B L Ä T T E R Nr. 79 ZUM LAND

Für Freiheit und Recht Der „20. Juli 1944“ und seine Verbindungen in unserer Region

Der Umsturzversuch des 20. Juli 1944 wird zu stürzen. Bis zum Sommer 1944 wurden in der Bundesrepublik Deutschland traditio- sogar mehrere Attentats- und Umsturzpläne nell als das zentrale Ereignis des deutschen entwickelt, wieder verworfen oder schlugen Wider­­standes gegen das NS-Regime gewür­ fehl. digt. Auch 75 Jahre danach ist jedoch in der breiten Öffentlichkeit noch immer kaum bekannt, dass es innerhalb der militärischen und der zivilen Opposition schon recht bald Überlegungen gegeben hatte,

Ludwig Schwamb wurde am 23. Juli 1944 in Frankfurt festgenommen und später nach überstellt. Am 13. Januar 1945 verurteilte ihn der „Volksgerichtshof“ zum Tode. Zehn Tage später wurde er zusammen mit neun weiteren Verschwörern in der Strafanstalt Berlin-Plötzensee hingerichtet. Gedenkstätte Deutscher Widerstand Sämtliche dieser Vorhaben scheiterten an technischen und anderen Unwägbarkeiten, wegen der scharfen Sicherheitsvorkehrungen des NS-Regimes oder am Zaudern der be- teiligten Militärs. Die absolute Mehrheit der Wehrmacht und ihrer Führung stand loyal hinter dem Diktator und Oberbefehlshaber und folgte bis zuletzt willig seiner barbari- schen Kriegs- und Eroberungsstrategie. Der „20. Juli“ war keineswegs nur eine ge- meinsame Aktion von wenigen oppositionel- len Militärs und Vertretern des konservativ- liberalen Bürgertums, sondern konnte sich gleichermaßen auf eine weit verzweigte zivile Widerstandsstruktur stützen. Diese war besonders vom früheren Innenminister des Volksstaates Hessen und Gewerkschaftsfüh- rer Wilhelm Leuschner, seinen Parteifreun- den, den ehemaligen SPD-Reichstagsabge- ordneten Dr. Carlo Mierendorff und Dr. sowie von etlichen weiteren Mitstrei- tern in jahrelanger konspirativer Kleinarbeit im ganzen Reichsgebiet geschaffen worden. Für dieses somit im Kern sozialdemokratisch- gewerkschaftliche Vertrauensleutenetz waren außerdem diverse weitere Regimegegner aus bürgerlichen Kreisen gewonnen worden. Eines seiner wichtigsten Zentren erstreckte sich auf die heutigen Bundesländer Hessen und Rheinland-Pfalz mit deutlichem Schwer- punkt im Rhein-Main-Gebiet und in Rhein- hessen

Oberst Stauffenberg (links im Bild) im Führerhaupt- quartier „Wolfsschanze“ am 15. Juli 1944 Bundesarchiv, Bild 146-1984-079-02

Der 20. Juli 1944

Im Anschluss an die verheerende Niederlage von Stalingrad Anfang 1943 verstärkte sich in den zivilen wie auch den militärischen Kreisen der Opposition die Überzeugung, dass der Krieg für Deutschland früher oder später verloren sein würde. Fortan gewannen die Überlegungen oppositioneller Offiziere hinsichtlich einer möglichst raschen Besei- tigung Hitlers durch ein Attentat wieder an Kontur, um so die Verbrechen des Regimes 2 Zerstörte Lagebaracke nach dem Attentat im Führerhauptquartier „Wolfschanze“ bei Rasten- burg in Ostpreußen am 20. Juli 1944 Gedenkstätte Deutscher Widerstand

3 endlich zu beenden und um den Weg freizu- Die Bombenexplosion hatte unter den 24 machen zunächst für einen von vielen erhoff- in der Lagebaracke Versammelten vier To- ten Separatfrieden mit den Westalliierten. desopfer gefordert, Hitler selbst war aber Auch Claus Graf Schenk von Stauffenberg nur leicht verletzt worden. Auch das erst äußerte verschiedentlich im vertraulichen am Nachmittag ausgelöste eigentliche Gespräch, nicht zuletzt die massenhaften Er- Umsturzunternehmen brach schon nach schießungen der Juden müssten unverzüglich wenigen Stunden in sich zusammen. In etli- gestoppt werden, was aber die Liquidierung chen Stellvertretenden Generalkommandos Hitlers voraussetze. Genauso sahen sich waren die Befehle der Verschwörer erst nach etliche andere Verschwörer, zumal wenn sie Dienstschluss, in München und Danzig über- als Offiziere selbst in solche systematischen haupt nicht eingetroffen. Mit der Durchfüh- Mordaktionen verstrickt waren, gerade rung der Alarmmaßnahmen der Operation wegen ihres Wissens um diese Gräueltaten „Walküre“ war lediglich – außer in Berlin – in schließlich ebenfalls zum Handeln gedrängt. Kassel, Dresden, Hamburg, Frankfurt am Nachdem der Attentatsplan immer wieder Main und Münster in Westfalen begonnen verschoben worden war, zündete Oberst worden. Aber auch dort war alles im Ansatz Stauffenberg mit Unterstützung seines Ad- stecken geblieben. jutanten Oberleutnant Werner von Haeften am 20. Juli 1944 in der Lagebaracke des Füh- Nur in Prag, Paris und Wien waren die Alar- rerhauptquartiers „Wolfschanze“ bei Rasten- mierung und sogar die Verhaftungen regi- burg in Ostpreußen eine Bombe, die er – in metreuer Kräfte angelaufen bzw. zum Teil einer Aktentasche verborgen – in der Nähe bereits durchgeführt worden. In Paris hatten Hitlers platziert hatte. Die anschließend von immerhin 1.200 Mann SS, SD und Polizei fest- Berlin aus ausgelöste Operation „Walküre“ hätte eigentlich zur Initialzündung für einen Generaloberst a. D. Ludwig Beck kombinierten Aufstand militärischer und Gedenkstätte Deutscher Widerstand ziviler Widerstandskräfte werden sollen. Die geheimen „Walküre“-Befehle, ursprünglich entwickelt z. B. zur Bekämpfung innerer Unruhen, etwa von Aufstandsversuchen der Zwangsarbeitskräfte und Kriegsgefangenen, waren von General Friedrich Olbricht und einigen anderen seit 1942 für die Zwecke der Verschwörer umgearbeitet worden. Nach einem erfolgreichen Anschlag auf Hitler hät- ten umgehend alle regimetreuen Entschei- dungsträger verhaftet, die Nachrichten- und Presseeinrichtungen unter die Kontrolle der Verschwörer gebracht und ähnliche Maß- nahmen durchgeführt werden sollen, um dadurch die Voraussetzungen für das Ge- lingen des Umsturzes im Reich und an der Front zu schaffen. In den einzelnen Wehr- kreisen sollten militärische Verbindungsleu- te, unterstützt von politischen Beratern, für die Durchsetzung der Befehle der Verschwö- rer sorgen. Die Aktion, auf die seit Langem hingearbeitet worden war, scheiterte indes binnen nur eines halben Tages. 4 gesetzt werden können, die jedoch nach dem Am Tag der Aktion hätte Hauptmann Her- Erkennen des Scheiterns der Aktion wieder mann Kaiser vom Stab des Chefs der Heeres- auf freien Fuß gesetzt wurden. rüstung und Befehlshabers des Ersatzheeres in seiner Heimatstadt Wiesbaden, wo er vordem Verbindungen in unsere Region im Zivilberuf als Studienrat gewirkt hatte, in die Funktion des Verbindungsoffiziers zwischen den Auch in Mainz waren Maßnahmen zur Fest- militärischen und den zivilen Widerstandskräf- nahme bzw. Liquidierung Hitler treu ergebe- ten im Wehrkreis XII rücken sollen. Seit 1941 ner Militärs geplant gewesen, die sich indes hatte er in Berlin eng mit der Führungsebene nicht hatten durchführen lassen. Zuständig des militärischen und bürgerlich-konservativen u. a. für das westliche Rhein-Main-Gebiet, Widerstandes kooperiert, so mit Generaloberst die Regierungsbezirke Koblenz und Trier, den a. D. Ludwig Beck und dem früheren Leipziger Westerwald, Rheinhessen, die Pfalz und das Oberbürgermeister Dr. Carl Goerdeler, dann Saarland war das Stellvertretende General- auch mit Generalmajor Henning von Tresckow, kommando des XII. Armeekorps in Wiesba- Oberleutnant Dr. Fabian von Schlabrendorff, den. Dort hatten die Verschwörer auf den General Friedrich Olbricht und Oberst Claus Chef des Generalstabes Generalmajor Erwin Graf Schenk von Stauffenberg, ebenso mit Gerlach gezählt. Als aber die Fernschreiben Funktionären des Arbeiterwiderstandes und entschlüsselt worden waren und Rückfragen vielen anderen Regimegegnern. in anderen Wehrkreisen erbracht hatten, dass eine Beteiligung am Staatsstreichversuch zu Auch die Mehrheit der deutschen Bevölke- riskant sei, war dieser in Berlin bereits ge- rung stand Mitte 1944 trotz der Invasion der scheitert. Westalliierten in der Normandie sowie der

