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„Die historische Wahrheit kund und zu wissen tun“ Die justizielle Aufarbeitung von NS-Verbrechen in Hessen Die justizielle Aufarbeitung von NS-Verbrechen in Hessen – „Die historische Wahrheit kund und zu wissen tun“ Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:04 Seite 1

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„Die historische Wahrheit kund und zu wissen tun“ Die justizielle Aufarbeitung von NS-Verbrechen in Hessen

Katalog zur Wanderausstellung des Hessischen Hauptstaatsarchivs 2014/2015 Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:04 Seite 2

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5 Grußwort Boris Rhein, Hessischer Minister für Wissenschaft und Kunst

7 Grußwort Eva Kühne-Hörmann, Hessische Ministerin der Justiz

9 Grußwort Dr. Thomas Wurzel, Geschäftsführer der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen

11 Danksagung Prof. Dr. Klaus Eiler, Direktor des Hessischen Hauptstaatsarchivs

12 Einführung

13 I. Beginn der justiziellen Aufarbeitung zwischen 1945 und 1960

41 II. Judenverfolgung und Völkermord – die justizielle Aufarbeitung in Hessen

41 II.1. Judenverfolgung zwischen 1933 und 1939

57 II.2. Deportation und Ghettoisierung mit Beginn des 2. Weltkrieges

71 II.3. Übergang zum systematischen Massenmord

83 II.4. Auschwitz

111 III. Fazit und Ausblick

125 Dokumentenanhang

202 Bildnachweise

205 Ausgewählte Literatur

208 Impressum Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:04 Seite 4

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„Ein zentrales Element deutscher Erinnerungskultur“ Vor 50 Jahren wurde vor dem Frankfurter Landgericht der 1. Auschwitz-Prozess verhandelt. Dieser Prozess war zum damaligen Zeitpunkt das größte Schwurge- richtsverfahren in der deutschen Justizgeschichte.

Das Strafverfahren gegen Angehörige der Lagermann- schaft des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz führte einer breiten Öffentlichkeit erstmals die entsetzliche Wirklichkeit des industriellen NS-Mas- senmordes drastisch vor Augen. Nicht zuletzt dank der Auf klärungsarbeit, die während des Prozesses geleistet wurde, steht „Auschwitz“ heute synonym für die Shoa sowie den Porajmos, den Völkermord an den europäischen Roma. Zugleich ist „Auschwitz“ ein zentrales Element der deutschen Erinnerungskultur, die sich dem „Nie wieder Völkermord“ als handlungsleitende Maxime verpflichtet fühlt.

Das Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden hat den 50. Jahrestag des Auschwitz-Prozesses zum Anlass genommen, über dieses legendäre Verfahren hinaus die justizielle Auf- arbeitung nationalsozialistischer Verbrechen in Hessen zwischen 1945 und 1970 in einem weiten historischen Kontext zu beleuchten.

Hessische Gerichte und Staatsanwaltschaften hatten unmittelbar nach der Befreiung 1945 mit der Ahndung von NS-Kriminalität begonnen. Dem hessischen Generalstaats- anwalt Fritz Bauer, der erreichte, dass das Auschwitz-Verfahren in Frankfurt stattfand, ist es zu verdanken, dass durch die zentrale Stellung Hessens bei der Durchführung von NS-Prozessen eine Zäsur bei der juristischen Ahndung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen in Deutschland vollzogen wurde. Darüber hinaus hatte der Prozess auch weitreichende gesellschaftliche und politische Auswirkungen für die gesamte Bundesrepublik, die noch bis zum heutigen Tag andauern.

Dass diese Ausstellung vom Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden als Teil des Hessischen Landesarchivs erarbeitet wurde, ist mir als dem für das Archivwesen zuständigen Minister natürlich besonders wichtig. Denn damit leisten wir einen wichtigen Beitrag, um einen Ausschnitt hessischer und damit auch deutscher Geschichte eindrucksvoll zu vermitteln. Ich wünsche mir, dass diese Ausstellung bis Ende 2015 in vielen hessi- schen Städten zu sehen sein wird und zahlreiche Besucherinnen und Besucher, insbesondere auch junges Publikum, anziehen möge.

