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Einsicht 16 Bulletin des Fritz Bauer Instituts

, Völkermorde vor Gericht: Fritz Bauer Institut Von Nürnberg nach Den Haag Geschichte und MMitit BeiträgenBeiträgen vonvon KKimim PPriemel,riemel, WWolfgangolfgang Wirkung des Holocaust FForm/Axelorm/Axel FFischerischer uundnd VolkerVolker ZimmermannZimmermann Editorial

Liebe Leserinnen und Leser, zur Grundlage der NSG-Verfahren zu machen, erscheint spätestens seit dem Münchner Demjanjuk-Urteil von 2011 in einem neuen, von den Nürnberger Prozessen über den kritischen Licht. Eichmann-Prozess in Jerusalem und die Nicolas Berg, Gastwissenschaftler am Fritz Bauer Institut im Prozesse an bundesdeutschen Landge- Wintersemester 2015/2016, beschäftigt sich in seinem Beitrag mit richten – wie den Chełmno-Prozess in den Spielfi lmen über Fritz Bauer, die während der beiden letzten Bonn, den Auschwitz-Prozess in Frank- Jahre in Kino und Fernsehen ein großes Publikum erreicht haben. furt am Main, den Sobibór-Prozess in Berg beginnt seine Darstellung mit der Skizze einer, wie er selbst Hagen und die Prozesse zu Treblinka sagt, noch nicht geschriebenen Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte und Majdanek in Düsseldorf – zum In- Fritz Bauers, um vor deren Hintergrund herauszuarbeiten, wie in den ternationalen Strafgerichtshof in Den drei Filmen »die Persönlichkeit Bauers, sein Lebenswerk und sein Haag war es ein schwieriger und viel- privates Schicksal hier zum Gegenstand einer Selbstansprache der fach unterbrochener Weg. Ist es nicht Gegenwart« geworden sind. eine Überbewertung bundesdeutscher Timothy Snyder, Professor für osteuropäische Geschichte an Judikatur in Sachen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen, deut- der Yale University, hat mit Bloodlands. Europa zwischen Hitler sche Verfahren gegen NS-Verbrecher in einem Atemzug mit Nürn- und Stalin (München 2010) und Black Earth. Der Holocaust und berg, Jerusalem und Den Haag zu nennen? Für die Schaffung des warum er sich wiederholen kann (München 2015) zwei beeindru- humanitären Völkerstrafrechts waren die bundesdeutschen Prozesse ckende Studien vorgelegt, die hierzulande in der Historikerzunft auf auf der Grundlage des § 211 Strafgesetzbuch fraglos von geringer ein geteiltes Echo gestoßen sind. In den Beiträgen von Snyder und Relevanz. Aber die Tatsache, dass sich die Bundesrepublik Deutsch- Christoph Dieckmann werden sowohl die Einsichten als auch die land die Aufgabe, die NS-Verbrechen systematisch und umfassend Kritiken rekapituliert. aufzuklären, überhaupt stellte, nach mehr als einem Jahrzehnt sehr Seit Mitte 2016 haben sich am Institut wichtige personelle Än- zögerlicher und recht zufälliger Ahndungsbemühungen, hat frei- derungen vollzogen. Mit Josefi ne Ruhe (Bibliothek) und Johannes lich das Bewusstsein von Recht und Gerechtigkeit mit Blick auf Beermann (Archiv) hat das Fritz Bauer Institut zwei neue Mitarbeite- Menschenrechtsverbrechen von nicht wenigen geschärft. Nach der rInnen gewinnen können, die den bisher von Werner Renz betreuten vehementen Ablehnung der Nürnberger Verfahren durch Politik, Arbeitsbereich übernommen haben. Wir freuen uns sehr darüber, Rechtspfl ege und Rechtswissenschaft in den ersten Jahrzehnten nach dass sie nun am Institut sind, und wünschen ihnen eine gute und Kriegsende hat sich die Bundesrepublik mit Beginn der 1990er Jahre erfolgreiche Tätigkeit. Erfreulich ist auch, dass Werner Renz, der zu einer Verfechterin des Prinzips universeller Jurisdiktion gewan- seit 1. April 2016 im Ruhestand ist, dem Institut als freier Mitarbeiter delt. erhalten bleibt. In den drei Beiträgen von Kim Priemel, Wolfgang Form/Axel Innerhalb der nächsten Monate wird die vom Ministerium für Fischer und Volker Zimmermann werden anschließend an Einsicht Wissenschaft und Kunst geschaffene Holocaust-Professur, die mit 13 und 14 (2015/2016) Probleme erörtert, die die Nürnberger und der Leitung des Fritz Bauer Instituts verknüpft ist, besetzt werden. die bundesdeutschen NS-Verfahren aufwerfen. Priemel weist nach, Die Berufungsliste liegt vor. Allen nun an den Verhandlungen Betei- dass es keineswegs einen geraden Weg von Nürnberg nach Den ligten wünschen wir viel Erfolg. Das Institut dankt an dieser Stelle Haag gab und das Nürnberger Erbe mitnichten von seinen Begrün- allen Mitgliedern der Berufungskommission für ihre hervorragen- dern gewahrt wurde. Wolfang Form und Axel Fischer legen in ihrer de Arbeit. Ganz besonderer Dank gilt Prof. Dr. Moritz Epple, der dichten Exegese des Nürnberger Judikats dar, dass Völkermorde im mit der Leitung der Berufungskommission betraut war, und Jutta Prozess gegen die sogenannten Hauptkriegsverbrecher (IMT) durch- Ebeling, die als Vertreterin des Stiftungsrats an den Verhandlungen aus Gegenstand der richterlichen Entscheidung gewesen sind. Die teilgenommen hat. Relevanz genozidaler Verbrechen für das IMT arbeiten die Autoren in ihrem Beitrag minutiös heraus. Volker Zimmermann stellt einen apl. Prof. Dr. Werner Konitzer Prozess dar, der ebenso wie die Treblinka-, Sobibór- und Chelmno- am Main, im September 2016 Prozesse von der historischen Forschung vernachlässigt worden ist: der Düsseldorfer Majdanek-Prozess (1975–1981). Interessant ist er nicht zuletzt vor dem Hintergrund der neueren Entwicklung, wie sie in den jüngsten Strafverfahren gegen Auschwitz-Täter (Gröning- und Hanning-Prozess) zum Ausdruck kommt. Insbesondere die damalige Rechtspraxis, das Erfordernis des konkreten Einzeltatnachweises

Einsicht 16 Herbst 2016 Werner Konitzer, Foto: Werner Lott 1 Inhalt

Einsicht Nachrichten und Berichte 103 Ausschreibung: Fritz Bauer Studienpreis 2017 Forschung und Vermittlung Information und Kommunikation 104 Richard-Schmid-Preis 2016 104 »Anne-Frank-Tag für Menschenrechte« in Frankfurt Völkermorde vor Gericht: Von Nürnberg nach Den Haag Aus dem Institut 105 Deutscher Filmpreis für DER STAAT GEGEN FRITZ BAUER 12 Pionier- und Präzedenzfälle. Der verschlungene Weg 94 Die Taschenkalender des Josef Mengele. 106 Auschwitz-Prozessakten nominiert für Weltdokumentenerbe von Nürnberg nach Den Haag / Kim Priemel Ein Archivbericht / Jana Lösch 106 »Religiöse Positionierung« – Neuer Forschungs- 22 Zur Rolle von Völkermord(en) im Nürnberger 96 »Nur die Spitze des Eisbergs«. Fritz-Bauer-Denkmal der schwerpunkt in Hessen Hauptkriegsverbrecherprozess. Eine kritische Analyse Stadt Frankfurt am Main 107 Filmrettung: DIE STADT OHNE JUDEN Wolfgang Form und Axel Fischer 97 Trude Simonsohn. Verleihung des Ehrenbürgerrechts 30 Zeitgeschichte im Gerichtssaal. Der Majdanek-Prozess der Stadt Frankfurt am Main 1975–1981 / Volker Zimmermann 98 Neue wissenschaftliche Mitarbeiter 98 recensio.net. Rezensionen aus Einsicht online Beiträge zu Leben und Wirken Fritz Bauers Ausstellungsangebote 38 Selbstansprachen der Gegenwart. Die Spielfi lme Aus dem Förderverein Wanderausstellungen des Instituts über Fritz Bauer im Kontext seiner Rezeptions- und 99 Neue Holocaust-Professur und Institutsleitung. Veranstaltungen Wirkungsgeschichte / Nicolas Berg Sybille Steinbacher auf Platz eins der Berufungsliste 108 Fritz Bauer. Der Staatsanwalt. NS-Verbrechen vor Gericht Halbjahresvorschau 110 Legalisierter Raub. Der Fiskus und die Debatte Aus Kultur und Wissenschaft Ausplünderung der Juden in Hessen 1933–1945 6 Lehrveranstaltungen 48 Anmerkungen zu den deutschen Kritikern meines 100 Tagungsbericht: Gelebte Vielfalt – Pädagogische 111 Ein Leben aufs neu. Das Robinson-Album. 7 Internationale Tagung: Von der »Euthanasie« zum Buches Black Earth. Der Holocaust und warum er Herausforderungen im deutsch-israelischen DP-Lager: Juden auf deutschem Boden 1945–1948 Holocaust. Parallelität oder Kausalität? sich wiederholen kann / Timothy Snyder Jugendaustausch / Werner Lott 111 Die IG Farben und das KZ Buna/Monowitz. 7 Podiumsdiskussion: Wo steht die Antisemitismusforschung? 58 Zur Kritik an Timothy Snyders Black Earth. 102 Doppelausstellung der Initiative 9. November e.V. Wirtschaft und Politik im Nationalsozialismus 8 Vortragsreihe: Grenzen, Flucht, Menschenrecht. Ein Kommentar / Christoph Dieckmann Historische, psychoanalytische und sozialtheoretische Aspekte der Flüchtlingsdiskussion 8 Ausstellung in Lorsch: Legalisierter Raub 8 Ausstellung in Dresden: Fritz Bauer. Der Staatsanwalt Rezensionen Buchkritiken Die große 62 Rezensionsverzeichnis: Liste der besprochenen Bücher Gesamtdarstellung der Neuerscheinungen 64 Rezensionen: Aktuelle Publikationen Aktuelle Publikationen des Instituts zur Geschichte und Wirkung des Holocaust deutschen Besatzung 9 Werner Konitzer, David Palme (Hrsg.): »Arbeit«, »Volk«, »Gemeinschaft«. Ethik und Ethiken im Nationalsozialismus Griechenlands 9 Jenny Hestermann: Inszenierte Versöhnung. Reisediplomatie und die deutsch-israelischen Beziehungen von 1957 bis 1984 Pädagogisches Zentrum »Mazower versteht es gut, einzelne Schicksale und 10 Franziska Krah: »Ein Ungeheuer, das wenigstens theore- Frankfurt am Main Zeugnisse mit dem großen Geschehen zu verbinden. tisch besiegt sein muß«. Pioniere der Antisemitismusfor- So macht er die Traumata verständlich, die bis heute wirken.« schung in Deutschland 90 Angebote und Kontakt 10 Christoph Schneider: Diener des Rechts und der Vernich- 90 Museum Judengasse als Lernort / Prävention gegen Claudia Kühner, NZZ am Sonntag tung. Das Verfahren gegen die Teilnehmer der Konferenz Radikalisierung von 1941 oder: Die Justiz gegen Fritz Bauer 91 Kinder- und Jugendliteratur. Zu jüdischem Leben heute 10 Fritz Bauer: Die Wurzeln faschistischen und nationalsozia- und Nationalsozialismus/Holocaust listischen Handelns 91 Den Opfern und den Angehörigen der NSU-Morde eine Stimme geben / Türkân Kanbıçak 92 Bericht von der Sommerakademie: Jüdische Perspektiven 528 Seiten, gebunden, D (D) 29,99 auf Nachkriegsdeutschland / Manfred Levy

2 Inhalt Einsicht 16 Herbst 2016 3 Fritz Bauer Institut Im Überblick

Mitarbeiter und Arbeitsbereiche

Kommissarischer Direktor apl. Prof. Dr. Werner Konitzer

Administration Dorothee Becker (Sekretariat) Werner Lott (Technische Leitung/Digital- und Printmedien) Manuela Ritzheim (Leitung des Verwaltungs- und Projektmanagements)

Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Dr. Christoph Dieckmann (Zeitgeschichtsforschung) Dr. Jenny Hestermann (Zeitgeschichtsforschung) Dr. Jörg Osterloh (Zeitgeschichtsforschung) Dr. Katharina Rauschenberger (Programmkoordination) Das Fritz Bauer Institut Archiv und Bibliothek Das Fritz Bauer Institut ist eine interdisziplinär ausgerichtete, un- Johannes Beermann (Archiv und Dokumentation) abhängige Forschungs- und Bildungseinrichtung. Es erforscht und Josefi ne Ruhe (Bibliothek) dokumentiert die Geschichte der nationalsozialistischen Massenver- brechen – insbesondere des Holocaust – und deren Wirkung bis in die Pädagogisches Zentrum des Fritz Bauer Instituts Gegenwart. Das Institut trägt den Namen Fritz Bauers (1903–1968) und des Jüdischen Museums Frankfurt am Main und ist seinem Andenken verpfl ichtet. Bauer widmete sich als jüdischer Dr. Türkân Kanbıçak Remigrant und radikaler Demokrat der Rekonstruktion des Rechts- Gottfried Kößler (stellv. Direktor) Stiftungsrat Wissenschaftlicher Beirat systems in der BRD nach 1945. Als hessischer Generalstaatsanwalt Manfred Levy hat er den Frankfurter Auschwitz-Prozess angestoßen. Dr. Martin Liepach Für das Land Hessen: Prof. Dr. Joachim Rückert Am 11. Januar 1995 wurde das Fritz Bauer Institut vom Land Sophie Schmidt Volker Bouffi er Vorsitzender, Goethe-Universität Frankfurt am Main Hessen, der Stadt Frankfurt am Main und dem Förderverein Fritz Ministerpräsident Prof. Dr. Moritz Epple Bauer Institut e.V. als Stiftung bürgerlichen Rechts ins Leben geru- Wissenschaftliche Hilfskräfte Boris Rhein Stellv. Vorsitzender, Goethe-Universität Frankfurt am Main fen. Seit Herbst 2000 ist es als An-Institut mit der Goethe-Universität Maximilian Aigner Minister für Wissenschaft und Kunst Prof. Dr. Wolfgang Benz assoziiert und hat seinen Sitz im IG Farben-Haus auf dem Campus Laura S. Tittel Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Westend in Frankfurt am Main. Für die Stadt Frankfurt am Main: Universität Berlin Forschungsschwerpunkte des Fritz Bauer Instituts sind die Be- Freie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Projekten Peter Feldmann Prof. Dr. Dan Diner reiche »Zeitgeschichte« und »Erinnerung und moralische Auseinan- Dr. des Irene Aue-Ben-David, Johanna Bach, Dr. Kata Bohus, Oberbürgermeister Hebrew University of Jerusalem dersetzung mit Nationalsozialismus und Holocaust«. Gemeinsam mit Rolf Erdorf, Dr. Lena Folianty, Dr. Wolfgang Geiger, Dr. Ina Hartwig Prof. Dr. Atina Grossmann dem Jüdischen Museum Frankfurt betreibt das Fritz Bauer Institut Dr. Iwona Guść, Dr. David Johst, Monica Kingreen, Dezernentin für Kultur und Wissenschaft The Cooper Union for the Advancement of Science and Art, New York das Pädagogische Zentrum Frankfurt am Main. Zudem arbeitet das Dagi Knellessen, Dr. Sharon Livne, Ursula Ludz, Prof. Dr. Marianne Leuzinger-Bohleber Institut eng mit dem Leo Baeck Institute London zusammen. Die aus Dr. Ingeborg Nordmann, David Palme, Werner Renz, Für den Förderverein Fritz Bauer Institut e.V.: Sigmund-Freud-Institut, Frankfurt am Main diesen institutionellen Verbindungen heraus entstehenden Projekte Dr. Katharina Stengel, Diane Webb, Dieter Wesp, Jutta Ebeling Prof. Dr. Gisela Miller-Kipp sollen neue Perspektiven eröffnen – sowohl für die Forschung wie Dr. Gerben Zaagsma Vorsitzende Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf für die gesellschaftliche und pädagogische Vermittlung. Herbert Mai Prof. Dr. Walter H. Pehle Die Arbeit des Instituts wird unterstützt und begleitet vom Wis- 2. Vertreter des Fördervereins Verlagslektor und Historiker, Dreieich-Buchschlag senschaftlichen Beirat, dem Rat der Überlebenden des Holocaust Rat der Überlebenden des Holocaust Prof. Dr. Peter Steinbach und dem Förderverein Fritz Bauer Institut e.V. Für die Goethe-Universität Frankfurt am Main: Universität Mannheim Trude Simonsohn (Vorsitzende und Ratssprecherin) Prof. Dr. Birgitta Wolff Siegmund Freund Universitätspräsidentin Inge Kahn Prof. Dr. Susanne Schröter Abb. oben: Blick aus dem früheren Dienstzimmer des Generalstaatsanwalts Fritz Bauer im Landgericht Frankfurt am Main. Foto: Werner Lott Dora Skala Dekanin, Fachbereich Philosophie und (siehe dazu: Nicolas Berg, »Selbstansprachen der Gegenwart. Die Spielfi lme über Fritz Geschichtswissenschaften Bauer im Kontext seiner Rezeptions- und Wirkungsgeschichte«, S. 38 f. in diesem Heft)

4 Fritz Bauer Institut Einsicht 16 Herbst 2016 5 Veranstaltungen Halbjahresvorschau

Lehrveranstaltung Internationale Tagung Freitag, 25. November 2016, Gedenkstätte Hadamar, Podiumsdiskussion Mönchberg 8, 65589 Hadamar, www.gedenkstaette- hadamar.de Außergewöhnliche Von der »Euthanasie« Wo steht die Normalität zum Holocaust 13.00–15.15 Uhr Antisemitismusforschung? Grenzenlos? Übergänge zwischen Schlüsseltexte zu den Parallelität oder Kausalität? »Euthanasie« und Holocaust Montag, 5. Dezember 2016, 18.15 Uhr, Goethe- deutsch-israelischen › Monica Kingreen (Frankfurt am Main): Universität Frankfurt am Main, Campus Westend, Beziehungen Donnerstag 24. bis Samstag, 26. November 2016, Verschleppung und Ermordung Norbert-Wollheim-Platz 1, IG Farben-Haus, Raum 411 in Frankfurt am Main und in Hadamar jüdischer Kranker 1940/41: Das Beispiel Hessens Die Anschläge in Frank- Dr. Jenny Hestermann, Blockseminar, Übung, Die Tagung untersucht unter › Volker Rieß (Ludwigsburg): Das reich, die Zunahme frem- Historisches Seminar, Goethe-Universität Frankfurt anderem die gesellschaftli- Sonderkommando Lange denfeindlicher Übergriffe in Deutschland am Main – Campus Westend, Einführungstermin: Di., 18. Oktober 2016, 10.00–12.00 Uhr, Seminarhaus, chen und ideellen Grundlagen der Kranken- › Astrid Ley (Oranienburg): 14f13 und die Äußerungen von Vertretern der AfD Raum 3.105; weitere Termine: Fr., 18. November morde, diskutiert die Übergänge zwischen oder Sprechern bei Pegida-Demonstrationen 2016, 9.00–18.00 Uhr, Seminarhaus, Raum 3.102; Euthanasie und Holocaust und befasst sich 15.45–18.00 Uhr haben deutlich gemacht, dass es in Europa Sa., 19. November 2016, 9.00–18.00 Uhr, mit den Gasmorden in Polen. Darüber hin- Transfer von Personal und Technologie? nach wie vor einen virulenten, möglicher- Seminarhaus, Raum 4.107; Fr., 16. Dezember 2016, 9.00–18.00 Uhr, Seminarhaus, Raum 0.106 aus gilt der Blick der justiziellen Ahndung Die Gasmorde in Polen weise auch ansteigenden Antisemitismus dieser Verbrechen und den öffentlichen Re- › Hagen Markwardt (Pirna): Pirna- gibt. Diese Situation stellt nicht nur eine aktionen darauf in Deutschland. Sonnenstein Herausforderung für Politik, Medien und Zi- Im Frühsommer 2015 jährte › Sara Berger (Rom): Das Personal der vilgesellschaft, sondern auch und vor allem Lehrveranstaltung die Ergebnisse dieser Forschung dargestellt sich die Aufnahme diploma- Donnerstag, 24. November 2016, Goethe-Universität Aktion Reinhardt für die Antisemitismusforschung dar. Worin und diskutiert werden. In einem zweiten tischer Beziehungen zwischen Deutschland Frankfurt am Main, Campus Westend, Norbert- › Jan Erik Schulte (Gedenkstätte bestehen heute ihre Aufgaben? Wie sollte ihr Wollheim-Platz 1, Casino-Gebäude, Raum 1.801 Habermas und Schritt soll danach gefragt werden, wie sich und zum fünfzigsten Mal. Dieses Ju- Hadamar): Kein einfacher Nexus: Verhältnis zu anderen Wissenschaften und die NS-Ethik in der moralphilosophischen Selbstrefl exion biläum war Anlass für zahlreiche Podien, 13.30–15.45 Uhr Auschwitz, die Aktion Reinhardt und die zur Zivilgesellschaft gestaltet werden? Was in der Bundesrepublik in der Nachkriegszeit Diskussionsveranstaltungen in wissen- Gesellschaftliche und ideelle NS-Krankenmorde gilt es zu vermeiden? Und welche Perspekti- die Auseinandersetzung mit dieser »natio- schaftlichem sowie kulturpolitischem Rah- Grundlagen bis 1933 ven sollten in den Blick genommen werden? apl. Prof. Dr. Werner Konitzer, Blockseminar, nalsozialistischen Moral« vollzog. Außer- men. Politiker und Medien zelebrierten die › Thomas Etzemüller (Oldenburg/ Samstag, 26. November 2016, Goethe-Universität Philosophie und Geschichtswissenschaften, Goethe- ordentlich wirkungsmächtig ist hier ins- Erfolgsgeschichte einer »Versöhnung« nach München): Die Herausforderung der Frankfurt am Main, Campus Westend, Norbert- Über diese Fragen diskutieren: Universität Frankfurt, Vorbesprechung: Mo., 24. Okto- Wollheim-Platz 1, IG Farben-Haus, Raum 311 ber 2016, 12.00–14.00 Uhr, Seminarhaus, Raum 0.106; besondere die Ethik von Jürgen Habermas dem Krieg und der heutigen Partnerschaft. Moderne und das Social Engeneering › Prof. Dr. Samuel Salzborn, Professor für 1. Blocktermin: Fr., 9. und Sa., 10. Dezember 2016; geworden. Wie und in welcher Form reagiert Während die deutsche Seite vor allem von › Michael Schwartz (München): 9.00–12.30 Uhr Grundlagen der Sozialwissenschaften am 2. Blocktermin: Fr., 10. und Sa., 11. Februar 2017; die Habermas’sche Ethik auf die Erfahrung Buße und Aussöhnung sprach und mit der Biopolitik und Euthanasie im Justizielle Ahndung und Institut für Politikwissenschaft der Georg- jeweils 10.00–18.00 Uhr, IG Farben-Haus, Raum 2.501 der nationalsozialistischen Normativität? Aufnahme dieser Beziehungen die Westin- internationalen Kontext gesellschaftliche Reaktionen August-Universität Göttingen tegration anstrebte, verfolgte die israelische › Volker Roelcke (Gießen): Biopolitische › Paul Weindling (Oxford, angefragt): › Dr. Marcus Funck, Wissenschaftlicher In den letzten Jahren ist in Literatur: Regierung rein pragmatische Ziele. Ideen als Voraussetzung für die Euthanasie-Verbrechen und Judenmord Mitarbeiter am Zentrum für Antisemitis- der Erforschung der natio- Moralität des Bösen. Ethik und national- Die Übung untersucht die historische Euthanasie bis 1938/39 vor den Nürnberger Tribunalen – musforschung der Technischen Universität nalsozialistischen Verbrechen zunehmend die sozialistische Verbrechen, Jahrbuch 2009 Entwicklung dieser Beziehungen und fragt Bezüge oder Abgrenzungen Berlin und Koordinator des Studiengangs Bedeutung der normativen Überzeugungen, zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, nach Brüchen und Konfl ikten. Quellen sind 16.15–17.45 Uhr › Edith Raim (Landsberg): Konjunkturen Interdisziplinäre Antisemitismusforschung die diese Verbrechen mit vorbereiten und hrsg. im Auftrag des Fritz Bauer Instituts politische Reden, historische Zeitungsartikel NS-Politik der justiziellen Aufarbeitung von › Prof. Dr. Hans-Joachim Hahn, Literatur- begehen halfen, in den Blickpunkt getreten. von Werner Konitzer und Raphael Gross, und offi zielle Dokumente, zum Beispiel zum › Wolf Gruner (Los Angeles): Juden- Euthanasie und Judenmord im Westen wissenschaftler, Zürich/Graz Diese Überzeugungen prägten den national- Frankfurt am Main 2009 Luxemburger Abkommen 1952. Aufgabe im verfolgung und Judenpolitik bis › Hagen Markwardt (Pirna): Der › Dr. Klaus Holz, Generalsekretär der Evan- sozialistischen Alltag, sie durchdrangen das Claudia Koonz, The Nazi Conscience, Cam- Seminar wird es sein, diese Quellen in den Kriegsbeginn Dresdner Ärzteprozess gelischen Akademien in Deutschland und Rechtssystem und prägten die Auffassungen bridge/MA 2005 gesellschafts- und außenpolitischen Kontext › N.N.: Eugenik, Sterilisation und › Katharina Rauschenberger (Fritz Bauer Mitglied des Unabhängigen Expertenkreises in Bezug auf das, was Recht sei. Sie kamen Peter J. Haas, Morality after Auschwitz, Phi- der Bundesrepublik einzuordnen. Euthanasie im Reich Institut): Die Rolle des Ostberliner Antisemitismus des Deutschen Bundestages auch in Texten nationalsozialistischer Phi- ladelphia 1992 Rechtsanwalts Friedrich Karl Kaul in Moderation: apl. Prof. Dr. Werner Konitzer, losophen zum Ausdruck, sei es in Texten, Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öf- 20.00–21.45 Uhr westdeutschen Euthanasie-Prozessen Kommis. Leiter des Fritz Bauer Instituts die dezidiert als Ethiken verfasst waren, sei fentlichkeit, Neuaufl age mit einer erweiterten Öffentlicher Vortrag es in eher geschichtsphilosophisch oder on- Einleitung, Frankfurt am Main 1990 › Frank Bajohr (München): Reaktionen Eine Kooperation des Fritz Bauer Instituts Eine Kooperation des Fritz Bauer Instituts tologisch angelegten Texten wie etwa von Ders., Diskursethik, Studienausgabe, Frank- der Bevölkerung auf Euthanasie und mit der Gedenkstätte Hadamar mit dem Jüdischen Museum Frankfurt am Heidegger. In dem Seminar sollen zum einen furt am Main 2009 Holocaust Main

6 Veranstaltungen Einsicht 16 Herbst 2016 7 Neuerscheinungen Aktuelle Publikationen des Instituts

Fortsetzung der Vortragsreihe legislators, and popular public opinion. Wanderausstellung Jenny Hestermann Fundamentally, all these debates revolve Grenzen, Flucht, around one single question: Did the drafters Legalisierter Raub Inszenierte Versöhnung Menschenrecht of the 1951 Refugee Convention intrinsi- Der Fiskus und die Reisediplomatie und die cally intend for Non-Refoulement to over- Historische, psycho- ride nation-state sovereignty – in favour of Ausplünderung der Juden deutsch-israelischen Bezie- analytische und sozial- this normative bedrock for universal refugee in Hessen 1933–1945 hungen von 1957 bis 1984 theoretische Aspekte der protection? Dienstag, 7. Februar bis Sonntag, 14. Mai 2017, Flüchtlingsdiskussion Museumszentrum Lorsch, Nibelungenstr. 35, 64653 Weitere Termine der Vortragsreihe: Lorsch, Ausstellungseröffnung: So., 5. Februar, 16.00 Uhr, Öffnungszeiten: Di. bis So., 10.00–17.00 Uhr Die in die Europäische Uni- on flüchtenden Menschen Montag, 31. Oktober 2016, 18.15 Uhr aus Syrien, Afghanistan und anderen Regi- Goethe-Universität Frankfurt am Main, Eine Ausstellung des Fritz onen stellen die einzelnen Länder vor eine Campus Westend, Norbert-Wollheim-Platz 1 Bauer Instituts und des Hes- schwierige Situation. Wie soll das politische sischen Rundfunks. Mit Unterstützung der Werner Konitzer, David Palme (Hrsg.) Die von Deutschen im Na- Handeln aussehen, wenn es einerseits um Montag, 23. Januar 2017, 18.15 Uhr Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thürin- tionalsozialismus began- die Sicherung der Grundrechte, andererseits Goethe-Universität Frankfurt am Main, gen und des Hessischen Ministeriums für »Arbeit«, »Volk«, genen Verbrechen wären nicht möglich um die Zunahme von Ängsten und politische Campus Westend, Norbert-Wollheim-Platz 1 Wissenschaft und Kunst. »Gemeinschaft« gewesen ohne die Existenz eines Gefl echts Verschiebungen geht? Aus historischer, psy- www.fritz-bauer-institut.de/legalisierter- von geteilten ethischen Überzeugungen. choanalytischer und politikwissenschaftli- raub.html Ethik und Ethiken im »Dichte« Begriffe wie »Arbeit«, »Volk« Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2016, cher Perspektive soll die aktuelle Debatte um Die Vortragsreihe »Grenzen, Flucht Nationalsozialismus oder »Gemeinschaft« sind Knotenpunkte 290 S., gebunden, € 29,95, EAN 978-3-593-50615-9 das Asyl für Flüchtlinge diskutiert werden. Menschenrecht« wird veranstaltet vom dieses gedanklichen Gebildes. In den Beiträ- Wissenschaftli che Reihe des Fritz Bauer Instituts, Fritz Bauer Institut in Kooperation mit gen dieses Bandes geht es nicht nur darum, Band 28, auch als E-Book erhältlich dem Institut für Sozialforschung an nationalsozialistische Normativität histo- Dr. Gilad Ben-Nun, Leipzig: der Goethe-Universität Frankfurt, dem Wanderausstellung risch darzustellen. Vielmehr werden auch In den 1960er Jahren prä- Sigmund-Freud-Institut – Forschungs- Vorschläge zur Analyse dieser Begriffe ge- sentierten sich deutsche The UN 1951 institut für Psychoanalyse und ihre Fritz Bauer macht. Ein wesentlicher Teil dieses Bemü- Politiker auf »privaten Pilgerreisen« in Refugee Convention Anwendungen, Frankfurt am Main und Der Staatsanwalt hens ist die Untersuchung von Ethiken na- Israel als Vertreter eines moralisch erneu- dem Förderverein Fritz Bauer Institut e.V. tionalsozialistisch orientierter Philosophen. erten Deutschland. Nach Aufnahme der Between Nation-State NS-Verbrechen vor Gericht diplomatischen Beziehungen (1965) beleg- Sovereignty and the apl. Prof. Dr. Werner Konitzer ist kommis- ten die nun offi ziellen Reisen den deutschen Non-Refoulement Principle Ab März 2017 ist eine Ausstellungsstation in Dresden sarischer Direktor des Fritz Bauer Instituts Anspruch auf »Normalisierung«; die israe- geplant, weitere Ausstellungsorte sind in Vorbereitung. und Lehrbeauftragter am Institut für Phi- lische Regierung dagegen bestand in den Weitere Veranstaltungsinformationen losophie der Goethe-Universität Frankfurt Gesprächen auf der besonderen moralischen Montag, 12. Dezember 2016, 18.15 Uhr, Goethe- Eine Ausstellung des Fritz am Main, Privatdozent an der Europa-Uni- Verantwortung der Deutschen. Hinter den Universität Frankfurt am Main, Campus Westend, Informationen zu weiteren Vorträgen und Bauer Instituts und des Jü- Jahrbuch 2016 zur Geschichte und Wirkung versität Viadrina Frankfurt (Oder) und Ver- Kulissen jedoch verstanden beide Seiten von Norbert-Wollheim-Platz 1, Casino-Gebäude, Raum anderen Veranstaltungen des Fritz Bauer dischen Museums Frankfurt am Main. des Holocaust trauensdozent der Heinrich-Böll-Stiftung. Beginn an ihre Wiederannäherung als ein 1.811, Lecture in English Instituts entnehmen Sie bitte den Ankündi- www.fritz-bauer-institut.de/fritz-bauer- Hrsg. im Auftrag des Fritz Bauer Instituts pragmatisches Projekt, in dem sie sich an Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2016, gungen auf unserer Website: ausstellung.html ca. 320 S., kartoniert, € 29,95 David Palme hat in Marburg und Frankfurt der jeweiligen Staatsräson orientierten: der Since its adoption, none of www.fritz-bauer-institut.de EAN 978-3-593-50622-7 am Main Philosophie und Geschichte stu- Westintegration für Deutschland, der Wirt- the 1951 Refugee Conven- und auf unserer Facebook-Seite: Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts, Band 20 diert; er arbeitet zum Themenbereich Moral schaftshilfe für Israel. Auf der Grundlage tion’s principles has been so vehemently www.facebook.com/fritz.bauer.institut Erscheinungstermin: November 2016 und Nationalsozialismus und ist freier Mit- deutscher und israelischer Archivdokumen- auch als E-Book erhältlich contested and debated as its Article 33 – also Oder abonnieren Sie kostenlos unser drei- arbeiter am Fritz Bauer Institut. te analysiert die Studie umfassend, wie die known as the Non-Refoulement Principle. mal jährlich erscheinendes Veranstaltungs- Weitere Informationen/Ausleihe Das Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Wiederannäherung nach dem Zivilisations- This simple stipulation of not returning a programm, das Sie per E-Mail-Anforderung Holocaust erscheint mit freundlicher Unterstützung bruch der NS-Diktatur in die Rhetorik von refugee back into the hands of his tormen- bestellen können: Weitere Informationen zu unseren Wander- des Fördervereins Fritz Bauer Institut e.V. Moral und Versöhnung gekleidet wurde, um Mitglieder des Fördervereins können das aktuelle tors, has been subject to deeply confl icting [email protected] ausstellungen und ihrer Ausleihe fi nden Sie Jahrbuch zum reduzierten Preis von € 23,90 dem Unbehagen im deutsch-jüdischen Ver- interpretations by supreme courts, national auf den Seiten 108 f. (inkl. Versandkosten) im Abonnement beziehen. hältnis zu begegnen.

8 Veranstaltungen Einsicht 16 Herbst 2016 9 Dr. Jenny Hestermann, ist wissenschaftli- Bereits in der Weimarer Republik existierte Ermordung von Kranken und Behinderten Jugendverbänden ein Referat mit dem Titel bis 1945 bilden zu können. Fritz Bauer ging den NS-Verbrecher in Deutschland vor Ge- che Mitarbeiterin am Fritz Bauer Institut im ein tiefergehendes Wissen über den Antise- im NS. Die dem Vorwurf zugrundeliegen- »Die Wurzeln faschistischen und national- es um die juristische Aufarbeitung der im richt zu stellen. Rahmen des Forschungsprojekts »Deutsch- mitismus, das jedoch für den Abwehrkampf den Ereignisse (1940/41), das zehn Jahre sozialistischen Handelns«. Aufgrund der Nationalsozialismus begangenen Mensch- israelische Beziehungen in den Geistes- gegen antisemitische und völkische Bewe- währende Verfahren (1960–1970) und die großen Resonanz und der aufklärerischen heitsverbrechen, die heute als Shoa oder Aufgrund der zahlreichen Nachfragen wird wissenschaften zwischen 1970 und 2000. gungen wenig Perspektiven bieten konnte. Anstrengungen, es vor dem Vergessen zu Wirkung hatte der rheinland-pfälzische Holocaust bezeichnet werden, und um die diese Schrift mit der Dokumentation der Studien zu Wissenschaft und Bilateralität«. bewahren (1978–1984), ergeben eine Art Landesjugendring die Absicht, diesen Text damit verbundene aufklärerische Wirkung Debatte im rheinland-pfälzischen Landtag Dr. phil. Franziska Krah promovierte am erinnerungspolitisches Ensemble. Es zeigt, Oberstufengymnasien und Berufsschulen für die Zukunft. von 1962 in Zusammenarbeit mit dem Fritz Lehrstuhl für deutsch-jüdische Geschichte wie umkämpft die NS-Aufarbeitung bis in als Broschüre zur Verfügung zu stellen. Das Der Jurist Fritz Bauer (1903–1968) Bauer Institut neu aufgelegt. der Universität Potsdam. die 1980er Jahre und darüber hinaus war. wurde vom Kultusministerium des Bundes- leitete als hessischer Generalstaatsanwalt landes Rheinland-Pfalz abgelehnt. In einer in Frankfurt am Main ab 1959 ein Ermitt- David Johst ist Wissenschaftlicher Mit- Franziska Krah Christoph Schneider ist freier Autor und Landtagsdebatte von 1962, die in Auszügen lungsverfahren gegen vormalige Angehöri- arbeiter des Internationalen Graduierten- Kulturwissenschaftler mit Schwerpunkten in dem später als Buch in der Europäischen ge und Führer der SS-Wachmannschaft des kollegs »Formenwandel der Bürgerge- »Ein Ungeheuer, das zur Rezeption der NS-Vernichtungspolitik in Verlagsanstalt (1965) erschienenen Text do- Konzentrations- und Vernichtungslagers sellschaft« der Martin-Luther-Universität wenigstens theoretisch Christoph Schneider Filmen und Nachkriegsprozessen sowie in der kumentiert ist, wird deutlich, wie wenig sich Auschwitz ein, und im Dezember 1963 wur- Halle-Wittenberg und freier Mitarbeiter am Geschichtswissenschaft und Populärkultur. die Gesinnung des überwiegenden Teils der de der erste Auschwitz-Prozess gegen 22 Fritz Bauer Institut. besiegt sein muß« Diener des Rechts und der Deutschen auch 17 Jahre nach Kriegsende Angeklagte vor dem Landgericht Frankfurt Pioniere der Antisemitismus- Vernichtung verändert hatte. So begründete unter ande- eröffnet. Als Bauer Kenntnis vom Aufent- forschung in Deutschland ren der junge CDU-Abgeordnete Helmut haltsort von in Argentinien Das Verfahren gegen die Kohl die Ablehnung mit dem Argument, der bekam, setzte er sich mit dem israelischen Teilnehmer der Konferenz Fritz Bauer zeitliche Abstand zum Nationalsozialismus Auslandsgeheimdienst Mossad in Verbin- Eine Liste mit Publikationen des Fritz von 1941 oder: Die Justiz sei zu gering, um sich ein abschließendes dung, da die deutschen Behörden, trotz vie- Bauer Instituts fi nden Sie auf den Seiten gegen Fritz Bauer Die Wurzeln faschistischen Urteil über die Politik in den Jahren 1933 ler konkreter Hinweise, alles unterließen, 112 f. und nationalsozialistischen Handelns

On the occasion of the 50th anniversary of the end of the Eichmann trial, the Law Faculty of the University of Lisbon organized and hosted an international colloquium on the book »Eichmann in Jerusalem« that took place on April 27–28, 2011, in Lisbon. The main purpose was to evoke Hannah Arendt’s oeuvre and to reflect upon the Eichmann trial. »Eichmann in Jerusalem: A Report on the Banality of Evil« is indeed an important keystone to understanding Arendt’s Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2016, work as a whole and constitutes a reference point in itself when addressing ca. 480 S., gebunden, € 39,90, EAN 978-3-593-50624-1 crucial problems in the fields of criminal law, international criminal law and phi- Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts, Band 29, Erscheinungstermin: November 2016 losophy of law. The main contributions, recollected for publication in the pres- auch als E-Book erhältlich ent English edition, give a rare opportunity for a kaleidoscopic and pluralistic series of views, made possible since her book gives an excellent lesson to Was und von wem wurde Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2017, experts in law and maintains an astonishing actuality. The present book covers Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts, mit wissenschaftlichem aspects as broad and diverse as facing the evil; the legal and the political in Band 30, Erscheinungstermin: Februar 2017 Hannah Arendt; Eichmann in Jerusalem and Hannah Arendt’s oeuvre; the Eich- Anspruch während des ersten Drittels des auch als E-Book erhältlich Mit einer Einleitung von David Johst 20. Jahrhunderts über Antisemitismus in Herausgegeben vom Fritz Bauer Institut mann trial; reflections starting from Eichmann in Jerusalem; and finally, con- Hamburg, Europäische Verlagsanstalt, 2016, ca.120 S., Deutschland gearbeitet und geschrieben? temporary experiences of transitional justice. Broschur, ca. € 15,–, EAN 978-3-86393-085-1 Welche Ansätze bot die frühe Antisemi- Zwei Jahre nach Fritz Bau- Schriftenreihe des Fritz Bauer Instituts, Band 34 Beiträge zum Internationalen und Europäischen Strafrecht, Band 14 tismusforschung? Das sind die Leitfragen ers Tod wurde das von Erscheinungstermin: Oktober 2016 199 Seiten, 2012 dieser Studie, die ein Stück Kultur- und Wis- ihm eingeleitete Verfahren gegen ehema- ISBN 978-3-428-13893-7, € 68,– senschaftsgeschichte zugleich bietet. Darü- lige Oberlandesgerichtspräsidenten und Fritz Bauer, hessischer Ge- Titel auch als E-Book erhältlich. ber hinaus schlägt das Buch einen Bogen Generalstaatsanwälte auf Antrag seines neralstaatsanwalt und Initi- zur Geschichte des Abwehrkampfs gegen Nachfolgers beendet. Der Vorwurf hatte ator d es Frankfurter Auschwitz-Prozesses www.duncker-humblot.de den Antisemitismus bis 1933. Das Fazit: gelautet: Unterstützung der systematischen (1963–1965), hielt 1960 vor Vertretern von

10 Neuerscheinungen Einsicht 16 Herbst 2016 11 Einsicht Forschung und Vermittlung

überraschend, weitaus nüchterner aus und verweist auf den langen Vor Nürnberg Hiatus zwischen »Nürnberg« und »Den Haag«, die unzähligen Ver- stöße gegen die juristischen Maximen von IMT und NMT seither Das Ziel, den Krieg zu verrechtlichen und, in der zeitgenössischen und nicht zuletzt die dezidierte Abkehr gerade jener Mächte – Frank- Diktion, gar zu humanisieren, war ein Projekt des 19. Jahrhunderts, reich, Großbritannien, die USA und die Sowjetunion bzw. deren formuliert vom liberal-internationalistisch denkenden Teil der Völ- Pionier- und Präzedenzfälle Rechtsnachfolger –, welche die Verfahren getragen hatten, von den kerrechtslehre und getragen von einer kosmopolitischen Elite, Nürnberger Prinzipien. Algerien und die Besetzung des Suezkanals, die sich gleichermaßen als Exponent bürgerlicher Ethik verstand, Der verschlungene Weg von Nürnberg Ungarn und Prager Frühling, Vietnam und Afghanistan, Irak-Krieg die nationale Grenzen transzendierte, wie auch als Vertreter von und Krim-Annexion ziehen eine alternative historische Linie zu Nationalstaaten, deren Zugehörigkeit zur sogenannten zivilisierten nach Den Haag jener von Nürnberg nach Den Haag, an deren Ende die russische Welt dazu verpfl ichtete, Standards der Kriegsführung zu defi nieren und US-amerikanische Nichtratifi zierung des Rom-Statuts 1998 und etwaige Brüche zu sanktionieren. Dass derartige Maßstäbe kei- keine störende Abweichung, sondern vielmehr logische Konsequenz neswegs universell galten, sondern nur im erlauchten Kreise derje- von Kim Priemel klassischer machtstaatspolitischer Prämissen ist.2 nigen, deren zivilisierter Status außer Zweifel stand, erlaubte die Der Blick auf längere Kontinuitätslinien, die über zeithistori- gewaltsame Fortführung (und die imperiale Ausweitung) kolonialer sche Aufmerksamkeitsspannen hinausgehen, erklärt in der Tat den Herrschaft mit Mitteln, die das sich herausbildende Völkerstrafrecht Nürnberg – Den Haag nonstop? schwierigen Status des Nürnberger Erbes. Die Verfahren stehen anderswo untersagte. Mit anderen Worten, das Völkerrecht des 19. weniger am Beginn als vielmehr – um in der räumlichen Metapho- und frühen 20. Jahrhunderts kannte verschiedene Rechtssphären, die Unmittelbar nachdem die richterlichen rik von Wegen und Distanzen zu bleiben – auf halber Strecke einer nebeneinander existierten und deren differierende, widersprüchliche Hammer gefallen waren, schienen die Verrechtlichung von Krieg und (zwischenstaatlicher) Gewalt, die, Maßgaben nicht konfl igierten, sondern sich gegenseitig ergänzten.5 Dr. phil. habil, Kim Christian Prie- Staatsanwälte ihrer Sache sicher. »The Nurnberg experience«, im 19. Jahrhundert ihren Ausgang nehmend, stets umkämpft und Doch unter den europäischen und nordamerikanischen Mächten mel, Associate Professor for Twentieth schrieb der amerikanische Hauptankläger vor dem Internationalen widersprüchlich interpretiert war und doch ein kontinuierliches zeichnete sich seit den 1850er Jahren ein erkennbarer Trend ab, Century European History an der Uni- Militärtribunal (IMT), Robert H. Jackson, »grows as it recedes into Ziel verfolgte: die Einhegung von Gewalt als Form politischen Kriege und Kriegsfolgenabwicklung zu juridifi zieren. Der Aufstieg versity of Oslo. history.« Und Telford Taylor, Nachfolger Jacksons als Kopf der Handelns.3 Zugleich ist der Präzedenzcharakter der Nürnberger Ur- des Juristen als zentrale Figur von Friedensvertragsverhandlungen Veröffentlichungen (Auswahl): The Be- amerikanischen Ermittlungsbehörde, welche die Nuernberg Military teile kaum von der Hand zu weisen. Internationale Rechtsprechung und diplomatischen Kongressen, wie ihn der Historiker Marcus trayal. The and Ger- Tribunals (NMT) zwischen 1946 und 1949 konzipierte und orga- und Rechtswissenschaft arbeiten regel-, wenn auch keineswegs Payk nachgezeichnet hat, spiegelte die steigende Bedeutung, welche man Divergence, Oxford 2016; (gem. nisierte, ließ die Weltöffentlichkeit zum Ausklang der sogenannten gleichmäßig mit den durch die Tribunale gefällten Entscheidungen. Rechtssetzung als Modus politischen Handelns auch in der inter- mit Alexa Stiller als Hrsg.), NMT. Die Nachfolgeprozesse wissen, dass die Bedeutung der Strafverfahren Insbesondere die zentralen Anklagepunkte, die in der Charta von nationalen Arena erhielt.6 Die enge Verschränkung nationaler und Nürnberger Militärtribunale zwischen weit über die Bestrafung deutscher NS-Verbrecher hinausgehe und London für das IMT bzw. im Alliierten Kontrollratsgesetz Nr. 10 internationaler Verrechtlichung illustrierte der sogenannte »Lieber Geschichte, Gerechtigkeit und Recht- die im Nürnberger Justizpalast gesetzten Standards zu einer Größe für die NMT statuiert wurden, fi nden ihre Entsprechungen in den Code«, gewissermaßen das Gründungsdokument des Völkerstraf- schöpfung, Hamburg 2013. eigenen Rechts in den internationalen Beziehungen avancieren wür- Ermittlungsaufträgen, die den Ad-hoc-Tribunalen und vor allem rechts. Sein Autor, Francis Lieber, war als deutscher Veteran der den. Gegenüber Nachrichtenagenturen sagte Taylor voraus, »that as dem Internationalen Strafgerichtshof in den 1990er Jahren erteilt napoleonischen Kriege in die USA gekommen, wo er in den Süd- time goes on we will hear more about Nuremberg rather than less, wurden. Der Weg des internationalen Strafrechts mag daher nicht staaten Recht gelehrt hatte, ehe ihn Abraham Lincoln 1863 während and that in a very real sense the conclusion of the trials marks the von, aber über Nürnberg nach Den Haag führen und, um eine be- des Bürgerkriegs beauftragte, das Gewohnheitskriegsrecht zu sys- beginning, and not the end, of Nuremberg as a force of politics, law, kannte Formulierung des Historikers Karl Schleunes über »the twis- tematisieren und zu formalisieren. Rechte und Pfl ichten von Kom- and morals.«1 ted road to Auschwitz« zu paraphrasieren4, kein gerader, sondern battanten, Kriegsgefangenen und Zivilisten wurden benannt und In der rechtshistorischen, aber auch in tagespolitischen Debatten ein verschlungener Pfad sein. vor allem Grenzen zulässiger Kampfhandlungen, etwa Folter und ist diese Lesart aufgenommen und zur oft beschworenen Formel Vergeltungsmaßnahmen, defi niert. Leitende Prämisse des Katalogs »von Nürnberg nach Den Haag« verdichtet worden, nicht selten in war es, die militärischen Handlungsoptionen zu limitieren. Noch der Annahme eines mehr oder weniger geraden Weges, der von den im selben Jahr verkündet, sollte der Lieber Code nicht nur zum ersten internationalen Strafprozessen wegen Kriegs- und Mensch- maßgeblichen Standard für die US-Truppen werden, sondern fand lichkeitsverbrechen über die Tribunale für Ex-Jugoslawien und Ru- 2 Kritisch zu teleologischen Lesarten Kirsten Sellars, ›Crimes against Peace‹ and rege Beachtung auch jenseits des Atlantiks. Dort nahmen führende anda zur Errichtung einer ständigen internationalen Strafgerichts- International Law, Cambridge 2013, S. 290–93, sowie jetzt Annette Weinke, Ge- Völkerrechtler wie Johann Caspar Bluntschli die Vorlage auf und barkeit mit dem Statut von Rom geführt habe. Die zeithistorische walt, Geschichte, Gerechtigkeit. Transnationale Debatten über deutsche Staats- setzten die Kodifi kation internationaler Regeln der Kriegsführung verbrechen im 20. Jahrhundert, Göttingen 2016, und Marcus M. Payk, Frieden Perspektive auf derart teleologische Interpretationen fällt, wenig durch Recht? Der Aufstieg des modernen Völkerrechts und der Friedensschluss auf die Agenden diverser Kongresse, von Brüssel 1874 bis zur nach dem Ersten Weltkrieg, Habilitationsschrift, Berlin 2016. 3 Im Überblick: Martti Koskenniemi, Gentle Civilizer of Nations. The Rise and Fall of International Law 1870–1960, Cambridge 2002, und Stephen C. Neff, 1 Jackson an Alderman, 8.11.1948, Library of Congress, Robert H. Jackson Papers, War and the Law of Nations. A General History, Cambridge 2005. 5 Dazu Antony Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Box 9, Folder 7; Statement for the International News Service, 9.5.1949, Colum- 4 Karl A. Schleunes, The Twisted Road to Auschwitz. Nazi Policy toward German Law, Cambridge 2005. bia Law School, Telford Taylor Papers, 5-1-1-1. 1933–1939, Urbana 1990. 6 Payk, Frieden.

12 Einsicht Einsicht 16 Herbst 2016 13 Haager Landkriegskonvention (HLKO) von 1899. Indes war die bis dahin unbekannte Kategorien in der politisch-juristischen De- Verrechtlichung weder quantitativ noch qualitativ gleichbedeutend batte: zum einen der noch namenlose Tatbestand des Völkermords, mit der effektiven Begrenzung kriegerischer Konfl ikte. Zum einen zum anderen die Verbrechen gegen die Menschlichkeit als Rubrik, drohte die rapide Technisierung der Kriegsführung die parallelen mit der ebenjener Völkermord von den Entente-Mächten in ihrem Einhegungsbemühungen ein ums andere Mal zu überholen; zum berühmten Armenier-Telegramm bezeichnet wurde. In ihrer Erklä- anderen – dies hat der schottische Rechtshistoriker Stephen Neff zu rung vom Mai 1915 kündigten die britischen, französischen und bedenken gegeben – trug die rechtliche Positivierung selbst dazu bei, russischen Kabinette an, die »crimes of Turkey against humanity Krieg als Option akzeptabler erscheinen zu lassen – ein klassischer and civilization« auch mit rechtlichen Mitteln verfolgen zu wollen, Fall nichtintendierter Folgen.7 und namentlich die Briten trafen bereits erste Vorbereitungen für Am Vorabend des Ersten Weltkrieges existierte daher ein wenn einen Strafprozess.10 In ganz ähnlicher Weise wurden dem deutschen auch lückenhafter, so doch umfangreicher und wenigstens den Kaiser »crimes against the laws of humanity« vorgeworfen, ein Echo Absichtsbekundungen nach weithin akzeptierter Katalog kriegs- der sogenannten Martensʼschen Klausel in der HLKO, welche die rechtlicher Regeln, der mit den Haager und Genfer Konventionen »laws of humanity« als Auffangrecht überall dort bemüht hatte, wo 1907/1914 seine breiteste Ausformulierung erfahren hatte. Verrecht- positives Recht (noch) fehlte.11 licht war damit vor allem das ius in bello, also jenes Recht, das Hinter der rhetorischen Formel verbarg sich gleichwohl noch die Kampfhandlungen selbst regulieren sollte. Das ius ad bellum kein konsistentes juristisches Konzept.12 Übergriffe gegen Kombat- hingegen, die Berechtigung zur Kriegsführung, blieb nicht nur un- tanten konnten ebenso darunter fallen wie solche gegen Zivilisten, begrenzt, sondern war nachgerade zentraler Ausdruck staatlicher Mord gleichermaßen wie die Zerstörung von Kulturgütern. Nicht Souveränität. Und ob tatsächlich alle unterzeichnenden Regierungen von ungefähr war der Vorwurf des britische Premierministers Her- beabsichtigten, die niedergelegten Formeln der Kriegsführung auch bert Asquith, die deutsche Zerstörung des fl ämischen Leuven und Japanischer Kriegsver- um den existenziellen Preis von Sieg oder Niederlage einzuhalten, seiner weltberühmten Universitätsbibliothek sei »the greatest crimes brecherprozess in Tokio, oder aber, wie die historische Forschung etwa für den deutschen against civilization since the Thirty Years’ War«, auch sprachlich 1946: Auch in Japan mussten sich die wichtigsten Politiker Fall nahegelegt hat, einen faktischen Paradigmenwechsel weg von nahe an Menschheitsverbrechen. Und ebenso ähnlich mutete das und Militärs nach der der Begrenzung kriegerischer Mittel anstrebten, war ohnehin eine Verdikt des in Cambridge lehrenden Völkerrechtlers Lassa Oppen- Kapitulation vor einem ganz andere Frage.8 heim an, der die deutsche Verletzung der belgischen Neutralität internationalen Militärtribunal Einen Paradigmenwechsel brachte der Erste Weltkrieg denn als »the greatest international crime since the time of Napoleon I« verantworten. Das Foto zeigt die Angeklagten und ihre 13 auch in gleich mehrfacher Hinsicht. Einerseits galt der 1914 ent- brandmarkte. Oppenheims Empörung verwies indes auch auf eine Verteidiger. fachte Zusammenprall der europäischen Großmächte bald schon zweite rechtliche Verschiebung im Zuge des Ersten Weltkrieges: Foto: Süddeutsche Zeitung als erster »totaler« Krieg, der politisch, militärisch und ökonomisch Das ius ad bellum selber rückte nun in den Mittelpunkt, und in der Photo keine Grenzen mehr kannte und globale Auswirkungen zeitigte. Debatte darum, wer den Krieg begonnen hatte, artikulierte sich Andererseits galt er nicht nur propagandistisch, sondern auch in eine Position, die dem Angriffskrieg die zuvor über Jahrhunderte der wissenschaftlichen Debatte rasch als Kampf um das (Völker-) außer Frage stehende Legitimität absprach. Eben deshalb sollte Recht, in dem sowohl die Verletzung bindender Regeln durch die die Kriegsschuldfrage nach 1918 mit solcher Vehemenz unter den kriegführenden Parteien öffentlich geprüft als auch neue Maßstäbe europäischen Nationen ausgetragen werden. Zwar kam es nie zur für die neuen Realitäten von Gewalt und Vernichtung gefunden wer- Anklage gegen Kaiser Wilhelm II., wie sie der Versailler Vertrag – den mussten. Die Debatte um deutsche Kriegsverbrechen, wiewohl gegen den Widerstand der amerikanischen Delegation – ermöglicht propagandistisch ausgeschlachtet und daher von den Zeitgenossen hatte, und auch subalterne deutsche Beschuldigte fanden sich nach oft skeptisch betrachtet, illustrierte, dass die Nichtbeachtung existie- dem Krieg nicht vor internationalen Richtern, sondern – in durchaus renden Rechts weder als Kavaliersdelikt noch als zwar grausamer, aber unausweichlicher Alltag des Krieges durchging.9 Und mit dem osmanischen Massenmord an den Armeniern erschienen gleich zwei 10 Michelle Tusan, »›Crimes against Humanity‹. Human Rights, the British Empire, and the Origins of the Response to the Armenian Genocide«, in: American His- torical Review, Vol. 119 (2014), S. 47–76. 7 Vgl. Neff, War, S. 186–202; Daniel Marc Segesser, Recht statt Rache oder Rache 11 Hull, Scrap, S. 73–76; Neff, War, S. 210; Mark Lewis, The Birth of the New Jus- durch Recht? Die Ahndung von Kriegsverbrechen in der internationalen wissen- tice. The Internationalization of Crime and Punishment, 1919–1950, Oxford schaftlichen Debatte 1872–1945, Paderborn 2010. 2014, S. 43–49. 8 So Isabel Hull, A Scrap of Paper. Breaking and Making International Law during 12 Dazu Daniel Marc Segesser, »Die historischen Wurzeln des Begriffs ›Verbrechen the Great War, Ithaca 2014. gegen die Menschlichkeit‹«, in: Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte, Jg. 8 9 Vgl. Payk, Frieden, S. 126–195, und John N. Horne, Alan Kramer, German (2007), S. 82–93. Internationaler Gerichtshof in Den Haag, Niederlande Aktenblätter der Anklage im Nürnberger Tribunal mit Fotos und Daten der Atrocities, 1914. A History of Denial, New Haven 2001. 13 Zit. nach Weinke, Gewalt, S. 53, und Payk, Frieden, S. 162 f. Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo Angeklagten, 1946. Foto: SZ Photo/Süddeutsche Zeitung Photo

14 Einsicht Einsicht 16 Herbst 2016 15 überschaubarer Zahl – vor dem Leipziger Reichsgericht wieder, wo rechtsdogmatische Hürden genommen worden. Selbst erklärte an den Armeniern befasst), dessen manifestes Beispiel am Ende des Angriffskrieges vorgeschlagen hatte, gleichermaßen eingedenk des ihnen ganz mehrheitlich milde Urteile zuteilwurden.14 Doch jene Vertreter rechtspositivistischer Lehren wie der emigrierte öster- Zweiten Weltkrieges jedoch der Holocaust war.20 deutschen Überfalls im Juni 1941 wie gefl issentlich über die im Klauseln des Versailler Vertragswerks, in denen die deutsche Verant- reichische Jurist Hans Kelsen und sein französischer Kollege Jules Dennoch sollte beiden Termini in der Anklageschrift vor dem Ribbentrop-Molotov-Pakt von 1939 vereinbarte Besatzung Polens wortung für den Krieg festgeschrieben wurde – zumal von »Schuld« Basdevant bejahten die individuelle Völkerrechtssubjektivität. Erst IMT nur nachrangige Bedeutung zukommen. Unter den dort be- und der baltischen Staaten hinweggehend. Trainins Überlegungen, die Rede war und die hohen Reparationsleistungen als eine Art diese Prämisse erlaubte es, nicht länger nur Staaten, sondern auch nannten vier Punkten fi rmierten sie nicht als selbständige, sondern die ähnliche Refl exionen Lauterpachts ergänzten, waren auf re- Strafmaß interpretierbar waren –, unterstrichen, dass die deutsch- Einzelpersonen zu erfassen und damit den Völkerrechtskreis für das als zu- respektive untergeordnete Anschuldigungen. Punkt 1 der ges amerikanisches Interesse gestoßen. Der im Frühsommer zum österreichischen Kriegserklärungen 1914 auf jeden Fall als illegitim, strikt auf individuelle Schuld zielende Strafrecht zu öffnen. Kelsens Anklage beinhaltete die Beteiligung an einer Verschwörung zur Chefankläger ernannte Robert Jackson erkannte in der juristischen wenigstens dem Subtext nach aber auch als illegal eingeschätzt Empfehlung folgend, wurde dies in der im August beschlossenen Begehung von Verbrechen gegen den Frieden, gegen das Kriegs- Innovation die Chance, (Rechts-)Geschichte zu schreiben, realisierte wurden. Für den Zweiten Weltkrieg und die Beurteilung deutscher Londoner Charta vom 8. August 1945 ausdrücklich stipuliert.17 Und recht und gegen die Menschlichkeit. Punkt 2 zielte auf die Planung aber auch, dass die heimische Öffentlichkeit, der er in erster Linie Verbrechen sollte diese Lesart eine entscheidende Weichenstellung Kelsen war es auch, der sowohl die rechtswissenschaftlichen Argu- und Führung von Angriffskriegen, und Nummer 3 inkriminierte die Rechenschaft schuldig war, vor allem die deutsche Aggression als bedeuten. mente dafür bereitstellte, das Erlöschen deutscher Staatlichkeit mit zwischen dem 1. September 1939 und dem 8. Mai 1945 begangenen Ursache für den erneuten amerikanischen Kriegseintritt verurteilte, der bedingungslosen Kapitulation zu begründen (und entsprechend Kriegsverbrechen in allen von deutschen Truppen besetzten Gebie- während die Kriegs- und anderen Verbrechen buchstäblich weit das Recht der Siegermächte, ein Tribunal in Deutschland zu etablie- ten sowie in Österreich, der Tschechoslowakei und in Deutschland entfernt erschienen.22 Dass die US-Delegation am Ende jedoch nicht Nürnberg ren), als auch die Klippe des Verbots rückwirkender Gesetzgebung selbst. Der vierte Anklagepunkt bezog sich auf die bis Kriegsen- den zweiten, sondern den ersten Anklagepunkt für sich reklamierte, zu umschiffen half. Ungeachtet seiner strengen positivistischen de begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in besagten war dennoch folgerichtig. Denn der Vorwurf der Verschwörung bot Die Entscheidung, Kriegsverbrechen der Achsenmächte mit juristi- Logik hielt der Jurist fest, dass die Verfolgung von Gräueltaten Territorien. Unter diesem Quartett waren jedoch nicht alle Punkte »a unifying structure for the prosecution«, eine konzeptionelle und schen Mitteln zu verfolgen, zeichnete sich in der zweiten Kriegshälf- ein höheres Rechtsgut darstelle als der Schutz vor retroaktiven gleichberechtigt. Verbrechen gegen die Menschlichkeit – namentlich narrative Konstruktion, die als Klebstoff den gesamten Prozess zu- te ab. Seit der Moskauer Deklaration 1943 war eine entsprechende Gesetzen; materielle Gerechtigkeit wog schwerer als ihr formales die Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen sammenhalten und sämtliche Einzelvorwürfe miteinander verbinden Willensbekundung des Vereinigte Königreichs, der USA und der Pendant.18 sowie Mord, Ausrottung, Versklavung und Verschleppung – wurden sollte. In diesem Konstrukt waren sämtliche Verbrechen des »Dritten Sowjetunion protokolliert, und hinter den Kulissen waren es vor Konservativere Positionen Kelsens, darunter der traditionelle über eine grammatikalisch nicht völlig eindeutige Konstruktion an Reichs« integrale Bestandteile eines Plans zur Beherrschung Eu- allem amerikanische und sowjetische Juristen, die in Denkschriften Schutz von Amtsträgern vor strafrechtlicher Verfolgung oder die die Anklagepunkte 2 und 3 gebunden. Mit anderen Worten, po- ropas und der Welt gewesen, in dessen Zentrum der Angriffskrieg und Pamphleten den Weg für eine juridische Form der Bestrafung Schutzwirkung von Befehlen, sollte die Charta jedoch unberück- tenzielle Angeklagte konnten nur dann wegen Verbrechen gegen gestanden hatte. Die Verfolgung und Ermordung vermeintlicher und deutscher, japanischer und italienischer Kriegsverbrecher bereite- sichtigt lassen. Hier setzte sich eine jüngere Schule durch, die ins- die Menschlichkeit belangt werden, wenn diese in zeitlichem oder tatsächlicher Gegner hatte der Kriegsvorbereitung gedient, und der ten.15 Der Doyen der amerikanischen Völkerrechtslehre, Charles besondere der britische Gelehrte Hersch Lauterpacht vertrat. Der ursächlichem Zusammenhang mit »klassischen« Kriegsverbrechen Krieg hatte seinerseits die Ausweitung dieser Verbrechen ermög- Cheney Hyde, etwa erblickte im erwarteten Sieg über die Achse einfl ussreichste englischsprachige Völkerrechtler seiner Generation oder Verbrechen gegen den Frieden begangen worden waren. Da- licht. Zudem erlaubte der Verschwörungsvorwurf, das komplexe auch die Gelegenheit, die Herrschaft des Rechts zu bekräftigen. hatte bereits vor Kriegsende einen Paradigmenwechsel mit Blick mit war die Verfolgung von Taten, die vor 1939 verübt wurden, Machtgefüge des nationalsozialistischen Deutschlands prozessual Seinen akademischen Kollegen vertraute er Ende 1943 an: »It whets auf Befehlsnotstand und vergleichbare Rechtfertigungen eingeläutet zwar nicht ausgeschlossen, aber deutlich erschwert, musste doch der abzubilden: Im totalen Krieg mussten Gesellschaften vollständig the zeal for victory when among the main war aims is declared to und sollte, als Ratgeber der britischen wie auch der amerikanischen Nachweis geführt werden, dass diese der Kriegsvorbereitung gedient organisiert werden, und dazu waren nicht allein die Regimeführung, be the punishment through channels of justice of those who have Delegationen in London und Nürnberg, entscheidenden Anteil an hatten. Lemkins »Genozid«-Begriff hatte es gar nur als Unterpunkt sondern auch Vertreter sämtlicher Funktionseliten, insbesondere been guilty of war crimes.« Und Hydes Kollege Quincy Wright hielt zentralen Klauseln der Charta haben. Lauterpacht war es wohl auch, in die Anklageschrift geschafft und fi rmierte, kontraintuitiv, nicht aus Militär, Verwaltung und Wirtschaft, erforderlich gewesen. In- 1945, kurz bevor er als Rechtsberater zum IMT reisen sollte, fest, der vorschlug, die in den Londoner Beratungen meist nur als atro- unter Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sondern als eines der dividuen wie auch kriminelle Organisationen, die in einem eigenen eine Strafverfolgung eröffne die Chance, den abgerissenen Versailler cities – Gräueltaten – apostrophierten Verbrechen gegen Zivilisten Beispiele für Kriegsverbrechen.21 Teil der Anklageschrift aufgeführt wurden, ließen sich im Netz der Faden wieder aufzunehmen und die weithin als Farce wahrgenom- als crimes against humanity, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Die zufällig anmutende Trennung zusammengehöriger Tatbe- Verschwörer verorten.23 menen Leipziger Prozesse vergessen zu machen.16 zu bezeichnen.19 Lauterpacht, der zahlreiche Familienangehörige stände wurde erst durch die Prominenz des ersten Anklagepunktes, Nicht alle Beteiligten waren von diesen Ideen überzeugt, und Nachdem im Frühsommer 1945 auch die lange nur mäßig in- durch die deutsche Vernichtungspolitik verloren hatte, stand dabei der Verschwörung, und seiner engen Verknüpfung mit dem Vorwurf insbesondere die französischen Vertreter zeigten sich irritiert von teressierten Briten, denen das Leipziger Desaster noch allzu ein- insbesondere der Mord an den europäischen Juden vor Augen. Für des Angriffskrieges unter Punkt 2 verständlich. Die Entscheidung, der Nonchalance, mit der ihre amerikanischen Kollegen über den drücklich vor Augen stand, überzeugt werden konnten, kamen die diesen begann sich in Nürnberg zudem eine alternative Katego- Verbrechen gegen den Frieden strafrechtlich zu verfolgen, zog Mangel an positivrechtlichen Grundlagen hinweggingen, um An- durch Frankreichs Aufnahme in den Kreis der Siegermächte nun rie zu etablieren. Raphael Lemkin, auch er ein emigrierter Jurist ganz in Quincy Wrights Sinne eine historische Linie nach Ver- griffskrieg, Organisationskriminalität und Verschwörung justiziabel vier Delegationen in London zusammen, um die juristischen und polnisch-jüdischer Herkunft, hatte bereits ein Jahr vor Kriegsende sailles und bot überdies eine gemeinsame Basis für die amerika- zu machen. Tatsächlich ließ sich eine ganze Reihe von Einsprüchen organisatorischen Bedingungen für ein internationales Strafver- mit genocide – eine griechisch-lateinische Übertragung von »Völ- nischen und sowjetischen Delegationen. Letzterer gehörte auch gegen die Dominanz des konspirativen Narrativs erheben, unter fahren auszuarbeiten. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits erste kermord« – einen Begriff kreiert, der zwar breiter anwendbar war Aron N. Trainin an, der führende zeitgenössische Völkerrechtler denen der Umstand, dass die Londoner Charta diesen Punkt gar (nicht zufällig hatte Lemkin sich vor dem Krieg mit dem Genozid der UdSSR, der noch während des Krieges die Strafverfolgung des nicht vorsah, lediglich der offensichtlichste war. Die französische Kritik lag eben auch darin begründet, dass das Konzept außerhalb der angloamerikanischen Rechtstradition kaum verbreitet war und 14 Gerd Hankel, Die Leipziger Prozesse. Deutsche Kriegsverbrechen und ihre straf- vor US-Gerichten in erster Linie in Kartellverfahren zur Anwendung rechtliche Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg, Hamburg 2003. 17 Sellars, Crimes, S. 85–87. 20 A. Dirk Moses, »Raphael Lemkin, Culture, and the Concept of Genocide«, in: 15 Kim Christian Priemel, The Betrayal. The Nuremberg Trials and German Diver- 18 Vgl. Andrea Gattini, »Kelsen’s Contribution to International Criminal Law«, in: The Oxford Handbook of Genocide Studies, Oxford 2010, S. 19–41. gencem, Oxford 2016, S. 60–71. Journal of International Criminal Justice (JICJ), Vol. 2 (2004), S. 795–809. 21 Trial of the Major War Criminals Before the International Military Tribunal, 16 Zit. nach ebd., S. 60; Quincy Wright, »War Criminals«, in: American Journal of 19 Martti Koskenniemi, »Hersch Lauterpacht and the Development of International Nuremberg 14 Nov. 1945–1. Oct. 1946, 42 Bde, Nürnberg 1947–49, hier Bd. 1, 22 Sellars, Crimes, S. 50–58; Priemel, Betrayal, S. 63, 74–80, 101–03. International Law 39 (1945), S. 257–85. Criminal Law«, in: ebd., S. 804–25. S. 29–68. 23 Sellars, Crimes, S. 64–75; Priemel, Betrayal, S. 69, 74, 111.

