch darin, dass dieser Terror- cherheitsbehörden zu wenig miteinander geredet haben. zug einherging mit einer Chronik des Versagens unserer Solche blinden Flecken darf es nicht mehr geben und Sicherheitsbehörden – aller Sicherheitsbehörden, aber Verfassungsschutzämter, die im eigenen Saft schmoren, eben auch des Verfassungsschutzes. erst recht nicht, meine Damen und Herren. Von Dummheit bis Sabotage: Alle Formen von Zweiter wichtiger Aspekt: Der NSU-Skandal ist auch Staatsversagen sind in den verschiedensten Abschluss- ein V-Mann-Skandal. Frau Pau hat es angesprochen: Da berichten der NSU-Untersuchungsausschüsse festgehal- wurde ein V-Mann angeworben, der wegen versuchten ten. Wir wissen heute: Möglicherweise könnten Men- Mordes an einem Asylbewerber im Gefängnis einsaß. schen noch leben, wenn unsere Sicherheitsbehörden Da gab es Zahlungen an dubiose Informanten, die das verantwortungsbewusst und untadelig gearbeitet hätten. Jahresgehalt eines Polizisten bei weitem übersteigen. Mit dieser Schuld müssen viele, müssen wir alle leben. Dieser Fall hat unserer Gesellschaft einen Spiegel ihrer (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Gibt es doch schlechtesten Seiten vorgehalten. Dieser Fall ist zugleich immer noch!) 9692 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015

Burkhard Lischka (A) All das ist eines Rechtsstaates unwürdig, und zwar ohne servativer Politik. Und heute? Probleme, Baustellen und (C) Wenn und Aber, meine Damen und Herren. Skandale überall. Nun gibt es einige, die daraus folgern, man solle auf (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) V-Leute künftig am besten ganz verzichten. Bei allem Trotz der von der Bundeskanzlerin versprochenen verständlichen Ärger, der da mitschwingt: Was diese rückhaltlosen Aufklärung versuchen derzeit noch fünf Sicht vollkommen außer Acht lässt, ist der Umstand, Untersuchungsausschüsse in den Ländern – und wahr- dass gerade kriminelle und militante Gruppen ihre Akti- scheinlich bald auch wieder einer in diesem Hause –, die vitäten und Planungen seit jeher nicht offen, sondern vollständige Aufklärung der NSU-Morde zu gewährleis- konspirativ und abgeschottet betreiben. Wer da komplett ten, die bisher leider ausgeblieben ist. auf V-Leute verzichten will, nimmt zumindest billigend in Kauf, dass sie ungestört Anschläge und schwerste Jede Woche gibt es neue Hiobsbotschaften bei den Verbrechen planen können, ohne dass der Staat auch nur Geheimdiensten, gestern beim BND. Es hat erst eines Be- den Hauch einer Chance hat, sie dabei zu stören. weisantrages des Untersuchungsausschusses NSA be- durft, um zutage zu fördern, was BND und Bundeskanz- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) leramt jahrelang bestritten haben. Und es gibt eine Nein, meine Damen und Herren, ein Staat, der eben weitreichende Verstrickung Deutschlands im völker- auch die Verantwortung für die Sicherheit seiner Bürge- rechtswidrigen Drohnenkrieg, der eben auch vom deut- rinnen und Bürger trägt, darf sich nicht vollkommen schen Territorialgebiet aus geführt wird. Das ist der Ist- taub und blind machen, wenn es um feige Morde und zustand nach zehn Jahren Verantwortung der CDU für Anschläge geht. Das kann nun wirklich nicht die Lehre die Innenpolitik, und so geht es nicht weiter, meine Da- aus dem NSU-Desaster sein. men und Herren. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE Nur, wir dürfen dabei auch nicht den Boden der GRÜNEN]: Das ist eine Katastrophe!) Rechtsstaatlichkeit verlassen. Der Zweck heiligt in ei- nem Rechtsstaat eben nicht jedes Mittel. Ihr Antragspotpourri hier heute ist die Fortsetzung dieser Planlosigkeit. Sie stehen hier ohne einen einzigen (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Vorschlag, Herr de Maizière, zur Verbesserung der parla- GRÜNEN]: Ja, eben drum!) mentarischen Kontrolle, ohne jegliche Ansätze für einen besseren Daten- und Grundrechtsschutz und ohne eine Eine Zusammenarbeit mit vorbestraften Schwerstkrimi- einzige Idee, wie man im digitalen Zeitalter nachrichten- nellen darf es niemals geben und auch kein Hintertür- (B) dienstliche Aufklärung und Bürgerrechte besser mit- (D) chen im Gesetz, das das zulässt. Darauf werden wir So- einander vereinbaren kann. zialdemokraten in den weiteren Beratungen achten, meine Damen und Herren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD – Dr. Konstantin von Stattdessen haben Sie angekündigt, hier demnächst Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr die abwegige Weltraumtheorie in Gesetzesform gießen gut!) zu wollen. Nach NSU und NSA stocken Sie anlasslos massenhaft Stellen auf und wollen allen Ernstes die Insofern sind das wichtige Beratungen, die vor uns hochproblematische V-Leute-Praxis einfach legalisieren liegen, nämlich darüber, den Verfassungsschutz besser und ausbauen. Darum geht es im Kern bei allen schönen aufzustellen und klare rechtsstaatliche Grenzen ohne Worten, Herr de Maizière. Hintertürchen zu markieren. Das sind zwei Seiten ein und derselben Medaille, denen wir uns jetzt akribisch Das Liken, Twittern und Chatten aller Bürgerinnen widmen müssen. Das sind wir nicht zuletzt den Opfern und Bürger in diesem Land soll in Echtzeit überwacht des NSU-Terrors schuldig. werden können, und das alles auch noch ohne eine kon- krete gesetzliche Rechtfertigung. All das ist mit uns (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – nicht zu machen. Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Innenminister guckt sehr er- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) staunt!) Doch damit nicht genug. Gleichzeitig kommen Sie al- len Ernstes in diesen Tagen wieder mit der Vorratsdaten- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: speicherung um die Ecke. Herr Innenminister, ich will Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dr. Konstantin die Gelegenheit für folgende Kritik nutzen: Sie haben von Notz, Bündnis 90/Die Grünen. gesagt, Ihr Kompromiss – in Anführungsstrichen – wäre eine Chance, einen jahrelangen, teilweise erbittert ge- Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE führten Streit zu befrieden. Das wäre schön. Die Leitli- GRÜNEN): nien, die Sie vorlegen, widersprechen den Vorgaben des EuGH und des Bundesverfassungsgerichts aber offen- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir dis- sichtlich, und das befriedet leider niemanden. kutieren hier die Zukunft des Verfassungsschutzes, aber eben auch den Innen- und Sicherheitsbereich dieses Lan- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN des, einstmals das vermeintliche Aushängeschild kon- und bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9693

Dr. Konstantin von Notz (A) Noch vor der Sommerpause wollen Sie Ihren Gesetz- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (C) entwurf ganz offenbar ohne Anhörung und mit dem Hin- Vielen Dank. – Nächster Redner ist Stephan Mayer, weis, dass es ja eh keine Änderungen mehr durch das CDU/CSU-Fraktion. Parlament geben dürfe, durch dieses Hohe Haus peit- schen. Auch das ist ein Affront gegen den Deutschen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Bundestag. neten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle- Sie legen seit Jahren – und die SPD macht jetzt fröh- ginnen! Sehr geehrte Kollegen! Wir debattieren heute in lich mit – einen verfassungswidrigen Gesetzentwurf erster Lesung über die Novellierung des Bundesverfas- nach dem anderen vor, und dann beschweren Sie sich, sungsschutzgesetzes und damit über einen wesentlichen Herr Schipanski, in der letzten Woche aus der Union Bestandteil, wenn es um die Umsetzung der insgesamt auch noch allen Ernstes über das Bundesverfassungsge- 47 Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses richt, das seine verfassungsrechtliche Arbeit macht. Das aus der letzten Legislaturperiode geht. Bundesverfassungsgericht wird beschimpft. Wo sind wir eigentlich? Bei einer Neujustierung der Sicherheitsarchitektur geht es auch um eine Verbesserung der Arbeit der Nach- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN richtendienste, aber nicht nur. Wir haben schon etwas und bei der LINKEN – Tankred Schipanski getan, zum Beispiel, als es darum ging, die Position des [CDU/CSU]: Beschimpfen tun Sie die Regie- Generalbundesanwaltes zu stärken. Ich sage hier aber rung!) auch in aller Deutlichkeit: Nicht nur der Bund ist gefor- Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, die Me- dert, auch die Länder müssen ihre Hausaufgaben ma- chanismen unserer Verfassung sind Konsequenzen aus chen, wenn es darum geht, die Arbeit der Nachrichten- unserer Geschichte. Das Bundesverfassungsgericht an- dienste und der Polizeibehörden zu verbessern. zugreifen, verfassungswidrige Gesetzentwürfe immer (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wieder billigend in Kauf zu nehmen und hier vorzulegen neten der SPD) und das Parlament zu marginalisieren: Das geht einfach nicht, und wir widersprechen dem ausdrücklich. Mit diesem Gesetzentwurf beheben wir Mängel in der Sicherheitsarchitektur Deutschlands. Eines sage ich hier (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) aber auch in aller Deutlichkeit – gerade am heutigen Tag (B) Die Alternative zu Ihrem ideenlosen und grundrechts- und gerade auch im Lichte der aktuellen Debatte über (D) feindlichen Weiter-so ist unser Entschließungsantrag. die Arbeit des Bundesnachrichtendienstes –: Wir brau- chen funktionsfähige und gut ausgestattete Nachrichten- Als Konsequenz aus dem unsäglichen NSU-Skandal dienste. fordern wir eine Zäsur beim Bundesamt für Verfassungs- schutz. Das Amt muss aufgelöst und vollkommen neu (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- durchsortiert werden. NEN]: Wir brauchen vor allen Dingen Kon- trolle!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es ist vielleicht nicht populär, sich für Nachrichten- Die bisherige V-Leute-Praxis mit all ihren Skandalen dienste auszusprechen, und es ist immer einfacher, ange- muss endlich ein Ende haben. Weder darf der Staat über- nehmer und bequemer, Nachrichtendienste zu kritisie- zeugte Nationalsozialisten beschäftigen und finanzie- ren. ren, Herr de Maizière, noch darf man mit schweren Straftätern vertrauensvoll zusammenarbeiten. Das ist (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE völlig inakzeptabel. GRÜNEN]: Tatsächlich? Probieren Sie es ein- mal! Sie sind sich sonst für keinen Populismus (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu schade, Herr Mayer! Probieren Sie es doch und bei der LINKEN – Burkhard Lischka einmal! – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/ [SPD]: Das werden wir auch nicht machen!) DIE GRÜNEN]: Das ist doch skandalös!) Statt des Ausbaus der strategischen Internetraster- Gerade angesichts der aktuellen Debatte möchte ich fahndung brauchen wir effektive grundrechtsschonende aber Folgendes einmal deutlich machen: Der Bundes- Instrumente, eine gesetzliche Begrenzung der Überwa- nachrichtendienst hat – selbst konservativ berechnet – chung der digitalen Kommunikation und ein völlig neues mit seiner Arbeit in Afghanistan dazu beigetragen, parlamentarisches Kontrollsystem. 19 konkret geplante Anschläge auf Bundeswehrsoldaten Die innere und öffentliche Sicherheit und die Men- zu verhindern. schen in Deutschland haben Besseres verdient als Ihren Das ist nun einmal die Krux bei der Arbeit der Nach- Gesetzentwurf. richtendienste: Sie fallen nicht auf, wenn sie gut arbei- Ganz herzlichen Dank. ten, weil sich dann Gott sei Dank kein Anschlag ereignet – sei es in Afghanistan gegenüber unseren Angehörigen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der Bundeswehr, oder sei es auch im Inland, in Deutsch- 9694 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015

Stephan Mayer (Altötting) (A) land –, aber sie fallen dann auf, wenn vermeintlich etwas (Petra Pau [DIE LINKE]: Quatsch!) (C) nicht so läuft, wie wir alle uns das wünschen. Wenn man diesem Weg folgen würde, würden wir die (Beifall bei der CDU/CSU – Katrin Göring- Sicherheit Deutschlands sehenden Auges gefährden. Das Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Ver- wäre ein enormes Risiko für die Sicherheitslage in unse- meintlich“? – Britta Haßelmann [BÜND- rem Land. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist strafbar!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ich sage das hier ganz deutlich auch an die Adresse neten der SPD) der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Nachrichten- dienste gerichtet und auch ganz bewusst in dem Wissen, Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ein dass dies derzeit vielleicht nicht populär ist: Wir stehen Wort an die Adresse der Länder. Ich finde es schade, zu den Nachrichtendiensten. Wir brauchen gut qualifi- dass kein Vertreter der Länder hier auf der Bundesrats- zierte, motivierte und kompetente Mitarbeiter in den bank Platz genommen hat. Nachrichtendiensten. (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Wie im- (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mer!) NEN]: Die gibt es doch nicht!) Es geht doch um einen Gesetzentwurf, der von den Län- Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, da- dern, egal welcher Couleur, sehr offen und sehr deutlich rin unterscheiden wir uns als CDU/CSU-Fraktion diame- kritisiert wurde. tral von den Linken und auch von den Grünen. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist Bayern?) GRÜNEN]: Ja! Gott sei Dank!) Ich bin der festen Überzeugung: Die Bedenken und Frau Kollegin Pau, Sie fordern ganz offen die Abschaf- Zweifel der Länder sind unbegründet. Ich möchte, auch fung des BfV, wenn kein Vertreter anwesend ist, an die Adresse der (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Länder deutlich sagen: Dieser Gesetzentwurf wird nicht GRÜNEN]: Nein, das tun wir nicht!) gegen die Länder, sondern er wird für die Länder ge- macht. die Einführung einer Bundesstiftung, einer politischen Beratung, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE (B) GRÜNEN]: Das tun wir nicht!) Mit einer Stärkung der Zentralstellenfunktion des (D) Bundesamtes für Verfassungsschutz ist mitnichten eine die nur noch als Kontaktstelle für die Nachrichtendienste Schwächung der Landesämter verbunden. Die Landes- im Ausland dienen soll. ämter profitieren von einem starken Bundesamt. Sie pro- (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE fitieren davon, wenn das Bundesamt als Dienstleister ge- GRÜNEN]: Da haben Sie nicht richtig gele- stärkt wird. Ich hoffe, dass die weitere Debatte etwas sen, Herr Mayer!) sachlicher und objektiver erfolgt; – Ich spreche von dem Antrag der Linken, Herr Kollege (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE von Notz. GRÜNEN]: Nach Ihrer Rede könnte das gelin- gen!) (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach so! Zu uns kommen Sie hof- denn ich bin der festen Überzeugung, dass die Landes- fentlich noch!) ämter und damit auch die Landesregierungen von den im Gesetzentwurf vorgesehenen Regelungen und der stär- – Zu Ihnen komme ich noch, Herr von Notz. keren Koordinierung der Arbeit durch das BfV enorm (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE profitieren können. GRÜNEN]: Ich bitte darum!) Es ist richtig, dass es dem BfV im Einzelfall ermög- Sie haben wenig zu unserem Gesetzentwurf gesagt. Sie licht wird, zu handeln, wenn sich nur regional engagierte haben sich wieder nur – Stichwort: l’art pour l’art – eher und tätige Gruppierungen, die aber gewaltbereit sind, an der Oberfläche bewegt. breitmachen. Man muss auch ganz offen sagen: Die Leistungsfähigkeit der Landesämter ist nun einmal sehr (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE unterschiedlich. Deswegen bin ich der festen Überzeu- GRÜNEN]: Sie reden ja auch nur über die gung: Dieses Gesetz wird dem Verfassungsschutz insge- Linken! Kommen Sie mal zur Sache!) samt guttun, sowohl auf Bundes- als auch auf Landes- Das zeigt offenbar, dass der Gesetzentwurf so schlecht ebene. nicht ist. Ein wichtiger Rückschluss aus den Erfahrungen der Ganz konkret zum Antrag der Linken. Die Linken schrecklichen Mordserie des NSU-Trios muss sein, dass fordern die Abschaffung des Bundesamtes, die Einfüh- die Behörden offener miteinander kommunizieren. Wir rung einer politischen Beratung, die nicht einmal öffent- brauchen einen offeneren Austausch zwischen den Lan- lich zugängliche Quellen auswerten darf. desämtern und mit dem Bundesamt. Ich sage hier ganz Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9695

Stephan Mayer (Altötting) (A) offen: Dafür ist mit Sicherheit auch auf Ebene der Mitar- gibt. Ich glaube, wir täten insgesamt gut daran, wenn un- (C) beiter ein Mentalitätswechsel erforderlich. sere Verfassungsschutzämter endlich jemanden fänden, der sich traut, aus dieser schwierigen Szene auszustei- Wir brauchen auch eine Neuregelung des Zugangs gen. Ich muss ganz offen sagen: Wenn er dann etwas zum Nachrichtendienstlichen Informationssystem, mehr auf dem Kerbholz hat, NADIS. Ein Verfassungsschutz ohne ein vernünftiges Informationssystem macht definitiv keinen Sinn. Ich (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE sage auch angesichts der Kritik bezüglich der Neurege- GRÜNEN]: Einer, der Köpfe abgeschnitten lung des Zugangs zu NADIS ganz deutlich: Diese Neu- hat in Syrien, ja?) regelung erfüllt höchste datenschutzrechtliche Anforde- dann sind es mir die Sicherheit Deutschlands und die rungen, zum einen, wenn es darum geht, die Befugnis Verhinderung eines Anschlags in Deutschland wert, in derer, die auf die Daten zugreifen können, zu begrenzen, einem derart eng begrenzten Ausnahmefall auch auf ei- und zum anderen, wenn es darum geht, eine umfangrei- nen V-Mann zurückzugreifen. che Protokollierungspflicht aufzuerlegen.

Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ein Vizepräsidentin Ulla Schmidt: wesentlicher Bestandteil dieses Gesetzentwurfes ist, wie Kollege Mayer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des schon im Vorfeld diskutiert wurde, die Neuregelung für Kollegen Ströbele? den Einsatz von V-Leuten. Um dies klar zu sagen: Wir brauchen V-Leute in den Verfassungsschutzämtern. Die Arbeit ist ohne V-Leute nicht möglich. Das ist mit Si- Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): cherheit nicht angenehm. Das ist auch nicht immer appe- Selbstverständlich, sehr gerne. titlich. Die V-Leute, mit denen man dabei zu tun hat, sind auch keine angenehmen Zeitgenossen. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Bitte schön, Herr Kollege Ströbele. Aber es ist richtig, in der Frage, wer für die Arbeit als V-Mann infrage kommt, höhere qualitative Anforderun- gen gesetzlich festzulegen. Zur Erinnerung: Bisher war Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE die Frage, wer V-Mann werden konnte, nur auf der GRÜNEN): Ebene der Verwaltungsvorschriften geregelt. Jetzt wird Danke, Herr Kollege Mayer. – Ich lege immer Wert eine gesetzliche Normierung vorgenommen. Dies ist darauf, dass wir eng am Gesetz entlang diskutieren. auch richtig so. (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist Ihnen vor- hin schon nicht gelungen!) (B) Es ist klar, dass Minderjährige nicht in Betracht kom- (D) men, dass Parlamentarier nicht in Betracht kommen und Sie haben gerade selber darauf hingewiesen, dass keine dass diejenigen, die als V-Mann in Betracht kommen, erheblich Vorbestraften eingesetzt werden dürfen. Im nicht allein von den ihnen zugewendeten Geld- und Gesetzentwurf steht aber ein ganz wichtiges Wort: Sachleistungen ihren Lebensunterhalt bestreiten dürfen. „grundsätzlich“. „Grundsätzlich“ heißt: Es geht auch an- Es kommen auch keine Personen in Betracht, die in Aus- ders. Man muss auch die Begründung lesen. Wann sollen steigerprogrammen sind. Und um es noch einmal klar zu Ausnahmen möglich sein? Auch bei erheblichen Strafta- sagen: Es dürfen auch definitiv keine Personen in Be- ten? Wenn die Personen als zuverlässig erscheinen? tracht kommen, die sich schwerer Straftaten schuldig ge- Wenn sie einen großen Wert für die Arbeit bedeuten? macht haben. Danach wäre „Piatto“, von dem Frau Pau vorhin gespro- Frau Kollegin Pau, Sie haben den Fall „Piatto“ ange- chen hat und den der Verfassungsschutz im Gefängnis sprochen. Dazu habe auch ich eine ganz klare Einschät- angeworben hat, nachdem er sich dazu bereit erklärt hat zung: Wenn das Gesetz so das Licht der Gesetzeswirk- – aus Sicht des Verfassungsschutzes war er zuverlässig –, lichkeit erblicken würde, wie es heute im Entwurf auch nach dem grauenhaften Mordversuch nach wie vor vorliegt, wäre der Fall „Piatto“ – dessen bin ich mir defi- ein Kandidat, den Sie wieder einstellen können. nitiv sicher – nicht mehr möglich. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- GRÜNEN]: Sie legalisieren das!) neten der SPD – Zuruf vom BÜNDNIS 90/ Das heißt, der Gesetzentwurf geht völlig an dem vorbei, DIE GRÜNEN: Das ist falsch!) was Sie hier vortragen. Im rechts- und linksextremistischen Bereich wollen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wir mit derartigen Straftätern nichts zu tun haben. Sie werden auch in Zukunft nicht mehr als V-Leute in Be- Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): tracht kommen. Es gibt aber, offen gesagt, einen anderen Bereich, in dem man möglicherweise in ganz eng be- Herr Kollege Ströbele, ich danke Ihnen ganz herzlich grenzten Ausnahmefällen durchaus auch auf derart für diese konkretisierende Nachfrage. Mir ist sehr wohl schwere Jungs zurückgreifen muss: Das ist der salafisti- bewusst, wie das Wort „grundsätzlich“ auszulegen ist sche und islamistisch motivierte Bereich. und dass es Ausnahmemöglichkeiten zulässt. Ich habe aber auch an die Adresse der Kollegin Pau deutlich ge- Sie alle wissen, dass es bisher noch keinen einzigen sagt, dass es in der links- und rechtsextremistischen bekannten Aussteiger aus der dschihadistischen Szene Szene durchaus andere Möglichkeiten gibt, an V-Leute 9696 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015

Stephan Mayer (Altötting) (A) heranzukommen, sodass in diesem Bereich die Hürde den Ländern besprochen worden. Ich glaube, wir tun gut (C) für eine mögliche Ausnahme von der grundsätzlichen daran, mit sehr viel Sorgfalt diesen Gesetzentwurf zu er- Bestimmung so hoch gelegt ist, dass man es in diesen örtern. Ich bin der festen Überzeugung, dass dieses Ge- Fällen auch nach dem Grundsatz der Verhältnismäßig- setz eine gute Grundlage dafür ist, die Sicherheitsarchi- keit mit Sicherheit nicht rechtfertigen kann, auf einen tektur in Deutschland zu stärken und insbesondere die derart „schweren Jungen“, wie es Carsten S. alias „Pi- qualitative Arbeit sowohl des Bundesamtes für Verfas- atto“ war, zurückzugreifen. sungsschutz als auch der Landesämter für Verfassungs- schutz zu heben. (Martina Renner [DIE LINKE]: Das war doch kein schwerer Junge! Er war ein Mörder, kein In diesem Sinne freue ich mich auf konstruktive und schwerer Junge!) sachliche Beratungen. – Falls Sie nicht zugehört haben: Ich habe ganz bewusst (Beifall bei der CDU/CSU) den islamistischen Bereich und vor allem die dschihadis- tische Szene genannt. Wir sind beide im Parlamentari- Vizepräsidentin : schen Kontrollgremium. Insofern sind wir zur Geheim- Vielen Dank. – Als nächster Redner hat André Hahn haltung verpflichtet, aber selbst der Präsident des von der Fraktion Die Linke das Wort. Bundesamtes für Verfassungsschutz, Maaßen, hat diese Woche noch einmal öffentlich klargemacht, dass die (Beifall bei der LINKEN) salafistische Szene in Deutschland mittlerweile auf 7 300 Personen angewachsen ist. Sie hat sich in den letz- Dr. André Hahn (DIE LINKE): ten drei Jahren verdoppelt. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch Ich hoffe, dass wir uns einig sind, Herr Kollege die Linke ist für den Schutz der verfassungsmäßigen Ströbele, dass es, wenn es gelänge – ich spreche bewusst Ordnung. im Konjunktiv –, einen der aus Syrien zurückkehrenden Dschihadisten – mittlerweile sind ungefähr ein Drittel (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das ist et- bzw. etwa 200 Personen derer, die aus Deutschland nach was ganz Neues!) Syrien gereist sind, zurückgekommen – dazu zu bewe- Wir sind aber anders als die übergroße Mehrheit in die- gen, sich als V-Mann zur Verfügung zu stellen, um die sem Haus der Meinung, dass wir dafür weder eine Be- Szene besser aufklären zu können, in diesem konkreten hörde mit geheimdienstlichen Befugnissen noch staat- Ausnahmefall unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit lich bezahlte V-Leute brauchen. aus meiner Sicht angemessen und gerechtfertigt wäre, (B) diese Person als V-Mann anzuwerben, selbst wenn er et- (Beifall bei der LINKEN) (D) was mehr auf dem Kerbholz hat. Die von uns aus guten Gründen geforderte Auflösung (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Auch einen des Verfassungsschutzes als Geheimdienst ist hier im Mord? – Martina Renner [DIE LINKE]: Was Parlament derzeit nicht durchsetzbar. Deshalb müssen ist mit Mord?) auch wir uns mit dem Gesetzentwurf der Bundesregie- rung auseinandersetzen, obwohl wir schon den Grundan- Um es klar zu sagen: Ich beziehe mich nicht auf den satz für falsch halten. links- oder rechtsextremistischen Bereich, sondern ich beziehe mich in aller Deutlichkeit auf den islamistischen (Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE Terrorismus, der nun einmal – das hat die Vergangenheit LINKE]) gezeigt – für Deutschland eine große Gefahr darstellt. Statt zu versuchen, den seit langem heftig umstrittenen (Beifall bei der CDU/CSU) Einsatz von V-Leuten oder von ihnen begangene Strafta- ten irgendwie auf rechtliche Grundlagen zu stellen, Mit diesem Gesetz wird ferner die Analysefähigkeit sollte der Bund vielmehr dem Beispiel von Thüringen des Bundesamtes gestärkt und die Möglichkeit für die folgen und die derzeit noch aktiven V-Leute schnellst- Länder geschaffen, gemeinsam Landesämter für Verfas- möglich abschalten, sungsschutz einzurichten. Ich glaube, die sollten sich überlegen, von dieser Öffnungsklausel Gebrauch zu ma- (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. chen. Wir schaffen eine gesetzliche Grundlage für die Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE elektronische Akte und verbessern die Möglichkeit des GRÜNEN] – Tankred Schipanski [CDU/ Zugriffs auf justizielle Register und das europäische CSU]: Das wäre eine Katastrophe!) Visa-Informationssystem. Genauso konkretisieren wir in im Übrigen auch, um das laufende NPD-Verbotsverfah- Umsetzung eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts ren nicht weiter zu gefährden. die Befugnis des Bundesamtes für Verfassungsschutz hinsichtlich der Weitergabe von Informationen an Poli- (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das haben zeibehörden. wir den Ländern schon gesagt!) Uns liegt ein Gesetzentwurf der Bundesregierung vor, Wir halten es für völlig falsch, dass im Gesetzentwurf der intensiv mit den Ländern vorberaten wurde. Auch Straftaten durch V-Leute legitimiert werden sollen. Das das ist ein Unikum. Noch kein Gesetzentwurf ist im Vor- ist der falsche Weg und schon gar nicht die Umsetzung feld, schon vor der Kabinettsbefassung, so intensiv mit der Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9697

