SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 Wissen - Manuskriptdienst

Der Rheinsteig – Von bis ans „Deutsche Eck“ (1)

Autor: Helmut Frei Redaktion: Udo Zindel Regie: Maria Ohmer Sendung: Dienstag, 21. September 2010, 8.30 Uhr, SWR2 Wissen

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1 ATMO Seilbahn läuft an

Erzähler: Rüdesheim und seine Seilbahn. Über ein Meer von Reben schweben die Gondeln hinauf zum – eine gewaltige Germania, die über dem Städtchen und dem Rheintal thront. Unter den Ausflüglern Wanderer mit Rucksack und festem Schuhwerk. Ihr Ziel: der Rheinsteig – der große Fernwanderweg, der auf der rechten Rheinseite Wiesbaden und verbindet. Ein Weg, der über Höhen führt und zahlreiche Täler quert. Sein Auf und Ab ist auch ein Bild für die Gefühlslagen der Menschen an diesem Fluss. Der Rhein ist der große Strom Westeuropas – und er war jahrhundertelang die Achse im Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland.

Ansage: Der Rheinsteig – Folge 1: Von Wiesbaden bis ans „Deutsche Eck“. Eine Sendung von Helmut Frei.

Sprecher: Seit 2005 gibt es den Rheinsteig. Kein neu angelegter Touristenpfad, sondern die geschickte Verknüpfung und Vermarktung bestehender Wege. Die große Linie folgt einer Trasse, auf der bereits hundert Jahre früher vornehme Herrschaften Natur und Landschaft genossen. Sie kurten in den Bädern Ems an der Lahn, im Taunus und Wiesbaden. Gelegentliche Ausflüge gehörten zu ihrem Freizeitvergnügen. Ihren Spuren also folgen Wanderer unserer Tage. Mit 320 Kilometern ist der Rheinsteig etwa doppelt so lang wie die Straßenverbindung von Wiesbaden bis Bonn. Er beginnt im Park des am Rhein gelegenen Schlosses und führt zunächst in den waldreichen Taunus zum Kurort Schlangenbad, um dann über das ehemalige Zisterzienserkloster Eberbach bei Eltville den Rhein zu erreichen. Dann führt der Rheinsteig durch die Hügelzüge des Weinanbaugebietes Rheingau. Dort gedeihen sogar Feigen und andere südliche Pflanzen. Ein Hauch von Mittelmeer, den man auch in Rüdesheim verspürt.

ATMO: Vom Niederwalddenkmal aus mit Güterzug

Erzähler: Oberhalb von Rüdesheim die gusseiserne Germania des Niederwalddenkmals. Errichtet nach dem Sieg Deutschlands im Krieg von 1870/71 gegen Frankreich. Er brachte Wilhelm I. die Kaiserkrone ein und beförderte Deutschland in den Rang einer europäischen Großmacht. Vor dem Niederwalddenkmal bietet sich Rheinsteigwanderern ein beeindruckendes Panorama, umrauscht vom Verkehrslärm des Rheintals. Stromauf bis vor die Tore Wiesbadens gleicht der Fluss einem langgestreckten See, der sich durch schlanke, teils parallele Inseln in mehrere Äste auffächert. Dann über das hessische Rüdesheim hinweg der Blick auf die rheinlandpfälzische Rheinseite mit Bingen. In nördlicher Richtung passiert der Fluss die schmale Pforte, wo der rechtsrheinische Taunus und der linksrheinische Hunsrück aneinanderstoßen, das sogenannte „Binger Loch“.

Sprecher: Hinter dem „Binger Loch“ beginnt das enge, von Burgen gesäumte Tal des Rheins. Germania scheint den Eingang zu bewachen. Auf dem Sockel des Denkmals viel Heldenverehrung und einige Strophen der „Wacht am Rhein“, jenes schauerlichen Liedes, das zeitweise als deutsche Nationalhymne galt.

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Zitator: Es braust ein Ruf wie Donnerhall, wie Schwertgeklirr und Wogenprall: Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein! Wer will des Stromes Hüter sein?

ATMO Glockenspiel

Sprecher: Wie ein Kontrastprogramm zur martialischen „Wacht am Rhein“ drunten in Rüdesheim die Drosselgasse. Dort mag sie zuhause sein, die rheinische Weinduselei, die um Vater Rhein und seine Töchter kreist, um Bachus und die Loreley. Ein Glockenspiel gießt das berühmte Lied über die Besucher aus:

ATMO: Schlusstakt des Liedes.