Abschließend danke ich dem Hauptstaatsarchiv für die Arbeit an dieser Ausstellung. Sie wäre in der endgültigen Dimension nicht möglich geworden ohne die großzügige Förderung des Hessischen Ministeriums der Justiz sowie der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen.

Ihr

Boris Rhein Hessischer Minister für Wissenschaft und Kunst Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:04 Seite 6

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Die Aufarbeitung des Grauens Der Name Auschwitz steht als Synonym für den Tiefpunkt mensch- licher Kultur, für eine zum industriellen Verfahren perfektionierte „End- lösung“, für millionenfachen Massenmord. Das Vernichtungslager Auschwitz markiert eine Barbarei, eine Perversion der Rechtsordnung, die wir bis dahin nie für möglich gehalten hätten. Es bedurfte der Ent- schlossenheit eines Mannes, der in der Nachkriegszeit der deutschen Justiz den Weg wies, der das Unrecht als solches brandmarkte und Täter zur Verantwortung zog.

Erinnern wir uns: Das deutsche Reich hatte bedingungslos kapituliert. Die alte Unrechtsordnung war zusammengebrochen. Das Grundgesetz markierte den Neuanfang. Artikel I, Satz 1 wurde zum Programm: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Aber viele Staatsanwälte und Richter, die Mitläufer waren oder das Unrechtssystem gestützt hat- ten, die sich ebenfalls schuldig gemacht hatten, duckten sich hinter Aktenbergen und machten weiter, als wenn nichts gewesen wäre. Vergessen wir nicht, dass keiner der Richter eines Sondergerichts oder der 570 Richter und Staatsanwälte des Volks- gerichtshofs wegen eines der zahlreichen Unrechtsurteile von bundesdeutschen Gerichten rechtskräftig verurteilt wurde. Doch auch viele Juristen der neuen Genera- tion waren schockiert von dem, was sie nach und nach über die grausame Wahrheit der Vernichtungslager erfuhren. Sie waren paralysiert von der schier unmöglichen Aufgabe, das Unrecht in Worte zu fassen und zur Anklage zu bringen.

Es bedurfte einer ganz außergewöhnlichen Persönlichkeit, die diese neuerliche Zäsur in der Rechtsgeschichte vornahm. Der damalige hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer ergriff die Initiative und organisierte vor dem Frankfurter Landgericht den Auschwitz-Prozess, der die noch junge Republik aufwühlte, der zum Synonym wurde für die Aufarbeitung des Grauens, des unsagbaren Leids, das Mitmenschen angetan wurde.

Es fällt immer wieder mal der Satz, dass des Mahnens und Erinnerns doch irgend- wann genug sein müsse. Das ist falsch. Wir müssen Unrecht als solches benennen. Wir müssen immer wieder den Weg zeichnen, der in diesen Abgrund geführt hat. Nur wer die Geschichte kennt, kann daraus lernen.

Das Hauptstaatsarchiv hat eine bemerkenswerte Ausstellung über den Jahrhundert- Prozess zusammengetragen. Ich danke der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen- Thüringen für die großzügige Förderung und bitte unsere Lehrer, diese Ausstellung in den Unterricht mit einzubeziehen. Ich wünsche mir, dass vor allem die junge Gene- ration von der hervorragenden Ausstellung Kenntnis nimmt.