Dr. Carl Friedrich Goerdeler Fabian von Schlabrendorff Gedenkstätte Deutscher Widerstand Stadtarchiv Wiesbaden

5 wuchtigen Sommeroffensiven der Sowjets gehörte er im Zuge der Umsturzvorbreitungen gegen die Ostfront und der sich damit deut- zu den Vertrauten von Oberst Stauffenberg lich abzeichnenden Niederlage Deutschlands und General Olbricht. Seine Aufgabe bestand loyal zu Hitler und zum NS-Regime. Dem in der Abschirmung von Gefährdeten sowie hatten die Verschwörer dadurch zu begegnen der Warnung der Verschwörer vor den jeder- gesucht, dass sie nach dem Gelingen des zeit möglichen Observationen und Zugriffen Militärschlages unverzüglich ein verlässli- durch die . So hat er beispielsweise die ches Netz ziviler Widerstandsgruppen auf Einstellung eines Ermittlungsverfahrens gegen den Plan rufen wollten. Ansonsten hätte Hauptmann Hermann Kaiser erreicht, der der befreiende Umsturz ohnehin nur durch 1943 von einem Kameraden aus dem Ersten Gruppen und Personen erfolgen können, die Weltkrieg wegen seiner scharfen Kritik an Hit- sich unmittelbar an den Schaltstellen der ler denunziert worden war. Macht befanden. Dies galt primär für Teile der militärischen und zivilen Funktionseliten. Nach der bereits am 12. Juni 1944 erfolgten Für die angestrebte unverzügliche Verbreite- Verhaftung von Oberst Wilhelm Staehle, der rung der Basis des Unternehmens hätte ein u. a. mit Carl Goerdeler und niederländischen Bündnis bürgerlich-konservativer, liberaler, Widerstandskreisen in Verbindung gestanden gewerkschaftlich-sozialdemokratischer und hatte, war Sack sogar selbst ins Wehrmachts- linkssozialistisch-pazifistischer Widerstands- gefängnis geeilt, um vom dort Inhaftierten gruppen sorgen sollen. den aktuellen Stand der Ermittlungen in Erfahrung zu bringen. Dies führte letztendlich Die Errichtung einer Militärdiktatur hatten die wenige Wochen nach dem „20. Juli“ zu seiner Verschwörer keineswegs beabsichtigt, jedenfalls eigenen Festnahme. Sack hätte womöglich nicht auf Dauer. Einigkeit herrschte vor allem als Justizminister der von den Verschwörern darin, nach einem geglückten Umsturz umge- angestrebten Zivilregierung fungieren sol- hend zur Rechtsstaatlichkeit zurückzukehren. len. Auf Befehl Hitlers wurde vom Chef des Ansonsten blieben die politischen und wirt- Reichssicherheitshauptamtes Dr. Ernst Kal- schaftlichen Vorstellungen für einen Neubeginn tenbrunner veranlasst, dass am 8. April 1945 bei den verschiedenen Gruppen und Personen im KZ Flossenbürg gegen Sack, Admiral Wil- der Opposition bis zuletzt strittig, wobei ein helm Canaris, Generalmajor Hans Oster und parlamentarisch-demokratisches Staatswesen einige andere Regimegegner ein Standgericht heutiger Prägung in ihren Planungen zumeist zusammentrat. Dieses erkannte wegen Hoch- nicht vorgesehen war. Eine große Ausnahme ist und Kriegsverrats für alle Angeklagten auf hierbei sicherlich die vom berühmten Partei- Todesstrafe, die am Morgen des folgenden enforscher Prof. Dr. Ludwig Bergsträsser wohl Tages vollstreckt wurde. 1942 für Wilhelm Leuschner erstellte, wohl- weislich „Wiederherstellung“ betitelte Denk- Kurier zwischen den Widerstandskreisen schrift zur Wiedereinführung des „parlamentari- schen Systems im eigentlichen Sinne.“ Schon im Herbst 1933 hatte der 1907 in an der Saale geborene Jurist Fabian von Der Vertraute Stauffenbergs Schlabrendorff damit begonnen, in Pommern und in Rheinhessen viele zuverlässige NS- Der 1896 in Bosenheim, heute Stadtteil von Gegner in Zellen zusammenzufassen und der Bad Kreuznach, geborene Dr. Karl Sack rückte Oppositionsbewegung zuzuführen. Als dessen im Herbst 1942 zum Chef der Heeresjustiz auf. Ordonnanzoffizier hat er zusammen mit Als solcher ging er unerbittlich vor insbesonde- Henning von Tresckow den Attentatsversuch re gegen Angeklagte mit - wie es damals hieß auf Hitler vom 13. März 1943 in Smolensk – „staats- und wehrfeindlicher Einstellung“ unternommen. Ferner war er als Kurier zwi- bzw. „asozialer Persönlichkeit“. Gleichwohl schen den Widerstandskreisen an der Front 6 und solchen im Heimatheer eingesetzt. Carlo Mierendorff und Theodor Haubach und Mit den führenden Köpfen der bürgerlich- etliche andere forciert betrieben. Jene Wider- militärischen Opposition Ludwig Beck und standsstruktur sollte erst nach einem erfolg- Carl Goerdeler hat er sich seit Sommer 1942 reichen militärischen Umsturzunternehmen in ständiger Fühlung befunden. Am 17. August aktiviert werden, um dieses sodann in demo- 1944 wurde der Oberleutnant festgenommen kratische Bahnen zu lenken. Allerdings konnte und im Gestapogefängnis des Reichssicher- infolge der ständigen Einberufungen zur heitshauptamtes in Berlin, später im KZ Wehrmacht fast nur noch auf ältere einstige Sachsenhausen inhaftiert. Dass er überlebte, Funktionsträger aus Gewerkschaften und grenzt an ein Wunder: Mehrfach schwer SPD zurückgegriffen werden. Die zwischen gefoltert, hat er trotzdem keinen seiner Ge- Leuschner, Leber und anderen sozialdemo- sinnungsfreunde verraten und schließlich in kratischen und gewerkschaftlichen Spit- seiner – fünfmal verschobenen – Verhandlung zenfunktionären bestehenden Kontakte zur vor dem „Volksgerichtshof“ am 16. März Führungsebene des bürgerlich-militärischen 1945 sogar Freispruch erwirken können. Kurz Widerstandes um Goerdeler und General- darauf wurde ihm jedoch eröffnet, es handele oberst a. D. Beck, bis zu seinem spektakulären sich um ein Fehlurteil, er werde erschossen. Rücktritt im Sommer 1938 Generalstabschef Er wurde aber in das KZ Flossenbürg, dann ins des Heeres, waren die Grundvoraussetzung KZ Dachau verlegt, anschließend in ein KZ für das geplante gemeinsame Vorgehen bei Innsbruck. Am 4. Mai 1945 wurde er von gegen den Diktator. 1941 wurde zudem die amerikanischen Truppen befreit. 1967 wurde Verbindung des sozialdemokratisch-gewerk- er als Richter an das Bundesverfassungsge- schaftlichen Untergrundes mit den Oppo- richt in Karlsruhe berufen, dessen 2. Senat er sitionellen des überparteilichen Kreisauer acht Jahre lang angehörte. Wilhelm Leuschner Das zivile Vertrauensleutenetz Archiv der sozialen Demokratie / Friedrich-Ebert-Stiftung im Umfeld des „20. Juli“

