Nr. 5 Dezember 2004

Inhalt Ein Jahr des Gedenkens

2004 stand im Zeichen der Gedenkveranstaltungen zum 60. Jahrestag des Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944 und zum 60. Todestag Adolf Reichweins, der als Mitglied des ÄKreisauer Kreises³ am 20. Oktober 1944 vom ÄVolksge- richtshof³ unter dem Vorsitz Roland Freislers zum Tode verurteilt und kurz danach in -Plötzensee hingerichtet wurde.

So stand auch die Jahrestagung des Adolf-Reichwein-Vereins, die vom 23. bis 25. April dieses Jahres im Museum Europäischer Kulturen in Berlin-Dahlem stattfand, unter dem zentralen Thema: Ä60 Jahre nach dem 20. Juli 1944 ± Adolf Reichwein als Museumspädagoge und Widerstandskämpfer³. Von dieser Veran- staltung dokumentieren wir im vorliegenden Heft die Vorträge von Krzysztof VEREIN 2 Ruchniewicz (Direktor des Willy-Brandt-Zentrums für Deutschland- und Euro- pastudien an der Universität Wroclaw) zum politischen Denken des ÄKreisauer ZUR PERSON: 2 Kreises³ aus polnischer Sicht sowie von Ekkehard Klausa (Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin) zu den Europa- Nachlass vorstellungen der ÄKreisauer³. Gerhard Kaldewei, Leiter der Städtischen Muse- 5 en Delmenhorst, berichtete über museumspädagogische Aktivitäten Reichweins Rosemarie im Kontext der reformpädagogischen Bewegung. Den Abschluss der Berliner Reichwein Jahrestagung bildete eine Besichtigung des Großen Saals des Kammergerichts in Berlin-Schöneberg, in dem die ÄSchauprozesse³ des Volksgerichtshofs statt- JAHRESTAGUNG 7 fanden, hier reflektiert in Anmerkungen zum Volksgerichtshof von Lothar Kunz. 2004 Berlin Von weiteren Gedenkveranstaltungen in diesem Jahr zeugen neben einigen Presseberichten, die vielleicht durch Zusendungen aus der Leserschaft des GEDENK- 34 VERANSTALTUNGEN ReichweinForums noch ergänzt und vervollständigt werden könnten, der Vortrag von Prof. Dr. Werner Lange (Vorsitzender des Humanistischen Regio- nalverbandes -Saalkreis) zur Eröffnung der Adolf Reichwein Ausstellung PRESSESCHAU 42 in Halle an der Saale am 15. Juni d.J., in dem er auf die bisher wenig bekannte Zusammenarbeit Reichweins mit dem Leiter einer weltlichen Schule in Halle, AUSSTELLUNG 45 Hugo Goersch, hinweist, und das Referat von Karl Christoph Lingelbach auf der von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin veranstalteten Gedenkfeier am 20. REICHWEIN Oktober. 45 SCHULEN In der Rubrik ÄZur Person³ erinnert Lothar Kunz an Rosemarie Reichwein, die in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden wäre. Roland Reichwein berichtet LITERATUR 48 anschließend von dem Stand der Arbeiten zur Sicherung des Nachlasses seiner Mutter. AM RANDE 49 Von den 30 Reichwein-Schulen in Deutschland stellt sich dieses Mal die ARS Friedberg in Hessen vor, eine integrierte Gesamtschule mit Grundstufe.

In den Notizen ÄAm Rande³ haben wir erneut einige interessante, ja z.T. kuriose Fundstücke zusammengetragen, unter denen auch der im letzten Heft schon genannte ÄSohn der Lüfte³ wieder eine Rolle spielt.

Bleibt uns Redakteuren kurz vor dem Jahresausklang nur noch, Ihnen allen ein fröhliches Weihnachtsfest und einen guten Start in ein glückliches und erfolgrei- ches Neues Jahr zu wünschen

Ihr Redaktionsteam des ReichweinForums reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

2

Pädagogen und mutigen Widerstandskämpfer gegen VEREIN die Naziherrschaft.³

Mit Schreiben vom 30.08.2004 hat das Amtsgericht Marburg ± Registergericht ± mitgeteilt, dass die von der Leihvertrag Mitgliederversammlung am 25.04.2004 unter TOP 3 zur Reichwein-Büste in der BBF beschlossene Satzungsänderung (§ 12 Vereinsauflö- und Satzungsänderungen sung) ins Vereinsregister eingetragen worden ist. Klaus Schittko

Bis zur Mitgliederversammlung des Vereins am 25.04.2004 in Berlin hatte der Senator für Bildung und Wissenschaft der Freien Hansestadt Bremen noch nicht auf den vom Vorstand veränderten Leihvertragsentwurf ZUR PERSON für die Reichwein-Büste in der Bibliothek für Bildungs- geschichtliche Forschung (BBF) in Berlin, Warschauer Straße 34, reagiert (vgl. Protokoll TOP 9). Mit Schrei- ben vom 15.07.2004 hat nun der Bremer Senator dem Rosemarie Reichwein Vertragsentwurf inhaltlich zugestimmt. Mit dem Vertrag überlässt die Stadt Bremen dem Adolf-Reichwein- (1904 - 2002) Verein die Reichwein-Büste als ÄDauerleihgabe³ für die Aufstellung in der BBF Äim Zusammenhang mit dem Adolf-Reichwein-Archiv, das dort als Depositum lagert³. Rosemarie Reichwein wäre am 24. Juli dieses Jahres Die Büste verbleibt auch im Falle der Auflösung unse- 100 Jahre alt geworden. Vor zwei Jahren ist sie im Alter res Vereins an der BBF. von 98 Jahren gestorben, fast 60 Jahre nach ihrem In seinem Anschreiben zum Leihvertrag teilt der Sena- Mann. Doch niemand ist im Juli 2004 auf die Idee ge- tor Willi Lemke mit: ÄGerne leiste ich mit der Ausleihe kommen, eine öffentliche Gedenkveranstaltung zu ma- der Büste von Adolf Reichwein einen Beitrag zur Wür- chen. Ist Rosemarie Reichwein doch noch in sehr le- digung und zum Gedenken an diesen hoch geachteten bendiger Erinnerung in den Köpfen und Herzen ihrer Jahrestagung 2005 des Adolf-Reichwein-Vereins in Kreisau/Krzyzowa Polen und Deutsche im neuen Europa

Wir planen diese Tagung gemeinsam mit der Stiftung Adam von Trott, Imshausen, für den 13. r 17. Mai 2005 (Pfingsten)

Auf dem Programm stehen die gesellschaftliche und politische Situation Polens nach dem ers- ten Jahr seiner EU-Mitgliedschaft, die unterschiedlichen nationalen Erinnerungskulturen und die polnischen Europa-Vorstellungen.

Der Vorstand lädt Sie und Ihre Freunde herzlich nach Kreisau ein. Kosten für Verpflegung und Unterkunft: im Einzelzimmer: 254 È oder 184 È; im Doppelzimmer pro Person: 185 È oder 153 È.

Anfragen bzw. Voranmeldungen an Annelies Piening, Westfälische Str. 34, 10709 Berlin reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

3

Ihre spätere Bemer- kung, dass Helmut Kohl bei der Wieder- einweihung des Berg- hauses beim Kaffee- kränzchen mit Freya von Moltke, Minister- präsident Mazowiecki und ihr besonders viel Kuchen aß und nur Kinder und Verwandten, vieler Freunde und Freundin- bescheidene Ge- nen und Bekannten. Allerdings war im Berliner sprächsbeiträge lieferte, werde ich nicht so schnell ver- TAGESSPIEGEL eine Erinnerungsanzeige im Juli zu gessen. lesen. Einige Zeit später schenkte mir Sabine Reichwein den bekannten Reichwein-Band, dessen Briefe Rosemarie Im ersten Reichwein-Forum habe ich versucht, Rose- Reichwein zusammen mit Hans Bohnenkamp gesam- 2 maries Leben ausführlich zu würdigen, und sie selbst melt und ausgewählt hat. hat in ihrem Buch der Erinnerung beredt Auskunft über Die Zusammenarbeit mit Hans Bohnenkamp und dann die spannenden und oft schwierigen Etappen ihres lan- mit Ursula Schulz sei sehr gut gewesen, das Werk sei gen Lebens gegeben.1 gelungen, nur der knallrote Einband habe ihr nicht ge- fallen, betonte sie in einem Gespräch, indem wir die In diesem Beitrag möchte ich persönliche, subjektive Möglichkeit einer Reprint-Ausgabe zum 100. Ge- Erlebnisse und Erfahrungen darstellen, um das bekann- burtstag Adolf Reichweins erörterten. te Bild von ihr etwas zu ergänzen. Vielleicht fühlen sich Wie bekannt, ist es Gabriele Pallat, Roland Reichwein andere Menschen, die sie viel besser und länger kann- und mir erst 1999 gelungen, eine zweite, erweiterte 3 ten, ermuntert, weitere Beiträge an das Forum zu schi- Auflage herauszugeben. Rosemarie Reichwein hat cken. sich mir gegenüber danach nie zu dieser Neuauflage geäußert, obwohl ich der Meinung war, dass ich we- Meine Begegnungen beziehen sich gleichermaßen auf sentlich dazu beitrug, ihr einen Herzenswunsch zu persönliche Kontakte und zahlreiche Arbeitstreffen in erfüllen. War sie über die um ein Jahr verspätete den Jahren 1996 ± 2002, meist in ihrem Haus in der Ot- Herausgabe so enttäuscht? to-Erich-Str. 8 in Berlin-Wannsee. Sie hat dieses kleine Dazwischen lag die Mitwirkung Rosemarie Reichweins Haus mit dem großen, schönen Garten sehr geliebt, in beim Reichwein-Symposium im Juni 1996 an der direkter Nachbarschaft zur früheren Villa ihrer Eltern, in Hochschule der Künste, auf dem ich ein Gespräch zwi- der sie ihre Kindheit und Jugend erlebte. schen ihr, Sabine Reichwein und Bruno Schonig mode- Die Namensgebung der Straße nach Otto-Erich Hartle- rierte.4 Dabei wird u.a. deutlich, dass Rosemarie ben [ihrem Onkel; d.R.] ging damals auf einen Vor- Reichwein sich nicht in die alltägliche Schularbeit ihres schlag ihrer Mutter zurück, erzählte sie mir bei unserem Mannes eingemischt hat, obwohl sie auch ausgebildete ersten Treffen in Wannsee, nach der gemeinsamen Sportlehrerin war. Die beengten Wohnverhältnisse und Fahrt zur Tagung des Reichwein-Vereins im Frühjahr primitiven Bedingungen in Tiefensee beklagte sie hef- 1996 in Kreisau. Auf der Hin- und Rückfahrt mit Bahn tig. Sie wurde dort in die Rolle der Hausfrau und Mutter und Bus haben wir uns kennen und schätzen gelernt. gedrängt, die sie widerspruchslos anzunehmen schien. Während der Tagung staunte ich über ihre große Be- reitschaft, als Zeitzeugin des Widerstands genaue Aus- künfte zu geben, und ich konnte erleben, mit welcher 2 Freude sie den Ausbau des ehemaligen Gutes Moltke Adolf Reichwein ± Ein Lebensbild aus Briefen und Dokumen- ten, ausgewählt von Rosemarie Reichwein unter Mitwirkung zum deutsch-polnischen Jugendzentrum begutachtete, von Hans Bohnenkamp, herausgegeben und kommentiert von in dessen Schloß sie von 1943-1945 nach der Aus- Ursula Schulz, Gotthold-Müller-Verlag, München 1974 bombung in Berlin zwei Jahre gelebt hatte. 3 Adolf Reichwein: Pädagoge und Widerstandskämpfer, Ein Lebensbild in Briefen und Dokumenten (1914 ± 1944), he- rausgegeben von Gabriele C. Pallat, Roland Reichwein und 1 Rosemarie Reichwein: Die Jahre mit Adolf Reichwein präg- Lothar Kunz, Schöningh-Verlag Paderborn, 1999 ten mein Leben ± Ein Buch der Erinnerung, bearbeitt und he- 4 rausgegeben von Lothar Kunz und Sabine Reichwein, C. H. Adolf Reichwein (1898 ± 1944), herausgegeben von Lothar Beck, München 1999 Kunz, Oldenburger Vordrucke 321, 1997, S. 2135 reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

4

Viele Gesprächsrunden und Treffen ergaben sich bei Die Gespräche über Adolf Reichweins Verhaftung, Ge- der Planung und Bearbeitung ihres Buches der Erinne- fangenschaft und Hinrichtung haben mich lange sehr rung. Rosemarie Reichwein vertraute mir ihre persönli- beschäftigt. Rosemarie Reichwein zeigte mir interes- chen Tagebuchaufzeichnungen, einen prall gefüllten sante Materialien darüber und konnte in sehr ruhiger Ordner mit mehreren Hundert handschriftlichen DIN A und sachlicher Weise darüber sprechen ± trotz aller 4-Seiten an, die ich im Sommerurlaub 1997 auf der In- Trauer über den gewaltsamen Tod des Ehemannes sel Rügen akribisch las und studierte. Jedes Blatt, voll- und Vaters von 4 Kindern. Am meisten hat mich ihre geschrieben bis an den Rand mit wenig Zeilenabstän- Selbstkritik erstaunt, dass sie den Tod und die Todes- den, aber in klarer, gestochener Handschrift und gut le- ursache ihren Kindern erst 1945 mitgeteilt hat. serlich ± eine wirkliche Kärrnerarbeit. Rosemarie Reichwein war von der inhaltlichen Bedeutung ihrer Insgesamt hat mir Rosemarie Reichwein ein sehr le- Aufzeichnungen nicht überzeugt, so dass Sabine bendiges, sympathisches Bild ihres Mannes vermittelt, Reichwein und ich, auch unterstützt von Bruno Scho- der auch mal spontan mit seiner Frau durch die Leh- nig, einige Mühe hatten, sie vom Sinn und der Notwen- rerwohnung im Tiefenseer Schulhaus tanzte und Spaß digkeit einer Publikation zu überzeugen. Das Buch ist an den eigenen kleinen Kindern und an den Schulkin- 1999 im Münchener Beck-Verlag erschienen. dern hatte ± ansonsten aber sehr beschäftigt war. In vielen Gesprächen mit Rosemarie Reichwein ist mir Da ich im August 1998 einen schweren Schlaganfall er- klar geworden, dass sie sich zu Lebzeiten Adolf Reich- litten habe und seither schwerbehindert bin, mußte ich weins zurückgenommen hat. Obwohl Kollegin an der alle meine Aktivitäten reduzieren, so auch die Begeg- Pädagogischen Akademie in Halle, hat sie an Vorle- nungen mit Rosemarie Reichwein. Danach konnte ich sungen und politischen Diskussionen ihres späteren mich zunächst aufgrund meiner rechtsseitigen Läh- Mannes eigentlich wie eine Studentin teilgenommen. mung nur noch sehr undeutlich artikulieren und Rose- Sie verdankte ihm viele politische Anstöße und Erfah- marie Reichwein wurde immer schwerhöriger. Also kei- rungen; schließlich hat sie ihn 1933 geheiratet. ne guten Voraussetzungen für weitere Kooperationen. ÄAus dem Schatten³ ihres bedeutenden Mannes ist Ro- Bei der Präsentation des Rosemarie Reichwein-Buches semarie Reichwein erst langsam nach seinem Tod he- im Juli 1999 hat ein Schauspieler meine Rolle über- rausgetreten. Ihre Berufstätigkeit als Krankengymnastin nommen und erst bei der zweiten Veranstaltung im Ok- und Bobath-Therapeutin hat sie herausgefordert und tober 1999 an der Hochschule der Künste Berlin konnte erfüllt. ich wenigstens einleitende Begrüßungsworte sprechen. Auch nach dem Ende ihrer Berufstätigkeit hat sie ihren Wir hatten uns alle drei über das vollendete Buchpro- Politisierungs- und Lernprozess fortgesetzt. Mir ist z.B. jekt gefreut. aufgefallen, dass sie zahlreiche Stellen in Ger van Roons Standardwerk über den Kreisauer Kreis fein Danach trafen wir uns nur noch zu privaten Teestun- säuberlich mit Bleistift und Lineal unterstrichen hatte. den, immer auch im Beisein von Sabine Reichwein, die Sie verwies mich auf wichtige Abschnitte und lieh mir jetzt die Rolle der Gastgeberin organisatorisch ent- das Buch sogar aus, an dem sie verständlicherweise sprechend den Wünschen ihrer Mutter übernahm. Wir sehr hing. 5 unterhielten uns über Familien- und Alltagsthemen, ü- Von ihrem Mann hatte sie nicht alle Details des Wider- ber neue Bücher, die aktuelle Politik und das Älterwer- stands ± schon aus Schutzgründen ± erfahren. Seine den. Rosemarie Reichwein ging nicht davon aus, 100 politische Grundüberzeugung teilte sie. Sie stand voll Jahre alt zu werden. Ihre Mutter sei auch im Alter von hinter ihm, trug den Widerstand mit. An Besprechungen 97 Jahren gestorben, sagte sie mehrmals. Regelmäßig z.B. im Kreisauer Kreis hat sie nicht teilgenommen. um 20.00 Uhr sah sie die Tagesthemen und spätestens Mehrmals hat Rosemarie Reichwein sehr bedauert, kurz davor wurden die Teerunden beendet. Leider habe dass Harald Poelchau als Gefängnispfarrer nicht auch ich es versäumt, danach Aufzeichnungen zu machen. für ihren Mann zuständig war. Er war nicht im Tegeler Weihnachten 2001 verbrachten Renate Steinchen, Ro- Gefängnis untergebracht, sondern in - semarie und Sabine Reichwein und ich den Heiligen Göhrden. 6 Abend zusammen in der Otto-Erich-Straße in sehr klei- nem Kreis, was sie sehr bedauerte. Ich fand es er- 5 staunlich, dass Rosemarie Reichwein die Weihnachts- Ger van Roon: Neuordnung im Widerstand ± Der Kreisauer Kreis innerhalb der deutschen Widerstandsbewegung, R. Ol- lieder noch textsicher und mit guter Stimme mitsang. denburgVerlag, München 1967 Beim Raclette-Essen riet sie entschieden davon ab, die kleinen Pfännchen zu sehr mit Käse und/oder Schinken 6 Vgl. in diesem Zusammenhang Klaus Harpprecht: Harald zu überladen. Sie hatte großen Spaß, ihre Weihnachts- Poelchau ± Ein Leben im Widerstand, Rowohlt-Verlag Rein- bek bei Hamburg 2004, wo auf Rosemarie Reichwein mehrere geschenke auszupacken. Leider habe ich es im gesun- Mal verwiesen wird. Harald Poelchau versucht, auf seine Wei- den Zustand auch versäumt, ihr ein Ständchen auf der se zu trösten. reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

5

Querflöte zu bringen ± ein Instrument, mit dem sie früher selbst gern musizierte, auch zusammen mit ihrem Mann und Musikfreun- den. Wir sprachen oft über Konzerte, über Kammermusik der Familie Boettcher in Zehlendorf oder über mer, sondern auch mehrere Kommoden und Schränke Aufführungen in der Berliner Philharmonie, wo sie ein in Nachbarzimmern, wie dem früheren Praxisraum und Abonnement hatte. dem Schlafzimmer, teilweise oder ganz mit Schriftstü- cken gefüllt waren, so dass sie anderen, d.h. ihren ei- Die letzte Begegnung fand im Sommer 2002 bei sonni- gentlichen Zwecken nur noch teilweise dienen konnten. gem Wetter auf der Terrasse ihres blühenden Gartens Dieser immense Nachlass war nur teilweise geordnet statt. Sie liebte die Wiese, ihre alten Bäume und Blu- und in Ordnern abgeheftet, und zwar vor allem die Fo- men und eben den Blick auf ihr ehemaliges Elternhaus tosammlung und alle Unterlagen, die die berufliche Tä- nebenan. Sabine Reichwein erzählte von ihrer bevor- tigkeit von Romai Reichwein und ihre geschäftlichen stehenden Chinareise, doch Rosemarie war mit den und finanziellen Verpflichtungen betrafen. Die private Gedanken woanders. Vielleicht hatte sie gar die Sorge, Korrespondenz befand sich überwiegend noch in den ihre jüngste Tochter nach dem Urlaub nicht wiederse- Umschlägen, in denen sie eingegangen war, und diese hen zu können? waren wiederum in andere, größere Umschläge ge- Kurz nach Sabines Rückkehr starb Rosemarie Reich- schoben und zusammengepackt worden. Auf den Um- wein am 5. August 2002. schlägen befanden sich Kreuze und die Daten, an de- L.K. nen die Zuschriften beantwortet worden waren. Außer einer teilweisen, gewissermaßen wildwüchsigen chro- nologischen Ordnung war ansonsten kein Ordnungs- prinzip zu erkennen. Ich schildere das so ausführlich, Zwischenbericht über den Nach- um deutlich zu machen, vor welchem Problem und vor lass von Rosemarie Reichwein welcher Aufgabe wir standen. Ich erinnere mich noch gut daran, dass meine Mutter im Juli 2002, wenige Wochen vor ihrem Tod, als ich wieder Nach dem Tod von Rosemarie Reichwein in ihrem 99. einmal wie seit Jahren üblich zwei Wochen bei ihr in Lebensjahr am 5.8.2002 sahen sich ihre vier Kinder im Wannsee verbrachte, eines Morgens etwas verstört Haus der Verstorbenen in der Otto-Erich-Str.8 in Ber- zum Frühstückstisch kam. Als ich sie deshalb befragte, lin-Wannsee u.a. mit einem enorm umfangreichen sagte sie, sie habe schlecht geschlafen, weil sie daran schriftlichen Nachlass konfrontiert. Er bestand aus einer habe denken müssen, was aus all den Briefen werden Unzahl schriftlicher Unterlagen und Dokumente, aus solle. Dies war das erste und einzige Mal, dass sie die- einer großen Fotosammlung und vermutlich aus allen ses Problem mir gegenüber zur Sprache brachte. Da Briefen und Postkarten, die sie im Rahmen ihrer um- ich sie schon früher darauf aufmerksam gemacht hatte, fangreichen und bis zuletzt durchgehaltenen Korres- war ich von dieser Einsicht sehr angetan, und schlug pondenz seit der Flucht aus Kreisau im Herbst 1945, sofort vor, einige studentische Hilfskräfte anzuheuern, also in 57 Jahren, in Berlin und anderswo erhalten und damit diese die Korrespondenz chronologisch und viel- seit dem Umzug in die Otto-Erich-Str.8 Mitte der 50er leicht sogar alphabetisch nach Absendern ordnen und Jahre dort gesammelt hatte. Wir hatten schon so etwas abheften könnten. Dadurch würden wir wenigstens ei- geahnt, aber der tatsächliche Umfang dieses Nachlas- nen ersten Überblick über den Umfang und die Bedeu- ses übertraf unsere Erwartungen noch bei weitem. tung der Korrespondenz gewinnen. Das ging ihr aber Schon in ihrem letzten Lebensjahrzehnt waren die zu rasch und war ihr wohl auch zu viel auf einmal. Sie meisten Möbel in ihrem Wohnzimmer mit Haufen von wehrte das ab und so unterblieb diese an sich sinnvolle Schriftstücken bedeckt, sogar die meisten Sitzmöbel, Aktion bevor sie starb. so dass es bereits schwierig war, einen freien Sitzplatz zu finden. Nun stellte sich heraus, dass nicht nur ihr Nach ihrem Tod waren wir dann ohne sie allein mit dem Schreibtisch und der Glasschrank in ihrem Wohnzim- Problem konfrontiert. Nun gab es im Prinzip zwei Mög- reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

6 lichkeiten: Entweder wir verbrachten den gesamten unserer Mutter in alphabetischer und chronologischer Papiernachlass in Papiercontainer bzw. auf eine Müll- Reihenfolge begonnen, und diese hat sich mit Unter- deponie, oder wir unterzogen uns nun selber der Auf- brechungen und in Intervallen, in denen wir jeweils in gabe, den schriftlichen Nachlass durchzusehen und Berlin-Wannsee waren bis zum April 2004 hingezogen. von Fall zu Fall zu entscheiden, was ausgeschieden Dabei hatten wir des öfteren das Gefühl eines ziemlich und was aufbewahrt werden sollte. sinnlosen Unterfangens, wenn wir nicht zuweilen auf Für die erste Option mochte sich keiner von uns ent- interessante Entdeckungen gestoßen wären, die uns scheiden, wenngleich die zwei jüngeren Schwestern motivierten, weiter zu machen. Am Ende standen ca. weniger mit diesem Nachlass anfangen konnten. Den- vier Regalmeter mit dicken Leitzordnern voller Briefe noch wurde ein großer Teil des Nachlasses auf diese und ca. zwei Regalmeter mit anderen Dokumenten. Ich Weise entsorgt, vor allem alle Zeitschriften und Zei- schreibe dies in Münster, ohne diese Angaben überprü- tungsausschnitte und alle Programmhefte von Theater, fen zu können, so dass sie wahrscheinlich eher zu Konzert und Opernaufführungen, die Romai seit den niedrig liegen. Außerdem ist ein erheblicher Teil der 50er Jahren ebenfalls gesammelt hatte, vielleicht ein Briefe und Dokumente bereits ausgegliedert und an- Schatz für alle Archive, die so etwas sammeln. derswo deponiert.

Für die zweite Option sprach nicht nur, dass noch ei- Wir sammelten und ordneten zunächst alle Briefe und nige finanzielle Verpflichtungen und Regelungen offen Karten, bis wir beschlossen, alle Gruß- und Ansichts- standen, besonders das Haus und Grundstück betref- karten auszuscheiden. Viele der Briefpartner und Ab- fend, sondern auch, dass Adolf Reichwein eine Per- sender waren uns noch persönlich bekannt, auch wenn son der Zeitgeschichte des 20. Jh. war, mit einem eige- sie bereits verstorben waren, weil sie entweder zur Fa- nen Adolf-Reichwein-Archiv. Damit war in gewisser milie oder zum engeren Freundeskreis unseres Vaters Weise auch seine Witwe zu einer zeitgeschichtlichen und unserer Mutter gehört hatten, mit denen wir sozu- Person geworden, die in den letzten Jahrzehnten als sagen aufgewachsen waren. Dazu gehörten z.B. die ÄZeitzeugin³ zahlreiche Kontakte, Gesprächsverpflich- Briefe von Fritz Bernt, Hans Bohnenkamp, Willy Brun- tungen und Korrespondenzen eingegangen war. Es dert, Albert Krebs, Ludwig Meyer, Freya von Moltke, war nicht auszuschließen, dass in diesem immensen Harald Poelchau, Carl Rothe, Harald Seehusen, Harro Nachlass noch einige Dokumente und Hinweise auf Siegel, Martin Ulner, Eberhardt Zwirner und ihren Ehe- das Leben Adolf Reichweins auftauchen würden, aber partnern, deren erste Briefe aus den Jahren 1945/46 auch auf die Nach- und Rezeptionsgeschichte Reich- stammen und oft erst mit deren Tod enden. Aber es weins in der Nachkriegszeit und auch auf das Nach- gab auch viele Absender, die uns ganz unbekannt wa- kriegsschicksal einer ÄOpferfamilie³, was mittlerweile ren, über die unsere Mutter nicht mit uns gesprochen ebenfalls zum Gegenstand historischer Forschung ge- hatte, und die wir kaum einordnen konnten, weil wir worden ist. Ob diese Vermutung richtig war, konnten nicht wussten, ob sie Adolf Reichwein noch gekannt wir damals nicht wissen, aber sie hat sich inzwischen hatten oder ob sie nur Freunde oder Bekannte unserer als richtig erwiesen. Mutter aus der Nachkriegszeit waren, vielleicht auch nur aus ihren beruflichen Zusammenhängen. Dieser Zudem wurde uns bald klar, dass wir Dokumente eines Teil war überraschend groß. Da wir nicht die Zeit hat- untergehenden oder bereits untergegangenen Zeital- ten, all die Briefe zu lesen, wurde erst mit der Zeit und ters vor uns hatten, nämlich des Zeitalters, in dem man gegen Ende unserer Arbeit klarer, wie wir die Absen- über räumliche Distanzen überwiegend brieflich und der einzuordnen hatten. Es gab Briefpartner, die mit postalisch miteinander kommunizierte. So haben meine unserer Mutter über Jahrzehnte korrespondiert hatten, ältere Schwester Renate und ich uns der zweiten Opti- und andere, die nur kurz auftauchen, ohne dass wir on, Aufgabe und Arbeit unterzogen, die Korrespondenz daraus auf die Bedeutung der Absender und ihrer Brie- von und mit Rosemarie Reichwein alphabetisch und fe schließen konnten. So gab es z.B. nur wenige Briefe chronologisch zu ordnen und abzuheften, bei der uns von Theodor Steltzer, Harald Peolchau und Eugen zeitweise auch unsere jüngere Schwester Kathrin ge- Gerstenmaier. holfen hat. Unsere jüngste Schwester Sabine, die ge- lernte Fotografin, wurde gebeten, sich um den ebenfalls Zu den wichtigsten Fundstücken gehörten noch er- sehr umfangreichen fotografischen Nachlass unserer staunlich viele Originalbriefe Adolf Reichweins an Wal- Mutter zu kümmern. ter Dexel, die unserer Mutter von seinem Sohn Bern- hard in einer Blechschachtel überlassen worden waren Renate und ich haben bereits im Herbst 2002 mit der und die sie offenbar vergessen hatte, und an seinen Sichtung und Ordnung, der Auswahl und Abheftung des Schwiegervater Ludwig Pallat, die er in den 30er Jah- schriftlichen, besonders des brieflichen Nachlasses ren den Briefen seiner Frau an ihre Eltern beigelegt reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

7 hatte, sowie zwei Briefe von seiner ÄWeltreise³ 1926/27 Mietwohnung übernehmen. Es blieb nichts anderes üb- an einen Herrn Koch in (Dez.1926) und an Alfons rig, als andere Abnehmer zu suchen, die das leisten Paquet von der Frankfurter Zeitung (25.5.27). Renate könnten, oder die Briefe doch dem Papiercontainer (teilweise auch Gabriele Pallat) übernahm die Entziffe- bzw. einem ÄRecyclinghof³ oder ÄWertstoffhof³, wie rung und Transskription dieser Briefe in lateinische Mülldeponien heute genannt werden, zu übergeben. So Maschinenschrift für ihre Geschwister, was auch keine habe ich zunächst entschieden, nach den Briefen von leichte Arbeit war, bevor wir sie später dem Adolf- Adolf Reichwein alle Briefe, die von seinen Freunden Reichwein-Archiv übergeben haben. und all denen, die ihn noch persönlich kannten, und seit 1945 bis zu ihrem Tod an seine Witwe geschrieben Wichtig und überraschend war auch, dass wir in einem wurden, ungelesen an das Adolf-Reichwein-Archiv zu Schrank ganz hinten mehrere Kartons mit Briefen von übergeben. Dies ist auch bereits weitgehend gesche- Rosemarie Pallat an ihre Eltern, besonders an ihre hen, allerdings ohne Wissen und Zustimmung des A- Mutter Annemarie Pallat, geb. Hartleben, fanden, die dolf-Reichwein-Vereins, der das Archiv verwaltet und diese offenbar ihr Leben lang gesammelt hatte. Diese der diese Entscheidung noch überprüfen und ihr noch Sammlung beginnt 1912, als Romai acht Jahre war, zustimmen müsste. erreicht in den 20er und 30er Jahren eine erstaunliche Dichte und endet etwa 1972, mit dem Tod der Mutter, Ein anderer Teil von Dokumenten und Briefen von Be- reicht also über sechs Jahrzehnte und füllt alleine vier rufskollegen und Kolleginnen Romai Reichweins, der dicke Leitzordner. Sie stammt offensichtlich aus dem sich auf ihre Berufstätigkeit in der Nachkriegszeit und Nachlass von Annemarie Pallat und wurde von ihrer insbesondere auf ihre Pionierarbeit für spastisch ge- Tochter anscheinend völlig vergessen. Leider, muss lähmte Kinder bezieht, wurde in mehreren Kartons an man wohl sagen, denn wenn sie beim Schreiben ihrer Mitarbeiter des Spastikerzentrums Berlin übergeben, Lebenserinnerungen nicht nur ihre knappen Tagebuch- die in einem geplanten Neubau ein Rosemarie- eintragungen, sondern auch diesen Briefschatz noch Reichwein-Archiv einrichten wollen. Es bleibt aber einmal gelesen hätte, wäre vermutlich ein ganz ande- noch ein großer Rest an Familien- und sonstiger Kor- res Buch entstanden. Andererseits hätte sie die Fülle respondenz, über den noch befunden und entschieden dieses Materials vielleicht nicht mehr bewältigen kön- werden muss. Und auch die große Fotosammlung, die nen. ebenfalls einige bisher unbekannte Bilddokumente zur Biografie Adolf Reichweins enthält. Und ganz zum Schluss tauchten in der letzten Ecke auch noch zwei Kartons aus dem Nachlass unserer Roland Reichwein Großmutter Annemarie Pallat mit Briefen, Karten und Fotos von ihr und ihrer Herkunftsfamilie Hartleben auf, die bis in die Zeit der Jahrhundertwende um 1900 zu- rückreichen. Darunter auch einige Briefe von Otto-Erich JAHRESTAGUNG 2004 Hartleben, dem 1905 verstorbenen Dichter und Na- mensgeber der Otto-Erich-Straße, an seine Schwes- tern.

