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MINISTERIUM UND GESCHICHTE

Fritz Bauer

Jurist im Dienste der Humanität Fritz Bauer

Jurist im Dienste der Humanität 5

Vorwort einschneidendes Ereignis. Schonungs- aller Art mit Nachdruck entgegen zu los und unverstellt wurde sie mit ihrer stellen, um in Frieden leben zu können. eigenen nationalsozialistischen Ver- gangenheit und deren Ver brechen Die Broschüre, die Sie in den Händen konfrontiert. Bei vielen führte dieser halten, wirft Schlaglichter auf die großen Blick in die Vergangenheit zu Beschä- Themen, die dieses Leben geprägt haben– mung und Erschütterung. Für seinen Beitrag zur Verhaftung von Adolf die deutsche Erinnerungskultur hat Eichmann und zur Rehabilitierung des Fritz Bauer Herausragendes geleistet. Widerstands vom 20. Juli 1944, den Auschwitz- Prozess und die Reform des Als streitbarer Mahner war Fritz Bauer in Strafrechts. Die Broschüre ergänzt damit der Öffentlichkeit seinerseits umstritten. die Bestrebungen meines Hauses – dessen Auch in den eigenen Reihen der Justiz Repräsentationshof seit 2019 nach Fritz stieß er teilweise auf erheb liche Ableh- Bauer benannt ist und das alle zwei Jahre nung, die bis hin zu offener Anfeindung den Fritz Bauer Studienpreis für Men- Nur wenige Juristinnen und Juristen in des Geschehenen. Die im Namen des reichte. Davon unbeirrt setzte er sich un- schenrechte und juristische Zeitge- der jungen Bundesrepublik besaßen den national sozialistischen Unrechtsregimes erschrocken und unter erheblichen per- schichte verleiht –, das Leben und Wir- Mut, die Ausdauer und die moralische begangenen Taten sollten im Gerichts- sönlichen Opfern für die Gerechtigkeit ken dieses beeindruckenden deutschen Klarheit, den bestürzenden Zivilisa tions- saal sichtbar gemacht werden. Für die und für die Würde aller Menschen ein. Juristen nicht nur unter Juristinnen und bruch des Nationalsozialismus zu thema- für den Nationalsozialismus so charakte- Juristen, sondern auch in der allgemei- tisieren, juristisch aufzuarbeiten und mit ristische Verbindung von Bürokratie und Über sich selbst hat Fritz Bauer einmal nen Öffentlichkeit bekannt zu machen. den Mitteln des Rechts zu beantworten. roher Gewalttätigkeit hatte Fritz Bauer mit dem Satz Auskunft gegeben: Fritz Bauer war einer dieser wenigen einen klaren Blick. Nicht nur jene Täter, „Ich wollte ein Jurist sein, der dem Gesetz Herrn Dr. Ronen Steinke, dem Autor der Juristen und gilt als Initiator des soge- an deren Händen Blut klebte, sondern und Recht, der Menschlichkeit und dem Broschüre und Biographen Fritz Bauers, nannten Auschwitz-Prozesses. Mein auch die an den Schreibtischen, sollten Frieden nicht nur Lippendienst leistet.“ danke ich sehr für die in der Broschüre Haus, das Bundesministerium der Justiz zur Verantwortung gezogen werden. Diese Haltung kann man nur als vorbild- entfaltete facettenreiche Darstellung. und für Verbraucherschutz, fühlt sich lich bezeichnen. Denn eine rechtsstaat- Ich wünsche Ihnen eine spannende und seinem Andenken deshalb besonders Hartnäckig setzte sich Fritz Bauer gegen liche Ordnung, Menschlichkeit und erkenntnisreiche Lektüre. verpflichtet. eine in der deutschen Nachkriegs gesell- Frieden sind Voraussetzung jedes lebens- schaft immer schon präsente „Schluss- werten Miteinanders. Der Einblick in Fritz Bauer stritt im Westdeutschland strichmentalität“ ein. Der in den 1960er- die Biographie und die Lebensthemen der Nachkriegszeit unermüdlich für die Jahren geführte Frankfurter Auschwitz- Fritz Bauers kann uns dafür sensibilisie- juristische Ahndung des nationalsozialis- Prozess ist maßgeblich der Tatkraft ren, dass es an jeder Einzelnen und Christine Lambrecht, MdB tischen Unrechts. Es ging ihm nicht um Bauers zu verdanken. Für die deutsche jedem Einzelnen ist, sich Hasskriminali- Bundesministerin Vergeltung, sondern um die Aufarbeitung Öffentlichkeit waren diese Prozesse ein tät, Nationalismus und Extremismus der Justiz und für Verbraucherschutz 6

Der Autor

Dr. Ronen Steinke Ronen Steinke ist Jurist, Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung und Autor u. a. der Biografie „Fritz Bauer. Oder Auschwitz vor Gericht“, die zur Grund- lage für den Kinofilm „Der Staat gegen Fritz Bauer“ wurde. Im Jahr 2020 erschien sein viel beachtetes Buch „Terror gegen Juden: Wie antisemitische Gewalt erstarkt und der Staat versagt.“ 9

Inhalt

Vorwort ...... 4 Der Autor ...... 7 1. „Wenn ich mein Dienstzimmer verlasse …“: Die Jagd nach ...... 10 2. Die Rehabilitierung der Hitler-Attentäter des 20. Juli 1944 ...... 22 3. Der große Frankfurter Auschwitz-Prozess ...... 30 4. Ein jüdisches Leben in der jungen Bundesrepublik ...... 44 5. Für ein humanes Strafrecht ...... 56 6. „Dann musst du Nein sagen“: Fritz Bauers Bedeutung für die heutige Zeit ...... 68 Zum Weiterlesen ...... 72 Impressum ...... 74 11

1. „Wenn ich mein Dienstzimmer Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet er, Es gibt zu dieser Zeit, ein gutes Jahr- Fritz Bauer, im Jahr 1957 den entschei- zehnt nach dem Ende des Holocaust, verlasse …“: denden Hinweis erhält, wo sich damals noch kaum andere Stellen, an die sich der untergetauchte NS-Verbrecher der Mann aus Buenos Aires mit so einer Die Jagd nach Adolf Eichmann aufhält, der einst brisanten Nachricht überhaupt wenden rasend ehrgeizige Organisator des könnte. Die israelische Regierung Adolf Eichmann Holocaust. Ein Mann namens Lothar kon zentriert sich noch ganz auf die Herrmann, ein in Deutschland gebore- dringliche Aufgabe der Landesverteidi - ner Jude, der vor den Nationalsozialisten gung, für die Verfolgung von NS- Ver- nach Argentinien geflohen ist, schreibt brechern hat sie wenig übrig. Die Ameri- in einem Brief an Fritz Bauer: Er habe kaner haben die Zeit der Nürnberger entdeckt, dass Eichmann unter falschem Prozesse schon hinter sich gelassen, Namen in einem Vorort von Buenos im beginnenden Kalten Krieg wollen Aires lebe. Auch die genaue Adresse sie die (West-)Deutschen nicht weiter nennt er. vor den Kopf stoßen und haben die

Als einmal gegen Ende der 1950er-Jahre kennen, den damaligen Generalstaats- einige Verleger, Ministerialbeamte und anwalt in am Main. Der Journalisten zusammensitzen, um auf General staatsanwalt, der die Deutschen Einladung des SPD-Ministerpräsidenten in diesen Jahren mit ihrer NS-Vergan- Georg August Zinn über einen Entwurf genheit konfrontiert, entspricht nie dem für ein modernes hessisches Presse- klassischen Bild des Anklägers. 1958 be- gesetz zu beraten, da kommen die grüßt er die Häftlinge in einem Gefäng- radikalsten Vorschläge im Sinne einer nis mit: „Meine Kameraden!“ – unerhört kompromisslos verwirklichten Presse- in der Adenauerzeit. Als ihm einmal bei freiheit in dieser Runde von einem einer Podiumsdiskussion die Frage dauerrauchenden, schlagfertigen Juris- gestellt wird: „Was kann man tun, ten mit leicht ungeordnetem Haar. um den allgemeinen Aggressionsdrang Woraufhin ein ahnungsloser Journalist abzubauen, der unser Unglück ist?“, irgendwann fragt: „Verzeihung, von da ruft Bauer in den Saal zurück: welcher Zeitung kommen Sie?“ „Mehr Sexualität! Auch in der Literatur! Ich bin gegen das Verbot des Marquis So lernt dieser Journalist – er arbeitete de Sade!“ für die Süddeutsche Zeitung – Fritz Bauer Auf Bauers Schreibtisch in Frankfurt türmen sich 1966 die NS-Akten. 12 13

Verant wortung für die Bestrafung verfahren eingeleitet, juristische Verfü- sturmbannführers – an Traditionsver - der frühere SS-Untersturmführer Paul von NS-Tätern unlängst ganz an diese gungen geschrieben, Rechtshilfe und bände der Wehrmacht und SS in ver- Dickopf, sie im Juli 1957 wissen lassen. ab gegeben. Und in der deutschen Justiz Auslieferung beantragt werden. schiedenen Ländern verschickt. Die Taten Eichmanns seien politischen sind viele Richter und Staatsanwälte Die Quelle dafür sitzt direkt im Bonner Charakters, weshalb eine Fahndung laut selbst in das NS-Regime verstrickt Fritz Bauer aber weiß, dass in seinem Regierungsviertel, es ist die 1950 ge- Interpol-Statut nicht möglich sei. Von gewesen, eher blockieren sie Ermitt- eigenen Apparat – und überhaupt im gründete Zentrale Rechtsschutzstelle den 47 leitenden Beamten des BKA im lungen gegen NS-Täter, als dass diese Apparat der deutschen Strafverfol- für NS-Verdächtige, die bis 1953 im Jahr 1958 sind 33 frühere SS-Angehöri- energisch verfolgen würden. gungsbehörden – noch viele alte Kame- Justiz-, danach im Außenministerium ge, und als Fritz Bauer sie im Jahr 1960 raden sitzen, die so oft schon Fahndun- angesiedelt ist und von einem ehemali- an einen runden Tisch bittet, um sich Nur in Frankfurt eben lässt der General- gen nach NS-Tätern sabotiert haben, gen Staatsanwalt am NS-Sondergericht für die Ermittlungen gegen mutmaßli- staatsanwalt bereits auf eigene Faust indem sie diese Täter heimlich warnen. Breslau geleitet wird. che Auschwitz- Täter abzusprechen, da nach Adolf Eichmann fahnden. Jener schicken sie aus gerechnet einen Abtei- Generalstaatsanwalt Fritz Bauer ist eine Auf den Fluren der Staatsanwaltschaft, Auch bei der Polizei gibt es in dieser lungsleiter vor, der einst als SS-Sturm- Ausnahmegestalt, deshalb bekannt bis aber auch der Ministerien in der ganzen Zeit zahllose undichte Stellen, die bannführer in Russland für die Ver- hin nach Argentinien: Ein Sozialdemo- Bundesrepublik bilden frühere NS- Fernschreiberleitungen dort, bei denen schleppung von Zivilisten in Konzen- krat jüdischer Herkunft, der 1936 gerade Beamte zu dieser Zeit nicht nur einzelne eine Meldung viele Augenpaare passie- trationslager verantwortlich war. noch fliehen konnte und nach 1945 Netzwerke, sondern bereits wieder eine ren muss, sind für Bauers kleines Team ausgerechnet in den Zweig des deut- breite Front. Durch die Amnestiegesetze von Ermittlern in NS-Sachen deshalb So ist zu dieser Zeit die Lage: Polizisten, schen Staatsdienstes zurückgekehrt ist, von 1949 und 1954 ist die Mehrheit tabu, Diskretion ist das oberste Gebot. die in der Bundesrepublik zum Teil der am stärksten von braunen Seilschaf- der von den deutschen Gerichten Als Bauers Team einmal dem aktivsten wieder in leitenden Positionen tätig ten durchsetzt ist: in die Strafjustiz, um bestraften NS-Täter begnadigt, ihre Mann des nationalsozialistischen seien, hätten in geradezu „erschrecken- für die Bestrafung von NS-Verbrechern Strafen sowie die Urteile der Spruchge- Euthanasie-Programms auf der Spur ist, dem Ausmaß“ an NS-Verbrechen mit- zu kämpfen. richte sind aus den Strafregistern Reinhold Vorberg, und bei einem Bon- gewirkt, resümiert im Jahr 1960 der gestrichen worden. Die Parteigänger ner Gericht die Erlaubnis zu diskreten Leiter der frisch gegründeten Zentralen Als nun Fritz Bauer den brisanten Hin - des NS-Regimes sind in Justiz und Ermittlungen beantragt, da gibt sogar Stelle zur Aufklärung nationalsozialis- weis in den Händen hält, wo sich der ge- Verwaltung in den 1950er-Jahren der Richter die sensible Information an tischer Verbrechen in Ludwigsburg, suchte Eichmann befindet – unter dem beinahe vollständig wieder eingerückt. einen örtlichen Rechtsanwalt heraus – Oberstaatsanwalt Erwin Schüle. Dass Namen Ricardo Clement in einem Haus und der Verdächtige kann nach Spanien auch er selbst einst Mitglied der NSDAP in der Calle Chacabuco 4261 in Buenos Heimliche Warnungen bekommen fliehen. und in Hitlers Schlägertrupp SA war, Aires –, da muss er die Entscheidung abgetauchte NS-Verbrecher in dieser wie erst später bekannt wird, ist da fast treffen, wie er mit dieser Information Zeit systematisch zugespielt, sogar über Bei der weltweiten Suche nach Adolf schon eine passende, traurige Pointe. umgeht. Normalerweise ist eine solche eine eigene Postille, den Warndienst Eichmann will die deutsche Polizei Fritz Entscheidung nichts, was Staatsanwälte West, den die Hamburger Dienststelle Bauers Leuten ausdrücklich nicht So kalkuliert Fritz Bauer, dass es auf ins Grübeln versetzen würde, es ist des Deutschen Roten Kreuzes – unter helfen. Das hat der Leiter der Auslandsab- dem offiziellen Dienstweg kaum eine Alltag, dass Indizien gesammelt, Straf- der Leitung eines ehemaligen SS-Ober- teilung des Bundeskriminalamts (BKA), Chance gebe, eine Verhaftung Adolf 14 15

Eichmanns in Argentinien zu erwirken. vor Gericht zu bringen, das ist deshalb Ermittlung gegen einen NS-Verbrecher die Spur zu Bauers Tippgeber Lothar Diejenigen, die solche Verfahren sabo- eine Geschichte davon, wie er es trotz sabotiert. Herman n zurückverfolgen werde. tieren wollen, sind in der Übermacht, alle dem schafft – und es ist eine Ge- Bauer stellt dem israelischen Agenten und sogar in Argentinien sind unter- schichte von notgedrungen einsamen Anfang November 1957 trifft Bauer sich dafür sogar ein gefälschtes Dokument getauchte NS-Täter von wachsamen, Entscheidungen. „Wenn ich mein erstmals an einem unbekannten Ort aus, mit dem sich der Israeli als ver- gut vernetzten Kameraden umringt. Arbeitszimmer verlasse, betrete ich mit dem Vertreter Israels in Deutsch- meintlicher Beamter der Frankfurter Der deutsche Botschafter dort, ein Feindesland“, soll Fritz Bauer einmal land, Felix Schinnar. Nur der hessische Justiz ausweisen soll. Auch diese zweite Mann namens Werner Junker, der schon gesagt haben. SPD-Ministerpräsident Georg-August Mossad-Mission endet in einer Enttäu- für das NS-Regime Diplomat war, Zinn, ein Freund Bauers, sei eingeweiht, schung. Wie sich herausstellt, ist Lothar pflegt regen Kontakt zur rechten Exil- betont Bauer. Dabei müsse es unbedingt Hermann fast blind, auch wohnt er szene, auch zu persönlichen Bekannten bleiben. Zu viel stehe auf dem Spiel. schon seit Jahren nicht mehr in Buenos Eichmanns. „ Wenn ich mein Arbeitszimmer Bauer erklärt: Wenn er offiziell einen Aires, sondern einige Stunden entfernt verlasse, betrete ich Feindesland.“ Haftbefehl für Eichmann und eine in der Stadt Coronel Suarez. Fritz Bauer kann zwar nicht wissen, Auslieferung beantragte, dann würde dass der Bundesnachrichtendienst der sofort untertauchen. Er schlägt Beim Mossad beginnen sie zu zweifeln. (BND) bereits seit 1952 über Eichmanns den Israelis eine diskrete Zusammen- Überhaupt verspüren sie wenig Lust, Tarnnamen und Wohnort in Argen- Bauer wählt einen Weg an den gesetz- arbeit vor. sich von Fritz Bauer weiter zu einer tinien verfügt, was die Agenten für sich lichen Regeln vorbei. Er weiht nieman- Lateinamerika-Expedition drängen zu behalten – „b(itte) alles zu Eichmann den von seinen Mitarbeitern ein, und er Kurz darauf, im Januar 1958, geht auf lassen. Die Buenos-Aires-Spur steht sorgfältig sammeln“, vermerken die riskiert mit seinem heimlichen Vor- Fritz Bauers Tipp hin erstmals ein damit kurz davor, zu erkalten – doch Nachrichtendienstler in einer Akte, die haben, nicht nur sein Amt als General- Mossad-Agent in Buenos Aires auf dann fällt Bauer eine seltsame Nervo- erst Jahrzehnte später geöffnet werden staatsanwalt zu verlieren, sondern auch die Suche nach Eichmann. Doch das sität auf. wird, „wir brauchen das noch“. Aber er seine persönliche Freiheit. Das Problem mutmaßliche Haus Eichmanns erweist weiß doch genug, um auch von ihnen muss ihm in diesem Moment klar vor sich als klein und ärmlich; einen Un- Eine Reihe von Beamten mit NS- Ver- keine Hilfe zu erwarten und sich auch Augen stehen: Ein deutscher Beamter terschlupf für einen mächtigen gangenheit melden sich zu Wort. nicht ohne Not in die Karten schauen wie Fritz Bauer, der einen deutschen NS-Täter stellt man sich anders vor. Der deutsche Botschafter in Buenos zu lassen: Im deutschen Vernichtungs- Staatsangehörigen, der Eichmann ja Der israelische Agent kehrt ernüchtert Aires teilt Bauer am 24. Juni 1958 mit, krieg gegen die Sowjetunion leitete immer noch ist, an einen ausländischen zurück, ohne die Sache genauer geprüft seine Nachforschungen nach Adolf Reinhard Gehlen die Ostspionage – und Geheimdienst verrät, um dessen Ent- zu haben. Eichmann seien sämtlich ergebnislos nun den BND. Um sich schart er dort führung zu erreichen, verhält sich verlaufen. Zugleich aber: Es sei auch alte Kameraden. womöglich sogar strafbar. Aber es ist die Fritz Bauer drängt weiter: Bei einem nicht wahrscheinlich, dass Eichmann einzige Möglichkeit, die er sieht, um sich zweiten Treffen mit einem israelischen sich in Argentinien aufhalte. Vielmehr Wie Fritz Bauer es schafft, Adolf Eich- nicht damit abzufinden, dass die breite Verbindungsmann am 21. Januar 1958, sei er vermutlich im Orient. Dieselbe mann, den prominentesten noch leben- Front der Strafvereitler in Polizei und diesmal in Frankfurt, lässt er sich das Botschaft hört Bauer nun auch von dem den NS-Verbrecher, letztlich in Haft und Justiz ein weiteres Mal eine bedeutende Versprechen geben, dass der Mossad besagten Abteilungsleiter im Bundes- 16 17