Nach seiner Entlassung aus dem KZ Lich- tenburg im Sommer 1934 machte sich Wilhelm Leuschner daran, von Berlin aus ein schließlich im ganzen Deutschen Reich weit verzweigtes informelles Verbindungs- netz sozialdemokratisch-gewerkschaftlicher Widerstandskräfte zu knüpfen. Seine Kon- taktfahrten, die zunächst vor allem im Zu- sammenhang mit der Illegalen Reichsleitung der Gewerkschaften standen, tarnte er seit 1936 geschickt als Geschäftsreisen für sei- nen Betrieb zur Herstellung von Armaturen, Bierzapfhähnen und ähnlichen Produkten. Als 1938 durch regimekritische Kreise aus Bür- gertum und Militär erstmals eine gemeinsa- me Aktion gegen Hitler erwogen wurde, war Leuschner bereits eingeweiht. Seit Anfang der 1940er-Jahre wurde der Aufbau eines reichsweiten Vertrauensleutenetzes durch ihn sowie seine inzwischen gleichfalls aus dem KZ entlassenen Parteifreunde Julius Leber, 7 Kreises um Helmuth James Graf von Moltke und Dr. Peter Graf Yorck von Wartenburg her- gestellt. Auch der 1898 in Bad Ems geborene bedeutende Reformpädagoge Prof. Dr. Adolf Reichwein gehörte zu jenem oppositionellen Diskussionszirkel. Seit 1940 in enger Bezie- hung mit dem von Leuschner organisierten Widerstandsnetz, beteiligte er sich seit Januar 1944 unmittelbar an den Umsturzvorberei- tungen Stauffenbergs.

Ab 1943/44 wurden zunehmend bis dahin weitgehend autonom gebliebene bürgerliche Widerstandsgruppen, ebenso die deutlich schwächer ausgeprägten konspirativen Strukturen christlicher sowie liberaler Ge- werkschafter, einige linkssozialistische und pazifistische Grüppchen und dazu noch verschiedene protestantische, katholische, demokratische und liberale Einzelpersönlich- keiten informell in das Vertrauensleutenetz Leuschners und seiner Freunde einbezogen. Gleichzeitig wurden für die einzelnen Wehr- kreise so genannte Politische Beauftragte so- wie Unterbeauftragte bestimmt. Diese sollten in der eigentlichen Umsturzphase über ent- sprechende Verbindungsoffiziere beratenden

Adolf Reichwein am 20. Oktober 1944 vor dem „Volksgerichtshof“ in Berlin. DIPF/BBF/Archiv: REICH FOTO 8 Einfluss auf die Kommandeure der Stellver- organisierten Bereiche überhaupt. Dessen tretenden Generalkommandos nehmen. Un- organisatorisches Zentrum befand sich im mittelbar danach hätte den Politischen Be- Rhein-Main-Gebiet. Dort und im näheren auftragten die Funktion von Oberpräsidenten Einzugsbereich verfügten Leuschner und et- bzw. Verwaltungschefs der ihnen zugewiese- liche seiner wichtigsten Mitstreiter aus der nen Landesteile zufallen sollen. Im Bereich Zeit ihres politischen Handelns während der des Stellvertretenden Generalkommandos Weimarer Republik noch immer über eine be- des Wehrkreises XII Wiesbaden sollte Leusch- trächtliche Zahl verlässlicher und risikoberei- ners enger politischer Freund und Mitstreiter, ter Freunde und Sympathisanten. So konnte der 1890 in Undenheim geborene Jurist und Schwamb die politische Leitung der Vertrau- frühere hessische Staatsrat Ludwig Schwamb ensleutestruktur südlich der Mainlinie dem die Aufgabe des Politischen Beauftragten früheren Oppenheimer Prokuristen sowie übernehmen. Als Unterbeauftragter, d. h. als SPD-Landtags- und -Reichstagsabgeordneten Stellvertreter Schwambs, war Bartholomäus Jakob Steffan übertragen, der erst 1940 – ge- Koßmann aus Saarbrücken eingesetzt, einst sundheitlich schwer geschädigt – aus dem KZ Reichstagsabgeordneter für das Zentrum im Dachau entlassen worden war. Die regionale Wahlkreis Koblenz-Trier-Birkenfeld sowie Zentrale des Vertrauensleutenetzes befand Vorsitzender der katholischen Bergarbeiter- sich in Frankfurt. In den einzelnen Städten gewerkschaft in Neunkirchen-Saar. und Gemeinden war die Leitung erfahrenen, zumeist ebenfalls sozialdemokratischen Nur zum Teil deckungsgleich mit jener Politikern, Gewerkschaftsfunktionären und Struktur, die sich an der geografischen Verwaltungsfachleuten übertragen worden. Ausdehnung der Wehrkreise ausrichtete, Diesen oblag es, weitere geeignete Mitarbei- war die von Leuschner, Leber und anderen ter heranzuziehen. In Mainz war Alfred Freitag geschaffene zivile Widerstandsstruktur. Die eingesetzt, vor 1933 Landespartei­sekretär Region zwischen Kassel und Heidelberg war der SPD in Rheinhessen, der nun eng mit dabei offenbar einer der von ihnen am besten Jakob Steffan Stadtarchiv Oppenheim

