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Sago TAKAHASHI

.. UBER DAS TODESMOTIV IM JASAGER UND DESSEN STELLENWERT IN BRECHTS LEHRSTÜCKEN

Seit Jahren sind Brechts Lehrstücke trotz einiger großangelegten Arbeiten wie der von Reiner Steinweg1 oder Klaus-Dieter Krabiel2 immer noch umstritten. Als besonders problematisch gelten die beiden Lehrstücke: und Die Maßnahme. 3 Es ist vor allem der Inhalt, der die kontroverse Einschätzung beider bedingt. Beide Lehrstücke haben ein gemeinsames Thema: das Einver­ ständnis, genauer gesagt, das Einverständnis mit dem eigenen Tod. Das Lehr­ stück, in dem das Todesthema zum erstenmal ins Zentrum gestellt wird, ist eben das Lehrstück, nämlich die erste Fassung des Badener Lehrstücks vom Ein­ verständnis. Und dieses Badener Lehrstück hat Rainer Nägele einmal „ein[en] der unbequemsten und rätselhaftesten Texte Brechts"4 genannt; es bleibt im­ mer noch unerschlossen. Deshalb muß man zuerst das Todesmotiv und seinen Sinn im Badener Lehrstück erörtern und dann weiter untersuchen, welcher Stel­ lenwert dem Jasager in Brechts Lehrstücken zukommt, weil das Todesmotiv des Jasagers und dessen Handlungsstrang wiederum im kontroversesten und wichtigsten Lehrstück, nämlich der Maßnahme, aufgegriffen werden.

Man geht gemeinhin davon aus, daß Brechts erste vier Lehrstücke in der fol­ genden Reihenfolge entstanden sind: Der Ozeanflug, Das Badener Lehrstück vom Einverständnis, Der Jasager und Die Maßnahme. Das ist aber nicht der Fall. Be­ kanntlich hat Brecht seine Stücke oft umgearbeitet; die Entstehungsgeschich­ ten der einzelnen Lehrstücke und ihrer Fassungen sind sehr kompliziert. Das erste Lehrstück ist nicht Der Ozeanflug, sondern das Lehrstück, d.h. die erste Fassung des Badener Lehrstücks vom Einverständnis. Die erste Fassung des Oze-

1 Reiner Steinweg, Das Lehrstück. Brechts Theorie einer politisch-ästhetischen Erziehung. Stuttgart 1972. 2 Klaus-Dieter Krabiel, Brechts Lehrstücke. Entstehung und Wandel eines Spieltyps. Stutt­ gart und Weimar 1993. 3 Vgl. dazu die Kontroversen über Die Maßnahme, die eine Inszenierung im Berliner Ensem­ ble Ende 1997 ausgelöst hat: Jan Knopf, . Stuttgart 2000. S. 138-146. 4 Rainer Nägele, Brechts Theater der Grausamkeit: Lehrstücke und Stückwerke. In: Walter Hinderer (Hrsg.), Brechts Dramen. Neue Interpretationen. Stuttgart 1984. S. 300-320, S. 310.

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anfiugs heißt Der Lindberghflug; das ist aber kein Lehrstück, sondern ein „Ra• diohörspiel"5. Bei der späteren Umarbeitung hat Brecht dieses Hörspiel in ein Lehrstück umgeändert.6 Das zweite Lehrstück ist demnach Der Jasager; das dritte ist Die Maßnahme, und das vierte ist die zweite Fassung des Lindbergh­ fluges, d.h. Der Flug der Lindberghs. Ende Juli 1929 kamen Der Lindberghflug und das Lehrstück in Baden-Baden zur Uraufführung. Der Lindberghflug war noch kein Lehrstück, und das Lehr­ stück war Fragment geblieben.7 Deshalb stellt Der Jasager das erste vollendete Lehrstück dar. Der Jasager wurde in konzeptioneller wie thematischer Hinsicht aus dem Lehrstück entfaltet. Im Lehrstück war vorgesehen, das Publikum ins Spiel einzubeziehen,8 während Der Jasager als Schuloper von Laienspielem, nämlich den Schülern selbst aufgeführt werden sollte. Im Jasager handelt es sich ebenso wie im Lehrstück um das Einverständnis mit dem Tod. Das Verständnis der Lehrstücke hängt letzten Endes davon ab, wie man dies Einverständnis mit dem Tod auffassen soll. Normalerweise sieht man den Knaben im Jasager und den jungen Genossen der Maßnahme als negative Figuren, weil beide ihrer Auf­ gabe nicht gewachsen sind und schließlich sterben müssen. Aber im Lehrstück, in der ersten Fassung des Badener Lehrstücks vom Einverständnis, wird der abge­ stürzte Flieger, der mit seinem eigenen Tod einverstanden ist, als positive Figur behandelt; während in der zweiten Fassung, nämlich im Badener Lehrstück, der abgestürzte Flieger, der diesmal mit dem Tod nicht einverstanden ist, als nega­ tive Figur von der Bühne vertrieben wird. Das Einverständnis mit dem Tod ist also hier positiv gemeint. Was stellt aber der Tod in Brechts ersten drei Lehr­ stücken dar? Was bedeutet das Einverständnis mit dem Tod? Um den Sinn des Todes in den Lehrstücken zu verstehen, soll Das Badener Lehrstück vom Einverständnis herangezogen werden.9 Wegen des knappen

5 Vgl. Uhu (Berlin) Heft 7, April 1929, V. Jahrgang. S. 10-16, hier S. 10. 6 Die Gattungsbezeichnung für die zweite Fassung des Lindberghfiuges, die als Der Flug der Lindberghs im Juni 1930 im ersten Versuche-Heft erschien, heißt „Ein Radiolehrstück für Knaben und Mädchen" (GBA 3, 7). 7 In der ersten Druckfassung des Lehrstücks steht unter dem Titel: „fragment", und am Ende des Textes heißt es: „vorläufiger abschluß des fragments". Ein Originaldruck findet sich 11 im Stadtarchiv Baden-Baden: Signatur „Stadtgeschichtliche Sammlung: 2-229 /8 • Und im Programmheft der „deutschen Kammermusik Baden-Baden 1929" ist ein kurzer, „Zum Lehrstück" betitelter Text abgedruckt. Dort heißt es: „Es [das Lehrstück- S.T.] ist nicht ein­ mal fertig gemacht" (GBA 24, 90). 8 Die Idee, das Publikum ins Spiel einzubeziehen, wurde Brecht von Hindemith vermittelt. Vgl. K.-D. Krabiel, a.a.0., S. Slff 9 Das Badener Lehrstück vom Einverständnis, Der Jasager und Die Maßnahme sind in Hinblick auf das Thema des Einverständnisses mit Tod/Sterben/Tötung miteinander verknüpft. Der Einleitungschor (siehe S. 60) macht deutlich, daß Der Jasager das Thema mit dem Bade­ ner Lehrstück gemein hat. Im Nachlaß wird Die Maßnahme als „konkretisierung" (Signatur

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Raumes muß man sich auf die Interpretation einiger Textstellen beschrän• ken.10