kriminalamt, Paul Dickopf. Der sucht Eichmann soll glauben, dass er in Sich - dort umzustimmen. Schließlich greift nun an nicht mehr. Nach Wochen der Bauer eigens in dessen Büro auf – was erheit sei. Am Tag vor Weihnachten 1959 er sogar zu einer Drohung. Er, Bauer, Funkstille, am 22. Mai 1960, ruft ein er sonst nie tut –, um ihm von einer lädt Bauer sogar mit großer Geste zu werde nicht davor zurück schrecken, israelischer Kontaktmann schließlich Suche in Argentinien abzuraten. Dort einer Pressekonferenz, danach schicken entgegen seines eigenen Kuwait-Thea- bei Bauer in Frankfurt an, er bittet um sei Eichmann definitiv nicht. die Nachrichtenagenturen eine Sensa- ters doch noch einen Auslieferungsan- ein Treffen am nächsten Tag und ver- tionsmeldung über den Draht: „Über trag an Argentinien zu stellen, wenn spricht, dass er „vielleicht“ eine gute Bauer sieht sich in seinem Gefühl, auf die zuständigen Bonner Ministerien die Israelis nicht endlich ihre Unschlüs- Nachricht haben werde. Man verabredet der richtigen Fährte zu sein, eher be- wird Generalstaatsanwalt Bauer schon sigkeit überwinden. Dann wäre Eich- sich in einem Frankfurter Restaurant. stärkt, und als schließlich, drittens, auch Anfang 1960 ein Ersuchen um Ausliefe- mann gewarnt. der Leiter der Ludwigsburger Zentral- rung Eichmanns an das Emirat in Doch zur vereinbarten Uhrzeit taucht stelle zur Aufklärung national sozia- Kuwait richten.“ Es mag zwar alles nur der Israeli nicht auf. Bauer steigert listischer Verbrechen, das frühere gespielt sein – die Pressekon ferenz „Ich habe vorgeschlagen, (Fritz sich von Minute zu Minute in eine NSDAP-Mitglied Erwin Schüle, sich ist reine Inszenierung, mit dem Mossad größere, fieberhafte Unruhe hinein, Bauer) möge niemanden etwas im August 1959 meldet und mitteilt, abgestimmt –, aber es wirkt: Auch in halb aus Vorahnung, halb aus Besorgnis auch er habe erfahren, dass Eichmann argentinischen Zeitungen kann man sagen und keine Auslieferung – bis nach einer halben Stunde der sich nicht in Südamerika, sondern nun lesen, auf welchen Abwegen beantragen, sondern uns seine Israeli, die Hände noch ölig von einer vielmehr im Nahen Osten aufhalte, da der Frankfurter Generalstaatsanwalt Adresse geben. Wenn sich heraus- Reifenpanne, zur Tür hereinkommt ersinnt Bauer eine List. angeblich wandelt. stellt, dass er dort ist, werden wir und sofort mit der Nachricht heraus- ihn fangen und hierher bringen.“ platzt. Fritz Bauer habe bei der Umar- Auf der einen Seite wiegt er die Nervö- Auf der anderen Seite treibt Bauer die mung Tränen in den Augen gehabt, sen in Sicherheit. In einer Reihe von Israelis an, sich im Stillen weiter an schreibt der Mossad-Chef Isser Harel Pressemitteilungen erweckt Bauer von Eichmann heranzupirschen, jetzt erst in seinen Erinnerungen. Erst zweiein- Herbst 1959 an den Eindruck, als recht. Die israelische Regierung zögert. Am 6. Dezember 1959 notiert Israels halb Stunden später erfährt auch der konzentrierte er seine Ermittlungsbe- Sie hat politische Bedenken. Eine Ergrei- Ministerpräsident David Ben Gurion Rest der Welt, dass Eichmann verhaftet mühungen tatsächlich ganz auf den fung Eichmanns in Argentinien ohne in sein Tagebuch: „Ich habe vorgeschla- und bereits in eingetroffen ist – Nahen Osten. In einer ersten, wie die den offiziellen diplomatischen Vorlauf – gen, (Fritz Bauer) möge niemandem durch eine Erklärung David Ben Gurions, Eichmann- Expertin Bettina Stangneth der jede Chance auf einen Erfolg zu- etwas sagen und keine Auslieferung der um 16 Uhr in Jerusalem vor die schreibt, „offensichtlich komplett nichtemachen würde – wäre inter nati- beantragen, sondern uns seine Adresse Knesset tritt, dem israelischen Parla- erfundenen“ Pressemitteilung erklärt onal ein Affront, eine Verletzung der geben. Wenn sich herausstellt, dass er ment in Jeru salem. Bauer, man gehe davon aus, dass argentinischen Souveränität; schwierig dort ist, werden wir ihn fangen und Eichmann im Stab eines Scheichs als für den jungen jüdischen Staat, der An- hierher bringen.“ Damit ist die Entschei- Dass hinter all dem die Initiative eines „Beauftragter westdeutscher Firmen erkennung sucht. dung ge fallen. Fritz Bauer versorgt die einsamen deutschen Generalstaats- tätig“ sei, wobei es freilich des Juristen Israelis weiter mit Beweismitteln gegen anwaltes steckte, erfährt die Welt nicht. Höflichkeit verbiete, diese Firmen beim Fritz Bauer reist mehrmals zu Gesprächen Eichmann. Aber welche Fortschritte Bauer will es so. Er hütet das Geheimnis, Namen zu nennen. nach Israel, um die Entscheidungsträger der Mossad macht, das erfährt er von weil er sonst sofort sein Amt verlieren 18 19

Konzept.“ Diese Lücke wird erst jetzt, und nicht durch deutsche Gerichte mit dem Eichmann- Prozess, öffent- erfolgt. Sie bedauern dies, nicht weil lichkeits wirksam geschlossen. In dem sie meinten, die alliierten Richter liessen Prozess kommen Zeugen aus all jenen es an Sachlichkeit und Gerechtigkeit Ländern zu Wort, durch die einst Eich- fehlen, oder weil sie meinten, dies sei manns Todeszüge gerollt sind. mit dem deutschen ‚Prestige‘ unverein- bar. Es gibt wichtigere Dinge als natio- nale Prestigefragen. Sie bedauern es, weil deutsche Gerichte Gelegenheit Fritz Bauer kritisierte: gehabt hätten, klar und deutlich der „ Die Problematik der KZ-Prozesse Weltöffentlichkeit zu zeigen, dass das neue Deutschland wieder ein Rechts- passte nicht ins Konzept.“ Adolf Eichmann während des Prozesses vor dem Jerusalemer Bezirksgericht. staat geworden ist, der mit einer recht- losen Vergangenheit bricht und die würde. Der Jerusalemer Generalstaats- sche Gericht zur Todesstrafe greifen nazistische Vorstellung, Macht sei Recht, anwalt Haim Cohn schreibt Bauer: wollte, auch weil Eichmann dann verflucht. Ein Rechtsstaat ist ein Staat, „Ich brauche nicht zu sagen – und künftig nicht mehr als Zeuge zur Ver- Nur kurz macht Fritz Bauer den Ver- in dem nicht der Staat Recht hat, son- sowieso kann ich es brieflich nicht –, fügung stehe. such, die westdeutsche Regierung unter dern in dem das Recht und das Rechte wie sehr wir Ihnen verbunden sind, Konrad Adenauer dazu zu bewegen, vom Staat gepflegt wird.“ nicht nur in Dankbarkeit, sondern Im Nürnberger Prozess gegen die Haupt- zumindest einen symbolischen Aus- auch in dem Bewusstsein der Gemein- kriegsverbrecher, der von 1945 bis 1946 lieferungsantrag an Israel zu stellen – Aber Bonn lehnt ab, die Adenauer- samkeit des Zieles und des Erfolgs.“ lief, war es weniger um die Konzentrati- einfach um zu dokumentieren, dass Regierung möchte keinen Ausliefe- onslager gegangen als um die militäri- eine Anklage Eichmanns dringender rungsantrag stellen, sondern den Wie sehr muss es Bauer quälen, als 1960 schen Schlachtfelder. Der Vorwurf, auf aus dem Mund der Deutschen kommen Eichmann-Prozess lieber aus der Ferne die ganze Welt nach Jerusalem blickt. den sich die alliierten Ankläger konzen- müsste als aus dem Munde der Israelis. verfolgen. Und Fritz Bauers Versuch Es wird ein überaus wertvoller Prozess, triert hatten, bestand darin, dass Deutsch- Ein „deutsches J’accuse“, wie Fritz Bauer imponiert nicht einmal denen, die ihm er wird von der israelischen Justiz als land einen Angriffskrieg geführt habe. es nennt – das bräuchte es jetzt, um zu eigentlich wohlgesinnt sind: Fritz Bauer Medienereignis inszeniert, als eine Zwar hat öffentlicher Druck in den USA zeigen, dass das neue Deutschland aus sei „Jude, also gilt die ganze Sache ja Auseinandersetzung mit dem Holo- und Großbritannien dazu geführt, dass eigenem Antrieb mit dem alten bricht. nicht“, schreibt Hannah Arendt damals caust, die das bis dahin auch in Israel der Holocaust zumindest mit in die Liste an ihren Freund Karl Jaspers. herrschende Schweigen in der Gesell- der Anklagepunkte aufgenommen „Deutsche Antinazisten bedauern“, so schaft aufbricht. Davon hat auch Fritz wurde, doch mehr als eine Marginalie hat Bauer schon einige Jahre zuvor Bauer hat Großes geleistet, aber er ist Bauer geträumt, wie er seinen Mitarbei- wurde im Gerichtssaal nicht daraus. „Die mit Blick auf die Nürnberger Prozesse in der tragischen Lage, dass er nach tern in Frankfurt einmal an vertraut, Problematik der KZ-Prozesse“, so kriti- ge schrieben, „dass die Verurteilung der außen hin weiter die Rolle des Ahnungs- wobei er nur bedauere, dass das israeli- siert Fritz Bauer später, „passte nicht ins nazistischen Verbrecher durch alliierte lo sen spielen muss, der angeblich in 20 21

arabischen Ländern nach Eichmann ist, das erfährt die Welt erst im August Das ist die Rolle seines Lebens: Der An- freundlichen Grüßen ein besonders suchte, erfolglos, während die Israelis 1968, als die israelische Zeitung Ma’ariv kläger, der nicht aus Härte oder Ver- skurriles Exemplar ein. Es ist eine einfach zugriffen. das Geheimnis lüftet und ein Vertrauter geltungsdrang streitet. Sondern aus dem Postkarte, beidseitig eng mit Schreib- Ben-Gurions, der Schrift steller Michael verzweifelten Wunsch nach Befreiung maschine beschrieben. Der Absender Bar-Zohar, die Geschichte bestätigt. Die von Lüge, Selbsttäuschung und kollekti- nennt sich Kölner Kreis. Als Adressat „ Ich habe gehört, Sie hätten Israelis haben so lange gewartet, bis ver Gefühlsverhärtung. Er hat sein Land steht auf der Karte „Oberstaatsanwalt Eichmann gefangen.“ Fritz Bauer keine Nachteile mehr erlei- etwas aufgehellt in einer Zeit, in der es Bauer“. Als Anschrift steht darunter den kann; bis er gestorben ist. noch immer sehr düster war. Er hat es nur „Charakterkopf I a, Frankfurt“. nachhaltig verändert, als Ankläger wie „Ich habe gehört, Sie hätten Eichmann Das ganze Drama dieses Lebens, das sich auch als Strafrechts reformer. Vielleicht findet Bauer Gefallen daran, gefangen“, sagt einmal ein junger zu Lebzeiten weithin im Verborgenen dass der Postbote mit diesen wenigen Frankfurter Freund, Manfred Amend, abspielte, wird dann erst Jahrzehnte Nachts klingelt in seiner Wohnung oft Informationen genug anzufangen zu Fritz Bauer. Da hat Bauer offenbar später langsam aufgedeckt. Das ist ver - das Telefon: „Judenschwein verrecke!“, wusste, um das Schreiben zuzustellen, nicht ganz an sich halten können mit blüffend. So viele positive Identifi kati- bellen Unbekannte in den Hörer. Von vielleicht lässt ihn aber auch nur der seinem Eichmann-Geheimnis, er hat onsfigur en hat die deutsche Nachkri egs- Frühjahr 1964 an müssen die Räume, krude Text der Karte schmunzeln. es einer Freundin zugeflüstert, worauf- geschichte nicht aufzu weisen. So viele in denen der Auschwitz-Prozess statt- „Wir stellen uns unter einem Staats- hin auch sie es offenbar nicht ganz für Beispiele für Zivil courage hat auch die findet, vor jedem Prozesstag nach anwalt einen Mann vor“, so lehrmeistert sich behalten hat. „Wo haben Sie das Juristenschaft nicht. Sprengstoff abgesucht werden, Bauers der anonyme Verfasser dort, „der für her?“, fragt Bauer den jungen Freund Büro erhält eine Bombendrohung. Ordnung, Moral und Sauberkeit im erschrocken. Fritz Bauer hat es virtuos verstanden, von Die Drohbriefe, die sich bei ihm häufen, Staat eintritt!“ Fritz Bauer aber tue das der kleinen Bühne des Gerichtssaals aus füllen Aktenmappen, beschriftet mit genaue Gegenteil. „Wie steht’s denn mit Simon Wiesen- große politische Debatten zu entfachen „Zustimmende Zuschriften“ oder „Irre thal?“, hakt der junge Freund nach. – am meisten sicherlich in dem von ihm Zuschriften.“ Doch als die Schriftstelle- Wiesenthal, ein Holocaust-Überleben- initiierten großen Frankfurter Ausch- rin Ingrid Zwerenz ihn einmal gegen der, betätigt sich von Österreich aus witz-Prozess 1963 bis 1965, „der sich in Ende der 1960er-Jahre für ein Buch- als Privatdetektiv. Bauers junger Freund vieler Hinsicht wie eine Ergänzung zum projekt bittet, anonyme Droh- und sagt: „Es heißt doch immer, er habe Prozeß in Jerusalem liest“, wie Hannah Schmähbriefe einzusenden, da signa- die Spur von Eichmann aufgetrieben.“ Arendt damals schrieb. Vor allem in lisiert Fritz Bauer, dass er die Anfein- Da lacht Bauer leicht und sagt: „Ja, er diesem Zusammenhang ist Bauers Name dungen sogar mit Humor nehmen nennt sich auch Eichmann-Hunter. So heute bekannt: Nicht nur den Eichmann-, könne. Während Heinrich Böll, Günter kann er sich auch nennen, gefangen auch den Frankfurter Auschwitz-Pro- Grass, Martin Walser und andere abwin- hat er ihn allerdings nicht. Gejagt, ja.“ zess hätte es ohne ihn nicht gegeben. ken oder mitteilen, sie würden Hass - Er wurde zum Wendepunkt für die post prinzipiell sofort in den Papier - Wie groß Fritz Bauers Rolle im Zentrum deutsche Auseinander setzung mit der korb sortieren, schickt Fritz Bauer mit der Jagd auf Eichmann wirklich gewesen NS-Vergangenheit. 22 23

2. Die Rehabilitierung der Hitler-Attentäter Wachregiment in Berlin zu befehligen, als sich die Nachricht verbreitete, auf des 20. Juli 1944 Hitler sei in seinem Quartier Wolfs- schanze in Ostpreußen ein Bomben- anschlag verübt worden. Major Remer hatte die Aufgabe, das Regierungsviertel abzuriegeln, mit Joseph Goebbels mit- tendrin. Das ist nicht schwierig. Er stellt rasch fest: Die Verschwörung ist bereits in sich zusammengesackt, nachdem sich herausgestellt hat, dass Hitler überlebt hat. So bleibt Remer wenig mehr, als dem bang wartenden Goebbels die gute Nachricht zu überbringen. Eine dank- bare Aufgabe.