9 einer Gruppe von Gewerkschaftern um Wichtige Hinweise sind Emil Henk zu ver- den vormaligen Bezirksleiter des Einheits- danken, der dominierenden Persönlichkeit verbandes der Eisenbahner Deutschlands des frühen sozialistischen Widerstandes im Anton Calujek und einem katholischen Wi- Raum Mannheim/Heidelberg. Er war mit derstandskreis um Dr. Ernst Doller zusam- Theodor Haubach und dem früheren Presse- menarbeitete. Dort war nicht nur die Fest- sprecher des hessischen Innenministeriums setzung der örtlichen Führungsspitzen des sowie langjährigen Leuschner-Intimus Carlo Regimes vorbereitet worden, sondern auch Mierendorff eng befreundet. 1946 hat Henk ein Eisenbahnerstreik zur Unterstützung des seine Kenntnisse der Organisationsstruktur Staatsstreichs. Den Stützpunkt in Ingelheim des zivilen Widerstandsnetzes im Zusam- leitete der Gastwirt Otto Wedekind. Wei- menhang mit dem „20. Juli“ in der Region tere Stützpunkte in Rheinhessen bestanden zwischen Kassel und Heidelberg sowie in nachweislich in Worms, Guntersblum, Op- Rheinhessen publik gemacht. Er berichtete, penheim, Nierstein, Bingen, Dolgesheim, „ganze Tausend zuverlässige Männer“ seien Alsheim und Nieder-Olm. Die meisten als „Avantgarde“ in diesem „mit am besten dieser zivilen Vertrauensleute waren bereits organisierten“ Bereich „zur Aktion bereitge- ab 1933 aus politischen Gründen verfolgt stellt“ gewesen. Hinter jedem Einzelnen hät- worden und hatten ihre berufliche Existenz ten jeweils „mindestens weitere zehn aktive verloren. Alfred Freitag und Otto Wedekind Kämpfer“ gestanden. Diese Zahlenangaben waren 1933/34 im KZ Osthofen bei Worms erscheinen zwar als recht hoch gegriffen, inhaftiert gewesen. und es ist heute, ein Dreivierteljahrhundert Anton Calujek danach, ein schwieriges, wenn nicht aus- Gedenkstätte Dachau

10 sichtsloses Unterfangen, dies alles noch bereit, es ist etwas im Gange“. Die örtlichen detailliert zu überprüfen. Das ganze Ausmaß sozialdemokratischen Solidargemeinschaf- jenes Netzwerkes war seinerzeit nämlich nur ten, untereinander verwandtschaftlich und Leuschner und seinen engsten Mitstreitern freundschaftlich eng verbunden, bildeten auf bekannt und auch diesen nur bis hinunter der untersten Ebene in der Hauptsache jenen zur Ebene der lokalen Stützpunktleiter. Die Personenkreis, der im Falle eines geglückten weiteren Kontaktleute blieben aus Sicher- Umsturzes hätte herangezogen werden sol- heitsgründen selbst gegenüber der Führungs- len. Sie hätten indes erst im entscheidenden ebene geheim und meist auch untereinander Moment erfahren, dass und in welcher Form konspirativ abgeschottet. Die Regimegegner sie aktiv werden sollten. Gleiches gilt für die an der lokalen Basis wussten lediglich, dass mit ihnen vielfach unmittelbar verbundenen eine Aktion gegen Hitler bevorstehe. So liberalen und konservativen Oppositionellen hatte beispielsweise der Sozialdemokrat und vor Ort. vormalige Angehörige des Republikschutz- verbandes „Reichsbanner Schwarz Rot Gold“ Epilog Jakob Schuch aus Nierstein, der dann zusam- men mit fünf weiteren Opfern am 21. März Nach dem Scheitern von Attentat und Um- 1945 am Kornsand gegenüber von Nierstein sturzversuch gelang es den Fahndern des von den Nationalsozialisten ermordet wurde, NS-Terrorsystems in der Hauptsache nur, seinem Schwabsburger Reichsbanner-Kame- viele der unmittelbaren Anführer der Aktion raden Peter Morch im Juli 1944 einen Karabi- und den Personenkreis der durch die Befehle ner mit den Worten anvertraut: „Halte dich zu ihrer Heranziehung sichtbar gewordenen Verbindungsoffiziere sowie Politischen Be- auftragten und Unterbeauftragten in den Wehrkreisen zu ermitteln und festzunehmen. So waren durch Fernschreiben Generaloberst Erich Hoepners vom 20. Juli 1944 die vor- gesehenen Funktionen Hauptmann Kaisers als Verbindungsoffizier sowie Schwambs als Politischer Beauftragter im Wehrkreis XII und damit als unmittelbarer Ansprechpartner Kaisers auf Seiten der Zivilopposition ebenso offenbar geworden wie die von Schwambs Unterbeauftragtem bzw. Stellvertreter Bar- tholomäus Koßmann. Dieser konnte jedoch – anders als Kaiser und Schwamb – in seinem Prozess durch geschickte Verteidigung einen Freispruch erwirken.

Die damals nicht enttarnten Widerständler, aber auch jene, die gefasst worden waren und trotzdem mit dem Leben davongekommen sind, haben sich bald darauf nahezu aus- nahmslos ins Zeug gelegt für den durch die militärische Niederringung des NS-Regimes und das nachfolgende diesbezügliche Entge-

Carlo Mierendorff (rechts) und Emil Henk Archiv der sozialen Demokratie / Friedrich-Ebert-Stiftung

11 genkommen der Siegermächte möglich ge- wordenen demokratischen Neubeginn.