Eva Kühne-Hörmann Hessische Justizministerin Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:04 Seite 8

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Am 20. Dezember 1963 begann die Hauptverhandlung im 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess. In ihm und in den folgenden Prozessen wurden vor fünfzig Jahren erstmals Personen angeklagt, denen die Beteiligung am Massenmord im Vernichtungslager Auschwitz zur Last gelegt wurde. Sitzungsort war zunächst der Saal der Stadtverordneten im Frankfurter Römer. Im April 1964 erfolgte die Verlegung der Gerichtsver- handlung in das Frankfurter Gallusviertel. Mit den Auschwitz-Prozessen wurde der Grundstein für die justizielle Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Hessen gelegt.

Anlässlich des 50. Jahrestages des Prozessbeginns hat sich das Land Hessen – namentlich das Hessische Hauptstaatsarchiv – der Aufgabe gestellt, eine Ausstellung zur Aufarbeitung der NS-Verbrechen vermit- tels von Forschungsergebnissen und der mittlerweile digitalisierten Gerichtsdokumente zu initiieren. Sie stellt die in den Fokus, die an den Massen- morden beteiligt waren, sich auf Befehlsnotstand beriefen oder behaupteten, von nichts etwas gewusst zu haben.

Die Ausstellung dokumentiert die Anklage und die Verurteilung der Beteiligten als Täter wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Grundlage der Anklage war vor allem deren Mitwirkung an Tötungsdelikten. Rechtlich problema- tisch erschien unter anderem die Anklage der als Verwaltungsbeamte beteiligten „Schreibtischtäter“, die sich auf Vorgaben und Anweisungen beriefen. In tatsächlicher Hinsicht litten viele Verfahren unter dem Fehlen sicherer Beweismittel, denn Tat- zeugen waren verstorben, galten als unauffindbar oder ihr Erinnerungsvermögen wurde nach mehr als zwanzig Jahren angezweifelt. Die Ausstellung zeigt auch, dass der Exodus vor aller Augen und mit dem Wissen und Wollen vieler geschah. Da vermag es kaum einer zu glauben, dass die Täter nicht wussten, was mit den jüdischen Bürgerinnen und Bürgern geschah.

Die Wanderausstellung ist für hessische Städte und Kommunen konzipiert worden. Gleichzeitig wurde für Schulen eine technisch weniger aufwändige, aber dennoch inhaltlich gleichwertige Plakatausstellung produziert, um dort das historische Wissen auch über den Geschichtsunterricht hinaus im Gedächtnis zu halten. So kann der kulturelle und politische Auftrag der Bildung der Heranwachsenden mit einem Projekt dieser Art verwirklicht werden.

Obgleich die Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen damit ein thematisch schwieriges Feld betritt, ist es ihr ein großes Anliegen, das Wissen über das Unrecht der NS-Zeit im Bewusstsein der Menschen zu halten mit dem Ziel, den Anfängen zu wehren. Die Stiftung stellt sich bereits seit mehr als einem Jahrzehnt mit dem Projekt „Legalisierter Raub – der Fiskus und die Ausplünderung der Juden“ der wissen- schaftlichen Aufarbeitung und weitreichenden Vermittlung des schwierigen Themas von Mitwissenschaft und Verantwortung im NS-Staat. Wie im Rahmen dieses Projek- tes war es dabei möglich, für die Ausstellung und die Projektrecherche authentisches Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:04 Seite 10

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Dokumentationsmaterial zugänglich zu machen. Mit dieser Ausstellung zeigen Stiftung und Land Hessen, dass die historische Aufarbeitung der Vergangenheit Grundlage für ihre langjährige und partnerschaftliche Zusammenarbeit ist.

Mit der vorliegenden Publikation, die in der Reihe s selecta unserer Stiftung er- scheint, geben wir den Besucherinnen und Besuchern ein Begleitmedium an die Hand, mit dem die rechtliche Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Hessen im Rahmen der Auschwitz-Prozesse dokumentiert wird. Es ist unser Anliegen, das Wissen um die Massenvernichtung, die im Zweiten Weltkrieg stattgefunden hat, und deren erst spät einsetzende rechtliche Aufarbeitung an weitere Generationen zu vermitteln.