So sind wir unvermutet in eine Archäologie unserer Das politische Denken Familiengeschichte geraten, die vielleicht noch aufge- arbeitet werden sollte. Ganz zu schweigen von unseren des dKreisauer Kreisesp aus eigenen Briefen an unsere Mutter und von den Tage- büchern, die sie über die ersten Lebensjahre ihrer Kin- polnischer Sicht. der geführt hat und die sie ebenfalls aufbewahrt hatte. Die letzteren haben wir natürlich unter uns verteilt. Ausgewählte Probleme

Nachdem der schriftliche, briefliche Nachlass von Ro- mai Reichwein gesichtet und geordnet war, stellte sich natürlich die Frage, was nun mit all dem geschehen In Folge der Grenzregelungen nach dem 2. Weltkrieg sollte. Denn das Haus in der Otto-Erich-Str. 8 muss ja gibt es heute in Polen zwei Orte, die mit dem deutschen geräumt werden. Diese Frage war die ganze Zeit nur Widerstand im 3. Reich unmittelbar zusammenhängen, aufgeschoben, nicht aufgehoben, und sie ist bislang und zwar das Hauptquartier von Hitler in der ÄWolfs- noch nicht wirklich beantwortet. Keines der Kinder von schanze´ in Rastenburg bei Allenstein, in der Oberst Romai Reichwein könnte diesen Nachlass in seine Klaus Schenck von Stauffenberg am 20. Juli 1944 ein reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

8 missglücktes Attentat auf den Führer des 3. Reiches Jerzy Kozenski 8. Jedoch die kommunistischen Macht- verübt hat, und das Dorf Kreisau bei Schweidnitz, die haber beschränkten auch diesmal die Wirkungsmög- Begegnungsstätte einer Gruppe um Helmuth James lichkeiten dieser Arbeiten auf die Polen, und eine freie von Moltke und Peter York von Wartenburg, des späte- öffentliche Diskussion war damals nicht denkbar. Erst ren ÄKreisauer Kreises´. Die beiden Orte sind für die die Veränderungen, die in unserem Land nach 1989 zu Deutschen ein Synonym des sogen. Äanderen Deutsch- verzeichnen waren, vor allem die sogen. ÄVersöh- lands³, sie zeugen von der Existenz illegaler Oppositi- nungsmesse´ in Kreisau (am 12. November 1989), an onsgruppen im totalitären Staat Hitlers, die nicht nur der der polnische Premierminister Tadeusz Mazowiecki zum Kampf bereit waren, sondern auch dazu, das und der deutsche Bundeskanzler Helmuth Kohl teil- höchste Opfer zu bringen und mit dem eigenem Leben nahmen, schufen eine völlig andere Situation für die zu zahlen. Konnte und kann die polnische Gesellschaft, Überlegungen über den deutschen Widerstand. In Po- die durch das nationalsozialistische Regime während len wurde dieses Problem immer häufiger diskutiert. Es des 2. Weltkrieges schwer betroffen war, dieses Äande- wurde sogar versucht, manche Mitglieder des deut- re Deutschland´ sehen und die von den Vertretern die- schen Widerstandes mit Gedenktafeln in Polen zu eh- ses Widerstandes ausgearbeiteten Programme bzw. ren. Eben die Enthüllung der Gedenktafel in der ÄWolfs- Ideen verstehen bzw. nachvollziehen? Welches Ver- schanze´ in Rastenburg zu Ehren von Oberst von hältnis hatte sie zu diesen Ereignissen? Ohne Übertrei- Stauffenberg und der anderen Mitglieder des deutschen bung kann man sagen, dass die Tätigkeit des deut- Widerstandes rief die lebendigste öffentliche Debatte zu schen Widerstandes viele Jahre lang in Polen unbe- diesem Thema in Polen hervor. Sie wurde nach der rücksichtigt blieb. Zu gewissen Ausnahmen gehörte die Veröffentlichung des Briefes eines polnischen Journa- kommunistische Opposition, wie z.B. die ÄRote Kapelle´ listen, Janusz Roszkowski, durch die größte Tageszei- oder die militärische, vor allem das schon genannte At- tung Polens ÄGazeta Wyborcza´ Ende August ausge- tentat von Stauffenberg. Nicht ohne Bedeutung war die löst 9 und machte die großen Unterschiede in der Be- Politik der kommunistischen Macht in Polen, die die an- trachtung des deutschen Widerstandes durch die Polen tideutsche Atmosphäre in unserem Land zusätzlich deutlich. Nachfolgend stelle ich die wichtigsten Kritik- noch schürte. Den Kommunisten lag nicht an der punkte dieser bedeutenden Diskussion dar, weil sie Verbreitung von Fällen der Opposition der deutschen zum Verständnis des polnischen Standpunktes uner- Gesellschaft gegenüber dem nationalsozialistischen lässlich sind. Regime, weil dies im Widerspruch zum offiziellen Bild des 3. Reiches gestanden hätte. Diese Situation be- Der Verfasser dieses Briefes zweifelte an der Richtig- gann sich zusammen mit der Veränderung der bundes- keit eines Satzes auf dieser Gedenktafel: ÄSowohl er deutsch-polnischen Beziehungen Anfang der 70er Jah- [Stauffenberg ± K. R.], als auch viele andere, die den re allmählich zu verändern, die mit der Unterschrift des Widerstand gegen die Hitlerdiktatur geleistet haben, Vertrages über die Normalisierung der Beziehungen haben mit dem Leben bezahlt´. Vor allem der Neben- zwischen den beiden Staaten im Dezember eingeleitet satz: Ädie den Widerstand gegen die Hitlerdiktatur ge- wurde. Als erste haben sich die Historiker zum Wort leistet haben´ rief seinen Widerpruch hervor. Nach gemeldet, die sich bemüht haben, das Wissen über Roszkowski war das Hauptmotiv zum Attentat nicht der verschiedene Gruppen des deutschen Widerstandes zu ÄAngriff auf die Hitlerdiktatur als solche´, sondern der verbreiten (stellvertretend Prof. Prof. Karol Jonca7 und ÄVersuch zur Rettung Deutschlands´ angesichts der sich anbahnenden totalen Niederlage. Stauffenberg habe den Anschlag im letzten Moment verübt, um Äge- 7 wisse Chancen für Deutschland hinsichtlich einer güns- K. Jonca, Doktryna polityczna arystokratycznej Äopozycji´ anty- hitlerowskiej na ĝOąsku (1940-1944). Spór wokóá ÄKreisauer tigere Entscheidung über sein Schicksal nach dem Kreis´(Die politische Doktrin der aristokratischen antifaschisti- Krieg zu erhalten´. Die Attentäter seien früher die Äloya- schen Opposition in Schlesien (1940-1944). Streitfragen um den len Vollstrecker der Kriegskampagnen Hitlers´ gewe- ÄKreisauer Kreis´), in : ÄStudia ĝOąskie´ Seria nowa, B. XX, Opole 1971, S. 149-173, ders., Prawo w koncepcjach ĞOąskiej Äopozycji´ sen, vielfach für ihren Einsatz ausgezeichnet. Erst die antyhitlerowskiej ÄKreisauer Kreis´ Helmutha James von Moltke Niederlagen Deutschlands habe sie zum Attentat be- (Das Recht in der Gedankenwelt der schlesischen antifaschisti- schen ÄOpposition´. Helmuth James von Moltkes ÄKreisauer Kreis´), in: ÄStudia ĝOąskie´ Seria nowa, B. XXI, Opole 1972, S. 8 135-155, ders., Streitfragen um den ÄKreisauer Kreis´, in: Studia J. KozeĔski, Oppozycja w III Rzeszy (Opposition im Dritten Historica Slavo-Germanica, B. VII, PoznaĔ 1978, S. 105-117, Reich), PoznaĔ 1987, 201 S. Das Buch von KozeĔski wurde in ders., Opozycja antyhitlerowska na ĝOąsku wobec hitlerowskich einer kleinen Auflage von 1800 Exemplaren herausgebracht. zbrodni ludobójstwa 1942-1944 (Die antifaschistische Opposition Ders., Kreisauer Kreis-Odáam niemieckiej opozycji prawicowej w in Schlesien und das Problem der Verfolgung von Nazi- III Rzeszy (Kreisauer Kreis- eine Splittergruppe der deutschen Verbrechen 1942-1944), in: ÄStudia nad faszyzmem i zbrodniami konservativen Opposition im Dritten Reich), in: Przegląd Zachod- hitlerowskimi´, B. IV, Wrocáaw, 1979, S. 73-86, ders., Außenpoli- ni, 1978, Nr. 1, S. 127-143. tische Perspektiven des ÄKreisauer Kreises´ aus polnischer Sicht, 9 in: Polnische Weststudien, B. VII, H. 1/1988, S. 3-19. Vgl. ÄGazeta Wyborcza´, Nr. 203 vom 29. ± 30. August 1992. reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

9 wogen. Die Bezeichnung Äder Hitlerdiktatur Widerstand schauer Aufstandes 1944. Es fiel jedoch schwer, die leisten´ könnte ± nach Meinung des Autors ± zu fal- Opposition einer winzigen Gruppe von Menschen als schen Schlüssen führen, weil neben Stauffenberg und Widerstand zu betrachten, die sich so spät zu ihrer Tat seinen Anhängern auch die ³Soldaten von Hubal³ 10, entschlossen hatten. In Polen waren auch die Umstän- die Aufständischen von Warschau, Angehörige der de nicht bekannt, unter denen es zu dieser Tat kam. Kosciuszko-Armee sowie Beteiligte im Kampf um Mon- Die Einschränkung des deutschen Widerstandes nur te Cassino´ nicht unerwähnt bleiben dürften. Der Erfolg auf die kommunistische und militärische Opposition er- des Attentats hätte den Deutschen keine Veränderung schwerte zusätzlich die Beurteilung dieses Phänomens. gebracht, mit einer Ausnahme: Polen hätte die ehema- ligen deutschen Ostgebiete nicht bekommen. Auch die Aktivitäten des ÄKreisauer Kreises´ forderte Auf den Brief von Roszkowski reagierte der bekannte die Revision in unserer Betrachtung des Widerstandes. polnische Schriftsteller Andrzej Szczypiorski, dessen Im Fall des ÄKreisauer Kreises´ haben wir mit einer Polemik zusammen mit dem Brief von Roszkowski in kleinen Gruppe von Menschen zu tun, die anstatt das ÄGazeta Wyborcza´ veröffentlicht wurde.11 Szczypiorski Regime aktiv zu bekämpfen, nur diskutiert und Pläne warf Roszkowski vor, dass er den polnischen Stand- für das Nachkriegsdeutschland sowie -europa entwor- punkt verträte und aus dieser Perspektive die Handlun- fen hatte, ohne sich zunächst mit der Frage der Besei- gen von Stauffenberg beurteile. Die Berufung auf das tigung der Diktatur Hitlers näher zu befassen. Diese Schicksal der polnischen Partisanen und Soldaten hielt Diskussionen und Pläne waren jedoch ebenso gefähr- er für verfehlt. Der Vergleich zwischen dem Grad des lich für das 3. Reich wie die Verschwörung gegen das Widerstands in Deutschland und den von den Nazis Leben des Führers, wenn letztendlich dafür so viele okkupierten Ländern beurteilte er als absurd. ÄDer Wi- Teilnehmer der Gespräche in Kreisau mit dem höchs- derstand in Polen, Jugoslawien, in der UdSSR und ten Preis gezahlt haben, mit dem Leben. Im weiteren Frankreich³, schrieb Szczypiorski, Äbedeutete den Teil meines Aufsatzes stelle ich die Geschichte dieser Kampf mit dem äußeren Feind, mit dem Angreifer und Gruppe vor und skizziere ihr Programm. Da dieses Okkupanten. Die Widerstandsbewegung in Deutsch- Programm vielfältig ist, konzentriere ich mich nur auf land dagegen den Verzicht auf die Schicksalsgemein- ausgewählte Aspekte, die ich aus polnischer Sicht für schaft mit der eigenen Nation und den aktiven Kampf wichtig halte: auf die Frage nach der Zukunft Nach- mit dem eigenem Staat´.12 Nach seiner Meinung un- kriegseuropas, mit der Stellung Deutschlands und Po- terstreiche dies noch stärker das moralischen Dilemma lens in diesen Plänen sowie das Problem der Bestra- von Stauffenberg und seiner Gruppe. In den Schluss- fung der Kriegsverbrecher, oder aber ± wie die Krei- folgerungen stellte Szczypiorski fest, dass Äes im Men- sauer diese Gruppe nannten ± der Rechtsschänder.14 schen etwas gibt, das für ihn einen höheren Wert als Der ÄKreisauer Kreis´, der Name wurde von der Gesta- der des eigenen Staats haben sollte, und auch über die po während der Verhöre nach dem missglückten Atten- eigene Nation zu stellen sei: Das Bewusstsein der indi- tat auf Hitler am 20. Juli 1944 gegeben, war keine gro- viduellen Verantwortung für die Wahl zwischen Gut und ße Gruppe. Zu dem eigentlichen Kern gehörten 22 Per- Böse´.13 Die Hinwendung der Aufmerksamkeit der pol- sonen. Sie unterhielten Kontakte mit anderen Perso- nischen Leser auf das unterschiedliche Verständnis des nen, die als Sachverständiger für die Bearbeitung von Begriffes ÄWiderstand´ in Polen und Deutschland durch einzelnen Problemen mehrfach einbezogen wurden. Es Szczypiorski war ein sehr mutiges Wagnis. Die Polen wird geschätzt, dass diese Kontakte ca. 100 Personen verstanden den Widerstand als einen massenhaften umfassten. Der Hauptorganisator der Gruppe war der Aufstand gegen die Okkupationsmacht. Im nationalen Besitzer des Gutes Kreisau, der Erbe des preußischen Gedächtnis blieben die bravourösen Partisanenaktio- Feldmarschalls aus der Zeit der dänischen, österreichi- nen, die Tätigkeit des polnischen Untergrundstaates, schen und französischen Kriege im 19. Jahrhundert, und schließlich die verzweifelten Kämpfe des War- Helmuth von Moltke, Helmuth James von Moltke (1907 ± 1945). Auf seinem Gut fanden drei Hauptkonferenzen

10 Eine Einheit der polnischen Armee, die nach der Zerschla- 14 gung Polens durch die deutschen und sowjetischen Truppen Vgl. Arbeiten von Jonca (wie Anm. Nr. 1) und von T. Scheff- im September ± Anfang Oktober 1939 die Waffen nicht abge- ler, Idea zjednoczenia Europy w myĞli politycznej Kreisauer geben und weiter gekämpft hat (bis Juni 1940. Sie wurde nach Kreis Helmutha Jamesa von Moltkego 1939±1944 (Idee des dem Decknamen des Anführers Major Henryk DobrzaĔski Vereinigten Europas im politischen Denken des Kreisauer ÄHubalczycy´ genannt. Kreises um Helmuth James von Moltke), in: Studia nad Fas- zyzmem, Bd. 18, Wroclaw 1995, S. 101±126 und Powojenne 11 Vgl. ÄGazeta Wyborcza´, Nr. 203 vom 29. ± 30. August stosunki miĊdzynarodowe i ich ideowe podstawy w koncepc- 1992. jach ÄKreisauer Kreis´ (Die internationalen Nachkriegsverhält- nisse und ihre ideellen Grundlagen in den Konzeptionen des 12 Ibidem. ÄKreisauer Kreises´, in: Dzieje ĝOąska w XX w. w Ğwietle badaĔ 13 Ibidem. reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

10 der Gruppe statt (1942 ± 1943). Bei der Gründung der Paulus van Husen, Hans Peters, Augustin Rösch SJ, Gruppe half Moltke ein anderer Vertreter des preußi- Lothar König SJ, Alfred Delp SJ). Die Ansammlung von schen Adels, Peter York von Wartenburg (1904 ± 1944) so unterschiedlicher Gruppen von Personen war bei- aus Klein-Öls bei Ohlau, ein Nachkomme des preußi- spiellos. Die sozial-politischen Konflikte in der Zeit der schen Feldmarschalls zu Anfang des 19. Jahrhunderts, Weimarer Republik waren nicht geeignet, die Mitarbei- Hans David Ludwig York von Wartenburg. Noch vor ter in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen (Klas- dem Ausbruch des Krieges 1939 begannen sich um sen) zu suchen. Dies bedeutete jedoch nicht, dass sol- diese beiden Aristokraten kritisch gegenüber der natio- che Versuche damals nicht unternommen wurden. Es nalsozialistischen Regierung eingestellte Personen zu sind beispielsweise die Ende der 20er organisierten Ar- sammeln. Diese Treffen fanden im Geheimen statt und beitslager in Löwenberg erwähnenswert, an denen Ju- beschränkten sich auf den Kreis der nächsten Bekann- gendliche aus verschiedenen Gruppe teilgenommen ten. In der Zeit der größten Siege Hitlers, 1940, kam es haben. An diesen Lagern beteiligten sich auch die spä-

Politsche Bindungen Parteizugehörig- politische Sympathien Politische Ämter Der Kreisauer keit bzw. Moltke ± Neigung zu den Linksparteien ± York ± konservativ ± Trott ± Neigung zur SPD ± Haeften ± sozial-liberal, Nähe zur Deutschen ± Volkspartei (liberal) Trotha ± Neigung zur SPD Einsiedel SPD ± Reichwein SPD Ministerreferent Haubach SPD Mitglied der Hamburger Bürgerschaft Mierendorff SPD Mitglied des Reichstages Leber SPD Mitglied des Reichstages Poelchau ± Neigung zur SPD ± Gerstenmaier ± Neigung zu den Volkskonservativen ± Gablenz ± Nähe zu SPD und Volkskonservativen ± Steltzer ± sozial-konservativ Landrat Lukaschek Zentrum Oberpräsident van Husen Zentrum kommissarischer Landrat Peters Zentrum Mitglied des Preußischen Landtages Rösch ± vermutlich Neigung zum Zentrum ± Delp ± vermutlich Neigung zum Zentrum ± Quelle: W. E. Winterhager, Der Kreisauer Kreis ± Porträt e. Widerstandsgruppe, in ÄHirschberg´, 1994, Nr. 1, S. 17. zu einem Zusammenschluss beider Gruppen. Dieses teren Mitglieder des ÄKreisauer Kreises´ (Moltke, Trot- Jahr wird als der Anfang der Tätigkeit des ÄKreisauer ha, Einsiedel). Die damals geknüpften Bekanntschaften Kreises´ betrachtet. Sein charakteristisches Merkmal, und auf diese Weise gewonnenen Erfahrungen haben das ihn von den anderen Gruppierungen des deutschen sie in der Gründungsphase des Kreises Anfang der Widerstandes unterschied, war eine große bunte Mi- 40er Jahre genutzt. schung seiner Mitglieder hinsichtlich Herkunft, Konfes- sion und politischer Erfahrungen. Es werden vier Die Zusammensetzung des Kreisauer Kreises und sei- Hauptgruppen unterschieden, wie die von Moltke und ne Verbindungen mit dem Ausland ist dargestellt bei W. York Wartenburg (Adam von Trott, Hans-Bernd von E. Winterhager, Der Kreisauer Kreis ± Porträt einer Wi- Haeften, Carl Dietrich von Trotha, Horst von Einsiedel), derstandsgruppe, in: ÄHirschberg´, 1994, Nr. 1, S. 4. die der Sozialisten (Sozialdemokraten) (Adolf Reich- wein, Theodor Haubach, Carlo Mierendorff, Julius Le- Im Kreis dominierten die jungen Leute, im Sommer ber), die evangelische (Harald Poelchau, Eugen Gers- 1940 war die Hälfte von ihnen noch nicht 36 Jahre alt, tenmaier, Otto Heinrich von der Gablenz, Theodor acht waren zwischen 40 und 50. Nur zwei von ihnen, H. Steltzer) sowie die der Katholiken (Hans Lukaschek, Lukaschek und Th. Steltzer, waren über 50. Die Mit-

Páodych historyków z Polski, Czech i Niemiec, hrsg. von K. Ruchniewicz, Wrocáaw 1998, S. 147±160. reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

11 glieder der Gruppe gehörten weder der NSDAP noch nannten Gründungsperiode ± vier weitere Perioden15 zu anderen der NSDAP nahen Organisationen an. Im Lau- nennen: fe der Zeit begann man diese Gruppe als eine Große ± die sog. Programmperiode (seit Mitte 1941 bis zur Koalition des deutschen Widerstandes zu bezeichnen. Mitte 1943), während derer die drei schon erwähnten Den Kreis bildeten nicht nur Männer, sondern auch ± Konferenzen in Kreisau stattgefunden haben. Es wurde was vor allem in den letzten Arbeiten über den ÄKrei- diskutiert über das Verhältnis zwischen Staat und Kir- sauer Kreis´ besonders hervorgehoben wird ± Frauen, che und über das Bildungswesen (1. Kreisau Tagung, Die Haupttagungen in Kreisau

Teilnehmerkreis Beratungsthemen und Beschlusspapiere Erste Tagung Helmuth James v. Moltke Verhältnis Staat-Kirche 22. ± 25. Mai Freya v. Moltke (Referenten: Steltzer, Rösch) (Pfingsten) Peter York 1942 Marion York Bildungswesen Reichwein (Referenten: Reichwein, Moltke) Poelchau Steltzer Lukaschek Peters Rösch Zweite Ta- Helmuth v. Moltke Staatsaufbau gung Freya v. Moltke (Referenten: Moltke, Steltzer) 16. ± 18 Ok- Peter York tober 1942 Marion York Wirtschaftsordnung Einsiedel (Referent: Einsiedel) Haubach Gerstenmaier Steltzer Peters Delp Dritte Tagung Helmuth James v. Moltke Außenpolitik und internationale Wirtschaftsordnung 12. ± 14. Juni Freya v. Moltke (Referent: Trott) (Pfingsten) Peter York 1943 Marion York Bestrafung der Rechtsschänder Irene York (Referent: van Husen) Trott Einsiedel Reichwein Gerstenmaier van Husen Delp Quelle: W. E. Winterhager, a.a.O., in: ÄHirschberg´, 1994, Nr. 1, S. 18. die Frauen von Moltke und York von Wartenburg, Freya Pfingsten, 22. ± 25. Mai 1942), über den Staatsaufbau von Moltke geb. Deichmann (geb. 1911) und Marion und die Wirtschaft (2. Kreisau Tagung, 16. ± 18. Okto- York von Wartenburg geb. Winter (geb. 1904). Die ber 1942), über die Außen- und Innenpolitik, über die meisten Mitglieder waren politisch engagiert. internationale Wirtschaftsordnung sowie über die Be- strafung der Rechtsschänder (3. Kreisau Tagung, Das politische Engagement der späteren Mitglieder des Pfingsten, 12. ± 14. Juni 1943). Es ist hinzuzufügen, ÄKreisauer Kreises´ veranschaulicht die zweite Tabelle dass die Treffen der Gruppe nicht nur in Kreisau, son- Diese politische Vielfältigkeit beeinflusste unmittelbar dern auch in Berlin und anderen Städten stattfanden, die geführten Diskussionen sowie die Endfassung der entworfenen Pläne. In der Geschichte des ÄKreisauer 15 Kreises´ sind folgende ± ausgenommen die schon ge- Nach G. van Roon, Der Kreisauer Kreis zwischen Wider- stand und Umbruch, 2. überarbeitete Aufl. 1988, S. 4±6. reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

12

Treffen, an denen nur wenige Personen, meist zwei europäischen Fragen wurde schließlich auf die lange oder drei, teilgenommen haben. Bank geschoben. Es ist jedoch wert, eine Äußerung Moltkes zu zitieren, die auch heute noch, in der Zeit der ± die Etappe der vertieften Diskussionen über die ent- lebhaften Diskussionen über die Fundamente des Ver- worfenen Pläne und Versuche zur Bekanntmachung im einigten Europas, aktuell bleibt. Ä(...) Für uns ist Euro- Ausland (seit Mitte 1943 bis zum Anfang 1944). Die pa³, schrieb Moltke an seinen Freund Lionel Curtis Mit- Verhaftung Moltkes und Inhaftierung im KZ Ravens- te Mai 1942, Änach dem Kriege weniger eine Frage von brück unterbrach die Arbeit der Gruppe. Es begann die Grenzen und Soldaten, von komplizierten Organisatio- Zeit der Stagnation. nen oder großen Plänen. Europa nach dem Kriege ist ± die letzte Etappe in der Geschichte der Gruppe, ihre die Frage: Wie kann das Bild des Menschen in den Liquidierung, begann mit dem missglückten Attentat auf Herzen unserer Mitbürger aufgerichtet werden. Das ist Hitler im Juli 1944 und endet mit der Verhaftung der eine Frage der Religion, der Erziehungen, der Bindun- Hauptmitglieder des ÄKreisauer Kreises´, ihrem Prozess gen an Arbeit und Familie, des richtigen Verhältnisses und dem Todesurteil. Der Tod von York von Warten- zwischen Verantwortung und Rechten´.16 Die in der burg und Moltke sowie der sechs anderen Mitglieder letzten Zeit zugänglich gemachten neuen archivali- des ÄKreisauer Kreises´ (A. v. Trott, H. B. v. Haeften, A. schen Dokumente zeigten, dass im Herbst 1942 doch Reichwein, Th. Haubach, J. Leber, A. Delp SJ) setzte ein Entwurf einer europäischen Verfassung geschrie- der Gruppe ein endgültiges Ende. ben wurde, der zur Verabschiedung während der 3. Kreisau Tagung vorgelegt werden sollte. Er wurde in Nun kehre ich zu der sogen. Programmperiode zurück, Schweden zufällig ausfindig gemacht, während der wobei ich ± wie schon vorhin angedeutet ± die Pläne Vorbereitung zu einer großen Ausstellung über den zum Nachkriegseuropa, die Stellung Deutschlands und ÄKreisauer Kreis´, die von der Stiftung Preußischer Kul- Polens sowie das Problem der Bestrafung der Rechts- turbesitz im Jahre 1985 in Berlin organisiert wurde.17 schänder besonders darzustellen gedenke. Die Diskus- Nach Schweden gelangte dieser Text dank Theodor sion über die Gestalt und die Verfassung des zukünfti- Steltzer, der ihn an die schwedischen Freunde des gen Europas war eines der wichtigsten Themen im Kreises weitergegeben hat. Es ist wert, diesem Doku- ÄKreisauer Kreis´. Das Hauptmotiv zur Debatte dieser ment etwas mehr Aufmerksamkeit zu schenken.18 Problematik war die Vermeidung nationaler Rivalitäten in der Zukunft, die ± nach Meinung der Kreisauer ± zum Das geteilte Europa konnte danach seine Position in Ausbruch der beiden Weltkriege geführt hatten. Sie for- der Welt erhalten, wenn eine neue europäische Ord- derten die Gründung der Föderation von europäischen nung geschaffen wurde. Ein wichtiges Element dieser Staaten, an deren Spitze eine gemeinsame Regierung Ordnung waren die geistigen Werte, vor allem das hätte stehen können. Um dieses Ziel zu erreichen, Christentum. Die zukünftige europäische Verfassung musste jeder Staat die eigene Souveränität einschrän- sah keine Hegemoniallösung für ein Volk oder für ein- ken. Zum ersten Mal stellte Moltke das Programm der zelne Völker vor. Die Souveränitätsrechte werden durch Verfassung des zukünftigen Europas in einem Memo- alle Beteiligten gemeinsam verwaltet. Jedem Saat blieb randum unter dem Titel ÄAusgangslage und Aufgaben´ die eigene Autonomie erhalten. Die europäischen Or- vom 24. April 1941 vor; es wurde in den folgenden Wo- gane erhalten Vollmachten, die eine gemeinsame Füh- chen mehrmals verändert. Moltke betrachtete diesen rung der europäischen Politik ermöglichen. Die Denk- Text als Grundlage zur weiteren Diskussion. So sind schrift sah die Gründung eines europäischen Bundes viele Fragezeichen zu erklären, mit denen er seine Vor- vor, der eine neue Bundesregierung einrichtet. Es wa- schläge versehen hat. Eine offene Frage blieb, ob das ren folgende Organe des Bundes geplant: neue Europa als ÄBundesstaat mit einheitlicher Souve- ± ein Kronrat bzw. Bundesrat sollte Träger der gemein- ränität´ konzipiert sein sollte, oder in Form eines Staa- samen Souveränitätsrechte und der gemeinsamen Wil- tenbundes. Ein nicht gelöstes Problem blieb auch die lensbildung sein, Frage der Bestimmung der Grenzen des zukünftigen Europas, vor allem die Zugehörigkeit Englands und der Sowjetunion zur neuen Organisation. Weitere Diskussi- 16 onen über die Vorschläge Moltkes wurden auch im Zit. nach Europa-Föderationspläne der Widerstandsbewe- nächsten Jahr geführt. Allerdings kam es nicht zur Aus- gungen 1940±1945. Eine Dokumentation, gesammelt und ein- arbeitung eines gemeinsamen Grundsatzbeschlusses geleitet v. W. Lipgens, München 1968, S. 130. 17 über diese Fragen. Einen großen Einfluss darauf hatte Vgl. Der Kreisauer Kreis. Porträt einer Widerstandsgruppe. die Politik der Alliierten gegenüber Deutschland, die die Begleitband zu einer Ausstellung der Stiftung Preußischer Kul- turbesitz, bearb. von W. E. Einterhagen, Berlin 1995. Chancen für die Teilnahme Deutschlands an der Schaf- 18 fung der neuen europäischen Ordnung sinken ließ. Die Vgl. Das europäische Verfassungsproblem, in: Der Krei- sauer Kreis ..., S. 222±228. reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

13

± eine Bundesregierung hatte eine ausführende (exeku- nung Mitteleuropas mag verwundern. Über die Teilung tive) Funktion und bestand aus Bundespräsident, Bun- der Tschechoslowakei gingen die Kreisauer zur Tages- deskanzler und Ministerien sowie ordnung über. Zur Hauptstadt der zukünftigen europäi- ± ein Bundestag. Er hatte eine gesetzgebende Funkti- schen Gemeinschaft wurde Wien gewählt. Die Grün- on. In der Denkschrift wurde die Gerichtsbarkeit nicht dung des europäischen Bundes sollte die Zusammen- behandelt. arbeit mit den außereuropäischen Gebieten nicht un- terbrechen, weil dieses u.a. nicht im wirtschaftlichen In- Dem Kronrat gehörten die Staatsoberhäupter der betei- teresse gelegen hätte. ligen Staaten an. Eine beratende Stimme im Kronrat hatten: der Bundeskanzler, ein evangelischer Bischof, Es ist schade, dass die vorgestellten Vorschläge zur ein vom Papst bestimmter katholischer Bischof sowie neuen europäischen Ordnung in den Dokumenten der der Präsident des Bundestages. Der Rat sollte jedes 3. Kreisau Tagung keinen Platz gefunden haben. Aus Jahr zusammentreten. Zu seinen Aufgaben gehörte die diesem Grund wissen wir nicht, ob sie Diskussion her- Bestimmung der allgemeinen europäischen Politik und vorgerufen hätten und wie die Teilnehmer auf diese der Oberbefehl über das Bundesheer. Die Ratsmitglie- Vorschläge reagiert haben würden. der wählten den Präsidenten, der gleichzeitig für das Die Voraussetzung für die Verwirklichung der Pläne Amt des Bundespräsidenten bestimmt wurde, auf be- zum Bau des neuen Europas war die Niederlage fristete Zeit. Auch die Wahl des Bundeskanzlers oblag Deutschlands. Zur Stellung des ÄKreisauer Kreises´ in dem Rat. Anschließend wählte der Rat die Stellvertreter dieser Angelegenheit äußerte sich Moltke während sei- für Bundespräsident und Bundeskanzler. Schließlich nes Aufenthaltes in der Türkei Ende 1943. ÄDie Gruppe bestätigte der Rat diplomatische Vertreter bei außereu- hält eine unbezweifelbare militärische Niederlage und ropäischen Ländern, die vom Bundespräsidenten er- Besetzung Deutschlands aus moralischen und politi- nannt wurden. Die Bundesminister nominierte der Prä- schen Gründen für absolut notwendig´.19 In Zusam- sident auf Vorschlag des Bundeskanzlers. Den Bundes- menhang mit dem neuen Europa ist es erwähnenswert, tag bildeten die Vertreter der Bundesstaaten, die nicht dass dem Prozess der Föderalisierung auch Deutsch- von den Regierungen gewählt, sondern durch die land unterstellt wurde. Es sollte ein Bund der deutschen Volksvertretungen der einzelnen Ländern gewählt wur- Staaten entstehen. Allerdings herrschte keine Überein- den. Ihre Zahl war von der Größe des jeweiligen Staa- stimmung, welche Regionen zu diesen Staaten gehö- tes abhängig, z.B. sollte für jede angefangene Million ren und wo die Grenzen liegen sollten. Für Moltke war Einwohner je ein Vertreter nominiert werden. Der Bun- wichtiger, dass in den Gebieten die menschlichen Ver- destag fasste die Beschlüsse über die Gesetzesvorla- hältnisse wieder hergestellt würden. Er sah voraus, gen der Bundesregierung, über die finanziellen Angele- dass große Teile Deutschlands, einschließlich Schle- genheiten, über den Haushaltsplan und schließlich sien, verloren gehen würden. Schlesien sollte entweder stellte er die Initiativanträge an die Bundesregierung. an Polen oder die Tschechische Republik als Konse- quenz des von den Nationalsozialisten ausgerufenen Die Schaffung der neuen europäischen Ordnung war Krieges und ihrer Politik gegenüber den unterjochten unmöglich, ohne Äklare und anerkannte Grenzen´ zu Völkern gehen. Eine derartige Einstellung ist im deut- bestimmen. Zum zukünftigen Europa sollten 24 Staaten schen Widerstand beispiellos. gehören (Schweden, Dänemark, Norwegen, Finnland, Manche Mitglieder des ÄKreisauer Kreises´ interessier- Belgien, Holland, Schweiz, England, Deutschland, ten sich auch für polnische Angelegenheiten. Noch An- Frankreich, Spanien, Portugal, Böhmen, Mähren, Po- fang der 30 forderten sie die Verständigung zwischen len, Italien, Serbien, Slowakei, Kroatien, Bulgarien, Deutschland und Polen. ÄFür uns Sozialisten³, Äschrieb Rumänien, Griechenland, Ungarn und Russland). Die Theo Haubach, Äist die deutsch-französische und Zugehörigkeit Englands und der UdSSR zur neuen deutsch-polnische Verständigung mehr als eine augen- Gemeinschaft war umstritten. Sie war an bestimmte blickliche Bereinigung von Schwierigkeiten, sie ist das Bedingungen gebunden: England sollte sich entweder stabile, auf Dauer eingerichtete Fundament des künfti- für Europa oder für Amerika entscheiden, in der UdSSR gen Europas´.20 Ähnlich äußerte sich damals Paulus musste es zur Veränderung in Form einer Regierung van Husen. Vor dem 2. Weltkrieg interessierte sich kommen, die sich zu den Ätragenden Kräften des Chris- auch Moltke für die polnischen Fragen. Er war kurz in tentums und damit zu Europa´ bekannt hätte. In der er- Warschau. Außerdem hatte er sogar vor, die polnische wähnten Länderliste fehlen die kleinen Staaten, wie Sprache zu erlernen. Als Tatsache ist festzuhalten, Liechtenstein, Vatikan oder die Baltischen Staaten. Das

Fehlen von Irland und Island verwundert. Außerdem 19 Zit. nach G. v. Roon, Neuordnung im Widerstand, München fehlt auch Österreich, das wahrscheinlich als Teil 1967, S. 457. Deutschlands betrachtet wurde. Auch die neue Ord- reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

14 dass Moltke die antipolnische Politik der Weimarer Zeit 1942 über die Existenz der Vergasungsanlagen in den nicht befürwortete. Die Kreisauer haben zwar kein ein- KZ-Lagern in Polen). Auf diese Frage kamen die Mit- zelnes Dokument Polen und den deutsch-polnischen glieder in den nächsten Wochen zurück. Es ist beto- Beziehungen gewidmet, aber die sprachen diese Prob- nenswert, dass das zu den wichtigsten Projekten leme öfters an. Das Übermaß des Verbrechens, das im gehörte, die der deutsche Widerstand ausgearbeitet deutschen Namen in Polen und in den anderen okku- hat. Die Voraussetzung zur ÄWiederherstellung der pierten Ländern passierte, war den Mitgliedern des zertretenen Rechtsordnung´ war die Bestrafung der Kreises bewusst. ÄDer Tag ist so voller grauenhafter Personen, die diese Ordnung vergewaltigt haben und Nachrichten³, schrieb Moltke an seine Frau am 21. Ok- die Opfer dieser Vergewaltigung wiedergutzumachen. tober 1941, Ädass ich nicht in Ruhe schreiben kann ...; Dies war nur mit der Teilnahme Deutschlands und der ... neue, schreckliche Befehle werden gegeben und Deutschen möglich. Man sah weder die Übergabe der niemand scheint etwas dabei zu finden. Wie soll man Verbrecher an die fremden Staaten und ihre Gerichte, die Mitschuld tragen? In Serbien ..., Griechenland ... noch die Überlassung der Frage der Bestrafung der und Frankreich ... finden umfangreiche Erschießungen Verbrecher nur an die Siegesstaaten vor. Die statt ... So werden täglich sicher mehr als tausend Bestrafung der Kriegsverbrecher durch die Alliierten Menschen ermordet und wieder Tausende deutscher hätte aus ihnen Nationalhelden und Opfer der Männer werden an den Mord gewöhnt. Und das alles Siegesjustiz machen können. Die Kreisauer forderten ist noch ein Kinderspiel gegen das, was in Polen und die Schaffung eines unabhängigen Gerichtes der Russland geschieht. Darf ich denn das erfahren und Völkergemeinschaft, an dem Richter aus den trotzdem in meiner geheizten Wohnung am Tisch sitzen Siegesstaaten, den neutralen und besiegten Staaten und Tee trinken? Mach¶ ich mich dadurch nicht mit- beteiligt sein sollten. Auf diese Weise wollte man die schuldig? Was sage ich, wenn man mich fragt: und was Bereitschaft zur Zusammenarbeit bekunden. Nur ein hast Du während dieser Zeit getan?´.21 Daher kann es derartiges Gericht konnte ein unparteiliches Urteil nicht verwundern, dass die Kreisauer verhältnismäßig garantieren. Als Sitz des Gerichtes nannten sie Den früh die Wiedergutmachung für die Polen forderten. Auf Haag. diese Weise ist die Einstellung Moltkes bezüglich der Nach dem Prozess vor dem Volksgerichtshof, der Molt- Ostgrenze Deutschlands zu erklären, wenn sie gar mit ke und seine Freunde zum Tode verurteilt hat, schrieb dem Verlust seiner Heimat enden sollte. Andere Grenz- Moltke an seine Frau: ³Mich fragte er [der Präsident fragen zwischen Deutschland und Polen, die vor 1939 des Volksgerichtshofes ± K.R.]: µSehen umstritten waren, wie z.B. die Frage des ÄKorridors´, Sie ein, dass Sie schuldig sind?¶ Ich sagte im wesentli- blieben unberücksichtigt. Die Ostgrenze Polens war in chen nein. Darauf Freisler: µSehen Sie, wenn Sie das den Kreisau-Dokumenten als Grenze des Äalten Po- immer noch nicht erkennen, wenn Sie immer noch dar- lens´ bezeichnet. Molke und seine Freunde befürworte- über belehrt werden müssen, dann zeigt das eben, ten also die Wiederherstellung des Status quo in Euro- dass Sie anders denken und damit sich selbst aus der pa vor dem 2. Weltkrieg, ausgenommen die schon er- kämpfenden Volksgemeinschaft ausgeschlossen ha- wähnten Gebietsabtretungen. In dem sog. ÄSchönfelder ben¶. Das Schöne an dem so aufgezogenen Urteil³, füg- Memorandum³ und dem Memorandum vom April 1942 te Moltke hinzu, Äist folgendes: wir haben keine Gewalt wurde die Herstellung des unabhängigen polnischen anwenden wollen ± ist festgestellt; wir haben keinen Staates gefordert, der ein Teil des europäischen Staa- einzigen organisatorischen Schritt unternommen, mit tenbundes bilden sollte. keinem einzigen Mann über die Frage gesprochen, ob Mit dem Problem der Wiedergutmachung hing die Fra- er einen Posten übernehmen wolle ± ist festgestellt; in ge der Bestrafung der Kriegsverbrecher, also Personen der Anklage stand es anders. Wir haben nur gedacht ± wie in den Kreisau-Dokumenten formuliert wurde ±, ...Und vor Gedanken ..., den bloßen Gedanken, hat der die das Recht geschändet hatten (sogen. Rechts- N.S. eine solche Angst, dass er alles, was damit infi- schänder) eng zusammen. Mit diesem Problem be- ziert ist, ausrotten will´.22 Ich habe mir erlaubt eine grö- schäftigten sich die Kreisauer während der 3. Kreisau ßere Passage aus dem Brief Moltkes zu zitieren, um Konferenz im Juni 1943. Das Übermaß der deutschen noch einmal deutlich zu zeigen, wie das polnische und Verbrechen in den okkupierten Gebieten war den Mit- deutsche Verständnis des Widerstandes unterschied- gliedern des Kreises bekannt, wenn sie auch anfänglich lich ist. Im Fall Moltke und seiner Freunde war der nur schwer an die Bestialität ihrer Landleute glauben Grund für das Todesurteil nicht die Zahl der gespreng- mochten (Brief Moltke an seine Frau vom 10. Oktober ten Züge oder Teilnahme an den Sabotageaktionen, sondern Gedanken und Ideen, die er hatte. Das waren