Dr. André Hahn (A) (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Eins zu „Piatto“ könnte sich aufgrund der von Ihnen vorgesehe- (C) eins!) nen gesetzlichen Ausnahmeregelung betreffend den Be- hördenleiter wiederholen. Ich habe den Minister in der Fragestunde gebeten, doch einmal einen Fall zu nennen, bei dem V-Leute schwere (Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Verbrechen verhindert haben. Er konnte keinen einzigen Quatsch!) Fall hier im Bundestag nennen. Auch das ist bezeich- Natürlich soll die Zusammenarbeit bei schweren nend für die Arbeit der V-Leute. Straftaten beendet werden, wenn es um eine Haftstrafe Zurück zum Gesetzentwurf. Sie, Herr de Maizière, von mehr als einem Jahr und ohne Bewährung geht. Das haben auf einige Punkte hingewiesen, zum Beispiel da- ist aber nur als Sollvorschrift festgehalten, und es gibt rauf, dass die Zusammenarbeit zwischen dem Bundes- die besagte Ausnahme. Wenn man schon eine solche Re- amt und den Landesämtern verbessert werden soll. Das gelung betreffend den Behördenleiter aufnimmt – was erscheint auf den ersten Blick sogar sinnvoll. Unklar wir für falsch halten –, dann sollte man aber zumindest aber bleibt, durch wen das künftig parlamentarisch kon- festlegen, dass das Parlamentarische Kontrollgremium trolliert werden soll; denn das Parlamentarische Kon- des Bundestages unterrichtet werden muss; denn das trollgremium des Bundestages erhält keine Auskunft Behördenhandeln und die Entscheidungen des Behör- über die Tätigkeit der Landesämter, und die Kontroll- denleiters müssen kontrolliert werden. Hier fehlt eine kommissionen der Länder erhalten keine Auskunft und entsprechende Regelung. Das bedarf dringend der Kor- keine Akten über den Bund. Das heißt, die Unterlagen rektur. über die geplante verstärkte Kooperation schweben (Beifall bei der LINKEN) quasi in einem kontrollfreien Raum. Im Gesetzentwurf der Regierung gibt es dazu keine Regelung. Die Redezeit reicht leider nicht, um alle Kritikpunkte anzuführen. Fazit: Das Gesetz löst keine Probleme, son- Problematisch ist für mich als Vorsitzender des Parla- dern schafft neue. Deshalb kann der Entwurf nicht un- mentarischen Kontrollgremiums auch der Zeitpunkt, sere Zustimmung finden. Herr de Maizière, zu dem die Bundesregierung ihren Ge- setzentwurf einbringt. Das Gremium hat zu Beginn der Herzlichen Dank. Legislaturperiode entschieden, nicht nur aktuelle Vor- (Beifall bei der LINKEN) gänge zu prüfen, sondern auch präventiv zu arbeiten. Derzeit befasst sich eine Arbeitsgruppe mit der V-Leute- Praxis beim Verfassungsschutz und will noch in diesem Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Jahr Empfehlungen für die künftige Arbeit mit den soge- Vielen Dank. – Als nächster Redner hat der Kollege (B) nannten Vertrauenspersonen vorlegen. Das weiß die Uli Grötsch von der SPD-Fraktion das Wort. (D) Bundesregierung, und sie hätte deshalb auch aus Res- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten pekt gegenüber dem Parlament die Ergebnisse abwarten der CDU/CSU) und nicht vorschnell einen eigenen Gesetzentwurf vorle- gen sollen. Uli Grötsch (SPD): (Beifall bei der LINKEN) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich füge hinzu, Herr Kollege Lischka: Guter Stil sieht In diesen Tagen gedenken wir alle der unzähligen Men- mit Sicherheit anders aus. schen, die den Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg zum Opfer gefallen sind. In vielen Orten in Deutschland Wieder zurück zum Gesetzentwurf. Obwohl gerade finden auch an diesem Wochenende Gedenkveranstal- die Verfassungsschutzämter von Bund und Ländern tungen anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung der beim Thema NSU nahezu vollständig versagt haben und Konzentrationslager statt, so auch bei mir zu Hause in auch die V-Leute nichts gebracht haben oder deren In- der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg. Es ist mir wichtig, formationen aus Quellenschutzgründen zurückgehalten dies auch in dieser Debatte einleitend zu sagen: Wir alle wurden, soll das Bundesamt nunmehr mit 261 zusätzli- haben die große Verantwortung und auch die Verpflich- chen Planstellen de facto belohnt werden. Das kostet tung gegenüber den Opfern des Holocaust, dass sich so 17 Millionen Euro. Dem werden wir definitiv nicht zu- etwas niemals wiederholt. stimmen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der LINKEN) der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zudem – dies hatte hier schon eine Rolle gespielt – soll die Begehung von Straftaten von V-Leuten künftig Um es mit den Worten von Max Mannheimer, einem offiziell ermöglicht und gegebenenfalls von der Verfol- Überlebenden des Holocaust und einem wichtigen Zeit- gung durch Staatsanwaltschaften freigestellt werden. Ich zeugen, zu sagen: frage: Wo sind wir eigentlich hingekommen? Wir wissen Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschah. aus dem NSU-Skandal – Frau Pau hat das erwähnt –, Aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon. dass selbst wegen versuchten Totschlags verurteilte Per- sonen vom Verfassungsschutz als Spitzel angeworben Im Jahr 2011 mussten wir mit unsagbarer Fassungslo- wurden. Die Bundesregierung will das nun auch noch sigkeit feststellen, dass die Neonazi-Szene in Deutsch- per Gesetz zulassen. Herr Kollege Mayer, der Fall land größer, besser vernetzt und viel brutaler ist, als wir 9698 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015

Uli Grötsch (A) alle es uns jemals hätten vorstellen können. Was aber Zusammenarbeit im Bereich des Verfassungsschutzes, (C) mindestens genauso schlimm ist, ist die Tatsache, dass um den es hier heute geht. Im NSU-Untersuchungsaus- der Nationalsozialistische Untergrund erst so spät aufge- schuss hat sich gezeigt, dass die einzelnen Behörden un- deckt wurde. Ich denke, alle Bürgerinnen und Bürger in genügend oder schlichtweg gar nicht zusammengearbei- diesem Land, jeder hier in diesem Haus und im Beson- tet haben. Fast täglich hören wir inzwischen aus den deren die Mitglieder der Parlamentarischen Untersu- NSU-Untersuchungsausschüssen der Länder oder aus chungsausschüsse haben sich gefragt, wie das eigentlich dem Gerichtsverfahren in München, wie schlecht der passieren konnte. Schließlich haben wir gleich mehrere Austausch von Informationen tatsächlich abgelaufen ist Behörden, die eben genau solche schrecklichen Gewalt- und wie Berichtspflichten regelrecht ignoriert wurden. taten wie die des NSU verhindern sollen. Gerade der Erst vorgestern hat sich in München bei der Aussage des Verfassungsschutz hat im Bund und in den Ländern an sächsischen Verfassungsschutzpräsidenten wieder ein- vielen Stellen ganz klar und auch unbestritten versagt. mal gezeigt, wie unzureichend der Informationsfluss Und ja, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, zwischen den einzelnen Behörden war. Es ist also not- da kann man sich schon fragen, ob der nachrichten- wendig – und ich finde es auch richtig –, dass im Zuge dienstlich arbeitende Verfassungsschutzverbund aufge- der Reform die Zentralstellenfunktion des BfV gestärkt löst werden sollte, so wie Sie es in Ihrem Antrag fordern. wird und ein effektiver Informationsaustausch unum- gänglich wird. (Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das muss man sich fragen!) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ich sage aber: Wir brauchen das Bundesamt für Ver- Konkurrenzdenken und Eitelkeiten, wie sie der Untersu- fassungsschutz, gerade weil wir es in Deutschland mit chungsausschuss zum Teil festgestellt hat, müssen end- immer mehr im Untergrund agierenden Organisationen lich passé sein und dürften damit auch passé sein. der verschiedensten Strömungen und Ausprägungen zu tun haben, die wir in den Griff bekommen müssen. Eine Eine zweite zentrale Änderung wird beim Einsatz der Koordinierungsstelle, die lediglich die Aufgabe hat, Un- V-Leute vorgenommen, oder, besser gesagt, der Einsatz terlagen zu sammeln, ohne handlungsfähig zu sein, wird überhaupt erst geregelt; meine Vorredner haben reicht da nicht aus. Transparente Beratung allein wird schon darauf hingewiesen. Im Gegensatz zu meinen nicht genügen. Kolleginnen und Kollegen von den Grünen bin ich für (Beifall des Abg. Burkhard Lischka [SPD]) den Einsatz von V-Leuten. Viele Informationen aus der Szene sind nur durch geheime Quellen, durch Insider Nein, die Lösungen, die Sie hier vorschlagen, führen also, zu erlangen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie wir nach unserer Überzeugung nicht zu einem effektiveren ohne die V-Leute so direkte Einblicke in die Szene be- (B) (D) Verfassungsschutz. Das BfV hat sehr wohl seine Da- kommen sollen. seinsberechtigung. Ja, ich halte es in Deutschland für un- verzichtbar, und ich halte es im Grunde für eine Behörde (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE mit höchster Intelligenz. Schwarz-Weiß-Denken hilft GRÜNEN]: Gehen Sie mal ins Antifa-Mu- uns auch in diesem Bereich nicht weiter. seum! – Gegenruf des Abg. Michael Grosse- Brömer [CDU/CSU]: Lieber nicht!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Aber wie schon erwähnt, der Einsatz muss auf einer Rechtsgrundlage beruhen, und das wird zukünftig auch Aber – das sage ich auch ganz deutlich – das BfV muss so sein. Es muss unmissverständlich klar sein, dass die aus seinen Fehlern lernen und daraus Lehren ziehen. angeworbenen Personen dem Staat dienen und sich dem- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE entsprechend verhalten müssen. Auch wenn es sich im GRÜNEN]: Ja!) ersten Moment vielleicht eigenartig anhören mag, sage ich: V-Personen müssen unter dem Strich innere Sicher- Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, die 47 Emp- heit produzieren, liebe Kolleginnen und Kollegen. fehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses noch in dieser Legislaturperiode umzusetzen. Ich bin der festen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Überzeugung, dass wir uns dahin gehend auf einem sehr guten Weg befinden. Ob und inwieweit die Regelungen zum Einsatz von V-Leuten im Gesetzentwurf ausreichen, das müssen wir (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten jetzt im weiteren parlamentarischen Verfahren sehr ge- der CDU/CSU) nau prüfen. Ich danke Ihnen, Herr Bundesinnenminister Die bereits umgesetzten Handlungsempfehlungen zei- de Maizière, dass Sie bereits heute weitere Gesprächsbe- gen, wie ernst die Große Koalition und wie ernst alle reitschaft angekündigt haben. Ich persönlich hätte mir Abgeordneten, die sich ernsthaft und sachlich mit dieser noch strengere Regelungen zur Einsatzbefugnis von Materie befassen, die Ergebnisse aus dem Abschlussbe- V-Leuten gewünscht. Die Einbindung der G 10-Kom- richt des NSU-Untersuchungsausschusses nehmen. mission halte ich hier nach wie vor für sinnvoll. Einer der wichtigsten Bausteine ist dabei meines Er- Ich wünsche mir mehr Transparenz und einen echten achtens die Reform des Bundesverfassungsschutzgeset- Mentalitätswechsel. Der Schlapphut, liebe Kolleginnen zes. Deshalb begrüße ich ganz ausdrücklich den Gesetz- und Kollegen, muss endlich im Kleiderschrank verstaut entwurf der Bundesregierung zur Verbesserung der werden. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9699

Uli Grötsch (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Aber nicht nur bei der Aufklärung tritt die Bundesregie- (C) der CDU/CSU) rung auf der Stelle. Auch bei den Konsequenzen aus dem NSU-Skandal geht es einfach nicht voran. Deshalb Dazu gehört – auch wenn sich das bei einem Geheim- waren wir alle sehr gespannt auf diese große Verfas- dienst vielleicht etwas eigenartig anhören mag – eine sungsschutzreform, die uns angekündigt wurde. Wir ha- verbesserte Öffentlichkeitsarbeit. Noch wichtiger ist, in- ben ja eigentlich nicht zu hoffen gewagt, dass Sie tat- nerhalb des BfV für mehr Sensibilität und Kommunika- sächlich eine grundsätzliche Zäsur und einen Neustart tion zu sorgen; denn bei den Fehlern rund um den NSU wagen, so wie wir Grüne uns das eigentlich immer vor- handelt es sich ja nicht nur um mangelnden Informa- gestellt haben. Aber ein paar echte Reformanstöße hätte tionsfluss zwischen den Behörden. Auch innerhalb der ich nach all den Erkenntnissen doch schon erwartet. Behörden gab es – man muss es so offen sagen – ein ech- tes Problem der Wahrnehmung von gefährlichen Tätern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in den Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das steht Verfassungsschutz wiederherzustellen, ist die geplante aber nicht in Ihrem Antrag!) Reform natürlich nicht alles. Aber sie ist ein erster wich- tiger Schritt. Ich möchte sagen: Das ist auf diesem Weg Einer Ihrer wichtigsten Punkte ist die Stärkung der ein wahrer Meilenstein, liebe Kolleginnen und Kollegen. Zentralstellenfunktion des Bundesamtes für Verfas- sungsschutz. Was Sie dabei von den Reformen in den (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ländern halten, haben Sie schon deutlich gemacht – das machen Sie auch mit dem Gesetzentwurf allzu deut- Zum Ende meiner Rede möchte ich sagen, dass wir lich –, nämlich gar nichts. Jedenfalls erschließt sich mir die Reformprozesse, die im Bundesamt für Verfassungs- nicht, wie Sie die Länder für Ihren Ansatz gewinnen schutz in den letzten Jahren in Gang gesetzt wurden, wollen. Inhaltlich finde ich es grundsätzlich richtig, dass durchaus zur Kenntnis nehmen; auch das darf hier ein- der Bund versucht, das Handeln aller Verfassungsschutz- mal gesagt werden. Aber sie dürfen nicht ins Stocken ge- ämter, so gut es geht, zu koordinieren; raten. Das muss ein kontinuierlicher Prozess sein, bei dem der Deutsche Bundestag das Bundesamt für Verfas- (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Sehr rich- sungsschutz im Rahmen der parlamentarischen Kon- tig! Sehr richtig! Gut erkannt!) trolle und der Gesetzgebung begleiten muss und auch denn der mangelnde Informationsaustausch war ja eines begleiten wird. Wir Parlamentarier können nur einen ge- der zentralen Probleme beim NSU. Aber wenn ich nun setzlichen Rahmen schaffen, in dem sich das Bundesamt in Gesprächen mit dem Bundesamt für Verfassungs- für Verfassungsschutz dann bewegen muss. Für ein ech- schutz höre, dass zum Beispiel in Sachen V-Leute-Re- tes Umdenken, für einen Mentalitätswechsel im Denken gister – auch einer der Reformschritte – nicht vorgese- (B) und Tun ist das BfV selbst zuständig. Um am Ende (D) hen ist, die Klarnamen der V-Leute zentral zu erfassen, nochmals auf das eingangs erwähnte Zitat von Max um auszuschließen, dass diese in den Ländern oder beim Mannheimer zurückzukommen: Auch das BfV ist vor al- Bund doppelt abkassieren, und dass es bei diesem Regis- lem selbst dafür verantwortlich, dass Derartiges wie in ter eigentlich nur darum geht, Quellenlücken zu schlie- der Vergangenheit in Zukunft nie wieder passiert. ßen, dann muss ich ganz klar feststellen: Ihnen fehlt da- Vielen Dank. bei jegliches Problembewusstsein. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der CDU/CSU) sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Da müssen Sie genauer zuhören!) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Irene Denn das Problem des V-Leute-Einsatzes rund um den Mihalic von Bündnis 90/Die Grünen das Wort. NSU war ja nicht etwa die mangelnde Quellendichte – V-Leute gab es ja reichlich –, sondern, dass dieser völ- Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): lig aus dem Ruder gelaufen ist. Nur, daraus ziehen Sie keinerlei Konsequenzen. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor drei Jahren hat die Bundeskanzlerin den (Beifall der Abg. Kordula Schulz-Asche Familien der NSU-Opfer versprochen, alle zuständigen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Behörden in Bund und Ländern würden mit Hochdruck an der Aufklärung arbeiten. Heute wissen wir, wie dieser Herr Lischka, als Sie sich mit Frau Högl im Januar für Hochdruck aussieht. Fast jeden Tag tauchen neue Fragen eine echte Reform des Verfassungsschutzes ausgespro- und Widersprüche auf, aber nicht etwa weil sie von den chen haben, hatte man noch etwas Anlass zur Hoffnung. Sicherheitsbehörden aufgedeckt wurden, sondern weil Sie haben damals in Ihrem Papier immerhin ein paar sie durch Untersuchungsausschüsse und den unabläs- ganz klare Kriterien für den V-Leute-Einsatz formuliert. sigen Einsatz von zivilgesellschaftlichen Initiativen, Da Sie diese Regierung mittragen, habe ich gehofft, dass Journalisten, Wissenschaftlern und Vertretern der Ne- Sie die Erarbeitung dieses Gesetzentwurfs entsprechend benklage im Münchener NSU-Prozess aufgedeckt wer- beeinflussen werden. Doch offensichtlich hat sich der den. Ihnen allen kann man gar nicht genug danken. Bundesinnenminister für Ihr Papier überhaupt nicht in- teressiert; denn Regelungen für die Einsatzdauer von (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) V-Leuten findet man im Gesetzentwurf zum Beispiel 9700 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015

Irene Mihalic (A) nicht. Kriterien zur Führung von V-Leuten? – Fehlan- tersuchungsausschuss eingesetzt. Bereits als der Aus- (C) zeige! Regeln, die wirksam verhindern, dass schwere schuss tagte bzw. arbeitete, gab es erste gesetzgeberische Straftäter eingesetzt werden? – Fehlanzeige! Denn im Maßnahmen. Entsprechende Stichworte wurden heute in Zweifelsfall entscheidet eben der Behördenleiter, und es der Debatte schon genannt: Errichtung des Gemeinsa- gilt auch nur grundsätzlich. Herr Mayer, auch wenn Sie men Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrums so- hier gebetsmühlenartig wiederholen, wie „grundsätz- wie die Errichtung der gemeinsamen Verbunddatei ge- lich“ zu verstehen ist: Es steht so nicht im Gesetz, und gen Rechtsextremismus. Alle fünf Fraktionen dieses das ist der Fehler. Hohen Hauses haben in der letzten Legislaturperiode – am 23. August 2013 – 50 Handlungsempfehlungen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vorgelegt. Am 2. September 2013 debattierten wir dann sowie bei Abgeordneten der LINKEN) über diese unter den Augen der Angehörigen der Opfer Da muss ich einfach feststellen: Die Bundesregierung des NSU und des Bundespräsidenten. Unser Parlament hat offensichtlich gar nichts aus den Fehlern gelernt, die hat die Handlungsempfehlungen in der 18. Legislaturpe- bei den „Piattos“ und Tino Brandts dieser Welt sowie bei riode am 20. Februar letzten Jahres noch einmal bekräf- anderen V-Leuten gemacht wurden, und nicht verstan- tigt. Der Schlüsselbegriff in der damaligen Debatte war den, dass der Staat dadurch rechtsextreme Strukturen „Änderung der Arbeitskultur unserer Sicherheitsbehör- mindestens mitfinanziert und somit aufgebaut hat. Allen den“. Am 26. Februar 2014 legte die Bundesregierung Kolleginnen und Kollegen hier im Haus, die intensiv an ihren Umsetzungsbericht vor, der an Transparenz und der NSU-Aufklärung mitgearbeitet haben und das noch Klarheit nicht zu überbieten ist. Dieser Umsetzungsbe- heute tun, muss es doch in der Seele wehtun, dass die richt ist wie eine To-do-Liste gegliedert. Er stellt für uns Bundesregierung an diesem Problem so völlig vorbei- ein hervorragendes parlamentarisches Monitoring dar. läuft. Am 5. November letzten Jahres gab es die Debatte zum dritten Jahrestag der Aufdeckung des NSU. Am 14. No- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – vember letzten Jahres wurde der Gesetzentwurf des Jus- Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Ihr Antrag!) tizministeriums – Kollege Mayer hat es angesprochen – Deshalb bitte ich Sie dringend, jetzt im Gesetzgebungs- mit den wesentlichen Änderungen vorgelegt, die wir verfahren nicht lockerzulassen. Lassen Sie sich mit die- vorgenommen hatten. sem Gesetzentwurf nicht abspeisen! Sorgen Sie mit uns Heute findet folgerichtig die Debatte über ein Gesetz gemeinsam dafür, dass eine echte Reform des Verfas- statt, welches die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehör- sungsschutzes auf den Weg gebracht wird. den optimieren wird und klare Standards für ihre Arbeit Vielen Dank. festsetzt. Das nenne ich vorbildliche Parlaments- und (B) Regierungsarbeit. Dies hat nichts mit einem Peitschen (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) durch das Parlament zu tun, sondern das ist Diskutieren und Debattieren, wie es sich für einen Deutschen Bun- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: destag gehört. Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Tankred Schipanski von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Ich kann – genauso wie meine Kollegen – nur dazu aufrufen, dass sich alle Beteiligten bzw. Verantwortli- chen – allen voran auch die in den Ländern – genauso Tankred Schipanski (CDU/CSU): vorbildlich verhalten, wie es Legislative und Exekutive Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! im Bund tun. Der heute vorgelegte Gesetzentwurf be- In der heutigen Debatte befassen wir uns mit der Um- trifft meines Erachtens den Kernbereich – ich möchte sa- setzung der Empfehlungen des NSU-Untersuchungs- gen: das Herzstück – der Aufklärungsarbeit des Untersu- ausschusses. Wir haben den tadellosen Entwurf eines chungsausschusses in der letzten Legislaturperiode. Gesetzes zur Verbesserung der Zusammenarbeit des Ver- fassungsschutzes vor uns liegen. Ich bin ein ganzes Bereits in der Sachverständigenanhörung zur deut- Stück weit entsetzt über die Empörungsrhetorik, die hier schen Sicherheitsarchitektur am 29. März 2012 stellten vonseiten der Grünen und der Linken bei einem so sen- wir uns die Frage, ob es nicht vielmehr eine Unsicher- siblen Thema dargeboten wird. heitsarchitektur ist. Die Sachverständigen zeigten uns Zuständigkeitsvielfalt und Kompetenzkonflikte auf. Sie Meine Damen und Herren, noch nie haben eine Bun- zeigten uns eine Informationskultur und Informations- desregierung und ein Parlament so planvoll und detail- verteilung der Nachrichtendienste auf, welche von einer liert auf Ergebnisse eines Untersuchungsausschusses re- Risiko-, Geheimnis- und Abschottungskultur geprägt agiert und seine Empfehlungen umgesetzt. war. Es ist umso dramatischer, dass sich all das, was in (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE der Theorie bekannt war, dann wirklich bei der NSU- GRÜNEN]: Das glauben Sie doch selbst Verfolgung bestätigt hat. nicht!) Mehr noch: Die Werthebach-Kommission stellte in Lassen Sie mich einmal den Gesamtkontext und die Zei- ihrem Abschlussbericht mit dem Titel „Signale für eine tenfolge in Erinnerung rufen. Am 26. Januar 2012 haben neue Sicherheitsarchitektur“ im Dezember 2010 – also alle fünf Fraktionen dieses Hohen Hauses den NSU-Un- noch vor der Aufdeckung des NSU – fest: Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9701

Tankred Schipanski (A) Eine erfolgreiche Sicherheitspolitik – insbesondere setz für den Bereich der inneren Sicherheit. Das ist für (C) in einem föderal organisierten Staat – setzt eine in- unseren föderalen Staat sehr wichtig und sehr gut. tensive Kooperationsbereitschaft der Sicherheitsbe- hörden voraus. Diese spiegelt sich gerade in Infor- Meine Damen und Herren, umso beunruhigter bin ich mationspflichten auf allen Ebenen wider. Viele von dem – das wurde schon angesprochen –, was in ein- Defizite in der Zusammenarbeit der Behörden ent- zelnen Bundesländern passiert. Einzelne Bundesländer stehen durch unzureichende Information und Ko- leisten keinen Beitrag zur Sicherheitsarchitektur. Sie operation. verstoßen im weitesten Sinne gegen den Grundsatz der Bundestreue und der Amtshilfe. Aus ideologischen Meine Damen und Herren, genau diese Erkenntnisse Gründen werden V-Leute abgeschafft bzw. abgeschaltet. der Werthebach-Kommission aus dem Jahr 2010 und die Somit wird im Freistaat Thüringen die Sicherheit der Erkenntnisse des NSU-Untersuchungsausschusses aus Bürgerinnen und Bürger gefährdet. Thüringen begibt dem Jahr 2013 greift nun der Gesetzentwurf, über den sich in eine Isolation im gesamtdeutschen Sicherheits- wir in erster Lesung beraten, auf. Ich möchte jetzt nicht verbund. Mich entsetzt auch, dass nach zwei Jahren in die juristische Debatte einsteigen. Die juristischen konsensualer Arbeit mit Blick auf die Umsetzung der Feinheiten können Sie – Kollege Ströbele hat das schon Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses die gemacht – in der Gesetzesbegründung nachlesen. Ich Grünen von diesem gemeinsamen Pfad abweichen, sich möchte einfach drei Schlüsselbegriffe herausgreifen. den Linken anschließen und erklären: V-Leute, das ist ganz furchtbar. – Sie wollen im weitesten Sinne sogar § 5 Bundesverfassungsschutzgesetz. Es gibt eine die Sicherheitsorgane abschaffen. Das ist schon sehr klare Zuständigkeitsabgrenzung zwischen den Landes- überraschend. ämtern für Verfassungsschutz und dem Bundesamt für Verfassungsschutz. Wir haben jetzt eine Reservezustän- Wir haben den V-Mann „Piatto“ in dieser Debatte an- digkeit – das wurde angesprochen –, und das BfV wird gesprochen; die Kollegin Pau hat ihn erwähnt. Ich will erstmalig als Zentralstelle bezeichnet, die eine Koordi- einmal anführen, was der Zeuge Meyer-Plath im Unter- nierungsfunktion wahrnehmen kann. Erstmalig be- suchungsausschuss gesagt hat: Im Jahre 1994 gab es in kommt diese Zentralstelle auch eine Unterstützungs- Brandenburg faktisch keine V-Leute. Die in Branden- funktion für die Landesämter als gesetzliche Aufgabe burg vorhandenen Erkenntnisse waren nur Nebenprodukte zugewiesen. Der Kollege von der SPD sagte es bereits: anderer Behörden. Durch den Einsatz von V-Leuten er- Das ist ein Meilenstein. öffneten sich erstmals Einblicke in die extremistischen Strukturen, in Brandenburg, im Bund und international. § 6 Bundesverfassungsschutzgesetz. Dort werden ge- Das Lagebild verbesserte sich. Es war ein Quanten- (B) genseitige Unterrichtungsregeln aufgestellt und zusam- sprung. Ähnliches berichteten auch andere Zeugen. (D) mengefügt. Relevante Informationen müssen nunmehr Durch den Einsatz von V-Leuten wurde man sehend, wo zwischen den Verfassungsschutzbehörden ausgetauscht man vorher blind war. Natürlich war es katastrophal, für werden; das ist verpflichtend. Eine gemeinsame Datei, welchen V-Mann man sich entschieden hat; das ist völlig eine gemeinsame Software von allen Landesämtern und richtig. dem Bundesamt für Verfassungsschutz – der Name fiel Aber warum? Weil man vorher überhaupt keine V- schon –, NADIS, ist unerlässlich und wichtig. Ich habe Leute hatte, war man darauf angewiesen, einen solchen mir das im Landesamt für Verfassungsschutz in Thürin- Mann wie diesen Carsten S. zu nehmen. Das ist nicht gen angesehen. Natürlich wird damit die Analysefähig- richtig. Das jetzt vorliegende Gesetz – wir sollten daran keit des Verfassungsschutzes stark und richtigerweise denken, dass hier eine Ermessensausübung der Behör- ausgebaut. Daher kann man das nur vollumfänglich be- denleitung vorgesehen ist – würde das letztlich ein gan- grüßen. Das ist wiederum ein Meilenstein, von dem die zes Stück weit verhindern. Polizei noch ein ganzes Stück entfernt ist. (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian Die IMK hat 2012 beschlossen, auch für die Polizei Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das einen Informations- und Analyseverbund namens PIAV hat damals auch die Behördenleitung be- einzurichten. Leider Gottes lässt er noch auf sich warten. schlossen in Brandenburg!) Daher lautet meine herzliche Bitte in dieser Debatte, die- ses Verbundsystem entschieden voranzutreiben. Meine Kolleginnen und Kollegen, ich finde die Wort- wahl, die die Grünen und die Linken heute in den Anträ- §§ 9 a und 9 b wurden schon angesprochen. Es geht gen und in der Debatte mit Blick auf die V-Leute wäh- um verdeckte Mitarbeiter und Vertrauensleute, ein wich- len, unangemessen. tiges nachrichtendienstliches Mittel. Hier führen wir zum ersten Mal gesetzliche Mindeststandards ein. Die (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Vorgaben des NSU-Untersuchungsausschusses werden GRÜNEN]: Das sind also Vertrauensperso- faktisch eins zu eins umgesetzt. Hier erhalten sie im Zu- nen?) sammenhang mit V-Leuten sogar Gesetzesrang. In ande- – Nein, nein, Herr Ströbele. ren Bereichen unserer föderalen Ordnung wie dem Bil- dungsbereich sind wir davon noch weit entfernt. Die Ich kann nur sagen: Die Koalition setzt weiterhin die Kultusministerkonferenz diskutiert seit Jahrzehnten 50 Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses Standards, Koordinierung, Zentralstellen und verpflich- eins zu eins um. Wir werden uns der sachlichen, notwen- tende Zusammenarbeit. All das verwirklicht dieses Ge- digen Arbeit weiter stellen und uns durch die von der 9702 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015

Tankred Schipanski (A) Opposition vorgelegten Anträge nicht vom richtigen gendeine Horrormeldung präsentiert bekommt, die vom (C) Weg abbringen lassen. Verfassungsschutz stammt und die niemand mehr verifi- zieren kann, weil man nicht rückfragen kann, man also (Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nicht nachvollziehen kann, was die Quelle ist, dann weiß NEN]: Seit zehn Jahren lassen Sie sich nicht man: Es ist dreimal besser, wenn die Polizei ihre eigene davon abbringen, und jetzt sehen Sie ja, wo Aufklärung betreibt. Das hat mir dann immer weiterge- wir stehen!) holfen; denn ich habe dann die Informationen bekom- Wir stärken die Sicherheitsarchitektur in unserem föde- men, die nötig waren, um eine Einsatzlage zu bewälti- ralen Bundesstaat. Ein herzliches Dankeschön geht an gen. die Innenminister von Bund und Ländern, die auf der In- nenministerkonferenz 2012 faktisch den Grundstein für Nichtsdestotrotz: Was hier jetzt erarbeitet worden ist, dieses Gesetz gelegt haben. Ich freue mich auf die weite- ist Ausfluss und Umsetzung der Folgerungen, die der ren Beratungen im Bundestag. NSU-Untersuchungsausschuss gezogen hat; und das finde ich richtig. Ich kann also keineswegs erkennen, Vielen Dank. warum man die Informationsquelle Verfassungsschutz nun unbedingt abschalten muss oder außer Kraft setzen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sollte. Mit den jetzt vorgesehenen Änderungen lehnt neten der SPD) man sich ja auch ein bisschen an die Regelungen an, die das BKA-Gesetz vorsieht. Wir haben dem BKA in der Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: 16. Legislaturperiode weitreichende Kompetenzen bei Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Wolfgang der Terrorismusbekämpfung eingeräumt, indem es erst- Gunkel von der SPD-Fraktion das Wort. malig ermöglicht wurde, die Ermittlungen der Länder (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zusammenzufassen und zu leiten. Hier geschieht Ähnli- der CDU/CSU) ches, jedoch nur auf dem Informationsweg, also indem Informationen zusammengefasst und über die Länder koordiniert werden. Wolfgang Gunkel (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als letz- Was mich an dem Gesetzesentwurf ein klein wenig ter Redner meiner Fraktion und als später Redner in der stört – Herr Minister, ich würde gerne darüber diskutie- Debatte ist es natürlich unheimlich schwierig, nun nicht ren –, ist die Frage der verdeckten Mitarbeiter, die im alles zu wiederholen, was die Vorredner schon gesagt neuen § 9 a Absatz 1 des Bundesverfassungsschutzge- haben. setzes geregelt werden soll. Die verdeckten Mitarbeiter (B) wären mit den verdeckten Ermittlern der Polizei ver- (D) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE gleichbar. Deren polizeiliche Tätigkeiten sind sehr stark GRÜNEN]: Geben Sie mir die Redezeit! Ich normiert und geregelt, nämlich im Zusammenhang mit kann sie gut gebrauchen!) der Strafverfolgung in § 110 a der Strafprozessordnung, Herr Schipanski, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie auf wo klar festgelegt wird, zu welchem Zwecke verdeckte ein Problem aufmerksam gemacht haben, was die Poli- Ermittler eingesetzt werden sollen und dass Einverneh- zeibehörden anbelangt. Ich als ehemaliger Polizeibeam- men mit der Staatsanwaltschaft herzustellen ist. Das ter habe natürlich großes Interesse daran, dass die Poli- heißt, sie können nicht frei operieren. Als Vollzugsbe- zei nicht gegenüber dem zurücksteht, was andere amte sind sie zusätzlich auch noch an § 163 StPO gebun- Behörden für sich in Anspruch nehmen. den, sie müssen also Strafverfolgung betreiben und dür- fen nicht selbst unbegrenzt Straftaten begehen; es ist Ich glaube aber auch – das hat der Minister in seiner ihnen nicht einmal gestattet, solche zu begehen. An die- Rede sehr schön gesagt –, dass nicht nur der Gesetzes- ser Stelle sieht man ganz deutlich, dass das ein begrenz- text von entscheidender Bedeutung ist, sondern auch, ter Auftrag ist. was die Personen tun, wie sie das ausfüllen und wie das gehandhabt wird. Ich glaube nach wie vor: Der NSU- Was verdeckte Tätigkeiten im Verfassungsschutz be- Skandal basiert in erster Linie auf einem riesigen Kom- deuten, ist mir nicht so ganz klar, insbesondere nicht, wo munikationsproblem beim Gedanken- bzw. Informa- da die Grenzen liegen. Im Urteil des Bundesverfassungs- tionsaustausch zwischen Verfassungsschutz und Polizei. gerichts heißt es, dass eine Trennung zwischen Nach- An dieser Stelle muss ich sagen: Die Bundesrepublik hat richtendienst und Polizei nach wie vor erforderlich ist schon seit Jahren das Problem, dass diese beiden Behör- und auch grundgesetzkonform ist. Die Polizei wäre den sehr häufig durchaus in der Lage, verdeckte Ermittlungen zu erledi- gen, aber man ist an die entsprechenden Regelungen ge- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE bunden; und das wollen wir so beibehalten. Die Vergan- GRÜNEN]: Gegeneinander arbeiten!) genheit hat gezeigt, dass das sonst zu sehr großem nebeneinanderher gearbeitet haben und ihr Verhältnis Behördenballast führt und dass die Befugnisse Einzelner nicht gerade von gegenseitigem Vertrauen geprägt war. dann weit über das hinausgehen, was unsere Rechtsord- Das hat auch seine Gründe, warum das so ist. nung vorsieht. Ich nenne nur ein Beispiel: Wenn man als Polizeibe- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten amter Verantwortung trägt, eine Einsatzbewältigung vor der CDU/CSU und des Abg. Matthias W. sich hat und dann am Freitagnachmittag um 15 Uhr ir- Birkwald [DIE LINKE]) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9703