Dem Hessischen Hauptstaatsarchiv gilt unser Dank, das Archivmaterial derart auf- bereitet zu haben, dass es für moderne Ausstellungskonzeptionen und -techniken genutzt werden konnte. Der Ausstellung ist zu wünschen, dass sie eine große Aufmerksamkeit erfährt und im schulischen Bereich Anlass zu eigenständiger Urteilsbildung bietet.

Dr. Thomas Wurzel Geschäftsführer Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:04 Seite 11

Danksagung | 11

Danksagung Der 50. Jahrestag des 1. Frankfurter Auschwitz-Prozes- ses rückte die Geschichte der Verfahren wegen national- sozialistischer Gewaltverbrechen erneut ins Bewusst- sein der Öffentlichkeit. Das Hauptstaatsarchiv nahm dies zum Anlass, das Thema in einer Wanderausstellung aufzugreifen, denn schließlich schrieb die hessische Justiz, vor allem unter der Leitung des Generalstaatsan- walts Fritz Bauer, mit der Durchführung des bis dahin umfangreichsten Strafprozesses zum Massenmord in Auschwitz deutsche Rechtsgeschichte und trug damit zum wachsenden Ansehen Nachkriegsdeutschlands in der internationalen Gemeinschaft bei. Mit der Archivierung und Präsentation von Schrift-, Ton- und Bilddokumenten aus diesem und anderen NSG-Prozessen wollen die hessischen Staatsarchive als Häuser der Geschichte einen wertvollen Beitrag gegen das Vergessen leisten.

Schon im Vorfeld der Planungen für die Ausstellung erfuhren wir vielfache Hilfe. An erster Stelle darf ich dem Hessischen Ministerium der Justiz Dank sagen für die finanzielle und ideelle Unterstützung der Ausstellung. Gleiches gilt für die Sparkas- sen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen, ohne deren finanziellen Beitrag der vor- liegende Katalog nicht hätte gedruckt werden können. Besonderen Dank zu sagen habe ich Herrn Dr. Johann Zilien, der die Mühe auf sich genommen hat, die Ausstel- lung und den Katalog zu realisieren. An den Texten mitgewirkt oder mit Rat und Tat unterstützt haben ihn dabei Fachleute aus dem Bereich der Justiz, das Fritz Bauer Institut in Frankfurt am Main, das Bundesarchiv, die Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, der Hessische Rundfunk und die Kolleginnen und Kollegen der Staats- archive in Darmstadt und Marburg. Ihnen allen habe ich sehr zu danken. Für die Unterstützung bei den Recherchen und bei der technischen Umsetzung danke ich allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Hauptstaatsarchivs sowie Praktikan- tinnen und Praktikanten und studentischen Hilfskräften. Letztlich gilt mein Dank Frau Nina Faber, die für das Design der Ausstellung und des Katalogs verantwortlich zeichnet, für ihre Ausdauer und die gute Zusammenarbeit.

Prof. Dr. Klaus Eiler Direktor Hessisches Hauptstaatsarchiv Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:04 Seite 12

12 | Einführung

Einführung „Die historische Wahrheit kund und zu wissen tun“ – die- ses Zitat von Fritz Bauer, hessischer Generalstaatsan- walt zwischen 1956 und 1968, ist in zweierlei Hinsicht das Motto der Ausstellung zur justiziellen Aufarbeitung von NS-Verbrechen in Hessen.