20 Ibidem, S. 458. 21 22 H. J. v. Moltke, Briefe an Freya 1939±1945, hrsg. von Beate H. J. v. Moltke, Letzte Briefe aus dem Gefängnis Tegel Ruhm von Oppen, München 1988, S. 307 ± 308. 1945, 13. Aufl., Berlin 1981, S. 62 ± 63. reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

15 die Vorschläge für die Zukunft, Nachdenken über en deutsch-polnischen Beziehungen sein. Die Atmo- Deutschland, über Europa nach der Niederlage des na- sphäre der Toleranz, des freundschaftlichen und freien tionalsozialistischen Regimes. Es scheint, dass diese Gedanken- und Meinungsaustausches, die hier Oppositionsform für die Nazis besonders gefährlich herrscht, knüpft sicherlich an die Tradition des ÄKrei- war. Sie zeigte die Niederlage ihrer Propaganda deut- sauer Kreises´ an. lich, die aus den Deutschen ein willenloses Instrument zur Verwirklichung ihrer verbrecherischen Ziele machen Krzysztof Ruchniewicz/Wrocáaw wollte. Im Wege stand jedoch eine kleine Gruppe der Gerechten. War das viel? War das wenig? Dem Programm des ÄKreisauer Kreises´ kann man vie- le interessante Vorschläge nicht absprechen. Manche Europavorstellungen von ihnen versuchte ich während meines Vortrages vorzustellen. In der Diskussion über das Erbe dieser der Kreisauer Gruppe muss man die Bedingungen veranschaulichen, unter denen diese Pläne entstanden sind. Sie wurden als Antwort auf konkrete Herausforderungen geschaf- fen. Aus diesem Grund scheinen manche Ideen des Wie Ämodern³ sind die Vorstellungen der Kreisauer? ÄKreisauer Kreises´ zu ideell, wirklichkeitsfern zu sein. Wie anknüpfungsfähig sind sie für unsre heutige Tradi- Man muss jedoch an diese Dokumente mit Achtung he- tionssuche? Passen sie sozusagen in den ÄAhnenpass³ rangehen und sie mit dem Preis vergleichen, der dafür unserer immer noch jungen Demokratie? gezahlt wurde. Sicherlich einer der zeitlosen Punkte Lassen Sie es mich ganz kurz und provokant sagen: des Programms bleibt die Forderung nach der Wieder- wenn sich der überwiegende Teil unseres heutigen Ge- herstellung der Rechtsordnung, Kampf um Menschen- schichtsunterrichts und unserer Erinnerungspolitik ± in rechte und Erhaltung des Friedens in Europa. Diese Gedenktagen und Gedenkstätten - mit den deutschen Werte sind universell und können auch andere Nicht- Verbrechen der Nazizeit befasst, so ist das zu wenig, Deutsche für die deutschen Widerständler gewinnen. um eine positive demokratische Identität zu befestigen. Das Verständnis des Charakters des deutschen Wider- In jedem Land stellt die Traditionspflege die positiven standes erschwert auch ein anderes Verhältnis zum Werte heraus, unter denen das Staatsvolk sich zu in- Staat in Polen und Deutschland, das aus einer anderen tegrieren hofft. Wenn Joschka Fischer sagt: ÄNie wieder Tradition und Geschichte kommt. Für die Polen, die in Auschwitz! Das ist in meinen Augen die einzig denkba- den letzten 200 Jahren nur 30 Jahre in einem freien re Grundlage für die neue Berliner Republik³23, so ist Staat lebten und sich mit ihm identifizierten, war der dieses negative Identitätsmerkmal zwar bitter notwen- Widerstand gegen das herrschende Regierungssystem, dig, aber als alleinstehendes ganz und gar unzurei- gegen den fremden Staat, immanent. Sehr oft ent- chend. Grietje Bettin, seine 25jährige grüne Fraktions- schied dieser Widerstand über das Überleben der Nati- kollegin im Bundestag, beklagt den Ämoralischen Rigo- on. Ein ganz anderes Verhältnis hatten und haben die rismus der 68er und den daraus resultierenden Ge- Deutschen gegenüber ihrem Staat. So ist das Dilemma schichtsunterricht.³ Nach jahrelangem Pauken von Ur- vieler Teilnehmer des deutschen Widerstandes zu er- sachen, Wirkungen und Folgen des Dritten Reiches klären: Wenn sie sich gegen den Staat Hitlers wenden spüre sie direkt ÄHunger nach Geschichte jenseits der wollten, mussten sie gleichzeitig ihren eigenen Staat Nazizeit³24. verraten. Die deutschen Widerstandskämpfer bzw. ihre Türkische Zuwanderer, darunter das FDP-Vorstands- Familien bekamen das nach dem 2. Weltkrieg schnell mitglied Daimalgüner, mahnen uns, ihnen außer der zu spüren. Die geschlagene deutsche Gesellschaft war Aufarbeitung der Nazivergangenheit auch einen einla- lange Zeit nicht bereit, diese mutigen Personen und ih- denden Patriotismus anzubieten. Es wäre erfreulich, re Taten in ihre Geschichte zu integrieren. Sehr oft wenn wir hierfür nicht nur in der Geschichte vor 1933 wurde den Witwen der getöteten Widerständler das und nach 1945 Anhaltspunkte fänden, sondern auch im Recht auf Rente und normales Leben abgesprochen. Kreisau der frühen vierziger Jahre. Gleichzeitig wurden den Familien der verstorbenen Mit- Ich habe Eberhard Bethge, den Freund und Vermächt- glieder des nationalsozialistischen Regimes (Fall Freis- niswahrer von Dietrich Bonhoeffer, einmal lächelnd sa- ler !) diese Rechte zugesprochen. Die Widerständler gen hören: ÄWir vom deutschen Widerstand waren nach wurden öfters als Verräter bezeichnet, was für einen 1945 alle Verräter, und in den siebziger und achtziger durchschnittlichen Polen unverständlich ist. Die ÄEntdeckung´ des ÄKreisauer Kreises´, in Polen 23 nach 1989, die Gründung einer Begegnungsstätte in Der Spiegel 13 / 2001, S. 26 Kreisau, kann ein wichtiges Element zum Bau der neu- 24 Ebd. reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

16

Jahren bei den kritischen jungen Historikern beinahe gen totalitäre Verlockungen nunmehr geimpft. Diese Er- Nazis³. Nun, ich schätze die Arbeit von Historikern wie folgsgeschichte berechtigt zur Hoffnung, dass die Hans Mommsen und Klaus-Jürgen Müller hoch ein, und Schönwetterdemokratie des Wirtschaftswunders auch ihre kritische Betrachtung des deutschen Widerstandes das gegenwärtige schlechte ökonomische Wetter ro- war als Kontrapunkt gegen die Feigenblattfunktion, die bust überdauert, trotz der Bewegungsunfähigkeit der der ÄAufstand des Gewissens³ in den sechziger Jahren föderativ übersicherten Konsensdemokratie, wo die gespielt hatte, sicher gerechtfertigt. Opposition im Bundesrat mitregiert. Sehen wir uns also an, was Hans Mommsen über das Aber es ist kein Einwand gegen die Modernität von Gesellschaftsbild und die Verfassungspläne der Krei- Kreisau, dass man dort nicht mit einer zweiten Chance sauer kritisch anmerkt. Er sieht bei einigen Kreisauern, der parlamentarischen Massendemokratie in Deutsch- so bei Einsiedel, eine Äantirationale und antiindividualis- land rechnete, sondern von der Tatsache des Schei- tische Grundhaltung³25, bei ihm wie bei Delp, Gersten- terns ± nicht nur in Weimar-Deutschland, sondern in maier und van Husen einen Äromantischen Volksbeg- halb Europa - ausging. Außerdem hätte sogar ein Hell- riff³. Diese Kreisauer beklagen, der ÄStaatsbürger- seher, der 1944 den Erfolg der Bonner Republik vo- Volksgenosse³ sei Änicht mehr organisches Glied eines raussah, nach einem erfolgreichen Aufstand gegen die lebendigen Volkskörpers (...), sondern mechanischer Naziherrschaft nichts anderes vorsehen können als ei- Teil einer materialistisch ausgerichteten und rationell ne autoritäre Staatsform zumindest für den Übergang, gesteuerten Staatsmaschine³. Viele Übel der Gesell- insbesondere für die Wiederherstellung des Rechts- schaft werden auf den Äverderblichen Einfluss der Ver- staates. Denn Hitler hätte auch zu dieser Zeit noch eine städterung³ zurückgeführt. freie Wahl gewonnen. Adam von Trott sei Äweit davon entfernt³ gewesen, Es führt nicht sehr weit, in den Schriften der Kreisauer, schreibt Mommsen, die Übertragung westlicher demo- die ja sehr unterschiedlicher weltanschaulicher Herkunft kratischer Prinzipien auf Deutschland gutzuheißen; waren, nach zeitgebundenen Denkmustern und vielmehr sei er überzeugt gewesen, dass im Industrie- Schlagworten zu suchen ± wobei ich mit Äzeitgebunden³ zeitalter das Prinzip liberal-parlamentarischer Demokra- nicht die Naziideologie meine, sondern konservative tie scheitern müsse26. Statt dessen habe er zu Äkonser- und sozialromantische Vorstellungen der Zwischen- vativen Prinzipien³ zurückkehren wollen und Äeine straf- kriegszeit. Entscheidend ist, inwieweit die Kreisauer fe, verfassungsmäßig verankerte Autorität³, gar eine wirklich Neues gedacht und zukunftweisende Entwürfe Ävon christlichem Geiste getragene autoritative Ord- für Deutschland und Europa ausgearbeitet haben. nung³ gefordert . Freilich war Trott an anderer Stelle Herr Ruchniewicz hat den Verfassungs- und Organisa- weit von nationalkonservativen Ideen entfernt, denn er tionsentwurf für Europa schon vorgestellt, den Theodor sah sich als christlichen Sozialisten und befürwortete ± Steltzer Ende 1942 nach Schweden brachte. Schon gemeinsam mit dem ehemaligen SPD- dieser Entwurf, der allerdings nicht mehr vom Kreisauer Reichstagsabgeordneten ± die Zerschla- ÄPlenum³ diskutiert worden ist, geht über den sechs gung des ostelbischen Grundbesitzes, der entschei- Jahrzehnte später erreichten Stand der Europäischen dend zum Niedergang der Weimarer Republik beige- Union hinaus. Er will die fatale Rivialität der National- tragen hatte27. staaten ein für allemal überwinden, indem er weitge- Die Kreisauer konnten sich eine Wiederbelebung der hende Souveränitätsrechte auf Europa überträgt und gescheiterten Parteiendemokratie von Weimar nicht eine echte Europa-Regierung vorsieht 28. Auffällig ist, vorstellen, ebenso wenig wie fast alle anderen Gruppen dass nach diesem Entwurf nur das Christentum Grund- des Widerstandes. Erstaunlicherweise wurde diese lage der europäischen Ordnung sein kann und dass Wiederbelebung nach 1945, mit energischer Ädie Kirche³ sogar ein Vetorecht gegen die Berufung Geburtshilfe der Westalliierten, zur Erfolgsgeschichte. der höchsten Amtsträger haben soll29. Das wäre nach Die Schwächen von Weimar wurden vermieden durch heutigem deutschen und europäischen Verfassungs- den Einbau verfassungsrechtlicher Sicherungen wie die verständnis natürlich völlig unmöglich: Die Religions- Fünfprozentklausel, das konstruktive Misstrauensvotum freiheit des Grundgesetzes verpflichtet den Staat zu und die Verbotsdrohung gegen antidemokratische Par- Ärespektvoller Nicht-Identifikation³ mit jeder einzelnen teien. Vor allem aber waren die meisten Deutschen ge- Religionsgemeinschaft.

25 28 Hans Mommsen, Gesellschaftsbild und Verfassungspläne Denkschrift ÄDas europäische Verfassungsproblem³, unda- des deutschen Widerstandes, in: ders., Alternative zu Hitler. tiert, namens des Kreisauer Kreises überbracht von Theodor Studien zur Geschichte des deutschen Widerstandes, Mün- Steltzer und Harry Johannson nach Sigtuna / Schweden im chen 2000 (Erstveröffentlichung 1966), S. 53-158 (78) November 1942 (NEI, Sigtuna/Uppsala, Bestand: H 16/42) zit. nach Wilhelm Ernst Winterhager, Der Kreisauer Kreis. Porträt 26 Ebd., S. 76 einer Widerstandsgruppe, Berlin 1985, S. 124, 223-227 27 29 Ebd., S. 79 Ebd., S. 227 reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

17

Noch radikaler ist Moltkes Denken. Dem Nationalstaat rungsprozess der modernen Welt umzukehren. Aber misstraut er: In seiner Denkschrift ÄÜber die Grundla- gemach: Jürgen Habermas, der ja nicht als konservati- gen der Staatslehre³30 nennt er den Staat Äamoralisch, ver Nostalgiker gilt und sich mit einem Max-Weber-Zitat weil er abstrakt ist³. Auch in Yorcks Ergebnisnieder- als Äreligiös unmusikalisch³ bezeichnet, hat in seiner schrift seiner Besprechung mit Moltke vom 31.8.1940 Frankfurter Friedenspreisrede nach dem 11. September heißt es: ÄEs gibt keinen christlichen Staat³. Christliche 2001 eine Gegenbewegung zur Säkularisierung für Ethik soll aber nach Moltke das einigende Band Euro- möglich und nötig gehalten. Der rational-säkulare Staat pas werden, so wie es im Mittelalter vor der Aufsplitte- könne die wertmäßigen Grundlagen, auf denen er ruhe, rung in Nationalstaaten gewesen sei. In seiner Denk- nicht selbst herstellen und solle daher der Religion schrift von 1941 ÄAusgangslage, Ziele, Aufgaben³31 ver- partnerschaftlich auf Augenhöhe begegnen34. Ist das tritt er optimistisch die ÄMeinung, dass das Kriegsende nicht eine verschämte Neuformulierung der Moltke- eine Chance zur günstigen Neugestaltung der Welt bie- Forderung von 1941 : ÄIn dem Einzelnen muß das Ge- tet, wie die Menschheit sie seit dem Zerfall der mittelal- fühl der inneren Gebundenheit an Werte, die nicht von terlichen Kirche noch nicht gehabt hat³. Ein christliches dieser Welt sind, wieder erweckt werden³35? Jürgen Abendland soll sich wie Phönix aus der Asche des Na- Habermas errötend auf den Spuren des religiös hoch- tionalegoismus erheben, der im Naziregime zum kras- musikalischen Helmuth Moltke? sen Wertnihilismus geworden war. Am radikalsten scheint mir Moltkes Neuansatz dort, wo Dabei vertraut Moltke, wie gesagt, nicht so sehr auf die er den ganzen Kontinent im Geiste auseinander nimmt positive Rolle des Staates, wohl aber auf den Ächristli- und zu einem europäischen Ganzen neu zusammen- chen Staatsmann³32. In einem Ergebnisvermerk von setzt. In seiner Denkschrift von 1941 (Ausgangslage, Moltke an Yorck nach einer Besprechung 1940 heißt Ziele, Aufgaben) schreibt er: ÄDer Friede bringt eine es, der Staatsmann müsse Äein Mann von Erkenntnis³ einheitliche europäische Souveränität von Portugal bis sein, welche nach Moltke und Yorck Änur aus der christ- zu einem möglichst weit nach Osten vorgeschobenen lichen Offenbarung geschöpft werden³ könne33. Punkt, bei Aufteilung des ganzen Festlandes in kleine Diese Wiederanknüpfung an den christlichen Universa- nicht-souveräne Staatsgebilde (...). Einheitlich sind lismus des Mittelalters wirkt heute recht fremd auf uns. mindestens: Zollfragen, Währung, Auswärtige Angele- Im gegenwärtigen Europa ist es zumindest offiziell die genheiten einschließlich Wehrmacht, Verfassungsge- Mehrheitsmeinung, dass die Europäische Union kein setzgebung, möglichst außerdem Wirtschaftsverwal- exklusiv christlicher Club sein dürfe, sondern dass auch tung.³36 Moltke will also Europa in Ähistorisch geworde- eine demokratisch und menschenrechtlich gefestigte ne Selbstverwaltungskörperschaften³ zerlegen, Ädie in Türkei Zugang haben soll. ihrer Größe etwas [sic!] aufeinander abgestimmt sind, Aber vielleicht lässt sich auf einer höheren Abstrakti- untereinander aber gruppenweise Sonderverbindungen onsebene die Fremdheit verringern; wenn wir nämlich haben. Dadurch ist das absolute Übergewicht der bis- nicht die gemeinsame christliche Tradition sondern die herigen großen Staaten Deutschland und Frankreich gemeinsame politisch-moralische Wertetradition Euro- gebrochen³37. pas als Grundlage nehmen. Das ist ja wiederum ein Den deutschen Nationalstaat von 1871 will Moltke also durchaus moderner Begriff und eine Meßlatte für die tränenlos auf dem Altar Europas opfern, auf das die Mitgliedschaft in der Union. Dass dieser Begriff nicht Souveränität übergehen soll. Für Deutschland kann er bloß appellativ sein, sondern auch einmal operativ wer- dabei noch in etwa auf die föderale Tradition des Deut- den kann, wurde offenbar, als die Europäische Union schen Bundes vor 1866 zurückgreifen; wie die Ähisto- vor einiger Zeit zwar keinen christlichen Feldzug gegen risch gewordenen Selbstverwaltungskörperschaften³ im das Heidentum, wohl aber einen politisch-moralischen jahrhundertelang zentralistischen Frankreich aussehen gegen das Haidertum ausrief. sollten, ist weniger klar; sollte sich Heinrich IV, König Viele von uns werden in Moltkes christlichem Universa- von Frankreich, wieder zum König von Navarra rück- lismus eine unhistorische Negation des Säkularisati- entwickeln? Vielleicht können wir hier aber einen An- onsprozesses sehen, einen sozialromantischen Ver- satz zu einem ÄEuropa der Regionen³ von heute sehen, such, den von Max Weber analysierten Entzaube-

30 34 Ger van Roon, Neuordnung im Widerstand. Der Kreisauer Jürgen Habermas, Glaube - Wissen ± Öffnung, Süddeut- Kreis in der deutschen Widerstandsbewegung, München sche Zeitung 15.10.2001 1967, S. 506 f 35 ³Ausgangslage, Ziele und Aufgaben´, bei van Roon a.a.O 31 Ebd., S. 507-517 (Anm. 30) S. 509 32 36 van Roon a.a.O. (Fn 30) Ebd., S. 512 33 37 Ebd., S. 490 Ebd., S. 513 reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

18 einem Zusammenspiel der Ebenen oberhalb und unter- kes³ fest42. Möglicherweise auch deshalb, weil bei der halb des Nationalstaates38. damaligen Kriegslage ein Europa der Gleichberechti- Es wäre einer eigenen Untersuchung wert, wie sich das gung, das Sieger wie Besiegte auffordert, die national- Kreisauer Europabild zur ÄPaneuropa-Union³ des Gra- staatliche Souveränität aufzugeben, kein Ziel mehr war, fen Coudenhove-Kalergi (und andere Europa-Visionen, das den siegreichen Alliierten plausibel zu machen war. etwa von Wilhelm Heile) verhält und wie es dadurch Jetzt galt es erst einmal, im Reich oder in dem, was von vielleicht beeinflusst ist. Schon 1924 hatte Coudenhove ihm bei Kriegsende übrig bleiben würde, Rechtsstaat ein Manifest veröffentlicht, in dem er die politische und und die Grundlagen einer Selbstverwaltungs- wirtschaftliche Integration des Kontinents auf christlich- Demokratie zu verankern. universalistischer Grundlage forderte. Gemeinsam soll- Zurück zu Moltkes Europa-Vision vom April 194143. Für ten Verfassung, Regierung, Armee und Währung sein. die europäischen Einzelstaaten werden Ädie innerstaat- Thomas Mann schwärmte, er fühle sich Äwie ein Pro- lichen Verfassungen völlig verschieden³ sein, heißt es vinzler³ neben diesem Änobel-demokratische(n) Spit- dort, und das versteht sich, denn die Gliedstaaten Eu- zentyp einer neuen Gesellschaft, der es auf eigene ropas sind ja nicht gleichgerichtet wie die Länder der Faust unternimmt, Europa nach den Einsichten seiner Bundesrepublik, sondern Nationalstaaten mit unter- Vernunft zu formen³39. Wahrscheinlich hätte Thomas schiedlichen Traditionen. Jedoch: ÄDie übereinstim- Mann von Moltke einen ähnlichen Eindruck gehabt. mende Haltung³, so schreibt Moltke weiter, Äist die einer Dagegen schmähen linke Gruppen heute die Paneuro- Förderung aller kleinen Gemeinschaften, denen auch pa-Union heftig als klerikale Gruppe um ihren Vorsit- öffentlich-rechtliche Befugnisse und gewisse Ansprüche zenden, den Äerzreaktionären Beinahe-Kaiser Otto von auf die Zuteilung von Mitteln zugestanden werden.³44 Habsburg³; er und sein Verein suchten ÄEuropa als Moltke möchte also das ganze Europa auf seine christliche Wertegemeinschaft³ durchzusetzen und Äder Grundethik einer Selbstverantwortung des Menschen in Säkularisierung entgegenzutreten³. Sie wollten wohl seiner unmittelbaren Lebenswelt verpflichten. ÄSamuel Huntingtons These von einem ÃKampf der Kul- Gewiss lässt sich die Idee der Selbstverwaltung in klei- turen¶ auf eine verquere Weise bestätigen³40. Ähnliche nen Gemeinschaften in Teilen auf historische Vorgän- Kritik wäre dem christlichen Kreisauer Europaprojekt ger wie den Freiherrn vom Stein zurückführen. Aber ist nach dem Kriege sicher nicht erspart geblieben, obwohl diese zentrale ethische und staatsorganisatorische Idee Moltke ebenso sicher nicht Habsburgs Parteifreund in Moltkes nicht zugleich ein Vorgriff auf den modernen der CSU geworden wäre. Freya von Moltke schreibt mir Gedanken der Zivilgesellschaft? Lässt die Forderung dazu, die Kreisauer hätten mit Sicherheit nichts von der nach Ermächtigung der kleinen Gemeinschaften - sie Paneuropa-Vision Coudenhoves gelernt: ÄDie war eli- sollen sogar mit öffentlich-rechtlichen Befugnissen aus- tär³. gestattet werden - nicht an moderne Nichtregierungsor- Bei Moltkes Plan einer Zerlegung und Neuzusammen- ganisationen denken und die öffentlichen Aufgaben, die setzung Europas haben wir es nicht mit einem gemein- sie jenseits eigener Interessenvertretung erfüllen? samen Plan der Kreisauer ÄGroßen Koalition³ zu tun, Vielleicht ging Moltke gerade deshalb so relativ leicht- sondern mit der erst ansatzweise ausgedachten küh- händig mit Verfassungsfragen und Organisationsstruk- nen Vision des Kreisauer Vordenkers. Dieser war, um turen um, weil es ihm im Kern um etwas anderes ging, seine eigenen Worte zu benutzen, nicht ganz Ävon die- nämlich um den Geist, aus dem er Europa wiedergebo- ser Welt³. Dass die stärker an der Nation orientierten ren sehen wollte. Er drückt es in seinem Brief an Lionel Kreisauer Gerstenmaier, Leber, Trott damit einverstan- Curtis von 1942 aus: ÄFür uns ist Europa weniger eine den gewesen wären, bezweifelt Mommsen mit Recht41. Frage von Grenzen und Soldaten, von komplizierten Wohl deshalb hält Moltke in den ÄGrundsätzen für die Organisationen oder großen Plänen. Europa nach dem Neuordnung³, einem Entwurf vom August 1943, am Krieg ist die Frage: wie kann das Bild des Menschen in Reich als Äoberster Führungsmacht des deutschen Vol- den Herzen unserer Mitbürger aufgerichtet werden³45. Wie wenig Wert Moltke auf Organisationsentwürfe leg- te, betont er noch in seinem Abschiedsbrief an Freya: 38 so auch Hans Mommsen, Der Kreisauer Kreis und die künf- er habe als ÄPrivatmann (...) mit 2 Geistlichen beider tige Neuordnung Deutschlands und Europas, in: ders., a.a.O. (Anm. 25), S. 207-229 (216) 39 42 Oliver Burgard, Einsame Visionäre. Europa: Vor 80 Jahren van Roon a.a.O. (Anm. 30), S. 562 kämpften Graf Coudenhove-Kalergi und Wilhelm Heile für die 43 Integration des Kontinents, in: Rheinischer Merkur 11.4.2004 ³Ausgangslage, Ziele und Aufgaben´, 1. Fassung, bei van 40 Roon a.a.O. (Anm. 30), S. 507 ff Gerd Alt / Jörg Kronauer / Samuel Salzbom, Ein Porträt der 44 Europa-Union, in: Der Rechte Rand Nr. 62, Januar / Februar Ebd., S. 513 2000, S. 3 ff 45 Walter Lipgens (Hrsg.), Europa-Föderationspläne der Wi- 41 Hans Mommsen, a.a.O (Anm. 38) derstandsbewegungen 1940-1945 , München 1968, S. 130 reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

19

Konfessionen, mit einem Jesuitenprovinzial und einigen die Geschichte dagegen Taten, die unter anderem auch Bischöfen, ohne die Absicht, irgend etwas Konkretes zu am Wollen der Kreisauer zu messen sein werden. tun, Dinge besprochen (...), nicht etwa Organisations- fragen, nicht etwa Reichsaufbau (...), sondern bespro- Ekkehard Klausa chen wurden Fragen der praktisch-ethischen Forderun- gen des Christentums³46. Am Ende seines Lebens scheinen ihm seine eigenen europäischen Organisati- onspläne in den Denkschriften von 1939 und 1941 zweitrangig geworden zu sein. Adolf Reichweins museumspäd- agogische Vorstellungen im Rah- Moltkes Europa im Herzen der Menschen ist nicht ganz men der reformpädagogischen von dieser Welt. Realistischer ist der durch Steltzer ü- berlieferte Kreisauer Organisationsentwurf, utopisch Bewegung wie er damals war und in Teilen bis heute geblieben ist. Realistischer nämlich in einer Staats- und Staatenwelt, ÄDie schulpolitische Zielstellung des Museumsunter- wo nicht absolute moralische Richtigkeit ± für Moltke: richts in dem Zeitabschnitt vor dem zweiten Weltkrieg, die ÄOffenbarung³ - Verbindlichkeit herstellt, sondern ursprünglich progressiv bei Rossmässler, im Hinblick nur eine ÄLegitimation durch Verfahren³ (Niklas Luh- auf die Bekämpfung der Regulativpolitik und auf die mann). Aber ohne die visionäre Kraft, die wir in Moltkes fortschreitende industrielle und gewerbliche Entwick- Menschenethik finden, wäre ein verfasstes und organi- lung', ist in immer deutlicherer Ausprägung den Klas- siertes Europa wie eine gut geölte Maschine ohne senzielen der imperialistischen Großbourgeoisie unter- Treibstoff. Freilich mag dieses Bild zu idealistisch sein; geordnet worden, Hand in Hand mit der Indienststellung vielleicht genügen hienieden in Ädieser Welt³ der euro- der Museen für kolonialistische und nationalistische I- päischen Realität im wesentlichen gemeinsame Wirt- deen. Mit der enthusiastischen Förderung der Ur- und schaftsinteressen und darauf gründende Souveränitäts- Frühgeschichte in den Heimatmuseen und ± in Verbin- Kompromisse. dung damit ± in der Lehrerweiterbildung insbesondere Doch ohne die widerständige Kraft der Visionen, wider- durch Kiekebusch wurden Nährböden vorbereitet für ständig gegen die wertfreie Interessenpolitik bloßen das faschistische Gedankengut, dessen Blut- und Bo- Kuhhandels, wird sich eine europäische Identität in den den-Kult gerade in den Heimatmuseen in üppiger Blüte ÄHerzen unserer Mitbürger³ ± der deutschen und der stand. europäischen ± nicht aufrichten lassen. Während in den Beiträgen einer Vielzahl von faschisti- Somit dürfen wir unsere Ausgangsfrage zuversichtlich schen Autoren das Museum ausschließlich als Mittel beantworten: Jawohl, Kreisau hat ± mit europäischen angesehen wird, um ein ÃGrundgefühl für rassische Organisationsplänen ebenso wie mit ethischen Visio- Werte' zu wecken, die Vermittlung von Wissen und nen ± einen ermutigenden Beitrag geleistet sowohl zu Können in der Ausstellung aber als Ãstillos' und Ãpäda- einer nicht mehr bloß negativ bestimmten historischen gogisch unwesentlich' verworfen wird, so dass natur- Identität Deutschlands wie auch zum Wachstum der I- wissenschaftliche Museen um ihren Fortbestand (sich) dentität Europas. sorgten, sammelte und verarbeitete der Widerstands- kämpfer Adolf Reichwein, als Leiter einer Abteilung Geben wir dem strengen Kritiker Hans Mommsen das ÃSchule und Museum' bei dem Staatlichen Museum für letzte Wort: ÄVon den Neuordnungsplänen des Krei- Deutsche Volkskunde in Berlin, die aufhebenswerten sauer Kreises geht bis heute eine eigentümliche Faszi- Gedanken des pädagogischen Erbes. Er bereicherte nation aus. Größerer historischer Abstand lässt hinter sie durch seine Erfahrungen bei der Ausarbeitung und ihren zeitgebundenen Elementen aktuelle Bezüge her- der Nutzung thematisch spezialisierter, von faschisti- vortreten (...). Das Kreisauer Programm entstand als schem Gedankengut freigehaltener ÃSchulausstellun- ein umfassendes Gegenkonzept zum totalen Machtan- gen' des Museums für den Unterricht und für die fach- spruch des Dritten Reiches und zielte auf dessen welt- lich-methodische Weiterbildung der Lehrer."48 historische Überwindung³47. Was die Kreisauer betrifft, Aus Wortwahl und Diktion dieses langen Zitats wird für so gilt das Wort des römischen Dichters Properz: In magnis et voluisse sat est± Großes gewollt zu haben 47 ist Leistung genug. Von uns Nachgeborenen erwartet Mommsen a.a.O. (Anm. 38), S. 207 48 Kurt Patzwall, Die Einbeziehung des Heimatmuseums in 46 Helmuth James von Moltke, Briefe an Freya, hrsg. von Bea- den physisch-geographischen Unterricht der zehnklassigen te Ruhm-von Oppen, München 1988, S. 608 allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule als Beispiel der Zusammenarbeit von Schule und Museum. (Diss. Karl- Marx-Universität Leipzig 1967), S. 28/29. reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

20 uns Heutige wohl unmissverständlich deutlich, dass es Volkskundler Ulrich Steinmann in einem Aufsatz eben- aus einer vergangenen, ja versunkenen Zeit stammt: es falls dem bis heute wichtigen Thema "Der Wider- ist ein Zitat aus der einschlägigen Dissertation von Kurt standskämpfer Adolf Reichwein - ein Praktiker der Mu- Patzwall, dem früheren Nestor der DDR- seumspädagogik" gewidmet.52 Drei Jahre zuvor hatte Museumspädagogik, die dieser 1967 an der Karl-Marx- Steinmann im "Deutschen Jahrbuch für Volkskunde" Universität Leipzig eingereicht hatte. Patzwall widmete schon einen kurzen Aufsatz zum Gedenken an Adolf sich der ÄEinbeziehung des Heimatmuseums" in den Reichwein veröffentlicht.53 Unterricht der polytechnischen Oberschule Äals Beispiel Einer der ersten westdeutschen Pädagogen, die sich der Zusammenarbeit von Schule und Museum". auch mit der Museumspädagogik Adolf Reichweins be- Kennzeichnend ist, dass in diesem Kontext ± eben schäftigten, war Klaus Fricke. Nach seiner Dissertation Schule und Museum ± damals in der DDR auch schon von 197454 veröffentlichte er 1976 in einer pädagogi- Adolf Reichwein eine herausgehobene Stellung ± nicht schen Fachzeitschrift einen kurzen Aufsatz ÄZur Muse- nur im politischen Sinne ± zugebilligt wurde, einige Jah- umspädagogik Adolf Reichweins".55 Zwei Jahre später re bevor sein entsprechendes Werk auch im Westen, d. wurde dieser noch einmal in den vom Museum für h. in der Bundesrepublik Deutschland, wiederentdeckt Deutsche Volkskunde Berlin neu herausgegebenen worden ist. ÄMuseumspädagogischen Schriften" Reichweins veröf- Bevor ich darauf eingehe, muss ich noch kurz die bei- fentlicht.56 Im selben Jahr 1978 wurden dann in einer den von Patzwall erwähnten frühen Museumspädago- Paderborner Schriftenreihe die ÄAusgewählten Päda- gen vorstellen. Der erste, Emil Adolf Roßmäßler widme- gogischen Schriften" Reichweins herausgegeben, darin te sich als liberal-progressiver Volksschullehrer in Hes- u. a. auch dessen Berliner Aufsatz über ÄSchule und sen besonders der naturwissenschaftlichen Heimat- Museum" von 1941.57 1981 handelte dann der Münste- kunde und dem Heimatmuseum; er war einer der wirk- raner Pädagogikprofessor Wilfried Huber, damals auch samsten Gründerväter der deutschen Heimatmuse- Leiter des dortigen Adolf-Reichwein-Archivs, über ÄMu- umsbewegung im 19. Jahrhundert.49 seumspädagogik und Widerstand 1939-1944" in einem Der andere, der konservative Albert Kiekebusch, war von ihm selbst mit Albert Krebs in Paderborn heraus- Leiter der vorgeschichtlichen Abteilung des Märkischen gegebenen Sammelband über Reichwein: - ÄErinnerun- Museums in Berlin und dort auch museumspädago- gen, Forschungen, Impulse" ± auch er, wie zuvor schon gisch aktiv. Er veröffentlichte 1922 u. a. einen Aufsatz Ulrich Steinmann, nahm damit quasi schon das Thema über seine vorgeschichtliche Museumsabteilung Äals der diesjährigen Jahrestagung des Adolf-Reichwein- Bildungs- und Lehranstalt" in der renommierten Fach- Vereins hier im Berliner Museum Europäischer Kultu- zeitschrift Museumskunde, in dem er forderte, dass je- ren, gewissermaßen ja der Nachfolge-Institution des de wissenschaftliche Anstalt Äunbedingt in den Dienst ÄReichweinschen Museums", vorweg! der Volksbildung zu treten und auf diese Weise auf die Ich selbst habe mich im Kontext meiner seit 1983 ent- Veredlung und Heranbildung der Massen zu wirken sprechend vorbereiteten58 einschlägigen Hildesheimer (habe)" ± also müsse auch das Heimatmuseum sich der Äwissenschaftlichen Heimatkunde" verpflichtet füh- 52 len und nach Äpädagogischen Grundsätzen" aufgebaut Ulrich Steinmann, Der Widerstandskämpfer Adolf Reich- sein, um seine spezielle Aufgabe als Bildungs- und wein - ein Praktiker der Museumspädagogik, in: Kunstmuseen 50 der DDR. Mitteilungen und Berichte. Band 7, Berlin 1965, S. Lehranstalt zu erfüllen. Ganz in diesem Sinne plädier- 68-84. te dann 1923 der schon damals berühmte liberal- 53 Ulrich Steinmann, Adolf Reichwein zum Gedenken, in: konservative Pädagoge und Philosoph Eduard Spran- Deutsches Jahrbuch für Volkskunde. Band 4, Berlin 1958, S. ger nachhaltig für den ÄBildungswert der Heimatkun- 429-435. 51 de". 54 Klaus Fricke, Die Pädagogik Adolf Reichweins. Ihre syste- Vor Patzwall hatte sich schon 1961 der DDR- matische Grundlegung und praktische Verwirklichung als So- zialerziehung, Frankfurt am Main/Bern 1974. 55 49 Klaus Fricke, Zur Museumspädagogik Adolf Reichweins, in: Vgl. Andreas Kuntz, Das Museum als Volksbildungsstätte. Pädagogik und Schule in Ost und West, H. 1/1976, S. 1-9. Museumskonzeptionen in der deutschen Volksbildungsbewe- 56 gung 1871 bis 1918, Marburg 2/1980; Gerhard Kaldewei, Mu- Museum für Deutsche Volkskunde Berlin (Staatliche Muse- seumspädagogik und Reformpädagogische Bewegung 1900- en Preußischer Kulturbesitz) (Hrsg.), Adolf Reichwein. Muse- 1933, Frankfurt am Main/Bern 1990, S. 340ff. umspädagogische Schriften, Berlin 1978; darin: Klaus Fricke, 50 Zur Museumspädagogik Adolf Reichweins, S. 29-40. Albert Kiekebusch, Die vorgeschichtliche Abteilung des 57 Märkischen Museums in Berlin als Bildungs- und Lehranstalt, Adolf Reichwein, Ausgewählte Pädagogische Schriften. Be- in: Museumskunde Bd. XVI 1922, S. 1-17; vgl. Kaldewei (s. sorgt von Herbert E. Ruppert und Horst E. Wittig, Paderborn Anm. 49), S. 343f. 1978, S. 157-167. 51 58 Eduard Spranger, Der Bildungswert der Heimatkunde, Ber- Vgl. Gerhard Kaldewei, Aspekte historischer Museumspä- lin 1923; vgl. Kaldewei (s. Anm. 49), S. 367ff. dagogik. Zur Kooperation zwischen Museum und Schule reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