DER GELERNTE CHOR umringt den gestürzten Flieger: Völlig unkenntlich Ist jetzt sein Gesicht Erzeugt zwischen ihm und uns, denn Der uns brauchte und Dessen wir bedurften: das War er. DER FÜHRER DES GELERNTEN CHORS Dieser Inhaber eines Amts Wenn auch angemaßt Entriß uns, was er brauchte, und Verweigerte uns, dessen wir bedurften. Also sein Gesicht Verlosch mit seinem Amt: Er hatte nur eines! (Hervorhebung von Brecht; GBA 3, 43) 11 In der Forschung kann man fast keine Arbeiten finden, die sich eingehend mit dieser Textstelle beschäftigen, obwohl das Gesicht in Brechts Stücken von über Mann ist Mann bis zur Maßnahme eine sehr wichtige Metapher ist, ohne deren Verständnis die Stücke des jungen Brecht nicht angemessen interpre­ tiert werden können. Das Gesicht des abgestürzten Fliegers ist nun „unkennt• lich", aber dieses Gesicht ist, so heißt es, „zwischen ihm und uns [erzeugt]". Diese Worte kann man nicht buchstäblich verstehen. Im Nachlaß findet sich ein Typoskript, das lautet: „Völlig unkenntlich/Ist jetzt sein Gesicht/Erzeugt

vorn Bertolt-Brecht-Archiv: 826/27; vgl. GBA 3, 432) des Jasagers bezeichnet. Deshalb kann und soll man diese drei Lehrstücke nicht getrennt behandeln, weil es zu Mißverständnis• sen wie in der bisherigen Forschung führen muß. 10 Vgl. S.T., Parabel und Lehrstück. Zur parabolischen Struktur des Brechtschen Lehrstucks. In: Doitsu Bungaku. Herbst 1995. Band 95. S. 97-107; S.T., Das Badener Lehrstück vom Einverstdndnis. Die Entstehung des Lehrstücks und die Wandlung seiner Konzeption. In: The Proceedings of the Foreign Language Sections, Graduate School of Arts and Sciences, College of Artsand Sciences, The University of Tokyo. Vol. 4. Tokyo 1999. S. 68-166. 11 In der vorliegenden Arbeit soll aus der großen Brecht-Ausgabe zitiert werden: Bertolt Brecht, Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Herausgegeben von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei und Klaus-Detlef Müller. Berlin, Wei­ mar und Frankfurt am Main 1988-2000. Hinter der Abkürzung für diese Ausgabe (GBA) sind die Bandnummern sowie die Seitenzahlen angegeben.

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zwischen ihm und uns/Durch vierzig Jahre."12 Es ist nun klar, daß das Gesicht als Metapher die sozialen Beziehungen zwischen Menschen darstellt. Das Ge­ sicht stellt bei Brecht sozusagen ein jeweiliges Produkt sozialer Verhältnisse dar. Das Flugzeug ist abgestürzt; der Flieger war bis dahin der „Inhaber eines Amts", aber er kann nicht mehr fliegen, deshalb muß er sein Amt niederlegen; mit seinem Amt erlischt sein Gesicht. Die letzte Zeile lautet: „Er hatte nur eines!" Der Satz bedeutet: Man hat je nach seinem Amt ein anderes Ge­ sicht, aber der Flieger verharrt in seinem Amt als Flieger; er möchte kein an­ deres Amt. Deshalb heißt es: „Er hatte nur eines !",nur ein Gesicht als Flie­ ger. Gesicht ist hier offensichtlich metaphorisch gemeint. Einern solchen Menschenverständnis scheint die gesellschaftliche Auffas­ sung des Menschen bei Karl Marx zugrundezuliegen. Marx bestimmt das We­ 13 sen des Menschen als „das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse" . Dieses Verständnis hat sich in den folgenden Zeilen niedergeschlagen. Indem man ihn anruft, entsteht er. Wenn man ihn verändert, gibt es ihn. Wer ihn braucht, der kennt ihn. Wem er nützlich ist, der vergrößert ihn. (GBA 3, 43f.) Erst soziale Verhältnisse machen den Menschen aus; bevor er in diese sozialen 14 15 Verhältnisse eingebunden ist, ist er deshalb „nichts" und „niemand" . Erst wenn man soziale Verhältnisse eingeht, bekommt man sozusagen sein sozia-

12 Ein Korrekturbogen ist mit Typoskripten im Elisabeth-Hauptmann-Archiv in der Mappe 170 überliefert. Der Korrekturbogen und die Typoskripte sind mit zahlreichen hand­ schriftlichen Korrekturen und Ergänzungen von Brecht versehen, die mit Bleistift, blauer Tinte und blauem Stift eingetragen sind. Dieses wichtige Material besteht aus 20 Blättern; das 1. bis zum 4. und das 6. bis zum 13. Blatt und das 20. Blatt sind aus dem Korrekturbo­ gen, die anderen (d.h. das 5. und das 14. bis zum 19. Blatt) sind Typoskripte. Der Korrek­ turbogen stellt die Grundschicht des Textes dar, dazu kommen noch Typoskripte und viele Korrekturen, Ergänzungen und Eintragungen. Dieses Material zeigt den Entste­ hungsprozeß der neuen Fassung anschaulich; es ist für die Untersuchung dieses Lehr­ shicks unentbehrlich. 13 Karl Marx, Friedrich Engels, Werke. Berlin 1962, Band 3, S. 535. 14 In einem „aus nichts wird nichts und lehrstücke" betitelten Fragment heißt es: „daß er [der Kapitalist - S.T.] seine bedeutung lediglich an den besitz der produktionsmittel bindet und dadurch sich davor gewalttätig schützt wieder nichts zu werden ist ein grund für die revolution, ein ug [= Umwälzungsgrund - S.T.]" (Unterstreichung von Brecht; BBA 827 / 13; Reiner Steinweg (Hrsg.), Brechts Modell der Lehrstücke. Zeugnisse, Diskussion, Erfah­ rungen. Frankfurt am Main 1976, S. 53; vgl. GBA 10, 689). Das Wort „nichts" im Titel des Lustspiels Aus nichts wird nichts wird im selben Sinne gebraucht. In der neuen Fassung des Lustspiels Mann ist Mann, die 1938 in London beim Malik-Verlag erschien, heißt es: „Der Mensch ist gar nichts!" (GBA 2, 206). 15 Vgl. dazu noch das Lustspiel Mann ist Mann (1926). Gegen Ende des Stücks sagt Galy Gay semen Kameraden: „Oh ihr Knäblein, warum habt ihr mich statt Galy Gay damals nicht gleich noch Garniemand genannt?" (GBA 2, 155).