Sprecher: Der Text dieses Liedes stammt von Heinrich Heine. Weil er Jude war, schrieben die Nazis: „Dichter unbekannt“. Doch es wurde auch bei den Ausflugsfahrten ihrer Reiseorganisation „Kraft durch Freude“ angestimmt. Rüdesheim avancierte zum Inbegriff organisierter deutscher Gemütlichkeit. Und die Drosselgasse bekam ihr Image als „Ballermann im Rheingau“. Bis heute klebt es an Rüdesheim. Dabei treffe es nicht mehr zu, meint Rolf Wölfert, der örtliche Tourismuschef:

OT Rolf Wölfert Rüdesheim und die Drosselgasse gehören traditionell zusammen, das ist ganz klar. Aber das Bild hat sich doch deutlich gewandelt auch in den letzten Jahren. Rüdesheim ist nicht nur die Drosselgasse, Rüdesheim ist eben Wandern, Radfahren und Schifffahrt, ist einen sehr guten Wein zu genießen und dann gehört auch die Drosselgasse wieder dazu mit ihren schönen Weinlokalen mit der Livemusik.

ATMO Livemusik

Erzähler: Es ist Nachmittag und in der berühmten Drosselgasse geht es noch entspannt zu. In einem der Gasthausgärten Stimmungsmusik live. Sie kommt bei den Gästen an. Es wird getanzt, gegessen und getrunken, Bier genauso wie Wein. Kein unflätiges Grölen. Ein Hauch von immerwährendem Volksfest. Nur wenige Schritte weiter: kleinstädtische Ruhe. Der Weg passiert ein Jagdschloss, das längst zum Hotel umgebaut ist, kommt an einem Aussichtsturm vorbei und führt steil hinab in das bekannte Weindorf . Es ist eine Station des Ausflugschiffes „Goethe“, eines ehemaligen Schaufelraddampfers, dessen Schaufelräder inzwischen von einem Dieselmotor angetrieben werden.

ATMO „Goethe“ wird beladen

Sprecher: Ihre Jungfernfahrt absolvierte die „Goethe“ 1913. Sie gehört einer Gesellschaft, die unter dem Namen Köln-Düsseldorfer bekannt ist, aber bereits 1826 als „Preußisch- Rheinische Dampfschifffahrtsgesellschaft“ gegründet wurde. Ein Jahr später begann

3 sie mit der Personenschifffahrt zwischen Köln und Mainz und beflügelte so den beginnenden Rheintourismus.

Erzähler: Ein glattes, in der Sonne glänzendes Band. Eingefasst von grünen Wülsten der Berge und vorspringenden Felsen an den Ufern, die teilweise mit Burgen besetzt sind. So präsentiert sich Rheinsteigwandern der wild romantische Abschnitt des Mittelrheins. Immer wieder finden sich Aussichtspunkte. Die maßvolle Geschwindigkeit, mit der die Schiffe auf dem Rhein unterwegs sind, gaukelt einem aus der Vogelperspektive eine glückliche Symbiose zwischen Natur und Technik vor. In manchen Biegungen des Flusses tauchen Städtchen wie Bacharach auf, die man sich beim ersten Augenschein nur als eine Ballung von Weinlauben vorstellen mag. Eine hübsche Fassade, die sich vor die Wirklichkeit schiebt.

Sprecher: Bacharach zehrt zwar von seinem Ruf als bedeutende Weinbaugemeinde, aber auch dort ist die Zahl der hauptberuflichen Weinbauern und die bewirtschaftete Rebfläche zurückgegangen. Begonnen hat diese Entwicklung in den Jahren des Ersten Weltkriegs, unter anderem mit dem Auftreten der Reblaus. Gegen diesen Schädling waren die Winzer ursprünglich machtlos. Bevor die Reblaus-Plage einsetzte, sei die Anbaufläche für Reben am Mittelrhein viermal so groß gewesen wie heute, sagt Winzer Peter Jost. Seinem Familienbetrieb geht es gut, und er macht alles in eigener Regie, einschließlich der Etikettierung der Flaschen:

OT Peter Jost Im Augenblick haben wir einen Auftrag abzuwickeln mit kleinen Fläschchen, das sind 250 Milliliter-Fläschchen, womit wir in der Gastronomie und in der Hotelerie vor allem Minibars bestücken. Aktuell ist das ein Auftrag, der zur Insel Sylt geht. Wir hoffen, wieder an die Zeiten vor dem Ersten Weltkrieg anknüpfen zu können. In dieser Zeit war der Rheinwein, speziell der Riesling, weltweit der bekannteste und auch der teuerste Weißwein, den wir kannten.