16 Einsicht Einsicht 16 Herbst 2016 17 gelangte, deren Vergleichbarkeit mit Kriegsverbrecherprozessen Europas, mit Abstrichen (die auf den weitgehenden Ausschluss einzelner Mitglieder individuelle Verfahren forderte. Gerade die am- für Verfahren in den übrigen Besatzungszonen diente, baute dabei wenigstens nicht unmittelbar auf der Hand lag.24 Mittelfristig sollten der vor 1939 begangenen Verbrechen zurückgingen) auch jener bitioniertesten Anliegen der Anklage wurden am Ende am stärksten erkennbar auf Londoner Charta sowie IMT-Statut und -Urteil auf, sich zudem unerwünschte Nebenwirkungen des Verschwörungsan- Deutschlands. Frequenz und Vehemenz, mit denen der Holocaust aufgrund rechtsstaatlicher Verfahrens- und Beweisanforderungen indem es erneut Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen, satzes bemerkbar machen. Zum einen bot er Lesarten ein Einfalls- zur Sprache kam, und die aufsteigende Lernkurve, die sich von beschnitten, zu einem nicht unwesentlichen Teil auch dank des un- Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verschwörung als zentra- tor, in denen die ohnehin virulente Banden- und Gangstermetapho- den in dieser Hinsicht bemerkenswert ignoranten Eröffnungsreden auffälligen, aber persistenten französischen Argumentierens hinter le Anklagepunkte vorgab sowie fünftens die Mitgliedschaft in einer rik fast ausschließlich auf die unmittelbare Regimespitze abzielte der alliierten Ankläger zu den weitaus engagierteren Schlussplä- den Kulissen.29 vom IMT als kriminelle Vereinigung verurteilten Organisation hin- und strukturelle Deutungen der nationalsozialistischen Herrschaft doyers zog, dokumentierten diesen herausragenden Stellenwert. In den zwölf amerikanischen NMT-Prozessen, die unter Telford zufügte. Gleichwohl zeigten sich bei näherer Betrachtung wichtige konterkarierte; zum anderen bereitete er einem intentionalistischen Jacksons britischer Kollege Hartley Shawcross konstatierte, allein Taylors Leitung zwischen 1946 und 1949 auf das Vier-Mächte- Unterschiede. Insbesondere wurde der Nexus zwischen Krieg und Verständnis des Holocausts den Boden, dem zufolge die Ermordung die Ermordung der europäischen Juden hätte genügt, um die IMT- Tribunal folgten, setzte sich dieser Trend zu einer »jurisprudence Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufgehoben, so dass die Ju- der europäischen Juden von Hitler geplant und dann mit Hilfe eines Angeklagten zu verurteilen, während die französischen Ankläger – of atrocity« fort.30 Das Kontrollratsgesetz Nr. 10 vom 20. Dezem- risdiktion der Tribunale nun auch Vorkriegsvergehen – von »Arisie- kleinen Kreises von Mitverschwörern, insbesondere aus dem SS- Lemkins Überlegungen refl ektierend – im Holocaust das genozidale ber 1945, das als Rechtsgrundlage für die Nürnberger, aber auch rungen« jüdischen Eigentums bis zu Konzentrationslagerverbrechen Apparat, umgesetzt worden war.25 Passepartout erkannten.28 – erfasste. Ferner wurden einzelne Tatbestände explizit benannt, die Zu Recht ist daher die Entscheidung, die Verschwörungstheorie Im Urteil, zu dem die IMT-Richter im Oktober 1946 gelangten, zuvor nicht aufgeführt worden waren, darunter Vergewaltigung. In zum analytischen und narrativen Rückgrat des IMT-Verfahrens zu spiegelten sich die Verschiebungen der Prioritäten erkennbar wider. 29 Vgl. Bradley F. Smith, Reaching Judgement at Nuremberg, London 1977, und der Praxis aber sollten diese Neuerungen kaum zum Tragen kom- machen, als fatale Fehlentscheidung kritisiert worden, mit der die Zwar hielt die Urteilsbegründung, ganz in Einklang mit der Ankla- Antonin Tisseron, La France et le procès de Nuremberg. Inventer le droit inter- men. In keinem Fall wurde wegen sexueller Gewalt ermittelt, da die Komplexität des NS-Staats und seiner Verbrechen der »tyranny of a geschrift, fest, dass der Angriffskrieg das kardinale Verbrechen des national, Paris 2014. 183 angeklagten Männer (sowie zwei Frauen) ganz überwiegend construct« unterworfen worden sei.26 Insbesondere in der Auswahl NS-Regimes konstituiert habe, und verurteilte jene Angeklagten, 30 Lawrence Douglas, »From IMT to NMT. The Emergence of a Jurisprudence of so hohe Ränge und Funktionen bekleidet hatten, dass ihnen un- Atrocity«, in Kim C. Priemel, Alexa Stiller (Hrsg.), Reassessing the Nuremberg der Angeklagten, die in erster Linie aus der überlebenden Elite deren Mitschuld an der Vorbereitung und Planung des Krieges das Military Tribunals. Transitional Justice, Trial Narratives, and Historiography, mittelbare Gewalttaten kaum zur Last gelegt werden konnten. Vor des »Dritten Reichs« rekrutiert wurden, sollte dies zum Ausdruck Tribunal für erwiesen ansah, zu hohen Haftstrafen oder zum To- New York 2012, S. 276–95. allem aber waren es die Richter, die das Potenzial, juristisch über kommen; eine durchdachte, systematische Zusammensetzung der de. Zugleich aber legten die Richter den Verschwörungsvorwurf Anklagebank fand – auch weil prozessuale Fragen die interalliierten ironischerweise so aus, dass er die rechtliche Verantwortung nicht Verhandlungen dominierten – kaum statt. Zudem half der Fokus ausweitete, sondern stattdessen limitierte: Nur ein enger Kreis aus auf die Verschwörung, dem Anliegen vor allem (aber nicht nur) Hitlers Gefolgsleuten, so das Gericht, habe von den Angriffskriegs- der sowjetischen Seite nachzukommen und das Scheinwerferlicht plänen gewusst und daran mitgewirkt. Eine breite Verschwörung allein auf deutsche Vergehen zu richten; die Charta verband überdies schlossen die Richter bereits per defi nitionem aus und sprachen die Defi nition der Verbrechenskomplexe mit der Jurisdiktion des daher eine ganze Reihe von Angeklagten unter diesem Punkt frei. Tribunals, so dass weder die britischen Invasionspläne in Norwegen Im Unterschied dazu sollte die Implikation in den Holocaust – und

noch das sowjetische Massaker von Katyn oder der amerikanische daneben in andere atrocities wie die sogenannten verbrecherischen Historische Grundlagen der Moderne l 13 Politische Anwälte? Rheinische Schriften zur Rechtsgeschichte Die Staatsanwaltschaft als 27 Die Verteidiger der Nürnberger Prozesse Thomas Bichat rechts- und kriminalpolitische Atomwaffeneinsatz in Japan verfahrensrelevant werden konnten. Befehle im Krieg gegen die Sowjetunion – zur zentralen Maßgabe Die Staatsanwaltschaft als rechts- und kriminalpolitische Steuerungsinstanz im NS-Regime Doch mit Blick auf den Holocaust sollte die Bilanz des IMT, aller für Schuldspruch und Urteilshöhe werden: Je tiefer die Angeklagten Von Dr. Hubert Seliger Steuerungsinstanz im NS-Regime Hubert Seliger Dargestellt am Beispiel des Kölner Sondergerichts von 1933–1945 Dargestellt am Beispiel des Kölner Dominanz von Angriffskrieg und Verschwörung zum Trotz, besser in die nationalsozialistische Vernichtungspolitik involviert waren, Politische Anwälte? 2016, 621 S., geb., 128,– € ausfallen als oft unterstellt. Dass die Ermordung der europäischen desto höher war die Wahrscheinlichkeit eines Todesurteils. Das Die Verteidiger der Nürnberger Prozesse ISBN 978-3-8487-2360-7 Sondergerichts von 1933-1945 Juden selbst im furchtbaren Panorama der nationalsozialistischen Erfordernis, Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit dem Krie- nomos-shop.de/24959 Von Dr. Thomas Bichat Schrecken einen singulären Status einnahm und das im Wortsinne ge zu verbinden, führte jedoch dazu, dass das Gros der vor 1939 2016, 423 S., brosch., 109,– € ISBN 978-3-8487-2047-7 defi nitive Verbrechen des »Dritten Reichs« markierte, wurde im begangenen Verbrechen gegen deutsche Staatsangehörige unge- Nomos Nomos Prozessverlauf rasch klar. Kein anderer Vorwurf fi gurierte ebenso sühnt blieb. Allerdings waren die Richter dort, wo keine anderen Historische Demokratieforschung nomos-shop.de/24408 prominent und mit solcher Regelmäßigkeit vor Gericht wie die Ver- Anklagepunkte zum Tragen kamen – insbesondere im Fall von Die Studie untersucht aus der Perspektive des Zeithistorikers auf Mit diesem Werk wird erstmalig die praktische Rolle der Staats- folgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerungen des besetzten Stürmer-Herausgeber Julius Streicher – bereit, diese Bedingung breiter Quellenbasis die Biographien der Strafverteidiger der anwaltschaft als Steuerungsinstanz in der NS-Diktatur analysiert. großzügig auszulegen: Streicher wurde zum Tode verurteilt, ob- Nürnberger Prozesse und ihre Rolle als „politische Anwälte“ (Otto Am Beispiel ihrer Tätigkeit am Kölner Sondergericht wird doku- wohl er während des Krieges keine Rolle gespielt hatte und der Kirchheimer) in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um mentiert, welchen Beitrag die Anklagebehörden zur justizförmigen Konnex zwischen seinen Hetzschriften und dem Massenmord kaum die Aufarbeitung der Untaten des NS-Regimes. Unterstützung des NS-Staates geleistet haben. 24 Ebd., S. 79. Sellars, Crimes, S. 106, argumentiert aber, die französische Kritik sei zweifelsfrei zu führen war. Mit Blick auf die Organisationsklagen weniger prononciert ausgefallen als oft angenommen, da man funktionale Äqui- hingegen urteilte das Tribunal erneut restriktiv, indem es nur in drei valente zur Verschwörungsfi gur gefunden habe. Nomos 25 Weinke, Gewalt, S. 129 f., 142 f.; Alexa Stiller, »Die Nürnberger Prozesse und von sechs Gruppen (SS, , NSDAP-Führerkorps) überhaupt eLibrary Unser Wissenschaftsprogramm ist auch online verfügbar unter: www.nomos-elibrary.de der Holocaust. Frühe Interpretationen zur Verfolgung und Vernichtung der euro- kriminelle Vereinigungen erkannte und zudem für die Verurteilung päischen Juden«, in: Einsicht. Bulletin des Fritz Bauer Instituts, H. 14 (2015), Bestellen Sie jetzt telefonisch unter 07221/2104-37. S. 16–23. Portofreie Buch-Bestellungen unter www.nomos-shop.de 26 Donald Bloxham, Genocide on Trial. War Criminals and the Formation of Holo- Alle Preise inkl. Mehrwertsteuer caust, History and Memory, Oxford 2001, S. 69. 28 Trial, Bd. 19, S. 494–500, 531, 563 f., 570; Bd. 22, S. 312. Vgl. Stiller, »Nürn- 27 Priemel, Betrayal, S. 77 f., 80–84. berger Prozesse«.

18 Einsicht Einsicht 16 Herbst 2016 19 das Pionierverfahren hinauszugehen, dezidiert ungenutzt ließen. einen verbindlichen völkerstrafrechtlichen Katalog auszuarbeiten, Kraft, den USA, aber auch unter Nichtbeteiligung der Russischen Rechtssphären zwischen zivilisierter und unzivilisierter Welt, wie Ausschließlich aus Juristen der einzelnen Bundesstaaten rekrutiert, scheiterten. Mehr Erfolg war unterdessen Raphael Lemkins uner- Föderation sowie zahlreicher anderer Staaten.34 sie im völkerrechtlichen Diskurs des 19. Jahrhunderts dominierte, ohne jede völkerrechtliche Erfahrung und mehrheitlich aus älteren müdlicher Lobbyarbeit beschieden, den Genozidbegriff völkerrecht- Die Jurisdiktion des ICC folgt in Nürnberg eingeschlagenen nicht so fern ist, wie es der Eigenanspruch des Gerichtshofs und Jahrgängen zusammengesetzt, tendierten die NMT-Richter zu vor- lich zu verankern. Die 1948 verabschiedete Genozidkonvention Wegen, illustriert aber auch, welche Vorgaben verworfen wurden.35 die Verlautbarungspolitik seiner Unterstützer nahelegen. Mit dem sichtigen Auslegungen ihrer Rechtsgrundlagen, orientierten sich wo beschnitt zwar die Reichweite von Lemkins Konzept spürbar – vor Die dogmatische Trennung zwischen Genozid und Verbrechen ge- Nichtbeitritt zahlreicher Staaten des »Globalen Nordens«, vor allem immer möglich am Urteilsspruch des IMT und verließen vertrautes allem mit Blick darauf, keinen Minderheitenschutz jenen Ausmaßes gen die Menschlichkeit (unter denen auch sexuelle Gewalt sehr viel aber mit der fast ausschließlichen Strafverfolgung afrikanischer Terrain nur dort, wo es unumgänglich schien. In einem einzigen zu statuieren, das der Völkerbund der Zwischenkriegszeit gewährt, prominenter fi rmiert) ist ein Beispiel, der Umstand, dass weder die Angeklagter mehren sich Stimmen, welche die Anwendung von Verfahren – dem sogenannten Juristenprozess 1947 – wurden vor aber effektiv nicht garantiert hatte –, stellte aber gleichwohl eine unter dem Strich wenig erfolgreiche Verschwörung noch die mit zweierlei Recht kritisieren. Das Déjà-vu zur binären Unterscheidung 1939 begangene Taten tatsächlich berücksichtigt, in allen anderen erhebliche Innovation dar.32 Damit war indes der Höhepunkt der Blick auf individuellen Schuldnachweis problematische Organisati- von zivilisiert und unzivilisiert ist dabei kaum vermeidbar und ver- Fällen hielten die Richter am Nexuserfordernis der Londoner Charta Nürnberger Nachwirkungen bereits überschritten. Im Klima des onskriminalität eine Rolle spielen, ein anderes. Zugleich aber legt die weist auf ein Defi zit, das der ICC beheben muss, will er dauerhafte fest, das für sie gar nicht galt; »Arisierungen« waren unter dieser Kalten Krieges scheiterten nicht nur alle Versuche, die Kooperation Rechtsprechungspraxis des ICC nahe, dass die Vorstellung getrennter Legitimität beanspruchen.36 Prämisse nicht justiziabel, ein Umstand, der den angeklagten Un- der Kriegsalliierten fortzusetzen, auch »Nürnberg« selbst wurde ternehmern zupasskommen sollte. Darüber hinaus scheiterten na- zunehmend unpopulär. Die rasche Abwicklung des Prozesspro- hezu sämtliche Anklagen wegen Angriffskrieg und Verschwörung; grammes und die spätere vorzeitige Haftentlassung der Verurteil- 34 Vgl. Ronen Steinke, The Politics of International Criminal Justice. German Per- lediglich fünf Angeklagte sollten am Ende wegen Verbrechen gegen ten brachten zum Ausdruck, für wie unzeitgemäß nicht wenige im spectives from Nuremberg to The Hague, Oxford 2012. den Frieden schuldig befunden werden, und in keinem Fall wurde Westen die Bestrafung von NS-Verbrechern hielten, wenn auf der 35 Dazu vor allem Kevin Jon Heller, The Nuremberg Military Tribunals and the Ori- 36 Wolfgang Kaleck, Mit zweierlei Maß. Der Westen und das Völkerstrafrecht, Ber- der Verschwörungsvorwurf als eigenständige Kategorie bemüht. anderen Seite des Eisernen Vorhanges tatsächlich oder vermeintlich gins of International Criminal Law, Oxford 2011, S. 374–88. lin 2012. Stattdessen legten die NMT-Richter ihr Augenmerk auf Kriegsver- ähnliche Bedrohungen lauerten.33 brechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Gemeinsam mit Insofern war es auch kein Zufall, dass weitere Schritte »nach der Mitgliedschaft in kriminellen Vereinigungen konnten sämtliche Den Haag« erst mit der Neukonfi guration der globalen Konfl iktlinien 142 Schuldsprüche auf diese zwei Punkte zurückgeführt werden, am Ende von Dekolonisierung und Kaltem Krieges unternommen und wiederum war es die Nähe zum Holocaust, die zu besonders wurden. Ebenso wenig war es zufällig, dass die vom UN-Sicher- hohen Strafmaßen führte. heitsrat installierten Tribunale für Ex-Jugoslawien und Ruanda keine ständigen, ordentlichen Gerichtshöfe, sondern Ad-hoc-Instanzen darstellten, deren Jurisdiktion sorgfältig vermied, auf das verminte Nach Nürnberg Gelände der Verbrechen gegen den Frieden vorzustoßen. Hingegen nahmen sie die Nürnberger Fäden dort auf, wo es sich um Kriegs- Über Geschichte, Gerechtigkeit und Wahrheit www.wallstein-verlag.de Eine ganz ähnliche Entwicklung ließ sich in den übrigen alliierten verbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelte, und Strafverfahren nach 1945 erkennen. Nur im International Milita- gingen mit dem eigenständigen Anklagepunkt des Genozids noch ry Tribunal for the Far East (IMTFE), dem Tokioer Hauptprozess über die Vorgänger der 1940er Jahre hinaus. Dass die Diskussion Rechte Gewalt in Deutschland Recht auf Wahrheit Annette Weinke Zum Umgang mit dem Rechts- Zur Genese eines neuen Gewalt, Geschichte, Gerechtigkeit 1946–48, spielten Verschwörung und Angriffskrieg zentrale Rollen. über ICTY und ICTR ein Momentum entwickelte, das half, dem extremismus in Gesellschaft, Menschenrechts Transnationale Debatten über Die übrigen, meist vor Militärgerichten angestrengten Verfahren – Rom-Statut den Weg zu bereiten, war durchaus nicht beabsichtigt Politik und Justiz Hg. von José Brunner deutsche Staatsverbrechen im ob die sogenannten Dachauer Prozesse in der US-Besatzungszone, gewesen und refl ektierte – dies hat Ronen Steinke überzeugend ge- Hg. von Sybille Steinbacher und Daniel Stahl 20. Jahrhundert die französischen Verfahren in Rastatt oder die britischen Fälle in zeigt – auch veränderte machtpolitische Erwägungen. Als Vertreter DacD hauer ScS hriftenreihe Beiträge zur Geschichte Hamburg und Lüneburg, aber auch die amerikanischen Ermittlungen völkerstrafrechtlicher Kodifi zierung und Institutionalisierung waren Symposien zur MeM nschenrechte im desd 20. Jahrhunderts Zeitgeschichte, 202 . Jahrhundert, (Hg. von Norbert Frei), in Ostasien –, konzentrierten sich auf Kriegsverbrechen, die unter kleinere und mittlere Mächte – und ironischerweise insbesondere die Bd. 16 Bd. 1 Bd. 19

Rekurs auf die Haager und Genfer Regelwerke sowie nationales Bundesrepublik Deutschland – in der Lage, erheblichen außenpo- ca. 260 S., 2082 S., 372 S., geb., Kriegsrecht bewertbar waren.31 litischen Einfl uss auszuüben. Dies spiegelte sich nicht zuletzt darin ca. 3 Abb., brosch.; KlK appenbroschur Schutzumschlag 20,– € (D); 20,60 € (A) 22,90 € (D); 23,60 € (A) 34,90 € (D); 35,90 € (A) Versuche, im Zuge des internationalen Institutionenaufbaus wider, dass die Zuständigkeit des International Criminal Court (ICC) – Vereinte Nationen, Weltbank etc. – auch einen permanenten neben Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ISBN 978-3-8353-1952-3 ISBN 978-3-8353-1817-5 ISBN 978-3-8353-1766-6 Strafgerichtshof zu errichten, scheiterten jedoch. Zwar wurden die Genozid auch Verbrechen gegen den Frieden beinhaltet – gegen »Nürnberger Prinzipien«, das heißt die Befunde des IMT, durch die den ausdrücklichen Widerstand der einst treibenden Nürnberger Die Entwicklung des Rechts- »Ein lesenswerter Band, Eine transnationale Diskurs- UN-Vollversammlung feierlich bestätigt, doch die Bemühungen, extremismus von den der die aktuelle Debatte geschichte des völkerstraf- Oktoberfestanschlägen bis um ein Recht auf Wahrheit rechtlichen Umgangs mit zu »Pegida«. angemessen bündelt und staatlich organisierter Gewalt 32 Dazu Lewis, Birth, S. 181–228, und Jost Dülffer, »The United Nations and the differenziert ausleuchtet« im 20. Jahrhundert. 31 Vgl. im Überblick Norbert Frei (Hrsg.), Transnationale Vergangenheitspolitik. Origins of the Genocide Convention 1946–1948«, in: Christoph Safferling, Eck- Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern in Europa nach dem Zweiten art Conze (Hrsg.), The Genocide Convention Sixty Years after its Adoption, Den Axel Bernd Kunze, www.socialnet.de Weltkrieg, Göttingen 2006. Spezifi sch zum IMTFE siehe Neil Boister, Robert Haag 2010, S. 55–68. Cryer, The Tokyo International Military Tribunal. A Reappraisal, Oxford 2008. 33 Vgl. die Beiträge in Frei (Hrsg.), Transnationale Vergangenheitspolitik.

20 Einsicht Einsicht 16 Herbst 2016 21 schiedliche Herleitungsstränge und Bewertungen von Völkermorden Passage des deutschen Textes sucht man die Vokabel »Völkermord« gehen – sie ergeben sich zum Teil aus dem juridischen Background vergeblich. Der im Englischen gebräuchliche Begriff »Genocide« und anklagestrategischen Platzierungen6 einzelner Einlassungen –, wird als »systematischer Massenmord« übersetzt.12 Weshalb der sondern um deren generelle Verortung im Prozess. später im Protokoll durchaus gebrauchte Terminus »Völkermord« In einem ersten Zugriff wäre zu fragen, ob und in welchem Zu- umschrieben wurde, erschließt sich nicht. Die deutsche Fassung Zur Rolle von Völkermord(en) im sammenhang Genozid (oder Synonyme hierfür) in der Dokumentation erweist sich als wenig konsistent. In den ersten 22 IMT-Bänden wird zum IMT (sog. Blaue Reihe7) zu fi nden ist. Im Index in Band 23/24 im englischen Original 23-mal »Genocide« wörtlich verwendet. In Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess fi ndet sich in der deutschen Ausgabe kein Verweis auf Genozid oder der deutschen Fassung hingegen variiert der Terminus: Ausrottung Völkermord. Das Gros einschlägiger Fundstellen ist unter Judenver- (1),13 Genozidium (9),14 systematischer Massenmord (1),15 Rassen- Eine kritische Analyse folgung subsumiert,8 beziehungsweise es fi nden sich die Untereinträge ausrottung (2),16 Völkermord (8)17 sowie Völkervernichtung (1).18 Ausrottung, Judenverfolgung oder Germanisierung in einer ganzen Dass Anklagepunkt 3 deutsche und staatenlose Opfer nicht Reihe von Verweisen. Der Personenindex enthält unter den Einträ- berücksichtigt, ergibt sich aus seinem Fokus: Kriegsverbrechen, die von Wolfgang Form und Axel Fischer gen zu den Angeklagten Fundstellen zu Deportation, Endlösung der nicht an der Bevölkerung des Aggressors begangen werden können. Judenfrage, Judenverfolgung sowie Vernichtung durch Arbeit.9 Unter Crimes against Humanity (Anklagepunkt 4) waren dagegen Die englische Fassung listet Genocid10 mit einer Reihe von Spe- Verbrechen gegen deutsche Juden angeklagt: »[…] in execution of Quantitative Annäherung zifi zierungen auf: biological destruction of the Jews, germanization and in connection with the common plan mentioned in Count One, program, gypsies, judgment, Poland, slaves oder sterilization policy. opponents of the German Government were exterminated and perse- »Da der Massenmord an den Juden für die Darüber hinaus fi ndet sich der Terminus als Unterpunkt bei Atrocities, cuted. These persecutions were directed against Jews. […] Jews were Prozesse in Nürnberg keine herausgehobene Martin Bormann, Concentrations Camps, Count IV, Crimes Aganist systematically persecuted since 1933; they were deprived of their Dr. phil. Wolfgang Form studierte Po- Bedeutung hatte […]«. Dieser Nebensatz in der Rezension zu Annette Humanity, Czechoslovakia (Protectorat), , Adolf Hit- liberty, thrown into concentration camps where they were murdered litikwissenschaft, Soziologie, Geschichte Weinkes neuestem Buch1 von Anselm Doering-Manteuffel2 ist stell- ler, Prosecution of Jews, Judgement, Constantin von Neurath, NSDAP, and ill-treated. Their property was confi scated. Hundreds of thousands und öffentliches Recht; Mitbegründer vertretend für die Sichtweise, dass der Holocaust in Nürnberg eine Occupied Territories, Poland, Günther Reinecke, Alfred Rosenberg, of Jews were so treated before 1 September 1939. Since 1 September des Internationalen Forschungs- und nicht angemessene juristische Beachtung gefunden habe. Wenngleich SD, USSR und War Crimes. Bereits dieser erste quantitative Zugriff 1939, the persecution of the Jews was redoubled: millions of Jews Dokumentationszentrums Kriegsver- der Plural »Prozesse« verwandt wurde, ist wohl vor allem das Nürn- weist auf die Relevanz genozidaler Verbrechen für das IMT hin. from and from the occupied Western Countries were sent brecherprozesse an der Philipps-Uni- berger Internationale Militärtribunal (IMT) gemeint.3 Auf Grundlage Eine Synopse der Fundstellen erweitert diesen Befund. In der to the Eastern Countries for extermination.«19 versität Marburg und seit 2003 dort seines Statuts und des Urteils vom Oktober 1946 verabschiedeten englischen Ausgabe der Anklage wird Genozid zum ersten Mal Verweise auf genozidale Akte vor allem an Juden, aber auch an Geschäftsführer. Lehrbeauftragter an die Vereinten Nationen (VN) am 11. Dezember 1946 die Resolution unter Anklagepunkt 3 (Kriegsverbrechen) erwähnt. Die Ankläger Polen, Sinti und Roma, Tschechen und Sowjets ziehen sich als roter der Universität Marburg sowie den über die Strafbarkeit von Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsver- präsentieren zugleich eine Begriffsbestimmung.11 In der gleichen Faden durch die Anklage: auf 11 von 41 Seiten.20 Im Urteil fi ndet sich Hochschulen Kiel und Wolfenbüttel. brechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.4 Zu fragen ist, das Wort Völkermord (oder ein Synonym) nicht, jedoch laborieren die Veröffentlichungen (Auswahl): (gem. inwieweit eine Unterrepräsentation des Völkermords an den Juden Richter mit Termini wie »Auslöschung«, »Ausrottung« oder »fi nal mit Kerstin von Lingen und Krzysztof tatsächlich charakteristisch für die Vorbereitung und Durchführung Solution of the Jewish problem«21, zudem wird der Verfolgung von Alexa Stiller, »Die Nürnberger Prozesse und der Holocaust. Frühe Interpretatio- 22 Ruchniewicz als Hrsg.): Narrative im des IMT war oder ob ein solcher Befund nicht eher ein Ergebnis nen zur Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden«, in: Einsicht 14. Juden ein ganzes Unterkapitel gewidmet. Dialog – Deutsch-polnische Erinne- retrospektiver Interpretation ist.5 Im Weiteren soll es nicht um unter- Bulletin des Fritz Bauer Instituts, 2015, S. 15. rungsdiskurse. Dresden 2013; (gem. 6 Die von Stiller als konträr bezeichneten Erklärungsansätze (Stiller, Anm. 5, S. 20) mit Theo Schiller und Lothar Seitz als lösen sich zumindest zum Teil vor dem Hintergrund des opferbezogenen Kon- texts im Prozess auf. Da gegen Deutsche kein Kriegsverbrechen begangen wer- 12 Ebd., dt. S. 47. Der anschließende, defi nitorische Textteil folgt dem englischen Hrsg.): NS-Justiz in Hessen. Verfolgung 1 Annette Weinke, Gewalt, Geschichte, Gerechtigkeit. Transnationale Debatten den konnte, gelang die Einbeziehung dieser Opfergruppe nur mit der Anwendung Original fast wortwörtlich. »[…] d.h. sie rotteten Gruppen einer bestimmten Ras- – Kontinuitäten – Erbe, Marburg 2015. über deutsche Staatsverbrechen im 20. Jahrhundert, Göttingen 2016. von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. se oder Nationalität unter der Zivilbevölkerung gewisser besetzter Gebiete aus, 2 Rezension vom 28.7.2016, http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbue- 7 Trial of the Major War Criminals before The International Military Tribunal um bestimmte Rassen, Volksklassen und nationale, rassische oder religiöse Grup- Axel Fischer, Studium der Neueren cher-22790 [28.7.2016]. (engl. Ausgabe); Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Interna- pen, insbesondere Juden, Polen, Zigeuner usw. zu vernichten.« 3 Weinke verweist in diesem Zusammenhang auf das IMT. Nach ihrer Einschät- tionalen Militärgerichtshof Nürnberg 14. November 1945–1. Oktober 1946 (dt. 13 IMT, Bd. 19, engl. S. 570, dt. S. 639. Deutschen Literatur, der Medien sowie zung hatten die Alliierten »zumindest am Rand auch den Vorwurf des Genozids Ausgabe), Bd. 1–42, Nürnberg 1947 f. (weiterhin IMT, Bd. Bandnummer). Es 14 IMT, Bd. 18, engl. S. 112, dt. S. 127; Bd. 19, engl. S. 531, 550 f., 562 u. 564, dt. der Völkerkunde in Marburg. Zurzeit miteingeschlossen […]. Obwohl das IMT, Bd. Urteil zu Lemkins Leidwesen über wird jeweils auf die englische oder deutsche Ausgabe verwiesen, da die Seitenan- S. 596, 617, 619, 630 u. 632; Bd. 22, engl. S. 300 u. 382, dt. S. 342 u. 435. befasst mit dem Abschluss einer Dis- diesen Punkt hinweggegangen war […].« Weinke (siehe Anm. 1), S. 163. Leider gaben der beiden Fassungen deutlich voneinander abweichen. Zudem ist ein Ver- 15 Ebd., engl. S. 43, dt. S. 47. sertation zum Filmprojekt der US-Be- gibt Weinke keine Referenz zur Aussage von Lemkin an. Zu Lemkin und dem gleich der voneinander abweichenden Sprachanwendung in den Ausgaben einfa- 16 IMT, Bd. 19, engl. S. 494 u. 515, dt. S. 553 u. 576. IMT siehe John Barrett, »Raphael Lemkin and ›Genocide‹ at Nuremberg 1945– cher nachzuvollziehen. Die französische und russische Ausgabe wurden nicht 17 IMT, Bd. 2, engl. S. 43 f., dt. S. 47; Bd. 2, engl. S. 60, dt. S. 60; Bd. 19 engl. hörden. Mitglied und Mitarbeiter am 1946«, in: Christoph Safferling, Eckart Conze (Hrsg.), The Genocide Convention berücksichtigt. S. 497 f. u. 509, dt. S. 556 f. u. 570; Bd. 22, engl. S. 225, 321 u. 382, dt. S. 256, Forschungs- und Dokumentationszen- Sixty Years after its Adoption, Den Haag 2010, S. 35 ff. 8 IMT, Bd. 23/24, dt. S. 53 ff., mit weiteren Verweisen zu einzelnen Ländern und 367 u. 435. trum Kriegsverbrecherprozesse an der 4 Resolution 95 (1) vom 11.12.1946: Affi rmation of the Principles of International zum Komplex Konzentrationslager. 18 IMT, Bd. 22, engl. S. 226, dt. S. 257. Universität Marburg. Law recognized by the Charter of the Nürnberg Tribunal. Siehe: http://legal.un. 9 Als Beispiel Martin Bormann: IMT, Bd. 23/24, dt. S. 190 ff. oder Heinrich 19 Ebd., engl. S. 66 f., dt. S. 71 f. org/avl/ha/ga_95-I/ga_95-I.html [28.7.2016]. Himmler, ebd., dt. S. 263. 20 IMT, Bd. 1, engl. S. 29, 31, 33 f., 40, 43 ff., 47, 19 u. 50. 5 Siehe u.a. Donald Bloxham, Genocide on Trial. War Criminals and the Forma- 10 IMT, Bd. 23/24, engl. S. 312. 21 Z.B. ebd., engl. S. 235, dt. S. 263. tion of Holocaust, History and Memory, Oxford 2001, hier insbes. S. 224 ff.; 11 IMT, Bd. 1, engl. S. 43. 22 Ebd., engl. S. 247–255, dt. S. 277–283.

22 Einsicht Einsicht 16 Herbst 2016 23 Konzeptionierung von Völkermord auf dem Weg zum IMT time of war – the wholesale schematic murder of the Jews of Europe goes on unabated every hour.«29 Unter dem Eindruck der internationalen sowie nationalen Bemühungen Diskussionen um die begriffl iche Breite von Völkermord ziel- um die Ahndung von Kriegsverbrechen nach dem Ersten Weltkrieg ten sogar auf Germanisierungsbestrebungen (Denationalisation30) formierten sich im Zweiten Weltkrieg – vor allem von ins Londoner Deutschlands in den okkupierten Territorien.31 Solche Verbrechen Exil gefl üchteten Regierungen der von Deutschland besetzten Länder – wurden bereits 1919 als »denationalise the inhabitants of occupied ab 1941 Politiken zum Umgang mit Verstößen gegen das Völkerrecht. territory« unter dem Label »War Crimes« gelistet.32 Darunter fi e- Im Januar 1942 artikulierten die Exilregierungen, mit Unterstützung len Handlungen wie: Verschleppung von Kindern oder Ermordung des Vereinigten Königreichs, der USA und der UdSSR, als Konsens (Auslöschung) von Eliten.33 Im IMT-Urteil gegen Martin Bormann des Treffens von St. James den Willen zu strafrechtlichen Maßnah- wird auf diesen Sachverhalt explizit Bezug genommen.34 Somit neh- men. Im nächsten Schritt wurden Ahndungsstrategien erarbeitet und men die Vorüberlegungen zum IMT bereits Elemente der späteren strafrechtsdogmatische Fragen gelöst. Zunächst auf nationaler Ebene, Genozid-Konvention vorweg. in akademischen Diskussionsforen23 und schließlich auf internatio- nalem Parkett. Letzteres gelang in einem dualen Prozess: (1) Die Alliierten beschlossen im Oktober 1943 auf der Moskauer Konferenz, Ahndung gruppenbezogener Verfolgung vor dem IMT Kriegsverbrechen in den Ländern, wo sich die Taten ereignet hatten, vor Gericht zu bringen. Wie mit der Planung und Organisation von Als die Hauptschuldigen des NS-Regimes vor Gericht gestellt wurden, Titelseite der Sonderausgabe der Süddeutschen Zeitung Massengewalt (major war crimes) zu verfahren sei, sollte einer zu- musste die Herausforderung bewältigt werden, über Kriegsverbrechen vom 1. Oktober 1946, nach der Urteilsverkündung künftigen gemeinsamen Entscheidung obliegen. (2) Zur Klärung der hinausgehende Verbrechen zu ahnden, um die Bandbreite der tatsäch- beim Hauptkriegsverbrecherprozess in Nürnberg (20.11.1945–1.10.1946), mit den Namen der praktischen Umsetzung und der Sammlung von gerichtsverwertba- lich stattgefundenen Handlungen abzudecken. Diese waren teilweise Angeklagten und der Verkündung der Schuldsprüche. ren Beweisen entstand die United Nations War Crimes Commission völkerrechtliches Neuland. Die Geschehnisse, die als Völkermorde Foto: SZ Photo/Süddeutsche Zeitung Photo (UNWCC).24 Der für Rechtsfragen zuständige Ausschuss befasste sich in die Geschichtsschreibung eingingen, mussten zeitgenössisch von Beginn an auch mit Ereignissen, die aktuell als genozidale Akte in ein Anklagegefüge eingepasst werden, das geeignet war, den Am 1.10.1946 wateten Pressevertreter und amerika- nische Sekretärinnen durch ein Meer von Papier im eingeordnet werden. Ohne den Terminus »Genozid« zu gebrauchen, vier Anklagepunkten zu entsprechen und unter die Jurisdiktion des Aktenraum der Anklagevertretung der Nürnberger sprachen polnische Delegierte vom Auslöschen ihrer Bevölkerung: Tribunals zu fallen. Damit wurden rechts- wie politikdogmatischen Prozesse. Tausende von Akten waren herangezogen »This institution [gemeint ist die UNWCC, d. Verf.] […] has not only Sensibilitäten der Alliierten Rechnung getragen. worden, um die elf Hauptverdächtigen zum Tode reappeared, but has even been made one of the elements of systematic Die Anklage fokussiert unter Punkt 1 (Verschwörung oder ge- verurteilen zu können. Foto: Süddeutsche Zeitung Photo terrorism that is being used by the Germans to achieve the extermina- meinsamer Plan) zunächst auf die Deliktbeschreibung von Verbre- tion of the subjugated population in the occupied [Polish] territories.«25 chen gegen die Menschlichkeit – unter anderem die systematische Andere Vertreter der UNWCC bewerteten deutsche Kriegspolitik als Auslöschung von Teilen der Zivilbevölkerung, miteingeschlossen geplante Auslöschung ganzer Nationen oder Rassen.26 Die UdSSR die Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Grün- (selbst kein Mitglied der UNWCC) sprach bereits 1942 von »direct den.35 Für deren Umsetzung argumentierte das NS-Regime mit der physical annihilation of a considerable section of the population of Überlegenheit der »Herrenrasse« (master race), um einerseits die the territories captured«27 durch die Deutschen. Die Diskussion deckte Volksgemeinschaft zu konstituieren und andererseits die Vernichtung selbst Verbrechen des NS-Regimes gegen die eigene Bevölkerung ab. »der Anderen« zu legitimieren.36 Insbesondere galt dies für die Ver- »The crimes began long before the war … with the physical extermi- nation of whole classes of their own citizens because of race, religion or political beliefs […].«28 US-Präsident Franklin D. Roosevelt im März 1944: »In one of the blackest crimes of all history – begun by the 29 Ebd. 30 Zur geschichtlichen Entwicklung des Begriffes siehe Mark Lewis, The Birth of Nazis in the day of peace and multiplied by them a hundred times in the New Justice. The Internationalization of Crime and Punishment, 1919–1950, Oxford 2014, S. 64 ff. 31 Siehe UNWCC Serie C-149, Criminality of Attempts to Denationalise the Inhab- itants of Occupied Territories, 4.10.1945; ANC 2937/287. 23 Wie z.B. der London International Assembly. The Punishment of War Criminals 32 Nr. 12 der Liste der Commission of Responsibility von 1919; History of the UN- recommendations of the LIA, London o.J. WCC, London 1948, S. 34. 24 Siehe History of the UNWCC, London 1948. 33 UNWCC Serie C-149, 4.10.1945, S. 2; ANC 2937/287. 25 UNWCC Serie III/3 v. 14.4.1944, Australian National Archive, Canberra (ANC) 34 IMT, Bd. 1, engl. S. 339, dt. S. 384. 2937/281. 35 Ebd. engl. S. 29, dt S. 31. 26 UNWCC Serie III/4 v. 27.4.1944, ebd., S. 8. 36 Ebd. engl. S. 31, dt S. 33. Die deutsche Übersetzung spricht nicht wie der englische 27 Ebd., S. 9. Text von »exterminate other races and peoples«, sondern von Unterjochung ande- 28 Ebd., S. 10. rer Rassen und Völker. So erhält der deutsche Text eine deutliche Abschwächung.

24 Einsicht Einsicht 16 Herbst 2016 25 nichtung der europäischen Juden: »Implementing their master race geordneten Ziel dar, mittels eines hemmungslosen, aggressiven und the Germans […]. Its consequence was the new ruthless concept of Der erste Anklagepunkt nennt im Zusammenhang mit dem policy, the conspirators joined in a program of relentless persecution verbrecherischen Kriegs zum »Welthegemon« aufzusteigen. ›biological warfare‹, according to which the aim and purpose of the Überfall auf die Sowjetunion weitere genozidale Akte, zusätzlich of the Jews, designed to exterminate them. Annihilation of the Jews Unter diesem Gesichtspunkt sind die diversen vor dem Nürnber- state was not only to win the war but also to bring about permanent zu den an den Juden die an Russen, Weißrussen und Ukrainern.48 Im became an offi cial State policy, carried out both by offi cial action ger Tribunal verhandelten Völkermorde zu verstehen. Völkermord biological changes.«42 Und ganz zu Anfang des Dokuments: »It is Anklagepunkt 3 (Kriegsverbrechen49) werden weitere Völkermorde and by incitements to mob and individual violence. The conspirators erweist sich hier nämlich nicht als Selbstzweck. Vielmehr stellt er the purpose of the prosecution to demonstrate the existence of a angesprochen. »They conducted deliberate and systematic genocide, openly avowed their purpose. For example, the Defendant Rosenberg im Anklagekonzept ein der Rationalität der Herrschaftseroberung common plan or enterprise of the German Government, the Nazi viz., the extermination of racial and national groups, against the ci- stated: ›Anti-Semitism is the unifying element of the reconstruction untergeordnetes taktisches oder strategisches Mittel dar, um be- Party, and the German military, industrial, and fi nancial leaders to vilian populations of certain occupied territories in order to destroy of Germany.‹ On another occasion he also stated: ›Germany will stimmte Zwischen-, aber auch Endziele zu erreichen. So heterogen achieve world domination by war. The destruction of the Jewish particular races and classes of people and national, racial, or religious regard the Jewish question as solved only after the very last Jew has wie die Opfergruppen der Völkermorde waren auch die Mittel und people as a whole […] was at the same time linked and closely tied groups, particularly Jews, Poles, and Gypsies and others.«50 Der Zusatz left the greater German living space […] Europe will have its Jewish Einrichtungen, um Genozide zu begehen. Und die Taten fanden up with this aim of world conquest.«43 Für US-Chefankläger Robert »and others« impliziert eine unvollständige Aufzählung. Gemeint war question solved only after the very last Jew has left the Continent.‹ mit unterschiedlicher Intensität vor und während des Kriegs auf Jackson zählte Völkermord zum Kontext deutscher Aggression. Im ohne Zweifel der bereits zuvor genannte Völkermord an Sowjets. In The Defendant Ley declared: ›We swear we are not going to aban- verschiedenen Territorien statt. Deshalb strengten sich die US- und Mai 1945, in Vorbereitung der Statuierung des IMT, fi ndet sich in der deutschen Übersetzung fi ndet sich der Begriff »Genozid« oder don the struggle until the last Jew in Europe has been exterminated die britische Anklage an, diesen gruppenbezogenen Verfolgungen einem Memorandum (auf der Grundlage einer Ausarbeitung von »Völkermord« nicht. Hier wird von »Massenmord« gesprochen, and is actually dead. It is not enough to isolate the Jewish enemy of eine gemeinsame Qualität zuzuweisen, die geeignet wäre, die Band- Murray Bernays, einem der Planer des IMT-Statuts44) der Hinweis, der zur »Ausrottung einer bestimmten Rasse oder Nationalität un- mankind – the Jew has got to be exterminated.‹«37 breite der Verfolgungen unter einem sie einenden Gesichtspunkt zu dass Genozid anklagerelevant sei.45 ter der Zivilbevölkerung gewisser besetzter Gebiete«51 führte. Die Der Völkermord an den Juden erlangt bereits im Anklagepunkt behandeln. Und dies sollte ihre wichtige Funktion bei der planvollen Auch wurden die Taten gegen Juden bei der Anklagevorbereitung Anklage benennt eine ganze Reihe möglicher Verbrechensabläufe: Verschwörung zentrale Bedeutung und fi ndet keinesfalls nur am Umsetzung der systematischen Welteroberungspolitik der Nazis sein. als ein zusammengehöriger Komplex aufgefasst:46 »The multitude of »The murders and ill-treatment were carried out by divers means, Rande Erwähnung. »These avowals and incitements were typical of Wie zum Beispiel die Konstituierung einer »Volksgemeinschaft«, crimes committed against the Jews of Nazi-dominated Europe cannot including shooting, hanging, gassing, starvation, gross over-crowd- the declarations of the Nazi conspirators throughout the course of die Verwicklung weiter Teile der deutschen Gesellschaft in die na- be regarded as merely isolated instances of individual brutality. Rather ing, systematic under-nutrition, systematic imposition of labor tasks their conspiracy. The program of action against the Jews included zistischen Verbrechen, die Spaltung besetzter Nationen oder die they constitute one continuous and indivisible crime – a criminal con- beyond the strength of those ordered to carry them out, inadequate disfranchisement, stigmatization, denial of civil rights, subjecting Beseitigung der ursprünglichen Bevölkerung. Dazu aus einem Vor- spiracy against the Jewish people. All the various anti-Jewish measures provision of surgical and medical services, kickings, beatings, brutality their persons and property to violence, deportation, enslavement, bereitungspapier der US-Anklage zum Zweck der Judenverfolgung: taken by the Germans, from petty discrimination to fi nal mass murder, and torture of all kinds, including the use of hot irons and pulling enforced labor, starvation, murder, and mass extermination. The »The fundamental purpose served by the anti-Jewish conspiracy, whether executed by the government, its agencies, party formations, or out of fi ngernails and the performance of experiments by means of extent to which the conspirators succeeded in their purpose can only fi rst in Germany and then in nazi-occupied Europe, was to provide a even ›spontaneous‹ mobs, were links in the same chain.«47 Das impli- operations and otherwise on living human subjects.«52 be estimated, but the annihilation was substantially complete in many binding force cementing together the various elements of society into zierte auch Verbrechen, die keine Kriegsverbrechen mehr waren: Mit Im Gegensatz zu anderen Zivilbevölkerungen (Murder and Ill- localities of Europe. Of the 9,600,000 Jews who lived in the parts of the so-called ›people’s community‹.«40 Oder: »It served to remind the deutschen Opfern konnten es nur Verbrechen gegen die Menschlichkeit Treatment of Civilian Population53) wird der Judenverfolgung im Europe under Nazi domination, it is conservatively estimated that non-Jewish population of occupied Europe that there was one group sein. Wurden diese Verbrechen allerdings vor dem 1. September 1939 Urteil ein eigenständiger Punkt gewidmet.54 »The persecution of 5,700,000 have disappeared, most of them deliberately put to death which had even less rights than they. […] The physical extermination verübt, war der Internationale Gerichtshof regelmäßig nicht ermächtigt, the Jews at the hands of the Nazi Government has been proved in by the Nazi conspirators.«38 of European Jewry was also used by the Nazis to involve the German sie abzuurteilen. Die Verfolgung der europäischen Juden als einen the greatest detail before the tribunal.«55 Einige Aspekte der Juden- Die Opfer der Völkermorde waren sowohl Ausländer als auch people, as well as their collaborationist followers, in collective guilt. zusammenhängenden Vorgang zu erfassen war dementsprechend eine verfolgung vor dem Krieg sollten in die Beurteilung der Schuld der Deutsche bzw. Staatenlose, und sie wurden aus unterschiedlichen In the slaughter of millions of Jews the Nazis implicated the German Herausforderung, weil sie vor dem Krieg begann und weil sie auch Angeklagten einfl ießen, weil sie auf die Planung des Kriegs bezogen Gründen begangen. Als hilfreich für das Verständnis des Prozesses Army, the civil service, the occupational authorities and quislings, gegen deutsche bzw. vormals deutsche Opfer gerichtet war. Der Völ- wurden. Entsprechend fi nden sich im Kapitel zum Anklagepunkt 1 im und seine maßgeblichen Zielsetzungen, der einzelne Taten und Tat- and all their henchman and accessories.«41 kermord an den Juden war also zwischen mehreren Anklagepunkten IMT-Urteil eindeutige Aussagen zur NS-Rassedoktrin. Die Anklage komplexe ihrer Logik nach zu folgen hatten, sind die im Vorfeld Die Welteroberungspläne waren im Sinne dieser Anklagestrat- angesiedelt und erstreckte sich nur auf einen Teil der Jurisdiktion versuchte die Taten, die vor Ausbruch des Kriegs begangen wurden, erstellten Strategiepapiere, denn sie vergegenwärtigen aus der da- egie mit dem antijüdischen Programm verwoben: »Anti-Semitism des Gerichts. Ähnliches gilt übrigens auch für die systematischen an den Angeklagten zur Last zu legen. Aber nicht als Kriegsverbrechen maligen Perspektive, welche mittel- und langfristigen Zielsetzungen also proved to be one of Germany’s major weapons for political deutschen Sinti und Roma begangenen Verbrechen. Das Völkerrecht oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sondern im Rahmen der mit dem Prozess umgesetzt werden sollten: »1. General Policy: One and economic infi ltration abroad. Hitler, […] and other leaders of stieß hier noch auf Probleme und an Grenzen. ersten beiden Anklagepunkte: »With the coming of the Nazis into of the primary purposes of the trial of the major war criminals is the Third Reich, quite openly declared their intention to disunite power in 1933, persecution of the Jews became offi cial state policy to document and dramatize for contemporary consumption and for and disintegrate the democratic world by invoking anti-Semitism. history the means and methods employed by the leading Nazis in […] There is no doubt that German idea of conquering Lebensraum their plan to dominate the world and to wage an aggressive war.«39 required the destruction of peoples living in these spaces coveted by 42 Ebd., S. 4, Unterstreichung im Original. Auch die Völkermorde stellen »means and methods« bei dem über- 43 Ebd., S. 2. 48 IMT, Bd. 1, engl. S. 40, dt. S. 43. In der englischen Fassung fehlt der Hinweis auf 44 Siehe John Cooper, Raphael Lemkin and the Struggle for the Genocide Conven- den Völkermord an Russen. tion, New York 2008, S. 62 ff. 49 Ebd., engl. S. 42 ff., dt. S. 46 ff. 40 Nazi Plans for Dominating Germany and Europe. Part I. The Criminal Conspira- 45 Barrett, »Raphael Lemkin and ›Genocide‹ at Nuremberg 1945–1946«, S. 39 f. 50 Ebd., engl. S. 43 f., dt. S. 47. cy against the Jews, S. 1, Donovan Nuremburg Trial Collection, Vol. 9, Section 46 Hierzu trug z.B. das Jewish Desk des Offi ce of Strategic Services bei. Vgl. Re- 51 Ebd., S. 47. 37 IMT, Bd. 1, engl. S. 33, dt S. 36. 17.04, CLS. cords of the Jewish Desk, National Archives and Records Administration 52 Ebd., engl. S. 43, dt. S. 47. 38 Ebd., engl. S. 34, dt S. 36 f. 41 Ebd., S. 4. Zentral ist in der amerikanischen Anklagelogik die Funktion der Juden (NARA), RG 226 entry UD 191/1-4. 53 Ebd., S. 232 ff., dt. S. 260 ff. 39 Plan for Public Relation Organization for the Trial of the Major War Criminals, als Sündenbock: »The Jews were originally singled out […] because of their 47 Nazi Plans for Dominating Germany and Europe. Part I. The Criminal Conspira- 54 »Persecution of the Jews«, ebd., engl. S. 247 ff., dt. S. 277 ff. undatiert, Donovan Nuremberg Trial Collection, Vol. 18, Sec. 54.02, Cornell Law ready availability as a scapegoat for all the ills of Germany – and of the world.« cy against the Jews, S. 1, Donovan Nuremburg Trial Collection, Vol. 9, Section 55 Urteilsverkündung, Punkt »Persecution of the Jews« durch Richter Nikitschenko School (CLS), Unterstreichung im Original. Ebd., S. 2. 17.04, CLS. am 30.9.1946, ebd., engl. S. 247 ff., dt. S. 277 ff.

26 Einsicht Einsicht 16 Herbst 2016 27 […] The ›seizure of power‹ by the Nazis, the use of terror, […] the oder Kriegsverbrechen geahndet werden. Am Beispiel der kriminellen in September 1942 under which antisocial elements were handed Fazit persecution of Jews […] all these are said to be steps deliberately Organisation SS wird dieser Umstand evident.61 Es war unstrittig, over to the SS ›to be worked to death‹«66 Die Richter folgten dieser taken to carry out the common plan.«56 Der Versuch, diese Verbrechen dass Mitglieder der SS maßgeblich an den Völkermorden beteiligt Einschätzung und stellten fest, dass die SS eine herausgehobene Rolle Die schiere Häufi gkeit, mit der auf die Verfolgung der europäischen auch unter dem Anklagepunkt »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« waren, insbesondere am Genozid an den Juden: »The SS played a bei der Judenverfolgung spielte.67 Sie war das maßgebliche Werkzeug Juden vor und während des Kriegs Bezug genommen wird, ist ein zu behandeln, scheiterte. »It was contended for the prosecution that particularly signifi cant role in the persecution of the Jews.«62 Aber des NS-Regimes für die Umsetzung von Völkermord. Daraus resul- erster Hinweis darauf, inwieweit die US- und die britische Anklage certain aspects of this anti-Semitic policy were connected with the in Bezug auf Taten vor dem 1. September 1939 war die Haltung des tiert die Charakterisierung der SS als verbrecherische Organisation.68 darin ein Kernverbrechen des Nationalsozialismus sahen. Und auch plans for aggressive war.«57 Die Richter argumentierten dagegen: Gerichts eindeutig: »The basis of this fi nding is the participation of Daran anknüpfend schien es dem britischen Ankläger absurd, dass dafür, inwieweit sie diesem Verbrechen explikatorisches Potenzial »The Nazi persecution of Jews in Germany before the war, severe the organization in War Crimes and Crimes against Humanity con- die Angeklagten, ehemals Minister und leitende Beamte, nicht mitbe- bei der Aufklärung über den und das Nachvollziehen des National- and repressive as it was, cannot compare, however, with the policy nected with the war; this group declared criminal cannot include, kommen haben wollten, dass Millionen Menschen in Gaskammern sozialismus zumaßen. Der Völkermord an den europäischen Juden pursued during the war in the occupied territories.«58 Zudem lehnten therefore, persons who had ceased to belong to the organizations ermordet, Hundertausende Menschen mit Behinderungen umgebracht bildete keinen Anklagepunkt, ist aber durchgängig präsent. Außerdem sie es ab, die von der Anklage eingebrachte Verschwörung zu Kriegs- enumerated in the preceding paragraph prior to 1 September 1939.«63 und Abermillionen Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt wor- wiesen die Ankläger diesem Faktum eine wichtige Funktion im Rah- verbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu behandeln.59 Was während des Krieges in Deutschland und den besetzten den waren. Sie seien ohne Zweifel die Befürworter und Unterstützer men der Verschwörung zum und der Führung eines verbrecherischen Mit dem Krieg wurde die Judenverfolgung, so die Richter, auf Gebieten geschah, beschrieb das Urteil als ein multiples Völker- des Genozids.69 Und das Gros der Angeklagten (15 von 22) wurde Angriffskriegs zu. ein neues Niveau gehoben. Und dieser Konnex zum Krieg war das mordszenario. Geplant und unterstützt von den Angeklagten und tatsächlich auch wegen Verbrechen gegen Juden (Genozid) belangt. Das IMT zielte nicht nur auf die Feststellung der individuellen Entscheidende, auch im Bezug auf andere Opfergruppen: »With regard maßgeblich ausgeführt von einigen der angeklagten Organisationen. Schuld der 21 anwesenden und des einen abwesenden Angeklagten to crimes against humanity there is no doubt whatever that political Letztere stellten die Durchgriffsmöglichkeit für spätere Prozesse her, Berücksichtigung der Judenverfolgung im Urteil des Nürnberger (16 Angeklagten wurden auch Verbrechen zur Last gelegt, die sich opponents were murdered in Germany before the war, and that many denn das Kontrollratsgesetz Nr. 10 von Ende 1945 bezog sich explizit Hauptkriegsverbrecherprozesses (20. November 1945 bis 1. Oktober 1946) gegen Juden richteten). Es sollte ein zukünftiges Ahndungssystem of them were kept in concentration camps in circumstances of great auf die vom IMT festgestellten verbrecherischen Organisationen.64 vorbereiten, in dem auch die Beteiligung von Organisationen an horror and cruelty. […] The policy of persecution, repression and Dieses duale Vorgehen (Einzelpersonen und Organisationen) war Angeklagte Berücksichtigung Strafe den nazistischen Verbrechen geklärt und somit ein vereinfachter murder of civilians in Germany before the war of 1939, who were insofern sinnvoll, als es neben der personellen Verantwortung eine Martin Bormann ja Todesstrafe Durchgriff auf weitere Angeklagte der diversen Hierarchien des Na- likely to be hostile to the Government, was most ruthlessly carried organisatorische, über das Verfahren hinausgehende konstituierte. Karl Dönitz ja 10 Jahre Haft zisystems erlaubt werden würde. Über diese kurz- und mittelfristigen out. The persecution of Jews during the same period is established Eine Gewichtung der Schuldzumessung zugunsten einer der beiden Hans Frank ja Todesstrafe Ziele hinausgehend war es das erklärte Ziel, ein zukunftsweisendes beyond all doubt. To constitute crimes against humanity, the acts relied Gruppen konnte nicht ausgemacht werden.65 Wilhelm Frick ja Todesstrafe und gut funktionierendes völkerrechtliches Instrument zu etablieren. on before the outbreak of war must have been in execution of, or in Die Angeklagten standen vor allem für die Planung und die Hans Fritzsche ja Freispruch Entweder um staatliche Akteure von künftigen Verbrechen ähnlichen connection with, any crime within the jurisdiction of the Tribunal. The strukturellen Ziele des Regimes. Die Umsetzung von Völkermorden Walter Funck ja Lebenslänglich Ausmaßes abzuhalten oder, wenn sich diese schon nicht verhindern Tribunal is of the opinion that revolting and horrible as many of these lag zum großen Teil in den Händen der SS. Der britische Ankläger Hermann Göring ja Todesstrafe ließen, sie zumindest effi zienter verfolgen zu können. Die Bandbreite crimes were, it has not been satisfactorily proved that they were done Hartley Showcross fasst diesen Befund am 27. Juli 1946 zusammen: ja Lebenslänglich der vom IMT verhandelten Verbrechen musste deshalb zwingend in execution of, or in connection with, any such crime. The Tribunal »Genocide was not restricted to extermination of the Jewish people or Alfred Jodl nein Todesstrafe sehr umfangreich ausfallen. Dass die Judenverfolgung, neben dem therefore cannot make a general declaration that the acts before 1939 of the gypsies. It was applied in different forms to Yugoslavia, to the ja Todesstrafe Völkermord an Sowjetbürgern, Polen, Tschechen, Jugoslawen, Roma were Crimes against Humanity within the meaning of the Charter, but non-German inhabitants of Alsace-Lorraine, to the people of the Low Wilhelm Keitel ja Todesstrafe und Sinti, so hervorgehoben behandelt wurde, verdankte sich der from the beginning of the war in 1939 war crimes were committed on Countries and of Norway. The technique varied from nation to nation, Erich Raeder nein Lebenslänglich Sichtweise, dass Juden im kriegerischen und rassistischen Programm a vast scale, which were also crimes against humanity; and insofar from people to people. The long-term aim was the same in all cases. der Nationalsozialisten eine besondere Stellung zukam: »From his- Alfred Rosenberg ja Todesstrafe as the inhumane acts charged in the Indictment, and committed after The methods followed a similar pattern: First a deliberate program torical precedent the leaders of the Nazi state apparently derived the Fritz Sauckel nein Todesstrafe the beginning of the war, did not constitute war crimes, they were all of murder, of outright annihilation. This was the method applied to assurance that killing Jews is not murder. This fundamental convic- Hjalmar Schacht nein Freispruch committed in execution of, or in connection with, the aggressive war, the Polish intelligentsia, to gypsies, and to Jews. The killing of mil- tion unquestionably underlay and motivated the unique policy of the Arthur Seyss-Inquart ja Todesstrafe and therefore constituted crimes against humanity.«60 lions, even by the gas chambers and the mass shootings employed, total annihilation of the Jewish people as contrasted with only partial Albert Speer Das Urteil zielte nicht auf die Negierung der vor dem Krieg was no easy matter. The defendants and their confederates also used nein 20 Jahre Haft decimation of other peoples.«70 begangenen Verbrechen – ganz im Gegenteil. Nur erlaubt es das methods of protracted annihilation, the favorite being to work their Julius Streicher ja Todesstrafe IMT-Statut nicht, sie im Urteil zu berücksichtigen. Verbrechen gegen victims to death, hence Himmler’s bond with the Minister of Justice Konstantin von Neurath ja 15 Jahre Haft die Menschlichkeit konnten nur in Verbindung mit dem Angriffskrieg Franz von Papen nein Freispruch Joachim von Ribbentrop ja Todesstrafe Baldur von Schirach ja 20 Jahre Haft 61 Ebd., engl. S. 268–273, dt. S. 301–307. 56 Ebd., engl. S. 180 u. 224, dt. S. 200 u. 251. 62 Ebd., engl. S. 271, dt. S. 305. Quelle: Eigene Aufstellung 57 Ebd., engl. S. 249, dt. S. 279. 63 Ebd., engl. S. 273, dt. S. 307. 58 Ebd., engl. S. 249, dt. S. 280. 64 Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland, Nr. 3 (Januar 1946), S. 50 ff. Siehe 59 Ebd., engl. S. 226, dt. S. 253: »The Tribunal will therefore disregard the charges Heiner Wember, Umerziehung im Lager. Internierung und Bestrafung von Natio- in Count One that the defendants conspired to commit War Crimes and Crimes nalsozialisten in der britischen Besatzungszone Deutschlands, 3. Aufl ., Essen 66 IMT, Bd. 19, engl. S. 497, dt. S. 556. against Humanity, and will consider only the common plan to prepare, initiate, 2007. 67 IMT, Bd. 1, engl. S. 271, dt. S. 305. 70 Nazi Plans for Dominating Germany and Europe. Part I. The Criminal Conspira- and wage aggressive war.« 65 Für eine gegenteilige Einschätzung siehe Stiller, »Die Nürnberger Prozesse und 68 Ebd., engl. S. 273, dt. S. 307. cy against the Jews, S. 2, Donovan Nuremburg Trial Collection, Vol. 9, Section 60 Ebd., engl. S. 254, dt. S. 285. der Holocaust«, S. 21. 69 IMT, Bd. 19, engl. S. 515, dt. S. 576. 17.04, CLS.

28 Einsicht Einsicht 16 Herbst 2016 29 Vernichtungslager. Zugleich war es das letzte große Verfahren dieser verzichtete nach der formellen Aufhebung dieses Gesetzes auf die Art und stellt somit eine Zäsur dar. Zwar folgten in späteren Jahren Einführung eines ähnlichen Sonderstrafrechts. noch weitere Prozesse gegen NS-Täter, aber eine solche Dimension Jedes NS-Verbrechen konnte nun nur noch nach dem deutschen und mediale Resonanz erreichte keiner von ihnen. Strafgesetzbuch geahndet werden, was die Strafverfolgung erheblich erschwerte. So verjährten bis auf Mord bald die meisten Taten, 1960 Zeitgeschichte im Gerichtssaal sogar Totschlag im schweren Fall, Körperverletzung mit Todesfolge Die Ausgangslage: Prozesse wegen und Freiheitsberaubung mit Todesfolge. Nur die Verjährungsfrist Der Majdanek-Prozess 1975–1981 nationalsozialistischer Gewaltverbrechen für Mord wurde immer wieder aufgeschoben (1965) bzw. verlän- gert (1969) und schließlich 1979 ganz aufgehoben. Ferner musste Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatten alliierte sowie west- jedem Angeklagten ein konkreter Tatbeitrag und somit eine persön- von Volker Zimmermann und ostdeutsche Gerichte Verfahren wegen Kriegsverbrechen und liche Schuld nachgewiesen werden, was angesichts fehlender und Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingeleitet, die Deutsche (so- oft ungenauer Zeugenaussagen schwierig war. Zudem entschieden wie ihre Verbündeten) zwischen 1933 und 1945 begangen hatten. viele Richter stark zugunsten der Angeklagten: Oft schenkten sie Während die Alliierten in den ersten Nachkriegsjahren Verfahren wie Aussagen Glauben, die behaupteten, dass die Täter im Falle einer die Nürnberger Prozesse oder die Dachauer Prozesse gegen hohe NS- Befehlsverweigerung selber eine harte Bestrafung hätten fürchten Am 26. November 1975 versammelten sich Funktionäre, aber auch zum Beispiel gegen Personal von Konzentra- müssen. Solche Disziplinarstrafen waren zwar nicht bekannt, doch Journalisten und Zuschauer aus dem In- und tionslagern führten, befassten sich deutsche Landgerichte meist mit wurde großzügig von einem »putativen« (vermeintlichen, vom An- Ausland im Schwurgerichtssaal L 111 des den nationalsozialistischen Verbrechen vor Ort. Die dort behandelten geklagten angenommenen) Befehlsnotstand ausgegangen. Düsseldorfer Landgerichts, um einem in Tatkomplexe waren unter anderem der SA-Terror im Jahre 1933, die Wenn NS-Täter überhaupt verurteilt wurden, dann oft als »Ge- Dr. phil. habil. Volker Zimmermann, mehrfacher Hinsicht außergewöhnlichen Ereignis beizuwohnen: der Pogromnacht 1938 und sogenannte Verbrechen der Endphase, also hilfen« und nicht als Mittäter, was die Verhängung verhältnismäßig apl. Professor für Neuere und Neues- Eröffnung des Verfahrens gegen 15 Frauen und Männer, die über drei gegen Kriegsende begangene Mord- und Gewalttaten.2 niedriger Strafen zur Folge hatte. Dies war eine ebenfalls großzügige te sowie Osteuropäische Geschichte Jahrzehnte zuvor in verschiedenen Funktionen im Konzentrations- Die Bilanz vor allem der vor deutschen Gerichten geführten Auslegung der »subjektiven Teilnahmelehre«, nach der die Ange- der Heinrich-Heine-Universität Düs- und Vernichtungslager Majdanek als Angehörige der Lagermann- Prozesse fi el ernüchternd aus: Nur wenige Täter wurden zu Strafen klagten die Tat auch selber gewollt haben mussten, um als Mittäter seldorf; seit 2010 wissenschaftlicher schaft tätig gewesen waren.1 Es begann ein Prozess, der heute aus verurteilt, die im Laufe der Zeit zudem immer geringer ausfi elen, und (und damit zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe) verurteilt werden zu Mitarbeiter des Collegium Carolinum, guten Gründen als eines der bedeutendsten und aufsehenerregendsten bald sank auch die Zahl der Prozesse insgesamt. Diese Entwicklung können. Aus Sicht der Rechtsprechung und im Einklang mit weiten Forschungsinstitut für die Geschichte Verfahren wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen gilt. Erst ist unter anderem mit einem wachsenden politischen und gesell- Teilen der öffentlichen Meinung gingen die meisten NS-Verbrechen Tschechiens und der Slowakei, in Mün- 1981 ergingen die Urteile gegen die verbliebenen neun Angeklagten. schaftlichen Widerwillen gegen die juristische Aufarbeitung der von somit in erster Linie auf das Konto von und wenigen chen. Forschungsschwerpunkte u.a.: Der sogenannte Majdanek-Prozess ist sowohl zeithistorisch Deutschen begangenen Taten zu erklären, wobei auch die Vernachläs- anderen hohen NS-Führern. Alle diese Faktoren trugen sowohl zu der deutsch-tschechische Beziehungen im als auch erinnerungspolitisch aus mehreren Gründen bedeu- sigung der Entnazifi zierung des bundesdeutschen Justizapparates eine geringen Zahl von Verfahren als auch zu niedrigen Strafen bei, was 19. und 20. Jahrhundert; Kriminali- tend. Zum einen handelte es sich bei ihm um das aufwendigste große Rolle spielte. Personelle Kontinuitäten in der deutschen Justiz schon früh kritisiert wurde: So überschrieb die ZEIT einen Artikel tätsgeschichte; Geschichte des Natio- und längste sowie neben dem Auschwitz-Prozess (1963–1965) zur Zeit vor 1945 waren lange ungebrochen, obwohl sich allmählich über Prozesse wegen NS-Verbrechen in ihrer Ausgabe vom 25. Mai nalsozialismus und seiner Aufarbeitung öffentlichkeitswirksamste Verfahren dieser Art vor deutschen Ge- immer mehr (vor allem jüngere) Staatsanwälte und Richter durchaus 1962 mit den Worten: »Ein Toter gleich 10 Minuten Gefängnis?«3 nach 1945. richten überhaupt, zum anderen vertiefte es die historische Kenntnis um Aufklärung bemühten. Damit verbunden sind Entscheidungen, die Lange in Sicherheit wiegen konnten sich Täter, die Verbrechen Veröffentlichungen (Auswahl): Die über eines der größten nationalsozialistischen Konzentrations- und gesetzgeberische und verfahrenspraktische Folgen für die Ahndung außerhalb des Reichsgebiets begangen hatten. Dies galt besonders Sudetendeutschen im NS-Staat. Poli- von NS-Verbrechen hatten: Bis in die 1950er Jahre hinein galt das für die an Morden in Vernichtungslagern und von tik und Stimmung der Bevölkerung im alliierte Kontrollratsgesetz Nr. 10, das speziell auf die Verfolgung beteiligten Personen. Es gab wenig Interesse und Möglichkeiten deut- Reichsgau Sudetenland (1938–1945), von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden und Verbrechen scher Staatsanwaltschaften an einer aufwendigen Bearbeitung solcher Essen 1999; NS-Täter vor Gericht. Düs- 1 Vgl. zum Majdanek-Prozess den sehr guten Überblick von Claudia Kuretsidis- gegen die Menschlichkeit zugeschnitten war. Die deutsche Politik Fälle, da Beweise für eine Strafverfolgung meist mühselig jenseits seldorf und die Strafprozesse wegen na- Haider, »Majdanek und die deutsche Justiz«, in: dies. u.a. (Hrsg.), Das KZ des Eisernen Vorhangs beschafft werden mussten. Dies änderte sich Lublin-Majdanek und die Justiz. Strafverfolgung und verweigerte Gerechtigkeit. tionalsozialistischer Gewaltverbrechen, Polen, Deutschland und Österreich im Vergleich, Graz 2011, S. 143–204; ferner im Jahre 1958 mit der Gründung der »Zentralen Stelle der Landes- Volker Zimmermann, NS-Täter vor Gericht. Düsseldorf und die Strafprozesse Düsseldorf 2001; Eine sozialistische 2 Vgl. zu deutschen Verfahren wegen NSG-Verbrechen allgemein u. a. Andreas justizbehörden zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen« in wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen, hrsg. vom Justizministerium Freundschaft im Wandel. Die Beziehun- Eichmüller, »Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen durch westdeutsche Justiz- Ludwigsburg mit über zwanzig Mitarbeitern, die bald zu Spezialisten des Landes Nordrhein-Westfalen in Verbindung mit der Mahn- und Gedenkstätte gen zwischen der SBZ/DDR und der behörden seit 1945. Eine Zahlenbilanz«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, auf dem Gebiet der Verfolgung von NS-Verbrechen wurden. der Landeshauptstadt Düsseldorf, Düsseldorf 2001, S. 169–193; Sabine Horn, Er- Jg. 56 (2008), Nr. 4, S. 621–640; ders., Keine Generalamnestie. Die strafrechtli- Tschechoslowakei (1945–1969), Essen innerungsbilder. Auschwitz-Prozess und Majdanek-Prozess im westdeutschen che Verfolgung von NS-Verbrechen in der frühen Bundesrepublik, München 2012; Fernsehen, Essen 2009; Falko Kruse, »Das Majdanek-Urteil. Von den Grenzen 2010; (gem. mit Michal Pullmann als Michael Greve, Der justitielle und rechtspolitische Umgang mit den NS-Gewalt- deutscher Rechtsprechung«, in: Thomas Blanke (Hrsg.), Die juristische Aufarbei- Hrsg.) Ordnung und Sicherheit, De- verbrechen in den sechziger Jahren, Frankfurt am Main u.a. 2001; Marc von Mi- tung des Unrechts-Staats, Baden-Baden 1998, S. 595–619; Heiner Lichtenstein, vianz und Kriminalität im Staatssozi- quel, Ahnden oder amnestieren? Westdeutsche Justiz und Vergangenheitspolitik 3 Zit. nach Ullrich Kröger, Die Ahndung von NS-Verbrechen vor westdeutschen Majdanek. Reportage eines Prozesses, Frankfurt am Main 1979; Martin Roos, in den sechziger Jahren, Göttingen 2004; Jörg Osterloh, Clemens Vollnhals Gerichten und ihre Rezeption in der deutschen Öffentlichkeit 1958–1965, unter alismus. Tschechoslowakei und DDR Helen Quandt, … und hinter den Gesichtern. Biographische Notizen zu Beteilig- (Hrsg.), NS-Prozesse und deutsche Öffentlichkeit. Besatzungszeit, frühe Bundes- besonderer Berücksichtigung von Spiegel, Stern, Zeit, Welt, Bild, Hamburger ten am Majdanek-Prozeß (1975–1981), Düsseldorf 1996. (1948/49–1989), Göttingen 2014. republik und DDR, Göttingen 2011. Abendblatt, NZ und Neuem Deutschland, Dissertation, Hamburg 1973, S. 155.