Claus Schenk Graf von Stauffenberg Hitler rühmt den Major Remer als Helden, er befördert ihn aus Dank- Rechtsextreme haben in den Anfangs- den Köpfen von etwa 800 Zuhörern in um Claus Schenk Graf von Stauffenberg, barkeit zum Generalmajor, überträgt tagen der Bundesrepublik einen Star, dem vollen Saal liegen Schwaden von die den Soldaten in den Rücken gefallen ihm die Führer-Begleit-Brigade, und und dieser Star hat ein Thema, das er Tabakrauch, aus den Lautsprechern seien. Das Thema 20. Juli erweist sich bei jedem seiner Auftritte wiederholt, schnarren der Badenweiler Marsch und 1951 als höchst effektiv: Elf Prozent der weil es jedes Mal zuverlässig die Emotio- Preußens Gloria, der Redner gestikuliert Stimmen holte die SRP drei Tage nach nen der alten Waffenbrüder wachruft. hektisch: „Sie können Gift darauf neh- Remers Braunschweiger Rede bei der Immer wieder schimpft dieser Star, men, diese Landesverräter werden eines Wahl zum niedersächsischen Landtag. Otto Ernst Remer, der 39-jährige Spit- Tages vor einem deutschen Gericht sich 16 Sitze. Darunter sogar vier Direkt- zenmann der Sozialistischen Reichs- zu verantworten haben.“ mandate. Zwei Jahre ist die westdeut- partei (SRP), auf die Hitler-Attentäter sche Demokratie erst alt, und in 35 des 20. Juli 1944. Es herrscht „das Klima der national sozia- niedersächsischen Gemeinden errei- listischen Versammlungen um die chen die Braunen die absolute Mehrheit. „Die Verschwörer sind zum Teil in star - Jahreswende 1931/32“, meint ein Repor- kem Maße Landesverräter gewesen, ter der Welt, der an diesem Abend in Die ganze Politikkarriere des SRP-Man- die vom Auslande bezahlt wurden“, dabei ist und die Solidari- nes Otto Ernst Remer beruht auf seiner Hitler und Mussolini besichtigen das Führer- ruft er zum Beispiel am 3. Mai 1951 im sierung gegen den großen gemeinsamen eigenen Rolle an jenem 20. Juli 1944. hauptquartier Wolfsschanze nach dem miss- Braunschweiger Schützenhaus. Über Gegner erlebt: die angeblichen Verräter Als kleiner Major hatte er damals das glückten Attentat vom 20. Juli 1944. 24 25

anwalt. Dort bekommt er mit, dass Otto gänger –, da steht vor dem Landgericht „ Es ist Aufgabe der Staatsanwalt- Ernst Remer bei seiner Wahlkampfrede in der Braunschweiger Münzstraße an schaft, Aufgabe der Richter des in Braunschweig die Männer des 20. Juli jedem Morgen schon eine Stunde vor demokratischen Rechtsstaates, „Landesverräter“ genannt hat. So eröff- Saalöffnung eine Menschenschlange. die Helden des 20. Juli ohne Vor- net der Generalstaatsanwalt Fritz Bauer Das Gericht lässt Einlasskarten drucken. behalt und ohne Einschränkung ein Strafverfahren wegen übler Nach- „Otto Ernst Remer auf der Anklagebank rede. Das ist zwar ein leichtes Delikt, zieht seine Stirn in Falten, lächelt, zu rehabilitieren, aufgrund der bei dem sich normalerweise kein hoher flüstert mit vorgehaltener Hand mit Tatsachen, die uns heute bekannt Staatsanwalt einschaltet. Doch Bauer seinen Verteidigern“, notiert ein Pro- sind, aufgrund des damals und erkennt eine Gelegenheit. Üble Nach- zessbeobachter. heute, des ewig geltenden Rechts.“ rede setzt nämlich juristisch voraus, dass eine behauptete Tatsache unwahr Der 20. Juli kommt vor Gericht: So ver- ist. Das ist der kleine juristische Hebel, stehen es bundesweit die Zeitungen. der die Tür zu einer großen politischen Zwar ist die junge Bundesrepublik, die je heller die Figur Stauffenberg gezeich- Debatte aufstemmt. sich nach Adenauers Willen wieder net werden wird, umso dunkler muss Otto Ernst Remer bei einer Rede im April 1951. bewaffnen soll, dringend auf der Suche daneben die Masse der Deutschen Die Richter, so kalkuliert Fritz Bauer, nach historisch unbelasteten Vorbildern erscheinen, die nicht rebelliert haben. Goebbels’ Propaganda macht ihn zum werden diskutieren müssen, ob die und Traditionen. Der Aufstand des Wochen schau-Star. Nicht der Hitler- Attentäter des 20. Juli wirklich ihr Land Gewissens in der Gestalt der Männer des Die SPD im Bundestag will die Legalität Attentäter Stauffenberg, sondern der verrieten – oder ob sie in Wahrheit 20. Juli bietet sich an. Aber es gibt auch von „aus Überzeugung“ geleistetem über sich hinauswachsende Major sollte Helden waren. Fritz Bauer lässt dafür die ehemaligen Wehrmachtssoldaten, Widerstand gern per Gesetz klarstellen, das Gesicht des 20. Juli werden. So be- ganze fünf Prozesstage ansetzen, und die ihrem Eid auf Hitler bis zuletzt treu doch die Union bremst. Sie kalkuliert: ginnt schon damals die vergangenheits- in den Zeugenstand beruft er den geblieben sind – das sind Millionen, und Damit überließe man es den kleinen politische Nutzung des Ereignisses: Bundesminister für Vertriebene, den Koalitionspartnern FDP und Deutsche Vergessen werden soll dieser Tag nie- Präsidenten des Bundesamts für Ver- Partei, den mächtigen Soldatenvereinen mals – das ist zunächst das Anliegen vor fassungsschutz, Kirchenleute und eine Stimme zu geben. Hiergegen allem der Nationalsozialisten und wenig Militärexperten; lauter hochkarätige argumentiert Fritz Bauer: „Es ist Auf- später auch ihrer Wiedergänger in der Fürsprecher für Fritz Bauers Argument, gabe der Staatsanwaltschaft, Aufgabe frühen Bundesrepublik. dass die Taten der Widerstandskämpfer der Richter des demokratischen Rechts- nicht nur legitim, sondern auch legal staates, die Helden des 20. Juli ohne Es ist dann Fritz Bauer, der den Rechten gewesen seien. Vorbehalt und ohne Einschränkung zu dies erstmals öffentlich streitig macht. rehabilitieren, aufgrund der Tatsachen, Fritz Bauer ist gerade aus dem Exil Als Fritz Bauer 1952 den SRP-Mann die uns heute bekannt sind, aufgrund zurückgekehrt, er amtiert vorerst im Remer anklagt – der jüdische Remigrant Otto Ernst Remer während des Prozesses vor des damals und heute, des ewig gelten- kleinen Braunschweig als Generalstaats- gegen den Frontmann der NS-Wieder- dem Landgericht Braunschweig. den Rechts.“ 26 27

Schon seit Sommer 1951, als die Planun- ist im Gerichtssaal deutlich zu spüren. erscheint. Aber das Jahr 1952 markiert gen für den Prozess gerade erst begin- „Da wird sehr breit erörtert, ob nicht unzweifelhaft eine Zäsur. Nur 38 Pro- nen, hat Bauer diese Debatte mit öffent- die Verschwörer des 20. Juli Divisionen zent der Deutschen befürworten, als sie lichen Äußerungen befeuert. Die Wider- für ihren Staatsstreich zurückgelassen kurz vor Prozessbeginn befragt werden, standskämpfer im Militär hätten keines- hätten, während die Front aus Mangel die Taten der deutschen Widerstands- wegs ihren soldatischen Eid gebrochen, an Soldaten verblutete“, berichtet ein kämpfer. Am Ende des geschichtspoli- erklärt er – denn es sei davon auszuge- Reporter des Magazins Die Gegenwart. tisch turbulenten Jahres 1952, das im hen, dass der Hitler-Eid unwirksam war. „Man spürt, daß das hier das Publikum Braunschweiger Gerichtssaal beginnt, „Eine eidliche Verpflichtung zum un- anspricht; selbst die Polizisten im sind es bereits 58 Prozent. bedingten Gehorsam nicht gegenüber Saal tauschen ihre Erinnerungen an Braunschweig 1952: Generalstaatsanwalt Gott, Gesetz oder Recht oder Vaterland, die Kriegszeit aus. Die Frage, ob es „Meine Herren Richter!“, beginnt Fritz Bauer (links) klagt den Kopf der Sozialistischen Reichspartei, SRP, an. sondern gegenüber einem Menschen ist ,Sabotage‘ gegeben habe, wirkt sofort Bauer sein Plädoyer. Es wird, so staunt in der deutschen Rechtsgeschichte vor elektrisierend.“ der Reporter der Zeit, ein Auftritt, bei Hitler unbekannt und unsittlich“, sagt dem Fritz Bauer beinahe vergessen lässt, saal an, „und kurzerhand auf die Gut- Bauer. Wie ein sittenwidriger Vertrag Kurz nach Fritz Bauers Schlussplädoyer dass der Angeklagte Remer überhaupt achten der drei theologischen Sach- juristisch null und nichtig ist, so auch in Braunschweig, das von den Medien im Saal ist. Es wird eine sehr grund- verständigen verweisen. Sie haben der Hitler-Eid. Niemand brauche sich ins ganze Land hinausgetragen wird, sätzliche, eine rhetorisch versierte Rede, über einstimmend erklärt, dass nach gebunden zu fühlen. weiht der Berliner Oberbürgermeister die sorgsam auf die eigentliche Ziel- dem Standpunkt der evangelischen und Ernst Reuter ein Denkmal für Stauffen- gruppe abgestimmt ist: die Deutschen der katholischen Moraltheologie den Das soll den Millionen „Eidtreuen“ im berg im Bendlerblock ein. Die Witwe draußen vor den Radios und an den Männern des 20. Juli kein Vorwurf des Land den nachträglichen Bruch erleich- Stauffenbergs, bislang von der Offiziers- Zeitungsständen. Bauer spricht viel in Landesverrats zu machen sei, da sie tern, es soll ihnen eine Brücke bauen. witwenrente ausgeschlossen, wird der Wir-Form. Allein fünfmal verwendet den Willen gehabt haben, ihr Land nicht „Deutschland diskutiert die Eid-Frage“, aus der staatlichen Ächtung befreit, ihr er das Wort Vaterland. Um die ehemali- zu verraten, sondern zu retten.“ titelt die liberale Neue Zeitung im Mann rehabilitiert. Theodor Heuss gen Soldaten von der moralischen Novem ber 1951, und nur wenige Tage sprach vor Berliner Studenten von den Richtigkeit des Widerstands zu überzeu- Ganz so einfach, wie Fritz Bauer tut, ist zuvor schreibt die Süddeutsche Zeitung: „Helden“ des 20. Juli, den Männern, gen, umgarnt Bauer sie auch mit dem die Sache nicht: Tatsächlich hat er recht „Ginge es nur nach der Anzahl der die „durch das Blut … die Scham … Angebot einer annehmbaren Identifika- lange suchen müssen, bevor er drei gewechselten Worte, so müßte man weg gewischt“ haben, „in die Hitler uns tionsfigur: Claus Schenk Graf von Theologen in den Zeugenstand rufen glauben, das deutsche Volk habe sich Deutsche gezwungen hatte“. Stauffenberg; deutschnational, Aristo- konnte, die Professoren Hans Joachim am vergangenen Wochenende für krat, selbst jahrelang Hitler treu ergeben. Iwand und Ernst Wolf, zwei Köpfe der nichts anderes interessiert als für die Zwar wird es noch bis in die 1960er- Bekennenden Kirche, und Professor Stellung des Soldaten in der Welt.“ Jahre dauern, bis das regelmäßige Bauers erstes Argument: Ungehorsam Rupert Angermair vom katholischen Gedenken im Berliner Bendlerblock gegen menschenverachtende Gesetze Priesterseminar in Freiburg. Diese Wie stark die Menschen auf den Braun- beginnt und das Porträt Stauffenbergs ist christlich. „Ich könnte mir die Sache drei sind in der Minderheit in ihren schweiger Remer-Prozess reagieren, erstmals auf einer Sonderbriefmarke einfach machen“, hebt er im Gerichts- Kirchen; noch 1946 hat sich die Leitung 28 29

der hannoverschen Landeskirche nach - sparnis deutscher Menschenleben, „ Der Mann muss wohl auch seinem Aber wichtig für den Umschwung der träglich unter Berufung auf die Zwei- deutscher Wohnungen, ein Plus deut- König, wenn dieser Unrecht tut, Mehrheitsmeinung im Jahr 1952 sind Reiche-Lehre gerechtfertigt, dass man scher Weltgeltung.“ Berühmt wird Fritz widerstehen und sogar helfen, ihm nicht die juristischen Kautelen eines nicht gegen die Nationalsozialisten Bauers Satz: „Ein Unrechtsstaat wie das Urteils, sondern die Szenen eines Pro- zu wehren in jeder Weise, selbst rebelliert habe. Fritz Bauer übergeht dies ,Dritte Reich’ ist überhaupt nicht hoch- zesses, die sich der Öffentlichkeit bewusst. Nicht diese Botschaft soll eine verratsfähig.“ wenn jener sein Verwandter oder ein geprägt haben. Remer, verurteilt zu Bühne bekommen, sondern die Gegen- Lehnsherr ist. Und damit verletzt lediglich drei Monaten Haft wegen botschaft, auch wenn man die Theolo- Die Krönung von Bauers Plädoyer aber er seine Treue nicht.“ Belei di gung, entzieht sich seiner Strafe gen dafür mit der Lupe suchen muss. ist sein drittes Argument: Ungehorsam durch die Flucht ins Ausland. Seine gegen einen Tyrannen sei so urdeutsch Karriere ist vorüber. Die große Debatte wie nur irgendetwas. Dies in Richtung genheit“, sagt Bauer. „Der Untertaneneid aber, die Bauer von der kleinen Bühne „ Ein Unrechtsstaat wie das der Nationalisten, deren Getöse zumal im deutschen Staatsrecht ging auf Treue, des Braunschweiger Landgerichts aus ,Dritte R eich‘ ist überhaupt nicht in Niedersachsen gerade wieder an- aber Gehorsam oder gar unbedingter angeheizt hatte, beginnt erst. hochverratsfähig.“ schwillt. „In diesem Saal ist einmal Gehorsam war den Deutschen ein seitens der Verteidigung das Wort fremder Begriff. Gehorsam, sagten die gefallen, wir sprechen hier deutsches Germanen, gilt für Sklaven, der Freie Fritz Bauers zweites Argument: Ungehor- Recht“, sagt der Chefankläger Fritz ist nur zur Treue verpflichtet, und Treue sam ist patriotisch. Der Tatbestand des Bauer. „Jawohl, hier sprechen wir deut- setzt Gegenseitigkeit voraus.“ Landesverrats setzt im Jahr 1944 juris- sches Recht. Deswegen halte ich es für tisch voraus, dass der Täter beabsichtigt, meine Verpflichtung, gerade darauf Ein bestimmtes Strafmaß für den Ange- das „Wohl des Reiches zu gefährden“ oder hinzuweisen, was altes deutsches, klagten Otto Ernst Remer fordert Fritz „schwere Nachteile für das Reich herbei- germanisches Recht ist. Ich erinnere an Bauer am Ende nicht, so nebensächlich zuführen“. Aber, so Bauer: „Meine Richter, die stolzen Worte des Sachsenspiegels: ist die Figur wohl für sein eigentliches Sie haben eine Reihe von Zeugen gehört. Der Mann muss wohl auch seinem Anliegen. Die Braunschweiger Richter Ich glaube, es gibt niemanden in diesem König, wenn dieser Unrecht tut, wider- schlagen sich am Ende auch nicht Saal, der den Mut hätte zu sagen, einer stehen und sogar helfen, ihm zu wehren eindeutig auf Fritz Bauers Seite. Ob die der Widerstandskämpfer hätte nicht in jeder Weise, selbst wenn jener sein Männer des 20. Juli Verrat geübt hätten, mit der heiligen Absicht gehandelt, Verwandter oder Lehnsherr ist. Und das sei nicht eine Frage von Paragrafen, seinem deutschen Vaterlande zu die- damit verletzt er seine Treue nicht.“ sondern auch von moralischen Wertun- nen. Stauffenberg starb mit den Wor- gen, die grundsätzlich jedem selbst ten auf den Lippen: ‚Es lebe das heilige Bauer greift zurück auf germanische überlassen seien, so die Richter. Der Deutschland!’ … Jeder Versuch, den Überlieferungen, auf Snorri Sturluson, SRP-Politiker Remer, so kann man ihr Krieg zu verhüten“, so beschwört Bauer auf König Olaf, auf den Gesetzes - Urteil zusammenfassen, habe da seine sein Publikum, „jeder Versuch, den sprecher von Tiundaland. Das ist „die Meinung. Lediglich in der Form habe er Krieg abzukürzen, bedeutete eine Er - kernige Sprache der deutschen Vergan- überzogen. 30 31

3. Der große Frankfurter Auschwitz-Prozess

Der junge Schriftsteller Horst Krüger ist spät. Und dann ist es wie im Kino, wenn mit offenem Schiebedach hergefahren, der Film schon zu laufen begonnen hat es ist eng gewesen auf den Straßen, es und man im Dunkeln über die Reihen wurde gehupt. Die Metropole Frankfurt hereinstolpert: schwierig, in die laufen- am Main, das kommerzielle Zentrum de Handlung hineinzufinden. der Bundesrepublik, wächst seit 1960 rasant in die Höhe, ein wenig hektisch Als Krüger in den 120 Meter langen, mit Zum Prozessauftakt am 20. Dezember 1963 sind mehr als Zweihundert Journalisten gekommen. und ordinär, wie Krüger findet, „eine billigem Holz vertäfelten Plenarsaal tritt, Mischung aus Alt-Sachsenhausen und den die Stadträte vorübergehend frei- sich an eine Theaterpause erinnert. 14 von ihnen sind auf Kaution auf frei- Klein-Chicago“. Es ist ein hellblauer und geräumt haben, sitzen die Männer in Man diskutiert die Eindrücke, holt em Fuß, sie bewegen sich nicht abge- silbrig strahlender Tag, an dem im ihren gleichförmigen Anzügen, Brillen die Jacken von der Garderobe ab oder sondert, von Soldaten bewacht wie im Frankfurter Rathaus über die Hölle von und Haarschnitten bereits seit 20 Ver- legt der Garderobenfrau ein paar Mün- Nürnberger Prozess gegen die 24 Haupt- Auschwitz verhandelt wird. Ein durch- handlungstagen zusammen. Schon bald zen hin und bekommt eine Cola. kriegsverbrecher oder in einen Glas- schnittlicher Verhandlungstag in diesem ordnet der Vorsitzende Richter eine Endlich fragt Krüger einen Freund: kasten gesperrt wie Adolf Eichmann in Mammutprozess. zehnminütige Pause an und etwa 120 Wo sind denn nun eigentlich die Ange- Jerusalem. Sondern ganz ohne auf zu- Leute strömen aus dem Saal. Die Herren klagten? Worauf der Freund ironisch fallen. Ein paar von ihnen sitzen jetzt in Rund um das Gebäude ist kein Parkplatz zünden sich Zigaretten an, man steht in lächelt und sagt: Die Angeklagten – sind einer großen, ledernen Sitzgruppe an mehr frei, deshalb kommt Krüger zu Grüppchen beisammen. Krüger fühlt mitten unter uns. einer Wand im Foyer, trinken Cola und 32 33