Sprecher: Das Kapital der alteingesessenen Bacharacher Winzerfamilie ist eine berühmte Weinberglage – der Bacharacher Hahn.

Erzählerin: Mit Tochter Cecilia Jost in einem Weinberg über Bacharach. „Da drüber muss der Rheinsteig sein“, sagt die junge Weinbauingenieurin und zeigt auf die andere Seite des Flusses. Viel Wald. An manchen Stellen reicht er fast bis auf das Niveau des Flusses herab. Der Blick fällt auch auf verödete Weinberge. So weit soll es auf Bacharacher Seite nicht kommen, sagt Cecilia und geizt dabei, ganz nebenbei, einige Reben in dem Weinberg ihrer Familie aus. Sie zupft Blätter und Triebe ab, die den Pflanzen nur Kraft entziehen würden. Der Boden ist in diesen Sommertagen glühend heiß, er speichert die Wärme für die Nacht.

OT Cecilia Jost Das kommt zum einen von der Sonne und zum anderen von dem Boden. Wir haben hier eine Steillage – etwa 70 Prozent Steigung, wir haben den Boden bedeckt Devonschiefer, das ist ein sehr leicht spaltbarer Schiefer von einer tiefblauen Farbe, der noch einmal die Lichtstrahlen in die Trauben reflektiert. Wir spüren auch grad,

4 dass uns eine kühle Brise um die Nase weht. Der Schiefer erwärmt sich, die warme Luft steigt nach oben, kalte Luft kommt nach. Wir haben ständig eine Thermik, eine Luftbewegung bei uns im Weinberg und ständig geht ein laues Lüftchen.

Sprecher: Diese Wanderung des Weinbaus in eine höhere Etage ist auch eine Reaktion auf den Klimawandel, der dem Rheintal einen Anstieg der Durchschnittstemperaturen beschert. Seit Jahren gebe es in den berühmten Lagen Bacharachs kaum noch Frost, erklärt Cecilia. In Maßen tue das mildere Klima dem Vorzeige-Wein der Gegend, dem Riesling, gut.

OT Cecilia Jost Noch sind wir die Nutznießer der Klimaverschiebung. Wir haben keine Ausfälle mehr durch schlechtes Wetter, durch Frost. Wenn es so weiter geht, muss man sich darüber Gedanken machen, ob wir in 20, 30 Jahren nicht auf andere Rebsorten setzen. Im Moment sind wir noch sehr gut bedient mit Riesling, der auch etwas wärmere Temperaturen vertragen kann. Aber darüber müssen wir uns dann klar sein, dass wir auch in zehn Jahren anfangen müssen, andere Rebsorten zu setzen, dass sie in 30 Jahren, wenn das Wetter sich geändert hat, dann im richtigen Ertrag sind.

Erzähler: Die Rebreihen ziehen die Aufmerksamkeit des Auges zur Kante des sanft geneigten Weinbergs – zum tiefen Einschnitt hin, in dem der Rhein fließt. Es scheint, als müsste man nur einen großen Satz machen, um auf die andere Seite des Flusses und damit wieder an den Rheinsteig zu kommen. Doch der Schein trügt. Der Rhein trennt. Auf jenen 90 Kilometern zwischen bei Wiesbaden und gibt es keine einzige Brücke. Wer den Rhein queren will, ist auf eine von 13 Fährverbindungen angewiesen.

