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Gesellschaft

Schritte der Heilung buddhistische Pilgerwanderung zu deutschen KZs Text und Fotos von Christine Rackuff

Der Weg war weit, den der amerikanische Buddhist Claude AnShin „Die Wesen sind Thomas von August bis Oktober 1999 in Deutschland ging. Es waren schmerzhafte und qualvolle Schritte, die von Verletzung zu Verletzung zahllos. Ich gelobe, führten, von Trauma zu Trauma, über Hunderte von Kilometern, von sie zu befreien. Berlin bis Trier. Die Pilgerreise führte quer durch Deutschland zu ehe- maligen Konzentrationslagern und anderen Stätten der Gewalt und des Die Verblendungen Unrechts. Sie wurde in der japanischen Tradition des Takuhatsu, der Bitte um Unterkunft, Essen und andere notwendige Unterstützung, sind unerschöpflich. praktiziert. Ich gelobe, sie zu beenden. In Meditation und Reinigungsritualen gedachte man gleichermaßen der Opfer und der Täter. Krieg und Gewalt sollten in ihrer sinnlosen Unmenschlichkeit bewußt werden. Gemeinsam mit einer kleinen Grup- Die Wirklichkeit ist pe Gleichgesinnter war Claude AnShin, buddhistischer Priester und grenzenlos. Ich gelobe, Mitbegründer des -Peacemakerordens Zaltho, acht Wochen lang sie zu ergründen. bei Regen, Sturm oder Hitze täglich ca. 25 bis 40 Kilometer unter- wegs.

Der Weg der Erleuch- Diese spirituelle Praxis der Gehmeditation gilt als kraftvolle Schulung tung ist unübertrefflich. der eigenen Achtsamkeit. Die rund 1000 Kilometer des Fußmarsches, Ich gelobe, ihn zu der am 15. August 1999 im KZ Sachsenhausen bei Oranienburg be- gann und Mitte Oktober 1999 mit einem Retreat im ehemaligen SS- verkörpern.“ Sonderlager Hinzert bei Trier endete, wurden für die Teilnehmer zu ganz persönlichen Schritten der Heilung.