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les Gesicht; wenn diese sozialen Verhältnisse aufgelöst werden, verliert man es. Daraus wird gefolgert: Was da liegt ohne Amt Ist es nichts Menschliches mehr. Stirb jetzt, du Keinmenschmehr! (GBA 3, 44) Der Flieger, der nicht mehr fliegen kann, wird durch den gelernten Chor ent­ eignet; der Flieger, der schon durch die Enteignung sein Amt verloren hat, ist nach Brechts Auffassung des Menschen kein Mensch mehr. Der Mensch, der in der modernen, hochrationalisierten Gesellschaft substanzlos und austausch­ bar, auch in dem Sinne „nichts" und „niemand" ist, kann erst dann etwas sein, wenn er ein Amt innehat, wenn er eine „Aufgabe"16 löst, wenn er einen „Auf• trag" (GBA 3, 45) ausführt. Wenn man aber einmal eine Aufgabe gelöst oder einen Auftrag ausgeführt hat, muß man jedesmal sein Amt niederlegen, um wieder „nichts" und „niemand" zu werden. Das Sterben stellt dieses Amt-Nie­ derlegen dar. Und es muß ein bewußter Akt sein, deshalb muß der Flieger, der sein Amt verloren hat und deswegen kein Mensch mehr ist, einmal sterben, um wieder Mensch zu werden: „Stirb jetzt, du Keinmenschmehr!" Der Text vom Badener Lehrstück ist voll von Metaphern.17 So heißt es z.B. an einer Textstelle: „Du bist aus dem Fluß gefallen, Mensch" (GBA 3, 44). Die­ ser Fluß, der an einer anderen Stelle auch „Fluß der Dinge" (GBA 3, 45) 18 heißt, stellt als Metapher den Strom der Zeit, nämlich die Geschichte dar. Der Flieger ist aus dem entindividualisierenden, nivellierenden Strom der Ge­ schichte gefallen; er verharrt in seiner „Größe" (GBA 3, 41), in seinem ,Reich­ tum' (vgl. GBA 3, 44) und in seiner ,Eigentümlichkeit' (vgl. ebenda). Deshalb kann er nicht sterben, nicht sein Amt niederlegen. „Aber /Wer nicht sterben kann/Stirbt auch./Wer nicht schwimmen kann/Schwimmt auch" (GBA 3,

16 Vgl. dazu R.S., Brechts Modell, a.a.O., S. 107. 17 Reiner Steinweg hat als erster auf die Metaphern im Badener Lehrstück vom Einverstimdms hingewiesen: Z.B. der Sturm im Kommentartext sei „eine Metapher für die sozialen Kämpfe"; s. R.S., Brechts „Die Maßnahme" - Übungstext, nicht Tragödie. In: alternative. 14. Jahrgang (1971) Heft 78/79. Hrg. von Hildegard Brenner, S. 133-143 (hier S. 142); oder „das Fieber des Städtebaus und des Öls" oder „die Kämpfe um die Geschwindigkeit" seien Metaphern; s. R.S., „Das Badener Lehrstück vom Einverständnis". Mystik, Religi­ onsersatz oder Parodie? In: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.) Text und Kritik. Sonderband Bertolt Brecht II. München 1973, S. 109-130 (hier S. 114). Und er hat auch darauf hingewie­ sen, „daß es nicht >real< um die im Stück benutzte Situation eines Flugzeugabsturzes geht" (R.S., a.a.O., S. 115). Aus solchen philologischen Einsichten hat er aber keine Konsequenz gezogen, sondern hat sich in erster Linie damit beschäftigt, zu erschließen, welcher Klasse z.B. Herr Schmitt in der Clownsszene oder der abgestürzte Flieger bzw. die Monteure angehören, oder religiöse Interpretationen des Badener Lehrstucks zu entkräften. 18 Dieselbe Metapher kommt auch in der Berliner Fassung von Mann ist Mann (1931) vor. In dieser Fassung ist „ein Lied vom Fluß der Dinge" (GBA 2, 203) der Frau Begbick hinzuge­ fügt.

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44). Beide Sätze bedeuten: Wer nicht im physischen Sinne sterben kann, stirbt doch im metaphorischen Sinne; wer nicht im Wasser schwimmen kann, schwimmt dann doch im Strom der Geschichte.19 In einem der Kommentar­ texte des Badener Lehrstücks heißt es: „Also, wenn ihr das Sterben überwinden wollt, so überwindet ihr es, wenn ihr das Sterben kennt und einverstanden seid mit dem Sterben" (GBA 3, 38). Wenn man diesen Satz aus dem Kontext herausnimmt, könnte er einen religiösen, transzendenten Sinn haben, aber die Worte „das Sterben überwinden" haben keinen religiösen, keinen metaphysi­ schen Sinn. Das Sterben bedeutet lediglich, daß der Mensch in der modernen Gesellschaft immer wieder „nichts" und „niemand" werden muß, wenn er keine „Arbeit" (GBA 3, 45) mehr leistet. Der Mensch als solcher ist die „klein• ste Größe" (GBA 3, 41); er kann Brecht zufolge erst dann etwas werden, wenn er einen Auftrag vollzieht, den er vom „Gemeinwesen" (GBA 3, 9) erhält.20 In dem Sinne stellt der Tod bzw. das Sterben sozusagen eine Metapher für die Daseinsweise des Menschen in der modernen Gesellschaft dar. Im Lehrstück wird der Tod so wie das Sterben im Badener Lehrstück thema­ tisiert. 21 Tod bzw. Sterben ist nur metaphorisch, nicht physisch gemeint. Es scheint sich jedoch im Jasager sowie in der Maßnahme um die physische Tötung des Knaben bzw. des jungen Genossen zu handeln. Aber die Lehrstücke sind keine realistischen Stücke im üblichen Sinne, sondern, so heißt es in einem Fragment im Nachlaß, „Parabeln" (GBA 10, 689). Die Kommentartexte des [Badener] Lehrstücks enthalten eine parabelhafte Geschichte des „Denkende[n]" (GBA 3, 38). Es ist sehr merkwürdig, daß das Stück einen Kommentar enthält, jedoch sollte das Lehrstück der Brechtschen Konzeption nach aus einem Handlungs- und einem Kommentarteil bestehen. Der Kommentar enthält eine Parabel oder ein Gleichnis. Der Handlungsteil, den Brecht in einem ande­ ren Kontext auch „Dokument" (vgl. GBA 10, 514) nennt, veranschaulicht die Parabel, oder umgekehrt, die Parabel macht den Bühnenvorgang, den Hand­ lungsteil verstehbar. Das Lehrstück oder dessen zweite Fassung, Das Badener Lehrstück vom Einverständnis und Der Flug der Lindberghs (die zweite Fassung des Lindberghfluges) haben eine solche Struktur, aber im Jasager und in der

19 Vgl. dazu meinen Aufsatz über Das Badener Lehrstuck vom Einverstandnis: S.T., a.a.O., S. 147f. 20 Steinweg interpretiert ähnlich: „Man wird >jemand<, indem man gesellschaftlich notwen­ dige Arbeit leistet." R. S., Brechts „Die Maßnahme", a.a.O., S. 142. 21 Im Kommentartext des Lehrstücks heißt es: „wenn ihr den tod überwinden wollt so über• windet ihr ihn wenn ihr einverstanden seid mit dem tod" (Paul Hindemith, Sämtliche Werke, im Auftrag der Hindemith-Stiftung, hrsg. von Kurt von Fischer und Ludwig Fm­ scher. Band 1, 6. Szenische Versuche. Hrsg. von Rudolf Stephan. Mainz 1982. S. XXV. Im folgenden wird hinter der Abkürzung dieser Ausgabe· HSW die Seitenzahl angegeben). In der zweiten Fassung hat Brecht das Wort „Tod" in „Sterben" (GBA 3, 38) verandert und damit den Akzent vom Zustand auf den Akt verlegt.