30 Einsicht Einsicht 16 Herbst 2016 31 Die Zentrale Stelle kann nicht selber Anklage erheben, son- Jahre später gab sie das Verfahren an die Zentrale Stelle in Köln ab. (natürlich erfolglos) einen Haftbefehl gegen eine Zeugin, die dern nur Vorermittlungen durchführen, den Aufenthaltsort der Tä- 1971 umfasste die Liste der Beschuldigten 29 Personen, von denen Kanister mit Zyklon B zu den Gaskammern tragen musste. Er ter feststellen und Beweise zusammentragen. Die entsprechenden nach dem Tod des Hauptbeschuldigten (Heinrich Rindfl eisch) der argumentierte, dass sie sich damit doch ebenfalls der Beihilfe Dokumente gibt sie dann an die zuständigen Staatsanwaltschaften in alphabetischer Reihenfolge erstgenannte, Ludwig Benden, in zum Mord schuldig gemacht haben könnte. Ein weiterer Ver- weiter. Auf diese Weise wurden zahlreiche Prozesse erst ermöglicht. Leverkusen lebte. Aus diesem Grund war denn auch das Landgericht teidiger beantragte gegen Ende des Prozesses, sämtliche Zeu- Die Gründung der Ludwigsburger Stelle erwies sich somit bald als Düsseldorf für den Prozess zuständig – obwohl Benden letztlich gar gen aus den vergangenen Jahren zur »Auffrischung« erneut Erfolg, und 1961 richtete das Land Nordrhein-Westfalen bei den nicht vor Gericht gestellt werden konnte, weil er vor dem Beginn der vorzuladen – womit er allerdings keinen Erfolg hatte. Dies Staatsanwaltschaften Köln und Dortmund zwei weitere Institutionen Hauptverhandlung ebenfalls verstarb.6 Da zudem zwei von den in sind nur wenige Beispiele für das Vorgehen einiger, durchaus dieser Art ein. Das von den Zentralen Stellen zusammengetrage- zwei Anklageschriften aufgeführten 17 Personen kurz vor Prozess- aber nicht aller Verteidiger. ne Material diente als Grundlage für viele spektakuläre Verfahren, beginn für verhandlungsunfähig erklärt wurden, saßen im November Mit dieser Verzögerungstaktik verfolgten die Anwälte of- wie beispielsweise den Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963 bis 1975 lediglich 15 Frauen und Männer auf der Anklagebank. fenbar mehrere Ziele. Wie einer von ihnen mehr oder minder 1965 sowie mehrere Düsseldorfer Prozesse. Zu letzteren zählen Sie alle hatten zum deutschen Personal des Lagers gehört, dort offen äußerte, würden die Medien mit der Zeit das Interesse Verfahren, die in den 1960er Jahren gegen ehemalige Mitglieder von unterschiedliche Funktionen ausgeübt und verschiedene Dienstränge an dem Fall verlieren, sodass der gesellschaftliche morali- Einsatzgruppen und Personal in Vernichtungslagern geführt wurden, innegehabt. So befanden sich unter ihnen ehemalige Aufseherinnen sche Druck allmählich abnehme. Ferner sollten die Zeugen aus sowie der einzige deutsche Prozess gegen den Kommandanten eines ebenso wie ein einstiger SS-Sanitäter oder ein vormaliger Adjutant den Reihen der Opfer verunsichert werden. Viele von diesen Vernichtungslagers (Franz Paul Stangl, den Kommandanten von eines Lagerkommandanten. In allen Fällen lautete die Anklage auf beschrieben ohnehin nur die allgemeine Situation im Lager, Treblinka) im Jahr 1970 – und eben der Majdanek-Prozess. Mord bzw. (gemeinschaftliche) Beihilfe zum Mord. Im Einzelnen was aber für eine Beweisführung gegen die Angeklagten nicht ging es um über 60 Massen-, Einzel- und »Exzesstötungen« im ausreichte. Wurden die Angaben konkreter, zogen manche An- Zeitraum von Ende 1941 bis Mitte 1944.7 Eine Besonderheit des wälte mit zuweilen äußerst rücksichtslosen Nachfragen den Der Majdanek-Prozess: Verfahren mit Hindernissen Prozesses war, dass sechs der fünfzehn Angeklagten Frauen waren. Wahrheitsgehalt der Aussagen in Zweifel. Im Laufe der Zeit, Aus diesem Grunde bot sich für die Öffentlichkeit die seltene Ge- so das offensichtliche Kalkül, werde das Gedächtnis weiter Das Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek war im Jahr legenheit, einen Einblick in die Rolle des weiblichen Personals in nachlassen. Es bestand für die Verteidigung sogar die Chance, 1941 errichtet worden und lag im sogenannten Generalgouverne- NS-Lagern erhalten zu können.8 dass sich die Reihen der Zeugen lichteten – bereits bis Mitte ment, also auf besetztem polnischen Gebiet. Benannt war es nach der Angesichts der hohen Zahl der Angeklagten sowie der in Majda- Januar 1976 waren zwölf von ihnen verstorben, und auch die Ortschaft Majdanek, einem Vorort der Stadt Lublin. Anfangs war es nek begangenen Massenmorde war das Medieninteresse groß.9 Dass Zahl der Angeklagten reduzierte sich wegen eines Todesfalls offi ziell ein Lager für sowjetische Kriegsgefangene, seit 1942 wur- es in den folgenden Monaten und Jahren zeitweise stark abnahm, ist Ein Soldat der in Uniform neben einem Mann in der Kleidung eines sowie aus Krankheitsgründen weiter. den dort auch Juden und Polen interniert, wobei zahllose Menschen mit der langen Dauer des Verfahrens zu erklären. Am Anfang war KZ-Häfl tings auf einer Demonstration während des Pozesses gegen Angehörige des Neben dieser Verzögerungstaktik führten zahlreiche Lagerpersonals des Konzentrationslager Majdanek in Düsseldorf am 29. Juni 1981, infolge der katastrophalen Lebensbedingungen starben bzw. gezielt das Gericht äußerst optimistisch der Ansicht, es in rund zwei Jahren einen Tag vor der Urteilsverkündung. Zeugenvernehmungen im Ausland zu einer erheblichen Aus- getötet wurden. Als Massenvernichtungslager diente Majdanek vor abschließen zu können. Doch bereits am 3. Dezember 1975 meldete Fotos: ap/dpa/picture alliance/Süddeutsche Zeitung Photo dehnung des Verfahrens. Manche überlebende Häftlinge des allem im Jahr 1943, als von Frühjahr bis Herbst zehntausende Men- die Rheinische Post: »Majdanek-Prozeß kommt nicht voran«. Hier- Lagers waren zu gebrechlich, um vor Gericht erscheinen zu schen vor allem in Gaskammern ermordet wurden.4 Die genaue bei spielten mehrere Faktoren eine Rolle, von denen zunächst die können. Andere ahnten wohl, welche seelischen Belastungen Zahl aller in Majdanek ums Leben gekommenen Menschen ist nicht Taktik mehrerer Verteidiger zu erwähnen ist. Mit zahlreichen, meist die Konfrontation mit ihren ehemaligen Bewachern und die bekannt, wird aber in neueren Forschungen niedriger als noch vor überfl üssigen Anfragen und Anträgen verzögerten sie das Verfahren. bohrenden Fragen der Verteidiger, Staatsanwälte und Richter einigen Jahren angesetzt. Insgesamt starben mindestens rund 78.000 In manchen Fällen führte offenbar die politische Gesinnung zur Folge haben konnten, und wollten nicht nach Deutsch- Menschen im Lager, davon waren die weitaus meisten Juden.5 mancher Anwälte dazu, dass sie jede Rücksicht gegenüber den land reisen. Schließlich war ein weiterer Grund für die lange Mit den Vorermittlungen gegen ehemalige Angehörige des La- Opfern und anderen Prozessbeteiligten vermissen ließen. So un- Prozessführung das Bemühen der Staatsanwaltschaft und des gerpersonals begann die Ludwigsburger Zentralstelle 1960, zwei terstellte unter anderem der Verteidiger Fritz Steinacker dem Sach- Vorsitzenden Richters, alle Zeugenaussagen und Beweiserhe- verständigen Wolfgang Scheffl er mangelnde Distanz, weil er bei bungen bis in das kleinste Detail auf ihre Verwertbarkeit zu dem »jüdischen« NS-Gegner und Politikwissenschaftler Ernst Fra- prüfen, um eventuellen Revisionsverfahren entgegenzuwirken. enkel studiert habe. Der Verteidiger Ludwig Bock beantragte sogar Der oft von Kritikern erhobene Vorwurf, deutsche Gerichte 4 Vgl. zum Lager Lublin-Majdanek Tomasz Kranz, »Lublin-Majdanek – Stammla- würden Prozesse wegen NS-Verbrechen verschleppen, trifft ger«, in: Wolfgang Benz, Barbara Distel (Hrsg.), Der Ort des Terrors, Bd. 7, allerdings in diesem Fall ganz sicher nicht zu. Sowohl die München 2008, S. 33–84; Barbara Schwindt, Das Konzentrations- und Vernich- Staatsanwälte Dieter Ambach und Wolfgang Weber als auch tungslager Majdanek. Funktionswandel im Kontext der »Endlösung«, Würzburg 6 Vgl. hierzu Kuretsidis-Haider, »Majdanek und die deutsche Justiz«, S. 153 f. 2005, S. 183–186. 7 Ebd., S. 154 f. der Vorsitzende Richter Günter Bogen galten im Gegenteil als 5 Vgl. Thomasz Kranz, »Die Erfassung der Todesfälle und die Häftlingssterblich- 8 Siehe hierzu auch Ingrid Müller-Münch, Die Frauen von Majdanek. Vom zerstör- sehr engagiert. keit im KZ Lublin«, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Jg. 55 (2007), ten Leben der Opfer und der Mörderinnen, Reinbek 1982; Elissa Mailänder Kos- Für die Zeugen aus den Reihen der Opfer war das langsa- Nr. 3, S. 220–244, hier S. 243, und Kranz, »Lublin-Majdanek – Stammlager«, lov, Gewalt im Dienstalltag. Die SS-Aufseherinnen des Konzentrations- und Ver- Jüdische Studenten protestieren am 22. April 1979 vor dem Düsseldorfer Landgericht me Vorgehen eine Tortur, viele brachen in Tränen aus, manche S. 71–73; Schwindt, Das Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek, nichtungslagers Majdanek 1942–1944, Hamburg 2009. nach dem Freispruch für vier ehemalige SS-Männer im Prozess wegen Verbrechen S. 291 f. Andere Angaben waren weitaus höher, das Düsseldorfer Gericht ging 9 Die folgenden Ausführungen beruhen, wenn nicht anders angemerkt, auf Zim- im Konzentrationslager Majdanek gegen die Verjährung von NS-Verbrechen. erlitten Nervenzusammenbrüche. Vor allem wegen der Be- von »mindestens« 200.000 Todesopfern aus. mermann, NS-Täter vor Gericht, S. 169–193. Fotos: ap/dpa/picture alliance/Süddeutsche Zeitung Photo gleitumstände wie dem Vorgehen einiger Verteidiger oder der

32 Einsicht Einsicht 16 Herbst 2016 33 langen Verfahrensdauer wurde der Majdanek-Prozess bei mehreren Die Beweislage gegen die Angeklagte Hermine Ryan, geborene Jahre nach Prozesseröffnung massiv: Am 19. April 1979 trennte das EMNID-Instituts befürworteten 1974 nur 25 Prozent und 1978 34 Gelegenheiten in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert. Immer Braunsteiner, schien demgegenüber erfolgversprechender zu sein. In Gericht einen Teil des Verfahrens ab und sprach vier Angeklagte auf- Prozent der Befragten weitere Verfahren gegen NS-Täter, 1979 wieder beschäftigten sich die Medien auf unterschiedliche Weise diesem Fall war eine ideologische Motivation noch schwerer nach- grund mangelnder Beweise frei. Diese Entscheidung rief vehemente waren es aber bereits 50 Prozent. Laut denselben Untersuchungen mit ihm, wie etwa im Dezember 1977 in der Hörfunksendung des zuweisen, allerdings hatte sie detaillierten Zeugenaussagen zufolge Proteste im und vor dem Gerichtssaal hervor. Bei der Verkündung sprachen sich 1974 ganze 60 Prozent und 1978 sogar 64 Prozent für Westdeutschen Rundfunks (WDR) »Hallo Ü-Wagen«, in der so- mehrere Menschen brutal umgebracht. Die Häftlinge bezeichneten der Urteile gab es Unruhe im Saal und stürmten Jugendliche das einen »Schlussstrich« aus, ein Jahr später taten dies 46 Prozent.12 wohl geladene Gäste als auch Passanten vor dem Landgericht zu sie als »Kobyla« – das polnische Wort für »Stute«. Diesen Namen Gericht. Sie forderten den Rücktritt der Richter und sangen das Neben der differenzierten Diskussion über dieses Thema in Wissen- Wort kamen. Zahlreiche Hörer meldeten sich telefonisch im WDR- erwarb sich Ryan, weil sie weibliche Häftlinge immer wieder getre- Lied der Moorsoldaten, das 1933 Gefangene im Konzentrationslager schaft und Publizistik hatten Spiel- und Fernsehfi lme sicherlich den Funkhaus, wo die Apparate nicht mehr stillgestanden haben sollen. ten hatte. Genaue Angaben wie die gegen die Angeklagte waren für Börgermoor bei Papenburg (Emsland) geschrieben und gesungen größten Anteil an der Veränderung der Meinungslage in breiteren Gerade die Dauer des Prozesses wurde bald zu einem eigenständigen eine Verurteilung wegen Mordes nötig, denn im Sinne des deutschen hatten. »Nazimörder«-Sprechchöre sollen laut einem Bericht der Bevölkerungsschichten, vor allem die 1979 im deutschen Fernsehen Thema der Berichterstattung. Viele Kommentatoren forderten, er Strafgesetzbuches ist ein Mörder, »wer aus Mordlust, zur Befriedi- Deutschen Presseagentur im Gerichtssaal erklungen sein. ausgestrahlte amerikanische Serie HOLOCAUST mit ihren enorm hohen müsse schneller geführt werden. Majdanek war sogar Thema im gung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen In der Folge diskutierten zwei Jahre vor dem eigentlichen Urteil Einschaltquoten und ihrer großen medialen Resonanz.13 israelischen Parlament, wo Abgeordnete ihr Befremden über das Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefähr- im Majdanek-Verfahren Kommentatoren, Politiker und Personen des schleppende Verfahren äußerten und forderten, die »schlechte Be- lichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu öffentlichen Lebens im In- und Ausland einmal mehr emotional über handlung der Zeugen« zu beenden. verdecken, einen Menschen tötet«.10 die schwierige juristische Aufarbeitung des NS-Unrechts. Die Frage 12 Bernd Hey, »Die NS-Prozesse – Versuch einer juristischen Vergangenheitsbewäl- In vielen Phasen des Prozesses war jedoch eine geringere Me- Viele Jahrzehnte nach der Tat im Sinne des Strafgesetzbuches von Heinz Galinski, dem damaligen Vorsitzenden des Zentralrats tigung«, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Jg. 32 (1981), S. 331– dienresonanz festzustellen, was ebenfalls kritisiert wurde. In ei- niedrige Beweggründe wie zum Beispiel Rassenhass nachzuweisen, der Juden in Deutschland, warum nicht schon die Zugehörigkeit 362, hier S. 333. nem Beitrag der ZEIT vom 3. März 1978 heißt es: »Die Stadt der fi el aber in der Regel schwer. Dies galt eben auch für den Majdanek- zur Lagermannschaft für eine Verurteilung der Angeklagten wegen 13 Susanne Brandt, »›Wenig Anschauung‹? Die Ausstrahlung des Films ›Holocaust‹ Wohlhabenden und Wohlanständigen zeigt kein anderes Gesicht in Prozess: Gegen Juden habe er nichts gehabt, sagte Hackmann; sie Beihilfe zum Mord ausreiche, wies hierbei noch einmal auf einen im westdeutschen Fernsehen (1978/79)«, in: Christoph Cornelißen, Wolfgang Schwentker, Lutz Klinkhammer (Hrsg.), Erinnerungskulturen. Deutschland, Ita- diesen Tagen. Warum auch? Die Menschen sind dieselben geblieben. habe gar nicht darüber nachgedacht, ob Menschen zu Recht oder wichtigen Grund für dieses Problem hin: In der Bundesrepublik lien und Japan seit 1945, Frankfurt am Main 2003, S. 257–268. Warum auch nicht. Die Öffentlichkeit, also die Zeitungen vor allem, zu Unrecht inhaftiert waren, gab Ryan zu Protokoll. Eine andere war eben kein Sonderrecht für NS-Verbrechen etabliert worden. tun so, als sei nichts gewesen, als geschehe nichts Ungewöhnliches Angeklagte führte zur ihrer Entlastung ins Feld: »Ich konnte damals Allerdings war es auch offenkundig, dass die bisherige Auslegung dieser Tage in dieser Stadt. Das freilich kann seine fatalen Folgen doch nicht anders!« In dieser gängigen Lesart waren somit alle nur des Tatbestands Mord im Strafgesetzbuch äußerst milde war, denn haben.« So ist es offenkundig, dass sich im Majdanek-Prozess Pha- Befehlsempfänger gewesen und erfüllten ihre Pfl icht. Umso zentraler selbst mit den Mitteln des gewöhnlichen Strafrechts wären in vielen sen mit einer großen öffentlichen Aufmerksamkeit mit ruhigen, un- war es für die Anklage, Morde – zumal deren Grausamkeit wie im Fällen härtere Strafen möglich gewesen – eben bei einem Verzicht spektakulären Phasen abwechselten. Falle von Ryan – eindeutig nachweisen zu können. Denn Körper- auf die Zuerkennung oder zumindest einer geringeren Gewichtung verletzung, auch mit Todesfolge, oder Totschlag waren, wie bereits strafmildernder Umstände. erwähnt, zu diesem Zeitpunkt schon lange verjährt. Das Rechtsgefühl vieler Menschen war durch die vier Freisprü- Die Beweislage im Majdanek-Prozess: Die Staatsanwälte argumentierten in der Anklageschrift in meh- che angesichts der Dimension der Taten zutiefst verletzt worden. in der Tradition der NSG-Verfahren reren Fällen (unter anderem bei Hackmann und Ryan), dass die Aufschlussreich ist, dass wegen Alltagskriminalität und -devianz Fritz Bauer Angeklagten allein zum Beispiel durch ihre Mitwirkung bei der verhängte Strafen mit den vier Freisprüchen verglichen wurden. So Die Wurzeln faschistischen und Wie in anderen NSG-Verfahren (Verfahren wegen nationalsozia- »Selektion« der zu tötenden Menschen für die Gaskammern die Ver- schrieb eine Kinderärztin in einem Leserbrief an eine Tageszeitung: nationalsozialistischen Handelns listischer Gewaltverbrechen) war es schwierig, die Täter mit den brechen der Haupttäter durch eigene Tatbeiträge ermöglicht hätten. »Lohnt es sich überhaupt noch, für sittliche Normen wie Toleranz, Mit einer Einleitung von David Johst (Oktober 2016) ISBN 978-3-86393-085-1 Mitteln des gewöhnlichen deutschen Strafrechts zu überführen. So Auf diese Weise sollte die übliche Argumentation, die Täter seien Anständigkeit, Recht und Freiheit einzutreten und sie seinen heran- Aufgrund vieler Nachfragen wird diese Schrift mit der nahm zum Beispiel Herbert Hackmann eine wichtige Stellung in »nur« Gehilfen gewesen und hätten lediglich auf Befehl eine fremde wachsenden Kindern nahebringen zu wollen? Vor einigen Wochen Dokumentation der Debatte von 1962 im Landtag Rheinland-Pfalz in Zusammenarbeit mit dem Fritz Bauer Institut wieder aufgelegt. Majdanek ein. Er war als Adjutant des ersten Lagerkommandan- Tat unterstützt und gefördert, unter Hinweis auf eine Beteiligung an wurde in Düsseldorf ein Stadtstreicher zu 6 Monaten Gefängnis Weiterhin in der Europäischen Verlagsanstalt erschienen: ten und als sogenannter 1. Schutzhaftlagerführer unter anderem für dem Gesamtprozess der Selektion und Tötung abgewehrt werden. ohne Bewährung verurteilt – nicht, weil er einem Menschen Schaden Sicherheitsfragen zuständig gewesen. Er überwachte auch die vom Schließlich seien die Angeklagten gerade bei dieser Gelegenheit zugefügt hätte, sondern weil er, im Wiederholungsfall, im Bahnhofs- - Werner Renz, Fritz Bauer und das Versagen der Justiz (2015). Kommandanten befohlenen Prügelstrafen. Mehrere Zeugen sag- selbst eigeninitiativ und damit »Mittäter« gewesen. Sie hätten die bereich die Nacht verbracht hatte! Zwei Urteile aus Düsseldorf im - , Als Kindersoldat in Auschwitz. Die Geschichte einer Klasse (2014/2015). ten aus, dass der SS-Offi zier eine besonders feindliche Einstellung Tatherrschaft gehabt, und viele von ihnen hätten aufgrund ihrer ideo- Jahre 1979. Ich schäme mich als Deutsche vor meinen jüdischen - H.G. Adler, H. Langbein, E. Lingens-Reiner, Auschwitz. gegenüber Juden und sowjetischen Kriegsgefangenen gezeigt und logischen Überzeugung die Taten auch als eigene gewollt. Denn wer Freunden.«11 Zeugnisse und Berichte (1962, 6. Aufl age 2015, mit einer Häftlinge mit einem Gewehrkolben und einer Peitsche geschlagen den Vollzug solcher Taten ermöglicht und dabei »einverständlichen Die Reaktionen auf die Freisprüche von 1979 spiegelten die Einleitung von Katharina Stengel). habe. Einzelne Morde waren ihm aber schwer nachzuweisen. Zu- Eifer« gezeigt habe, so die Anklageschrift, sei ebenfalls Täter. inzwischen veränderte gesellschaftliche Einstellung zu den NS- - Bernd Naumann, Der Auschwitz-Prozess (1965, 2004, 2013). dem argumentierte er, er sei nicht aufgrund der NS-Ideologie in die Letztlich hatten die Staatsanwälte damit aber keinen Erfolg. Prozessen wider. Von den 1950er Jahren bis zur Mitte der 1970er Sowie zum 70. Jahrestag: SS eingetreten, sondern nur wegen der schlechten wirtschaftlichen Im Gegenteil verringerte sich die Zahl der Angeklagten dreieinhalb Jahre dominierten die Forderungen nach einem »Schlussstrich«, Das Internationale Militärtribunal von Nürnberg 1945/46 Lage im Deutschland der frühen 1930er Jahre. Eine ideologische was sich nun allmählich änderte. Laut Meinungsumfragen des Die Reden der Hauptankläger. Motivation für sein Handeln war nach Auffassung des Gerichts nicht Neu gelesen und kommentiert, Herausgegeben vom Nürnberger eindeutig festzustellen, sodass Hackmann aufgrund der dominieren- Menschenrechtszentrum, 502 Seiten, Broschur. 10 StGB. Strafgesetzbuch, BetäubungsmittelG, WehrstrafG, WirtschaftsstrafG und ISBN 978-3-86393-067-7 den Rechtsprechung auf der Basis der »subjektiven Teilnahmelehre« weiteren Vorschriften des Nebenstrafrechts, 31. Aufl ., Sonderausgabe, München www.europaeische-verlagsanstalt.de/ [email protected] gute Chancen hatte, ein mildes Urteil zu erhalten. 1998, S. 102. 11 Leserbrief in der Rheinischen Post vom 26.4.1979.

34 Einsicht Einsicht 16 Herbst 2016 35 Das Urteil von 1981: Proteste gegen milde Strafen war er mit Teilen des Urteils nicht einverstanden gewesen, sondern und 1980er Jahren. Dass er »nur« in dritten Programmen der ARD intensiver auseinandersetzten und weite Teile der deutschen Öffent- von den beiden anderen Richtern überstimmt worden. Rückblickend ausgestrahlt wurde, veranlasste Fechner zu der Stellungnahme: »So lichkeit stärker für die Thematik der NS-Verbrechen sensibilisiert Am 30. Juni 1981 war der Saal L 111 des Düsseldorfer Landgerichts meinte er, dass er seine abweichende Meinung gerne schriftlich wird dieser Film wieder bloß Menschen erreichen, die die Schuld wurden. In dieser Hinsicht können der Majdanek-Prozess und andere wieder bis zum letzten Platz besetzt, Kamerateams und Fotografen dokumentiert hätte.16 1984 wurde das Urteil nach gescheiterten Re- der Deutschen an nationalsozialistischen Verbrechen ohnehin nicht Verfahren sowie die Berichterstattung über sie durchaus als breiten- machten vor Verhandlungsbeginn noch einige Aufnahmen von den visionsanträgen rechtswirksam. vergessen haben. Aber er wird all jenen erspart, die verdrängen oder wirksame politische Bildungsmaßnahme gelten. Auch für manche Angeklagten. Fünfeinhalb Jahre nach dem Beginn des Verfahrens Die Reaktionen auf das Urteil waren derart negativ, dass selbst gar leugnen wollen, was von deutschen Menschen in den Konzen- Opfer schien die Tatsache, dass ihr Leiden in einer solch ausführli- verlas der Vorsitzende Richter Günter Bogen das Urteil. Von den der damalige nordrhein-westfälische Ministerpräsident und spätere trationslagern getan worden ist.«18 Die ARD wiederum hatte ihre chen Weise thematisiert und damit auch anerkannt wurde, wichtiger ehemals siebzehn Angeklagten waren am letzten Verhandlungstag Bundespräsident Johannes Rau mit einer Rede im Westdeutschen Entscheidung mit der künstlerischen »Strenge« des Films begründet, zu sein als die Strafmaße.21 So waren zwar für viele Beobachter und nur neun übriggeblieben. Bereits am Vorabend war ein Protestzug Rundfunk reagierte. Er äußerte Verständnis für die Entrüstung, ar- strahlte ihn aber 1991, also zehn Jahre nach dem Urteilsspruch im Beteiligte zahlreiche der im Majdanek-Prozess verhängten Strafen durch Düsseldorf gezogen und vor dem Landgericht eine Mahn- gumentierte aber mit der geschichtspolitischen und pädagogischen Majdanek-Verfahren, dann doch im Hauptprogramm aus. Am Ver- aus nachvollziehbaren Gründen unbefriedigend, doch steht der große wache eingerichtet worden. Bei der Urteilsverkündung kam es im Wirkung dieses Prozesses: »Kein rechtsstaatlich denkender Bürger hältnis der Öffentlichkeit zu diesem Prozess auch Jahre nach seinem Wert des Verfahrens für die gesellschaftliche Diskussion über NS- Gerichtssaal zu Buhrufen, für die Bogen im Rückblick Verständnis kann verstehen, daß SS-Schergen, wie sie im Majdanek-Prozeß vor Ende lässt sich also – ähnlich wie beim Frankfurter Auschwitz- Verbrechen außer Frage. zeigte, schließlich hätten sie »zumindest teilweise nicht so ganz Gericht standen, wegen Beihilfe zum Massenmord nur zu drei Jahren Prozess – der schwierige Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Unrecht« gehabt.14 Wohl aus diesem Grund schritt er auch nicht ein, Freiheitsentzug verurteilt worden sind. Die Würde des Menschen Bundesrepublik eindrucksvoll nachverfolgen. als Spruchbänder im Gerichtssaal gezeigt wurden. erscheint vielen erneut verletzt worden zu sein; es wurde auch von Die Mehrzahl der gegen die neun verbliebenen Angeklagten der Verhöhnung der Opfer gesprochen. Auch diese Reaktionen aus 21 »Interview mit Staatsanwalt a.D. Ambach«, in: Ambach, Köhler, Lublin-Majdan- verhängten Strafen fügten sich nahtlos in das bis dahin vorherr- der Bevölkerung zeigen, daß das Gewissen richtig reagiert hat. […] Fazit: die historiografi sche und erinnerungspolitische ek, S. XV–XVIII, hier S. XVI. schende Bild der deutschen Rechtsprechung in Verfahren wegen Aber Strafverfahren gegen NS-Verbrecher können den Rechtsfrieden Funktion von NS-Prozessen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen ein, denn nur eine Ange- nicht wieder herstellen, der in der Nazizeit millionenfach gebrochen klagte erhielt eine lebenslange Haftstrafe, gegen sieben Angeklagte worden ist. Solche Prozesse sind ja nur ein Versuch, die Mörder zur Der Majdanek-Prozess kann mit gutem Grund wegen seiner zahllo- wurden Freiheitsstrafen zwischen drei und zwölf Jahren ausgespro- Verantwortung zu ziehen. Das ist – wie im Fall Majdanek mehr als sen Beweisdokumente, seiner politischen und juristischen Dimension chen, ein Angeklagter wurde freigesprochen. Wie auch in anderen dreißig Jahre nach der Niederlage und Befreiung – sehr schwer. […] sowie seiner medialen Begleitung als ein guter Beleg für die These Prozessen dieser Art verurteilten die Richter die meisten Personen Als das Verfahren im Sommer 1975 begann, kannte hierzulande gelten, dass Strafprozesse wegen nationalsozialistischer Gewalt- lediglich wegen Beihilfe zum Mord, und eine großzügige Ausle- kaum jemand Majdanek. Nach dem Prozeß ist und bleibt hoffentlich verbrechen in vielerlei Hinsicht als »Lektionen in Zeitgeschichte«19 gung von strafmildernden Umständen führte zu den in den Augen Majdanek ein Begriff, ein Menetekel, das uns alle mahnt und warnt, betrachtet werden sollten: So förderten sie aufgrund der Beweiser- vieler Prozessbeobachter niedrigen Haftstrafen. Vor allem wurde ins wachsam zu sein.«17 hebung und der wissenschaftlichen Fachgutachten das Wissen über Feld geführt, acht der neun Angeklagten sei nicht nachzuweisen, Noch Jahre später sollte der Prozess die Gemüter erhitzen. die Morde der Einsatzkommandos sowie die Konzentrations- und dass sie über das Befohlene hinaus gehandelt hätten. Getreu der Seine mediale Begleitung beschränkte sich nämlich nicht nur auf Vernichtungslager, wovon die historische Forschung in erheblichem subjektiven Teilnahmelehre hatten sie nicht aus eigenem Antrieb Zeitungsberichte oder Fernseh- und Radioreportagen während des Maße profi tierte;20 durch die intensiven und kontroversen Diskus- gehandelt, die Taten also nicht selbst gewollt. Deswegen waren sie Verfahrens. Ein beeindruckendes Dokument ist auch der im Laufe sionen über Urteile und Stellungnahmen von Politikern zu diesem nach Ansicht des Gerichts nicht als Mörder im Sinne des Strafge- von acht Jahren entstandene Film DER PROZESS – EINE DARSTELLUNG Thema wurde zudem der erinnerungspolitische Umgang mit den setzbuches anzusehen. DES MAJDANEK-VERFAHRENS IN DÜSSELDORF des Filmemachers und NS-Verbrechen und die NS-Vergangenheit insgesamt neu verhandelt. In dem Urteil heißt es: »Sie verrichteten sämtlich nur die ihnen Schauspielers Eberhard Fechner. Dieser führte Interviews mit Rich- Wie auch bei anderen großen Verfahren wohnten im Laufe des anbefohlenen Tätigkeiten und beteiligten sich, wie es im Wesen tern und Staatsanwälten, Angeklagten und Opfern sowie weiteren Majdanek-Prozesses Lehrer den Verhandlungen mit ihren Schul- des Handelns auf Befehl gilt, nicht aus eigenem Entschluss an der Zeugen. Fechners Werk umfasst in der Endfassung insgesamt vier- klassen bei, um ihnen die Folgen der NS-Herrschaft unmittelbar Tatausführung, sondern in Erfüllung einer vermeintlichen Pfl icht. einhalb Stunden und wurde 1984 erstmals in drei Teilen – Anklage, vor Augen zu führen. Die intensive Medienberichterstattung be- […] Ihre innere Einstellung zu den befohlenen Taten lässt sich unter Beweisaufnahme, Urteile – zu je 90 Minuten Länge gezeigt. wirkte zudem, dass sich immer mehr Menschen mit dieser Thematik diesen Umständen nicht als ›Täterwille‹ […] beurteilen […].«15 Der Dreiteiler ist mit seinen Interviews an sich bereits ein zeit- Darauf aber, dass die Taten auch anders interpretiert hätten werden historisches Dokument, aber die Umstände der Ausstrahlung und können und dass das deutsche Strafgesetzbuch zumindest bei eini- die Reaktionen darauf bieten auch einen Einblick in die emotionale 18 Zit. nach Gerhard Mauz, »Ein Fall von öffentlich-rechtlicher Zensur?«, in: Der gen der acht Haftstrafen durchaus Spielraum für höhere Strafmaße Debatte über die bundesdeutsche Erinnerungskultur in den 1970er Spiegel, Nr. 45/1984, S. 79 f., hier S. 79. geboten hätte, deutet eine spätere Äußerung Bogens hin. Demnach 19 So Peter Steinbach über den Prozess gegen Adolf Eichmann im Jahre 1961 in Je- rusalem. Vgl. Peter Steinbach, Nationalsozialistische Gewaltverbrechen. Die Dis- kussion in der deutschen Öffentlichkeit nach 1945, Berlin 1981, S. 53. 16 »Zeitzeugeninterview mit dem Vorsitzenden Richter am Landgericht a.D., Günter 20 Vgl. hierzu unter anderem Annette Weinke, »Die Justiz als zeithistorische For- Bogen«, S. 257. Die Veröffentlichung eines »dissenting vote« ist in der schungsstelle«, in: Frank Bösch (Hrsg.), Public History. Öffentliche Darstellun- 14 »Zeitzeugeninterview mit dem Vorsitzenden Richter am Landgericht a.D., Günter Bundesrepublik nur bei Urteilen von Verfassungsgerichten möglich. gen des Nationalsozialismus jenseits der Geschichtswissenschaft, Frankfurt am Bogen«, in: Juristische Zeitgeschichte, Bd. 4: NS-Verbrechen und Justiz, hrsg. 17 »Ministerpräsident Johannes Rau zum Majdanek-Prozeß, Westdeutscher Rund- Main u.a. 2009, S. 156–189; der Majdanek-Prozess bot u. a. intensive Einblicke vom Justizministerium des Landes NRW, Düsseldorf 1996, S. 247–260, hier funk, III. Programm (7. Juli 1981)«, in: Juristische Zeitgeschichte, Bd. 4: NS-Ver- in die Opferperspektive: Dieter Ambach und Thomas Köhler, Lublin-Majdanek. S. 257. brechen und Justiz, hrsg. vom Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfa- Das Konzentrations- und Vernichtungslager im Spiegel von Zeugenaussagen, 15 Zit. nach Kuretsidis-Haider, »Majdanek und die deutsche Justiz«, S. 177. len, Düsseldorf 1996, S. 233–235, hier S. 233 f. Düsseldorf 2004.

36 Einsicht Einsicht 16 Herbst 2016 37 Beiträge zu Leben und Wirken Fritz Bauers das Wort ›Auschwitz‹ in deutsche Wohnzimmer gedrungen, zwan- sein Lebenswerk zu würdigen und in ihm nicht nur eine lokale Größe zigtausend Deutsche sind als Zuschauer in den Gerichtssaal geströmt, zu sehen. »Berühmt« war, so könnte man es sarkastisch ausdrücken, unter ihnen viele Studenten«, so formulierte es Ronen Steinke, der Fritz Bauer zu dieser Zeit lediglich bei seinen Feinden. Jean Améry die Prozesse Bauers »Hauptwerk« nennt und es in seinem Buch über berichtete 1967 von einer Szene, die das exemplarisch illustriert. ihn 2013 »verblüffend« fand, dass es mehrere Jahrzehnte dauerte, Er hatte Bauer kurz zuvor bei den von Hermann Glaser organisier- Selbstansprachen der Gegenwart bis sein Wirken bei der Ergreifung Adolf Eichmanns in Argentinien ten »Nürnberger Gesprächen« zum Umgang der Deutschen mit den überhaupt bekannt wurde: »So viele positive Identifi kationsfi guren Massenverbrechen kennengelernt und dort selbst erlebt, wie er von Die Spielfi lme über Fritz Bauer im Kontext hat die deutsche Nachkriegsgeschichte nicht aufzuweisen. So viele »einem jungen Mann mit Heideggerjoppe«, der Propagandamaterial Beispiele für Zivilcourage hat auch die Juristenschaft nicht.«2 Heute gegen die Veranstaltung verteilte, mit der Drohung angegangen wurde seiner Rezeptions- und Wirkungsgeschichte gilt Fritz Bauer in einer breiteren Öffentlichkeit als »Botschafter der »es würde Leuten wie dem Generalstaatsanwalt und mir noch einmal Menschenwürde«, der, so formulierte es der Präsident des Bundesver- übel ergehen«.7 Während zu seinen Lebzeiten die verworren-bedroh- fassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, »an der deutschen Geschichte liche Über-Aufmerksamkeit durch Rechtsradikale, Antisemiten und von Nicolas Berg mitgeschrieben und sie zum Guten hin beeinfl usst« hat.3 Er habe, so ehemalige Nazis und ihre Ressentiments zu seinem berufl ichen und noch einmal Steinke, »sein Land etwas aufgehellt in einer Zeit, in privaten Alltag gehörten und Bauer und seine Mitarbeiter anonyme der es noch immer sehr düster war«.4 In diesem Sinne bezeichnete Schmäh- und Drohbriefe in die Behörde und nach Hause geschickt Fritz Bauer und die Widersprüche auch der Jurist und Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung, Heribert bekamen, die den Empfängern vorwarfen, das Wohlergehen von des öffentlichen Gedächtnisses Prantl, Fritz Bauer als einen »Erschütterer« im positiven Sinne: »Er Volk und Staat sei durch sie bedroht8, fällt aus heutiger Sicht nicht erschütterte die Gewissheiten der Nachkriegsgesellschaft«, und es nur diese groteske Überschätzung durch seine antisemitischen Geg- Die historischen Verdienste des 1903 gebo- sei »Zeit geworden, dies zu würdigen«. Auch er drückte dabei sein ner und Feinde ins Auge, sondern auch die lange Zeit andauernde Dr. Nicolas Berg ist leitender wis- renen und Ende Juni 1968 verstorbenen hessischen Generalstaats- Erstaunen über den langen Weg der Anerkennung aus, als er lapidar öffentliche Unterschätzung Bauers. Améry bemerkte im Anschluss senschaftlicher Mitarbeiter am anwalts Fritz Bauer sind heute unbestritten. Vor allem der 1952 von hinzufügte: »Fritz Bauer rückt endlich dahin, wo er hingehört – ins an seinen Bericht über den hässlichen Zwischenfall, Bauer habe ihm Simon-Dubnow-Institut für jüdische ihm initiierte Remer-Prozess in und die Bedeutung öffentliche Bewusstsein«.5 seinerzeit »hohen Respekt« eingefl ößt und er hätte sich gerne noch Geschichte und Kultur in Leipzig. der Frankfurter Auschwitz-Prozesse in den 1960er Jahren, die un- Lange Zeit war aber genau dies nicht der Fall gewesen. Zwar viel länger mit ihm unterhalten, was die äußeren Umstände seiner- Aktuell forscht er zum Projekt »Das mittelbar mit dem Namen dieses »singulären Juristen« (Norbert Frei) schrieb die Wochenzeitung Die Zeit im Februar 1969 zum Amtsantritt zeit jedoch nicht zuließen. Doch dieser »hohe Respekt« wurde ihm Rätsel Produktivität. Völkerpsycho- verknüpft sind, werden gemeinhin und zu Recht als Wendepunkte im des Nachfolgers von Fritz Bauer, dieser sei »weit über die Grenzen zumeist von Opfern der NS-Zeit zuteil, und selbst bei diesen, etwa logie, Kulturtheorie und jüdische gesellschaftlichen Umgang mit der NS-Zeit gewertet. Sein Name gilt Hessens hinaus ein Begriff« und für die Öffentlichkeit die »Sym- bei Ralph Giordano, fi nden sich oft nur rhetorische Wendungen, die Geschichte in der deutschsprachigen inzwischen als ein Symbol für jene wenigen Einzelnen, die nach dem bolfi gur für eine Rechts- und Justizpolitik« gewesen, »die unserer sich in den Jahrzehnten bis Ende der 1990er Jahre für die histori- Nationalökonomie des 19. und frühen Zweiten Weltkrieg und nach dem Holocaust gegen den Widerstand ei- Zeit weit vorauseilte und in die Zukunft wies«.6 Doch war diese sche Erinnerung an Bauer etabliert hatten; er spricht in einer etwas 20. Jahrhunderts«. Im Wintersemes- ner schweigenden Mehrheit in Deutschland ein selbstaufklärerisches Überzeugung seinerzeit zu optimistisch; Bauer war in den Jahren und geronnen wirkenden Formel vom »verdienten und unvergessenen ter 2015/2016 hatte Nicolas Berg die Ethos im Umgang der Gesellschaft mit der Schuld der eigenen Nation Jahrzehnten nach seinem Tod nicht so allgemein bekannt, wie hier hessischen Generalstaatsanwalt«.9 Was aber das kollektive deutsche Gastprofessor für interdisziplinäre zu etablieren begannen. In diesem Sinne verkörpert Bauer idealty- vorausgesagt wird, vor allem nicht jenseits von Hessen. Die Bun- Holocaustforschung am Fritz Bauer pisch die »Rückkehr des Rechts« nach Deutschland, und er wird in der desrepublik Deutschland tat sich vielmehr lange Zeit schwer damit, Institut an der Goethe-Universität allgemeinen Öffentlichkeit wie in der Geschichtswissenschaft mehr Frankfurt inne. und mehr als veritable Heldenfi gur im Prozess der Demokratisierung 7 Jean Améry, Brief an Hety Schmitt-Maass vom 14.5.1967, in: ders., Werke, Bd. 8: 2003 erschien seine an der Universi- und Liberalisierung Nachkriegsdeutschlands wiederentdeckt.1 »Ein Ausgewählte Briefe, hrsg. von Gerhard Scheit, 2007, S. 215; an die Re- 2 Ronen Steinke, »Fritz Bauer – ein deutscher Held«, in: Süddeutsche Zeitung vom de von Fritz Bauer in Nürnberg erinnert sich der damals ebenfalls eingeladene tät Freiburg abgeschlossene Disserta- deutscher Held« – so lautete auch die Überschrift der Süddeutschen 20.12.2013; ders., »Der große Auschwitz-Prozess 1963–1965: Sein Hauptwerk«, Fritz Stern, der Bauers Auftreten offenbar kritisch sah, noch Jahrzehnte später tion Der Holocaust und die westdeut- Zeitung über der Würdigung Bauers zum 50. Jahrestag des Verhand- in: ders., Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht, mit einem Vorwort von wie folgt: »Fritz Bauer, der Ankläger im Auschwitzprozeß, sprach mit ätzenden schen Historiker – Erforschung und lungsbeginns des Auschwitz-Prozesses: »Vom 20. Dezember an ist Andreas Voßkuhle, München 2013, S. 178–220; das Zitat aus dem einleitenden Worten über die Frage ›Was hat Auschwitz mit dem deutschen Menschen zu Erinnerung im Göttinger Wallstein Kapitel »Der Deutsche, der Eichmann vor Gericht brachte«, S. 13–27, hier S. 24. tun?‹.« Vgl. Fritz Stern, Fünf Deutschland und ein Leben. Erinnerungen, Mün- 3 Volker Breidecker, »Botschafter der Menschenwürde. Eine Ausstellung im Jüdi- chen 2007, S. 306 [Hervorh. von N. B.]. Verlag. Sie liegt inzwischen in dritter schen Museum Frankfurt erinnert an Fritz Bauer, den Generalstaatsanwalt, der 8 Einige Beispiele im Faksimile in: Fritz Bauer. Der Staatsanwalt. NS-Verbrechen Aufl age und in englischer Überset- gegen die Verdrängung der NS-Verbrechen ankämpfte«, in: Süddeutsche Zeitung vor Gericht. Eine Ausstellung des Fritz Bauer Instituts und des Jüdischen Muse- zung vor. 2008 erschien bei Vanden- 1 Norbert Frei, »Die Rückkehr des Rechts. Justiz und Zeitgeschichte nach dem vom 30.4./1.5.2014; Andreas Voßkuhle, »Vorwort«, in: Steinke, Fritz Bauer oder ums Frankfurt, in Kooperation mit dem Thüringer Justizministerium, hrsg. von hoeck & Ruprecht in Göttingen sein Holocaust – eine Zwischenbilanz«, in: Arnd Bauerkämper u.a. (Hrsg.), Doppelte Auschwitz vor Gericht, S. 11. Fritz Backhaus, Monika Boll und Raphael Gross, Frankfurt am Main 2014, Zeitgeschichte. Deutsch-deutsche Beziehungen 1945–1990. Festschrift für Chri- 4 Steinke, Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht, S. 26. S. 161–164; Bauer legte solche Drohbriefe in einer Mappe mit der Aufschrift Buch Luftmenschen. Zur Geschichte stoph Kleßmann, Bonn 1998, S. 417–431; ders., »Die Rückkehr des Rechts«, in: 5 Heribert Prantl, »Ein Erschütterer. Chefankläger gegen die Nazis: Fritz Bauer »Irre Zuschriften« ab, vgl. Steinke, Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht, S. 27. einer Metapher (2., durchgesehene ders., 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen, erw. Ta- rückt endlich dahin, wo er hingehört – ins öffentliche Bewusstsein«, in: Süddeut- 9 Ralph Giordano, Die zweite Schuld oder Von der Last, ein Deutscher zu sein, Aufl . 2014). schenbuchausg., München 2005, S. 78–97; ders., »›Gerichtstag halten über uns sche Zeitung vom 24./25.10.2015. München 1990, S. 134; eine noch häufi ger wiederkehrende Formel ist die Rede selbst‹«, in: Die Zeit vom 21.11.2013; ders., »Fritz Bauer oder: Wann wird ein 6 Gerhard Ziegler, »Name ohne Glanz. Der neue Generalstaatsanwalt in Hessen«, vom »unermüdlichen« Fritz Bauer, vgl. Peter Reichel, »Auschwitz«, in: Deutsche Held zum Helden?«, in: Stefan Gerber u. a. (Hrsg.), Zwischen Stadt, Staat und in: Die Zeit vom 7.2.1969. Die Überschrift des Artikels bezieht sich auf den Erinnerungsorte, 3 Bde., hrsg. von Etienne François, Hagen Schulze, Bd. 1, Nation. Bürgertum in Deutschland. Festschrift für Hans-Werner Hahn, Göttingen Fuldaer Oberstaatsanwalt Horst Gauf, der von 1968 bis 1986 als Nachfolger München 2001, S. 600–621, hier S. 613; ders., »Der Nationalsozialismus vor Ge- 2014, S. 273–279. Bauers hessischer Generalstaatsanwalt war. richt und die Rückkehr zum Rechtsstaat«, in: ders., Harald Schmid, Peter Stein-

38 Einsicht Einsicht 16 Herbst 2016 39 Selbstverständnis betrifft, so gab es über Jahrzehnte gar keinen Kon- Stadt Frankfurt am Main13 und des Landes Hessen14 oder auf die Tra- sens und nicht einmal erkennbare Bemühungen, ihn als Symbolgestalt ditionspfl ege der Sozialdemokratie.15 Würdigendes Andenken fand für den juristischen und gesellschaftlichen Kampf gegen das Verges- somit eher in Zirkeln oder Milieus statt. Bekannte, Kollegen und ihm sen und Verdrängen der Naziverbrechen zu kanonisieren. nahestehende Freunde gaben in Erinnerungstexten und Memoiren Fritz Bauer wurde in der alten Bundesrepublik weder ganz ver- Zeugnis, so etwa Horst Krüger.16 Wenige zeitgenössische Schrift- gessen noch angemessen anerkannt. Einerseits wurde ihm eine Art steller und Intellektuelle – neben Thomas Harlan auch Theodor W. formeller Rang zuteil, der sich aus heutiger Sicht mitunter pfl icht- Adorno 1966 in der Negativen Dialektik und Uwe Johnson 1968 schuldig ausnimmt oder wie die formelhafte Wendung bei Giordano in den Jahrestagen – erwähnten Bauer in ihren Werken.17 Auch in klingt; auf der anderen Seite übertrug sich dies aber in keine gesell- einer Reihe von Filmen fand sein Wirken in dokumentarischer Form schaftspolitische Akte des Gedenkens. Über mehrere Jahrzehnte Anerkennung, von Alexander Kluges ABSCHIED VON GESTERN (1966) wurde der Name Bauers mit keinem nennenswerten symbolischen über den leider viel zu wenig beachteten Film von David Wittenberg Zeichen für die Gegenwartsbedeutung des deutschen Selbstverständ- DIE WÜRDE EINES JEDEN MENSCHEN. ERINNERN AN FRITZ BAUER (1995) nisses versehen. Besonders auffällig – darauf wies bereits Irmtrud bis hin zu dem eineinhalbstündigen Dokumentarfi lm von Ilona Ziok, Wojak, Bauers erste Biografi n, hin – war seine Nichterwähnung die in FRITZ BAUER – TOD AUF RATEN, der 2010 in die Kinos kam, viele in der Festschrift Die großen Frankfurter von 1994.10 Aber auch der Stimmen derjenigen, die Bauer nahestanden und hier zum Teil bei eher zufällig gewählten Stichproben wundert man sich heute, erstmals über ihn berichteten, in einem Panorama versammelte und wie selten er in thematisch einschlägigen Büchern zwischen den sowohl dem Lebenswerk von Bauer als auch seinem einsamen Tod 1970er und 1990er Jahren genannt wird, so fehlt er etwa auch in neue Aufmerksamkeit verschaffte. Anderen Intellektuellen jedoch dem Taschenbuch-Klassiker Geschichte Deutschlands nach 1945. galt Bauer mit seinem etwas altertümlich anmutenden bildungsbür- Eine Bilanz von Alfred Grosser, der zahlreiche Aufl agen erreichte, gerlichen Habitus, seinem Sprachduktus und dem schwäbischen oder in Zweierlei Erinnerung. Die NS-Vergangenheit im geteilten Akzent als provinziell. Selbst Hannah Arendt erwähnte ihn 1961 in Deutschland von Jeffrey Herf, obwohl es hier ein ganzes Kapitel »Sühne, Wiedergutmachung und verzögertes Recht. Westdeutsch- 11 land, 1949–1963« gibt. Und obwohl es in diesen Jahren und noch Welt verlassen«. Fritz Bauers Briefe an Thomas Harlan, mit Einführungen und bis in die frühen 2000er Jahre hinein immer wieder einzelne Initi- Anmerkungen von Werner Renz und Jean-Pierre Stephan, Frankfurt am Main, ativen gab, das öffentliche Gedächtnis an Bauer zu beleben – die New York 2015. Humanistische Union vergab beispielsweise seit 1969 einen Preis 13 Zu erwähnen ist etwa die Gedenktagung anlässlich des 90. Geburtstages und 25. Todestages von Fritz Bauer 1993, die den Titel »betr. Fritz Bauer und der in seinem Namen, und in Darmstadt wurde 1970 ein Neubau der Auschwitz-Prozess« trug und im Oberlandesgericht Frankfurt am Main und im Justizvollzugsanstalt nach ihm benannt –, blieb die Pfl ege seines Haus Gallus, am Ort des Frankfurter Auschwitz-Prozesses, stattfand. Andenkens lange Zeit auf Fachleute oder auf bestimmte Gruppenge- 14 Manfred Köhler, »Widerstandspfl icht gegen den Unrechtsstaat, Widerstandsrecht dächtnisse beschränkt: auf wenig gelesene literarische Monumente gegen den ungerechten Staat. Biographische Skizze des hessischen Generalstaats- anwalts und Radikaldemokraten Fritz Bauer (1903–1968)«, in: Hessen in der Ge- 12 wie Thomas Harlans Heldenfriedhof (2006) , auf das Gedächtnis der schichte. Festschrift für Eckhart G. Franz zum 65. Geburtstag, hrsg. von Christof Dipper u.a., Darmstadt 1996, S. 404–426; Matthias Meusch, Von der Diktatur zur Demokratie. Fritz Bauer und die Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Hessen (1956–1968), Wiesbaden 2001. bach (Hrsg.), Der Nationalsozialismus, die zweite Geschichte: Überwindung, 15 Ilse Staff, »Fritz Bauer (1903–1968). ›Im Kampf um des Menschen Rechte‹«, in: Deutung, Erinnerung, München 2009, S. 22–61, hier S. 32; Hildegard Hamm- Kritische Justiz (Hrsg.), Streitbare Juristen. Eine andere Tradition, Baden-Baden Brücher, In guter Verfassung? Nachdenken über die Demokratie in Deutschland. 1988, S. 440–450; Wolfgang Bittner, »Fritz Bauer«, in: Edmund Jacoby (Hrsg.), Mit einem Vorwort von Richard von Weizsäcker, München 2006, S. 43. Lexikon Linker Leitfi guren, Frankfurt am Main, Olten, Wien 1988, 10 Die großen Frankfurter, hrsg. von Hans Sarkowicz, Frankfurt am Main, Leipzig S. 33–35; David Rüschenschmidt, »Fritz Bauer (1903–1968)«, in: Manfred 1994; in der Neuaufl age des Bandes von 2004 wurde Bauer dann aufgenommen, Blänkner, Axel Bernd Kunze (Hrsg.), Rote Fahnen, Bunte Bänder. Korporierte vgl. Die großen Frankfurter. Ehrwürdige Bürger und Ehrenbürger von Karl dem Sozialdemokraten von Lassalle bis heute, mit einem Vorwort von Erhard Eppler, Großen bis Friedrich von Metzler, hrsg. von Hilmar Hofmann, Frankfurt am Bonn 2016, S. 65–73. Fritz Bauer und seine drei Darsteller Main 2004, S. 98 ff.; hierzu: Irmtrud Wojak, Fritz Bauer 1903–1968. Eine Bio- 16 Horst Krüger, »Im Labyrinth der Schuld«, in: Der Monat, Jg. 16 (1964), Nr. 188, o. l: Fritz Bauer in seinem Büro, fotografi ert von Stefan Moses. Das Foto diente auch als Plakatmotiv für den graphie, München 2009, S. 11 f.; dieses nachholende Andenken, so Wojak, doku- S. 19–29; ders., »Fremdling in der Stadt. Gedenkblatt für Fritz Bauer«, in: Die Dokumentarfi lm FRITZ BAUER – TOD AUF RATEN (2010, Regie Ilona Ziok). mentiere das schwierige Verhältnis der Stadt Frankfurt zu Fritz Bauer in nuce: Er Zeit vom 12.7.1968; ders., »Gerichtstag«, in: ders., Das zerbrochene Haus. Eine o. r.: Alexander Fehling (links) als Johann Radmann und Gert Voss als Fritz Bauer in IM LABYRINTH DES SCHWEIGENS erhielt hier zu Lebzeiten keinen Preis und keine Ehrung. Jugend in Deutschland, Hamburg 1999, S. 148–179. (2014, Regie Giulio Ricciarelli), Foto: Universal Pictures 11 Alfred Grosser, Geschichte Deutschlands nach 1945. Eine Bilanz, 13. Aufl ., 17 Theodor W. Adorno, Einleitung in die Soziologie (1968), hrsg. von Christoph u. l.: Burghart Klaußner in DER STAAT GEGEN FRITZ BAUER (2015, Regie Lars Kraume), Foto: Alamode Film München 1987 [zuerst: München 1974; franz. Orig.: 1970]; Jeffrey Herf, Zweier- Gödde, Frankfurt am Main 2003 [zuerst 1993], S. 198; ders., Negative Dialektik/ u. r.: Ulrich Noethen in DIE AKTE GENERAL (2016, Regie Stephan Wagner), Foto: UFA Fiction/ARD lei Erinnerung. Die NS-Vergangenheit im geteilten Deutschland, Berlin 1998 Jargon der Eigentlichkeit (Gesammelte Schriften, Bd. 6), 7. Aufl ., Frankfurt am [amerik. Orig.: Cambridge, MA 1997]. Main 2015 [zuerst 2003], S. 282; Uwe Johnson, Jahrestage. Aus dem Leben der 12 Thomas Harlan, Heldenfriedhof, Frankfurt am Main 2006; zum Verhältnis von Gesine Crespahl, Bd. 3 und 4, Frankfurt am Main 1970, S. 405; zit. nach: Wojak, Fritz Bauer zu Thomas Harlan vgl. jetzt: Werner Renz (Hrsg.), »Von Gott und der Fritz Bauer 1903–1968, S. 454.

40 Einsicht Einsicht 16 Herbst 2016 41 einem pejorativen Ton, als sie an Karl und Gertrud Jaspers schrieb, Der justitielle und rechtspolitische Umgang mit den NS-Gewaltver- Zeitung noch jüngst in einem Bericht zur Gedenkausstellung über Im Folgenden wird keine ideologiekritische Skandalisierung Bauer sei »auch nicht mehr als ein ganz braver Sozialdemokrat«.18 brechen in den sechziger Jahren von 2001, die Beiträge von Joachim Fritz Bauer, die zwischen April und September 2014 im Jüdischen vermeintlich oder tatsächlich falscher Motive der Filmemacher, Orte und Institutionen, an denen Bauer wirkte – in Stuttgart, Perels23 und vor allem die Arbeiten von Werner Renz zur Vorge- Museum Frankfurt gezeigt wurde, der »Ankläger in den Auschwitz- Kinobesucher und TV-Zuschauer zur Leitlinie eines Rückblicks Braunschweig oder Frankfurt am Main –, erhielten vier oder sogar fünf schichte und Geschichte des Auschwitz-Prozesses seit den späten Prozessen ist weitgehend vergessen«.29 auf die drei Spielfi lme gemacht; es sollen lediglich einige Beobach- Jahrzehnte lang keine Gedenktafel oder andere Erinnerungszeichen. In 1990er Jahren24 sowie die Monographie von Claudia Fröhlich, die tungen zur Diskussion gestellt werden, die den Kunstwert und die seiner Geburtsstadt Stuttgart wurde dies erst 2003 geändert, als man auf einer Berliner Dissertation von 2004 beruht.25 Eine ganze Reihe Eigenlogik der Filme beachten, sie also wie eine Quelle betrachten eine kleine Treppenstiege zwischen der Bopser- und der Etzelstraße der genannten Bücher und Studien erschien dabei bereits im Rahmen Zwischen Generationenkampf und Selbstbefreiung: und ihnen somit einen Vorschuss an Respekt erteilen. Sie werden nach ihm benannte; im Juni 2010 erschien die Korrektur dem Stutt- des 1995 gegründeten Instituts zur Geschichte und Wirkung des Ho- drei Spielfi lme über Fritz Bauer im Folgenden gerade nicht rezensiert und sie werden auch nicht mit garter Stadtrat offensichtlich zu halbherzig geraten und er benannte locaust, das sich fünfzig Jahre nach Kriegsende aus einer Frankfurter der historischen Überlieferung verglichen oder im Hinblick auf die zusätzlich noch die Treitschke-Straße im Stadtteil Sillenbuch in Fritz- Bürgerinitiative konstituiert hat und seither den Namen von Fritz Zwei Jahre später erscheint ein solcher Untertitel in einem Bericht Nähe oder den Abstand zur Wirklichkeit der 1960er Jahre ausge- Bauer-Straße um.19 In Frankfurt, wo Bauer zwölf Jahre lang gelebt Bauer trägt. Es legte eine Auswahl seiner Schriften neu auf 26 und über Fritz Bauer nicht mehr vorstellbar. Seine Wahrnehmung hat in messen. Dies ist hervorzuheben, weil die kritischen Stimmen zu den und gearbeitet hatte, folgte die lokalpolitische Entscheidung 2011 gab im Rahmen des Forschungsprojekts »Gerichtstag halten über uns den vergangenen zwei Jahren im öffentlichen Bewusstsein Deutsch- Filmen dies bereits getan haben und dabei zu nicht befriedigenden dem Gedanken, im neu geschaffenen Frankfurter Stadtteil Riedberg selbst…« die grundlegende und viel beachtete Biografi e von Irmtrud lands eine neue Dimension angenommen, deren Gehalt noch zu Sichtweisen und Wertungen gelangt sind. Da sich in den Filmen ein die Straßen eines ganzen Quartiers mit den Namen von Widerstands- Wojak in Auftrag, die 2009 erschien.27 Außerdem gibt das Fritz Bauer analysieren sein wird, die aber sicher nicht durch wissenschaftliche unmittelbares Gegenwartsinteresse unserer Zeit manifestiert, wäre es kämpfern gegen das NS-Regime zu versehen; so wurde hier auch eine Institut seit 1996 das Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Publikationen allein oder auch durch Gedenktafeln und Erinnerungs- paradox, ihnen gerade das vorzuwerfen oder aus der fachlichen Warte Bauer gewidmet, obwohl er im Westend gewohnt und im Zentrum der Holocaust heraus, das seinen Namen trägt (derzeit liegen 19 Bände zeichen im öffentlichen Raum erreicht worden wäre: Im Zeitraum der Zeithistoriker einzelnen Szenen oder dem Film als Ganzes Fehler, Stadt gearbeitet hat. 2012 wurde in Brauschweig ein Platz in der Nähe vor) und verschaffte zudem in vielen Veranstaltungen, Vorträgen von nur wenigen Monaten wurde sein Wirken als Staatsanwalt Unterlassungen oder Überzeichnungen aufzuzeigen.33 Es ist dagegen des Landgerichts nach ihm benannt; im selben Jahr erwies ihm auch das und Diskussionen, in Veröffentlichungen, Ausstellungen und Lehr- im Frankfurt der Nachkriegszeit in gleich drei Spielfi lmen für ein von ganz eigenem Interesse, in drei Varianten zu beobachten, dass die Stuttgarter Amtsgericht Referenz, indem es einem Veranstaltungsraum veranstaltungen Bauers Anliegen und damit auch seinem Andenken Millionenpublikum in Kino und Fernsehen dargestellt.30 Alle drei Persönlichkeit Bauers, sein Lebenswerk und sein privates Schicksal, den Namen »Fritz-Bauer-Saal« gab. Und seit Sommer 2016 erinnern neue Geltung.28 Trotzdem hieß es in der Frankfurter Allgemeinen Filme wurden bei Kritik und Publikum grundsätzlich positiv aufge- hier zum Gegenstand einer Selbstansprache der Gegenwart geworden nun auch eine mit einem Zitat von Bauer versehene Tafel und ein nommen31, es gab jedoch auch eine Reihe kritischer Stimmen, die sind. Unter diesem Aspekt lernen wir in den Spielfi lmen vielleicht Gedenkstein der Künstlerin Tamara Grcic auf der Frankfurter Zeil vor entweder die fehlende historische Genauigkeit der Filme beklagten weniger über Bauer, sein Leben und seine Arbeit, als die Produzenten dem Oberlandesgericht20 an sein Wirken, das das Selbstverständnis der oder die vergangenheitspolitische Intention, Fritz Bauer »ex post und Verleihfi rmen intendiert haben; wohl aber über unser Interesse 23 Joachim Perels, Das juristische Erbe des »Dritten Reiches«. Beschädigungen der Bundesrepublik so grundlegend verändert hat. demokratischen Rechtsordnung, Frankfurt am Main, New York 1999; vgl. auch: zur mythisierten Ikone eines besseren Deutschlands« aufzubauen an ihm, über heutige Interessen, Ängste und Hoffnungen, die hier Bauers Wirken, auch das ist mit Blick auf seine noch nicht ders., »Ein Jurist aus Freiheitssinn – Fritz Bauer«, in: Vorgänge. Zeitschrift für und so zum »Gewährsmann deutscher Vergangenheitsbewältiger« in die Vergangenheit der 1950er und 1960er Jahre projiziert werden, geschriebene widerspruchsvolle und umkämpfte Wirkungs- und Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik, Jg. 40 (2001), S. 219–224. zu machen, grundsätzlich bemängelten.32 und über die gegenwärtigen Phantasien, in denen eine imaginierte Rezeptionsgeschichte zu konstatieren, erhielt lange Zeit auch nur 24 Werner Renz, »Der erste Frankfurter Auschwitz-Prozeß. Völkermord als Strafsa- Persönlichkeit Fritz Bauers die metaphorische Rolle erhält, einen che«, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, wenig Aufmerksamkeit in Rechts-, Geschichts- und Politikwissen- Jg. 15 (2000), H. 2, S. 11–48; ders., Fritz Bauer und das Versagen der Justiz. Prozess der Refl exion über das kulturelle und historische Selbstbild schaft; zu nennen sind exemplarisch neben der bereits genannten NS-Prozesse und ihre »Tragödie«, Hamburg 2015. des heutigen Deutschlands zu visualisieren. Promotion von Matthias Meusch (2001) vor allem der Aufsatz von 25 Claudia Fröhlich, »Wider die Tabuisierung des Ungehorsams«. Fritz Bauers 29 Nils Minkmar, »Was wir von Fritz Bauer lernen können. Der Ankläger in den Der erste Film in dieser Reihe trägt den an die Wendung Horst Widerstandsbegriff und die Aufarbeitung von NS-Verbrechen, Frankfurt am Main, Auschwitz-Prozessen ist weitgehend vergessen. Das Frankfurter Jüdische Muse- Rudolf Wassermann über den Braunschweiger Remer-Prozess von Krügers erinnernden Titel IM LABYRINTH DES SCHWEIGENS (D 2014, New York 2006; vgl. die Vorstudie: dies., »Fritz Bauer, Ungehorsam und Wider- um erinnert an Person und Werk«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21 1984, der Sammelband von Hanno Loewy und Bettina Winter von stand sind ein ›wichtiger Teil unserer Neubesinnung auf die demokratischen 10.4.2014. Die Ausstellung war bislang auch in Erfurt (Landtag), Heidelberg Regie Giulio Ricciarelli). Er behandelt die Vorgeschichte des 1996 über den Versuch Bauers, die Verbrechen der NS-»Euthanasie« Grundwerte‹«, in: dies., Michael Kohlstruck (Hrsg.), Engagierte Demokraten. (Landgericht), Tübingen (Landgericht), Laupheim (Museum zur Geschichte von Frankfurter Auschwitz-Prozesses als Generationenkampf und als vor Gericht zu bringen,22 Michael Greve und seine Untersuchung Vergangenheitspolitik in kritischer Absicht, Münster 1999, S. 106–120. Christen und Juden, Schloss Großlaupheim) und Köln (NS-Dokumentationszen- mühsamen Prozess der politischen Selbstaufklärung einer neuen 26 Fritz Bauer, Die Humanität der Rechtsordnung. Ausgewählte Schriften, hrsg. von trum der Stadt Köln) zu sehen. Generation über eine noch sehr gegenwärtige jüngste Vergangen- Joachim Perels und Irmtrud Wojak, Frankfurt am Main, New York 1998. 30 Einführend zur Bedeutung von Filmen für das öffentliche Geschichtsbewusstsein: 27 Wojak, Fritz Bauer 1903–1968 (eine 2., durchgesehene Aufl age erschien bereits Anton Kaes, »History and Film: Public Memory in the Age of Electronic Dis- heit. Der vielgerühmte Film, der als deutscher Beitrag zum besten 2009; eine Taschenbuch-Ausgabe 2011; eine Neuausgabe 2016 bei Buxus Edition, semination«, in: History and Memory, Vol. 2 (1990), Nr. 1, S. 111–129. fremdsprachigen Film für die Oscar-Nominierung fungierte, rückte 18 Hannah Arendt, Brief an Karl und Gertrud Jaspers vom 6.8.1961, in: dies., Karl München); vgl. auch dies., »Im Labyrinth der Schuld. Fritz Bauer und die Aufar- 31 Als DIE AKTE GENERAL im Februar 2016 angekündigt wurde, gab es Kommentare, Jaspers, Briefwechsel 1926–1969, hrsg. von Lotte Köhler und Hans Saner, Mün- beitung der NS-Verbrechen nach 1945«, in: Im Labyrinth der Schuld. Täter – die diesen dritten Film über Bauer zwar als »wichtig« lobten, die Stoffwahl aber chen, Zürich 2001, S. 482–486, hier S. 483. Opfer – Ankläger, hrsg. im Auftrag des Fritz Bauer Instituts von Irmtrud Wojak nicht mehr »originell« fanden, zuletzt jedoch zu dem Schluss kamen, man könne 19 Thomas Gerhards, »Ein Historiker auf der Straße: Die Treitschke-Straßen in und Susanne Meinl, Frankfurt am Main, New York 2003, S. 17–40. – Neben dem Bauers Geschichte »gar nicht oft genug erzählen«, so etwa der Südwestrundfunk 33 Kritik an Fehlern in Geschichtsfi lmen ist legitim, aber eine eingehende Beschäfti- Deutschland«, in: ders., Heinrich von Treitschke. Wirkung und Wahrnehmung ei- Teilprojekt der Bauer-Biografi e wurde im Rahmen des vom Gründungsdirektor vom 24.2.2016; Jochen Hieber sprach dagegen von einer »höchst merkwürdigen gung mit ihnen sollte, wenn es nicht um Geschichtsklitterung geht, sich nicht dar- nes Historikers im 19. und 20. Jahrhundert, Paderborn u.a. 2013, S. 383–403, des Instituts, Hanno Loewy, begonnenen und vom damaligen Kulturstaatsminister Doppelung« und kritisierte die »Parallelaktion« als schlechte Planung, vgl. Jo- auf beschränken; es gibt Kunstmittel, die ein Film anwenden darf, um sein imma- hier S. 388. Michael Naumann geförderten Projekts bereits 2004 die Transkription des 430- chen Hieber, »Dieser furchtlose Jurist störte Adenauers Kreise. Fritz Bauer, von nentes Narrativ zu wahren. In HANNAH ARENDT (D 2012, Regie Margarethe von 20 Sein Dienstzimmer hatte Bauer freilich in der Gerichtsstraße 2, im Gerichtsge- stündigen Tonbandmitschnitts des Auschwitz-Prozesses (DVD-ROM) veröffentlicht 1956 bis 1968 oberster Staatsanwalt in Hessen, ist in jüngster Zeit zu einem Film- Trotta) etwa, ein Film, der zwei Jahr zuvor dasselbe Thema wie die hier betrach- bäude B, 2. Stock. sowie im selben Jahr am historischen Ort, im Bürgerhaus Gallus, eine Ausstel- helden geworden«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24.2.2016. teten Fritz-Bauer-Filme – die abenteuerliche Ergreifung Eichmanns bzw. einen 21 Rudolf Wassermann, »Zur juristischen Bewertung des 20. Juli 1944. Der Braun- lung über den Auschwitz-Prozess gezeigt und ein Ausstellungskatalog publiziert. 32 Vgl. exemplarisch: Nora Bierich, »Zur väterlichen Nebenrolle degradiert – ›Im La- NS-Prozess – zur Filmerzählung machte, wird die Kritik von Gershom Scholem schweiger Remer-Prozeß als Meilenstein in der Nachkriegsgeschichte«, in: Recht 28 Exemplarisch genannt seien folgende Bände: Fritz Bauer Institut (Hrsg.), Gerichts- byrinth des Schweigens‹. Ein Film über und ohne Fritz Bauer, in: Zeitgeschichte on- und von Kurt Blumenfeld an Arendts Jerusalemer Prozessbericht einer Filmfi gur und Politik. Vierteljahreshefte für Rechts- und Verwaltungspolitik, Jg. 20 (1984), tag halten über uns selbst. Geschichte und Wirkung des ersten Frankfurter line (März 2015), URL: www.zeitgeschichte-online.de/fi lm/zur-vaeterlichen-neben- in den Mund gelegt; vgl. die Diskussion zum Verhältnis von Fakten und Fiktion H. 2, S. 68–80. Auschwitz-Prozesses, Frankfurt am Main 2001; Rückkehr in Feindesland? Fritz rolle-degradiert-im-labyrinth-des-schweigens; David Hellbrück, »Heldenfernsehen. bei: Manfred Wilke, »Fiktion oder erlebte Geschichte? Zur Frage der Glaubwür- 22 Hanno Loewy, Bettina Winter (Hrsg.), NS-»Euthanasie« vor Gericht. Fritz Bauer Bauer in der deutsch-jüdischen Nachkriegsgeschichte, hrsg. im Auftrag des Fritz Über Fritz Bauer, Rache und Gerechtigkeit«, in: sans phrase. Zeitschrift für Ideolo- digkeit des Films ›Das Leben der Anderen‹«, in: German Studies Review, Vol. 31 und die Grenzen der juristischen Bewältigung, Frankfurt am Main, New York 1995. Bauer Instituts von Katharina Rauschenberger, Frankfurt am Main, New York 2013. giekritik, Frühjahr 2016, H. 8, S. 243–262, hier S. 243 (zu den Filmen S. 257–262). (2008), H. 3, S. 589–598.

42 Einsicht Einsicht 16 Herbst 2016 43 das Schuldthema und den in der frühen Bundesrepublik hartnäckig fi ktiven Figur des jungen Staatsanwalts Karl Angermann (Ronald verweigerten Umgang mit den Verbrechen ins Zentrum seiner Er- Zehrfeld) eine zuletzt emanzipierte zweite Hauptperson die Filmer- zählung. Im Film ist Fritz Bauer, gespielt von Gert Voss in seiner zählung prägt und trägt. Bauer wird von Burghart Klaußner gespielt, letzten Rolle, zwar nicht das Zentrum der Geschichte, dieses liegt und die Interpretation der Rolle rückt nicht nur das Engagement des beim jungen Staatsanwalt Johann Radmann (Alexander Fehling), Staatsanwalts und den Kampf gegen das Denken der ehemaligen der unter der väterlichen Anleitung Bauers als engagierter Jurist, Nazis in Politik und Justiz in den Fokus, sondern auch die private als Deutscher und als Sohn eines NSDAP-Mitglieds Schritt für Lebensgeschichte Bauers als sozialdemokratischer, der Moderne Schritt und Szene für Szene lernt, immer genauer hinzusehen. An gegenüber aufgeschlossener Remigrant im spießigen Frankfurt der der Seite von Radmann – und in einer im Film dialektisch entfal- späten 1950er Jahre. Der Film spielt in der Zeit von 1957 bis 1960 teten Auseinandersetzung mit ihm – erhält die Figur des Journali- und hat die Vorgeschichte der Ergreifung Eichmanns im Mai 1960 sten Thomas Gnielka (André Szymanski) eine Schlüsselfunktion zum Thema. Sein Titel ist insofern nicht ganz passend, weil Bauer als für den Film34: Am Beginn der Erzählung kritisiert dieser den ah- Staatsanwalt den »Staat« ja formal und faktisch selbst repräsentier- nungslosen Strafverfolger; auf dem dramaturgischen Höhepunkt te; der Antagonismus, der im Titel evoziert wird, verweist insofern des Films dreht sich das Verhältnis von Anklage und Scham um, etwas vage auf die allgemeinen Widerstände gegen Bauer innerhalb nun ist es Radmann, der dem Freund vorwirft, über seine eigene der Behörde und in der Gesellschaft insgesamt. Lars Kraume und Verstrickung als junger Flakhelfer in der Umgebung des Lagers sein Co-Autor Olivier Guez, der mit einer eindrucksvollen Darstel- Auschwitz unaufrichtig gewesen zu sein. Eindrucksvoll wird im lung zu den Schwierigkeiten von jüdischen Holocaust-Überlebenden Film die verbreitete Ignoranz in Justiz und Gesellschaft bebildert, bei ihrer Rückkehr nach Deutschland36 hervorgetreten ist, nehmen für etwa, wenn der junge Radmann nach Büchern über Auschwitz die Titelwahl ihres Films aber unausgesprochen einen Gedanken von sucht und in der Bibliothek die Auskunft erhält, es gebe nur zwei Bauer auf, der die Entscheidung für die Benennung wieder plausibel l.: Eingang zum Landgericht Frankfurt am Main in der Gerichtsstraße 2. Das frühere Dienstzimmer des Generalstaatsanwalts (darunter ein Reiseführer) und die Fernleihe dauere Wochen. Der macht, denn er bekannte einmal, dass ihm der Begriff »Staatsanwalt« befand sich im 2. Stock im Raum hinter dem Balkon. r.: Fritz Bauers ehemaliges Büro heute. An der hinteren Wand Film führt den Zuschauer über mehrere Wendepunkte des Zwei- stets etwas suspekt geblieben sei: stand sein Schreibtisch vor der berühmten Tapete des Architekten und Designers Le Corbusier (s. S. 41 und S. 5). Fotos: Werner Lott fels, der Angst und des Streits, zu der von den Hauptfi guren Bauer »[W]enn ich heute in der Lage wäre, die juristischen Berufsbe- und Radmann in zwei Varianten ausgesprochenen Überzeugung, zeichnungen selbstherrlich zu ändern, würde ich bestimmt Staatsan- dass Erinnerung das einzige Mittel ist, um dem »Labyrinth« einer wälte Rechtsanwälte nennen. Die aus autoritären Zeiten stammende schuldbeladenen Vergangenheit zu begegnen: »Der Schlussstrich Bezeichnung Staatsanwalt paßt nicht; der Staatsanwalt vertritt nicht Helden mache, »der heute nicht sehr berühmt ist, obwohl ihn jedes und dem jungen Staat Israel besonders stark herausstellt. Auch der ist Gift für die Demokratie«, so drückt es Bauer für damals wie den Staat, er ist nicht der Anwalt der Staatsräson oder irgendwelcher Schulkind kennen sollte«.39 aufstrebende Staatsanwalt, der hier den symbolüberladenen Namen für heute aus; und Radmann, von seinen Kollegen provoziert und Staatsinteressen, sondern des Rechts der Menschen und ihrer sozia- Der jüngste Film in dieser Reihe wurde von Nico Hofmann pro- Joachim Hell trägt (gespielt von David Kross), ist eine Zeitlang Teil von der schmerzlichen Tatsache, dass auch sein eigener Vater Par- len Existenz gegen private und staatliche Willkür.«37 duziert und trägt den Titel DIE A KTE GENERAL (D 2016, Regie Stephan des Intrigenspiels aus Misstrauen, Verdacht und Bespitzelung; er fer- teimitglied im NS-Staat war, in Selbstzweifel gestürzt, sagt über Der Film zeigt Bauer in diesem Sinne als »Rechts«- und nicht Wagner). Er lief am 24. Februar 2016 zur besten Sendezeit im Deut- tigt Aufzeichnungen über Bauer an (Die Akte »General«), die er den sein Motiv: »Ich will, dass dieses Lügen und Schweigen endlich als »Staats«-Anwalt. Er wurde von der Kritik besonders gelobt, die schen Fernsehen. Auch diese Interpretation Bauers durch Ulrich Noe- Feinden seines Vorgesetzten vom Geheimdienst zuspielt. Mit einer aufhört.« Der Film erhält dort eine fragwürdige deutsche Selbst- Frankfurter Allgemeine etwa urteilte, der Film komme »ganz ohne then war so überzeugend, dass die Süddeutsche Zeitung anmerkte, es paradoxen Formulierung ließe sich sagen, dass in diesem Film – fol- bezüglichkeit, die David Hellbrück in diesem Zusammenhang zu Kitsch« aus, und resümierte ihre Besprechung mit dem Satz: »Lars scheine gerade so, als ob die besten Schauspieler darum wetteiferten, gerichtig, aber für die Zuschauer nicht befriedigend – nicht nur die Recht »Selbstbeweihräucherung« der Deutschen nannte35, wenn er Kraume (macht) diesen Mann zu einem deutschen Helden. Es wur- Fritz Bauer spielen zu dürfen.40 Dieser Film bietet einen desillusionier- Neben- zu Hauptfi guren werden, (Bernhard Schütz), der in Radmann personifi zierten guten Seite der Bundesrepublik de Zeit, denn es gibt keinen besseren.«38 Auch Die Zeit sprach von ten, ja einen fast zynischen Blick auf die 1950/60er Jahre, weil er die Konrad Adenauer (Dieter Schaad) und Ludwig Erhard (Gustav Peter am Ende durch die jüdische Autorität Bauers Absolution erteilt: einem »großartige[n] Spielfi lm«, der mit Bauer einen Mann zum behördlichen Intrigen der Alt-Nazis, das innerparteiliche Gerangel um Wöhler) bleiben fast stärker im Gedächtnis als Fritz Bauer und sein »Ich bin stolz auf Sie!« politische Posten und die geheimdienstlichen Polit-Scharmützel zwi- junger Staatsanwalt; der Film fokussiert auch nicht in einer ähnlich Der zweite Spielfi lm mit dem etwas missverständlichen Titel schen der Bundesrepublik und der DDR bzw. zwischen Deutschland differenzierten Weise wie die beiden anderen Filme auf die Fragen, DER STAAT GEGEN FRITZ BAUER (D 2015; Regie Lars Kraume) prä- die der historische Stoff selbst anbietet. Der Satz Bauers am Ende des 36 Olivier Guez, L’Impossible retour. Une histoire des juifs en Allemagne depuis sentiert Fritz Bauer im Zentrum des Geschehens, wenn auch mit der 1945, Paris 2007; dt.: ders., Die Heimkehr der Unerwünschten. Eine Geschichte Films »Auch ein homosexueller jüdischer Intellektueller kann Patriot der Juden in Deutschland nach 1945. Aus dem Französischen von Helmut Reu- sein« und die teils aufdringliche Schlichtheit der Symbolsprache (der ter, München 2011. 39 Oliver Kaever, »Der Held will keine Rache. Mit Helden tun sich deutsche Filme Name des Aufklärers ist »Hell«, sein Büro bezieht er bei den Akten 37 Fritz Bauer, »Im Kampf um des Menschen Rechte«, in: ders., Vom kommenden schwer. Lars Kraume porträtiert einen, der fast vergessen ist: den Staatsanwalt im dunklen Keller des Justizgebäudes, Bauer wird im Foyer der Oper 34 Ein Romanfragment von Thomas Gnielka wurde jüngst aus dem Nachlass veröf- Strafrecht, mit einem Vorwort von Herbert Jäger, Karlsruhe 1969, S. 1–16, hier Fritz Bauer«, in: Die Zeit vom 30.9.2015. fentlicht: Thomas Gnielka, Als Kindersoldat in Auschwitz. Die Geschichte einer S. 1 [auch in: ders., Die Humanität der Rechtsordnung, S. 37–49]. – In einem 40 Willi Winkler, »Ein Held von gestern für heute. Fritz Bauer sorgte als General- tätlich von einem Nazi angegriffen, der ihm eine blutende Wunde Klasse, Hamburg 2014; vgl. hierzu: Elisabeth von Thadden, »Es dreht ihnen den Brief an die Gefangenenbetreuerin und Freundin Birgitta Wolf schrieb Bauer, er staatsanwalt für die juristische Aufarbeitung von Auschwitz. Ohne ihn wäre auch zufügt etc.) tragen ihre Botschaft allzu offensichtlich vor. Magen um. Über Auschwitz weiß man längst alles? Nein. Jetzt kann man lesen, trage seinen Titel »Generalstaatsanwalt« nur mit »Abscheu«; siehe Renz (Hrsg.), Adolf Eichmann nicht vor Gericht gestellt worden. Gleich mehrere Filme entde- Von allen drei Filmen bietet die Geschichte der im doppelten wie Berliner Gymnasiasten im Januar 1945 dort Dienst schoben: Durch das »Von Gott und der Welt verlassen«, S. 22. cken jetzt den Mann, der nicht zulassen wollte, dass die Nazi-Täter davonkom- Sinne zu verstehenden Selbstbefreiung in DER STAAT GEGEN FRITZ BAU- Romanfragment des jungen Thomas Gnielka, der später als Journalist die 38 Verena Lueken, »Landesverrat und Rechtschaffenheit. Lars Kraumes Film ›Der men«, in: Süddeutsche Zeitung vom 3./4.6.2015; Winkler verwies hier noch auf Auschwitz-Prozesse in Gang brachte«, in: Die Zeit vom 29.1.2015. Staat gegen Fritz Bauer‹ kommt ganz ohne Kitsch aus«, in: Frankfurter Allgemei- eine weitere Filmadaption des Stoffes, auf das Doku-Drama EICHMANNS ENDE (D ER die dichteste Erzählung. Er fügt der Generationsproblematik von 35 Hellbrück, »Heldenfernsehen«, S. 250. ne Zeitung vom 30.9.2015. 2010, Regie Raymond Ley), in dem Axel Milberg die Rolle Fritz Bauers spielte. IM LABYRINTH DES SCHWEIGENS, die er ebenfalls aufnimmt, und der