Sinalco, rauchen Zigaretten, sehen dick kann, ist keine Nebensache. Man könnte „ So wie die alle nicht auf ihren Urteil heißen wird, arbeitet in Berlin als und gemütlich aus. Einer steht direkt sagen, dass sie sogar geradewegs zum Plätzen sitzen, sind sie nicht mehr Krankenpfleger; die Patienten nennen neben dem ahnungslosen Krüger. Kern der Sache führt. zu unterscheiden. Jeder Anwalt ihn „Papa Kaduk“, weil er sich so auf- opfernd um sie kümmert. ein potentieller Angeklagter. … Auch im Saal sitzen die Angeklagten Diese Angeklagten sind mitten aus dem nicht herausgehoben. Auf der kleinen gesellschaftlichen Leben gegriffen, der Jeder Angeklagte dein Briefträger, Das macht die enorme Wucht dieses Anklagebank vor dem Richter ist je- wichtigste von ihnen, – Bankbeamter, Nachbar.“ Prozesses aus. Gewiss, er ist der größte weils nur Platz für den einen, der gera- gerötetes Gesicht, schlohweißes Haar in der Geschichte der deutschen Straf- de besonders im Fokus des Prozesses und makelloser dunkelblauer Anzug –, justiz, zwanzig Monate lang wird in steht. Die übrigen belegen schlicht die war in Auschwitz Adjutant des Lager- Auschwitz tatsächlich zurückgekehrt Frankfurt gegen 22 Angeklagte ver- vorderen Reihen im Zuschauerraum, kommandanten, also die Nummer zwei sind, die in der „Strafsache gegen Mulka handelt, 700 Seiten umfasst allein die optisch unauffällig – und mancher in der SS-Hierarchie im Lager; jetzt fährt und andere“ vor dem Schwurgericht nüchterne Auflistung aller Gräueltaten nichts ahnende Besucher hat schon er zwischen den Verhandlungstagen stehen. , „einer der grau- in der Anklageschrift. 20.000 Deutsche einen von ihnen von hinten angetippt nach Hamburg, um in seinem gut samsten, brutalsten und ordinärsten wollen den Prozess sehen, unter ihnen und freundlich flüsternd nach dem gehenden Geschäft nach dem Rechten SS-Männer im KL-Auschwitz“, wie es im sind viele Jugendliche. Erst mit diesem rätselhaften juristischen Geschehen zu sehen. Genau das ist in Frankfurt der da vorne gefragt. Punkt: Der Auschwitz-Prozess führt die Deutschen nicht an einen fernen Ort Natürlich sind das Details. Natürlich irgendwo im unbekannten Osten. macht es für die große juristische Sondern er legt schlicht mitten unter Auseinandersetzung, die von Dezember ihnen, mitten in der Boomzeit der 1963 bis August 1965 in Frankfurt 1960er-Jahre, einmal kurz die Lupe an. ausgetragen wird und die erstmals das System der fabrikmäßigen Ermordung „Gespenstisch“ nennt das ein anderer von Menschen in seinem gesamten Schriftsteller, Robert Neumann, nach- Umfang aufklärt – vor den Augen der dem er einen Vormittag im Frankfurter zahlreich geladenen Weltpresse –, Zuschauerraum verbracht hat: „So wie keinen Unterschied, an welcher Stelle die alle nicht auf ihren Plätzen sitzen, im Saal die Angeklagten sitzen oder sind sie nicht mehr zu unterscheiden. dass sie für eine Cola anstehen wie alle Jeder Anwalt ein potentieller Angeklag- anderen. Allenfalls ist der souverän- ter. … Jeder Angeklagte dein Briefträger, geschäftsmäßige Umgang mit ihnen Bankbeamter, Nachbar.“ Apotheker, sogar eine Stärke des Gerichts und Ingenieur, Kaufmann, Hausmeister, seiner Autorität zuträglich. Aber die Buchhalter, Bankkassierer – das sind Oswald Kaduk, einer der grausamsten Auschwitz-Angeklagten, arbeitete bis 1963 als kleine Verwirrung, die so entstehen die Berufe, in welche die Täter von Kranken pfleger in Berlin. 34 35

Prozess wird Auschwitz zur Chiffre für „ Die Leute wehren sich doch nicht segeln Papiere auf die Straße herab, teils „Urkunden“, so erinnert sich Fritz Bauer, den gesamten Holocaust. deswegen leidenschaftlich gegen verkohlt, teils in Fetzen. Nur ein paar „wie sie seither überhaupt noch nicht die Prozesse, weil sie … eine Blätter, die auf der Straße landen, sind bekannt gewesen sind. Es waren Formu- noch heil. Acht solcher Papiere hebt ein lare – und das ist kennzeichnend für Aber vor allem geht es in Frankfurt um: Un gerechtigkeit und Unsittlich- die Gegenwart, in der jeder Kranken- Mann auf, der lange unter der SS gelit- den ganzen Charakter des ‚tausendjähri- keit in ihnen sehen, sondern weil pfleger, Hausmeister und Bankkassierer ten hat. Der Mann, Emil Wulkan, gen Reichs‘ –, vorgedruckt. Auf Seite in Deutschland eine Vergangenheit Frau Lieschen Müller und ihre braucht Jahre, bis er Vertrauen zu einem eins stand: ‚Der Wachmann XY hat den hat. „Im Glaskasten des Jerusalemer Familie, weil die Herren von Indu- Journalisten der Frankfurter Rundschau Häftling (Angabe seiner Nummer) Gerichtshofs saß nicht nur Adolf Eich- strie, Justiz usw. wissen, daß mit fasst und ihm seinen vergilbten Fund auf der Flucht erschossen.‘ Seite zwei, mann“, schreibt Fritz Bauer 1962 in den 22 Angeklagten im zeigt. Den vorgedruckten Briefkopf wiederum vorgedruckt: ‚Dieses Akten- einem Essay. Und so ist es nun auch Auschwitz prozeß 22 Millionen auf kann man noch gut lesen. Es ist ein sehr stück wird dem SS- und Polizeigericht mit den 22 Angeklagten im Auschwitz- ordentliches Dokument, es gibt leere nach Breslau zur Einleitung eines der Anklagebank sitzen.“ Prozess. „Die Leute wehren sich doch Felder für das Aktenzeichen und die Verfahrens wegen Totschlags bezie- nicht deswegen leidenschaftlich gegen Telefon-Durchwahl des Sachbearbeiters. hungsweise wegen Mordes übersandt.‘ die Prozesse“, so Bauer in einem priva- Und zum Briefkopf gehört auch die Blatt drei, wiederum vorgedruckt: ten Brief, „weil sie … eine Ungerechtig- ner mit schwarzen Aktentaschen. Das vorgedruckte Datumszeile: „Auschwitz, ‚Das Verfahren wird eingestellt.‘ keit und Unsittlichkeit in ihnen sehen, Quietschen und Singen der Straßen- den …“. Der Rundschau-Journalist, Ich nenne das, weil es in so besonderer sondern weil Frau Lieschen Müller bahn mischt sich seltsam mit der , schickt die Papiere am Weise kennzeichnend ist für die äußere und ihre Familie, weil die Herren von Stimme aus dem 15 Lautsprecher, die 15. Januar 1959 gleich weiter an Fritz Aufrechterhaltung des Rechtsscheines. Indu strie, Justiz usw. wissen, daß mit jetzt von Kindern erzählt, die, weil das Bauer. Der Jurist ist zu Ostern 1956 von Die Einstellung des Verfahrens war von den 22 Angeklagten im Auschwitz- Gas zu knapp wurde, lebend ins Feuer Braunschweig nach Frankfurt gewech- vornherein da.“ prozeß 22 Millionen auf der Anklage- geworfen wurden.“ selt, vom Provinz-Generalstaatsanwalt bank sitzen.“ ist er damit zum Metropolen- General- „Dieses Papier“, so erzählt Bauer, „kam Warum ausgerechnet Frankfurt? staatsanwalt geworden. Und er erkennt zu uns, und auf diese Weise bekamen Wenn während der Verhandlung ein- Warum ist ausgerechnet in dieser Stadt in den Papieren nicht nur brisante wir also hier in Frankfurt die Namen mal die Fenster gekippt sind, wehen das Geschehen im Vernichtungslager Originaldokumente, sondern vor allem einer Fülle von Wachmännern, die Leute von draußen die leisen Geräusche der zum ersten Mal vor Gericht gebracht eine willkommene Chance: einen ‚auf der Flucht erschossen‘ hatten. Frankfurter Tram herein, das Auf- und worden? Zufall, sagt Fritz Bauer und kleinen Anker, mit dem sich das ge- Wir sandten es nach Karlsruhe“ – wo der Zuschlagen der Türen, das Rattern übergeht die wesentlich unschönere samte Thema Auschwitz vor Gericht Bundesgerichtshof angesichts des der Räder, „Menschen, die jetzt um Wahrheit, die viel von Politik handelt, ziehen lässt. ausländischen Tatorts nach Paragraph die Mittagszeit von Praunheim nach damit galant. 13a Strafprozessordnung frei ein zustän- Rieder wald fahren und an alles, nur Es sind Schreiben der Kommandantur diges Gericht bestimmen durfte – und nicht an Auschwitz denken“, wie sich Als die SS bei Kriegsende das SS- und des Konzentrationslagers aus dem Jahr „Karlsruhe sandte es zurück: Die Staats- der Schriftsteller Horst Krüger erinnert. Polizeigericht in Breslau in Brand steckt, 1942. Dokumente, die die Tötung von anwaltschaft in Frankfurt möge nun- „Frauen mit Einkaufsnetzen und Män- schlagen Flammen aus den Fensternund Häftlingen „auf der Flucht“ betreffen. mehr Auschwitz aufklären.“ 36 37

Ein einzigartiger Glücksfall ist das, was die ein zigen sind, denen Auschwitz bei einem halben Jahr haben die Frankfur- der Staatsanwaltschaft landen. Densel- Fritz Bauer in die Hände gefallen ist, Ermittlungen bereits untergekommen ist. ter Ermittler auf diese Weise bereits eine ben Plan entwickelt Bauer nun ganz eigentlich nicht. Ähnliche Funde kann Liste von 599 möglichen Auschwitz- allgemein für den Umgang mit den zu dieser Zeit jeder Staatsanwalt ma- Über Zeitungen, Radiosender und jüdi- Tätern beisammen, das heißt, sie haben Verbrechen der NS-Zeit. Wenn schon chen, der möchte. Die Zahl der direkten sche Organisationen in aller Welt rufen fast jeden zehnten SS-Mann, der in nur wenige Täter jemals vor Gericht Mitwisser rund um das Vernichtungs- die von Bauer mit der Sache be trau ten Auschwitz tätig war, identifiziert. gebracht werden können, dann sollen lager ist noch groß. Mehr als 7.000 SS- Staatsanwälte, Joachim Kügler und die wenigen beispielhaften Prozesse Leute sind nach heutigen Erkenntnissen Georg Friedrich Vogel, Überlebende Schritt für Schritt bauen die Frankfurter wenigstens eine ernstzunehmende in Auschwitz tätig gewesen, und auch dazu auf, sich als Zeugen zu melden. Staatsanwälte einen großen, exemplari- Aufklärung bewirken. „Nachdem 15 ihre Familien wurden nicht etwa auf Mit Geschichten über das Grauen schen Prozess auf, der die historische oder 20 Jahre seit den entsetzlichen Abstand gehalten, sondern vielfach in werden sie daraufhin geradezu über- Wahrheit von Auschwitz insgesamt aus- Geschehnissen verflossen sind, sind der Nähe untergebracht, in jener Ort- häuft, es vergeht in den kommenden leuchten soll – und nicht nur jene einzel- einer umfassenden strafrechtlichen schaft, die erst im Rückblick der Nach- zwei Jahren kein Tag, an dem sie nicht nen Ausschnitte der Wahrheit, die zufäl- Bereinigung Grenzen gesetzt“, schreibt kriegszeit zu einem fernen, dunklen einen weiteren Zeugen vernehmen lig durch Strafanzeigen auf dem Tisch Bauer damals in einem Aufsatz, „nicht Fleck irgendwo im Osten verbrämt können. Bis zum Prozessbeginn werden worden ist, die aber zur Zeit des „Dritten sie 1.500 Zeugen ausfindig gemacht Reichs“ ein durchaus bekannter Ver- haben, von denen sie 356 auch in den kehrsknotenpunkt war, wie der Histori- Zeugenstand rufen werden. ker Norbert Frei betont: „Auschwitz bei Königshütte in Oberschlesien“. Zugleich organisiert Bauer für Kügler Auch die Zahl der noch lebenden ehe- und Vogel eine Reise nach Polen ins mali gen Häftlinge ist in den 1950er- Staatliche Museum Auschwitz, um Jahren beträchtlich. Und nicht alle Dokumente einzusehen – eine heikle Über lebenden wollen nur vergessen, Mission in Zeiten des Kalten Krieges, viele suchen Gehör. Man müsste ihnen die einigen diplomatischen Geschickes nur zuhören. bedarf. Auch mit Schläue gehen sie vor: Um den aktuellen Wohnort von Ver- Bauer verliert keine Zeit. Zuallererst dächtigen zu erfahren, die aus Schlesien weist er die jungen Staatsanwälte an, stammen, schreiben Kügler und Vogel systematisch bei allen Kollegen im ausnehmend freundliche Briefe an Land zu erfragen, welche Erkenntnisse Vertriebenenorganisationen, „und wir über Auschwitz bereits vorliegen. Nur bekamen teils sehr nette Briefe zurück“, wenige Behörden antworten darauf – erinnert sich Kügler, „die dann die aber schon das genügt, um zu zeigen, Adressen der betreffenden Herren in der dass die Frankfurter bei weitem nicht Bundesrepublik enthielten.“ Nach nur Fritz Bauer im Gespräch mit Studenten 1964, auf der Höhe des Auschwitz-Prozesses. 38 39

„ Nachdem 15 oder 20 Jahre seit Sadismus mitspielt? Oder glauben Sie Schreibtisch, vor Zahlenkolonnen; weil standen. Eichmann war sogar sehr weit den entsetzlichen Geschehnissen nicht, dass einfach der brave Bürger, er nicht eigenhändig mordete, mordete entfernt. Aber das Morden funktionierte verflossen sind, sind einer um- der hier eben angesprochen wurde, auf er nicht. Dieser isolierte Blick auf den eben nur deshalb so diabolisch effizient, einen gewissen Posten gestellt wurde Einzelnen verkennt, dass der gesamte weil es arbeitsteilig funktionierte wie in fassenden strafrechtlichen Be- und den Posten erfüllt, ob es in einer riesige Apparat des Holocaust gerade da- einer Fabrik. reinigung Grenzen gesetzt, nicht Maschinenfabrik ist, wo er Ersatzteile rauf ausgerichtet war (und von Eich- aber einer Feststellung und mög- zählt, oder ob es auf einer Bahnrampe mann darauf getrimmt wurde), dass am Dies ist das Szenario, das die Beweis auf- lichst allseitigen Erkenntnis der ist, wo er Menschen zählt, die entweder Ende mit möglichst wenigen Handgrif- nahme im Frankfurter Auschwitz- Wahrheit. Sie sollte unter allen ins Gas gehen oder sonstwohin?“ fen möglichst viele Menschen möglichst Prozess hat plastisch werden lassen: Umständen angestrebt werden.“ Bauer antwortet ausweichend: „Also schnell ermordet werden könnten. Seit Frühjahr 1942 rollen in Auschwitz ich muss Ihnen sagen, Sie können nicht Die Massenvernichtung in Auschwitz die Todeszüge an, organisiert werden generalisieren. Das wäre vollkommen kommt 1963 nicht zum ersten Mal vor sie vom „Judenreferat“ im Reichssicher- falsch …“ Student: „Nein, nicht generali- Gericht. Sie ist auch bereits Thema im heitshauptamt unter der Leitung des aber einer Feststellung und möglichst sieren – aber eine Haupttendenz!“ israelischen Prozess gegen Adolf Eich- SS-Obersturmbannführers Adolf Eich- allseitigen Erkenntnis der Wahrheit. Bauer knurrt. Leider, so sagt er, sei der mann gewesen, der 1961 begonnen hat. mann. Mehr als 600 Züge mit insgesamt Sie sollte unter allen Umständen ange- deutsche Strafprozess nicht darauf Aber der Frankfurter Prozess unter- mehr als einer Million Menschen kom- strebt werden. Schon sie könnte die ausgelegt, die tieferen Ursachen eines scheidet sich davon nun in einem ent- men auf diese Weise dort an. Fernschrei- heimische Flut bequemen Vergessens Verbrechens zu erforschen. Deshalb scheidenden Punkt. ben und Funksprüche des Reichssicher- eindämmen, zu einer Klärung dessen müsse man auf die Psychologen im heitshauptamtes kündigen dem Lager - führen, was rechtlich gut und böse war, Strafvollzug warten, die ihre Arbeit erst In Frankfurt kommt nicht ein einzelner kommandanten von Auschwitz jeweils und – frei von jeder Splitterrichterei – lange nach dem Ende des Prozesses Täter vor Gericht, die Verhandlung läuft die Ankunft eines Transports an, die die vergangene und zukünftige Ver- aufnehmen könnten. Die Frage nach nicht auf eine bestimmte Person zu. Kommandantur verständigt daraufhin antwortung aller Bürger für das poli- Sadismus müsse bis dahin offenbleiben. Sondern auf ein soziales Phänomen. ihre Abteilungsleiter – die Schutzhaft- tische und menschliche Geschehen Der Student insistiert: „Aber dann neh- Das ist es, worauf Fritz Bauer und sein lagerführung, die Politische Abteilung, in ihrem Staat ins öffentliche Bewusst- men Sie Eichmann, der keinen ein- Team von Anklägern Wert legen: Es geht die Dienststelle SS-Standortarzt, die sein rücken.“ zigen umgebracht hat. Was ist denn da? um die Arbeitsteilung, die nötig war, Fahrbereitschaft, den Wachsturmbann, Das ist doch sicher kein Sadismus.“ um so reibungslos zu morden – das, was die Abteilung Arbeitseinsatz –, die ver- Ein Student fragt ihn im Dezember 1964, Historiker später als das zentrale Struk- ängstigten Menschen auf der Bahnram- auf dem Höhepunkt der Beweis aufnah- Eichmann, der keinen einzigen umge- turmerkmal des Holocaust bezeichnen pe in Empfang zu nehmen; dabei gilt me im Auschwitz-Prozess, in einer bracht hat. Es ist ein Halbsatz, in dem werden. Die Massenvernichtung hat für jede Abteilung ein genauer Dienst- Diskussionsrunde im Fernsehen: „Glau- alles konzentriert ist, wogegen Bauer darauf beruht, dass viele Räder ineinan- plan. Die zum „Rampendienst“ einge- ben Sie, dass gerade die Verbr echen im und seine Staatsanwälte in Frankfurt dergriffen: Das ist die zentrale Botschaft teilten SS-Männer öffnen die Türen der Dritten Reich, die doch sehr buchhal- ankämpfen. Es ist eine Sichtweise, mit der Frankfurter Ankläger. In dieser Waggons, sie treiben die eingepferchten terisch waren, wo alles sauber aufge- der es sich die Bundesrepublik gerade Maschinerie haben zwar nur wenige Menschen aus den Wagen, nehmen von stellt wurde – dass da noch ein gewisser bequem gemacht hat: Eichmann, am selbst an der Tür der Gaskammer ge- den Lokführern die Transportpapiere 40 41