Zum einen bezeichnet dieser Ausstellungstitel eine grundlegende Intention der NS-Verfahren. Nach den ers- ten Verfahren wegen NS-Kriminalität unmittelbar nach der Befreiung vom 8. Mai 1945 – sowohl von alliierter als von auch deutscher Seite geführt –, setzte sich mit Anfang der 1950er Jahre die Schlussstrich-Mentalität in Staat und Gesellschaft durch. Die nationalsozialistischen Verbrechen wurden verdrängt und verschwiegen. Erst mit Ende dieses „restaurativen“ Jahrzehnts setzte allmählich ein Bewusstseinswandel ein hin zu einer Auseinandersetzung mit diesem Teil der deutschen Vergangenheit. Hinsichtlich deren strafrechtlicher Aufarbeitung kam dabei der Person Fritz Bauers und der von ihm geleiteten Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main große Bedeutung zu. Bauer ging es um Sühne und Gerechtigkeit mit den Mitteln des Straf- rechts. Es ging ihm aber auch darum, seine Zeitgenossen mit der historischen Wahr- heit des Nationalsozialismus zu konfrontieren und einen nachhaltigen Wandel in der politischen Mentalität des deutschen Volkes herbeizuführen. Von politischen Gegnern wurde Fritz Bauer oft als „Nestbeschmutzer“ angefeindet, doch es war auch sein Ver- dienst, mit der justiziellen Aufarbeitung von NS-Verbrechen das „beschmutzte Nest“ zu säubern.

Zum anderen berührt das Titel-Zitat Fritz Bauers das Selbstverständnis der hessi- schen Staatsarchive. Als „Gedächtnis von Staat und Gesellschaft“ haben Archive die Aufgabe, die ihnen anvertrauten, historisch wertvollen Unterlagen sicher zu verwah- ren, so auch die der hessischen Gerichte und Staatsanwaltschaften. Doch darüber hinaus machen Archive historisch wertvolles Schriftgut öffentlich zugänglich und wir- ken an dessen „wahrheitsgetreuer“ Vermittlung mit. Mit dieser Ausstellung folgen die hessischen Staatsarchive diesem gesetzlichen Vermittlungsauftrag und geben einem breiten Publikum einen wissenschaftlich fundierten Einblick in ihren großen Fundus an zeitgeschichtlich bedeutsamem Archivgut.

Die inhaltliche Gestaltung der Ausstellung und des Katalogs ist dreigeteilt. Kapitel I (entspricht den Tafeln 3 bis 15) enthält einen chronologischen Abriss vom Wieder- aufbau der Justiz und den ersten NS-Verfahren bis zum Beginn der Ära von Fritz Bauer. Den Schwerpunkt bildet Kapitel II ( entspricht den Tafeln 16 bis 47). Hier werden exemplarisch zentrale NS-Verfahren, die in Hessen stattgefunden haben, beschrieben und den Tatkomplexen, auf die sie zurückgehen, gegenübergestellt. Diese Gegen- überstellung von Tat und deren juristischer Ahndung erfolgt hintereinander im zeitli- chen Ablauf der NS-Judenverfolgung und -vernichtung zwischen 1933 und 1945. Kapitel III (entspricht den Tafeln 48 bis 51) beleuchtet die zentrale Rolle der Frankfur- ter Generalstaatsanwaltschaft bei den NS-Verfahren und resümiert die justizielle Auf- arbeitung insgesamt.

Johann Zilien Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:04 Seite 13

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I. Beginn der justiziellen Aufarbeitung zwischen 1945 und 1960 Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:04 Seite 14

14 | I. Beginn der justiziellen Aufarbeitung zwischen 1945 und 1960 | Tafel 3

Einleitung

Nach der Befreiung von der nationalsozialistischen Diktatur lag das deutsche Rechtssystem in Trümmern. Die Justiz war als Stütze des NS-Regimes diskreditiert und musste für ein demokratisches Staatswesen neu errichtet werden. Die US- Besatzungsmacht schloss zunächst die deutschen Gerichte und stellte an deren Stelle die Militärgerichtsbarkeit. So wie andernorts auch, wurden in Hessen zahlrei- che Richter und Staatsanwälte im Zuge der Entnazifizierung aus ihrem Dienst ent- lassen. Mit einer dünnen Personaldecke nahmen ab der zweiten Jahreshälfte 1945 die Gerichte allmählich wieder ihre Arbeit auf, vielfach besetzt mit Richtern und Staatsanwälten, die von der NS-Vergangenheit unbelastet waren. Ein Teil der natio- nalsozialistischen Hauptkriegsverbrecher wurde mit den Nürnberger Prozessen der Alliierten 1945/46 zur Rechenschaft gezogen.

