Schweiz am Sonntag 15 meinung 5. Februar 2017

Die neuen politischen Selbstverständlichkeiten

Othmar von Matt, Politikchef

Die Nachricht: SP-Ständerätin Pascale Bruderer und ihr Ehemann Urs Wyss haben sich getrennt.

Der Kommentar: Pascale Bruderer und Urs Wyss hatten 2009 geheiratet. Sieben Jahre lang waren die SP-Ständerä- tin und der Marketingchef von Ticketcorner ein Paar. 2016 trennten sie sich. Kommuniziert haben sie das am Freitag. Zwar gehen sie als Paar eigene Wege. Doch sie le- ben weiterhin gemeinsam als Familie, mit den Kindern.

Justizministerin Simonetta Sommaruga und Schriftsteller Lukas Hartmann sind seit 1996 verheiratet. Inzwischen ist die SP-Bundesrätin aus dem Haus in Spiegel bei aus- gezogen. Sie hat eine eigene Wohnung in Bern. Anders als Bruderer und Wyss leben Sommaruga und Hartmann zwar getrennt, sind aber noch ein Paar.

Wenn Franz Steinegger von solchen Geschichten liest, wird er schmunzeln. 1989 waren die Sitten strenger. Er wurde nicht Nachfolger von Bundesrätin Elisabeth Kopp, weil er – noch verheiratet – im Konkubinat lebte. Nur vier Jahre später kam es für SP-Nationalrätin Christiane Brun- ner noch dicker. Ihr wurde 1993 bei ihrer Bundesrats-Kan- didatur eine diffuse Schlammschlacht um ihr Privatleben zum Verhängnis. Gewählt wurde nicht Brunner, sondern . Sie war ledig, und mit ihr kam erstmals ei- Silvan Wegmann zur Woche. ne Jüdin in die Regierung. Der wichtigste Schritt in neue Schweizer Lebensrealitäten vollzog sich aber 1995 – mit der Wahl von . Der Sozialdemokrat setzte mit seiner Biografie der Brüche neue Massstäbe. Er lebte nach einer Scheidung im Konkubinat. Ein Profil, Gastbeitrag von Carolina Müller-Möhl das Symbolwirkung für die urbane Schweiz hatte.

Heute ist vieles entspannter. Die Justizministerin zieht zu Hause aus. Na und? Die Ständerätin trennt sich von ihrem Mann? Kein Problem. Gesellschaftspolitische Selbstver- Nicht jammern, handeln! ständlichkeiten halten in der Politik Einzug. Und es sind immer Sozialdemokraten, die sie einbringen.