21

Dissertation von 1988 über "Museumspädagogik und Volksschullehrersohn geboren wurde, noch als Gymna- Reformpädagogische Bewegung 1900-1933" u. a. auch siast Frontsoldat im Ersten Weltkrieg wurde und ab mit Reichweins Museumspädagogik auseinander ge- 1918 in Frankfurt am Main und dann ab 1920 in Mar- setzt, konnte dies dann aber u. a. aus Platzgründen ± burg studierte, wo er schließlich 1923 mit einer kultur- die 1990 veröffentlichte Arbeit hat auch so schon weit und wirtschaftsgeschichtlichen Dissertation zum Thema über 600 Seiten Umfang!59± nicht realisieren. Ihre Jah- "China und Europa im 18. Jahrhundert" promoviert restagung 2004 bietet mir nunmehr gute Gelegenheit, wurde.62 Einige dieser aufzusammelnden "Spurenele- dies zumindest in Teilen nachzuholen! mente" haben Reichwein direkt oder indirekt und ideell Schließlich hat sich mehrfach Ullrich Amlung seit seiner sicher stark beeinflusst. zweibändigen Marburger Dissertation von 1991 über Im Jahre 1984 fand in mehreren Städten in Nordrhein- Adolf Reichwein, in der er "Ein Lebensbild des politi- Westfalen - in Essen, Krefeld, Köln, Wuppertal, Düssel- schen Pädagogen, Volkskundlers und Widerstands- dorf und Hagen - eine umfangreiche gemeinschaftliche kämpfers" nachzeichnet, auch über dessen "Museums- Sonderausstellung "Der westdeutsche Impuls 1900- pädagogik in Berlin während der Kriegsjahre (...)" aus- 1914 - Kunst und Umweltgestaltung im Industriegebiet" gelassen60; zuletzt wohl im Jahr 2000 über "Das Muse- statt. Ich selbst war damals an der Realisierung der um als lebendige Anschauungs-, Lern- und Arbeitsstät- Hagener Ausstellung im Karl Ernst Osthaus-Museum - te für eine erzieherisch gelenkte Schularbeit" - ein Zitat "Die Folkwang-Idee des Karl Ernst Osthaus" - beteiligt Reichweins - in einem Sammelband zum 100jährigen und lieferte auch einen kleinen Beitrag zum entspre- Geburtstag von Adolf Reichwein 1998.61 chenden Katalog mit dem programmatischen Titel: "Die Wenn ich mich nun im Folgenden mit "Adolf Reich- Schulmeister werden mich später noch mal gründlich weins museumspädagogischen Vorstellungen im Rah- hassen. Karl Ernst Osthaus' pädagogische Projekte am men der Reformpädagogischen Bewegung" auseinan- Folkwang-Museum Hagen."63 dersetze, so möchte ich nicht zum wiederholten Male Karl Ernst Osthaus wurde 1874 in eine wohlhabende insbesondere Ihnen - sehr verehrte Damen und Herren Hagener Bankiersfamilie hinein geboren. Nach dem A- - Bekanntes und vielleicht sogar Allzubekanntes vortra- bitur brach er eine Kaufmannslehre ab, studierte dann gen, sondern ich will mich im Wesentlichen mit Ihnen Kunstgeschichte u. a. in Wien, wo er wegen politischer gemeinsam auf eine entsprechende neue "Spur" bege- Aktivitäten am äußersten rechten Rand schließlich aus- ben, in deren Verlauf der Darstellung meiner Meinung gewiesen wird und beendet sein Studium in Straßburg - nach wichtige Aspekte der späteren Schul-, Kultur- und seine Dissertation über "Grundzüge der Stilentwick- Museumspädagogik Reichweins identifiziert und einge- lung" reicht er allerdings erst 1918 an der Universität ordnet werden können. Dabei begegnen Ihnen Perso- Würzburg ein.64 1896 erbt er von seinen Großeltern ein nen wie z. B. Karl Ernst Osthaus, Henry van de Velde, ganz beträchtliches Vermögen, das aus großindustriel- Fritz Klatt, Bruno Taut, Georg Kerschensteiner; geo- len Hagener Fabriken stammte. Von nun an widmet graphisch führt uns diese Spur u. a. nach Westen ins sich Osthaus ganz seiner selbstgesetzten kulturpäda- westfälische Ruhrgebiet und ins Münsterland, in den gogischen Mission im Industrierevier und will sein gro- Norden nach Hamburg und nach Prerow auf dem Darß, ßes Vermögen vor allem zur "Veredelung des Volkes" nach Süden ins bayerische München, in den Osten einsetzen.65 Als erstes fängt er an, ein Museum in sei- nach Weimar und selbstverständlich wieder nach Ber- ner Heimatstadt zu bauen, um darin hauptsächlich na- lin; zeitlich gesehen bewegen wir uns vor allem in den turwissenschaftliche Sammlungen auszustellen. wirren Jahren zum Ende des Ersten Weltkrieges und Doch im Frühjahr 1900 hat Karl Ernst Osthaus eine Art der Revolution 1918/19 und in der Weimarer Republik. persönliches "Erweckungserlebnis": bei der Lektüre der Vor allem aber bewegte sich auf dieser Spur auch Adolf Zeitschrift "Dekorative Kunst" lernt er das künstlerische Reichwein, der ja 1898 in Bad Ems in Hessen als Schaffen des älteren belgischen Architekten und

1903-1943, in: Museumskunde. Band 48, Heft 1/1983, S. 17- 27. Reichweins, Weinheim/München 2000, S. 119-147; auch teil- 59 weise in: Mitteilungen & Materialien, Nr. 54/2000, S. 18-21. Vgl. Kaldewei (s. Anm. 49), S. 356, 510, 554. 62 Vgl. Amlung (s. Anm. 60), Band 1, S. 19-152. 60 Ullrich Amlung, Adolf Reichwein 1898-1944. Ein Lebensbild 63 des politischen Pädagogen, Volkskundlers und Widerstand- In: Der Westdeutsche Impuls 1900-1914. Kunst und Um- kämpfers. Band 1+2, Frankfurt am Main 1991, S. 387-530. weltgestaltung im Industriegebiet. Katalog: Die Folkwang-Idee 61 des Karl Ernst Osthaus, Hagen 1984, S. 232-239. Ullrich Amlung, "Das Museum als lebendige Anschauungs-, 64 Lern- und Arbeitsstätte für eine erzieherisch gelenkte Schular- Karl Ernst Osthaus, Grundzüge der Stilentwicklung. beit. Zur Museumspädagogik Adolf Reichweins, in: Roland (Diss.Universität Würzburg 1918), Hagen 1918. Reichwein (Hrsg.), "Wir sind die lebendige Brücke von gestern 65 zu morgen": Pädagogik und Politik im Leben und Werk Adolf Vgl. Kaldewei (s. Anm. 49), S. 241ff; Herta Hesse- Frielinghaus (Hrsg.), Karl Ernst Osthaus. Leben und Werk, Recklinghausen 1971. reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

22

Kunstgewerblers Henry van de Velde kennen. Sofort lehrers" 68 Adolf Reichwein in Tiefensee bei Berlin. Wei- setzt er sich mit van de Velde - der ja ab 1902 die tere kultur- und museumspädagogische Gemeinsam- Kunstgewerbeschule in Weimar leitet 66 - in Verbindung keiten tauchen auf, wenn man - wie es Ullrich Amlung und beauftragt diesen, sein neues Museum ganz im schon einmal kurz angedeutet hat69 - den schon er- damals modernen Jugendstil auszubauen. Im Juli 1902 wähnten Deutschen Werkbund (DWB) und einige her- wird in Hagen nunmehr das Folkwang-Museum eröff- ausragende Mitstreiter dieser Bewegung ins Blickfeld net, benannt nach dem Versammlungssaal der nordi- nimmt.70 schen Göttin Freya. Unter van de Veldes Einfluss, der Im Jahre 1907 wird dieser DWB in München von eini- für Osthaus dann auch dessen großartigen privaten gen der damals bedeutendsten deutschen Künstlern Wohnsitz "Hohenhof" in Hohenhagen baut, sammelt er und Intellektuellen - zu denen u. a. Peter Behrens, nun vorwiegend moderne französische und deutsche Theodor Fischer, Hermann Muthesius, Friedrich Nau- Kunst - diese berühmte Sammlung des Folkwang- mann, Fritz Schumacher und auch der Belgier Henry Museums befindet sich ja heute in Essen. Am Hagener van de Velde gehörten - gegründet. Hauptorte dieser Folkwang-Museum initiiert Osthaus nunmehr vielfältige Bewegung wurden neben den Großstädten München und damals durchaus neuartige museumspädagogi- und Berlin auch Hagen in Westfalen, die Gartenstadt sche Aktivitäten: Hellerau bei Dresden in Sachsen und Delmenhorst bei Bremen im damaligen Großherzogtum Oldenburg.71 - er gründet eine Malschule, die anfangs Christian Hermann Muthesius, zu jener Zeit Professor für Ange- Rohlfs leitet; wandte Kunst an der Berliner Handelshochschule, hatte - eine Fotografien- und Diapositiv-Zentrale, um an- beispielsweise das durchaus moderne Ziel - nur vor- schauliche Materialien für Vorträge oder den Schulun- dergründig auf das Kunstgewerbe bezogen -, "die heu- terricht nutzen zu können; tigen Gesellschaftsklassen zu den alten Idealen von - er richtet Schausammlungen aus den Beständen des Gediegenheit, Wahrhaftigkeit und Einfachheit zu erzie- Folkwang-Museums ein; hen."72 - gründet ein Staatliches Handfertigkeitsseminar unter Karl Ernst Osthaus wurde dann 1910 in den Vorstand Leitung des holländischen Architekten J. L. M. Lauwe- des DWB berufen, nachdem er - wie schon erwähnt - riks, in dem in Metall-, Holz- und Keramik-Kursen Leh- das Deutsche Museum für Kunst in Handel und Gewer- rer speziell für den entsprechenden Unterricht an Kna- be in Hagen als Werkbund-Wandermuseum gegründet benschulen ausgebildet wurden; hatte.73 Ungefähr seit jenem Jahr verfolgte Osthaus - weiter gibt es die handwerklich hoch stehende "Hage- auch mit verstärkter Intensität ein Projekt in Hagen, ner Silberschmiede" unter dem holländischen Silber- welches zum Kulminationspunkt aller seiner kultur-, schmied Frans Zwollo schul- und museumspädagogischen Vorstellungen, a- - und das 1909 zusammen mit dem Deutschen Werk- ber auch seiner städtebaulichen und architektonischen bund in Hagen gegründete "Deutsche Museum für sowie sozialen Intentionen werden sollte: es handelt Kunst in Handel und Gewerbe", welches ein "ge- schmackspädagogisch" ausgerichtetes Wandermuse- um war - d. h. es wurden im Laufe der Jahre diverse 68 Hans Bohnenkamp im Geleitwort zur ersten Nachkriegs- Sonderausstellungen konzipiert, die dann national und Neuausgabe von Adolf Reichweins, Schaffendes Schulvolk, auch international auf Wanderschaft geschickt wurden: Braunschweig 1951, S. 3ff. so z. B. ab 1910 die Exposition "Kunst und Schule", an 69 Vgl. Amlung (s. Anm. 60), S. 130. der u.a. der Münchener Reformpädagoge Georg Ker- 70 schensteiner mitgewirkt hat.67 Vgl. Hans Eckstein, 50 Jahre Deutscher Werkbund, Frank- furt am Main/Berlin 1958; Sebastian Müller, Kunst und Indust- rie. Ideologie und Organisation des Funktionalismus in der Ar- Schon aus dem bisher Aufgezeigten wird meiner Mei- chitektur, München 1974; Joan Campbell, Der Deutsche nung nach deutlich, dass es eine ganze Reihe von Werkbund 1907-1934, Stuttgart 1981. 71 Gemeinsamkeiten gibt zwischen den pädagogischen Vgl. Matthew Jefferies, Politics and Culture in Wilhelmine Vorstellungen des Karl Ernst Osthaus in Hagen und . The Case of Industrial Architecture, Oxford 1995; denen des späteren Volksschulpädagogen bzw. "Land- Ders., Der Werkbund in Delmenhorst. Eine vergessene Episo- de der deutschen Design-Geschichte, in: Gerhard Kaldewei (Hrsg.), Linoleum. Geschichte, Design, Architektur 1882-2000, Ostfildern-Ruit 2000, S. 96-109. 66 72 Vgl. u. a. Peter Merseburger, Mythos Weimar. Zwischen Zit. in: Campbell (s. Anm. 70), S. 20. Geist und Macht, Stuttgart 1988, S. 242ff.; Karl Ernst Osthaus, 73 Van de Velde (1920), Berlin 1984. Vgl. Bettina Heil, Zur Geschichte des Deutschen Museums für Kunst in Handel und Gewerbe, in: Deutsches Museum für 67 Vgl. Kaldewei (s. Anm. 49), S. 241ff; Herta Hesse- Kunst in Handel und Gewerbe 1909-1919, herausgegeben Frielinghaus (Hrsg.), Karl Ernst Osthaus. Leben und Werk, vom Kaiser Wilhelm-Museum Krefeld und Karl Ernst Osthaus- Recklinghausen 1971. Museum Hagen, Krefeld/Hagen 1997, S. 314-322. reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

23 sich um die "Folkwang-Schule" in Hohenhagen.74 Am zwanzig Jahre bedeutete."78 Anfang versuchte er in diesem Kontext die schon da- Osthaus wollte "den trägen Fluß der Schulreform" nach mals berühmte "Bildungsanstalt Jacques-Dalcroze", d. dem so umwälzenden Ende des Krieges zu Beginn der h. die Schule für "rhythmische Gymnastik" des Schwei- Weimarer Republik "in lebhafte Wallung (...) versetzen, zer Tanz- und Musikpädagogen Emile Jacques- die neugewonnene Freiheit durch richtige Anwendung Dalcroze, aus der Gartenstadt Hellerau nach Hohenha- zu einer Segensquelle für unser ganzes Volk" zu ges- gen zu verpflanzen. - Und hier sei schon angemerkt: talten.79 Dies sollte nun mit Hilfe einer "Versuchsschule" mehr als ein Jahrzehnt später nimmt Adolf Reichwein - nach dem Vorbild verschiedener Landerziehungshei- als Abteilungsleiter des deutsch-amerikanischen Kin- me - geschehen, so wie sie nach Art. 146 der Weimarer derhilfswerks in Berlin im August 1923 an einer interna- Reichsverfassung ermöglicht worden waren - ganz klar: tionalen Jugendtagung in der Gartenstadt Hellerau teil, Diese neuen Versuchsschulen sollten die pädagogi- über die er in einem Brief an seinen Vater schreibt: "(...) schen Keimzellen für die Umgestaltung des gesamten Eine ganze Reihe wichtiger Menschen kennengelernt, deutschen Schulwesens werden.80 mit diesen zu einem dauernden Arbeitskreis zusam- Eine der damals wichtigsten Versuchsschulen war die mengeschlossen (...); u. a. gehören dazu Fritz Klatt- Hamburger "Lichtwark-Schule", an der ja ab 1920 Peter Prerow, (...), W.(ilhelm) Flitner-Jena, (...), Jacoby (!) Petersen Leiter war.81 Osthaus hatte persönlichen bzw. (Musikpädagoge)-Hellerau. Besprochene Themen in brieflichen Kontakt zu führenden Pädagogen der Land- Hellerau (in der herrlichen Aula der dortigen Gymnastik- erziehungsheimbewegung wie Paul Geheeb, Martin Schule) hauptsächlich polit. u. pädagog. Art."75 - Luserke oder Gustav Wyneken.82 Wie Geheeb - der Osthaus gelingt diese Umsiedlung zwar nicht, doch da- 1910 das Landerziehungsheim "Odenwaldschule" für kommt er nun in engste Berührung zur sog. Lander- gründete - wollte auch Osthaus "(...) eine moderne ziehungsheimbewegung, eine der wichtigsten Ausprä- Schule zwar in ländlicher Abgeschiedenheit, in gesun- gungen der Reformpädagogischen Bewegung über- der Luft und schöner Landschaft, aber doch in erreich- haupt.76 Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wendet barer Nähe einer wertvollen Stadt" 83 gründen. Und wie er sich im Oktober 1919 wiederum an Georg Ker- in dem von Wyneken schon 1912 veröffentlichten "Pro- schensteiner und bat diesen um Mitarbeit, "weil sich ei- gramm einer Freien Schulgemeinde", der von Wickers- ne zu uns gehörende Gruppe von Menschen mit der dorf, verkündet, sollte die Osthaussche Versuchsschule sofortigen Einrichtung einer neuen Versuchsschule be- in Hohenhagen eine "neue Schule" für eine "neue Ju- faßt, in der das Handwerkliche natürlich eine große Rol- gend" sein, auch eine "Arbeitsschule" mit praktischer, le spielen wird."77 Auch in einem weiteren Brief an Hen- handwerklicher Erziehung, in der ebenso das "Schulle- ry van de Velde vom November 1919 erwähnt Osthaus ben" und die "Schulgemeinde" von Bedeutung sein soll- sein Projekt: "(...) Wir planen eine neue Schule, die den ten.84 Weiter bezog sich Osthaus noch auf die damals Namen Folkwangschule führen und im Hohenhof ihren aktuellen Volkshochschulen: "Und wenn der Schüler Mittelpunkt finden soll. Wir hoffen, aus dieser Anstalt für beim Verlassen der Anstalt statt sich unter die Weltwei- unser Erziehungswesen das zu machen, was das Folkwang-Museum für das Kunstleben der letzten 78 Zit. in: Kaldewei (s. Anm. 49), S. 262. 79 Karl Ernst Osthaus, Zur Schulreform, in: Westfälisches Ta- geblatt (Hagen) vom 21.11.1919, zit. in: Kaldewei (s. Anm. 74 49), S. 263ff. Vgl. Kaldewei (s. Anm. 49), S. 256ff. 80 75 Vgl. Franz Hilker (Hrsg.), Deutsche Schulversuche, Berlin ) Zit. in: Amlung (s. Anm. 60), Band 1, S. 164/65. 1924; Fritz Karsen (Hrsg.), Die neuen Schulen in Deutschland, 76 Langensalza 1924; Scheibe (s. Anm. 75), hier zit. nach Aus- Vgl. Theo Dietrich (Hrsg.), Die Landerziehungsheimbewe- gabe 8/1982, S. 295-322; Reiner Lehberger (Hrsg.), Weimarer gung, Bad Heilbrunn 1967; Hermann Lietz, Schulreform durch Versuchs- und Reformschulen, Hamburg 1994. Neugründung. Ausgewählte pädagogische Schriften, besorgt 81 von Rudolf Lassahn, Paderborn 1970; Elisabeth Badry, Päda- Hildegard Milberg, Schulpolitik in der pluralistischen Gesell- gogische Genialität in einer Erziehung zur Nicht-Anpassung schaft. Die politischen und sozialen Aspekte der Schulreform und zum Engagement. Studien über Gründer der frühen deut- in Hamburg 1890-1935, Hamburg 1970, S. 103ff.; Vgl. Ar- schen Landerziehungsheimbewegung: Hermann Lietz und beitskreis Lichtwarkschule (Hrsg.), Die Lichtwarkschule. Idee Gustav Wyneken, (Diss. Universität Bonn 1976); Frank Wild, und Gestalt, Hamburg 1979; Kaldewei (s. Anm. 49), S. 131 u. Askese und asketische Erziehung als pädagogisches Prob- 267ff.; Reiner Lehberger, Die Lichtwarkschule. Das pädagogi- lem. Zur Theorie und Praxis der frühen Landerziehungsheim- sche Profil einer Reformschule, Hamburg 1996. bewegung in Deutschland zwischen 1898 und 1933. (Diss. U- 82 niversität Giessen), Frankfurt am Main 1997; Wolfgang Schei- Vgl. Kaldewei (s. Anm. 49), S. 276ff. be, Die Reformpädagogische Bewegung, Weinheim/Basel 83 11/1999; Willy Potthoff, Einführung in die Reformpädagogik. Paul Geheeb, Briefe. Mensch und Idee in Selbstzeugnis- Von der klassischen zur aktuellen Reformpädagogik, Freiburg sen, herausgegeben von Walter Schäfer, Stuttgart 1970, S. 4/2003. 31. 77 84 Zit. in: Kaldewei (s. Anm. 49), S. 262. Kaldewei (s. Anm. 49), S. 280f. reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

24 sen zu rechnen, so weit ist, daß er sein Nichtwissen eine fundierte "Kultur von unten" gegenüberstellen und begreift, so steht er gerade da, wo Sokrates stand, und vermitteln.89 Das schlussendlich vor allem aus finanziel- wird für die Tätigkeit der Volkshochschulen, die überall len Gründen wegen der Inflation gescheiterte Projekt entstehen wollen, nicht verdorben sein." 85 "Werklandschule" wäre ihm dabei Mittel zum Zweck An dieser Stelle möchte ich wieder zurück - oder besser gewesen - einiges davon konnte er dann in seiner vorwärts - auf Adolf Reichwein zu sprechen kommen. Volkshochschularbeit in Thüringen zwischen 1923 und Als Geschäftsführer des "Ausschusses der deutschen 192990 und später in der Landschule in Tiefensee von Volksbildungsvereinigungen" in Berlin von 1921 bis 1933 bis 1939 aber doch noch verwirklichen.91 Aller- 1923 und Autor in der Zeitschrift "Vivos voco" forderte dings hat Jürgen Oelkers ja beklagt, dass auch Reich- er u. a. die "konsequente Umsetzung reformpädagogi- wein immer ein konservatives "Ressentiment" verinner- scher Ansätze im Bereich der öffentlichen Schulen, licht habe, welches sich gegen die "lebensfeindliche plädiert für die Gemeinschaftsschule ebenso wie für die Großstadt" richtete. Die "Grundwahrheiten ländlichen Arbeitsschule und den Gesamtunterricht und verweist Daseins" würden "als ungleich pädagogischer begriffen, in diesem Zusammenhang auf die wegweisenden wenn man sie mit den destruktiven Tendenzen der schulpädagogischen Modellversuche in Hamburg: Großstadt vergleicht."92 Tatsächlich hat sich Reichwein 'Hamburg steht an der Spitze der Schulbewegung (...). auch in seiner späteren museumspädagogischen Arbeit Man spürt den Geist wahrer Demokratie.'" 86 am Berliner Museum für Deutsche Volkskunde kaum auf das entsprechende großstädtische Umfeld einge- Spätestens ab 1922 beschäftigt auch Reichwein sich - lassen. In seiner späteren einschlägigen, programmati- ähnlich wie Osthaus in Hagen - mit einem zwischen schen, kleinen Schrift "Schule und Museum" von 1941 Landschulheim und einem Landvolkshochschulheim erwähnt Reichwein zwar die "großstädtischen Verhält- anzusiedelnden idealen Projekt, das er als eine "Werk- nisse ", jedoch nur im Kontext einer "lebendigen landschule" bezeichnet. In einem Brief an seinen Bru- Kulturgeschichte der deutschen Volkshandwerke"; auch der Richard Reichwein schreibt er im November 1922 postulierte er hier vor allem den Blick auf die vielen u. a.: "Der Plan ist kurz folgender: landwirtschaftlicher, "kleinen Heimatmuseen", die "auf den planvollen Ein- möglichst intensiver Betrieb; dazu noch einzurichtende bau in das Schulleben" warteten.93 Auch Klaus Fricke Werkstätten (Weberei, Korbflechterei, Holzbearbeitung, spricht in diesem Kontext von den "romantische(n) Vor- Druckerei) als wirtschaftliche Grundlage; damit verbun- liebe(n) Reichweins, die "aus dem Gedankengut der dene Schule und (oder bzw.) Volkshochschule. Das Jugendbewegung heraus zu verstehen" seien.94 Ganze hat seinen Sinn als geistiges Zentrum, das Mit- telpunkt wird für alle möglichen Pläne (kulturpolitischer Diese wohl grundsätzliche Einstellung Reichweins steht und politischer Art)." Es sollte möglichst eine "schloß- im Gegensatz zu der von Osthaus, denn dieser wollte oder burgartige Anlage" in Mitteldeutschland sein.87 ja dezidiert die mangelhafte Kulturlandschaft des Ruhr- Der Herausgeber der o.g. Zeitschrift, die ab Jahrgang gebietes aufwerten, wie er schon 1903 auf der Mann- 1924/25 bezeichnenderweise in "Werkland" umbenannt heimer Museumstagung ausführte: "Nirgends wären wurde, Richard Woltereck, beschreibt dieses große Museen notwendiger als in den immer gewaltiger an- Projekt noch einmal im April 1924: "Im vorigen Sommer glaubten wir mit der Verwirklichung unseres Hauptpla- 88 nes bald beginnen zu können: eine größere Werkland- Zit. in: Amlung (s. Anm. 60), Band 1, S. 173. gemeinschaft fern der Großstadt zu schaffen, als Kraft- 89 Vgl. Amlung (s. Anm. 60), S. 175/76. zentrum unserer Arbeit und als ein Keimpunkt der neu- 90 en Generation (Werkland-Schule)."88 Insgesamt wollte Vgl Adolf Reichwein, Die Gilde. Ein Weg zur Einheit von Reichwein - wie Ullrich Amlung schrieb - sich "den Bildung und Arbeit (1924), in: Reichwein (s. Anm. 57), S. 9-15; Wolfgang Klafki, Adolf Reichwein: Bildung und Politik, in: R. komplexen Anforderungen der industriegesellschaftli- Reichwein (s. Anm. 61), S. 19-48. chen Moderne bewußt" stellen und auch der "industriel- 91 Vgl. Adolf Reichwein, Deutsche Landschule (1934), in: len Kommerzkultur" z. B. des Berlins der 1920er Jahre Reichwein (s. Anm. 57), S. 94-99; Ders., Schaffendes Schul- volk, Stuttgart 1937; Karl Christoph Lingelbach, Zum Orientie- rungswert des Schulmodells Tiefensee für schulinterne Re- 85 Karl Ernst Osthaus, Die Neue Schule (1920), zit. in: Kalde- formen der Gegenwart, In: R. Reichwein (s. Anm. 61), S. 49- wei (s. Anm. 49), S. 281. 61. 86 92 Amlung (s. Anm. 60), Band 1, S. 170. Jürgen Oelkers, Reformpädagogik. Eine kritische Dogmen- 87 geschichte, Weinheim/München 1989, S. 69; vgl. Reichwein Zit. in. Gabriele C. Pallat/Roland Reichwein/Lothar Kunz (s. Anm. 90/10), S. 94/95. (Hrsg.), Adolf Reichwein. Pädagoge und Widerstandskämpfer. 93 Ein Lebensbild in Briefen und Dokumenten (1914-1944), Pa- Adolf Reichwein, Schule und Museum (1941), in: Ders., (s. derborn 1999, S. 50. Anm. 57), S. 160/61. 94 Fricke, (s. Anm. 54), S. 37. reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

25 wachsenden Industriestädten, und doch sind sie nir- men, den er möglicherweise schon um 1913 kennenge- gends seltener." 95 lernt hatte, als dieser während der Recherchen zu sei- Das von Karl Ernst Osthaus ebenfalls umfassend ge- ner dann erst 1920 abgeschlossenen kunstgeschichtli- dachte Projekt "Folkwang-Schule" in Hohenhagen chen Berliner Dissertation - "Beiträge zur Geschichte scheiterte schließlich schon 1921 vor allem aus finan- des Gebirges in der Schweizerischen Malerei des 18. ziellen Gründen; zum anderen - wie Osthaus selbst Jahrhunderts" - auch das Hagener Folkwang-Museum feststellte - weil die Mehrzahl der Mitarbeiter als Päda- aufgesucht hatte, da sich dort Gemälde von Ferdinand gogen versagt hätten.96 Diese Feststellung ist insoweit Hodler befanden.100 In einem Brief an seinen Berliner sehr pikant, weil kein anderer als Fritz Klatt von Som- Professor, den Geschichtsphilosophen Kurt Breysig, mer 1920 bis Frühjahr 1921 der erste pädagogische Di- schrieb Klatt dann im April 1920 u.a.: "Ich selbst habe rektor dieser Versuchsschule gewesen ist! Bevor ich mich für die nächsten Monate noch in der Folkwang- näher darauf eingehe, möchte ich aber noch kurz das schule in Hagen (Westph.) verdingt. Es ist das eine wirklich großartig gedachte Gesamtprojekt "Folkwang- Versuchsschule, wo ich Gelegenheit habe mit zwanzig Schule" des Karl Ernst Osthaus skizzieren. Übrigens: Kindern ohne irgend welchen Unterrichtszwang zu- Osthaus selbst starb nach längerer Krankheit im Früh- sammenzusein. Ich habe das getan, um vor meinem jahr 1921 in Meran. Eigenen noch gewisse Erfahrungen zu machen."101 Das - wörtlich zu nehmende - herausragende an dem Das "Eigene" erreichte Klatt wohl dann im April 1921, Projekt von Osthaus war ja die wegweisende muse- als er zusammen mit seiner Frau Edith ein schnell be- umspädagogische Verbindung von "Folkwang-Schule" kannt werdendes Volkshochschulheim in Prerow auf und "Folkwang-Museum" in einem anspruchsvollen dem Darß in Vorpommern gründete.102 städtebaulichen Konzept mit phantastischer Architektur. "Gewisse Erfahrungen" machte Klatt tatsächlich in der Auf der Grundlage von Bebauungsplänen für Hohenha- Hohenhagener Versuchsschule, worüber er berichtete: gen, die schon 1906 von Peter Behrens bzw. 1907 von "(...) Alles in allem: ich erlebe etwas mir bisher ver- Henry van de Velde entworfen worden waren, bat Ost- schlossenes, Politik und Organisation als das nicht tra- haus im November 1919 den ihn schon länger bekann- gisch zu nehmende Spiel der Kräfte über dem eigentli- ten Berliner Architekten Bruno Taut - wie er selbst en- chen Leben. Aber ich begreife auch zum ersten Mal die gagiertes Mitglied des Deutschen Werkbundes - um Notwendigkeit dieser Dinge. Und so sehe ich jetzt zum Mitarbeit: "Es würde sich darum handeln, das Folk- ersten Mal ganz von ferne, was eigentlich ein Staat wang-Museum, in 2 Anstalten zerlegt, mit der Schule, ist."103 Doch Klatt, der damals noch stark von Gustav ihren Wohnungen, Werkstätten und Festräumen zu ei- Wyneken beeinflußt war104, schrieb auch von "unglaub- ner 'Stadtkrone" zu vereinigen und zwar im Gelände lichen Intrigen" an der Schule und großen wirtschaftli- meiner Kolonie unmittelbar neben meinem Hause."97 chen Schwierigkeiten - so erinnerte sich Heinrich Taut Taut antwortete postwendend und freute sich über den nur mit Schrecken an die Schulwirklichkeit dort, da die Auftrag, denn: "Die Schule liegt mir sehr am Herzen."98 Verpflegung schlecht und vor allem die Lehrer pädago- Außerdem meldete er zu Ostern 1920 seinen Sohn gisch unqualifiziert gewesen wären.105 Bezeichnender- Max in der Versuchsschule an! Tauts entsprechender weise hat Klatt dann in seiner reichhaltigen pädagogi- Entwurf für die "Fokwang-Schule" in Hohenhagen gip- schen und biographischen Literatur wohl nicht ein ein- felte in dem hochaufragenden "Haus der festlichen An- ziges Mal diese seine doch so interessante Zeit an dem dacht" als zentralen Mittelpunkt der Anlage und neuen Hohenhagener Schulprojekt erwähnt! "Stadtkrone".99 Aus den zuvor genannten Gründen ist Zu Fritz Klatt, einem der später führenden deutschen die Realisierung leider ausgeblieben. Reformpädagogen innerhalb der Volkshochschulbewe- Anfang 1920 hatte Karl Ernst Osthaus eben auch mit dem damals 32jährigen Fritz Klatt Kontakt aufgenom- 100 Vgl. Kaldewei (s. Anm. 49), S. 282ff.; Fritz Klatt, Biographi- 95 sche Aufzeichnungen, herausgegeben von Lis Klatt und Gün- Zit. in: Kaldewei, (s. Anm. 49), S. 246. ter Schulz, Bremen 1965, S. 137-140. 96 101 Vgl. Kaldewei (s. Anm. 49), S. 289. In: Klatt (s. Anm. 100), S. 156. 97 102 Zit. in: Kaldewei (s. Anm. 49), S. 303. Vgl. Fritz Klatt, Das Volkshochschulheim auf dem Darß 98 (Prerow 1931), in: Klatt (s. Anm. 100), S. 145ff.; Fritz Klatt, Die Zit. in: Kaldewei (s. Anm. 49), S. 305. schöpferische Pause, Jena 1921; Fritz Klatt, Beruf und Bil- 99 dung. Ausgewählte pädagogische Schriften, besorgt von Her- Vgl. Kaldewei (s. Anm. 49), S. 306ff.; Bruno Taut, Die mann Lorenzen, Paderborn 1966. Stadtkrone, Jena 1919; Karl Ernst Osthaus, Die Folkwang- 103 Schule, ein Entwurf von Bruno Taut, in: Genius, 2. Jg. 1920, S. In: Klatt (s. Anm. 100), S. 158/59. 199-205; Iain Boyd Whyte, Bruno Taut. Baumeister einer neu- 104 en Welt, Stuttgart 1981; Winfried Nerdinger u. a. (Hrsg.), Bru- Vgl. Klatt (s. Anm. 100), S. 113, 116, 149/50. no Taut 1880-1938 ± Architekt zwischen Tradition und Avant- 105 garde, DVA 2001. In: Boyd Whyte (s. Anm. 99), S. 203. reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