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Das wuchtige schmiedeeiserne Garten- Marines, hat im Koreakrieg gekämpft, ken, ohne wieder aufzutauchen. Und tor zum historischen Gelände Am Gro- ein Bein verloren, fühlt sich schmerz- wenn schon, dann in einer Welt, die ßen Wannsee 56-58 in Berlin hält mich haft für den Zweiten Weltkrieg verant- nur Frieden kennt. Wo gibt es das? In wie einen ungebetenen Eindringling wortlich und wurde Pazifist. Günther, diesem Moment existiert nur die Ge- zurück, als wollte 74 Jahre, zählt sich schichte dieses Ortes. „Vielleicht war es mir den Zugang zur Tätergeneration, es ein eiskalter Tag damals im Januar zur älteren Vergan- Mitgefühl für „erst mit 60 begann 1942. Stellt euch vor, bevor die Kon- genheit verwehren, ich, über meine Ver- ferenz begann, sind die Männer zu da doch die jüngere die Opfer und gangenheit nachzu- Hause aufgestanden, haben sich die noch nicht aufgear- für die Täter denken, vorher habe Zähne geputzt, sich gewaschen, haben beitet, geschweige ich sie weggescho- gefrühstückt, sich von Frau und Kin- denn geheilt ist. ben.“ Mancher Teil- dern verabschiedet, und dann sind sie Ich werfe mich mehrmals mit ganzer nehmer zwischen 24 und 74 Jahren be- hierher gefahren und haben diese Ent- Kraft gegen das Tor, widerstrebend gibt arbeitet die eigene Familiengeschichte, scheidung getroffen.“ Claude AnShins es schließlich nach. Säuberlich be- Vater bei der SS, Mutter indifferent, Worte kommen leise und ohne Beto- pflanzte Blumenrabatten rechts und oder geht auf diese Pilgerschaft in die nung. „Wir werden heute das Schwei- links der Villenauffahrt, gepflegter Vergangenheit, um Einkehr bei sich gen einhalten, das edle Schweigen. Kiesweg, der Blick durch den Park selbst zu halten, um die Last von Wenn wir sprechen müssen, dann spre- mitten hinein in das sommerliche Trei- Schuld und Verantwortung zu transfor- chen wir weniger; wenig Worte und ben auf dem blauen Wannsee. Die hei- mieren. Mit Worten und mit Schwei- leise Worte. Wenn ihr Gedanken und tere Buntheit dieses schönen Sommer- gen. Das Schweigen ist beredter. Es er- Gefühle habt, bringt sie zu jemandem tages ist so selbstverständlich gegen- setzt viele Worte. und teilt sie mit ihm in Stille.“ wärtig, daß die Geschichte dieses Or- An diesem Vormittag erscheint mir Führung durch das Haus am Wann- tes wie eine Wolke dunkler Fantasien der Ort des Grauens plötzlich als der see. Tafeln, Bilder, Faksimiles hinter erscheint. Im Haus der Wannseekonfe- einzig mögliche, mich der eigenen Ver- Glas, die den minutiösen Vernich- renz besiegelten am 20. Januar 1942 gangenheit zu stellen, die Gnade der tungsplan belegen. Eine offizielle An- die Spitzen der Nationalsozialisten in späten Geburt nicht als Freibrief zum ordnung Adolf Hitlers haben die Hi- einer kaum zweistündigen Sitzung mil- Ausweichen anzusehen, sondern viel- storiker nie gefunden. Das von SS- lionenfachen Mord an jüdischen Män- mehr als Aufforderung, in mir selbst Obersturmbannführer Adolf Eichmann nern, Frauen und Kindern. Am 13. mit Unwissenheit und vor allem mit geschriebene Sitzungsprotokoll spricht August 1999 beginnt hier der Ameri- Nichtwissenwollen aufzuräumen. Das von „Koordinierung der Linienfüh- kaner seinen Haus der Wannseekonferenz, seit 1992 rung“. Jeder der 21 Teilnehmer erhält Friedensmarsch durch Deutschland. Berliner Gedenk- und Bildungsstätte, ein Protokoll. Am Nachmittag gibt es Was will ich hier? Was ist noch zu verwaltet heute wohlgeordnet die wie- Arbeitsgruppen. Die Täter von damals klären? Warum immer wieder in der derentdeckten und teilweise sorgsam stehen im Mittelpunkt der Diskussion Vergangenheit wühlen, kann nicht end- restaurierten Dokumente systemati- mit Kurzbiografien und Protokollaus- lich damit Schluß sein? Was habe ich scher Menschenvernichtung der natio- sagen. Sie fühlten sich als Opfer, ihre damit zu tun? Diese Gefühle von Pro- nalsozialistischen Schreckensherrschaft. Aussagen belegen das – Opfer eines test, Wut und Ohnmacht überfallen Nachdem im Juli 1941 Hermann Gör- Staatsapparates, der sie selbst waren. mich während der kommenden drei ing an Reinhard Heydrich den Auftrag Zum Beispiel Adolf Eichmann, Wil- Tage öfter. Claude AnShin nennt sie gegeben hatte, die „Endlösung der eu- helm Kritzinger, Erich Neumann, Ger- den ‘Prozeß des Erwachens’, die auf- ropäischen Judenfrage“ vorzubereiten, hard Klopfer. Mitgefühl für die Täter keimende Bereitwilligkeit, die Kriegs- wurde sie hier als erste Stufe einer „ras- entwickeln, weil die Täter auch Opfer schauplätze in uns selbst zu erkennen, senpolitischen Neuordnung Europas“ sind und die Opfer Täter – das ist der erst einmal nur wahrzunehmen: da also beschlossen. Hinter diesen lapidaren Ansatz des ehemaligen Vietnam-Vete- sind sie, ich selbst bin der Krieg. Wir Worten steht der Holocaust, ein Völ- ranen. Die meisten unter uns sind rat- sitzen im Kreis auf dem grauen Tep- kermord, dem zwischen 1941 und los: Mitgefühl für die Opfer, ja natür- pichboden des Konferenzraumes. Jeder 1945 mehr als sechs Millionen Juden lich, zutiefst. Im Opfergefühl kenne der 25 Teilnehmer stellt sich vor, sagt, zum Opfer fielen. Meditation an die- auch ich mich aus. Aber den Täter in warum er gekommen ist. Die gemein- sem Ort? Während wir sitzen, ja- mir zu akzeptieren und Mitgefühl auch same Motivation nimmt die Fremd- gen sich die Gedanken in mir. Von für mich zu erwecken, ist fast unmög- heit: „Ich bin 1944 geboren und trage Ruhe keine Spur. „Still mit der Macht lich. noch den Krieg in mir“ oder „Warum der Gefühle sitzen“ rät Claude, und ich Am zweiten Tag sind nicht mehr alle ich hier bin? Ich weiß es nicht genau, wüßte gerne, was die anderen jetzt von gestern dabei. Man kann wohl ich dachte nur, daß es richtig sei“. empfinden. Ich schwanke zwischen schnell hängenbleiben in seinen Äng- Greg, Jahrgang 1938, war bei den US- aufspringen und irgendwohin versin- sten, und plötzlich ist Verweigerung

24 Tibet und Buddhismus • Heft 53 • April Mai Juni 2000 Gesellschaft wieder eine willkommene Erste Hil- fe gegen das Aufräumen im eigenen Geist. Manche Gesichter sind grau- S-Bahnhof Berlin- er als gestern, stiller, zurückgezoge- Grunewald: Eine ner. Das freundliche Hallo vom er- Gedenktafel auf sten Tag klingt irgendwie angeschla- Gleis 17 verweist gen. in nüchternen Von der Königsallee gehen wir Buchstaben und zum Bahnhof Grunewald, dieselbe knapper Sprache Straße, auf der endlose Reihen jüdi- darauf, daß genau scher Frauen mit kleinen Kindern hier fünf Jahre aus Lastwagen unter SS-Bewachung lang die Deportati- onszüge der Deut- schen Reichsbahn Schritte der Zehntausende von Achtsamkeit Juden in die To- deslager fuhren. Gleis 17