44 Einsicht Einsicht 16 Herbst 2016 45 Refl exion über die Welt der politischen Intrigen, die DIE A KTE GENERAL nehmen, auf die refl exhafte »Pönalisierung der einfachen Homosexu- Kein »ständischer Schutzwall« gegenüber der Filmwissenschaft sie etwa von Konrad Jarausch, Mary Fulbrook und von Stuart Ta- so herausstellt, einen anderen Ton hinzu. Die von Bauer selbst zum alität« und auf »die Bestrafung des Ehebruchs« zu verzichten und die berner und Frank Finlay vornehmlich im englischsprachigen Raum Thema gemachte »Schizophrenie des deutschen Volkes« erhält hier geltenden Strafrechtsbestimmungen hierzu nicht auszuweiten, sondern Bauer schrieb einmal mit Blick auf die zeitgenössische Justiz von ei- entstanden,50 in die deutschsprachige Diskussion über Geschichtsfi l- ihre ernsthafteste Visualisierung, indem sie dem Hauptstrang des Films, umgekehrt einzuschränken. Denn die allermeisten dieser Fälle, so nem »ständischen Schutzwall«, mit dem diese sich umgeben habe.46 me zu integrieren. Es gibt bereits einen eigenen Forschungszweig zu dem Vergangenheitsthema, die umfassendere und gegenwartsbezogene Bauer, gehörten »allein [der] Intimsphäre der Menschen« an.44 Auch Auch die Geschichtswissenschaft sollte einen solchen gegenüber Filmen über den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg.51 Innerhalb Frage nach der »Lebensmöglichkeit in einem Land, das sich seiner hier war Bauer (nach dem von ihm verehrten Weimarer Rechtsphilo- der Filmwissenschaft nicht aufrichten. Alle drei hier betrachteten dieses weiten Forschungsfeldes haben sich regelrechte Subgenres Vergangenheit stellt« (Verena Lueken), hinzufügt. Die Bild- und Ver- sophen und Justizminister Gustav Radbruch) »Freiheits«- und nicht Filme, so ließe sich hieran anschließen, durchbrechen das rein Juris- herausgebildet, etwa zu Sophie Scholl seit DIE WEISSE ROSE (1982) gleichsebene dazu ist die wahrscheinliche Homosexualität Bauers, die »Ordnungsjurist«; auch hier favorisierte er Selbstverantwortung, nicht tische am Thema und zeigen die intellektuellen und menschlichen von Michael Verhoeven bis hin zu SOPHIE SCHOLL – DIE LETZTEN TAGE dieser Film zum Thema im Thema entwickelt, das der Erzählung Tiefe rechtliche Verordnungen und justizielle Ahndung: »Es gehört zu der Dramen der Vorgeschichte der Auschwitz-Prozesse. Sie entgehen (2004) von Marc Rothemund.52 Und mehr noch als Sophie Scholl ist verleiht, weil es einen zugleich realen und metaphorischen Gegenpol – zu respektierenden – Intimsphäre des Menschen zu entscheiden, ob dabei der »Tendenz zur reinen Oberfl äche«, die den Doku-Dramen es Anne Frank, deren Schicksal als Untergetauchte in Amsterdam zur Berufswelt von Bauer entfaltet und so eine existenzielle Dimension er sich Kinder wünscht und welchen Sinn er seinem Eros und Sexus von Heinrich Breloer, etwa über Thomas Mann, vorgeworfen wurde, seit dem Fund ihres Tagebuchs und der Veröffentlichung von »Het des Privaten aufzunehmen in der Lage ist.41 Gleichzeitig lösen Kraume beilegen will. Staat und Gesellschaft können keinerlei Ansprüche auf die in einem kulturpessimistischen Kommentar kürzlich als Grund Achterhuis« immer wieder als Symbol für den Holocaust verstanden und Guez es auch nicht von diesem ab, denn Homosexualität hatte in ein bestimmtes Tun oder Unterlassen erheben.«45 dafür herhalten mussten, dass unser Wissen über bestimmte Themen wird, auch in Filmen – von THE DIARY OF ANNE FRANK (1959) von einer Zeit, in der sie unter die »Straftaten gegen Sittlichkeit« fi el (der Tatsächlich macht dieser Film die freiheitlich verstandene und »immer banaler und langweiliger« werde.47 George Stevens nach dem Theaterstück von Frances Goodrich und entsprechende Paragraph war von den Nazis zwar nicht aufgestellt, deshalb vor der Politik und der rechtlichen Regelung zu schützende Doch bei diesen Filmen ist es anders. Sie sind zwar, wie dies et- Albert Hackett bis hin zu ANNE (2016), dem jüngsten Beispiel einer wohl aber verschärft worden), eine vergangenheitspolitische Brisanz, »Intimsphäre der Menschen« ohne Voyeurismus zum Thema, gibt der wa Sven Kramer und Aleida Assmann unabhängig voneinander und langen Reihe.53 Auch das Thema Flucht, Vertreibung und Heimkehr die Bauer gerade auch als fortschrittlichen Juristen in besonderem Homosexualität also eine Funktion, die die Beziehung zwischen Bauer jeweils sehr treffend über die Paradoxie der fi lmischen Erinnerung hat ein Filmgenre ausgebildet, das Forschungsinteresse auf sich Maße beschäftigte.42 Hier eben wird der Umgang mit Sexualität und und Angermann aus dem Schema des Vater-Sohn-Konfl ikts auf eine an die NS-Jahre formuliert haben, »Wiederkehr und Verwandlung gezogen hat.54 Zu diesen Genres und Subgenres, so ist mit Blick auf »Sittlichkeit« zu einer gesellschaftlichen Frage, denn die »Alt-Herren- authentische Weise dynamisiert, indem es die Vorbildfunktion, die der der Vergangenheit« in einem, sind »Erinnerungsanstoß und Deck- die jüngste Konjunktur in der öffentlichen Wahrnehmung von Fritz Moral« der deutschen Gesellschaft bemerkten nicht nur Gäste aus dem ältere Bauer fraglos für Angermann darstellt, gegen Schluss des Films erinnerung« zugleich;48 sie belegen dabei aber auch, dass es möglich Bauer also festzustellen, wird in Zukunft auch dasjenige der »Fritz- Ausland, die Deutschland besuchten, etwa der israelische Journalist spiegelt und umkehrt. In den letzten Szenen stellt Angermann, dessen ist, aus dem Geschichtsstoff der Bundesrepublik Deutschland se- Bauer-Filme« zur Frühgeschichte der Bundesrepublik hinzuzuzählen Amos Elon.43 Bauer formulierte zu diesen Fragen kongeniale Gedan- Homosexualität ihn für die Gegner Bauers erpressbar gemacht hat, für henswerte Geschichtsfi lme zu machen, die mehr sind als ein Kapitel sein,55 das seit 2014 so erstaunlich plötzlich entstanden ist. ken, die seinen Forderungen an die Deutschen, die eigene staatliche einen kurzen Moment ein Vorbild für Bauer dar, denn hier bekennt sich Schulstoff in bewegte Bilder überführt. Nicht nur Kulturpessimi- Vergangenheit nicht an Spezialisten zu delegieren, sondern die NS- Angermann und stellt sich den Behörden (auch um Bauer zu schützen), sten, auch Historiker halten häufi g etwas distinguierte Distanz zu Massenverbrechen auch je individuell als Ausgangspunkt eines neuen, anstatt als Spitzel seine bürgerliche Reputation als Staatsanwalt und fi lmischen Repräsentationen »ihrer« Geschichtsthemen. Doch auch gewandelten Menschenbilds und Staatsverständnisses anzunehmen, Ehemann zu verteidigen. Dieses Motiv Angermanns, das Bauer im sie müssen bestätigen, dass das Filmgenre bei Zuschauern auf das 50 Konrad Jarausch (Hrsg.), After Unity. Reconfi guring German Identities, New York, direkt entsprechen. Für das Thema Sexualkriminalität und Sexualstraf- Film genau so versteht, wie es von dem jungen Mann gemeint war, ist Interesse stößt, das ihre eigenen Darstellungen in der Regel nicht Oxford 1997; Mary Fulbrook, German National Identity after , Cambridge 1999; Stuart Taberner, Frank Finlay (Hrsg.), Recasting German Iden- 49 recht forderte er nichts anderes, wenn er von der deutschen Gesellschaft als eine Botschaft dechiffrierbar. Filmtheoretisch ist es eine Botschaft erwarten können. Deshalb ist dafür zu plädieren, die Studien zum tity. Culture, Politics and Literature in the Berlin Republic, Rochester, NY 2003. mit Blick auf die viel liberalere Rechtspraxis in Skandinavien und in von heute an die damalige Zeit, die Kraume hier zur Schlussszene deutschen Geschichtsbewusstsein nach 1945 im Allgemeinen und 51 Sven Kramer, Auschwitz im Widerstreit. Zur Darstellung der Shoah in Film, Phi- den Vereinigten Staaten forderte, von der kollektiv argumentieren- macht: Der letzte Blick zwischen Bauer und Angermann vor dessen zu dessen Prägungen durch Geschichtsfi lme im Besonderen, wie losophie und Literatur, Wiesbaden 1999; Lutz Koepnick, »Refraiming the Past. den Idee vom »Schutz des gesunden Volksempfi ndens« Abstand zu Inhaftierung legt ein Einverständnis über das Ideal einer frei gelebten Heritage cinema and the Holocaust in the 1990s«, in: New German Critique, Vol. 87 (2002), S. 47–82; Hanno Loewy, »Fiktion und Mimesis. Holocaust und Sexualität zwischen beiden nahe, dem zwar Bauer selbst nicht folgen Genre im Film«, in: ders., Margrit Frölich, Heinz Steinert (Hrsg.), Lachen über kann, das aber zur Konsequenz, zur Lektion seines Wirkens für die Hitler – Auschwitz-Gelächter? Filmkomödie, Satire und Holocaust, München nächste, für die Angermann-Generation, gehört. So bebildert der Film 46 Fritz Bauer, »Im Namen des Volkes. Die strafrechtliche Bewältigung der Vergan- 2003, S. 37–64; Peter Reichel, Erfundene Erinnerung. Weltkrieg und Judenmord 41 Die Tageszeitung plädierte am deutlichsten für mehr Mut und wandte sich gegen hier einen Gedanken, den Theodor W. Adorno in seinem bekannten genheit«, in: Helmut Hammerschmidt (Hrsg.), Zwanzig Jahre danach. Eine deut- in Film und Theater, Frankfurt am Main 2007; Catrin Corell, Der Holocaust als eine wohlfeile »Denunziation« des Films durch das Argument, Bauers Lebenswerk sche Bilanz 1945–1965, München u.a. 1965, S. 301–314, hier S. 307. Herausforderung für den Film. Formen des fi lmischen Umgangs mit der Shoah habe mit seinem Privatleben nichts zu tun, vgl. Jan Feddersen, »Die Denunziati- »Offenen Brief an Max Horkheimer« 1965 »das alte Unwahre in der 47 »Schuld an der Tendenz zur reinen Oberfl äche sind Breloers Doku-Dramen«, so: seit 1945. Eine Wirkungstypologie, Bielefeld 2009; Tobias Ebbrecht, Geschichts- on«, in: Die Tageszeitung vom 8.10.2015; er bezieht sich etwa auf einen scharfe Ächtung der Lust« nannte, auch wenn Kraume Adornos Einsicht, »daß Edo Reents, »Wir müssen über Thomas Mann reden«, in: Frankfurter Allgemeine bilder im medialen Gedächtnis. Filmische Narrationen des Holocaust, Bielefeld Kritik des Kraume-Films von Eduardo Cristoforo Rautenberg, »Zu Hause unter die Möglichkeit, das Andere zu wollen, nicht mit dem Verzicht aufs Zeitung vom 11.2.2014. 2011. Feinden. Der Frankfurter Staatsanwalt Fritz Bauer leitete die Auschwitz-Prozesse eigene Glück erkauft werden« dürfe, nicht die Hauptfi gur, Fritz Bauer, 48 Sven Kramer, »Wiederkehr und Verwandlung der Vergangenheit im deutschen 52 Vgl. David Clarke, »German Martyrs: Images of Christianity and Resistance to in die Wege. Zurzeit ehrt man ihn im Kino, in Büchern und Magazinen. Doch ins Film«, in: Reichel, Schmid, Steinbach (Hrsg.), Der Nationalsozialismus, die National Socialism in German Cinema«, in: Paul Cooke, Marc Silberman (Hrsg.), allgemeine Lob mischen sich auch falsche Töne«, in: Die Zeit vom 13.11.2014. aussprechen lässt, sondern als Botschaft einer Einsicht von heute durch zweite Geschichte, S. 283–299; Aleida Assmann, »Das Schweigen brechen – Der Screening War: Perspectives on German Suffering, Rochester, NY 2010, S. 36–55. 42 Als eine Einführung hierzu: Michael Kandora, »Homosexualität und Sittenge- den Vertreter der neuen Generation an diesen zurückschickt, ganz so, ZDF-Dreiteiler ›Unsere Väter, unsere Mütter‹«, in: dies., Das neue Unbehagen 53 Hanno Loewy, »Das gerettete Kind. Die ›Universalisierung der Anne Frank‹«, in: setz«, in: Ulrich Herbert (Hrsg.) Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belas- als wünschten Filmemacher und Zuschauer im Rückblick diesem Fritz an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, München 2015, S. 33–42, hier S. 42. Stephan Braese, Holger Gehle, Hanno Loewy (Hrsg.), Deutsche Nachkriegslite- tung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen 2002, S. 379–401; au- Bauer, dass er die Freiheiten seiner rechtstheoretischen Überzeugungen 49 Jean-Christoph Caron, »Ein Historienfi lm kann mehr als ein Buch. Margarethe ratur und der Holocaust, Frankfurt am Main, New York 1998, S. 19–42; Michael ßerdem: Andreas Pretzel, Homosexuellenpolitik in der frühen Bundesrepublik, von Trottas ›Rosenstraße‹«, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contem- Bachmann, »›Writing Ghosts‹ – Anne Frank als Erinnerungsfi gur«, in: ders., Der Hamburg 2010; zur Vorgeschichte der Debatten in der frühen Bundesrepublik für Staat und Gesellschaft auch selbst hätte erleben dürfen. porary History 1 (2004), S. 128–134; auch Mark Roseman, Spezialist für die so- abwesende Zeuge. Autorisierungsstrategien in Darstellungen der Shoah, Tübin- vgl.: ders., »Weimarer Wertedebatten um Homosexualität im Kulturkampf zwi- genannte »Wannsee-Konferenz« vom 20. Januar 1942, lobte den Spielfi lm von gen 2010, S. 137–183. schen Konservativismus, Liberalismus und sittlich-nationaler Erneuerung«, in: Heinz Schrik und Paul Mommertz von 1984 als »ausgezeichnete« Darstellung 54 Lars Karl, Dietmar Müller, Katharina Seibert (Hrsg.), Der lange Weg nach Hau- Hans-Peter Becht (Hrsg.), Politik, Kommunikation und Kultur in der Weimarer dieses Ereignisses, vgl. Mark Roseman, »›Wannsee‹ als Herausforderung. Die se. Konstruktionen von Heimat im europäischen Spielfi lm, Berlin 2014. Republik, Heidelberg, Basel 2009, S. 51–70. 44 Vgl. exemplarisch: Fritz Bauer, »Sexualität, Sitte und neues Recht«, in: ders., Historiker und die Konferenz«, in: Die Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942. 55 Paul Cooke, Chris Homewood (Hrsg.), New Directions in German Cinema, Lon- 43 Amos Elon, In einem heimgesuchten Land. Reise eines israelischen Journalisten Vom kommenden Strafrecht, S. 77–85, hier S. 82 f. Dokumente – Forschungsstand – Kontroversen, hrsg. von Norbert Kampe und don, New York 2011; Matthias Uecker, Performing the modern German. Perfor- in beide deutsche Staaten, München 1966, S. 43. 45 Ebd., S. 84. Peter Klein, Köln u.a. 2013, S. 401–414, hier S. 408. mance and Identity in Contemporary German Cinema, Oxford u.a. 2013.

46 Einsicht Einsicht 16 Herbst 2016 47 Anmerkungen zu den deutschen Kritikern meines Buches Black Earth1 Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann

von Timothy Snyder Die Geschichte des Holocaust – nicht nur aus deutscher Sicht Die klassische Diskussion in der deutschen Timothy David Snyder, geboren Geschichtsschreibung des Zweiten Weltkriegs kreist um die Be- am 18. August 1969, ist ein US- ziehung von Intentionen und Institutionen, oder, umfassender, von Wehrmacht und SS nehmen am 8./9. September 1939 in Bydgoszsz (Bromberg) polnische Geiseln, darunter den amerikanischer Historiker und Pro- Ideen und Macht. Ich akzeptiere das als vernünftige und fruchtbare Pfarrer Kazimierz Stępczyński. Alle werden erschossen, weil sie zur »polnischen Intelligenz« gehörten. Foto: PD-Polish Buchcover Black Earth fessor für osteuropäische Geschichte Art der Fragestellung, glaube aber nicht, dass die Antwort allein am Department of History an der auf der Grundlage deutscher Quellen oder in den Grenzen der deut- Yale University in New Haven und schen Nationalgeschichte gefunden werden kann. Das Verhältnis Permanent Fellow am Institut für von Ideologie und Handeln lässt sich nur dann beantworten, wenn Kampf der Rassen existierende Staatsgrenzen hinwegfegen werde Einmal an der Macht, musste Hitler eine Möglichkeit fi nden, die Wissenschaft vom Menschen in man in Theorie und Praxis berücksichtigt, wo es am destruktivsten und der Wunsch der Deutschen der Rassenkampf um die landwirt- den existierenden, konventionellen deutschen Staat mit der Vision Wien, wo er den Forschungsschwer- für Juden und andere war: in den Ländern, die vor dem Krieg au- schaftlichen Ressourcen der Ukraine sein sollte. Mit der Rückkehr vom ewigen Rassenkrieg in Einklang zu bringen. Der erste Bestand- punkt »Vereintes Europa – Geteilte ßerhalb der deutschen Grenzen lagen. In Deutschland gab es in der zu einem blutigen Naturzustand ist der Beginn der Judenvernichtung teil der Lösung war der übliche faschistische Verstoß gegen Max Geschichte« leitet. Snyder erhielt Zwischenkriegszeit keine Massentötungen von Juden. 97 Prozent verbunden, denn nur die Vernichtung konnte die jüdischen Mystifi - Webers Defi nition des Staates. Weber sieht im Staat die Institution, zahlreiche Auszeichnungen, darunter der im Holocaust ermordeten Juden lebten vor dem Krieg außerhalb zierungen aufheben, die in Hitlers Sicht die Starken hemmen. die ein legitimes Gewaltmonopol anstrebt. Im Faschismus wurden den George Louis Beer Prize 2003 Deutschlands. Wir müssen den Weg fi nden, der von Hitlers Ideologie Durch die Defi nition der UdSSR als jüdischer Staat konnte Hit- die Instrumente der Machtergreifung – die faschistische Partei und der American Historical Association. über den deutschen Staat der Zwischenkriegszeit bis zu den Killing ler behaupten, ein deutscher Vernichtungskrieg dort sei der Anfang ihre Paramilitärs – als eigene Quelle von Gewalt beibehalten. Ent- Für seine unkonventionellen Beiträge Fields führt.1 des Rassenkampfs (um Nahrungsmittel von Ukrainern und anderen sprechend wurden SS und SA nach 1933 nicht unterdrückt oder in zur Geschichtswissenschaft erhielt Anfangen können wir, indem wir uns ins Gedächtnis rufen, Slawen) und der Vernichtung der Juden. Der Krieg, so wie Hitler ihn den Staat eingebunden, sondern blieben eigenständige, nichtstaat- er 2015 in Prag den »Dagmar and dass Hitlers Ideologie eine planetarische war. Für Hitler war die verstand, sollte also in den Ländern geführt werden, in denen die liche, rassistische Quellen der Gewalt und der Verkörperung der Vaclav Havel Foundation Vision Erde ein Ort begrenzter Ressourcen für konkurrierende Rassen. meisten europäischen Juden lebten; der Feldzug (oder die Feldzüge) Hitler’schen Ideologie. 97«-Preis. Sein Buch Bloodlands. Rassen sollten um Land und Nahrung kämpfen, sich ausbreiten und im Osten sollte, anders als der in anderen (westeuropäischen) Län- Ein weiterer Teil der Lösung, den Hitler in seinem Zweiten Buch Europa zwischen Hitler und Stalin andere aushungern. Alle Bedenken gegen uneingeschränkte Rassen- dern, Staaten zerstören, und mit dem Krieg gegen die Sowjetunion ganz offen ansprach, war der Einsatz deutscher politischer Kräfte, (C.H.Beck Verlag, München 2011) solidarität und Rassenfeindschaft, so Hitler, entstünden immer aus sei, wenn er käme, gleichzeitig der Angriff auf die Juden verbunden. etwa des Staats und des deutschen Nationalismus, zum Beginn wurde in 30 Sprachen übersetzt und jüdischer Mystifi zierung. Sämtliche Konzepte von Gegenseitigkeit Diese Kombination aus ideologischer Feindschaft, territorialen An- eines Konfl ikts, der eine rassistische Form annehmen sollte. Mit u. a. mit dem Leipziger Buchpreis für und Solidarität, vom Christentum bis zum Kommunismus, seien eine sprüchen und politischem Chaos konnte dann nach 1941 tatsächlich anderen Worten: Der deutsche Staat war Mittel zum Zweck. Seine Europäische Verständigung 2012 und jüdische Erfi ndung und damit grundlegend gleich. In Mein Kampf einen Holocaust ermöglichen. Stabilität war nicht deshalb wichtig, weil Hitler einen stabilen Staat dem Hannah-Arendt-Preis 2013 aus- macht Hitler deutlich, dass nicht der Staat Ziel der Rasse sei, dass der Der zoologische Anarchist, der diese Ansichten vertrat, über- geschätzt hätte, sondern weil ein Hammer, mit dem man andere gezeichnet. Sein aktuelles Buch Black nahm 1933 die Macht in dem vielleicht funktionsfähigsten Staat Gegenstände zerschlagen will, stabil sein muss. Nach einer gewissen Earth. Der Holocaust und warum er der Welt. Die anschließende Verwandlung des deutschen Staates Zeit verformt sich der Hammer durch die Schläge, aber eben darum sich wiederholen kann (C.H.Beck war, wie ich im zweiten Kapitel und im Rest des Buches zu zeigen ging es ja: Die Dekadenz Deutschlands und der Deutschen war nur 1 Ich betrachte die methodologischen Fragen ausführlicher in dem Aufsatz »Com- Verlag, München 2015) ist gleichzei- memorative Causality«, in: Modernism/Modernity, Vol. 20 (2013), No. 1, S. 77– versuche, kein Selbstzweck, sondern die Vorbereitung für eine Re- durch einen Rassenkrieg zu heilen, den relativ wenige Menschen tig in 19 Ländern erschienen. 93, online unter http://www.eurozine.com/articles/2013-06-06-snyder-en.html. volution, die im Ausland stattfi nden musste. tatsächlich wollten.

48 Einsicht Einsicht 16 Herbst 2016 49 Hitler war beides: Ideologe und Techniker der Macht. Er blieb wie im besetzten Polen und den besetzen Gebieten der Sowjetunion. in den von Nazideutschland okkupierten tschechischen Gebieten in dass Staaten sich verändern, andere Staaten verändern und manchmal seiner Ideologie treu und nutzte gleichzeitig fl exibel gegebene po- Nur unter solchen Bedingungen konnte der Holocaust die Form der der geringsten unmittelbaren Lebensgefahr befanden, aber genau sogar andere Staaten zerstören können. litische Momente, oft Zufälle und Überraschungen, ja sogar eige- Ermordung der großen Mehrheit der dort ansässigen Juden anneh- das war der Fall. In größerer Lebensgefahr waren die Juden in der Deutsche Rezensenten meines Buches Black Earth haben sich ne Fehler aus. Das bedeutete, wie oft festgestellt wurde, dass er men. Es war im Osten, wo die SS das Besatzungsregime, wie wir Slowakei, die ihnen als neuer Staat problemlos Rechte aberken- darüber gewundert, dass ich den polnischen Staat diskutiere. Diese für den Aufstieg zur Macht seine Botschaft den Auswirkungen der es gewöhnlich nennen, beherrschte. nen, ein künstliches »Judenproblem« konstruieren und sie dann ab Verwunderung gibt mir Gelegenheit, die wichtige Frage nach dem Weltwirtschaftskrise (Great Depression) anpassen, aber nach der Aber »Besatzung« ist im Grunde kein korrekter Begriff, auch März 1942 nach Auschwitz deportieren konnte. Tatsächlich bestand üblichen Verlauf des Narrativs der Judenvernichtung aufzuwerfen. Machtergreifung die Nazi-Revolution verschieben musste. wenn mir nichts anderes übrigbleibt, als ihn zu benutzen. Besatzung die erste große Gruppe, die nach Auschwitz deportiert wurde, aus Meist wird in Studien zu Beginn der deutsche Staat diskutiert, und Ernst Röhm, der Führer der SA, hatte 1934 völlig Recht mit sei- bedeutet, dass ein Staat bei Feindseligkeiten zeitweilig einen Teil des slowakischen Juden. In noch größerer Gefahr befanden sich die dann überfällt in der nachfolgenden Darlegung Deutschland andere ner Interpretation von Mein Kampf, die besagte, Deutschland brauche Gebiets eines anderen Staates verwaltet, und die SS war kein Staat, Juden in der Karpatenukraine. In diesen östlichen Gebieten der zer- Länder, über die der Leser des Werks nichts (oder weniger als nichts) nach der Machtergreifung Hitlers eine »zweite Revolution«, in der sondern eine rassistische Institution, deren Aufgabe die dauerhafte schlagenen Tschechoslowakei fanden sie sich in einem erweiterten erfährt. Wenn wir aber sinnvoll klären wollen, warum Juden in die- staatliche durch rassistische Organisationen ersetzt werden sollten, Zerstörung anderer Staaten war, um eine Welt des Rassenkampfs Ungarn wieder, das ihnen die Staatsbürgerschaft verweigerte. 1941 sen anderen Ländern gestorben sind, müssen wir zunächst wissen, zum Beispiel die Armee durch seine SA. In gewissem Sinne war ohne Juden zu schaffen.2 deportierte Ungarn viele von ihnen nach Osten, in die Sowjetunion, wie Juden in diesen anderen Ländern gelebt haben. In gewissem Röhm Hitler treuer als dieser sich selbst. Anders als die konkurrieren- Hitler wusste zunächst nicht, welche Staaten als erste zerstört, in die Arme der vorrückenden Wehrmacht. Diese Deportation war Sinne geht es um eine gerechte Darstellung, lebten doch außerhalb de SS hatte er allerdings nicht erkannt, dass die »zweite Revolution« welche Alliierte, Neutrale oder Feinde waren, wann der Krieg begin- Auslöser der ersten großen Massenerschießung des Holocaust. In Deutschlands weit mehr Juden als in Deutschland. Die meisten Ju- im Ausland stattfi nden und der deutsche Staat, um dieses Projekt nen sollte und so weiter; manchmal irrte er sich sogar. Aber sobald Kamianets‘ Podils’kyi wurden im August 1941 etwa 23.600 Juden den, die im Holocaust starben, waren polnische Staatsbürger. Aber zu vollenden, transformiert werden musste, aber nicht zerschlagen Deutschland genügend Durchschlagskraft im europäischen System ermordet, von denen mehr als die Hälfte als staatenlos aus Ungarn selbst wenn wir uns nur mit deutschen Juden beschäftigten, ließe sich werden durfte. »Die Nacht der langen Messer«, der Sieg der SS über erreicht hatte, um mit der Zerstörung benachbarter Staatswesen be- ausgewiesen worden waren, darunter viele ehemalige Bürger der ihr Schicksal ohne ein Verständnis des Charakters des polnischen die SA, war damit auch der Sieg einer Variante der gemeinsamen ginnen zu können, sammelte man Erfahrungen, und das Konzept Tschechoslowakei. Staats und seiner späteren Zerstörung nicht verstehen. Ideologie über die andere. einer Endlösung nahm immer konkretere Formen an.3 Um den Weg von Hitlers Aufstieg an die Macht bis zu dieser ers- Wenn wir uns auf deutsche Quellen und deutsche Geschichte Hitler wollte den deutschen Staat nicht ins Chaos stürzen, son- So wusste Hitler zum Beispiel nicht, dass das Verschwinden ten Massenerschießung in Kamianets‘ Podils’kyi nachzuvollziehen, beschränken, erscheinen die Juden von Łódź als stummer Teil der dern seine Kräfte bündeln und nach Osten lenken, um einen Ras- Österreichs als Staat in der Nacht vom 10. auf den 11. März 1938 müssen wir Staatlichkeit (statehood) als plurale Variable und nicht Kulisse für das Schicksal der deutschen Juden, die in das Ghetto senkrieg zu beginnen. Das bedeutete, die Armee, diese konventio- zu einem weit größeren Ausmaß von Gewalt und Demütigung der als singuläre Quelle magischer Narrative verstehen, die mit all ihren von Łódź deportiert wurden, um zu sterben. Tatsächlich kommt das nellste aller staatlichen Institutionen, nicht aufzulösen, sondern zu österreichischen Juden führen würde als im zeitgenössischen Nazi- Assoziationen von Klarheit und Stärke immer dann beschworen wer- Gegenteil der Wahrheit näher, denn müssten wir uns zwischen diesen konsolidieren und zu übernehmen. Es bedeutete, die verschiedenen deutschland. Es mag ironisch wirken, dass die Gewalttaten gegen den, wenn Beweise und Argumente scheitern. Nazideutschland war beiden Varianten entscheiden, lässt sich der Tod der zunächst in das Polizeikräfte zu zentralisieren und zu unterwandern. Polizei und Ar- österreichische Juden eingeschränkt werden mussten, um den for- vor dem Krieg ein sehr unkonventioneller Staat mit zwei distinkten Ghetto Łódź und dann im August 1944 nach Auschwitz deportierten mee sollten nicht durch die SA ersetzt, sondern durch die SS ergänzt malen Anschluss Österreichs an Deutschland zu ermöglichen – aber Trägern des Gewaltmonopols (Staat und SS), einer davon mit dem deutschen Juden besser als Teil der Geschichte des Massenmords werden. Die zentrale Aufgabe der SS sollte nach der Zerstörung der genau das war zu erwarten. Der Augenblick des Regimewechsels spezifi schen Auftrag, andere Staaten zu zerstören; die Demontage an den Juden in Polen betrachten. Als Deutschland in Polen einmar- militärischen Institutionen durch die Wehrmacht die Zerstörung po- macht alles möglich, und die Politik des Übergangs ermöglicht es, einer früheren Ordnung im Zeitraum von 1938 bis 1941 ermöglichte schierte, lebten allein in der Stadt Łódź so viele Juden wie in ganz litischer Institutionen sein. Außerhalb Deutschlands, in staatenlosen einer Gruppe die Schuld für die Vergangenheit zu geben. Als die ein Ausmaß an Eskalation und Experimenten, das in Deutschland Deutschland. Um deutsche Juden nach Łódź deportieren zu können, Zonen, konnten sich Polizisten wie Rassekrieger verhalten, ganz Naziherrscher ( mit Hitlers Zustimmung) im Herbst nicht möglich gewesen wäre; durch die Invasion in die UdSSR 1941 musste Polen angegriffen, der polnische Staat zerstört, das polnische nach dem Wunsch des SS-Führers Heinrich Himmler. Der Holocaust dieses Jahres ein nationales nach österreichischem Modell sollte der Sowjetstaat zerstört werden, sodass die SS von Anfang an Zivilrecht annulliert und die Stadt von Deutschland zu Bedingungen konnte in den kommenden Jahren dann und dort geschehen, wo diese in Deutschland organisierten, die mit 200 Opfern, Juden (identifi ziert als die Träger des sowjetischen Staatswesens) annektiert worden sein, die den Führern der Nazipartei und der SS Kooperation erreicht wurde. lernten sie schon bald erneut, dass die Anarchie, die das jüdische umbrachte. Und doch waren die Ereignisse von 1941 sowohl durch weit größere Macht gab, als sie im Vorkriegsdeutschland besaßen. Die SS-Führung und vor allem die Offi ziere nahmen die Ideolo- Leben vernichtete, der notwendigen Stabilität des deutschen Staates die Akkumulierung von Potenzial als auch durch die Zerstörung der Das alles war nötig, um aus einem wichtigen Ort jüdischer Zivili- gie eines zoologischen Anarchismus genauso ernst wie die politische entgegenstand. Ordnung bedingt. sation ein Ghetto machen zu können. Und bevor diese Juden nach Notwendigkeit, den großen Befreiungsschlag im Inland vorzube- Ein Jahr später, in der zerstörten Tschechoslowakei, war weit Friedrich Jeckeln, der den Massenmord von Kamianets‘ Auschwitz deportiert werden konnten, musste nahe der polnischen reiten, aber auf das Ausland zu richten. Entsprechend spielte die mehr möglich. Wieder könnte es ironisch wirken, dass sich die Juden Podils’kyi organisierte, war Höherer SS- und Polizeiführer. Dieses Garnisonsstadt Oświęcim eine deutsche Vernichtungsstätte erbaut SS in den 1930er Jahren (im Gegensatz zum Beispiel zum NKWD Amt, das staatliche und rassistische Funktionen in einer einzigen werden. in der UdSSR) keine wichtige Rolle bei der lokalen Repression. Befehlskette vereinigen sollte, war im Vorkriegsdeutschland prak- Wenn wir verstehen wollen, warum Juden im besetzten Polen Ihre Konzentrationslager, die in diesen Jahren ein relativ kleines tisch bedeutungslos. Erst während der Besetzung der UdSSR in starben, müssen wir ein gewisses Verständnis dafür besitzen, wie System bildeten (nicht größer als das kaiserliche deutsche System 2 Auch wenn Mark Mazower mit meiner Weiterentwicklung seiner Argumentation einem Vernichtungskrieg, unter den Bedingungen der Staatszer- Juden in Polen vor dem Krieg lebten. Um den Massenmord durch- vierzig Jahre zuvor und zwei Größenordnungen kleiner als das zeit- nicht einverstanden ist, verdanke ich seiner Arbeit über das rechtliche Problem störung, konnte jemand wie Jeckeln seine Befugnisse durchsetzen. zuführen, musste man die Juden zunächst von ihrem Staatswesen genössische sowjetische), waren hauptsächlich als Muster für spä- der Staatszerstörung in Hitler’s Empire, die mich zu der interessanten Klafkow- Nicht die deutschen Juden wurden im Holocaust als erste ermordet, trennen, und wie und ob das stattfi nden konnte, unter welchen Um- ski-Schmitt-Debatte zurückführte, sehr viel (vgl. Alfons Klafkowski, Okupacja tere Aktionen wichtig. Die Konzentrationslager waren im Wortsinn niemiecka w Polsce w świetle prawa narodów, Poznań: Wydawnictwo Instytutu sondern Juden aus dem Gebiet der Sowjetunion. Viele der bei den ständen und mit welchen spezifi schen Konsequenzen, lässt sich nur staatenlose Zonen, Orte, an denen die SS Deutsche ohne gesetzliche Zachodniego, 1946), aber auch den Kommentaren, die er vor langer Zeit zu mei- entscheidenden Ereignissen von Kamianets‘ Podils’kyi Ermordeten verstehen, wenn man eine gewisse Kenntnis davon besitzt, wie diese Einschränkungen bestrafen konnte. Nach Kriegsbeginn konnte das ner Arbeit über die ukrainisch-polnische ethnische Säuberung machte (vgl. mei- waren Flüchtlinge oder eher Deportierte, deren Staatenlosigkeit und Staaten vor dem Krieg funktionierten. Prinzip der Suspendierung der geltenden Gesetze und der Anwen- nen Aufsatz »The Causes of Ukrainian-Polish Ethnic Cleansing, 1943«, in: Past allgemeine Umstände sich nur in Hinblick auf den Moment verste- Es geht um Analyse, nicht um Nostalgie. Es wäre töricht, ein and Present, No. 179 (2003), S. 197–234). dung rassistischer Normen von Himmler und seinem wichtigsten 3 Dieser Abschnitt stützt sich auf einen noch nicht erschienenen Aufsatz in H-Diplo hen lässt, in dem die europäische Ordnung demontiert wurde. Die historisches Argument mit der rosa Brille retrospektiver Fantasie zu Vertreter auf ganze Länder angewandt werden, (https://networks.h-net.org/h-diplo). Geschichte des Holocaust ist transnational und erfordert die Einsicht, versehen und ein Bild des jüdischen Vorkriegslebens in Österreich,

50 Einsicht Einsicht 16 Herbst 2016 51 der Tschechoslowakei, Polen, den baltischen Staaten und der So- schon immer gesagt hatte, nämlich den deutschen Nationalismus wjetunion zu zeichnen, das die Probleme, Schwierigkeiten und und die vermeintlichen Interessen des deutschen Staates zur Mo- Repressionen verleugnet. Es geht nicht um eine wie auch immer bilisierung der Deutschen für einen Krieg zu nutzen, der scheinbar geartete Rehabilitierung des unvollkommenen Vorkriegssystems wegen der deutschen Minderheit in Polen, tatsächlich aber wegen durch den Sieg Nazideutschlands, der Verkörperung des Bösen. Ich etwas ganz anderem geführt wurde. Er gab seinen Generälen das behaupte vielmehr, dass unvollkommene Staaten für Juden sehr Ziel der Zerschlagung des polnischen Staates und der polnischen viel besser waren als zerstörte. Selbst autoritäre Staaten, die eine politischen Gesellschaft vor. Deshalb bekam die SS 1939 in Polen offi zielle Politik des Antisemitismus verfolgten – wie Polen nach unerwartet die erste Gelegenheit, unter dem Deckmantel des Krieges 1935 –, waren besser für die Juden als die Zerstörung dieser Staaten. einen Staat zu zerstören. Ihre Einsatzgruppen folgten der Wehrmacht Solange Polen ein unabhängiger Staat war, waren die Juden organi- nach Polen, mit dem ausdrücklichen Befehl, die dortige politische sierten Pogromen, Diskriminierung an Universitäten und zahllosen Klasse zu ermorden. anderen Formen der Drangsalierung ausgesetzt gewesen, aber ein Der deutsche Angriff auf den polnischen Staat war fast total. Holocaust war unmöglich. Nach deutscher Rechtslehre hatte der polnische Staat tatsächlich nie Die Diskussion über die Judenpolitik im Vorkriegspolen kann existiert, und die deutschen Streitkräfte waren einfach in eine Art den spezifi schen Inhalt von Hitlers Weltsicht erhellen helfen, durch undefi nierte Zone eingerückt. Deutschland erklärte das polnische den Vergleich genauso wie durch die Untersuchung gewisser Zivilrecht sofort für ungültig. Alle Bewohner unter deutscher Besat- deutsch-polnischer Kontakte. Die polnische Regierung war mit einer zung verloren die Staatsbürgerschaft und wurden nach rassistischen Oppositionspartei (den Nationaldemokraten) und großen Teilen der Begriffen defi niert. Das Ende des polnischen Zivilrechts bedeutete Gesellschaft konfrontiert, die glaubten, die polnischen Juden sollten auch das Ende des Eigentumsrechts, und das hieß für Juden die Ghet- das Land verlassen. Sie verbündete sich mit rechten Zionisten, die toisierung. Das Ende der zentralen polnischen Behörden bedeutete sie fi nanziell und militärisch unterstützte, in der Hoffnung, die bri- das Ende der gesetzlichen Autonomie der jüdischen Gemeinden. Die tische Herrschaft über Palästina könnte gebrochen werden und ein jüdischen Männer, die die Kommunalverwaltung der Gemeinden Staat Israel entstehen. Obwohl sich diese Politik also (neben ande- in Polen geleitet hatten, wurden im Allgemeinen dann Leiter der ren Gründen) dem populären Antisemitismus verdankte, bietet sie Judenräte, die unter den deutschen Behörden die Ghettos leiteten. wertvolle Einblicke in Hitlers Vernichtungsvisionen. Die Intention Das Ende der polnischen Ministerien bedeutete, dass die polnische der Polen, die Juden nach Palästina (oder in eine andere Kolonie) Polizei in Himmlers SS-Reich eingegliedert wurde und schon bald abzuschieben, war nicht anarchisch und ging nicht von der Vorstel- diese Ghettos bewachte. lung eines Rassenkriegs in Europa aus. Hitler sah in Polen, seitdem Die Zerschlagung des polnischen Staates hinterließ scharfe Ele- er an die Macht gekommen war, fast immer einen Verbündeten oder mente, die auf den kommenden Holocaust hindeuteten. Und doch neutralen Staat in dem kommenden Krieg der Vernichtung und Ko- sollte man daran denken, dass der Massenmord an den polnischen lonisierung der UdSSR. Juden im Winter 1941/42 begann, mehr als zwei Jahre nach der Dass es 1938 nicht zu einer deutsch-polnischen Allianz kam, deutschen Invasion und mehr als ein Jahr nach der Errichtung der Jüdische Bürger werden gezwungen, das Wort Österreich von der Straße zu waschen. Teile der Bevölkerung stehen dabei und schauen zu. lag unter anderem an eben den deutsch-polnischen Differenzen in wichtigsten Ghettos. Tatsächlich reichte die Zerstörung von Öster- Diese spezielle Form der Demütigung nannte man »die Reibpartie«. Wien, März 1938. Foto: IMAGNO/Votava/Süddeutsche Zeitung Photo der Judenfrage. Aus der Sicht polnischer Diplomaten, die sich einer reich, der Tschechoslowakei und Polens 1938/39, auch wenn sie eine Invasion in die Sowjetunion in jedem Fall widersetzten, konnte ein sehr viel breitere Unterdrückung der Juden ermöglichte als die Nazi- solcher Krieg die Deportation der Juden in ein Kolonialgebiet, auf fi zierung Deutschlands, immer noch nicht aus für einen Holocaust. die, wie sie glaubten, Deutschland hoffte, nur stören. Anders aus- Das Massentöten begann noch später und noch weiter im Osten. Lettland und Litauen. Weil Deutschland, in Übereinstimmung mit Kommunisten hielten, erheben würden. Deutschland gelang es, Dut- gedrückt: Die Umstände am Anfang des Zweiten Weltkriegs hatten Um zu verstehen, wie der Massenmord beginnen konnte, müs- dem Ziel, das Hitler von Anfang an verfolgte, 1941 die Sowjetunion zende von entsetzlichen Pogromen zu organisieren oder zu veran- etwas mit polnischen Entscheidungen zu tun, und diese Tatsache, sen wir auf den einen Aspekt achten, in dem die deutsche Kam- angriff, weil die Invasion genau in den Gebieten begann, in denen lassen, an denen sich Tausende Bewohner dieser zweifach besetzten selbst wenn man sie getrennt von anderen entscheidenden Fragen pagne zur Zerstörung des polnischen Staates nicht total war: das die UdSSR gerade den Staat zerstört hatte, und weil der Holocaust Länder blutig beteiligten. In Deutschland mussten die Pogrome auf- betrachtet, ist ausreichend, um den polnischen Vorkriegsstaat und Staatsgebiet. Zwischen September 1939 und Juni 1941 kontrollierte in dieser Zone zweifacher Staatszerstörung und nirgendwo anders hören, weil sie die Integrität des deutschen Staates bedrohten. In der seine Judenpolitik als legitimes Thema über den Holocaust zu qua- Deutschland etwa die Hälfte des polnischen Vorkriegsgebiets; der begann, ist es richtig, darüber nachzudenken, wie die Politik der zweifach besetzten Zone, in der das örtliche Recht durch die Sowjet- lifi zieren. Rest wurde aus Moskau regiert. Als Hitler realisierte, dass Polen Sowjetunion die Bedingungen für die deutsche Eskalation vorbe- macht und die Sowjetmacht durch die deutsche Invasion aufgehoben Hitler entschied erst im Frühjahr 1939, Krieg gegen Polen (statt sich nicht mit Deutschland gegen die UdSSR verbünden würde, reitet haben könnte. Der Holocaust, wie wir ihn verstehen, begann worden war, kann man sich leicht ein gewisses Chaos vorstellen. Die mit Polen gegen die UdSSR) zu führen. Goebbels wechselte von näherte er sich der UdSSR an, um einen Krieg gegen Polen zu führen. exakt in den zweifach besetzten Ländern Litauen und Lettland, die Deutschen begriffen rasch, dass sie die durch die totale Zerstörung pro-polnischer zu anti-polnischer Propaganda, um die Deutschen Als Folge des deutsch-sowjetischen Bündnisses, festgelegt in zwei einzigen von der Sowjetmacht völlig zerstörten Staaten, in denen von Staaten wie im Baltikum verfügbaren politischen Energien für davon zu überzeugen, dass die deutschen Gebietsansprüche und der Verträgen von August und September 1939, wurde Polen zwischen eine signifi kante Zahl von Juden lebte. sich nutzbar machen konnten. So waren, um ein wichtiges Beispiel Schutz ethnischer Deutscher eine Invasion in Polen erforderten. Die den beiden Mächten aufgeteilt und als Staat zerstört. Im folgenden Die Deutschen erwarteten im Sommer 1941, dass sich die Ost- (von vielen, die ich in dem Buch beschreibe) zu nennen, viele und, polnische Standhaftigkeit ermöglichte es Hitler, das zu tun, was er Jahr zerstörte die Sowjetunion auch drei andere Staaten: Estland, europäer, die sie für Barbaren hielten, gegen die Juden, die sie für was durchaus möglich ist, vielleicht sogar die meisten der lokalen

52 Einsicht Einsicht 16 Herbst 2016 53 Balten, die sich an der Ermordung von Juden beteiligten, doppelte Zerstörung spielte eine viel geringere Rolle; genauso wichtig, wenn ein deutscher nationaler Rahmen und die ausschließliche Nutzung blieben erhalten, die Zivilgesellschaft funktionierte, und es gab de- Kollaborateure, Menschen, die sich gerade noch am Sowjetregime nicht wichtiger war das Alibi, das die Gleichsetzung von Juden und deutscher Quellen nicht hinreichend sein könnten. Berücksichtigt mokratische Wahlen. Estland dagegen erlebte in einem einzigen Jahr beteiligt hatten. Hier wurde Hitlers globaler Antisemitismus und Kommunismus den Sowjetbürgern und sogar Kommunisten bot. Als man, dass Deutsche (und andere Europäer) Juden fast ausschließlich zwei Episoden der Staatszerstörung, deren Gewalt kumulierte: 1940 vor allem seine Vorstellung, Kommunisten seien Juden und Juden die lokalen Kollaborateure in der Stadtverwaltung von Charkiw die außerhalb der Grenzen Vorkriegsdeutschlands ermordeten und dass die Zerstörung des Staatsapparats und der politischen Eliten durch Kommunisten, erstmals deutlich erkennbar, nicht, weil sie wahr, »endgültige und absolute Niederlage der jüdisch-bolschewistischen selbst deutsche Juden mit sehr wenigen Ausnahmen erst nach ihrer die Sowjetunion, 1941 die Aufl ösung des sowjetischen Apparats sondern weil sie eine Lüge war. Menschen, die selbst Teil des So- Verbrecher« forderten, vertraten sie damit das Interesse der Deut- Deportation in andere Länder ermordet werden konnten, bestätigt durch die Deutschen. wjetregimes gewesen waren, konnten den Juden die Schuld an der schen, indem sie vorgaben, den Kommunismus besiegen zu wollen, sich die Skepsis. Juden starben und Deutsche töteten Juden fast In Ländern, die mit den Deutschen verbündet, aber nicht von eigenen Kollaboration geben und diesen Vorwurf »beweisen«, indem gleichzeitig aber auch das der Sowjetbürger, indem sie vorgaben, ausschließlich in osteuropäischen Gebieten, in denen die deutsche ihnen besetzt waren, und in Ländern, die konventionellere Besat- sie Juden töteten. mit dem Kommunismus nie etwas zu tun gehabt zu haben. In jeder Politik darin bestand, Staaten zu zerstören und rassistische Kolonien zungen erlebten, sowie in Nazideutschland selbst lag die Todesrate So war zum Beispiel Viktor Arajs, der lettische Kollaborateur, Stadt der besetzten Sowjetunion fanden sich genügend Bürger, um aufzubauen. Nicht nur ein Staat kann handeln, Staaten können sich bei Juden im Durchschnitt bei rund 50 Prozent. In meiner Studie dessen Kommandoeinheit für die Ermordung der meisten lettischen Massenerschießungen von Juden (und anderen) zu arrangieren. verändern und einen Charakter annehmen, den man in der Regel beschreibe ich jeden Fall, der diesen Durchschnitt defi niert, ein- Juden verantwortlich war, ein Kommunist, der gerade seine Disserta- Der Massenmord an den Juden in der besetzten Sowjetunion nicht mit Staatlichkeit assoziiert, sie können zudem andere Staaten schließlich seiner lokalen Besonderheiten. Je stärker der Zerfall der tion über Stalins Verfassung von 1936 abgeschlossen hatte. Arajs ist 1941 demonstrierte, dass aus der Idee der »Endlösung« tatsächlich beeinfl ussen, unterwandern, verändern und sogar zerstören. Gesell- Souveränität, desto höher der Prozentsatz der getöteten Juden. So natürlich bekannt, weil er der mörderischste deutsche Kollaborateur die Tatsache werden konnte, die wir heute als Holocaust bezeichnen. schaften können Staaten überlisten oder sich in einer Art und Weise kamen in den besetzten Niederlanden, wo, einzigartig im westlichen in ganz Europa war. Berücksichtigt man jüdische Quellen, wird 1942 reduzierte die deutsche Führung, ja sogar die SS-Führung in an ihrem Handeln beteiligen, die erst dann deutlich wird, wenn man Europa, die SS herrschte, drei Viertel der ansässigen Juden ums deutlich, wie verbreitet das Phänomen der doppelten Kollaboration Polen und anderswo in Europa die Zahl der direkt beteiligten Deut- sich auf ihre Erfahrungen mit anderen Staaten bezieht. Die Erklä- Leben. Noch weit gefährlicher für Juden waren die neuen Staaten, war. Aber gerade die Juden, die in Polnisch, Russisch, Jiddisch oder schen noch weiter, indem sie als wichtigstes Mordinstrument Gas rung der Chronologie und Topologie des Massenmords erfordert ein die unter der Führung Deutschlands gegründet worden waren, wie anderen, in der Geschichte des Holocaust in der Regel fehlenden statt Kugeln einsetzte. In Polen, wo der Staat zerstört war und die Konzept der Zerstörung von Staaten, nicht nur bloßer Herrschaft, die Slowakei und Kroatien. Grund dafür war die Tatsache, dass die Sprachen geschrieben haben, waren in der Lage, zu beobachten meisten Juden bereits in Ghettos lebten, erwies sich der Transport Imperium, Besatzung oder Verwaltung. Gründung eines neuen Staates zunächst die Zerstörung des frühe- und aufzuschreiben, wie ihre Nachbarn sich zunächst den Sowjets zu den nahegelegenen Vergasungsstätten und zum Massenmord als Wir sind heute (anders als im Historikerstreit) an einem Punkt ren (hier der Tschechoslowakei und Jugoslawiens) erfordert, was und dann den Deutschen anschlossen und die zweite Kollaboration relativ einfach. Nur im besetzten Polen kamen die Todesraten denen angekommen, an dem wir die Grunddaten über den Verlauf des Ho- bedeutet, dass die Juden den staatlichen Schutz verloren und man dadurch ermöglichten, dass sie den Juden die Schuld an der ersten in der besetzten UdSSR nahe. Anderswo in Europa verhinderten locaust kennen, über das Wo, Wann und Wie der Ermordung der ihnen schnell und problemlos die Staatsbürgerschaft entziehen oder gaben. Diese sehr typische Form lokaler Politik taucht in den deut- politische Faktoren das allgemeine Ziel des totalen Mords. Juden. Diese Daten gestatten vergleichende Untersuchungen, die sie als Bürger zweiter Klasse defi nieren konnte. Solche Maßnahmen schen Quellen selten auf, bedeutete sie doch, dass die angeblichen sämtlich bestätigen, wie wichtig es ist, den Staat nicht als Konstante, waren in neuen Staaten leichter durchzuführen als zum Beispiel in Untermenschen die deutschen Eroberer überlistet hatten. sondern als Variable zu betrachten. Um mit dem zentralen Symbol Nazideutschland selbst. Entsprechend kam ein signifi kant höherer Friedrich Jeckeln wurde im Oktober 1941 nach versetzt. Staat, Staatszerstörung und Staatenlosigkeit des Holocaust anzufangen: Warum haben die meisten Juden, die die Prozentsatz der Juden ums Leben. Im November und Dezember organisierte er mit Hilfe des Komman- Deutschen für Auschwitz bestimmt hatten, überlebt, während fast alle Warum wurden Juden von Deutschlands Verbündeten (oder, dos Arajs die Massenerschießung von 28.000 lettischen und rund Wir halten es oft für eine durch den Ablauf des Holocaust bedingte Juden, die für die Erschießungsgruben und ausschließlichen Vernich- was häufi ger war, mit ihrer Mithilfe) fast ausschließlich in Gebieten 1.000 deutschen Juden vor der Stadt. Die Methode der Massener- Selbstverständlichkeit, von der deutschen Nationalgeschichte auszu- tungsstätten bestimmt waren, gestorben sind? Auschwitz diente im ermordet, deren Herrschaft gewechselt hatte? Weil Juden (und ihre schießung, angeführt von der SS, aber auch durchgeführt von der gehen. Das war die Prämisse für einen großen Teil der Sonderweg- Allgemeinen zur Ermordung von Juden, die zunächst aus souveränen Nachbarn) während des örtlichen Regimewechsels ohne staatlichen deutschen Ordnungspolizei, der Wehrmacht und der Zivilverwaltung Diskussion und Hauptthema des Historikerstreits. Ich behaupte, Staaten herausgelöst werden mussten, während die Gruben und die Schutz und deshalb für die deutschen Meister des Todes erreichbar und unter Einbeziehung lokaler Milizen oder »Selbstschutzkräften«, dass beide Diskussionen sich auf unhaltbare Annahmen über das mit Kohlenmonoxid betriebenen Todeslager der »Aktion Reinhardt« waren. Warum überlebten (zum Beispiel) fast alle Juden im Vor- demonstrierte, dass sich das allgemeine Konzept einer »Endlösung« Geschehen im Holocaust stützten. Wir haben es heute mit einer zur Ermordung sowjetischer, baltischer und polnischer Juden dienten, kriegsbulgarien, während in den Gebieten, die Bulgarien während durch Massenmord umsetzen ließ – durch das, was wir heute als Art geschlossenem Kreislauf aus Mythologie und Methodologie zu also von Juden, die aus Staaten stammten, die zerstört worden waren. des Kriegs mit deutscher Zustimmung zugesprochen wurden (Thra- Holocaust bezeichnen. tun: Weil der Holocaust ein beispielloses Verbrechen und weil er Eine gründlichere Untersuchung der Daten verstärkt diese Einsicht. kien), praktisch alle Juden starben? Weil letztere die Staatsbürger- Die Methode wurde nach Osten, in die Sowjetunion der Vor- ein deutsches Verbrechen war, muss er im Rahmen der deutschen Die zwei größten Gruppen ermordeter Juden in Auschwitz kamen aus schaft verloren und deshalb von den Deutschen gefangengenommen kriegszeit, ausgeweitet, so weit die deutsche Macht reichte. In Kyiv, Geschichte untersucht werden, und damit wird der deutsche Staat Ungarn, einem Staat, dessen Souveränität durch die deutsche Invasion und im Gas erstickt werden konnten. Adolf Eichmann hatte man Minsk, Stalino, Smolensk und allen anderen Orten in der ehemaligen zum Ausgangspunkt. Wie meine bisherigen Ausführungen gezeigt beschädigt, und aus Polen, einem Staat, der zerstört worden war. versichert, die übergebenen Juden seien ausnahmslos staatenlos.4 sowjetischen Ukraine, dem ehemals sowjetischen Weißrussland und haben, ist diese Argumentation als historische Erklärung nicht halt- Betrachten wir die statistischen Extreme des Holocaust, Däne- Der gefährlichste Ort für Juden waren die Kolonien, in denen in Sowjetrussland, in denen die Deutschen an der Macht waren, bar. Nach der kurzen Beschreibung des Ablaufs des Holocaust will mark und Estland. 99 Prozent der Juden in Dänemark überlebten, Nazideutschland explizit danach strebte, den Vorkriegsstaat zu diente die ideologische Gleichsetzung von Juden und Kommuni- ich jetzt auf tieferer, abstrakterer Ebene über die Frage des Staats, 99 Prozent der Juden in Estland wurden ermordet. Der Unterschied zerstören, also Polen und die Sowjetunion. Überall dort, wo das sten dem politischen Ziel, die Juden moralisch abzusondern, und der Staatszerstörung und der Staatenlosigkeit nachdenken. liegt nicht in der deutschen Politik: Es gab den expliziten Befehl, Ziel der Deutschen die Staatszerstörung war und sich die deutsche die jeweilige lokale Bevölkerung stellte so viele Kollaborateure, Jedes historische Narrativ verlangt eine Entscheidung über das, beide Länder »judenrein« zu machen. Auch lagen Hitlers Absichten Macht tatsächlich ausgedehnt hatte, war ein Überleben für Juden dass die Deutschen mit relativ geringem eigenen Personalaufwand was und wie wir sehen. Wenn wir mit der deutschen Nationalge- in Estland nicht klarer zutage als in Dänemark: Das Gegenteil war Massenerschießungen organisieren konnten. Wie in den zweifach schichte beginnen, gehen wir stillschweigend von einigen Annahmen der Fall. (Und die dänische Gesellschaft war keineswegs weniger besetzten Zonen eignete sich Hitlers Gedanke des Judäokommu- über den Staat aus, nämlich dass sich Staaten kaum verändern und antisemitisch als die estnische, wenn überhaupt, war auch hier das nismus auch hier zur Rechtfertigung politischen Handelns, wenn der deutsche Staat der einzige ist, auf den es ankommt. Die Betrach- Gegenteil der Fall.) Der Unterschied liegt vielmehr in der Besat- 4 David Liebers hat mich nach der Veröffentlichung von Black Earth auf diese Enigma-Entschlüsselung aufmerksam gemacht, weshalb ich sie hier zitiere. Sie auch vielleicht aus etwas anderen Gründen. Die nationale Beschä- tung Europas und nicht einfach nur Deutschlands und der Juden und zungspolitik. Dänemark erlebte nach der deutschen Invasion 1940 taucht in Stephen Tyas’ Aufsatz in Weinberg und Bankier, Secret Intelligence and mung und Demütigung durch die jüngste Erfahrung sowjetischer nicht einfach nur der deutschen Juden führt zu der Vermutung, dass eine konventionelle Besatzung: Regierung und Staatsoberhaupt the Holocaust auf. Vgl. Kapitel 4–7 von Black Earth.

54 Einsicht Einsicht 16 Herbst 2016 55 fast unmöglich. Es ist bemerkenswert, dass sich dieses Spektrum nur des Holocaust Opfer der Staatszerstörung. Tatsächlich konnte der eine Gruppe nationaler Gedenkpraktiken besitzen, besitzen wir auch Diese Replik auf meine Kritiker erscheint Ende 2016; ich möch- durch ein politisches Argument ausdrücken lässt; die grundlegen- Massenmord an den Juden erst dann beginnen, als der Staat zweifach die Instrumente, mit deren Hilfe wir das historische Verständnis ver- te darauf hinweisen, dass die englische Fassung meines Buches den Tatsachen des Massenmords an den europäischen Juden lassen zerstört war: 1939 bzw. 1940 durch die UdSSR und 1941 durch breitern und unsere heutigen Probleme besser verstehen können. Ende 2013 abgeschlossen war und Mitte 2014 dem amerikanischen sich durch kein (positives oder negatives) ethnisches Stereotyp, das Nazideutschland. Und danach konnten 90 Prozent oder mehr Juden Verlag vorgelegt wurde. In meiner Zusammenfassung habe ich unter immer noch kursiert, und durch kein (implizites oder explizites) nur in den Zonen getötet werden, in denen der Staat zerstört war. anderem die Süd-Nord-Migration in Europa und ihre Begleiterschei- nationales Narrativ erklären. Anderswo in Europa korrelierten die jüdischen Überlebensraten Welche Lehren? nungen – politische Radikalisierung, Völkermord im Nahen Osten, Warum wurden im Holocaust in Frankreich mehr polnische als sehr stark mit dem Maß an Souveränität, das sich der Staat, dessen russische Unterstützung für die extreme Rechte in Europa, der dor- französische Juden getötet? Mit dem Antisemitismus im Vorkriegs- Bürger sie waren, bewahren konnte. Die deutsche Kritik an meinem Buch, die mich am meisten irritiert tige Aufstieg des nationalen Populismus und die Fragmentierung der polen lässt sich das offensichtlich nicht erklären. Er spielte für das Aus wissenschaftlicher Perspektive ist an diesem Argument hat, war der Vorwurf, ich missbrauche die Erinnerung an den Holo- Europäischen Union – beschrieben und prognostiziert. Die meisten Schicksal polnischer und anderer Juden gewiss eine Rolle (wie ich besonders interessant, dass es sich mit allgemeinen Erkenntnissen caust, weil ich nach möglichen Lehren für Gegenwart und Zukunft deutschen Rezensenten haben darauf mit selbstgefälliger Ablehnung ausführlich im Buch erklärt habe), aber Juden in Polen und anderswo über Massenmorde aus anderen Bereichen der Geschichte sowie aus suche. Selbstverständlich suche ich danach. Aber das tun ja auch reagiert. Manche nahmen entgegen den grundlegendsten Prinzipien starben dann, wenn sie vom staatlichen Schutz abgeschnitten waren. anderen Disziplinen deckt und sie sogar bestätigt. Die sozialwissen- all meine Kritiker. Die Frage ist nicht, ob, sondern wie das gesche- wissenschaftlicher Rezension sogar an, ich hätte mit einer Analyse Darauf hat vor langer Zeit Hannah Arendt hingewiesen, aber sie schaftliche Genozidforschung hat zahlreiche Fälle mit statistischen hen soll. Anstatt von der Annahme auszugehen, den Holocaust zu des Holocaust nur mein persönliches Steckenpferd bestätigen wollen. und deutsche Juden (sowie die Geschichtsschreibung, die auf der Methoden untersucht und festgestellt, dass Staatsversagen am stärk- verstehen und sofort praktische Formeln aus dem Erinnerungskon- Ich fürchte, das sagt mehr über deutsche Praktiken aus als über mein Erfahrung deutscher Juden basiert) berücksichtigen die Tatsache sten mit ethnischen Säuberungen und Massenmorden korreliert. In sens eines Landes zu entwickeln, gehe ich von einer globalhistori- Buch. Hätte ich ein politisches Pamphlet schreiben wollen, hätte nicht, dass die elementarste Form, ein Individuum vom Staat zu der historischen Forschung zu ethnischen Säuberungen und Mas- schen Perspektive aus, entwickle eine neue kausale Interpretation, ich mir die jahrzehntelange Bemühung sparen können, Sprachen zu trennen, die Zerstörung des Staates ist. Bei der Hierarchie der Ras- senmord gibt es einige, aber sehr signifi kante Ausnahmen von dieser die multiple Historiographien nutzt, und komme dann zu anderen lernen und Quellen und historische Darstellungen zu lesen. Meine sen und den kolonialen Bestrebungen, die eine Form der Besatzung allgemeinen Regel der Sozialwissenschaftler: Staaten, die im Frieden Schlussfolgerungen. Interpretationen mögen nicht korrekt sein, aber der Versuch, sie zu von der anderen unterschied, spielte die Nazi-Ideologie eine Rolle. und ohne Fragmentierung ihre Bürger in großer Zahl umbringen, Aus nationaler deutscher Perspektive mag die Lehre ausreichend personalisieren, statt sich mit ihnen auseinanderzusetzen, war vor Der deutsche Krieg gegen Polen 1939 begann unter der Prämisse, wie Kambodscha, die Volksrepublik China und die UdSSR. Immer erscheinen, dass der Antisemitismus bekämpft werden muss und allem ein deutsches Syndrom. Polen rechtlich, politisch und gesellschaftlich zu zerstören. Der Krieg handelt es sich um Parteienstaaten, in denen die Grundbeziehung eine demokratische Republik anderen Staatsformen vorzuziehen ist. Natürlich ist das Gegenteil der Fall. Gerade weil ich mir ge- gegen Frankreich begann nicht mit dieser Prämisse. Auch wenn die zwischen dem Einzelnen und der Macht nicht über den Staat, son- Für diese Schlussfolgerungen habe ich übrigens alle Sympathien. stattete, mich von historischen Belegen überraschen zu lassen, von Absicht, die Juden zu vernichten, universell war, wurde die Praxis dern über die regierende Einheitspartei verläuft. Nazideutschland Das Problem liegt darin, dass sie sich einem sehr partiellen Bild vielen Kollegen, die in vielen Sprachen über verschiedene Aspekte von lokalen politischen Bedingungen bestimmt, die sich entspre- ist insofern einzigartig, aber nicht in einem Maße, dass es eine Her- des tatsächlichen Geschehens im Holocaust verdanken. Wenn der des Holocaust geschrieben haben, zu lernen, und andere Argumen- chend der Form der Besatzung, die wiederum von der Ideologie angehensweise rechtfertigen könnte, die außerhalb der normalen Holocaust es erforderlich macht, Ideologien der relativen Knappheit te über die Vergangenheit zu entwickeln, konnte ich unorthodoxe, determiniert wurde, unterschieden. wissenschaftlichen Untersuchung liegt. Einzigartig ist es, weil die und die Politik der Staatszerstörung zu berücksichtigen, wie ich es aber korrekte Prognosen über die nahe Zukunft entwickeln. Oder, Auffallend ist, dass jüdische Opfer das alles häufi g sehr gut Erklärung des beispiellosen Verbrechens des Massenmords an den in dem Buch zu zeigen versucht habe, müssen wir daraus die ent- um es ungeschminkt zu sagen: Mir macht die Möglichkeit einer verstanden. Betrachten wir das Dilemma polnischer Juden in Frank- europäischen Juden diese beiden Hauptströmungen der Forschung sprechenden Lehren für Gegenwart und Zukunft ableiten. ökologischen Panik mehr Sorgen als den meisten meiner Kollegen. reich von Anfang bis Ende. Als Deutschland und die Sowjetunion zusammenführt. Nazideutschland war ein Einparteienstaat, der bei Ein unvollständiges Verständnis des Holocaust hat uns dar- Aber das liegt an meiner Lesart Hitlers. Mir macht das Scheitern des im September 1939 Polen angriffen, gingen die Juden in Paris, die seinen Nachbarn künstlich Staatszerstörung herbeiführte und damit an gehindert, bereits vorhandene Gefahren zu erkennen. Wenn wir Staates mehr Sorgen als der Mehrheit der deutschen Kollegen. Aber aus Ostpolen stammten, zum sowjetischen Konsulat. Warum? Weil Zonen schuf, in denen Massenmord möglich war. Weil Nazideutsch- Staatszerstörung als Teil der Kausalität des Holocaust begreifen, das liegt daran, dass ich das letzte Jahrzehnt damit verbracht habe, sie wussten, dass »der Pass Leib und Seele zusammenhält«, wie land die zwei kausalen Rahmen verbindet, die die wichtigsten An- verändert das unsere Reaktion auf die amerikanische Invasion in den die Konsequenzen zu untersuchen. Ich bin nicht weniger besorgt es die Bürger des ehemaligen Polen damals ausdrückten. Solange sätze der Disziplin beherrschen, sollte es Gegenstand allgemeiner, Irak 2003 und die russische Invasion in die Ukraine 2014. In beiden als sie über den Aufstieg der extremen Rechten und des nationalen Nazideutschland und die Sowjetunion Verbündete waren, schützten vergleichender und interdisziplinärer Diskussion sein statt Anlass Fällen wurde der Holocaust als Argument für die Invasion benutzt; in Populismus. Aber weil ich die 1920er und 1930er Jahre weniger diese Papiere die Juden tatsächlich. Aber als Nazideutschland 1941 zur Wiederholung vertrauter Tabus. beiden Fällen hat kein Kritiker (außer mir) darauf hingewiesen, dass im deutschen als vielmehr im globalen und europäischen Setting die Sowjetunion angriff, verloren sie jeden Wert, sodass Frankreich Zusammengefasst lautet mein Argument also: Hitlers Bestreben, Staatszerstörung genau das Gegenteil der angemessenen Lehre des betrachtet habe, mache ich mir größere Sorgen um den Zusammen- diese Juden ebenfalls deportieren konnte. Deutschland akzeptierte die Juden zu vernichten, ausgedrückt in Begriffen des ökologischen Holocaust ist. Hitlers planetarische Ideologie und heutige Reaktionen bruch des europäischen Systems in einer zweiten Globalisierung. aus Frankreich nur Juden aus Staaten, die Nazideutschland explizit Anarchismus und eliminatorischen Antisemitismus der 1920er Jahre, auf die globale Erwärmung waren getrennte Untersuchungsfelder, bis Auch hier habe ich vielleicht unrecht, aber meine Gedanken entste- zu zerstören versuchte, oder aus Staaten, die den Juden explizit ihren war total und dauerhaft; Deutschland war nach 1933 ein Brutkasten ich eine Verbindung zwischen ihnen hergestellt habe. Dank meines hen aus einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Ich bin Schutz versagt hatten. für mörderisches Potenzial; Juden konnten nach 1938 problemloser Buches und der Arbeit anderer5 haben die Historiker in dem wichti- weiterhin davon überzeugt, dass wir ein angemessenes Verständnis Es war eher die Staatszerstörung und nicht so sehr die Diskrimi- in Österreich, der Tschechoslowakei und Polen als im Vorkriegs- gen neuen Feld der Klimasicherung heute ein Wort mitzusprechen. der Vergangenheit brauchen, um uns den Katastrophen zu stellen, die nierung durch den Staat, dessen Bürger sie waren, die in der Regel deutschland unterdrückt werden, sobald die Deutschen diese Staaten Ich halte das für wünschenswert und glaube, dass die Ereignisse seit wir jetzt betrachten, und dass der Holocaust nicht nur als Geschichte, dem Massenmord an den Juden den Weg ebnete. Selbst die Juden, demontiert hatten; die Deutschen begannen 1941 dort einen Holo- dem Erscheinen meines Buches die Notwendigkeit einer Geschichte sondern als Warnung im Mittelpunkt unserer intellektuellen Welt die unter Diskriminierung zu leiden hatten, konnten nur deshalb in caust, wo der Staat zweifach zerstört worden war; nach 1942 konn- des Holocaust belegen, die instruktiv für die Politik sein könnte, statt stehen sollte. Der Holocaust ist geschehen und hat uns zu lehren, großer Zahl getötet werden, weil (und nachdem) es eine staaten- te die deutsche Politik der totalen Vernichtung der Juden realisiert gängige Tabus zu verstärken. doch wir müssen bereit sein zu lernen. lose Zone gab, in die man sie zum Sterben schicken konnte. Die werden, gerade weil die konventionelle staatliche Souveränität zuvor Todesgruben und die Vernichtungsstätten wurden in einer Situation geschwächt oder zerstört worden war. Wenn dieses Argument stimmt, denkbar, in der der sowjetische und der polnische Staat unter einem können wir nicht nur den Holocaust, sondern auch intervenierende 5 Vgl. zum Beispiel Geoffrey Parker, Global Crisis: War, Climate Change, and Ca- Aus dem Amerikanischen von Irmgard Hölscher Vernichtungskrieg litten. So gesehen, waren tatsächlich alle Opfer Katastrophen anders sehen. Wenn wir eine Erklärung und nicht nur tastrophe in the Seventeenth Century, New Haven: Yale University Press, 2013.

56 Einsicht Einsicht 16 Herbst 2016 57 diese harsche Ablehnung etwas damit zu tun hat, dass er in vieler Hinsicht neue Wege beschreitet? Er bestätigt eben nicht nur, was wir ohnehin schon glauben zu wissen, und er rückt vieles Zur Kritik an Timothy Snyders Black Earth in andere Zusammenhänge. Geht man der Frage nach, wa- Ein Kommentar rum das so ist, wird es spannend und lehrreich. Snyder ist aufgefallen, dass kaum jemand der Historiker, die größe- von Christoph Dieckmann re Werke zum Holocaust geschrieben haben, die Sprachen der übergroßen Mehrheit derjenigen Menschen gelernt hat, die am Holocaust beteiligt waren, sei es auf Seiten der Täter, sei es auf Ja, es stimmt, studiert man Timothy Sny- Seiten der Opfer.3 Raul Hilberg, Ian ders Black Earth, gibt es viel nachzufragen Kershaw, Saul Friedländer, Christopher und zu kritisieren.1 Liegt er richtig mit sei- Browning oder kön- ner Analyse von Hitlers Weltanschauung? nen kein Jiddisch, Polnisch, Russisch, Dr. Christoph Dieckmann, Studium Warum lässt sich sein Verständnis von Staat und Staatszerstörung Ukrainisch, Weißrussisch, Lettisch, der Geschichte, Soziologie und Volks- so schwer präzise fassen? Lässt sich das Argument der doppelten Litauisch, Rumänisch oder Ungarisch. wirtschaftslehre in Göttingen, Jeru- Kollaboration empirisch vollständig belegen oder bedarf es der Timothy Snyder auf der Frankfurter Buchmesse 2015. Foto: CC-BY-SA 4.0 Das heißt, die Kenntnis zu denjenigen salem und Hamburg; Doktorarbeit in Differenzierung? Sind alle Vergleiche wirklich glücklich gewählt, Gesellschaften, in denen etwa 80 Pro- Geschichte an der Albert-Ludwigs-Uni- etwa derjenige zwischen Estland und Dänemark? Werden man- zent der Holocaustopfer – in Ost-, Ost- versität Freiburg; 2005–2014 Lecturer cherorts nicht kausale Gefl echte zu sehr reduziert, zum Beispiel bei Ansätzen diskutieren. Was sind die maßgeblichen Bedingungen der mittel- und Südosteuropa – ermordet wurden, speist sich in erster für moderne europäische Geschichte an der Bewertung der Rolle der SS für die hohe Mordrate an Juden Möglichkeit, dass der Holocaust geschehen konnte? Was sehen wir Linie aus deutschen, englischen oder französischen Quellen. Warum der Keele University, Großbritannien; in den Niederlanden? Warum lässt er viele wichtige Phänomene als notwendige, was als hinreichende Faktoren an? Welche Rolle lernen eigentlich so wenige Holocaustforscher die Sprachen der Mitglied der Redaktion der Beiträge weg, widmet anderen aber so viel Raum? Über manches wäre mit spielten Entscheidungen innerhalb der sich rasch verändernden Gesellschaften, über die sie forschen? Das gilt übrigens umgekehrt zur Geschichte des Nationalsozia- einem genauen Blick auf empirische Forschungen zu streiten, über Strukturen? Ja, diese und andere Fragen sind an die Studie Snyders auch für viele osteuropäische Holocausthistoriker, deren Deutsch- lismus; Mitglied der Forscher- und anderes kann man mit analytischen Begriffen und konzeptionellen zu stellen und gehören gewissermaßen zum normalen wissenschaft- oder Jiddischkenntnisse oft sehr zu wünschen übrig lassen. Ein Expertengruppe der »Internationalen lichen Diskurs, zumal Snyder wortgewandt zuspitzt, polemisiert Teil des Skandalons mag also darin liegen, dass die Annahme, der Kommission für die Bewertung der und oft Position bezieht. einzige Schlüssel zur Geschichte des Holocaust sei in der deutschen Verbrechen der nationalsozialistischen Aber in der Auseinandersetzung mit Snyders Studie ist ein Geschichte zu fi nden, von Snyder nicht geteilt wird. Jeder Art von und sowjetischen Besatzungsregime 1 Ich danke dem C.H. Beck-Verlag (München) für eine Kopie bisher vorliegender schärferer Ton zu spüren. In Teilen wird geäußert, dass wir das Sonderwegsthesen steht er skeptisch gegenüber, denn es gäbe keinen in Litauen«. Dieckmann arbeitet im Medienberichte und in Zeitungen erschienenen Rezensionen. Unter anderem be- doch alles schon wüssten und das Neue darin im Wesentlichen »normalen« Weg. ziehe ich mich im Folgenden auf die Rezensionen (in alphabetischer Reihenfol- Rahmen eines DFG-Projekts am Fritz ge) von Jörg Baberowski, »Bürger brauchen Staaten«, in: Die Zeit vom irrelevant für eine Geschichte des Holocaust sei. Dazu gesellt sich Bauer Institut zum Thema »Jüdische 8.10.2015; Micha Brumlik, »Staat und Verbrechen«, in: tageszeitung vom teilweise die erinnerungspolitische Warnung, dass diese Interpre- Diskussionen im Exil in den zwanziger 13.10.2015; Bernward Dörner, in: Zeitschrift für Geschichswissenschaft, Jg. 64 tation gefährlich sei und weit von vermeintlich akzeptierten Inter- Jahren: Die Pogrome 1918–1921 und (2016), H. 5, S. 404–406; Klaus-Dietmar Henke, »In planetarischer Verstiegen- pretationsmustern abweiche. Manche behaupten gar, Snyder würde Studia i Materialy/Holocaust Studies and Materials, 7.3.2016 (online). Darüber heit«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10.10.2015; Wolfgang Köbl, »Nur hinaus vgl. David A. Bell, »History’s Black Hole: The Holocaust in Eastern Eu- der ›jüdische Bolschewismus‹«. beschreiben oder doch erklären? Soziologische Anmerkungen zu Jörg Baberow- die Geschichte des Holocaust für eigene Zwecke zurechtbiegen. rope«, in: The National Interest, Nr. 139, September/October 2015; Christopher Veröffentlichungen (Auswahl): Deut- ski, ›Räume der Gewalt‹, und Timothy Snyder, ›Black Earth‹«, in: Soziopolis. Die brüske Ablehnung Snyders ist keineswegs nur ein deutsches Browning, »A New Vision of the Holocaust «, in: New York Review of Books, sche Besatzungspolitik in Litauen Gesellschaft beobachten, 19.10.2015; Helmut König, »Bedingungen des Massen- Phänomen, auch Historiker wie der Kanadier Michael Marrus, der Vol. 62, No. 15, 2015; Adam Gopnik, »Blood and Soil. A historian returns to the 1941–1944, 2 Bände, Göttingen: Wall- mords«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 14.10.2015; Armin Pfahl-Traughber, Brite Richard J. Evans oder der Pole Jan Grabowski polemisieren Holocaust«, in: The New Yorker vom 21.9.2015. »Holocaust und Staatsaufl ösung – eine einseitige Deutung«, in: Humanistischer 3 Die folgende Diskussion beruht auch auf der Lektüre von Timothy Snyders me- 2 stein Verlag, 2011 (Yad Vashem Inter- Pressedienst, 19.11.2015; Dieter Pohls Rezension auf H-Soz-Kult, 15.10.2015, sehr scharf gegen diesen langen Essay über den Holocaust. Ob thodologischen und historiographischen Ausführungen: »Kommemorative Kau- national Book Prize for Holocaust Re- . – Ich danke salität. Die Gefahren des Gedenkens – der Schlaf des Denkens«, in: Europas ge- search 2012). Im Ghetto 1939–1945. Dieter Pohl (Klagenfurt) für einen Vorabdruck seiner ausführlichen Besprechung spaltene Erinnerungen. Festschrift zur Verleihung des Hannah-Arendt-Preises für Neue Forschungen zu Alltag und Um- von Snyders Studie, »Old and New Interpretations. Regarding the Origins of the politisches Denken 2013 an Timothy Snyder, hrsg. von Hannah-Arendt-Preis für Holocaust. Some Remarks on Black Earth by Timothy Snyder«, in: Yad Vashem 2 Michael Marrus, »Timothy Snyder’s Black Earth«, in: New York Times vom politisches Denken e.V. und Heinrich Böll Stiftung Berlin/Bremen, Bremen 2014, feld, hrsg. zus. mit Babette Quinkert, Studies, Vol. 44 (1), 2016, S. 283–291; Michael Wildt, »Ausschnitt der Wirklich- 3.9.2015; Richard J. Evans, »A New Lesson to be learned from the Holocaust«, S. 47–71; ders., »Das Bild ist größer, als man denkt. Eine Antwort auf manche Göttingen: Wallstein Verlag, 2009. keit«, in: Süddeutsche Zeitung vom 13.10.2015. in: The Guardian vom 10.9.2015; Jan Grabowski, Review, in: Zaglada Zydow. Kritiker an ›Bloodlands‹. Rede des Preisträgers«, ebd., S. 31–46.