In Hessen fanden bereits 1945 auf lokaler Ebene NS-Verfahren statt. Zum einen urteilten US-Militärgerichte gegen Personen, die sich Verbrechen an nicht-deutschen „Staatsangehöri- gen Alliierter Nationen“ schuldig gemacht hatten. Zum anderen zeigte die deutsche Justiz allen materiellen und personellen Engpässen der Nach- kriegszeit zum Trotz ein beachtliches Engagement bei der strafrechtlichen Ahndung von NS-Verbrechen. Unter den zahlreichen Verfahren, die in den ersten fünf Nachkriegsjahren gegen NS-Verbrecher vor hessischen Gerich- ten geführt wurden, stechen die Frankfurter „Euthanasie“-Prozesse zwischen 1946 und 1948 hervor, bei Mobiles Denkmal der „Grauen Busse“ als Symbol für die Opfer der „Euthanasie“ von Horst Hoheisel und denen Täter des staatlich legitimierten Andreas Knitz. Krankenmordes der NS-Zeit belangt wurden.

Der anfängliche Eifer im hessischen Rechtswesen, mit der NS-Vergangenheit juris- tisch abzurechnen, kam in den 1950er Jahren fast vollständig zum Erliegen. Viele „belastete“ Juristen, die zunächst im Zuge der Entnazifizierung entlassen worden waren, konnten nach der Entstehung der Bundesrepublik wieder beruflich Fuß fassen. Doch nicht nur innerhalb dieser Berufsgruppe, sondern auch gesamtgesell- schaftlich griff in der Bundesrepublik eine Mentalität um, mit der dunklen NS- Vergangenheit zügig abschließen zu wollen. Zahlreiche NS-Verbrechen blieben ungesühnt. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:04 Seite 15

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Deren juristische Aufarbeitung setzte erst gegen Ende des Jahrzehnts wieder ein. Der Ulmer -Prozess von 1958 zeigte einer breiten Öffentlichkeit, dass viele der Kriegsverbrecher völlig unbehelligt von der Justiz lebten.

Das schreckliche Ausmaß der NS-Verbrechen, vor allem an den europäischen Juden, förderte der Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961/62 zutage. Seitens der deutschen Justizverwaltungen war zwischenzeitlich mit der Errichtung der Zentra- len Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen die längst überfällige, nachdrückliche Ermittlungstätigkeit in der Bundesrepublik wieder in Gang ge- kommen. Unter diesen gewandelten Rahmenbedingungen war es der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der sich bis zu seinem Tod 1968 mit aller Kraft dafür stark machte, die NS-Kriegsverbrechen juristisch aufzuarbeiten.

Wiederaufbau der Justiz in Hessen

Der Zweite Weltkrieg endete für das Gebiet des heutigen Bundeslandes Hessen im März und April 1945 mit der Besetzung durch amerikanische Truppen. Mit der Proklamation Nr. 1 wandte sich US- Oberfehlshaber General Dwight D. Eisenhower an das deutsche Volk und verkündete neben der Schlie- ßung der Gerichte die Beseitigung von Militarismus und Nationalso- zialismus sowie die Bestrafung der Kriegsverbrecher. Mit dem Gesetz Nr. 2 vom 10. Oktober 1945 führte die Militärregierung für die gesamte US-Besatzungszone die Schließung der Ordentlichen und Verwaltungsgerichte noch einmal formell im Einzelnen aus. Bei der mittlerweile auch in Hessen bereits begonnenen Wiedereröffnung der 4 Gerichte behielt sich die Besat- Bis 1967 war das Justizministerium im sog. Erbprinzen- zungsmacht Kontroll- und Auf- palais an der Wilhelmstraße in Wiesbaden – heute Sitz sichtsrechte vor. Zugleich legte sie der Industrie- und Handelskammer – untergebracht. Das Gebäude hatte im Zweiten Weltkrieg keine größeren mit diesem Gesetz die Eignungs- Schäden davongetragen. Danach zog das Ministerium in voraussetzung deutscher Richter, das jetzige Gebäude in der Luisenstraße 13, ein 1843 Staatsanwälte, Notare und Rechts- errichtetes Ministerialgebäude des Herzogtums Nassau. anwälte fest. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:04 Seite 16