So etwa wirkte z. B. Jakob Steffan erst als Regierungspräsident für Rheinhessen, dann als Innenminister und schließlich von 1949 bis 1950 als Sozialminister in Rheinland- Pfalz. Der Wiesbadener Stützpunktleiter, der vormalige Wormser Polizeidirektor Heinrich Maschmeyer engagierte sich sofort nach dem Einmarsch der US-Truppen als Sozialdemo- krat im überparteilichen Aufbau-Ausschuss Wiesbaden, einer der wichtigsten Keimzellen der dortigen demokratischen Reorganisation, bis er bereits nach wenigen Wochen an den Spätfolgen seiner zwölf Jahre zuvor im KZ Osthofen erlittenen Gesundheitsschädigun- gen gestorben ist. Der während der NS-Zeit sogar mehrmals inhaftierte Mainzer Anton Calujek agierte fortan u. a. als Sekretär der Eisenbahner-Gewerkschaft, als Mitglied des Stadtrats in der Landeshauptstadt und der rheinland-pfälzischen Beratenden Landes- versammlung, dann als SPD-Landtagsabge- Hermann Kaiser, einer der wichtigsten Organisatoren ordneter und zuletzt als Vizepräsident der des „20. Juli“, wurde am 17. Januar 1945 zum Tode Eisenbahndirektion Mainz. Der christliche verurteilt. Das Urteil wurde sechs Tage darauf in der Strafanstalt Berlin-Plötzensee vollstreckt. Oppositionelle Ernst Doller, welcher der Stadtarchiv Wiesbaden Widerstandsbewegung seit 1941 angehört hatte und bei Gelingen des Umsturzes an die Spitze der Justizverwaltung in Rheinhessen hätte rücken sollen, wurde alsbald zum Ge- neralstaatsanwalt befördert und amtierte schließlich als Landgerichtspräsident und als stellvertretender Oberregierungspräsident der Pfalz. Der einstige Landesvorsitzende der hessischen SPD, der Offenbacher Stadtver- ordnete, Landtags- und Reichstagsabgeord- nete sowie Bevollmächtigte des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes Wilhelm Weber, der während der NS-Zeit wie so viele seiner Kollegen und Genossen wiederholt in Haft genommen worden war, so 1933 im KZ Osthofen und zuletzt 1944 im KZ Dachau, engagierte sich seit dem folgenden Frühjahr beim zügigen Wiederaufbau seiner Partei und der Gewerkschaften, z. B. als DGB-

Heinrich Maschmeyer Landesarchiv Speyer H 80 Nr. 1018 12 Kreisvorsitzender, bis er 1952 mit 76 Jahren aus dieser Funktion ausschied. Der frühere rechtsliberale Bürgermeister von Alsheim Ernst-Jakob Wetzel, der 1933 acht Monate lang in Osthofen eingesperrt war und seit 1942 Fühlung gehabt hatte mit den zivilen und militärischen Untergrundstrukturen der Freiheitsbewegung des „20. Juli“, wurde von der US-Militärregierung im April 1945 wieder in sein vormaliges Amt eingesetzt, in das er später auch durch die Bürgerschaft gewählt wurde; 1946 trat der Weingutsbesitzer der CDU bei, für die er dann als Kreisvorsitzender in Worms fungierte; 1947 stieg er zum Präsi- denten der Landwirtschaftskammer Rhein- hessen auf, und er gehörte seitdem 20 Jahre lang dem rheinland-pfälzischen Landtag an. Der vordem linksliberale, dann zur SPD über- gewechselte Reichsbanner-Mann Heinrich Ahl, der bis zu seiner politisch bedingten Ent- lassung 1933 Leiter des hessischen Landes­ kriminalamtes und Chef der Politischen Po- lizei in Darmstadt gewesen war, wirkte dort ab 1945 wieder in verschiedenen leitenden Positionen, so als Regierungsdirektor und Wilhelm Weber zuletzt als Regierungsvizepräsident. Der mit Privat Inge Weber, Offenbach Emil Henk befreundete Wormser Lehrer und Dr. Ernst Kilb Sozialdemokrat Dr. Ernst Kilb diente seiner Stadtarchiv Worms Heimatstadt bis zu seinem frühen Tod Anfang 1946 als noch von der US-Militärregierung im Frühjahr des Vorjahres eingesetztes Stadt- oberhaupt; seit dem Sommer amtierte er zugleich als für das Volksschulwesen und die Lehrerausbildung zuständiger Präsidialdirek- tor im damaligen Oberregierungspräsidium in Neustadt an der Haardt, später an der Weinstraße, wofür er von Henk, dem dorti- gen zeitweiligen Dezernatsleiter für Erziehung und religiöse Fragen, gewonnen worden war. Während die US-Militärregierung im Frühjahr 1945 Fritz Rüffer zum Landrat des Landkrei- ses Mainz mit Sitz in Oppenheim ernannte, war sein früherer SPD-Stadtratskollege Jo- hann Benz dort seitdem fast zehn Jahre lang Bürgermeister. Auch der ehedem zeitweilige Niersteiner SPD-Ortsvereinsvorsitzende und Weinkommissionär Andreas Licht hatte 1933 wie Benz, Rüffer und so viele andere das KZ Osthofen durchleiden müssen und wurde von 13 den Amerikanern 1945 als Bürgermeister sei- Dokumentation ner Heimatgemeinde eingesetzt; dieses Amt übte er bis zum darauffolgenden Jahr aus. Emil Henk über das Vertrauensleutenetz Der einstmalige Bingen-Büdesheimer SPD- Wilhelm Leuschners und seiner Mitstreiter Vorsitzende Franz Adamo, der vor 1933 schon im Rhein-Main-Neckar-Raum kurz vor dem Stadtrat angehört hatte, während der dem Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 NS-Zeit dann wiederholt inhaftiert war und 1945 in Bingen zum Beigeordneten bestimmt aus: Die Tragödie des 20. Juli 1944. Ein worden ist, zählte 1945/46 zu jenen, welche Beitrag zur politischen Vorgeschichte, in seiner Gemeinde die SPD reorganisiert 2., erw. Aufl., Heidelberg 1946, S. 46–51. haben; im selben Jahr wurde er abermals in den Stadtrat von Bingen gewählt, zwei Jahre darauf in den Kreistag, und 1951 zog er als (…) Im Juni 1944 landeten die Amerikaner Nachrücker in den Landtag von Rheinland- und Engländer in der Normandie. (…) Mit Pfalz ein. der Invasion waren die Voraussetzungen zum Putsch gegen Hitler gegeben. So zeigt sich an diesen hier exemplarisch für unser Land hervorgehobenen Lebenswegen Zwei Faktoren allerdings mussten sich zuerst eine beeindruckende Kontinuitätslinie, die entwickeln. Die Alliierten mussten ihre Ope- von der Weimarer Republik über den antina- rationen so weit abgeschlossen haben, dass zistischen Widerstand hin zu unserer Bundes- sie mit Armeen bereitstanden. Und dann: Die republik führte. militärischen und politischen Vorbereitungen mussten nun schnellstens durchgeführt wer- Angelika Arenz–Morch den. Die Militärs hatten einen riesigen und Dr. Axel Ulrich exakt ausgearbeiteten Plan entworfen, der nach gelungenem Attentat sofort die ganze deutsche Armee unter ihre Macht brachte.