26 gung vor allem, entwickelt Adolf Reichwein ab 1923 - der Kulturen, die naturkundlichen Präparate und auch wie schon kurz erwähnt - ein enges Vertrauensverhält- die tradierten Artefakte der heimischen Volkskunst nis. In den nächsten Jahren nutzt Reichwein immer "veredelnde" Vorbilder und Orientierungen für eine wieder die anregende Athmosphäre und die schöne zeitgemäße Industrieproduktion, für das Handwerk wie Natur in Prerow zu Volkshochschulheimkursen mit für den Geschmack der Konsumenten sein sollten. In Jungarbeitern oder Studenten.106 Es entwickelt sich ei- Reichweins entsprechender "Werkerziehung", wie er ne enge Freundschaft zwischen Reichwein und Klatt, sie dann am Berliner Volkskundemuseum umsetzte, so dass ich davon ausgehe, dass viele Ideen und Er- verschränkten sich zwei vergleichbare Grundrichtungen fahrungen - eben "Spurenelemente" - aus Klatts Hage- wechselseitig: einmal sollte sie vorbereiten auf die Mit- ner Zeit trotzdem auf Reichwein übergegangen sind wirkung in einer qualitätsorientierten Industrie- und und seine schulpädagogische Arbeit in der Landschule Handwerksproduktion, zum anderen der qualitätserzie- in Tiefensee ab 1933, aber auch seine museumspäda- henden und -anhebenden Geschmackserziehung der gogische in Berlin ab 1939 beeinflussten. Verbraucher dienen.112 Für Reichwein war weiter sogar Adolf Reichwein selbst hatte Osthaus' Folkwang- klar, dass die "Werkerziehung" das nächste große Auf- Museum in Hagen auch schon im Oktober 1920 ken- gabenfeld der pädagogischen Bewegung überhaupt nengelernt, als er sich auf einer Studienreise für seine sein würde.113 Dissertation im Ruhrgebiet und im Rheinland aufhielt: Und auch im umfassenden Kanon museumspädagogi- "(...) zumal ich auf diese Weise gründlich das ostasiati- scher Arbeitsformen, die Reichwein am Berliner Volks- sche Museum in Köln und das Folkwang-Museum in kundemuseum entwickelte, spiegeln sich auch muse- Hagen besuchen kann."107 Mit Fritz Klatt, der ja zur sel- umspädagogische Vorhaben wider, wie sie schon in ben Zeit als Direktor der "Folkwang-Schule" in Hohen- Kursen am Folkwang-Museum in Hagen seit langem hagen tätig war, ist er jedoch anscheinend nicht zu- realisiert wurden.114 Zu Reichweins museumspädago- sammen gekommen. Klatt könnte aber quasi die Rolle gischem Kanon gehörte u. a. eines "Transmissionsriemens" bei der Übertragung - die Schausammlung, aber im Sinne eines unterrichtli- sinnstiftender museumspädagogischer Ideen und Pro- chen Projektes; jekte auf Reichwein zugefallen sein.108 - der Gelegenheitsbesuch im Museum, nämlich des Exemplarisch hervorgehoben seien beim Vergleich ei- Lehrers mit seiner Schulklasse; niger museumspädagogischer Intentionen von Osthaus - die höherwertige Arbeitsgemeinschaft von Lehrer und und Reichwein zuerst die Reichweinsche These von Klasse im Museum; der "gestaltenden Werkerziehung"109, bzw. die von ihm - die wissenschaftliche Vortragsreihe zur Unterrichtung synonym gebrauchten Begriffe "Gestaltungspädagogik" der Lehrer; und "Geschmackserziehung"110; diese korrespondieren - die Lehrerpraktika zur Erschließung der Sammlungen stark mit Osthaus' "geschmackspädagogischen" Inten- des Museums für die einzelnen Unterrichtsfächer und tionen, denn dessen bekannte "Folkwang-Idee"111 be- zur praktischen Unterrichtsvorbereitung.115 inhaltete, dass sowohl die moderne Kunst und das Dieser Reichweinsche museumspädagogische Kanon Kunstgewerbe, als auch die Dokumente alter und frem- von Arbeitsformen zwischen Museum und Schule, die sein nachmaliger Museumsdirektor Konrad Hahm schon ab 1935 initiierte 116, diente auch dazu, das Mu- 106 Vgl. Amlung (s. Anm. 60), Band 1, S. 199ff; Adolf Reich- wein, Jungarbeiter-Freizeit, in: Fritz Klatt, Freizeitgestaltung. Grundsätze und Erfahrungen zur Erziehung des berufsgebun- 112 denen Menschen, Stuttgart 1929, S. 27-30; Adolf Reichwein, Vgl. Wilfried Huber, Museumspädagogik und Widerstand An alle Freunde der Arbeit in Prerow!, in: Neue Blätter für den 1939-1944, in: Ders./Albert Krebs (Hrsg.), Adolf Reichwein Sozialismus, Jg. 4. H. 2/1933, (Umschlag). 1898-1944. Paderborn 1981, S. 329ff. 107 113 Zit. in: Adolf Reichwein, Ein Lebensbild aus Briefen und A. Reichwein in einem Brief an Ludwig Pallat vom 9. 4. Dokumenten. Ausgewählt von Rosemarie Reichwein unter 1944 (!), zit. in: Reichwein (s. Anm. 107), S. 231. Mitwirkung von Hans Bohnenkamp, herausgegeben und 114 kommentiert von Ursula Schulz, München 1974, S. 304. Vgl. oben und Kaldewei (s. Anm. 49), S. 250ff. 108 115 Vgl. Kaldewei (s. Anm. 58), S. 20ff. Vgl. Adolf Reichwein, Schule und Museum (1941), in: Reichwein (s. Anm. 57), S. 157-167; auch wiederabgedruckt 109 Vgl. Adolf Reichwein, Vom Schauen zum Gestalten (1939), in: Mitteilungen & Materialien, Nr. 54/2000, S. 22-32; vgl. Kal- in: Reichwein (s. Anm. 57), S. 148-151; Ders., Der Werkstoff dewei (s. Anm. 58), S. 21/23. formt mit (1941), in: Reichwein (s. Anm. 10), S. 151-157; Fri- 116 cke (s. Anm. 56), S. 32. Vgl. Vorwort von Theodor Kohlmann in: Reichwein, (s. Anm. 55), S. (9); Wilfried Huber, Adolf Reichwein - Pädagoge 110 Vgl. Fricke (s. Anm. 56), S. 29. im Widerstand. Eine biographische Skizze, in: Reichwein (s. Anm. 55), S. 22; Erika Karasek, Konrad Hahm (1892-1943). 111 Vgl. Johann H. Müller, Karl Ernst Osthaus und seine Ha- Museum zwischen Aufbruch und Verhängnis, in: Jahrbuch für gener Folkwang-Idee, in: Der westdeutsche Impuls (s. Anm. Volkskunde, herausgegeben im Auftrag der Görres- 63), S. 11-28. Gesellschaft von Wolfgang Brückner, Würzburg/ Innsbruck/ reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

27 seum als außerschulischen, aber pädagogisch wertvol- diesbezüglichen Abstecher zurück nach Westfalen ma- len Arbeitsort zu konstituieren.117 Ergänzt wurde auch chen, dieses Mal nicht nach Hagen, sondern nach Telg- er durch die von Reichwein konzipierten "Schulausstel- te bzw. Hamm. In seiner einschlägigen museumspäda- lungen": "In Berlin, mit seinen reichen räumlichen und gogischen Schrift "Schule und Museum" von 1941124 gegenständlichen Möglichkeiten, wurden die ersten erwähnte Reichwein positiv - neben dem Hannoveraner Schulausstellungen am Museum für Deutsche Volks- "Schulmuseum" wohl im dortigen niedersächsischen kunde so formuliert, daß jede einen zusammengehöri- Landesmuseum für Vor- und Frühgeschichte125 - dass gen Kreis von Volkshandwerken umschloß"118 - so z. B. im Telgter "ländlichen Heimatmuseum (...) Handwerks- "Ton und Töpfer" (1939)119, "Holz im deutschen Volks- stätten aufgebaut werden, die den besuchenden Klas- handwerk" (1940)120, "Weben und Wirken" (1941)121. sen neben der lebendigen Vergangenheit zugleich auch Für diese vorbildlichen volkskundlichen und museums- die aus dem alten Erbe lebende, der heimatlichen pädagogischen Berliner Sonderausstellungen für Schu- Landschaft verbundene, schaffende Gegenwart darbie- len wurde eben nicht der übliche wissenschaftliche Ka- ten." 126 talog aufgelegt, sondern eine didaktische Schrift, "die, Bei diesem "Heimatmuseum" handelte es sich um das von pädagogischen Gesichtspunkten ausgehend, den 1934 von dem damaligen Vorsitzenden des Telgter Gesamtgegenstand, das Töpferhandwerk also oder die Heimatvereins, Paul Engelmeier, gegründete Wall- verschiedenen Holzhandwerke, kulturgeschichtlich ver- fahrts- und Volkskundemuseum "Heimathaus Münster- arbeitet und so für die Hand des Lehrers wie auch für land", dem 1937 ein Anbau von dem berühmten Archi- die vorbereitende Arbeit der Klasse ein Lehrmittel ge- tekten Dominikus Böhm angefügt wurde127: "Um den schaffen hat, das der besuchenden Schule vorher handwerklichen Leistungsbegriff als die Voraussetzung rechtzeitig auf Abruf zur Verfügung gestellt wurde"122. einer echten Handwerks- und Volkskultur sichtbar in Diese Ausstellungstätigkeit ergänzte Reichwein ja dann Erscheinung treten zu lassen, sind drei vollständig ein- noch signifikant durch diverse Aktivitäten vor allem im gerichtete Werkräume für Handweberei, für den Blau- Bereich der damals modernen Medien Fotografie und drucker und Töpfer am Handwerksgängsken eingebaut Film. Auch Osthaus hatte sich ja schon vor dem Ersten (...). Für Tausende von Besuchern" - zwischen 1934 Weltkrieg des Mediums Fotografie bedient.123 und 1944 besuchten über 250.000 Menschen das Hei- An dieser Stelle möchte ich nun noch einen kleinen matmuseum! - "wurde die Vorführung des Spinnens und Webens, der Vorgang des Bedruckens der Stoffe mit den Modeln der alten Telgter Blaudruckerei, oder Fribourg 2003, S. 121-136, ich danke E. Karasek für diesen Literaturhinweis. etwa die gestaltende Arbeit des Töpfers an der Dreh- 128 117 scheibe, zu einem unvergeßlichen Erlebnis³ . Vgl. Rudolf W. Keck, Schule im Netzwerk der Lernorte. Der Außerdem arrangierte Engelmeier - ganz ähnlich wie Beitrag der Lernorttheorie zur pädagogischen Legitimation der Schule und des Schullebens, in: Unterrichten/Erziehen, Nr. Reichwein in Berlin - noch bis 1943 verschiedene 4/1987, S. 6-12. volkskundlich-handwerkliche Ausstellungen in Telgte, 118 Reichwein (s. Anm. 109/ Anm. 10), S. 161; vgl. Kaldewei so z. B.1935 "Münsterländer Blaudruck in alter und (s. Anm. 58), S. 23. neuer Zeit", 1937 "Münsterländer Bauernkeramik einst 119 und jetzt", 1938 "Volkskünstlerisches Jugendschaffen" Adolf Reichwein, Vom Schauen und Gestalten, in: Ton und Töpfer. Begleitschrift zur ersten Schulausstellung des Staatli- chen Museums für Deutsche Volkskunde anläßlich seines 50jährigen Bestehens, (Schule und Museum Heft 1), Berlin 1939, S. 35-37. 124 120 Reichwein (s. Anm. 109/Anm. 10), S. 161; vgl. Kaldewei (s. Adolf Reichwein, Kinder werken in Holz, in: Holz im deut- Anm. 58), S. 23. schen Volkshandwerk. Begleitschrift zur zweiten Schulausstel- 125 lung des Staatlichen Museums für Deutsche Volkskunde, Hier hatte der seit langem mit Reichwein befreundete frü- (Schule und Museum Heft 2), Berlin 1940, S. 70-80. here Volkshochschulleiter in Jena, Otto Haase, ebenfalls "eine 121 originelle schulbezogene Arbeit aufgebaut", in: Huber (s. Adolf Reichwein, Zeugdruck, in: Weben und Wirken. Be- Anm. 112), S. 321; vgl. Karl Hermann Jacob-Friesen, Die kul- gleitschrift zur dritten Schulausstellung des Staatlichen Muse- turgeschichtlichen Museen und die Schule, in: Museumskunde ums für Deutsche Volkskunde, (Schule und Museum Heft 3), N. F. Band VI/1934, S. 64-71; Ders., Die museumstechnische Berlin 1941, S. 69-91; vgl. Konrad Hahm, Schulausstellungen Auswertung vorgeschichtlicher Sammlungen nach dem päda- im Museum für Deutsche Volkskunde, in: Volkswerk. Jahrbuch gogischen Prinzip, in: Museumskunde, Band XVI/1922, S. 56- des Staatlichen Museums für Deutsche Volkskunde Berlin, 100. Jena Jg. 2/1942, S. 302-06. 126 122 Reichwein (s. Anm. 109/Anm. 10), S. 160; vgl. Kaldewei (s. Reichwein (s. Anm. 109/Anm. 10), S. 161. Anm. 58), S. 23; Amlung (s. Anm. 60), Band 2, S. 435. 123 127 Vgl. oben und Kaldewei (s. Anm. 49), S. 250f.; Adolf Vgl. Westfälischer Heimatbund (Hrsg.), Telgte. Westfäli- Reichwein, Film in der Landschule. Vom Schauen zum Gestal- sche Kunststätten, Heft 5, Münster 1979. ten, Stuttgart/Berlin 1938; Ders., Handwerksfilme der RWU 128 volkskundlich gesehen, in: Film und Bild, 9. Jg./1943, S. 40- ) Paul Engelmeier (Hrsg.), Das Heimathaus Münsterland in 44. Telgte, Telgte 1957; vgl. Kaldewei (s. Anm. 58), S. 23/24. reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

28 und 1940 "Heimatliche Volkskunst".129 Wohlfahrtseinrichtungen in Mannheim Titel gebendes Nicht weit vom münsterländischen Telgte entfernt liegt Einführungsreferat "Die Museen als Volksbildungsstät- das westfälische Hamm, das schon seit 1899 ein Städ- ten"134 orientierte. - Übrigens: damaliger Leiter der Ber- tisches Museum besitzt. Auch in diesem großen "Hei- liner Centralstelle war ja Ludwig Pallat, der spätere matmuseum" , das nach einer Stiftung 1917 Städti- Schwiegervater von Adolf Reichwein.135 Pallat hat die- sches Gustav-Lübcke-Museum Hamm heißt, wurde vor ses Institut 1915 mitbegründet und leitete es bis 1933. allem in der Ära des Museumsdirektors Ludwig Bänfer Auch Karl Ernst Osthaus hatte später mit Pallat Kon- ab 1924 hervorragende museumspädagogische Arbeit takt, als dieser Oberregierungsrat im Preußischen Kul- geleistet. Der gelernte Volksschullehrer Bänfer hatte tusministerium in Berlin war - seit 1898 schon - und "sich als nicht geringste Aufgabe" gesetzt, "das Muse- Osthaus Anfang 1920 ihn um die offizielle Genehmi- um und seine Sammlungen auszubauen als Bildungs- gung, in Hohenhagen "eine Versuchsschule mit Erzie- stätten für jedermann, besonders für die Schulen aus hungsheim" zu gründen bat, welche ihm dann auch im Hamm und weiterer Umgebung"130. Auch der Pädago- Februar erteilt wurde.136 ge Bänfer war in der Jugendbewegung vor dem Ersten Ludwig Pallat knüpfte dann mit einer weiteren einschlä- Weltkrieg sozialisiert worden und veranstaltete später gigen Tagung des von ihm geleiteten "Zentralinstituts an seinem Hammer Museum einige spezielle "Schul- für Erziehung und Unterricht" in Berlin 1929 ganz be- ausstellungen" wie z. B. schon 1929 "Schülerarbeiten wusst an "seine" Mannheimer Tagung von 1903 an - aus dem Zeichen- und Handarbeits-Unterricht der Hö- deren Motto "Volksbildungsstätten!" wäre immer noch heren Schulen", 1930 die Fotoausstellung "Die schöne eine Forderung, "die unsere gegenwärtige Zeit an die Heimat", 1932 "Schülerarbeiten aus dem Zeichenunter- Museen stellt". Es gäbe immer noch das Problem "der richt der Volksschulen".131 Für die Hand des Lehrers Bedeutung und Verwertbarkeit der Museen (...) für die stellte auch Bänfer kurzgefasste Anleitungen zur Verfü- Schule" - und: "Braucht die Schule das Museum? (...) gung. Wenn sie es tatsächlich braucht, auf welche Weise Außerdem richtete er in seinem Museum eigene "Hei- kann sie den besten Nutzen daraus ziehen?"137 Dies maträume" und sogar ein spezielles "Schulzimmer für waren Fragen und Probleme mit denen sich 10 Jahre Heimatkunde" ein. Ein Volksschullehrer berichtete dann später ja auch Pallats Schwiegersohn als Abteilungslei- über einen Museumsbesuch mit seiner Grundschul- ter Schule und Museum im Berliner Volkskundemuse- klasse: "Ein Besuch des heimischen Museums befrie- um intensiv beschäftigt hat, so dass man annehmen digte nicht nur die Neugierde und Schaulust meiner kann, dass Reichwein durchaus von den reichhaltigen kleinen Schar, sondern brachte für die Kinder einen museumspädagogischen Erfahrungen und Kenntnissen großen didaktischen Nutzen, den ich später erst recht seines Schwiegervaters profitiert hat. schätzen lernte, als ich überleitete von der Heimat zur Als zweite museumspädagogische Schrift veröffentlich- Geschichte."132 te Ludwig Bänfer 1931 in Hamm das Heft "Schule und Was Ludwig Bänfer jedoch fast auf eine Stufe mit Adolf Museum". Hierin setzte sich auch er schon mit den ent- Reichwein stellt, ist, dass er schon ab 1929 in zwei sprechenden Kooperationsmöglichkeiten ausführlich grundlegenden kleinen museumspädagogischen Schrif- auseinander und formulierte explizit museumspädago- ten die Zusammenarbeit von Museum und Schule e- gische Prinzipien.138 Auch hierin bezog er sich noch benfalls praktisch reflektierte und theoretisch fundier- einmal auf Alfred Lichtwark - wie Bänfer ja auch ein ge- te.133 So veröffentlichte er 1929 das Heft "Das Museum lernter Volksschullehrer - der ja in seiner langen Ära als als Bildungsstätte", in dem er sich eng an Alfred Licht- Museumsdirektor an der Hamburger Kunsthalle von warks schon 1903 auf der so wichtigen Tagung der

Berliner Centralstelle für Arbeiter- 134 Ludwig Bänfer, Das Museum als Bildungsstätte, (Muse- umshefte des Städtischen Gustav-Lübcke-Museums Hamm, Heft 1), Hamm 1929; vgl Kuntz (s. Anm. 49); Kaldewei (s. 129 Vgl. Kaldewei (s. Anm. 58), S. 23. Anm. 49), S. 56-60 u. 364-67. 130 135 Friedrich Kaiser, Ein Leben aus Forschung und Lehre, in: Vgl. z. B.: Ludwig Pallat, Kunst- und Kunstgewerbemuse- Kalender Heimat am Hellweg, Dortmund 1959, S. 130; vgl. en, in: Paul Hinneberg (Hrsg.), Die Kultur der Gegenwart. Ihre Kaldewei (s. Anm. 49), S. 312-380; Kaldewei (s. Anm. 58), S. Entwicklung und ihre Ziele, Berlin/Leipzig 1906, S. 347-371. 24ff. 136 ) Kaldewei (s. Anm. 49), S. 270f. 131 Vgl. Kaldewei (s. Anm. 58), S. 26/27. 137 ) Ludwig Pallat, Einleitung in: Zentralinstitut für Erziehung 132 Adolf Stakemeyer, Wegweiser zur Einführung in die Hei- und Unterricht (Hrsg.), Museum und Schule, Berlin 1930, S. 5- matkunde. Wanderung durch die heimatkundliche Jahresarbeit 7; vgl. Kaldewei (s. Anm. 49), S. 61-69. eines dritten Grundschuljahrgangs, Hamm 1925, S. 69/70; vgl. 138 Ders., Heimatsträußlein für die Hammer Jugend, Hamm 1927, Ludwig Bänfer, Schule und Museum, (Museumshefte des S. 108/09. Städtischen Gustav-Lübcke-Museums Hamm, Heft 4), Hamm 1931; vgl. Kaldewei (s. Anm. 49), S. 357-63; Ders. (s. Anm. 133 Vgl. Kaldewei (s. Anm. 49), S. 355ff. 58), S. 26. reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

29

1886 bis 1914 schon ein wegweisendes Programm ins- lichte.143 Er leitete seine Abhandlung mit dem später oft besondere der Kooperation von Museum und Schule zitierten Satz ein, dass man die Museen "in Gelehr- initiiert hatte und dessen erfolgreiche Praxis in ver- samkeitsspeicher, Raritätenkästen, Schaubuden und schiedenen, zum Teil durchaus populären Schriften, Bildungsinstitute" einteilen könnte, wobei letzteres auch theoretisch überdacht hatte139, wodurch er zu ei- selbstverständlich für ihn das höchste museumspäda- nem der "Urväter" der modernen Museumspädagogik in gogische Ziel bildete.144 Die so notwendige pädagogi- Deutschland geworden ist.140 sche Organisation des Museums sollte sich nach Ker- schensteiner an Ernst Machs "Ökonomie des Denkens" Noch ein weiterer "Urvater" der modernen deutschen orientieren, so dass am Ende eine "Lehrplan- Museumspädagogik muss hier Erwähnung finden: der Konstruktion" des Museums entstehe, "nur daß hier die schon erwähnte Reformpädagoge Georg Kerschenstei- Konstruktion nicht wie in den Schulen mit dem Schatten ner, auch ein gelernter Lehrer, welcher dann als Stadt- der Dinge, nämlich mit den Worten, sondern mit den schulrat von München und Pädagogikprofessor an der Dingen selbst arbeitet."145 dortigen Universität einerseits zum Mitbegründer des Mit diesem Wort, welches gleichsam auch als prakti- Berufsschulwesens und der Arbeitsschulbewegung sches Motto über der ganzen schul- und museumspä- wurde, andererseits als Museumspädagoge von Anfang dagogischen Arbeit Reichweins stehen könnte, schloss an beim 1903 von Oskar von Miller gegründeten Deut- sich Kerschensteiner wiederum an Alfred Lichtwark an, schen Museum von Meisterwerken der Naturwissen- der 1903 im schon zitierten Eröffnungsreferat auf der schaft und Technik in München entscheidenden Anteil Mannheimer Museumstagung ganz ähnliches ausge- an dessen so erfolgreicher didaktischer Ausrichtung drückt hat: "In der künftigen Bildung unseres Volkes, für hatte.141 Klaus Fricke hat ja schon herausgearbeitet, die wir neue Grundlagen zu suchen uns anschicken, welchen Anteil u. a. Kerschensteiners Arbeitsschulpä- werden die Museen aller Art als Bildungsstätten eine dagogik auf Reichweins schulpädagogische Konzeption wichtige Ergänzung zu dem historisch-philologischen in Tiefensee hatte142, doch sein meiner Meinung nach Wesen der Schulen und Universitäten bieten, weil sie zweifellos auch vorhandener Bezug zu Reichweins zu den Dingen führen oder von den Dingen ausge- nachfolgender museumspädagogischer Konzeption am hen."146 Berliner Volkskundemuseum ist noch relativ offen. Aus dem von mir bis hierhin ausgeführten geht hoffent- lich hervor, dass Reichweins eigene Museumspädago- Zu den eigentlichen Eröffnungsfeierlichkeiten des Deut- gik am Staatlichen Museum für Deutsche Volkskunde schen Museums in München 1925 erschien eine eigene während der Zeit des Dritten Reiches in Berlin von ausführliche Festschrift, in der Kerschensteiner einen 1939 bis zu seinem gewaltsamen Tode 1944 in sehr seine Museumspädagogik grundlegenden Aufsatz zur vielfältiger Weise mit zeitgenössischen Richtungen und "Bildungsaufgabe des Deutschen Museums" veröffent- Ausprägungen der Bildungsarbeit in den Museen - ins- besondere der Kooperation zwischen Museum und Schule - verbunden war. Dabei führt eine signifikante 139 Vgl. z.B. Alfred Lichtwark, Makartbouquet und Blumen- "Spur" meiner Meinung nach direkt von Karl Ernst Ost- strauß, München 1894; Ders., Die Bedeutung der Amateur- haus' Hagener "Folkwang-Idee" - vermittelt durch Fritz photographie, Halle 1894; Ders., Drei Programme, Berlin 2/1902; Ders., Übungen in der Betrachtung von Kunstwerken, Klatt - zu Reichwein nach Berlin; Abstecher gibt es da- Berlin 7/1909; Ders., Die Kunst in der Schule, in: Wolf Mann- bei zu Alfred Lichtwark nach Hamburg und Georg Ker- hardt (Hrsg.), Alfred Lichtwark. Eine Auswahl seiner Schriften, schensteiner nach München; in praktisch- Band 2, Berlin 1917, S. 196-257. 140 volkskundlicher Hinsicht auch nach Telgte in Westfalen. Vgl. Julius Gebhard, Alfred Lichtwark und die Kunsterzie- hungsbewegung in Hamburg, Hamburg 1947; Edgar Beckers, Das Beispiel Alfred Lichtwark. Eine Studie zum Selbstver- 143 ständnis der Reformpädagogik, (Diss. Universität Köln 1976); Vgl. Kaldewei (s. Anm. 2), S. 207-16; Rainer Bamber- Kunst ins Leben. Alfred Lichtwarks Wirken für die Kunsthalle ger/Hartwig Holstein, Die Bildungsarbeit des Deutschen Mu- und Hamburg von 1886 bis 1914, (Kat. Hamburger Kunsthal- seums. Geschichtliche Entwicklung, Darstellung und Beurtei- le), Hamburg 1986; Kaldewei, (s. Anm. 49), S. 96ff. lung, (Diplomarbeit an der Hochschule der Bundeswehr, Mün- 141 chen 1978). Vgl. Conrad Matschoss (Hrsg.), Das Deutsche Museum. 144 Geschichte, Aufgaben, Ziele, Berlin 1925; Oskar von Miller, Georg Kerschensteiner, Die Bildungsaufgabe des Deut- Technische Museen als Stätten der Volksbelehrung, in: Deut- schen Museums, In: Matschoss (s. Anm. 141), S. 39; Ders., sches Museum - Abhandlungen und Berichte, 1. Jg. Heft Theorie der Bildung, Leipzig/Berlin 1928, S. 375. 5/1929, S. 1-19; Friedrich Klemm, Geschichte der naturwis- 145 senschaftlichen und technischen Museen, in: Deutsches Mu- Kerschensteiner (s. Anm. 144), S. 45; vgl. Robert Musil, seum - Abhandlungen und Berichte, 41. Jg., Heft 2/1973, S. 1- Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs, (Reprint) Reinbek 59; Andreas Kuntz, Technikgeschichte und Museologie, (Diss. 1980. Universität Marburg), Frankfurt am Main/Bern 1981. 146 Alfred Lichtwark, Museen als Bildungsstätten, in: Die Mu- 142 Klaus Fricke, Die schulpädagogische Konzeption Adolf seen als Volksbildungsstätten. Schriften der Centralstelle für Reichweins, in: Reichwein (s. Anm. 112), S. 112ff. Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen Nr. 25, Berlin 1904, S. 12. reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

30

Dass Reichweins theoretische Fundierung praktischer Georg Kerschensteiner wurde zur wesentlich bestim- Museumspädagogik in seiner kleinen Schrift "Schule menden Persönlichkeit für die wissenschaftliche Grund- und Museum" auch Parallelen zu anderen vergleichba- legung und praktische Anwendung der Museumspäda- ren Konzepten hatte, zeigt das Beispiel des Ludwig gogik in den 30er Jahren der Reformpädagoge Adolf Bänfer am Städtischen Museum in Hamm mit dessen Reichwein."151 Zu dieser Aussage stehe ich noch heu- Schriften schon von 1929 bzw. 1931. Dies gilt ebenso te. Im übrigen tut es nicht Not, ihn in ungeahnte Höhen für Reichweins hervorragende Berliner "Schulausstel- der Museumspädagogik zu hieven - das hat Reichwein lungen", die ebenfalls ähnliche Beispiele u. a. in Hamm gar nicht nötig. und Telgte als Vorgänger hatten. Also: Reichwein war Kurz - und immer noch vorläufig - gesagt: Adolf Reich- nicht der erste, auch nicht der einzige und sicher nicht wein hat in den knapp 5 Jahren seiner Tätigkeit als Ab- der letzte deutsche Museumspädagoge, der sich inten- teilungsleiter "Schule und Museum" am Volkskundemu- siv mit Praxis und Theorie der Kooperation von Schule seum in Berlin vor allem in Bezug auf die praktische und Museum vor allem auseinandergesetzt hat. Kooperation von Berliner Schulen bzw. Lehrern mit die- Reichwein hat in seiner Schrift "Schule und Museum" sem Museum Hervorragendes und Wegweisendes in von 1941 auch schon ganz selbstverständlich den Beg- der Museumspädagogik geleistet. In seiner kleinen riff "Museumspädagogik" verwendet147; doch auch hier- Schrift "Schule und Museum" von 1941 hat er einiges in ist er keineswegs der erste: ich selbst stieß bei mei- davon niedergelegt, doch darin schon ein wenig sich nen diesbezüglichen Forschungen Anfang der 1980er selbst einschränkend formuliert: "Aus der jüngsten, Jahre beispielsweise auf eine Arbeit des vorhin schon kaum einjährigen Arbeitserfahrung am Berliner Muse- zitierten Hannoveraner Ur- und Frühgeschichtlers Karl um für Deutsche Volkskunde läßt sich schon ein unge- Hermann Jacob-Friesen von 1934, in der dieser den fähres Bild von den praktischen Möglichkeiten gewin- konkreten Begriff verwendet hat - in einem Aufsatz über nen, deren sich die erzieherische Gemeinschaftsarbeit "Aspekte historischer Museumspädagogik" - in dem ich von Schule und Museum bedienen kann."152 - Dieser auch schon Reichweins Museumspädagogik kurz vor- Selbsteinschätzung muss man recht eigentlich nichts gestellt habe - konnte ich diesen Fund dann auch 1983 mehr hinzufügen! veröffentlichen.148 Auch Wilhelm Wittenbruch hat ebenfalls schon vor Wenn nun Ullrich Amlung - auch mit Rückgriff auf Urich mehr als 20 Jahren in einer Studie über die "Erfahrun- Steinmanns frühes Diktum von 1961, dass Reichwein gen und Überlegungen zur Unterrichtsmethode" des "offenbar damals weit über das Maß dessen hinausge- Reformpädagogen Reichwein in dessen Schriften fol- gangen, was museumspädagogisch bis dahin heraus- gendes festgestellt: "Hinzu kommt die schon angespro- gebildet worden war"149 - noch in seiner jüngsten Veröf- chene Mühe, bei Reichweins weitgehendem Verzicht fentlichung über Reichweins Museumspädagogik im auf Verweise seine Gedanken und Postulate zur Unter- Jahr 2000 davon schreibt, dass dieser "den Begriff 'Mu- richtsmethode in ihrer Auseinandersetzung mit vorgän- seumspädagogik' wesentlich weiter gefasst (habe) als gigen Reflexionen bzw. Erfahrungen und ihre Stellung seine Vorgänger in der Museumsarbeit", so möchte ich in umgreifenderen Denk- und Praxiszusammenhängen dem dezidiert widersprechen. Und auch folgende Aus- zu verfolgen."104153 Wenn man nun "Unterrichtsmetho- sage halte ich für sehr problematisch: "Gleichwohl: de" durch "Museumspädagogik" ersetzt, dann erkennt Reichwein kommt das unbestreitbare Verdienst zu, man meiner Meinung nach auch sofort, wo noch immer erstmals in der Geschichte des Museums als Bildungs- die Schwierigkeiten mit der Bewertung der Museums- stätte eine didaktisch und methodisch differenzierte und pädagogik Reichweins liegen. umfassende Konzeption erarbeitet zu haben."150 Unbestritten ist aber, dass Reichwein vor allem auch in In diesem Zusammenhang möchte ich doch noch ein- Bezug auf seine Beiträge zur Volkshochschulbewegung mal auf die zuvor schon von mir hier nur knapp ange- zu den führenden Vertretern der Reformpädagogischen führten museumspädagogischen Konzeptionen von Bewegung in Deutschland während der Weimarer Re- Lichtwark, Osthaus, Kerschensteiner, ja auch Bänfer, publik zählt. In diesem Zusammenhang möchte ich hinweisen. Ich selbst habe schon vor mehr als 20 Jah- noch einmal auf den DDR-Museumspädagogen Kurt ren in meinem kleinen Aufsatz zur "historischen Muse- Patzwall verweisen, den ich schon am Anfang meines umspädagogik" in Bezug auf Reichwein gesagt: "Nach Referates zitierte; denn dieser schrieb ja 1967 relativ

147 151 In Reichwein (s. Anm. 109/Anm. 10), S. 157. Kaldewei, (s. Anm. 58), S. 20. 148 152 Vgl. Jacob-Friesen, (Anm. 125), S. 69; Kaldewei, (s. Anm. Reichwein, (s. Anm. 109/Anm. 10), S. 158. 58), S. 17; Ders., (s. Anm. 49), S. 7. 153 Wilhelm Wittenbruch, Unterrichtsmethode als "Weg der Er- 149 Zit. in: Huber (s. Anm. 112), S. 326. ziehung". Erfahrungen und Überlegungen zur Unterrichtsme- thode in den Schriften Adolf Reichweins, in: Huber/Krebs, (s. 150 Amlung (s. Anm. 61), S. 147. Anm. 112), S. 170. reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

31 nüchtern u. a.: der Widerstandskämpfer Adolf Reich- wein "sammelte und verarbeitete (...), als Leiter einer Anmerkungen zum Abteilung ÃSchule und Museum' bei dem Staatlichen Museum für Deutsche Volkskunde in Berlin, die aufhe- Volksgerichtshof benswerten Gedanken des pädagogischen Erbes. Er bereicherte sie durch seine Erfahrungen bei der Ausar- Gedanken während und nach dem Besuch beitung und der Nutzung thematisch spezialisierter, (...) des Großen Saals des Berliner Kammergericht Schulausstellungen' des Museums für den Unterricht und für die fachlich-methodische Weiterbildung der Lehrer."154) Zum Abschluss der Reichwein-Tagung im Museum Eu- Zum Schluss möchte ich nur noch eine weitere, über- ropäischer Kulturen besichtigte eine größere Teilneh- greifende Erkenntnis, die schon Peter Steinbach in sei- mergruppe, unter ihnen auch Renate, Roland, Katrin ner "Einführung" zum "Lebensbild" des "Pädagogen und Sabine Reichwein, am sonnigen Sonntagnachmit- und Widerstandskämpfers" Adolf Reichwein 1999 ge- tag, dem 25. April 2004, in der Schöneberger Elß- zogen hat, und der ich persönlich voll inhaltlich zustim- holzstraße 30-33 den Großen Saal des Kammerge- men möchte, anfügen. Steinbach schreibt darin, dass richts, in dem die ÄSchauprozesse³ des Volksgerichts- die Übernahme der Stelle im Berliner Volkskundemu- hofs stattfanden. seum 1939 zwar nicht überraschend war, "denn Reich- In gespannter Erwartung versammelte sich die Gruppe wein hatte in seinen lebenskundlichen Unterrichtsbe- vor dem mehrstöckigen, wilhelminischen Prunkgebäu- mühungen stets den Blick auf die Alltagswirklichkeiten de, das den Zweiten Weltkrieg weitgehend unzerstört gelenkt. Er gehörte so gewiß zu den Pädagogen, die überstanden hat. zielbewusst die Möglichkeiten des Museums für den le- Reinhard Rudolph, Pressesprecher des Berliner Ver- benskundlichen Unterricht und die schulische Bildung fassungsgerichtshofs, der die Führung mit uns dan- nutzen wollten." Aber: "So wird im Rückblick deutlich, kenswerterweise auch an einem Sonntag machte, ging daß die museumspädagogische Arbeit vor allem die mit uns zunächst durch lange Flure im Erdgeschoss zu Voraussetzungen für eine ausgedehnte Vortrags- und einem Aufzug, der uns in den ersten Stock brachte. Reisetätigkeit und somit für seine politische Tätigkeit Auf dem Weg zum Großen Saal konnte man den Blick geschaffen hat, die in vielen früheren Äußerungen auf ein großzügig angelegtes, reichverziertes Treppen- Reichweins angelegt ist, aber sich doch nicht mit haus werfen. Herr Rudolph schloss dann behutsam die zwangsläufiger Konsequenz entwickelte."155 Flügeltür zum Großen Saal auf, durch die damals auch Möglicherweise könnte genau dies auch ein wichtiges, die Angeklagten zur Verhandlung gelangten. Ein gut realistisches Ergebnis der diesjährigen Berliner Jahres- renovierter, riesiger rechteckiger Raum mit hohen tagung 2004 des Adolf-Reichwein-Vereins zum Thema Rundsäulen (Marmorattrappen aus Holz), hellen Fens- "60 Jahre nach dem 20. Juli 1944 - Adolf Reichwein als tern, die in Form und Ausmaßen großen Kirchenfens- Museumspädagoge und Widerstandskämpfer" sein, bei tern gleichen, interessanten Deckengemälden, einer der ich die Ehre hatte, zur Eröffnung zu Ihnen zu spre- Bestuhlung mit 300 - 400 Sitzen und einem eingebau- chen. ten Podium mit Holztischen sowie einem schönen Dr. Gerhard Kaldewei Holzparkettboden, tat sich vor uns auf.