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Nur wenige Monate nach Beginn der Besatzungszeit und noch vor Gründung des Landes „Groß-Hessen“, nahmen mit Billigung der Militärregierung die auf hessi- schem Gebiet gelegenen Amts- und Landgerichte ihre Arbeit allmählich wieder auf. Den Anfang machten am 4. und 11. Juni 1945 die Amtsgerichte in Limburg und Wiesbaden. Landgericht, Staatsanwaltschaft und Amtsgericht in Darmstadt began- nen im Juli wieder mit der Arbeit. Bis zum Dezember folgten die Gerichte und Staatsanwaltschaften in Frankfurt, und Marburg. 79 von früher 100 Amts- gerichten und 7 von 8 Landgerichten hatten ihre Tätigkeit nach einem Bericht der Militärregierung bis zum 21. Dezember 1945 wieder aufgenommen.

Mit Gründung des Landes „Groß-Hessen“ begann die Militärregierung, die Auf- sichts- und Kontrollrechte wieder schrittweise der deutschen Seite zu übertragen. Am 1. Oktober 1945 wurden Karl Geiler als Ministerpräsident und der Rechtsanwalt Georg August Zinn als Justizminister eingesetzt. Das Ministerium der Justiz nahm Ende Oktober 1945 seine Arbeit in Wiesbaden auf, unterlag aber immer noch der amerikanischen Kontrolle.

Georg August Zinn (1901-1976) war in den Kabinetten Geiler und Stock vom 1. Oktober 1945 bis zum 31. Oktober 1949 hessischer Justizminister. Auch nach seiner Wahl zum hessi- schen Ministerpräsidenten am 14. Dezember 1950 übte er bis 1963 dieses Amt in Personalunion aus.

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Tafel 4 | I. Beginn der justiziellen Aufarbeitung zwischen 1945 und 1960 | 17

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Mit der Proklamation Nr. 1 wandte sich US-General Dwight D. Eisenhower, Oberster Befehlshaber der Alliierten Streitkräfte, erstmals an die deutsche Bevölkerung und verkündete damit die Grundzüge der Besatzungsherrschaft. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:04 Seite 18

18 | I. Beginn der justiziellen Aufarbeitung zwischen 1945 und 1960 | Tafel 4

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Mit dem Gesetz Nr. 2 der Militärregierung begann der allmähliche Übergang zu einer freiheitlichen deutschen Justiz. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:04 Seite 19

Tafel 5 | I. Beginn der justiziellen Aufarbeitung zwischen 1945 und 1960 | 19

Mit der Schließung der Gerichte waren alle Richter und Staatsanwälte ihrer Ämter enthoben worden. Nur wenige, politisch unbelastete Richter und Staatsanwälte wurden von der Besatzungsmacht mit der Eröffnung der Gerichte wieder eingestellt. Die einfache Mitgliedschaft in der NSDAP schloss deren Beschäftigung bis zum Abschluss der „Entnazifizierung“ aus. Viele der 1945 eingestellten Juristen waren zuvor 1933 von den Nationalsozialisten aus politischen oder rassischen Gründen entlassen worden.