entgegen, teilen die Ankömmlinge in „arbeitsfähig“ selektierten Männer und Mordes anklagen. Das soll ein Statement Betrieb einer Tötungsfabrik beschäf- Männer, Frauen und Kinder, später in Frauen – nie mehr als 25 Prozent eines sein, ein Anschauungsbeispiel für Bauers tigt – und wenn man nun, rückblickend, „Arbeitsunfähige“ und „Arbeitsfähige“ Transports – ins Lager ein, befehlen zentrale juristische These. jedem Zahnrädchen den Gefallen tue, ein, formieren die Menschen in Fünfer- ihnen, sich zu duschen, lassen sie sche- es nur isoliert zu betrachten und seine reihen, zählen sie ab, quittieren dem ren, einkleiden und tätowieren und Das Ausgeben von Häftlingskleidung ist Funktion im größeren Apparat auszu- Lokführer die „Transportstärke“, be- schinden sie in der Folge als Arbeits- für sich betrachtet natürlich kein Ver- blenden, dann verkenne man, was in ordern das „Aufräumungskommando“ sklaven, bis sie nach durchschnittlich brechen. Aber genau diese isolierte Be- Auschwitz eigentlich getan wurde. zum Raub der Habseligkeiten der drei Monaten ebenfalls tot sind. trachtung, so Fritz Bauers These, ist angekommenen Juden auf die Rampe, bei einem derart hochorganisiert began- Natürlich bringt der Frankfurter Prozess transportieren die Todgeweihten auf Fritz Bauer hat seine Staatsanwälte ange- genen Verbrechen eben falsch. Denn es einzelne Fälle größten Sadismus’ ans Lastwagen zu den Gaskammern oder wiesen, einen „Querschnitt durchs war ja keineswegs so, dass es im Ver- Licht, individuelle Willkürakte, die führen sie in Kolonnen dorthin, geben Lager“ auf die Anklagebank zu bringen, nichtungslager solche SS-Leute gegeben eigentlich nicht zum Planmäßigen von Anweisungen, sich „zum Duschen“ zu eine exemplarische Auswahl, die dieses hätte, deren Aufgabe die Vernichtung Auschwitz dazugehören. Über Wilhelm entkleiden, schieben die Nackten in gesamte System repräsentieren soll, war, und solche, deren Aufgabe es Boger etwa ist zu erfahren, wie er nach die Vergasungsräume, verriegeln die „vom Kommandanten bis zum Häft- war, das Morden durch die Ausgabe von der Ankunft eines Kindertransportes luftdichten Türen, bringen mit einem lingskapo“. Dieser Querschnitt umfasst schützender Kleidung zu bremsen. Na- einen kleinen Jungen mit einem Apfel Sanitätswagen zu den Todes- dann niedrige Dienstgrade und hohe, türlich arbeiteten die einzelnen SS-Leute entdeckte. Boger ging zu dem Kind hin, fabriken, werfen das Gas in Kügelchen- Männer, die ihrer tumben Willkür in nicht gegeneinander, sondern sie arbei- packte es bei den Füßen und schmetter- form ein, beobachten den Vergasungs- Auschwitz freien Lauf ließen wie der teten mit verteilten Rollen an einem te es mit dem Kopf gegen die Baracke. vorgang und den Todeskampf der Rapportführer Oswald Kaduk, der einzigen gemeinsamen Ziel, und alle un- Dann hob er ruhig den Apfel auf, den Opfer durch ein Guckloch, stellen den spätere Berliner Krankenpfleger, der terschiedlichen Aufgaben, die in diesem er später aß. Über Oswald Kaduk ist zu Tod der Menschen fest, befehlen das betrunken durchs Lager lief und Häft- großen arbeitsteiligen Apparat auf ver- hören, wie er sich einen Spaß daraus Öffnen der Gaskammern, ordnen die linge totschlug, und Männer, die mit schiedene SS-Leute auf verschiedenen machte, Häftlingen die Mütze vom Verbrennung der Leichen in den Kre- heißem Ehrgeiz an ihre Aufgabe gingen Posten verteilt wurden, dienten auch Kopf zu reißen und sie in Richtung des matorien an, kontrollieren das Ausrei- wie der Sanitätsdienstgrad Josef Klehr, nur diesem Ziel: Stacheldrahtes zu werfen, über eine ßen von Goldzähnen, das Abscheren von der im Krankenbau stets noch ein paar Linie hinaus, die Häftlinge nicht über- Frauen haaren, überwachen den Raub Menschen mehr tötete als verlangt, um Der SS-Scherge an der Tür der Gaskam- treten durften. Eilte ein Häftling, die von Wertgegenständen, vermelden per die Totenbilanz des Tages „aufzurun- mer diente diesem Ziel ebenso wie der Mütze zurückzuholen, wurde er wie Fernschreiben an die im Reichs sicher- den“, zum Beispiel von 28 auf 30, oder SS-Mann, der die zur Vernichtung durch von Kaduk erwartet vom Wachposten heitshauptamt sitzenden Buchhalter von 37 auf 40. Arbeit bestimmten Arbeitssklaven kahl erschossen. Aber die Fokussierung auf des Massenmordes die Gesamtzahl der schor oder in gestreifte Einheitsklei- die Bestialität Einzelner mit Schlag- Deportierten, aufgeteilt nach Männern Bauer lässt sogar den SS-Mann, der in dung steckte und dadurch letzte Hem- zeilen wie „Frauen lebend ins Feuer und Frauen, nennen die Zahl der ins Auschwitz dafür verantwortlich war, mungen bei den Tätern ausschaltete. getrieben“ und „Der Gnadenschuss Lager eingewiesenen Häftlinge sowie die gestreifte Häftlingskleidung aus- Alle diese SS-Leute, so argumentiert in der Frühstückspause“ lenke bloß ab, die Zahl der Ermordeten, weisen die als zugeben, wegen gemeinschaftlichen Fritz Bauer, waren arbeitsteilig mit dem argumentiert 1965 Martin Walser, ganz 42 43

im Sinne Fritz Bauers. „Mit diesen Ge- den Kopf. „Was soll das?“, herrscht einer in keiner Weise fördert, bestraft werden daran hatte, das Lager von einem Kon- schehnissen, das wissen wir gewiss, von ihnen am Rande des Prozesses den müßte.“ Erst sehr viel später, im Münch- zentrations- in ein Vernichtungslager mit diesen Scheusslichkeiten haben wir jungen Staatsanwalt Gerhard Wiese an. ner Urteil gegen den ukrainischen Ver- umzuwandeln, nur wegen Beihilfe zum nichts zu tun. Diese Gemeinheiten nichtungslager-Wachmann John Dem- Mord verurteilt wird. sind nicht teilbar. In diesem Prozess ist janjuk im Jahr 2011, geben deutsche nicht von uns die Rede.“ Walser kriti- Richter erstmals Fritz Bauer recht. siert: „Mit solchen Wörtern halten wir „ Das Problem Auschwitz, da sind uns Auschwitz vom Leib Man muss sich Die Strafen fallen in Frankfurt 1965 wir uns doch wahrscheinlich die Todesfabrik vorstellen ohne die auch deshalb milde aus, weil sich das Requisiten und Eigenschaften, die jetzt einig, beginnt nicht erst an Schwurgericht auf eine gewagte juris- den Angeschuldigten vorgeworfen den Toren von Auschwitz und tische Konstruktion zugunsten der werden Auschwitz ohne diese ‚Farben’ Birkenau. Die Leute mussten Angeklagten stützt. Vielfach definieren ist das wirk lichere Auschwitz.“ Es ist hingebracht werden, das sind die Richter den Mord in Auschwitz zur das Fabrik mäßige, unerbittlich Durch- also viele, viele Täter.“ bloßen Beihilfe herunter. Sie erklären geplante von Auschwitz-Birkenau, den Holocaust zu einer Tat der Befehls- das – auch schon ohne die sadistischen geber Hitler, Heydrich und Himmler; Exzesse einzelner Wachleute – einen wer ihnen dabei diente, widerstrebend Jungen mit Blut auf die Barackenwand oder auch nicht, dem sei die Tat oft schreibt lässt: „Andreas Rappaport – Eine solche Konstruktion von auto - innerlich fremd geblieben. Oft hätten lebte sechzehn Jahre“ und einen Neun- ma tischer Schuld werde der Bundes- Deutsche eigenhändig gemordet, jährigen sagen lässt, er wisse, dass er gerichtshof mit Sicherheit verwerfen. aber seien in ihrer eigenen Wahrneh- „eine Menge“ weiß, doch „nichts mehr „Man setzt das Urteil aufs Spiel.“ Den mung doch nur Gehilfen bei einer ihnen lernen wird“. SS-Mann, der die Kleiderkammer fremden Tat geblieben. betrieb, sprechen die Richter frei. Für „Das Problem Auschwitz, da sind wir sich betrachtet, stellt das Ausgeben von Es ist eine Rechtsprechung, die bereits uns doch wahrscheinlich einig“, sagt Häftlingskleidung kein Verbrechen dar: im Ulmer Einsatzgruppenprozess von Fritz Bauer 1964 in der Fernsehdiskus- Dabei bleibt es aus Sicht der Richter. 1958 festgeklopft worden ist und die sion mit dem Studenten, „beginnt großzügige Strafrabatte für NS-Gewalt- nicht erst an den Toren von Auschwitz Nicht alle, die am Betrieb der Mord fa- täter ermöglicht – je nachdem, wie und Birkenau. Die Leute mussten hin- brik mitwirkten, trügen für deren stark ein Täter vor Gericht beteuert, dass gebracht werden, das sind also viele, Ergebnis, den Massenmord, Mitverant- er sich mit seinen Taten innerlich nicht viele Täter.“ wortung, sagen sie. Fritz Bauers Argu- identifiziert habe. Diese Rechtsprechung men tation, so kritisiert später der führt dazu, dass am Ende des ws selbst Die Frankfurter Richter schütteln über Bundesgerichtshof, „würde bedeuten, der stellvertretende Lagerkommandant Bauers juristische Argumentation, nur daß auch ein Handeln, das die Haupttat Robert Mulka, der maßgeblichen Anteil 44 45

4. Ein jüdisches Leben in der jungen Rolle. In offiziellen Formularen gibt Fritz Bauer sich in dieser Zeit als „glau- Bundesrepublik benslos“ aus, zur jüdischen Gemeinde an seinem Wohnort in Frankfurt am Main hält er Abstand. Auf die Frage eines jungen Freundes, „Sind Sie eigent- lich Jude?“, antwortet Bauer Mitte der 1960er-Jahre einmal kühl: „Im Sinne der Nürnberger Gesetze: Ja.“ Ob er über- haupt jemals ein Verhältnis zum Juden- tum gehabt hat, das über das hinaus- geht, was ihm der Antisemitismus aufgezwungen hat, fragt sich der junge Freund danach. Schließlich gibt es auch andere Beispiele für Deutsche, die sagen, erst Hitler habe sie zu Juden gemacht. Die Familie Bauer um 1910. Dass Fritz Bauer aus einer jüdischen Umstand, dass Bauer eine Westen- Es liegt nahe zu überlegen, ob man Familie stammt, ist ein Thema in diesen taschen pisto le besitzt, hat ihr Komplott Fritz Bauer aus Respekt vor seiner Jahren. Sein Name steht in den Anfangs- verkompliziert. Doch die Frage, ob Fritz Bauer auch von Selbstbeschreibung überhaupt als jahren der Bundesrepublik stellver- persönlichen Motiven angetrieben jüdisch bezeichnen sollte. Und es spricht tretend für eine Abrechnung mit der Seine vielen Kritiker nutzen es für bos- wird – ob also das, was ihn von so vielen zunächst manches dafür, sich damit NS-Vergangenheit in einer Schärfe, hafte Unterstellungen. Rachsüchtig anderen deutschen Staatsanwälten sehr zurückzuhalten. „Im Sinne der die vielen Deutschen zu weit geht. In den nennen sie ihn. „Wenn man Sie, Herr unterscheidet, die lieber verdrängen und Nürn berger Gesetze: Ja“: Deutlicher 1950er- und 1960er-Jahren ist er der Dr. B., einmal im Fernsehen angesehen verschweigen wollen, vielleicht auch ein könnte Bauer kaum auf Distanz gehen, bekannteste und, den Drohbriefen und hat, dann spürt man, daß Sie durch persönliches Vergeltungsbedürfnis ist –, deut licher könnte er kaum unterstrei- einem von der Polizei aufgedeckten und durch mit grenzenlosem Haß erfüllt stellen sich nicht nur einzelne Verrückte chen, dass es sich um eine Fremdzu- Mordkomplott nach zu urteilen, auch sind“, schreibt der Verfasser eines typi- in dieser Zeit. Das macht dieses Thema schreibung handele. Hinter dieser Kühle meistgehasste Staatsanwalt des Landes. schen Schmähbriefs. Ein anderer: „Haben für Bauer tatsächlich heikel. verbirgt sich allerdings mehr. Der Grund 1966 haben zwei Rechtsextreme geplant, Sie in Ihrer blinden Wut denn noch nicht für Fritz Bauers Schweigen über seine ihn, „den Hauptverantwort lichen für die verstanden, dass einem sehr grossen Teil Wer Fritz Bauer in den 1950er- und jüdische Identität nach 1945 liegt nicht Kriegsverbrecher-Pro zesse“, wie sie des deutschen Volkes die sogenannten 1960er-Jahren in der Bundesrepublik darin, dass er nichts zu erzählen hätte. schreiben, gemeinsam mit Nazi-Verbrecher-Prozesse lang aus dem sprechen hört, der kann den Eindruck Eher sagt dieses Schweigen – und das und dem Schriftsteller Günter Grass Hals hängen! Gehen Sie doch dorthin, gewinnen, als spiele eine jüdische Iden- macht diesen Aspekt auch politisch umzubringen. Unter anderem der wohin Sie gehören!!!“ tität für ihn eigentlich überhaupt keine relevant – einiges aus über das Klima 46 47

jedenfalls nicht daran, dass es nichts zu werkervereinen oder Jugendgruppen erzählen gäbe. Als Jurastudent schloss hinschickten. Fritz Bauer sich einer jüdischen Studen- tenverbindung an, und als er in den „Der Redner betonte den sozialen Ge- 1920er-Jahren politisch aktiv wurde als danken der Thora“, notiert die Histori- Sozialdemokrat und als Redner, der kerin Maria Zelzer über einen Auftritt für die damals noch sehr fragile Idee der Fritz Bauers dort. „Dr. Bauer machte Demokratie warb, da hatte er nie etwas zwar nicht die Propheten zum Wort- dagegen einzuwenden, dass seine führer des Proletariats, doch bezeich- Genossen ihn – „bei den Juden sehr nete er als Quelle und Hort des sozialen bekannt“, wie ein Weggefährte damals Gedankens die jüdischen Propheten. lobte – speziell zu den jüdischen Hand- Im wahren Judentum sei die Brücke Fritz Bauer mit seiner Schwester Margot. im Deutschland der Nachkriegszeit. freiwillig zum Militär gemeldet. Im Ein Blick auf Fritz Bauers junge Jahre Ersten Weltkrieg tat er dies erneut. zeigt das. Die Familie war nicht tief religiös, aber In Bauers Elternhaus in feierte in der Gemeinde überaus engagiert. man die jüdischen Feste, im Frühling zu Ging man in die Synagoge, dann saß Pessach gedachte man des Auszugs der man nicht am Rande, sondern im Hebräer aus Ägypten, im Winter zu Zentrum der Aufmerksamkeit. Väter- Chanukka zündete man acht Tage lang licherseits war Fritz Bauer verwandt Kerzen an, jeden Abend eine mehr. mit dem damaligen Präsidenten des Fritz Max Bauer, der am 16. Juli 1903 in Oberrats der Israelitischen Religionsge- Stuttgart geboren wurde, ist in einer meinschaft Württembergs, mütterli- assimilierten jüdischen Familie aufge- cherseits mit den Männern, die als wachsen, wie es viele gab vor 1933. Man Synagogenvorsteher in Tübingen die war deutschnational, und man bestand jüdische Gemeinde zusammenhielten: darauf, dass deutsch und jüdisch genau- Erst war es sein Urgroßvater, dann sowenig einen Gegensatz darstellen wie sein Groß vater, dann später sein Onkel. deutsch und protestantisch. Fritz Bauers Vater hatte sich schon als 22-Jähriger im „Im Sinne der Nürnberger Gesetze: Ja“? Jahr 1894, zu einer Zeit also, als Juden Wenn Fritz Bauer nach dem Krieg nicht Fritz Bauer (ganz rechts) in der jüdischen Studentenverbindung F. W. V. während seiner noch nicht Offiziere werden konnten, mehr sagen möchte als das, dann liegt es Studienzeit in Heidelberg. 48 49