ATMO Fähre

Sprecher: Von Bacharach wenige Kilometer rheinaufwärts das Dorf Niederheimbach. Dicht beim Bahnhof die Anlegestelle für die Auto- und Personenfähre nach Lorch. Fährmann Michael Schnaas steuert sie um eine Insel herum. Zehn Minuten dauert die Überfahrt:

OT Michael Schnaas Also mein Urgroßvater hat 1892 im April angefangen, hier zwischen Niederheimbach und Lorch Personen zu befördern. Und seit April 1910 auch mit Autofähre, wo also auch Fahrzeuge übergesetzt werden. Im Schnitt fahren zwei Autos pro Überfahrt. Von daher sind mir jetzt mit vier Autos schon überdurchschnittlich ausgebucht. Wir haben hier derzeit so seit vier, fünf Jahren einen Rückgang zu verspüren am Verkehrsaufkommen. Weniger Fremde hier am Rhein, fehlende Arbeitsplätze. Pendler hamer kaum noch. Wir hatten früher hier in Lorch ein Bundeswehrstandort, der hot zugemacht; do sin natürlich dann kei Beschäftigte mehr da. Die Touristen bleiben weg, denn der Krach, den wir am Rheinstrom haben, das ist unerträglich mittlerweile. Hier donnern Tag und Nacht die Güterzüge durchs Rheintal – auf beiden Ufern. Das ist das Problem, was das Rheintal hat.

Erzähler:

5 Eine dröhnende Lärmwolke – grundiert vom sonoren Brummen der Schiffsmotoren und anderen Geräuschen. Unsichtbar wabert sie über dem Fluss und hüllt die Wanderer ein, die von Lorch kommend das Städtchen ansteuern. Der Fernwanderweg berührt hier das Naturschutzgebiet Dörscheider Heide, um das sich auch der Naturschützer Martin Unfricht kümmert:

OT Martin Unfricht Wir sind jetzt in der Weinlage von Kaub und wir sind am Einstieg des Rheinsteiges hier in die Rheinhänge Richtung Dörscheid. Und hier beginnt auch die Dörscheider Heide, der Unterhangbereich. Das Gebiet hat rund hundert Hektar, besteht aus unterem Teil aus ehemaligen Weinbergsflächen mit Trockenmauern, die mittel bis stark verbuscht sind. Dazwischen sind kleine Schieferhalden eingestreut und Felsbereiche; dann kommt ein Terrassenabsatz. Dort waren teilweise Äcker früher, teilweise Obstgrundstücke und Gärten. Und nach obenhin kommt dann die eigentliche Heidelandschaft, also Flächen, wo ein sehr lückiges Gras wächst und nur Kräuter, die keine Düngung vertagen und ne intensive Sonneneinstrahlung benötigen. Und dazwischen sind kleine Felsbereiche und Gebüsche.

Sprecher: In diesem Biotop fühlen sich wärmeliebende Tiere wohl. Die Spanische Fliege z. B., ein Käfer, dem aphrodisierende Wirkung nachgesagt wird, oder die Gottesanbeterin, eine seltene Fangschrecke. Und es finden sich Pflanzen wie der Diptam, der normalerweise am nördlichen Mittelmeer zuhause ist und nach Orangen und Zitronen duftet, wenn ihn die Sonne erhitzt. Da die Flächen nicht mehr genutzt werden, drohen sie zu verbuschen und dann könnte weniger Sonneneinstrahlung als heute den Boden erreichen. Dieser besondere Lebensraum wäre zerstört. Ihn zu erhalten, haben sich Naturschützer vorgenommen, die ihre Arbeit auch als Landschaftschutz verstehen.

Erzähler: Das Lärmen ist allgegenwärtig. Dennoch wirkt Kaub behaglich. Für viele Wanderer ist das Städtchen Ausgangspunkt eines Abschnitts des Rheinsteigs, der als Königsetappe gilt. Auf einer Wegstrecke von 22 Kilometern sind 800 Höhenmeter zu überwinden. Fast schon alpines Format. Höchster Punkt ist die Loreley.

ATMO Ansage und Lied „Loreley“

Erzähler: Wuchtig schiebt sich der sagenhafte Fels der Felsen in die Bahn des Flusses, zwingt ihn zu zwei scharfen Kurven, die trotz aller flussbautechnischen Korrekturen noch immer ein Nadelöhr für die Schifffahrt sind. Sobald sich eines der vielen Ausflugsschiffe der Loreley nähert, halten die Passagiere nach dem viel besungenen Felsen Ausschau, warten auf das berühmte Lied – und manche mögen insgeheim hoffen, von der Nixe aus der Unterwelt entführt zu werden. Die Loreley ist ein magischer Ort, der Menschen aus aller Welt anzieht.