Wolfgang Gunkel (A) – Danke für den Beifall. (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Aber der (C) Rest ist schlecht, der drinsteht!) Die Begründung des Entwurfs ist aus meiner Sicht ein bisschen verschwurbelt, Herr Schipanski. An der Stelle – Moment, nicht alles. – Aber letztendlich kommen auch würde ich gerne noch einmal nachforschen. Ich kann Sie zu dem Schluss – es erscheint mir ein bisschen sehr nicht erkennen, was im Einzelnen gemeint ist, und das krampfhaft, wie Sie unbedingt dies sagen wollen –: Wir stört mich ein wenig. Ansonsten kann ich den vorliegen- wollen den Verfassungsschutz nicht mehr. Sie wollen den Gesetzentwurf nur unterstützen. stattdessen eine „Inlandsaufklärung“, also eine Stelle, „die Spionageabwehr und die Aufklärung genau be- Kommen wir zu den einzelnen Punkten. Die Links- stimmter gewaltgeneigter Bestrebungen“ leisten soll. partei, die sonst relativ gute Vorschläge macht Nun weiß ich nicht, was „genau bestimmte gewaltge- ( [SPD], an Die Linke ge- neigte Bestrebungen“ sind. Sie sollten einmal genauer wandt: Relativ!) erklären, was man darunter verstehen soll. Im Wesentli- chen ist das, etwas abgespeckt, auch eine Tätigkeit, die – ich habe mir die Punkte aufgeschrieben, damit ich sie man im Prinzip mit Aufklärung und nachrichtendienstli- zitieren kann –, fordert die Umwandlung des BfV in eine cher Gewinnung in Zusammenhang bringen kann; es „Koordinierungsstelle zur Dokumentation gruppenbezo- wird nur etwas anders genannt. gener Menschenfeindlichkeit“, die aber keine Ermittlun- gen führen oder sich irgendwo Informationen besorgen Wir als Regierungskoalition können also beiden An- darf. Sie darf im Grunde nichts machen. Wir hätten dann trägen nicht zustimmen. Der Gesetzentwurf der Bundes- noch mehr beamtete Zeitungsleser; davon haben wir regierung ist, unter Berücksichtigung der Ausnahmen, aber schon genug. die ich genannt habe, meiner Ansicht nach im Großen und Ganzen gelungen. Der Minister hat angedeutet, dass (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE darüber noch diskutiert werden kann. Ich hoffe, dass wir GRÜNEN]: Das sind die Verfassungsschützer den einen oder anderen Punkt noch einarbeiten können. häufig aber auch!) Ein letzter Punkt, den ich noch ansprechen möchte, Ich glaube, jeder Lagedienst kann diese Aufgabe über- sind die sogenannten V-Leute. Jeder weiß – die Landes- nehmen und die Ergebnisse entsprechend auswerten. gesetze geben es her –, dass auch die Polizei Vertrauens- Des Weiteren fordern Sie eine Bundesstiftung zur Be- leute einsetzt. Ich befürchte, dass sich dann, wenn solche obachtung und Erforschung gruppenbezogener Men- Einsätze im Übermaß gefördert werden, die V-Leute von schenfeindlichkeit. Damit schaffen Sie eine weitere Be- Polizei und Verfassungsschutz gegenseitig umrennen. hörde, die parallel zu der gerade genannten arbeitet. Man müsste schon dafür Sorge tragen, dass die eine Be- (B) (D) Diese könnte letzten Endes keinerlei Informationen lie- hörde von der anderen Behörde weiß, was jeweils die fern, die für die konkrete Arbeit der Verfassungsschutz- andere im Einzelnen beabsichtigt. Man kann in der Tat ämter und vor allen Dingen der Polizei, die ja nach wie auf die V-Leute nicht verzichten, aber es darf zu keiner vor Strafverfolgungsbehörde ist, wichtig wären. Das Doppelbelegung kommen und erst recht nicht dazu, dass Ganze ist also, wie ich glaube, sehr abgehoben, und hat die Arbeit der einen Behörde die Arbeit der anderen nur im Sinn, den Begriff Verfassungsschutz zurückzu- praktisch aufhebt. Ich denke, dass man diesen Punkt be- drängen. achten sollte. Von daher: Information und Kommunika- tion sind eigentlich alles. Die Menschen, die in diesem In Thüringen bricht nun nicht gleich die Welt zusam- Bereich arbeiten, sollten eigentlich die Leistungsträger men, weil Sie dort ein paar V-Leute abschalten, aber ich bei der Terrorismusbekämpfung sein. halte das nicht für richtig. Die Zukunft wird zeigen, wie sich das Ganze entwickelt. Da meine Zeit abläuft, möchte ich es dabei belassen. (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Schlecht! ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sehr schlecht!) NEN]: Nur die Redezeit!) – Das muss man abwarten. Ich will nicht vorwegneh- Ich hoffe, dass die Gesetze, die demnächst beschlossen men, was da passiert. werden, zu dem Ergebnis führen, das wir alle uns erhof- fen. (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Ich lebe da!) Schönen Dank. Vielleicht machen sie es ja indirekt auf andere Art und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Weise, etwa so wie das die Grünen formuliert haben. der CDU/CSU) Die Grünen haben in ihrem Antrag sehr gute Anhalts- punkte herausgearbeitet, die ich durchaus teilen kann. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Die Redezeit war abgelaufen, aber nicht deine Zeit, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) lieber Wolfgang. Ich möchte insbesondere einen Aspekt aus Ihrem Antrag (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Genau!) aufgreifen: Die beste Voraussetzung für Terrorbekämp- fung ist eine gut ausgebildete und ausgestattete Polizei. – Hans-Christian Ströbele spricht als nächster Redner Diesbezüglich haben Sie meine volle Zustimmung. für Bündnis 90/Die Grünen. 9704 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015

(A) Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE (Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) GRÜNEN): NEN]: 800 000! – Dr. Konstantin von Notz Danke, Frau Präsidentin. – Herr Minister, es stimmt, [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Staatsknete!) dass wir uns in der letzten Legislaturperiode in diesem Hause einig waren, dass man die Neonazis, die National- Wäre das durch so ein Gesetz verhindert worden? Nein! sozialisten, und zwar nicht nur die im Untergrund, be- – Gegen Tino Brandt liefen 35 strafrechtliche Ermitt- kämpfen muss. Wir hatten uns auch vorgenommen, vie- lungsverfahren, von denen nicht ein einziges zu einem les gemeinsam zu machen. Diesen Weg verlassen Sie Prozess, geschweige denn zu einer Verurteilung geführt jetzt, indem Sie hier einen Gesetzentwurf vorlegen, mit hat. Würde das jetzt anders sein? Nein! dem Sie, sofern Sie überhaupt etwas regeln, nur Regeln, Mit diesem Gesetz schaffen Sie quasi eine gesetzliche die es bisher in Form von Verwaltungsvorschriften gab Grundlage, um V-Leute, die während ihrer Einsatzzeit oder die in Übung waren, ins Gesetz schreiben. als V-Leute Straftaten begehen, dafür nicht strafrechtlich (Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zur Rechenschaft zu ziehen. Sie geben dem Staatsanwalt NEN]: So ist es!) die Möglichkeit, das Verfahren einzustellen. Was bisher halblegal, im Verborgenen passiert ist, stellen Sie jetzt Damit werden diese Regeln aber nicht besser. Damit ver- auf eine gesetzliche Grundlage. hindern Sie so schreckliche Straftaten wie die, die hier zehn Jahre lang verübt worden sind, nicht. Nehmen Sie „Piatto“. „Piatto“ war nicht nur ein we- gen eines grauenhaften Mordversuches Verurteilter. Er Vielleicht muss ich erst einmal mit dem Begriff auf- ist trotzdem nicht nur angeworben worden, sondern ihm räumen: Vertrauensleute sind nicht Leute, die Vertrauen wurde auch noch die Möglichkeit gegeben, aus dem Ge- verdienen. Sie haben gesagt, man müsse keine Sympa- fängnis in Brandenburg heraus Neonazi-Zeitschriften thie für diese Leute empfinden. Kollege Lischka hat ge- wie Der Weiße Wolf herauszugeben. Als die Gefängnis- sagt, das müssen keine sympathischen Leute sein. Aus leitung eingeschritten ist, hat der Verfassungsschutz ge- den Reihen der SPD wurde dann aber sogar gesagt, man sagt: Unser Mann muss weiterarbeiten können, solle den V-Leuten die Sicherheit in diesem Staate an- vertrauen. (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das hat doch mit dem Gesetz nichts zu tun!) (Burkhard Lischka [SPD]: Was?) den holen wir weiter täglich mit dem Dienstwagen ab Darf ich Sie darauf hinweisen, dass es sich bei diesen und fahren ihn zum nächsten Neonazi-Treff. V-Leuten, um die es hier geht, die diese schrecklichen Verbrechen mit möglich gemacht haben – auch das Ver- (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das hat mit (B) sagen bei der Führung dieser V-Leute hat daran natürlich dem Gesetz nicht das Geringste zu tun!) (D) Anteil –, um Rechtsextreme, Rassisten, Neonazis und bekennende Nationalsozialisten gehandelt hat? Ich will Wäre so etwas ausgeschlossen, wenn Ihr Gesetz in Kraft doch die Sicherheit in diesem Land nicht solchen Leuten tritt? anvertrauen. Wo kämen wir denn da hin? (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Aber (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN selbstverständlich!) und bei der LINKEN) Das wäre doch nicht ausgeschlossen, Herr Minister. Wie Sie dürfen ebenfalls nicht übersehen – das konnte man soll dieses Gesetz dagegen helfen? sogar im Fernsehen sehen –, dass Leute wie „Piatto“, Tino (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das ist eine Brandt oder „Corelli“ nicht nur irgendwelche Informa- Frage der Ermessensausübung der Verwal- tionen geliefert haben, sondern bei Demonstrationen und tung!) Kundgebungen auch die führenden Einpeitscher der Neonazis gewesen sind. Man konnte sehen, wie sie sich – Das ist keine Ermessensausübung, am Mikrofon aufgespielt und Leute aufgehetzt haben. Und denen wollen Sie die Sicherheit in diesem Lande (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Natürlich! anvertrauen? Das ist ein unmöglicher Gedankengang. Abwägung!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sondern das ist die Ideologie, die dahintersteht: und bei der LINKEN) (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das ist Ihre Jetzt komme ich zu den einzelnen Punkten. Hätte es Ideologie!) geholfen, wenn das, was Sie jetzt vorgelegt haben, schon dass die Verfassungsschutzbehörden der Meinung sind, damals Gesetz gewesen wäre? sie stünden außerhalb des Gesetzes und sie könnten ma- (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Ja! – Ge- chen, was sie wollen, Hauptsache, die Quelle sprudelt. genruf der Abg. Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/ Und denen ist völlig egal, welche Quelle da sprudelt. DIE GRÜNEN]: Nein!) Es kann nicht Aufgabe des Gesetzgebers sein, so et- Tino Brandt – er ist ja jetzt wieder in Haft genommen was zu ermöglichen. Deshalb kann man diesen Gesetz- worden – hat sich gerühmt, dass er die vielen Hundert- entwurf nur ablehnen. Er hilft nämlich überhaupt tausend Euro für die Organisation, für den Thüringer nicht gegen die Missstände, gegen die wir gemeinsam Heimatschutz eingesetzt hat. mit einschränkenden Gesetzen vorgehen wollten. Das Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9705

Hans-Christian Ströbele (A) vorliegende Gesetz ist aber kein einschränkendes Ge- Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU): (C) setz, das dieses Versagen in Zukunft verhindern würde. Logo; dafür sind wir ja hier. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Deshalb sind wir dagegen. Gut. Ich kann nur dringend an Sie appellieren: Packen Sie das, was Sie uns hier vorgelegt haben, wieder ein, und Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE treten Sie in vernünftige Diskussionen ein! Wir haben GRÜNEN): das ja eine ganze Legislaturperiode lang nach dem Motto „Dafür sind wir hier“, sehr gut! Da Sie, Herr Schuster, praktiziert: Die Gemeinsamkeit der Demokraten muss Ihr Manuskript gerade sowieso umgedreht haben, ist es sich auch in Gesprächen über das, was man in Zukunft nett, dass Sie meine Frage zulassen. – Bitte sagen Sie macht, niederschlagen und entsprechend artikuliert wer- einmal anhand von folgendem Beispiel etwas zu dem den. Das ist in dem von Ihnen vorgelegten Law-and-Or- Thema – Beispiele werden ja oft bemüht –: Nehmen wir der-Gesetz, das völlig daneben ist, nicht der Fall. an, es kommt jemand zurück, der in Syrien schwere (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Straftaten begangen, der, um das einmal zuzuspitzen, und bei der LINKEN) enthauptet hat. Kann es allen Ernstes sein, dass der deut- sche Staat mit solchen Leuten zusammenarbeitet? Kann es allen Ernstes sein, dass wir hier qua Gesetz legalisie- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: ren, dass solche Leute vom Staat Geld bekommen Als letzter Redner in dieser Debatte hat Armin Schuster von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dass sie unsere Sicherheit herstel- (Beifall bei der CDU/CSU) len sollen!) und wir mit diesen Straftätern zusammenarbeiten? Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU): Herren! Herr Ströbele, es ist der Debatte – das haben viele gesagt – nicht angemessen, wenn Sie hier von ei- Der Gesetzentwurf regelt ja, dass wir grundsätzlich nem Law-and-Order-Gesetz sprechen. Ich glaube, wir mit solchen Leuten nicht zusammenarbeiten. sollten uns bei allen Unterschieden zwischen den Anträ- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE gen und unserem Gesetzentwurf bewusst machen, dass (B) GRÜNEN]: Was? – Dr. Konstantin von Notz (D) heute wieder einmal ein extrem positives Signal aus dem [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Grundsätz- Plenarsaal des Deutschen Bundestages ins Land ausge- lich“, darum geht es ja!) sendet wird. Das heißt auch – ich bin nicht Jurist, aber das weiß auch (Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ich –: Ausnahmen sind möglich. NEN]: Kommt das noch?) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Die Mitglieder des NSU-Untersuchungsausschusses GRÜNEN]: Steht sogar in der Begründung!) haben im September 2013 hier ein dickes Papier abge- liefert, und wir lassen Taten folgen – bei aller Unter- Es sind eng begrenzte Ausnahmen. Ich habe Vertrauen in schiedlichkeit unserer Ideen. Aber wichtig ist: Dieser die Menschen – im Gegensatz zu Ihnen; Sie versuchen NSU-Untersuchungsausschuss hat dazu geführt, dass das immer durch Regeln herzustellen. wir in Deutschland Schritt für Schritt Reformen vorneh- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE men, und auf diesem Weg ist der heute vorliegende Ge- GRÜNEN]: Zehn Jahre wurde das Vertrauen setzentwurf – das haben schon viele vor mir gesagt – ein missbraucht!) großer Meilenstein. Ich habe ein großes Vertrauen auch in Menschen, die Drehen Sie uns bitte nicht das Wort im Mund herum. einmal Fehler gemacht haben. Ihre moralingeschwän- Niemand – nicht der Minister und auch sonst niemand – gerte Verurteilung des gesamten BfV geht mir einfach zu hat behauptet, dass die V-Leute für die Sicherheit in weit. Deutschland verantwortlich wären. Das ist nicht fair. (Beifall bei der CDU/CSU – Irene Mihalic (Widerspruch des Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieso regeln [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Sie es denn nicht?) Jetzt drehe ich einmal mein ganzes Manuskript um Ich habe Vertrauen, dass ein BfV-Präsident in der Lage und fange mit den V-Leuten an – Dr. Hahn ist jetzt ge- ist, in so einem Fall eine Güterabwägung vorzunehmen. rade leider nicht da –: Es ist auch ein bisschen unfair – – Herr Dr. Hahn, Sie sind PKGr-Vorsitzender. Es war unfair, Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Herr Kollege Schuster, Sie sehen, dass der Wunsch (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Was war un- nach einer Zwischenfrage besteht. fair?) 9706 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015

Armin Schuster (Weil am Rhein) (A) hier zu sagen, Sie hätten noch nie ein Beispiel für die stunde einem Fragesteller – mag dieser noch so hochmö- (C) Sinnhaftigkeit eines V-Leute-Einsatzes gehört. gend sein – darauf antworten darf. (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Ich habe den (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Minister zitiert!) GRÜNEN]: Wieso denn?) – Der Minister kann Ihnen diese Frage nicht beantwor- Das darf er nicht. Ich bin Gott dankbar, dass er es nicht ten; Sie wissen doch, dass er darüber schweigen muss. getan hat. Wo kämen wir denn hin, wenn wir jetzt im (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Ach! deutschen Parlament die V-Leute-Einsätze besprechen Quatsch!) würden? Das wissen Sie ganz genau. Sie haben in dieser Woche im PKGr live gehört – jetzt (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Es ging um bewege ich mich dicht an der Grenze –, dass ein V-Mann verhinderte Dinge!) zu weit über 20 hochgradigen Verurteilungen echter Ter- – Wenn Sie nicht aufhören, unfair zu sein, dann rede ich rorgefährder beigetragen hat. Aber hier tun Sie so, als ob jetzt gleich noch viel schlimmer über Sie. es das nicht gäbe. (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Ob Verbre- CDU/CSU – Lachen bei Abgeordneten der chen verhindert wurden, habe ich gefragt!) LINKEN) Meine Damen und Herren, es gibt handfeste Belege Meine Damen und Herren, vom heute vorgelegten für die Wirkung von V-Leuten, über die wir hier leider Gesetzentwurf geht ein deutliches Signal aus, aber wir oder Gott sei Dank nicht sprechen dürfen. Aber dass Sie brauchen nicht nur Aktivitäten im Bund, sondern auch in verunglimpfen, dass mit diesen Leuten gearbeitet wird, den Ländern. Alleine schaffen wir das nicht. Im Fall des ist ein Stück weit unfaire Verhandlungsführung. Das NSU-Terrors wären tiefere Einsichten in dem einen oder muss ich Ihnen sagen. anderen Land hilfreich. Deshalb ist es nur zu begrüßen, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dass Sachsen, Thüringen, Bayern, Nordrhein-Westfalen, neten der SPD) Hessen und endlich auch Baden-Württemberg in eigenen Untersuchungsausschüssen weiter aufklären. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Herr Dr. von Notz, Herr Schuster, auch Herr Hahn möchte eine Zwi- schenfrage stellen. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja?) (B) (D) Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU): es ist mir völlig schleierhaft, wieso Sie sich hier hinstel- Herr Dr. Hahn. len und mit extremer Hybris über uns herziehen, wäh- rend man eine grün-rote Landesregierung in Baden- Dr. André Hahn (DIE LINKE): Württemberg zum Jagen tragen musste. Anfangs hatte Sehr geehrter Herr Kollege Schuster, würden Sie bitte man dort doch überhaupt keine Lust, diesen Fall aufzu- zur Kenntnis nehmen, dass ich den Minister in der Fra- klären. gestunde gefragt habe, ob er mir konkrete Beispiele für (Beifall bei der CDU/CSU) Verbrechen, die durch V-Leute, auch durch V-Leute, die strafbar geworden sind, verhindert worden sind, nennen Entschuldigen Sie bitte, aber würde ich Ihre Rede jetzt kann? Er hat keinen Fall nennen können. Das hat nichts nach Baden-Württemberg schicken, müsste Herr mit dem PKGr zu tun. Kretschmann knallrot werden; denn das trifft alles auf ihn zu, aber nicht auf uns. Wir haben aufgeklärt. Er hat (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE monatelang bestritten, dass das überhaupt notwendig sei, GRÜNEN]: Er hat nicht aus dem PKGr be- und stolpert jetzt von einer Krise in die nächste. richtet! Anders als Sie!) (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Im vorliegenden Fall ging es um Mitgliedschaften – das GRÜNEN]: Es geht darum, was wir hier ma- kann man ja sagen – in terroristischen Strukturen oder chen! – Weiterer Zuruf der Abg. Irene Mihalic verbotenen Organisationen. Das war etwas anderes als [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) das, was ich gefragt habe. Die Frage nach konkreter Tä- tigkeit von V-Leuten und der Verhinderung von Verbre- Ich will Ihnen einmal eines sagen – ich beruhige mich chen hat der Minister nicht beantworten können, und das wieder –: Das, was in Baden-Württemberg abläuft, zeigt habe ich in meiner Rede kritisiert. uns, dass es durchaus eine interessante Idee sein kann, über einen NSU-Untersuchungsausschuss 2.0 im Bund nachzudenken. Es gibt jedenfalls genügend Kollegen, Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU): die dieser Meinung sind. Darüber müssen wir weiter dis- Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie das noch einmal klar- kutieren. stellen. Vielleicht auch für die Zuschauer: PKGr heißt Parlamentarisches Kontrollgremium. Herr Dr. Hahn ist Meine Damen und Herren, die Innenminister arbeiten im Moment der ehrenwerte Vorsitzende und weiß des- schon seit der letzten Wahlperiode intensiv an dem halb wahrscheinlich am besten in diesem Parlament, Schritt-für-Schritt-Konzept. Wir wollen alles wahrma- dass der Minister zu keiner Gelegenheit in einer Frage- chen, was wir in den Katalog geschrieben haben. Wir Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9707

Armin Schuster (Weil am Rhein) (A) schütten aber nicht das Kind mit dem Bade aus. Liebe (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Den Innen- (C) Kolleginnen und Kollegen von den Linken und von den ausschuss? Nein!) Grünen, unsere Sicherheitsbehörden zu reformieren heißt – jedenfalls wenn man regiert –: Diesen Vorschlag habe ich noch gar nicht gehört: Das hat nicht funktioniert, also lösen wir die auf. – Meine (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Damen und Herren, das ist doch nicht die Lösung. GRÜNEN]: Reformen zu machen!) Wenn man Ihrem Vorschlag bzw. Ihrer Therapie kon- Wir müssen unter akuter Terrorbedrohung für dieses sequent folgen würde, dann müsste man sagen: Weg mit Land und mit extrem hohen Belastungen der Sicherheits- allen! – Das tun wir nicht. Man merkt, ich bin nachsich- behörden, quasi unter vollen Segeln aller Behörden, tig mit Ihnen. Sie haben ja – Gott sei Dank – noch nie ein Innenministerium in diesem Land geleitet; (Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Wer trägt denn seit zehn Jahren Verant- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Warten wortung dafür, dass die unter vollen Segeln ar- Sie einmal ab!) beiten müssen?) deswegen üben wir Nachsicht. Eigentlich müsste man die Reformschritte vollziehen, die wir im NSU-Untersu- Ihre Anträge als Sicherheitsrisiko bezeichnen; aber das chungsausschuss empfohlen haben. Das ist eine ganz tue ich natürlich nicht. schwierige Aufgabe. Sie ist aber garantiert nicht dadurch (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- zu meistern, dass ich da jetzt etwas auflöse, hier Stiftun- ordneten der SPD – Lachen des Abg. gen schaffe und dort radikale Reformvorschläge mache. Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Das Land braucht jetzt funktionierende Sicherheitsbe- GRÜNEN]) hörden. Meine Damen und Herren, bei der Verfassungsschutz- Uns gelingt es, in vernünftigen Schritten und in einer reform geht es um zwei Aspekte – eigentlich um drei, sinnvollen Dosis zu reformieren. Ich denke an das Terro- aber den dritten bekommen wir noch nicht hin –: Es rismusabwehrzentrum und an die Rechtsextremismusda- muss besser kommuniziert werden, es muss vernetzter tei. Ich danke dem Justizminister für ein umfangreiches kommuniziert werden, und es muss koordiniert werden. Gesetzespaket, in dem er die Empfehlungen des NSU- Untersuchungsausschusses umgesetzt hat. Heute danke (Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ich dem Bundesinnenminister für vier klare und wichtige NEN]: Das waren doch schon drei!) Schritte – das alles sind Empfehlungen des NSU-Unter- Und – das muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen –: Wenn (B) suchungsausschusses –: Zentralstellenfunktion des Bun- man den NSU-Fall betrachtet und Kriminaldirektor (D) desamtes stärken, Informationsfluss verbessern, die Geier aus Bayern, dem Leiter der BAO, folgt, dann hätte Analysefähigkeit von NADIS ausbauen sowie den Ein- es auch einer einheitlichen Führung bedurft. Wir haben satz von V-Leuten klarer regeln. Wir haben immer ge- in unserem Empfehlungskatalog aber nie gesagt, dass sagt: Nicht das Ob, sondern das Wie muss geregelt wer- der Bund das tun soll – das muss man den Ländern viel- den. leicht noch einmal zurufen –, sondern wir haben gesagt: (Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- In Ausnahmelagen wie Terrorserien, in solchen Fällen, NEN]: Selbst das schaffen Sie nicht!) in denen unsere föderale Struktur den Tätern in die Hände spielt oder in denen sie von ihnen gar bewusst ge- Das können Sie auch im Empfehlungskatalog nachlesen. nutzt wird, müssen wir eine zentrale Führung gewähr- leisten. Wir haben auch gesagt: Sichergestellt werden (Beifall bei der CDU/CSU) soll dies entweder durch ein Land – das hätte im NSU- Fall Bayern sein können; das hätte auf der Hand gele- Ihrem Befund, Kolleginnen und Kollegen von Grünen gen – oder durch den Bund, aber bitte einheitlich. und Linken, kann ich folgen. Ich glaube nicht – da bin ich ganz ehrlich –, dass un- (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE ser föderales System ins Wanken gerät, wenn wir in ex- GRÜNEN]: Na immerhin!) tremen Ausnahmelagen wie im Fall von Terror die Füh- Wir waren uns ja einig: Es gab strukturelle Defizite, rung in eine Hand legen. Wenn ich an die Ereignisse in Missstände, Versagen, allzu häufig kleinliches Kompe- Paris, Brüssel, Kopenhagen, Dresden, Braunschweig tenzgerangel; manchmal meine ich, dass mir, wenn ich und Bremen denke – führen Sie sich die Kommunika- die Innenminister der Länder höre, da etwas im Ohr klin- tionsprobleme, die es bei den Ereignissen in Braun- gelt. Aber wir hatten diese Defizite bei allen Beteiligten: schweig gab, mal vor Augen; das geschah ja an einem bei Staatsanwaltschaften, bei Gerichten, bei der Polizei, Wochenende; um Gottes willen! –, glaube ich nicht, dass beim Verfassungsschutz; der Verweis auf die Verfassung und die Polizeihoheit der Länder bei unseren Diskussionen der Weisheit letzter (Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Schluss sein kann. NEN]: Völlig richtig!) Wir brauchen überregionale Verfahren für hochflexi- nicht einmal den Innenausschuss des Deutschen Bundes- ble Ermittlungsgruppen über Ländergrenzen hinweg. tages hat dieser Fall jemals erreicht. Wollen Sie die ei- Damit will ich nicht im Ansatz das föderale System an- gentlich alle auflösen? tasten; ich will es für Ausnahmesituationen krisenfest 9708 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015