58 Einsicht Einsicht 16 Herbst 2016 59 FRITZ BAUER. DER STAATSANWALT – NS-VERBRECHEN VOR GERICHT Anlässlich der Ausstellung des Fritz Bauer Instituts und des Jüdischen Museums Frankfurt sind folgende Publikationen in Zusammenarbeit mit dem Fritz Bauer Institut erschienen:

Osteuropa taucht in der Geschichtsschreibung zum Holocaust fi elen, tauchen in dem allgemeinen Narrativ bisher nicht auf – außer bisher meist nur aus der Perspektive der Täter, also vor allem der vielleicht in den Planungsphantasien der Nationalsozialisten. Erst Deutschen, auf. Eine gravierende Folge dessen ist, dass der Blick auf wenn der deutsche Eroberer angreift, der deutsche SS-Mann oder FRITZ BAUER: GESPRÄCHE, INTERVIEWS UND REDEN AUSCHWITZ VOR GERICHT (2013) diese Region oft kolonial, gewissermaßen nazifi ziert ist. Während Polizist mordet und sie Quellen hinterlassen, dann betreten sie als AUS DEN FERNSEHARCHIVEN 1961-1968 STRAFSACHE 4 Ks 2/63 (1993) üblicherweise Deutschland oder Frankreich als politische Systeme Mordopfer oder Kollaborateure die Bühne. Das fundamentale Pro- Erstveröff entlichung historischer Fernsehaufnahmen. TEIL 1: Die Ermittlung TEIL 2: Der Prozess TEIL 3: Das Urteil und Staaten differenziert untersucht werden, um die 1930er und blem der meisten Studien sei, so Snyder, das Fehlen des allgemeinen 2 DVD, 298 Min., ausführliches Booklet, PDF-Materialien Zwei Dokumentationen von Rolf Bickel und Dietrich Wagner 1940er Jahre zu verstehen, tauchen die östlichen Gesellschaften und spezifi schen osteuropäischen Kontextes des Holocaust, der sich Redaktion: Bettina Schulte Strathaus 2 DVD, 45 + 180 Min., ergänzende PDF-Materialien zusammengestellt vor allem als Ethnien auf, als Völkerschaften. Es fehlt also ein dif- nur über nichtdeutsche Quellen erschließen lasse. von Werner Renz ferenziertes Bild etwa der polnischen, litauischen oder sowjetischen Diese riesige Leerstelle wird üblicherweise mit Antisemitis- Fritz Bauer (1903‒1968), bekannt als Initiator der Frankfurter Ausch- Gesellschaft, stattdessen sind wir einer Ethnisierung sozialer und mus ausgefüllt. Osteuropäer seien geradezu inhärent antisemitisch, witz-Prozesse, betrachtete den Gerichtssaal als einen öff entlichen Ort Die legendäre Aufb ereitung des Auschwitz-Prozesses von Bickel und der historischen und demokratischen Bewusstwerdung. Weniger be- Wagner in einer aktuellen KURZVERSION und der ausführlichen politischer Prozesse zu stark verhaftet. In einem Interview mit der schlichte Barbaren, das bedürfe kaum einer genaueren Untersuchung kannt ist, dass er als Interviewpartner, Diskutant oder Redner auch vor ORIGINALDOKUMENTATION aus den 1990er Jahren: New York Times formulierte Timothy Snyder: »Our shorthand for – im Unterschied zu den ausführlichen Studien, die es zu Deutsch- den Fernsehkameras Stellung bezog. Er äußerte sich zu den NS-Prozes- Am 20. Dezember 1963 begann vor dem Landgericht Frankfurt am talking about this stuff has been Poles and Jews, Germans and Jews. land oder Westeuropa inzwischen gibt. Dass Juden dort ein halbes sen, zur politischen Verantwortung der Justiz, zu Geschichtsleugnung Main der Auschwitz-Prozess. Auf der Anklagebank saßen 21 Angehö- [...] I think it should be states, institutions, micro-level sociologi- Jahrtausend leben konnten, obwohl es überall Antisemitismus gab und Rechtsradikalismus, aber auch zu Fragen der Wirtschaft skrimina- rige der Waff en-SS und ein Funktionshäft ling. Die SS-Männer gehör- cal explanations, economic behavior.« Weiter heißt es: »[…] while und auch häufi ge Pogrome in bestimmten Regionen, löst in diesem lität, dem Sexualstrafrecht oder der Humanisierung des Strafvollzugs. ten zum Personal des Konzentrations- und Vernichtungslagers. Nach Germans were ›the most responsible by far‹ for the Holocaust. Ger- Narrativ keine Irritation aus. Was war also anders 1941/1942, als Nicht zuletzt sprach er über seine Biografi e als politisch und antisemi- dem Krieg hatten sie in Deutschland unbehelligt ein ganz normales many is generally viewed as having a complexity and variety not as in jeder Woche mehr Juden ermordet wurden als in allen Pogromen tisch Verfolgter und als jüdischer Remigrant. Auch fünfzig Jahre später Leben führen können. Nun konfrontierte man sie mit den Aussagen readily granted to Eastern European nations. ›Everyone accepts that zuvor? Antisemitismus reicht offensichtlich als Begründung nicht haben diese politischen Debatten nichts von ihrer Brisanz verloren. ihrer Opfer von einst. Die ganze Welt verfolgte damals dramatische Germany is a real place with a real society and a real culture. [...] aus. Aber indem ein vermuteter osteuropäischer Antisemitismus Verhandlungstage. Der gesamte Prozess wurde – einmalig in der deut- »Verfassungsschutz, Wahrung der Freiheitsrechte, Ungehorsam und Kampf schen Rechtsgeschichte – auf Tonband aufgenommen. Den Autoren der With Poland, with Lithuania, with Hungary, that’s much less true. die Erzählung zusammenhält, wird das vermeintliche zivilisatori- 4 gegen totalitäre Tendenzen sind viel zu wichtige Dinge, als dass sie amt- Dokumentation gelang es, die verschollenen Bänder aufzuspüren und Knowledge of those places is much less widespread.‹« sche Gefälle zwischen West und Ost aufrechterhalten. Der Konfl ikt lichen Funktionären überlassen werden könnten.« Fritz Bauer auszuwerten. Zusammen mit exklusivem Filmmaterial entstand eine Der Sowjetunion kommt dabei oft ein erinnerungspolitischer zwischen »Western civilizers«, die die Singularität des Holocaust historisch präzise wie packende Dokumentation. Bonus zu, denn sie hat schließlich mit unglaublichen Anstrengungen betonen, und »Eastern nationalizers«, die stalinistische Verbrechen die allermeisten Tatorte des Holocaust befreit und einen Riesenan- betonen, wird fortgeführt, und keiner verlässt seine Komfortzone. teil am Sieg über den Nationalsozialismus. Trotz aller Kritik an ihr Die Aufmerksamkeit im Westen bleibt auf der Zerstörung des deut- wird im westlichen Narrativ die Sowjetunion meist als angegriffene schen Rechtsstaats in den 1930er Jahren. Die politische Geschichte Zivilisation begriffen, die durch ihre eigene Rettung schließlich die in Osteuropa, mit vielen Millionen Opfern und bis hin zur totalen Menschheit vom Faschismus befreite. Snyder erkennt die sowjeti- Zerstörung von Nationalstaaten, wird kaum beachtet. schen Leistungen natürlich an, zumal oft die einzige Überlebens- Gleichzeitig ist Snyder auch nicht einfach ein Sprachrohr der hoffnung der Juden unter deutscher Besatzung der baldige Sieg der »Eastern nationalizers«, die in erster Linie diejenigen deutschen oder Roten Armee war. Aber er wird deswegen nicht zum Apologeten sowjetischen Verbrechen betonen, die mit dem Verlust der National- sowjetischer Politik seit Anfang der 1930er Jahre, sondern fragt staatlichkeit zu tun haben. Als Osteuropahistoriker weiß er, dass für historisch, welche Rolle eigentlich dieser Politik für die deutsche die ostmitteleuropäischen Gesellschaften der Kern der historischen Massengewalt ab 1941 zukommt. Es geht nicht um Schuldverlage- Erfahrung im 20. Jahrhundert der Verlust von nationaler Souveräni- rung, um die Gleichsetzung der Sowjetunion mit Nazideutschland, tät ist. Dennoch gehört er zu denjenigen, die seit langer Zeit daran oder dass sie ein Komplize der Nationalsozialisten beim Holocaust arbeiten, nationale Mythen von unkompromittiertem Heldentum gewesen sei, sondern um Plausibilität.5 Der Punkt ist, dass die so- während des Krieges und von Unschuld am Holocaust in Frage zu wjetische Geschichte kein Teil der Holocaustgeschichte, sondern stellen. Denn hunderttausende Osteuropäer haben am Holocaust schlicht abwesend ist. Damit fällt Snyder aus den üblichen Links- teilgenommen, in den besetzten Gebieten angeleitet von Deutschen Rechts-Schemata heraus. und Österreichern. Aber eben nicht, weil sie per se antisemitische Mit anderen Worten: Die ostjüdischen Opfer und die osteuropä- Ukrainer, Polen oder Litauer gewesen seien. ischen Gesellschaften, die ab 1939/1941 unter deutsche Besatzung Snyder arbeitet an einer wirklich europäischen Geschichte dieser Zeit und das heißt, unter vollem Einschluss Osteuropas. Es geht dar- um, die europäischen Erfahrungen im Osten und im Westen stärker miteinander zu verbinden und zu integrieren, ohne dabei die jeweils 4 Jennifer Schuessler, »Historians With Bold Intentions. Timothy Snyder’s ›Black andere zu negieren. Das heißt auch, die erinnerungspolitischen My- Earth‹ Puts Holocaust, and Himself, in Spotlight«, in: The New York Times vom then beider Seiten sind nicht aufrechtzuerhalten. Sonst wird gute 7./8.9.2015 (online und Printversion). gefördert durch 5 Vgl. auch »Die deutsche Schuld ist noch viel größer«. Interview von Richard Geschichtsschreibung nicht möglich sein. Herzinger und Andrea Seibel mit Timothy Snyder, in: Die Welt vom 24.10.2015.

60 Einsicht ImEinsicht Buch- 16oder Herbst Fachhandel 2016 oder direkt bei www.absolutmedien.de 61 Rezensionen Buchkritiken

72 David Jünger: Jahre der Ungewissheit. 85 Michael Brenner: Israel. Traum und Wirklichkeit 88 Verena Haug: Am »authentischen Ort«. Emigrationspläne deutscher Juden 1933–1938 des jüdischen Staates. Von Theodor Herzl bis heute Paradoxien der Gedenkstättenpädagogik von Susanne Heim, Berlin von Jenny Hestermann, Fritz Bauer Institut von Astrid Messerschmidt, Wuppertal

73 Marc Buggeln, Michael Wildt (Hrsg.): 86 Gerhard Paul: Das visuelle Zeitalter. 89 Günter Bischof, Barbara Stelzl-Marx, Arbeit im Nationalsozialismus Punkt und Pixel Alexandra Kofl er: Zukunftsfonds der Republik von Nikolas Lelle, Berlin von Monika Boll, Düsseldorf Österreich. Entstehung, Entwicklung und Bedeutung von Henning Borggräfe, Bad Arolsen 74 Johannes Sachslehner: Zwei Millionen ham’ma erledigt. 87 Winfried Nerdinger (Hrsg.). In Verbindung mit Odilo Globocnik – Hitlers Manager des Todes Hans Günter Hockerts, Marita Kraus, Peter Longerich von Melanie Hembera, Ludwigsburg sowie Mirjana Grdanjski und Markus Eisen: München und der Nationalsozialismus. Katalog des 75 Raul Hilberg: Anatomie des Holocaust. NS-Dokumentationszentrums München Essays und Erinnerungen von Katharina Rauschenberger, Fritz Bauer Institut von Nicolas Berg, Leipzig

76 Christophe Busch, Stefan Hördler, Robert Jan van Pelt (Hrsg.): Das Höcker-Album. Auschwitz durch die Linse der SS von Werner Renz, Fritz Bauer Institut Rezensionsverzeichnis Liste der besprochenen Bücher 78 Stefan Hördler: Ordnung und Inferno. Das KZ-System im letzten Kriegsjahr von Jens-Christian Wagner, Celle

64 Victor Klemperer: Man möchte immer weinen und 79 Andreas Wirsching, Jürgen Zarusky, Alexander lachen in einem. Revolutionstagebuch 1919 Tschubarjan, Viktor Ischtschenko (Hrsg.): von Nicolas Berg, Leipzig Erinnerung an Diktatur und Krieg. Brennpunkte des kulturellen Gedächtnisses zwischen 66 Hans Woller: Mussolini. Der erste Faschist. Russland und Deutschland Eine Biografi e von Andreas Hilger, Hamburg von Sara Berger, Rom 81 Vasilij Stepanowitsch Christoforow, Vladimir 67 David Engel (Hrsg.): The Assassination of Symon Gennadjewitsch Makarow, Matthias Uhl (Hrsg.) Petliura and the Trial of Scholem Schwarzbard unter Mitarbeit von Daniel Bohse: 1926–1927. A Selection of Documents Verhört. Die Befragungen deutscher Generale und von Christoph Dieckmann, Fritz Bauer Institut Offi ziere durch die sowjetischen Geheimdienste 1945–1952 von Christian Streit, Heidelberg 68 Christian Hartmann, Othmar Plöckinger, Roman Töppel, Thomas Vordermayer (Hrsg.): 82 Dagi Knellesen und Ralf Possekel (Hrsg.): Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition Zeugnisformen. Bericht, künstlerische Werke und Othmar Plöckinger (Hrsg.): Quellen und Dokumente Erzählungen von NS-Verfolgten zur Geschichte von »Mein Kampf« 1924–1945 von Wolf Kaiser, Berlin von Jörg Osterloh, Fritz Bauer Institut United States of Angst 84 Merle Funkenberg: Zeugenbetreuung von 70 Aurel Kolnai: Der Krieg gegen den Westen Holocaust-Überlebenden und Widerstandskämpfern Robert B. Reich und Bernd Greiner in den »Blättern« 9/2016 von Werner Konitzer, Fritz Bauer Institut bei NS-Prozessen (1964–1985). Zeitgeschichtlicher Hintergrund und emotionales Erleben Mehr auf www.blaetter.de von Katharina Stengel, Fritz Bauer Institut

62 Rezensionen Einsicht 16 Herbst 2016 63 Victor Klemperers Geschichtslektionen Übrigen in seinem Tagebuch selbst oft auf das in München Erlebte.4 Geistes- und Kulturgeschichte der Zeit« (65) versteht. Vieles in Und auch nach 1945 verstand er die Münchner Tage als Symbol für diesen Münchner Tagen bekommt so einen »karnevalistischen An- schwankende politische Verhältnisse, wenn er schreibt: »Mein erster strich« (31), das Symbol für die Haltung der Münchner ist für ihn ein Kriegsverbrecherprozesse – Eindruck, noch ehe er den Mund aufgetan, war: Kunst, Dilettantis- älteres Ehepaar, das tagelang aus dem Fenster schaut, »so unbewegt, mus, Landauer, München.«5 als gehöre es zur Architektur des Hauses«. (124) Wer Klemperers von Nürnberg nach Den Haag Victor Klemperer Es bleibt das Geheimnis des Verlags, warum all das unerwähnt Sinn für Gerüchte (15), Unterstellungen (173), »Clichés« (161) und Man möchte immer weinen und lachen in bleibt, denn der Wert des Buchs wäre ja damit nicht gemindert wor- neumodische Begriffe (148, 173) als Ausdruck einer Haltung des einem. Revolutionstagebuch 1919 den. Hier liegen tatsächlich zwei Dokumente vor, die jedes Aufsehen Wissenschaftlers versteht, der wird zukünftigen sozialwissenschaft- Bearbeitet und kommentiert von Christian verdienen: Klemperer war Augenzeuge der Münchner Umstürze lichen Analysen der Münchner Räterepublik ein Kapitel über den Löser. Mit einen Vorwort von Christopher in einer Zeit, in der er noch zwischen Journalismus und Universi- Privatdozenten Klemperer hinzufügen müssen. Clark und einem historischen Essay von tätskarriere schwankte. Der Leser erlebt daher »die Geburtsstunde Ein Fehler hat sich in den Band eingeschlichen, der keine Peti- Wolfram Wette. des Chronisten« (216). Klemperer ist bereits hier als »Kulturge- tesse ist: Wolfram Wette zählt in seinem Begleitessay Max Levien Berlin: Aufbau, 2015, 263 S., € 19,95 schichtsschreiber« avant la lettre kennenzulernen – die Rolle, die er zusammen mit Gustav Landauer, Eugen Leviné und Ernst Toller zur später im »Dritten Reich« wiederfi nden sollte, war so besehen eine Gruppe »führender Persönlichkeiten der Münchner Rätebewegung«, Beim Erscheinen des Buches sprachen Verlag und Kritiker von einer Rückkehr zu seinem hier schon sichtbaren Talent als »großartiger die jüdischer Herkunft seien. (213) Das trifft nicht zu. Levien, 1919 »Sensation«.1 Die Begeisterung war eine Art berechtigtes Erstaunen Revolutionsreporter«.6 Die »außerordentliche Begabung für den Mitbegründer der Münchner KPD, wurde 1885 in Moskau als Sohn darüber, dass es von Victor Klemperer überhaupt noch etwas Neues Journalismus«7 hat Daniel Kehlmann in einem ZEIT-Gespräch im eines nichtjüdischen deutschen Kaufmanns geboren, ging dort auf zu lesen gab, da bereits über 8.000 Seiten Tagebücher und Memoiren Juli 2015 ein Paradebeispiel für den »New Journalism« genannt, das deutsche Gymnasium, legte sein Abitur in Meißen ab und stu- ediert vorliegen, ein – wie man dachte – lückenloser Kommentar zur jener Wende zu einem literarisch geformten Reportage-Stil im Ame- dierte in Halle und Zürich. Er begeisterte sich 1905 für die erste deutsch-jüdischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Nun aber dies: rika der 1960er und 1970er Jahre, in der sich der Journalismus neu russische Revolution und radikalisierte später seine politischen Über- Die Revolutionsmonate in München zwischen Winter 1918 und Mai erfand, indem das »Ich« des Berichterstatters durch die Wirrnisse zeugungen. In den 1920er Jahren war er Redakteur in Moskau, 1937 Broschur, 928 Seiten, 2 Karten, € 30,– 1920 werden durch den damals 37-jährigen Klemperer in 16 fesseln- der Ereignisse navigiert und den Leser an der Entfaltung der eigenen wurde er im Zuge der »Säuberungen« Stalins erschossen. Klemperer ISBN 978-3-86854-278-3 Auch als E-Book erhältlich den Reportagen geschildert. Klemperer, der sich nach dem Krieg erst Einsichten teilhaben lässt. Victor Klemperer tat, ein halbes Jahrhun- beschrieb Levien 1919 wie folgt: Er »ist kein russischer Jude, er hat in Leipzig, dann in München aufhielt, um seine Militärentlassung zu dert früher, genau das. Germanenblut in den Adern, er schüttelt mit mächtiger Gebärde bewirken und berufl iche Chancen an der Universität zu sondieren, Seine Programmatik benennt er konzise im Zeitungsartikel vom blonde Locken, er blitzt aus blauen Augen.« (12) Es ist dies das hatte unter dem Pseudonym »A.B.« (Antibavaricus) Berichte an die 9. April 1919: »Große Neuigkeiten aus München hat mein Bericht Thema im Thema, das sich durch beide Quellengattungen des Ban- Leipziger Neuesten Nachrichten geschickt, von denen schließlich nicht zu bieten, aber er kann doch einiges erzählen, was das hero- des wie eine dunkle Spur der Vorahnung zieht: die von Klemperer ein Drittel Eingang in die Zeitung fand. Und es gab über dieselbe isch Große ein klein bißchen menschlicher erscheinen läßt.« (109) oft vernommene Beschuldigung, für Revolution und militärischen

Zeit von ihm nicht nur diese Texte, sondern auch noch ein Kapitel Klemperers Kunst besteht darin, nahe an den Ereignissen zu sein, Verrat, Schleichhandel und Ausbeutung, für Kapitalismus und Bol- Gebunden, 464 Seiten, 9 Abb., € 35,– seiner Memoiren, das 1942 verfasst wurde, er aber aus Angst vor aber dem Leser gegenüber nicht das letzte Wort zu beanspruchen. schewismus seien allein Juden verantwortlich (u.a. 105, 115 f.). Er ISBN 978-3-936096-83-5 der Gestapo nicht mehr abschloss. Am besten ist Klemperer als Beobachter, wenn er die Spannung notiert dies »in schweigender Verblüfftheit« (97) und hört es nicht Doch waren Klemperers Beobachtungen der Revolutionsereig- zwischen Alltagswelt und Weltumsturz ausmisst, wenn er die nach- nur bei militanten Freikorpskämpfern, sondern auch bei Spartakisten nisse für seine Leser nicht ganz so unbekannt, wie der Verlag es gelassene Bibliothek des ermordeten Kurt Eisners sichtet und trocken und gutbürgerlichen Damen. Auch von dieser dramatischen Seite her nahelegt. Die Tagebücher von 1918 bis 1932 bieten bereits eine Zu- festhält: »Es handelte sich um die typische Büchersammlung eines erweist sich also die Edition von Klemperers frühen Revolutionsbe- sammenfassung seiner Münchner Erlebnisse.2 Auch hier schilderte Journalisten, der mehr Interessen als Geld besessen hatte.« (101) obachtungen als ein Dokument der Weitsichtigkeit. er schon seine Eindrücke bei der Lesung des Schriftstellers Bruno Klemperer gab sich – im Gegensatz zu Zeitgenossen wie Kurt Frank und skizzierte er bereits die Unterschiedlichkeit von Max Le- Tucholsky – nicht seiner Verzweifl ung über die politischen Umstände Nicolas Berg Mehr Informationen zu vien und Kurt Eisner. Im Anhang der Edition der Tagebücher fi ndet hin. Bei ihm macht das Erstaunen über die generelle Diskrepanz Leipzig unseren Titeln unter: sich zudem schon ein langes Exzerpt des Memoirenkapitels. Auch von Anspruch und Wirklichkeit, Persönlichkeit und Historie, Politik www.hamburger-edition.de der Klemperer-Biograph Peter Jacobs kannte die Zeitungsberichte.3 und Leben seinen Stil fast zeitlos, indem er die eigene Perspektive Noch in den 1930er und 1940er Jahren bezog sich Klemperer im »auf jede Einzelheit« richtet und seine Notizen als »Beitrag zur Gebunden, 992 Seiten, 20 Abb., 12 farbige Karten | € 45,– | ISBN 978-3-86854-291-2 Auch als E-Book erhältlich www.hamburger-edition.de/srebrenica 1 Etwa Andreas Kilb, »Die Kränkung machte ihn hellsichtig«, in: Frankfurter 4 Vgl. Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher Allgemeine Zeitung, 7.7.2015; March Reichwein, »Wie Victor Klemperer die 1933–1945, 2 Bde., Berlin 1995, Bd. 2, S. 19. Münchner Räterepublik sah«, in: Die Welt, 10.7.2015. 5 Vgl. Victor Klemperer, So sitze ich denn zwischen allen Stühlen. Tagebücher 2 Vgl. Victor Klemperer, Leben Sammeln, nicht fragen wozu und warum, Tage- 1945–1959, 2 Bde., Berlin 1999, Bd. I, S. 19. bücher 1918–1932, 2 Bde., Berlin 1996, Bd. 1, S. 19. 6 Alexander Camann, »Reporter im Chaos«, in: Die ZEIT, 16.7.2015. 3 Peter Jacobs, Victor Klemperer. Im Kern ein deutsches Gewächs. Eine Biografi e, 7 Wolf Scheller, »Von Schwärmern und Verbrechern«, in: Jüdische Allgemeine, Berlin 2000, S. 89–102. 23.7.2015.

64 Rezensionen Einsicht 16 Herbst 2016 65 Mussolini neu bewertet Oktober 1935 endgültig von den Westmächten, die seine Weltmacht- Schlüsseldokumente zum Die größten Auswirkungen der Ermordung Petliuras durch Ambitionen gebremst hatten, abgewandt hatte und in Abessinien ein- ukrainisch-jüdischen Verhältnis Schwarzbard lagen im Verhältnis zwischen Ukrainern und Juden, marschiert war. Denn hier kam es zur »svolta totalitaria« (totalitäre den beiden größten staatenlosen Minderheiten im Europa der Zwi-

Wende), mit dem Ziel, Italien in einen homogenen Volksstaat – mit schenkriegszeit. Petliura war bis dahin im nationalen ukrainischen einer neuen Moral und einer klaren Vorstellung von der Überlegen- Lager sehr umstritten, vor allem wegen seiner konzilianten Haltung Hans Woller heit der eigenen Rasse – zu verwandeln. In diesem Kontext entstand gegenüber und der Allianz mit Polen. Nun wurde er zum nationalen Mussolini. Der erste Faschist. 1937 nicht nur eine rassistische Kolonialgesetzgebung, sondern es David Engel (Hrsg.) Märtyrer. Die Ermordung Petliuras wurde als Angriff auf die gesamte Eine Biografi e kam ein Jahr später auch zur Einführung antisemitischer Gesetze. The Assassination of Symon Petliura ukrainische nationale Bewegung interpretiert. Die meisten der sonst München: Beck, 2016, 397 S., € 26,95 Hier hebt Woller hervor, dass Mussolini Juden bereits seit den 1920er and the Trial of Scholem Schwarzbard fragmentierten nationalen Kräfte riefen nach Einigkeit. Schwarzbard Jahren als eine »minderwertige Rasse«, als ein wesensfremdes Gast- 1926–1927. A Selection of Documents insistierte zwar, dass seine Tat nicht gegen die nationalen Freiheits- volk und Hauptdrahtzieher des Antifaschismus angesehen habe und Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, bestrebungen der ukrainischen Nation gerichtet gewesen sei, sondern der Antisemitismus somit ein Eckpfeiler von Mussolinis Ideologie 2016, 482 S., € 130,– gegen das Individuum Petliura – ausschließlich als Rache für die war – sogar schon zu einer Zeit, als Juden noch Mitglieder von fa- Ermordung seiner Familie und anderer Juden. Aber in diesen Mona- Der renommierte Münchener Zeithisto- schistischen Organisationen waren. Woller betont darüber hinaus, Am 25. Mai 1926 erschoss der jüdische Uhr- ten wurde die diskursive Konstellation für das Verhältnis zwischen riker Hans Woller hat eine prägnante und dass nicht wenige Juden ihre Posten schon in den Jahren vor den macher Scholem Schwarzbard (1886–1938) Ukrainern und Juden in nachhaltiger Weise geprägt. eloquent erzählte Biographie von Benito Mussolini vorgelegt, die Rassegesetzen von 1938 verloren hätten und die Judenpolitik des den prominenten ukrainischen Exilanten Symon Vasylyovych Petli- Ukrainische Nationalisten sahen sich nun noch stärker als sachkundig in den aktuellen Forschungsstand eingebettet ist. Anhand Faschismus bereits 1935 mit der »svolta totalitaria« an Radikalität ura (1879–1926) auf offener Straße in Paris. Schwarzbard bekannte Opfer machtvoller Unterdrücker, nicht mehr nur etwa der Sowjets von elf gleichsam chronologisch wie thematisch geordneten Kapiteln zugenommen habe – wobei er meines Erachtens das Ausmaß der sich sofort zur Ermordung des ehemaligen Staatschefs der ukrai- und der Polen, sondern auch der Juden. Und Schwarzbard sowie präsentiert er Mussolinis Vita als eine Geschichte von persönlichen Folgen dieser Politik etwas überbewertet. Der Autor konstatiert al- nischen nationalen Republik 1919/1920. Schwarzbard wurde im die ihn unterstützenden Gruppen stellten Petliura als Täter dar, der Krisen und zahlreichen Wendepunkten mit offenem Ausgang. Zu- lerdings zu Recht, dass die antisemitischen Maßnahmen keineswegs Oktober 1927 für nicht schuldig erklärt und freigesprochen. sich nicht um den ukrainischen Staatsaufbau bemüht habe, sondern gleich bietet er eine »kurze Geschichte« des faschistischen Regimes, auf eine deutsche Einfl ussnahme zurückzuführen sind. Ziel der auf In diesen Geschehnissen spiegeln sich zentrale Fragen der euro- Massenmorde angeleitet und geduldet habe. Was sich seit den Po- mit seinen politischen Strömungen und zentralen Ereignissen. völkisch-biologistischen Prinzipen beruhenden Gesetzgebung sei bis päischen Geschichte der 1920er Jahre wider. Diese außergewöhnlich gromen 1919 schon abgezeichnet hatte, wurde nun eng miteinander Dabei macht Woller – seinem Anspruch folgend – die Person 1943 die Vertreibung – nicht wie im »Dritten Reich« die Vernichtung sorgfältige Edition, verantwortet von dem an der New York Univer- verknüpft: Die Frage der Legitimität der ukrainischen Nationalbe- Mussolini frei von Selbststilisierungen und langlebigen Mythen. – der Juden gewesen. sity lehrenden Historiker David Engel, verdient große Anerkennung. wegung verband sich substanziell mit der Frage nach der Rolle von Diese betreffen einerseits das Verhältnis zum Verbündeten Hitler, Die Abwendung von den Westmächten und das Verhältnis zum In dem Band fi nden sich 76 Dokumente in acht Sprachen. Englische, Ukrainern bei der massenhaften Ermordung von Juden. andererseits aber auch die dunklen Seiten des Regimes wie die Ver- Verbündeten Hitler stehen im Fokus der folgenden Kapitel, die den französische und deutsche Dokumente sind transkribiert; hebräische, Es hatte schon länger Versuche von Seiten ukrainischer Eli- folgung der Juden in Italien und die zahlreichen Kriegsverbrechen, hochgespannten imperialistischen Zielen Mussolinis und seinen polnische, russische, ukrainische und jiddische Dokumente sind ten gegeben, möglichst viele jüdische Fürsprecher für den ukraini- die der Autor klar benennt: Dazu zählen 100.000 Todesopfer in Waffengängen in Albanien, Frankreich, Griechenland, Afrika und im Original wiedergegeben und zusätzlich ins Englische übersetzt schen Staatsaufbau zu gewinnen, auch aus der Sorge heraus, dass Libyen und über 330.000 getötete Abessinier in den 1930er Jahren, der Sowjetunion gewidmet sind. Woller beschreibt das Scheitern der worden. ein verstärkter Antisemitismus das ukrainisch-jüdische Verhältnis 100.000 Opfer in Griechenland und 250.000 Tote im ehemaligen Strategie einer »parallelen Kriegsführung« und die bis zum Sturz Engel präsentiert in seiner hochinteressanten Einleitung den komplizieren und eine Kooperation verunmöglichen könnte. Engel Jugoslawien während der italienischen Besatzungsherrschaft im Mussolinis im Juli 1943 durchgeführten Versuche, die zahlreichen engeren und weiteren historischen Kontext. Symon Petliura war seit zeigt, warum sich diese Kräfte nicht durchsetzen konnten und es Zweiten Weltkrieg. Niederlagen durch deutsche Militärhilfe und eine weitere Radika- Mai 1917 Mitglied der Zentralrada, die am 25. Januar 1918 einen zu einer nachhaltigen Verhärtung der Fronten kam. Er stellt sowohl In den ersten Kapiteln beschreibt Woller Mussolinis Wandlung lisierung im Inneren zu kompensieren. Das vorletzte Kapitel ist unabhängigen ukrainischen Staat ausrief. Im Dezember 1918 kon- die diversen ukrainischen als auch die jüdischen Perspektiven sehr vom revolutionären Sozialisten, dem Nationalismus, Rasseideen und Mussolinis Zeit als Regierungschef der Republik von Salò, während trollierte das sogenannte Direktorium als provisorische Regierung differenziert dar, was, in diesem Zusammenhang leider eher unge- Antisemitismus nicht fremd waren, zum Kriegsbefürworter, der sich der er durch eine indirekte Herrschaft der Deutschen sowohl gestützt einen Großteil der Ukraine, und Petliura fungierte als Kommandant wöhnlich, eine herausragende Leistung ist. Auf diese Art und Weise als neuen politischen Partner die gewaltbereiten »Fasci d’Azione als auch begrenzt wurde, bis zu seiner Hinrichtung durch kommu- der Direktoriumsarmee. Seit Februar 1919 übernahm er zusätzlich erklärt Engel, wie eine oft versuchte pragmatische Allianz zwischen Rivoluzionaria« (faschistische Kampfbünde) suchte, aus denen 1921 nistische Widerstandskämpfer im April 1945 gewidmet. Woller hebt den Vorsitz des Direktoriums und war damit de facto Staatschef. Ukrainern und Juden durch eine romantische Erinnerungspolitik und nunmehr unter seiner Führung die faschistische Partei (PNF) her- auch hier das beträchtliche Maß an aktiver Kooperationsbereitschaft Nach dem Sieg der Bolschewiki 1920 ging er ins Exil und lebte seit nationalistischen Stolz abgelöst wurde. Nun erst war der Weg geeb- vorging. Er zeigt auf, wie Mussolini im Oktober 1922 auf Grund italienischer Stellen und Einzelpersonen beim »Vernichtungswerk« 1924 in Paris. Während Petliuras Amtszeit fanden in der Region die net zur 1929 erfolgten Gründung der rechtsextremen, gewalttätigen der Schwäche der liberal-konservativen Regierung allein durch die gegen die Juden hervor. Abschließend wirft der Autor einen Blick auf schlimmsten antijüdischen Pogrome statt, die es bis dahin gegeben und antisemitischen Organisation Ukrainischer Nationalisten, die Androhung eines Marschs auf Rom an das Amt des Ministerpräsi- die noch heute durch Mythen verzerrte Erinnerung an den »Duce« hatte. Auch Schwarzbards Familie wurde ermordet. Der linke jid- ab 1941 in der deutsch besetzten Ukraine an den Morden gegen die denten gelangte und nach einer kurzen Zeit der Kompromisspolitik und den Faschismus. dische Aktivist stammte aus dem Südwesten der Ukraine und lebte ukrainischen und polnischen Juden so massiv beteiligt war. eine faschistische Diktatur, einschließlich Duce-Kult und eigenen Insgesamt ist Hans Woller eine grundlegende, lesenswerte und seit 1910 in Paris. omnipräsenten Herrschaftsinstitutionen, aufbaute. spannend geschriebene Biographie Mussolinis, des »ersten Faschis- David Engel erläutert in sehr erhellender Weise die politischen Christoph Dieckmann Im Zentrum der Biographie steht ein zentrales Ziel Mussolinis: ten«, gelungen. Verhältnisse in Frankreich in den 1920er Jahren und erklärt das fran- Fritz Bauer Institut die Suche nach einem Lebensraum im Süden und die damit ein- zösische Justizsystem, welches es ermöglichte, trotz eines eindeutigen hergehende Expansion als eine Frage von »Leben oder Tod für die Sara Berger Mordes freigesprochen zu werden. 1926/1927 kursierte beständig die italienische Rasse« (Mussolini, 1923). Eine neue und wichtige Zäsur Rom Vermutung, dass Schwarzbard ein sowjetischer Agent sei. Dies konn- zieht Woller Mitte der 1930er Jahre, nachdem sich Mussolini im te aber nicht belegt werden und ist auch extrem unwahrscheinlich.

66 Rezensionen Einsicht 16 Herbst 2016 67 6 Das Urheberrecht lief 70 Jahre nach Hitlers Tod zum Jahresende vor der unvorhersehbaren Wirkung des Textes. Aufhorchen ließ »Blaupause« für Hitlers spätere Herrschaft war, diese sich darin Umstrittene Edition 9 2015 aus. Damit war klar, ab dem 1. Januar 2016 würde das Werk auch Jeremy Adlers Kritik, dass die Edition diesem »Machwerk aber schon abzeichnete. »gemeinfrei« werden und grundsätzlich jedermann hätte eine Neu- eine Dignität« gebe, wie sie sonst etwa Homer zugestanden werde. Die Herausgeber weisen auch darauf hin, dass Hitlers Stellung

ausgabe des Buches produzieren können. Je näher dieser Stichtag Der Abdruck, so der Londoner Germanist und Sohn des ehemaligen in Deutschland zum Zeitpunkt der Niederschrift des ersten Bandes rückte, desto intensiver wurde über eine vollständige wissenschaft- Theresienstadt-Häftlings und -Chronisten H.G. Adler weiter, könne sehr unsicher gewesen sei: Er war am 20. Dezember 1924 nur auf 1 7 Christian Hartmann, Othmar liche Edition von Mein Kampf diskutiert. 2012 sagte die Bayerische nur zum Ergebnis haben, die Aussagen des Verfassers zu verbreiten. Bewährung aus der Haft entlassen worden und für ihn bestand die Plöckinger, Roman Töppel, Staatsregierung dem durch zahlreiche Quelleneditionen – darunter Diese Kontroverse steigerte die öffentliche Aufmerksamkeit Gefahr einer Ausweisung nach Österreich. Deswegen sollte das Buch Thomas Vordermayer (Hrsg.) Hitlers »Reden, Schriften und Anordnungen« und »Die Tagebücher für das Projekt weiter: Als die kritische Mein Kampf-Edition am (u.a. hinsichtlich der Darstellung der politischen Morde rechtsradi- Hitler, Mein Kampf. von Joseph Goebbels« – ausgewiesenen Institut für Zeitgeschichte 8. Januar 2016 in zwei Bänden mit einem Umfang von fast 2.000 kaler Täter) »nicht unnötig provozieren« (S. 16, 60). Eine kritische Edition, 2 Bde. (IfZ) in München 500.000 Euro für diese Aufgabe zu. Unter der Seiten veröffentlicht wurde, lagen für die Erstaufl age von 4.000 Es existiert kein vollständiges Originalmanuskript von Mein Hrsg. im Auftrag des Instituts für Leitung von Christian Hartmann nahm daraufhin ein Team von Exemplaren 15.000 Vorbestellungen vor. Über Wochen stand das Kampf mehr. Die Erstaufl age von 1925/26 dient als Grundlage der Zeitgeschichte, München – Berlin Historikern die Arbeit auf. Ende 2013 zog der Freistaat aber sei- Buch in der Sachbuchbestsellerliste des Spiegel. Derzeit befi ndet Quellenedition. Die Anmerkungen der Herausgeber bestehen aus 2 München, Berlin: Eigenverlag des Instituts ne Finanzierungszusage zurück, das IfZ setzte die Arbeit jedoch sich die fünfte Aufl age im Verkauf. Das Medienecho auf das Buch zwei Teilen: den inhaltlichen Kommentierungen und dem textkriti- 8 für Zeitgeschichte, 2016, 1.966 S., € 59,– fort. Zahlreiche Wissenschaftler befürworteten die Edition. 2014 dokumentiert das IfZ auf seiner Website. schen Apparat, der auf Änderungen in ausgewählten Aufl agen aus beschlossen die Justizminister der Bundesländer, dass auch nach Der Direktor des IfZ, Andreas Wirsching, nennt in seinem Vor- den Jahren 1930, 1933, 1937, 1939 und 1944 hinweist. Mehrere tau- 3 Othmar Plöckinger (Hrsg.) 2015 eine unkommentierte Veröffentlichung verhindert werden soll. wort die Entmystifi zierung von Mein Kampf als Ziel der Edition, send Eingriffe erfuhr der Text bis zur ersten Aufl age der »Volksaus- Quellen und Dokumente zur Geschichte Kurz vor Abschluss des Projekts bekräftigte der Vorsitzen- die sich an ein möglichst breites Publikum wenden sollte. In der gabe« im Jahr 1930; bis 1939 kamen deutlich weniger Korrekturen von »Mein Kampf« 1924–1945 de des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, am 80-seitigen Einleitung rekonstruieren die Herausgeber dementspre- hinsichtlich Stil und Schreibweisen hinzu. Dies ist aber, worauf die Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2015, 7. Dezember 2015, dass »Hitlers judenverachtende Propaganda- chend die Entstehungsgeschichte des Buches, analysieren Hitlers Herausgeber hinweisen, ebenso bereits seit 1956 bekannt wie die 10 695 S., € 99,– schrift ›Mein Kampf‹ verboten bleiben« und jeder Verstoß hierge- »Entwurf einer Lebensgeschichte« wie auch seine Darstellung der Tatsache, dass es nur wenige inhaltliche Änderungen gab. gen strafrechtlich verfolgt werden müsse. Es sei aber nichts gegen Geschichte der NSDAP und befassen sich mit der »Ansammlung Rund 3.700 Kommentare klären sachliche Fehler auf, korrigie- »eine wissenschaftlich-kommentierte Ausgabe für Forschung und von Ankündigungen und Zukunftsentwürfen« (S. 54). In seinem ren autobiographische Falschangaben, machen den zeithistorischen 4 Lehre« einzuwenden. Gleichzeitig erfuhr das Vorhaben aber auch »egozentrische[n] Buch« habe Hitler 1925 das Kunststück fertig- Rahmen deutlich, verweisen auf die Stichwortgeber Hitlers und Skepsis – der langjährige Leiter des Berliner Zentrums für Antise- gebracht, sich, »einen gescheiterten Demagogen, der schließlich im zeigen, wie die Politik des NS-Regimes von 1933 bis 1945 den Nach dem gescheiterten Putschversuch im November 1923 und mitismusforschung, Wolfgang Benz, äußerte beispielsweise bereits Gefängnis gelandet war – zur großen historischen Persönlichkeit zu Ausführungen in Mein Kampf entsprach – oder sich davon unter- seiner Verurteilung zu fünf Jahren Festungshaft begann Adolf Hitler 2012, dass es keine wissenschaftliche Neuaufl age brauche, »um die stilisieren« (S. 28). Sein Leben verknüpfte Hitler dabei konsequent schied. Um nur ein Beispiel für die Richtigstellung von Hitlers Lügen 5 1924 im Gefängnis in Landsberg mit der Niederschrift seiner wich- Gedankenwelt Hitlers zu entlarven« – und vehemente Ablehnung, mit der Geschichte der Deutschen Arbeiterpartei bzw. der NSDAP. und Falschangaben anzuführen: In Mein Kampf behauptete er, in tigsten politischen Schrift: Mein Kampf. Am 18. Juli 1925 erschien vor allem von Holocaustüberlebenden. Charlotte Knobloch, die Prä- Gleichwohl war die Parteigeschichte für ihn nur Stichwortgeber für Deutschland interessiere man sich nicht für die »Schuld am [Welt-] der erste Band (»Eine Abrechnung«, 433 Seiten). Hierin präsentierte sidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München, warnte etwa seine weltanschaulichen Ausschweifungen. Immer wieder schwad- Krieg«. Tatsächlich aber war die Frage ein wichtiges, phasenweise Hitler seine durch Auslassungen und Falschangaben frisierte und ronierte er über Grundsatzfragen, etwa der Außenpolitik, und damit zentrales innenpolitisches Thema in der Weimarer Republik, wie mit der Vor- und Frühgeschichte der Nationalsozialistischen Deut- über Positionen, die er in den folgenden Jahren in der Partei erst die Herausgeber in ihrem Kommentar ausführlich darlegen (S. 63, schen Arbeiterpartei (NSDAP) verwobene Autobiographie. Am 10. noch durchsetzen musste (S. 35 f.). 1.174–1.175). Der Anhang versammelt schließlich Biogramme, Dezember 1926 folgte der zweite Band (»Die nationalsozialistische 1 Bis dahin lagen nur kommentierte Auszüge und Analysen des Buches vor, siehe Mein Kampf ist durchzogen von Judenhass. Die »Brutalität, Personen-, Orts- und Sachregister sowie eine über 100-seitige Ge- Bewegung«, 354 Seiten), der Hitlers Weltanschauung mit der Ent- v.a.: Werner Maser, Adolf Hitlers Mein Kampf: Entstehung, Aufbau, Stil, Ände- Radikalität und ideologisch begründete Unerbittlichkeit«, so die samtbibliographie. wicklung der NSDAP verknüpfte. Im Mai 1930 brachte der im Par- rungen, Quellen, Quellenwert, kommentierte Auszüge, München 1966; Christian Herausgeber deutlich, dürfe auch keinesfalls mit Verweis auf das, Unter dem Strich steht eine Quellenedition, die durch die um- Zentner, Adolf Hitlers Mein Kampf. Eine kommentierte Auswahl, München 1974; teibesitz befi ndliche Eher-Verlag die bekannte einbändige »Volksaus- Eberhard Jäckel, Hitlers Weltanschauung. Entwurf einer Herrschaft, Stuttgart was Mitte der 1920er Jahre »in völkischen und antisemitischen Krei- sichtige Einleitung und die akribische Kommentierung des Textes gabe« auf den Markt, von der er bis Ende 1932 154.000 Exemplare 1983; Barbara Zehnpfennig, Hitlers Mein Kampf. Eine Interpretation, München sen sonst noch so üblich war«, relativiert werden. Gleichwohl wäre besticht (dies freilich zu dem Preis, auch die absurdesten Behaup- absetzen konnte. Nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 2000. Alle genannten Bücher erlebten mehrere Aufl agen und Aktualisierungen. es zu einfach, »von Hitlers Hasspredigt einen direkten Weg nach tungen Hitlers zu behandeln) und damit zur Entmythologisierung 30. Januar 1933 stiegen die Verkaufszahlen stark an und das Buch 2006 veröffentlichte Othmar Plöckinger seine Studie über die Entstehungs-, Pu- Auschwitz zu konstruieren« – »noch problematischer aber wäre es, von Mein Kampf beiträgt. Auch deshalb dürfte die Edition, ent- blikations- und Rezeptionsgeschichte von Mein Kampf: Geschichte eines Buches. wurde zu dem Bestseller des »Dritten Reiches«: In vermutlich 1.122 Adolf Hitlers »Mein Kampf« 1922–1945, München 2006. Zuletzt: Antoine Vitki- eine solche Verbindung einfach zu ignorieren.« (S. 53) Diese Fest- gegen vieler Befürchtungen und den Verkaufszahlen zum Trotz, Aufl agen betrug die Druckaufl age rund 12,45 Millionen Exemplare. ne, Hitlers »Mein Kampf«. Geschichte eines Buches, Hamburg 2015; Sven Felix stellung entspricht dem Forschungsstand, dass Mein Kampf keine wohl keine Resonanz unter Rechtsradikalen und Antisemiten fi n- Hinzu kamen bis 1945 Übersetzungen in wenigstens 17 Sprachen. Kellerhoff, »Mein Kampf« – Die Karriere eines deutschen Buches, Stuttgart 2015 den. Diese werden vermutlich wenig Interesse an der vorliegenden Nach dem Ende des NS-Regimes 1945 übertrugen die Siegermächte 2 Vgl. die Pressemitteilung des Staatsministers für Bildung und Kultus, Wissen- schaft und Kunst, Dr. Ludwig Speanle, vom 11.12.2013: www.ifz-muenchen.de/ die Rechte an dem Buch auf den Freistaat Bayern. Dieser unterband fi leadmin/user_upload/Presse/Das%20IfZ%20in%20den%20Medien/155%20 mit Verweis auf das Urheberrecht jede Neuaufl age. Der Privatbesitz, -%20PM%20Spaenle%20zu%20Mein%20Kampf.pdf 6 Siehe hierzu die Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.1.2016. der antiquarische Verkauf wie auch der Verleih des Buches durch 3 www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/adolf-hitlers-mein-kampf-verbot-bleibt-nach- 7 Jeremy Adler, »Das absolut Böse. ›Mein Kampf‹ – gegenüber dieser Spottgeburt 9 So etwa der Hitler-Biograph Ian Kershaw bei der Präsentation der Edition in (wissenschaftliche) Bibliotheken blieben hingegen erlaubt. Die Li- justizminister-treffen-a-977582.html von Wahn und Mord hört jedes Kommentieren auf«, in: Süddeutsche Zeitung, München: Joachim Käppner, »›Mein Kampf‹ ist keine Blaupause für Hitlers 4 www.zentralratdjuden.de/de/article/5469.statement-zur-neu-edition-von-mein- 7.1.2016, S. 9. Herrschaft«, in: Süddeutsche Zeitung, 10.1.2016. zenzrechte amerikanischer und englischer Verlage an dem Werk kampf.html. 8 www.ifz-muenchen.de/aktuelles/themen/edition-mein-kampf/dokumentation- 10 Vgl. Hermann Hammer, »Die deutschen Ausgaben von ›Mein Kampf‹, in: Vier- sind zudem nicht erloschen, sie konnten das Buch weiter drucken. 5 Wolfgang Benz, »Eine erschöpfende Lektüre«, in: Der Tagesspiegel, 6.11.2012. mein-kampf-in-der-oeffentlichen-diskussion teljahrshefte für Zeitgeschichte, 4 (1956), S. 161–178, v.a. S. 164–165.

68 Rezensionen Einsicht 16 Herbst 2016 69 wissenschaftlichen Ausgabe haben und sich Mein Kampf, wie bisher, Spätes Erscheinen in Deutschland Kern der nationalsozialistischen Ideologie ist, so macht Kolnai auch auf das bis dahin nahezu unbekannt gebliebene Werk Kolnais auf anderen Wegen zugänglich machen. im ersten Kapitel deutlich, die Verbreitung und Propagierung einer über die nationalsozialistische Ideologie hin. Wolfgang Bialas hat Begleitend zur Edition von Hitlers Schrift legte Othmar Plö- besonderen Geisteshaltung. Er beschreibt sie einmal, indem er den nun das Buch ins Deutsche übersetzt, eingeleitet und zugleich die ckinger einen Band mit 171 Dokumenten zu Mein Kampf vor. Der Gegner beschreibt, gegen den sie sich richtet, nämlich den Westen. vielen Zitate, die im englischen Original ohne Belege blieben, mit erste Abschnitt versammelt Quellen zur Entstehungsgeschichte des Gemeint ist eine Reihe von politisch-normativen Konzepten, die für den entsprechenden Nachweisen versehen. In der Einleitung erfährt Buches. Besonders bemerkenswert sind die nur fragmentarisch über- Aurel Kolnai westliche Demokratien im Laufe einer langen Entwicklung maßgeb- man einiges Neues und Wissenswertes über die Biographie Kolnais lieferten Manuskriptblätter und Skizzen einzelner Kapitel sowie Der Krieg gegen den Westen lich geworden sind: die Herrschaft des Rechts gegenüber der von – leider fehlen hier die entsprechenden Nachweise im Anhang. Und die Vorveröffentlichungen aus dem Buch. Am 7. April 1925 etwa Herausgegeben und eingeleitet von Personen, die Herrschaft rationaler Ethik und säkularisierter Politik, auch wenn die Übersetzung zuweilen unverständlicher formuliert druckte der Deutsche Volkswart, die Zeitung des völkisch-antisemiti- Wolfgang Bialas. die Betonung der Würde und Rechte der Einzelnen, die Sicherung als das englische Original und die Lektüre des Buches so manchmal schen »Deutschbundes«, Auszüge aus dem Kapitel »Der Weltkrieg« Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, der Existenz politischer Opposition. Zweitens stellt er dar, welche eher erschwert – es ist gut, dass es nun endlich in deutscher Sprache (S. 99–104). Das im darauffolgenden Abschnitt wiedergegebene 2015, 763 S., € 100,– Vorstellungen die nationalsozialistischen Autoren diesen Konzep- erschienen ist. »Honorarbuch des Eher-Verlags 1925–1933« ist die zentrale Quelle tionen des Westens entgegenhalten: Zentral ist hier das Bild einer zum frühen Absatz von Mein Kampf und damit auch zu den Ein- Das Buch Der Krieg gegen den Westen von das Universum erobernden und sich zu eigen machenden Partikula- Werner Konitzer künften des »Schriftstellers« Hitler. Aurel Kolnai ist, wie Axel Honneth wohl zu rität; eines, wie Kolnai sagt, »Stammesimperialismus«, in dem das Fritz Bauer Institut Plöckinger konnte 53 Rezensionen zu Mein Kampf aus dem Recht geschrieben hat, »nicht nur die früheste, sondern auch die bis mythische Ganze einer besonderen Gemeinschaft über alles andere Zeitraum 1925 bis 1932 ausfi ndig machen. Die größte Resonanz heute umfassendste und geschlossenste Darstellung der Ideen des gestellt wird. In den folgenden sieben Kapiteln erörtert er dann, fand das Buch naturgemäß in völkischen und antisemitischen Blät- Nationalsozialismus«.1 Kolnai, ein Sohn ungarischer Juden, der in wie sich die nationalsozialistischen Anschauungen in verschiede- tern, aber auch in der sozialdemokratischen, kommunistischen, jüdi- den zwanziger Jahren zum Katholizismus konvertierte, verfasste das nen Bereichen entfalten: die Vorstellungen von Gemeinschaft, vom schen und bürgerlich-liberalen Großstadtpresse fand es Beachtung. Buch in den 1930er Jahren in Wien; es erschien, ein Jahr nach der Staat, von der Natur des Menschen, von Religion, Moral, Recht und Die Frankfurter Zeitung etwa sah, in kapitaler Fehleinschätzung, Flucht des Autors aus Österreich nach England, 1938 in London. Der Kultur, von Gesellschaft und Wirtschaft, von Nation und Rasse und am 11. November 1925 Hitler – »vollends nach diesem Selbstbe- Autor wollte mit seiner Studie die demokratischen Länder von der den »deutschen Anspruch«, in den sie schließlich münden. In jedem kenntnis – erledigt« (S. 250). Der folgende Teil bietet »Analysen Notwendigkeit eines frühen militärischen Vorgehens gegen das NS- Kapitel wird von Kolnai der Darstellung der verschiedenen und oft und Interpretationen« des Buches aus den Jahren 1925 bis 1932. Regime, einer Abkehr von der Politik des Appeasement überzeugen. widersprüchlichen Ansichten einer Vielzahl völkischer Autoren eine Diese stammen sowohl von Nationalsozialisten wie auch von ihren Gegenüber allen anderen frühen Untersuchungen zur Ideologie des kurze Passage vorangestellt, in der die für diesen Bereich wichti- Gegnern. Theodor Heuss beispielsweise äußerte sich zweimal über Nationalsozialismus zeichnet es sich sowohl durch seine besondere gen Begriffe zusammenfassend betrachtet und kritisch analysiert Mein Kampf: N.S.D.A.P., 1930 (S. 343–350) und Hitlers Weg, 1932 normative Fragestellung wie durch seinen umfassenden Textbezug werden. Dabei wird in diesen Einleitungen deutlich, dass es sich (S. 496–499). Der letzte Abschnitt präsentiert Dokumente und Pu- aus. Kolnai nimmt nahezu die gesamte geisteswissenschaftliche um ein komplexes Netz praktischer Einstellungen und Überzeu- Undercover – Vom stillen Wirken blikationen aus den Jahren 1933–1945, so etwa die Anweisungen Literatur der völkischen und nationalsozialistischen Rechten im gungen handelt, die das Besondere der Ideologie ausmachen. So des Antisemitismus in der Linken aus der Kanzlei von Alfred Rosenberg zur Berichterstattung über deutschsprachigen Raum der 1920er und frühen 1930er Jahre in den begeht Kolnai auch nicht den Fehler, den Nationalsozialismus auf das zehnjährige Jubiläum des Buches 1935 (S. 581 f.). Blick. Er versteht und analysiert diese Texte so, dass sie der Pro- eine bestimmte Position, etwa auf rassenbiologische Auffassungen, Plöckinger hat zahlreiche nur schwer zugängliche abgelegene pagierung und Tradierung einer Ethik dienen, die alle Bereiche des zu reduzieren. Ebenso ist er in der Lage, auch die verschiedenen Sina Arnolds Buch ist eine Dokumente zusammengetragen, die eine wichtige Ergänzung zur Lebens umfasst. Und er setzt sich philosophisch mit den Gehalten christlichen Strömungen im Nationalsozialismus wahrzunehmen ebenso analytische wie Quellenedition selbst sind. Hervorzuheben sind die Rezensionen dieser Ethik auseinander, ohne seine Darstellung durch soziologi- und zu beschreiben. fesselnde Studie über Anti- und die Analysen, die belegen, dass Mein Kampf keineswegs von sche, historische oder anthropologische Erklärungen zu überformen: Das Buch ist einmal ein historisches Dokument ersten Ranges, semitismusdiskurse in der den Zeitgenossen unbemerkt geblieben ist. Der Herausgeber hat in »Let them explain themselves« ist die Devise seiner Darstellung. weil es die Klarheit und Differenziertheit, die in der Auseinander- US-amerikanischen Linken vorbildlicher Weise alle Dokumente kurz erläutert und die jeweiligen Dabei bedeutet das jedoch keinesfalls, dass er sie nur beschreibt. setzung mit der Ideologie in den 1930er Jahren durchaus möglich nach 9/11, die zugleich einen Akteure eingeführt. Im Gegensatz zur Mein-Kampf-Edition richtet Vielmehr diskutiert er sie aus philosophischer Perspektive, indem er war, dokumentiert. Es ist aber auch ein Beitrag zu gegenwärtigen entscheidenden Beitrag zum sich das Werk aber an ein wissenschaftliches Publikum. die in ihnen erhobenen Ansprüche vor dem Hintergrund möglicher Versuchen, nationalsozialistische Ideologie, ihre Bedeutung für die Verständnis des globalen Sowohl die Edition als auch der begleitende Dokumentenband anderer Positionen erörtert. Auch wenn an manchen Stellen in die- millionenfachen Verbrechen und ihr Nachwirken in Europa und der Antisemitismus im 21. Jahr- werden – ähnlich wie die früheren IfZ-Editionen von Hitler- und sen Positionen seine eigene Orientierung an christlich-katholischen Welt bis heute zu verstehen; nicht zuletzt deshalb, weil Kolnai als hundert leistet. Goebbels-Texten – zukünftig aus Forschung und Lehre nicht weg- Traditionen deutlich heraustritt, werden Eigengehalt und Breite der praktischer Philosoph vor allem bemüht ist, das zu verstehen, was zudenken sein. Der Anspruch, mit der Quellenedition zugleich in nationalsozialistischen-völkischen Strömungen nie allein auf diese man heute als Normativität des Nationalsozialismus bezeichnet, auch die breite Öffentlichkeit aufklärend hineinzuwirken, dürfte sich aber, Gegenstellung hin konstruiert; vielmehr bemüht sich Kolnai zu zei- wenn man, betrachtet man das Buch aus heutiger Perspektive, sagen Gebunden | 488 Seiten | € 38,– Mehr Informationen und Leseprobe unter auch angesichts einiger Zehntausend verkaufter Exemplare, vor gen, dass sich diese Ideologie von allen bisher entwickelten Vorstel- kann, dass es die Bedeutung des Antisemitismus für den Aufbau 978-3-86854-303-2 | auch als E-Book www.hamburger-edition.de allem über Multiplikatoren in Schulen, Universitäten, politischer lungen (auch etwa vom Bolschewismus) unterscheidet. und die innere Logik der gesamten ideologischen Strömung nicht Bildung und Medien erfüllen lassen. angemessen in den Blick nimmt. Axel Honneth war es, der auf das Werk Kolnais aufmerksam

Jörg Osterloh 1 Aurel Kolnai, Ekel, Hochmut, Hass, Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle. machte. Als er die noch heute lesenswerten Analysen Kolnais über Fritz Bauer Institut Mit einem Nachwort von Axel Honneth, Frankfurt am Main 2007, S. 171. die negativen Gefühle Hass und Hochmut herausbrachte, wies er

70 Rezensionen Einsicht 16 Herbst 2016 71 Von der Auswanderung zur Flucht unvorstellbar. (S. 344) Das Jahr 1938 sei dann mit dem Anschluss Leerstelle der NS-Forschung Überwindung der Einengung auf Erwerbsarbeit, verweist auch Jür- Österreichs, der gescheiterten Flüchtlingskonferenz in Evian und gen Kocka in seinem Aufsatz und setzt es ins Verhältnis zu neueren schließlich dem Novemberpogrom für die deutschen Juden zum Debatten. Er weist vor dem Hintergrund der »illiberalen Momente«

»Entscheidungsjahr« geworden, das den jüdischen Organisationen (S. 30) und mörderischen Konsequenzen der nationalsozialistischen die letzten Verhandlungsspielräume entzogen und den Juden indivi- Öffnung des Begriffs auf die »Ambivalenzen« hin und mahnt »zur David Jünger duell keine andere Perspektive als die Flucht gelassen habe. Marc Buggeln, Michael Wildt (Hrsg.) Vorsicht«. (S. 31) Besonders beachtenswert ist Rüdiger Hachtmanns Jahre der Ungewissheit. Emigrationspläne Jünger hat seine Untersuchung auf vier Ebenen angelegt. Neben Arbeit im Nationalsozialismus Vorschlag, die nationalsozialistischen Arbeits- und Produktions- deutscher Juden 1933–1938 den Debatten über die Auswanderung, die in jüdischen Periodika ge- München: De Gruyter/Oldenbourg, 2014, verhältnisse mit dem Begriff des »Kriegsfordismus« (S.105) zu Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, führt wurden, analysiert er die Haltung jüdischer Organisationen und 442 S., € 59,95 beschreiben, weil mit diesem Kontinuitätslinien und Brüche neu 2016, 440 S., € 70,– die Frage, welchen Stellenwert die Emigration in ihrer praktischen gelesen werden können. Arbeit einnahm. Die individuellen Auswanderungsentscheidungen Im zweiten Teil des Bandes werden »Bilder und Inszenierun- werden auf der Basis von Erinnerungsberichten und Tagebüchern gen der Arbeit« in den Blick gerückt und damit die inkludierende untersucht, darunter jene von Victor Klemperer und Willy Cohn. Marc Buggeln und Michael Wildt wenden Seite anvisiert. Harriet Scharnbergs Beitrag zeigt, dass sich die Be- Im Jahr der nationalsozialistischen Macht- Sowohl die Analyse der öffentlich geführten Debatten als auch sich mit dem von ihnen herausgegebenen mühungen, Arbeit ins Zentrum nationalsozialistischen Lebens zu übernahme 1933 fl ohen etwa 60.000 Juden diejenige der subjektiven Zeugnisse fördert zahlreiche interessan- Sammelband Arbeit im Nationalsozialismus einer eklatanten Leer- stellen, auch in der Fotografi e fi nden. Gerade die Untersuchung ins Ausland. Doch ungefähr ein Drittel von ihnen kehrte nach eini- te Details zutage; dennoch erlauben die von Jünger ausgewählten stelle der NS-Forschung zu. Mit über zwanzig Aufsätzen und einer von Fotografi en lenkt den Blick auf die sinnstiftenden Teile des gen Wochen oder Monaten zurück, weil sie davon ausgingen, die Quellen nur begrenzte Einblicke in die Auseinandersetzungen unter großen Themenbreite gelingt es, nicht nur viele Fragen zum Thema nationalsozialistischen Arbeitsalltags und fragt danach, wie Arbeit antijüdischen Schikanen in Deutschland seien leichter zu ertragen den deutschen Juden. Öffentliche Äußerungen in weitverbreiteten zu stellen, sondern zahlreiche auch zu beantworten. Die Beiträge inszeniert, gelebt und rezipiert wurde. Der Beitrag von Katharina als die Schwierigkeiten des Exils. Von heute aus betrachtet, mag Zeitungen stehen neben den Pamphleten von Splittergruppen, ohne beleuchten dabei die beiden Seiten »deutscher Arbeit«: einerseits die Schembs, der sich mit »Korporativismus, Arbeit und Propaganda im diese Einschätzung verwundern. Aus zeitgenössischer Perspektive dass Jünger die unterschiedliche Reichweite deutlich machen würde. inkludierende Seite, die sich im »Dritten Reich« auch in Inszenie- faschistischen Italien« beschäftigt, fordert dazu auf, die Spezifi k der jedoch gab es für Juden in den ersten Jahren der NS-Herrschaft Ebenso repräsentieren die subjektiven Zeugnisse, die in die Unter- rungen und Bildern zeigte, sowie andererseits die »exkludierende, »nationalsozialistischen Arbeit« deutlicher zu bestimmen. viele gute Gründe, in Deutschland zu bleiben. Die Geschichte der suchung Eingang gefunden haben, nur ein bestimmtes Spektrum. erniedrigende und brutale Kehrseite« (S. XXXVI), die das Konzept Der dritte Teil verfolgt die Konsequenzen und Effekte »deut- jüdischen Emigration in den Jahren 1933 bis 1938 ist denn auch Im Vordergrund stehen die Erwägungen älterer, nicht sonderlich nationalsozialistischer Arbeit (mit) konstituierte. scher Arbeit« »von der Kollaboration bis zur Vernichtung«. Obwohl eine »Geschichte der Auswanderung und zugleich eine des Blei- wohlhabender Akademiker wie Cohn und Klemperer, deren berufl i- In ihrer Einleitung führen die beiden Herausgeber in das Thema gerade zur »entgrenzten Destruktivität« (Michael Wildt) bereits viel bens, Ausharrens und Abwartens« (S. 13), so David Jünger in seiner che Perspektive im Ausland schlechter, deren Patriotismus dagegen ein und setzen die Aufsätze inhaltlich in eine Beziehung zueinander. geforscht wurde, können die Beiträge den komplexen Gegenstand kürzlich erschienenen Studie. In der historischen Forschung wird das eher größer war als bei jüngeren Leuten, während etwa der Boom Die Beschreibung und Analyse der unterschiedlichen Aspekte von durch Ausdifferenzierung übersichtlicher und damit genauer werden Geschehen der 1930er Jahre häufi g von seinem Endpunkt, dem Ho- der zionistischen Jugendgruppen kaum Erwähnung fi ndet. Besonders Arbeit geht hier nicht zuletzt der Frage nach, was das spezifi sch lassen. Marc Buggeln etwa formuliert einen Vorschlag zur Klärung locaust, aus analysiert und alle vorangegangenen Ereignisse nur noch interessant, zumal bislang nur unzureichend erforscht, ist hingegen Nationalsozialistische daran war; eine zentrale Frage, die im Sam- des Begriffs der Zwangsarbeit. Jens-Christian Wagners Untersu- unter dem Gesichtspunkt der Katastrophe interpretiert, auf die sie die vierte Untersuchungsebene: Jünger skizziert die verschiedenen, melband an unterschiedlichen Punkten aufgegriffen wird. chung zu den Todesraten in Mittelbau-Dora lässt die KZ-Häftlinge vermeintlich hinausliefen, so kritisiert Jünger (S. 395). Sein Anliegen seit Mitte der 1930er Jahre diskutierten umfassenden Auswande- Der erste Teil des Buchs wendet sich den »Ideologien und Pra- nicht nur als Objekte, sondern auch als Akteur_innen kenntlich ist es hingegen, die zeitgenössische Perspektive zu rekonstruieren. rungspläne, wie sie in Deutschland vor allem mit dem Namen Max xen der Arbeit« zu, formuliert Forschungsdesiderate und unternimmt werden. In den Jahren 1933 und 1934 stand für die jüdischen Organisa- Warburg verbunden waren, aber auch in Großbritannien und den Versuche einer Bestimmung des nationalsozialistischen Arbeitsbe- Statt eines Nachworts führten die Herausgeber ein Interview mit tionen – egal ob es sich um zionistische, liberale, deutschnationale USA in den Kreisen jüdischer Hilfsorganisationen kursierten und griffs. In seinem Beitrag über den »Begriff der Arbeit bei Hitler« Alf Lüdtke. Die Spannung zwischen der Bestimmung »deutscher oder orthodoxe handelte – die Auswanderung nicht im Zentrum ihrer als Kernstück einer »Lösung der Judenfrage« verstanden wurden. konstatiert Wildt, dass Hitlers Weltanschauung mittlerweile vielfach Arbeit« als Dienst an der Volksgemeinschaft und dem Begriff der Bemühungen. Vielmehr habe man versucht, trotz der zahlreichen Gerade im Scheitern dieser Pläne wird deutlich, wie sehr das Schick- untersucht worden ist, »der Begriff der Arbeit [dabei aber] keine »Qualitätsarbeit« wird angesprochen. Wie diese beiden sich zuein- diskriminierenden Bestimmungen mit dem NS-Regime über einen sal ost-, mittel- und westeuropäischer Juden miteinander verwoben bedeutsame Rolle« spielte (S. 3). Karsten Linne formuliert in sei- ander verhalten, ob die Ausführung des Dienstes aus »Pfl ichtgefühl« erträglichen Status für die in Deutschland verbleibenden Juden zu war – nicht nur in den »Endlösungs«-Plänen der deutschen Macht- nem Aufsatz »Von der Arbeitsvermittlung zum Arbeitseinsatz« den etwa zum »Eigensinn« gehört, bleibt aber offen. So lässt das Buch verhandeln. Auch die Zionisten, so betont Jünger, hätten keineswegs haber, sondern auch in den Rettungsbemühungen der internationalen »Dreiklang«: »Arbeit – Dienst – Zwang« (S. 53). Zwischen diesen einen am Ende der Lektüre mit Fragen zurück. Anders kann es aber generell für eine Auswanderung der Juden plädiert, stand für sie zum Hilfsorganisationen. Leider handelt Jünger gerade diese besonders drei Polen, die keineswegs sauber getrennt werden können, sondern auch nicht sein, da die Herausgeber sich einem neuen Forschungs- damaligen Zeitpunkt doch nicht die Rettung der deutschen Juden, aufschlussreiche Untersuchungsebene in seiner ansonsten sehr de- sich vielmehr im Nationalsozialismus gegenseitig enthielten und feld zuwenden. sondern der Aufbau eines jüdischen Staats in Palästina im Vorder- taillierten Studie am kürzesten ab. bedingten, bewegen sich auch die weiteren Aufsätze des Bandes. grund, für den man vor allem junge Leute mit praktischer Ausbildung Der Beitrag von Nicole Kramer, der sich als einziger systematisch Nikolas Lelle brauchte. Die Nichtzionisten hingegen hätten aus pragmatischen Susanne Heim mit dem Verhältnis von Arbeit und Frauen im Nationalsozialismus Berlin Gründen gegen die Palästinaemigration nichts einzuwenden ge- Berlin befasst, hat eine prominente Stellung im Buch erhalten. Die Untersu- habt. (S. 102) Selbst die im September 1935 erlassenen Nürnberger chung von »Haushalt, Betrieb und Ehrenamt« unter dem Blickwinkel Gesetze, die den minderen Rechtsstatus der Juden festschrieben, der »Frauenarbeit« verweist auf die ambivalente Bestimmung von nährten bei vielen deutschen Juden noch die Hoffnung, dass damit Arbeit im Nationalsozialismus, deren Zweck nicht mehr Gelder- die im Lande Bleibenden bei allen Einschränkungen immerhin eine werb, sondern der Nutzen für die Volksgemeinschaft sein sollte. verlässliche Perspektive hätten. Weitere Verschärfungen schienen Auf dieses Element des nationalsozialistischen Arbeitsbegriffs, die

72 Rezensionen Einsicht 16 Herbst 2016 73 Odilo Globocnik – facto für die Realisierung des »Generalplans Ost« zuständig war. Jenseits des Schulenstreits für Franz Neumann geschrieben hatte. Dieser Text kann als eine frühe Organisator der »Aktion Reinhardt« Eng verbunden mit den geplanten Ansiedlungen Volksdeutscher Zusammenfassung von Hilbergs Buch gelesen werden. Er ist deshalb stand die Vertreibung der dortigen jüdischen Bevölkerung in die so interessant, weil hier seine Hauptfrage auf denkbar knappem Raum

neu eroberten Ostgebiete. Da die militärische Lage die Abschiebung zum Thema wird: Wie wurde eine staatliche, kollektive Intention zu polnischer Juden allerdings bald hinfällig erscheinen ließ, musste Verwaltungshandeln? Hilberg nahm für die Suche nach der Antwort aus deutscher Perspektive eine andere Lösung gefunden werden. Raul Hilberg auf diese Frage jede Vokabel, jedes Aktenzeichen und jede Abkürzung Johannes Sachslehner Im Herbst 1941 wurde Globocnik von Himmler mit der »Aktion Anatomie des Holocaust. auf den Schriftstücken ernst. Er beschrieb den Vorgang des Verbre- Zwei Millionen ham’ma erledigt. Odilo Reinhardt«, dem systematischen Massenmord an der jüdischen Be- Essays und Erinnerungen chens mitunter wie eine Landnahme: Ein weitgespanntes Netz von Globocnik – Hitlers Manager des Todes völkerung im Generalgouvernement, betraut. Eigens hierfür wurden Hrsg. von Walter H. Pehle und René Ministerialbeamten, Parteifunktionären, Vertretern der Wirtschaft Wien, Graz, Klagenfurt: Styria Premium, die Vernichtungslager Bełżec, Sobibór und Treblinka errichtet. Dort Schlott. Aus dem Englischen von Petra und des Militärs »betraten Zug um Zug juristisches Neuland und 2014, 367 S., € 24,99 wurden bis Herbst 1943 weit mehr als 1,5 Millionen Menschen Post und Andrea von Struve. erweiterten ihre ›Arbeitsbereiche‹ in nie dagewesener Weise«. (45) mittels Kohlenmonoxid in Gaskammern getötet. Nach Beendigung Frankfurt am Main: S. Fischer, 2016, »Erlasse« und »Durchführungsbestimmungen« bildeten für ihn Ein- der »Aktion Reinhardt« versetzte Himmler Globocnik als Höheren 336 S., € 24,99 gangstore für einen auch gedanklich verbrecherischen Raum, den er SS- und Polizeiführer in die »Operationszone Adriatisches Küsten- umfassend rekonstruieren wollte. Er wollte wissen, wie die Täter ihr Odilo Globocnik ist in der Forschungslite- land«. Mit ihm kam die Mehrzahl seines »Aktion Reinhardt«-Stabes Dieses Buch ist eine positive Überraschung. eigenes Handeln verstanden. Und er wollte immer auch wissen, was ratur über die Verfolgung und Ermordung dorthin. Nach dem Zusammenbruch des »Dritten Reiches« befand Zwei Kenner des Werks von Raul Hilberg sie nicht sagten oder nicht zu den Akten nahmen. der jüdischen Bevölkerung im Generalgouvernement omnipräsent; sich Globocnik auf der Flucht, als er einem Bekannten berichtete: legen abseitig Publiziertes oder Übersehenes vor – überwiegend erst- Heutige Leser Hilbergs arbeiten sich an beidem ab, an dem auch erschienen in den letzten Jahren verschiedene biographische »Zwei Millionen ham’ma erledigt. Wahrscheinlich werd’ ich jetzt mals in deutscher Übersetzung – und das Ergebnis lässt die skeptische »Fußnotenfuchser«2, wie er sich selbst einmal ironisch nannte, und an Studien über ihn.1 Nun widmet sich Johannes Sachslehner Globoc- zahlen müssen dafür« (S. 342). Am 31. Mai 1945 wurde er von den Vermutung des Lesers, hier handele es sich um eine reine Verlags- niks Vita, wobei er hinter die Fassade des Massenmörders blicken Briten festgesetzt. Nur wenige Stunden später beging er Suizid. festgabe zur Erinnerung an den 90. Geburtstag des 2007 verstorbe- möchte: »Wer seine Persönlichkeit verstehen will, muss viel genauer Insgesamt ist Sachslehners Monographie in einem gut lesbaren nen Gelehrten, rasch verstummen. Die Herausgeber präsentieren ein 2 So Hilberg in einem Interview: Erna Paris, Vergangenheit verstehen. Wahrheit, hinsehen« (S. 12). Stil geschrieben, auch wenn sie einige Tippfehler und wenige inhalt- umfassendes Porträt des Verfassers und seiner Thesen, Methoden und Lüge und Erinnerung, Berlin, München 2000, S. 415. Globocnik wurde als Kind österreichisch-slowenischer Eltern liche Unrichtigkeiten enthält. So wird auf Seite 100 Globocnik irr- Sichtweisen, das die Erinnerungen und methodischen Refl exionen 1904 in Triest geboren. Die Familie zog nach dem Ersten Weltkrieg tümlich als Höherer SS- und Polizeiführer im Distrikt Lublin betitelt Hilbergs vorzüglich ergänzt.1 Die Sammlung mit Essays, Abhand- nach Klagenfurt, wo Globocnik eine Höhere Staatsgewerbeschule oder der Autor schreibt hier von »Ghetto Lublin«, allerdings instal- lungen, Erinnerungen und Gesprächen aus den Jahren von 1965 bis besuchte. Politisch aktiv war er bereits in frühen Jahren, so etwa im lierten die Deutschen erst 1941 ein Ghetto im nationalsozialistischen 2007 kann auch als Einführung in das Gesamtwerk des Holocaustfor- »Kärnter Abwehrkampf«. 1931 trat Globocnik der NSDAP, 1934 Sinne; der Begriff »jüdisches Viertel« wäre trennschärfer gewesen. schers gelesen werden. Walter Pehle, der langjährige Lektor Hilbergs der SS bei. Mehrere Male wurde er aufgrund illegaler Betätigung Sachslehner hat die für seine Thematik relevanten Archive besucht; und Begründer der »Schwarzen Reihe« zum Nationalsozialismus im inhaftiert. Sein Aktivismus sollte sich bezahlt machen: Nach dem im Literaturverzeichnis sind nicht nur deutsch- und englisch-, son- Frankfurter Verlag S. Fischer, war einer seiner Entdecker im deutsch- »Anschluss« Österreichs wurde er NSDAP- in Wien. Glo- dern auch polnischsprachige Veröffentlichungen aufgeführt. Eben- sprachigen Raum. Er war es, der im Herbst 1986 aus dem »Histori- bocnik scheiterte in dieser Position kläglich, sodass Hitler ihn Ende falls positiv hervorzuheben ist, dass zahlreiche Fotografi en den Text kerstreit« den Schluss zog, der über »Prius« und »Nexus« streitenden Januar 1939 seines Amtes enthob. Er ließ sich jedoch nicht entmuti- untermauern. Es überrascht deshalb umso mehr, dass Sachslehner deutschen Gelehrtenzunft (und den Deutschen insgesamt) die einzige gen; er wollte fortan »alles auf die Karte SS setzen« (S. 95). auf einen Anmerkungsapparat verzichtet. Nur einige Zitate sind Gesamtdarstellung zur Judenvernichtung, die es auf Deutsch gab, in Mit dem deutschen Überfall auf Polen bot sich für Globocnik die kurz belegt. In diesem Falle bleibt der Leserschaft nichts anderes einer Taschenbuchausgabe vorzulegen. So fand die fast 25-jährige Chance: Himmler ernannte ihn am 1. November 1939 zum SS- und übrig, als dem Autor hinsichtlich der Richtigkeit und Akkuratesse weitgehende Nicht-Rezeption von Hilbergs Hauptwerk in Deutsch- Polizeiführer im Distrikt Lublin. Im Generalgouvernement baute er sowohl der benutzten Literatur als auch der verwendeten Quellen zu land ihr Ende. Daneben trägt der junge Historiker René Schlott, der seine Machtposition aus, häufi g auch entgegen den Interessen des vertrauen. Für ein Werk mit wissenschaftlichem Anspruch ist dieses gegenwärtig an einer Studie zu Leben und Gesamtwerk Hilbergs zivilen Verwaltungsapparates. Ein Hauptaugenmerk Globocniks lag Vorgehen doch etwas ungewöhnlich und heikel. Für die Absicht arbeitet, Verantwortung für den Aufsatzband. Seine Auswertung von von Beginn an auf der Ausbeutung der jüdischen Arbeitskraft. Da- des Autors, die Persönlichkeit Globocniks zu analysieren, wäre es Hilbergs Nachlass trägt bereits für diese Sammlung sichtbare Früchte. neben begann er rasch, Pläne zur »Germanisierung« seines Distrikts sicherlich hilfreich gewesen, diese Thematik abschließend separat Sie enthält einen Querschnitt von Hilbergs Refl exionen über die 2.500 likes zu entwickeln. Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion in einer Schlussbetrachtung zu diskutieren. Nichtsdestotrotz bietet Täter des Holocaust. Dabei ist vor allem sein früher Text »Die Motive Danke für Ihr Interesse! ernannte Himmler ihn zum »Beauftragten für die Errichtung von das vorliegende Werk dem Leser eine anregende Lektüre, die nicht der Deutschen für die Vernichtung der Juden« (1965) hervorzuheben, Folgen auch Sie uns auf Facebook? SS- und Polizeistützpunkten im neuen Ostraum«, womit er nun de nur den berufl ichen, sondern auch den privaten Werdegang eines den er als Beitrag für eine – schließlich nicht erschienene – Festschrift Aktuelle Informationen aus dem Fritz Bauer Institut, fanatischen Nationalsozialisten nachzeichnet. Veranstaltungshinweise, neue Publikationen, Nachrichten und Berichte aus Kultur und Wissenschaft 1 Vgl. etwa: Siegfried J. Pucher, »… in der Bewegung führend tätig«. Odilo Melanie Hembera 1 Raul Hilberg, Täter, Opfer, Zuschauer, Frankfurt am Main 1992; ders., Unerbe- Globočnik – Kämpfer für den ›Anschluß‹, Vollstrecker des Holocaust, Klagenfurt Ludwigsburg tene Erinnerung. Der Weg eines Holocaust-Forschers, Frankfurt am Main 1994; www.facebook.com/fritz.bauer.institut 1997; Joseph Poprzeczny, Hitler’s Man in the East: Odilo Globocnik, Jefferson/ ders., Die Quellen des Holocaust. Entschlüsseln und Interpretieren, Frankfurt am N.C., London 2004; Berndt Rieger, Creator of Nazi Death Camps. The Life of Main 2002. Odilo Globocnik, London, Portland 2007.