zum Sozialismus.“ Das mag man theo- jüngst im dänischen Flüchtlingslager wegungen selektierenden SS-Männern, Brumlik: „Wir legten am lodernden Feuer logisch anzweifeln. In jedem Fall aber gefragt habe: „Du, Fritz, bist du eigent- seine Eltern und seine ersten beiden nächtens heilige Schwüre ab, nach dem drücken diese Worte eine Nähe und lich Deutscher, Jude oder staatenlos?“ Töchter, neun und sechs Jahre alt, in den Abitur Deutschland zu verlassen und Zuneigung Bauers zu jüdischer Kultur „Ja, Günther, du wirst lachen, ich Gastod gehen sah. Zu Hause in Frank- nach Israel zu emigrieren.“ Zu Fritz und Identität aus – und keineswegs bin zugleich Deutscher und Jude und furt aber, bei der Tochter Cilly, haben Bauer, dem jüdischen Juristen, der den eine kühle Distanz. staatenlos.“ stets die Worte versagt. NS-Tätern entgegentritt, schauen die Jugendlichen auf. Gemeinsam produzie- Fritz Bauer ist zu dieser Zeit bereits „Unsere Eltern haben uns nichts er- ren sie eine Art Schülerzeitung, Me’orot, „ Ja, Günther, du wirst lachen, 42 Jahre alt, kein Suchender mehr, zählt“, erinnert sich Cilly Kugelmann. was „Sterne“ bedeutet. Und als die sondern eine gefestigte Persönlichkeit, „Wir kannten die Fakten nicht, aber beiden Teenager Cilly und Micha erfah- ich bin zugleich Deutscher und Richter, Exilpolitiker, Autor mehrerer wir spürten ein tiefes Unbehagen, den ren, dass Fritz Bauer bereit ist, Me’orot Jude und staatenlos.“ Bücher. Erst nach 1945, als er alleine, Schatten einer schrecklichen Geschich- ein Interview zu gewähren, „versanken ohne seine Eltern und seine Schwester, te. Es fällt mir schwer, unsere Gefühle wir in Ehrfurcht“. nach Deutschland zurückkehrt ist, zu beschreiben. Ich würde sagen, die Als Fritz Bauer 1933 von den National- bemüht sich Bauer auffällig stark Atmosphäre war bedrückt, tragisch. Der Generalstaatsanwalt wirkt zuge- sozialisten aus seinem Amt als Richter darum, seine jüdische Identität in der Zu Hause wurde nicht viel gelacht, als wandt, als die beiden Jung-Zionisten gedrängt, für einige Monate in eines der Öffentlichkeit nicht zum Thema zu hätten Vergnügen und Leichtigkeit vor seinem Schreibtisch Platz nehmen. frühen Konzentrationslager bei Stutt- machen oder gar herunterzuspielen. bei uns keinen Zutritt. Für mich waren Er hört ihnen geduldig zu, so, wie sie es gart gesperrt und dann 1935 ins skandi- Recht abrupt. das Symbol dieser Jahre die Medika- von Erwachsenen nicht gewohnt sind. navische Exil getrieben wird, da arbeitet mente, die meine Eltern schluckten, um Er beantwortet ihnen, so erinnert sich er, um sich über Wasser zu halten, als Wie sehr er an dieser Haltung bei allen ihre Leiden zu behandeln, die physi- Cilly Kugelmann, „noch die dümmste Journalist. Nicht für irgendeine Zeitung, öffentlichen Auftritten festhält, das schen und die psychischen.“ Frage“ nach den NS-Prozessen. Und sondern für die Allgemeine Zeitung des erleben im August 1964 auch zwei dennoch bleibt es am Ende eine seltsam Judentums. Weiterhin ist er also nichts Jugendliche, die wie Fritz Bauer selbst Cilly Kugelmann hat sich damals bereits sprachlose Begegnung. zu merken von einem Wunsch nach jüdisch sind. In Frankfurt lebt ein mit anderen jüdischen Jugendlichen Distanz zur jüdischen Gemeinschaft. 17-jähriges jüdisches Mädchen, das erst zusammengetan, die ihr Umfeld in Andere, nichtjüdische junge Leute, die Und auch vor seinen nichtjüdischen, aus der Zeitung erfährt, dass sein eige- Deutschland als ebenso bedrückend, Bauer in dieser Zeit kennenlernen, sozialdemokratischen Genossen, mit ner Vater, Hersz Kugelmann , gerade im ihre Schule als finster, ihre Familien als schwärmen noch Jahrzehnte später denen Bauer im Exil Pläne für die Zeit Auschwitz-Prozess als Zeuge ausgesagt beschädigt erleben. In der 1958 gegrün- von seiner Warmherzigkeit und Debat- nach dem Sieg über das Hitler-Regime hat. Mit fester Stimme und mit dem deten Zionistischen Jugend Deutsch- tier freude. Bauer reist in den 1960er-Jah- schmiedet, macht er seine jüdische weichen Akzent des südpolnischen lands rümpft man die Nase über Alko- ren von Podium zu Podium, immer ge- Identität sogar ungefragt zum Thema. Będzin, in dem er aufgewachsen ist, hol, Zigaretten, Rock’n’Roll, den ganzen stikulierend, herausfordernd, immer Im August 1945 beschreibt er in der hat er dort beschrieben, wie er auf der Eskapismus der Wiederaufbauzeit, wie will er die politischen Vorstellungen und Sozialistischen Tribüne in lockerem Ton, Rampe in Auschwitz-Birkenau, vor sich eines der anderen damaligen Träume der jungen Leute erfahren, immer wie ein 15-jähriger Hitlerjunge ihn brüllenden und mit kleinen Handbe- Frankfurter Mitglieder erinnert, Micha stachelt er sie zum Widerspruch an. 50 51

Nichts Väterliches, nichts Warmes habe Rückkehrern tagsüber professionell und Komitee davor, eine Pressekonferenz Wo die Überlebenden-Organisation an- der Jurist ausgestrahlt, erinnert sich abends gar nicht. Das Schmähbild einer über die Zusammenarbeit mit Fritz fangs einen natürlichen Verbündeten hingegen Cilly Kugelmann. Auf die „jüdischen Clique“, die in der Frankfur- Bauer abzuhalten: „Sie liefern nur der in Fritz Bauer gesehen hat, da behandelt Themen Judentum oder Israel, welche ter Justiz eine Hexenjagd betreibe, ist in Verteidigung Argumente für die Annah- sie ihn jetzt als jemanden, der ihre die Macher der Zeitschrift Me’orot so den Schmäh- und Drohbriefen, die Fritz me, dass hinter dem ganzen Prozess Hoffnungen verraten hat. Seine jüdische offensichtlich umtreiben, kommt Bauer Bauer erhält, schon lebendig genug. eine östlich ge lenkte Propaganda steht.“ Herkunft macht die Sache besonders mit keiner Silbe zu sprechen, nicht schlimm. Eine tragische Verstrickung einmal beim Small Talk am Rande. Während des Auschwitz-Prozesses Fritz Bauer versagt sich jede sichtbare für Bauer: Das Verhalten, das Langbein Obwohl er zu dieser Zeit schon mehrere kommen mehr als 200 jüdische KZ- Nähe zu den Opfern, die ihm doch für eine Härte Bauers gegen seine Dienstreisen nach Israel hinter sich hat, Überlebende nach Frankfurt, um als vor allem große Sympathien entgegen- jüdischen Schicksalsgenossen hält, ist in obwohl er mit der Idee des Zionismus Zeugen auszusagen. Einige haben bringen wollen, weil er gegenüber der Wirklichkeit nur Härte gegen sich selbst. schon seit Jugendtagen ringt – als gehört, dass Fritz Bauer selbst KZ-Häft- Öffentlichkeit die Glaubwürdigkeit Student in Heidelberg war er an hefti- ling und Emigrant war und haben ihm der Anklage als politisch objektiv und Die Menschen, die zu Tausenden nach gen Debatten darüber beteiligt, später, bereits 1959, zu Beginn der Ermittlun- unvoreingenommen schützen muss. Frankfurt kommen, um sich den bei Ausbruch des Sechstagekrieges 1967, gen gegen die Auschwitz-Täter herzliche Dafür zahlt er einen hohen Preis. Auschwitz-Prozess anzusehen, bekom- ist er einer der ersten, die vertraulich bei Briefe geschrieben. In seinem Frankfur- Manchen der Überlebenden erscheint men Fritz Bauer in der Regel nicht der Jüdischen Gemeinde Frankfurts ter Büro bewahrt Bauer einen Stein aus er als kalt, arrogant, gar überheblich. zu Gesicht. Manche, die von ihm gelesen anfragen, wohin sie Geld für Israel Auschwitz auf, den sie ihm geschenkt Als Langbein 1965 ein Buch über den haben und nun erwarten, den tempe- spenden könnten – obwohl Fritz Bauer haben. Aber zu den Zeugen persönlich soeben abgeschlossenen Auschwitz- ramentvollen Generalstaatsanwalt mit also eine Menge zu erzählen hätte, wenn hält er Distanz. Prozess veröffentlicht, lobt er darin die dem markanten weißen Schopf ein- er denn wollte, bleibt er stumm. Kein Richterbank, die Nebenkläger und mal live zu erleben, sind geradezu Wort zu dem gesamten Thema. Mit dem Präsidenten des Internatio- sogar die Verteidiger. Für die Arbeit der verblüfft, dass sie ihn zwischen den nalen Auschwitz-Komitees Hermann Staatsanwälte aber hat er nur beißen - zahlreichen Herren in Roben da vorne Was ihn, den ehemaligen KZ-Häftling Langbein trifft sich Fritz Bauer zwar de Kritik übrig. Und für Fritz Bauer, nicht entdecken können. Er verzichtet und Remigranten, von der breiten ein paar Mal in Frankfurt, um eine den Initiator des ganzen Prozesses, dem darauf, symbolisch den Eröffnungs- Mehrheit der Deutschen, die er politisch Zusammenarbeit bei der Sammlung Langbein doch anfangs noch hoffnungs- vortrag oder das Schlussplädoyer zu überzeugen will, trennt, das spielt Bauer von Beweisen auszuloten. Aber dabei frohe Briefe über „unser“ Auschwitz- halten oder überhaupt ins Rampenlicht schon seit seiner Rückkehr herunter, hat er vor allem eine Bitte: Auf keinen Verfahren geschrieben hatte, hebt er zu treten – wobei er in Sachen Rampen- ganz besonders bei öffentlichen Auf- Fall soll Langbein öffentlich von dieser sich jetzt die schärfste Form der publi - licht, Inszenierung und öffentlicher tritten und in Interviews. Mit seinem Zusammenarbeit erzählen. Es ist eine zistischen Bestrafung auf – ein Umgang, Wahrnehmung dieses Prozesses wenig Jüdischsein möchte er möglichst wenig Vorsicht, die dem Frankfurter Opferan- der Wut und Enttäuschung verrät. ohne Überlegung tut. identifiziert werden. Jüdische Freunde walt Henry Ormond, der die Nebenklä- Bauers Name taucht in dem zwei bän- hat er nicht. Im Alltag der Justiz begeg- ger im Auschwitz-Prozess vertritt, sofort digen Werk nicht auf. net er den wenigen übrigen jüdischen einleuchtet. Auch Ormond warnt das 52 53

Aus dem Zuschauerraum blickt man auf Es ist ein passendes Bild; Fritz Bauer Inzwischen ist Bauers jüdische Herkunft lichkeit nicht ohne weiteres ein objek- das juristische Geschehen wie auf eine bemüht sich, es ungestört seine Wir- in der Öffentlichkeit ein Thema – auch tives Urteil zutrauen – was genügt, Bühne, erhöht und höchst symbolisch kung entfalten zu lassen. Für seinen wenn es ihm nicht lieb ist, weil Gegner um ihn wegen der „Besorgnis des arrangiert: Der Vorsitzende Richter im eigenen Rückzug gibt Bauer einmal sein juristisches Engagement damit Anscheins“ der Befangenheit vor- Auschwitz-Prozess trägt ein schwarzes eine lapidare, aber wenig glaubhafte als bloßen persönlichen Rachefeldzug sorglich auszuschließen. Barett mit feinem silbernem Streifen Begründung: Es gehöre „zu einer Art diskreditieren. an der Krempe, Landgerichtsdirektor von ungeschriebenem Gewohnheits - Als der Auschwitz-Prozess beginnt, 1963, Hans Hofmeyer agiert im Gerichtssaal recht“, so schreibt er einem Freund, dass Der Zufall hat es gewollt, dass nach dem da halten nur noch wenige in Deutsch- sensibel und souverän, wie allseits Generalstaatsanwälte „sich überhaupt Geschäftsverteilungsplan des Frankfur- land Bauer für neutral und unvoreinge- anerkennend hervorgehoben wird. nicht in Prozesse mischen (und auch ter Landgerichts ein jüdischer Richter, nommen. Fritz Bauer, das ist vor allem Seine Selbstbeherrschung ist nahezu selber keine führen).“ Im Braunschwei- Hans Forester, für den Vorsitz des ein Emigrant. Wenn er im Prozess nun unerschütter lich, nur während der ger Remer-Prozess im Jahr 1952, als es Auschwitz-Prozesses zuständig gewesen den Angeklagten gegenübersäße – der Urteilsverkündung bricht ihm einmal um die Rehabilitierung der Männer des wäre. Aber Forester hat sich selbst für weißhaarige ehemalige KZ-Häftling mit die Stimme und manche Beobachter 20. Juli ging, hat er das noch ganz anders befangen erklärt, um diesem Problem dem tief zerfurchten Gesicht auf der meinen, Tränen in seinen Augen erken- gesehen, hat den Prozess selbst geführt aus dem Weg zu gehen: Ein Urteil einen Seite, die 22 deutschen Jeder- nen zu können. Links von Hofmeyer und sich der Republik sogar ungefragt „im Namen des Volkes“ würden ihm männer aus der Mitte der Gesellschaft verteilen sich die 19 Strafverteidiger mit ein paar autobiographischen Sätzen große Teile der Öffentlichkeit zu Beginn auf der anderen Seite –, mit wem könnte auf sechs Bänke, viele von ihnen sind im Plädoyer vorgestellt. Damals hat der 1960er-Jahre schlicht nicht abneh- sich die Masse der Deutschen wohl eher bereits ergraut, teils können sie schon Bauer bei dem Versuch, das Publikum men. Man würde ihm persönliche identifizieren? auf eine lange Karriere zurückblicken. zu umwerben, besonders viel von Rache gefühle unterstellen, die seine Und ganz rechts sitzt der Vertreter der „Vaterland“ und „unserem guten alten Urteils fähigkeit eintrüben; zumindest Neben klage, der Frankfurter Anwalt deutschen Recht“ gesprochen und unausgesprochen. „ Der Prozess soll der Welt zeigen, Henry Ormond, ein Bild der Entschlos- davon, dass er sich Claus Schenk Graf dass ein neues Deutschland, eine senheit, weißhaarig. von Stauffenberg schon seit der ge- Ein noch größerer Zufall hat es gewollt, deutsche Demokratie gewillt ist, meinsamen Schulzeit verbunden fühle. dass nach demselben Geschäftsvertei- Umso mehr muss es auffallen, wie jung Das war das Bild, das er von seiner lungsplan als beisitzender Richter die Würde eines jeden Menschen die drei Staatsanwälte sind, die Fritz Anklage vermitteln wollte, einer An- Johann Heinrich Niemöller an der Reihe zu wahren.“ Bauer dazwischen ins Rennen schickt: klage, mit der sich das unentschlossene gewesen wäre, Sohn von Pastor Martin Der stille Georg Friedrich Vogel, der Publikum möglichst identifizieren Niemöller, der von 1938 bis 1945 in charismatische Joachim Kügler, der sollte: Hier spricht ein neues Deutsch- Konzentrationslagern inhaftiert war. Bauer entscheidet, dass seine Anklage bescheidene Gerhard Wiese – es sind land. Seine Lebensgeschichte als Obwohl sich dieser Richter nicht für sich nach außen hin anders präsentie- Mittdreißiger. Die meisten Angeklagten Emi grant und Jude hat er damals aus befangen hält, entscheidet das Gerichts- ren soll: dass sie, um politisch in die könnten ihre Väter sein. der Öffentlichkeit heraushalten wollen. präsidium, auch ihn von dem Prozess zu Gesellschaft hinein zu wirken, nicht Aber es hat nicht lange funktioniert. entbinden. Auch ihm würde die Öffent- sein Gesicht haben soll. Die drei jungen 54 55

Staatsanwälte, die er vorschickt, haben Journalisten erklärt: Dafür stehen die hat, gehören zu den Höhepunkten ihnen Taktik und Strategie vorgibt, die als Heranwachsende noch selbst in der drei jungen Männer bildhaft. Es leuchtet des Prozesses. Besetzung der Anklagebank, den dra- Wehrmacht dienen müssen. Wie die dem Publikum sofort ein, dass sie an der matischen Auftakt mit gleich acht meisten Deutschen sind sie und ihre Zukunft des Landes interessiert sind – So sehr identifiziert sich Joachim Kügler histo rischen Gutachtern, die genaue Familien nie vom Rassenwahn der und nicht an offenen Rechnungen aus mit seiner Aufgabe, dass er in späteren Form des juristischen Vorwurfs, und Nationalsozialisten bedroht gewesen. der Vergangenheit. Jahren sogar widerspricht, wenn Fritz dass er diesen Großprozess von gerade- Man wird sie in der Öffentlichkeit kaum Bauer als eigentlicher Kopf der Anklage zu Nürnberger Ausmaßen gegen große als Rächer diffamieren können. „Der Unter den Dreien wächst der blonde, bezeichnet wird. „Die Ermittlungen Widerstände in der Justiz politisch Prozess soll der Welt zeigen, dass ein elegante Joachim Kügler am meisten gegen die Auschwitz-Mörder wurden durchsetzt, was die drei handverlesenen neues Deutschland, eine deutsche in diese Rolle hinein. Die rhetorischen nicht von Bauers Behörde, sondern von jungen Staatsanwälte nie selbst hätten Demokratie gewillt ist, die Würde eines Duelle, die er sich mit dem wesentlich den beiden Staatsanwälten Vogel und stemmen können. jeden Menschen zu wahren“, hat Bauer älteren Strafverteidiger Hans Laternser Kügler von der Staatsanwaltschaft beim zu Beginn des Auschwitz-Prozesses vor liefert, der bereits in Nürnberg verteidigt Landgericht Frankfurt am Main allein Bauers junge Ankläger erledigen gewiss geführt“, schreibt Joachim Kügler, sich die mühselige praktische Arbeit der selbst in der dritten Person nennend, Beweisführung, sie kennen die Details 2009 in einem Leserbrief an die Zeit. des Falles deshalb besser als jeder an- „Mit der von Dezember 1963 bis August dere. Und es ist ihr Feingefühl, nicht 1965 stattfindenden Hauptverhandlung das Bauers, das sich im Umgang mit hatte Bauer gar nichts zu tun.“ den Zeugen bewährt. Aber es ist Bauer, der die ganze Zeit über Regie führt. Vielleicht wäre es Fritz Bauer, der sich so sehr darum bemüht hat, sich aus dem Blick der Journalisten im Gerichts- saal herauszuhalten, nicht einmal Unrecht, wenn Kügler später so tut, als habe der Anblick im Saal die Verhältnis- se hinter den Kulissen tatsächlich kor- rekt widergespiegelt.