Armin Schuster (Weil am Rhein) (A) machen. Ich will Tätern nicht die Chance geben, uns Ich rufe jetzt den nächsten Tagesordnungspunkt auf (C) vorzuführen, nur weil 16 Länder Verfassungsschutz und – das ist der Tagesordnungspunkt 26 – sowie den Zu- Polizei organisieren, wovon ich in Wirklichkeit ein gro- satzpunkt 7: ßer Anhänger bin. Deshalb widerspreche ich den aktuel- 26 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ len Aussagen einiger Landesinnenminister, da ich sie für CSU und SPD grenzwertig halte – Zitat –: Die NVV-Überprüfungskonferenz zum Er- Die Gefahrenabwehr in einem föderalen System ist folg führen Sache der Länder … Drucksache 18/4685 Dass eine Bundesbehörde … eingreife oder gar den Einsatz übernehme, sei „völlig unvorstellbar“. ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge Höger, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weite- Ich nenne den Namen und die Partei des Betreffenden rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE nicht. Die europäische Sicherheitsstruktur retten – Für mich war im Untersuchungsausschuss oft einiges Übereinkommen in Gefahr unvorstellbar. Dabei ging es aber nicht darum, dass in diesem Land eigenartig geführt wird. Wo sind wir denn? Drucksache 18/4681 (Beifall des Abg. Tankred Schipanski [CDU/ Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für CSU]) diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. Gibt es dazu Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so Deshalb, meine Damen und Herren, empfehle ich vor al- beschlossen, und wir können mit der Aussprache begin- len Dingen den Nicht-NSU-Tatortländern, sich endlich nen; die Kollegen sitzen auch bereits. einmal mit diesem Fall zu beschäftigen und ihre eigene Leistungsfähigkeit an dem zu spiegeln, was wir dort Als erste Rednerin in dieser Debatte hat die Kollegin festgestellt haben. Ute Finckh-Krämer von der SPD-Fraktion das Wort. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf gehen wir in die (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Richtung – das ist für mich ein großer Schritt –, uns mit den Ländern enger abzustimmen, notfalls auch ohne de- Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD): ren Einverständnis. Ich weiß, das ärgert die. Allerdings Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol- ist dieser Kompromiss auf einmalige Art und Weise zu- legen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer oben auf den stande gekommen. Ich habe an der Besprechung mit Tribünen! Anlass der heutigen Debatte ist die Überprü- (B) (D) dem Bundesinnenminister, zu der auch die Länder einge- fungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag, die am laden waren, teilgenommen. Ich fand, das war sehr ko- Montag beginnt und alle fünf Jahre stattfindet. operativ. Vor fünf Jahren gab es im Deutschen Bundestag einen Ein Landesinnenminister sagte vor einer Woche – Zi- fraktionsübergreifenden Antrag. Leider ist es diesmal tat –: „Das ist eine Aushebelung des Föderalismus“. nicht gelungen, wieder einen fraktionsübergreifenden Nein, das ist es nicht. Wer dem Föderalismus eine Zu- Antrag zustande zu bringen. Ich möchte ausdrücklich kunft geben will, der darf ihn nicht einmauern, sondern betonen, dass das nicht an den Kolleginnen und Kolle- muss ihn weiterentwickeln und krisenfest machen, gen aus dem Unterausschuss Abrüstung liegt. meine Damen und Herren. Ich glaube, wir dürfen des- halb dem Bundesinnenminister für all die Kämpfe, die er Die SPD wollte gerne konventionelle und nukleare mit den Länderkollegen geführt hat, danken. Ich sehe Rüstungskontrolle und Abrüstung gemeinsam betrach- noch die von diesem Fall Betroffenen vor mir, die im ten, auch über die Themen hinaus, die voraussichtlich September 2013 oben auf der Tribüne gesessen haben. bei der NVV-Überprüfungskonferenz behandelt werden. Wir haben ihnen zugerufen: Wir versprechen euch, dass Das wurde leider von den Verantwortlichen in der Union wir Wort halten. – Durch das, was der Minister vorgelegt abgelehnt. hat, können wir Wort halten. Dafür bedanke ich mich, Nun hat interessanterweise die Deep Cuts Commis- und ich freue mich auf die Beratungen. sion, die aus Wissenschaftlern aus Deutschland, aus (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Russland und aus den USA besteht, in ihrem zweiten neten der SPD) Bericht, den sie rechtzeitig zur Überprüfungskonferenz vorgelegt hat, genau das vorgeschlagen: die eskalieren- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: den Konflikte in Europa und konventionelle und nu- kleare Abrüstung und Rüstungskontrolle gemeinsam zu Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich betrachten. Dass der Leiter der Münchener Sicherheits- die Aussprache. konferenz, Wolfgang Ischinger, genau diesen Ansatz in Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen seinem Vorwort zu diesem Bericht der Deep Cuts auf den Drucksachen 18/4654, 18/710, 18/4682 und 18/4690 Commission für richtig und wichtig erklärt, zeigt, dass an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse die Arbeit der Deep Cuts Commission auch für die klas- vorgeschlagen. Ich frage Sie: Sind Sie damit einverstan- sischen Sicherheitspolitiker in Deutschland interessant den? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so ist. Ischinger verweist darauf, dass die Beobachtungs- beschlossen. flüge, die im Rahmen des Open-Skies-Vertrages, also Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9709

Dr. Ute Finckh-Krämer (A) unter dem OSZE-Regime, gemacht werden, in der schaftlerinnen und Wissenschaftler Vorschläge zu nu- (C) Ukraine-Krise einen wichtigen Beitrag zur Deeskalation klearer Rüstungskontrolle und Abrüstung erarbeiten. geleistet haben, was für uns wichtig werden wird, wenn Die Verhandlungen um das iranische Nuklearpro- wir in den Haushaltsberatungen über die Beschaffung ei- gramm zeigen, was geduldige und hartnäckige diploma- ner deutschen Open-Skies-Plattform diskutieren werden. tische Bemühungen bewirken können. Wir können stolz Das Problem, vor dem wir mit der Überprüfungskon- darauf sein, dass neben den fünf offiziellen Atommäch- ferenz zum Nichtverbreitungsvertrag stehen, ist, dass ten auch Deutschland daran beteiligt war und ist. sich seit dem Inkrafttreten des New-START-Vertrages Wenn – wie in den letzten Jahren – Konflikte eskalie- am 5. Februar 2011 im Bereich der nuklearen Abrüstung ren, werden Rüstungskontrolle und Abrüstung nicht nicht viel getan hat. Allerdings ist – und das ist gut und überflüssig, sondern – im Gegenteil – notwendiger als richtig so – eine Debatte um die humanitären Konse- zuvor. Das ist eine der Lehren, die Politikerinnen und quenzen des Einsatzes von Atomwaffen in Gang gekom- Politiker in aller Welt aus dem Kalten Krieg gezogen ha- men, eine erneute Debatte; denn wir wissen seit dem Ab- ben. Ich hoffe, dass auf der Überprüfungskonferenz die- wurf von Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, jenigen Gehör finden, die sich im Sinne von Alexander wie katastrophal die Konsequenzen eines Atomwaffen- Kmentt als Realpolitiker erweisen, also konstruktive einsatzes sind. Vorschläge machen, wie wir dem Ziel einer Welt ohne Alexander Kmentt, der Leiter der Abteilung für Ab- Atomwaffen näherkommen können. rüstung, Rüstungskontrolle und Non-Proliferation im ös- Ich bitte daher um Zustimmung zum gemeinsamen terreichischen Außenministerium, formuliert daher zu Antrag der SPD und der Union. Ich bin aber dafür, dass Recht – ich zitiere –: wir den Antrag der Linken ablehnen, der sich sehr viel Die Schlussfolgerungen des humanitären Diskurses stärker mit dem befasst, was von Politikern und Diplo- sollten zu einer tiefgreifenden Überprüfung der Ab- maten in letzter Zeit an unsinnigen Forderungen aufge- schreckungstheorie führen. Die Annahme über den stellt worden ist, als mit dem, was konstruktiv zum Er- Sicherheitsgewinn, den die Existenz von Atomwaf- folg der Überprüfungskonferenz beitragen kann. fen mit sich zu bringen behauptet, kann angesichts Danke schön. der Erkenntnisse über die schwerwiegenderen Aus- wirkungen und größeren Risiken kaum aufrechter- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) halten werden. Das Beharren auf Nuklearwaffen ist ein letztlich unverantwortliches Glücksspiel, das Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: auf einer Illusion von Sicherheit aufbaut. Das Ver- Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Inge Höger (B) (D) trauen der „Abschreckungs-Realisten“ auf diese von der Linken das Wort. Illusion ist daher die eigentliche „Utopie“, während ein klarer Fokus auf Prävention und nukleare Ab- (Beifall bei der LINKEN) rüstung als die einzig nachhaltige und „realpoli- tisch“ vernünftige Konklusion gelten muss. Inge Höger (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 70 Jahre Die Ungeduld der Staaten, die auf ihrem Territorium nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Na- keine Atomwaffen dulden, wächst daher zu Recht und gasaki gelingt es immer noch nicht, diese schrecklichen ebenso die Ungeduld internationaler Organisationen wie Massenvernichtungswaffen endlich abzuschaffen. Das der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von liegt in erster Linie an den fünf offiziellen Atommäch- Atomwaffen – ICAN –, der International Physicians for ten. Es liegt an den USA, Russland, Frankreich, Großbri- the Prevention of Nuclear War – IPPNW –, der Mayors tannien und China, die an ihren Bomben festhalten. Es for Peace, aber auch des Internationalen Komitees vom liegt auch an den inoffiziellen Atomwaffenstaaten, die Roten Kreuz, die sich intensiv mit den Risiken des er- durch den Besitz dieser Bomben ihren Einfluss in der neuten nuklearen Wettrüstens auseinandersetzen, oder Welt vergrößern wollen. auch der Global-Zero-Bewegung, die von hochrangigen Politikern und Diplomaten aufgrund ihrer Erfahrungen Es ist bezeichnend, dass die Koalitionsfraktionen in aus dem Kalten Krieg mit initiiert wurde. ihrem Antrag eine gemeinsame europäische Position einfordern. De facto bedeutet das nichts anderes, als dass Ich möchte an dieser Stelle daher all denen danken, man sich der Abrüstungsverweigerung der Regierungen die sich in diesen und vielen weiteren Organisationen Frankreichs und Großbritanniens anschließt. Da macht meist ehrenamtlich für eine Welt ohne Atomwaffen en- die Linke nicht mit, gagieren. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- und wir sind uns da mit den Friedensbewegungen in NISSES 90/DIE GRÜNEN) Frankreich und England einig. Nun ist es leicht, von diesem Pult aus den mangeln- Ihr Engagement und ihre Fachkunde sind unverzichtbar den Abrüstungswillen anderer Staaten zu kritisieren. für alle, die sich in Regierungen und Parlamenten für nu- Doch Abrüstung beginnt vor der eigenen Haustür. kleare Rüstungskontrolle und Abrüstung einsetzen. Ebenso möchte ich denjenigen danken, die als Wissen- (Beifall bei der LINKEN) 9710 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015

Inge Höger (A) Union und SPD erzählen in ihrem Antrag viel über gierung wünschen. Für einige Staaten – das wissen Sie (C) Deutschlands Anstrengungen für Abrüstung, Rüstungs- alle – hängt der Fortbestand des Atomwaffensperrvertra- kontrolle und andere hehre Ziele. Doch wenn es konkret ges von Fortschritten bei diesem Thema ab. Es wird bei wird, ist davon überhaupt nichts mehr zu sehen. Immer der Überprüfungskonferenz in New York von zentraler noch lagern in Büchel 20 US-Atomsprengköpfe. Sie ha- Bedeutung sein, ob es im Nahen und Mittleren Osten zu ben jeweils eine Sprengkraft von 20 Hiroshima-Bom- einer atomwaffenfreien Zone kommt. ben. Anstatt sie endlich zu vernichten, werden sie in den Ein echtes Zeichen für Deeskalation und Abrüstung kommenden Jahren modernisiert, um sie leichter ein- ist es, wenn Sie gleich für den Antrag der Fraktion Die satzfähig zu machen. Für den Ernstfall hält die Bundes- Linke stimmen. wehr Tornado-Flugzeuge vor, die Atomwaffen transpor- tieren und abwerfen können. Bundeswehrsoldaten (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das werden eigens für den Zweck eines Atomkrieges ausge- wird nichts!) bildet. Wir bleiben dabei: Atomwaffen gehören auf den Müll- Solange die Bundesregierung auf diese Art und Weise haufen der Geschichte. Es wäre wünschenswert, wenn den USA Beihilfe zu einem potenziellen Atomkrieg leis- die New Yorker Konferenz in den nächsten Wochen ei- tet, so lange bleiben Ihre rhetorischen Anstrengungen, nen Schritt in diese Richtung macht. die Sie hier oder in New York ableisten, pure Heuchelei. Sorgen Sie endlich dafür, dass alle Atomwaffen aus Vielen Dank. Deutschland abgezogen werden! (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Sylvia Kotting- Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächster Redner hat Dr. Andreas Nick von der In den Feststellungen des Koalitionsantrages singen CDU/CSU-Fraktion das Wort. Sie das schon oft gehörte Lied von den Bösen und den Guten – und natürlich von der ganz besonders guten (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Bundesregierung, die sich überall in der Welt fleißig für neten der SPD) Abrüstung einsetzt. Dass davon wenig zu halten ist, habe ich eben skizziert. Dr. Andreas Nick (CDU/CSU): Aber auch Ihre Geschichte von den bösen Russen und Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! der guten NATO fällt typischerweise sehr einseitig aus. Vor fast genau 70 Jahren, im August 1945, beendete der Zur Eskalation gehören immer zwei Seiten. Bitte verges- erstmalige Einsatz von Atomwaffen in Hiroshima und (B) (D) sen Sie nicht, dass die NATO durch ihre Osterweiterung Nagasaki auch in Asien den Zweiten Weltkrieg. Hunder- und aktuell durch die Stationierung von Truppen im Bal- tausende Menschen starben; viele leiden teilweise bis tikum maßgeblich zur gespannten Situation in Osteuropa heute unter den Folgen. Vier Jahre später zündete auch beiträgt. die Sowjetunion ihre erste Atombombe. Den Antrag der Koalitionsfraktionen lehnen wir ab. Das Gleichgewicht des Schreckens der folgenden Frieden und Abrüstung erreicht man nur durch konkrete 40 Jahre zwischen den beiden atomaren Supermächten, Abrüstungsschritte. der nukleare Friede, beruhte letztlich auf der glaubhaften Androhung wechselseitiger Vernichtung, der Mutual As- Es ist schon interessant: CDU/CSU und SPD weisen sured Destruction, deren Kürzel „MAD“ wohl nicht zu- in ihrem Antrag darauf hin, dass die Ukraine 1994 nur fällig dem englischen Wort für „verrückt“ entspricht. gegen die Garantie ihrer territorialen Integrität auf ihre Atomwaffen verzichtet hat. Spätestens mit der Kuba-Krise 1962 wurde deutlich, wie nah sich die Welt am Abgrund einer atomaren Ver- ( [SPD]: Auf die territoriale Integrität nichtung bewegte. Die Atommächte trugen damit eine scheinen Sie ja nicht viel Wert zu legen!) besondere Verantwortung. Trotz aller Gegensätze war – Ich lege großen Wert darauf. – Ich kann mich noch gut ein hohes Maß an Berechenbarkeit und Vertrauensbil- erinnern, dass das Geschrei groß war, als Kriegsgegne- dung auf beiden Seiten gefordert. In der Folge – nicht rinnen und Kriegsgegner 1998 anmerkten, die NATO zuletzt der Kuba-Krise – kam es 1968 dann zum Ab- würde Belgrad vielleicht nicht bombardieren, wenn schluss des Vertrages über die Nichtverbreitung von Jugoslawien Atombomben hätte. So ändern sich die Zei- Kernwaffen mit drei zentralen Pfeilern: ten. Erstens. Die Zahl der Nuklearmächte sollte weltweit Auf eines ist allerdings Verlass: Die Linke lehnt jeden nicht weiter ansteigen und auf die fünf ständigen Mit- Völkerrechtsbruch ab und setzt sich auch weiterhin für glieder des UN-Sicherheitsrates begrenzt bleiben. die Abschaffung aller Atomwaffen ein. Zweitens. Im Gegenzug wurde den atomwaffenfreien (Beifall bei der LINKEN) Staaten das uneingeschränkte Recht auf friedliche Nut- zung der Kernenergie eingeräumt. Es freut mich, dass die Koalition die massenvernich- tungswaffenfreie Zone im Nahen Osten voranbringen Drittens. Die Atommächte selbst verpflichteten sich, will. Aber auch hier würde ich mir statt der bisherigen Verhandlungen mit dem Ziel einer vollständigen nuklea- Sprechblasen ein beherztes Handeln von der Bundesre- ren Abrüstung zu führen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9711

Dr. Andreas Nick (A) Die Abrüstungsverträge über nukleare Mittelstreckenra- wir dafür ausdrücklich unseren Dank aussprechen. Wenn (C) keten INF und über strategische Trägersysteme START damit der Anreiz zu einem nuklearen Wettlauf in der Re- waren wichtige Meilensteine in der Beendigung des Kal- gion erheblich gesenkt werden kann, wäre dies ein wich- ten Krieges. tiger Schritt zu der vorgeschlagenen Errichtung einer massenvernichtungswaffenfreien Zone im Mittleren Os- Heute stehen wir vor neuen Herausforderungen. In ei- ten. Zusammen mit unseren Partnern in der EU und der ner multipolaren Welt mit einer Vielzahl von Akteuren Nichtverbreitungs- und Abrüstungsinitiative NPDI wer- ist die Gefahr regionaler nuklearer Rüstungswettläufe den wir auf die baldige Umsetzung hinarbeiten. deutlich angestiegen. Inzwischen gibt es mindestens vier zusätzliche Staaten, die über Atomwaffen verfügen. Ins- Die Vereinbarungen von Lausanne zeigen aber auch besondere der indische Subkontinent mit den beiden ri- die zentrale Bedeutung der internationalen Atomenergie- valisierenden Atommächten Indien und Pakistan, aber behörde IAEO bei der Überwachung der zivilen Nut- auch Ostasien mit Nordkorea und nicht zuletzt der Mitt- zung der Kernenergie. Dabei geht es gar nicht nur um lere Osten bergen ein großes Konflikt- und Eskalations- die Nichtverbreitung von Atomwaffen, sondern insbe- potenzial. sondere auch um die Überwachung des Verbleibs spalt- baren Materials; denn es muss uns klar sein: Auch eine Mit der Verfügbarkeit sogenannter taktischer Nu- mit nuklearem Material versetzte sogenannte schmutzige klearwaffen droht eine Absenkung der Einsatzschwelle Bombe könnte in den Händen von Terroristen oder ande- mit der Gefahr, dass ein vermeintlich begrenzter nuklea- ren nichtstaatlichen Akteuren verheerende Folgen ha- rer Krieg führbar erscheinen könnte. Umso bedenklicher ben. ist, dass mit Russland auch eine der Atommächte in jüngster Zeit seine substrategischen Nuklearwaffen mo- Meine Damen und Herren, die von Nuklearwaffen dernisiert und Drohungen mit nuklearen Waffen offenbar ausgehenden Bedrohungen für den Fortbestand der wieder Teil der russischen Außenpolitik zu werden Menschheit sind weiterhin gewaltig. Eine weltweite scheinen. vollständige nukleare Abrüstung, das auch von Präsident Obama eingeforderte Global Zero, muss deshalb unser Vor allem aber ist die Entwicklung in der Ukraine ein langfristiges Ziel bleiben. massiver Rückschlag für das Ziel der Nichtverbreitung von Kernwaffen. Im Gegenzug zur Abgabe der früheren Der Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaf- sowjetischen Atomwaffen war der Ukraine im Budapes- fen ist dafür ein wichtiger Meilenstein der internationa- ter Memorandum von 1994 die Achtung ihrer territoria- len Ordnung. Gemeinsam mit unseren Partnern wird sich len Integrität sowie die Wahrung ihrer politischen und Deutschland daher aktiv für einen positiven Abschluss wirtschaftlichen Unabhängigkeit zugesichert worden, der Überprüfungskonferenz im kommenden Mai einset- (B) auch unmittelbar durch Russland. Mit der völkerrechts- zen. (D) widrigen Annexion der Krim und dem militärischen Vor- gehen im Osten der Ukraine hat Russland diese Verein- Vielen Dank. barung in eklatanter Weise verletzt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Meine Damen und Herren, wenn aber internationale neten der SPD) Vereinbarungen wie das Budapester Memorandum kei- nen verlässlichen Bestand mehr haben, dann ist doch Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: kaum zu erwarten, dass künftig noch irgendein Staat auf Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Agnieszka der Welt freiwillig auf den einmal erreichten Besitz von Brugger von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Atomwaffen verzichten wird. Im Gegenteil: Wenn sich Wort. der Eindruck weiter verstärkt, nur dies würde sie in die Lage versetzen, ihre staatliche Souveränität und territo- Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- riale Integrität dauerhaft zu sichern, dann werden insbe- NEN): sondere kleinere Staaten mehr und mehr versucht sein, Kontrolle über Atomwaffen zu erlangen. Nuklearwaffen Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In vier wären quasi die ultimative Währung nationaler Souverä- Tagen beginnt die Überprüfungskonferenz zum Nicht- nität. verbreitungsvertrag. Es ist das wichtigste Regime in der internationalen Abrüstungspolitik. Die Verhandlungen Dies verdeutlicht einmal mehr: Nukleare Abrüstung stehen leider unter keinem guten Stern, und die Erwar- und Nichtverbreitung von Kernwaffen können nicht iso- tungen sind mehr als bescheiden. Man hofft darauf, dass liert erreicht werden, sondern nur, wenn sie in eine ver- man das, was man vor fünf Jahren erreicht hat, noch ein- lässliche globale Friedensordnung und in ein robustes mal festschreiben kann und dass es überhaupt zu einer System regionaler Sicherheitsstrukturen eingebettet Einigung kommt. sind. Liebe Kollegin Höger, ich meine, man kann an die- Es gibt aber auch ermutigende Entwicklungen. Dazu sem Koalitionsantrag zu Recht viel kritisieren, aber die gehört zweifelsohne, dass nach langjährigen Bemühun- Forderung, dass sich die EU mit Blick auf diese so wich- gen in Lausanne eine Einigung über die Eckpunkte einer tige Konferenz um eine gemeinsame Position bemühen Vereinbarung im Hinblick auf das iranische Atompro- solle, ist richtig und unterstützenswert. Ich finde, es wäre gramm erzielt werden konnte, nicht zuletzt auch durch ein Drama, wenn die Europäische Union in dieser wich- den beharrlichen Einsatz unserer Bundesregierung, der tigen Frage keine einheitliche Haltung hätte. Das wäre 9712 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015

Agnieszka Brugger (A) ein großer Rückschritt für die internationale Abrüstungs- Initiative: In dem von Ihnen vorgelegten Antrag findet (C) politik. sich diese Forderung nicht mehr. Sie haben sich damit offensichtlich von diesem Ziel verabschiedet. Das ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN völlig falsch. und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wenn man zu dem Ergebnis kommt, dass sich die in- Ihr Antrag wirft uns damit um Jahre zurück. Ich kann ternationalen Rahmenbedingungen für Abrüstung in den auch nicht verstehen, wie eine Partei wie die SPD, die letzten Jahren – gerade im Zusammenhang mit der den Anspruch an sich hat, Friedens- und Abrüstungspar- Ukraine-Krise – verschlechtert haben, dann sollte man tei zu sein, so etwas unterstützt. Das ist mir wirklich nicht so darauf reagieren wie die Bundesregierung und schleierhaft. nur lethargisch die Achseln zucken. Genau das machen Ebenso schleierhaft ist mir auch, warum der Kollege Sie von der Koalition mit Ihrem Antrag. Vielmehr sollte Carsten Müller aus der Union in der letzten Debatte zu man sagen: Gerade weil die Lage so schlecht ist, muss unserem grünen Antrag vom „sicheren Schoß der nu- man Ausschau halten, wo es neue Ideen und Initiativen klearen Teilhabe der NATO“ gesprochen hat. Das ist in gibt und wo neue Dynamik entsteht. doppelter Hinsicht Humbug: Diese Waffen haben keinen Es gibt beispielsweise, aus der Zivilgesellschaft ange- militärischen Zweck, und Atomwaffen bzw. Massenver- stoßen, die Humanitäre Initiative, die die fatalen ökolo- nichtungswaffen machen die Welt nicht sicherer. Nur gischen, aber auch humanitären Folgen eines Atomwaf- Abrüstung bringt am Ende des Tages mehr Frieden und feneinsatzes kritisiert. Mittlerweile sind 155 Staaten Sicherheit für alle. dieser wichtigen Initiative beigetreten, die viel Dynamik (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und Hoffnung in die Debatte gebracht hat. Deutschland war aber mit Verweis auf seine NATO-Mitgliedschaft Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, bisher nicht dazu bereit. es wäre besser gewesen, wenn Ihre ideenlose und mut- lose Initiative den Bundestag nicht erreicht hätte. Denn Sie, Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, for- sie revidiert eine zentrale Position und bringt uns keinen dern jetzt in Ihrem Antrag, dass Deutschland sich weiter Schritt weiter in der Forderung nach einem Deutschland, an den Diskussionen beteiligen soll. Kleiner geht es das frei ist von Atomwaffen. Wer so wenig Engagement wohl nicht mehr. in dieser Frage zeigt, kann sich zwar den Erfolg der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag sowie bei Abgeordneten der LINKEN) wünschen. Er muss sich aber auch fragen lassen, was er (B) selbst dazu beigetragen hat. (D) Wie weitere konkrete Ideen aussehen könnten und was Deutschland selbst tun könnte, um neue Bewegung in Wir Grüne werden weiter dafür streiten, dass das Thema hineinzubringen, haben wir schon vor Wo- Deutschland der Humanitären Initiative beitritt und sich chen in unserem grünen Antrag deutlich aufgezeigt. Es für die weltweite Ächtung der Atomwaffen einsetzt und wäre gut gewesen, wenn Sie ihn noch einmal gelesen dass die Atomwaffen aus Deutschland abgezogen wer- und sich ein bisschen daraus bedient hätten. Denn Ihre den. Wir werden auch weiter gegen einen gefährlichen lustlose und ideenlose Haltung zur Humanitären Initia- Modernisierungskurs bei diesen Massenvernichtungs- tive ist nur ein Beispiel, warum Ihr Antrag wenig über- waffen streiten. zeugend ist. Vielen Dank. Ihr Antrag bedeutet auch einen Rückschritt. Vor fünf (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Jahren hat sich der gesamte Bundestag nach langen Ver- handlungen auf eine gemeinsame Position verständigen können. Es war ein sehr wichtiges Zeichen, das von die- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: sem Parlament aus auch bis in die Verhandlungen der Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Wolfgang Überprüfungskonferenz hineingestrahlt hat, was interna- Hellmich von der SPD-Fraktion das Wort. tional sehr breit wahrgenommen wurde. Wir waren zu (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Verhandlungen bereit. Es gab auch erste Gespräche. Sie der CDU/CSU) sind ausgestiegen. Ich finde das parteipolitisch kleinka- riert. Das ist die Arroganz dieser Großen Koalition. Wolfgang Hellmich (SPD): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, Sie hätten noch einmal den alten, guten Antrag lesen dass der Bundestag in vielen Debatten immer wieder die sollen. Wir haben uns damals auf die Forderung geei- gemeinsame Position deutlich gemacht hat: Wir wollen nigt, dass die 20 US-amerikanischen Atombomben, die eine Welt ohne Atomwaffen. Ich denke, diese Aussage sich derzeit noch in Büchel in Rheinland-Pfalz befinden, eint uns. abgezogen werden sollen. Ein atomwaffenfreies Deutsch- land ist doch ein wichtiges Ziel, gerade wenn man auf in- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ternationaler Ebene glaubwürdig für nukleare Abrüstung der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE streiten will. Das ist, finde ich, das Schlimmste an Ihrer GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9713

Wolfgang Hellmich (A) Wir waren in dieser Frage schon einmal wesentlich Stück weit weiterzukommen. Sie setzt sich dafür ein, die (C) weiter. Ich denke an das Jahr 2010, in dem dieser Bun- Finanzierung der Internationalen Atomenergie-Organi- destag einen gemeinsamen Beschluss – ich glaube, da- sation so zu gestalten, dass sie auch als Verifikationsor- mals ohne die Linken – gefasst hat, in dem eine gemein- gan gestärkt wird. Sie bemüht sich – das ist ein wesentli- same Position für die Überprüfungskonferenz formuliert cher Punkt –, den NVV nicht isoliert zu betrachten, wurde. Das hat die Konferenz im Jahr 2010 vorange- sondern ihn in andere Abrüstungs- und Vertragssysteme bracht. einzubeziehen, den Atomteststoppvertrag CTBT weiter- zuentwickeln und weitere Unterzeichner für diesen Ver- Wir sollten uns darum bemühen, dass wir durch einen trag zu gewinnen. gemeinsamen Beschluss dieses Parlaments auch zu der jetzt anstehenden Konferenz Ideen einbringen und dem Wir müssen in der Tat zu einem gemeinsamen euro- Prozess einen Schub verleihen, damit die Konferenz, die päischen Standpunkt kommen. Ich denke, im Kern der in der Tat – mehrere haben es hier beschrieben – unter europäischen Strategie, die zu formulieren ist, wird auch einem nicht gerade guten Stern steht – sie steht vielmehr die Frage der atomaren Abrüstung und der Weiterent- unter einem schlechten Stern; ich erinnere an die ver- wicklung der Abrüstungsregime eine zentrale Rolle spie- schärfte internationale Lage –, trotzdem zu guten Ergeb- len müssen. Auch in dieser Hinsicht bemüht sich die nissen in einem Abschlussdokument kommt, die die Bundesregierung, die Diskussion weiterzubringen. Be- Konferenz weiterbringen und die das System von Abrüs- richte liegen auf dem Tisch. Ich denke, das ist ein Punkt, tungsverträgen als Kern einer weltweiten Friedensord- wo die Bundesregierung unter Beweis stellt, dass sie nung am Leben erhalten bzw. weiterbringen. sich aktiv dafür einsetzt, dass es zu weniger atomarer Rüstung kommt. Wir leben in einem Jubiläumsjahr. Es ist daran erin- nert worden: Vor 70 Jahren gab es den ersten Abwurf Es gibt aber einen Zusammenhang, den wir sehen und von Atombomben, vor 100 Jahren die erste Anwendung den wir diskutieren müssen. Wir können den NVV und von Giftgas im Ersten Weltkrieg. Wir leben in einem andere Verträge nicht losgelöst von der konventionellen Jahr, in dem viele schreckliche Ereignisse ihren Jahres- Rüstung sehen. Wenn in der Militärdoktrin der Russi- tag haben. Wir können in diesem Jahr aber auch deutlich schen Föderation steht, Russland behalte sich das Recht machen: Ohne internationale Verträge und ohne das ge- vor, als Antwort auf den Einsatz von Atomwaffen oder meinsame Formulieren gleicher Ziele, ohne den Willen, anderen Massenvernichtungswaffen gegen sie und/oder zu Abrüstungsschritten zu kommen, werden wir aus der ihre Verbündeten sowie bei einer Aggression gegen die Rüstungsdynamik nicht herauskommen. Wir müssen Russische Föderation unter Einsatz konventioneller eine Dynamik hin zu mehr Abrüstung erreichen. In die- Waffen Atomwaffen einzusetzen, dann sieht man den sem Zusammenhang spielt die Überprüfungskonferenz Zusammenhang zwischen dieser Strategie und den (B) (D) eine wichtige Rolle. Es müssen dort Schritte vereinbart Atomwaffen. werden, damit der gemeinsame Wille zur Abrüstung deutlich wird. Ich komme zum Schluss: Die Fortsetzung des KSE- Prozesses, die Aufnahme weiterer Gespräche, die Be- Die Kernaufgabe liegt bei den Großen in dieser Welt, kräftigung der im Koalitionsvertrag vereinbarten Platt- bei denjenigen, die entscheidend über die Frage von form zur Rüstungskontrolle im Rahmen des Wiener Do- Atomwaffen verhandeln. Von denen erwarten viele Staa- kumentes – das sind die richtigen Signale. Damit leisten ten gerade im Zuge der Konferenz, dass man bei den wir auf der europäischen Ebene die Beiträge, die wir Verhandlungen weiterkommt. Das betrifft auch die Ver- dringend brauchen. handlungen über den Abzug von Atomwaffen aus Europa. Das ist keine unilaterale Veranstaltung, sondern Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Stimmen das ist eine bilaterale Frage, die in den Verhandlungen Sie bitte diesem Antrag zu. Ich fordere alle, die in New zwischen Russland und den USA geklärt werden muss. York bei den Diskussionen dabei sein werden, auf, dies Das muss im Mittelpunkt der Gespräche auch dieser aktiv zu vertreten. Konferenz stehen, damit klar ist, wo die Verantwortung Vielen Dank. liegt. Es geht auch darum, den Staaten, die auch Unter- zeichner des NVV sind und die keine Atomwaffen ha- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ben, aber vielleicht danach streben, deutlich zu machen, der CDU/CSU) dass wir auf dem Weg zur Abrüstung atomarer Waffen klare und deutliche Fortschritte erzielen wollen. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Dr. Hans- der CDU/CSU) Peter Uhl von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. Es ist richtig: Gespräche über atomwaffenfreie Zonen (Beifall bei der CDU/CSU) im Nahen Osten und in anderen Regionen der Welt zu führen, muss auch das Bestreben der Bundesregierung Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU): sein. Wenn ich die Gespräche, auch die Beratungen im Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Unterausschuss, richtig verstanden habe, ist es nicht so, Kollegen! Am kommenden Montag kommen die Teil- dass unsere Regierung die Hände in den Schoß legt; viel- nehmer zur neunten Überprüfungskonferenz zum Atom- mehr bemüht sie sich in vielen Gesprächen und auf vie- waffensperrvertrag in New York zusammen. Die Bilanz len internationalen Konferenzen, in dieser Frage ein ist aus heutiger Sicht durchwachsen. Die letzte Überprü- 9714 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015