Auf der gegenüberliegenden Rheinseite, hinter der nächsten Kurve, ein Stück Sandstrand. Bei Niedrigwasser taucht der cremeweiße Streifen, der sommers Sonnenbadende anzieht, aus dem Fluss auf. Sand- und Kiesbänke gehörten zu dieser Flusslandschaft. Aber der beabsichtigte Sog in der Fahrrinne für die Schiffe verhindert, dass sie sich heute noch bilden können. Der Rhein ist auf weite Strecken

6 zu einem Schifffahrtskanal geworden. Nicht ohne Folgen, wie Hans Schneider, der Kapitän des Fahrgastschiffes „Goethe“ beobachtet hat.

OT Hans Schneider Was mir jetzt persönlich so in den letzten Jahren auffällt, wenn wir mal vom Oberrhein her, von den Nebenflüssen etwas Wasser bekommen: das hält sich nicht mehr so lange wie früher. Das Wasser läuft irgendwie schneller wieder ab – ruckzuck!

Sprecher: Dabei stagniert die Entwicklung der Binnenschifffahrt auf dem Rhein. So hatten die Frachtschiffe, die 2008, also im Jahr vor der großen Wirtschaftskrise, auf dem Mittelrhein unterwegs waren, ähnlich viel Tonnage geladen wie zehn Jahre früher. Und auch die Anzahl der Schiffe ist in etwa gleich geblieben. Auffallend sind die Veränderungen beim Typ der Frachtschiffe. Selbst auf der sogenannten „Gebirgsstrecke“, an der Loreley vorbei, müssen nur noch selten Schlepper vorgespannt werden.

OT Hans Schneider Wir haben zwar nicht mehr so Schleppverbände, wie man das früher hatte. Dafür haben wir aber mehr Schubverbände oder mehr sogenannte Koppelverbände – das ist dann ein motorisiertes Schiff, das hat dann noch so en Schubleichter mit dabei oder manchmal haben sie sogar drei mit dabei, Und die brauchen natürlich auch viel mehr Platz wie en normales Schiff.

Sprecher: Die Königsetappe des Rheinsteigs endet in . Die Altstadt ist schmal und wird von der rechtsrheinischen Eisenbahnstrecke tangiert, über die vor allem Güterverkehr rollt. Stefan Lauer stammt von hier. Zusammen mit seiner Frau betreibt er eine kleine Ferienpension. Seine Eltern waren Handwerker: Winzer, Fischer und Wirtsleute in einem. „Karpfen“ hieß ihre Gastwirtschaft sinnigerweise. Dort gab es auch Gerichte mit Rheinfisch – und Rheinwein aus eigenem Anbau. Hauptberuflich arbeitete Stefan Lauer viele Jahre als Schieferdecker. Grauschwarz waren Hände und Gesicht, wenn er abends nach Hause kam.

OT Stefan Lauer Wir konnten also früher ohne weiteres mit dem Kahn hin und her nach Sankt Goar. Das kann man heute einfach nit mehr so, das is teilweise sogar verboten, na, also dieses Fahrwasser zu kreuzen. Ich war immer in nem Beruf, wo ich also sehr schwarz wurde. Dann is mer abends heim gekommen und hat mer en Handtuch und Seife genommen und dann is mer an den Fluss und hat sich gewaschen, is da herumgeschwommen und dann war das gut. Dann nachher, bedingt durch die Industrie, durch die Abwässer und alles so. Der Rhein, der kippte ja fast in den Sechziger Jahre, da war´s dann umgekehrt. Wenn mer dann im Rhein schwimmen war, dann musste man sich zuhause duschen. Ich weiß, ich hatte noch mal Fische gehabt und beim Putzen, beim Schrubben und beim Ausnehmen, da kam der Gestank hoch; da hab ich alles zusammen gepackt, hab das wieder dem Rhein übergeben, also das war´s dann halt.

Sprecher:

7 Die Eisenbahn donnert mitten durch Sankt Goarshausen. Vor allem in der Nacht könnte der Lärm noch unerträglicher werden: Die Bahn will immer mehr und immer längere Güterzüge durch das enge Rheintal schleusen. Sie baut die „Rheinschiene“ aus, die den Nordseehafen Rotterdam über die Alpen mit dem Mittelmeerhafen Genua verbindet. Bis zu 460 Güterzüge pro Tag könnte das romantische Rheintal in absehbarer Zeit zu verkraften haben, doppelt so viele wie im Boomjahr vor der Wirtschaftskrise. Selbst von der anderen Rheinseite schallt den Rheinsteigwanderen der Lärm der Züge entgegen.