74 Rezensionen Einsicht 16 Herbst 2016 75 seinen forschungsleitenden Begriffen und methodischen Überzeugun- Ach, wie schön war Auschwitz 1961/1962 an seinem Wohnort Lübbecke im Rahmen des Frank- gen. Während der Lektüre stutzt der Leser bei typischen Hilberg-Be- furter Auschwitz-Verfahrens vernommen, beschrieb Höcker seine griffen wie »Motivstrukturen« (35) und fragt sich: Was nun, Strukturen Aufgabe in Auschwitz leutselig als »truppenmäßige Betreuung des oder Motive? Seine Interpretation aber steht quer zur vermeintlichen Kommandanturstabes«. Ausschließlich »Personalangelegenheiten« Logik der bundesrepublikanischen Debatten; er arbeitete jenseits des habe er bearbeitet, allein »militärische Dinge« erledigt. Wohl habe er »Schulenstreits«3. Sein Thema war die Spannung zwischen den ein- Christophe Busch, Stefan Hördler, im Sommer 1944 Wissen von der Tötung »arbeitsunfähiger« Juden zelnen Tätern und der gesamtstaatliche Organisation der Vernichtung. Robert Jan van Pelt (Hrsg.) in Birkenau gehabt, die »Ungarn-Aktion« sei ihm auch ein Begriff Für den Historiker, so Hilberg, sei »[d]as deutsche Denken … so zu Das Höcker-Album. gewesen. Mit den »unrechtmäßigen« Vergasungen in dem von sei- rekonstruieren, dass der Einfl uss, den es auf das Geschehen hatte, Auschwitz durch die Linse der SS nem Schreibtisch im Stammlager vorgeblich fernen Lager Birkenau erkennbar bleibt«. (35) Im Gegensatz zu Hannah Arendt, die von Übersetzt von Verena Kiefer, Birgit habe er nichts zu tun gehabt. Sein »Wirken in Auschwitz« sei einzig einer bürokratischen »Gedankenlosigkeit« oder »Geistlosigkeit« der Lamerz-Beckschäfer und Oliver Loew. »soldatische Pfl ichterfüllung« gewesen. Täter ausging, lag bei Hilberg der Akzent immer auf der Problemlö- Darmstadt: Philipp von Zabern Verlag, Mitherausgeber Stefan Hördler, im letzten Jahr durch eine pro- sungskompetenz von Verwaltungsbeamten. Heute bemüht die For- 2016, 340 S., € 49,95 funde Studie über das KZ-System im letzten Kriegsjahr hervorgetre- schung, in Abkehr von Hilberg, mehr und mehr die Abwesenheit des ten, interpretiert die Fotos als »Schlüsselquellen zur Aufgliederung Staates als Erklärungsfaktor für die Massenverbrechen: Nicht der in Massenmord war in Auschwitz Alltagsroutine ganz normaler Männer des Mordpersonals und -prozesses in Auschwitz«. Er misst ihnen Behörden, Bürokratie und Militär sichtbar werdende starke Staat, so und Frauen. Nach getaner Arbeit am sicheren Tatort weit hinter der einen »unschätzbare[n] Wert zur Erforschung des Holocaust und des eine Kernthese von Timothy Snyder 4, sondern gerade die Leerstellen Front suchten die Mörder/-innen in ihrer Freizeit Entspannung und KZ-Systems in der Schlussphase des Zweiten Weltkrieges« (S. 112) nach seiner gewaltsamen Zerstörung haben dem Holocaust im Osten Erholung. Einer von ihnen war SS-Obersturmführer Karl Höcker zu. In der Tat vermag Hördler in seinem Beitrag über Herkunft, Wer-

Europas eine so unvorstellbare Dimension gegeben. (1911–2000), Adjutant des letzten Kommandanten, Richard Baer. degang und Funktion des SS-Personals von Auschwitz das Netzwerk privat Foto: groothuis.de Raul Hilberg sprach und schrieb in einer einzigartigen Weise Höcker beschenkte sich zur Erinnerung an seine schöne Auschwitzer der »Vernichtungsspezialisten« (S. 113) zu dechiffrieren. über sein Lebensthema, auch im Deutschen. Geprägt wurden seine Dienstzeit (Mai 1944–Januar 1945) mit einem Fotoalbum. Es zeigt Bedauerlicherweise haben die aus dem Englischen und Nieder- Arbeit und die Apodiktik seiner Thesen aber mehr durch die Klarheit die Akteure der Massenvernichtung im Sommer 1944 (»Ungarn- ländischen übersetzten Beiträge kein sachkundiges Lektorat erfahren. des Englischen. Vor allem aber war es seine lebenslange Beschäf- Aktion«) aus kameradschaftlicher Nähe. Die Täter/-innen waren sich Terminologische Missgriffe fi nden sich zuhauf. So ist von »Kriegsver- tigung mit den Akten der NS-Behörden, die er in seinen Interpreta- ihres Lebens froh und sichtlich stolz auf ihr Tun. Beförderungen nach brechern« (S. 59) die Rede. Eine Begriffl ichkeit, die seit der Gründung ISBN 978-3-89684-192-6 232 Seiten | Klappenbroschur | € 14,– (D) tionen durchleuchtete. Als Student von Franz Neumann und Hans der erfolgreichen Vernichtungsarbeit verstärkten ihr Wohlbefi nden. der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung Auch als E-Book erhältlich. Rosenberg war ihm zudem die Soziologie der Verwaltung vertraut. Ein Angehöriger des amerikanischen Militärnachrichtendienstes nationalsozialistischer Verbrechen (1958) mit guten Gründen im deut- Die berühmte Lakonie Hilbergs ist das Ergebnis all dieser Einfl üsse. CIC fand das Album 1945 in Frankfurt am Main. Erst 2007 übereig- schen Sprachgebrauch für die Holocaust-Täter aufgegeben worden ist. »Die Völkerrechtsprozesse in Den Haag kehren die Sie bewahrt auch einen biographischen Teil seiner Überzeugungen nete er sein »Mitbringsel« dem Holocaust-Museum in Washington Müsste in Bezug auf das Mordgeschehen in Auschwitz von Vernich- Weltpolitik um. Präsidenten ordnen sich Richtern unter. auf, denn die Tatsache, dass der Holocaust Menschen überrollte, die D.C. Wie war es zu Höckers Andenken gekommen? Im Mai 1944 tungslager gesprochen werden, wird »Konzentrationslager« (S. 20) Recht gegen Macht. Gut gegen Böse. Blut, Verschwö- »arg- und machtlos« (42) waren und deren »hervorstechendes Merk- wurde er von Majdanek nach Auschwitz versetzt. Die Deportation verwendet. Ein »tschechoslowakisches Familienlager« (S. 29) hat rungen und Verstrickungen. Und am Ende ein Urteil.« mal« Hilfl osigkeit war, diskutierte er nicht: »Dass er so unerwartet von rund 800.000 Juden aus Ungarn stand bevor. Da die Aufgabe es in Birkenau nicht gegeben. Die von der SS angefertigten erken- über uns hereinbrach, ließ uns verstummen. Seine beispiellose Natur groß war, bedurfte es erprobter Kräfte. Rudolf Höß, Richard Baer, nungsdienstlichen Fotos der registrierten Häftlinge können schwerlich erfordert zwangsläufi g einen neuen Umgang mit unseren sprachli- Josef Kramer und andere wurden nach Auschwitz beordert. Höcker, »Passfotos« (S. 31) heißen. Unter »SS-Hauptquartier« (S. 82) und »Be- Der Sieg des Rechts chen Mitteln. Das ist ein Problem, das uns alle betrifft, auch jene, 1933 in die Allgemeine SS eingetreten, ab Frühjahr 1940 überwie- weisantritt« (S. 59) statt Beweisantrag vermag man so recht nichts ver- die das Geschehen miterlebten.« (203) Hilbergs minimalistischer, gend im KZ-Dienst tätig, sonnte sich im Glanz seines Chefs, Richard stehen. Auch inhaltlich ist manches korrekturbedürftig. Höß hat nicht über die Gewalt trockener Stil wird nicht zuletzt bei seiner Reise nach Auschwitz Baer. Immer wieder ließ er sich mit ihm zusammen ablichten. »1940« den Auftrag übernommen, das »größte Vernichtungslager aller und Treblinka und bei Fahrten durch Deutschland, die er machte, Der »Frontdienst« in Auschwitz war für die Mörder Arbeitsall- Zeiten aufzubauen« (S. 38). Höcker saß im Mai 1963 nicht in Untersu- Der Völkerstrafrechtler Benjamin Dürr um Archive aufzusuchen, zu einer Aussage, die er »dem Schweigen tag. Obschon die Vernichtung der Juden »reibungslos« vonstatten- chungshaft, war aber zu dem Zeitpunkt »offi ziell angeklagt« (S. 48). verbindet Analyse und Reportagen, spricht mehr Raum geben« nannte. (206) ging und die Todesfabrik Auschwitz »störungsfrei« funktionierte, Baer wurde nicht »in seiner Wohnung« (S. 47) verhaftet und lebte unter mit Anwälten, Richtern und Anklägern, mit war das SS-Personal nach vollbrachter Tat erholungsbedürftig. Ein dem Namen Karl – nicht Kurt – Neumann. Rechtsanwalt Christian Ermittlern und Menschenrechtsaktivisten. Nicolas Berg Heim in den Beskiden rund 30 Kilometer südlich von Auschwitz Raabe war im Auschwitz-Prozess kein »Nebenkläger« (S. 52). Sein Buch ist ein aufrüttelndes Porträt dieses Leipzig stand ihm zur Verfügung. Geselligkeit und Kameradschaft wurde Kurzbiografi en zu den abgebildeten Hauptfunktionsträgern wä- ersten säkularen Weltgerichts. nicht nur innerhalb des Männerordens gepfl egt. Auch mit feschen ren für den Gebrauch des wichtigen Buches hilfreich gewesen. Das »SS-Maiden« konnten sich die Männer vergnügen. Höcker, so zeigen »Höcker-Album« ist gleichwohl zusammen mit dem »Auschwitz- es die gesammelten Abbildungen, war im Kreis von Rudolf Höß, Album«, das die Opfer Höckers und seiner Mordkomplizen zeigt, Erhältlich im Buchhandel oder über 3 Ian Kershaw, Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Josef Mengele und Richard Baer der befl issen dreinschauende Un- von unschätzbarem Wert. www.edition-koerber-stiftung.de Überblick. Bearbeitete und erweiterte Neuausg., Reinbek bei Hamburg 1999, v.a. tergebene, im Kreis der SS-Helferinnen hingegen der umschwärmte S. 114–147. 4 Timothy Snyder, Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen Prinz. Behaglich fühlte er sich offensichtlich beim Schmaus von Werner Renz kann, München 2015, S. 415. Blaubeeren und bei wohliger Entspannung inmitten der Frauen. Fritz Bauer Institut

76 Rezensionen Einsicht 16 Herbst 2016 77 Netzwerke der SS Befehlsebene in der SS-Führung misst er große Bedeutung bei: Diese teils auch, wie schon bei der »Aktion 14f13«, in Euthanasieanstal- Zerklüftete Erinnerungslandschaften habe morderprobtes Personal 1944 gezielt in diejenigen Konzentra- ten, so etwa in Hartheim, wo zwischen Frühjahr 1944 und Januar tionslager überstellt, die gegen Ende des Krieges zu Mordzentren 1945 mehr als 3.000 Häftlinge aus dem KZ Mauthausen im Gas

wurden. erstickt wurden. In fast allen Fällen setzte die SS hierbei Personal Die Morde 1944/45 bilden die Klammer zwischen den beiden ein, das bereits bei der »Aktion 14f13« und später beim Judenmord in Stefan Hördler ansonsten recht eigenständigen Teilen der Studie. Teil 2 des Buches Auschwitz-Birkenau und anderen Vernichtungslagern eine zentrale Andreas Wirsching, Jürgen Zarusky, Ordnung und Inferno. thematisiert die organisatorischen, funktionalen und personellen Rolle gespielt hatte. Alexander Tschubarjan, Viktor Das KZ-System im letzten Kriegsjahr Änderungen im KZ-System ab dem Frühjahr 1944, die durch drei Mit der Isolierung und Ermordung der Arbeitsunfähigen und Ischtschenko (Hrsg.) Göttingen: Wallstein, 2015, 531 S., € 46,– Faktoren geprägt waren: Kranken, die ihr als nutzlos oder als potenzielle Auslöser von Epide- Erinnerung an Diktatur und Krieg. Erstens blieb es mit den Konzentrationslagern Majdanek und mien sogar als gefährlich galten, versuchte die SS die Funktionsfä- Brennpunkte des kulturellen Gedächtnisses Auschwitz ein Zentrum des Judenmords. Viele der Täter aus dem higkeit des aus dem Ruder laufenden KZ-Systems, das immer mehr zwischen Russland und Deutschland Mordbetrieb in Auschwitz hatten zuvor bereits bei den Massentö- Arbeitsunfähige produzierte und das zugleich mit dem NS-Machtbe- München: De Gruyter, 2015, 390 S., € 54,95 tungen der »Aktion 14f13« Erfahrungen gesammelt und wurden reich territorial schrumpfte, aufrechtzuerhalten. Dafür führt Stefan Im Grunde legt Stefan Hördler mit sei- Anfang 1945 zentrale Figuren beim Mord an »Arbeitsunfähigen«. Hördler den Begriff der Rationalisierung ein, die eine »Symbiose Vor zwei Jahren hat die Gemeinsame Kom- ner Dissertation zum KZ-System im letz- Erhellend sind – auch vor dem Hintergrund der jüngsten Strafver- einer von außen forcierten Ökonomisierung und einer von innen mission zur Erforschung der jüngeren Ge- ten Kriegsjahr zwei Bücher vor, von denen im engeren Sinne nur fahren gegen SS-Personal aus Auschwitz – Hördlers Ausführungen notwendigen Stabilisierung des Lagergefüges« dargestellt habe. schichte der deutsch-russischen Beziehungen einen Band über die Teil 2 zum Untertitel seiner Studie passt. Teil 1, der sich dem SS- über den arbeitsteiligen Prozess des Tötens während der »Ungarn- Seitens der SS sei der Hauptzweck dabei jedoch »immer das System »Stationen gemeinsamer Geschichte« und entsprechende Erinne- Lagerpersonal widmet, nimmt hingegen die gesamte Bestehenszeit Aktion« in Auschwitz-Birkenau im Frühsommer 1944: Sämtlichen selbst, dessen Machtstabilität und Selbsterhalt« geblieben (S. 474 f.). rungsorte im 20. Jahrhundert herausgegeben.1 Die Texte deutscher der Konzentrationslager in den Blick. Dabei verfolgt Hördler einen SS-Angehörigen in Birkenau war klar, dass sie sich aktiv an einem Allerdings sollte man hierbei nicht nur auf die SS, sondern auch auf und russischer Autoren demonstrierten, wie schwierig eine grenz- akteurszentrierten Ansatz und betrachtet vor allem die Netzwerke Massenmord beteiligten. die weiteren Akteure schauen, die das KZ-System prägten, so etwa überschreitend einvernehmliche Bewertung der Geschehnisse im der Kommandanten und ihrer Entourage, die sich aus dem Perso- Zweitens begannen im Sommer 1944 in frontnahen Gebieten die Organisation Todt oder die Baugruppe Schlempp, die 1944/45 20. Jahrhundert noch heute ist. Darüber hinaus zeigte sich, dass nal der KZ Lichtenburg und Dachau rekrutierten. In der glänzend die Lagerräumungen. Ein großes Verdienst Hördlers ist es, dass er mindestens so viele KZ-Häftlinge auf ihren Baustellen schuften lie- innerhalb sowohl der deutschen als auch der russischen Geschichts- recherchierten und durchweg gut lesbaren Studie stützt er sich auf die Bedeutung des von der deutschen Forschung bislang vernachläs- ßen wie die Bauorganisation von SS-Gruppenführer Hans Kammler. wissenschaft Interpretationen und Akzente variieren können. Wenn eine breite Grundlage täterproduzierter Quellen, insbesondere auf sigten KZ Stutthof herausstellt. Es wurde im Herbst 1944 zentrales Schließlich wird auch die Interessenlage der Rüstungsunternehmen, sich bereits wissenschaftliche Ko-Produzenten von nationalen und SS-Personalakten, aber auch auf Korrespondenzen innerhalb des Auffanglager für fast 50.000 Häftlinge unter anderem aus den ge- die KZ-Häftlinge einsetzten, in Hördlers Studie nicht thematisiert. bilateralen Erinnerungswelten in bestimmten Aspekten uneins sind, SS-Apparates, ergänzt durch strafrechtliche Ermittlungsunterlagen räumten Konzentrations- und Arbeitslagern im Baltikum. Von hier Aus diesem Grund erhellt das Buch die Vorgänge im KZ-System so verwundert es nicht, dass sich die kulturelle Gedächtnislandschaft aus der Zeit nach 1945. Berichte von KZ-Überlebenden fi ndet man aus wurden vor allem die männlichen Häftlinge, vorrangig Juden, des letzten Kriegsjahres nur bedingt. Zu diesem Fazit trägt auch in beiden Ländern insgesamt sehr zerklüftet präsentiert. Diese Viel- hingegen kaum. Ihren Quellenwert bezeichnet Hördler mit Verweis zur Zwangsarbeit in Außenlager oder andere Konzentrationslager bei, dass der Leser außer summarischen Angaben zu Lager- und stimmigkeit ist denn auch ein Eindruck, den der vorliegende Sam- auf einen älteren Aufsatz als »nicht unumstritten« (S. 18). Ähn- weitergeleitet. Nicht arbeitsfähige Häftlinge blieben hingegen im Transportstärken sowie Todeszahlen kaum etwas über die Häftlinge melband vermittelt. Er beruht auf einer Doppeltagung des Instituts lich kritische Bemerkungen zu den täterproduzierten Quellen sucht völlig überfüllten Hauptlager zurück. Ihrer entledigte sich die SS und ihre Wahrnehmung des Geschehens erfährt. Bedauerlich ist fer- für Zeitgeschichte München-Berlin und des Instituts für Allgemeine man vergebens. Einen großen Pluspunkt verbucht Hördler hingegen durch Mord – durch organisierte Vernachlässigung, aber auch mittels ner die ungleiche Repräsentanz der KZ-Hauptlager: Infolge seines Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften im März mit der quellenkritischen Auswertung von SS-Gruppenfotos aus gezielter Tötung in der neu errichteten Gaskammer. Blicks auf die Tötungsspezialisten stellt Hördler neben Auschwitz und Mai 2012, hat aber an Aktualität nichts verloren. Auschwitz (S. 308 ff.). Drittens entwickelte sich das KZ-System 1944 zu einem dichten vor allem die KZ Mauthausen, Ravensbrück und Stutthof vor, wäh- Insgesamt bleibt man auch nach der Lektüre der in aller Regel Einen Schwerpunkt widmet der Autor dem SS-Personal, das Netz von weit über 500 Außenlagern, deren Insassen Zwangsarbeit rend andere Lager, etwa Bergen-Belsen, das 1944/45 zum zentralen äußerst informativen und klar argumentierenden Beiträge ratlos, ob für die erste Mordwelle in den Konzentrationslagern 1941/42 ver- in der Rüstungsindustrie oder für Bauprojekte leisten mussten. In- Kranken- und Siechenlager wurde, eher unterbelichtet bleiben. Der man angesichts des obigen Gesamtbefunds von Zerrissenheit, Mul- antwortlich war, vor allem im Rahmen der Ermordung sowjetischer folge dieser Entwicklung wurden die Hauptlager immer mehr zu große Wert der Studie liegt deshalb auf einem anderen Feld: Sie ist tiperspektivität oder produktiver Spannung im deutsch-russischen Kriegsgefangener (»Aktion 14f14«) und der Überstellung arbeitsun- Drehscheiben des Häftlingsverschubs. Neu ankommende Häftlinge eine außergewöhnlich quellengesättigte Analyse des SS-Apparates Erinnerungshaushalt sprechen soll. Ausgangserlebnisse und Entste- fähiger oder missliebiger Häftlinge in die »Euthanasie«-Anstalten wurden nach einer Musterung je nach körperlicher Konstitution in den Lagern, insbesondere in den Kommandanturstäben. Hier setzt hungsbedingungen von individuellen und kollektiven Erinnerungen (»Aktion 14f13«). Überzeugend arbeitet Hördler heraus, dass es und fachlicher Eignung in Bau- oder Rüstungskommandos bzw. das Buch auf Jahre hinaus Maßstäbe. Folgerichtig hat es auch kein waren oftmals diametral entgegengesetzt. Die Faktoren, die Produk- dabei um Lern- und Initiationsmorde ging: Die Täter entwickelten die entsprechenden Außenlager weitergeleitet. Auf umgekehrtem Orts-, wohl aber ein detailliertes Personenregister. tion und Reproduktion beeinfl ussen, erweisen sich als äußerst viel- sich zu Vernichtungsspezialisten, ihr technisches Wissen und ihre Weg erfolgten sogenannte Rücküberstellungen »unproduktiver« fältig und wechselhaft. Sie werden zudem stetig unter immer neuen moralische Enthemmung leiteten den anschließenden fabrikmäßigen Häftlinge aus den Außenlagern in die Hauptlager. Dort richtete die Jens-Christian Wagner Bedingungen aktualisiert und rekonfi guriert. Daher ist es keineswegs Judenmord in den Gaskammern ein. Sie spielten auch in der zweiten SS Siechen- und Sterbezonen ein, in denen als arbeitsunfähig ausge- Celle ausgemacht, ob aus den unterschiedlichen Erinnerungen auf Dauer Mordwelle in den Konzentrationslagern in den Jahren 1944/45 eine sonderte Häftlinge mehr oder weniger sich selbst überlassen blieben ein gemeinsames oder zumindest geteiltes Gedächtnis erwächst. Die wichtige Rolle. und starben. Die personalpolitische Relevanz sieht Hördler dabei weniger In einigen Lagern ermordete die SS Kranke und Arbeitsunfähige in der Sozialisation der Gewalt und auch nicht in der ideologi- auch direkt, entweder durch Giftinjektionen in den Krankenrevieren schen Überzeugung von der völkischen Idee als vielmehr in der (Buchenwald), durch Erschießen (Sachsenhausen) oder durch Er- 1 Horst Möller, Alexander Tschubarjan (Hrsg.), Deutschland – Russland. Stationen Netzwerkbildung in den Kommandanturstäben. Der Planungs- und sticken in Gaskammern – teils innerhalb der Konzentrationslager, gemeinsamer Geschichte, Orte der Erinnerung, Band 3: Helmut Altrichter u.a. (Hrsg.), Das 20. Jahrhundert, München 2014.

78 Rezensionen Einsicht 16 Herbst 2016 79 Ansichten der Autoren hierzu gehen durchaus auseinander (S. 27, 40, FRAU IN BERLIN von 2008, der die Vergewaltigungen deutscher Frauen Deutsche Generale im Verhör Die Sowjets sahen mit Befremden, dass die sonnengebräunten Ge- 189–190, 343 f.). Selbst die ausgewählten Fallstudien lassen sich aus durch Rotarmisten thematisiert (Alexander Vatlin, Yuliya von Saal, fangenen komfortabel untergebracht waren und dass sie ungehindert unterschiedlichem Blickwinkel mitunter weniger als Brennpunkte S. 249–257, 329–344). Diese Analysen beleuchten auf ihre Weise ihre Aussagen abstimmen konnten. Die Dokumente werfen auch

»zwischen Russland und Deutschland« beschreiben, sondern eher eindrucksvoll unterschätzte Akteure, mediale Eigengesetzlichkeiten Schlaglichter auf die Protagonisten der obersten militärischen Füh- als Aufarbeitung spezifi scher weißer Flecken auf gedenkpolitisch, und nationale Gräben in der Erinnerungsproduktion. rung. Jodl zum Beispiel schätzte Himmler wegen seiner »mensch- ethnisch oder gesamtnational entworfenen Erinnerungskarten pro- Es ist schließlich die Auseinandersetzung mit dem historischen Vasilij Stepanowitsch Christoforow, lichen Eigenschaften« sehr, »denn er lebte bescheiden« (S. 125). blematisieren. Gedächtnis an einzelne Nationalitäten und Gruppen der UdSSR Vladimir Gennadjewitsch Makarow, Feldmarschall Kesselring hielt es für »die schwerwiegendste Folge Dieser Eindruck wird durch die Gesamtanlage des Bands ver- im Krieg, die sich nicht nur, aber mehrheitlich als Thematisierung Matthias Uhl (Hrsg.) unter Mitarbeit der Niederlage Deutschlands […], dass er und andere deutsche Füh- stärkt. Der anspruchsvollen konzeptionellen Einführung folgen langjähriger blinder Flecken in sowjetischer und post-sowjetischer von Daniel Bohse rungspersönlichkeiten im Lager« säßen. Er hinterließ »den Eindruck souveräne Überblicke über deutsche und russische Gedächtniskul- öffentlicher Erinnerung zu verstehen scheint und damit den ei- Verhört. Die Befragungen deutscher einer stumpfsinnigen und bornierten Person« (S. 144). turen (Lorina Repina, Bernd Bonwetsch und Aleksandr Boroznjak, gentlichen Orientierungsrahmen des Bandes ausdehnt (Kapitel 3, Generale und Offi ziere durch die Besonders umfangreich sind die Verhöre von Feldmarschall Fer- S. 3–40). Dabei fi ndet hier wie im Gesamtband die ost-/westdeutsche S. 163–245). Ungeachtet dessen bieten die hier versammelten Bei- sowjetischen Geheimdienste 1945–1952 dinand Schörner und SS-Obergruppenführer Friedrich Jeckeln doku- Aufsplitterung ebenso adäquate Berücksichtigung wie die Bandbrei- träge gerade für ein deutsches Publikum kompetente Überblicke Berlin: de Gruyter, 2016, X, 467 S., € 49,95 mentiert (mit 9 bzw. 11 Quellen). Weitere Dokumente betreffen unter te russischer Blickwinkel in sowjetischen und post-sowjetischen (Beate Fieseler über sowjetische Invaliden des »Großen Vaterlän- anderem Feldmarschall Ewald von Kleist (zuletzt Oberbefehlshaber Zeiten. dischen Krieges«, Pavel Polian über die Erinnerung an sowjetische Der vorliegende Band ist schon von seiner Entstehung her be- der Heeresgruppe Südukraine), General Helmuth Weidling (zuletzt Anschließend bringt die Diskussion »unterschiedlicher Wahr- Repatriierte aus Deutschland, Il’ja Al’tman über den »Stellenwert merkenswert. Dem Deutschen Historischen Institut Moskau ist es Kampfkommandant von Berlin) und den »Berater für Judenfra- nehmungen« von »gemeinsamen Erinnerungsorten« (Kapitel 2, des Holocaust im historischen Gedächtnis Russlands«, S. 165–197, gelungen, im Zentralarchiv des Föderalen Sicherheitsdienstes der gen« an der Botschaft in Bukarest, Gustav Richter. Schörner (zuletzt S. 43–161) deutsche und russische Perspektiven ins Gespräch. Unter 213–225), engagierte Denkanstöße wie jenen von Jürgen Zarusky Russischen Föderation, dem Nachfolgedienst des KGB, Einblick in Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Mitte) war einer der fanatischs- zahlreichen lesenswerten Beiträgen, die zum Teil die konzeptionellen über »sowjetische Opfer von Krieg und nationalsozialistischer Ver- jene Akten zu erhalten, die seit 1943 für die Prozesse gegen deutsche ten Nazis in der Wehrmacht. Er wurde zu 25 Jahren Zwangsarbeit Eingangsüberlegungen noch ergänzen (Christoph Rass, S. 135–143), folgung in der bundesdeutschen Erinnerungskultur« (S. 227–245) Kriegsgefangene angelegt wurden. Diese sind für die Forschung verurteilt. Das Urteil wäre womöglich härter ausgefallen, hätte die ist das Tandem Bert Hoppe und Valerij Gal’cov besonders hervor- sowie – insbesondere in Form der Beschreibung der post-sowjeti- sonst nicht zugänglich. Ein erstes Ergebnis ist dieser Quellenband, Anklage Schörners Befehl vom 25. Februar 1945 gekannt, in dem zuheben (S. 119–133). Sie leuchten in ihren beiden Beiträgen bei- schen Geschichtskonstruktionen im Nordkaukasus – Einblicke in der 64 Aktenstücke umfasst: handgeschriebene Aussagen, Ankla- spielhaft den Stellenwert von Königsberg/Kaliningrad im Gedächt- aktuelle Entwicklungen, die in der Regel außerhalb des alltäglichen geschriften, Urteile, vor allem aber Vernehmungsprotokolle. Eine nishaushalt nicht nur der Gesellschaften der Nachkriegsjahre und im Medien- und Wahrnehmungshorizonts liegen (Aleksej Bezugol’nyj, 46-seitige Einleitung informiert über die Entstehung der Dokumente Kalten Krieg, sondern auch über die Zäsuren von 1989/90 hinaus aus. S. 199–211). und die Behandlung der Gefangenen, ihre Kurzbiographien fi ndet Auf diese Weise lassen sich anhand der Stadt Bruchstellen, Gegen- Letztlich hätten alle Beiträge dieses – trotz der genannten Un- man im Anhang. Léon Poliakov sätze, Verbindungen, transnationale Entwicklungsmöglichkeiten und wucht – gut abgestimmten Bands eine ausführliche Würdigung Die Verhöre durch Offi ziere der Volkskommissariate für Innere Vom Antizionismus zum Antisemitismus 1992, 160 Seiten, 9 €, ISBN: 3-924627-31-2 regionale bzw. nationale Grenzziehungen im kulturellen Gedächtnis verdient. Zusammengenommen bieten sie eine wichtige und diffe- Angelegenheiten (NKWD) und Staatssicherheit (NKGB) fanden wie unter einem Mikroskop und im Zeitraffer verfolgen. Dagegen renzierte Erschließung relevanter Erinnerungsfelder in Russland und meist in den berüchtigten Moskauer Gefängnissen Lubjanka und Dieses Pamphlet Léon Poliakovs, des Autors der achtbändigen „Geschichte des Antisemitismus“, beschreibt die Karriere des Antizionismus seit scheint eine sehr traditionell betriebene Militärgeschichtsschreibung Deutschland und verweisen auf entsprechende Forschungsdesiderata Butyrka statt. Die Fragenkomplexe waren dabei umfangreicher als Lenin. Was zu Beginn als Kritik des jüdischen Nationalismus auftrat, sowie überhaupt jede in überkommenen Kategorien argumentie- und -perspektiven. Sie zeigen die Widerhaken, Widersprüche und in Verhören der Westalliierten. Neben der Beteiligung an Kriegsver- verwandelte der stalinsche “Sozialismus in einem Land” nach und nach zum Tarnwort des sowjetischen Antisemitismus. Poliakov denunziert rende, betont nationale Historiografi e nur bedingt für einen offenen Widrigkeiten in der Ausformung eines kulturellen Gedächtnisses brechen ging es vor allem auch um die Vorbereitung des Angriffs auf die Feindschaft gegen Israel als – gerade unter den Linken – moderne Dialog geeignet zu sein (Michail Mjagkov, Aleksandr Epifanov, an Krieg und Diktatur in Deutschland und Russland, indem sie die die UdSSR, um Kontakte zu Hitler und um seinen Verbleib, um die Form des Antisemitismus. Boris Kovalev, S. 43–49, 107 f., 153–161). Gesamtprozesse der so unterschiedlichen Einschreibung humanitärer deutschen Geheimdienste, um Pläne für einen Partisanenkrieg gegen Gerhard Scheit Der Umgang mit »Erinnerungen des Schreckens« sowie die Katastrophen von Krieg und Terror in individuelle und kollektive die Alliierten, aber auch um die Teilnahme an der Niederschlagung Kritik des politischen Engagements Diskussion von Kriegsende und den ersten Jahren der sowjetischen Gedächtnisse detailliert rekonstruieren. Damit bietet der Band einen kommunistischer Aufstände in der Weimarer Republik. 2016, 712 Seiten, 36 €, ISBN: 978-3-86259-128-2 Besatzung Deutschlands bieten schon allein durch die gelungene wesentlichen und konstruktiven Beitrag zur deutschen, russischen Der erste Teil enthält Protokolle, die NKGB-Offi ziere anfertig- Alle Ideologie beruht auf Verdrängung der Gewalt; noch dort, wo Zusammenstellung Ansätze für eine komparative Betrachtung ver- und deutsch-russischen Geschichte im 20. und 21. Jahrhundert. ten, als sie im Juni 1945 unter anderem Hermann Göring, Feldmar- sie Gewalt fetischisiert, bildet der blinde Fleck des Souveräns den Ur sprung. Denn ausgeblendet wird ja nicht Gewalt als solche, son- schiedener Geschichtskulturen einschließlich ihrer medialen Beson- schall Wilhelm Keitel und dessen engste Mitarbeiter, die Generäle GHUQGDVVGXUFKVLHGLH(LQKHLWGHU*HVHOOVFKDऽHUVW%HVWDQGKDW$Q derheiten. Darüber hinaus arbeiten weitere Beiträge mit Ansätzen Andreas Hilger Alfred Jodl und Walter Warlimont, vernahmen, die die Amerikaner GLHVHPEOLQGHQ)OHFNWULीLP3ROLWLVFKHQVHOEVW]XWDJHZLH$X़O¦U einer transkulturellen Geschichte (Kapitel 4 f., S. 247–386). Arkady Hamburg in einem ehemaligen Luxushotel interniert hatten. Bedeutende neue ung sich weigert, ihre eigenen Bedingungen zu begreifen – darin ist sie zunächst nichts anderes als die frühe Gestalt des Engagements. Tsfasman befasst sich mit den Erinnerungen jüdischer Emigranten Erkenntnisse bieten diese Protokolle nicht. Erkennbar ist bereits In dieser ‚Dialektik des Leviathan‘, wie sie der erste Teil des Buchs aus der UdSSR, die nun in Deutschland leben, an ihre Kindheit unter die spätere Verteidigungsstrategie vor dem Internationalen Mili- im Anschluss an die 'LDOHNWLNGHU$XࡄO¦UXQJ zu umreißen versucht, erhält die Gegenüberstellung von Hobbes und Spinoza eine Schlüs- nationalsozialistischer Besatzung (S. 299–304). Aufschlussreich tärtribunal in Nürnberg: Man wusste nichts von Kriegsverbrechen, VHOUROOH'LH्HVHODXWHWGDVVHLQNULWLVFKHU%HJULઘGHV6WDDWVRKQH ist auch die Diskussion des erinnerungspolitischen Engagements hatte nur Befehle befolgt, konnte sich mit seinen guten Absichten GLH .ULWLN GHU VSLQR]LVWLVFKHQ $XઘDVVXQJ YRQ 6XEVWDQ] QLFKW ]X KDEHQVHLGHUHQSUREOHPDWLVFKH$VSHNWHQLFKW]Xো¦OOLJLQGHUIUDQ- der russisch-orthodoxen Kirche hinsichtlich des Schießplatzes von bei Hitler nicht durchsetzen, war Gegner eines Krieges gegen die zösischen (und italienischen) Linken (Althusser, Deleuze, Negri…) ƔSRVWIDFKƔIUHLEXUJƔ Butovo, auf dem während der »Großen Säuberungen« 1937/38 Sowjetunion. Deutlich wird das Misstrauen zwischen den Alliierten wiederkehrten. Umgekehrt war es gerade die Problematik dieses XVDPPHQPLWGHU[ۋ6XEVWDQ]EHJULઘVGLHHV0DU[HUVWHUP¸JOLFKWH zahlreiche Menschen ermordet wurden, daneben die Darstellungen im beginnenden Kalten Krieg. Beide Seiten waren wenig bereit, der Hegelschen Dialektik und zugleich gegen sie gerichtet – die Kritik ça ira-Verlag deutscher und russischer Perzeptionen des Films ANONYMA – EINE jeweils anderen Seite zu erlauben, »ihre« Deutschen zu vernehmen. der po litischen Ökonomie zu entfalten. WHOƔLQIR#FDLUDQHWƔ www.ca-ira.net

80 Rezensionen Einsicht 16 Herbst 2016 81 es hieß: »[…] an der Lausitzer Neiße werden in diesen Tagen keine Selbstzeugnisse von NS-Opfern und Werken von Opfern der Verfolgung und ihren Nachkommen Gefangenen gemacht.«1 zu, dehnt den Begriff des Zeugnisses andererseits aber aus, indem  Kulturwissenschaften Jeckeln, zuletzt Höherer SS- und Polizeiführer (HSSPF) Russ- sie neben Fotografi en auch Dokumentar- und Spielfi lme einbezieht. in der edition text+kritik land Nord, erscheint in dieser Auswahl erstaunlicherweise nur als ein Das je Spezifi sche der Gattungen und deren jeweiliges didaktisches Judenmörder unter vielen. Die Herausgeber merken zwar an, dass er Potenzial zu erläutern bleibt den nachfolgenden Kapiteln überlassen. schon im Sommer 1941 als HSSPF Russland Süd »für Massenmorde Dagi Knellesen und Ralf Possekel (Hrsg.) Besonders kenntnisreich und anschaulich ist die Einführung verantwortlich« gewesen sei (S. 233). Jeckeln war aber einer der Zeugnisformen. Bericht, künstlerische des 2013 verstorbenen Kunsthistorikers Detlef Hoffmann zu den DOERTE BISCHOFF (Hg.) wichtigsten Antreiber in der Radikalisierung der Vernichtungspolitik. Werke und Erzählungen von NS-Verfolgten Bildzeugnissen. Er wendet sich dagegen, solche Werke als Iko- Er initiierte das Massaker von Kamenez-Podolsk Ende August 1941, Hrsg. im Auftrag der Stiftung »Erinnerung, nen zu verehren, und plädiert dafür, sie als spezifi sche Spuren der das mit 23.600 Opfern und der Einbeziehung von Frauen und Kindern Verantwortung und Zukunft« NS-Vergangenheit zu lesen. An Beispielen aus frühen Konzentra- Exil den »qualitativen Sprung« vom Massenmord zum Völkermord dar- Berlin: Eigenverlag der Stiftung tionslagern, den zur Vorbereitung der Deportationen eingerichteten Literatur Judentum stellte2, und er war führend an der Planung des Massakers von Babi Jar »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« Transitlagern, den Konzentrationslagern während des Krieges und 34 beteiligt, dem einen Monat später 33.771 Menschen zum Opfer fi elen. (EVZ), 2015, 308 S., kostenlos1 den Ghettos zeigt er, wie Gefangene aus unterschiedlichen Bedin- Exil und Shoah Man darf von dieser Edition nicht einen ähnlich sensationellen gungen heraus mit sehr verschiedenen Intentionen Bilder – in der Einblick in das Handeln und die Überzeugungen von Soldaten der Der als erster der Reihe »Bildungsarbeit mit Zeugnissen« erschie- Regel Zeichnungen – geschaffen haben, die uns über ihre äußere Wehrmacht erwarten, wie ihn die Arbeiten von Sönke Neitzel und nene Band fasst den Begriff des Zeugnisses sehr weit: In sechs und innere Welt Auskunft geben. Felix Römer3 bieten. Die hier dokumentierten Aussagen waren allein Abschnitten stellen insgesamt 25 Beiträge Zeitzeugeninterviews, Ein ganz anderes Feld erschließt der Beitrag von Ralf Obern- vom Ziel bestimmt, der Todesstrafe oder langjähriger Haft zu entgehen. Schriftzeugnisse, autobiographische Zeugnisliteratur, Bildzeugnisse, dörfer über »Geschichte im Gerichtssaal« (S. 241), der das Kapitel Dennoch bleiben sie interessant, sind sie doch, wie die Herausgeber Musik und Quellen aus NS-Prozessen vor. In jedem Kapitel folgen zu Quellen aus NS-Prozessen einleitet. Er erläutert Regeln des Pro- hervorheben, »frei von den Mustern des Rechtfertigungsdiskurses der auf eine oder mehrere Einführung(en) in den jeweiligen Gegenstand zessrechts und des materiellen Rechts, ohne deren Kenntnis die in Bettina Bannasch / Doerte Bischoff (Hg.) westdeutschen Nachkriegsöffentlichkeit«, von dem die Gefangenen Skizzen in der historischen Bildungsarbeit erprobter Konzepte. den Verfahren generierten Quellen nicht verstanden und angemessen Helga Schreckenberger / Exil – Literatur Alan E. Steinweis (Hg.) abgeschnitten waren (S. 4). Dies zeigt sich in den Aussagen zu den Die Herausgeber heben als wesentlichen Unterschied zu ande- interpretiert werden können. –Judentum Exil und Shoah ihnen vorgeworfenen Kriegsverbrechen. Während in den Nürnberger ren historischen Quellen den sich bis in die unmittelbare Gegenwart Praktikern der Bildungsarbeit ist der Band nicht zuletzt wegen der 351 Seiten, € 39,– Prozessen Dutzende Generäle und Generalstäbler in eidesstattlichen erstreckenden Entstehungszeitraum der Zeugnisse hervor. Um de- vielfältigen »Bildungskonzepte« zu empfehlen, die darin vorgestellt etwa 300 Seiten, ca. € 38,– ISBN 978-3-86916-327-7 Erklärungen die Durchführung des Kommissarbefehls generell abstrit- ren historiographische Bedeutung zu betonen, nehmen sie auf Saul werden. Diese Beiträge informieren nicht nur über das verwendete ISBN 978-3-86916-550-9 ten, gestanden die Verhörten dessen Durchführung ein, verneinten aber Friedländers Konzept einer »integrierten Geschichte« des Holocaust Material und das didaktisch-methodische Vorgehen, sondern ver- Zu Beginn des 21. Jahr- persönliche Verantwortung. Das Gleiche gilt für das Hungersterben und Bezug. Damit ignorieren sie allerdings, dass Friedländer selbst sich anschaulichen die dabei zu gewinnenden Einsichten auch anhand Dieser Band lotet hunderts wird die Erfah- die Erschießungen von sowjetischen Kriegsgefangenen, die Verbrechen strikt auf in der Zeit des Holocaust entstandene Zeugnisse der Opfer von Beispielen. Einige Autoren verb inden ihre Praxisberichte mit Berührungspunkte und rung der Vertreibung und bei der Partisanenbekämpfung und die Zerstörungen und Verbrechen beschränkt hat. In der Konzeption des Bandes kommt die Refl exion grundsätzlichen Überlegungen. So erläutert Constanze Jaiser in ih- Überschneidungen der Exilierung von immer gegen die Zivilbevölkerung beim Rückzug aus der Sowjetunion. über die grundsätzlichen Unterschiede zwischen Zeugnissen aus der rer Skizze zur pädagogischen Verwendung von Videozeugnissen am Forschungsgebiete Exil mehr Menschen geteilt. Problematisch an der Edition ist, dass die Aussagen der Verhör- Zeit der Verfolgung, die die damalige Wahrnehmung und Deutung der »Ort der Erinnerung« unter dem Denkmal für die ermordeten Juden und Shoah aus. Er zeigt, Die Auseinandersetzung ten kaum kommentiert werden, auch wenn sich ihre Unhaltbarkeit Geschehnisse durch die Betroffenen widerspiegeln, und den Erinne- Europas, warum solche Arbeit eine »Begegnung« der Jugendlichen wie komplex und mit dieser Einsicht eben- an vielen Stellen mit den Ergebnissen der Forschung längst belegen rungen an zurückliegende Erfahrungen, die sich in Interviews, Zeu- mit (physisch nicht präsenten) Zeuginnen und Zeugen und zugleich weitreichend diese so wie mit jüdischer Er- ließe. Das gilt besonders für die Aussagen Jeckelns. Die Edition ist genaussagen, lyrischen, dramatischen und Prosatexten, künstlerischen historisches Lernen am Ort des Gedenkens ermöglichen soll und kann. beschaff en sind und wie fahrung des Exils wird gleichwohl nicht nur für Historiker interessant, die sich mit dem und musikalischen Werken niedergeschlagen haben, zu kurz. Diesen Jens Birkmeyer hebt die besonderen Leistungen literarisch gestalteter prägend das aus Exil und damit immer wichtiger. Nationalsozialismus beschäftigen, sie bietet auch »einen bisher nicht Unterschieden sollte mehr Beachtung geschenkt werden, ohne eine Texte hervor, die »durch Erzählung Geschichte nahebringen und zu- Shoah synthetisierte Der Band »Exil – Literatur für möglich gehaltenen Einblick in die stalinistische Justiz« (S. 43). hierarchisierende Wertung vorzunehmen. Sie sind nicht nur für den gleich durch ästhetische Distanz den Abstand zur Historie wahren« Wissen für den wissen- – Judentum« rückt eine historiographischen Status der Quellen relevant, sondern auch für die (S. 167), und demonstriert die Erschließung dieses Potenzials an ei- schaftlichen und Konstellation in den Blick, Christian Streit Fragestellungen, mit denen sie didaktisch erschlossen werden können. nem sehr anspruchsvollen Text: »Meine Ortschaft« von Peter Weiss. künstlerischen Diskurs deren drei Aspekte unter- Heidelberg Solche Überlegungen lässt auch der Überblick von Susanne In der historischen Bildungsarbeit Tätige können sich durch weit über die Nach- schiedlich akzentuiert Urban vermissen, der den Beiträgen zu den verschiedenen Gattungen diesen Band mit Materialien und Konzepten vertraut machen, die kriegszeit hinaus war. und verknüpft werden, von Zeugnissen vorangestellt ist. Sie billigt ohne nachvollziehbare vielfältige Zugänge zu der von den Betroffenen selbst geleisteten und lädt zur Beschäfti- Begründung den Status von Zeugnissen einerseits nur Äußerungen Deutung und Verarbeitung der nationalsozialistischen Verfolgungs- 1 Von der Parteikanzlei am 19.3.1945 an die Gauleiter etc. gegeben: Bundesarchiv, gung mit geschichtsträch Bundesarchiv Berlin, NS 6/v. 354, Bl. 12944-47. und Vernichtungspolitik ermöglichen. Wie Thomas Lutz (S. 55) aber tigen und aktuellen Fragen 2 Klaus-Michael Mallmann, »Der qualitative Sprung im Vernichtungsprozeß. Das zu Recht betont, wird dadurch die Aufgabe, Einsichten in deren ein. Massaker von Kamenez-Podolsk Ende August 1941«, in: Jahrbuch für Antisemi- strukturelle Voraussetzungen zu vermitteln, nicht obsolet. tismusforschung 10 (2001), S. 239. 1 Der Band kann auch von der Website der EVZ heruntergeladen werden: http:// 3 Sönke Neitzel, Abgehört. Deutsche Generäle in britischer Kriegsgefangenschaft www.stiftung-evz.de/fi leadmin/user_upload/EVZ_Uploads/Handlungsfelder/Aus- 1942–1945, erw. Taschenbuchausgabe, 4. Aufl . Berlin 2009; Felix Römer, Kame- Wolf Kaiser einandersetzung_mit_der_Geschichte_01/Bildungsarbeit-mit-Zeugnis- raden. Die Wehrmacht von innen, München 2012. Berlin sen/20150929_Zeugnisformen.pdf [4.6.2016].

82 Rezensionen Einsicht 16 Herbst 2016 83 Betreuung von »Opferzeugen« den NS-Verbrechen, der zeitgenössischen Sicht auf die psychischen Wie normal ist der Staat Israel? unter den deutschen und österreichischen Juden hatte der auf das Spätfolgen der KZ-Haft und der Spezifi k der NS-Prozesse bis zu den historische Land Israel gerichtete Zionismus wenig Fürsprecher. Ein besonderen Problemen des Zeugenbeweises in diesen Prozessen –, in prinzipielles Umdenken in den jüdischen Gemeinden lösten tragi-

einem folgenden Kapitel stellt sie die Entstehung und institutionelle sche Ereignisse aus, wie insbesondere das Pogrom von Kishinew Rahmung der verschiedenen Initiativen vor. Das zentrale Kapitel, im Jahr 1903, bei dem 49 Juden ermordet wurden. Die von Brenner Merle Funkenberg überschrieben mit »Die emotionalen Aspekte von Zeugenschaft und Michael Brenner nachgezeichneten Debatten vor allem zwischen Herzl, Achad Ha’am Zeugenbetreuung von Holocaust- Betreuung«, basiert auf Quellen der Oral History, vor allem auf Israel. Traum und Wirklichkeit des und Dubnow zeigen, dass die Besiedlung Israels nur eine Möglich- Überlebenden und Widerstandskämpfern zahlreichen Interviews, die Funkenberg mit Zeugenbetreuer/-innen jüdischen Staates. keiten war und ihre Umsetzung nicht so klar, wie sie häufi g in der bei NS-Prozessen (1964–1985). und drei noch lebenden Prozesszeugen führte. Die Autorin bleibt in Von Theodor Herzl bis heute Retrospektive erscheint. Zeitgeschichtlicher Hintergrund und der Darstellung sehr nah an ihrem eindrucksvollen Material. For- München: C.H.Beck, 2016, 288 S., Im zweiten Teil stellt Brenner die Gründungsideen der Realität emotionales Erleben schungsleitende Thesen oder Interpretationen fi nden sich wenig, € 24,95 des jüdischen Staates ab 1948 gegenüber. In den 1940er Jahren be- Gießen: Psychosozial-Verlag, 2016, dafür erfährt man viel über die Betreuer/-innen, ihre Motive, über die gegneten sich mit dem Holocaust und der Staatsgründung »Traum 371 S., € 39,90 großen Herausforderungen, die dieses Engagement mit sich brach- »Die sogenannte Normalisierung der Juden und Trauma […] in besonderer Weise« (S. 134). Die Einwanderung te, die vielen intensiven Begegnungen mit den Zeugen und deren ist von Anfang an eine tragische Illusion aus Marokko, Syrien, Irak und Iran, die von den Gründern nicht Hinter dem etwas umständlichen Titel verbirgt sich eine erziehungs- weitreichende biographische Folgen. Die Motive und Hintergründe gewesen« – dieses Zitat von Philipp Roth stellt Michael Brenner vorhergesehen werden konnte, prägte den jungen Staat ebenso wie wissenschaftliche Dissertation, mit der die Autorin sich auf die Spur der Betreuer/-innen waren höchst unterschiedlich, was in der Arbeit dem Kapitel »Das globale Israel« voran. Es drückt aus, worum es dessen Militarisierung, die Ausdruck der neuen Normalität war. In der vielen Frauen und wenigen Männer begibt, die sich aus eigener aber nur auf einer persönlich-biographischen Ebene untersucht wird. Brenner geht: die Entwicklung von den Ideen der geistigen Gründer den folgenden Jahrzehnten drehte sich die Diskussion um die Frage, Initiative der zahlreichen ausländischen »Opferzeugen« in den NS- Die Zeugen und Zeuginnen kommen zwar auch mit ihren Er- des Staates Israel bis hin zu dessen heutiger Realität zu ergründen. ob Israel ein »Musterstaat« sein und einem »höheren Zweck dienen« Prozessen annahmen. In dem hier besprochenen Zeitraum gab es für fahrungen vor den bundesdeutschen Gerichten zu Wort, im Zen- (S. 9) Über die intellektuellen »Debatten über den Charakter des (Martin Buber) müsse (S. 105 ff.). David Ben Gurion schwebte diese Zeugen, abgesehen von Hotelreservierungen, meist keinerlei trum stehen allerdings auch in ihrem Fall die Beziehungen zu den ersten jüdischen Staates in der Moderne« zeichnet er nach, wie sich ein säkularer Modellstaat als Mittler zwischen der ersten und der »offi zielle« Betreuung. Sie fanden sich – oft allein – in einem als Betreuer/-innen. Das ist ein enger Fokus, er ermöglicht aber dennoch die Idee eines jüdischen Staates im Laufe der Jahrzehnte verändert Dritten Welt vor. feindselig und furchteinfl ößend empfundenen Land wieder; mit ihren viele Einblicke in die Situation und die Erwartungen dieser NS- hat. (S. 21) Der Krieg von 1967 änderte schlagartig die Voraussetzungen. Aussagen vor Gericht standen ihnen äußerst belastende Situationen Verfolgten. So erfreulich und überraschend der Kontakt mit den Die zitatenreiche und sehr anschauliche Darstellung von fast Die Siedlerbewegung begriff sich als neue messianische Bewegung, bevor, die nicht wenige an den Rand ihrer Kräfte brachten. Betreuer/-innen für die Zeugen oft war, so ernüchternd war für sie 120 Jahren (1897 bis heute) konzentriert sich auf die Meilensteine die mit der Besiedlung des religiös-historischen Landes die überholte Eine erste Initiative zur Betreuung dieser Zeugen entstand 1964 vielfach das geringe Interesse der Öffentlichkeit und Medien an zionistischer Ideen und ihrer Realisierung. Obwohl die Juden, »nicht Kibbuzbewegung der ersten Pioniere ablösen wollte. Die Utopie während des ersten Auschwitz-Prozesses in Frankfurt am Main. den Prozessen. Ab den späten 1970er Jahren nahm das öffentliche erst seit es den Staat Israel gibt […] einen viel größeren Platz in der Gründer kehrte zurück: Die Rechte erträumte sich ein Groß- Ausgelöst durch einen Presseartikel über die Lage der ausländischen Interesse an den »Opferzeugen« zwar zu, gleichzeitig führten ihre der Vorstellungswelt ein[nehmen], als es der Realität entspricht« Israel auf biblischer Grundlage, die Linke einen »Nahen Osten mit Zeugen kam ein kleiner Kreis von Frauen und einem jungen Mann Aussagen aber immer seltener zu Verurteilungen, so dass einzelne (S. 9), gebe es bisher keine Studie zu einer permanent »unterstellten Israel als zentralem Element«. Israel wurde zur Projektionsfl äche, zusammen, die den NS-Verfolgten beistehen wollten. Es ging um Betreuerkreise den Zeugen sogar abrieten, überhaupt noch für Ge- Andersartigkeit« (S. 21). Brenners Anliegen ist es, den Diskurs über unter anderem als »Heilsbringer der Welt« für die evangelikalen Kir- einfache Hilfestellungen bei der Alltagsbewältigung, aber auch, wie richtsverfahren anzureisen. die Frage, ob Israel einzigartig oder normal sei, zu skizzieren. chen, während die UNO »Zionismus« mit »Rassismus« gleichsetzte sich schnell herausstellte, um höchst anspruchsvolle Kommunika- Trotz einiger gegenläufi ger Zitate überwiegt in der Arbeit ein Im ersten Kapitel, »Die Sehnsucht nach Normalität«, lotet er die (S. 193). tionsarbeit. Bald entstanden an vielen Orten, in denen NS-Prozesse Bild von den Zeugen als doppelter Opfer – Opfer des National- Spannung zwischen der Besonderheit der Juden in der Diaspora und Zum Schluss geht Brenner auf die Emigration junger Israelis stattfanden, ähnliche Helferkreise; teils waren es informelle Zu- sozialismus und Opfer der vielfachen Zumutungen der Gerichts- ihrem Streben nach Normalität aus. Als Ende des 19. Jahrhunderts nach Berlin ein und stellt Argumentationslinien in der Gegenwarts- sammenschlüsse, teils waren sie verbunden mit Pax Christi, der verhandlungen. Das entsprach offenbar auch häufi g dem Bild der der Antisemitismus »in großen Teilen Europas zur Staatsräson« wur- literatur, unter anderem von Philip Roth und A.B. Yehoshua, zum Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit oder dem Ro- Betreuer/-innen von den Betreuten. Dass die NS-Verfolgten oft de, sei ihre Assimilierung auf tragische Weise fehlgeschlagen (S. 17). Thema Diaspora und Israel der Gründergeneration gegenüber. In ten Kreuz. Alfons Erb, Vizepräsident von Pax Christi, war bei der sehr klare eigene Motive hatten, sich den Gerichtsverhandlungen Spätestens in den 1930er Jahren scheiterte der »einhundertfünfzig seinem Fazit betrachtet er den heutigen Konfl ikt zwischen Säkularen Initiierung von Betreuergruppen besonders aktiv. Er war motiviert auszusetzen, und dass sie manche Aspekte der Verfahren nicht nur Jahre zuvor begonnene Versuch der ›Normalisierung‹ der jüdischen und Orthodoxen in Israel – und die Kluft zwischen den beiden Paral- von einem christlichen Versöhnungsgedanken, der hier häufi g zitiert, als Last, sondern auch als Genugtuung erlebten, gerät so leicht in Geschichte« (S. 20). lelgesellschaften. In diesem Kontext äußert Brenner sich auch zum aber nicht kritisch hinterfragt wird. In mindestens 22 Städten, so Vergessenheit. Im Kapitel »Am Scheideweg« skizziert Brenner die Diskus- Nahostkonfl ikt, den er zuvor bewusst ausgeklammert hat: »Israel Funkenberg, waren Helferkreise bei der Zeugenbetreuung aktiv, Zuletzt muss angemerkt werden, dass das über weite Strecken sionen zwischen jüdischen Anführern in Osteuropa: Die Idee des als jüdischer und demokratischer Staat kann nur dann überleben, die Hunderte von Zeugen unterstützten und oft noch viele Jahre gut lesbare Buch ein gründliches, auch inhaltliches Lektorat benötigt Zionismus nahm um die Jahrhundertwende in Berlin, Wien, Basel, wenn auch den Bedürfnissen [jener] Bevölkerung Rechnung ge- mit ihnen in Kontakt blieben. Bei der schwierigen Quellenlage – hätte. Damit hätten sich etliche Fehler (etwa die Bezeichnung des Wilna und Odessa ihren Anfang, verbunden mit den drei Namen tragen wird«, die »seit einem halben Jahrhundert unter israelischer die Presse berichtete zunächst kaum und die Betreuer/-innen selbst Historikers Nikolas [sic] Berg als Angehöriger der »HJ-Generation«, Theodor Herzl, Simon Dubnow und Walther Rathenau. Alle drei Militärverwaltung leb[t]«. (S. 231) hinterließen selten Aufzeichnungen, die in Archive gelangten oder S. 51) sowie zahlreiche Redundanzen in den Zitaten vermeiden veröffentlichten im Jahr 1897 Schriften zur Zukunft des Zionismus, Brenners sehr gut lesbare Untersuchung bietet eine vorzügliche gar publiziert wurden – ist es ein großes Verdienst der Arbeit, so lassen. wobei sich ihre Wege – Nationalismus oder Sozialismus, Europa Einführung sowohl in die Vorgeschichte der Staatsgründung Israels viele Informationen über dieses weitgehend unbekannte zivilgesell- verlassen oder bleiben – grundlegend unterschieden. Eine promi- als auch in identitäre Konfl ikte in dessen heutiger Gesellschaft. schaftliche Engagement zusammengetragen zu haben. Katharina Stengel nente Gegenposition zu Herzl vertrat der in Odessa aufgewachsene Zunächst leuchtet die Autorin historische Kontexte der Zeu- Frankfurt am Main/Leipzig Dubnow: Für ihn bedeutete die Identität des Judentums Diaspora Jenny Hestermann genbetreuung aus – von den Etappen der Auseinandersetzung mit – ein geistiges Zentrum außerhalb Europas sei unvorstellbar. Auch Fritz Bauer Institut

84 Rezensionen Einsicht 16 Herbst 2016 85 Ikonografi e der Geschichte Reklame-Fetisch der Nazis ist das Hakenkreuz, das besser propagiert Verpasste Chance einer Lokalgeschichte Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Im Rundgang der Ausstellung wird als je ein Fabrik- und Handelszeichen.« (186) Nach dem Krieg des Nationalsozialismus stößt der Besucher beim Jahr 1937 auf einen kurzen Dokumentarfi lm. ging es neben der politischen auch um eine visuelle Absetzung vom Er zeigt Fußgänger und Fahrradfahrer vor der Feldherrnhalle, die

Nationalsozialismus. Transparenz und Sachlichkeit standen für die den Hitlergruß entbieten. Gerade die bewegten Bilder ziehen diese neue Demokratie. Konrad Adenauer inszenierte sich als bürgerliche Situation ins Komische, gar Groteske. Im Katalog ist ein Standbild Gerhard Paul Autorität. – »Willy wählen!« – präsentierten die Me- abgedruckt, das eine ganz andere Wirkung hat. Die Bildunterschrift Das visuelle Zeitalter. Punkt und Pixel dien als Mann zum Anfassen, und Helmut Schmidt sah sich selber Winfried Nerdinger (Hrsg.). In verrät mit keinem Wort, dass die Vorlage ein Film ist, und fragt Göttingen: Wallstein Verlag, 2016, 760 S., gerne als obersten Angestellten der Republik dargestellt. Verbindung mit Hans Günter Hockerts, nicht nach dem Urheber. So wird ein außerordentlich interessantes € 39,– Der Trend einer zunehmenden Visualisierung wurde durch die Marita Kraus, Peter Longerich sowie Exponat nicht erschöpfend ausgewertet, was schade ist. rasante Entwicklung der Fernsehtechnik weiter beschleunigt. Paul Mirjana Grdanjski und Markus Eisen Irritierend ist, dass die Quellen in den Bildunterschriften nicht stellt fest: »Mediengeschichtlich war die Bonner Republik eine Fern- München und der Nationalsozialismus. genannt werden. Sie fi nden sich im Abbildungsverzeichnis unter dem Das Buch eröffnet eine neue bei Wallstein sehnation« (441). So richtig diese Beobachtung einerseits ist, über- Katalog des NS-Dokumentationszentrums jeweiligen Archiv oder Leihgeber. Die Suche nach diesen Angaben erscheinende Wissenschaftsreihe mit dem geht Paul hier ein anderes führendes Medium, nämlich das Radio. München macht viel Mühe und erschwert die weitere Forschung. Namen »Visual History«. Visuelle Geschichte versteht sich als Von einer »Verkümmerung des Ohres« (11) zugunsten des Auges 2., durchgesehene Aufl age Der Ausstellungskatalog schildert lokale Ereignisse in Mün- Teildisziplin der Geschichtswissenschaft und vertritt die These, im 20. Jahrhundert kann keine Rede sein. Die Rundfunkansprachen München: C.H.Beck, 2015, 624 S., € 38,– chen ausgehend vom Ort der Macht, in dessen Mittelpunkt das dass unser historisches Gedächtnis heute in einem beträchtlichen Hitlers und Goebbels waren integraler Bestandteil der nationalso- heutige Dokumentationszentrum steht. Trotz vieler interessanter Ausmaß von Bildern bestimmt wird: Bilder der Macht, Bilder des zialistischen Propagandaarbeit. Und auch die Bundesrepublik der Besucher/-innen des 2015 eröffneten NS-Dokumentationszentrums Einzeleinblicke bleibt München dabei merkwürdig blass. Ein ge- Krieges, Bilder des Umbruchs. Die im Untertitel genannten »Punkt 1950er Jahre wäre ohne das Radio eine andere gewesen. Hier fand in München werden nach dem Rundgang das Bedürfnis haben, Ge- schlossenes Bild vermittelt auch der Aufsatzteil nicht. Von den und Pixel« stehen für die Urelemente der technischen Revolution, die Wiederauferstehung der bürgerlichen Öffentlichkeit in einem lesenes und halb Wahrgenommenes der textreichen Ausstellung 23 Artikeln widmen sich nur fünf explizit der Stadtgeschichte. Sie die mit dem ersten tauglichen Fotoverfahren 1839 ihren Ausgang elektronischen Massenmedium statt, das den Demokratisierungs- nachzulesen. Hierzu lädt der fast 630 Seiten starke Katalog ein. behandeln in hervorragender Weise die Entwicklung Münchens zur nahm. »Sichtbarkeit erzeugt Bedeutsamkeit« (453) heißt das Leit- prozess wesentlich beförderte. Wer ihn jedoch zur Hand nimmt, wird sich einen Kauf aufgrund des »Hauptstadt der Bewegung« und die mythische Aufl adung, die die motiv, nach dem Paul die Geschichte durchmustert. Ein Pluspunkt Im Buch folgt ein Abriss zur Fernsehgeschichte. Paul verweist Umfangs und des Gewichts zweimal überlegen. Frühzeit der NSDAP und ihrer Vorläufer dort erfuhr. Sie erzählen des Buches ist sein umfangreicher Bildteil. Zum Bestand des visu- auf den hohen Glaubwürdigkeitsfaktor, den die Bilderwelt der »Ta- Ausstellungsmacher/-innen müssen sich in der Regel entschei- plastisch von der verzögerten Auseinandersetzung der Stadt mit ellen Zeitalters gehören Gemälde, Fotografi en, Plakate, Filmstills, gesschau« über Jahrzehnte auszeichnete. Sie war die tägliche Messe den, ob sie einen »klassischen« Katalog oder eine Aufsatzsammlung ihrer NS-Geschichte nach 1945, behandeln jedoch eher kursorisch Illustrierte, Fernseh-Bilder und die Bilderfl ut der Neuen Medien. des bundesrepublikanischen Homo Politikus. Zugleich erweiterte das als Begleitbuch zum Gezeigten produzieren. In München wollte man die Rolle Münchens bei der Etablierung des NS-Terrors durch das Pauls These vom kollektiven Bildgedächtnis bestätigt sich ganz Fernsehen die Populärkultur, die die Zuschauer zur Identifi kation beides, und zwar in einem Band. Gut die Hälfte des voluminösen nahegelegene KZ Dachau, die Überhöhung der Stadt als »Hauptstadt konkret am hohen Wiedererkennungswert der von ihm präsentierten einlud. Dabei interessiert Paul besonders der Wandel der Zeigbar- Werkes gibt die Ausstellungstexte, ausgewählte Fotografi en und Do- der Deutschen Kunst« und die Spaltung der Münchner Stadtgesell- Abbildungen, man denke an die Anklagebank bei den Nürnberger keitsregeln, jener Regeln, welche die Tabugrenzen, vor allem von kumente wieder, hieran schließt sich ein Aufsatzteil mit 23 Beiträgen schaft in fanatische NS-Aktivisten und hartnäckige Anhänger des Prozessen, den Kniefall Willy Brandts in Warschau, ein Fahndungs- Sex und Gewalt, abstecken. Man denke etwa an den viel diskutierten namhafter Autor/-innen an. Den Abschluss bildet das Register mit alten kirchlich-sozialdemokratischen Milieus. Stattdessen widmet plakat der RAF oder Uwe Barschel in der Badewanne. Wer jedoch schwulen Männerkuss in der »Lindenstraße« von 1987. In der DDR Bildnachweis, Orts- und Personenverzeichnissen. sich eine Reihe sehr informativer Aufsätze überregionalen Aspekten den großen Theorieentwurf erwartet, wird enttäuscht. Dafür bleiben wäre so etwas undenkbar gewesen. Der Vergleich, den Paul zur Erst beim vertieften Studium des Katalogs wird deutlich, was für der NS-Geschichte. So ist die Münchner Geschichte zwar einge- die vielen verschiedenen theoretischen Zugriffe zu disparat. Der Fernsehkultur der DDR unternimmt, betont neben der verzögerten exquisites Material für die Ausstellung zusammengetragen wurde. bettet in aktuelle Forschungsfragen, etwa der nach dem Gleich- Autor räumt das freimütig ein: »Was wie ein Masterplan aussehen technischen Entwicklung vor allem eine gelenkte und kontrollierte Eine Aufnahme vom Mai 1933 zeigt beispielsweise ein Schild an ei- heitsversprechen der »Volksgemeinschaft«, nach der europäischen mag, ist tatsächlich keiner. Ein Projekt ergab vielmehr das nächste. Bildpolitik. Ein wirklich erstaunliches Tabu betraf die Mauer. Über nem Schaufenster mit der Aufschrift »Geschäft wegen Preiswuchers Ordnung in zwei Weltkriegen, nach der Gewalt im Nationalsozia- Das verbindende und motivierende Element war von Anbeginn an sie war ein Bilderverbot verhängt. Die Parteiführung fürchtete of- polizeilich geschlossen. Geschäftsführer in Schutzhaft in Dachau«. lismus, nach dem Zusammenhang von Verwaltung und Verbrechen, mein großes Interesse an Bildern der Geschichte.« (14) fenbar, dass der optische Eindruck der Mauer jede ideologische Eine Zeitungsanzeige des Fotogeschäfts Lindner aus dem Jahr 1935 nach Privatheit in der nationalsozialistischen Gesellschaft, nach den Die Abhandlung beginnt mit der Hochzeit der Industrialisierung Verbrämung vom antifaschistischen Schutzwall überstieg. verkündet in der Aufschrift »jetzt arisch« stolz die Übernahme der Profi teur/-innen der »Arisierungen«, nach Liedgut und Filmen im Mitte des 19. Jahrhunderts und reicht bis in die Gegenwart. Die In Zeiten des Internets sind solche Bilderverbote kaum noch Wertheimer-Optik. Die Aufnahmen von verschiedenen Wegweisern Nationalsozialismus und vielem anderen mehr. Doch die Ergebnisse Frage der Ikonografi e von Herrschaft, der bildlichen Inszenierung durchsetzbar. Die zunehmende Digitalisierung der Welt hält dafür zum Konzentrationslager Dachau wie zu einem Ausfl ugziel gehören werden nicht zurückgeführt auf den spezifi schen Münchner Fall. Vier von Politik bildet eine durchgehende Linie. Der Maler Max Kohner andere Herausforderungen bereit. Totale Sichtbarkeit birgt die Ge- ebenfalls zu den Kuriositäten der umfangreichen Dokumentation. abschließende Statements renommierter Historiker aus Israel, den brachte Wilhelm II. noch als repräsentativen Staatenlenker nach fahr allgegenwärtiger Überwachung, und die Bilderfl ut der Neuen Hier scheint sich eine Stadtgesellschaft zu präsentieren, die stolz USA, Polen und Frankreich führen ganz weg von der Besonderheit dem Vorbild Ludwig IVX. auf die Leinwand. Fotografi e und Film Medien lähmt uns mit ihrem Aufmerksamkeitsterrorismus. Gerhard darauf war, Gewalt auszuüben, und dies auch offen zeigte. Münchens und kommentieren den Umgang der Deutschen mit der aber beförderten den deutschen Kaiser bald schon zum Medienstar, Pauls abschließender Appell lautet deshalb: Es gilt kritische Distanz Ein wissenschaftlicher Katalog im engeren Sinne als Basis für nationalsozialistischen Vergangenheit. Für die Leser/-innen wären der ab 1912 regelmäßig im Kino als Attraktion der Wochenschau zu wahren! weitere Forschung ist der vorgelegte Band jedoch nur bedingt. Bei wenige Beiträge zur spezifi schen Situation Münchens ergiebiger zu sehen war. Die Nationalsozialisten mussten in Deutschland also Zeitungsartikeln, Ablichtungen von Briefen, Aufrufen, Plakaten gewesen, die es erlaubt hätten, die visuellen Quellen und die Doku- Public Relations nicht eigens erfi nden, aber sie setzten neue Maß- Monika Boll wurde wenig Wert auf die Lesbarkeit der Texte gelegt. Die Leser mente stadthistorisch einzubetten. stäbe. Das Hakenkreuz etwa funktionierte als Emblem mit hohem Düsseldorf sollen hier kein Quellenstudium betreiben, die Dokumente dienen Markenimage. Das erkannten bereits Zeitgenossen aus der Werbe- oft nur zur Illustration. In den Bildunterschriften werden wichtige Katharina Rauschenberger branche wie Ernst Growald, der 1932 anerkennend schrieb: »Der Informationen nicht gegeben, mögliche Fragen nicht beantwortet. Fritz Bauer Institut