Dr. Hans-Peter Uhl (A) fungskonferenz im Jahr 2010 sendete noch positive Si- das allen voran das Nichtverbreitungsregime. Durch (C) gnale aus. Erstmals seit 2000 konnte man sich wieder seine klaren Prinzipien, Normen, Regeln und Verfahren auf ein Abschlussdokument verständigen. Zudem wurde hat der NVV die Spielregeln zwischen den Staaten mit ein Aktionsplan verabschiedet. Die Vorbereitungen für Blick auf Erwerb und Entwicklung von Kernwaffen so- diese Konferenz im Jahr 2015 zeigen jedoch: Trotz der wie die zivile Nutzung von Nukleartechnologie unmiss- positiven Signale aus dem Jahr 2010 ist es nicht zu einer verständlich festgelegt. Für mich steht fest, dass er in stärkeren Annäherung der Teilnehmer gekommen. Bei den letzten 45 Jahren unsere Welt sicherer gemacht und vielen Themen liegen die Positionen diametral auseinan- erheblich zu mehr Vertrauen zwischen den Staaten bei- der. getragen hat. Die aktuelle weltpolitische Lage belastet die Konfe- Beachtliche 190 Staaten haben das Vertragswerk mitt- renz in der Tat zusätzlich. Die Annexion der Krim durch lerweile unterzeichnet. Lediglich Indien, Israel, Pakistan Russland bedeutet einen schweren Rückschlag für den und Südsudan sind keine Mitglieder, und Nordkorea Bereich der nuklearen Abrüstung. Russland verletzt mit zähle ich nicht mehr dazu. Iran gehörte hingegen zu den der Annexion das Völkerrecht. Das wird allgemein so ersten Unterzeichnerstaaten im Jahr 1968. gesehen. Insbesondere aber der Bruch des Budapester Memorandums von 1994 ist ein schwerer Schlag. In die- In wenigen Tagen beginnt die Überprüfungskonferenz sem Memorandum wurden der Ukraine die Unabhängig- zu diesem sogenannten Atomwaffensperrvertrag, und es keit und die politische Integrität garantiert. Im Gegenzug liegt an uns, dass wir uns für ein erfolgreiches Gelingen verpflichtete sich Kiew, dem Atomwaffensperrvertrag einsetzen; denn es bestehen weiterhin große Herausfor- beizutreten und die Rückführung aller Atomwaffen nach derungen, bis wir die Global Zero, also eine Welt ohne Russland durchzuführen. Russlands Vertragsbruch ist fa- Atomwaffen, erreichen. So verfügen heute Indien, Pakis- tal. Sein Verhalten ist kontraproduktiv für die weltweiten tan und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Nordkorea Bemühungen, eine neue Dynamik nuklearer Aufrüstung über Atomwaffen. zu vermeiden. Hinzu kommt, dass Moskau in jüngster Neben dem Problem der Weiterverbreitung ist auch Zeit seine Nuklearwaffen nicht abrüstet, sondern moder- das Thema „Abrüstung bei Kernwaffenstaaten“ nach wie nisiert und deren Einsatzschwelle absenkt. Drohungen vor aktuell. Immerhin ist die Zahl der weltweit statio- mit nuklearen Mitteln gehören wieder zur russischen nierten Atomsprengköpfe in den letzten fünf Jahren um Rhetorik. mehr als ein Viertel gesunken: von 22 000 auf 16 000. Umso erfreulicher sind die positiven Signale aus Lau- Aber erstens sind das natürlich immer noch viel zu viele sanne von Anfang April. Die Verhandlungen zu einem Sprengköpfe, und zweitens arbeiten die Atomwaffen- staaten nach wie vor an der Modernisierung ihrer Nukle- (B) geordneten Atomprogramm mit dem Iran sind auf einem (D) guten Weg. Die Verständigung über Eckpunkte ist auch arsysteme, allen voran Russland. Gerade mit Blick auf dem unermüdlichen Einsatz des deutschen Außenminis- die unverhohlenen Drohungen mit dem Einsatz nuklea- ters Frank-Walter Steinmeier zu verdanken, und das rer Mittel durch Russland kann ich die Putin-Versteher sollte hier erwähnt werden. Alle Unterstützung muss nun einmal weniger verstehen. Wer sich über sämtliche Be- einem erfolgreichen Verhandlungsabschluss mit dem stimmungen des Völkerrechts hinwegsetzt, ist nicht im Iran bis zum Sommer gelten. 21. Jahrhundert angekommen. Der Atomwaffensperrvertrag ist als Stabilitätsanker (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- heute wichtiger denn je. Deutschland ist bereit, mehr au- neten der SPD – Dagmar Ziegler [SPD]: Ja- ßenpolitische Verantwortung zu übernehmen. Dazu ge- wohl, recht hat sie!) hört auch, dass wir international weiterhin eine wichtige und aktive Rolle bei Abrüstung und Nichtverbreitung Da manche Staaten zur Sicherung ihres Überlebens nach von Atomwaffen einnehmen. Deshalb muss die deutsche wie vor auf Realpolitik der alten Schule setzen wie Auf- Delegation ihr ganzes diplomatisches Verhandlungsge- rüstung und Expansion, bleibt die Bemühung um inter- schick nutzen, um trotz schwieriger Bedingungen ver- nationale Regeldurchsetzung gerade in dem hochsen- nünftige Abrüstungsvereinbarungen zu erreichen. siblen Bereich der Kernwaffen für mich so aktuell wie vor 45 Jahren. Ich bedanke mich. Jetzt steht die nächste Überprüfungskonferenz zum (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- NVV an. Wir von der schwarz-roten Koalition nehmen neten der SPD) dies zum Anlass, die Bundesregierung aufzufordern, verstärkte Anstrengungen zu unternehmen, damit eine Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: neue Dynamik nuklearer Aufrüstung und eine Weiter- Vielen Dank. – Als letzte Rednerin in dieser Debatte verbreitung von Atomwaffen vermieden werden. hat Dr. Katja Leikert, ebenfalls von der CDU/CSU-Frak- Es wäre jetzt natürlich leicht, angesichts dieser globa- tion, das Wort. len Dimension zu sagen: Die Herausforderungen sind zu groß. Man sollte die Erwartungen an die Überprüfungs- Dr. Katja Leikert (CDU/CSU): konferenz so niedrig wie möglich hängen. – Da ist es na- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und türlich wie immer im Leben: Wenn man keine Erwartun- Kollegen! Wenn es ein internationales Rüstungskontroll- gen hat, dann kann man auch nicht enttäuscht werden. regime gibt, für das wir uns starkmachen sollten, dann ist So einfach können wir uns das nicht machen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9715

Dr. Katja Leikert (A) (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das ist Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: (C) eine tolle Logik!) Vielen Dank. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, da- mit schließe ich die Aussprache. Bei allen Schwächen eines internationalen Regimes gibt es auch sehr viel Positives. Iran ist das beste Bei- Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den An- spiel. Ich bin überzeugt davon, dass überhaupt nur durch trag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Druck- die offenen Kommunikationskanäle, die das NV-Regime sache 18/4685 mit dem Titel „Die NVV-Überprüfungs- bietet, der aktuelle Verhandlungserfolg erzielt werden konferenz zum Erfolg führen“. Wer stimmt für diesen konnte. Natürlich waren wir alle skeptisch. Ich denke je- Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – doch, dass angesichts der Verhandlungen Optimismus Damit ist dieser Antrag mit den Stimmen der Koalition nun umso mehr begründet ist. gegen die Stimmen der Opposition angenommen wor- den. Dank der auch von deutscher Seite so engagiert ge- Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag führten Verhandlungen ist der Weg Irans zur Atom- der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/4681 mit dem bombe nun langfristig ausgeschlossen. Teheran ver- Titel „Die europäische Sicherheitsstruktur retten – Über- pflichtet sich ganz konkret, in den kommenden zehn einkommen in Gefahr“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Jahren mehr als zwei Drittel der bestehenden Urananrei- Wer stimmt dagegen? – Damit ist dieser Antrag mit den cherungskapazitäten stillzulegen. Über 95 Prozent des Stimmen der Koalition und von Bündnis 90/Die Grünen bereits angereicherten Urans sollen entweder verdünnt gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt oder außer Landes gebracht werden. Was die kommen- worden. den Jahre angeht, so sollen die Anreicherung und For- schung ausschließlich zu zivilen Zwecken und nur in en- Damit ist dieser Tagesordnungspunkt abgeschlossen. gen Grenzen erlaubt sein – bei engmaschigen Kontrollen Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 27: durch die IAEO. Beratung des Antrags der Abgeordneten Der Hebel, mit dem die E3+3 den Durchbruch bei den Elisabeth Scharfenberg, Kordula Schulz-Asche, Nuklearverhandlungen erzielt haben, sind ganz klar die Maria Klein-Schmeink, weiterer Abgeordneter wirtschaftlichen Anreize. Dazu werden die Sanktionen und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schrittweise gelockert. Wir sehen also ein ganz realpoli- tisches Geben und Nehmen. Vielleicht ist das auch eine Gute Versorgung am Lebensende sichern – Blaupause für all diejenigen Staaten, die bisher dem Palliativ- und Hospizversorgung stärken NVV noch nicht viel abgewinnen konnten. Drucksache 18/4563 (B) Überweisungsvorschlag: (D) Was wir aus den E3+3-Verhandlungen ebenfalls mit- Ausschuss für Gesundheit (f) nehmen können: Deutschland kommt seiner internatio- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz nalen Verantwortung als westlicher Nichtnuklearwaffen- Ausschuss für Arbeit und Soziales staat erfolgreich nach und sollte dies weiterhin verstärkt Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend tun. Ich finde, wir haben eine besondere Vermittlerrolle Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zwischen den Nuklearwaffenstaaten und den Nichtnuk- learwaffenstaaten. Ich sage dies ganz bewusst mit Blick Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für auf die anstehende Überprüfungskonferenz und auch vor die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. Gibt es dagegen dem Hintergrund der hier im Hause geführten Diskussio- Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das auch nen der vergangenen 25 Jahre über Deutschlands Rolle so beschlossen. in der Welt: Es gibt keinen Grund für eine Zurückhal- Wir beginnen mit der Aussprache. Als erste Rednerin tung mit unseren Positionen. Der multilaterale Kurs in hat die Kollegin Elisabeth Scharfenberg von Bünd- sämtlichen Bereichen unserer Außenpolitik, auch in der nis 90/Die Grünen das Wort. Abrüstungspolitik, ist richtig. Die umsichtige und zu- gleich unmissverständliche Art und Weise unseres Au- ßenministers, der hier schon öfter zu Recht gelobt Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wurde, verkörpert diesen Ansatz sehr treffend. NEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und und Herren! Viele Menschen haben große Angst vor der der SPD) letzten Lebensphase. Diese ganz natürliche Angst vor dem Sterben verstärkt sich noch durch die Angst, einsam Das Ziel „Eine Welt ohne Atomwaffen“ ist kein poli- zu sterben: einsam in einem Krankenhaus, einsam in ei- tisches Pathos. Es ist aber nur durch gemeinsames politi- nem Pflegeheim. Wir alle haben Angst davor, vielleicht sches Handeln erreichbar. Hier liegt es an uns, sich im- der Familie zur Last zu fallen oder sogar der ganzen Ge- mer wieder für dieses Ziel einzusetzen. Daher freuen wir sellschaft. Wir haben Angst davor, Schmerzen ertragen uns über die Unterstützung für unseren Antrag. zu müssen, Schmerzen, die vielleicht niemand lindern kann. Vielen Dank. Natürlich können wir, das Parlament, diese Ängste (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- hier nicht einfach auf Knopfdruck beseitigen. Wir kön- neten der SPD) nen aber dafür sorgen, dass sich jeder schwerstkranke 9716 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015

Elisabeth Scharfenberg (A) und auch jeder sterbende Mensch auf eine gute und wür- Dabei geht es nicht nur um mehr Geld, sondern auch um (C) dige Versorgung am Lebensende verlassen kann. Dinge, die erst einmal ganz unerheblich wirken, ver- meintlich kleine Dinge, die dann aber am Ende des Ta- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ges eine ganz große Wirkung haben. Dabei darf es keine Rolle spielen, ob ein Mensch in der Wir müssen die Angehörigen sterbender Menschen Stadt oder auf dem Land lebt. Es darf keine Rolle spie- viel besser unterstützen. Dazu sagen Sie kaum etwas. len, ob es sich um ein Kind oder um eine Bewohnerin in Wir fordern in unserem Antrag, dass die Krankenkassen einem Pflegeheim handelt. Zum Glück für uns alle ist künftig auch Angebote der Trauerbegleitung für Ange- die Palliativ- und Hospizversorgung in unserem Land in hörige mitfinanzieren. Das wird übrigens nicht viel Geld den letzten Jahren viel besser geworden. Problematisch kosten. Viele Angehörige fühlen sich schon während ei- ist aber, dass diese Versorgung nicht allen Menschen zu- ner Sterbebegleitung alleine gelassen. Für viele kommt gänglich ist. Deshalb ist es grundsätzlich gut, dass Ge- aber die richtig harte Zeit erst danach. Dann gibt es Ein- sundheitsminister Gröhe vor kurzem einen Referenten- samkeit und Erschöpfung, und dann gibt es natürlich entwurf für ein Hospiz- und Palliativgesetz vorgelegt auch die Ängste vor dem eigenen Sterben. Das kann hat. Wir Grüne im Bundestag bringen heute unsere Vor- krank machen. Häufig leiden Trauernde in der Folge an schläge dazu ein. Depressionen. Hier ist eine gezielte Prävention enorm Ich werde gleich auf die Inhalte eingehen. Zuerst habe hilfreich, und Trauerbegleitung ist ein Teil davon. ich aber noch eine Bitte an die Vorstände der Koalitions- fraktionen. Ich bitte Sie ganz herzlich: Gehen Sie dieses (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für uns alle so wichtige Thema doch bitte etwas vorsich- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) tiger und sensibler an. In Ihrem Vorstandsbeschluss zur Ein ganz elementarer Punkt ist die Personalsituation Hospiz- und Palliativversorgung vom 16. April 2015 in der Pflege. Sie schreiben in Ihrem Entwurf, Ziel sei vermengen Sie dieses Thema mit der sogenannten akti- es, die Versorgung Sterbender vor allem in stationären ven Sterbehilfe. Das ist nicht sonderlich hilfreich. Das Pflegeeinrichtungen zu verbessern. Dieses Ziel ist rich- stiftet nur Verunsicherung bei den Menschen. Das tig. Häufig aber ist das weder fachlich noch kulturell Thema „aktive Sterbehilfe“ hat weder etwas mit Pallia- noch finanziell zu stemmen. Es fehlt oft an allen Ecken tiv- und Hospizversorgung noch mit der Debatte um den und Enden an Personal. So können Pflegekräfte einfach assistierten Suizid zu tun. keine würdige Pflege für die Sterbenden leisten. Die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Pflegekräfte selbst leiden doch auch sehr unter dieser Si- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- tuation. KEN) (B) Viele Einrichtungen haben einfach nicht genügend (D) Die Debatte zur Hospiz- und Palliativversorgung ist von Leute, um eine gute Pflege sowie eine gute Palliativ- und hoher symbolischer Bedeutung. Hospizversorgung zu leisten. Darauf geben Sie im Mo- ment noch keine Antwort. Das dürfen wir aber nicht län- Wir alle müssen hier unsere Worte sehr gut wählen. ger so laufen lassen! Deswegen fordern wir in unserem Ganz besonders wichtig ist: Wir dürfen uns nicht darauf Antrag die Einführung von „verbindlichen Personalbe- zurückziehen, nur schöne, empathische Worte zu finden. messungsinstrumenten“. Es darf nicht nur bei symbolischen Maßnahmen bleiben! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich weiß, „Personalbemessungsinstrument“ ist ein sper- Diesen Eindruck habe ich aber leider bei manchen riges Wort. Es geht hierbei darum, in Pflegeheimen und Regelungen, die im Entwurf von Herrn Gröhe vorgese- Krankenhäusern objektiv festzustellen, wie viel Personal hen sind. Es gibt in dem Entwurf einiges, das wir sofort für welche Tätigkeit gebraucht wird. Uns allen hier ist unterschreiben können. Darin ist zum Beispiel auch von doch klar: Schon für die Pflege an sich, aber auch für die der Stärkung der allgemeinen ambulanten Palliativver- Palliativ- und Hospizversorgung brauchen die Einrich- sorgung, der sogenannten AAPV, die Rede. Es gibt darin tungen einfach viel mehr Hände, als derzeit da sind. aber auch einige Allgemeinplätze. Die zentralen Fragen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) umschiffen Sie. Sie unternehmen nichts gegen den dra- matischen Personalmangel in der Pflege, und Sie tun Das wird Geld kosten. Wir Grüne sagen schon seit vielen nichts zur Verbesserung der leider rückständigen deut- Jahren: Für eine bessere Pflege darf der Einsatz von schen Forschung in diesem Bereich. Ebenfalls nichts tun mehr Finanzmitteln kein Tabu sein. Das gilt genauso für Sie zur Verbesserung der Aus-, Fort- und Weiterbildung. die Palliativ- und Hospizversorgung. (Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt nicht!) Gute Pflege kostet Geld. Wir werden sie nicht zu Wir Grüne wünschen uns von der Großen Koalition hier Dumpingpreisen bekommen. So denken nicht nur wir weniger Kleinmut und mehr Weitblick. hier im Parlament. Die breite Mehrheit der deutschen Bevölkerung sieht das doch genauso. Uns muss wirklich (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- noch einmal deutlich werden: Gute Pflege geht uns alle SES 90/DIE GRÜNEN) an! Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. 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Elisabeth Scharfenberg (A) Meine Damen und Herren, genau jetzt ist der Zeit- passt einfach nicht für Palliativstationen. Tagesgleiche (C) punkt, genau jetzt kann die Hospiz- und Palliativversor- Pflegesätze hingegen machen die Vergütung unabhängig gung verbessert werden! Wir Grüne wirken sehr gerne von erbrachter Therapie. Wenn ein Sterbenskranker konstruktiv daran mit. keine Musiktherapie mehr haben möchte, dann sollte das ohne einen finanziellen Nachteil für die Station möglich Vielen Dank. sein. Zukünftig wollen wir eine echte Wahlmöglichkeit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zwischen den Systemen schaffen. Es wird Krankenhäu- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) sern per Gesetz das Recht zugesprochen, gegenüber den Kassen die Abkehr vom DRG-Entgeltsystem auf Pallia- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: tivstationen zu erklären, wenn sie es wollen. Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Emmi Des Weiteren halte ich es wie Sie für unbedingt not- Zeulner von der CDU/CSU das Wort. wendig, die Hospizbewegung mit ihren Einrichtungen (Beifall bei der CDU/CSU) noch mehr zu unterstützen; denn dort wird unschätzbar wertvolle Arbeit erbracht, vieles davon ehrenamtlich. So werden künftig Erwachsenenhospize bei den zuschussfä- Emmi Zeulner (CDU/CSU): higen Kosten mit Kinderhospizen gleichgestellt, und der Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und kalendertägliche Mindestzuschuss wird von 7 auf 9 Pro- Kollegen! Liebe Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, ich zent angehoben. freue mich, dass Sie uns heute einen Anlass geben, über die Stärkung der Hospiz- und Palliativversorgung in Auf ambulante Hospizdienste kommt eine Vielzahl Deutschland zu diskutieren. Die Verantwortlichen in Ih- von Aufgaben zu, zum Beispiel die Betreuung von An- rer Fraktion haben einen sehr guten Antrag ausgearbei- gehörigen. Ihre Aufgaben umfassen zudem zum einen tet. Viele Ihrer Vorschläge finden sich in unserem Eck- die palliativpflegerische Beratung, zum anderen die Ge- punktepapier wieder. Auf der Grundlage dieser winnung, Schulung, Koordination und Unterstützung der Eckpunkte werden wir in Kürze einen Gesetzentwurf ehrenamtlich tätigen Personen, die für die Sterbebeglei- einbringen. tung zur Verfügung stehen. Auch die Netzwerkarbeit zwischen den vielen Akteuren wird von den Hospiz- Bei der Erarbeitung dieses Entwurfs haben wir eng diensten bewältigt. Bei der Erfüllung dieser vielfältigen und konstruktiv mit dem Ministerium zusammengear- Aufgaben stoßen die Dienste oftmals an ihre Kapazitäts- beitet. Ich möchte mich ausdrücklich bei Minister grenzen. Es ist uns ein Anliegen, diese bei ihrer wertvol- Hermann Gröhe und Staatssekretärin Annette Widmann- len Arbeit weiter zu unterstützen. Deshalb werden wir Mauz für die vertrauensvolle und zielorientierte Zusam- (B) alles daransetzen, Finanzierungslücken, die es tatsäch- (D) menarbeit bedanken. lich gibt, zu schließen. Es ist unser Anspruch, schwerstkranken und sterben- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- den Menschen die Errungenschaften der Hospiz- und neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Palliativversorgung unabhängig von ihrem Wohnort und ihrem Versichertenstatus zugänglich zu machen. Gerade Auch Ärzte, die besonders qualifiziert sind und inter- vor dem Hintergrund der Debatte um die Suizidbeihilfe professionell mit anderen Leistungserbringern kooperie- ist eine Stärkung so wichtig. Denn egal wie die Gesetz- ren, sollen künftig eine Zusatzvergütung erhalten. Damit gebung dort ausfällt: Für eine selbstbestimmte Entschei- schaffen wir Anreize für eine Weiterbildung der bereits dung am Lebensende gilt, zuerst alle Möglichkeiten der praktizierenden Mediziner. Dass die Kooperation und Hospiz- und Palliativversorgung ausschöpfen zu können. Vernetzung zwischen den einzelnen Akteuren weiter ausgebaut werden muss, ist als dringendes Handlungs- (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- feld erkannt. Nicht nur in Pflegeheimen, auch in Kran- NIS 90/DIE GRÜNEN) kenhäusern möchten wir ambulanten Hospizdiensten die Deshalb ist die Aufklärung in diesem Bereich so wich- Möglichkeit eröffnen, Sterbebegleitung zu leisten. Zu- tig. dem soll die ärztliche Versorgung in Pflegeeinrichtungen ausgebaut werden. Mit dem Gesetz werden wir die Krankenkassen in die Pflicht nehmen, ihre Versicherten über entsprechende Schließlich gilt es, den Ausbau der SAPV weiter zu Leistungen zu informieren. Zudem werden wir Versor- forcieren. Gerade in ländlichen und strukturschwachen gungsplanungen für die letzte Lebensphase in Pflegehei- Regionen gibt es noch weiße Flecken. Insbesondere die men auch erstattungsfähig machen. Das ist eine Antwort Möglichkeit, schwerstkranke Kinder und Jugendliche zu auf die berechtigte Sorge von Pflegebedürftigen und ih- Hause zu versorgen, ist heute noch ungenügend. Den ren Angehörigen, dass bei den heutigen medizinischen Abschluss von SAPV-Verträgen wollen wir durch Ein- Möglichkeiten eine Übertherapie stattfindet. Gerade dies führung eines Schiedsverfahrens künftig erleichtern. konterkariert den Gedanken der Hospiz- und Palliativ- versorgung. Ich stimme schließlich mit Ihnen überein, liebe Frak- tion Die Grünen, dass die Forschung im Bereich der So ist es mir auch ein großes Anliegen, dass wir bei Hospiz- und Palliativversorgung ausgebaut werden der Finanzierung der Palliativstationen nachbessern. Das muss. Wir brauchen mehr Evidenzbasierung, auch im Fallpauschalensystem, wie es in Krankenhäusern üblich Bereich der Trauerbegleitung. Um dem Anspruch einer ist, belohnt ein Mehr an Leistung mit mehr Geld. Das hochwertigen Palliativversorgung gerecht zu werden, 9718 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015

Emmi Zeulner (A) müssen wir im Bereich der Forschung noch deutlich Ihr Antrag, geschätzte Kolleginnen und Kollegen von (C) mehr tun. Aber dazu stehen wir auch im Austausch mit den Grünen, ist in einigen Fragen allerdings noch aus- dem Forschungsministerium und dem Parlamentarischen baufähig. Angesprochen haben Sie zum Beispiel die Staatssekretär Müller sowie den Vertretern der Charta Hospiz- und Palliativversorgung in stationären Pflege- zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Men- einrichtungen. Wir sind der Auffassung, dass sicherge- schen. stellt werden muss, dass in allen Einrichtungen eine fachlich hochwertige palliative Pflege- und Hospizarbeit Wenn wir uns anschauen, woher wir kommen – von angeboten werden kann. der Hospizbewegung zu den Hausärzten, die schon im- mer Begleiter sterbender Menschen waren und sind, zur (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) spezialisierten ambulanten Palliativversorgung, die erst 2007 als Leistungsbestandteil in die gesetzliche Kran- Wir sagen auch, dass dies nicht zu zusätzlichen Kosten kenversicherung aufgenommen wurde, bis hin zum Fest- für die Menschen mit Pflegebedarf führen darf. Gute schreiben der Palliativmedizin als Pflichtfach im Medi- Pflege darf auch hier nicht vom Geldbeutel abhängig zinstudium im Jahr 2009 –, dann sind wir schon einen sein. langen Weg gegangen. Die von unten gewachsene Struk- (Beifall bei der LINKEN) tur umfasst sehr viel Qualität und sehr viel Engagement und Einsatz der Beteiligten. Es ist uns ein Anliegen, In deutschen Pflegeeinrichtungen – das ist noch ein diese weiter zu fördern und zu unterstützen. Knackpunkt – leben 764 000 Menschen; viele von ihnen sind chronisch krank, schwerbehindert oder erkranken in Ich würde mich freuen, wenn wir miteinander an den der letzten Phase ihres Lebens schwer. Genau diese bestmöglichen Lösungen arbeiten könnten. Denn es ist – Menschen haben aber so gut wie gar keinen Anspruch wie auch Sie, liebe Kollegin Scharfenberg, gesagt haben auf Hospizversorgung. Denn in der Rahmenvereinba- – ein Thema, das jeden von uns ganz persönlich betrifft. rung zu § 39 a Absatz 1 SGB V steht Folgendes – ich zi- tiere –: Danke schön. Die Notwendigkeit einer stationären Hospizversor- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gung liegt grundsätzlich nicht bei Patientinnen und neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Patienten vor, die in einer stationären Pflegeeinrich- GRÜNEN) tung versorgt werden.

Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Liebe Kolleginnen und Kollegen, das heißt, wir haben in Deutschland eine gravierende Ungleichbehandlung von Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Pia (B) Menschen in der letzten Lebensphase. Diese Zweiklas- (D) Zimmermann von der Fraktion Die Linke das Wort. senbetreuung ist nicht hinnehmbar. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN)

Pia Zimmermann (DIE LINKE): Eine ähnliche strukturelle Ungleichbehandlung gibt es bei der palliativmedizinischen Versorgung von Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen Schmerzpatienten in Pflegeeinrichtungen, und das trotz und Kollegen! Die Würde des Menschen ist unantastbar, des bestehenden Rechtsanspruchs auf spezialisierte am- und das gilt für alle Menschen in diesem Land. bulante Palliativversorgung. Das liegt an der fachärzt- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) lichen und palliativmedizinischen Unterversorgung in Alten- und Pflegeheimen und daran, dass diese Einrich- Alle Menschen, unabhängig von Alter, Lebenslage und tungen noch immer nicht ausreichend Schmerzmittel für Lebensverlauf, müssen ein gesetzlich und praktisch gesi- Akutsituationen vorhalten dürfen. Hier setzt der Antrag chertes Anrecht darauf haben, frei zu wählen, ob sie in von den Grünen wiederum die richtigen Akzente. der letzten Phase ihres Lebens zu Hause, im Hospiz oder in einer Pflegeeinrichtung ihren Bedürfnissen entspre- Meine Damen und Herren, in den letzten zehn Jahren chend palliativmedizinisch versorgt und palliativ ge- hat sich die Zahl der Ehrenamtlichen in der Hospiz- und pflegt werden wollen. Palliativversorgung auf 100 000 verdoppelt. Dieses En- gagement ist nicht hoch genug zu bewerten. An dieser (Beifall bei der LINKEN) Stelle gilt den Ehrenamtlichen mein besonderer Dank. Meine Damen und Herren, es geht hier um ein Men- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- schenrecht; es geht um die „Dreieinigkeit“, die staatliche neten der CDU/CSU, der SPD und des BÜND- Pflicht, die Menschenrechte zu achten, zu schützen und NISSES 90/DIE GRÜNEN) zu gewährleisten. Aber das Ehrenamt muss eine Ergänzung bleiben. Bür- Aus den Erfahrungen meiner langjährigen Tätigkeit gerschaftliches Engagement ist kein Ersatz für fehlende in der Pflege kann ich bestätigen: Der vorliegende An- Fachkräfte und aufsuchende Pflege. Bürgerschaftliches trag der Grünen bietet Ihnen von der Großen Koalition Engagement darf nicht missbraucht werden, um vorhan- ein gutes Angebot, Ihre bisherigen Positionen zu über- dene strukturelle Defizite zu verschleiern. Wir benötigen prüfen, zu erweitern und die bestehenden Ungleichhei- eine verbindliche Personalbemessung in gesetzlicher ten aufzuheben. Form. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9719

Pia Zimmermann (A) (Beifall bei der LINKEN) belegt – und dass manche – so paradox es klingt – sogar (C) wieder Lebensmut schöpfen. Deshalb muss man – ich Ich teile daher diese Forderung im Antrag der Grünen betone das ausdrücklich – zu den aktuellen Äußerungen ausdrücklich, vermisse aber konkrete Vorschläge. der Strafrechtslehrerinnen und -lehrer zu diesem Thema Einig sind wir darin, dass die Hospiz- und Palliativ- etwas sagen – ich will nicht vertieft darauf eingehen, versorgung eine besonders professionalisierte Pflegear- weil ich nur wenige Minuten Redezeit habe –; denn beit ist und dass es mehr Beratung, hospizliche Sterbebe- diese haben den Kern der hospizlichen und palliativen gleitung, Palliativteams und Pflegezeit geben muss. Das Versorgung überhaupt nicht verstanden. gilt sowohl für Kliniken als auch für Pflegeeinrichtun- (Michael Brand [CDU/CSU]: So ist es!) gen. Dafür braucht es aber eine konkrete Personalbemes- sung. Wir fordern mindestens zwei Vollzeitstellen pro Sie differenzieren nicht, sie vermischen die Begrifflich- 100 Bewohnerinnen und Bewohner zusätzlich. Doch das keiten, sie kritisieren die wirklich hervorragende Arbeit darf nicht zu höheren Kosten für die Bewohnerinnen und der Menschen in den Hospizen und auch im ambulanten Bewohner führen. Bereich, und sie vernebeln das, was sie wirklich wollen. Auf den Punkt gebracht heißt das: Wer wirklich allen In den letzten Jahren wurden viele Verbesserungen er- Menschen in Deutschland die Hospiz- und Palliativver- reicht: die Förderung der ambulanten und stationären sorgung zugänglich machen will, muss den Einrichtun- Hospizarbeit, die Stärkung des Ehrenamtes – natürlich gen den finanziellen Spielraum dafür bieten, muss das als Ergänzung und nicht als Ersatz –, die Weiterentwick- Personal, welches dafür benötigt wird, besser kalkulie- lung der Schmerztherapie, die Einführung der speziali- ren und die Ungleichheiten zwischen stationärer und am- sierten ambulanten Palliativversorgung mit einhergehen- bulanter Pflege sowie den Hospizen aufheben. der Qualifizierung der Ärzte und nicht zuletzt – auch das ist ganz wichtig – ein gesellschaftlicher Bewusstseins- Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. wandel und eine ganz andere Auseinandersetzung mit (Beifall bei der LINKEN) diesem Thema. Jetzt müssen wir mit den guten Angeboten und den Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: richtigen Weichenstellungen in die Fläche gehen. Der Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat die Kollegin Gesetzentwurf setzt Schwerpunkte bei der Weiterent- Helga Kühn-Mengel von der SPD-Fraktion das Wort. wicklung der ambulanten palliativen Versorgung, bei der Vernetzung und Koordination in der Region, gerade im (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ländlichen Raum, bei der Verbesserung der Finanzierung der CDU/CSU) ambulanter und stationärer Hospize, bei der Finanzie- (B) (D) rung der Palliativstationen, bei der Patientenberatung Helga Kühn-Mengel (SPD): und bei Informationen zu Fragen der hospizlichen Ver- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- sorgung und Begleitung. legen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Verehrte Kolle- ginnen und Kollegen von den Grünen, Sie legen heute Durch das Gesetz würde ein neuer Rechtsanspruch einen Antrag vor, den wir in vielen Punkten unterstützen geschaffen. Dieser neue Rechtsanspruch – die Kollegin können. An vielen Stellen sind seine Forderungen de- hat es schon erwähnt – ist ein großer Fortschritt für die ckungsgleich mit denen der SPD. Das Entscheidende ist Versicherten; denn eine bessere Aufklärung und Infor- aber: Wir werden einen Gesetzentwurf vorlegen, den wir mation der Betroffenen und ihrer Angehörigen ist wich- in der nächsten Zeit behandeln, vertiefen und sicherlich tige Voraussetzung für einen gerechten Zugang zu diesen an manchen Stellen auch noch verändern werden. Versorgungsangeboten, unabhängig vom sozioökonomi- schen Status und unabhängig von dem Ort, an dem die (Beifall bei der SPD) Menschen in ihrer letzten Lebensphase versorgt werden. Wir tun das – es ist schon mehrfach gesagt worden –, Es gibt Hinweise darauf, dass nur ein Fünftel der Pa- weil die Menschen Sorge darüber haben, was Selbstbe- tienten und Patientinnen Zugang zu diesen Angeboten stimmung, Würde und Wertschätzung auf der letzten hat. Viele wissen gar nichts darüber. Es ist wichtig, dass Wegstrecke des Lebens bedeuten. Wir müssen uns mit die Finanzierung der stationären und ambulanten Hos- der Angst der Bürger und Bürgerinnen auseinanderset- pize verbessert wird und Zuschüsse angehoben werden. zen, im Falle einer lebensbedrohlichen Erkrankung ge- Wichtig ist aber auch, dass keine Vollfinanzierung vor- nau diese zu verlieren. Sie haben Angst davor, Schmer- genommen wird, weil über das Ehrenamt und über die zen zu haben, allein zu sein und womöglich anderen Spenden das Thema in die Gesellschaft getragen werden – auch dies ist schon gesagt worden – zur Last zu fallen. soll. Die hospizliche und die palliative Versorgung kann Wir werden ausreichend Gelegenheit haben, den Ge- mit der Besonderheit, dass dort haupt- und ehrenamt- setzentwurf vertiefend zu behandeln und noch einmal ei- liche Kräfte tätig sind, vieles leisten. Wir wissen von nen Blick auf die palliativpflegerische Versorgung in sta- jenen, die dort arbeiten, dass durch Schmerz- und tionären Einrichtungen wie Pflegeheimen zu werfen. Vor Symptomkontrolle, durch Zuwendung und durch Beglei- allem werden wir noch einmal den Bereich der ambulan- tung der Wunsch nach Sterben häufig in den Hintergrund ten Krankenhausversorgung beleuchten. Das ist nämlich tritt, dass der Suizidgedanke aufgegeben wird – das ist auch ein ganz wichtiger Punkt. Wir wissen, dass nicht nur durch Erfahrung, sondern auch durch Studien 46,6 Prozent der Menschen, also knapp die Hälfte, in 9720 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015

Helga Kühn-Mengel (A) Krankenhäusern sterben. Wir müssen diesen ganzen Dis- Diesen Wunsch nach einem Sterben in Würde haben (C) kussionsprozess mit dem Charta-Prozess verbinden. wir zu respektieren. Das entspricht einer humanen Ge- sellschaft. Umgekehrt gilt: Niemand sollte sich den Tod Zum Schluss will ich zitieren, was ich auf einer Ver- wünschen, um anderen nicht zur Last zu fallen. Und nie- anstaltung gehört habe: Hospiz ist kein Ort, Hospiz ist mand sollte dies müssen, weil er unter unerträglichen eine Haltung. Schmerzen leidet. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Deshalb ist der Ausbau der modernen Palliativmedi- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE zin so wichtig und ein zentrales Ziel unserer Gesund- GRÜNEN) heitspolitik. Die Antwort auf die Nöte Schwerstkranker und Sterbender muss in einer umfassenden ärztlichen, Vizepräsidentin Petra Pau: pflegerischen und psychosozialen Begleitung bestehen. Das Wort hat der Kollege Erwin Rüddel für die CDU/ So sehen das übrigens auch die beiden großen Kirchen, CSU-Fraktion. die gerade in diesen Tagen die „Woche für das Leben“ proklamiert haben und unter dem Motto „Sterben in (Beifall bei der CDU/CSU) Würde“ zur Stärkung der Palliativ- und Hospizversor- gung aufrufen. Erwin Rüddel (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen Mir liegt vor allem am Herzen, auch im ländlichen und Herren! Seit Einführung der Pflegeversicherung hat Raum das Leistungsangebot auszubauen, die palliative die Pflegepolitik noch nie so viel Aufmerksamkeit erfah- Pflege in Heimen und in der häuslichen Umgebung ren wie in dieser Legislaturperiode. Ich denke an die bei- nachhaltig zu stärken sowie insbesondere die Vernetzung den Pflegestärkungsgesetze, an den Bürokratieabbau, an und Kooperation zwischen den Akteuren voranzubrin- die Neugestaltung des Pflege-TÜVs oder die Reform der gen. Es ist gut und richtig, wenn es hier mehr Geld für Pflegerausbildung. Aber auch das Versorgungsstär- Ärzte und Kliniken geben wird. Wünschenswert er- kungsgesetz und sogar das Präventionsgesetz kann man scheint mir darüber hinaus aber auch, zusätzliche Mittel im Kontext der Pflegeversicherung sehen. Die laufende für die eigentliche Pflegearbeit bereitzustellen. Legislaturperiode steht im Zeichen der Pflege. Es gibt Meine Damen und Herren, wir wollen das Verspre- kein Gesetz im Gesundheitsbereich, das nicht direkt oder chen des Koalitionsvertrags einlösen und den Menschen mittelbar die Pflege in Deutschland verbessert. Das ist in Deutschland Zugang zu einer spürbar besseren Hos- eine wirklich gute Sache. pizarbeit und einer flächendeckenden Palliativversor- Der Ausbau der Hospiz- und Palliativversorgung ge- gung verschaffen. Wir möchten eine Kultur der Hilfe im (B) hört folgerichtig ebenfalls zu unserer Pflegegesetzge- Sterben anbieten, die es erlaubt, die letzte Lebensphase (D) bung. Union und SPD haben im Koalitionsvertrag ja ver- selbstbestimmt und bestmöglich begleitet zu verbringen. bindlich vereinbart, die Hospize weiter zu unterstützen Vielen Dank. und die Versorgung mit Palliativmedizin auszubauen. Ich gehe davon aus, dass der entsprechende Gesetzent- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wurf der Koalition bald den Weg ins Plenum finden neten der SPD) wird. Wir werden dann selbstverständlich auch die Vor- schläge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in die Be- Vizepräsidentin Petra Pau: ratung einbeziehen. Nun hat die Kollegin Bettina Müller für die SPD- Es liegt auf der Hand, dass die Aufgaben der Pallia- Fraktion das Wort. tiv- und Hospizversorgung, das Thema Patientenverfü- (Beifall bei der SPD) gung und die Diskussion über die Sterbehilfe sich wech- selseitig berühren und teilweise überschneiden. Der Bettina Müller (SPD): Debatte über die Sterbehilfe möchte ich nicht vorgreifen. Es geht heute um die Belange schwerstkranker und ster- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten bender Menschen, und deren Belange sind ein eigenstän- Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! diges Anliegen. Über die Versorgung schwerkranker und sterbender Menschen wird in diesem Jahr viel diskutiert. Die Stär- Ich möchte in diesem Zusammenhang auf die beson- kung der Hospiz- und Palliativversorgung ist für die Ko- dere Bedeutung von Patientenverfügungen hinweisen. alition ein wichtiges Anliegen. Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass wir den ge- setzlich Versicherten zusammen mit der Information zur In diesem Bereich gibt es bereits viele Angebote, Organspende künftig ab dem 50. Lebensjahr auch eine sowohl in Form der allgemeinen als auch in Form der entsprechende Information über Patientenverfügungen speziellen ambulanten Palliativversorgung. Aber viele zukommen lassen. Ich persönlich bin ein entschiedener Menschen sind immer noch sehr schlecht über die vor- Anhänger und Verfechter der Patientenverfügung. handenen Strukturen informiert. Zudem reichen die An- gebote bei weitem nicht aus, um den Bedarf zu decken. Sehr viele Menschen in unserem Land – wahrschein- Gründe dafür sind die demografische Entwicklung, die lich die meisten – lehnen eine medizinische Überversor- Auflösung der Familienverbände, Singlehaushalte und gung dezidiert ab. Sie wollen nicht gegen ihren Willen der Wunsch der Menschen nach adäquater Versorgung künstlich am Leben erhalten werden. am Lebensende, möglichst in der häuslichen Umgebung. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9721

Bettina Müller (A) Daher hat sich die Koalition entschlossen, einen Ge- Wichtig ist hier, nicht zu hohe Hürden und zu teure (C) setzentwurf noch vor dem Sommer ins Parlament einzu- Strukturen zu basteln, die in der Praxis zu Problemen bringen. Es ist gut, dass auch die Grünen die Notwendig- führen. Angesichts des rasant steigenden Bedarfs wer- keit des Ausbaus der Palliativversorgung sehen. Wir den wir ganz schnell ganz viele Ärzte und Pflegende müssen hier fraktionsübergreifend arbeiten. Beim Ster- brauchen, die auch in Alteneinrichtungen und Kliniken ben geht es nicht um Parteizugehörigkeit. eingesetzt werden können. Ein gelungenes Beispiel stellt in meinen Augen das Modell in Westfalen-Lippe dar, bei Als Signal nach außen möchte ich jedoch deutlich dem Hausärzte in enger Zusammenarbeit mit SAPV- machen: Der beste gesetzliche Rahmen reicht nicht aus, Teams eine flächendeckende palliative Versorgung ge- wenn er nicht durch Akteure vor Ort mit Angeboten und währleisten. Verträgen ausgestaltet wird. Zum Wohle der Patienten muss auch auf dieser Ebene mit allen Beteiligten zusam- Für Patienten, aber auch für Leistungserbringer müs- mengearbeitet werden. Es kommt also auf die Kranken- sen der Zugang und die Teilnahme zur Versorgung nied- kassen, die Ärzte, die Kassenärztlichen Vereinigungen, rigschwellig sein. Wer mithelfen will, Sterbenden ein die SAPV-Vertreter, die Kommunen, die Kreise, die Ein- gutes und erträgliches Lebensende zu bereiten, muss es richtungsträger und die vielen Ehrenamtlichen an, um auch tun können. Dazu müssen die Akteure miteinander die Versorgung sinnvoll und zielgerichtet zu stärken. handeln und nicht gegeneinander. Platzhirschdenken und Konkurrenzdenken, wie es an manchen Stellen noch Versorgungswettbewerb am Sterbebett wären fatal. vorhanden ist, ist hier völlig fehl am Platz. (Beifall bei der SPD) Wichtig ist: Bei der Versorgungsplanung darf nicht Umsetzung und Verträge brauchen aber viel Zeit, die nach Schema F vorgegangen werden. Die regionalen Be- die schwerkranken Menschen sehr oft nicht haben. Da- sonderheiten, die schon vorhandenen Strukturen, die Ak- her gilt es, die Beratungen jetzt zügig durchzuführen und tivitäten von Ärzten und Kassen und die Zahl der Ehren- die Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Versor- amtlichen sind nämlich von Bundesland zu Bundesland gungsstruktur zu schaffen. Machen wir uns an die Ar- sehr unterschiedlich. Hier gilt es, funktionierende Ver- beit! sorgungsstrukturen nicht zu zerschlagen, sondern vor- handene Netze zu stärken und weiter auszubauen. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. Palliative Versorgung sollte zudem immer wohnort- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nah möglich sein, damit die Betroffenen so oft wie mög- der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE lich von ihren Angehörigen und von ihren Freunden be- GRÜNEN) (B) sucht werden können. Zurzeit ergeben sich Probleme bei (D) SAPV und AAPV, also der allgemeinen ambulanten Pal- Vizepräsidentin Petra Pau: liativversorgung, vor allem im ländlichen Raum. Gründe Das Wort hat der Kollege Dr. Roy Kühne für die dafür sind zu geringe Bevölkerungszahlen und zu große CDU/CSU-Fraktion. Flächen, sodass die SAPV nicht kostendeckend arbeiten (Beifall bei der CDU/CSU) kann. Darüber hinaus sind die Strukturanforderungen von SAPV und Palliativstationen im Krankenhaus in ländlichen Regionen die gleichen wie in Ballungsge- Dr. Roy Kühne (CDU/CSU): bieten, obwohl dort natürlich viel weniger Patienten zu Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und versorgen sind. Für onkologische Zentren und Kranken- Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir debat- häuser in größeren Städten ist es viel leichter, die Ein- tieren heute Nachmittag über ein ganz wichtiges Thema, richtung einer Palliativstation mit mindestens fünf Bet- das in den letzten Minuten einen sehr großen Raum be- ten zu organisieren. In ländlichen Regionen mit deutlich kommen hat und das in unserer Gesellschaft eines noch weniger Patienten kann eine eigenständige Abteilung größeren Raums bedarf. Ich begrüße den Vorschlag der hingegen nicht kostendeckend betrieben werden. Grünen, und ich denke, dass es dringend notwendig ist, über Palliativversorgung zu reden, bedarfsgerechte Ein wichtiges Ziel der Koalition ist deshalb, im länd- Strukturen zu definieren und eine bessere finanzielle lichen Raum Anreize für den Ausbau des Leistungsange- Ausstattung zu organisieren. Es geht darum, dass wir botes zu schaffen. Ein wesentliches Thema ist hierbei Menschen bis ans Ende ihres Lebens würdevoll beglei- die Erhaltung und der Ausbau der hausärztlichen pallia- ten. tiven Versorgung. Abgesehen davon, dass es in vielen Bereichen bereits einen Ärztemangel gibt, ist die Versor- Die Auseinandersetzung mit lebensbedrohenden gung durch weite Wege sowie häufige und nicht lukra- Krankheiten und mit dem Sterben ist aber nicht nur für tive Bereitschaftsdienste viel aufwendiger als in Bal- den Betroffenen selbst, sondern auch für viele Angehö- lungsgebieten. Gerade die Hausärzte, die oft einen rige, für das familiäre und berufliche Umfeld eine sehr jahrelangen und sehr intensiven Kontakt zu den schwer- schwere Angelegenheit und verlangt viel Kraft. Die Ge- kranken Menschen haben, sollten aber eine wesentliche sellschaft sollte an dieser Stelle verantwortungsvoll da- Rolle in der Versorgung von Palliativpatienten spielen. mit umgehen und Mittel und Strukturen bereitstellen, um die damit verbundenen Belastungen aufzufangen. Nie- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ mand sollte in der letzten Phase des Lebens allein sein, CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- weder derjenige, der jemanden begleitet, noch derjenige, NEN) der sich in der selbigen Situation befindet. Wir haben in 9722 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015

Dr. Roy Kühne (A) Deutschland ein weltweit anerkanntes gutes Gesund- Weiterhin geht es darum, die Finanzierung von Maß- (C) heitssystem. Ich denke, es ist wertvoll, dass wir genau nahmen im Hinblick auf die ambulante Versorgung in diese Versorgungsstandards, die wir pflegen, wirklich der Fläche bereitzustellen. Wir sind in Deutschland oft- bis zum Ende des Lebens beibehalten. Damit erweisen mals so aufgestellt, dass wir in vielen Bereichen eine wir Respekt und Würde bis zum Tod. Flächenversorgung gewährleisten müssen. Auch da sind wir gefordert. Eine Befragung des Deutschen Hospiz- und Palliativ- Verbandes aus dem Jahre 2012 hat aber leider ergeben, Gerade in strukturschwachen und ländlichen Regio- dass nur rund die Hälfte der Deutschen den Begriff „Pal- nen sind regionale Initiativen zu fördern. Wir brauchen liativmedizin“ überhaupt kennt und nur etwa ein Drittel sie vor Ort. Mit dem kommenden Gesetzgebungsverfah- weiß, was sich dahinter ungefähr verbirgt. In vielen Ge- ren werden wir in diesem Jahr die Weichen dafür stellen, sprächen, die ich mit Bürgerinnen und Bürgern geführt die Folgen der demografischen Entwicklung für die habe, wurde des Öfteren klar und deutlich gefragt: Was Gesundheitsversorgung – sie ist nicht aufzuhalten – ab- ist das eigentlich? Genau hier liegt unsere Herausforde- zumildern. Wir müssen auch auf die zukünftigen Be- rung: Wir wollen mit dem Gesetzentwurf, den die Bun- darfe reagieren. Besonders in Verbindung mit dem desregierung erarbeitet, einen weiteren Beitrag zur wert- Pflegestärkungsgesetz, dem GKV-Versorgungsstärkungs- vollen Hospiz- und Palliativversorgung leisten. Ich gesetz und dem Gesetz zur Verbesserung der Hospiz- denke, dass gerade diesem Gesetzentwurf eine große Be- und Palliativmedizin werden wir, so denke ich, einen deutung zukommt. Wir wollen damit die Versorgung wichtigen Schritt zur Verbesserung der Gesundheitsver- derjenigen verbessern, die eine Begleitung der Schmerz- sorgung in Deutschland machen. Damit können wir auch therapie und am Lebensende benötigen, und vor allen im Hinblick auf die letzte Phase des Lebens einen wür- Dingen das Wissen der Bevölkerung um den Wert dieser devollen Beitrag leisten. Maßnahmen stärken. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen sind viele (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie gute Punkte enthalten, die auch von der Koalition bereits bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE aufgegriffen wurden. Ich denke, es herrscht großer Kon- GRÜNEN) sens, dass hier Einigkeit erzielt wird; auch die bereits ge- haltenen Reden machen dies deutlich. Wir wollen Ände- Vizepräsidentin Petra Pau: rungen herbeiführen, und wir müssen Änderungen Ich schließe die Aussprache. herbeiführen. Sie müssen genau dort ankommen, wo sie gebraucht werden: bei den Menschen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf (B) Drucksache 18/4563 an die in der Tagesordnung aufge- (D) Wie die Erkenntnisse des Deutschen Hospiz- und Pal- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- liativVerbandes zeigen, muss eine Verbesserung der verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Transparenz, der Information und der Beratung stattfin- so beschlossen. den. Es gibt Versorgungsangebote, die wesentlich dazu Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf: beitragen, dass es besser wird. Diese müssen kommuni- ziert werden. Natürlich müssen am Schluss auch die Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Krankenkassen die entsprechenden Kapazitäten dafür gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- schaffen. Wir werden in einem nächsten Schritt sicher- rung von Bestimmungen des Rechts des Ener- lich die Vernetzung der Teilnehmer verbessern müssen. gieleitungsbaus Wir alle wissen, dass gerade die Zusammenarbeit im Ge- Drucksache 18/4655 sundheitssystem ein ganz wichtiger Faktor ist, um er- folgreich zu sein. Wir müssen Kooperationen fördern Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) und die Vergütung spezifisch qualifizierter Vertragsärzte Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz anpassen. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Darüber hinaus werden wir die Bedeutung der häusli- chen Krankenpflege für die Palliativversorgung heraus- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für stellen – sie wurde bereits angesprochen – und durch die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- eine bessere finanzielle Ausstattung die Hemmnisse für nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. die ambulanten Hospizdienste abbauen. Es ist nach mei- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla- ner Meinung sehr wichtig, dass wir die multiprofessio- mentarische Staatssekretär Uwe Beckmeyer. nelle Arbeit – ich betone das noch einmal –, also die Zu- sammenarbeit der Menschen, die sich mit diesem (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Sachgebiet auseinandersetzen, was sicherlich nicht ein- fach ist, stärken, sowohl im ambulanten als auch im sta- Uwe Beckmeyer, Parl. Staatssekretär beim Bundes- tionären Bereich. Zudem werden wir die Sterbebeglei- minister für Wirtschaft und Energie: tung – sie wurde vom Kollegen schon angesprochen – in Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und den stationären Hospizen finanziell fördern und die am- Herren! Akzeptanz ist ein entscheidendes Stichwort, bulante Hospizarbeit in stationären Pflegeeinrichtungen wenn es um den dringend notwendigen Ausbau unserer ebenfalls stärker berücksichtigen. Strom- und Gasnetze geht. Wir wollen Planern und Be- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9723

Parl. Staatssekretär Uwe Beckmeyer (A) hörden mehr Möglichkeiten geben, Erdkabel unter be- zu schaffen. Das klingt erst einmal nicht schlecht; aber (C) stimmten Voraussetzungen auf Pilotstrecken in technisch wenn man sich das genau anschaut, muss man feststel- und wirtschaftlich sinnvollen Abschnitten zu testen. len: Auch die Erdverkabelung ist nicht ganz unproble- Durch eine maßvolle Erweiterung der Möglichkeiten zur matisch: Teilerdverkabelung wollen wir mehr Erfahrung mit die- ser Technologie sammeln. Neben den bisherigen Pilot- Erstens eröffnete dieses Gesetz die Möglichkeit, Tras- vorhaben, zu denen auch die geplanten neuen Strom- sen durch empfindliche Naturräume zu legen, die dafür autobahnen in Nord-Süd-Richtung gehören, werden nun bislang nicht infrage kamen. Unter Naturschutzgesichts- weitere Pilotverfahren und -vorhaben eingeführt. punkten, Stichwort „Biodiversität“, ist es ganz wichtig, auf diesen Punkt zu achten. Zudem erweitern wir die Kriterien dafür, wann ein Erdkabel verlegt werden darf: Neben dem Abstand zu (Beifall bei der LINKEN) Siedlungen, der durch eine Freileitung nicht gewahrt Zweitens gibt es die falsche Vorstellung, Erdkabel würde, kommen nun Naturschutzgründe und die Que- wären naturverträglich. Doch man muss bedenken, was rung von großen Bundeswasserstraßen wie Rhein oder mit der Erdverkabelung auch zusammenhängt: alle Elbe in Betracht. 900 Meter ein Zugangsschacht, eine kaum nutzbare Damit die Möglichkeiten weit vorangeschrittener Schneise und 40 Tonnen schwere Kabelrollen, die ir- Projekte nicht gebremst werden, kann der Vorhabenträ- gendwie zur Baustelle im sensiblen Gebiet gelangen ger bei laufenden Verfahren wählen, ob er von der neuen müssen. Regelung Gebrauch macht oder nicht. Diese Übergangs- Drittens bekomme ich ein ungutes Gefühl, wenn bei regelung für bereits beantragte Planfeststellungsverfah- einer kritischen Infrastruktur wie dem Übertragungsnetz ren betrifft vor allem die EnLAG-Vorhaben. von technischer Erprobung die Rede ist. Wir wollen dafür sorgen, dass sich die Bürgerinnen Trotzdem sehen wir auch Vorteile der Erdverkabe- und Bürger künftig stärker in den vielschichtigen Pro- lung: wenn es um den Landschaftsschutz geht. Aber be- zess der Netzplanung einbringen und die damit einherge- vor jetzt alle „Hurra!“ zur Erdverkabelung rufen, wäre es henden Entscheidungen besser einordnen können. wichtig, über den Sinn und Zweck des Netzausbaus ge- Mit dem Gesetz soll der bisher jährliche Turnus der nerell nochmals nachzudenken. Was wissen wir eigent- Neufassung der Netzentwicklungspläne im Strom- und lich über die Notwendigkeit des Netzausbaus? Wir wis- Gasbereich durch einen zweijährigen Planungszeitraum sen, was die Übertragungsnetzbetreiber als Bedarf abgelöst werden. Mit dieser von vielen Akteuren und ausgerechnet haben. Wir wissen, dass der marktwirt- (B) auch Umweltverbänden geforderten Veränderung des schaftliche Rahmen dafür auf unbestimmte Zeit so blei- (D) Rhythmus sollen die komplizierten parallelen Planungs- ben soll wie heute. Wir wissen, dass sie von einem prozesse der Vergangenheit künftig vermieden werden. wachsenden und ungehemmten Stromhandel in Europa ausgehen. Und wir wissen, dass ihre Modellrechnungen Darüber hinaus haben alle Beteiligten, vor allen Din- die Emissionsziele der Bundesregierung verfehlen. Was gen auch die Bürgerinnen und Bürger, ausreichend Zeit wir aber auch wissen, ist, dass die Bundesregierung für die Konsultation der jeweiligen Entwürfe. Damit er- nichts weiß. höht die Bundesregierung die Transparenz und auch die Nachvollziehbarkeit der Verfahren zur Ermittlung des (Beifall der Abg. Pia Zimmermann [DIE Bedarfs für den Aus- und Umbau der Strom- und Gas- LINKE]) netze. Wie will die Bundesregierung der Bevölkerung glaub- Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Ausbau haft machen, dass der Netzausbau genau so vonstatten- der Stromnetze ist für eine erfolgreiche Energiewende gehen muss, wenn sie die bestehenden Netzkapazitäten dringend erforderlich. Wir wollen hier vorankommen. nicht einmal beziffern kann und keine Ahnung hat, in Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein wichtiger Bau- welchem Zustand sich das bestehende Netz befindet? – stein dafür. Das hat sie zumindest auf eine Kleine Anfrage meiner Fraktion geantwortet. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Alles, womit die Bundesregierung argumentiert, ist (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) das Ergebnis einer Modellrechnung, die Geschäftsge- heimnis der Übertragungsnetzbetreiber ist und zweifel- Vizepräsidentin Petra Pau: hafte Annahmen für die Zukunft zugrunde legt. Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter für Wenn wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf die die Fraktion Die Linke. Bedingungen für die Erdverkabelung lockern und den (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Netzentwicklungsplan auf einen Zweijahresturnus um- stellen, dann lassen Sie uns doch noch mehr beschließen: Sorgen wir dafür, dass die Bevölkerung, wir Abgeord- Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): nete und auch die Bundesregierung wissen können, wo- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! mit der Netzbedarf überhaupt errechnet wird. Die Bundesregierung will jetzt die Bedingungen für die Erdverkabelung lockern, unter anderem um Akzeptanz (Beifall bei der LINKEN) 9724 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015

Eva Bulling-Schröter (A) Die Netzbetreiber sollen ihre Lastflussdaten und ihre Be- Energiepolitik ist Mittel zum Zweck und kein Selbst- (C) rechnungsmethodik öffentlich machen. Dann kann man zweck. Der Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der das nachvollzeihen, und wir können auch besser streiten. Kernenergie ist beschlossene Sache. Wir haben die Wei- chen in Richtung klimafreundliche Energieversorgung Die Linke begrüßt es, den Netzbetreibern mehr Zeit gestellt und müssen den Weg nun konsequent fortsetzen. für die Erstellung der Netzentwicklungspläne einzuräu- Dazu bedarf es allerdings einer Anpassung der Leitungs- men. Die Netzbetreiber sollten diese zusätzliche Zeit infrastruktur. Hier besteht erheblicher Nachholbedarf nutzen, um Szenarien auszurechnen, mit welchen Maß- beim gezielten Ausbau der Energieleitungen. nahmen der Netzausbau minimiert werden könnte. Das ist wichtig. Beim Umstieg zu einer umweltschonenden, bezahlba- ren und sicheren Energieversorgung müssen wir vor al- (Beifall bei der LINKEN) lem eines im Auge behalten: die Akzeptanz bei den Bür- Dann könnten wir den Rahmen an die Erfordernisse an- gern. Es ist daher richtig und wichtig, dass der Deutsche passen und müssten nicht – wie jetzt – einen Netzausbau Bundestag mit den vorliegenden Änderungen des Ener- für eine überholte Energiepolitik voller Fehlallokationen gieleitungsausbaugesetzes verstärkt auf die Information vorsehen. Denn das möchten die Bürgerinnen und Bür- der Menschen setzt. Wie schon gesagt: Wir werden die ger nicht – vor allem die in Bayern nicht –, und deshalb Energiewende nur mit den Bürgerinnen und Bürgern un- bekommt die Bundesregierung auch keine Akzeptanz für seres Landes schaffen. ihre Mammuttrassen. Eine sinnlose Stromtrasse kann Der Bau eines modernen und leistungsfähigen Ener- man zwar verlegen – lieber am Nachbarort vorbei oder gieleitungsnetzes muss den Anforderungen und Bedürf- durch ein anderes Bundesland führen, man kann sie nissen der nahen Zukunft entsprechen und angepasst oberirdisch führen oder auch vergraben –, das ändert werden. Da gibt es noch einiges zu tun. aber nichts daran, dass sie weiterhin sinnlos ist. Um den Netzausbau schneller zu realisieren, müssen Danke. wir zum einen die Akzeptanz in der Öffentlichkeit für (Beifall bei der LINKEN) den Ausbau erhöhen und zum anderen die Errichtung des Netzes durch den Einsatz neuer Technologien er- leichtern und damit beschleunigen. Eine verstärkte Erd- Vizepräsidentin Petra Pau: verkabelung ist dabei ein zentrales Element zur Erhö- Das Wort hat der Kollege Karl Holmeier für die CDU/ hung dieser Akzeptanz und erleichtert den erforderlichen CSU-Fraktion. Netzausbau.