Die Politiker dagegen hatten ihre Zugriffe zur Masse vorgenommen und den Charak- ter der Illegalität geändert. Die politische Elite musste (…) eine vorrevolutionäre Situa- tion selbst schaffen. (…)

Was geschah durch die Politiker (…) zur Vorbereitung der Massenbasis?

Etwas in der Geschichte der politischen Revolutionen ganz Neues. Nach der gelun- genen Invasion wurde die gewerkschaftlich- sozialistische Illegalität systematisch vertieft. Die Elite nahm Fühlung mit den Vortruppen der Massen. Das Risiko der Massenille- galität musste gewagt werden, denn die Gefahr war begreiflicherweise kurzfristig. Überall, an allen Orten in Deutschland wurden Männer in die Geheimorganisati- on eingeweiht. Sie wussten nicht viel. Sie kannten nur ihre lokale Aufgabe. 14 15 Sie hatten, jeder Einzelne, die Verantwor- In den Wochen vor dem Attentat erfolgte tung dafür, dass 10–20 weitere zuverläs- eine weitere Veränderung in der Geheim- sige Männer schlagartig zu alarmieren organisation. Es wurden in letzter Stunde waren, die den örtlichen Nazigegner und einzelne andere politische Gruppen an den staatlichen Machtapparat zu besei- diesen Apparat angeschlossen: Katholiken, tigen hatten, soweit ein Machtapparat Protestanten, Demokraten und da und dort überhaupt noch bestand. Die Illegalität auch Liberale. also, die bisher lediglich auf die größeren und mittleren Städte beschränkt war, die Auch hier fehlten die Kommunisten. Man auf relativ wenigen Schultern ruhte, wurde war ihrer politischen Gegnerschaft sicher. nunmehr, Pfählen gleich, in die Tiefe ge- Aber Jahre der Illegalität hatten gezeigt, stoßen. Und sie trat mit den vorderen Glie- dass die Gestapo verstanden hatte, ein dern der Masse in Verbindung. (…) ganzes System von Spitzeln in die kommu- nistische Illegalität zu schmuggeln. Es kam also darauf an, alle Vorbedingun- gen zum Masseneinsatz gleichsam willkür- Es bestand daher der Beschluss, dass mit lich zu schaffen. den Kommunisten erst nach dem Sturz Hitlers die Verbindung aufgenommen wird. Eine sehr wichtige Feststellung ergab sich (…) in diesem Augenblick: Es waren Männer genug für das erste Glied der Massenakti- Das mit am besten organisierte Gebiet war on vorhanden! Es gab kaum einen Ort, wo der Bereich zwischen Kassel und Heidel- nicht die politische Avantgarde in diesen berg. Wie sah es in diesem Bereich kurz Wochen stand. Und es gab kaum einen vor dem 20. Juli aus? Ort, wo hinter diesem ersten Glied nicht zehn weitere Glieder greifbar waren. Die Zentrale saß in Frankfurt. Sie wurde von dem früheren hessischen Staatsrat Offen war und offen blieb – was wird die [Ludwig] Schwamb geleitet. Er gehörte zum Masse selbst tun? Sie atmete schwer unter Kreisauer Kreis und arbeitete besonders der Tyrannis. Sie war kriegs- und bomben- eng mit [Dr. Julius] Leber zusammen. müde. Würde sie bereit sein, über die Hür- den zu springen? Schwamb war ein ernster, entschlossener und stiller Mann. Er war Sozialist und aus- Die Vertrauensmänner der gewerkschaftlich- gesprochen religiös. Seine Tätigkeit war sozialistischen Widerstandsgruppen bilde- so unauffällig, dass Leuschner ihn zu den ten in kurzer Zeit über ganz Deutschland schwierigsten Aufgaben heranzog. Er führte ein unsichtbares Netz von oben herab bis Verhandlungen mit den Wehrkreiskomman- hinunter in die kleinsten Gemeinden. deuren im Auftrag der Berliner Zentrale; er hat die wichtigsten Männer in seinem Das Land selbst war aufgeteilt in große Bereich herangezogen, vor allem den jet- Bezirke, und an der Spitze eines jeden zigen Regierungspräsidenten von Rheinhes- Bezirks stand ein besonders verlässlicher sen [Jakob] Steffan und den [derzeitigen] Mann. Von dieser Bezirksspitze aus erfolgte Chef der hessischen Regierung Prof. [Dr. die Untergliederung in größere und kleinere Ludwig] Bergsträsser. Kreise bis herab zu den Städten und Dör- fern. Die Leiter der Bezirke waren von Ber- Schwamb setzte zum Leiter der nordhessi- lin aus, in der Hauptsache von [Wilhelm] schen Illegalität den heutigen Bezirkssekre- Leuschner eingesetzt. tär der Frankfurter Gewerkschaften [Willi] Richter ein. Für den Bereich Frankfurt- 16 Heidelberg wurde Steffan bestimmt. Steffan Gruppe [von Hans] Stoffers – gearbeitet war [sieben] Jahre [im Gefängnis und] im hatten. Es waren die Gewerkschaftler [Wil- KZ als früherer SPD-Abgeordneter, und er helm] Widmann und [Wilhelm] Weber. ging nach seiner Entlassung sofort in die Il- legalität – allerdings durch Misshandlungen So sah es in den größeren Städten dieses fast erblindet. Steffan übergab in den wich- Gebiets aus. Aber man begreift die politi- tigsten Großstädten die Leitung erfahrenen sche Organisation des 20. Juli nicht, wenn Politikern. In Frankfurt lag sie in den Hän- man ihre tiefe Verzweigung bis hinab in klei- den vo[m nunmehrigen] Kriminalrat [Chri- ne Gemeinden übersieht. Und weil dieses stian] Fries, der sich seinen Stab von Mit- Hinabreichen ins Volk so wichtig ist, sei an arbeitern schuf. Der greise [Gustav] Noske einer Reihe von beliebig herausgegriffenen gehörte dazu. Man darf von ihm sagen, Orten und Dörfern gezeigt, wie der Apparat dass er, soweit dies überhaupt möglich ist, bis weit ins Land hinaus aufgebaut war. einen Teil seiner geschichtlichen Schuld mit dieser Tätigkeit abgebüßt hat. In den mittleren und kleineren Städten sa- ßen überall kleinere Gruppen von Vertrau- In Wiesbaden leitete die Widerstandsbe- ensleuten. Ich führe die wichtigsten auf: wegung der frühere Polizeidirektor [Hein- rich] Maschmeyer, ebenfalls ein Sozialist. Worms: Leiter (…) [Heinrich] Ahl, Sozialist; neben ihm Dr. [Ernst] Kilb. In Mainz unterstand die Illegalität Alfred Freitag, einem Sozialisten, der mit einer Bensheim: der Sozialist Prof. [Franz] Como katholischen Gruppe unter Führung des jet- und der Katholik [Heinrich] Schmitt. zigen