Aber verbergen lässt es sich nicht, dass Bauer die Zügel in der Hand behält. Dass er die Akteure dirigiert, dass er die Staatsanwälte während der Ermitt- Staatsanwalt Joachim Kügler begann als 33-Jähriger, in Fritz Bauers Auftrag den Auschwitz-Prozess lungen und während des Prozesses zu führen. wöchent lich zu sich bestellt, dass er 56 57

5. Für ein humanes Strafrecht

In der Welt der juristischen Ideen ist er sich in den 1950er- und 1960er-Jahren Fritz Bauer ein Antiautoritärer, ein so sehr in die Bresche wie kaum ein Verfechter von Besserung und Wieder- zweiter deutscher Jurist. eingliederung statt Buße und Vergel- tung. Wo von einem Täter keine Gefahr mehr ausgehe, da brauche er auch keine „ Kein Vernünftiger straft, weil Strafe mehr zu bekommen; so argumen- gefehlt wurde, sondern damit tiert Fritz Bauer in den rechtspolitischen nicht mehr ge fehlt werde.“ Debatten der Nachkriegszeit. „Verweich- lichung“ haben sie dieses Konzept in der Weimarer Zeit geschimpft. Es ist die grundsätzliche Neuausrich- „Kein Vernünftiger straft, weil gefehlt tung allen Strafens auf das Ziel der wurde, sondern damit nicht mehr ge- Vorbeugung, ein revolutionärer Gedan- fehlt werde“, hat Bauer in seiner 1957 ke unter linken Strafrechtlern zu Beginn veröffentlichten Streitschrift „Das Ver- des 20. Jahrhunderts, die überhaupt erst brechen und die Gesellschaft“ entgeg- Bauers Leidenschaft für die Justiz net. Und für diese moderne Idee wirft ent facht hat, als Student in den 1920er- Fritz Bauer als Jurastudent im März 1924. 58 59

Jahren. Über das Rechtssystem wird in tische Politik zu übersetzen. Und der lischen Akt, der von Fragen nach Sinn, Schon im November 1921, in seinem der frühen Weimarer Zeit so lebhaft Student Bauer – verfolgt es begeistert. Zweck oder sozialen Folgen möglichst ersten Studienjahr, kritisiert Fritz Bauer debattiert wie nie zuvor – im Parlament, reinzuhalten ist. Kant und Hegel nennen den Philosophen Immanuel Kant vor aber auch an den Fakultäten. Deutsch- Bauer verschlingt die Bücher Radbruchs. diesen Akt des Strafens eine sinnbild- den Mitgliedern seiner Studentenver- land hat in den zurückliegenden Jahr- „Das Corpus juris war zu dick, um in liche „Wiederherstellung“ des Rechts: bindung deshalb so scharf, dass einige zehnten eine Bevölkerungsexplosion die Frühjahrslandschaft Heidelbergs klar, logisch, streng. Eine Straftat, so Kommilitonen Kant dagegen in Schutz erlebt, aus Kleinstädten sind Millio nen- mit genommen zu werden“, erinnert er sagen sie, leugne das Recht. Die Strafe nehmen. Der Student Bauer ärgert sich städte geworden, in denen sich eine sich. Radbruchs literarisch glänzende gleiche dies symbolisch wieder aus. über die konservative deutsche Straf- neu entstandene Bevölkerungsschicht Einführung in die Rechtswissenschaft Hegel bringt das auf die berühmte justiz, die „Kants Sprung in die Meta- drängt, die Industrie arbeiterschaft. von 1910 aber „las ich bewegt, begeis - Formel, die Straftat sei eine „Negation“ physik“ folgt und „stolz (ist) auf ihren Je mehr sich deren Elend verschärft, tert in den Wäldern rings um das des Rechts, die Strafe die „Negation der als ‚Idealismus‘ bezeichneten Mangel an umso bedrohlichere Aus maße nimmt Schloß.“ Bauer unterstreicht Radbruchs Negation“. Die Zuchthäuser des Landes Realismus“. Ihm fällt dazu später eine die Kriminalität an – woraufh in der stärkste Thesen darin dick. (Den Um- mögen heillos überfüllt sein, das Straf- Spottgeschichte des englischen Essayis- Staat zahlreiche neue Gefängnisse, gang, den Bauer zeitlebens mit Büchern system immer neue kaputte Biogra- ten G. K. Chesterton ein, in der ein Zucht- und Arbeitshäuser hochgezogen pflegt, nennt sein Freund Manfred phien verwalten – trotzdem sollten sich Richter sagt: hat. „Brutstätten des Lasters“ und Amend später einmal „für einen Biblio- die Richter nicht von pragmatischen „Ich verurteile Sie zu drei Jahren Ge- „Hochschulen des Ver brechens“ nennt philen schwer erträglich.“) Bauer erin- Überlegungen der Kriminalpolitik fängnis in der festen Überzeugung, sie der Berliner Strafrechtsprofessor nert sich:„Ich habe gewusst, wohin ich beirren lassen, von der öffentlichen daß das, was Ihnen wirklich nottut, ein Franz von Liszt, der Cousin des gleich- gehören möchte.“ Meinung etwa oder von den sozialen dreiwöchiger Aufenthalt an der See ist.“ namigen Komponisten, verächtlich. oder individuellen Nöten, die einen Liszt startet um die Jahrhundertwende Menschen zur Tat getrieben haben Wenn es einen Sinn haben soll, dass sich mögen und die ihn, wenn sich an seiner der Staat mit den Unrechtstaten zwi- einen Aufschrei. „Eine Strafe, die das „ Ich habe gewusst, wohin ich Verbrechen fördert“, ätzt er, das „ist die Lage nichts ändert, wieder dazu treiben schen seinen Bürgern auseinandersetzt, gehören möchte.“ letzte und reifste Frucht“ der traditio- könnten. Ob die Strafe bewirkt, dass so wenden Liszt und Radbruch ein, dann nellen deutschen Strafjustiz mit ihrer künftig weniger Taten begangen wer- doch allein den, solche Taten in Zukunft „vergeltenden Gerechtigkeit“. den? Oder, wenn sie den Delinquenten zu verhüten. Prävention statt Vergel- Radbruch und von Liszt wenden sich tiefer ins Elend stürzt, sogar mehr tung: Das ist der Gedanke, der Fritz Der damalige SPD-Politiker Gustav gegen eine mächtige Tradition in der Taten? Das dürfe keine Rolle spielen Bauers Begeisterung für das Strafrecht Radbruch ist ein Schüler Liszts. Als deutschen Rechtswissenschaft. Den beim feierlichen Akt der Schuldvergel- entflammt. „Franz von Liszt hat das Bauer sein Jurastudium aufnimmt, Philosophen Immanuel Kant, Georg tung, meinen Kant und Hegel – denn Wort geprägt, Sozialpolitik sei die beste hat Radbruch gerade das Reichsjustiz- Wilhelm Friedrich Hegel und ihren dieser Akt diene schließlich einer Kriminalpolitik“, schreibt Bauer, „und ministerium für die SPD erobert. Man vielen Anhängern in der konservativen höheren, einer „metaphysischen“ Sache, Radbruch hat kritisch gemeint, es sei des kann jetzt fast täglich in der Zeitung Juristenschaft geht es im Umgang mit dem Recht selbst. Strafrechts fragwürdige Aufgabe, gegen lesen, wie er dafür kämpft, das radikale Kriminalität allein darum, Schuld zu den Verbrecher nachzuholen, was die Umdenken, das Liszt verlangt, in prak- vergelten – in einem feierlichen, symbo- Sozialpolitik für ihn zu tun versäumt 60 61

„ Franz von Liszt hat das Wort Verurteilung wächst. Ich kann die Es wird noch bis in die 1960er-Jahren Taten Einzelner habe. „Die Konzeption geprägt, Sozialpolitik sei die beste weitere These hinzufügen …, daß je dauern, lange nach Radbruchs Tod, bis des freien Willens bot sich einer härter die Vorstrafe nach Art und Maß sich der Vorrang des Präventionsgedan- Mensch heit an, die seit Jahrtausenden Kriminalpolitik und Radbruch hat gewesen ist, desto rascher der Rückfall kens in Deutschland zu einem großen von Vergeltungstrieben bewegt wird“, kritisch gemeint, es sei des Straf- erfolgt. Ich kann das auch so aus- Teil in der Gesetzgebung durchsetzt. schreibt Bauer. „Sie wurde fast süchtig rechts fragwürdige Aufgabe, gegen drücken: Wenn ein Jugendlicher oder Zu dieser Zeit wird es ein publizistisch aufgegriffen, und sie wird hartnäckig den Verbrecher nachzuholen, was auch ein Erwachsener ein Verbrechen aktiver Staatsanwalt sein, der maßgeb- bewahrt. Sie ist eine Ideologie, geeignet die Sozialpolitik für ihn zu tun begeht und wir lassen ihn laufen, so ist lich das Wort dafür führt: Fritz Bauer. und bestimmt, ein Vergeltungsstrafrecht versäumt habe. Bitterer Gedanke, die Wahrscheinlichkeit, daß er wieder Er fügt den Vordenkern Liszt und zu legitimieren und das schlechte wie oft die Kosten des Verfahrens, ein Verbrechen begeht, geringer, als Radbruch bis dahin zwar keine eigene Gewissen zu besänftigen, das aus der wenn wir ihn bestrafen. Ist das Gesagte philosophische Variante hinzu, aber Aggressivität des Vergeltungstriebs der vor der Tat angewendet, genügt richtig (und es wird nicht gelingen, einige eloquente, nicht selten amüsante Menschheit erwächst.“ Fritz Bauer zitiert hätten, das Verbrechen zu ver- die Trag weite der mitgeteilten Ziffern Zuspitzungen, die politisch überzeugen Nietzsche, der das ganze Konzept des hindern !“ abzuschwächen), so ist damit der völlige sollen. Die traditionelle Annahme Kants freien Willens als eine Ausgeburt des Zusammenbruch, der Bankrott unserer und Hegels, jedes Delikt geschehe aus Strafen-Wollens und Schuldig-Finden- ganzen heutigen Strafrechtspflege in einem freien – eben bösen – Willen Wollens beschreibt, und er fordert: habe. Bitterer Gedanke, wie oft die schlagender Weise dargetan.“ heraus, weshalb man berechtigt sei, ihm Der Richter müsse nicht über Schuld Kosten des Verfahrens, vor der Tat mit dem Zorn eines Rächers entgegen- und Sühne philosophieren, Kriminal- angewendet, genügt hätten, das Ver- Wissenschaftlich haltbar ist Liszts zutreten, findet der Publizist Fritz Bauer recht sei letztlich Therapeutik, „nicht brechen zu verhindern!“ Umgang mit Zahlen aus heutiger Sicht überall im Leben der Menschen wider- metaphysische Spekulation und Phari- zwar nicht, denn eine Korrelation legt: „Alle großen Tragödien und Roma- säertum; es hat nichts mit Moral und Als Reichsjustizminister möchte Rad- zwischen der Härte der Strafe und der ne wissen um den Einfluß von Alter und Moralisieren zu schaffen.“ „Wenn auch bruch die Gerichte dazu anhalten, auf Höhe der Rückfallquote bedeutet noch Geschlecht, Abstammung und Charak- jede Tat determiniert ist, so waltet kein den Menschen hinter der Tat zu blicken, lange nicht, dass mehr Strafe mehr ter“, schreibt er. „Sie schildern die unerbittliches Fatum über den Men- um ihn auf diese Weise „bessern“ oder Rückfälle würde – es ist ja umgekehrt Leiden schaften, die die Menschen schen“, schreibt er. „Die Menschen „sichern“ zu können, was nicht unbe- auch möglich, dass besonders rückfall- erfassen, und die Umwelt, in die sie werden durch Anlage und Umwelt zu dingt weniger Härte bedeutet, aber doch gefährdete Täter vom Richter zutreffend verstrickt sind. Alles ist notwendiger ihren Handlungen disponiert, sie sind mehr Nutzen für die Gesellschaft ver- als solche erkannt und deshalb von Stoß und notwendiger Gegenstoß, und nicht zum Verbrechen ein für allemal spricht. Ist der Delinquent bloß ein vornherein auch härter bestraft werden. tragisch ist gerade die Unerbittlichkeit prädestiniert. Die Umwelt ist immer Gestrauchelter? Oder ist er ein Trieb- Wertvoll bleibt aus Sicht der heutigen und Unabwendbarkeit, die Folgerichtig- wandelbar. Die Umwelt besteht aus täter, der so lange weggesperrt werden Kriminologie aber, dass Liszt überhaupt keit des Schicksals.“ Menschen, die helfen können.“ muss, wie er gefährlich bleibt? Aus der den Ruf nach einer empirischen Über- bloßen Kriminalstatistik, so argumen- prüfung der Ergebnisse der Strafjustiz Die deutsche Justiz mache es sich zu Eher denkt Bauer an soziale Ungleich- tiert Liszt, „ergibt sich ja, daß der Hang in die Debatte eingebracht hat. leicht, meint er. Sie wolle nicht wissen, heit, Frustration, Zerrüttung als Ursa- zum Verbrechen … mit jeder neuen welchen Anteil die Gesellschaft an den chen krimineller Karrieren: „Die gesetz- 62 63

widrige Tat ist Symptom und Fingerzeig „Samuel Butler“, so schreibt Bauer, „hat Strafrichter sollen nur noch nach vorne einer tieferen Problematik, bestenfalls in seinem im Stil von Swifts ‚Gulliver‘ schauen, sonst nichts. ihre aus den Wassern ragende Eisberg- geschriebenen Roman ‚Erewhon or over kuppe.“ Er zitiert Lichtenberg: the Range‘ ein Land Erewhon (Nowhere, Bauers Lebensthema in der Praxis ist „Es ist eine Frage, ob wir nicht, wenn wir rückwärts gelesen, Niemandsland) mit dann jedoch – der Blick in die Vergan- einen Mörder rädern, in den Fehler des angelsächsischem Sarkasmus beschrie- genheit. Wie passt das zusammen? Kindes verfallen, das den Stuhl schlägt, ben. Dort werden Kranke wegen ihrer Welchen tieferen Grund können NS- an dem es sich stößt.“ Von Gustav Krankheit verurteilt. Da steht beispiels- Verfahren wie der Frankfurter Ausch- Radbruch gibt es den schönen Satz, ein weise ein junger Mann wegen Auszeh- witz-Prozess überhaupt haben, wenn guter Jurist könne nur sein, wer mit rung vor Gericht. Er ist sogar rückfällig, nicht Vergeltung, Sühne oder, das schlechtem Gewissen Jurist sei. Dieses weil er im Vorjahr Bronchitis hatte und Synonym ist moderner: Schuldaus- Radbruch’sche schlechte Gewissen, schon früher an Kinderkrankheiten litt. gleich? Eine Gefahr geht von den ehe- so meint Fritz Bauer, komme vielleicht Das Verteidigungsvorbringen dieses maligen NS-Tätern nicht mehr aus. genau daher, dass die deutschen Straf- Täters, er stamme von kranken Eltern Die Gehorsamen verhalten sich unauf- juristen wider besseres Wissen unter- und habe neulich einen schweren fällig, im neuen System wie im alten. stellten, der vor ihnen stehende Dieb, Unfall gehabt, wird von dem hohen An vielem hat es ihnen in ihrem Leben Betrüger oder Mundräuber habe einfach Gericht zurückgewiesen, weil das Fritz Bauer kurz vor seinem Tod, 1968. gemangelt, an Normtreue aber nie. aus freien Stücken gehandelt – infolge Gericht bei der Nachprüfung solcher bei Auch um ihre Wiedereingliederung in des „welt- und menschenfernen, ja Angeklagten üblichen Ausflüchten vom in den Nachkriegsjahren den Arbeits- die deutsche Gesellschaft („Resozialisie- menschenfeindlichen Rationalismus Hundertsten ins Tausendste käme und kreis zur Strafrechtsreform, und er rung“) muss man sich nach 1945 keine eines Kant und Hegel“. dann nicht mehr in der Lage wäre, ein fordert dort, endlich radikal aufs Ganze Sorgen machen. Urteil zu sprechen.“ zu gehen: eine vollständige Abkehr von jeder Vergeltung von Vergangenem. In der Bundesrepublik leben buchstäb- Er scheut die schrillen Töne nicht. Weil In den Gefängnissen soll es nur noch lich Legionen von Mördern, die um- „ Wenn auch jede Tat determiniert die Justiz sich nach 1945 zwar der Vor- darum gehen, den Inhaftierten zu standslos in eine unauffällige Existenz ist, so waltet kein unerbittliches beugung verschrieben hat, aber gleich- bessern. Und auch bei der Entscheidung, als Apotheker oder Postbote zurück- Fatum über den Menschen. Die zeitig nicht darauf verzichten will, ob und für wie lange ein Krimineller kehren und sich nie wieder etwas zu Menschen werden durch Anlage Vergeltung zu üben, sprüht Bauer vor überhaupt hinter Gitter kommt, soll der Schulden kommen lassen. Gegen die und Umwelt zu ihren Handlungen Spott: Die sogenannte doppelspurige Richter nur nach Gesichtspunkten der Einschätzung, dass diese Menschen mit disponiert, sie sind nicht zum Konzeption des bundesrepublikani- Prävention entscheiden, gleichgültig, dem Gesetz in Einklang leben, gibt es schen Strafgesetzbuchs – Richter sollen ob das eine sehr kurze Haft bedeutet, zwar auch Einwände: „Tatsächlich“, so Verbrechen ein für allemal prä- die Schuldigen strafen und die Gefähr- weil von dem Täter keine Wieder- meint etwa der Politikwissenschaftler destiniert. Die Umwelt ist immer lichen sichern – sei „eine Sphinx“, holungsgefahr ausgeht, oder eine sehr Joachim Perels, „wird die These, die wandelbar. Die Umwelt besteht schreibt er einmal, „halb Löwe, halb lange Haft, weil diese Gefahr groß ist. NS-Täter seien in der Bundesrepublik aus Menschen, die helfen können.“ Mensch“. Innerhalb der SPD leitet Bauer zu rechtstreuen Bürgern geworden, … 64 65