(B) (Beifall bei der CDU/CSU) Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf zur Änderung (D) von Bestimmungen des Rechts des Energieleitungsbaus Karl Holmeier (CDU/CSU): leiten wir diese Schritte nun ein. Konkret sieht der vor- liegende Gesetzentwurf zum Beispiel folgende wesentli- Sehr verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen che Änderungen vor: und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Energiewende ist eines unserer größten energiepoli- Erstens. Bereits angesprochen wurde ein Turnus- tischen Projekte und zugleich eine große Herausforde- wechsel der Netzentwicklungsplanung für den Strom- rung. Wir werden sie bewältigen, aber der Erfolg der und für den Gasbereich. Insgesamt hat sich das System Energiewende hängt ganz wesentlich auch von der Ak- der Netzentwicklungsplanung bewährt. Bei der Bedarfs- zeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern, den Men- ermittlung in der Praxis zeigt sich allerdings, dass es zu schen in unserem Land, ab. zeitlichen Überschneidungen bei der Entwicklung des Szenariorahmens und des Netzentwicklungsplans kommt. Der Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Kern- energie und der starke Ausbau der erneuerbaren Energien Das wollen wir in Zukunft vermeiden, weshalb wir führen dazu, dass Strom vermehrt dezentral und damit den Turnus für den Strom- und Gasbereich von einem fernab der Verbrauchsstellen erzeugt wird. So erfordern Einjahresrhythmus auf einen Zweijahresrhythmus um- die Energiewende und der wachsende europäische stellen. Das führt positiv dazu, dass die Komplexität der Stromhandel in den kommenden Jahren einen umfassen- Bedarfsermittlung verringert wird. Zudem werden die den und beschleunigten Ausbau des deutschen Höchst- Verfahren für alle Beteiligten generell transparenter – spannungsnetzes. Auch hinsichtlich der Gasfernleitungs- insbesondere für die Bürgerinnen und Bürger. netze stehen erhebliche Veränderungen an. Die Übertragungs- und Fernleitungsnetzbetreiber Ein zentraler Bestandteil der Energiewende ist natür- werden verpflichtet, in den Kalenderjahren, in denen lich die Versorgungssicherheit; sie ist notwendig. Diese kein Netzentwicklungsplan vorzulegen ist, einen Umset- kann durch neue Höchstspannungsnetze erreicht werden. zungsbericht vorzulegen. Der Umsetzungsbericht soll im Hier gilt, meine sehr verehrten Damen und Herren: So Wesentlichen eine Fortschreibung der Umsetzungsbe- wenig Netzausbau wie möglich, so viel wie nötig. richterstattung aus den Netzentwicklungsplänen sein. Beim Leitungsausbau stehen Optimierung und Nut- Mit diesen Änderungen werden Anregungen aus der zung von Bestandsnetzen vor einem Neubau. Maßstab Öffentlichkeitsbeteiligung und von der Agentur für die der Union ist: was Deutschland nutzt, was unsere Wirt- Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden in schaft braucht und was den Menschen im Land hilft. Europa aufgegriffen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9725

Karl Holmeier (A) Zweitens. Wir erleichtern die Möglichkeiten zur Teil- schen und der Wirtschaft in unserem Land Versorgungs- (C) erdverkabelung. Bisher wurde der Einsatz von Erdka- sicherheit geben. beln nur auf einige Pilotprojekte beschränkt. Die restrik- tive Zulassung der Erdverkabelung wurde zu Recht Ich freue mich daher auf die anstehenden parlamenta- kritisiert. Aktuell ist eine Teilerdverkabelung bei vier Pi- rischen Beratungen und wünsche Ihnen ein schönes Wo- lotprojekten von insgesamt 23 im EnLAG genannten chenende. Leitungsprojekten möglich – und dies auch nur „auf Danke schön. technisch und wirtschaftlich effizienten Teilabschnit- ten“. Dies ist zu wenig. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Bislang erfolgte die Genehmigung für eine Erdverka- belung nur unter der Voraussetzung einer Siedlungsan- Vizepräsidentin Petra Pau: näherung auf 200 bis 400 Meter. Eine Ergänzung der Das Wort hat der Kollege Oliver Krischer für die Kriterien ist erforderlich. Erdkabel sollen künftig in den Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Fällen vorgesehen werden können, in denen eine Freilei- tung gegen bestimmte Bestimmungen des Naturschutzes verstoßen würde. Dies dient dem Arten- und dem Ge- Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): bietsschutz. Zudem soll eine Erdverkabelung möglich Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sein, wenn die Leitung eine große Bundeswasserstraße Herr Holmeier, Sie haben in Ihrer Redezeit von zehn Mi- überqueren soll. nuten vieles Richtige gesagt; da will ich gar nicht wider- sprechen. Sie haben auch viel Grundsätzliches gesagt. Es sollten darüber hinaus weitere geeignete Projekte Da Sie schon grundsätzlich über den Netzausbau spre- bezüglich einer möglichen Erdverkabelung geprüft wer- chen, hätte mich die Antwort auf die Fragen, die die den. In dem heutigen Gesetzentwurf werden noch zu we- ganze Debatte bewegen, interessiert: Wie geht es in Bay- nige Projekte zur Erdverkabelung vorgesehen. Die Erd- ern mit der Formel „2 minus x“ weiter? verkabelung muss bei allen Trassen möglich sein – zum Schutz von Mensch, Tier und Natur. (Karl Holmeier [CDU/CSU]: Wir sind auf ei- nem gute Weg! – [SPD]: Fragen Neben der Erweiterung der Kriterien sollen weitere Sie mal die Grünen in Bayern!) Vorhaben als Pilotstrecken für die Erdverkabelung fest- gelegt werden. Hier sollte vor allem die Möglichkeit in Ist das, was Sie hier vorgetragen haben, die Position der Betracht gezogen werden, die Erdverkabelung auf einem Union? Sonst redet ja niemand von der Union. technisch und wirtschaftlich effizienten Teilabschnitt (B) (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU – (D) vorzunehmen. Das sollte auch im Fall eines Ersatzneu- Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wir ha- baus von Stromtrassen möglich sein und gelten. Daher ben nicht so viel Redezeit!) geht der Gesetzentwurf in die richtige Richtung, da er darauf abzielt, die Erdverkabelung auf technisch und Die Antworten auf diese Fragen fände ich spannend. wirtschaftlich effizienten Teilabschnitten auch auf Basis Aber um die Antwort drücken Sie sich herum. der gewonnenen Erkenntnisse weiterzuentwickeln und Man muss sich nichts in die Tasche lügen. Aber es ist zu erleichtern. doch so: Wir hatten – da muss man in der Vergangen- Zudem ist es sehr erfreulich und ein wichtiger Fort- heitsform sprechen – mit dem Bundesbedarfsplangesetz schritt, dass es künftig grundsätzlich möglich sein soll, hier einen großen Konsens über den Netzausbau erzielt, auch auf einer längeren Strecke – zum Beispiel von bis und zwar trotz aller Unzulänglichkeiten, die das haben zu 20 Kilometern – ein Erdkabel zu verlegen. Ob dies mag. nur als Pilotvorhaben im Rahmen einer 10 bis 20 Kilo- (Dr. [CDU/CSU]: Den haben meter langen Teststrecke getestet werden soll, werden wir immer noch!) wir im parlamentarischen Verfahren zu klären haben. Aber diesen Konsens gab es, und er war grundsätzlich. Weiterhin wird durch eine Erweiterung des Erdkabel- Nun wird er infrage gestellt. Man kann sich hier über begriffs zukünftig die Möglichkeit geschaffen, im Rah- viele Detailfragen unterhalten. Aber solange diese grund- men der vorgesehenen Pilotvorhaben für Teilverkabe- sätzliche Frage nicht gelöst ist, wird im Rahmen des lung auch Erfahrungen hinsichtlich anderer technischer Netzausbaus wenig oder fast gar nichts gelingen. Lösungen zur unterirdischen Verlegung von Höchstspan- nungsleitungen zu sammeln. Ziel der Bemühungen ist (Ulrich Freese [SPD]: Lesen Sie mal die Süd- eine Beschleunigung des Netzausbaus insgesamt. deutsche Zeitung von heute!) Das ist Ihre Verantwortung als Große Koalition. Darum Bereits weit fortgeschrittene Verfahren sollen durch müssen Sie sich insgesamt kümmern. Umplanungen nicht beeinträchtigt werden. Für bereits laufende Planungsverfahren ist daher eine Übergangsre- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gelung vorgesehen. Ich habe hier im Jahr 2012 gestanden und gesagt: Wir Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bundes- brauchen Erdkabel nicht nur für Pilotstrecken, sondern regierung arbeitet zielstrebig an der Energiewende. Wir wir brauchen sie im Bundesbedarfsplangesetz, und wir werden Deutschland nachhaltig stärken und den Men- brauchen sie auch im EnLAG. Man kann die Erdverka- 9726 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015

Oliver Krischer (A) belung nicht auf Pilotstrecken beschränken. Das kann tion vor Ort nicht mehr erklären können und sich teil- (C) man den Menschen nicht erklären. weise dagegen aussprechen. Deshalb werden wir uns mit diesen Fragen auseinandersetzen müssen. Ich sage Ih- Für diese Forderung bin ich damals beschimpft wor- nen: Das, was Sie in diesem Gesetzentwurf vorgelegt ha- den: von allen, auch von euch. ben, ist keine Antwort auf diese Frage. ( [SPD]: Wirklich? – Wenn Sie das anpacken, dann möchte ich den Kolle- Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Zu Recht! – gen Holmeier beim Wort nehmen. Das heißt in der Kon- Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) sequenz: Wenn wir uns für die Erdverkabelung entschei- Es hieß damals, diese Forderung wäre unverantwortlich. den, dann sollten wir sie für alle EnLAG-Projekte Ich bin froh, dass ein Kollege der CSU hier wörtlich ermöglichen. Das wäre ein Beitrag zur Akzeptanz für sagt: Wir brauchen überall die Möglichkeit der Erdver- den Netzausbau. Da könnten wir vorankommen. kabelung. – Das ist ein Erkenntnisfortschritt. Wenn Sie Ich bin gespannt, ob das in den Ausschussberatungen das schon 2012 erkannt hätten, dann hätten wir uns viele vorgeschlagen wird. Wir stehen für konstruktive Debat- Auseinandersetzungen sparen können, und es hätte viele ten zur Verfügung. Sie können an dieser Stelle beweisen, Akzeptanzverluste beim Netzausbau nicht gegeben. Das ob Sie es mit dem Netzausbau ernst meinen oder ob Sie sollten Sie sich an dieser Stelle einmal merken. sich weiter hinter Paragrafen verstecken und vor Ort eine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ganz andere Politik als hier in Berlin machen. Vielleicht sind Sie aber mit Ihren Erkenntnissen insge- Ich danke Ihnen. samt etwas spät dran. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Jetzt legen Sie Ihren Gesetzentwurf vor. Darin steht sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE manches Richtige. Ich will mich aber auf die Erdkabel LINKE]) konzentrieren. Anstatt es so zu machen, wie es der Kol- lege Holmeier vorschlägt, also zu sagen: „Bei jedem Vizepräsidentin Petra Pau: EnLAG-Projekt, das nicht schon in Bau ist, führen wir Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Johann die Möglichkeit der Erdverkabelung ein“, machen Sie Saathoff das Wort. das nur an drei Teilstrecken. (Beifall bei der SPD) Das führt zu folgendem Sachverhalt. Ich nenne ein- mal ein Beispiel: EnLAG-Projekt Nr. 16 in Gütersloh. Johann Saathoff (SPD): Dort soll ein Teilbereich erdverkabelt werden können. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und (B) (D) Das ist okay. Aber im nächsten Teilabschnitt soll das Kollegen! Lieber Herr Krischer, heute beraten wir den nicht so sein. Deswegen haben wir alle Post vom Land- Gesetzentwurf in erster Lesung. Es ist also nicht so, dass rat bekommen, der uns fragt: Warum macht ihr das nicht wir heute darüber abstimmen müssen, sondern wir sind auch im nächsten Teilabschnitt? – Eine Begründung da- noch in der Entscheidungsfindung. Ich nehme Ihr Ange- für finden Sie im Gesetzentwurf nicht. bot eines konstruktiven Dialogs gerne auf, und ich Sie finden auch keine Begründung dafür, warum es denke, dass wir in den nächsten Wochen und Monaten aber bei anderen Leitungen gemacht wird. Ich will jetzt sicherlich noch sehr viel darüber sprechen werden. gar nicht vom Wahlkreis von reden. Klar ist: Wer die Energiewende will, muss auch den (Klaus Mindrup [SPD]: Das wäre interessant!) Leitungsausbau wollen. Das ist eine andere Debatte. Aber warum nur bestimmte (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Strecken für die Erdverkabelung ausgewählt werden, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) statt zu sagen: „Wir geben diese Möglichkeit allen“, das Das ist untrennbar miteinander verbunden und wird kann ich nicht nachvollziehen. überall anerkannt. Es geht also nicht darum, ob wir die Leitungen ausbauen, sondern darum, wie. Völlig irrsinnig wird es dann im schönen Hürth bei Köln. Da gibt es die Leitung Nr. 15: Osterath-Weißen- Frau Kollegin Bulling-Schröter, wenn Sie von einer thurm. Auch dieses EnLAG-Projekt ist kein Pilotprojekt. sinnlosen Leitung sprechen – ich weiß nicht, ob ich es Es handelt sich bei dieser Gegend um eine extrem dicht richtig verstanden habe, dass Sie damit SuedLink mei- besiedelte Region, in der keine Erdverkabelung möglich nen –, dann macht mir, ehrlich gesagt, die Allianz in ist. Selbst der Netzbetreiber sagt, er würde das gerne ma- Bayern langsam Sorge. chen. Aber nach den gesetzlichen Regelungen geht das (Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Das ist nicht. Stattdessen wird dort jetzt eine Freileitung gebaut. gut so! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE Hinzu kommt die Bundesbedarfsplanleitung. Nach der GRÜNEN]: Das ist die Koalition CSU/Linke!) Rechtslage wäre jetzt prinzipiell eine Erdverkabelung möglich. Das geht aber nicht, weil da schon die EnLAG- Egal von welcher Fraktion es kommt: Von sinnlosen Lei- Leitung als Freileitung gebaut wird. tungen zu sprechen und gleichzeitig die Energiewende zu fordern, ist aus meiner Sicht nicht in Ordnung. Meine Damen und Herren, diese Dinge können Sie den Menschen vor Ort nicht mehr erklären. Ich nehme Ich habe auch etwas anderes nicht richtig verstanden. wahr, dass das auch die Abgeordneten der Großen Koali- Sie sagten, Erdkabel seien nicht wirklich sinnvoll, Stich- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9727

Johann Saathoff (A) wort: 40-Tonnen-Schwerlaster. Wenn wir keine Kabel zu führen und über die weiteren Entscheidungen nachzu- (C) legen und keine Überlandleitungen bauen dürfen, dann denken. müssen Sie mir erklären, wie wir den Strom aus der Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Energiewende Nordsee zu Ihnen nach Bayern bringen sollen. wird von den Bürgerinnen und Bürgern getragen. Sorgen Was genau soll geregelt werden? Das hätte ich gerne wir also dafür, den Leitungsausbau so zu gestalten, dass noch einmal deutlich gemacht, aber ich glaube, das ha- er von den Bürgerinnen und Bürgern auch akzeptiert ben wir heute schon dreimal gehört. Deswegen will ich werden kann! mich auf die zentralen Punkte beschränken. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Die zentralen Punkte im Artikelgesetz sind erstens die Erweiterung der Strecken – sie ist für die Energiewende (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dringend notwendig – und zweitens die breitere Mög- der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE lichkeit des Einsatzes von Erdverkabelung. Ich habe in GRÜNEN) den letzten Wochen eine ganze Menge Gespräche mit Bürgerinitiativen geführt. Ob Sie es glauben oder nicht: Vizepräsidentin Petra Pau: In diesen Gesprächen kam immer heraus, meist gleich Ich schließe die Aussprache. im ersten Satz: Wir akzeptieren, dass durch Deutschland Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- Leitungen gelegt werden müssen; aber bitte akzeptieren wurfs auf Drucksache 18/4655 an die in der Tagesord- Sie dann auch, dass wir diese Leitungen so verlegt haben nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es wollen, dass wir gut damit leben können. – Das ist die dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Forderung nach Erdkabeln. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Die Erdkabel sind eine wesentliche Voraussetzung für Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf: die Bürgerakzeptanz. Das ist mittlerweile, glaube ich, al- lenthalben bekannt. Der Gesetzentwurf schlägt den Weg Erste Beratung des von den Fraktionen der zu einer Verlegung von mehr Erdkabeln ein. Das ist die CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs ei- richtige Richtung. Die Gründe dafür sind bekannt: ge- nes Zweiten Gesetzes zur Änderung des Er- sundheitliche Auswirkungen von Stromleitungen, Wert- neuerbare-Energien-Gesetzes erhalt der Grundstücke, Erhalt der Wertschöpfung der Regionen, insbesondere für den Tourismus, und Erhalt Drucksache 18/4683 des Landschaftsbildes. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Dass die Verlegung von Erdkabeln kein großes Pro- Finanzausschuss (B) (D) blem ist, kann ich am Beispiel meiner Heimat Ostfries- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit land deutlich machen. Dort werden derzeit viele Erdver- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union kabelungen aus den Offshorewindparks durchgeführt. Haushaltsausschuss Dazu gibt es null negative Resonanz aus der Bevölke- rung. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich eröffne die Aussprache und gebe wiederum dem Wenn man den Erhalt des Landschaftsbildes, der Kollegen Johann Saathoff für die SPD-Fraktion das Wertschöpfung beim Tourismus und des Wertes der Wort. Grundstücke in die Diskussion um die Mehrkosten der Verkabelung einbezieht, dann, denke ich, wird es eine (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten faire Diskussion. In Ostfriesland würde man sagen: De der CDU/CSU) een hett Knippke, un de anner hett dat Geld. Johann Saathoff (SPD): Folglich sollten wir prüfen, ob nicht noch weitere Kri- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! terien für die Erdverkabelung aufgenommen werden sol- Nun wissen Sie auch, warum ich gerade nicht schon ein len. Vielleicht sollten wir sogar – ich weiß, dass ich mich schönes Wochenende gewünscht habe. Seien Sie gewiss: dabei ein bisschen auf dünnem Eis bewege – zumindest Für mich ist es genauso ungewöhnlich wie für Sie, zwei bei HGÜ über ein Primat der Erdverkabelung als mögli- Reden hintereinander zu halten. Wir versuchen es, und cherweise besseren Weg nachdenken. wir bekommen es miteinander hin. (Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Die Energiewende ist ein Projekt, das man nicht ein- NEN]: Ja, das wäre ein Schritt weiter!) fach einmal per Gesetz beschließt, und dann wird alles Das wäre jedenfalls bei der Gesamtbetrachtung aller gut. Das erzähle ich immer wieder, wenn wir Besuch Kosten, angesichts einer möglichen Verzögerung der von ausländischen Delegationen bekommen, die teils Umsetzung, die sich ergeben kann, wenn Menschen vor sehr euphorisch zu uns in den Wirtschaftsausschuss Ort die Leitung nicht wollen, und in Bezug auf die Ver- kommen. Erst fragen sie: Meint ihr das eigentlich ernst fügbarkeit zu überlegen. Wir sollten uns zwischen der mit der Energiewende? – Wenn wir das bejahen, dann ersten und der zweiten Beratung die Zeit nehmen, uns in fragen sie: Wie bekommt ihr das eigentlich hin? – Die einer öffentlichen Anhörung die Sicht vor Ort vor Augen Euphorie wird leicht gebremst, wenn man darüber be- 9728 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015

Johann Saathoff (A) richten muss, dass es nicht reicht, ein Gesetz zu verab- gegenübertreten müssen, und wir werden mit ihnen zu- (C) schieden, damit die Energiewende stattfindet, sondern sammen eine Lösung finden müssen. Wir werden die Al- dass man während des Prozesses der Energiewende stän- ternativvorschläge, die von diesen Menschen kommen, dig nachjustieren muss. Wir haben es bei der Energie- bewerten und abwägen müssen, um gemeinsam zu einer wende ganz oft mit Anpassungsbedarfen zu tun, aber Lösung zu kommen. Wir wollen nämlich nicht, dass nicht deshalb, weil das Gesetz etwa schlecht wäre, was durch die Einsparung von 22 Millionen Tonnen CO2, man ab und an hört, sondern weil sich die Rahmenbedin- wie von vielen befürchtet – die Sorgen muss man ernst gungen auch aufgrund des guten Gesetzes, das vorher nehmen –, Strukturbrüche entstehen. Die tatsächlichen verabschiedet wurde, verändern. direkten Auswirkungen auf jedes der 1 500 Kraftwerke in Deutschland sind noch nicht kalkuliert. Sie müssten Was soll in diesem Rahmen neu geregelt werden? Wir die Grundlage für eine faire Bewertung jedes Vorschla- werden zwei Branchen in die Besondere Ausgleichsre- ges bilden. gelung wieder aufnehmen, nämlich solche, die sich mit der Herstellung von Schmiede-, Press-, Zieh- und Stanz- Wir wollen die Menschen, die in der Stromversor- teilen, also der Wärmebehandlung von Stahl, befassen. gung arbeiten, mitnehmen. Das sind wir ihnen schuldig. Das betrifft insbesondere die Unternehmen der Umfor- Darauf können sie sich auch verlassen. Deswegen sind mung, zum Beispiel den in Deutschland wichtigen Ka- Alternativvorschläge gerne gesehen, Alternativvor- rosseriebau. Diese Branchen erfüllen nach den neuesten schläge von der Wirtschaft, von den Gewerkschaften, Erkenntnissen die Voraussetzungen, die wir im letzten von den Umweltverbänden und auch von den Bürgerin- Jahr formuliert haben: Sie haben nämlich eine Handels- nen und Bürgern. intensität von 4 Prozent und eine Stromkostenintensität Durch die Diskussion zum Klimabeitrag gerät die von 20 Prozent. Die Branchen, die diese Voraussetzun- Diskussion zum Strommarktdesign völlig in den Hinter- gen erfüllen, dürfen nicht schlechtergestellt werden. Es grund. Man kann sich fragen: Ist dies gut, oder ist es ist nur gerecht, dass sie mit aufgenommen werden. schlecht? – Das Grünbuch liegt vor; wir sind in der Der zweite Bereich, den wir ändern wollen, ist die an- Phase, in der die Reaktionen ausgewertet werden. Wir teilige Direktvermarktung. Auch darüber haben wir im stehen vor der Erarbeitung des Weißbuches durch das letzten Jahr – ich kann mich gut erinnern – im Sommer Ministerium, und ich habe bisher in der gesamten Dis- lange miteinander gesprochen. kussion keine grundsätzlichen Bedenken gegen den Strommarkt 2.0 vernommen. Es gibt einige, die grund- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sätzliche Bedenken haben; jedoch haben sie diese aus NEN]: Ja!) meiner Sicht nicht ausreichend begründet. (B) Mehrere Anlagen werden zum Beispiel in einem Wind- Einigkeit besteht in großen Teilen bei den sogenann- (D) park an einem Netzverknüpfungspunkt angeschlossen. ten Sowieso-Maßnahmen: Die Spot- und Regelleistungs- Bisher war nur die Direktvermarktung insgesamt mög- märkte sollen weiterentwickelt werden. Wir alle wissen: lich; man konnte es nicht aufteilen. Nun ist das auch an- Dort steckt Potenzial. Ferner ist die EU-Marktkopplung teilig möglich. Die durch die alte Regelung, durch die zu vergrößern. Darüber sind wir uns weitestgehend ei- Verhinderung der anteiligen Direktvermarktung, entstan- nig. Alternative Anbieter von Regelleistungen sollen zu- denen wirtschaftlichen Nachteile sollen nun ausgegli- gelassen werden. Dafür würde ich eine breite Mehrheit chen werden. Auch das ist nur mehr als gerecht. prognostizieren wollen. Es geht außerdem darum, die (Beifall bei der SPD) Bilanzkreisverantwortung zu stärken und dadurch Effi- zienz zu schaffen. Ich glaube, hier sind wir uns im Gro- Die weiteren Regelungsinhalte sind eher unspannend. ßen einig. Dann sollen die Stromnetze ausgebaut wer- Dabei haben wir im Moment gar keinen Mangel an span- den, und dabei ist auch auf die Bürgerakzeptanz zu nenden Themen. Deswegen will ich dazu etwas sagen. achten. Darüber haben wir gerade gesprochen. Schließ- lich soll die einheitliche Preiszone erhalten bleiben, und Zuerst zum nationalen Klimabeitrag. Das 40-Prozent- die europäische Kooperation soll intensiviert werden. Ziel war Konsens; es steht im Koalitionsvertrag. Die Auch hier kann ich, so glaube ich, eine breite Mehrheit Einsparung von 22 Millionen Tonnen CO ist seit dem 2 im Hause sehen. Kabinettsbeschluss vom Dezember bekannt. Im Dialog mit der Kraftwerkswirtschaft haben wir Lösungen zu Die energiepolitische Gemengelage ist derzeit nicht finden. Dieser Dialog hat endlich begonnen. Das ist et- einfach, keine Frage. Darüber, dass sie nicht einfach ist, was, was wir begrüßen können. Klar ist: An der zusätzli- können wir uns einig sein. Trotzdem sollten wir die chen Einsparung von 22 Millionen Tonnen führt kein Dinge, bei denen Einigkeit besteht – ich habe sie gerade Weg vorbei. Wie bei den Energieleitungen würde ich benannt –, zügig abarbeiten und nicht warten, bis end- aber auch hier sagen: Es geht nicht um das Ob, sondern gültig weißer Rauch bei allen Fragen aufsteigt. Dass wir um das Wie. Um das Wie ausreichend beleuchten zu jetzt in der Energiewende zügig weiterarbeiten, das kön- können, fehlen im Moment die Alternativvorschläge. nen die Bürger von uns erwarten; denn sie haben die Fragen sind zwar besser als Antworten – Stichwort: Energiewende insgesamt eben auch gewollt. „Günther Jauch“ –, aber das reicht nicht. Dazu gehört auch das KWKG. Die Positionen liegen Wir alle wissen, dass dieses Wochenende zwei große aus meiner Sicht nicht weit auseinander. Herr Krischer, Demonstrationen in Berlin und in der Lausitz stattfin- bevor Sie eine Zwischenfrage stellen, sage ich es lieber den. Wir werden diesen Menschen verantwortungsvoll gleich: Wir haben einen doppelten CO2-Einspareffekt. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9729