Oberstaatsanwalts Dr. [Ernst] Doller zusammenarbeitete. Hier sollte die poli- Oppenheim: der Sozialist [Johann] Benz zeiliche Aktion durch den Polizei-Obersten und der jetzige Landrat [Fritz] Rüffer, eben- Kumper durchgeführt werden, der den Auf- falls ein Sozialist. trag hatte, den gefährlichen Nazi-Obersten [Siegfried] Runge sofort umzulegen. Nierstein: der jetzige Bürgermeister [An- dreas] Licht, Sozialist, und [Johann Philipp] Von Mainz aus wurden gleichzeitig Vorbe- Spieß. reitungen zum Eisenbahnerstreik getroffen. Die führenden Eisenbahner-Gewerkschaftler Bingen: der Beigeordnete [Franz] Adamo, [Anton] Calujek und A[dolf] Bößwetter, Sozialist. dazu einige Reichsbahninspektoren hatten alle Vorbereitungen getroffen und den Streik Ingelheim: der Sozialist Otto Wedekind. organisatorisch vorbereitet. Es musste klap- pen. Über Calujek sollte der Generalstreik Von diesen Städtchen ging es zu den Stütz- ausgerufen werden. An diesen Stellen be- punkten aufs Land, völlig verzweigt bis ins stand auch Verbindung mit der Gestapo. letzte Dorf. Bis in kleine Orte, wie etwa Guntersblum, wo der Arzt Dr. [Ernst] Huhn, In Darmstadt organisierte der derzeitige ein Sozialist, Leiter des Stützpunktes war. [hessische] Innenminister Heinrich Zinnkann Neben ihm aber waren, selbst an so kleinen die Widerstandsgruppe. Orten von wenigen Hundert Einwohnern, bereits andere Parteien eingeschaltet. In In der letzten größeren Stadt dieses Rhein- Guntersblum etwa für die Liberalen der Main-Neckar-Gebiets, in Offenbach, lag Weingutsbesitzer Emil Schmitt und für die die Leitung in den Händen von Männern, Katholiken der Oberpostinspektor [Johann] die früher ebenfalls bereits illegal – in der Schmitt. 17 So geht es die ganze Rheinlinie und -ebene Erläuterungen entlang. Man kann beliebig jeden einzel- nen Ort wählen. So führte etwa in Dolges- Offensichtliche orthographische, gramma- heim der Sozialist [Ludwig] Kleinkauf, in tikalische und Interpunktionsfehler in Henks Alsheim der liberale Bürgermeister [Ernst- Bericht wurden stillschweigend korrigiert, Jakob] Wetzel, bis herab in so kleine Orte desgleichen verkehrt geschriebene Orts- und wie Nieder-Olm bei Mainz, wo der Sozia- Personennamen; bei Letzteren fehlende Vor- list Staader neben dem Katholiken Sieben namen wurden – sofern ermittelbar – ergänzt Gewehr bei Fuß stand. Es gab kaum einen und in eckige Klammern gesetzt, was auch für Ort, wo die Opposition nicht organisiert manche sonstige Präzisierung bzw. Berichti- war und wo sie nicht auf das Alarmzeichen gung gilt. wartete. Der Apparat selbst war die Ge- heimorganisation der Sozialisten und der Diese so zeitnah zu jenen Sachverhalten ver- Gewerkschaften. Ihr angeschlossen waren fasste und veröffentlichte Darlegung stellt in diesem Endstadium in den meisten Orten auch insofern eine große Besonderheit unter die Katholiken, Protestanten und Demokra- den ohnehin nur raren Zeitzeugenberichten ten oder Liberalen. Die Führung lag in den zur zivilen Basis des Umsturzversuchs vom Händen der Sozialisten. Der Kopf des gan- 20. Juli 1944 dar, als Henk darin nicht nur zen Gebiets war ein Mann des Kreisauer einen größeren regionalen Strukturzusam- Kreises. So eng war die Zusammenarbeit. menhang des von Wilhelm Leuschner und seinen Freunden in jahrelanger konspirativer Ganze Tausend zuverlässige Männer Kleinarbeit geschaffenen Vertrauensleute- waren auf diese Weise in diesem [Rhein-] netzwerks näher beschreibt und dabei viele Main-Neckar-Gebiet zur Aktion bereit- seiner dortigen Widerstandsstützpunkte gestellt. Es war die Avantgarde. Hinter aufführt, sondern gleichzeitig etliche der jedem einzelnen Mann standen allerdings hierfür vor Ort gewonnenen Verantwortli- griffbereit mindestens weitere zehn aktive chen nennt. Kämpfer. Man kann also sagen, dass allerwenigstens 10–15.000 Männer in Henks detaillierte Kenntnisse zur Situation diesem Bereich Anfang Juli [19]44 zur zwischen Rhein, Main und Neckar leiteten Aktion bereitstanden. Trotz Terror und trotz sich sicherlich zum einen her aus seinen der Schwierigkeiten, die der Krieg mit sich eigenen anfänglichen, von Heidelberg aus brachte: Eine so ungewöhnlich große poli- auch in den früheren Provinzen Starkenburg tische Gruppe stand zum Eingreifen bereit, und Rheinhessen des einstigen Volksstaates und sie schuf damit eine vorrevolutionäre Hessen entfalteten Widerstandsaktivitäten. Situation, einfach durch Aktivierung und Zeitweilig war er später sogar als Anführer Bereitstellung. Man musste notgedrungen der nichtkommunistischen Opposition in auf eine echte revolutionäre Situation ganz Süddeutschland und nach einem er- verzichten. Im Übrigen: Die Despotie ließ folgreichen Umsturz zudem als politisch keine zu. Verantwortlicher für Baden ausersehen. An- dererseits wird er sich hierbei auch auf Infor- So sah der politische Massenhintergrund mationen gestützt haben, welche ihm erst aus, von dem aus der Sturz Hitlers erfol- nach der Befreiung von der NS-Gewaltherr- gen sollte: Die Vorhut der Massen war schaft durch manche Gesinnungsfreunde alarmiert. Sie wartete auf das Signal. Sie zugegangen sind, die in der Region zwischen wusste nicht, was geschehen sollte, aber dem besonders gut organisierten Gebiet um sie wusste: Die Stunde ist gekommen. Frankfurt und dem Neckar vordem selbst im Widerstand aktiv gewesen waren. Hierbei ist vor allen Dingen an Jakob Steffan zu denken, 18 der konspirativ zuständig gewesen ist für Ausgewählte Literatur zum Widerstand Süd- und Rheinhessen, nicht aber für die des „20. Juli 1944“ Regionen nördlich von Frankfurt bis hin nach Kassel, deren Vertrauensleutestützpunkte Ludger Fittkau, Marie-Christine Werner: Die dort, in Marburg, Gießen, Wetzlar, Friedberg Konspirateure. Der zivile Widerstand hinter usw. in Henks Bericht demgemäß fehlen. dem 20. Juli 1944, Darmstadt 2019.