Trotz dieser Größe und Pracht machte sich unter den Teilnehmer(inne)n eine gewisse Beklemmung breit. SONDERANGEBOT Man konnte sich gut vorstellen, dass schon allein die Architektur und Raumgestaltung dieses Ortes auf An- "... in der Entscheidung gibt es keine Umwege" : geklagte einschüchternd wirken musste. Mit Wappen Adolf Reic hwein 1898-1944 ; Reformpädagoge, Sozi alist, Widerstandsk ämpfer / Ullrich Amlung und Fahnen versehen, wurde auf jeden Fall die 3. , durchges. und ak tualisiert e Aufl. Staatsmacht (hier die Dritte Gewalt) repräsentiert. Erin- Marbur g : Schür en 2003; 10 7 S. : zahlr. Ill., Kt. Bibliogr. A. Reichwei n S. 89 Ō 97 nert sei auch an die imposante Kaiserloge an der rech- ISBN 3-8947 2-273-8 (Sonderpr eis ŝ 10,-) ten Längswand. Im Kontrast dazu sprach Reinhard Ru- dolph in sehr sachlicher und unpathetischer Weise über Be stellungen an Anneli es Pi ening, Westfälisch e Str. 34 1070 9 Ber lin Gegenwart und Geschichte dieses historischen Ortes, [email protected] der 1912 als Preußisches Kammergericht gebaut wur- de. Er enthielt über 500 Räume, einen Großen Saal

154 Patzwall, (s. Anm. 48), S. 28. 155 Peter Steinbach, Adolf Reichwein. Zur Einführung, in: Reichwein (s. Anm. 87), S. XXIXf. reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

32 und die Wohnung des Gerichtspräsidenten mit 16 Zim- dem er mit leiser, stimmbandverletzter Stimme wider- mern. sprach, wie der Zeitzeuge und Mitangeklagte Gustav Durch einen Ausschnitt des Films ÄGeheime Reichssa- Dahrendorf schrieb.157 Auch erinnerte ich mich an Ro- che³, der ein Verfahren vor dem Volksgerichtshof zeig- semarie Reichweins Schilderungen dieses Tages. In te, konnte man den brüllenden Roland Freisler als Vor- ihrem ÄBuch der Erinnerung³ ist nachzulesen: sitzenden in Robe gekleidet, vom Podium aus vor voll ÄAm 20. Oktober stand ich mit Freya (von Moltke, d. besetztem Saal in Aktion nacherleben. Ihm gegenüber Verf.) hinterm Volksgerichtshof im Kleistpark in der Er- stand ein Angeklagter, von zwei Polizisten eingerahmt. wartung, Adolf wenigstens anfahren oder abfahren zu Die Überakustik dieses großen Saals erschwerte es sehen. Nichts dergleichen geschah. Wir hörten nur, uns auch 2004, Freislers Tiraden zu verstehen. dass mittags die Verhandlung zu Ende war³. 158 Mir kam sofort das bekannte Foto vom Prozess gegen Aus dem Urteil des Volksgerichtshofs vom 20. Oktober Adolf Reichwein in diesem Saal am 20. Oktober 1944 in 1944 geht hervor, dass damals Julius Leber, Adolf 156 den Sinn. Auf diesem Foto wirkt der Saal kleiner, Reichwein und Hermann Maas zum Tode verurteilt die Kaiserloge ist mit einer Hakenkreuzfahne und einer wurden, während Gustav Dahrendorf eine Zuchthaus- Hitlerbüste Ägeschmückt³. strafe von 7 Jahren bekam. Dasselbe Dokument weist aus, dass fünf Richter, Dr. Roland Freisler (Vorsitzen- der und Präsident des Volksgerichtshofs), Volksge- richtsrat Lämmle, Bürgermeister Ahmels, Gartenbau- techniker und Kleingärtner Kaiser sowie Ingenieur Wer- necke diesen Prozess durchführten. 159 Alle Verfahren vor dem Volksgerichtshof wurden von zwei Berufsrichtern und drei Laienrichtern verantwortet, wobei bekannt ist, dass Roland Freisler, der dem Ers- ten Senat des Volksgerichtshofs angehörte, viele Ver- fahren Ägegen die Bewegung³ an sich zog. Freisler wurde erst 1942 zum Präsidenten des Volksge- richtshofs ernannt, wofür er sich in einem anbiedernden Brief persönlich bei bedankte: ÄDer Volksgerichtshof wird sich stets bemühen, so zu urteilen wie er glaubt, daß Sie, mein Führer, den Fall selbst beurteilen würden. Heil, mein Führer! In Treue, Ihr politischer Soldat Ro- land Freisler³ .160 Die Auswahl der Laienrichter erfolgte auf Vorschlag des Reichsjustizministers für fünf Jahre, wobei die Berufung durch Adolf Hitler selbst vollzogen wurde. Diese ehren- amtlichen Richter kamen fast alle aus NS- Parteiorganisationen. 161 Reinhard Rudolph betonte in seinem Beitrag auch, dass der Volksgerichtshof zunächst als Sondergericht durch ein spezielles Gesetz an den Kompetenzen des

157 Vgl. Adolf Reichwein: Pädagoge und Widerstandskämpfer. Ein Lebensbild in Briefen und Dokumenten (1914 ± 1944), Paderborn 1999, S. 430 - 434; hier: mein Kommentar zum Volksgerichtshofs-Urteil vom 20. Oktober 1944, wo ich Gustav Dahrendorf zitiere und Ger van Roons Darstellung ÄVor dem Volksgerichtshof³ zusammenfasse. 158 Vgl. Rosemarie Reichwein: Die Jahre mit Adolf Reichwein prägten mein Leben, München 1999, S. 56 159 Vgl. Adolf Reichwein, a.a.O., S. 407 - 409 Adolf Reichwein stand damals abgemagert und von 160 Folterungen gezeichnet vor dem brüllenden Freisler, Vgl. Jahntz/Kähne: Der Volksgerichtshof, Berlin 1986, S. 53/54 161 Vgl. Heinz Hittermeier (Hrsg.): Im Namen des Deutschen 156 Vgl. Ullrich Amlung: Ä... in der Entscheidung gibt es keine Volkes - Todesurteile des Volksgerichtshofs, Darmstadt 1980, Umwege³± Ausstellungskatalog, Marburg 1994, S. 82 S. 33 reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

33

Reichsgerichts vorbei zur Aburteilung von Hoch- und Kosten auflistete, im schon erwähnten Buch genau Landesverrätern und anderen politischen Strafsachen festgehalten: als erste und letzte Instanz von den Nationalsozialisten geschaffen wurde. Hitler hatte schon 1924 in ÄMein 300,00 RM für die Todesstrafe Kampf³ ein solches Gericht gefordert, ist dazu bei Ingo 2,70 RM Postgebühren Müller nachzulesen. Es wurden zunächst 1934 drei Se- 81,60 RM Gebühren für den Rechtsanwalt 150,00 RM Haftkosten nate mit je fünf Richtern eingerichtet. 1936 wurde der 158,18 RM Kosten der Strafvollstreckung Volksgerichtshof aufgewertet, die Richter trugen rote 0,12 RM Porto f. d. Übersendung der Kostenrechnung Roben wie beim Reichsgericht. Später wurde er auf 164 767,00 RM fünf Senate vergrößert, da immer mehr ÄFälle³ zu be- handeln waren. Rosemarie Reichwein bestätigte mir 1997 in einem Ge- Dies lässt sich auch an der Zahl der Todesurteile fest- spräch in ihrer Wohnung in Berlin-Wannsee ± als sie machen. Von1934 ± 1936 hat der Volksgerichtshof mir eine Kopie der Sterbeurkunde Adolf Reichweins Änur³ 23 Todesurteile verhängt, während die Zahl von gab -, dass sie auch eine solche Kostenrechnung be- 1937 ± 1944 von 32 auf 2097 anstieg. Aus derselben gleichen musste. Im Standesamt Charlottenburg muss- Tabelle kann man ersehen, dass von 1937 ± 1944 ins- te sie noch 1952 für diese Sterbeurkunde 0,50 DM be- gesamt 14319 Angeklagte vor den Volksgerichtshof zahlen. kamen und nur 1073 einen Freispruch erhielten, wäh- Reinhard Rudolph wies schließlich noch darauf hin, 162 rend 5191 zum Tode verurteilt wurden . dass der eigentliche Sitz des Volksgerichtshofs ein Die größte Bedeutung bekam der Volksgerichtshof bei kleineres Gebäude in der Bellevuestraße 15 in Berlin- der Äjustiziellen Bewältigung³ des missglückten Atten- Tiergarten war. Dort existierten nur kleinere Gerichtssä- tats vom 20. Juli 1944. Freisler kam Hitlers Forderung le, so dass es notwendig wurde, den Großen Saal des konsequent nach, mit den ÄVerrätern kurzen Prozess zu Kammergerichts zu nutzen. machen³. Freislers Büro und die Geschäftsstelle des Volksge- Reinhard Rudolph führte aus, dass es bekannt sei, richtshofs befanden sich in Tiergarten. Das Gebäude dass beim Volksgerichtshof juristische Überlegungen in wurde Ende des Zweiten Weltkrieges durch Bomben der täglichen Praxis zunehmend keine große Rolle zerstört. Auch Freisler kam bei einem Bombenangriff mehr spielten. ums Leben. Laut Reinhard Rudolph wurde er von ei- Für mich wird deutlich, dass man aus heutiger Sicht nem herabstürzenden großen Holzbalken im Innenhof von gezielter Rechtsbeugung sprechen muss, die ab des Kammergerichtsgebäudes am 2.2.1945 erschla- 1933 nach der NS-Machtübernahme systematisch gen. durch Gesetze und Verordnungen sowie personell- Nicht alle Urteile bzw. Todesurteile wurden also im institutionelle Schritte nach politischen Opportunitäts- Großen Saal des Kammergerichts gefällt, der heute prinzipien erfolgte. wieder vom Kammergericht, vom Berliner Verfassungs- Im Grunde handelte es sich beim Volksgerichtshof um gerichtshof und zur Vereidigung sowie zur Fortbildung rein politische Prozesse (Schauprozesse) bei gleichzei- von Gerichtsreferendaren genutzt wird. Nach 1945 war tiger Vernachlässigung bzw. Nichtbeachtung elementa- das Gebäude zunächst bis 1953 Sitz des Alliierten Kon- rer Angeklagten- und Verteidigerrechte. Die formale trollrats und bis 1989 der Alliierten Luftüberwachung.. Abwicklung wurde seitens der Justizverwaltung bis hin Reinhard Rudolph wies zudem auf die vielfältige Nut- zur späteren Kostenabrechnung Äpreußisch exakt³ vor- zung durch alliierte Soldaten hin, die hier auch Schwei- genommen. ne schlachteten und Feste feierten. Vermutlich diente Was die juristische Ebene anbelangt, verweist z.B. der Große Saal auch als Tanzsaal. Viele Räume wur- Heinz Hillermeier zu Recht auf die fatalen Folgen und den für Zwecke der Alliierten umgebaut. Nach dem Ab- Auswirkungen des Ermächtigungsgesetzes (24. zug der Alliierten in den frühen 90er Jahren wurde das 3.1933), die Änderungen im Strafgesetzbuch, den Er- Gebäude durch das Land Berlin gründlich renoviert und lass der Kriegssonderstrafrechtsverordnung (17.8. rückgebaut. 1938) und das Reichsbürgergesetz (15.9.1938), die Am Ende der interessanten Führung versuchte ich mir 163 hier nicht erörtert werden können . die Dimension und Ästhetik des Großen Saals noch- Ingo Müller hat die Äbürokratische Akribie³, mit der die mals in Ruhe anzueignen. Ich versuchte, von Freislers Reichsanwaltschaft den Angehörigen Hingerichteter die Platz aus den Saal zu erfassen, blickte in die freien Stuhlreihen und stellte mir Hakenkreuzfahnen vor. Auch konnte ich feststellen, dass die ÄMarmorsäulen³ tat- 162 Vgl. Ingo Müller: Furchtbare Juristen, München 1987, S. 149 163 164 Vgl. Heinz Hillermeier, a.a.O., S. 30 u. 189 Vgl. Ingo Müller, a.a.O., S. 154 reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

34 sächlich aus Holz sind. Vom Balkon aus genoss ich den als Reformpädagoge geehrt. Ein pädagogischer Re- schönen Blick auf den Kleistpark, auf dessen Rasen ei- former war Reichwein eigentlich seit Beginn seiner be- ne multikulturelle Schar Kinder spielte. Auf der gegenü- ruflichen Tätigkeit insbesondere in Jena als Geschäfts- berliegenden Seite, auf der Potsdamer Straße, beo- führer der Volkshochschule Thüringen. bachtete ich den brummenden Verkehr. Ein reformpädagogisches Schulmodell praktisch umge- Wieder auf der Elßholzstraße, stellte ich überrascht setzt hat er aber erst nach seiner Entlassung als Pro- fest, dass sich in direkter Nachbarschaft des Kammer- fessor an der Pädagogischen Akademie in Halle in sei- gerichts die heutige Sophie-Scholl-Gesamtschule be- ner Tätigkeit als Volksschullehrer in Tiefensee in Bran- findet - übrigens ein ähnlich großer wilhelminischer denburg. Niedergelegt sind die Erkenntnisse und Erfah- Prachtbau, auf dessen Schulhof sich noch ein riesiger, rungen dieses Modells in seiner Schrift ÄSchaffendes nichtsprengbarer Bunker aus der NS-Zeit befindet. In Schulvolk³ von 1937. dieser Schule habe ich schon Praktikanten der Univer- Dabei hat er die reformpädagogischen Diskussionen sität der Künste betreut und gutes Schülertheater ge- der 20er Jahre durchaus kritisch hinterfragt und auch sehen. Dabei habe ich nicht bemerkt, dass so ein ge- von manchen Irrtümern befreit. Verwiesen sei auf die schichtsträchtiger Ort in nächster Nachbarschaft liegt. Prinzipien ÄBewegung vom Kinde aus³ und ÄWachsen Das wird vielen Berlinern so gehen, denn vor dem lassen³ statt ÄFührung³, die für Reichwein zu individua- Kammergericht habe ich keinen Hinweis auf den ehe- listisch waren und seiner Meinung nach auf einem zu maligen Volksgerichtshof gefunden. Lediglich vor dem flachen ÄFreiheitsbegriff³ gründeten.165 Großen Saal gibt eine Schrifttafel Auskunft. Drinnen Es spricht viel dafür, dass Adolf Reichwein bereits in sind seit 1994 auf einer Metallstele Namen der im Saal Jena mit der Reformpädagogik bekannt wurde, denn in zum Tode verurteilten Widerstandskämpfer, unter ihnen dieser Zeit war Peter Petersen, einer der Begründer der auch Adolf Reichwein, festgehalten. Reformpädagogik, Professor an der Jenenser Universi- Auch bei der Verabschiedung der Gruppe herrschte tät. wieder eine gedrückte Stimmung. Mit Heinz Schernikau Petersen vertrat z.B. folgende Reformideen: und Klaus Schittko, die Renate Steinchen und ich zum - gemeinsame 10-Jahresschule für alle Kinder Bahnhof-Zoo brachten, gelang nur ein kurzes Ge- - Berichte statt Zeugnisse spräch. Zu sehr hatte alle diese ÄBesichtigung³ innerlich - Erziehung in Gemeinschaft beschäftigt und belastet. - Partnerschaft und Hilfsbereitschaft als wesent- Sabine Reichwein möchte ich für die Planung dieser liche pädagogische Ziele. Besichtigung und Reinhard Rudolph für die beeindru- In Halle kam Adolf Reichwein bald nach seinem Amts- ckende Führung danken. antritt als Professor für Geschichte und Staatsbürger- kunde an der neu gegründeten Pädagogischen Aka- L.K. demie mit einem praktisch tätigen Reformpädagogen in Kontakt. Dies war der Sozialdemokrat und Direktor der Weltlichen Sammelschule Nord Hugo Goersch. Der Sitz GEDENKVERANSTALTUNGEN dieser Schule, der späteren Brunnenschule, befand sich zudem in unmittelbarer Nähe zum Gebäude der Pädagogischen Akademie, in dem sich heute das Tho- mas-Müntzer-Gymnasium befindet. Beide Schulgebäu- Adolf Reichwein de waren praktisch nur durch den Schulhof getrennt. und Hugo Goersch Es war jedoch nicht so sehr die räumliche Nähe, die Reichwein und Goersch zusammenführte. Von ehema- ligen Lehrern und Schülern wird berichtet, dass beide ihr Wirken als Reformpädagogen in Halle befreundet waren und eng zusammenarbeiteten. Hugo Goersch und andere Lehrer der weltlichen Schule nahmen oft an den berühmten Teeabenden bei Adolf Reichwein teil, auf denen heiß über aktuelle politische und wirtschaftliche Fragen diskutiert wurde. Adolf Reichwein hat in seinem 46-jährigen Leben viele Kurz: In Hugo Goersch fand Adolf Reichwein nicht nur Spuren an den Orten seines Wirkens hinterlassen. einen guten Kollegen, mit dem ihn gleiche fortschrittli- Nicht zuletzt ehren wir ihn als mutigen Antifaschisten, che schulpolitische Auffassungen verbanden, sondern der den Widerstand gegen das faschistische Terrorsys- tem mit dem Leben bezahlen musste.

Ich will im folgenden auf eine sonst wenig beachtete 165 Vgl. Ullrich Amlung: Ä...in der Entscheidung gibt es keine Spur verweisen, die mit seinem Wirken in Halle ver- Umwege³. Adolf Reichwein 1898-1944 - Reformpädagoge, bunden ist. Adolf Reichwein wird bekanntlich auch stets Sozialist, Widerstandskämpfer. 3. Aufl. Marburg 2003, S. 53 ff. reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

35 auch den Mitkämpfer, Genossen und Freund. Er teilte seit 1990 unter unserem Dach ihre jährlichen Schüler- auch die Forderung von Goersch nach lebensnaher treffen durchführen. und praxisbezogener Lehrerausbildung und versuchte Obwohl die Zahl der Teilnehmer immer geringer wird, sie an der Pädagogischen Akademie zu realisieren. alle, die noch gesund und mobil genug sind, treffen sich So hatte sein Fach Gegenwartskunde eine stark sozial- bei uns im Bürgerhaus und erinnern sich immer noch reformerische Ausrichtung und war wesentlich soziolo- gern an die Schulzeit in der weltlichen Schule und z.T. gisch und wirtschaftskundlich akzentuiert. Die Theorie mit Schrecken an die Zeit in anderen Schulen, beson- wurde praktisch untermauert durch regelmäßige Be- ders in der Nazi-Zeit. sichtigungen landwirtschaftlicher und industrieller Be- Durch diese Verbindung sind wir auch auf die Bezie- triebe. Seine Studenten sollten die Arbeitssituation der hung zu Adolf Reichwein gestoßen, der in der Schule Bevölkerung kennen lernen, deren Kinder sie praktisch von Hugo Goersch schon so etwas wie eine neue unterrichten würden. Diese Exkursionen und Praktika Schule sah, weil hier der sonst noch vorherrschende führten auch in das Gebiet der Sozialpädagogik, in Ge- reaktionäre Geist überwunden war. nossenschaften, Arbeitsämter, Gefängnisse, zur Arbei- Auch in Halle war Adolf Reichwein neben seiner Tätig- terfürsorge.166 keit an der Pädagogischen Akademie für die Volks- Adolf Reichwein schickte seine Studenten auch zu hochschule tätig. Seine Vorträge und Kurse fanden Hospitationen und Praktika an die Schule von Hugo vorwiegend in der Torschule statt, die daher auch zeit- Goersch. Er muss wohl erkannt haben, dass das von weilig seinen Namen trug. Goersch verwirklichte Schulkonzept seinen Intentionen 1955 erinnert sich ein ehemaliger Hörer der Volkshoch- in der Lehrerbildung entsprach. schule, ein junger Arbeiter, an Adolf Reichwein: Was war das Besondere an den weltlichen Schulen der ÄIch sehe Dich mit Deinem vom Wind zerzausten blon- damaligen Zeit? den Haarschopf, Deinem von Klugheit, Güte und Ver- Diese in Halle 1926 gegründeten Schulen waren zu- stehen durchleuchteten Gesicht, mit verschränkten Ar- nächst von meist aus der Arbeiterschaft stammenden men, die Energie und Zielklarheit andeuten, jetzt vor Eltern und fortschrittlichen Lehrern geschaffene ÄDeiner Schule³ stehen, die Du nur als Torschule kann- Alternativen zu den vorwiegend konfessionell test. Du denkst vielleicht daran, wie Du uns Werktätigen ausgerichteten Schulen, also Schulen ohne hier in der Aula einmal das ÄZukunftsbild der neuen Religionsunterricht. Dafür wurde in ihnen das Fach Schule³ darstelltest. Dunkles Zeitgewölk erhelltest Du Lebenskunde erteilt. uns durch Deine strahlenden Gedankengänge und un- Weitere Besonderheiten dieser Schulen waren u.a. verzagt klang am Schluss damals durch den Saal: - die damals noch ungewöhnliche Koedukation Ã...uns geht die Sonne nicht unter!¶³168 - der Verzicht auf die Prügelstrafe Obwohl Reichwein sich lange Zeit nicht parteipolitisch - ein nicht mehr auf Amtsautorität beruhendes binden, eher ein ÄFreibeuter³ am Rande des Sozialis- Lehrer-Schüler-Verhältnis mus sein wollte, angesichts der zunehmenden faschis- - die Einbeziehung der Eltern in den Schulalltag tischen Gefahren aber war er 1930 der SPD beigetre- - praktische, auf das Berufsleben vorbereitende ten. Unterrichtsanteile und Arbeitsgemeinschaften Nicht zufällig wurde er daher wie Hugo Goersch unmit- (es gab an der Sammelschule Nord z.B. ein telbar nach Errichtung der Nazidiktatur, wie auch die Fotolabor, eine Druckerei und Werkstätten). meisten Lehrkräfte beider Einrichtungen, vom Dienst Es gehörte zur Normalität, dass die Lehrer gemeinsam suspendiert. Hugo Goersch hat diese Demütigung nicht mit ihren Schülern in die Ferien, meist in Landschul- verkraftet, er verstarb am 20. Oktober 1934 infolge ei- heime; fuhren. Auch die Vorbereitung auf die Jugend- nes Gehirnschlags. weihe gehörte zum Schulalltag. Die Feiern fanden im Es ist sicher ein Zufall, dass sein Freund Adolf Reich- Volkspark statt, die letzte illegal 1933 in der Heide.167 wein auf den Tag genau 10 Jahre später sterben muss- Unsere Verbindung als Humanistischer Verband zu te. dieser Tradition besteht darin, dass es seit 1976, dem Die Tatsache, dass wir uns heute hier zusammenge- 50. Jahrestag der Gründung der weltlichen Schulen, ei- funden haben, um uns an Adolf Reichwein zu erinnern, ne Traditionsgemeinschaft ehemaliger Schüler gibt, die beweist, dass man zwar Menschen töten kann, nicht aber ihre Ideen und ihr Werk. Prof. Dr. Werner Lange 166 Vgl. ebenda, S.44f. 167 Vgl.: Martin Schoof: Die Äweltliche Schule³ als Reformmo- dell in der Weimarer Republik ± dargestellt am Beispiel der 168 Ästädtischen Versuchsschule Sammelschule Nord³ in Hal- Wittke, Otto: Adolf Reichwein zum Gedenken. In: Halle- le/Saale. Universität Frankfurt/M.: Diplomarbeit (Gutachter: sches Monatsheft für Heimat und Kultur, Jg. 2/1955, H. 10, S. Prof. Dr. K.-Ch. Lingelbach), 1982. 11-14. reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

36

Adolf Reichweins Pädagogik 1. Was waren schuldhafte ÄVersäumnisse³? Reichweins Hinweis auf schuldhafte ÄVersäumnisse³ der Zukunft verbindet die Entscheidung für den subversiven Wider- stand, zu dem sich die ÄKreisauer³ im Winter 1943/44 durchrangen, mit der Entscheidung des jungen Dozen- ten Reichwein an der Pädagogischen Akademie Halle Am Nachmittag des 9. April 1944, einem Ostersonntag, im Oktober 1930, sich am ÄTageskampf³ zur Vorwärts- bedankt sich Adolf Reichwein in einem Brief aus Krei- verteidigung der Weimarer Republik zu beteiligen. Der sau, wo die Familie im Gut des Grafen Moltke nach ih- entscheidende Grund war der Ausgang der rer Ausbombung in Berlin Unterkunft gefunden hatte, Reichstagswahlen, die zwei Wochen zuvor, am 14. bei seinem Schwiegervater Ludwig Pallat in Göttingen September, stattfanden. Unter den zunehmend für alle für die Zusendung eines Buches. Es handelte sich um spürbaren Folgen der Weltwirtschaftskrise war die den Band: ÄSozialpädagogik³ aus dem fünfbändigen NSDAP durch breiten Zustrom bürgerlicher Wähler mit ÄHandbuch der Pädagogik³, das Pallat, bis 1938 Leiter 18,3 % der Stimmen zur zweitstärksten Partei hinter der des ÄDeutschen Zentralinstituts für Erziehung und Un- SPD mit 24,5 % aufgestiegen und hatte damit die politi- terricht³, zusammen mit Herman Nohl, dem Haupt der sche Gesamtkonstellation der Republik grundlegend Göttinger Pädagogik, herausgegeben hatte. ÄMeine verändert. Erstmals wurde es durch das Zusammen- Taktik war in den letzten Jahren ja so angelegt³, spiel der gewalttätigen Massenbewegung Hitlers mit mi- schreibt der Schwiegersohn, Ädass ich durch Vorträge litant antidemokratischen Gruppen der Konservativen und Lehrgänge draußen im Lande ständig Unruhe möglich, auf quasi legalem Weg das demokratische schuf, die Augen und Gedanken der Zuständigen dar- ÄSystem³ zu beseitigen und eine faschistische Diktatur auf hin lenkte, dass im Kreis der musischen Erziehung zu errichten. Mit der Weimarer Staatsverfassung waren noch der Einbau der Werkerziehung fehle und dass es aber zugleich die rechtlichen und politischen Grundla- hier um den gegenständlichsten Zweig der gesamten gen aller Richtungen freiheitlicher Pädagogik bedroht. Ausdruckspädagogik gehe.³ In dieser Situation, in der die Mehrzahl wissenschaftli- Dass die Lösung der Aufgabe den Sturz der Diktatur cher Pädagogen sich von der Republik vorsichtig oder voraussetzte, dass es sich daher bei dem bereits er- offen distanzierten, trat Reichwein der SPD bei. probten pädagogischen Konzept um ein Projekt für die Beeinflusst vom Kreis der Religiösen Sozialisten um Zeit nach Hitler, ein Zukunftsprogramm also, handelte, Carl Mennicke und Paul Tillich in Berlin und Frank- daran lässt Reichwein am Ende des Briefes keinen furt/Main schloss er sich innerhalb der Partei der Oppo- Zweifel. Bemerkenswert offen spricht er seine Rolle im sition gegen den attentistischen Kurs der Parteiführung Widerstand an: ÄEs wartet überhaupt viel auf mich [«]. an, der insbesondere von den Jungsozialisten und dem Manchmal beneide ich die, die sich auf ihre Bücher zu- Leuchtenburg-Kreis um Fritz Borinski vorgetragen wur- rückziehen und es andern überlassen, um die Zukunft de. Als Sprecher dieses Parteiflügels und Repräsentant im Tageskampf zu stehen. Aber in der Entsagung stärkt von Tillichs Organ ÄNeue Blätter für den Sozialismus³, mich die Überzeugung, daß Zeitalter erst erfüllt werden dessen Beirat er seit 1930 angehörte, agierte Reich- können, wenn die Schwelle erkämpft ist. Und je selte- wein öffentlichkeitswirksam in zahlreichen Diskussionen ner die Kämpfer sind, umso mehr Verantwortung liegt und literarischen Beiträgen für die Weiterführung der auf den Wenigen. Was der Mangel an Kampfgeist an demokratischen Staatsform. Mit Carlo Mierendorff, Versäumnissen herauf beschwört, habe ich in meinem Theodor Haubach und dem jungen Willi Brundert plä- Leben nachdrücklich erfahren [«]. Was mich betrifft, so dierte er angesichts der zugespitzten Lage Ende 1932 möchte ich nicht mit Schuld tragen an diesen Versäum- für die Umwandlung der ÄNeuen Blätter³ in die offensive nissen.³ (Reichwein 1999, S. 231f.) ÄSozialistische Aktion³. Die Briefstellen werfen drei Fragen auf: Attraktiv wurde die Argumentation Paul Tillichs für 1. Was meint der Briefschreiber mit seinem Hin- Reichwein vor allem dadurch, dass der Frankfurter Phi- weis auf ÄVersäumnisse³, an denen er nicht losoph in seinen Überlegungen über Auswege aus der mit Schuld tragen wollte? Weltwirtschaftskrise die Lösung der Eigentumsfrage an 2. Was verstand Reichwein unter Werkerzie- den Produktionsmitteln zugunsten der Industriearbei- hung? terschaft mit der Würdigung traditioneller ÄBindungen³ 3. Welche konkreten Vorstellungen verband er der Bürger, Bauern, Angestellten und nicht zuletzt der mit der unklaren Rede über ÄZeitalter³, die erst Industriearbeiterschaft selbst in Übereinstimmung Äerfüllt³ werden könnten, wenn die ÄSchwelle³ brachte. Der Begriff Äreligio³ wird hier nicht primär spiri- erkämpft war? tuell, sondern im sozialpsychologischen Sinne wörtlich als emotionale Bindung ausgelegt: Bindungen der Menschen an ihre Familien, an ihre Heimatorte, die Kul- reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

37 tur bestimmter Regionen und an ihre Nation, die durch ner Reformpädagogik zu entwickeln, ist schon erstaun- Entfremdungsprozesse der Modernisierung zwar be- lich. Nach seiner Entlassung aus dem Hallenser Pro- droht seien, aber noch bestünden. Die Wahrung dieser fessorenamt hatte Reichwein die Schule am 1. Oktober sozialen Bindungen stand nach Reichweins Auffassung 1933 übernommen. Dargestellt hat er den Profilie- keineswegs im Widerspruch zur Notwendigkeit gesell- rungsprozess der Einklassigen in seinen bekanntesten schaftlicher Strukturreformen, sondern machte diese Schriften: ÄSchaffendes Schulvolk³ (1937) und ÄFilm in überhaupt erst zu einer realistischen, von der überwie- der Landschule³ (1938). Natürlich war das nur möglich genden Mehrheit der Bevölkerung getragenen Perspek- in einer mehrdeutig auslegbaren Tarnsprache, mit der tive. Der nach vorn, auf die Zukunft einer humanen In- er die Verschwommenheit der offiziösen Ideologien und dustriegesellschaft gerichtete Politikansatz bot zugleich die internen Machtkämpfe der NS-Eliten zu nutzen die Chance, der rückwärtsgerichteten Agitation des re- verstand. Andererseits waren mit der Camouflage Fehl- publikfeindlichen Lagers, das Tillich treffend als Äpoliti- interpretationen während der Nachkriegszeit nahezu sche Romantik³ kennzeichnete, argumentativ entgegen vorprogrammiert. Liest man aber die Originaltexte so zu treten. Denn deren Demagogie, die den Menschen genau, wie das eine Werkedition erfordert, überrascht einzureden versuchte, man könne durch die Restaura- immer wieder die Präzision, mit der Reichwein durch tion vorindustrieller Verhältnisse die Krise überwinden, die Kombination von Fotos und Texten die pädagogi- habe in Wirklichkeit keine Perspektive, es sei denn den schen Vorgänge nicht nur dokumentiert, sondern erzie- ÄRückfall in die Barbarei³ eines neuen Weltkrieges (vgl. hungstheoretisch authentisch auslegt. Lingelbach 1998, S. 541 ff.). Seinen werkpädagogischen Ansatz realisiert der Tie- In seiner Abhandlung: ÄDie sozialistische Entschei- fenseeer Lehrer durch die Verbindung kursorischen dung³, die bald nach ihrer Publikation im Januar 1933 Fachunterrichtes mit einem Gefüge fachübergreifender verboten wurde, stellt Tillich diese Vorhaltung an das Projekte, die er seinem Jenenser Freund Otto Haase deutsche Bürgertum scharf heraus. Mit ihrem Protest folgend, als ÄVorhaben³ auslegt. Ins Zentrum gerät da- gegen Ausbeutung und Unterdrückung, argumentiert bei das Handlungsproblem, die ÄWerkfähigkeit der Kin- der Frankfurter Hochschullehrer, durchbreche die der³ auf ihren Lernwegen in der einklassigen Dorfschu- Arbeiterbewegung die permanente Reproduktion der le so zu fördern, dass jede einzelne Schülerin und jeder bestehenden Verhältnisse und sei daher in der Lage, einzelne Schüler in anspruchsvollen Arbeitsgruppen einen Ausweg aus der Krise aufzuweisen. Da es sich nicht nur erfolgreich beteiligen kann, sondern in gegenwärtig darum gehe, die humane Perspektive der zweckdienlichen Beiträgen zu seiner individuellen Form Moderne wenigstens offen zu halten, müsse vom deut- findet. Ihre Faszination und überzeitliche Relevanz ver- schen Bürgertum im Eigeninteresse der Weiterführung danken die ÄVorhaben erster Ordnung³, das waren seiner aufgeklärten Zivilisation erwartet werden, dass Kombinationen von Teilvorhaben, die über ein Schul- es sich bei der unmittelbar bevorstehenden Entschei- halbjahr hinausliefen, nicht allein ihrer gründlichen pä- dung doch noch an die Seite der Arbeiterbewegung dagogischen Fundierung. Weit über Reichweins Le- stelle. Die Tatsache, dass das deutsche Bürgertum, benszeit hinaus sind vielmehr die Themen bedeutsam zumal das Bildungsbürgertum derart klarsichtige War- geworden, die er in den sieben vorgestellten Großpro- nungen überhörte und den verhängnisvollen Weg ins jekten bearbeitet. ÄDritte Reich³ antrat, machte zweifellos jene ÄVersäum- Der Ort in diesem didaktischen Gefüge, an dem die nisse³ aus, an deren Schuld Reichwein nicht mittragen Landkinder lernten, dass sie in Wirklichkeit in einer mo- wollte. So blieb 1944, als der Krieg längst verloren und dernen, weltweit vernetzten Industriegesellschaft auf- die Ausmaße der Barbarei offenkundig geworden wa- wuchsen, das waren die Vorhaben des Winterhalbjah- ren, für politisch verantwortliches Handeln der allein ge- res, die, im Unterschied zu sommerlichen Unterneh- lassenen Wenigen nur noch der Weg in den subversi- mungen draußen im Freien, im Schulhaus selbst statt- ven Widerstand. fanden (vgl. Lingelbach 2001). Die beiden Großvorhaben gehen von Fragen aus der 2. Wie verstand Reichwein Werkerziehung unter der Lebenswelt von Kindern aus. NS-Herrschaft? 2.1. Im ersten Großvorhaben geht es um die räumliche Wie Briefe und Zeitzeugenaussagen belegen, hat Horizonterweiterung der Landkinder. ÄEines Winters³, Reichwein die klare politische Position auch nach 1933 schreibt der Pädagoge, Ähaben wir das Fliegen und die konsequent beibehalten. Dass es ihm gleichwohl ge- Fliegerei zum Leitmotiv unserer erdkundlichen Arbeit lang, mit den etwa 40 Schülerinnen und Schülern, meist gemacht.³ Ä>«].mannigfaltige Vorarbeiten lagen bereit Kinder von Landarbeitern und Bahnarbeitern, in der und bedurften nur der Zusammenfassung, der inneren einklassigen Landschule von Tiefensee, ein weithin, Zuordnung auf das leitende Motiv. Ja, die Gelegenheit auch international bekannt gewordenes Modell moder- ließ sich noch weiter spannen: der fliegende Mensch reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