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Maßnahme ist der Kommentar verschwunden. Warum mußte der Kommentar aus dem Lehrstück verschwinden? Das Fehlen des Kommentars ist auf die Veränderung der Lehrstückkonzeption zurückzuführen, die von der Bearbei­ tung des Nö-Stücks Taniko veranlaßt wurde. Im Nachlaß sind Fragmente überliefert, wo der „ideologische Sekretär" (vgl. GBA 10, 667 u. 677) als dramatische Person vorkommt und den Kommen­ tar zitiert. Es war z.B. vorgesehen, daß der achte Abschnitt vom Flug der Lind­ berghs, nämlich der Ideologie-Abschnitt, von diesem „ideologischen Sekretär" zitiert werden sollte; dieser Plan wurde aber später fallengelassen.22 Die Lehr­

stücke, in denen der 11ideologische Sekretär" vorkommen sollte, z.B. Der böse Baal der asoziale oder Der Brückenbauer, wurden nie vollendet. Zu diesem Zeit­ punkt hat Brecht noch keine Lösung dafür gefunden, wie die Lehre ins Lehr­ stück eingeführt oder von wem der Kommentar zitiert bzw. hergesagt werden sollte. Anfang der siebziger Jahre hat Reiner Steinweg versucht, die Lehrstück• theorie oder das Modell der Lehrstücke zu rekonstruieren, aber wenn man die einzelnen Lehrstücke analysiert, stellt sich heraus, daß die Konzeption von ei­ nem Lehrstück zum anderen ganz unterschiedlich ist. Dies bedeutet, daß Brecht über kein Modell der Lehrstücke verfügte.23 Im [Badener] Lehrstück ist z.B. die Einbeziehung des Publikums vorgesehen; die Partien der „Menge"

22 Vgl. S.T., Von der „Verherrlichung des Fliegers" zum Lehrstück für Kollektive. Über Der Lindberghflug /Der Flug der Lindberghs. (Lehrstückstudien II) In: The Proceedings of the For­ eign Language Sections, Graduate School of Arts and Sciences, College of Arts and Sciences, The University of Tokyo. Vol. 5. Tokyo 2000. S. 14-131, hier S. 78-82. 23 Reiner Steinweg sowie Nikolaus Müller-Schöll (vgl. N.M.-S., Das Theater des „konstruk• tiven Defaitismus". Lektüren zur Theorie eines Theaters der A-Identität bei Walter Benja­ min, Bertolt Brecht und Heiner Müller. Frankfurt am Main 2002. S. 318-360) gehen davon aus, daß Brecht eine Lehrstücktheorie hatte. Die Antwort auf die Frage, ob Brecht eine Lehrstücktheorie hatte oder über ein Modell der Lehrstücke verfügte, wird in der For­ schung je nach Standpunkt unterschiedlich beantwortet. Brecht hat viele theoretische bzw. konzeptionelle Fragmente hinterlassen. Er hat jedes Lehrstück zu einem bestimmten Zeitpunkt nach einer bestimmten Konzeption geschrieben. Aber wie schon gesagt, sind die Konzeptionen, nach denen die Lehrstücke geschrieben wurden, ganz unterschiedlich. Brecht ist nicht zur alten Konzeption zurückgekehrt, wenn er die Unzulänglichkeit einer Konzeption erkannte. Daraus muß man folgern, daß er damals nur verschiedene Konzep­ tionen erprobt hat, aber noch nicht >die< Lehrstücktheorie hatte. Brecht bezieht sich in sei­ nem Exil sowie in den Nachkriegsjahren mehrere Male auf das Lehrstück; der erstmalige Gebrauch der Worte „Theorie des Lehrstücks" fällt ins Jahr 1934. In einem Nachlaßfrag• ment (vgl. R.S., Brechts Modell, a.a.O., S. 141) versucht er eine Lehrstücktheorie zu formu­ lieren. Vielleicht hat er erst zu diesem Zeitpunkt einen Standpunkt bezogen, von dem aus er die Lehrstücke überblicken konnte, und eine Lehrstücktheorie formulieren wollen. Aber dieser Versuch blieb fragmentarisch; Brecht hat nie eine Lehrstücktheorie ausformu­ liert. Zumindest kann man sagen, daß er Anfang der dreißiger Jahre keine Lehrstücktheo• rie im strengen Sinne, sondern lediglich verschiedene Konzeptionen hatte. Wie seine 6 Lehrstücke zeigen, hat das Lehrstück zu viele Möglichkeiten, als daß man dazu eine Theo­ rie formulieren könnte; Brecht hat das Experiment des Lehrstücks keineswegs zu Ende geführt, was eventuell zu einer Lehrstücktheorie geführt hätte.

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sind für das Publikum bestimmt. Aber eine solche Konzeption wurde im Jasa­ ger sowie in der Maßnahme aufgegeben, stattdessen sollen beide Lehrstücke nur von Laienspielem aufgeführt bzw. gespielt und gesungen werden. Zu dieser Veränderung der Konzeption hat die Bearbeitung der englischen Nachdichtung des Taniko geführt. Der ideologische Sekretär ist in Der böse Baal der asoziale und Der Brückenbauer als Stückfigur und zugleich im letzteren auch als eine Art Sprecher konzipiert. Er ist im Gegensatz zum Sprecher oder zur Figur des „Denkenden" im [Badener] Lehrstück stark in die Handlung verwik­ kelt; andererseits sind der Handlungs- und der Kommentarteil in diesen Lehr­ stückfragmenten nicht mehr voneinander getrennt, wie noch im Lehrstück; mit der Einführung des „ideologischen Sekretärs" sollte die Trennung von Hand­ lung und Kommentar aufgehoben werden. Aber Brecht konnte diese neue Konzeption nicht ausführen; er konnte die Trennung von Handlung und Kommentar nicht überwinden. Erst als er das Nö-Stück Taniko kennenlernte, konnte er endlich eine Lösung für dieses Problem finden. Die komplizierte Konstellation der dramatis personae im Lehrstück zeugt davon, wie sehr Brecht sich um die Form des Lehrstücks bemüht hat; diese erste Fassung weist neben dem abgestürzten Flieger noch den Chor, den Füh• rer des Chors, den Sprecher, die Vorsänger („einige aus der menge": HSW XXIVff.) und die Menge auf. Davon ist im Jasager und in der Maßnahme nur noch der Chor übriggeblieben. Allem Anschein nach beabsichtigte Brecht im Herbst 1929 eine Reihe von Lehrstücken zu verfassen; im Nachlaß sind Frag­ mente überliefert, aber keines wurde fertiggestellt. Da kam von das Angebot einer Zusammenarbeit; er wollte eine Schuloper für das Musikfest >Neue Musik Berlin 1930< komponieren, deshalb hat er Brecht darum gebeten, die deutsche Übersetzung der englischen Nachdichtung des japanischen Nö• Stücks Taniko für eine Schuloper zu bearbeiten. Brecht hat das Angebot ange­ nommen und mit der Bearbeitung angefangen. Aus einem derartigen Zufall ist Der Jasager entstanden; Brecht selbst hat nie nach einem Stoff aus dem ost­ asiatischen Theater gesucht. Diesen Umständen ist es zuzuschreiben, daß Der Jasager eine völlig andere Struktur hat als das Lehrstück. Der Grund, weshalb Brecht Taniko aufgegriffen hat, liegt vermutlich erstens darin, daß er in der japanischen Vorlage einen Chor sowie eine schlichte Dramenform vorgefun­ den hat, und zweitens darin, daß die japanische Vorlage eine formale Ver­ wandtschaft mit seinem epischen Theater hat, drittens, daß Waleys englische Nachdichtung von Taniko das Thema des Todes beinhaltet, genauer gesagt, des Opfertodes, und zuletzt, daß es zur szenischen Behandlung des metapho­ rischen Todes paßt, daß das Hinabwerfen des Knaben ins Tal nur berichtet, d.h. dem Publikum nicht vorgeführt wird. Obwohl sich Brecht eigentlich gar nicht für den Opfertod interessierte, wie beide Fassungen des Badener Lehr­ stücks zeigen, glaubte er doch wohl, daß das Thema des Lehrstücks, nämlich