30 Minuten zu Fuß zum Bahnhof Grunewald laufen mußten, bei Eis und Schnee, bei Wind und jedem Wetter. Dort verfrachtete man sie ohne Erbarmen in kalte, leere Gü- terwaggons und schickte sie auf eine Reise ohne Wiederkehr. Wir gehen denselben Weg, dieselben Straßen wie die Unglücklichen zwischen 1941 und 1945. Wir tragen feste Schuhe und gute Kleidung, wir ha- ben Geld in der Tasche und das Wis- sen, abends wieder in einem Bett zu Gehmeditation schlafen. Wir gehen im Gedenken an zum Gleis 17: jene von damals. Jeder Schritt soll Claude AnShin, ge- ein Gedanke der Achtsamkeit sein, folgt von Wiebke ein Bild, das neu gemalt wird in un- KenShin, die seine serer Vorstellung, in dem sich Leben Schülerin ist und und Sterben nicht ausgrenzen, son- in den USA lebt. dern zu einer heilsamen Einheit ver- schmelzen. Jene gingen in den siche- ren Tod. Wir wollen es nachvollzie- hen, indem wir symbolisch in ihre Fußstapfen treten. Wir machen uns bewußt, daß niemand diese Todes- märsche aufgehalten hat, um der Verblendung des Hasses Einhalt zu gebieten. Durch Geistesschulung und Achtsamkeit ist etwas zu ändern und durch Wahrnehmung der eige- nen Gefühle. Wir gehen über den Asphalt der Erdener Straße zur Menschenverladerampe am S-Bahn- hof Berlin-Grunewald, heute Mahn- mal Gleis 17. Meditation auf Gleis 17: Duft- rauch, Kerzen und Rezitation der Vier Gelübde des : „Die

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Wesen sind zahllos. Ich gelobe, sie zu hatten nichts zu essen, sie hatten keine mußten aus ihren armseligen Baracken befreien. Die Verblendungen sind un- Toilette, wußten nicht, wohin ihr Weg heraustreten und stundenlang in Käl- erschöpflich. Ich gelobe, sie zu been- sie führt. Macht euch das immer wie- te, Hitze, Eis oder Regen auf der Stel- den. Die Wirklichkeit ist grenzenlos. der bewußt.“ le stehen und den gewaltsamen Tod ih- Ich gelobe, sie zu ergründen. Der Weg Dunkle drohende Wolken türmen rer Kameraden hilflos mitansehen. Wir der Erleuchtung ist unübertrefflich. Ich sich über dem berüchtigten Appellplatz sitzen auf diesem KZ-Hinrichtungs- gelobe, ihn zu verkörpern.“ hinter dem Eisentor im Konzentrati- platz. Der Wind reißt an unserer Klei- Beim Essen teilen wir alles. Jeder onslager Sachsenhausen. Die einge- dung, Regen klatscht auf Haare und gibt, was er mitgebracht hat, Früchte, schmiedeten Worte „Arbeit macht frei“ Gesicht, die Kälte kriecht die Beine Brot, Käse, Tee, Kuchen. Im Kan Ro sind zum weltweiten Synonym für die hoch. Claude AnShin sitzt unbeirrt Mon widmen wir Menschenverachtung mit geschlossenen Augen. Ohne Bewe- die Nahrung den des Dritten Reiches gung ruht er in seinem Atem. Ich ver- hungrigen Geistern. Meditation geworden. Finster suche es auch, mein Gefühl ist erstarrt, „Mögen wir in auf dem hängen sie scheinbar mein Körper auch, die Gedanken sind schlammigem Was- Hinrichtungsplatz schwerelos zwischen wie gelähmt. Wie muß es damals ge- ser existieren mit Himmel und Erde. wesen sein, im Angesicht der toten Reinheit wie die Lo- Es ist der dritte Tag. Leiber am Galgen? Wo bleibt mein tusblume. Auf diese Weise verneigen Zielgerichtet geht der Lehrer mit fe- Mitgefühl? Hatte ich jemals nur einen wir uns vor Buddha.“ Dieses Ritual sten Schritten durch das Tor, zum Funken davon? In mir ist alles stumpf wird die Pilgergruppe täglich verrich- Platz des Galgens, an dem unzählige und taub. Ich nehme Zuflucht und er- ten. Claude AnShin ermahnt: „Jeden ausgemergelte, gefolterte, seelisch und innere mich wenigstens noch an das Bissen in Stille und Achtsamkeit 50mal körperlich mißhandelte Häftlinge auf- Avalokiteœvaras „Oþ ma¶i kauen, auch das Getränk. Jene damals gehängt wurden. Die Mitgefangenen padme hým“.

Meditation an den Orten intensivsten Leidens be- deutet, sich das Leiden und seine Ursachen be- wußt zu machen, um es zu transformieren.

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