Magazin der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien April 2006

Das Geheimnis des Hörens

Claudio Abbado

Seine Uhren gehen anders. Claudio Abbado gehört seit vielen Jahrzehnten zu den bedeutenden, international renommierten und gefeierten Orchesterleitern der Gegenwart. Aber er dirigiert keineswegs, wie viele seiner Kollegen, oftmals bei den großen Orchestern, in den großen und kleineren Musikmetropolen und auf den wichtigen Festivals – Abbado macht sich schon seit Jahren äußerst rar, er geht betont sparsam um mit seinen Engagements und Reisen. Und auch seine Programme zeichnen sich aus durch sehr bewußt, ja skrupulös getroffene musikalische Entscheidungen.

Claudio Abbado interessiert sich nur noch für ganz bestimmte künstlerische Aufgaben – an sorgfältig ausgewählten Orten, mit ihm besonders nahe stehenden Musikern. Und noch in einem weiteren Punkt unterscheidet sich Abbado von den meisten Dirigenten der internationalen „Szene“: Er hat sein Können, seinen Ruf und seinen Einfluß, hat sein ganzes Musikertum einem Impuls für die Zukunft der Musik dienstbar gemacht: Abbado wurde zu einem der wichtigsten Orchestergründer unserer Zeit.

Darin ist er allenfalls mit zweien seiner großen Vorgänger zu vergleichen – mit Sir Thomas Beecham in England und mit Hermann Scherchen in Deutschland, Österreich, Italien und der Schweiz. Doch Abbados Gründerinitiativen und -antriebe gingen in eine besondere Richtung, denn es sind die Jungen, die Jugendorchester, denen er seit langem einen großen Teil seiner Arbeit widmet. Anders gesagt: Es ist die unbedingte Freude am Musizieren, die ihn seit jeher ergriffen hat – wie sie vielleicht nur von jungen Musikern ausgeht. Und dies will er mit ihnen teilen.

Junge Orchester, frühe Erfahrungen Das Gustav Jugendorchester, das , das Chamber Orchestra of Europe, das Jugendorchester aus Caracas in Venezuela, neuerdings das Mozart- Orchester von Bologna – sie gehören zu den Ensembles junger Musiker, deren Existenz und Arbeit mit Claudio Abbado verknüpft sind. Dabei besitzt der Furor des Pflanzens und Begründens von Jugendorchestern sein Fundament in Abbados eigener früher Musikerbiographie. Nachdem er in Wien das Dirigierstudium bei Hans Swarowsky abgeschlossen, in Tanglewood bei Boston den Kussewitzky-Wettbewerb gewonnen und erste Erfahrungen am Pult kleinerer Ensembles gemacht hatte, begann er zu unterrichten.

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Zwei Jahre lang betreute Abbado am Konservatorium von Parma das Fach Kammermusik. Für ihn eine grundlegend musikalische und dirigentische Selbsterfahrung, denn aus der Kammermusik, dem prägnanten Zusammenspiel weniger Instrumente, lassen sich Gestaltungsprinzipien ins Große übertragen, auf Symphonie und Oper: die präzise Durchformung und Phrasierung der Stimmen, die Durchhörbarkeit des Klanggewebes, das spontane Aufeinanderhören und -reagieren der Musizierenden. Die Erfahrung des Unterrichtens junger Musiker blieb für sein künstlerisches Leben entscheidend.

Das Unausgesprochene erfassen Geboren wurde Claudio Abbado am 26. Juni 1933 in Mailand, als Sohn einer Musikerfamilie. Vater Michelangelo ist Geiger und lehrt als Professor am Konservatorium, die Mutter, ausgebildete Pianistin, erteilt Klavierunterricht und schreibt Kinderbücher. Der Großvater führt als Altertumswissenschaftler in die Welt der Bücher. Der Großvater väterlicherseits ist Geologe und Amateur-Dirigent.

Von Anfang an ist Claudios Instrument das Klavier, wesentliche Erfahrungen verdankt er der in der Familie gespielten Kammermusik, er hört die Sonaten und Trios, Quartette und Quintette von Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert oder Brahms, die vom Vater und dessen Freunden im Hause aufgeführt werden. Öffnung des Hörens – der Vater lehrt ihn das Geheimnis des „Begleitens“ von Musik: „Es ist wie ein Gespräch“, sagt Abbado später, „bei dem man nicht nur aufmerksam lauscht, sondern auf den anderen eingeht und versucht, auch das Unausgesprochene, Gefühle und Gedanken, zu erfassen.“