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das Einverständnis mit dem Tod, mit der Einführung des Motivs des (Opfer-) Todes in zugespitzter Form dargestellt werden könnte. Während das Einverständnis mit dem Tod im Lehrstück noch in ziemlich hohem Maße auf der Meta-Ebene des Kommentars bleibt, wird es im Jasager sowie in der Maßnahme in die Handlung selbst eingeführt. Diese Einführung des Themas des Einverständnisses in die Handlung erfolgte nicht umsonst; da das Sterben, wenn auch metaphorisch, so doch ein bewußter Akt sein muß, kann man es sozusagen besser am eigenen Leib erlernen, wenn man selbst spielt. Obwohl es keinen unmittelbaren Beleg dafür gibt, daß die Tötung des Knaben ein Gleichnis ist, lassen sich doch einige mittelbare Indizien im Text und in der Musik finden. Der Einleitungschor lautet z.B.: Wichtig zu lernen vor allem ist Einverständnis Viele sagen Ja, und doch ist da kein Einverständnis Viele werden nicht gefragt, und viele Sind einverstanden mit Falschem. Darum: Wichtig zu lernen vor allem ist Einverständnis. (GBA 3, 49 u. 59) Wenn man vom Ende her zurückblickt und zwar vom Gesichtspunkt des Kna­ ben aus, so scheint mit diesem Einverständnis zwar das Einverständnis mit der Tötung, mit seinem Hinabwerfen ins Tal gemeint zu sein, aber wenn es in diesem Sinne gemeint wäre, so könnte man den Chor nicht verstehen, weil das Einverständnis mit seinem einmaligen, physischen Tod kein Gegenstand des Lernens sein kann; Lernen impliziert die Möglichkeit der Wiederholung. Des­ halb kann das Einverständnis mit seinem eigenen Sterben ebenfalls nicht im physischen, sondern nur im metaphorischen Sinne gemeint sein. Die Musik liefert ein mittelbares Indiz für eine solche Interpretation. Jür• gen Schebera analysiert die Musik zum letzten Teil so: „Mächtige Akkorde leiten die Frage ein: »Verlangst du, daß man umkehrt deinetwegen?« Das Or­ chester verstummt, die Antwort des Knaben erfolgt ohne jede musikalische Begleitung, aber auch noch im Fortissimo: »Ihr sollt nicht umkehren«. Danach geht die Musik in einen Marschrhythmus über, von stampfenden Vierteln be­ gleitet[ ... ] singen die drei Studenten das bestätigende »Er hat ja gesagt, er hat dem Brauch gemäß geantwortet«".24 In den Lehrstücken spielt Musik eine so wichtige Rolle wie die Texte. Die Konzeption, das Publikum ins Spiel einzu­ beziehen, wurde von Hindemith vermittelt. Die Initiatoren des Lehrstücks und des Jasagers sind die Komponisten, nicht Brecht.25 Und in seinen Lehrstücken spielt der Marsch ebenfalls eine wichtige Rolle. Das Badener Lehrstück vom Ein-

24 Jürgen Schebera, Kurt Weill, Leben und Werk mit Texten und Materialien von und über Kurt Weill. Königstein/Taunus 1984. S. 141. 25 Vgl. K.-D. Krabiel, a.a.O., S. 14 u. 5lff.

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verständnis geht, wenn auch nur auf der dichterischen Ebene, so doch ebenfalls mit einem Marsch zu Ende. Der Marsch bedeutet das Zu-Stande-Kommen des Einverständnisses so wie im Fall des Badener Lehrstücks das Aufgehen der Ein­ zelnen im Kollektiv und den Aufbruch zu einem neuen Ziel. Im Jasager wird der Marsch musikalisch eingeführt. In dem Sinne kann Der Jasager mit dem Ja­ Sagen des Knaben zu Ende gehen, da das Lernziel dieses Lehrstücks laut dem Motto des Einleitungschors im Lernen des Einverständnisses liegt. Aber das Stück geht noch weiter, weil jedes Stück auf der Ebene der einen Schluß benötigt. Das Hinabwerfen des Knaben wird von der japanischen Vorlage dik­ tiert, aber vom Gesichtspunkt des Themas aus ist es nicht nötig. Es ist ein An­ hängsel, das dem Lehrstück von der Vorlage aufgezwungen wurde. Offen­ sichtlich erzielt Brecht hier aber auch eine Wirkung für die Spieler und, wenn aufgeführt, ebenfalls für das Publikum. Das Lehrstück schließt, genau bese­ hen, nicht mit dem Hinabwerfen des Knaben ins Tal, sondern mit dem Bericht davon. Da die Tötung des Knaben ein Gleichnis darstellt, darf sie auf der Bühne nicht nachvollzogen werden. Dieser Gleichnischarakter der Tötung tritt in der Maßnahme noch deutli­ cher hervor. Die letzte Szene ist in den ersten zwei bzw. drei Fassungen „Die Grablegung" (GBA 3, 96 u. 123) betitelt. Das Wort hat eine biblische Konnota­ tion; es bedeutet keine Bestattung, kein Begräbnis im üblichen Sinne, sondern das Begräbnis Christi. Nach Angaben der Evangelien ist Jesus Christus drei Tage nach seiner Grablegung auferstanden. Mit diesem Szenentitel ist auch die Auferstehung des jungen Genossen angedeutet wie die des Knaben Matsuwaka in der japanischen Vorlage.26 Nach dem bisherigen Verständnis muß man jedesmal nach dem Tod sozusagen zu einer neuen Aufgabe, zu ei-

26 Zur letzten Chorpartie in der englischen Nachdichtung hat Waley eine Fußnote hinzuge­ fügt. Sie lautet: „I have only summarized the last chorus. When the pilgrims reach the summit, they pray to their founder, En no Gyöja, and to the God Fudö the boy may be restored to life. In answer to their prayers a Spirit appears carrying the boy in her arms. She lays him at the Priest's feet and vanishes again." (Peter Szondi (Hrsg.), Bertolt Brecht: Der Jasager und . Vorlagen, Fassungen und Materialien. Frankfurt am Main 1966. S. 12). Diese Fußnote widerspricht der Tatsache, daß die Chorpartie in der japanischen Vorlage weder die letzte noch am Ende des Textes, sondern im Zentrum, ge­ nauer gesagt, am Ende der ersten Hälfte, plaziert ist, deshalb ist sie nicht „the last chorus". Waley verschweigt auch, daß er die zweite Hälfte der japanischen Vorlage gestrichen hat. Vgl. S.T., Brechts Begegnung mit dem japanischen Nö-Theater. Der Jasager oder die Schwierigkeit der Bearbeitung eines Nö-Stückes. (Lehrstückstudien III) In: The Proceed­ ings of the Foreign Language Sections, Graduate School of Arts and Sciences, College of Artsand Sciences, The University ofTokyo. Vol. 6. 2001. S. 55-113, hier S. 62-70. Der letzte Abschnitt der Maßnahme „Die Grablegung" wurde wohl von der japanischen Vorlage in­ spiriert. Obwohl Brechts Mitarbeiterin, Elisabeth Hauptmann ihre deutsche Übersetzung der englischen Nachdichtung ohne diese Fußnote publizierte, wußte Brecht sicherlich von ihr; vielmehr dürfte er sie in der veröffentlichten Übersetzung unterdnicken lassen haben, damit die Bearbeitung auf dem Musikfest ein erschütterndes Erlebnis vermitteln sollte.