Erzähler: Beim Friedhof, unweit des Bahnhofes von Sankt Goarshausen, beginnt ein steiler Weg. Wenn es regnet, verwandelt er sich in einen glitschigen Pfad. Er führt an den Fuß einer Felsformation aus mächtigen Blöcken, die wie Kartons übereinander geschichtet sind. Sie ist mit Leitern versichert und mit eisernen Trittstufen, wie sie Bergwanderer aus den Alpen kennen. Der Rabenacksteig ist einer von mehreren Klettersteigen am Fernwanderweg. Und er ist ein Beispiel für die geologische Vielfalt der Gegend, die Heinz Heil Urlaubern vermitteln will. Er ist einer der ehrenamtlichen Lotsen, die am Rheinsteig Gästegruppen begleiten:

OT Heinz Heil Wir sagen hier, wir sind im Rheinischen Schiefergebirge und Fakt ist, dass ich schon an der Binger Pforte mit Schiefer überhaupt nicht konfrontiert werde, sondern da en ganz hartes Gestein ist, der Quarzit. Und so ist ein ständiger Wechsel hier. In der Kauber Lage haben wir den Dachschiefer. Auch selbst der Loreley-Fels, oft in Gedichten und Liedern als Schieferfels beschrieben, das ist ein Grauwacker, das ist ein Sandstein, der im Laufe der Jahre verfestigt wurde, ein sehr massiver, sehr fester Stein.

Sprecher: Der Rheinsteig wurde nicht zuletzt als Maßnahme der Wirtschaftsförderung entwickelt. Die haben vor allem die rheinland-pfälzischen Gemeinden am rechten Ufer des Mittelrheins nötig. Sie fühlen sich gegenüber den Gemeinden auf der linken Rheinseite benachteiligt und weisen unter anderem auf den Bevölkerungsrückgang hin. So hat Sankt Goarshausen derzeit 1300 Einwohner. 1970 waren es noch doppelt so viele. Drüben auf der anderen Seite des Rheins profitiere man von der Nähe der Autobahn, die Mainz und Köln verbindet, sagt Maria Becker aus dem Dorf , das zu Sankt Goarshausen gehört. Die Begeisterung mancher Rheinsteigwanderer, die von der Beschaulichkeit der Fähren schwärmen, kann sie genauso wenig nachvollziehen wie ihre Tochter Marlene oder der Schichtarbeiter Axel Frischauf. Er ist in einer Bopparder Maschinenfabrik drüben auf der anderen Seite des Rheins beschäftigt:

OT Maria Becker Wenn´s Abend war oder es war ein Feiertag, dann kam mer net riber und heim schon gar ni mehr. Dann muss me zur Zeit heim fahren, damit mer die Fähre noch kriegt. An ner Feierlichkeit konnt mer gar net teilnehmen. (Marlene Becker) Ich hab in Boppard die Schule gemacht gehabt vor vielen Jahren. Und die haben dann gesagt, dass mer morgens gar nicht rüber könnt, dat ich nit frü genug da arbeiten könnt, also must ich mir da ein Zimmer nehmen. (Axel Frischauf) Ich bin im Dreischichtbetrieb tätig. Das heißt: ich habe eine Woche Frühschicht, eine Woche Spätschicht und eine Woche Nachtschicht: von 6 Uhr bis 14 Uhr, von 14 bis 22 Uhr und von 22 Uhr bis

8 morgens um 6 Uhr. Frühschicht: die Fähre fährt erst morgens um sechs Uhr. Das heißt ich muss ein Umweg über Koblenz über die Südbrücke in Kauf nehmen von guten 50 Kilometern. Das trifft wieder zu in der Spätschicht, in den Wintermonaten, weil die Fähre dann um 9 Uhr ihren Dienst einstellt und ich um 22 Uhr erst Feierabend hab.