durch ihr – fast durchgängiges – Ver- „ Die meisten Staatsanwälte, die Schlagwort, das 1962 die Runde macht, Prozess erhoffen kann, eine Lehre für halten im Auschwitz-Prozess widerlegt. nun seit Jahren mit dieser grauen- „zehn Minuten Gefängnis pro Opfer“? die Zukunft – für das Publikum. Die allermeisten Angeklagten, die haften Materie beschäftigt sind, Was macht es, so fragt Bauer, für einen Dieses Ziel seiner Strafprozesse betont schwerster Massenverbrechen und Unterschied, „ob 40 Mann mehr in die Fritz Bauer mit großer Verve, mal sind sicherlich frei davon, weil sadistischer Einzelhandlungen über- Strafanstalten kommen oder nicht“? hart – die Prozesse „können und müssen führt wurden, erklärten sich in ihren natürlich auch sie wissen, dass mit dem deutschen Volk die Augen öffnen Schlussworten für nicht schuldig.“ Rache und Vergeltung Millionen Viele sind irritiert darüber, dass Bauer für das, was geschehen ist und ihm Menschen nicht mehr zum Leben aus seinen Worten dann keine Konse- ein prägen wie man sich zu benehmen Aber das ist auch schon das gewichtigste gebracht werden können; dass die quenzen zieht. Selbst ein junger Bewun- hat“ –, mal sanfter – der gerichtliche Argument: dass frühere NS-Täter nach Tränen nicht auf diese Weise derer und Helfer Bauers, der Universi- Blick in den Abgrund des Völkermords 1945 oft kein Schuldbewusstsein zeig- gestillt werden.“ täts-Assistent Herbert Jäger, meint, könne wertvollen „historischen, ten. Vor einem rechtstaatlichen Gericht, dass Bauers radikale Ansicht, wonach recht lichen und moralischen Unter - vor dem sie bis zu einem Schuldspruch Strafen nur zum Zwecke der Vorbeu- richt … darstellen“. als unschuldig gelten, haben sie dazu gung legitim seien, ausgerechnet in den freilich ein verbrieftes Recht. An ihrer Viele, und bei weitem nicht nur ewig- Fällen versage, die ihm in der Praxis gegenwärtigen und zukünftigen gestrige Juristen werfen ihm genau dies am meisten am Herzen lägen. Auch „ Sie können Paragrafen machen, Gesetzes treue wird man kaum allein vor. Zumal Bauer sehr beharrlich ist. Theodor W. Adorno spricht von einem Sie können Artikel schreiben, Sie deshalb zweifeln dürfen, weil sie davon Nein, auch im Fall von KZ-Schergen philoso phischen Widerspruch, der im können die besten Grundgesetze Gebrauch machen. Wenn man unter dürfe der Gesichtspunkt der Vergeltung Grunde nicht zu kitten sei. „Theoretisch machen. Was Sie brauchen, sind Resozialisierung die Wiedereingliede- keine Rolle spielen, erklärt er im August reflektierte Justiz“, so Adorno, der Fritz rung in ein äußerlich gesetzestreues 1963 einem Reporter, so wie auch „die Bauer in seinem Text eigentlich lobt, die richtigen Menschen, die diese Leben versteht – und nichts anderes darf meisten Staatsanwälte, die nun seit dürfte diesen Widerspruch andererseits Dinge leben.“ ein Rechtsstaat verlangen –, dann muss Jahren mit dieser grauenhaften Materie „nicht scheuen.“ man sich im Deutschland der 1960er- beschäftigt sind, sind sicherlich frei Jahre eher eingestehen: Das ist nicht davon, weil natürlich auch sie wissen, Dabei geht es Bauer durchaus um Dieser Unterricht sei bitter nötig, meint mehr nötig. Und wenn sich Fritz Bauer dass mit Rache und Vergeltung Millio- Prävention – nur nicht im herkömm- Bauer. „Sie können Paragrafen machen, dennoch bemüht, diese Männer von nen Menschen nicht mehr zum Leben lichen Sinne. Bauer denkt dabei nicht Sie können Artikel schreiben, Sie kön- ihrer verbrecherischen Vergangenheit gebracht werden können; dass die daran, individuellen KZ-Schergen den nen die besten Grundgesetze machen“, einholen zu lassen, wenn er sie dazu Tränen nicht auf diese Weise gestillt Preis ihrer Verbrechen vor Augen zu erklärt er 1964 einer Gruppe von sogar aus ihrer unauffälligen bürger- werden.“ Vergeltung, das kann sich in führen, damit sie solche Verbrechen Studen ten. „Was Sie brauchen, sind die lichen Existenz herausreißt, gesicherte diesem Fall doch ohnehin niemand nicht erneut begehen. Sondern: Wenn richtigen Menschen, die diese Dinge Existenzen vernichtend, widerspricht ernsthaft erhoffen, denn welche irdische die pechschwarze Vergangenheit des leben.“ Bauer teilt die Deutschen, die er dann nicht seiner eigenen moder- Strafe wäre schon ein „Ausgleich“ für Nationalsozialismus in das grelle Licht den Nationalsozialismus getragen nen Strafphilosophie des Nur-nach- den Völkermord in Auschwitz; was eines Gerichtssaals gezerrt wird, dann haben, in drei Gruppen ein: erstens vorne-Schauens? bedeuten schon, so ein provokantes ist das Beste, was man sich von so einem die Pflicht-und-Gehorsams-Fraktion, 66 67

zweitens die Mitläufer aus Bequemlich- keit auf den einen Prozess gegen Adolf keit und drittens die Gruppe der Über- Eichmann gerichtet und sich anschlie- zeugten, bereit, „eine anti-humane“ ßend nicht auf weitere Jagden begeben Weltanschauung für sich anzunehmen – haben. „Die Verjährung bräuchte „wahrscheinlich die größte Gruppe, was man gar nicht verlängern“, sagt Bauer, heute in Diskussionen gerne vergessen „wenn aus den wenigen Prozessen, die wird“, sagt Bauer. „Die Frage ist, was wir bis lang haben, die richtige Lehren machen wir mit diesen Leuten? Und die gezogen würden.“ Frage ist doch nicht nur eine Frage der 22“ – Bauer meint die 22 Angeklagten Damit kittet er den Widerspruch, den im Frankfurter Auschwitz-Prozess –, ihm viele ankreiden. Damit offenbart „sondern das ist die Frage für 50 Millio- er andererseits aber auch, dass der nen Deutsche, oder genauer gesagt“ – Anti autoritäre durchaus eine harte Seite Bauer denkt auch an die Deutschen in hat. Im Grunde, so räumt Fritz Bauer der DDR – „für 70 Millionen.“ nämlich ein, seien die 22 Angeklagten im Auschwitz-Prozess „wirklich nur die ausgewählten Sündenböcke.“ Man „ Die Verjährung bräuchte man gar braucht eben ein paar von ihnen auf nicht verlängern, wenn aus den der Anklagebank, um den Menschen im Zuschauerraum eine Lehre zu vermit- wenigen Prozessen, die wir bislang teln, doch sie spielten, gesteht Bauer, haben, die richtige Lehren gezogen „nur die Rolle eines Mittels zum Zweck“. würden.“

Das konkrete Strafverfahren, in dem es immer nur um einen Einzelfall geht, ist eigentlich nur ein Anlass, ein Aufhänger für diesen Unterricht. Wenn die Zu- schauer dabei genug lernen, so Bauer, dann müsse man die Lektion auch gar nicht oft wiederholen. Dann könne es schon mit sehr wenigen Prozessen dieser Art sein Bewenden haben – so wie auch die Israelis alle ihre Aufmerksam- 68 69

6. „Dann musst du Nein sagen“: Strafgesetzbuch berufen. Dieses Prob- Den juristisch eleganten Weg hat ihm lem erkennt Bauer: Zwar galt das alte 1946 Gustav Radbruch gewiesen. Rad- Fritz Bauers kaiserliche und Weimarer Strafgesetz - bruch argumentiert in einem Aufsatz, buch auch zur NS-Zeit fort, aber der die NS-Gesetze, die den Völkermord Bedeutung für Mord an bestimmten Gruppen war vom legalisiert hätten, seien von vornherein Staat befohlen, legalisiert. null und nichtig gewesen. Gesetze, die die heutige Zeit noch nicht einmal den „Willen zur Bauer lässt sich davon jedoch nicht ab- Gerechtigkeit“ erkennen ließen und halten. Eine demokratische Strafjustiz, stattdessen die Gleichheit aller Men- so schreibt er im Februar 1945 in einem schen als Basis allen Rechts von vorn Aufsatz für die Sozialistische Tribüne, herein bestritten, seien niemals bindend. dürfe sich nicht davon beirren lassen, Sie hätten „als ‚unrichtiges Recht‘ der dass die Nationalsozialisten mächtig Gerechtigkeit zu weichen“. Auch vor genug waren, die Welt des Rechts auf Strafe schützten solche Gesetze nicht. den Kopf zu stellen. Selbst dann, wenn sich demokratische Strafgerichte erst verrenken müssten, um aus der Fesse- lung durch die zur Tatzeit geltenden „ Wenn etwas befohlen wird – sei Die Strafprozesse gegen NS-Verbrecher aber dann genauso in der Bibel: Du NS-Gesetze herauszuwinden, müssten es durch Gesetz oder Befehl –, „sollen natürlich zu denken geben“, sollst Gott mehr gehorchen denn sie Verbrechen Verbrechen nennen, was rechtswidrig ist, was also im erklärt Fritz Bauer einmal einem Radio- den Menschen. Das ist im Grunde das schreibt Bauer – notfalls eben mithilfe Widerspruch steht zu den journalisten. „Eine der wichtigsten A und O jeden Rechts. Dieser Satz „revolutionären“, rückwirkenden Rechts. Aufgaben dieser Prozesse ist es, nicht bedeutet: Über jedem Gesetz und über ehernen Geboten, etwa den zehn nur das furchtbare Tatsachenmaterial jedem Befehl gibt es noch etwas, was Das bedeutet zwar einen Bruch mit Geboten, die eigentlich jedermann vorzuführen, sondern eigentlich uns unverwüstlich und unzerstörbar ist, die dem Grundsatz „Keine Strafe ohne (zur beherrschen sollte, dann musst wieder etwas zu lehren, was wir in klare Erkenntnis, dass es gewisse Dinge Tatzeit geltendes) Gesetz“, doch Bauer du Nein sagen.“ Deutschland im Laufe der vergangenen gibt, die man auf Erden nicht tun kann. denkt die Sache vom Ergebnis her: hundert Jahre völlig vergessen haben, Einmal, weil sie in den zehn Geboten „Ein neues Deutschland kann, wenn ganz im Gegensatz zu dem Recht und verboten sind, und dann natürlich, weil es leben und geachtet sein will, nicht „Und das“, so Bauer, der diesen Gedanken der Moral der uns umgebenden Staaten. sie wider alle Religion und Moral sind.“ dulden, dass Richter sich wieder zu aufgreift, „bedeutet ganz einfach das Es ist ganz einfach jenes Wort, das durch Helfershelfern von Mordgesellen Gebot des passiven Widerstandes. Es war die ganze Geschichte geht, aber im 19. Ein Ankläger, der von Angeklagten ver- machen. Hier gilt das Wort Goethes im ganzen deutschen Reich, im ganzen und 20. Jahrhundert eigentlich aus dem langt, sie hätten Gesetze brechen müs- aus dem Faust“, schreibt Bauer: „Der Mittelalter, in der Frühzeit und noch in deutschen Recht gestrichen wurde, das sen, steht natürlich vor einem Problem. Richter, der nicht strafen kann, gesellt der neueren Zeit ganz selbstverständlich. Wort, das wir schon bei Sokrates finden, Er kann sich dabei schwerlich auf das sich endlich dem Verbrecher.“ Man hat gelehrt: Wenn etwas be fohlen 70 71

und dem offiziell Gebotenen entschei- den müssen – solange wird der Gedanke, für den sich Fritz Bauer gegen alle Widerstände starkgemacht hat, immer wieder von neuem sehr aktuell.

„Ich formuliere die Sache jetzt ziemlich brutal“, so fuhr Bauer in dem besagten Radiointerview fort: „Man hat dann in Deutschland zwar den Heldenmut an der Front gefeiert; es gab Mut und Courage in jeder Richtung gegenüber dem äußeren Feind. Man hat aber völlig übersehen, dass die Zivilcourage – der Mut vor dem Feind im eigenen Volk – genauso groß, wahrscheinlich größer ist und nicht weniger verlangt wird. Man hat völlig übersehen, dass es ehrenhaft ist, dass es Pflicht ist, auch in Fritz Bauer empfängt Journalisten in seinem Büro, 1964. seinem eigenen Staat für das Recht zu sorgen. Deswegen ist es das A und O wird – sei es durch Gesetz oder Befehl –, gut geworden, der Bundes gerichtshof dieser Prozesse zu sagen: Ihr hättet Nein was rechtswidrig ist, was also im Wider- hat für die skandalös NS-verniedli- sagen müssen.“ spruch steht zu den ehernen Geboten, chende Rechtsprechung der Nachkriegs- etwa den zehn Geboten, die eigentlich jahre inzwischen um Entschuldigung jedermann beherrschen sollte, dann gebeten. Die Radbruch’sche Formel – die musst du Nein sagen.“ Quintessenz von Radbruchs bescheide- ner Ungehorsamsphilosophie – ist Teil So klar sind am Ende die wenigen Worte, der etablierten Rechtslehre geworden. die Fritz Bauers gesamtes Wirken für die Humanisierung des deutschen Rechts, Aber solange Menschen, seien es Juris- für die Rechtsstaatswerdung der jungen tinnen und Juristen oder ebenso auch Bundesrepublik, zusammenfassen Menschen in anderen Berufen, in könnten. Heute, viele Jahrzehnte später, Situationen der Verantwortung geraten, ist vieles davon gewiss schon zu Gemein- in denen sie zwischen ihrem Gewissen 72 73

Zum Weiterlesen Bildnachweis

Titel: AP Die Biografie: Ronen Steinke, Fritz Bauer. Oder: Auschwitz vor Gericht. Mit einem Vorwort von Andreas Voßkuhle, Piper Verlag 2013, 352 Seiten. Seite 4: Janine Schmitz /photothek.de Seite 11: Alexander Kluge /dctp Info & Archiv Zur Fahndung nach Eichmann: Bettina Stangneth, Eichmann vor Jerusalem. Das unbehelligte Leben eines Massenmörders, Arche Verlag 2011, 656 Seiten. Seite 18: bpb Zum Remer-Prozess: Claudia Fröhlich, Wider die Tabuisierung des Ungehorsams. Fritz Bauers Seite 21: CPA Media Pte Ltd /Alamy Stock Photo (Bild Graf von Stauffenberg) Widerstandsbegriff und die Aufarbeitung von NS-Verbrechen, Campus Verlag 2006, 430 Seiten. Deutsches Historisches Museum (Bild Hitler und Mussolini) Zum Auschwitz-Prozess: Gerhard Werle / Thomas Wandres, Auschwitz vor Gericht. Völkermord und Seite 23: Ausstellung „Umgang mit dem Nationalsozialismus in den beiden deutschen bundesdeutsche Strafjustiz. Mit einer Dokumentation des Auschwitz-Urteils, C. H. Beck Verlag Innenministerien 1949 –1970“ (Bild Remer) 1995, 240 Seiten. Seite 25: deutschlandfunkkultur Fritz Bauers eigene Texte: Lena Foljanty / David Johst (Hrsg.), Fritz Bauer: Kleine Schriften, Seite 27: Stiftung Deutsches Historisches Bildarchiv Campus Verlag 2018, Band 1 (1921–1961), 866 Seiten; Band 2 (1962–1969), 1854 Seiten. Seite 31: Stiftung Deutsches Historisches Bildarchiv Zum politischen Aufbruch der 1960er Jahre: Katharina Rauschenberger / Sybille Steinbacher, Fritz Bauer und „Achtundsechzig“. Positionen zu den Umbrüchen in Justiz, Politik und Gesellschaft, Seite 33: dpa Picture Alliance Wallstein Verlag 2020, 278 Seiten. Seite 37: Hessischer Rundfunk Seite 45: Familienarchiv Marit Tiefenthal Seite 46: Familienarchiv Marit Tiefenthal Seite 47: Familienarchiv Marit Tiefenthal Seite 54: Fritz Bauer Institut Seite 57: Familienarchiv Nancy Bauer Morrison Seite 63: Archiv der Sozialen Demokratie Seite 70: Ullstein Bild 74

Impressum

Diese Druckschrift wird vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz im Rahmen seiner Öffentlichkeitsarbeit herausge- geben. Sie ist kostenlos erhältlich und nicht zum Verkauf bestimmt.

Herausgeber: Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz Referat Öffentlichkeitsarbeit; Digitale Kommunikation 11015 Berlin www.bmjv.de

Gestaltung: neues handeln AG

Bildnachweis: Siehe Seite 73

Druck: Druck- und Verlagshaus Zarbock GmbH & Co. KG Sontraer Straße 6 60386 Frankfurt a. M.

Stand: Mai 2021

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