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nem neuen Auftrag auferstehen. Brecht hat auch die Tötung des jungen Ge­ nossen so verstanden. 1932 hat er in einem Brief an das Proletarische Theater in Wien über „die Begründung der Tötung" (GBA 28, 342) geschrieben: „die Tötung ist ja nur der gleichnishafte, äußere Ausdruck für die Tatsache, daß der junge Genosse es mit seinen Fehlern so weit gebracht hat, daß es besser ist, ohne ihn zu kämpfen als mit ihm" (GBA 28, 343).27 Deshalb ist die Tötung des jungen Genossen nicht eine politische Säuberung oder eine Vorwegnahme der Moskauer Schauprozesse, wie oft behauptet wird. Vom Flug der Lindberghs bis zur Maßnahme kann man in jedem Lehrstück eine Parallelszene finden, wo die Hauptfigur nach der erfolgreichen oder miß• lungenen Erledigung einer Aufgabe auf der Bühne „unsichtbar" (GBA 3, 97 bzw. 125; vgl. dazu auch das Zitat auf Seite 54) wird; die Hauptfigur stirbt

27 In einem Gespräch sagt Brechts engster Mitarbeiter, der Komponist Hanns Eisler, seinem Gesprächspartner Nathan Notow1cz: „Aber das ist doch eine Parabel! Dann darfst Du auch nicht die Andersen-Märchen lesen, darfst keine Parabelstücke lesen, auch von Shake­ speare nicht, weil Du glaubst, das ist die ... Das ist doch ka [sie] Gerhart Hauptmann, wo ein Mensch stirbt. Der stirbt doch gar nicht, der junge Genosse, der steht auf der Bühne ... der wird doch nicht erschossen oder so etwas" (Nathan Notowicz, Wir reden hier nicht von Napoleon. Wir reden von Ihnen! Gespräche mit Hanns Eisler und Gerhart Eisler. Ber­ lin 1971. S. 190f). Und ein bißchen später sagt er weiter: „Da sagt er [Brecht-S.T.]: »Weißt Du was, da werden wir ein anderes Stück, em Gegenstück schreiben, ,Die Maßnahme', wo ein Mensch einverstanden ist, aus der Gemeinschaft, aus dem Kollektiv sich auszuschal­ ten.« Das kann in der Parabelform der Tod sem, in einer anderen Form kann es ein Weg­ gehen sein" (a.a.O., S. 191). Diese Eislerschen Aussagen sind keine nachträgliche Rechtfer­ tigung der Tötung des jungen Genossen, sondern sie beruhen mit großer Wahrscheinlich­ keit auf einer eingehenden Diskussion mit Brecht über das Thema. Sie haben sich beide mit der Maßnahme von Januar/Februar bis Anfang Juli 1930 beschäftigt. Nach der Fertig­ stellung der Maßnahme ist die zweite Fassung des Lehrstucks entstanden; sie war Mitte September 1930 fast fertig (vgl. dazu GBA 28, 331, und auch memen Aufsatz über Das Badener Lehrstuck, a.a.O., S. 122). Wie man schon gesehen hat, stirbt die Hauptfigur in den drei Lehrstücken keineswegs auf der Bühne. Diese szenische Behandlung ist vom meta­ phorischen Charakter des Todes bestimmt. Und das „Weggehen" des abgestürzten Flie­ gers wird in der zweiten Fassung des Lehrstücks geschildert. Der gelernte Chor sagt im 10.,

„Die Austreibung" betitelten Abschnitt zum abgestürzten Flieger: 11Jetzt erschrick nicht, Mensch, aber/Jetzt mußt du weggehen. Gehe rasch!/Blick dich nicht um, geh/Weg von uns" (GBA 3, 45). Es ist aber im Badener Lehrstuck nicht der abgestürzte Flieger, sondern es sind die drei abgestürzten Monteure, die mit dem Sterben einverstanden sind. Da ist Eis­ lers Aussage nicht so präzis; er durfte vielleicht den abgestürzten Flieger der ersten Fas­ sung mit dem der zweiten verwechselt sowie den Sinn des Weggehens mit dem des Ein­ verständnisses mit dem Tod vermengt haben. Bei der Arbeit am Badener Lehrstück hat Brecht sicherlich die Erfahrungen mit dem Jasager, der im religiösen Sinne verstanden bzw. mißverstanden wurde, berücksichtigt und war bemüht, solche Mißverständnisse im voraus abzuwehren. Deshalb hat er im Prozeß der Umarbeitung die Figur des abgestürz• ten Fliegers in den einen Flieger und die drei Monteure aufgespalten (vgl. S.T., a.a.O., S. 117ff.) und somit eine negative und drei positive Figuren eingeführt. In der neuen Fassung wird der abgestürzte Flieger mit Todesmetaphern geschildert, weil er abgestürzt ist und deswegen „sterben" muß. Jedoch ist er nicht mit dem Sterben einverstanden, deshalb wird er von der Bühne, d.h. aus der Arbeitsgemeinschaft der Monteure vertrieben. Diese Um­ arbeitung, an der Eisler sicherlich beteiligt war, reflektiert wohl seine obige Aussage.

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Uber das Todesmotiv im Jasager und dessen Stellenwert in Brechts Lehrstücken