38 als geschichtliche Erscheinung, als Gestalt, ist ja be- einklassigen Dorfschule in Deutschland vermitteln? Hier reits von unserem Wissen um die Erde nicht mehr zu half dem Pädagogen ein genialer Einfall. Im Plural ma- trennen. Er hat Teil an der endgültigen Eroberung des jestatis des Schulberichts liest er sich so: ÄIn Rositten äußeren Bildes, er ist tausendfach verwoben in das hatten wir ja selbst auf unserer Ostpreußenfahrt die raumpolitische Schicksal des Planeten. Im Menschen- Vogelwarte besucht«Auf der Nehrung wohnten sie flug sind verkörpert und unlöslich verkoppelt mensch- doch als Nachbarn nebeneinander: Vogelforschung und lich- geschichtliches Schicksal und geopolitische Ges- Segelfliegerei. Wir paarten Bilder von Segelflugzeugen taltung.³ ÄErdkunde im weiten Sinne des Wortes vom und Vögeln im Flug, verglichen sie [«] und hörten von fliegenden Menschen her nacherleben bedeutet, deut- engen Beziehungen, die zwischen der Flugtechnik der sches und menschliches Schicksal geopolitisch sehen Vögel und den Fluginstrumenten der Menschen beste- lernen.³ (Reichwein 1937, 43 ff.) hen.³ Reichweins Freund Hans Bohnenkamp hat in seiner - Hier beginnt der zweite Abschnitt des Lernweges: Das Nachkriegsausgabe von ÄSchaffendes Schulvolk³, das Vorhaben ÄAfrika³. ÄWir folgten in Gedanken den zwischenzeitlich obsolet gewordene Adverb Ägeopoli- Störchen aus Rositten bis nach Südafrika, griffen zum tisch³ durch Äweltpolitisch³ ausgetauscht, um das Er- Vergleich nach der Karte der Luftverkehrslinien und scheinen des Bandes zu sichern. Mit derartig wohlwol- fanden zu unserer Überraschung, dass die großen eu- lenden Manipulationen des Textes wurde aber, wie Ya- ropäisch-afrikanischen Luftstraßen des Menschen und suo Imai, ein Kollege aus Tokio bemerkt, gerade die die der Zugvögel sich fast deckten [«]. So spannte sich Widerständigkeit der Reichwein¶schen Begriffsausle- vor unseren Augen ein fliegerischer Rahmen, von dem gungen verdeckt (Imai 2004) In diesem Fall wird den dann binnenwärts bis ins Herz des schwarzen Erdteils Schulkindern die Zukunftsaufgabe ihrer Generation vor die transafrikanischen Linien der Air France strahlten Augen gestellt, die raumpolitische Organisation des und die Flugwege der Störche nach Senegal und Ni- Planeten so anzugehen, dass die Erde als ÄWohnraum ger.³ der Menschen³ (Reichwein 1937, S. 28) nicht bedroht, Welche Kulturlandschaften überblickten die Piloten dort sondern für alle sinnvoll eingerichtet wird. auf dem Nachbarkontinent? Diese pädagogische Absicht wird im Großvorhaben ü- Gründlich vorbereitet durch Informationsmaterial, wie ber den Äfliegenden Menschen³ in vier großen Arbeits- es den Schulkindern in Tiefensee zugänglich war: vom schritten realisiert: Die aktuelle Relevanz dieser Päda- Besuch des Kolonialwarenladens über Beilagen in Ta- gogik wird unmittelbar klar, wenn man sich die Mühe geszeitungen und Illustrierten, den Heftchen des Hill- macht, diese vier Lernphasen nachzuvollziehen. ger-Verlages über deutsche Afrikareisende und natür- - Der erste setzt mit der Frage ein: ÄWie sieht der Flie- lich Brehms Tierleben, bauten die Kinder nach dem er- ger eigentlich unsere Heimat?³ Die Schülerinnen und probten Verfahren ein Relief. Wieder wurde der Lehm- Schüler gehen ihr eigentätig durch den Bau eines 2x2m kern der Urlandschaft überwölbt durch die Plastik der Reliefs der Äengsten Heimat³ mit Hilfe des Messtisch- Oberfläche, wie sie die Flugpiloten sahen. Unüberseh- blattes nach. Über den Lehmkern, der die eiszeitlich bar war dabei die Aufteilung des gewaltigen, entstandene geologische Struktur der Landschaft abbil- landschaftlich vielgestaltigen Kontinents in Äriesige dete, zogen sie die Plastik ihrer gegenwärtigen Heimat Kolonialzonen³, wie der englischen im Osten und der mit den farbig symbolisierten Seen, Wäldern, Straßen, französischen im Westen. Sichtbar wurde damit Eisenbahnlinien und dann den Häusern des Dorfes zugleich, dass das eigene Land seine Rolle als selbst. Alles wurde angefertigt in Schichten aus Papier Kolonialmacht verloren hatte. Hier war der Lernweg an und Leim. Am Ende ließ sich die Plastik vom Lehmkern einer heiklen Weggabelung angelangt. Folgte abheben und die Kinder hielten in ihren Händen, was Reichwein dem Wegweiser, den die neoimperiale der Flieger sieht: ÄKultur in der Landschaft³. Mit ihrem Tendenz der zeitgenössischen Geopolitik und die Werk hatten sie aber zugleich ein Verfahren entwickelt, Richtlinien für den Erdkundeunterricht verbindlich wie sie selbstständig, durch eigenes Messen, Berech- vorschrieben, dann mussten jetzt die Rück- nen und handwerkliches Gestalten relativ unbeeinflusst gabeforderungen der deutschen Kolonialpolitik im Sin- von den Vormündern in den Massenmedien, auch an- ne des ÄLebensraumgedankens³ zur Sprache gebracht dere Landschaften rekonstruieren konnten, wie sie die werden (vgl. Higelke 1940, S. 153, S. 159; Dith- Piloten der Verkehrsmaschinen auf ihren langen We- mar/Schmitz 2003, S. 231ff.). Davon aber ist in Reich- gen sahen, die über den Heimatort hinweg, nationale weins Projektbeschreibung nicht die Rede. Problemati- und europäische Grenzen überquerend, bis in den süd- siert werden die werkpädagogisch erreichten Befunde lich Nachbarkontinent vorstießen. vielmehr in einer ganz anderen, global ausgreifenden Wie aber konnte man diese Erkenntnischance, Realitä- Richtung. Verglichen wird die ÄZersplitterung des euro- ten des sich bereits ankündigenden globalen Zeitalters päischen Luftverkehrs³ mit dem Äeinfach gefügten, im Winter 1935 den Schülerinnen und Schülern einer transkontinental bestimmten Luftverkehrsnetz Nord- amerikas³. reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

39

Wieder hilft der Bau eines Reliefs, die räumliche Be- lichen Untersuchungen und zu Einführungen in die dingtheit der Linienführungen zu veranschaulichen. A- Flugphysik im Zusammenhang des Baus von Segel- ber die Zweckmäßigkeit des amerikanischen Luftver- flugmodellen. Die Präzision der Arbeit zahlte sich aus. kehrs wird den Schülerinnen und Schülern durch ihre Am Ende waren zahlreiche einfache und anspruchsvol- Arbeit klar, setzt die politische Einheit des Kontinents lere Flugmodelle entstanden, die ihre Flugtüchtigkeit voraus. Denn die zielgerichteten Ost-West- und Nord- erwiesen. Süd-Gliederungen der großen Flugverkehrslinien Äver- Die hohe Motivation, Arbeitsfreude und das Durchhal- mitteln das Bild eines auf den Großraum zugeschnitte- tevermögen der Schulkinder, die der Pädagoge bei die- nen Systems³. Gerade im ÄVergleich mit dem dichten, ser Werkarbeit beobachtet, erklärt er an zentraler Stelle auf nationale Verkehrskreuze bezogenen Liniennetz seines Buches so: Europas wurde deutlich³, resumiert Reichwein vorsich- ÄDas Werk als die angestrebte Form unseres Schaf- tig, Äwie die natürliche und die politische Gestalt eines fens, als die wertvolle Bestätigung unseres Könnens, Erdteils seinen Verkehrscharakter bestimmen.³ als die endgültige, ausgereifte Lösung einer Aufgabe - Wie die Veränderungen der Landschafts- und Sied- und das schließlich gewonnene nützliche Ding, die lungsformen im eigenen Land, in Deutschland, aus Antwort auf unseren Bedarf, gilt auch dem Kind schon der Fliegerperspektive erfasst werden können, unter- als die Höchstform der Leistung. Ein ganzer Kanon, ei- suchten die Arbeitsgruppen dann auf dem dritten Ab- ne Summe von einfachen Formen des Tuns müssen schnitt des Vorhabens. Der von der Lebenswelt der vorgebildet, jede von ihnen durch Übungsfolgen gefes- Kinder ausgegangene Lernweg kehrt nun, nach dem tigt und gesichert sein, damit sich im Wesen des Kindes Erreichen eines erheblich erhöhten Kenntnisstandes, die Fähigkeit verdichtet, erfolgreich Ãans Werk¶ zu ge- wieder zu ihr zurück. Als Medium nutzten sie diesmal hen. Es wirklich zu können, ist die Voraussetzung da- hauptsächlich Reliefdarstellungen und Luftbilder. Aus für, dass es mit Lust geschehen kann. Diese Lust aber, der Fliegerschau gewannen sie ein Bild von der Einheit im spätesten Kindesalter erst in verpflichtendes Tun einer vielgestaltigen Landschaft: ÄDer Standort der umsetzbar, ist die Bedingung für das Durchhalten, den Städte wurde einleuchtend, weil er sich aus dem Bau Ãlangen Atem¶, der zu jedem Werk gehört. All jene der Landschaft ergab, die Standortbildungen der In- Kleinformen des Spiels und der Übung, die wir einset- dustrien an die Gewässer wurde uns am Reliefbild un- zen, damit die Grundtugenden des Ordnungssinns, der mittelbar begreiflich, wenn wir sahen, wie sich die alten Genauigkeit und Sauberkeit, alle das Streben nach kleingewerblichen Bildungen Württembergs und Thü- dem Endgültigen in sich enthaltend, sich im Kinde nie- ringens den kleinen Gebirgswässern anschmiegten und derschlagen, bekommen ihren Sinn und ihre innere wie auch die großindustriellen Ballungen der Rhein- Rechtfertigung, ihre Brauchbarkeit erst, wenn sie auf Main-Landschaft sich des breiten Verkehrsbetts füh- Werkschaffen gerichtet sind.³ (Reichwein 1937, S. 17) render Ströme bedienen. Eine ganze Wirtschaftskunde In diesem Fall wurde die Freude der Kinder über die Deutschlands erschloss sich uns aus diesen Bildern gelungenen Arbeiten durch deren öffentliche Dokumen- ÃWie sie der Flieger sieht¶³. tation noch erhöht. Am 27. Januar 1936 stellten sie ihre In Wirklichkeit wachsen sie in einer modernen Gesell- Flugmodelle auf der ÄReichsausstellung Luftfahrt und schaft heran, lernen die Landkinder, deren Siedlungs- Schule³ vor, die in den Räumen des ÄDeutschen Zent- formen, Arbeits- und Wohnverhältnisse sich in einem ralinstituts für Erziehung und Unterricht³ stattfand. Er- rasanten Wandel befinden. Das Nebeneinander von öffnet wurde die Ausstellung durch den Erziehungsmi- modernen, sich ausweitenden Industriezentren und tra- nister Rust und den Luftfahrtminister Göring, dem spä- ditionellen Dorfformen zeigen den Wandlungsprozess teren Reichsmarschall. Nach den Reden der Minister an. Und derartige Veränderungen der Moderne kann beginnt deren Führung durch die Ausstellung und Gö- man auch in anderen Ländern aus der Fliegerperspek- ring blieb vor dem Stand der einklassigen Landschule tive wahrnehmen, sogar in Afrika: Den sichtbar ge- Tiefensee stehen. Für die folgende Szene gibt es einen machten Vorgang kennzeichnet Reichwein als ÄZivilisa- prominenten Zeugen. Der Hausherr Ludwig Pallat no- tion³. Damit wählte er bereits den gleichen Begriff, den tiert am Abend nach der Ausstellungseröffnung in sei- der Historiker Karl Schlögel im soeben erschienenen nem Tagebuch: ÄZur Ausstellung von Edolfs Schule³ - Buch über wiederentdeckte Erkenntnischancen der der Schwiegervater bevorzugt, wie die meisten Reich- Geopolitik unter dem Titel ÄIm Raume lesen wir die Zeit³ wein-Freunde die amerikanische Aussprache des Vor- als ÄZivilisationsgeschichte³ aufgreift (Schlögel 2003). namens - Äsagt Rust: ÃFabelhaft!¶ und zu Göring ge- - Im abschließenden vierten Teilvorhaben wendet sich wandt: ÃDas deutsche Volk ist doch nicht tot zu kriegen!¶ die Lerngruppe den Aktionsformen und Instrumenten >«]. Göring, dem Rust erklärt, was eine einklassige des Äfliegenden Menschen³ selbst zu. Das Wissen Landschule ist, fragt Edolf, wie er es mache, Kinder von um die Abhängigkeit des Fliegens vom Luftdruck, von 6-14 Jahren gleichzeitig zu unterrichten. Edolf darauf: Temperaturen und Niederschlägen führt zu wetterkund- ÃDas ist eine Kunst¶³ (vgl. Lingelbach 2004, S. 13). reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

40

Die Antwort war mit Bedacht gewählt. Vor dem Hinter- Als Schlüssel zum Verständnis des komplexen Ge- grund beschleunigter Wiederaufrüstung stand Professi- schehens diente offenbar die auf der Mittellinie des onalität, auch im Schulbereich, bei den NS-Machteliten Streifens beschriebene Entwicklung der Wirtschafts- damals wieder hoch im Kurs. Reichwein nutzte den formen. Verfolgt man etwa die Naturalwirtschaft des Trend bewusst, um die Weiterführung des pädagogi- frühen zur Geldwirtschaft des späteren Mittelalters auf schen Modellversuchs politisch abzusichern. Konnten dem Abschnitt des Bandes, der dem Zeitraum von 1000 dadurch die unüberbrückbaren Gegensätze noch ver- bis 1500 n. Chr. gewidmet ist, wird es leicht, den Wan- deckt bleiben, war das im Falle des zweiten, historisch del des Bauern- und Handwerkerstandes unter sich gerichteten Wintervorhabens nicht mehr der Fall. verändernden Herrschaftsformen: dem Lehenswesen, den Kaisern und Päpsten bis zum Aufkommen der 2.2. Die Horizonterweiterung der Landkinder in der Stadtherrschaft und der mächtigen Hanse zu begreifen. räumlichen Dimension ergänzt Reichwein hier Einen Hinweis auf die didaktische Idee, der diese Aus- durch die zeitliche. Auch in diesem Zusammenhang wahl und Anordnung der Inhalte entsprang, bietet die greift die Kombination von Fachunterricht und Projekt- Einleitung zu Reichweins ÄRohstoffwirtschaft der Erde³ arbeit Anlässe aus der Lebenswelt der Kinder auf. Ein von 1928, dem wissenschaftlichen Ertrag seiner For- Beispiel ist das Hausbauvorhaben: schungsreise durch Nordamerika, an asiatische Küsten ÄBei Museumsbesuchen, Bildbetrachtungen, auf Groß- und durch Mexiko 1926/27. Das Erkenntnisinteresse fahrten nach Ostpreußen und Holstein waren wir³, re- der wirtschaftsgeographischen Untersuchung läuft dar- konstruiert Reichwein den Ansatz, Äauf die Frage ge- auf hinaus: in der Beschreibung schon Ädie Dynamik stoßen, wie denn wohl der Bau der menschlichen Be- der Dinge, mit denen wir es zu tun haben, bloß zu le- hausung von jeher innerlich mit der sozialen Ordnung, gen.³ Den hierzu erforderlichen methodischen Zugriff den natürlichen und wirtschaftlichen Bedingungen ± charakterisiert er als Ärealsoziologische Betrachtung und in späterer Linie erst mit dem Stand der Technik - des Raumes und der Zeit, in die wir gestellt sind, eine zusammenhinge.³ (Reichwein 1937, S. 41ff.) methodisch richtige Erfassung des hier und heute, das Das historische Wissen für die manuelle Herstellung in der ökonomischen Tatsachenwelt wirksam ist³ bäuerlicher Hausformen aus verschiedenen Zeitaltern (Reichwein 1928, S. VII ff.). wird im parallel laufenden Geschichtsunterricht vermit- Für Außenstehende verborgen, treffen wir die telt und auf einem Geschichtsfries, dem ÄLaufenden realsoziologische Betrachtung in den historisch Band der Geschichte³, fixiert. Die Schülerinnen und gerichteten Vorhaben der Modellschule Tiefensee Schüler befestigen es an der Wand ihres Klassenzim- wieder an. Mit ihren Sinnen und kognitiv begreifen die mers. Auf diesem Weg mit ihren Händen, durch den Schülerinnen und Schüler, wie ihre Vorfahren in das Bau der Hausformen ihrer Vorfahren, und zugleich mit wirtschaftliche und politische Geschehen verwickelt ihren Köpfen, indem sie nach den jeweils vorgegebe- waren. Die sich wandelnden Wirtschafts-, Sozial- und nen sozialen Ordnungen, den natürlichen, ökonomi- Herrschaftsformen, können sie auf dem ÄLaufenden schen und gesellschaftlichen Bedingungen der Bauten Band der Geschichte³ verfolgen, wurden nicht von den fragten, entstand ein sozialhistorisches Geschichtsbild, Angehörigen des arbeitenden Volkes der Bauern und das die Schulkinder ohne Schwierigkeiten entziffern Handwerker, sondern stets von anderen bestimmt: von konnten, nicht ohne weiteres dagegen außenstehende Kaufleuten, Ratsherren, Adeligen und Fürsten. Ihre Inspektoren der Schule. Denn die Entwicklungen der Vorfahren selbst waren meist Objekt, nicht Subjekt des Werkzeuge und Arbeitsverhältnisse werden in relativ Geschehens. Am Reichtum der Kultur, die der kleiner Schrift gekennzeichnet, während der Überbau wirtschaftliche Fortschritt hervorbrachte, partizipierten der politischen Geschichte in großen Lettern, anschau- sie lediglich in abhängigen Positionen, am Wohlstand lich unterstützt durch Bildkollagen hervorgehoben wird. nur wenige von ihnen und auch nur zeitweilig: während So erscheint der Tiefenseeer Geschichtsfries gegen- der Blütezeit des deutschen Handwerks im 15. und 16. über geltenden Richtlinien wie ein unzureichend ver- Jahrhundert etwa. schleiertes Kontrastprogramm. Lässt man sich von der Der Übergang zu Untersuchungen zeitgenössischer vordergründigen Anordnung der Bilder und Texte nicht Arbeitsverhältnisse während der Weimarer Republik täuschen, wird erkennbar, dass seine Konstrukteure und unter der gegenwärtigen NS- Herrschaft war ge- von einer Verallgemeinerung der Ausgangsfrage des funden. Aber genau hier bricht das ÄLaufende Band der Hausprojekts ausgegangen sein müssen: ÄWie hängt Geschichte³ ab (vgl. Lingelbach 1997, S. 219ff.). menschliche Arbeit mit der sozialen Ordnung, den na- Die didaktische Leerstelle dokumentiert den Wider- türlichen und wirtschaftlichen Bedingungen und in spä- spruch der auf Förderung selbstständigen Handelns terer Linie mit dem Stand der Technik zusammen?³ und Denkens angelegten Schulpädagogik Reichweins Und diese Frage haben die Arbeitsgruppen über die zur Politik der Diktatur, einen Antagonismus, der, wie Abfolge der verschiedenen Geschichtsphasen verfolgt. dem Lehrer bewusst war, durch Taktieren im internen reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

41

Konfliktfeld des Machtapparates nicht mehr zu überbrü- darität und patriotisches Selbstbewusstsein bahnten cken war. Die Offenlegung und volle Entfaltung seiner sich an (vgl. Reichwein 1938 b). pädagogischen Konzeption war daher erst möglich, Verlängert man die Perspektive sozial verantwortlicher wenn die ÄSchwelle³ für den rechtstaatlich- Marktwirtschaft in die Nachkriegszeit, wird klar, dass demokratischen Neubeginn erkämpft war. Hier lag si- die in Tiefensee konzipierte Werkpädagogik nicht auf cher einer der tieferen Gründe dafür, dass Reichwein die Restauration der tradierten Sozialordnung, sondern 1939 die Offerte, als Leiter der Schulabteilung des auf einen längerfristigen gesellschaftlichen Reform- und Volkskundemuseums nach Berlin zu wechseln, akzep- Lernprozess zugeschnitten war, in dem sich die demo- tierte und den Modellversuch Tiefensee abbrach (vgl. kratische Gesellschaft erst neu herausbilden sollte. Amlung 1999). Dem entsprechend wird die Einmündung der Schüle- rinnen und Schüler in die Arbeitswelt bereits im Schul- 3. Welche konkreten Vorstellungen verband Reich- bericht auch nicht als Integration, sondern als ÄBewäh- wein mit seiner unklaren Rede über ÄZeitalter³, de- rung³ erworbener Kompetenzen verstanden. Reich- ren ÄSchwelle³ erst erkämpft werden müsse, um sein weins Vorstellung eines demokratischen Neubeginns pädagogisches Konzept in der Nachkriegszeit weiter ging demnach von einer lebendigen Wechselbeziehung entwickeln und verbreiten zu können? Dass hierzu die politischen und pädagogischen Handelns aus, die dar- Wiederherstellung eines demokratisch verfassten auf abzielte, die Dynamik des modernen Kapitalismus Rechtsstaates als erste Voraussetzung gehörte, steht zu nutzen, ihr aber eine humane Perspektive abzuge- außer Zweifel. Reichweins politische Äußerungen vor winnen, die außenpolitisch Frieden, innenpolitisch die 1933 und in den Dokumenten des Kreisauer Wider- Beteiligung aller Bürger an der Weiterentwicklung der standskreises weisen aber darauf hin, dass er von der Gesellschaft auch im ökonomischen Bereich sicherte. Zeit nach Hitler mehr erwartete. Amerika zwinge mit Bis heute ist die politisch-pädagogische Aufgabe, die seinen enormen Produktionskapazitäten den modernen uns Reichwein hinterließ, im wesentlichen unerledigt Industrieländern ihr ÄEntwicklungstempo³ auf und drän- geblieben. Die Probleme aber, die mit ihr bearbeitet ge sie in ein neues ÄStadium des Kolonialimperialis- werden sollten, haben sich inzwischen drastisch ver- mus³. Wirksam werde er nicht mehr primär durch die schärft. Die Häufung ökologischer Katastrophen, die Herrschaft über Räume als vielmehr durch ÄKontrolle wachsende Kluft zwischen armen und reichen Bevölke- über die Rohstoffgewinnung³, vor allem im Bereich der rungsgruppen, immer brutaler militärisch ausgetragene ÄKraft- und Industriestoffe³, hatte er bereits 1928 fest- Konflikte um schrumpfende Rohstoffressourcen sind gestellt. Veranlassung genug, Reichweins Pädagogik der Zu- Deutschland als rohstoffarmes Land stehe in diesem kunft im Hinblick auf die inzwischen veränderten Ver- Prozess an einem ÄScheideweg³. Es habe die Chance, hältnisse kritisch zu rezipieren und weiter zu entwi- wenn es anstelle der Äimperialistischen Methoden³ die ckeln: Damit man künftig überall zurecht sagen kann, Parole Ägenossenschaftlicher Zusammenarbeit³ setze was der moderne ÄKlassiker der Pädagogik³ (vgl. Am- und durch weitere Intensivierung der hochentwickelten lung/Lingelbach 2003) den Tiefenseeer Schulkindern in Forschung die Produktion künstlicher Rohstoffe voran- einen Jahresplan schrieb: Das hier: die Erde ist der treibe, eine relevante weltpolitische Rolle zu überneh- ÄWohnraum der Menschen³. men (vgl. Reichwein 1928). In dieser Hinsicht geraten die kolonialimperialen Autar- Karl Christoph Lingelbach kiebestrebungen nicht nur Deutschlands, sondern auch anderer autoritär regierter Großmächte, wie etwa Ja- Literatur pans, während der 30er Jahre in das kritische Visier Amlung, U.: Adolf Reichwein 1898- 1944. Ein Lebens- des Weltwirtschaftsexperten. Hoffnungen setzte er auf bild des Reformpädagogen, Volkskundlers und Wider- die New Deal Politik Roosevelts. In dem Artikel: ÄAme- standskämpfers. Frankfurt/M. 1999. rikanischer Horizont³, der noch 1938 in der ÄDeutschen Rundschau³ erscheinen konnte, wird die Verantwortung Amlung, U. / Lingelbach, K. Chr.: Adolf Reichwein des demokratischen Staates für die Bewältigung öko- (1898-1944) In. Tenorth; H. E. (Hrsg.): Klassiker der nomischer Krisen und ihrer sozialen Folgen am Beispiel Pädagogik. Bd. 2: Von John Dewey bis Paolo Freire. des Tennessee Valley und der Mississippi Entwick- München 2003, S. 203 ff. lungsprojekte eindrucksvoll dargestellt. Reichwein be- schreibt die ökonomischen Interventionen des Staates Dithmar, R. / Schmitz, W. (Hrsg.): Schule und Unterricht nicht primär als Konjunkturprogramme, sondern hebt im Dritten Reich. 2. Aufl. Ludwigsfelde 2001. ihre sozialpsychologischen Effekte hervor. Mobilisiert Gies, H.: Der Geschichtsunterricht im ÄDritten Reich³ werden neue Hoffnungen breiter Bevölkerungsgruppen: als völkische Weihestunde und historische Nabelschau. Arbeitslose wurden wieder gebraucht, eine neue Soli- In: Dithmar / Schmitz 2001, S. 207 ff. reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

42

Higelke, K.: Neubau der Volksschule. Plan, Stoff und Gestaltung nach den neuen Richtlinien des Reichser- PRESSESCHAU ziehungsministeriums. 2. Aufl. Leipzig 1941.

Lingelbach, K. Chr.: Adolf Reichweins politische Auf- fassungen und das Schulmodell Tiefensee. In: Rülcker, Ein Sohn des Widerstands T. / Oelkers, J. (Hrsg.): Politische Reformpädagogik. Bern, Berlin, Frankfurt/M. 1998, S. 541 ff. Als er acht Jahre alt war, hängten Nazis seinen Vater auf. Der Münsteraner Soziologe Roland Lingelbach, K. Chr.: Adolf Reichweins Schulpädagogik. Reichwein erinnert sich gerne an seinen Vater, In: Hüther, J. (Hrsg.): Vom Schauen zum Gestalten. den Widerstandskämpfer gegen Hitler Adolf Reichweins Medienpädagogik. München 2001, S. 45 ff.

Lingelbach, K. Chr.: Adolf Reichweins pädagogische Leicht ist es nicht, in diesen Tagen ein Interview mit Konzeption des Schulmodells Tiefensee. Schulentwick- dem Sohn des Widerständlers Adolf Reichwein zu be- lung unter Ansprüchen politisch instrumentalisierter Re- kommen. Besonders jetzt - kurz vor dem 60. Jahrestag formpädagogik. In: ReichweinForum, Nr. 4/April 2004, des Bombenattentats auf Hitler. Weil sein Vater Adolf S. 13 ff. Reichwein früh an den Umsturzplanungen beteiligt war, ist Professor Roland Reichwein in diesen Tagen ein Imai, Y.: Medienpädagogik Adolf Reichweins. Was be- sehr gefragter Gesprächspartner. deutet der Widerstand in der Pädagogik? Unveröffent- Im Arbeitszimmer des 68-jährigen Professors für Sozio- lichtes Manuskript 2004. logie - seit 1976 lebt und lehrt er in Münster - scheint auch Adolf Reichwein zuhause zu sein. Fotografien Reichwein, A.: Die Rohstoffwirtschaft der Erde. Jena seines Vaters stehen auf dem Bücherregal vor den vie- 1928. len Büchern über den deutschen Widerstand. Ein Ge- mälde zeigt den Widerstandskämpfer in jungen Jahren. Reichwein, A.: Schaffendes Schulvolk. Stuttgart. Berlin 1937. Kämpfer, das Wort passe schon gut zu seinem Vater, meint Roland Reichwein: "Der hat sich bis an die Gren- Reichwein, A.: Film in der Landschule. Stuttgart. Berlin zen der physischen Belastbarkeit für den Widerstand 1938. eingesetzt." Aktiv war Adolf Reichwein im Kreisauer Kreis - der Widerstandsgruppe um Helmuth Graf von Reichwein, A.: Amerikanischer Horizont. In: Deutsche Moltke und Peter Graf Yorck, die sich schon früh Ge- Rundschau, Jg. 64, Bd. 254, 1937/38, H. 5. Leipzig danken über die Zeit nach Adolf Hitlers Sturz gemacht 1938 (b). hatten. Reichwein selbst hatte schon in den zwanziger Jahren Reichwein, A.: Pädagoge und Widerstandskämpfer Verbindungen zu vielen politischen Gruppen unterhal- (1914-1944). Hrsgg. von Pallat, G../ Reichwein, R. / ten. Das habe ihm immer Spaß gemacht, dazu hatte er Kunz, L. Paderborn, München 1999. Talent, schwärmt Roland Reichwein: "Für die Zusam- menarbeit in dem Kreis war er der ideale Typ", - denn Schlögel, K.: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisa- der Kreisauer Zusammenschluss bestand aus Kirchen- tionsgeschichte und Geopolitik. München, Wien 2003. vertretern, Konservativen und jungen linksorientierten Menschen. "Dieses politische Spektrum findet man so oft nicht", sagt der Sozialisations-Theoretiker bewun- dernd. Ein Teil des Kreisauer Kreises stimmte dann für eine gewaltsame Entfernung Adolf Hitlers und suchte die Nähe zum Militär, insbesondere zu Stabsoffizier Claus Graf Stauffenberg. Reichwein gehörte dazu, genauso wie Yorck und der einstige SPD-Reichtagsabgeordnete Julius Leber. Durch einen Spitzel flog die Gruppe auf und wurde Anfang Juli 1944 verhaftet. reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

43

In der Gefangenschaft müssen die inhaftierten Männer auch von dem missglückten Attentat erfahren haben: Demokrat und Widerstands- "Meine Mutter hörte, dass mein Vater und die anderen hart vom Scheitern des Anschlags getroffen waren - die kämpfer wussten auch von der Bombe und hatten auf ein Gelin- Bürgermeister und dAK Gedenkeno würdi- gen gehofft", meint Roland Reichwein heute. gen Adolf Reichwein und Widerstand des 20. Juli Viel hätte seine Mutter aber nicht in Erfahrung bringen können - nur ab und zu seien kleine Zettel aus dem Ge- fängnis geschmuggelt worden. "Die Botschaften waren verschlüsselt, aber man konnte heraus lesen, dass er Nienburg (DH). Über eine ausgezeichnete Resonanz vom Überleben Hitlers wusste und darüber mehr als trotz Ferienzeit und Wetterlage freuten sich die Veran- traurig war." stalter der Gedenkfeier zum 20. Juli im Nienburger Rat- Am 20. Oktober wurde Adolf Reichwein von den Nazis haus. Eingeladen hatte der Arbeitskreis Gedenken zu gehängt. Roland Reichwein war damals acht Jahre alt. einem Vortragsabend über den mutigen Widerstand "Es ist gut, so einen Vater gehabt zu haben", sagt der insbesondere des so genannten Kreisauer Kreises ge- Sohn, "aber dadurch habe ich ihn allerdings nie gese- gen Hitler und das Nazi-Regime vor 60 Jahren. hen. Und ohne Vater aufzuwachsen, war nicht so gut." In seiner Begrüßung erinnerte Bürgermeister Peter Vorwürfe mache er ihm aber deshalb nicht. Brieber daran, dass die ÄMänner des 20. Juli³ nicht zu makellosen Helden hoch stilisiert werden dürften. In ih- Die Mutter musste sich und die vier Kinder alleine durch die schwierige Nachkriegszeit bringen. "Erfreulicherweise hatte sie einen Beruf gelernt und konnte als Krankengym- nastin etwas Geld verdienen", erinnert sich Roland Reich- wein. Trotzdem kamen die Kinder zu Verwandten und Bekannten: "Mein Vater hatte ja einen riesigen Freundes- kreis, das war unser Glück." Entschädigungszahlungen für die Familien der Widerstands- kämpfer habe es erst sehr Hartmut Reußwig, Dr. Ullrich Amlung, Dr. Klaus Schittko, Bürgermeister Peter Brieber und spät gegeben. "Das ist auch Cornelia Kramer (von links) Foto:privat ein Zeichen dafür, wie mit dem ren Persönlichkeiten werde die ganze Widersprüchlich- Widerstand nach `45 umgegangen wurde, die wurden keit der deutschen Geschichte sichtbar. Nicht alle seien ja erst als Landesverräter angesehen!" überzeugte Demokraten gewesen, einige gar anfäng- Seltsam findet Roland Reichwein auch, wie heute mit lich Anhänger Adolf Hitlers. Der Bürgermeister plädierte dem Widerstand vom 20. Juli umgegangen wird: "Der eindringlich dafür, beide Seiten der Wider- militärische Teil wird durch symbolische Handlungen standsbewegung ehrlich in das Gedenken einzubezie- hochgehalten, wie zum Beispiel durch das öffentliche hen. Gelöbnis im Anschluss an die Gedenkfeier in Berlin." Überzeugter Demokrat. ohne jede Abstriche war jedoch Der zivile Widerstand werde hingegen oft vergessen. der Mann, der im Mittelpunkt der Veranstaltung stand: "Paradoxerweise zeigt aber die Einladung zu einer der Pädagoge und Volkskundler Adolf Reichwein. Dr. Ausstellung des Militärgeschichtlichen Forschungsam- Klaus Schittko vom Arbeitskreis Gedenken, zugleich tes in Potsdam lauter Köpfe des zivilen Widerstands", Vorsitzender der Berliner Adolf-Reichwein-Gesellschaft, schmunzelt Reichwein Junior. hatte eine Ausstellung über Leben und Sterben des Widerstandskämpfers vorbereitet. Der Marburger Histo- HEIKO OSTENDORF riker Dr. Ullrich Amlung schilderte in einem Vortrag so- Aus: taz Ruhr Nr. 7408 vom 14.7.2004, wohl das pädagogische Schaffen Reichweins als auch sein Engagement für Demokratie und gegen die Dikta- tur. Beide Referenten betonten, Reichwein sei eine reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

44

Ausnahmeerscheinung im Kreisauer Kreis des Wider- stands gewesen: einer der Wenigen, deren Handeln auf Wer war Adolf Reichwein ? gesellschaftspolitischen Uberzeugungen beruhte, die weit über den damaligen militaristischen, nationa- Gedenkveranstaltung an der Adolf-Reichwein-Schule listischen und autoritären Obrigkeitsstaat hinaus wie- Freiburg sen. Der Abend schloss mit einer Lesung aus Briefen Reichweins, einige davon aus dem Kerker an seine Am 20.Juli 1944 missglückte das Attentat auf Hit- Frau. Ein ergreifender und nachdenklich stimmender Abschluss des Abends, dessen emotionale Intensität ler - am 4. Juli 1944 wurde Adolf Reichwein ver- durch .die musikalische Umrahmung mit Liedern von haftet und am 20.Oktober 1944 in µPlötzensee Bach (Gesang Klaus Schittko, Klavier Hartmut Reuß- hingerichtet. Das ist jetzt 60 Jahre her. Wir sind wig) noch vertieft wurde. stolz, dass unsere Schule den Namen eines so Die Ausstellung im Vestibül des Rathauses ist noch bis mutigen Mannes trägt. Wir haben den Film ³Der 17. August zu sehen. Mut des Fliegers³ angeschaut und viel über sein Leben erfahren. Aus: DIE HARKE, 171, 24.07.2004 Aus dem Aufsatz einer Schülerin:

ÄAdolf Reichwein ist 1898 geboren. Als der erste Welt- Gedenkveranstaltung krieg begann war er 16 Jahre alt. Mit 18 Jahren wurde er von Bombensplittern an der Lunge und an den Hän- in Eggersdorf den verletzt. Nach dem Krieg machte er eine Ausbil- dung als Lehrer. Er schrieb Bücher und hatte genug Geld, um sich ein Flugzeug zu kaufen. Er ist zweimal Am 20.Oktober fand in Eggersdorf eine Gedenkveran- mit dem Flugzeug abgestürzt, aber ihm ist nichts staltung des Vereins ³BürgerBildungBrandenburg³ an- Schlimmes passiert. Er arbeitete später als Lehrer in lässlich des 100. Todestages von Adolf Reichwein statt. einem Dorf bei Berlin, er ging mit seinen Schülern zum Es nahmen etwa 18 Personen teil. Der Vorsitzende des See, sie schwammen und lernten - aber nicht nur in der Vereins, Herr Heiko Krause, eröffnete. Es folgten zwei Schule, sondern ganz viel in der Natur. Als der Vorträge. Zunächst sprach Dr. Christoph Schlemmer, 2.Weltkrieg begann, kämpfte er gegen Hitler und seine Pfarrer der Gemeinde Petershagen-Eggersdorf, über Helfer. Er wollte mit seinen Freunden, die auch gegen die Biographie Reichweins und seinen Widerstands- Hitler waren, diesen töten. Aber am 4. Juli 1944 wurde kampf innerhalb des Kreisauer Kreises. er gefasst, noch vor dem Attentat, das leider nicht Anschließend sprach ich über Adolf Reichweins Tätig- klappte. keit in Tiefensee, seine pädagogischen Auffassungen Jemand verriet ihn. Er kam vor Gericht. Seine Stimme und seine schulpraktische Arbeit. versagte, und er stand da und konnte fast nichts sagen. In der nachfolgenden Diskussion meldeten sich zahlrei- Er wurde zum Tode verurteilt und am 20. Oktober 1944 che Einwohner zu Wort. Es ergab sich eine äußerst le- gehängt. Seine Frau blieb mit vier Kindern allein, die bendige, mit beachtlichem persönlichen Engagement jüngste Tochter war erst zwei Jahre alt.³ vorgetragene, z.T. auch kontroverse Diskussion beson- Julia Reitenbach 3c ders zu dem Problemkreis ÄReichweins Pädagogik und die gegenwärtigen Schulprobleme³. Besonders nach- Stadtteilzeitung Freiburg-Weingarten August/September 2004 drücklich wurde die Forderung nach einem früheren Beginn der Erziehung (Bildungsaufgaben des Kinder- gartens) gestellt, mehrere Frauen aus dem Ort beton- REICHWEIN-PREIS 2005 ten, dass Reichwein in seiner Schule in Tiefensee im Grunde das Modell einer ländlichen Ganztagsschule Pressemitteilung 25.05.2004 erprobt hat. Mit einem anwesenden Wissenschaftler der Humboldt- Universität, Bereich Grundschulpädagogik, vereinbarte ich weitere Kontakte, Insgesamt war es eine sehr inte- Potsdam (ddp-lbg). Das brandenburgische Bildungsmi- ressante und lehrreiche Veranstaltung. nisterium hat zusammen mit der «Stiftung Großes Wai- senhaus zu Potsdam» den Reichwein-Preis 2005 für Joachim Bodag pädagogische Arbeit ausgelobt. Der Wettbewerb stehe reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

45 unter dem Motto «Ungewöhnliche Begegnungen», sag- wird dort zum 60. Jahrestag der Hinrichtung A. Reich- te Bildungsminister Steffen Reiche (SPD) am Dienstag weins eröffnet. in Potsdam. Entgegen den Klagen über allzu lange Studienzeiten an Gesucht werden Projekte, die mit großem Engagement deutschen Hochschulen - es werden neue Generatio- neue, erfolgreiche Wege der schulischen oder außer- nen von Studierenden sein, welche die Dokumentation schulischen Pädagogik beschreiten. Der oft stille Wett- sehen können. bewerb um die Verbesserung der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen solle durch den Preis angeregt und Die Ausstellung kann auch weiterhin angefordert wer- an das Licht der Öffentlichkeit gebracht werden, erläu- den bei: terte der Minister. Der Preis ist mit 15 000 Euro dotiert. Ekkehard Geiger Vorschläge können durch alle Bürger eingereicht wer- Pädagogische Hochschule Freiburg den. Ein Formblatt kann bei der Stiftung «Großes Wai- Kunzenweg 21 senhaus zu Potsdam» angefordert oder aus dem Inter- net unter www.stiftungwaisenhaus.de herunter geladen 79117 Freiburg werden. [Einsendeschluss war der 1. Dezember 2004; Tel: 0761-682-285 d.R.] . e-mail: [email protected] Ekkehard Geiger

Am 17. Februar 2005 findet im Bibliothekszent- AUSSTELLUNG rum Klosterbau in Friedberg eine Gedenkfeier für Adolf Reichwein statt, in deren Rahmen auch die vereinseigene Adolf-Reichwein- Ausstellung im Friedberger Wetterau-Museum Reichwein-Ausstellung präsentiert wird. Organisatoren der Veranstal- tung sind der Magistrat der Stadt Friedberg, der in Siegen und Freiburg Friedberger Geschichtsverein und der Verein Geschichte der Arbeiterbewegung in Hessen.