Johann Saathoff (A) Ich habe schon in meiner letzten Rede dazu über die Reform nutzen können, um die Industrieprivilegien auf (C) Möglichkeit eines Wärmebonus gesprochen. Auf jeden ein sinnvolles Maß zurückzustutzen; darüber haben wir Fall müssen wir das Potenzial des KWKG in der Verbin- x-mal diskutiert. Das ist total versäumt worden. Stattdes- dung mit den regenerativen Energien sehen und das stär- sen halten immer mehr Branchen die Hand auf, nun auch ken. Ich könnte mir also vorstellen, dass zu KWKG-An- die Hersteller von Türklinken und Armaturen und aller- lagen auch thermische Solaranlagen mit Speichern lei Stanz- und Prägeteilen. Sigmar Gabriel wird die gehören. Diese Speicher können auch eine nicht unbe- Geister, die er selber rief, nicht mehr los. Es ist nur ge- deutende Rolle bei der Energiewende spielen, nämlich recht, wenn die dann auch etwas fordern und bekommen. dann, wenn wir zu viel Strom im Netz haben. Hunderttausende Arbeitsplätze in der energieintensi- Die Themen sind kompliziert. Normal ist, dass die ven Industrie seien sonst gefährdet, so redete Gabriel Opposition und die die Regierung tragende Koalition un- damals. Wenn jemand mit 100 000 Arbeitsplätzen argu- terschiedliche Ansichten vertreten. Beide sind gut bera- mentiert, dann, finde ich, sollte man immer sehr hellhö- ten, einander gut zuzuhören. De een kann rieden, un de rig sein. anner hett dat Peerd, heißt es in Ostfriesland, wenn Ent- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wohl scheidungen getroffen werden. Viele Entscheidungen wahr!) wollen gut abgewogen und gut überlegt sein. Einige können wir bereits jetzt treffen, damit wir die von den Allmählich muss man sich schon fragen, ob nicht auch Bürgerinnen und Bürgern gewünschte Energiewende die Existenz der energieintensiven Friseurbetriebe, der weiter fortführen können. familiengeführten Kleinstbäckereien und, und, und ge- fährdet ist, weil sie den Strompreis vielleicht nicht zah- Und nun wünsche ich Ihnen ein schönes Wochen- len können. Wie soll man rechtfertigen, dass sie keine ende. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Privilegien bekommen, liebe Kolleginnen und Kolle- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gen? der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Just in diesen Tagen fliegen Minister Gabriel wieder Die Kollegin Eva Bulling-Schröter hat für die Frak- angebliche 100 000 Arbeitsplätze um die Ohren. Dies- tion Die Linke das Wort. mal mobilisieren Kohlelobby, IG BCE und Verdi. Auch dies sind, sage ich, die Geister, die der Minister selber (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) rief. Wenn morgen hier in Berlin von den Gewerkschaf- ten mit der angeblichen Gefährdung von 100 000 Ar- (B) Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): beitsplätzen Stimmung gegen die Klimaabgabe gemacht (D) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! wird, ist das genauso schief, wie es damals Gabriels Ar- Eigentlich hätten die Industrierabatte beim Ökostrom zu- beitsplatzzahlen bei der energieintensiven Industrie wa- rückgefahren werden sollen, so hieß es vor gut einem ren. Jahr, kurz vor der EEG-Reform 2014. Damals hatte EU- Der Klimabeitrag ist eine notwendige Abgabe für die Kommissar Almunia wegen der Industrieprivilegien das dreckigsten und ältesten Kohlemeiler, um einen beschei- ganze EEG als unerlaubte Beihilfe infrage gestellt. denen Beitrag dazu zu leisten, die Klimakatastrophe auf- Gabriel und Almunia einigten sich schließlich, aber das zuhalten; die trifft uns alle. Die Mobilisierung der Koh- Ergebnis war eine böse Überraschung: Die Industriepri- lelobby gegen den Klimabeitrag ist umso absurder, wenn vilegien sind nicht beschränkt, sondern sogar noch aus- man weiß, dass auch die Braunkohletagebaue nach wie geweitet worden. Zum Tausch wurde das EEG gefled- vor privilegiert sind. Sie sind aufgrund von Eigenver- dert: Ausschreibungen für die Erneuerbaren ohne Not brauch komplett von der EEG-Umlage befreit. Das sind schon ab 2017 und die Pflicht zur Direktvermarktung. jährlich Hunderte Millionen Euro Subventionen für die So wurde im EEG quasi die eigene Abschaffung festge- klimaschädlichste Form der Stromerzeugung, und das ist legt. Ich finde, das war ein zu hoher Preis. schlicht unfassbar. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Aber die Industrie sollte ja um jeden Preis ihre Vor- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) teile behalten. 90 Prozent des produzierenden Gewerbes Nichtsdestotrotz ist klar: Wir müssen für alternative können heute Anträge stellen. Wer 4 bis 10 Prozent Han- Arbeitsplätze sorgen. Ich verstehe die Probleme und del mit dem Ausland treibt und als stromintensiv gilt, be- Sorgen der Kolleginnen und Kollegen. Wir müssen kommt bei der EEG-Umlage Rabatte. Die so privilegier- wirklich etwas tun ten Hersteller können also mit staatlicher Unterstützung diejenigen Hersteller niederkonkurrieren, die nur für das (Dagmar Ziegler [SPD]: Machen Sie doch mal Inland produzieren. Für gerecht halte ich das nicht. Vorschläge!) (Beifall bei der LINKEN) und ihnen auch die Ängste nehmen, um das hier noch einmal klar und deutlich zu sagen. Die 4,8 Milliarden Euro Industrieentlastung werden von den übrigen Verbraucherinnen und Verbrauchern ge- (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. stemmt – auch an dieser Stelle ein Sozialprogramm für Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die Industrie sondergleichen. Man hätte die EEG- NEN]) 9730 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: ger ausfallen. Hinsichtlich der jetzt zu treffenden Ände- (C) Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege rungen für die Härtereien würde die Minderbelastung le- Dr. Andreas Lenz das Wort. diglich bei etwa 0,001 Cent pro Kilowattstunde liegen. Die zusätzliche Belastung für die übrigen Umlagezahler (Beifall bei der CDU/CSU) hält sich also in engen Grenzen. Der Nutzen für die be- troffenen Unternehmen und die damit verbundenen Ar- Dr. Andreas Lenz (CDU/CSU): beitsplätze ist dafür umso höher. Ohne die Besondere Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen Ausgleichsregelung würde ein privater Haushalt zwar im und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Schnitt circa 55 Euro pro Jahr weniger bezahlen, wegen Bulling-Schröter, nur kurz zu den Begrifflichkeiten. der zu erwartenden Wohlstandsverluste würde das real Konkurrenz kann nur bestehen, wenn man im Wettbe- verfügbare Einkommen jedoch im Durchschnitt um rund werb steht. Ich habe noch nicht erlebt, dass Härtereien 500 Euro pro Jahr sinken. mit Friseuren im Wettbewerb stehen. Dies vielleicht zur Klarstellung der Begrifflichkeiten, sodass man in der Sa- Gerne wird auch die Mär verbreitet, Deutschland che diskutieren kann. habe im Vergleich niedrige Industriestrompreise. Lassen Sie mich dazu aus dem kürzlich vorgelegten Fortschritts- (Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Aha, bericht zur Energiewende zitieren: gut!) Die durchschnittlichen Strompreise für Industrie- Mit dem Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen sor- kunden liegen in Deutschland in weiten Teilen über gen wir dafür, dass energieintensive Unternehmen aus dem EU-Durchschnitt und deutlich über den Strom- den Branchen Schmieden, Oberflächenveredelung und preisen in den USA. Härtereien die Besondere Ausgleichsregelung in An- spruch nehmen können. Damit können die betroffenen Es besteht die Gefahr, dass hohe Stromkosten zu einer Unternehmen von der EEG-Umlage entlastet werden. Es schleichenden Deindustriealisierung und zu Arbeits- geht um rund 80 Unternehmen, für die wir so Planungs- platzverlusten in Deutschland führen. Bereits heute ist und Investitionssicherheit schaffen. Zudem enthält der die Investitionstätigkeit der energieintensiven Industrie Gesetzentwurf eine Klarstellung zur anteiligen Direkt- in Deutschland chronisch schwach. Wie eine Studie des vermarktung. Instituts der deutschen Wirtschaft zeigt, wurde im ver- gangenen Jahrzehnt nicht einmal ausreichend investiert, Mit der Reform des EEG im vergangenen Jahr sind um den Verschleiß der Produktionsstätten auszuglei- wir bei der Energiewende einen wichtigen Schritt voran- chen. gekommen. Wir haben einen planbaren und verlässli- (B) chen Ausbaupfad geschaffen. Wir werden bis 2025 einen Wir brauchen also gerade für energieintensive Unter- (D) Anteil der erneuerbaren Energien im Strombereich von nehmen einen verlässlichen Rahmen für Investitionen. 40 bis 45 Prozent und bis 2035 von 55 bis 60 Prozent ha- Diesen haben wir durch die Besondere Ausgleichsrege- ben. lung europarechtlich sicher geschaffen. Auch für Härte- Das Sinken der EEG-Umlage auf 6,17 Cent pro Kilo- reien und Schmieden liegen die entsprechenden Voraus- wattstunde sowie der Rückgang der Strompreise sind setzungen vor. Deshalb weiten wir jetzt endlich auch die gute Signale. Millionen von privaten Haushalten profi- Besondere Ausgleichsregelung auf diese Branche aus. tieren davon. Es ist übrigens Unsinn, in diesem Zusammenhang von Dienstleistungen zu sprechen. Die Branche verfügt über Der Erfolg der Energiewende muss sich aber auch da- eine hohe industrielle Wertschöpfungstiefe. ran messen lassen, dass Deutschland ein wettbewerbsfä- higer Wirtschafts- und Industriestandort bleibt. Dazu Es gibt auch andere Branchen, die die Kriterien erfül- sind Sonderregelungen für die stromintensiven Indus- len könnten. Dies gilt es, jetzt im Gesetzgebungsverfah- trien schlichtweg erforderlich. Die europafeste Refor- ren zu prüfen. Was bedeutet die Aufnahme der Härte- mierung der Besonderen Ausgleichsregelung war des- reien konkret? Ich habe hierzu in dieser Woche mit halb ein Schwerpunkt bei der Novelle des EEG. Wir einem betroffenen Unternehmer aus Schwaben gespro- kümmern uns um den Industriestandort Deutschland. chen. Aus der AG habe ich ja nun hinreichende Schwä- Uns sind die Wettbewerbsfähigkeit und die Arbeitsplätze bischkenntnisse und habe den Gesprächspartner dement- im Industriebereich wichtig. sprechend auch verstanden. Oft wird gesagt, die Industrie leiste keinen Beitrag für (Heiterkeit – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/ die Energiewende. Das ist weit gefehlt. Die deutsche In- DIE GRÜNEN]: Was sind das für interessante dustrie zahlt 7,4 Milliarden Euro EEG-Umlage. Das ist Mitteilungen?) nahezu so viel, wie die privaten Haushalte insgesamt be- Das Unternehmen hat seit über einem Jahr eine Bauge- zahlen. Die Industrie trägt somit knapp ein Drittel der nehmigung für eine weitere Fertigungshalle. Pläne wur- Gesamtkosten der EEG-Umlage. Übrigens bezahlen die den bis jetzt auf Eis gelegt. Nach Aufnahme wird die Industrie, der Handel und das Gewerbe über die Hälfte Härterei jetzt 200 neue Arbeitsplätze schaffen und zu- der EEG-Umlage. sätzlich Arbeitsplätze sichern können. Bei einem Strom- Ohne die Besondere Ausgleichsregelung für strom- verbrauch von 50 Millionen Kilowattstunden beträgt die intensive Unternehmen würde die EEG-Umlage für Entlastung für das Unternehmen rund 500 000 Euro im 2014 lediglich um 1,36 Cent pro Kilowattstunde gerin- Jahr, Geld, das jetzt für Zukunftsinvestitionen für den Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9731

Dr. Andreas Lenz (A) Erhalt und Aufbau von Arbeitsplätzen zur Verfügung Ein schönes Wochenende! Für mich war es die letzte (C) steht. Wir finden das richtig. Rede! Herzlichen Dank. Mit dem Änderungsgesetz ist auch eine Klarstellung (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) im Bereich der anteiligen Direktvermarktung verbunden. Auch zukünftig wird es möglich sein, bei der anteiligen Vizepräsidentin Petra Pau: Direktvermarktung eine gemeinsame Messeinrichtung zu verwenden. Gerade Windparks profitieren davon. Das Wort hat die Kollegin Dr. Julia Verlinden für die Missbrauchsgefahren entstehen dadurch nicht. Daher ist Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. es richtig, dass wir nun diese Klarstellung im Gesetz vornehmen. Ansonsten hätten einzelne Betroffene auch Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): hier massive Einschnitte zu erwarten gehabt. Daran se- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrte hen wir: Wir betreiben eine ausgewogene Energiepolitik. Damen und Herren! Vor nicht einmal einem Jahr haben Wir kümmern uns um sachgerechte Lösungen. wir bzw. Sie als Große Koalition die Änderungen des Er- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen die neuerbare-Energien-Gesetzes verabschiedet. Heute müs- Energiewende voranbringen, ohne dabei Bürgerinnen sen wir uns schon wieder mit einer Änderung dieses Ge- und Bürger sowie Unternehmen in unserem Land zu setzes befassen. Wieder geht es darum, dass die überfordern. Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung ste- Industrieprivilegien ausgeweitet werden, also mehr Un- hen hinter der Energiewende. Das soll auch so bleiben. ternehmen als bisher bei der EEG-Umlage begünstigt Das Änderungsgesetz ist ein wichtiger und sinnvoller werden. Beitrag zur langfristigen Planung und zur Investitions- Ich erwarte, dass die Bundesregierung ab sofort mehr sicherheit für die energieintensive Industrie in Deutsch- Elan an den Tag legt und sich bei den energiepolitischen land. Künftig müssen wir die erneuerbaren Energien Themen, wo auch die Bürgerinnen und Bürger profitie- noch mehr an den Markt heranführen. Die Ergebnisse ren – zum Beispiel diejenigen, die sich für die Energie- der ersten Ausschreibungen im Photovoltaikbereich sind wende engagieren –, mehr einsetzt. Es gäbe wirklich vielversprechend. Wir werden diese jedoch genau prü- genug Bedarf, beim Erneuerbare-Energien-Gesetz nach- fen. zusteuern. Zudem gilt es, die Systemdienlichkeit stärker zu be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) rücksichtigen: Wo macht der Zubau welcher erneuerba- ren Energien Sinn? Die Kraft-Wärme-Kopplung muss Weil die Zeit knapp ist, nenne ich Ihnen beispielhaft auch zukünftig eine wichtige Rolle im Konzert der Maß- nur drei Punkte: (B) nahmen für das Gelingen der Energiewende spielen. (D) Herr Saathoff hat das natürlich schon ausgiebig formu- Erstens. Sie haben uns einen Ersatz für das weggefal- liert. Das war eines der wenigen Dinge, die ich verstan- lene Grünstromprivileg versprochen. Zurzeit kann Öko- den habe. Beim Friesischen war ich nicht so – – strom aus deutschen EEG-Anlagen nicht als solcher ver- kauft werden. Das heißt, der wertvolle Grünstrom (Ulrich Freese [SPD]: Das war Plattdütsch!) verschwindet im diffusen Graustrom. Für die Akzeptanz – Beim Plattdeutschen – da fängt es schon an – war ich der Energiewende – auch für Integration der erneuerba- nicht so kundig. ren Energien – ist aber ein Grünstromvermarktungsmo- dell wichtig. Es liegen inzwischen mehrere Vorschläge (Ulrich Freese [SPD]: Wenn das Schwäbisch vor. Deshalb frage ich Sie von der Bundesregierung, klappt, dauert das Friesische nicht mehr wann Sie hier endlich aktiv werden. lange!) Es gab zweitens auch noch den Vorschlag eines Mie- – Genau! Aber es gibt ja Hoffnung, dass ich auch beim terstrommodells, bei dem auch Mieter, die sich keine ei- Plattdeutschen noch Erkenntnisgewinne erlangen werde. gene Solaranlage auf das Dach setzen können, mehr von Weiterhin beschäftigt uns – wir haben das schon ge- der Energiewende profitieren. Auch hierzu hören wir hört – die Ausgestaltung des künftigen Strommarktde- von der Regierung nichts. signs in Deutschland. Die ersten Vorschläge dazu liegen Drittens besteht dringender Handlungsbedarf bei der hier auf dem Tisch. Es gilt nun, intensiv zu diskutieren. Photovoltaik. Der Ausbau ist inzwischen auf 1 800 Me- Da gibt es durchaus noch Diskussionsbedarf. gawatt im Jahr eingebrochen. Wenn wir nur die letzten Wir sollten den Mut zu marktwirtschaftlichen Ansät- sechs Monate betrachten, ergibt sich noch etwas Gravie- zen für die Gewährleistung der Versorgungssicherheit renderes. Es wäre dann, hochgerechnet auf das Jahr, nur haben. Gleichzeitig ist die damit verbundene Kapazitäts- noch ein Ausbau von 1 200 Megawatt. Eigentlich wollte reserve so auszugestalten, dass die notwendigen Kapazi- die Bundesregierung das Doppelte pro Jahr erreichen. täten auch flächendeckend verteilt vorhanden sind. Das heißt also, Sie müssen Maßnahmen ergreifen, um überhaupt Ihr eigenes, selbstgestecktes Ziel zu erreichen. Bei allen nationalen Anstrengungen ist zudem eine Wir erwarten da Vorschläge von Ihrer Seite. Es ist drin- enge Koordinierung auf europäischer Ebene notwendig. gend nötig, bei der Energiewende voranzukommen, weil Es gibt nach wie vor viel zu tun. Wir stellen uns den wir den Mix aller erneuerbaren Energien brauchen. Aufgaben und finden – wie jetzt bei den Härtereien und der anteiligen Direktvermarktung – verantwortliche Lö- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sungen. und bei der LINKEN) 9732 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015

Dr. Julia Verlinden (A) Grundsätzlich scheint bei Ihnen in der Koalition ge- Pläne ihres eigenen Koalitionspartners. Da sind Sie von (C) rade so einiges schiefzulaufen. Kaum macht Minister der Union ausnahmsweise einmal auf einer Linie mit den Gabriel einen halbwegs vernünftigen Vorschlag zur Be- Gewerkschaften, die in dieser Debatte mit Zahlen ope- grenzung des CO2-Ausstoßes in der Energiewirtschaft, rieren, die wirklich jeglicher Grundlage entbehren. schon malt die Braunkohleindustrie den drohenden Ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lust von Zehntausenden Arbeitsplätzen an die Wand. Das und bei der LINKEN – Ulrich Freese [SPD]: sind wirklich abenteuerliche Berechnungen. Kennen Sie bessere?) Die CDU – namentlich Herr Fuchs und Herr Kauder – – Ja. stellten sich gegen diese Pläne auf. Nun stehen Sie vor einem Problem; denn die Braunkohle emittiert allein ge- (Ulrich Freese [SPD]: Sie kennen bessere!) nauso viel CO2, wie im Rahmen des CO2-Budgets für – Ja. Schauen Sie einmal in die Studie des Umweltbundes- das Jahr 2050 überhaupt nur vorgesehen ist. Das heißt, amtes, die heute Morgen in der Zeitung stand: 4 700 Ar- die Abschaltung der Braunkohlekraftwerke ist unaus- beitsplätze. weichlich, wenn Sie denn Ihre eigenen Klimaziele nicht aufgeben wollen. (Ulrich Freese [SPD]: Ich lade Sie gerne ein!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Laut Koalitionsvertrag wollen Sie beide – SPD und sowie der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE Union – die Energiewende. Aber dann überzeugen Sie LINKE]) die Menschen! Nehmen Sie sie mit! Es ist jetzt Ihre Pflicht, den Strukturwandel einzuleiten Vielen Dank. und zu gestalten, statt wie Rumpelstilzchen mit dem Fuß (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aufzustampfen und Nein zu schreien. und bei der LINKEN – Ulrich Freese [SPD]: Wo waren Sie in den letzten 25 Jahren? Ich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hätte Sie gerne mitgenommen!) und bei der LINKEN) Heute war in der Zeitung zu lesen, dass die Energie- Vizepräsidentin Petra Pau: wende unter dem Strich viele neue zusätzliche Arbeits- Ich schließe die Aussprache. plätze bringt. Besonders hilfreich sei, wenn am dezentra- len Ausbau des Ökostroms vor allem kleine und mittlere Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- Unternehmen beteiligt sind. Wenn die Bundesregierung wurfs auf Drucksacke 18/4683 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es (B) im Bereich Wärme- und Energieeffizienz endlich einmal (D) aus den Puschen kommen würde, könnten hier noch sehr dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. viel mehr Jobs entstehen, heißt es in dieser zitierten Stu- Dann ist die Überweisung so beschlossen. die. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- ordnung. Der notwendige Strukturwandel kommt sowieso. Deswegen sollte die Politik ihn nun aktiv gestalten, auch Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- arbeitsmarktpolitisch. Es wäre doch Ihre Aufgabe, auf destages auf Mittwoch, den 6. Mai 2015, 13 Uhr, ein. die Sorgen der Menschen einzugehen, ihnen ganz kon- Die Sitzung ist geschlossen. Ich schließe mich all den krete Angebote zu machen. Doch stattdessen gießt die guten Wünschen für das Wochenende an. Union ständig neues Öl ins Feuer, missbraucht ganz populistisch die Angst der Menschen und hintertreibt die (Schluss: 16.17 Uhr) Anlagen

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9733

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Albsteiger, Katrin CDU/CSU 24.4.2015 Dr. Rosemann, Martin SPD 24.4.2015

Beck (Bremen), BÜNDNIS 90/ 24.4.2015 Sarrazin, Manuel BÜNDNIS 90/ 24.4.2015 Marieluise DIE GRÜNEN DIE GRÜNEN

Dağdelen, Sevim DIE LINKE 24.4.2015 Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 24.4.2015

Dobrindt, Alexander CDU/CSU 24.4.2015 Schimke, Jana CDU/CSU 24.4.2015

Dr. Fuchs, Michael CDU/CSU 24.4.2015 Schlecht, Michael DIE LINKE 24.4.2015

Gröhe, Hermann CDU/CSU 24.4.2015 Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ 24.4.2015 DIE GRÜNEN Groth, Annette DIE LINKE 24.4.2015 Vogel (Kleinsaara), CDU/CSU 24.4.2015 Grund, Manfred CDU/CSU 24.4.2015 Volkmar

Hartmann SPD 24.4.2015 Werner, Katrin DIE LINKE 24.4.2015 (Wackernheim), Michael Zertik, Heinrich CDU/CSU 24.4.2015

(B) Hochbaum, Robert CDU/CSU 24.4.2015 (D) Anlage 2 Dr. Högl, Eva SPD 24.4.2015 Amtliche Mitteilungen Hunko, Andrej DIE LINKE 24.4.2015 Der Bundesrat hat in seiner 932. Sitzung am 27. März Irlstorfer, Erich CDU/CSU 24.4.2015 2015 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzu- stimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Absatz 2 Kassner, Kerstin DIE LINKE 24.4.2015 des Grundgesetzes nicht zu stellen:

Keul, Katja BÜNDNIS 90/ 24.4.2015 – Fünftes Gesetz zur Änderung des Vierten Buches DIE GRÜNEN Sozialgesetzgebung und anderer Gesetze (5. SGB IV- ÄndG) Koschyk, Hartmut CDU/CSU 24.4.2015 Der Bundesrat hat ferner nachstehende Entschließung Dr. Krings, Günter CDU/CSU 24.4.2015 gefasst: 1. Der Bundesrat begrüßt, dass im Rahmen der Assis- Kühn (Tübingen), BÜNDNIS 90/ 24.4.2015 tierten Ausbildung mit dem vorliegenden Gesetz ein Christian DIE GRÜNEN wichtiger Schritt hin zu einer besseren Unterstützung förderungsbedürftiger junger Menschen und deren Dr. Lauterbach, Karl SPD 24.4.2015 Ausbildungsbetriebe erfolgt. Dadurch könnten mehr Dr. von der Leyen, CDU/CSU 24.4.2015 erfolgreiche Abschlüsse der Berufsausbildung er- Ursula reicht werde. 2. Die Kammern unterhalten, wie auch gesetzlich fest- Meiwald, Peter BÜNDNIS 90/ 24.4.2015 gelegt, sogenannte Ausbildungsberater. Der Bundes- DIE GRÜNEN rat bittet die Bundesregierung, bei der Umsetzung des Gesetzes dafür Sorge zu tragen, dass die Betreuer Dr. Müller, Gerd CDU/CSU 24.4.2015 der Assistierten Ausbildung während der Berufsaus- bildung mit diesen Ausbildungsberatern verstärkt zu- Rebmann, Stefan SPD 24.4.2015 sammenarbeiten. 9734 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015

(A) – Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von – Gesetz zu dem Abkommen vom 19. September (C) Frauen und Männern an Führungspositionen in 2014 zwischen der Bundesrepublik Deutschland der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst und der Republik der Philippinen über Soziale Sicherheit – Gesetz zur Steigerung der Attraktivität des Diens- tes in der Bundeswehr (Bundeswehr-Attraktivi- – Gesetz zu dem Übereinkommen vom 11. April tätssteigerungsgesetz – BWAttrakt StG) 2014 über die Beteiligung der Republik Kroatien am Europäischen Wirtschaftsraum – Gesetz zur Dämpfung des Mietanstiegs auf ange- spannten Wohnungsmärkten und zur Stärkung des Bestellerprinzips bei der Wohnungsvermitt- Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat mit- lung (Mietrechtsnovellierungsgesetz – MietNovG) geteilt, dass sie den Antrag Internationale Förderung von Kohlekraftwerken beenden auf Drucksache 18/2623 zu- rückzieht. Der Bundesrat hat ferner folgende Entschließung ge- fasst: Die folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass sie Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, für gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von eine praxistaugliche Ausgestaltung der im Wirt- einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen schaftsgesetz 1954 (WiStrG 1954) enthaltenen Rege- absehen: lungen zur unangemessenen Mietpreisüberhöhung Sorge zu tragen, da es sich hierbei nach wie vor um ein notwendiges Instrument zum Schutz der Mieter Ausschuss für Wirtschaft und Energie vor überhöhten Mieten handelt. Bei der erforderli- – Unterrichtung durch die Bundesregierung chen Überarbeitung bietet sich der Rückgriff auf Zif- Zwölfter Bericht der Bundesregierung über die Aktivi- fer 8 des Beschlusses des Bundesrates vom täten des Gemeinsamen Fonds für Rohstoffe und der 7. November 2014, BR-Drucksache 447/14 (Be- einzelnen Rohstoffabkommen schluss), an. Drucksachen 18/3725, 18/3890 Nr. 2 Begründung: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Nach § 5 Absatz 1 WiStrG 1954 handelt ordnungs- Entwicklung widrig, wer vorsätzlich oder leichtfertig für die Ver- mietung von Räumen zum Wohnen oder damit ver- – Unterrichtung durch die Bundesregierung (B) bundene Nebenleistungen unangemessen hohe Eine Agenda für den Wandel zu nachhaltiger Entwick- (D) Entgelte fordert, sich versprechen lässt oder an- lung weltweit – Die deutsche Position für die Verhand- lungen über die Post 2015-Agenda für nachhaltige Ent- nimmt. Es handelt sich um ein sogenanntes Verbots- wicklung gesetz gemäß § 134 BGB, sodass die Erfüllung des Drucksachen 18/3604 Ordnungswidrigkeitstatbestandes durch den Vermie- ter im Sinne eines umfassenden Mieterschutzes zu- gleich zivilrechtliche Rückzahlungsansprüche des Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben Mieters begründen kann. Die von der höchstrichterli- mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden chen Rechtsprechung für die Bestimmung eines „un- Unionsdokumente zur Kenntnis genommen oder von ei- angemessenen Entgelts“ an die Tatbestandsmerkmale ner Beratung abgesehen hat. „Ausnutzung eines geringen Angebots an vergleich- baren Räumen“ geknüpften Voraussetzungen haben Auswärtiger Ausschuss jedoch dazu geführt, dass nach einhelliger Meinung Drucksache 18/4152 Nr. A.2 die Norm in der heutigen Fassung für die Praxis un- Ratsdokument 5096/15 tauglich ist. Drucksache 18/4375 Nr. A.1 Ratsdokument 6031/15 Die Überarbeitung der oben genannten Norm ist auch nicht durch die im Mietrechtsnovellierungsge- setz vorgesehenen Neuregelungen im BGB zur Be- Innenausschuss grenzung der Wiedervermietungsmiete entbehrlich Drucksache 18/3362 Nr. A.3 geworden. Da hiernach selbst der vorsätzlich han- Ratsdokument 14911/14 Drucksache 18/3362 Nr. A.4 delnde Vermieter eine gesetzeswidrig überhöhte Ratsdokument 14915/14 Miete nur zurückzahlen muss, wenn der Mieter einen Drucksache 18/3765 Nr. A.3 Verstoß gegen die Regelungen der §§ 556d ff. BGB Ratsdokument 15783/14 gerügt hat und die zurückverlangte Miete nach Zu- gang der Rüge fällig geworden ist (§ 556g Absatz 2 Haushaltsausschuss Satz 1 BGB), sind zum Schutz der Mieter weitere Drucksache 18/3898 Nr. A.13 Regelungen im Wirtschaftsgesetz 1954 geboten. Ratsdokument 14886/14 – Gesetz zur Bevorrechtigung der Verwendung Drucksache 18/4152 Nr. A.4 Ratsdokument 5317/15 elektrisch betriebener Fahrzeuge (Elektromobili- Drucksache 18/4152 Nr. A.5 tätsgesetz – EmoG) Ratsdokument 5375/15 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 101. Sitzung. Berlin, Freitag, den 24. April 2015 9735

(A) Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Drucksache 18/2533 Nr. A.55 (C) Drucksache 18/4375 Nr. A.5 Ratsdokument 11592/14 EP P8_TA-PROV(2015)0034 Drucksache 18/2533 Nr. A.56 Ratsdokument 11598/14 Drucksache 18/2845 Nr. A.11 Verteidigungsausschuss Ratsdokument 12867/14 Drucksache 18/4152 Nr. A.8 Ratsdokument 17036/1/14 REV 1 Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Drucksache 18/3765 Nr. A.14 Reaktorsicherheit EP P8_TA-PROV(2014)0066 Drucksache 18/1048 Nr. A.15 Drucksache 18/4375 Nr. A.8 Ratsdokument 7220/14 EP P8_TA-PROV(2015)0040

(B) (D) Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-7980