weder auf der Bühne, noch wird ihre Tötung dem Publikum vorgeführt. Der Knabe im Jasager z.B. wird vor dem Bericht seines Hinabwerfens ins Tal eben­ falls von den Studenten „unsichtbar" gemacht: Eine Bühnenanweisung lautet: „Die drei Studenten stellen sich vor ihn, ihn [den Knaben - S.T.] verdeckend" (GBA 3, 54). Diese bewußten einheitlichen szenischen Behandlungen der Hauptfiguren bzw. des Todes deuten in hohem Maße an, daß das Sterben me­ taphorisch-parabolischen Charakter hat; wenn der Tod realistisch gemeint wäre, wären solche szenischen Behandlungen nicht nötig. Nun muß man untersuchen, warum der Knabe sterben muß. Der Lehrer geht mit seinen Studenten auf eine „Forschungsreise" (GBA 3, 49) in die Stadt jenseits der Berge, und der Knabe geht mit, aber er erkrankt auf der Reise. Das merken die drei Studenten. Sie befragen den Lehrer darüber, aber er beruhigt sie, indem er erwidert, der Knabe sei nur müde vom Steigen. Darauf sagen sie: DIE DREI STUDENTEN untereinander: Hört ihr? Der Lehrer hat gesagt Daß der Knabe nur müde sei vom Steigen. Aber sieht er nicht jetzt seltsam aus? Gleich nach der Hütte aber kommt der schmale Grat. Nur mit beiden Händen zufassend an der Felswand Kommt man hinüber. Wir können keinen tragen. Sollten wir also dem großen Brauch folgen und ihn In das Tal hinabschleudern? (GBA 3, 52f.) Im japanischen Original findet das Hinabwerfen des Knaben ins Tal seinen Grund in der religiösen Unreinheit, die von seiner Krankheit herrührt. Dage­ gen wird in der säkularisierenden Bearbeitung Brechts das Hinabwerfen des Knaben ins Tal scheinbar realistisch begründet: Der Grat ist derartig schmal, daß man „nur mit beiden Händen zufassend an der Felswand" hinüberkom• men kann, deshalb kann man den Knaben nicht hinübertragen. Folglich soll man ihn „dem Brauch gemäß" (GBA 3, 54) ins Tal hinabwerfen. Das ist aber nur ein Scheinargument, weil man, ihn tragend, zurückkehren könnte, was später im Neinsager geschieht. Hier springt Brecht sozusagen vom „schmalen Grat" zum „großen Brauch", von der weltlich-rationalen Motivierung zurre­ ligiös-irrationalen. Am obigen Zitat kann man leicht erkennen, daß die Moti­ vation doppeldeutig, nämlich weltlich und religiös ist. Es heißt einmal, daß man wegen des schmalen Grats „keinen tragen" kann, aber dann fragen die drei Studenten, ob sie „also dem großen Brauch folgen und ihn in das Tal hin­ abschleudern" sollten. Dieses „also" ist jedoch keineswegs logisch und über• zeugend. Es bleibt letzten Endes undeutlich, ob man wegen des schmalen

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Grats oder wegen seiner Krankheit den Knaben ins Tal hinabwerfen sollte. Wenn man aus dem religiösen Motiv heraus handeln sollte, würde „der schmale Grat" als Argument nicht in Frage kommen; nur die religiöse Unrein­ heit könnte das Hinabwerfen des Knaben ins Tal begründen. Diese Stelle zeigt deutlich, daß Brecht einerseits die Säkularisierung nicht zu Ende geführt hat und daß er andererseits den Brauch nicht wegsäkularisieren, sondern ihn viel­ mehr beibehalten wollte. Zur ersten Fassung des Jasagers schreibt Peter Szondi: „Wenn er [der große Brauch- S.T.] befremdet hat, so darum, weil er, durch die säkularisierende Bearbeitung seines religiösen Kontextes beraubt, in die aufgeklärte Welt des Stückes als Relikt von Mythischem fremd hinein­ ragt. [ ... ] Wo eine Auseinandersetzung zwischen Mythos und Aufklärung, zwischen dem großen Brauch und der Selbstbestimmung des Subjekts hätte stattfinden können, wurde diese jenem in den Rachen geworfen."28 Der große Brauch ist doch kein „Relikt von Mythischem". Brecht brauchte ihn nur, um den metaphorisch-parabolisch zu verstehenden Tod zu motivieren. Deshalb ist es ganz ausgeschlossen, daß Der Jasager „eine Auseinandersetzung zwi­ schen Mythos und Aufklärung" zum Thema machen könnte. Es kann sich ebenfalls nicht um die Aufgabe der „Selbstbestimmung des Subjekts" han­ deln. 29 Brecht hat das alte japanische Nö-Stück säkularisiert, aber den „großen Brauch" beibehalten. Den Widerspruch zwischen beiden konnte und wollte er aber nicht lösen;30 daran ist Der Jasager gescheitert.31 Deshalb mußte Brecht später die zweite Fassung des Jasagers erstellen und den Neinsager schreiben. In der Forschung wird oft behauptet, daß es Brecht im Badener Lehrstück, im Jasager und in der Maßnahme um das Verhältnis des einzelnen zum Kollek­ tiv bzw. zur Gemeinschaft geht. Hierzu schreibt Krabiel: Das Thema und Lernziel der Schuloper sei „das sich im >Einverständnis<-Motiv verdichtende

28 P. Szondi, a.a.O., S. 107f. 29 Die „Selbstbestimmung des Subjekts" konnte Anfang der 30er Jahre bei Brecht nicht mehr in Frage kommen, da das Subjekt bei ihm schon „entthront" (vgl. GBA 21, 275) war; der einzelne Mensch konnte kein Subjekt mehr im herkömmlichen Sinne sein. Zum Thema schreibt Brecht: „Der Krieg zeigt die Rolle, die dem Individuum in Zukunft zu spielen bestimmt war. Der einzelne als solcher erreichte eingreifende Wirkung nur als Repräsen• tant vieler. Aber sein Eingreifen in die großen ökonomisch-politischen Prozesse be­ schränkte sich auf ihre Ausbeutung. Die »Masse der Individuen« aber verlor ihre Unteil­ barkeit durch ihre Zuteilbarkeit. Der einzelne wurde immerfort zugeteilt, und was dann begann, war ein Prozeß, der es keineswegs auf ihn abgesehen hatte, der durch sein Ein­ greifen nicht beeinflußt und der durch sein Ende nicht beendet wurde" (GBA 21, 436). Mit seiner Unteilbarkeit hat der moderne Mensch nach Brechts Auffassung seinen Subjekt­ Status verloren. 30 Dieser Widerspruch war ihm vielleicht gar nicht bewußt; er brauchte nur das Todesmotiv. Er hatte auch vielleicht keine so großen Bedenken davor, daß das Todesmotiv mißverstan• den werden könnte, weil der Tod nicht real, sondern nur metaphorisch-parabolisch ge­ meint ist. 31 Vgl.ST., a.a 0., S. 85-98; K.-D. Krabiel, a.a.O., S. 143.

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Uber das Todesmotzv zm Jasager und dessen Stellenwert zn Brechts Lehrstucken

Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft. Eine soziale Gemeinschaft kann dauerhaft nur Bestand haben, wenn im Konfliktfall die einzelnen Glie­ der dem Ganzen Opfer zu bringen bereit sind, wenn dem Gesamtinteresse Vorrang vor dem Partikularinteresse eingeräumt wird: Dieser höchst unbe­ queme, auch gefährliche (da mißbrauchbare), gleichwohl kaum abweisbare Gedanke liegt dem Lehrstück zugrunde."32 Diese Behauptung scheint plausi­ bel zu sein, wenn man zum einen vom metaphorischen Aspekt des Todes und zum anderen von der parabolischen Stückkonzeption absieht. Den metapho­ rischen Charakter des Todes hat man schon erörtert. Wenn man die Todesme­ tapher einerseits und die parabolische Konzeption andererseits in Betracht zieht, liegt es auf der Hand, daß hier von Opfer keine Rede sein kann; man könnte nur von Opfer sprechen, wenn man das Hinabwerfen des Knaben ins Tal realistisch verstünde. Aber die Problematik von Krabiels Behauptung kann an den Tag gebracht werden, wenn man den Text genau liest; man braucht nur zu untersuchen, wer in der ersten Fassung des Jasagers (im obigen Zitat geht es um die erste Fassung) die Gemeinschaft ausmacht. Der Lehrer