Die Freiburger Reichweinausstellung, als Projekt aus einem Seminar von Ekkehard Geiger an der Pädagogi- schen Hochschule Freiburg entstanden und zum 50. SCHULEN Todestag von Reichwein am 20. Oktober 1994 eröffnet, befand sich seither auf Wanderschaft vom Bodensee über Berlin bis Flensburg. Im Juli und August stand sie Schafft eine lebendige Schule ! in der Universitätsbibliothek Siegen, bezeichnenderwei- se an der Adolf-Reichwein-Straße gelegen. Dorthin Die Adolf-Reichwein-Schule Friedberg vermittelt wurde sie von PD Dr. Alexander Hesse, ei- nem profunden Kenner Reichweins, was er zuletzt in einem Beitrag im ÄJahrbuch für Volkskunde³, Neue Fol- Die Adolf-Reichwein-Schule in Friedberg ist seit 1997 ge 24, 2001, S. 135ff unter Beweis stellte. In Siegen eine integrierte (schulformübergreifende) Gesamtschule machte sich die Referentin für Öffentlichkeitsarbeit, mit Grundstufe. Sie ist damit eine Schule für Kinder und Frau Doris Schirra, die Sache zu eigen, und gab der Jugendliche von der Jahrgangsstufe 1 bis 10. Mit einem Ausstellung im Foyer der großen Bibliothek einen sehr vielfältigen und differenzierten Bildungsangebot bietet geeigneten Platz, bereichert durch Vitrinen mit den ein- die Schule verschiedene Abschlüsse an: schlägigen Beständen der Bibliothek. Ekkehard Geiger § Hauptschulabschluss (nach Jgst. 9) stellte den Schwerpunkt seines Eröffnungsvortrages in § Qualifizierter Hauptschulabschluss (nach Jgst. 10) den Rahmen des 60jährigen Gedenkens an den Wider- § Mittleren Abschluss / Realschulabschluss (nach stand gegen die Nazi-Diktatur. Jgst. 10) Zum Beginn des Wintersemesters kehrt die Ausstellung § Versetzung in die gymnasiale Oberstufe (nach wieder an ihren Ausgangspunkt Freiburg zurück und Jgst. 10) reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

46

Die Schülerinnen und Schü- hessische Kultusminister Schütte. Eine Bronzeplastik ler können nach erreichtem Adolf Reichweins ziert seit diesem Tag den Eingang Abschluss ihre Schullauf- der Schule. Bis zum Beginn der neunziger Jahre änder- bahn noch fortsetzen, denn te sich an dem äußeren Erscheinungsbild der ÄGrund-, in nächster Umgebung un- Haupt- und Realschule mit Förderstufe³ nur wenig. serer Schule befinden sich Die inzwischen marode Gebäudesubstanz wurde dann Berufsfachschulen, Fach- endlich zwischen 1992 und 1996, die Turnhalle erst im oberschulen und ein reines Jahre 2002, für etwa 6 Millionen Euro großzügig sa- Oberstufengymnasium, mit niert. Mit den freundlicheren äußeren Bedingungen dem wir auch durch perso- nahmen auch die Diskussionen über innere Reformen nellen Austausch gut koope- der Schule zu. Die Elternschaft, die die Arbeit in der Bronceplastik rieren. Förderstufe sehr geschätzt hatte, forderte konsequen Adolf Reichweins In der Adolf-Reichwein- im Eingangsbereich Schule werden heute 830 Schülerinnen und Schüler in 33 Klassen von 55 Lehr- kräften unterrichtet. Im Jahr 2003 durfte die Schule ih- ren 50jährigen Geburtstag feiern und Landrat Rolf Gnadl, selbst ein ehemaliger Reichwein-Schüler, sagte in seiner Festrede zum Schluss: ÄDass Namenspatron einer Schule kein geringerer als Adolf Reichwein ist, dessen Leben und gewaltsamer Tod im Faschismus für Gerechtigkeit, Beharrlichkeit, Opfermut, Leidensfähig- keit und für eine unumstößliche Gesinnung steht, be- friedigt mich zutiefst! Es gibt für mich kaum höhere Werte, die sich eine Schule zum Sinn ihrer geistigen und ideellen Verfassung machen könnte.³ Fotografie der Schule aus dem Jahre 1960

terweise die Fortsetzung des integrierten Systems über die Jahrgangsstufe 6 hinaus sowie ein vollständiges, also auch ein gymnasiales Bildungsangebot an der Schule. In der schulinternen Diskussion kam daher un- ter Berücksichtigung der gesamten Friedberger Schul- landschaft nur eine Umwandlung der Schule in eine in- tegrierte Gesamtschule in Frage. Die erforderlichen Be- schlüsse der schulischen Gremien wurden zügig her- beigeführt, so dass der Kreistag des Wetteraukreises im Juni 1995 mit der Änderung des Schulentwicklungs- planes den Weg frei machte für die erste integrierte (schulformübergreifende) Gesamtschule im Wetterau- kreis, die an der Adolf-Reichwein-Schule errichtet wer- Die Grundsteinlegung für den ursprünglich als den sollte. 18klassige Volksschule (Grund- und Hauptschule) ge- In einer zweijährigen Vorlaufphase hat das Kollegium planten Schulneubau erfolgte im Oktober 1953. Schon eine pädagogische Konzeption erarbeitet, die sich bis bald stellte sich heraus, dass die Friedberger Schulen heute weitgehend bewährt hat und sich von Adolf eine Sogwirkung auf das Umland der Kreisstadt ausüb- Reichweins Forderung leiten lässt: ten. So kam es, dass bald eine ÄMittelschule³ (Real- ÄSchafft eine lebendige Schule!³. schule) eingerichtet wurde, nachdem bereits Ende der Grundlage für eine Älebendige Schule³ ist eine von ge- fünfziger Jahre die Förderstufe als eine der hessenweit genseitigem Vertrauen geprägte Zusammenarbeit zwi- ersten Einrichtungen an dieser Schule angesiedelt wor- schen Lehrkräften, Eltern und Schülerschaft. Gerade in den war. dem immer komplexer und unberechenbarer werden- den Umfeld, das zunehmend Einfluss auf die Kinder Am 12. Mai 1960 erhielt die neu erbaute ÄVolksschule und Jugendlichen nimmt, kommt der Zusammenarbeit mit Mittelschulzweig³ nach dem Vorschlag des Fried- der Schule mit den Eltern eine wichtige Rolle zu. Wir berger Volksbildungsvereins den Namen ÄAdolf- haben an unserer Schule gerade in den letzten Jahren Reichwein-Schule³. Die Festrede hielt der damalige in einer ÄErziehungspartnerschaft³ Modelle gesucht und reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

47

Wege der Umsetzung gefunden, die Eltern verstärkt in hungen, von denen exemplarisch einige gleich aufgelis- die Abläufe einzubinden, die an den schulischen Leitli- tet werden, möchten wir Lehrkräfte die Einheit von Le- nien orientiert sind. Stellvertretend für eine Vielzahl von ben und Lernen erlebbar machen, ganzheitliches Ler- Beispielen seien an dieser Stelle nur einige wenige ge- nen im Sinne ADOLF REICHWEINS (Ämit Kopf, Herz nannt: und Hand³) ermöglichen und den Kindern vielfältige so- · Die Gründung des Vereins zur Förderung der A- ziale, emotionale und kulturelle Erfahrungen vermitteln. dolf-Reichwein-Schule in Friedberg e.V. im Jahr Dies geschieht, indem außerschulische Lernorte (z.B. 2000 hat sich sehr positiv auf das Schulleben Museum, Theater, Gericht, Bibliotheken) aufgesucht ausgewirkt. Der Verein hat seither der Schule und Fachleute als pädagogische Laien (z.B. Politiker, nicht nur beträchtliche Geldmittel zur Ausgestal- Zeitungsredakteure, Schauspieler, Schriftsteller) in die tung zur Verfügung gestellt, sondern viele Mitglie- Schule geholt werden. der haben auch maßgeblichen Anteil daran, dass Die Adolf-Reichwein-Schule möchte zu einer Stätte der schulische Großveranstaltungen durch ihren per- Begegnung und damit zum Lebensraum für die Schüle- sönlichen Einsatz erfolgreich verlaufen sind. rinnen und Schüler werden. Die folgenden Beispiele · Mit vereinten Anstrengungen von älteren Schüle- sollen verdeutlichen, dass wir ADOLF REICHWEINS rinnen und Schülern, Lehrkräften und Fachleuten Forderung nach einer Älebendigen Schule³ als Ver- aus der Elternschaft wurde eine überflüssige und mächtnis ernst nehmen und uns bemühen, das Schul- verkommene Toilettenanlage zu einer schmucken leben auf vielfältige Weise zu gestalten: Cafeteria umgebaut. Sie bietet Platz für 30 Schü- · Ausstellungen innerhalb und außerhalb der Schu- lerinnen und Schüler. In der dazugehörigen Küche le zu ausgewählten Themen, gestaltet von ver- werden täglich etwa 30 warme Mittagessen frisch schiedenen Klassen und Lerngruppen zubereitet. Die Cafeteria wird vom Förderverein der Schule bewirtschaftet. · Gestaltung von Schulfeiern, Schulkonzerten, The- ateraufführungen und Klassenfesten unter tatkräf- · Die finanziellen Mittel zum Ausbau und zur kom- tiger Mithilfe der Elternschaft pletten Einrichtung hat die Schule unter tatkräfti- ger Mithilfe der Elternschaft selbst erwirtschaftet! · Betriebspraktika, Betriebserkundungen, Hospitati- on in Berufsschulen und eine hausinterne Berufs- · Es gibt bereits im 5. Jahr ein tägliches Betreu- bildungsmesse als elementare Bestandteile der ungsangebot in der Schule für unsere Grundstu- Berufswahlvorbereitung fenkinder über die Unterrichtszeit hinaus bis 14:30 Uhr. Dieses Angebot wird mindestens von jedem · Zusammenarbeit mit Friedberger Sportvereinen, fünften Grundschüler in Anspruch genommen. Die z.B. zur Talentförderung Einrichtung wird je zu einem Drittel durch Eltern- · Kooperation mit der Musikschule Friedberg im beitrag, Zuschüsse der Stadt Friedberg und Lan- Musikprojekt ÄBest Together³, die dazu geführt desmitteln finanziert. Träger dieser Einrichtung ist hat, dass innerhalb kurzer Zeit ein recht stattliches auch hier der Förderverein. Blasorchester an der Schule gegründet werden · Mit großzügiger Unterstützung des Fördervereins konnte und tatkräftiger Hilfe von Eltern wurde in rund · Sportliche Veranstaltungen wie Sommer- und sechs Monaten die Schülerbücherei umgebaut Wintersporttage, Bundesjugendspiele und Teil- und neu gestaltet. Nun können dank des ehren- nahme an verschiedenen Wettbewerben im Rah- amtlichen Einsatzes einiger Eltern den Schülerin- men von ÄJugend trainiert für Olympia³ nen und Schülern täglich längere Öffnungszeiten · Zusammenarbeit mit außerschulischen Einrich- auch während des Unterrichts geboten werden. tungen, z.B. Drogenberatungsstelle, Pro Familia, Das Schlagwort Äveränderte Kindheit³ hat alle aufge- Amtsgericht, Berufsberatung, Bibliothekszentrum schreckt, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun ha- · Die Gestaltung des ÄTages der offenen Tür³ als ben, so auch die Schule als Subsystem unserer Gesell- Anliegen der gesamten Schulgemeinde schaft. Danach kann die Schule nicht mehr nur Lernort · Gemeinsame regelmäßige Veranstaltungen von sein, sondern sie muss neue Aufgaben übernehmen, behinderten und nichtbehinderten Schülerinnen die früher anderswo erfüllt wurden. Der dänische Philo- und Schülern, z.B. beim Klettern und Rhönrad soph Sören Kierkegaard (1813±1855) hat einmal in ei- fahren, beim ÄApfelfest³ in unserer Schule ner vergleichbar bedrückenden, beängstigenden Situa- · Engagement für notleidende Kinder in einer Schu- tion gesagt: ÄDie Tür zum Glück geht nach außen auf.³ le in Kolumbien (Projekt ÄAguablanca³) Die Öffnung der Schule, und damit des Unterrichts, er- · Im Fach ÄArbeitslehre³ stellt die in diesem Fach möglicht Lernsituationen, in denen Kinder und Jugend- gegründete Firma ÄLauf und Kauf³ inzwischen liche den Bezug zu ihrer Umwelt erkennen und daher Produkte in Serienfertigung her, die auch an an- auch entsprechend ernst nehmen. In unseren Bemü- dere Schulen kreisweit verkauft werden. reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

48

· Autorenlesungen gehören zu den jährlich wieder- Adolf-Reichwein-Schule kehrenden Veranstaltungen; Autoren wie Gudrun Saarstr. 7 ± 13 Pausewang, Hans-Karl Frank, Tilman Röhrig, Ur- 61169 Friedberg sula Fuchs, Wolfgang Rudelius, um nur einige Tel.: 06031/ 72350 Namen zu nennen, waren bei uns schon zu Gast. Fax: 06031/ 723544 · Projekte und projektorientierter Unterricht, z.B. die E-Mail: [email protected] ÄTechnik-Tage³ in der Grundstufe, die ÄKennen- lern-Woche³ in der Jahrgangsstufe 5, die ÄWas- ser-Woche³ in der Jahrgangsstufe 6, die ÄLitera- tur-Woche³ in allen Klassen LITERATUR · Ein neues Kunstprojekt für die Jahrgangsstufe 5 mit einer externen Künstlerin zum Aufbau regelmäßi- ger Ausstellungen REZENSION:

Eine neue Herausforderung steht der Schulgemeinde ULRICH DIETZEL: Männer und Masken - Kunst und bereits bevor: Die Aufnahme in das hessenweite Politik in Ostdeutschland. Leipzig: Faber & Faber, 2004. ÄGanztagsprogramm nach Maß³. Einige Vorleistungen hat die Schule dazu bereits erbracht, dennoch fehlen Es handelt sich um Tagebuchblätter aus der bewegten weitere Kooperationspartner im näheren Umfeld der und erregenden Zeit von 1955 - 1999. Stadt. Nicht zuletzt ist das Hess. Kultusministerium ge- Tagebücher gehören ja zu den autobiografischen Gen- fordert, auch die notwendigen personellen und finan- res, unterscheiden sich aber von den Memoiren durch ziellen Ressourcen bereit zu stellen, wenn die erwartete die unmittelbare Betroffenheit, mit der gesellschaftliche Zustimmung zu unserem eingereichten Konzept erfolgt Ereignisse und Erscheinungen reflektiert werden. Diese ist. innere und äußere Spannung spürt man in Dietzels Buch bis zur letzten Seite. Die Schule genießt als einzige integrierte Gesamtschu- Der Blickpunkt aus der "Führungsebene" der Akademie le im Wetteraukreis eine so hohe Akzeptanz in der der Künste ermöglicht ein äußerst facettenreiches Bild Stadt Friedberg und ihrem Umland, dass sie in den von der Kunst- und Kulturpolitik der immer Recht haben vergangenen Jahren zahlreiche Anmeldungen an die wollenden Partei. Andererseits wird man als Leser fast Schule aus Kapazitätsgründen nicht berücksichtigen hineingezogen in das hoffnungsvolle, manchmal ver- konnte, denn die Schule ist auf eine Vierzügigkeit im zweifelte, aber immer auch couragierte Ringen der kri- Jahrgang festgelegt. tisch denkenden Künstler und Schriftsteller, die im Ein- klang mit dem Autor für humane Wertvorstellungen, für Sie ist seit 2001 Projektschule im Programm der Hessi- eine größere Entfaltungsmöglichkeit menschlicher We- schen Lehrerfortbildung zur Konfliktbearbeitung und senskräfte nicht nur auf dem Gebiet von Kunst und Lite- Gewaltprävention. Etwa 15 Kolleginnen und Kollegen ratur eingetreten sind. Durch diese subjektive Sicht ge- haben inzwischen ein Basistraining zur Mediation ab- lingt es Dietzel, überzeugend nachzuweisen, dass das solviert. Das Eingangsprogramm, das die Grundlage für geistige und kulturelle Leben in der DDR gar nicht so die Arbeit mit den Schülern bietet, wird mit allen 5. und eintönig und primitiv war, wie es mitunter behauptet 6. Klassen an der Schule durchgeführt. Hier werden an wird. Im Gegenteil, gerade die Art und Weise, wie kriti- mehreren Projekttagen Regeln eingeübt und Verhal- sche Künstler und Schriftsteller sich den engstirnigen tensweisen trainiert, die einen konstruktiven Umgang Maßregeln der Politbürokraten zu entziehen versuch- mit Konflikten ermöglichen. ten, macht deutlich, dass hier vielleicht eine ganz neue Qualität eines "ästhetischen Widerstands" geboren Die Adolf-Reichwein-Schule gehört zu den hessischen wurde. Dietzels subtile Beobachtung und Beschreibung Pilotschulen, in denen das ÄMethodentraining³ nach dieser Prozesse zeigt aber auch, dass der Kampf um Heinz Klippert erprobt und umgesetzt wird. Inzwischen die "Zurückforderung" der Freiheit und der Anspruch wird dieses Projekt bis in die Jahrgangsstufe 7 fortge- auf Selbstbestimmung durchaus stärkere moralische führt. Etwa die Hälfte aller Kolleginnen und Kollegen Kraft und Widerstandsfähigkeit hervorbringen kann als sind aktiv an diesem Programm beteiligt. Zielsetzung ist die behäbige Sicherheit einer neoliberalen Freizügig- es, Schülerinnen und Schüler dazu zu befähigen, keit, die schon zur bequemen Gewohnheit geworden selbstständig und eigenverantwortlich zu lernen. ist. Betrachtet man das umfangreiche Personenver- zeichnis und die vielen Begegnungen mit Künstlern und Klaus Duda, komm. Schulleiter Schriftstellern, ist man erstaunt über den großen Atem und den weiten Horizont dieser Darstellung. reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

49

Alle Ereignisse, Erlebnisse und Begegnungen be- schreibt Dietzel mit absoluter Aufrichtigkeit, ohne Au- AM RANDE ... genzwinkern und ohne kompromisslerische Anbiede- rung. Bemerkenswert sind auch jene Passagen, die sich mit zugespitzten kulturpolitischen Konflikten befas- sen, z.B. die Auseinandersetzungen im Zusammen- hang mit der Biermann-Affäre. 20. Juli 1944 Von großer Bedeutung sind auch die Aufzeichnungen über die Zeit nach der Wende. Die komplizierten Prob- Widerstandskämpfer fliegt über leme bei der Vereinigung der beiden Akademien Ost Weißenfels und West zeigen mit aller Deutlichkeit, dass weder ei- fernde Siegermentalität noch übereifriges und devotes Umschwenken und Anpassen sich als tauglich für die Lösung der schwierigen Fragen erwiesen. Dietzel zeigt Auch dieses ist eigentlich eine Pressemeldung. Da sie deutlich, dass hier mehr Standpunkte als Wendepunkte vonnöten waren. uns aber auch bisher unbekannte Informationen zu A- Wer sich mit den Kulturkämpfen in der zweiten Hälfte dolf Reichweins Hobby, der Fliegerei, bringt und dar- des 20. Jahrhunderts beschäftigen will, der wird an die- über hinaus sogar zusätzlich Fotos seiner ÄKlemm³, sem faszinierenden Buch, in dem auch Dietzels Inter- bringen wir diesen Beitrag in der Rubrik ÄAm Rande³. views mit den Frauen des Kreisauer Kreises erwähnt Die Fotos hat uns Siegfried Thielitz freundlicher Weise werden, nicht vorbeigehen können. zur Verfügung gestellt und dazu auch Bildunterschrif- ten geliefert. Die Redaktion Joachim Bodag Weißenfels/MZ. Neugierig und wissbegierig sitzt Sieg- fried Thielitz vor dem Fernseher. "Der Mut des Fliegers" LITERATURHINWEIS: heißt die Dokumentation, die Phoenix am Dienstag und Mitzlaff, Hartmut: Reichweins (1898 - 1933) heimliche Mittwoch ausstrahlt. Als die Mitteldeutsche Zeitung dem Reformpraxis in Tiefensee 1933 - 1939. In: Kaiser, Ast- Kreisauer Kreis zum 20. Juli eine ganze Seite widmet, rid/ Pech, Detlef (Hrsg.): Basiswissen Sachunterricht. greift Thielitz zum Telefon. Band 1: Geschichte und historische Konzeptionen des "Wissen sie, Sachunterrichts. Baltmannsweiler (Schneider Verlag) dass der Flie- 2004, S. 143 - 150. ger Adolf Reichwein auch in Wei- ßenfels lande- te", erzählt Thielitz. Als D er Verein kann noch sehr günstig folgende Liter atur au s Restb eständen abgeben: Beweis hat der 84- Ein P ädagoge im Widerst and : Erinner ung an Adol f Jährige ein Reichwei n zum 50. Todestag / R oland Reichwein (Hrsg.). Weinheim ; Münc he n : Juventa-Verl., 1996. (¼ 4,50) paar schwarz- weiße Auf- Reichwein , Adolf nahmen pa- Hunger marsch durc h Lappl and (Langewi esche- Brandt /CV K) ( ¼ 3,-) rat. "Als ich elf Jahre alt war, 'Wir sind jung, und die W elt ist schön'. Mit Adolf Reic hwein durch Skandinavien. Tagebuch einer Volkshochschulreise landete Pro- 1928, hrsg. von Ullrich Amlung, Matthias Hoch, Kurt Meinl fessor Reich- und Lutz Münz er, wein auf dem (Jen a [u.a.]: Wartburg-Verl. 1993) ( ¼ 3,-) Kugelberg", erinnert der Senior an ein Stück Heimatge- Bestellungen an Ann elie s Piening, schichte. Wo heute die Neubauten in der Hardenberg- Westfälisch e Str. 34 10709 Berlin straße stehen, war im Sommer 1931 ein riesiges Feld. annelies.piening@gm x.de Dort landete Professor Reichwein mit einem zweisitzi- gen Eindecker. "Das war natürlich ein riesiges Spekta- reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

50 kel, aus Weißenfels kamen Jung und Alt gelaufen, um Schreibtisch eine Ecke voller Weißenfelser Heimatge- das Flugzeug zu sehen", schichte von Schiller bis erzählt Thielitz. zu Seume, von alten Stadtansichten bis zu Er selbst rannte nach selbst geschriebenen Hause, holte seine neue Gedichten der Gegen- Plattenkamera und hielt wart. "Ich habe noch das Ereignis im Bild fest. unendlich viel aufzuar- Die drei Fotos bewahrt er beiten", sagt der rüstige noch heute auf. Reich- Rentner. So manchen wein gilt in den 20er und Artikel verfasste er für 30er Jahren als einer der den Weißenfelser Hei- profiliertesten Bildungspo- matbote. litiker in Deutschland. Er studiert in Frankfurt / Main Beruflich lassen sich und Marburg, macht sich Parallelen zu Reichwein von 1923 bis 1929 in Jena finden. Thielitz studierte einen Namen. Dort regt er Flugzeuglandung auf dem Kugelberge (Prof. Reichwein - Halle/S.; ebenfalls Pädagogik, ganz rechts: Herr Pfannschmidt), die Erwachsenenbildung Freitag, 29. Mai 1931, vorm. ½ 10 Uhr war gleichfalls in Jena. an und wird zum Direktor In Weißenfels war er der Heimvolkshochschule. zuerst Schüler, dann Bis 1930 ist er persönli- Lehrer an der Bergschu- cher Referent des preußi- le, später an der Seu- schen Kultusministers me-Oberschule und im Carl Becker in Berlin. Institut für Lehrerbil- 1930 wird er zum Profes- dung. sor für Staatsbürgerkunde und Geschichte an der Auf Weißenfels schaut neu gegründeten Päda- er mit einem weinenden gogischen Hochschule Auge. "Als ich 1945 aus Halle berufen. "Mit seinen der Kriegsgefangen- Studenten weilte er öfters schaft kam, sah die in Langendorf. Dort gab Stadt nicht so schlimm es am Waisenholz ein aus wie heute mit ihren Zeltlager. Und Reichwein vielen Ruinen", so Thie- reiste per Flieger zu sei- Flugzeuglandung auf dem Kugelberge (Prof. Reichwein ± Halle/S.), litz. Auch sein Sohn nen Studenten", schließt 29.5.1931, vorm. ½ 9 Uhr. musste "die Provinz Thielitz den Bogen zu Sachsen" verlassen, wie Weißenfels. Dass Reich- er sagt, um in der Ferne wein später zum Kreisau- Arbeit zu finden. er Kreis gehört, weiß da- mals niemand.

Als Elfjährigen habe ihn nur das Flugzeug gelockt. Das Interesse für die Ge- schichte kam erst später und ließ ihn bis heute nicht los. Seine Wohnstu- be gleicht einem kleinen Museum. Da hängt der Orden "Roter Adler", den Yvette Meinhardt der Urgroßvater 1870 / 71 erhielt, neben dem Eiser- Flugzeuglandung auf dem Kugelberge, 29.5.1931 Mitteldeutsche Zeitung nen Kreuz. Über dem - die ÄSchlachtenbummler³ - 21.07.04 reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

51 Prerow 2004 Wie sich die Bilder gleichen ...

Hungermarsch durch Lappland

Adolf Reichwein mit seinen Volkshochschülern 1928 am Glittertind

Hungermarsch auf dem Darß

Klaus Schittko mit letzten Ta- gungsteilnehmern der Herbstta- gung 2004 am Darßer Ort

Mit einer ungeraden Seite sollte man keine Zeitschrift beenden, erzeugt sie doch unweigerlich auch eine leere Rückseite, die legendäre, für Äpersönliche Notizen³ der Abonnenten zu nutzende. Also hier schnell und ungeplant noch ein kurzer Text, der aktuell über den Verlauf unserer Herbsttagung im Oktober dieses Jahres in Prerow auf dem Darß informieren soll.

ÄDie gegenwärtige Bedeutung des ganzen Gebiets³, las man vor 100 Jahren über unseren Tagungs- ort169, Äberuht auf den sauberen, freundlichen Badeorten Zingst, Prerow, Ahrenshoop, die in die Katego- rie der einfacheren, ruhigen, von minder bemittelten Volksklassen aufgesuchten Ostseebäder gehö- ren³.169. Rund 35 dieser minder bemittelten Volksklässler hatten sich im reichlich peripher gelegenen Prerow eingefunden, einer Streusiedlung in reizvollem Waldgebiet mit erwähnenswert schönem Sandstrand und sehr zurückhaltender touristischer Infrastruktur. Wer Bernstein-Boutique, Strandmode und Nanu- Nana zur Erholung benötigt, wer gar so verwegen ist, mit E-plus oder D1 telefonieren zu wollen, der sei an die Lübecker Bucht verwiesen. Hier dagegen ist es ratsam, gut zu Fuß zu sein, oder zumindest das Fahrrad zu beherrschen. Das kleine Darß-Museum bot eine stimmungsvolle Tagungsstätte für die mit Beiträgen mehr als reichlich ausgefüllten Tage. Zwar mussten kurzfristig zwei Referenten absagen (Bettina Irina Reimers und Andreas Pehnke), doch gelang es den verbliebenen souverän, diese Ausfälle durch verspätetes Eintreffen, unerwartetes Hinzufügen weiterer Mitwirkender und routiniertes Überschreiten der vorge- gebenen Redezeiten zu überbrücken. Den Preis für das kürzeste Referat gewann überraschend Karl- Heinz Schernikau.

169 Georg Wegener: Deutsche Ostseeküste. Bielefeld u. Leip- zig: Velhagen & Klasing 1900, S. 103 reichwein forum Nr. 5 / Dezember 2004

52

Christoph Berg begann, gemeinsam mit drei jungen Kolleginnen und Kollegen (Susanne Wildhirt, Andre- as Trepte, Judith Bamberger), den Teilnehmern beispielhafte Lehrstücke nach Wagenschein zu präsen- tieren, illustriert durch zahlreiche mitgebrachte Materialien aus dem Unterricht. Am Ende die auffordern- den Fragen Bergs: Wo könnte Reichwein hier helfen, kann er hierzu ein Stück ÄWerk³ beitragen, könnte man mit einigen Reichwein-Schulen gar eine kooperative Lehrkunstwerkstatt einrichten ? Wolfgang Klafki brachte sich in diesen Komlex nach seinem freudig begrüßten, aber mit Hilfe der Deut- schen Bahn verzögerten Erscheinen mit differenzierten Betrachtungen zum Bildungsbegriff ein. Karl-Heinz Schernikau ist dann am folgenden Tag mit einem straff strukturierten Statement auf Bergs Überlegungen eingegangen. Es ist geplant, seinen Beitrag im nächsten Heft abzudrucken.

Paul Ciupke und später Klaus Müssig stellten in vielen Facetten die Arbeit Fritz Klatts und die Beteiligung Reichweins an der Prerower Bildungsarbeit dar. Hier konnten die Teilnehmer Charakterzüge Klatts ken- nenlernen, die sich aus seinen Schriften nicht so leicht erschließen. Wohlweislich hatte Ciupke der Po- werpoint-Technik misstraut und Sicherheitsfolien mitgebracht. Auf diesen sah man dann am Strande Pre- rows den immer perfekt in weißes oder schwarzes Tuch gewandeten Klatt, in Schlips und Kragen, um- schwärmt von gläubigen Jüngern und vor allem Jüngerinnen wandeln und lagern. Hier der charismati- sche Erfinder der Freizeitpädagogik und der schöpferischen Pause, daneben, lässig im Sande liegend in kurzer Hose und mit nacktem, gebräunten Oberkörper der Mann der Tat: Adolf Reichwein, der vor allem die Belange der jungen Arbeiter in die Klattschen Konzeptionen einbrachte. Welch ein ungleiches Paar, hier noch vereint in der theoretischen Diskussion über die Bildung der deut- schen Jugend, über Volkbildung durch Volksbildung. Was verband diese beiden Männer ?

Als später aus der Theorie schreckliche Praxis wurde, als es darum ging, Flagge zu zeigen, sich politisch zu positionieren, einzugreifen, zu handeln, gingen beide ihre für sie wohl typischen eigenen Wege: Reichwein bekennt sich zur Sozialdemokratie, wählt die harte Dorfschularbeit in Tiefensee, wagt sich dann ins Zentrum des politischen Geschehens nach Berlin und stirbt als Widerstandskämpfer. Klatt mag sich nicht politisch festlegen, geht weit weg, nach Wien, und stirbt dort von den Zeitgenossen fast unbe- merkt.

Die Teilnehmer hatten danach, von Paul Ciupke geführt, Gelegenheit, letzte Spuren Klatts in Prerow zu verfolgen: Sein gut erhaltenes ehemaliges Wohnhaus, geradezu luxuriös wirkend im Vergleich zum auch besichtigten vormaligen Volkshochschulheim, in dem heute eine bonbonfarben gestrichene Pizzeria be- heimatet ist. Sic transit gloria mundi.

Die auf obigem Foto abgebildeten letzten Hinterbliebenen der Tagung machten sich bei strömendem Regen schließlich zu einer sonntäglichen Wanderung Richtung Darßer Ort auf, unter Umständen, die durchaus Parallelen zum historischen ÄHungermarsch³ aufwiesen; nicht alle erreichten den Leuchtturm zu Fuß, wenn denn überhaupt, aber am Ende, nachdem auch das Zeltlager des Kinder- und Jugend- heims Pretzsch unter kundiger Führung von Karl-Wilhelm Clodius besichtigt war, fanden sich doch alle beim abschließenden Mittagessen hinterm Deich lebend und lebendig wieder. hpt

reichwein forum

IMPRESSUM Herausgegeben im Auft rage der Mitgliederversamml ung de s Adolf-Reichwein-Vereins e.V. als Informationsblatt für die Mitglieder. Ersch einungswei se: zweimal jährlich

Redaktionsteam: U llrich Amlung (U.A.), Lothar Kunz (L.K.), Hans-Peter Thun (hpt) Telefon: 06425 - 8218 02 Beiträge an: [email protected]

ISSN 1612-7323

Adolf - Reichwein - Verein .e.V. Anschrift des Vereins: Dr. Klaus Schittko, Un term Ufer 7, 27333 Schweringen Telefon/Fax 0 42 57 9 15 33 http://people.freenet.de/reichweinverein E-mail: [email protected] Bankverbindung: Postbank Do rtmund ( 140 100 46) Kto 29184-46 8