ATMO Fähre

Sprecher: Jahrelang hat sich der Streit um eine Rheinbrücke zwischen Sankt Goarshausen und Sankt Goar hingezogen. Nun scheint er entschieden, auch wenn ihr Bau nicht unmittelbar bevorsteht. Ende Juli 2010 hat die UNESCO aktenkundig festgehalten, dass der Bau einer Brücke mit der Ausweisung des Oberen Mittelrheintales als Weltkulturerbe vereinbar ist. Dennoch bleiben Fragen. Haben sich die Verantwortlichen von Politikern und Wirtschaftsleuten kaufen lassen, die offenbar stark an einer schnellen Straßen-Verbindung zwischen dem rechtsrheinischen Frankfurter Flughafen und dem linksrheinische Flughafen Hahn im Hunsrück interessiert sind? Und was bringt die angedachte Achse den Bürger vor Ort, außer mehr Verkehr, wie Ute Grassmann und Werner Bonn befürchten. Er ist Stadtarchivar in Sankt Goarshausen, sie Naturschützerin mit einer eigenen Agentur, die unter anderem Gäste durch das Weltkulturerbegebiet führt. Beide befürchten, dass der Bau einer Brücke das Ende mancher Fährverbindung bedeuten könnte.

OT Werner Bonn und Ute Grassmann (Werner Bonn) Ich persönlich würd es bedauern, wenn die Fähren hier wegfallen, denn die Fähren haben krisenfeste Arbeitsplätze zu bieten und die Fähren sind sehr gute Steuerzahler, das darf man nicht vergessen, ja. (Ute Grassmann) Mein Mann ist ja bekennender Brückenbefürworter und ich bekennender Brückengegner. Zur Brücke sagt jeder was, zur Brücke kann jeder was sagen, Tante Frieda mit 85 genauso wie das Enkelkind. Und somit ist das Brückenthema auch ein Teil unserer Kultur – das Thema von hüben nach drüben ist das endlose Thema am Rhein.

ATMO Gewitter

Erzähler: Ein kurzes, heftiges Sommergewitter entlädt sich über Kestert. Bis das Schlimmste vorbei ist, machen ein paar Wanderer in einem von mehreren Hotels am Ort Station. Kestert liegt am Rheinsteig und gehört zum Weltkulturerbegebiet. Doch die Landschaft, die der Fernwanderweg auf diesem Abschnitt tangiert, ist nicht mehr so spektakulär, so canyonartig schroff wie weiter flussaufwärts bei der Loreley. Unmittelbar hinter dem alten Ortskern von Kestert und jenseits der Eisenbahnstrecke ein Hang, der mit viel zu großen Kataloghäusern im Wörtherseestil bebaut ist und in einen dichten Laubwald übergeht. Wo Planierraupen und Rasenmäher noch nicht zugeschlagen haben, hin und wieder alte Obstbäume. Sie sind die Hinterlassenschaft aus einer Zeit, die in einem Heimatbuch dokumentiert ist, das Ingeborg Siebert den Gästen ihres kleinen Hotels gerne vorzeigt. Es seien wieder mehr Gäste geworden, seit es den Rheinsteig gibt, sagt sie.

OT Ingeborg Siebert Ja, ich bin 1953 geboren und hier in dem Gasthaus mit Bäckerei bin ich aufgewachsen und Kestert – wenn man die alten Bilder sieht, wenn der Hang in der

9 Blütezeit voll in Pracht steht, glaubt man, es sei Schnee. Aber es ist die Blüte der wunderschönen Kirschen, die in Kestert angebaut wurden. Kestert hatte zum Beispiel auch eine Markthalle, wo Händler aus verschiedenen Großstädten wie Köln, Hamburg kamen. Oder man fand sogar die besondere Kirsche „Kesterter Schwarze“ auf einem Markt in Berlin. Was für ein so kleines Dorf eine besondere Auszeichnung war, dass eine Kirsche nach dem Ortsnamen benannt wurde.

AT Fähre

Sprecher: Es ist und bleibt der Rhein, der große Strom, der diese Gegend prägt. Auf seinem Rücken trägt er nicht nur die Last der Güter, sondern auch der europäischen Geschichte, die wesentlich vom Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich bestimmt wurde. Auch das kann man bei einer Rheinsteigwanderung nachvollziehen. In Rüdesheim mit der Germania des Niederwalddenkmals genauso wie am „Deutschen Eck“, dem Ziel unserer ersten Etappe. Dort, wo in Koblenz die Mosel in den Rhein mündet, blickt Kaiser Wilhelm I. hoch zu Ross auf den Rhein herab. Er nahm ihn für Deutschland in Beschlag.

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