geht mit seinen drei Studenten auf eine 11Forschungsreise" (GBA 3, 49) in die Stadt jenseits der Berge, weil dort „die großen Lehrer [sind]" (ebenda); der Knabe will mitgehen, weil er für seine kranke Mutter bei den „großen Ärzte[n]" (ebenda) in der Stadt jenseits der Berge „Medizin [ ... ] und Unter­ weisung" (GBA 3, 50) holen möchte. Wer bildet in diesem Lehrstück die Ge­ meinschaft? Der Lehrer, die Studenten und der Knabe? Aber der Lehrer und die Studenten einerseits und der Knabe andererseits verfolgen verschiedene Zwecke, deshalb können sie keine Gemeinschaft konstituieren. Die Erkran­ kung des Knaben kann die Gemeinschaft, die es nicht gibt, dann auch nicht gefährden, obwohl sie sicherlich die gemeinsame Reise erschwert. Die For­ schungsreise ist keine dringende Angelegenheit, deshalb können der Lehrer und die Studenten wie später im Neinsager umkehren, und die Reise des Kna­

ben ist ebenfalls nicht so dringend, zumal die Krankheit der Mutter 11keine bösen Folgen [hatte]" (GBA 3, 49). Obwohl der Meister, seine Jünger und der Knabe im japanischen Original eine religiöse Gemeinschaft bilden, geht es ebenfalls nicht um das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft, son­ dern um das Schicksal, das die Krankheit des Knaben heraufbeschwört und das dieser über sich ergehen lassen muß. Auch wenn Brecht, wie Krabiel be­ hauptet, im Jasager das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft hätte behandeln wollen, wäre es ihm nicht gelungen, eine säkularisierte Stücksitua• tion zu schaffen, in der man die Problematik des Verhältnisses von Indivi­ duum und Gemeinschaft angemessen behandeln könnte, weil man den „gro• ßen Brauch" nicht säkularisieren könnte, ohne das Todesmotiv zu verlieren.

32 Jan Knopf (Hrsg.), Brecht-Handbuch, Band 1. Stucke. Stuttgart und Weimar 2002. S. 246.

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Auch in der zweiten Fassung geht es nur scheinbar um das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft. In dieser Fassung spitzt sich die Stücksitua• tion zu, weil in der Stadt „eine Seuche [.„] ausgebrochen [ist]" (GBA 3, 59). Der Lehrer geht mit seinen Studenten auf „eine Hilfsexpedition" (GBA 3, 60) in die Stadt jenseits der Berge, weil dort „die großen Ärzte" (ebenda) wohnen. Der Knabe geht ebenfalls mit, aber er erkrankt auf der Reise. Wegen des schmalen Grats kann man ihn nicht hinüberbringen, deshalb muß man ihn im Gebirge liegenlassen. Dann sagt er: „Ich bitte euch, mich nicht hier liegenzu­ lassen, sondern mich ins Tal hinabzuwerfen, denn ich fürchte mich, allein zu sterben" (GBA 3, 64). Auch hier kann man nicht von Opfertod sprechen, weil es der Knabe ist, der die Studenten bittet, ihn ins Tal hinabzuwerfen. Und es gibt keine zwingenden Umstände, daß man seiner Bitte entgegenkommen muß. Warum wollte Brecht den Handlungsstrang, der zum Tod des Knaben führt, beibehalten? Diese Frage kann man nur beantworten, wenn man den Sinn der Todesmetapher in Betracht zieht. Der Knabe, der seiner Aufgabe

nicht gewachsen ist, muß sein „Amt" niederlegen und einmal 11 sterben"; seine Bitte zeugt nicht von seiner Pflicht gegenüber der Gemeinschaft, sondern viel­ mehr von der Bewußtheit, mit der er sein „Amt" niederlegt und seinen „Tod" stirbt. Deshalb handelt es sich hier ebenfalls weder um einen Opfertod noch um das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft.

Die Maßnahme hat den Hauptstrang der Fabel des Jasagers beibehalten, aber dessen Stoff modernisiert und seine dramatische Form radikalisiert. Ohne den Jasager hätte es Die Maßnahme nicht gegeben. Der größte und wichtigste Bei­ trag, den Der Jasager zum Schaffen der neuen Formen des Lehrstücks geleistet hat, liegt in der neuen Bestimmung der Funktion des Chors und in der Einfüh• rung der epischen Zeitstruktur, die aber noch unter dem starken Einfluß der japanischen Vorlage steht. Im Jasager gibt es keinen Kommentar mehr, der die Metaebene für eine parabolische Lehre stiftet~ stattdessen machen die Chor­ partien den Rahmen des Lehrstücks aus, z.B. wie der Einleitungschor das Thema stellt, oder wie der Chor am Anfang oder am Ende des zweiten Teils die Reise in die Berge oder das Hinabwerfen des Knaben ins Tal erzählt. Von einer Stelle abgesehen, greift der Chor in die Handlung nicht ein, wie im [Ba­ dener] Lehrstück oder in der Maßnahme. Das Nö-Stück fängt mit der Spiel-Ge­ genwart an, wie im europäischen Theater von der attischen Tragödie bis zur Gegenwart, aber an einer bestimmten Stelle beginnt der Chor zu erzählen, dann stellt sich heraus, daß der Bühnenvorgang, der dem Publikum vorge­ führt wird, schon längst geschehen ist; eine solche Zeitstruktur haben die mei­ sten Nö-Stücke. Da folgt Brecht der japanischen Vorlage. Auch bei ihm be­ ginnt der Chor im Jasager gegen Ende des ersten Teils plötzlich im Präteritum zu erzählen, womit die Handlung in die Vergangenheit versetzt wird; und

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Uber das Todesmotzv im Jasager und dessen Stellenwert in Brechts Lehrstucken

auch der zweite Teil, der von einer im Präteritum erzählenden Chorpartie am Anfang und am Ende eingefaßt wird, gehört offensichtlich in die Vergangen­ heit. Vom Erstling Baal bis zum Lindberghflug haben die meisten Stücke Brechts mehr oder weniger eine epische Tendenz, sie haben allerdings nicht die Zeit­ struktur, daß die Handlung etwas schon längst Geschehenes darstellt und wiederholt. Diese Zeitstruktur ist in der ganzen Maßnahme deutlich ausge­ prägt. Es ist jedoch nicht der Kontrollchor, sondern es sind die Agitatoren, die die Funktion des Erzählers tragen, indem sie das Geschehene im Präteritum erzählen und darstellen. Seit dem Jasager und der Maßnahme haben Brechts Stücke oft explizit oder implizit einen Erzähler. Der Kaukasische Kreidekreis hat einen Sänger. Die Titel der einzelnen Szenen von Leben des Galilei oder Mutter Courage haben eine erzählende Funktion; in der Berliner Fassung des Lebens des Galilei (1955/56) weist fast jede Szene neben dem Titel noch Eingangsverse auf, die natürlich gesprochen oder gesungen werden. Deshalb kann man sa­ gen, daß diese Fassung implizit einen Sänger oder Erzähler hat, obwohl eine solche Figur im Personenverzeichnis nicht vorkommt. Daher kommt dem Ja­ sager nicht nur in den Lehrstücken, sondern auch in der Entfaltung von Brechts epischem Theater eine wichtige Funktion zu; ohne seine Begegnung mit dem japanischen Nö-Theater hätte es weder den Jasager noch Die Maß• nahme gegeben, und sein episches Theater hätte auch einen Teil seines forma­ len Reichtums entbehren müssen.

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