Zur gleichen Zeit entdeckt der Knabe, der am Gymnasium Latein und Altgriechisch lernt, die Liebe zum Studium, zum Lesen, zur Stille – was ihn nicht von der Lust am Fußballspielen abhält. Mit sechzehn beginnt er am Mailänder Konservatorium „Giuseppe Verdi“ mit Klavier und Komposition, Harmonielehre und Kontrapunkt. Orchesterleitung, die später hinzukommt, unterrichtet der Toscanini-Schüler Antonino Votto, der regelmäßig an der Mailänder Scala am Pult steht und zu dessen Schülern etwa Guido Cantelli und Riccardo Muti zählen. Großes Glück hat der Student am Konservatorium mit einem Fach, das von kaum einem seiner Mitstudenten gesucht wird: Der Lehrer im fakultativen Literaturkurs versteht es, den Schülern die Schätze der Literatur, Dante, Boccaccio oder Petrarca, hautnah zu vermitteln, als wären es Geschichten der Gegenwart. Dieser Lehrer ist ein berühmter Lyriker des Landes, Jahrzehnte später erhält er den Nobelpreis für Literatur – Salvatore Quasimodo.

Musiklektion namens Wien

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Mit zwanzig hat Abbado das Klavierexamen und etwas später das Abschlußdiplom in der Tasche, es folgt die musikalische Praxis: Tourneen mit dem Kammerensemble des Vaters, Gründung eines eigenes Kammerorchesters – Vorbote späterer Orchestergründungen. Beim Sommerkurs in Siena unter Leitung von Carlo Zecchi lernt Abbado den elfjährigen Israeli Daniel Barenboim und den jungen Inder Zubin Mehta kennen. Mehta studiert bereits in Wien, bei dem bedeutenden Dirigentenlehrer Hans Swarowsky. Genau dorthin, zu ihm möchte auch Claudio Abbado.

Im Jahr 1957 übersiedelt Abbado nach Wien. Hans Swarowsky, ein Adept Ferruccio Busonis, Schüler Arnold Schönbergs und Anton Weberns, Freund von Richard Strauss, verkörperte als Musiker, Dirigent und Homme de Lettres, eine einzigartige Mischung aus Universalbildung und Liebe zur Musik, aus musikalischer Kompetenz und pädagogischen Eros. „Unvergeßlich bleiben seine fanatische Ehrlichkeit gegenüber jeder Partitur und sein tiefes Wissen, seine Ausdauer und Geduld beim Erklären der Werke.“ So beschreibt Claudio Abbado den Lehrer und spricht doch zugleich über die eigene Berufsauffassung.

In Wien dringt der junge Musiker noch tiefer ein in die anderen Künste: Literatur und Malerei. Zubin Mehta, der ebenfalls bei Swarowsky studiert, wird sein Freund. Wien bedeutet eine einzige große Musiklektion: Beide besuchen gemeinsam die Staatsoper, den Musikverein und das Konzerthaus. Und sie entwickeln eine nützliche Idee: Um die Konzerte nicht bloß als Zuhörer zu erleben, sondern die Arbeit der Dirigenten kennenzulernen, treten sie dem Wiener Singverein bei. Abbado und Mehta beobachten aus der Nähe die Arbeitsweise eines Karajan, Böhm und Krips, eines Barbirolli, Szell, Ansermet und Scherchen. Und sie erleben noch zwei der großen Alten: Otto Klemperer und Bruno Walter, beide die Schüler Gustav Mahlers.

Ferment des Musizierens Abbado fuhr danach zum Mitropoulos-Wettbewerb nach New York, gewann den Ersten Preis, durfte das New York Philharmonic Orchestra dirigieren, und Leonard Bernstein, Chefdirigent des Orchesters, nahm ihn für ein Jahr zum Assistenten. Von nun an ging es die „Karriereleiter“ hinauf. 1964 dirigierte Abbado zum ersten Mal in Berlin, das Radio- Symphonieorchester, das Lorin Maazel als Chefdirigent leitete. Herbert von Karajan, stets auf der Suche nach Talenten, hörte das Konzert und lud ihn ein zu den Salzburger Festspielen. Am 14. August 1965 dirigierte Claudio Abbado zum ersten Mal in Salzburg, zum ersten Mal die Wiener Philharmoniker: Gustav Mahlers „Auferstehungssymphonie“.