Darüber hinausgehend sind darin auch für Emil Henk: Die Tragödie des 20. Juli 1944. Ein den südlichen Zuständigkeitsbereich einige, Beitrag zur politischen Vorgeschichte, 2., erw. zum Teil sogar gravierende Informations- Aufl., Heidelberg 1946. lücken und Inkorrektheiten feststellbar. Diese lassen sich mit der bis zuletzt nahezu Linda von Keyserlingk-Rehbein: Nur eine »ganz perfekten auch internen Abschottung jener kleine Clique«? Die NS-Ermittlungen über das Anti-Nazi-Strukturen erklären und außerdem Netzwerk vom 20. Juli 1944, Berlin 2018. mit dem gleichfalls konspirationsbedingten Umstand, dass er bei der Abfassung seiner Dieter Schiffmann, Hans Berkessel, Angelika Darlegung „keinerlei schriftliches Material“ Arenz-Morch (Hrsg.): Widerstand gegen den hatte heranziehen können, wie Henk im Vor- Nationalsozialismus auf dem Gebiet des heu- wort zur ersten Auflage dieser Schrift extra tigen Rheinland-Pfalz. Wissenschaftliche Dar- betont hat. stellung und Materialien für den Unterricht. Hrsg.: Landeszentrale für politische Bildung Im Großen und Ganzen werden seine Hin- Rheinland-Pfalz, 2. Aufl., Mainz 2013. weise freilich bestätigt durch entsprechende Stellungnamen einiger in jene reichsweiten Peter Joachim Riedle (Hrsg.): Wiesbaden zivilen Widerstandsstrukturen ebenfalls in und der 20. Juli 1944. Beiträge von Gerhard führender Funktion Einbezogene, z. B. durch Beier, Lothar Bembenek, Rolf Faber, Peter M. den in seinem Bericht wie so viele andere un- Kaiser und Axel Ulrich. Hrsg.: Magistrat der erwähnt gebliebenen Willy Knothe, von dem Landeshauptstadt Wiesbaden – Stadtarchiv, bereits bis zu seiner ersten Verhaftung Mitte Wiesbaden 1996 (Schriften des Stadtarchivs 1934 der SPD-Widerstand im Südwesten an- Wiesbaden, Bd. 5). geleitet worden war. Aber auch verschiedene weitere, meist jedoch erheblich weniger um- Sina Schiffel: Jakob Steffan. Ein streitbarer fangreiche Berichte liegen hierzu vor, zumal Demokrat. Abgeordneter • KZ-Häftling • aus der Rhein-Main-Region. Innenminister. Gedenkarbeit 5, Hrsg.: Lan- deszentrale für politische Bildung Rheinland- Jakob Steffan hat hin und wieder von „10.000 Pfalz, Mainz u. Osthofen 2012. Mann“ berichtet, die er für den „Bezirk Mainz“ angeworben habe. Auch wenn solche extrem Axel Ulrich: 20. Juli 1944. Versuch eines Mi- hohen Quantifizierungen zu Recht Skepsis litärputsches sowie einer politisch-sozialen hervorrufen mögen, so deuten sie doch Revolution. Verbindungen zum politischen darauf hin, dass diesem zuletzt vor allem Widerstand im Rhein-Main-Gebiet. Polis 23, sozialdemokratisch-bürgerlich kombinierten Hrsg.: Hessische Landeszentrale für politische Vertrauensleutenetzwerk selbst bei vorsich- Bildung, Wiesbaden, 1997. tiger Schätzung in ganz Deutschland gewiss mehrere Tausend Regimegegner angehört Axel Ulrich: Ludwig Schwamb, Jakob Steffan haben müssen. und andere südwestdeutsche Mitstreiter Wil- helm Leuschners im antinazistischen Wider- stand. In: Niersteiner Geschichtsblätter, Nr. 12, Dezember 2006, S. 21 – 50. 19 Stadtarchiv Wiesbaden werden. herangezogen Koßmann korrekt für undHauptmann Kaisersollte den für Unterbeauftragte Wehrkreis nicht den XII, WehrkreisXIII füroffiziers den XIIWehrkreis In einigeSoheißtFehler. Juli1944. Wiesbadenvom 20. derHektikentstanden der Fernschreiben und der Politischen ErichHoepnerszurHeranziehung Generaloberst des Beauftragten Verbindungs struktur. In: Gedenkarbeit 11. Verfolgung und konspirativer Vertrauensleutereichsweiter - Stützpunkte imRahmen Wilhelm Leuschners stand in Süd- sowieRheinhessenund dortige AxelUlrich: AntinazistischerArbeiterwider Blickpunkt Hessen,Nr. 18, Wiesbaden 2014. 1944“ undHessen.EinRückblicknach70 Jahren. Axel Ulrich, Renate Knigge-Tesche: Der„20. Juli 2012. publik, Wiesbaden Einheit der Demokratenundeinesoziale Re- Widerstandskämpfer. FürFreiheit undRecht, Axel Ulrich: Wilhelm Leuschner. Ein deutscher Osthofen Herausgeber: NS-Dokumentationszentrum Rheinland-Pfalz, Gedenkstätte KZ dung Rheinland-Pfalz Verantwortlich: Bernhard Kukatzki,Direktor der Landeszentrale für politische- Bil Auflage: 2.,überarb.underw. Aufl., Osthofen2019 - Literatur zuentnehmen. Quellenhinweise sind der angegebenen 2018. Hessen. Wiesbaden, len für politischeBildungRheinland-Pfalzund das NS-Regime. Hrsg. von den Landeszentra- Wilhelm Leuschnersim Widerstand gegen rendorff kontra Hitler. EinengerMitstreiter Mie- AxelUlrich, AngelikaArenz-Morch: Carlo Mainz u. Osthofen 2014, S. 34–103. trale für politischeBildungRheinland-Pfalz, gung der Gewerkschaften. Hrsg.:Landeszen- Widerstand: Der80. Jahrestag der Zerschla- Rheinland-Pfalz P Landeszentrale olitische Bildung -

Gestaltung: ADDVICE Mainz