86 Rezensionen Einsicht 16 Herbst 2016 87 Leerstellen an »Lernorten« erziehen im Kontext einer pluralen Gesellschaft. Haug orientiert Neue Institution der Erinnerungskultur Das Kapitel über Österreichs Umgang mit der NS-Vergangenheit sich an Klaus Pranges Konzept einer operativen Pädagogik, deren bietet mit der Thematik vertrauten Leser/-innen wenig Neues. Interes- Bezugspunkt im Lernen liegt und die skeptisch ist gegenüber dem sant ist jedoch, wie klar diese Geschichte als eine geglückte nachho-

Bildungsbegriff. Diese Skepsis ist jedoch bei Prange einem Mangel lende Modernisierung erzählt und wie deutlich der ÖZF darin auch als an dialektischer Refl exion geschuldet, dem die Verfasserin nichts Instrument des außenpolitischen Reputationsgewinns verortet wird. Verena Haug entgegensetzt, wenn sie sagt: »Bildung ist tendenziell immer Selbst- Günter Bischof, Barbara Stelzl-Marx, Der internationale Kontext wird hier wie im gesamten Buch aber nur Am »authentischen Ort«. Paradoxien der bildung«. (S. 93) Heinz-Joachim Heydorns Widerspruchskonzeption, Alexandra Kofl er gestreift, obwohl speziell Vergleiche zu Deutschland und zur Stiftung Gedenkstättenpädagogik in der jede institutionalisierte Bildung immer auch Herrschaft ist, Zukunftsfonds der Republik Österreich. EVZ nahelägen. Auch die Kontextualisierung innerhalb Österreichs, Berlin: Metropol 2015, 320 S., € 22,– hat darin leider keinen Platz. Die Bemerkung, dass auch Gedenk- Entstehung, Entwicklung und Bedeutung insbesondere das Verhältnis zum bereits 1995 gegründeten Österrei- stättenpädagogik »kein herrschaftsfreier Raum« sei (S. 94), erübrigt Wien u.a.: Böhlau, 2015, 284 S., € 35,– chischen Nationalfonds, das vor der Gründung des ÖZF für politische sich, wenn von einer widersprüchlichen Bildungskonzeption ausge- Diskussionen sorgte, hätte systematischer dargelegt werden können. gangen wird. Denn das Gegenteil gilt: Die Gedenkstättenpädagogik Anschaulich gelingt dagegen die Beschreibung der Strukturen Verena Haug untersucht in ihrer Dissertation ist aufgeladen mit herrschaftsförmigen, weil Anpassung fordernden Um die Jahrtausendwende wurden Staat und und Arbeitsweisen des ÖZF, der für die Projektförderung pro Jahr Strukturprobleme der Gedenkstättenpädago- Erwartungen, und sie kann ausgesprochen einschüchternd auf die Privatwirtschaft nicht nur in Deutschland, maximal zwei Millionen Euro seines Fondskapitals verbraucht – mit gik und verdeutlicht die Spannungsfelder, die sich ergeben, wenn Teilnehmenden wirken, wenn diese Erwartungen nicht selbst zum sondern auch in Österreich und anderen Ländern mit einer Welle der Folge, dass die Mittel 2015 fast aufgebraucht waren. Hieraus an den historischen Orten der NS-Verbrechen erzogen werden soll. Gegenstand der Refl exion werden. Haug betrachtet die Gendenk- von Entschädigungs- und Restitutionsforderungen konfrontiert. Im erklärt sich wohl auch der Grund für die Entstehung des Bandes, der Seit den 1980er Jahren verfügen die KZ-Gedenkstätten in der Bun- stätten als »Ressource für eine Pädagogik, die mit institutionellen Zentrum dieser primär von jüdischen Organisationen und Anwälten primär an die österreichische Politik und Öffentlichkeit gerichtet sein desrepublik über pädagogische Abteilungen, deren praktische und Mitteln nicht sanktionieren will oder kann« (S. 290). Die Einblicke aus den USA, aber auch von Regierungen und Verfolgtenverbänden dürfte, um anhand einer – in der Tat beachtlichen – Leistungsschau konzeptionelle Arbeit mit gesellschaftlichen Erwartungen an die in die Kommunikation der Teilnehmenden mit dem pädagogischen aus Ostmittel- und Osteuropa erhobenen Ansprüche standen die NS- die Notwendigkeit der Ausstattung des Fonds mit weiteren Geldern zu Wirkung dieser spezifi schen Orte konfrontiert ist, die sich in der Gedenkstättenpersonal dokumentieren die vielfältigen Facetten einer Zwangsarbeit und offene Vermögensfragen infolge des Holocaust. begründen. Im Resümee wird eine »Zukunft für den Zukunftsfonds« Funktionszuschreibung als »Lernorte« verdichtet. Welche Interak- Vermittlungsarbeit, deren Inhalte oft ganz anders angeeignet werden Es drängten aber auch politische und zivilgesellschaftliche Akteure, denn auch explizit eingefordert. Wichtig erscheint den Autor/-innen tionen und welche Formen der Kommunikation in den organisierten als erwartet. unter ihnen Historiker/-innen, auf eine materielle Anerkennung der eine Fortexistenz des Fonds nicht zuletzt mit Blick auf die Finanzie- Lernprozessen an Gedenkstätten tatsächlich stattfi nden, erkundet Mehrfach stellen sich in der Kommunikation enttäuschte Au- Verfolgung und deren weitere Aufarbeitung. Im Ergebnis kam es nicht rung von Forschung und Publikationen. Dies waren zwei der bishe- die Verfasserin anhand von 14 Veranstaltungen mit Jugendlichen thentizitätswünsche ein. Das gewollte intensive emotionale Erleb- nur zu Entschädigungszahlungen; es entstanden zugleich neue Institu- rigen Haupttätigkeiten des ÖZF, womit er auch eine Ersatzfunktion zwischen 14 und 18 Jahren an drei KZ-Gedenkstätten. Sie arbeitet nis bleibt aus. Der faktische Zustand der Gedenkstätte bietet nicht tionen, die heute in der Erinnerung an die NS-Verbrechen eine zentrale übernahm, nachdem staatliche Fördermittel gestrichen wurden. dafür mit Sequenzanalysen aufgezeichneter Gespräche. Zur struk- jene »Qualität der Anschaulichkeit von Geschichte« (S. 235), die Position einnehmen, indem sie Gedenkaktivitäten, Forschungen und Aus Sicht jener Leser/-innen, die sich für Möglichkeiten und Me- turellen Besonderheit der pädagogischen Settings gehört, dass zwei emotionales Berührtwerden sicherstellt und die für die begleitenden Bildungsprojekte fi nanzieren. Auf überstaatlicher Ebene ist hier die chanismen des Wandels von Erinnerung interessieren, erscheint das pädagogische Professionsträger aus zwei institutionellen Bezugs- Lehrer/-innen häufi g ein wesentliches Motiv für den Gedenkstät- International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) zu nennen Kapitel über die Wirkungen des Fonds sicherlich am interessantesten. systemen anwesend sind: neben dem/r Gedenkstättenmitarbeiter/- tenbesuch ist. Doch vor Ort fi nden sich »noch nicht mal Ruinen« und mit Blick auf Deutschland die Stiftung »Erinnerung, Verantwor- Das Kapitel ist jedoch eher enttäuschend, weil es aus vielen sehr lan- in meistens ein/e Lehrer/-in. An einem Ort, der in der Arbeit als (S. 237). Dieser von den teilnehmenden Schüler/-innen festgestellte tung und Zukunft« (EVZ), die neben Mitteln für Entschädigungszah- gen Zitaten Beteiligter besteht, die eigene Analysen der Autor/-innen »doppelt außerschulisch« aufgefasst wird (S. 60), weil er räumlich Mangel provoziert weitreichende Fragen an sich selbst, wie die nach lungen auch gut 350 Millionen Euro für einen auf Dauer gestellten ersetzen. Es werden zwar öffentliche Debatten oder neue Forschun- und hinsichtlich der pädagogischen Ansätze von den schulischen der Konsequenz des Wissens, wenn es keine Auswirkungen auf das Stiftungsfonds erhielt und mit dessen Zinserträgen Projekte fördert. gen genannt, Wirkungen des Fonds jedoch nicht wirklich untersucht. Leistungserwartungen und -bewertungen unabhängig ist, muss das Empfi nden hat. Einige Teilnehmende stellen sogar Analogien zu Mit dem Zukunftsfonds der Republik Österreich (ÖZF) wurde Am deutlichsten wird so noch die eher sozialpolitische Bedeutung Außerschulische immer wieder postuliert und verteidigt werden. den Abspaltungen im Alltag der Täter her und setzen sich dazu in Ende 2005 auch dort eine entsprechende Institution gegründet und mit des vergleichsweise unbürokratischen ÖZF als Versorger für die Eine Fortsetzung von Unterricht soll in der Gedenkstätte vermieden Beziehung. einem Etat von 20 Millionen Euro ausgestattet. Das Geld stammte aus große Zahl von Freiberufl er/-innen, die auf verschieden Feldern mit werden durch eine weitgehende Freiwilligkeit der Teilnahme und Die Gedenkstättenpädagogik wird in Haugs Untersuchung we- den Restmitteln des im Jahre 2000 für die Zwangsarbeiterentschädi- der NS-Geschichte und ihren Folgen befasst, denen andere Förder- durch die Übertragung der pädagogischen Verantwortung auf die der als defi zitär noch als Erfolgsmodell dargestellt, sondern in den gung gegründeten österreichischen Versöhnungsfonds. Entstehung und quellen aber oft versperrt sind. Insgesamt macht das Buch deutlich, Gedenkstättenmitarbeiter/-innen. Grenzen ihres alltäglichen Agierens mit ihren Schwächen und ein Struktur des ÖZF sowie die Förderaktivitäten und deren Wirkung sind dass der ÖZF über seine Rolle als Projektförderer in Österreich auf Verena Haug ordnet die Gedenkstättenpädagogik in die Ent- paar Stärken gezeigt. Die »Aneignung und Einordnung neu erfahre- Gegenstand des vorliegenden Buches, das anlässlich seines zehnjäh- den verschiedenen Feldern der Auseinandersetzung mit den NS- wicklungen der Geschichtsbeziehungen und Geschichtsbilder der nen Wissens« bleibt in den Veranstaltungen »stark unterbelichtet«, rigen Jubiläums von diesem fi nanziert und von drei österreichischen Verbrechen – ähnlich wie die Stiftung EVZ in Deutschland – in eine Bundesrepublik Deutschland und der DDR ein und konzentriert sich während »der Teil der Wissensvermittlung einen enormen Anteil Zeithistoriker/-innen maßgeblich auf der Basis von Interviews mit Gre- zentrale Position gerückt ist. Wer sich jedoch dafür interessiert, ob nach einer kurzen Rekonstruktion auf die nach 1990 entstandene aller Veranstaltungen einnimmt« (S. 289). Darin kommt der päda- mienmitgliedern des Fonds sowie mit Fördernehmer/-innen verfasst und wie sich durch die Entstehung dieser neuen Institutionen die »Basiserzählung« (S. 40) einer Überwindung des Nationalsozialis- gogische Wunsch nach einer kontrollierbaren Kommunikation zum wurde. Ausgehend von einer Skizze zum Wandel des österreichischen Formen und Inhalte des Gedenkens an die NS-Verfolgten oder das mus und einer nationalen Selbstvergewisserung. Da die häufi g beim Ausdruck, die an diesen Orten nicht zu haben ist. Umgangs mit der NS-Vergangenheit schildern die Autor/-innen den Verhältnis von historischer Forschung und geschichtspolitischem Besuch der KZ-Gedenkstätten erwartete Aura sich keinesfalls selbst- Entstehungskontext, die Strukturen und die Arbeitsweisen des Fonds, Interesse verändert haben, wird darauf warten müssen, dass diese verständlich einstellt, ist auch der kulturelle Verhaltenscode nicht Astrid Messerschmidt ehe die Fördertätigkeiten in verschiedenen Bereichen beschrieben Fragen in anderen Studien eingehend untersucht werden. vorauszusetzen, sondern muss erlernt werden. Die Gedenkstätten- Wuppertal werden. Es folgen ein Kapitel über die Wirkung des Fonds und ein pädagogik will erziehen, ohne zu ko ntrollieren, Wissen verbindlich knappes Resümee. Die Hälfte des Buches entfällt auf einen Anhang, Henning Borggräfe verankern, ohne Autonomie einzuschränken, sowie wertbezogen der auch eine Liste aller bis 2015 geförderten 1.370 Projekte umfasst. Bad Arolsen

88 Rezensionen Einsicht 16 Herbst 2016 89 Pädagogisches Zentrum Frankfurt am Main

Museum Judengasse Kinder- und Jugendliteratur als Lernort Zu jüdischem Leben heute www.museumjudengasse.de und Nationalsozialismus/ Holocaust Im Museum Judengasse hat die pädagogische Arbeit be- Museum Judengasse gonnen. Die Ausstellung mit ihrem Schwer- Battonstr. 47, Frankfurt am Main punkt auf der Interaktion zwischen jüdischer Termin nach Absprache Minderheit und christlicher Mehrheit bewährt sich als Lernort ebenso wie als ästhetische Für die Auseinandersetzung Erfahrung. Das Pädagogische Zentrum bie- mit dem Nationalsozialis- tet neben den Führungen Workshops an, die mus und Holocaust erlangt die literarisch- hoffentlich bald mehr nachgefragt werden. Es ästhetische Erfahrung gerade durch das gibt unterschiedliche Angebote für die 5./6. Fehlen von Zeitzeugen eine neue Bedeutung. Pädagogisches Zentrum in Deutschland nicht anders denkbar. Die Klasse oder für ältere Schüler. Alle Work- Vorurteilsbehaftete Vorstellungen von »den Angebote und Kontakt Dominanz des Holocaust prägt die Annä- shops verfolgen das Konzept, die Ausstellung Juden« als homogene Gruppe, Bilder, welche herung an alle genannten Themen, und die- des Museums und die archäologischen Funde Jüdinnen und Juden überwiegend auf einen Schülerinnen und Schüler bei der Szenischen Lesung in der Bildungsstätte Anne Frank. Foto: Arti 49 ser eingeschränkte Blick verzerrt auch die zu erkunden, um einen interaktiven Zugang Opferstatus zwischen 1933 und 1945 redu- Das Pädagogische Zentrum Wahrnehmung der Vergangenheit. Das Pä- zu den Themen der Ausstellung zu eröffnen. zieren, sind nach wie vor wirkmächtig. Kin- Frankfurt am Main ist eine dagogische Zentrum hat die Aufgabe, diese Sie eignen sich sowohl für den Geschichts- der- und Jugendliteratur kann dabei einen Er- wurde am 13. Mai 2016 am Vormittag in Erzählungen wurden den behördlichen An- gemeinsame Einrichtung des Fritz Bauer Ins- Themen voneinander abzugrenzen, und so wie für den Religionsunterricht. fahrungsraum bieten, der diesen Stereotypen der Franz-Böhm-Schule und am Abend in gaben und den der medialen Darstellungen tituts und des Jüdischen Museums Frankfurt. zu helfen, sie genauer kennenzulernen. etwas entgegensetzt und dazu anregt, über der Bildungsstäte Anne Frank aufgeführt. gegenübergestellt. Diese Vorgehensweise Das Pädagogische Zentrum verbindet Das Pädagogische Zentrum unterstützt Normalitätsvorstellungen, Selbstverortungen Die szenische Lesung ist eine Kooperations- ermöglichte das Herausarbeiten der Diskre- zwei Themenfelder: jüdische Geschichte Schulen bei der Beschäftigung mit jüdischer und Fremdzuschreibungen nachzudenken. veranstaltung zwischen der Bildungsstätte panz zwischen subjektivem Erleiden und in- und Gegenwart sowie Geschichte und Nach- Geschichte und Gegenwart sowie bei der Prävention gegen Geplant ist, einen regelmäßigen Aus- Anne Frank, der Franz-Böhm-Schule und stitutionellen Verfahren, die nicht selten in geschichte des Holocaust. Juden und jüdi- Annäherung an die Geschichte und Nach- Radikalisierung tausch über neue Bücher zu den Themen Na- dem Pädagogischen Zentrum Frankfurt im intentionellem Rassismus gipfelten. Genau sches Leben werden als Teil der deutschen geschichte des Holocaust. Hierzu bietet es tionalsozialismus, Holocaust und jüdischem Rahmenprogramm der Ausstellung »Es sind diese Diskrepanzen bildeten das Herzstück Geschichte und Gegenwart thematisiert. Der Lehrerfortbildungen und Lehrveranstaltun- Seit 2015 ist das Pädagogi- Leben heute zu organisieren. Daher freuen wir noch zu viele Fragen offen …« (6. April bis der szenischen Lesung. Aufgrund dieser Nationalsozialismus wird vor allem unter gen an der Goethe-Universität Frankfurt, sche Zentrum in die schu- uns, wenn Sie Ihr Lieblingsbuch mitbringen! 1. Juni 2016) und wurde mit zwei Work- multiperspektivischen Auseinandersetzun- der Fragestellung der Beteiligung der Mehr- Workshops und Studientage an Schulen lische Präventionsarbeit des Staatlichen Anmeldungen und Rückfragen an Sophie shops von der Bildungsinitiative »Lernen gen ist es den jungen Frauen und Männern heitsbevölkerung an den Massenverbrechen und für Institutionen der Jugend- und Er- Schulamts mit Lehrerfortbildungen und Schmidt: [email protected] aus dem NSU« (BILAN) unterstützt. im besonderen Maße gelungen, den Bruch thematisiert. wachsenenbildung sowie themenbezogene Workshops eingebunden. Dabei hat es sich Die engagierten Auszubildenden haben zwischen der institutionellen Reaktion auf Führungen, Vorträge, Unterrichtsmaterialien als besonders nachhaltig erwiesen, Extremis- sich unter der Leitung ihrer Lehrerin, Dr. die Verbrechen und der Perspektive der Op- Das Pädagogische Zentrum bietet Fortbil- und Beratung an. Begleitend zu den aktuel- mus in seiner ganzen Erscheinungsbreite und Türkân Kanbıçak (Pädagogisches Zentrum fer und ihrer Angehörigen szenisch darzu- dungen und Workshops zu folgenden The- len Ausstellungen des Jüdischen Museums -tiefe zu thematisieren. Neben vielfältigen Den Opfern und den und Franz-Böhm-Schule), seit Januar inten- stellen. Die selbst ausgearbeitete Choreogra- men und Arbeitsbereichen: Frankfurt gibt es Fortbildungen mit Pers- biografi schen Gemeinsamkeiten extremis- Angehörigen der NSU- siv mit dem NSU-Komplex auseinandersetzt. phie bot dem Publikum eine außerordentlich › Deutsch-jüdische Geschichte im europä- pektiven für den Unterricht. tischer Radikalisierungsprozesse bietet die Das von Barbara John herausgegebene Buch ergreifende Inszenierung. Die Stimmen der ischen Kontext breite Analyse zudem die Chance, sowohl ge- Morde eine Stimme geben Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen, in Opfer und ihrer Angehörigen führten bei › Jüdische Gegenwart und Religion im Ver- Kontakt sellschaftspolitische Entwicklungen als auch Szenische Lesung über die dem die Angehörigen zu Wort kommen und den Zuschauern zu aufrichtiger emotionaler gleich Pädagogisches Zentrum Frankfurt psychosoziale Dimensionen biografi scher NSU-Mordserie ihre Perspektive darlegen, diente als wich- Betroffenheit. › Holocaust und Nachgeschichte des Nati- Seckbächer Gasse 14 Radikalisierungsverläufe von Rechts- und tigste Quelle für die Inszenierung. Die Art und Weise, wie die Schülerin- 60311 Frankfurt am Main onalsozialismus Tel.: 069.212 742 37 Linksextremisten und von politisch-religiös Die Schülerinnen und Schü- Während der schulischen Auseinander- nen und Schüler die anschließende Podi- › Antisemitismus und andere Formen des [email protected] motivierten Gewalttätern ins Visier zu neh- ler unseres Bildungspart- setzungen über den NSU wurden die zahlrei- umsdiskussion gestalteten, war ein selten Rassismus www.pz-ffm.de men. Schließlich geht es um die Stärkung von ners, der Frankfurter Franz-Böhm-Schule, chen Verwicklungen und Unklarheiten deut- zu erlebendes berufl iches Highlight für die demokratischen Haltungen. Ferner wurde das haben in eigener Choreografi e den Opfern lich herausgearbeitet. Die Stellungnahmen Lehrkraft. Die Nachhaltigkeit derartiger Die deutsch-jüdische und europäisch-jüdi- Pädagogische Zentrum zu Fachtagungen zum der NSU-Morde und ihren Angehörigen ei- der Angehörigen und ihre Darstellungen des pädagogischer Durchdringungen zielt auf sche Geschichte wird meist vom Verbrechen Umgang mit kultureller und religiöser Plu- ne Stimme gegeben. Die szenische Lesung Erlebten führten zur intensiven Durchdrin- den Kern des Bildungsauftrags, weil sich des Holocaust aus betrachtet, das ist gerade ralität im pädagogischen Alltag nachgefragt. der auszubildenden Automobilkaufleute gung des Komplexes. Diese persönlichen in dieser Auseinandersetzung die Lernenden

90 Pädagogisches Zentrum Einsicht 16 Herbst 2016 91 mit ihrer gesamten Persönlichkeit einbrin- oder Opa in Wehrmachts- oder SS-Uniform gen müssen. Dies vor allem, weil neben den schnell umgedreht wurde, wenn ich das kognitiven Segmenten die Emotionalität – Wohnzimmer betrat.« die in traditionellen Lernarrangements sel- Nach diesen sehr bewegenden Begeg- ten erreicht wird – angesprochen wird. Auch nungen organisierten die Teilnehmer selbst- wenn für die Schülerinnen und Schüler noch ständig eine ausgelassene Abschlussparty viele Fragen zum NSU offengeblieben sind, am Abend. haben sie nach eigenen Worten »viel fürs Die Sommerakademie endete am fünf- Leben und über sich selbst« gelernt. ten Tag, dem Freitag, mit einem Vortrag des Die szenische Lesung kann in Gänze Frankfurter Psychoanalytikers Dr. Werner auf YouTube angesehen werden: Bohleber: »Nachkriegsgenerationen in https://youtu.be/PuUDl6tCaGk Deutschland im Schatten von Holocaust und Zweitem Weltkrieg«. Das Interesse an Türkân Kanbıçak diesem Thema war so groß, dass die Zeit Pädagogisches Zentrum Frankfurt nicht ausreichte, um alle Fragestellungen und Gedanken danach zu behandeln. In der anschließenden Evaluation gaben die Teilnehmenden den Veranstaltern der Standbild aus dem Film IM LABYRINTH DES SCHWEIGENS. Im Vordergrund Oberstaatsanwalt a.D. Gerhard Wiese in Besuch der Ausstellung des Fritz Bauer Instituts und des Jüdischen Museums Frankfurt »Fritz Bauer. Der »Im Labyrinth des einem kurzen Gastauftritt als Komparse, dahinter Alexander Fehling als junger Staatsanwalt Johann Radmann. Staatsanwalt – NS-Verbrechen vor Gericht« im NS-Dokumentationszentrum Köln. Foto: Werner Lott Tagung ein durchweg positives Feedback, Schweigens« man wünschte sich weitere Veranstaltungen dieser Art. Gerade die Vielfältigkeit der The- Jüdische Perspektiven auf Leiter der Abteilung Archiv und Bibliothek Zeitungsartikel der Jüdischen Allgemeinen Höhepunkt des Nachmittags war das wurden in der Shoa ermordet. Shimon Ajn- men und Präsentationsformen dieser Som- Nachkriegsdeutschland am Fritz Bauer Institut. Zu dem Film wa- zwischen 1946 und 1965 und präsentierten anschließende Zeitzeugengespräch mit wojner, der 1950 in Föhrenwald geboren merakademie hat sowohl den Teilnehmern ren auch die Senioren der Budge-Stiftung ihre Ergebnisse am Abend. Am Nachmittag Majer Szanckower, Shimon Ajnwojner und wurde, erinnert sich, dass seine Eltern ihm als auch den Moderatoren wertvolle Impulse Bericht von der Sommerakademie eingeladen worden, die dieses Angebot in- stellte Dr. Kirsten Heinsohn von der For- Sammy Weinberger. Ihre ergreifenden Er- zu Beginn den Umgang mit Nichtjuden für die Weiterarbeit und Beschäftigung mit der Bildungsabteilung des Zentralrats teressiert und in großer Zahl annahmen. Im schungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg innerungen an das Leben im Nachkriegs- untersagten. Später durfte er zu Geburts- dem Thema gegeben. der Juden in Deutschland und des Anschluss entspann sich eine sehr lebhafte ihr Thema »Wiederaufbau, Verwestlichung, deutschland ließen keinen Zuhörer kalt. Alle tagsfeiern seiner Mitschüler gehen: »Und Pädagogischen Zentrums Frankfurt Diskussion mit dem Oberstaatsanwalt a.D. Konservatismus: Die Bonner Republik von drei eint eine gemeinsame Erfahrung: Sie jedes Mal konnte ich beobachten, wie das Manfred Levy Gerhard Wiese, dem letzten noch lebenden 1949–1969« vor. Im Anschluss wurde der haben nach Kriegsende Monate, sogar Jahre aufgestellte Foto im Goldrahmen mit Vater Pädagogisches Zentrum Frankfurt Die Sommerakademie der Ankläger im Frankfurter Auschwitz-Pro- Film DER STAAT GEGEN FRITZ BAUER (D 2015, im Auffanglager für sogenannte Displaced Bildungsabteilung des Zen- zess. Seine klaren Erinnerungen an diese Regie: Lars Kraume) gezeigt. Auch hier gab Persons (DP), dem DP-Lager Föhrenwald tralrats der Juden in Deutschland wurde in Zeit gaben den Teilnehmern einen faszinie- Werner Renz die Einführung und leitete die in der oberbayerischen Stadt Wolfratshau- diesem Jahr erstmals gemeinsam mit dem renden Einblick in den Ablauf dieses Frank- anschließende spannende Diskussion. sen, verbracht, ehe sie und ihre Familien Pädagogischen Zentrum Frankfurt veran- furter Jahrhundertereignisses. Am Donnerstag referierte Dr. Mir- Wohnungen im Frankfurter Ostend bezo- staltet. Vom 11. bis 15. Juli 2016 wurde Am nächsten Tag fuhr die Gruppe nach jam Wenzel, die Direktorin des Jüdischen gen. »Wie konnten sich Juden damals in den Teilnehmerinnen und Teilnehmern ein Köln, wo sie ein interessantes Tagespro- Museums Frankfurt, über das Thema »Der diesem moralisch wie materiell zerstörten abwechslungsreiches Programm geboten. gramm erwartete. Zunächst führte Kuratorin Auschwitz-Richter züchtigt, der Auschwitz- Deutschland etablieren?«, war eine der vie- Die meisten Veranstaltungen fanden in der Monika Boll durch die Ausstellung »Fritz Dichter sollte erziehen«. Sie spiegelte ju- len Fragen an die Zeitzeugen. »Wir waren Budge-Stiftung statt, die teilnehmenden jüdi- Bauer. Der Staatsanwalt – NS-Verbrechen ristische Verfahren jener Zeit anhand von nicht in Deutschland, wir haben exterritorial schen Studierenden waren im Mediacampus vor Gericht« im NS-Dokumentationszen- Beispielen aus Film, Theater und Literatur gelebt, hatten keinen Kontakt zu den Ein- Frankfurt untergebracht. Organisiert wurde trum Köln. Ein reichhaltiges Mittagessen der sechziger Jahre. Im Anschluss besuchte heimischen«, beschrieb Majer Szanckower die Sommerakademie von Dipl.-Päd. Sabena in der Jüdischen Synagogengemeinde Köln die Gruppe das Museum Judengasse. Hier die Situation im DP-Lager. »Wir sprachen Donath und Prof. Dr. Doron Kiesel von der schloss sich an. Am Nachmittag geleitete ein führte Mirjam Wenzel die Gruppe unter der dort kein Deutsch, jiddisch war unser All- Bildungsabteilung des Zentralrats und von Stadtrundgang durch das »Jüdische Köln«. Thematik »Formen des Gedenkens« durch tag.« Sammy Weinberger spricht von seinem Manfred Levy vom Pädagogischen Zentrum. Der Mittwochvormittag war der The- die neu gestaltete Ausstellung. Im Anschluss Schmerz, wenn er andere über ihre unbe- Den Einstieg in die Thematik bot matik »Dokumente und Zeugnisse der Nach- gab Majer Szanckower, der Verwalter des schwerte Jugend erzählen hört: »Das kann der Film IM LABYRINTH DES SCHWEIGENS kriegszeit aus jüdischer Perspektive« gewid- Neuen Jüdischen Friedhofs in Frankfurt, ei- ich kaum ertragen. Ich hatte nie eine Kind- (D 2014, Regie: Giulio Ricciarelli) mit einer met. Die Teilnehmer recherchierten und ne Einführung in die Geschichte des alten heit, meine Eltern habe ich nie kennenge- Einführung von Werner Renz, dem früheren analysierten in Gruppenarbeit ausgewählte jüdischen Friedhofs in der Battonnstraße. lernt.« Siebzig seiner Familienangehörigen Die Kuratorin Monika Boll (3. v. l.) führt durch die Fritz-Bauer-Ausstellung. Foto: Werner Lott

92 Pädagogisches Zentrum Einsicht 16 Herbst 2016 93 Nachrichten und Berichte Information und Kommunikation

Sieben handgeschriebene Taschenka- erstmals negativ und verächtlich gegenüber war mit sich und seiner Existenz im Unter- Gitta Stammer nach wie vor die Versorgung lender7 Mengeles der Jahre 1962, 1963, Juden und jüdischen Politikern, denen er die grund gänzlich unzufrieden. Ein Eintrag vom Mengeles, jedoch kam sie nur noch selten 1966, 1967, 1970, 1973 und 1975 sowie Schuld am weltpolitischen Ungleichgewicht 20. Januar 1973, in der Mengele seine Situa- vorbei, was Mengeles Gefühl der sozialen einzelne Notizblöcke liegen im Archiv des gab.11 Aussagen, Mengele sei in erster Linie tion als »erbärmlich« bezeichnet, macht dies Isolierung verstärkte und seinen mentalen Fritz Bauer Instituts vor. Sie sind die Grund- Wissenschaftler und kein Antisemit oder Na- deutlich.16 Neben seinem Leben im Versteck Zustand verschlechterte.22 lage des vorliegenden Archivberichts, der tionalsozialist gewesen12, lassen sich nach und seiner ständigen Angst vor Verrat und Eine Beschreibung der Person Josef einen Einblick in das Leben Mengeles nach Kenntnis der Quelle nicht bestätigen. Zwar Verfolgung bereitete ihm die fi nanzielle Situ- Mengeles ist nach Durchsicht seiner Taschen- 1945 bieten soll. erwähnt Mengele in keinem der uns vorlie- ation häufi g Sorgen. Unter seiner schlechten kalender noch immer schwierig. Aufschluss- Josef Mengele hielt über mehrere Jahre genden Taschenkalender seine Vergangen- wirtschaftlichen Lage litt auch die Beziehung reich jedoch sind die Einträge im Hinblick hinweg akribisch genau seine Gedanken und heit in Auschwitz, dennoch äußert er einen Mengeles zu Geza und Gitta Stammer. Men- auf seine Gefühlswelt, sein ausgeprägtes Mit- Tagesabläufe in Taschenkalendern fest. Die Gedanken, welcher der Vermutung entge- gele kritisiert die Eheleute häufi g für ihre »fi - teilungsbedürfnis und seine Intelligenz. Die offensichtlich für den privaten Gebrauch be- genwirkt, Mengele sei von der nationalsozi- nanzielle Verschwendung« und empfand sich Lektüre machte zudem deutlich, wie unfähig stimmten Einträge geben sowohl Aufschluss alistischen Ideologie des »Dritten Reiches« von ihnen betrogen und ausgenutzt.17 Zudem Mengele war, seine eigenen menschlichen über alltägliche Ereignisse wie auch über unbeeindruckt geblieben.13 So hielt er am gab er ihnen die Schuld an seiner Isolation, Fehler zu erkennen und die Schuld bei sich Mengeles mentale und psychische Verfas- 28. November 1975 einen Gedanken fest, in die er als ihr Mittel betrachtete, ihn gefügig selbst zu suchen. Überraschenderweise zeigen Aus dem Institut aberkannt worden waren,2 musste sich für sung. Zudem verweist er häufi g auf seine Lek- dem er Adolf Hitlers Politik der Judenverfol- zu machen.18 die Taschenkalender auch Mengeles mensch- seine Taten nie vor Gericht verantworten. türe, die er kritisch refl ektiert und die er mit gung mit der Reformation der katholischen Insgesamt gesehen führte Mengele ein liche Seite, die angesichts der Schrecken und Die Taschenkalender Noch vor der Befreiung des Lagers Ausch- Korrekturen und Kommentaren versah. Auch Kirche durch Martin Luther verglich: bescheidenes Leben im Verborgenen. Um Qualen, die er während seiner Zeit in Ausch- des Josef Mengele witz durch sowjetische Truppen im Januar Freunde wie Geza und Gitta Stammer8, ein »Gedanke: Ad. H. ist im gleichen Sin- nicht aufzufallen, pfl egte er trotz seines Bil- witz verursacht hatte, verständlicherweise Ein Archivbericht 1945 fl oh Mengele, um der Internierung zu Ehepaar, das in Brasilien lebte und Mengele ne ein Retter des Judentums, indem er dem dungs- und Berufsstandes einen unterdurch- häufi g außen vor gelassen wird. Der Kon- entgehen. Zwar geriet er kurz darauf, im Juni bei sich aufnahm, wie auch seinen Freund zionistischen Gedanken enormen Auftrieb schnittlichen Lebensstil, erhielt nur geringe takt zu seiner Familie war Mengele äußerst 1945, in amerikanische Gefangenschaft, je- Wolfram Bossert9 erwähnt er mehrfach. gegeben hat, wie Nietzsche Luther als den fi nanzielle Unterstützung19 und war gänzlich wichtig und vor allem der zurückhaltende Das Ende des Zweiten Welt- doch gelang es ihm, bereits im August 1945 Der als akribisch und zielstrebig be- Mann bezeichnet, der durch seinen Kampf von dem Wohlwollen seiner Freunde abhän- und zum Teil über längere Zeit ausbleibende kriegs jährte sich im Mai unter einem Decknamen seine Freilassung zu schriebene Mengele war ohne Frage ein gegen die Verwahrlosung der kath. Kirche, gig. Zudem litt er unter gesundheitlichen Briefkontakt zu seinem Sohn Rolf und seinem 2015 zum 70. Mal und immer noch beschäf- erwirken.3 Seine Flucht führte ihn in die Nähe sehr belesener und intelligenter Mann. Er diese zu Reformen und Säuberungen zwang, Problemen, wie immer wiederkehrende Mi- Stiefsohn und Neffen Karl Heinz Mengele tigen Verfahren gegen Auschwitz-Täter die seiner Heimat in Bayern und schließlich 1949 interessierte sich sehr für das weltpolitische was ihr Überleben garantierte.«14 gräneanfälle und starke Rückenschmerzen. beschäftigten ihn sehr.23 Trotz seines beschei- deutsche Justiz. Josef Mengele war Teil der mit Hilfe eines gefälschten Passes von Italien Geschehen, für Literatur und Philosophie. Er Äußerungen zu seiner eigenen national- Tagelang war er bettlägerig.20 Im Verlauf der denen Lebensstils erging es Mengele im Exil Mordmaschinerie des Konzentrations- und nach Südamerika.4 verfügte über ein breites historisches Wissen, sozialistischen Vergangenheit fehlen jedoch Jahre verschlechterte sich der Zustand Men- verhältnismäßig gut. Er verbrachte neben sei- Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. Josef Mengele starb im Februar 1979 in und durch den Zugang zu deutschen Medien vollkommen, und auch die ersten Jahre nach geles ebenso wie das Verhältnis zu seinen ner Arbeit am Haus viel Zeit mit Freunden In den Erinnerungen von Überlebenden ist einem kleinen Badeort in Brasilien. Er hatte wie dem Spiegel oder der Illustrierten Stern dem Krieg bleiben unerwähnt. Mengele selbst Freunden. Während er zuvor seine Geburts- und führte ein recht normales Leben. Trotz Mengele allgegenwärtig. Manchmal will es im Wasser einen Hirnschlag erlitten und war war es ihm möglich, das politische Weltge- schrieb am 22. April 1975, er habe »sehr viel tage, Weihnachten und Silvester mit seinen seines Misstrauens und der ständigen Angst bei der Lektüre von Zeugnissen scheinen, ertrunken.5 Doch was tat Josef Mengele in schehen zu verfolgen.10 In diesem Zusam- verdrängt«, weshalb die Erinnerungen an die- Freunden verbrachte und selbst Freizeit- vor Verfolgung kam es ihm niemals in den als projizierten die wenigen Davongekom- den 30 Jahren, während er in Südamerika menhang äußerte sich Mengele 1973 auch se Zeit »schwach und z.[um] T.[eil] gelöscht« aktivitäten wie Kinobesuche nachzugehen Sinn, sich zu stellen und sich doch noch für men alles Erlittene auf den Mann, der von untergetaucht war? Dieser Frage versuchten wären.15 Der einst von sich und seiner Bedeu- vermochte21, änderte sich diese Situation seine Taten im »Dritten Reich« zu verantwor- der deutschen Justiz trotz aller Anstrengun- Wissenschaftler, Juristen und Medien bereits tung als Wissenschaftler überzeugte Mann im Laufe der 1970er Jahre drastisch. Die ten. Reue und Einsicht fehlten Mengele bis gen nie aufgespürt werden konnte. zu Mengeles Lebzeiten nachzugehen, aber Familie Stammer war im Februar 1975 nicht zum Schluss vollkommen. Josef Mengele beteiligte sich in seiner erst die Entdeckung seines Grabes 1985 7 Überraschenderweise handelt es sich bei dem länger bereit gewesen, mit Josef Mengele Funktion als leitender Lagerarzt an dem Mas- und die bei Mengeles Vertrauten entdeck- Kosmos-Kalender für das Jahr 1970 um ein deut- zusammenzuleben. Zwar gewährleistete Jana Lösch sches Exemplar, während es sich bei den übrigen senmord und machte sich darüber hinaus die ten Taschenkalender trugen sein Leben nach 11 Ebd., 7.11.1973 u. 6.12.1973. Rüsselsheim Kalendern um portugiesische Ausgaben handelt. 6 12 Zdenek Zofka, »Der KZ-Arzt Josef Mengele. Zur hilfl ose Lage der Lagerinsassen zu Nutze, um Auschwitz an die Öffentlichkeit. 8 Er kürzt die Namen seiner Freunde stets ab, Geza Typologie eines NS-Verbrechers«, in: Vierteljahrs- an ihnen Experimente »im Namen der Wis- und Gitta Stammer beispielsweise mit »Ge.« und Dieser Archivbericht von Jana Lösch ist im Rahmen hefte für Zeitgeschichte, Jg. 34 (1986), H. 2, 16 Ebd., 20.1.1973. »Gi.«. ihres Praktikums am Fritz Bauer Institut entstanden. senschaft« durchzuführen. Doch der als »To- S. 264 f. 17 Ebd., 30.4.1973 u. 21.12.1975. 9 Wolfram Bossert und seine Frau Liselotte Bossert desengel« bekannt gewordene Mediziner,1 13 Zu diesem Schluss kommt auch die StA Frankfurt, 18 Ebd., 18.10.1973 u. 8.3.1973: »Was meine Feinde 2 Schlussakte »Josef Mengele« Staatsanwaltschaft waren enge Freunde Mengeles und sorgten nach die in ihrer Abschlussakte vermerkt, dass Mengele nicht erreichten, werden meine Freunde zu Wege dessen Doktortitel ihm 1994 durch die Uni- (StA) Frankfurt, vom 14.7.1986, S. 32. dessen Tod für seine Bestattung unter dem Deckna- »Zeit seines Lebens in nationalsozialistischen, so- bringen.« versitäten Frankfurt am Main und München 3 Unter dem Decknamen »Fritz Hollmann« konnte men »Wolfgang Gerhard«, in: Schlussakte »Josef zialdarwinistischen und rassistischen Vorstellungen 19 Die Familie Mengele in Deutschland war bedacht, Mengele seine Freilassung erwirken, ebd., S. 35 f. Mengele«, 14.7.1986, S. 14 f. befangen blieb«. In: Schlussakte »Josef Mengele«, keine Aufmerksamkeit durch größere Geldtransfers 4 Als »Helmut Gregor« schaffte er die Überreise 10 Taschenkalender Josef Mengele [u.a.] 25.8.1970 S. 30. zu erregen. In: Schlussakte »Josef Mengele«, S. 56. 22 Ebd., 13.4.1975. nach Argentinien, ebd., S. 37. und 19.3.1973. Neben Zeitungen bekam er des Öf- 14 Taschenkalender Josef Mengele, 28.11.1973. 20 Taschenkalender Josef Mengele, 25.4.1963. 23 Ebd., 21.8.1975 und Notizblock Mengeles, Brief 5 Ebd., S. 39. teren auch Zeitschriften wie Readers Digest oder 15 Ebd., 22.4.1973. 21 Taschenkalender Josef Mengele, 9.1.1970. an Karl-Heinz [Datum unbekannt]. 1 Siehe z. B. Time vom 20.5.1985. 6 Ebd., S. 15 u. 23. Satiremagazine, in: ebd., 11.4.1973 u. 18.1.1962.

94 Nachrichten und Berichte Einsicht 16 Herbst 2016 95 Aus dem Institut zu dem »unerschütterlichen Glauben« Fritz › Peter Feldmann, Oberbürgermeister der große Zustimmung in der Stadtgesellschaft Bauers an das Menschliche. Stadt Frankfurt am Main und wurde schließlich von Oberbürgermeis- »Nur die Spitze des › Prof. Dr. Felix Semmelroth, Dezernent für ter Feldmann zur Beschlussfassung in den Eisbergs« Inschrift der Bronzetafeln: Kultur und Wissenschaft der Stadt Frank- Magistrat eingebracht. Die Stadt Frankfurt am »Fritz Bauer war von 1956 bis zu seinem furt am Main (inzwischen aus dem Amt plötzlichen Tod hessischer Generalstaats- ausgeschieden) »Trude Simonsohn steht wie keine andere Main würdigt Fritz Bauer anwalt und begriff sich als ›Jurist aus › Prof. Dr. Raphael Gross, ehemaliger Di- Persönlichkeit in Frankfurt für Humanität, mit einem Kunstwerk im Freiheitssinn‹. Schon 1949 kehrte der als rektor des Fritz Bauer Instituts Aufklärung und eine kämpferische demo- öffentlichen Raum Sozialdemokrat und Jude von den Natio- kratische Gesinnung. Es sind Menschen wie nalsozialisten Verfolgte aus der Emigration Das Denkmal wurde realisiert in Koopera- Trude Simonsohn, die mit ihrem vorbildli- zurück. Der Aufbau einer an den Grund- tion des Fritz Bauer Instituts mit dem Kul- chen Einsatz dafür sorgen, dass Frankfurt »Sie müssen wissen, es gibt einen Eisberg, rechten orientierten Justiz, die Reform des turamt der Stadt Frankfurt am Main und dem am Main als eine Stadt wahrgenommen und wir sehen einen kleinen Teil und den Strafrechts und die Humanisierung des Magistrat der Stadt Frankfurt am Main, De- wird, in der Hass und Gewalt keinen Platz größeren sehen wir nicht.« Strafvollzugs waren seine vorrangigen zernat Kultur und Wissenschaft. haben. Sie hat sich damit bleibende Ver- Fritz Bauer, 1903–1968 Anliegen. dienste für unsere Stadt erworben.« In der Ahndung der nationalsozialisti- Peter Feldmann, Oberbürgermeister Im Rahmen einer Feierstun- schen Verbrechen sah Bauer ein Mittel zur der Stadt Frankfurt am Main de am 13. Mai 2016 wurde politischen Aufklärung. Auch mithilfe der Aus dem Institut das Fritz-Bauer-Denkmal in Anwesenheit Justiz sollten sich die Deutschen zu Demo- Trude Simonsohn wurde 1921 in Olmütz der Künstlerin Tamara Grcic eingeweiht. kraten wandeln, die Recht und Gerechtigkeit Trude Simonsohn (Mähren) geboren. Nach dem Einmarsch Platz fand das Denkmal an prominenter Stel- Oben: Um den Gedenkstein gruppiert (v. l.): die Künstlerin Tamara Grcic, Oberbürgermeister Peter Feldmann, anstreben, Toleranz und Zivilcourage leben, der Wehrmacht wurde sie in die Konzent- Werner Konitzer, Raphael Gross, Roman Poseck und Helmut Fünfsinn. Unten: die Bronzetafel. Fotos: Werner Lott Verleihung des Ehren- le vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am für Menschenrechte einstehen. Bauer brach- bürgerrechts der Stadt rationslager Theresienstadt und Auschwitz Main auf der Zeil 42. te den bedeutsamen Frankfurter Auschwitz- verschleppt. 1955 zog sie nach Frankfurt am Vor vier Jahren entstand auf Initiative In seiner Präsenz und seinem Volumen Die Materialität und Kraft des Steines, seine Prozess (1963–1965) in Gang. 8.000 Deut- Frankfurt am Main Main, wo Trude Simonsohn im Vorstand der des Fritz Bauer Instituts die Idee für ein widersetzt sich der Stein dem baulichen Form, sein Volumen, und seine Textur erzeu- sche waren in der einen oder anderen Weise Jüdischen Gemeinde für Sozialberatung und Denkmal, das an das Wirken des General- Ordnungssystem des Platzes, stellt sich der gen an diesem Ort etwas Elementares und an den Verbrechen von Auschwitz vor Ort Trude Simonsohn erhält Erziehungsberatung Verantwortung über- staatsanwalts Fritz Bauer und seine maß- Bewegung der Passanten in den Weg und Ursprüngliches. Diese sinnlich wahrnehm- beteiligt. Von bundesrepublikanischen Ge- am 16. Oktober 2016 in nahm. Seit 1975 tritt sie als Zeitzeugin in gebliche Rolle für das Zustandekommen veranlasst zum Stehenbleiben und Fragen. bare Kraft sieht die Künstlerin in Beziehung richten sind vierzig von ihnen strafrechtlich der Paulskirche das Ehrenbürgerrecht der Schulen, Jugendbegegnungsstätten, Verei- des Auschwitz-Prozesses in Frankfurt am belangt worden.« Stadt Frankfurt am Main auf Lebenszeit nen und Institutionen auf und berichtet über Main erinnern soll. Im Auftrag des Ma- verliehen. Die Stadtverordnetenversamm- ihre Erlebnisse während der NS-Diktatur. gistrats entwarf die in Frankfurt lebende Tamara Grcic wurde 1964 in München lung hatte auf Vorschlag des Magistrats in Sie ist eine unermüdliche Kämpferin gegen Künstlerin Tamara Grcic ein Kunstwerk geboren. Sie studierte an der Frankfurter ihrer letzten Sitzung einen entsprechenden Ausgrenzung, Rassismus und Diskriminie- für den öffentlichen Raum, das aus zwei Städelschule – Hochschule der bildenden Beschluss gefasst. Die Stadt Frankfurt am rung. In ihren Berichten als Zeitzeugin stellt miteinander korrespondierenden Teilen Künste bei Peter Kubelka (1988–93) und Main kann Personen, die um die Stadt be- sie die Frage, welche Konsequenzen sich besteht: einem unbearbeiteten Naturstein, Kultu ranthropologie an der Goethe-Uni- sondere Verdienste erworben haben, das aus den Verbrechen des Naziregimes für einem Metamorphit, und zwei großen Bron- versität Frankfurt am Main (1986–88). Sie Ehrenbürgerrecht auf Lebenszeit verleihen. das heutige Zusammenleben ergeben. Sie zetafeln mit einem Zitat Fritz Bauers (siehe arbeitet mit Fotografi e und Film und ist für Es ist dies die höchste Auszeichnung, die ist weit über die Grenzen Frankfurts hinaus oben) sowie einem Text zu seiner Person raumgreifende installative sowie temporä- die Stadt zu vergeben hat. Helga Dierichs, als eine unerschrockene Mahnerin für ein und seinen Verdiensten als Justizreformer re Arbeiten bekannt, mit denen sie immer Gründungsstifterin der Stiftung »CITOYEN friedliches Zusammenleben von Menschen und Initiator des Frankfurter Auschwitz- wieder in Frankfurt zu sehen ist. Zuletzt – aktiv für Bürgersinn«, und Jutta Ebeling, unterschiedlicher Herkunft und Religion Prozesses. 2015 im MMK – Museum für Moderne ehemalige Frankfurter Bürgermeisterin und bekannt. Der naturbelassene Stein wurde so in Kunst Frankfurt, wo ihr der renommierte Vorsitzende des Fördervereins Fritz Bauer den Untergrund eingelassen, dass nur seine Karl-Ströher-Preis verleihen wurde. Tamara Institut e.V., hatten sich in einem Brief an Kontakt Spitze aus dem gepfl asterten Boden ragt. Er Grcic lebt und arbeitet in Frankfurt am Main. Peter Feldmann für diese Ehrung eingesetzt. Presse- und Informationsamt der Stadt Frankfurt Römerberg 32 verweist damit auf das Zitat Fritz Bauers, Zur Einweihung sprachen: Dr. Meron Mendel, Direktor der Bildungs- 60311 Frankfurt am Main das er in einer Diskussionsrunde äußerte. › Dr. Roman Poseck, Präsident Oberlandes- stätte Anne Frank, hatte auf einer Matinee zu [email protected] Gleich einem Eisberg sieht man bei der Ahn- gericht Frankfurt am Main Ehren von Trude Simonsohns 95. Geburts- www.frankfurt.de dung der nationalsozialistischen Verbrechen › Prof. Dr. Helmut Fünfsinn, hessischer tag den Vorschlag aufgegriffen und nach- immer nur einen kleinen Teil. Generalstaatsanwalt drücklich unterstützt. Die Initiative fand

96 Nachrichten und Berichte Einsicht 16 Herbst 2016 97 Aus dem Institut Aus dem Institut Aus dem Förderverein Die Holocaust-Professur ist angesiedelt am Fachbereich Philosophie und Geschichts- Neue wissenschaftliche recensio.net Neue Holocaust-Professur wissenschaften der Goethe-Universität Mitarbeiter Rezensionen aus und Institutsleitung Frankfurt am Main. Es ist dies der erste Ho- Archiv und Bibliothek Einsicht online Sybille Steinbacher locaust-Lehrstuhl in Deutschland! Aufgabe der Professur ist die umfassende historische auf Platz eins der Erforschung der nationalsozialistischen Mas- Seit Anfang Juli hat das www.recensio.net/rezensionen/ Berufungsliste senverbrechen – insbesondere des Holocaust Institut zwei neue wissen- zeitschriften/einsicht – und ihrer Wirkungen bis in die Gegenwart. schaftliche Mitarbeiter: Johannes Beermann Die letzten Monate waren Ermöglicht wurde die Einrichtung der Pro- und Josefi ne Ruhe übernehmen das Arbeits- Alle im Bulletin des Fritz Bauer geprägt durch die Kommis- fessur durch das Engagement des hessischen feld von Werner Renz, der seit 1. April 2016 Instituts veröffentlichten Rezensionen (ab sionsarbeit zur Besetzung der neu einzurich- Wissenschaftsministers Boris Rhein (CDU) im Ruhestand ist, dem Institut als freier Mit- Einsicht 13, Frühjahr 2015) sind jetzt auch tenden Frankfurter Holocaust-Professur, die und die Selbstverpfl ichtung des Landes Hes- arbeiter jedoch erhalten bleibt. auf recensio.net – Rezensionsplattform für verbunden sein wird mit der Leitungsposi- sen, die Finanzierung der Professur mit jähr- die europäische Geschichtswissenschaft zu tion des Fritz Bauer Instituts. In der Beru- lich 150.000 Euro zu übernehmen. Johannes Beermann fi nden. Sie sind dort als einzelne pdf-Datei- fungskommission war ich als Vorsitzende Wir sind zuversichtlich, dass nachdem Archiv und Dokumentation en frei abrufbar. des Stiftungsrats des Fritz Bauer Instituts der Ruf an Prof. Dr. Sybille Steinbacher Studium der Geschichte an den Universi- mit beratender Stimme vertreten. durch die Universitätspräsidentin Prof. Dr. täten Bielefeld und Bremen; 2010–2014 Die Berufungskommission hat Ende Birgitta Wolff erfolgt ist, die Professur und Archivar im Archiv der Stiftung für Sozi- Johannes Beermann, Archiv, und Josefi ne Ruhe, Bibliothek. Foto: Werner Lott Juni ihre Arbeit abgeschlossen, der Fach- Institutsleitungsposition nach erfolgreichem algeschichte des 20. Jahrhunderts, Bremen; bereichsrat Geschichtswissenschaften, der Abschluss der Vertragsverhandlungen zeit- 2014–2016 Archivar am Universitätsarchiv Stiftungsrat des Fritz Bauer Instituts und der nah besetzt werden kann. Bielefeld, verantwortlich für Digitale Lang- Josefi ne Ruhe dieses Bulletins und hat hier insbesondere Senat der Goethe-Universität haben der von Anfang des Jahres hat der Förderver- zeitarchivierung und Archivierung audio- Bibliothek den Rezensionsteil verantwortlich betreut. der Kommission vorgeschlagenen Bewer- ein die Vortragsreihe »Grenzen, Flucht, visueller Medien; seit 2015 Doktorand am Studium der Informations- und Bibliotheks- Wir freuen uns, dass Werner Renz als berliste zugestimmt. An erster Stelle dieser Menschenrecht« angeregt, die eine Koope- Historischen Seminar der Universität Han- wissenschaften an der Hochschule Darm- freier Mitarbeiter auch weiterhin in For- Liste steht die 1966 in München geborene ration dreier unabhängiger Institute an der nover bei Prof. Dr. Cornelia Rauh, Disser- stadt, University of Applied Sciences. schungs- und Publikationsprojekte des Fritz Zeithistorikerin Prof. Dr. Sybille Steinbacher, Goethe-Universität – des Sigmund-Freud- tationsprojekt »Logistik der Ausplünderung. Bauer Instituts eingebunden sein wird. die derzeit das Institut für Zeitgeschichte der Instituts, des Instituts für Sozialforschung Die deutschen Transportunternehmer und Aufgabenbereich: Universität Wien leitet. Steinbacher ist keine und des Fritz Bauer Instituts – darstellt. Die der Raub jüdischen Eigentums in Europa. Erwerb und Katalogisierung einschlägiger Unbekannte in Frankfurt, schon im Sommer- ersten drei Vorträge während des Sommerse- 1933–1945«. Publikationen zur Geschichte und Wirkung semester 2010 hatte sie die Gastprofessur am mesters waren außerordentlich gut besucht, des Holocaust; Finanzmittelplanung und Fritz Bauer Institut inne, zudem war sie He- was uns dazu bewogen hat, die Vortragsreihe Aufgabenbereich: -verwaltung für den Arbeitsbereich Bib- rausgeberin des Jahrbuchs des Fritz Bauer fortzusetzen. Im Wintersemester 2016/2017 Kontinuierliche Weiterentwicklung und Be- liothek; Bestandsrecherche; Betreuung der recensio.net ist eine europaweit ausgerichte- Instituts 2012: Holocaust und Völkermor- wird es drei weitere Vortragstermine geben, treuung des Archivs des Fritz Bauer Insti- Bibliotheks-EDV; Nutzerberatung; Öffent- te, mehrsprachige Plattform für Rezensionen, de. Die Reichweite des Vergleichs (Frank- die jeweils von einem der drei Institute aus- tuts; Dokumentation der Arbeit des Instituts; lichkeitsarbeit und konzeptionelle Weiter- die dem Open-Access-Gedanken verpfl ich- furt am Main, New York: Campus Verlag, gerichtet werden. Die Daten entnehmen Sie Übernahme, Auswahl, Erschließung und entwicklung der Bibliotheks- und Informa- tet ist. Alle Inhalte sind dauerhaft kostenfrei 2012). Zweitplatzierter der Berufungsliste bitte den Veranstaltungsankündigungen auf Aufbereitung von Beständen, Dokumen- tionsdienstleistungen. zugänglich. Die Navigationssprachen der ist der amerikanische Historiker Prof. Dr. S. 8. ten und Informationen; Konzeption, Gestal- Werner Renz Plattform sind Englisch, Deutsch und Fran- Alan E. Steinweis, Professor of History and Der Vorstand freut sich, dass der För- Foto: Werner Lott tung und Organisation von Informations- Werner Renz zösisch. Rezensionen können in allen europä- Miller Distinguished Professor of Holocaust derverein viele neue Mitglieder begrüßen systemen; Digitalisierung von Beständen, Freier wissenschaftlicher Mitarbeiter ischen Sprachen verfasst sein. Die Plattform Studies an der University of Vermont. Auf kann. Zur angestrebten Überschreitung der Erhaltung und Pfl ege bereits digitalisierter Werner Renz war seit der Gründung des Kontakt hat den Anspruch, die aktuellen Bewegungen Platz drei der Liste steht der renommierte Schwelle von 1.000 Mitgliedern fehlt uns Bestände und von born-digitals; Dokumen- Fritz Bauer Instituts im Jahr 1995 als wis- Johannes Beermann auf dem geschichtswissenschaftlichen Neu- Historiker Prof. Dr. Dieter Pohl, Professor nur noch eine geringe Anzahl Neueintrit- Tel.: 069.798 322-25 tation der aktuellen Strafverfahren gegen senschaftlicher Mitarbeiter mit Aufbau und [email protected] erscheinungsmarkt zu spiegeln und zu bewer- für Zeitgeschichte an der Universität Kla- te. Bitte helfen Sie mit, durch Werbung bei NS-Täter; Betreuung und Beratung von Leitung des Archivs und der Bibliothek be- Josefi ne Ruhe ten. recensio.net ist ein Gemeinschaftsprojekt genfurt. Insgesamt hatten sich 25 namhafte Freunden und Bekannten dieses Ziel zu er- Archivbesucher/-innen (auch in Hinblick traut. Mit seiner Expertise zu Fritz Bauer Tel.: 069.798 322-45 der Bayerischen Staatsbibliothek München, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler reichen! auf andere Archive und themenähnliche wis- und den Frankfurter Auschwitz-Prozessen [email protected] des Historischen Instituts der Universität zu aus dem In- und Ausland auf die Holocaust- Werner Renz senschaftliche Einrichtungen); Beantworten hat er wesentlich zur Profi lbildung des Insti- Tel.: 069.798 322-43 Köln und des Leibniz-Instituts für Europäi- Professur beworben, die zugleich die Direk- Jutta Ebeling historischer Anfragen. tuts beigetragen. Er war Redaktionsmitglied [email protected] sche Geschichte Mainz. tion des Fritz Bauer Instituts innehaben wird. Vorsitzende des Fördervereins

98 Nachrichten und Berichte Einsicht 16 Herbst 2016 99 ConAct-Fachtagung: Welche Aspekte von Diversität und Vielfalt »Living Diversity in Germany and kennzeichnen aktuelle zivilgesellschaftli- Israel – Challenges and Perspectives che Diskurse in Deutschland und Israel? for Education and Youth Exchange« Wie sehen Ansätze diversitätsbewusster, demokratiefördernder pädagogischer Ar- 14. bis 16. November 2016, Luther-Hotel, beit aus? Welche Unterschiede, welche Neustr. 7–10, Lutherstadt Wittenberg Ähnlichkeiten und Anknüpfungspunkte Das Leben in offenen und demokratischen ergeben sich dabei für bilaterale Koopera- Gesellschaften ist seit Jahrzehnten ein tionen? Zur Diskussion dieser Fragen lädt wichtiges Thema in deutsch-israelischen ConAct zu einer Deutsch-Israelischen Ta- Bildungs- und Austauschprogrammen. Ge- gung für Fachkräfte der Austausch- und rade vor dem Hintergrund der Geschichte Bildungsarbeit ein, die auch das 15-jährige Aus Kultur und Wissenschaft Eröffnungsvortrag des israelischen Soziolo- dreistündige Workshop im Ausstellungspro- von Nationalsozialismus und Shoa hat die Bestehen von ConAct und die Zusammenar- gen Natan Sznaider (Academic College of jekt »7x jung«, einem Trainingsplatz für Zu- Auseinandersetzung mit Phänomenen von beit mit der Israel Youth Exchange Authority Fachkräftetreffen in Berlin Tel Aviv) über »Societies and Cultures of sammenhalt und Respekt (www.7xjung.de). Ausgrenzung und Diskriminierung, mit zum Anlass hat. Gelebte Vielfalt – Pädago- Israel«. Sznaider gab einen inspirierenden Bei Gesprächen mit den pädagogischen Rassismus und Antisemitismus einen festen und wohl strukturierten Einblick in Zustand Mitarbeitern von KIGA, der Kreuzberger Platz in der gemeinsamen Jugend- und Bil- ConAct – Koordinierungszentrum gische Herausforderungen Deutsch-Israelischer Jugendaustausch und Genese der israelischen Gesellschaft, Initiative gegen Antisemitismus (www.kiga- dungsarbeit. Gleichzeitig nehmen aktuelle Altes Rathaus – Markt 26, 06886 Lutherstadt Wittenberg im deutsch-israelischen die er als eine »multi-folkloristic society« berlin.org), wurde deren aktuelles Projekt, Herausforderungen des Zusammenlebens Tel.: 03491.4202-60, Fax: -70 Jugendaustausch beschrieb. Den zweiten Impulsvortrag hielt die Entwicklung einer mehrsprachigen, in- links: Diskussionskreis der TagungsteilnehmerInnen, in kultureller, religiöser, etnischer, sozialer, [email protected], www.conact-org.de oben: Präsentation von Mazal Pikado (r.) zur Eike Trotter, Trainer für interkulturelle und teraktiven Wanderausstellung zur Vielfalt »Operation Moses«, Fotos: Werner Lott; unten: sexueller oder anders ausgelebter Vielfalt Israel Youth Exchange Authority Vom 22. bis 26. August 2016 soziale Gerechtigkeit, zu den Aspekten von jüdischen Lebens in Berlin, vorgestellt. Die Gruppenbild zum Tagungsabschluss, Foto: ConAct in den unterschiedlichen Kontexten der 11 Asparagus St., Tel Aviv 67949, Israel trafen sich 20 Fachkräfte aus Vielfalt und ihren Implikationen für die in- Ausstellung will sich der Herausforderung deutschen und israelischen Migrationsge- Tel.: +972 (0)3.6969-390, Fax: -382 Deutschland und Israel in Berlin zu einem ternationale Jugendarbeit. Er plädierte für stellen, die kritische Auseinandersetzung sellschaften zu. Es ist an der Zeit, pädagogi- Informationen und Beratung zum deutsch-israeli- intensiven Austausch im Rahmen des Projek- einen bewussten Umgang mit den vielfäl- mit Antisemitismus, Judentum, Holocaust Das Projekt »Living Diversity« sche Strategien und Konzepte gemeinsam zu schen Jugendaustausch erhalten Sie auch von: tes »Living Diversity in Germany and Israel tigen Möglichkeiten individueller Lebens- und Israel insbesondere in migrantisch Das Projekt »Living Diversity in Germany and refl ektieren und weiterzuentwickeln, um das Werner Lott, Fritz Bauer Institut Tel.: 069.798 322-38, Fax: -41 – Challenges and Perspectives for Education entwürfe und Selbstwahrnehmungen als und/oder muslimisch geprägten Milieus zu Israel – Challenges and Perspectives for zivilgesellschaftliche Leben für ein soziales [email protected] and Youth Exchange«. Das Projekt »Living pädagogische Herausforderung. fördern. Als dritte Einrichtung wurde das Education and Youth Exchange« verfolgt das und gleichwertiges Miteinander zu stärken. www.fritz-bauer-institut.de/youthexchange.html Diversity« hat den Aufbau eines deutsch- Zunächst in Kleingruppen und dann im Projekt »diversity Box« (www.diversitybox. Ziel, ein Netzwerk von Trägern und Fachkräf- israelischen Bildungsnetzwerks zum Ziel, Plenum gab es Gelegenheit zum Austausch jugendkulturen.de) besucht, das sich die ten der außerschulischen Jugendarbeit beider welches das Bewusstsein für gelebte Viel- von Methoden für eine diversitätsbewuss- Förderung der Akzeptanz und Anerkennung Länder aufzubauen, um die Themen Diver- falt vor dem Hintergrund von Herkunft und te Bildung. Dabei wurden einfache, aber von sexueller Vielfalt zum Ziel gesetzt hat. sität und Vielfalt verstärkt in den Blick zu diversifi zierter Lebensentwürfe in beiden effektive Arbeitspraktiken vorgestellt, wie Beim Abschlussplenum waren sich alle nehmen. Dabei will es einen Refl exionsrah- Ländern fördern sowie das Eintreten für de- »Diversity Writing« (Sara Spring, Aktion Teilnehmenden einig, eine Bereicherung für men bieten für eine diversitätsbewusste und mokratische Werte in der Jugendarbeit und Sühnezeichen Friedensdienste), eine Ver- ihre Arbeit erfahren und ihr Wissen vertieft diskriminierungskritische Bildungsarbeit. in Austauschprojekten stärken möchte (mehr bindung von kreativem und biographischem und erweitert zu haben. Wichtig war auch Zudem soll zu dieser Thematik ein pädago- zum Projekt auf S. 101). Zur Tagung eingela- Schreiben, das den Austausch individueller das Knüpfen neuer Kontakte. Besonders her- gisches Trainingsprogramm für Multiplika- den hatte ConAct – Koordinierungszentrum Erfahrungen von Vielfalt und Ausgrenzung vorgehoben wurden die offene Atmosphäre, torinnen und Multiplikatoren im deutsch- Deutsch-Israelischer Jugendaustausch, orga- anregt. Beeindruckt hat das »Biographical die von Anfang an einen vertrauensvollen, israelischen Arbeitskontext entwickelt und nisiert und durchgeführt wurde sie von Ilira Storytelling«, präsentiert von Mazal Pikado ungeschützten Austausch ermöglichte, und implementiert werden. Das Projekt wird Aliai und Falko Kliewe (ConAct) zusammen (Tzofi m – Israeli Scouts), über die »Operati- die professionelle Tagungsleitung. Das Ber- realisiert von ConAct – Koordinierungszen- mit Liana Meirom und Alon Spitzer (Israel on Moses«, die Evakuierung von 8.000 äthi- liner Arbeitstreffen war ursprünglich für Is- trum Deutsch-Israelischer Jugendaustausch Youth Exchange Authority). opischen Juden nach Israel Mitte der 1980er rael angekündigt, dann aber kurzfristig nach gemeinsam mit der israelischen Partnerbe- Am Anreisetag gab es zur Einstimmung Jahre. Der sehr persönliche Bericht richtete Berlin verlegt worden Die Fortsetzung des hörde Israel Youth Exchange Authority. Es einen geführten historischen Rundgang den Fokus auf die oft unerzählten Geschich- Programms ist jetzt für Anfang des kom- wird gefördert durch das Bundesministerium »Verschüttete Geschichte – Jüdisches Leben ten gesellschaftlicher Randgruppen. menden Jahres in Israel geplant. für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im in Prenzlauer Berg« (www.unter-berlin.de). Am dritten und vierten Tag stand der Rahmen des Bundesprogramms »Demokratie Das eigentliche Tagungsprogramm be- Besuch von Projekten und Organisationen Werner Lott leben!«, Projektlaufzeit 2015 bis 2018. gann am darauffolgenden Morgen mit dem auf dem Programm. Inspirierend war der Fritz Bauer Institut https://living-diversity.org

100 Nachrichten und Berichte Einsicht 16 Herbst 2016 101 Aus Kultur und Wissenschaft ses ausgezeichnet, die sich mit Leben, Werk › Prof. Dr. Beate Rudolf, Deutsches Institut oder Lebensthemen Fritz Bauers befassen, für Menschenrechte, Berlin Ausschreibung 2017 also insbesondere der juristischen Ahndung › Prof. Dr. Gerhard Werle, Humboldt-Uni- Fritz Bauer Studienpreis für des NS-Unrechts und anderer Massenver- versität, Berlin Menschenrechte und brechen gegen die Menschlichkeit, Straf- Die Preisverleihung zum Fritz Bauer Studi- rechtsreform und humanem Strafvollzug, enpreis 2017 erfolgt am 1. Juli 2017. Die Be- juristische Zeitgeschichte Achtung und Schutz der Menschenwürde. werbungsfrist endet am 31. Dezember 2016. Der Fritz Bauer Studienpreis wird alle »Wir können aus der Erde keinen Himmel zwei Jahre zum Todestag Fritz Bauers am Fritz Bauer – »Ein Held von gestern für machen, aber jeder von uns kann etwas tun, 1. Juli vergeben. Er ist mit einem Preisgeld heute«. Broschüre zur ersten Verleihung dass sie nicht zur Hölle wird.« von 5.000 Euro dotiert. des »Fritz Bauer Studienpreises«: Fritz Bauer, 1903–1968 Über die Vergabe des Fritz Bauer Stu- www.fritz-bauer-institut.de/fi leadmin/ dienpreises entscheidet der Bundesminis- downloads/FB-Studienpreis.pdf Das Bundesministerium der ter der Justiz und für Verbraucherschutz Justiz und für Verbraucher- im Zusammenwirken mit einer hochrangig Infofl yer zur Ausschreibung 2017: schutz hat den »Fritz Bauer Studienpreis besetzten Jury: www.fritz-bauer-institut.de/fi leadmin/ für Menschenrechte und juristische Zeit- › Christoph Flügge, Internationaler Gerichts- downloads/FB-Studienpreis_2017.pdf geschichte« ins Leben gerufen. Der Preis hof für das ehem. Jugoslawien, Den Haag erinnert an Fritz Bauer, den Initiator des › Werner Koep-Kerstin, Humanistische Kontakt Frankfurter Auschwitz-Pozesses. Mit dem Union, Berlin Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz Kennwort: Fritz Bauer Studienpreis Zur Eröffnung der Ausstellung sprach Esther Alexander-Ihme mit ehemaligen Föhrenwaldern (v. l.): Shymon Aijnwojner, Studienpreis werden herausragende Arbei- › Prof. Dr. Werner Konitzer, Fritz Bauer Mohrenstr. 37, 10117 Berlin Anton J. Weinberger, Boris Gerczikow und Majer Szanckower. Foto: Initiative 9. November. ten des rechtswissenschaftlichen Nachwuch- Institut, Frankfurt am Main www.bmjv.de/fritz-bauer

Aus Kultur und Wissenschaft caust-Überlebende und ihre Nachkommen. Lebensverhältnissen in der Waldschmidt- Nach Übernahme der Häuser durch das ka- straße und ihren Bewohnern, deren Erleb- Doppelausstellung der tholische Siedlungswerk 1956 wurden die nisse, Erfahrungen und Erkenntnisse von Initiative 9. November e.V. jüdischen Familien sieben Städten in der höchster Bedeutung für unser Geschichts- »Die Kinder vom Lager jungen Bundesrepublik zugeteilt. In Frank- verständnis und aktuellste Fragestellungen furt boten die beiden von der Nassauischen bezüglich des sozialen Miteinanders und der Föhrenwald« und Heimstätte neu errichteten Häuser Wald- Integration sind. »Von Föhrenwald nach schmidtstraße 129 und 131 den Familien Die Wanderausstellung »Die Kinder Frankfurt« eine bescheidene Unterkunft. vom Lager Föhrenwald« wurde der Initia- In der Ausstellung »Von Föhrenwald tive 9. November vom Verein »Bürger fürs Noch bis 10. November 2016 im Hochbunker (1. OG) nach Frankfurt« liegt das Hauptaugenmerk Badehaus Waldram-Föhrenwald« zur Ver- an der Friedberger Anlage 5–6, Frankfurt am Main, auf fünf Familien, die bis auf eine (Frank- fügung gestellt. dem Ort der ehemaligen Synagoge der Israelitischen furt-Niederrad) in der Waldschmidtstraße Die Ausstellung »Von Föhrenwald nach Religionsgesellschaft, geöffnet jeweils sonntags, 11.00–14.00 Uhr, Führungen nach Absprache: im Ostend zusammen wohnten und deren Frankfurt« wurde von den Initiativemitglie- [email protected] Kinder in den Kindergarten, die nahe gele- dern Iris Bergmiller-Fellmeth und Elisabeth genen Schulen gingen und ihre Freizeit mit- Leuschner-Gafga konzipiert und erstellt. Nach Kriegsende 1945 einander verbrachten. Diese »Kinder«, die Außerschulische Bildung. Zeitschrift der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung bestimmte die US-Armee sich nie aus den Augen verloren, in Frank- Elisabeth Leuschner-Gafga herausgegeben vom Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten e. V. (AdB) das frühere NS-Zwangsarbeiterlager Föh- furt Berufe erlernten und ausübten/ausüben Initiative 9. November e.V. • Beiträge zu aktuellen Themen aus Politik und Gesellschaft Einzelheft 7,00 € renwald in Bayern für die Unterbringung sowie eigene Familien gründeten, teilten • Berichte aus der Praxis politischer Bildung Abonnement von sogenannten Displaced Persons (DP), am 19. Juni 2016 in einer bewegenden, Kontakt • Verknüpfung von Theorie und Praxis (vier Ausgaben im Jahr) 20,00 € • Aufbereitung aktueller Publikationen aus Bildung, Politik und Gesellschaft Initiative 9. November e.V. Ermäßigtes Abonnement 16,00 € heimatlos gewordenen Menschen aus ganz gleichzeitig sehr humorvollen Podiumsdis- • Informationen aus dem AdB Hochbunker Europa. Anfang Oktober erklärte General kussion ihre Erinnerungen an DP-Lager und • vielfältige Informationen und Anregungen Alle Preisangaben zzgl. Versandkosten. Friedberger Anlage 5–6 Eisenhower das Lager zu einem ausschließ- Kindheit in der frühen Nachkriegszeit mit 60314 Frankfurt am Main – Ostend Die Zeitschrift wird maßgeblich gefördert durch Mittel des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen Bezug: Weitere Informationen: lich jüdischen DP-Lager, einem der größ- dem zahlreich erschienen Publikum. Viele [email protected] und Jugend und unterstützt von der Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen. [email protected] www.adb.de/zeitschrift_ab ten und am längsten bestehenden für Holo- Besucher erfuhren zum ersten Mal von den www.initiative-neunter-november.de