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Abbados Laufbahn sieht auf den ersten Blick „geregelt“, sorgfältig geplant, fast „normal“ nach Art der Stardirigenten aus. Doch gerade weil er seine intensiven praktischen Erfahrungen mit einigen der großen alten Institutionen des europäischen Musiklebens gemacht hat, konnte er überhaupt bemerken, was diesen in ihrer täglichen künstlerischen Arbeit, Gewohnheit oder gelegentlich auch Routine, oftmals fehlt. Sei es, ab den frühen siebziger Jahren, beim London Symphony Orchestra oder als Musikdirektor von 1971 bis 1986 an der Mailänder Scala, sei es an der Wiener Staatsoper zwischen 1986 bis 1991 oder danach bei den Berliner Philharmonikern bis 2003 – der ganze Aktionsradius des Musizierens, die Dimension der Professionalität und die Risiken der Arbeit, die Rechtfertigung des Prestiges und des „Marktwertes“ solcher großen Institutionen bringen es mit sich, daß sich rein musikalische Qualitäten dort oftmals im Lauf der Jahre abschwächen, daß die Spontaneität des Musizierens eventuell geringer ausgeprägt bleibt als die Konzentration auf solche professionellen Erfordernisse. Der Umgang mit jungen, angehenden Musikern wurde ihm auf die Dauer unentbehrlich, selbstverständlich, er empfand ihn von Anfang an als bereichernd, die eigenen Kräfte steigernd, die spontane Freude am Musizieren mehrend.

Die Stille hören Öffnung des Hörens, Nuancierungskunst im Aufeinander-Hören der Musiker, beim Musizieren – es ist die bestimmende Lektion der Kindheit und Jugend Claudio Abbados. Viel später wuchs dem Hören eine weitere und tiefere Dimension zu – bis hin zum Hören der Stille, wie sie Luigi Nono, der Freund, in seiner Musik ausgedrückt hat. In dem Film „Eine Kielspur im Meer“ von Bettina Ehrhardt spricht Abbado darüber: „Ich denke, die Stille in Nonos Musik, wie auch in Mahlers Musik, ist sehr wichtig. Ich denke an den letzten Satz der Neunten, an die Augenblicke der Stille … genauso ist es auch bei Nono, mit dieser im Raum kreisenden Musik, die langsam in die Stille entschwindet. Und diese Stille dauert an, da gibt es keine Grenze.“ Die Offenheit ist es gewesen, die die Freundschaft zu Luigi Nono und Maurizio Pollini begründete. Die drei Musiker waren früh – gemeinsam – der Überzeugung, daß in einer von allen möglichen Vergangenheiten beherrschten Musikkultur die Musik der Gegenwart, der lebenden Komponisten, mehr Rechte, mehr Gehör erhalten muß.

So entsprang es keiner Laune, daß Abbado die junge Musik und die jungen Musiker, den musikalischen Nachwuchs, herausholte aus den Schattenzonen eines immer heftiger kommerzialisierten Musikbetriebs – durch Gründung des Jugendorchesters und des „Wien Modern“-Festivals. Wahrscheinlich ist Claudio Abbado, so glaubt man immer wieder zu beobachten, am glücklichsten, wenn er am Pult eines Jugendorchesters steht, wenn er mit den Jungen arbeitet, in aller Anspannung und Herzlichkeit. Wenn es ein Heilmittel gegen die Krise der klassischen Musik, gegen die Ökonomisierung der Kultur gibt – Abbados Freundschaftsfähigkeit, seine Offenheit, sein Enthusiasmus wären die richtige Medizin.

Erfüllung eines Traums

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Als Claudio Abbado 2002 die Berliner Philharmoniker nach zwölf Jahren verließ, aus eigenem Antrieb heraus, bekam er schon im Sommer darauf die Gelegenheit, ein neu zusammengestelltes Orchester der eigenen Wahl zu dirigieren: das Lucerne Festival Orchestra. Es wurde dort ein Musizieren unter Freunden. Die Musiker, darunter berühmte Solisten sowie Orchester-Weggefährten aus Berlin und Wien, München und Hamburg, Dresden, Zürich und Rom, obendrein das Mahler Chamber Orchestra als musikalisches Klangfundament, empfanden die Arbeit mit „Claudio“ als eine besondere Gunst.

„Ja, wir erlebten in diesem Moment besonders stark das Glück, daß Musik Emotionen vermittelt – ich denke, was wir im vergangenen Jahr in Luzern verwirklicht haben, war bestimmt die Erfüllung eines Traums aller.“ Abbados eigene Worte über die Gründung des Festspielorchesters von Luzern 2003 und das erste Konzert. Fortsetzung und Wiedersehen im Sommer 2004 und 2005. Die Freude des Musizierens steht Claudio Abbado am Pult ins Gesicht geschrieben, die höchste Konzentration, eine spontane Teilhabe am musikalischen Geschehen, wie sie bei ihm schon früher in erfüllten Momenten zu Tage trat. Auch die enorme körperliche, geistige und seelische Anspannung beim Dirigieren. Abbado hat auch nach seinem siebzigsten Geburtstag, auch nach Überwindung der schweren Krankheit seine große Fähigkeit nicht verloren: das feinste Hören der Musik, die musikalische Nuancierungskraft.

Wolfgang Schreiber Wolfgang Schreiber, langjähriger Redakteur und Musikkritiker der „Süddeutschen Zeitung“ und nunmehr freier Publizist, veröffentlichte mehrere Bücher – darunter „Große Dirigenten“ (2005).

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