Die Nachricht: Syrienkrieg, Denn: Ein gutes Bildungssystem Avenir Suisse greift relevante The- [email protected] Flüchtlingskrise, Terrorgefahr, Ha- bildet die Grundlage für eine men auf, belebt die öffentliche ckerangriffe, technologische Dis- gesunde Gesellschaft und eine Diskussion mit innovativen Lösun- ruption und drohende Massenar- erfolgreiche Wirtschaft. Gelebte gen und leistet so einen Beitrag beitslosigkeit. Es gibt Tage, da Demokratie in politisch schwieri- zur Stärkung des Standorts Sponsoren sollen möchte man am liebsten nichts gen Zeiten ist wichtiger denn je Schweiz. mehr lesen und hören von und braucht mündige Staatsbür- die Expo übernehmen schlechten News – ganz zu schwei- ger. Garantie dafür ist eine gute Die Gleichstellung von Mann und gen von Fake-News – und findet Ausbildung. In Sachen Bildung Frau steht seit 1981 in unserer Ver- jede Menge Gründe zum Jam- müssen wir Weltspitze sein. Wir fassung. Der Bundesrat will, dass , mern. Aber es gibt Alternativen. müssen unser duales Bildungssys- in den Führungspositionen bör- Andreas Maurer Redaktor Nachrichten tem stärken, Bildungsbürokratie senkotierter Unternehmen mehr Der Kommentar: Das Jahr ist abbauen und die Digitalisierung Frauen sitzen. Sein Vorschlag zum noch jung – genauso wie viele gute des Bildungswesens als Potenzial neuen Aktienrecht sieht eine Frau- Vorsätze. Fast jeder hat schon ein- nutzen. Auch die frühe Förderung enquote von 20 Prozent in den mal einen gefasst, das Durchhal- bietet viele Chancen. Sie gilt als Geschäftsleitungen und 30 Pro- ten ist aber meist schwieriger als Schlüsselfaktor für den späteren zent in den Verwaltungsräten vor. erwartet. Laut der neuesten Stu- Lern- und Lebenserfolg. 2016 sind gemäss Schilling Report die des Forsa-Instituts schafft es Carolina aber erst 8 Prozent der Geschäfts- Die Nachricht: Die Schweiz hat für die Expo 2020 in nur etwa jeder zweite Deutsche, Hier zu investieren, dient nicht Müller-Möhl leiter und 16 Prozent der Verwal- Dubai einen extravaganten Pavillon entwerfen lassen. seine guten Vorsätze länger als nur dem Wohl unserer Kinder, ist Unternehmerin, tungsräte der grössten Schweizer Sponsoren zahlen neu die Hälfte der Kosten. vier Monate durchzuhalten. Ver- sondern sichert auch den gesamt- Philanthropin und Firmen Frauen. Einer der Gründe gleichbare Untersuchungen für wirtschaftlichen Wohlstand kom- mehrfache Verwal- ist nach wie vor die Schwierigkeit, Der Kommentar: Die Schweiz hat an der vergangenen die Schweiz fehlen, die Resultate mender Generationen. Deshalb tungsrätin. Kinder und Karriere unter einen Weltausstellung in Mailand ihrem Hauptsponsor Nestlé dürften jedoch ähnlich sein. engagiere ich mich als Botschafte- Hut zu bringen. Es braucht den einen prominenten Platz überlassen. Dafür wurde sie Nichtsdestotrotz habe ich mir für rin in der Kampagne Ready!, unter Abbau steuerlicher Hürden, flexi- kritisiert. Zu Recht: Sponsoren übernahmen nur einen 2017 vorgenommen, weniger zu deren Dach sich interessierte Or- blere Arbeitsplätze sowie den Aus- Drittel der Kosten, dominierten aber den Auftritt unseres jammern. ganisationen und bedeutende Per- bau familienexterner Kinderbe- Landes. Die Balance stimmte nicht. Die falsche Antwort sönlichkeiten zusammengeschlos- «Gelebte treuung. Denn der vertiefte Einbe- wäre, den Sponsorenanteil nun zu reduzieren. Im Gegen- Die Inspiration für meinen guten sen haben, um Kindern bis vier Demokratie der Frauen in die Arbeitswelt teil: Er sollte erhöht werden. Wenn Firmen das Schweizer Vorsatz verdanke ich dem humor- Jahre eine qualitativ hochstehende in politisch ist mit Blick auf den demografi- Expo-Budget mehrheitlich finanzieren, stört es auch vollen Buch «Jammern gefährdet frühkindliche Bildung, Betreuung schen Wandel und angesichts des nicht, wenn sie den Pavillon prägen. die Gesundheit» von Moderator und Erziehung zu ermöglichen. schwierigen Fachkräftemangels dringend nö- und Trainer Dani Nieth. Der Wan- Zeiten ist tig. Deshalb fördere ich die Ma- Für die Expo 2020 in Dubai macht der Bundesrat einen del beginnt allerdings ausserhalb Gute wirtschaftspolitische Rah- wichtiger denn nagement-Weiterbildung «Women Schritt in die richtige Richtung. Er erhöht den Sponsoren- der persönlichen Komfortzone, menbedingungen sind die beste je und braucht Back to Business» der Universität anteil von einem Drittel auf die Hälfte. Bei der übernächs- gute Vorsätze haben ihren Preis. Voraussetzung für einen produk- mündige St. Gallen. Das Programm bietet ten Weltausstellung könnte er erstmals die Mehrheit pri- Man muss etwas anders machen – tiven und wettbewerbsfähigen Wiedereinsteigerinnen und Um- vat finanzieren lassen. Es genügt, wenn das Aussendepar- und das nicht nur einmal, sondern Standort Schweiz. Denn Heraus- Staatsbürger.» steigerinnen ein Sprungbrett zu- tement mit seinen Leuten den Auftritt koordiniert. dauerhaft. Damit das Durchhalten forderungen gibt es mehr als ge- rück ins Erwerbsleben, indem es gelingt, braucht es konkrete Ziele nug: Globalisierung, Strukturwan- Unternehmen mit qualifizierten Die Weltausstellungen haben sich in ihrer 166-jährigen und Leidenschaft. Bereits Cicero del, Frankenstärke, um nur einige Frauen vernetzt. Geschichte stark verändert. Während der Industrialisie- wusste: «Wer kein Ziel hat, für den zu nennen. Deshalb gilt es, Wett- rung etablierten sie sich als technische Leistungsschau. ist kein Wind der richtige.» bewerbsverzerrungen durch staat- Jammern bringt uns bei der Lö- Diesen Stellenwert haben sie inzwischen an Fachmessen liche Intervention zu vermeiden, sung dieser Herausforderungen abgegeben. Die Expo ist heute eine schrille Weltmesse für Für mich heisst das, dass ich mich Bürokratie zu minimieren und nicht weiter. Das Gegenteil von Tourismus und Standortmarketing. Die Länderpavillons auch im neuen Jahr für die Steuergelder effizient einzusetzen. Jammern bedeutet, Alternativen übertrumpfen sich gegenseitig, indem sie sich noch grös- Schwerpunktthemen meiner Stif- Auch das Jungunternehmertum zu erkennen und neue Wege in ser, noch bunter, noch spektakulärer als die anderen in- tung Bildung, Standortförderung muss gefördert werden, damit wir Betracht zu ziehen. So empfiehlt szenieren. Das ist keine primäre Aufgabe des Staates. und Vereinbarkeit von Beruf und den Anschluss an die Zukunft Nieth, nicht nach dem Warum, Familie engagiere. Ich werde Par- nicht verlieren. Aus diesen Grün- sondern lieber nach dem Wie, Das Expo-Konzept bleibt auch im digitalen Zeitalter ge- tei ergreifen, Meinungen abgeben den unterstütze ich die als Avenir Was, Wann und Wo zu fragen. fragt, obwohl die vermittelten Informationen in jedem und Forderungen stellen mit dem Suisse bekannte Stiftung Zukunft Und dranzubleiben, auch wenn es Wohnzimmer nur einen Klick weit entfernt sind. Dass die Ziel, das Bildungssystem zu opti- Schweiz, die sich als unabhängiger manchmal schwierig scheint und Expo zeitgemäss ist, beweist die Besucherzahl in Mailand: mieren, die Wirtschaft zu stärken Think-Tank für die gesellschafts- der Erfolg auf sich warten lässt. 21 Millionen. Veraltet ist einzig die Finanzierung. und die Gleichstellung von Frau und wirtschaftspolitische Entwick- Deshalb: Jammern Sie noch oder und Mann weiter voranzubringen. lung unseres Landes engagiert. handeln Sie schon? [email protected]