102 Nachrichten und Berichte Einsicht 16 Herbst 2016 103 Aus Kultur und Wissenschaft 1945 war eine Aufarbeitung über Jahrzehn- Aus Kultur und Wissenschaft eine menschenwürdige Gesellschaft kön- te unterblieben, Richter und Staatsanwälte ne durch einen solchen Tag entscheidend Richard-Schmid-Preis 2016 wurden strafrechtlich nicht belangt. Das Gestern mit dem gestärkt werden, so die Antragsteller. Die Forum Justizgeschichte Die Publikation wurde erstellt unter Heute verbinden Erfahrungen aus der Arbeit der Bildungs- Mitarbeit von Werner Konitzer (Beitrag) Frankfurter schwarz-rot- stätte Anne Frank habe gezeigt, dass sich und Werner Renz (Beitrag und Erstellung die Geschichte von Anne Frank mit aktu- Der vom Forum Justizge- von Teilen der gleichnamigen Ausstellung), grüne Koalition für ellen gesellschaftspolitischen Themen auf schichte e.V. – Vereinigung beide Fritz Bauer Institut. einen »Anne-Frank-Tag besondere Weise verknüpfen lasse. Die von zur Erforschung und Darstellung der deut- für Menschenrechte« Anne Frank in ihrem Tagebuch ausgedrück- schen Rechts- und Justizgeschichte des Der Richard-Schmid-Preis te Hoffnung auf eine Welt ohne Hass und 20. Jahrhunderts ausgelobte und mit 3.000 ist nach dem früheren Stuttgarter General- Vorurteile sei für Jugendliche und junge Er- Euro dotierte Richard-Schmid-Preis für staatsanwalt und Präsidenten des Oberlan- In einem am 14. Juni 2016 wachsene von ganz besonderer Relevanz. herausragende Leistungen auf dem Gebiet desgerichts Richard Schmid (1899 bis 1986) vorgebrachten gemeinsa- Anne Franks Verbindung zu Frankfurt, ihre der Juristischen Zeitgeschichte ist in diesem benannt. Schmid war seit den zwanziger men Antrag der Fraktionen von CDU, SPD historische Biografi e, ihre Medienpräsenz Jahr zum dritten Mal vergeben werden. Der Jahren Anwalt in Stuttgart und hat nach und GRÜNE wurde der Frankfurter Magis- und ihre aktuelle Bedeutung solle zum Aus- Preis wird alle zwei Jahre verliehen. 1933 politisch Verfolgte der verbotenen SAP trat damit beauftragt, einen »Anne-Frank- gangspunkt einer Auseinandersetzung mit Die Preisverleihung erfolgte auf der (Sozialistische Arbeiterpartei) verteidigt; Tag für Menschenrechte« am 12. Juni eines gegenwärtigen Formen von Rassismus, An- Jahrestagung des Forums Justizgeschichte in der SAP war u.a. Willy Brandt Mitglied. jeden Jahres in Frankfurt einzuführen. Da- tisemitismus, Rechtsextremismus und Ho- Die »Lola« in der rechten Hand, ein Foto Fritz Bauers in der linken: Regisseur und Drehbuchautor am 24. September 2016 in der Deutschen Später stand Schmid selbst als Angeklagter mit verbunden soll an diesem Tag – an dem mosexuellenfeindlichkeit gemacht werden. Lars Kraume (links), daneben Drehbuchautor Olivier Guez. Foto: Screenshot, ARD, 27. Mai 2016 Richterakademie in Wustrau. vor dem »Volksgerichtshof«, von 1938 bis Anneliese Marie Frank 1929 in Frankfurt Die Römer-Koalition regt an, dass am 1941 war er im Untersuchungsgefängnis, am Main geboren wurde – der Frankfurter 12. Juni jeden Jahres verschiedene Veran- Richard-Schmid-Preis 2016 geht an: Konzentrationslager und Zuchthaus in Haft. Schulpreis verliehen werden, mit dem vor- staltungen stattfi nden sollen, an deren Aus- Aus Kultur und Wissenschaft Vorauswahlverfahren, bevor die rund 1.700 Wolfgang Form, Theo Schiller, Bis zur Befreiung 1945 musste Schmid als bildliche schulische Projekte zur Einübung gestaltung städtische Ämter (Schulamt, Amt Mitglieder der Deutschen Filmakademie, Lothar Seitz (Hrsg.) Zwangsarbeiter in der Landwirtschaft ar- von Toleranz, der Akzeptanz von Vielfalt, für multikulturelle Angelegenheiten, Kul- Deutscher Filmpreis 2016 zusammengesetzt aus allen künstlerischen NS-Justiz in Hessen. beiten. Schon in der Zeit seiner hohen Jus- sozialem Engagement und gesellschaftlicher turamt und Jugend- und Sozialamt), die Bil- »Lola« in Gold für DER Sparten der Filmbranche, in geheimer Ab- Verfolgung – Kontinuität – Erbe tizämter und noch verstärkt danach war er Verantwortung ausgezeichnet werden. dungsstätte Anne Frank, das Familie Frank- stimmung über die Preisvergabe in insge- STAAT GEGEN FRITZ BAUER ständig schriftstellerisch und journalistisch Schon im Februar 2016 hatte die Bil- Zentrum im Jüdischen Museum, das Fritz samt 16 Kategorien entscheiden. Veröffentlichungen tätig und wohl der bedeutendste bundesdeut- dungsstätte Anne Frank in einem Brief an Bauer Institut, städtische Museen sowie wei- DER STAAT GEGEN FRITZ BAUER war in ins- der Historischen sche Justizschriftsteller der Nachkriegszeit. den Oberbürgermeister Peter Feldmann tere Kultureinrichtungen (z.B. Städtische Im Rahmen einer festli- gesamt neun Kategorien nominiert und wur- Kommission für Hessen, Band 65,4, Nominiert werden konnten schriftliche (SPD), den Stadtkämmerer Uwe Becker Bühnen) und zivilgesellschaftliche Organi- chen Gala wurde am 27. de sechsmal ausgezeichnet – wir gratulieren! Marburg 2015, wissenschaftliche oder journalistische Bei- (CDU) und die damalige Bildungsdezer- sationen (Migranten-Selbstorganisationen, Mai im Berliner Palais am Funkturm der XXV u. 696 S., träge zur Entwicklung des deutschen Rechts nentin Sarah Sorge (DIE GRÜNEN) die Rat der Religionen, Frankfurter Jugendring, Deutsche Filmpreis 2016 verliehen. Die DER STAAT GEGEN FRITZ BAUER hat gewonnen: zahlr. Abb., im 20. und 21. Jahrhundert, die seit dem Einrichtung eines solchen Erinnerungsta- Kirchen) sich beteiligen können. Stadtrund- Veranstaltung jährte sich zum 66. Mal in »Bester Spielfi lm« – die »Lola« in Gold (Tho- € 19,90, ISBN: 978-3- 1. Juli 2014 veröffentlicht wurden und/oder ges vorgeschlagen. »An diesem Tag sind gänge, Lesungen, Begegnungsprojekte, diesem Jahr, bereits 1951war die damals mas Kufus, Produktion), »Bestes Drehbuch« 942225-28-1 bis spätestens 31. Mai 2016 veröffentlicht alle Frankfurterinnen und Frankfurter ganz künstlerische Aktionen und Projekttage in noch Bundesfi lmpreis genannte Trophäe (Lars Kraume, Olivier Guez), »Beste Regie« wurden. besonders dazu eingeladen, sich mit dem Schulen sollen angeboten werden. Dabei erstmals vergeben worden. Seit 1999 hat sie (Lars Kraume), »Beste männliche Nebenrolle« Die Jury bestand aus Priv.-Doz. Dr. Schicksal von Anne Frank und ihrer Familie, könnte ein Zitat aus Anne Franks Tagebuch die Form einer Statuette, einer von einem (Ronald Zehrfeld), »Bestes Szenenbild« (Cora Annette Weinke, Historikerin, Universität mit der NS-Zeit und dem Holocaust aktiv als Motto dienen, um jedes Jahr neue Ak- stilisierten Filmband umhüllten Frauenfi gur Pratz), »Bestes Kostümbild« (Esther Walz) Jena (Vorsitzende); Dr. Tillmann Krach, auseinandersetzen«, so der Leiter der Bil- zente und neue inhaltliche Schwerpunkte im Art-Déco-Stil, benannt in Anlehnung an Nominiert war der Film zudem für: Zum Buch Vorsitzender des Forums Anwaltsgeschichte, dungsstätte, Dr. Meron Mendel. zu setzen. Auf diese Weise setze Frankfurt Marlene Dietrichs berühmter Rolle der Lola »Beste männliche Hauptrolle« (Burghart Als integraler Teil der Gewaltherrschaft Mainz; Priv Doz. Dr. Thomas Henne, Rechts- Das Schicksal von Anne Frank und ein wichtiges Zeichen für eine weltoffene, im Film DER BLAUE ENGEL. Die »Lola« gilt Klaußner), »Bestes Maskenbild« (Astrid des Nationalsozialismus fungierte die Jus- historiker, Universität Luzern; Prof. Dr. Dr. ihrer Familie erinnere nachhaltig an die tolerante und humane Stadtgesellschaft, so als die renommierteste Auszeichnung des Mariaschk), »Beste Filmmusik« (Julian tiz nach 1933 als ein Kampf- und Vernich- Ingo Müller, Rechtshistoriker i.R., Berlin. NS-Zeit und den Holocaust und führe ak- die Hoffnung der Antragsteller. Deutschen Films. Mit insgesamt fast drei Maas und Christoph M. Kaiser) tungsinstrument gegen politische Gegner tiv zur Auseinandersetzung mit diesem Millionen Euro Preisgeld ist sie zudem der und Minderheiten. Allein im Gebiet des Kontakt Kapitel der deutschen und Frankfurter Ge- höchstdotierte deutsche Kulturpreis über- Deutsche Filmakademie e.V. heutigen Landes Hessen wurden Tausende Forum Justizgeschichte e.V. schichte, heißt es in der Begründung des haupt. Die Vergabe des Preises erfolgt durch www.deutsche-fi lmakademie.de Vereinigung zur Erforschung und Darstellung der deut- Männer und Frauen wegen ihrer Gesinnung Antrages. Die Arbeit gegen Rassismus, den Beauftragten der Bundesregierung für Der Deutsche Filmpreis schen Rechts- und Justizgeschichte des 20. Jahrhunderts www.deutscher-fi lmpreis.de oder aus nichtigen Anlässen zu schweren [email protected] Antisemitismus, Rechtsextremismus und Kultur und Medien. Die nominierten Filme DER STAAT GEGEN FRITZ BAUER Strafen bis hin zum Tode verurteilt. Nach www.forumjustizgeschichte.de/Richard-Schmid.355.0.html Homosexuellenfeindlichkeit sowie für eines Jahres durchlaufen ein dreistufi gen www.derstaatgegenfritzbauer.de

104 Nachrichten und Berichte Einsicht 16 Herbst 2016 105 Aus Kultur und Wissenschaft dem Hessischen Hauptstaatsarchiv, Wiesba- ebenso sinnstiftende wie auch zerstörerische für Theologie an der Justus-Liebig-Univer- Aus Kultur und Wissenschaft den und der Stiftung Deutsches Rundfunk- Rolle von Religion und Religionen kont- sität eng verbunden; gemeinsam werden Auschwitz-Prozessakten archiv (DRA), Projektleitung: Werner Renz. rovers debattiert. Besonders monotheisti- auch nichtkonfessionelle religionswissen- Filmrettung Nominiert für schen Religionen wird dabei unterstellt, sie schaftliche und -philosophische Studiengän- DIE STADT OHNE JUDEN Weltdokumentenerbe Kontakt ständen aufgrund ihrer zum Teil exklusiven ge angeboten, die programmatisch auf Inter- (1924) Hessisches Ministerium für Wissenschaft und Kunst Geltungsansprüche dem Pluralismus feind- religiosität ausgerichtet sind. Im Bereich der Mark Kohlbecher (Pressesprecher) lich gegenüber und hätten eine Tendenz zu Jüdischen Studien ist mit dem Seminar für Tel.: 0611.3232-30, Fax: -99 Das deutsche Nominierungs- [email protected] fundamentalistischen Positionen oder zur Judaistik und der Martin-Buber-Professur Durch einen zufälligen Fund komitee der UNESCO hat Weitere Informationen: https://wissenschaft.hessen.de/ Gewalt. Andere Interpretationen hingegen für Jüdische Religionsphilosophie ein inter- von altem Nitrofi lmmaterial die Dokumente zum 1. Frankfurter Ausch- presse/pressemitteilung/akten-des-1-auschwitz-prozes- sehen in ihnen ein Potenzial, Konfl ikten, national gut vernetzter Partner vorhanden. auf einem Pariser Flohmarkt kamen bisher witz-Prozess für das »Memory of the World«- ses-auf-gutem-weg-zum-unesco-weltdokumentenerbe Kriegen und Terror entgegenzuwirken. Ferner hat das vom Bundesministerium für verloren geglaubte Passagen des 1924 ent- Programm der UNESCO eingereicht. Die »Die aktuellen Debatten über die gesell- Bildung und Forschung und vom Land Hes- standenen Spielfi lms DIE STADT OHNE JUDEN

Generaldirektion der UNESCO entscheidet schaftlichen und kulturellen Folgen der zah- sen geförderte Zentrum für Islamische Stu- in den Bestand des Filmarchivs Austria. neu im voraussichtlich 2017 über die Eintragung in lenmäßig beispiellosen Zuwanderung von dien Frankfurt/Gießen in den vergangenen ca. 500 Seiten | ca. 30,00 € Oktober das Verzeichnis des Weltdokumentenerbes. Aus Kultur und Wissenschaft Gefl üchteten zeigen, dass sich Einwande- Jahren eine führende Rolle im Bereich einer ISBN 978-3-8012-0405-1 Der 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess be- rungsgesellschaften künftig auf ein weit hö- modernen islamisch-theologischen Wissen- gann am 20. Dezember 1963 im Frankfurter »Religiöse Positionierung« heres Maß an religiös-kultureller Pluralisie- schaft eingenommen. Auch die in Frankfurt Römer. Er stellte eine Zäsur bei der juristi- Neuer Forschungs- rung und dadurch ausgelösten Ängsten und beim Exzellenzcluster »Die Herausbildung schen Aufarbeitung nationalsozialistischer schwerpunkt in Hessen Konfl ikten einstellen müssen«, betont Prof. normativer Ordnungen« angesiedelten Gewaltverbrechen dar: Insgesamt 22 Perso- Dr. Christian Wiese. Der neue LOEWE- Projekte bieten beste Kooperationsmög- nen wurden wegen Verbrechen im Konzen- Schwerpunkt wird vor diesem Hintergrund lichkeiten: beispielsweise das »Frankfurter Welches Gewalt- und Friedenspotenzial bergen die trations- und Vernichtungslager Auschwitz die Funktion religiöser Positionierungen in Forschungszentrum Globaler Islam« von monotheistischen Weltreligionen? angeklagt, in dem die Nationalsozialisten Ein neuer Forschungsschwerpunkt der Frankfurter historischen wie auch gegenwärtigen jüdi- Prof. Dr. Susanne Schröter, das aktuelle zwischen 1940 und 1945 über eine Million Universität untersucht das Verhältnis von Judentum, schen, christlichen und islamischen Kontex- Entwicklungen in der islamischen Welt un- Der expressionistische Stummfilm Menschen ermordeten. Christentum und Islam zu religiöser Vielfalt und ten hinsichtlich des Umgangs mit religiöser tersucht, das Projekt »Genese und Geltung von Hans Karl Breslauer spielt im Wien Differenz in historischer und empirischer Perspektive. Die Prozessunterlagen umfassen 454 Differenz untersuchen. »Interreligiöse Plura- des Säkularen« von Prof. Dr. Matthias Lutz- der 1920er Jahre und basiert auf der Ro- Aktenbände und werden im Hessischen lismus- oder Dialogkonzepte zielen auf eine Bachmann und Prof. Dr. Thomas Schmidt manvorlage des jüdischen Schriftstellers neu im Hauptstaatsarchiv verwahrt. Sie spiegeln den Im Rahmen der 9. LOEWE- konsensorientierte, harmonisierende Über- oder das Projekt »Macht, Herrschaft und und Journalisten Hugo Bettauer. Er gilt als ca. 200 Seiten | ca. 24,90 € November gesamten Verfahrensgang wider. Eine Beson- Förderstaffel des Landes windung von Gegensätzen. Wir hingegen ge- Gewalt in Ordnungen der Rechtfertigung« der weltweit erste Film, der in dunkler Vor- ISBN 978-3-8012-4238-1 derheit sind die 103 Tonbänder mit Mitschnit- Hessen erhält die Goethe-Universität Frank- hen in unserem Projekt davon aus, dass Re- von Prof. Dr. Rainer Forst. Ebenfalls zu ahnung die Vertreibung der Juden und die ten der Aussagen von 319 Zeugen aus der furt am Main einen neuen Forschungs- ligionen grundsätzlich positionell und somit nennen sind auf dem Gebiet der interreli- damit verbundenen politischen und gesell- Hauptverhandlung. Die Tonbänder sind als schwerpunkt: »Religiöse Positionierung: konfl ikthaft, deshalb aber nicht zwangsläufi g giösen Forschung die seit 2014 etablierten schaftlichen Konsequenzen darstellt. Quelle von einmaligem dokumentarischem Modalitäten und Konstellationen in jüdi- pluralismusunfähig sind, sondern Differen- Kooperationen der Goethe-Universität mit Jahrzehntelang war der Filmklassiker Wert, da die Opfer des Holocaust aus vielen schen, christlichen und islamischen Kon- zen ernst zu nehmen und zu achten vermö- der Tel Aviv University und der Cambridge nur in Fragmenten erhalten, nach dem Fund Staaten Europas und aus Übersee 20 Jah- texten«. Das Projekt wird vom Land Hessen gen«, erläutert Wiese. Beteiligt an diesem University. Der Forschungsschwerpunkt der fehlenden Szenen kann er nun erstmals re nach Kriegsende zum ersten Mal wieder mit knapp 4,5 Millionen Euro gefördert, der interreligiösen und interdisziplinären Projekt wird zudem intensiv mit Partnerinstituti- in seiner vollen Länge wiederhergestellt ihren Peinigern begegneten und die Zeugen- Förderzeitraum reicht von 2017 bis 2020. sind neben der protestantischen Theologie, onen im Bereich von Bildung und Politik werden. Für die Restaurierung durch das aussagen die Öffentlichkeit schonungslos mit Federführende Institution ist die Goethe- der Judaistik und den Islamischen Studien in Frankfurt und der Rhein-Main-Region Filmarchiv Austria und die Wiederauffüh- dem Grauen in Auschwitz konfrontierten. Universität, Wissenschaftlicher Koordinator auch die Soziologie, die Ethnologie und die zusammenarbeiten und so auch zu den öf- rung des Films werden noch Förderer und Prof. Dr. Christian Wiese, Inhaber der Mar- Erziehungswissenschaften. fentlichen Debatten über religiöse Vielfalt private Sponsoren gesucht. Website: tin-Buber-Professur für Jüdische Religions- Prof. Dr. Christian Wiese verweist auf und Differenz beitragen. neu im Tonbandmitschnitt des philosophie an der Frankfurter Universität. die ausgezeichneten Voraussetzungen, die Kontakt Kontakt 344 Seiten | 24,90 € Oktober 1. Frankfurter Auschwitz-Prozesses Die Stellvertretung hat Prof. Dr. Roderich der Wissenschaftsstandort Frankfurt/Gießen Filmarchiv Austria ISBN 978-3-8012-0490-7 Prof. Dr. Christian Wiese www.auschwitz-prozess.de Barth vom Institut für Evangelische Theo- bietet, einen innovativen Beitrag zu Fragen Obere Augartenstraße 1e Martin-Buber-Professur für Jüdische Religionsphilosophie 1020 Wien / Österreich Mitschnitt der Zeugenvernehmungen in der logie an der kooperierenden Justus-Liebig- von Religion und Gesellschaft, Migration Goethe-Universität Frankfurt am Main Tel.: +43.1.2161300 »Strafsache gegen Mulka u.a.« vor dem Universität Gießen. und Integration sowie religiöser Differenz Norbert-Wollheim-Platz 1 augarten@fi lmarchiv.at Landgericht Frankfurt am Main (1963– Gegenwärtig wird angesichts einer und Interreligiosität zu leisten: So ist der 60323 Frankfurt am Main http://fi lmarchiv.at/fi lmrettung-die-stadt-ohne-juden Tel.: 069.79833342 dietz-verlag.de 1965), Herausgeber: Fritz Bauer Institut, Vielzahl gewaltförmiger Konfl ikte, in de- Fachbereich Evangelische Theologie an der [email protected] Frankfurt am Main in Zusammenarbeit mit nen Religion zum Tragen kommt, über die Goethe-Universität bereits mit dem Institut www.uni-frankfurt.de/40082634/buber

106 Nachrichten und Berichte Einsicht 16 Herbst 2016 107 Ausstellungsangebote Wanderausstellungen des Fritz Bauer Instituts

Bisherige Ausstellungsstationen › 10. April bis 7. September 2014 Neuerscheinungen Jüdisches Museum Frankfurt am Main › 9. Dezember 2014 bis 15. Februar 2015 Thüringer Landtag in Erfurt › 26. Februar bis 17. April 2015 Landgericht Heidelberg › 7. Mai bis 26. Juni 2015 Landgericht Tübingen › 10. März bis 10. Mai 2016 Ministerium der Finanzen Rheinland- Pfalz und Ministerium der Justiz und Leseproben für Verbraucherschutz Mainz unter › 21. April bis 21. August 2016 www.v-r.de NS-Dokumentationszentrum der Fritz Bauer. Der Staatsanwalt Stadt Köln 2016. 462 Seiten mit 16 Abb., kartoniert NS-Verbrechen vor Gericht € 60,– Zur Ausstellung sind erschienen: ISBN 978-3-525-30084-8 Eine Ausstellung des Fritz Bauer Instituts eBook: € 49,99 D / ISBN 978-3-647-30084-9 und des Jüdischen Museums Frankfurt am Main Fritz Backhaus, Monika Boll, Raphael Gross (Hrsg.) Der Band erklärt anhand von Fallbei- Fritz Bauer. Der Staatsanwalt spielen Schlüsselbegriffe der modernen NS-Verbrechen vor Gericht jüdischen Geschichte. Fritz Bauer gehört zu den Weg der Demokratisierung in der frühen Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2014, juristisch einfl ussreichsten Bundesrepublik. 300 S., zahlr. Abb., € 29,90 jüdischen Remigranten im Nachkriegs- Die Ausstellung steht unter der Schirm- ISBN: 978-3-5935-0105-5 Schriftenreihe des Fritz Bauer Instituts, Band 32 deutschland. Als hessischer Generalstaatsan- herrschaft des Bundespräsidenten Joachim walt, der den Frankfurter Auschwitz-Prozess Gauck. Sie wird gefördert durch die Stiftung auf den Weg brachte, hat er bundesrepub- Polytechnische Gesellschaft, die Hamburger likanische Geschichte geschrieben. Die Stiftung zur Förderung von Wissenschaft Ausstellung nimmt den Prozess, der sich und Kultur, das Bundesministerium der 2013 zum fünfzigsten Mal jährte, zum An- Justiz und für Verbraucherschutz, das Hes- lass, Fritz Bauer einem größeren Publikum sische Ministerium der Justiz, für Integra- vorzustellen. tion und Europa, die Georg und Franziska Bauers Leben blieb nicht unberührt von Speyer’sche Hochschulstiftung, die Fazit- den Verwerfungen des 20. Jahrhunderts. Die Stiftung sowie Christiane und Nicolaus Ausstellung dokumentiert seine Lebensge- Weickert. Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, schichte im Spiegel der historischen Ereig- Fritz Bauer Institut (Hrsg.) Band 133. nisse, die ihn auch persönlich betrafen. Als Kuratoren der Ausstellung Redaktion: Bettina Schulte Strathaus 2016. 317 Seiten, gebunden Jude blieb Fritz Bauer vom Antisemitismus › Monika Boll (Fritz Bauer Institut): Kon- Fritz Bauer. Gespräche, Interviews und Reden € 50,– D aus den Fernseharchiven 1961‒1968 ISBN 978-3-525-37312-5 nicht verschont. Als Sozialdemokrat glaubte zeption und Aufbau der Erstausstellung Absolut MEDIEN, Berlin 2014, Dokumente 4017 Die Studie befasst sich mit den jüdischen er dennoch an den Fortschritt, dann trieben in Frankfurt am Main 2 DVDs, 298 Min., s/w, € 19,90 Museen in Prag, Budapest und Bratislava ISBN: 978-3-8488-4017-5 ihn die Nationalsozialisten für 13 Jahre ins › Erik Riedel (Jüdisches Museum Frank- nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Exil. Als Generalstaatsanwalt hat er das furt): Betreuung der Wanderausstellung www.absolutmedien.de überkommene Bild dieses Amtes revoluti- Website zur Ausstellung oniert. Nicht der Gehorsam der Bürger ge- Ausstellungsstation in Planung www.fritz-bauer-institut.de/fritz-bauer-ausstellung.html genüber dem Staat stand im Vordergrund. ab März 2017: Bauer verstand sich stets als Vertreter der Militärhistorisches Museum der Bundes- Abbildungen rechts: Impressionen aus der Ausstellung im Menschenwürde vor allem auch gegen staat- wehr, Olbrichtplatz 2, Dresden NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln. www.v-r.de liche Gewalt – ein großer Schritt auf dem www.mhmbw.de Fotos: Werner Lott

108 Ausstellungsangebote Einsicht 16 Herbst 2016 109 Legalisierter Raub Publikationen zur Ausstellung Ein Leben aufs neu Die IG Farben und das › Legalisierter Raub – Katalog zur Ausstellung. Der Fiskus und die Ausplünderung Reihe selecta der Sparkassen-Kulturstiftung Das Robinson-Album. KZ Buna/Monowitz Vom jungen Immi- der Juden in Hessen 1933–1945 Hessen-Thüringen, Heft 8, 2002, 72 S., € 5,– DP-Lager: Juden auf deut- Wirtschaft und Politik › Susanne Meinl, Jutta Zwilling: Legalisierter Raub. granten zu einer Die Ausplünderung der Juden im Nationalsozialis- schem Boden 1945–1948 im Nationalsozialismus wichtigen Stimme Eine Ausstellung des Fritz Bauer Instituts und des Hessischen Rundfunks, mus durch die Reichsfi nanzverwaltung in Hessen. mit Unterstützung der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts, Nach Ende des Zweiten Das Konzentrationslager der Intellektuellen Band 10, Frankfurt am Main, New York: Campus und des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst Verlag, 2004, 748 S., € 44,90 Weltkriegs fanden jüdische der IG Farbenindustrie AG › Katharina Stengel (Hrsg.): Vor der Vernichtung. Überlebende der NS-Terrorherrschaft im in Auschwitz ist bis heute ein Symbol für die Die staatliche Enteignung der Juden im National- Nachkriegsdeutschland Zufl ucht in soge- Kooperation zwischen Wirtschaft und Poli- Die Ausstellung gibt einen sozialismus. Wissenschaftliche Reihe des Fritz nannten Displaced Persons (DP) Camps. Die tik im Nationalsozialismus. Die komplexe Bauer Instituts, Band 15, Frankfurt am Main, Einblick in die Geschichte New York: Campus Verlag, 2007, 336 S., € 24,90 Fotoausstellung porträtiert das tägliche Le- Geschichte dieser Kooperation, ihre Wider- des legalisierten Raubes, in die Biografi en › DER GROSSE RAUB. WIE IN HESSEN DIE JUDEN ben und die Arbeit der Selbstverwaltung in sprüche, ihre Entwicklung und ihre Wirkung von Tätern und Opfern. Die einleitenden Ta- AUSGEPLÜNDERT WURDEN. Ein Film von Henning dem in der amerikanischen Besatzungszone auf die Nachkriegszeit (die Prozesse und der feln stellen Franz Soetbeer, Walter Mahr, Burk und Dietrich Wagner, Hessischer Rundfunk, gelegenen DP-Lager Frankfurt-Zeilsheim. bis in die Gegenwart währende Streit um 2002. DVD, Laufzeit: 45 Min., € 10,– Artur Lauinger, Paul Graupe, Alexander Der aus Polen stammende Ephraim die IG Farben in Liquidation), wird aus un- Fiorino, Fritz Reinhardt, Martin Buber, Ausstellungsexponate Robinson hatte seine ganze Familie im terschiedlichen Perspektiven dokumentiert. Waldemar Kämmerling sowie die Familien Die Ausstellung besteht aus circa 60 Rahmen im Holocaust verloren. Als DP kam er 1945 Strukturiert wird die Ausstellung durch Zi- Guthmann, Cahn, Grünebaum, Reinhardt, Format 100 x 70 cm, 15 Vitrinen, 6 Einspielstationen, nach Frankfurt-Zeilsheim. Seinen Lebens- tate aus der Literatur der Überlebenden, die Pacyna und Goldmann mit ihren Lebensge- 2 Installationen und Lesemappen zu ausgesuchten unterhalt im Lager verdiente er sich als zu den einzelnen Themen die Funktion der Einzelfällen. Für jede Ausstellungsstation besteht die schichten bis zum Jahr 1933 vor. Möglichkeit, interessante Fälle aus der Region in das freiberufl icher Fotograf. In eindrücklichen einführenden Texte übernehmen. Gezeigt Die Tafeln im Hauptteil der Ausstel- Konzept zu übernehmen. Bildern hielt er fest, wie die geschundenen werden Reproduktionen der Fotografi en, lung entwickeln die Geschichte der Täter- Menschen ihre Belange in die eigenen Hän- die von der SS anlässlich des Besuchs von gesellschaft, die mit einem Rückblick auf www.fritz-bauer-institut.de/legalisierter-raub.html de nahmen, ihren Alltag gestalteten, »ein Heinrich Himmler in Auschwitz am 17. und die Zeit vor 1933 beginnt: Die Forderung Leben aufs neu« wagten. Als Ephraim Ro- 18. Juli 1942 angefertigt wurden. Die Bild- Dezember 1993, Dnepropetrowsk, nach einer Enteignung der Juden gab es binson 1958 in den USA verstarb – in die ebene erzählt also durchgängig die Täter- Ukraine. Der 22-jährige Dmitrij Belkin nimmt drei Taschen und sechs Bücher, nicht erst seit der Machtübernahme der Na- er zehn Jahre zuvor eingewandert war –, geschichte, der Blick auf die Fabrik und setzt sich in einen Bus und fährt ins tionalsozialisten. Sie konnten vielmehr auf hinterließ er nicht nur viele hunderte Auf- damit die Technik stehen im Vordergrund. völlig Ungewisse, nach Deutschland, weitverbreitete antisemitische Klischees zu- Ausstellungsausleihe nahmen, sondern auch ein Album, das die Die Text ebene hingegen wird durch die Er- wie eine Viertelmillion andere Juden rückgreifen, insbesondere auf das Bild vom Geschichte der jüdischen DPs in exempla- zählung der Überlebenden bestimmt. aus der Ex-UdSSR auch. Postsowjeti- »mächtigen und reichen Juden«, der sein Unsere Wanderausstellun- rischer Weise erzählt. Die Ausstellung ist als Montage im scher Blick trifft auf alte und neue Vermögen mit List und zum Schaden des Wiedergutmachung gefragt: Wie ging die gen können gegen Gebühr Über das vertraut erscheinende Medi- fi lmischen Sinn angelegt. Der Betrachter Bundesrepublik, in der für ihn und seine Familie eine jüdische Selbst- deutschen Volkes erworben habe. Vor die- Rückerstattung vor sich, wie erfolgreich ausgeliehen werden. Das Institut berät Sie um des Albums führt die Ausstellung in ein sucht sich die Erzählung selbst aus den Ein- entdeckung möglich wird. Deutsche sem Hintergrund zeichnet das zweite Kapitel konnte sie angesichts der gesetzlichen Aus- gerne bei der Organisation des Begleitpro- den meisten Menschen unbekanntes und von zelstücken zusammen. Um diese Suche zu Zeitgeschichte im Spiegel einer sehr die Stufen der Ausplünderung und die Rolle gangslage und der weitgehend ablehnenden gramms und bei der Suche nach geeigneten vielen verdrängtes Kapitel der deutschen unterstützen, werden in Heftern Quellentex- persönlichen und zugleich politischen der Finanzbehörden in den Jahren von 1933 Haltung der Bevölkerungsmehrheit sein? Referenten. Weitere Informationen und ein und jüdischen Nachkriegsgeschichte ein: te angeboten, die eine vertiefende Lektüre Erzählung, die ihr Licht auch auf die bis 1941 nach. Im nachgebauten Zimmer Die Ausstellung wandert seit dem Jahr Ausstellungsangebot senden wir Ihnen auf Fotografi en von Familienfeiern und Schul- ermöglichen. Dazu bietet das Fritz Bauer heutige Zeit der Einwanderung wirft. eines Finanzbeamten können die Ausstel- 2002 sehr erfolgreich durch Hessen und darü- Anfrage gerne zu. unterricht, Arbeit in den Werkstätten, Sport Institut einen Reader zur Vorbereitung auf »Die jüdische Einwanderung aus der lungsbesucher in Aktenordnern blättern: Sie ber hinaus. Sie wurde an bisher 27 Stationen und Feste, Zeitungen und Theater, zionisti- die Ausstellung an. ehemaligen Sowjetunion gehört zu den enthalten unter anderem Faksimiles jener gezeigt. Da für jeden Präsentationsort neue Kontakt sche Vorbereitungen auf ein Leben in Paläs- spannendsten Kapiteln der deutschen Vermögenslisten, die Juden vor der Depor- regionale Vitrinen entstehen, die sich mit Fritz Bauer Institut tina – Manifestationen eines »lebn afs nay«, Ausstellungsrealisation Gegenwart. Dmitrij Belkin erzählt Manuela Ritzheim Konzept: Gottfried Kößler; Recherche: Werner Renz; davon anschaulich, klug und mit viel tation ausfüllen mussten, um den Finanzbe- der Geschichte des legalisierten Raubes am das den Schrecken nicht vergessen macht. Gestaltung: Werner Lott Tel.: 069.798 322-33, Fax: -41 Leidenschaft.« Jana Hensel hörden die »Verwaltung und Verwertung« Ausstellungsort beschäftigen, »wächst« die [email protected] Unterstützt von der Conference on Jewish Material ihrer zurückgelassenen Habseligkeiten zu Ausstellung. Waren es bei der Erstpräsentati- Ausstellungsexponate Claims Against Germany, New York. 2016 · 202 Seiten · Gebunden · € 19,95 Auch als E-Book erhältlich · www.campus.de erleichtern. Weitere Tafeln beschäftigen sich on 15 Vitrinen, die die Geschichten der Opfer › Albumseiten mit Texten (64 Rahmen, 40 x 49 cm) › Porträtfotos (34 Rahmen, 40 x 49 cm) Ausstellungsexponate mit den kooperierenden Interessengruppen erzählten, sind es heute weit über sechzig. Sie Ausstellungsstationen / Termine › Ergänzende Bilder (15 Rahmen, 40 x 49 cm) › 57 Rahmen (Format: 42 x 42 cm) in Politik und Wirtschaft, aber auch mit entstehen auf der Basis weiterer Recherchen Aktuelle Ausstellungsorte und -zeiten für › Erklärungstafeln (13 Rahmen, 24 x 33 cm) › ein Lage plan des Lagers Buna/Monowitz dem »deutschen Volksgenossen« als Profi - und an manchen Orten in Zusammenarbeit unsere Wanderausstellungen fi nden Sie auf › Titel und Quellenangaben (7 Rahmen, 24 x 33 cm) › ein Lage plan der Stadt Oświęcim teur. Schließlich wird nach der sogenannten mit Schülerinnen und Schülern. Seite 8. www.fritz-bauer-institut.de/ein-leben-aufs-neu.html www.fritz-bauer-institut.de/ig-farben.html

110 Ausstellungsangebote Einsicht 16 Herbst 2016 111 Micha Brumlik, Karol Sauerland (Hrsg.) Birgit Erdle, Werner Konitzer (Hrsg.) Ulrich Wyrwa (Hrsg.) Umdeuten, verschweigen, erinnern Theorien über Judenhass – eine Denkgeschichte Einspruch und Abwehr Schriftenreihe Publikationen Die späte Aufarbeitung des Holocaust in Osteuropa Kommentierte Quellenedition (1781–1931) Die Reaktion des europäischen Judentums auf die Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2010, Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2015 Entstehung des Antisemitismus (1879–1914) des Fritz Bauer Instituts 257 S., € 29,90, EAN 978-3-593-39271-4 361 S., gebunden, € 39,90, EAN 978-3-593-50470-4 Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2010, Hanno Loewy (Hrsg.) Wissenschaftliche Reihe, Band 18 Wissenschaftliche Reihe, Band 26 372 S., € 29,90, EAN 978-3-593-39278-3 Holocaust. Die Grenzen des Verstehens Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts 2010, Band 14 Eine Debatte über die Besetzung der Geschichte Ronny Loewy, Katharina Rauschenberger (Hrsg.) Isabell Trommer Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1992, 256 S., »Der Letzte der Ungerechten« Rechtfertigung und Entlastung Liliane Weissberg (Hrsg.) € 9,60, ISBN 3-499-19367-1 Der Judenälteste Benjamin Murmelstein in Albert Speer in der Bundesrepublik Deutschland Affi nität wider Willen? Schriftenreihe, Band 2 Filmen 1942–1975 Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2016, Hannah Arendt, Theodor W. Adorno und die Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2011 320 S., gebunden, € 34,90, EAN 9783593505299 Frankfurter Schule Oskar Rosenfeld 208 S., 36 Abb., € 24,90, EAN 978-3-593-39491-6 Wissenschaftliche Reihe, Band 27 Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2011 Wozu noch Welt Wissenschaftliche Reihe, Band 19 236 S., 18 Abb., € 24,90, EAN 978-3-593-39490-9 Aufzeichnungen aus dem Getto Lodz Jenny Hestermann Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts 2011, Band 15 Hrsg. von Hanno Loewy. Verlag Neue Kritik, Werner Renz (Hrsg.) Inszenierte Versöhnung Frankfurt am Main, 1994, 324 S., € 25,–, Interessen um Eichmann Reisediplomatie und die deutsch-israelischen Sybille Steinbacher (Hrsg.) ISBN 3-8015-0272-4 Israelische Justiz, deutsche Strafverfolgung und alte Beziehungen von 1957 bis 1984 Holocaust und Völkermorde Schriftenreihe, Band 7 Kameradschaften Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2016, Die Reichweite des Vergleichs Das Fritz Bauer Institut ver- Wissenschaftliche Reihe Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2012, 290 S., gebunden, € 29,95, EAN 9783593506159 Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2012, Knut Dethlefsen, Thomas B. Hebler (Hrsg.) öffentlicht mehrere Publika- 332 S., € 34,90, EAN 9783593397504 Wissenschaftli che Reihe, Band 28 248 S., € 24,90, EAN 9783593397481 Bilder im Kopf / Obrazy w glowie tionsreihen, darunter das Jahrbuch und die Wissenschaftliche Reihe, Band 20 Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts 2012, Band 16 Auschwitz – Einen Ort sehen Franziska Krah Oswiecim – Ujecia pewnego miejsca Wissenschaftliche Reihe, jeweils im Cam- Claudia Fröhlich Katharina Stengel: »Ein Ungeheuer, das wenigstens theoretisch Katharina Rauschenberger (Hrsg.) Edition Hentrich, Berlin, 1996, 146 S., 134 Abb., pus Verlag, und die Schriftenreihe, die in Wider die Tabuisierung des Ungehorsams Hermann Langbein besiegt sein muß …« Rückkehr in Feindesland? € 9,90, ISBN 3-89468-236-1 verschiedenen Verlagen erscheint. Daneben Fritz Bauers Widerstandsbegriff und die Aufarbeitung Ein Auschwitz-Überlebender in den erinnerungs- Pioniere der Antisemitismusforschung in Deutschland Fritz Bauer in der deutsch-jüdischen Schriftenreihe, Band 12 von NS-Verbrechen gibt es Publikationsreihen, die im Eigenver- politischen Konfl ikten der Nachkriegszeit Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2016, Nachkriegsgeschichte Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2006, Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2012, ca. 480 S., gebunden, € 39,95, EAN 9783593506241 Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2013, Hanno Loewy, Andrzej Bodek (Hrsg.) lag verlegt sind, darunter die Pädagogischen 430 S., € 39,90, ISBN 3-593-37874-4 635 S., € 34,90, EAN 9783593397887 Wissenschaftliche Reihe, Band 29 240 S., € 29,90, EAN 9783593399805 »Les Vrais Riches« – Notizen am Rand Materialien und die Reihe Konfrontationen. Wissenschaftliche Reihe, Band 13 Wissenschaftliche Reihe, Band 21 Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts 2013, Band 17 Ein Tagebuch aus dem Ghetto Lodz Video-Interviews, Ausstellungskataloge und Christoph Schneider (Mai bis August 1944) Thomas Horstmann, Heike Litzinger (Hrsg.) andere Einzelveröffentlichungen ergänzen Raphael Gross, Werner Renz (Hrsg.) Diener des Rechts und der Vernichtung Werner Konitzer (Hrsg.) Reclam Verlag, Leipzig, 1997, 165 S., € 9,20, An den Grenzen des Rechts Der Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–1965) Das Verfahren gegen die Teilnehmer der Konferenz Moralisierung des Rechts ISBN 3-379-01582 das Publikations-Portfolio des Instituts. Gespräche mit Juristen über die Verfolgung von Kommentierte Quellenedition von 1941 oder: Die Justiz gegen Fritz Bauer Kontinuitäten und Diskontinuitäten Schriftenreihe, Band 13 Eine komplette Aufl istung aller bisher NS-Verbrechen Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2013, Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2017, nationalsozialistischer Normativität erschienenen Publikationen des Fritz Bau- Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2006, 1.398 S., Hardcover, gebunden, Edition in zwei Wissenschaftliche Reihe, Band 30 Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2014, Margrit Frölich, Hanno Loewy, 233 S., € 19,90, ISBN 3-593-38014-5 er Instituts fi nden Sie auf unserer Website: Teilbänden, € 78,–, EAN 9783593399607 Erscheinungstermin: Februar 2017 248 S., € 29,90, EAN 99783593501680 Heinz Steinert (Hrsg.) Wissenschaftliche Reihe, Band 14 Wissenschaftliche Reihe, Band 22 Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts 2014, Band 18 Lachen über Hitler – Auschwitz Gelächter? www.fritz-bauer-institut.de Filmkomödie, Satire und Holocaust Katharina Stengel (Hrsg.) Jörg Osterloh, Harald Wixforth (Hrsg.) Katharina Rauschenberger, Werner Konitzer (Hrsg.) München: Edition text + kritik im Richard Boorberg Bestellungen bitte an die Vor der Vernichtung. Die staatliche Enteignung der Unternehmer und NS-Verbrechen Antisemitismus und andere Feindseligkeiten Verlag, 2003, 386 S., 40 s/w Abb., € 27,50, Juden im Nationalsozialismus Karl Marx Buchhandlung GmbH Wirtschaftseliten im »Dritten Reich« und in der Interaktionen von Ressentiments ISBN 3-88377-724-2 Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2007, Bundesrepublik Deutschland Jahrbuch zur Geschichte Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2015 Schriftenreihe, Band 19 Publikationsversand Fritz Bauer Institut 336 S., € 24,90, EAN 978-3-593-38371-2 Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag 2014, und Wirkung des Holocaust 197 S., € 29,90, EAN 9783593504698 Jordanstr. 11, 60486 Frankfurt am Main Wissenschaftliche Reihe, Band 15 416 S., € 34,90, EAN 9783593399799 Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts 2015, Band 19 Barbara Thimm, Gottfried Kößler, Tel.: 069.778 807, Fax: 069.707 739 9 Wissenschaftliche Reihe, Band 23 Susanne Ulrich (Hrsg.) Christoph Jahr [email protected] Werner Konitzer, David Palme (Hrsg.) Verunsichernde Orte Antisemitismus vor Gericht Katharina Rauschenberger, Werner Renz (Hrsg.) Katharina Stengel und Werner Konitzer (Hrsg.) »Arbeit«, »Volk«, »Gemeinschaft« Selbstverständnis und Weiterbildung in der www.karl-marx-buchhandlung.de Debatten über die juristische Ahndung judenfeindli- Henry Ormond – Anwalt der Opfer Opfer als Akteure Ethik und Ethiken im Nationalsozialismus Gedenkstättenpädagogik cher Agitation in Deutschland (1879–1960) Plädoyers in NS-Prozessen Interventionen ehemaliger NS-Verfolgter in der Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2016 Frankfurt am Main: Brandes & Apsel Verlag, 2010, Liefer- und Zahlungsbedingungen Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2011, Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2015, Nachkriegszeit ca. 320 S., € 29,95, EAN 9783593506227 208 S., € 19,90, Lieferung auf Rechnung. Die Zahlung ist sofort fällig. 476 S., € 39,90, EAN 978-3-593-39058-1 364 S., 27 Abb., € 34,90, EAN 978-3-593-50282-3 Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2008, Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts 2016, Band 20 SBN 978-3-86099-630-0 Bei Sendungen innerhalb Deutschlands werden ab Wissenschaftliche Reihe, Band 16 Wissenschaftliche Reihe, Band 24 308 S., € 29,90, EAN 978-3-593-38734-5; Schriftenreihe, Band 21 einem Bestellwert von € 50,– keine Versandkosten be- Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts 2008, Band 12 rechnet. Unter einem Bestellwert von € 50,– betragen Wolf Gruner, Jörg Osterloh (Hrsg.) Werner Renz (Hrsg.) Das Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Jaroslava Milotová, Zlatica Zudová-Lešková, die Versandkosten pauschal € 3,– pro Sendung. Für Das »Großdeutsche Reich« und die Juden »Von Gott und der Welt verlassen« Werner Konitzer und Raphael Gross (Hrsg.) Holocaust wird herausgegeben im Auftrag des Fritz Jiří Kosta (Hrsg.): Lieferungen ins Ausland (Land-/Seeweg) werden Ver- Nationalsozialistische Verfolgung in den Fritz Bauers Briefe an Thomas Harlan Moralität des Bösen Bauer Instituts. Es erscheint mit freundlicher Unter- Tschechische und slowakische Juden im sandkosten von € 5,– pro Kilogramm Versandgewicht »angegliederten« Gebieten Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2015 Ethik und nationalsozialistische Verbrechen stützung des Fördervereins Fritz Bauer Institut e.V. Widerstand 1938–1945 in Rechnung gestellt. Besteller aus dem Ausland erhal- Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2010, 300 S., gebunden, 24 s/w-Fotos, € 29,90 Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2009, Mitglieder des Fördervereins können das aktuelle Metropol Verlag, Berlin, 2008, 272 S., € 19,–, ten eine Vorausrechnung (bei Zahlungseingang wird 438 S., , € 39,90, EAN 978-3-593-39168-7 EAN 978-3-593-50468-1 272 S., € 29,90, EAN 978-3-59339021-5; Jahrbuch zum reduzierten Preis von € 23,90 ISBN 978-3-940938-15-2 das Paket versendet). Wissenschaftliche Reihe, Band 17 Wissenschaftliche Reihe, Band 25 Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts 2009, Band 13 (inkl. Versandkosten) im Abonnement beziehen. Schriftenreihe, Band 22

112 Publikationen Einsicht 16 Herbst 2016 113 Irmtrud Wojak Kooperation mit dem Thüringer Justizministerium Fritz Bauer 1903–1968 Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2014, Reihe »Konfrontationen« Zeitzeugen-Videos auf DVD DVD/DVD-ROM Sonstige Veröffentlichungen Eine Biographie 300 S., zahlr. Abb., € 29,90 Bausteine für die pädagogische Annäherung Verlag C.H. Beck, München, 2009, 24 Abb., 638 S., ISBN: 978-3-5935-0105-5 an Geschichte und Wirkung des Holocaust € 34,–, ISBN 978-3-406-58154-0; Schriftenreihe, Band 32 Die Video-Interviews sind für die pädagogische Arbeit Veröffentlichung elektronischer Medien des Fritz Bauer Kersten Brandt, Hanno Loewy, Krystyna Oleksy (Hrsg.) Schriftenreihe, Band 23 mit Zeitzeugenaussagen konzipiert. Sie sind für den Ein- Institut und Veröffentlichungen, die mit Unterstützung Vor der Auslöschung… Broschierte Sonderausgabe 2011: Martin Liepach, Wolfgang Geiger: satz in der Schule (ab Klasse 8), der Erwachsenenbil- des Fritz Bauer Instituts erschienen sind. Fotografi en gefunden in Auschwitz Gottfried Kößler, Petra Mumme Verlag C.H. Beck, München, 2011, € 28,– Fragen an die jüdische Geschichte dung, der Lehrerfortbildung und der außerschulische Bil- Hrsg. im Auftrag des Staatlichen Museums Auschwitz- Identität ISBN 978-3-406-62392-9 Darstellungen und didaktische Herausforderungen dungsarbeit geeignet. Die DVD-Reihe wird fortgeführt. Fritz Bauer Institut und Staatliches Museum Birkenau. Gina Kehayoff Verlag, München, 2001, › Individuum und Gesellschaft Neuausgabe 2016: Schwalbach/Ts.: Wochenschau-Verlag, 2014, Auschwitz-Birkenau (Hrsg.): 2. überarb. Aufl ., Bildband, 492 S., ca. 2.400 Farbabb. › Anfänge des Nationalsozialismus Buxus Edition, München, 2016 Reihe Geschichte unterrichten, 192 S., € 19,80 »Ich habe immer ein bisschen Sehnsucht und Der Auschwitz-Prozess und Textband, 158 S., € 124,95; ISBN 3-934296-13-0 Frankfurt am Main, 2000, 56 S., ISBN 3-932883-25-X 614 S., € 28,– (zuz. € 4,50 Versand) ISBN: 978-3-7344-0020-9 Heimweh …« Tonbandmitschnitte, Protokolle und Dokumente Konfrontationen Heft 1 Bestelladresse: [email protected] Schriftenreihe, Band 33 Marianne Schwab, geboren 1919 in Bad Homburg, DVD-ROM, ca. 80.000 S. Hrsg. von Irmtrud Wojak Öffentlicher Vortrag 1992 Berlin: Directmedia Verlag, 2004, im Auftrag des Fritz Bauer Instituts Jacqueline Giere, Gottfried Kößler Joachim Perels (Hrsg.) Fritz Bauer Die Digitale Bibliothek 101, € 45,– Auschwitz-Prozess 4 Ks 2/63 Frankfurt am Main Gruppe Auschwitz in der deutschen Geschichte Die Wurzeln faschistischen und »Meine Eltern haben mir den Abschied leicht ISBN 3-89853-501-0 Katalog zur gleichnamigen historisch-dokumentari- › Gemeinschaft und Ausschluss Offi zin-Verlag, Hannover, 2010, 258 S., nationalsozialistischen Handelns gemacht« Eine Neuaufl age der DVD ist für € 19,90 (zzgl. schen Ausstellung des Fritz Bauer Instituts › Volksgemeinschaft und Verfolgung von Minderheiten ISBN 978-3930345724, € 19,80; Mit einer Einleitung von David Johst Dorothy Baer, geboren 1923 in Frankfurt am Main Versand) zu beziehen über: www.versand-as.de Snoeck Verlag, Köln, 2004, 872 S., 100 farb. und Frankfurt am Main, 2001, 56 S., ISBN 3-932883-26-8 Schriftenreihe, Band 25 Herausgegeben vom Fritz Bauer Institut Interview 1992 800 s/w Abb., € 49,80, ISBN 3-936859-08 Konfrontationen Heft 2 Hamburg, Europäische Verlagsanstalt, 2016, ca.120 S., Hessischer Rundfunk (Hrsg.) Raphael Gross Broschur, ca. € 15,00, EAN 978-3-86393-085-1 »…dass wir nicht erwünscht waren« Der große Raub (D 2002) Fritz Bauer Institut und Staatliches Museum Heike Deckert-Peaceman, Uta George, Petra Mumme Anständig geblieben Schriftenreihe, Band 34 Martha Hirsch, geboren 1918 in Frankfurt am Main, Wie in Hessen die Juden ausgeplündert wurden Auschwitz- Birkenau (Hrsg.): Ausschluss Nationalsozialistische Moral und Erwin Hirsch, geboren in Straßburg Ein Film von Henning Burk und Dietrich Wagner, Der Auschwitz-Prozess › Voraussetzungen und Zusammenhänge des Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2010, 288 S., Interview 1993 Hrsg. in wissenschaftlicher Zusammenarbeit mit Tonbandmitschnitte, Protokolle und Dokumente Ausschlusses von Minderheiten aus der € 19,95, ISBN 978-3-10-028713-7; dem Fritz Bauer Institut DVD-ROM, ca. 80.000 S., Directmedia Verlag, NS-Volksgemeinschaft Schriftenreihe, Band 26 »Rollwage, wann willst Du endlich aufwachen?« DVD zur Ausstellung »Legalisierter Raub. Der Fiskus Berlin, 2004, Digitale Bibliothek, Band 101, € 45,– › NS-»Euthanasie«-Verbrechen Erinnerungen an die Kinderlandverschickung und die Ausplünderung der Juden in Hessen 1933– ISBN 978-3-89853-801-5. › Verfolgung schwarzer Deutscher in der NS-Zeit Rolf Pohl, Joachim Perels (Hrsg.) 1940–1945 1945« des Fritz Bauer Instituts und des Hessischen Eine Neuaufl age der DVD ist für € 10,– (zzgl. Versand) Pädagogische Materialien › Der Weg zum Völkermord an den Sinti und Roma Normalität der NS-Täter? Herbert Rollwage, geboren 1929 in Hamburg Rundfunks zu beziehen bei Versand-AS, Berlin: www.versand-as.de Frankfurt am Main, 2003, 80 S., ISBN 3-932883-27-6 Eine kritische Auseinandersetzung des Pädagogisches Zentrums des Fritz Bauer Ausschnitte aus einem Gespräch im Rahmen eines DVD, hr media, 2007, 45 Min., € 10,– Konfrontationen Heft 3 Hannover: Offi zin Verlag, 2011, 148 S., € 14,80 Instituts und des Jüdischen Museums Frankfurt Seminars des Fritz Bauer Instituts 1996 ISBN 978-3-89844-311-1 Eine Rettergeschichte. Arbeitsvorschläge zum Film ISBN 978-3-930345-71-7 »Schindlers Liste« Uta Knolle-Tiesler, Gottfried Kößler, Oliver Tauke Schriftenreihe, Band 27 »Returning from Auschwitz« Fritz Bauer Institut (Hrsg.) Pädagogisches Begleitheft zum Oskar und Emile Ghetto Bernhard Natt, geboren 1919 in Frankfurt am Main Fritz Bauer Schindler Lernzentrum im Museum Judengasse Mirjam Thulin › Vernichtung durch Arbeit: das Ghetto Lodz Monika Boll und Raphael Gross (Hrsg.) Interview 1999 Gespräche, Interviews und Reden aus den Frankfurt am Main Von Frankfurt nach Tel Aviv › Theresienstadt – ein »Musterghetto«? »Ich staune, dass Sie in dieser Luft atmen können« Fernseharchiven 1961‒1968 Hrsg.: Jüdisches Museum Frankfurt und Fritz Bauer Die Geschichte der Erna Goldmann › Der jüdische Aufstand im Warschauer Ghetto Jüdische Intellektuelle in Deutschland nach 1945 Ein Leben zwischen Konzentrations-lager und Redaktion: Bettina Schulte Strathaus Institut. Texte ausgewählt und bearbeitet von Gottfried Materialheft zum Filmporträt Frankfurt am Main, 2002, 88 S., ISBN 3-932883-28-4 Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main, 2013, Dorfgemeinschaft Erstveröffentlichung historischer Fernsehaufnahmen Kößler und Martin Liepach. Pädagogische Schriften- Redaktion: Gottfried Kößler, Manfred Levy Konfrontationen Heft 4 384 S., € 14,99, ISBN: 978-3-596-18909-0 Ruth Lion, geboren 1909 in Momberg (Hessen) anlässlich der Ausstellung des Fritz Bauer Instituts reihe des Jüdischen Museums Frankfurt am Main, Frankfurt am Main, 2012, 48 S., € 5,– Schriftenreihe, Band 28 Interview 1998 und des Jüdischen Museums Frankfurt: »Fritz Bauer. Band 5. Frankfurt am Main 2005, DIN-A 4 Broschüre, ISBN 978-3-932883-34-7 Verena Haug, Uta Knolle-Tiesler, Gottfried Kößler Der Staatsanwalt – NS-Verbrechen vor Gericht« 28 S., € 4,– (zzgl. Versand), ISBN 3-9809814-1-X. Pädagogische Materialien Nr. 01 Deportationen Fritz Backhaus, Dmitrij Belkin, Raphael Gross (Hrsg.): Kindheit und Jugend im Frankfurter Ostend Absolut MEDIEN, Berlin 2014, Dokumente 4017 Zu beziehen: www.juedischesmuseum.de/408.html › Leben zwischen Novemberpogrom und Deportation Bild dir dein Volk! 1925–1941 2 DVDs, 298 Min., s/w, € 19,90 Wolfgang Geiger, Martin Liepach, Thomas Lange › Ausplünderung Axel Springer und die Juden Norbert Gelhardt, geboren 1925 in Frankfurt am Main, ISBN: 978-3-8488-4017-5 Dmitrij Belkin, Raphael Gross (Hrsg.) (Hrsg.) › Verschleppung Göttingen: Wallstein Verlag, 2012, 224 S., 64 überw. Interview 2000 http://absolutmedien.com/fi lm-1565 Ausgerechnet Deutschland! Verfolgung, Flucht, Widerstand und Hilfe Mit einem Beitrag von Peter Longerich: Deportatio- farb. Abb., € 19,90, ISBN: 978-3-8353-1081-0 Jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik außerhalb Europas im Zweiten Weltkrieg nen. Ein historischer Überblick. Schriftenreihe, Band 29 »Heim ins Reich« Fritz Bauer Institut, Absolut MEDIEN (Hrsg.) Essayband zur Ausstellung des Jüdischen Museums Unterrichtsmaterialien zum Ausstellungsprojekt Frankfurt am Main, 2003, 64 S., ISBN 3-932883-24-1 Margarethe Eichberger, geb. Drenger; geboren 1926 Auschwitz vor Gericht (D 2013) Frankfurt. Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin, »Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg« Konfrontationen Heft 4 Raphael Gross im Baltikum (heute Lettland), Strafsache 4 Ks 2/63 (D 1993) 2010, 192 S., 100 farb. Abb., € 24,95, Frankfurt am Main, 2013, 76 S., € 7,– November 1938 Interview 2001 Zwei Dokumentationen ISBN 978-3-89479-583-2 ISBN 978-3-932883-35-4 Jacqueline Giere, Tanja Schmidhofer Die Katastrophe vor der Katastrophe von Rolf Bickel und Dietrich Wagner Pädagogische Materialien Nr. 02 Todesmärsche und Befreiung München: Verlag C. H. Beck, 2013, 128 S., € 8,95 Die DVDs können entliehen werden über: DVD-Booklet mit einem einführenden Text von Fritz Backhaus, Liliane Weissberg, › Todesmärsche Beck`sche Reihe: bsr – C.H. Beck Wissen; 2782 Medienzentrum Frankfurt e.V., Ostbahnhofstr. 15, Werner Renz, Fritz Bauer Institut Raphael Gross (Hrsg.) Dagi Knellessen › Befreiung der Lager ISBN 978-3-406-65470-1; Schriftenreihe, Band 31 60314 Frankfurt am Main, Tel.:. 069.949424-0, Extras der DVD-ROM: ergänzende Texte und Juden. Geld. Eine Vorstellung Novemberpogrome 1938 › »Ein Leben auf’s Neu« – Eine Publikation des Leo Baeck Institute London [email protected] Materialien zum Auschwitz-Prozess (pdf-Dateien), Katalog zur gleichnamigen Ausstellung des Jüdischen »Was unfassbar schien, ist Wirklichkeit« Jüdische Displaced Persons 1945 bis 195 www.medienzentrum-frankfurt.de zusammengestellt von Werner Renz. Museums Frankfurt und des Fritz Bauer Instituts. Mit einem Vorwort von Raphael Gross Frankfurt am Main, 2003, 56 S., ISBN 3-932883-29-2 Fritz Backhaus, Monika Boll, Raphael Gross (Hrsg.) Die DVDs können erworben werden (€ 5,– plus Versand- Absolut MEDIEN, Berlin 2014, Dokumente 4021 Ausstellung vom 25. April bis 6. Oktober 2013 im Redaktion: Gottfried Kößler Konfrontationen Heft 6 Fritz Bauer. Der Staatsanwalt kosten), Bestelladresse: Karl Marx Buchhandlung, Regie: Rolf Bickel und Dietrich Wagner (hr) Jüdischen Museum Frankfurt am Main. Frankfurt am Main 2015, 116 S., € 10,– NS-Verbrechen vor Gericht Jordanstraße 11, 60486 Frankfurt am Main, 2 DVDs, PAL, Mono, codefree, 4:3, Farbe + s/w, Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2013, IBAN 978-3-932883-36-1 Alle Hefte der »Konfrontationen«-Reihe sind zum Begleitband zur Ausstellung des Fritz Bauer Instituts Tel.: 069.778807, [email protected] 220 Min., € 24,90, EAN: 978-3-8488-4021-2 436 S., zahlr. Abb., € 19,90 Pädagogische Materialien Nr. 03 Preis von € 7,60 (ab 10 Hefte € 5,10) erhältlich. und des Jüdischen Museums Frankfurt am Main, in www.karl-marx-buchhandlung.de http://absolutmedien.com/fi lm-1569 ISBN 978-3-59339-923-2

114 Publikationen Einsicht 16 Herbst 2016 115 Impressum Fördern Sie mit uns das Nachdenken

Kontakt: über den Fritz Bauer Institut Norbert-Wollheim-Platz 1 Holocaust D-60323 Frankfurt am Main Telefon: +49 (0)69.798 322-40 Telefax: +49 (0)69.798 322-41 [email protected] www.fritz-bauer-institut.de

Besuchen Sie uns auch auf facebook: Generalstaatsanwalt Fritz Bauer www.facebook.com/fritz.bauer.institut Foto: Schindler-Foto-Report

Bankverbindung: Frankfurter Sparkasse SWIFT/BIC: HELADEF1822 Einsicht 16 IBAN: DE91 5005 0201 0000 3219 01 Fünfzig Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus ist am 13. Vorstand des Fördervereins Bulletin des Steuernummer: 45 250 8145 5 - K19 Januar 1995 in Frankfurt am Main die Stiftung »Fritz Bauer Institut, Jutta Ebeling (Vorsitzende), Brigitte Tilmann (stellvertretende Vor- Finanzamt Frankfurt am Main III Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung sitzende), Gundi Mohr (Schatzmeisterin), Prof. Dr. Eike Hennig Fritz Bauer Instituts des Holocaust« gegründet worden – ein Ort der Ausein-andersetzung (Schriftführer), Beate Bermanseder, Dr. Rachel Heuberger, Herbert Redaktion: Werner Konitzer (V.i.S.d.P.), unserer Gesellschaft mit der Geschichte des Holocaust und seinen Mai, Klaus Schilling, David Schnell (Beisitzer/innen) Herbstausgabe, Oktober 2016 Werner Lott, Jörg Osterloh, Katharina Auswirkungen bis in die Gegenwart. Das Institut trägt den Namen 8. Jahrgang Rauschenberger, Werner Renz Fritz Bauers, des ehemaligen hessischen Generalstaatsanwalts und Fördern Sie mit uns das Nachdenken über den Holocaust ISSN 1868-4211 Anzeigenredaktion: Dorothee Becker Initiators des Auschwitz-Prozesses 1963 bis 1965 in Frankfurt am Der Förderverein ist eine tragende Säule des Fritz Bauer Instituts. Lektorat: Gerd Fischer Main. Ein mitgliederstarker Förderverein setzt ein deutliches Signal bürger- Titelabbildung: Gestaltung/Layout: Werner Lott schaftlichen Engagements, gewinnt an politischem Gewicht im Stif- Leserin mit der Sonderausgabe der Herstellung: Vereinte Druckwerke Aufgaben des Fördervereins tungsrat und kann die Interessen des Instituts wirkungsvoll vertreten. Süddeutschen Zeitung vom 1. Oktober Frankfurt am Main Der Förderverein ist im Januar 1993 in Frankfurt am Main gegrün- Zu den zahlreichen Mitgliedern aus dem In- und Ausland gehören 1946 zum Urteilsspruch im Nürnberger Erscheinungsweise: zweimal jährlich det worden. Er unterstützt die wissenschaftliche, pädagogische und engagierte Bürgerinnen und Bürger, bekannte Persönlichkeiten des Hauptkriegsverbrecherprozess (April/Oktober) dokumentarische Arbeit des Fritz Bauer Instituts und hat durch das öffentlichen Lebens, aber auch Verbände, Vereine, Institutionen und (20.11.1945–1.10.1946). Aufl age: 5.500 ideelle und fi nanzielle Engagement seiner Mitglieder und zahlreicher Unternehmen sowie zahlreiche Landkreise, Städte und Gemeinden. Foto: SZ Photo/ Spender wesentlich zur Gründung der Stiftung beigetragen. Der Süddeutsche Zeitung Photo Manuskriptangebote: Verein sammelt Spenden für die laufende Arbeit des Instituts und Werden Sie Mitglied! Textangebote zur Veröffentlichung in die Erweiterung des Stiftungsvermögens. Er vermittelt einer breiten Jährlicher Mindestbeitrag: € 60,– / ermäßigt: € 30,– Einsicht. Bulletin des Fritz Bauer Instituts Öffentlichkeit die Erkenntnisse, die das Institut im universitären Raum Unterstützen Sie unsere Arbeit durch eine Spende! bitte an die Redaktion. Die Annahme mit hohen wissenschaftlichen Standards erarbeitet hat. Er schafft Frankfurter Sparkasse, SWIFT/BIC: HELADEF1822 von Beiträgen erfolgt auf der Basis einer neue Kontakte und stößt gesellschaftliche Debatten an. IBAN: DE43 5005 0201 0000 3194 67 Begutachtung durch die Redaktion. Für Für die Zukunft gilt es – gerade auch bei zunehmend knapper wer- Werben Sie neue Mitglieder! unverlangt eingereichte Manuskripte, denden öffentlichen Mitteln –, die Projekte und den Ausbau des Informieren Sie Ihre Bekannten, Freunde und Kollegen über die Fotos und Dokumente übernimmt das Fritz Bauer Instituts weiter zu fördern, seinen Bestand langfristig Möglichkeit, sich im Förderverein zu engagieren. Gerne senden wir Fritz Bauer Institut keine Haftung. zu sichern und seine Unabhängigkeit zu wahren. Ihnen weitere Unterlagen mit Informationsmaterial zur Fördermit- gliedschaft und zur Arbeit des Fritz Bauer Instituts zu. Copyright: Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust © Fritz Bauer Institut Seit 1996 erscheint das vom Fritz Bauer Institut herausgegebene QR-Code: Förderverein Link zu allen bisher Stiftung bürgerlichen Rechts Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust im Campus Fritz Bauer Institut e.V. erschienenen Ausgaben Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck nur Verlag. In ihm werden herausragende Forschungsergebnisse, Reden von Einsicht. Bulletin mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. und Kongressbeiträge zur Geschichte und Wirkungsgeschichte des Norbert-Wollheim-Platz 1 des Fritz Bauer Instituts Holocaust versammelt, welche die internationale Diskussion über 60323 Frankfurt am Main als pdf-Dateien. [fritz-bauer-institut.de/ Einsicht erscheint mit Unterstützung des Ursachen und Folgen der nationalsozialistischen Massenverbrechen Telefon: +49 (0)69.798 322-39 einsicht.html] Fördervereins Fritz Bauer Institut e.V. refl ektieren und bereichern sollen. Telefax: +49 (0)69.798 322-41 Mitglieder des Fördervereins können das Jahrbuch des Fritz Bauer [email protected] Instituts zum Vorzugspreis im Abonnement beziehen. www.fritz-bauer-institut.de 116 Impressum Einsicht 16 Herbst 2016 117 NEUERSCHEINUNGEN HERBST 2016 (AUSWAHL) METROPOL VERLAG | ANSBACHER STR. 70 | 10777 BERLIN BESTELLUNGEN UND REZENSIONSEXEMPLARE: DR. NICOLE WARMBOLD TEL.: (030) 23 00 46 23 | FAX: (030) 2 65 05 18 | E-MAIL: [email protected]

BEATE MEYER

DEUTSCHE JÜDINNEN UND JUDEN IN GHETTOS UND LAGERN (1941–1945) LODZ. CHELMNO. MINSK. RIGA. AUSCHWITZ. THERESIENSTADT

HANS-CHRISTIAN JASCH · BEATE MEYER (Hrsg.) MIRIAM SCHULZ WOLFGANG BENZ · BRIGITTE MIHOK (Hrsg.) CHRISTOPH KREUTZMÜLLER (Hrsg.) DEUTSCHE JÜDINNEN UND JUDEN IN DER BEGINN DES UNTERGANGS »JUDEN UNERWÜNSCHT« DIE TEILNEHMER GHETTOS UND LAGERN (1941–1945) Die Zerstörung der jüdischen Gemeinden in Polen Anfeindungen und Ausschreitungen Die Männer der Wannsee-Konferenz Lodz. Chelmno. Minsk. Riga. Auschwitz. und das Vermächtnis des Wilnaer Komitees nach dem Holocaust Theresienstadt ISBN: 978-3-86331-306-7 ISBN: 978-3-86331-312-8 ISBN: 978-3-86331-305-0 ca. 300 Seiten · Hardcover · 20,– Euro ISBN: 978-3-86331-314-2 308 Seiten · 22,– Euro 235 Seiten · 19,– Euro ca. 270 Seiten · 19,– Euro Wer waren die Männer, die sich auf der Wannsee-Konfe- Im November 1939 schlossen sich 60 jüdische Schrift- Nirgendwo waren Juden, die den Holocaust überlebt renz über die Umsetzung der »Endlösung« verständigt Noch immer ist weitgehend unbekannt, unter welchen steller und Journalisten, die aus Polen nach Wilna ge- hat ten, willkommen. Der Befreiung aus KZ und Zwangs- haben? Welche Dienststellen vertraten sie? Wie waren Bedingungen die deutsch-jüdischen Deportierten in fl üchtet waren, zusammen, um die Zerstörung des pol- arbeit folgte die Erkenntnis, dass sie in ihrer Heimat sie in die Position gekommen, die sie am 20. Januar 1942 Ghettos und Lagern lebten, welche Stellung sie in der nischen Judentums zu dokumentieren. Es war die wohl unerwünscht waren – ob in Deutschland, Polen, Ungarn, bekleideten? Was trieb sie an? Was geschah mit ihnen jeweiligen Häftlingsgesellschaft einnahmen und wie sie früheste jüdische historische Kommission, die im Schat- in der Slowakei oder Rumänien. Am erschreckendsten nach dem Krieg? Um diese Fragen erstmals umfassend selbst ihre Situation refl ektierten. Ausgewiesene For- ten der deutschen Verbrechen ihre Arbeit aufnahm. war 1946 das Wiederauffl ammen von Judenhass, der zu beantworten, haben renommierte Autoren anlässlich scher gehen diesen Fragen für größere und bekanntere Miriam Schulz hat das Komitet tsu zamlen materialn vegn sich im Pogrom von Kielce entlud. 42 Überlebende des des 75. Jahrestags der Konferenz ausführliche Biografi en Ghettos und Lager nach, in die deutsche Jüdinnen und yidishn khurbn in Poyln 1939 erstmals erforscht und Holocaust fanden den Tod. Aber auch anderswo waren der fünfzehn Teilnehmer erarbeitet. Juden ab Oktober 1941 deportiert wurden. Biografi en mehrere Bulletins aus seiner Sammlung ins Deutsche Juden nach dem Holocaust mit Verfolgung und Gewalt zeichnen exemplarisch individuelle Lebenswege nach. übertragen. konfrontiert.

GERD KÜHLING RUTH BARNETT WOLFGANG BENZ · BARBARA DISTEL (Hrsg.) UWE KAMINSKY · THOMAS ROTH

ERINNERUNG AN NATIONALITÄT: STAATENLOS GEMEINSCHAFTSFREMDE VERWALTUNGSDIENST, NATIONALSOZIALISTISCHE Die Geschichte eines Kindertransportes Zwangserziehung im Nationalsozialismus, GESELLSCHAFTSPOLITIK UND VERBRECHEN IN BERLIN in der Bundesrepublik und der DDR VERGANGENHEITSBEWÄLTIGUNG Verfolgte des Dritten Reiches und ISBN: 978-3-86331-309-8 NACH 1945 geschichtspolitisches Engagement im 275 Seiten · Hardcover · 22,– Euro ISBN: 978-3-86331-313-5 Udo Klausa, Direktor des Kalten Krieg 1945–1979 ca. 200 Seiten · 19,– Euro Landschaftsverbandes Rheinland (1954–1975) Seit Ursula Krechels Roman »Landgericht« ist vielen ISBN: 978-3-86331-278-7 Lesern der Lebensweg der Familie des jüdischen Richters Kontinuitäten der Ausgrenzung und der zwangsweisen ISBN: 978-3-86331-310-4 582 Seiten · Hardcover · 29,– Euro Richard Kornitzer bekannt. Reales Vorbild war die Le- Erziehung zur Konformität waren allen deutschen Ge- ca. 640 Seiten · Hardcover · 39,– Euro bensgeschichte von Robert Michaelis, Ruth Barnetts sellschaften vor, während und nach der NS-Zeit gemein- In den Auseinandersetzungen zwischen der Bundesre- Vater. Mit ihrem Bericht liegt nun die authentische Ge- sam. Umerziehungs- und Ordnungsdenken von politi- Wie wurde aus einem NS-Landrat der Chef eines der publik und der DDR war der Umgang mit der NS-Ver- schichte eines seiner Kinder vor. 1939 entkam Ruth als schen Instanzen, sozialen Einrichtungen und Erziehern größten Kommunalverbände der Bundesrepublik? Die gangenheit eines der umstrittensten Themen. Deutlich kleines Mädchen den Nationalsozialisten fast in letzter sind systemübergreifende Phänomen. Unterschiede be- Studie untersucht die Nachkriegskarriere des politischen traten die geschichtspolitischen Konfl ikte im geteilten Minute mit einem Kindertransport nach Großbritannien. standen darin, dass Gewalt, Missbrauch, Demütigung Verwaltungsbeamten Udo Klausa und sein Handeln in Berlin zutage. Die Studie untersucht die Entwicklung der Sie erzählt von ihrer schwierigen Existenz als heimat- teilweise »nur« ignoriert oder stillschweigend geduldet, der Personalpolitik, der Jugendhilfe, Psychiatrie und Kul- Berliner Gedenk- und Erinnerungslandschaft während und staatenloses Mädchen in der Fremde, in Heimen teilweise aber aus Staatsräson verübt wurden. turpfl ege. Sie zeigt politische und mentale Kontinuitä- des Kalten Krieges und zeigt, wie die Aufarbeitung der und Pfl egefamilien. ten, aber auch Anpassungen an gesellschaftliche Ver- NS-Verbrechen über Jahrzehnte vor allem vom Engage- änderungen in Westdeutschland. Thema ist zudem der ment ehemals Verfolgter geprägt war. de fi zitäre Umgang Klausas mit seiner NS-Vergangenheit.

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