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Die Siegermächte hatten auf der Potsdamer Am 8. März 1946 fand die feierliche Konferenz 1945 allgemeine Grundsätze zur Eröffnung des hessischen Oberlandesge- politischen Säuberung beschlossen. Die richts Frankfurt statt. Das Foto zeigt Amerikaner begannen zunächst in ihrer Justizminister Georg August Zinn bei Besatzungszone mit der „Entnazifizierung“ seiner Festrede. Mit verschränkten Armen und übertrugen schließlich 1946 die Ver- Ministerpräsident Karl Geiler, daneben antwortung für diese Aufgabe auf die der amerikanische Militärgouverneur deutschen Landesregierungen. In den Colonel James R. Newman und der Frank- „Spruchkammern“ fällten unbelastete oder furter Oberbürgermeister Kurt Blaum. minder belastete Juristen sowie Laien- Ganz rechts im Bild verdeckt OLG-Präsi- richter Urteile gegen Deutsche wegen Ver- dent Walter Moehrs. strickung in den Nationalsozialismus. Das Foto zeigt die Hanauer Spruchkammer bei einer Urteilsverkündung.

Später kamen auch Juristen hinzu, die auf Grund ihres Alters bis 1945 noch nicht im Justizdienst gestanden hatten. Viele fanden nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft ihre erste Verwendung als Assessoren. Von ehemals 583 Richtern, Staatsanwälten und Amtsanwälten aus der NS-Zeit waren in Hessen im Februar 1946 nur noch 220 tätig.

Bis zum Kriegsende im Jahre 1945 hatte es in Hessen drei Oberlandesgerichte gegeben: Kassel, Frankfurt am Main und Darmstadt. Die Landesregierung reduzierte diese nun auf ein Oberlandesgericht in Frankfurt mit Außensenaten an den beiden anderen früheren Standorten. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:04 Seite 20

20 | I. Beginn der justiziellen Aufarbeitung zwischen 1945 und 1960 | Tafel 5

Am 8. März 1946 wurde das neue Oberlandesgericht Frankfurt feierlich eröffnet; zum ersten Präsidenten wurde der profilierte Jurist und Sozialdemokrat Walter Moehrs ernannt.

Zum ersten Generalstaatsanwalt und obersten Ankläger des Landes Hessen ernannte Justizminister Zinn am 17. Oktober 1946 den Rechtsanwalt Georg Quabbe. Mit der Errichtung des Oberlandesgerichts war der Aufbau der Ordentlichen Gerichtsbarkeit in Hessen abgeschlossen.

Walter Moehrs (1886-1978) war von 1946 bis 1948 der erste Präsident des Oberlandesgerichts Frankfurt nach dem Zweiten Weltkrieg. Er war bereits 1932 Präsident des Ober- landesgerichts in Königsberg, wurde dann aber 1933 von den Nationalsozialisten wegen seiner Mitgliedschaft in der SPD und im Republikanischen Richterbund seines Amtes enthoben. Im Zuge des Aufbaus der Justiz in Hessen beauftragte ihn Justizminister Georg August Zinn mit den Vorar- beiten zur Errichtung des neuen hessischen Oberlandesgerichts. 4

Walter Sachs (1882-1950) wurde am 14. Februar 1946 zum Direktor des wiedereröffneten Frankfurter Land- gerichts vereidigt. Kurz zuvor war der renommierte Jurist und über- zeugte Demokrat aus dem Londoner Exil, in das er wegen seiner jüdischen Abstammung 1939 geflohen war, nach Deutschland zurückgekehrt.

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Tafel 7 | I. Beginn der justiziellen Aufarbeitung zwischen 1945 und 1960 | 21

Nürnberger Prozesse

Das Terrorregime des „Dritten Reiches“ hatte zu einem tiefen Zivilisationsbruch ge- führt. Bereits während des Zweiten Weltkrieges fassten die Alliierten den Entschluss, die führenden Nationalsozialisten strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Die Siegermächte entschieden daher auf der Londoner Konferenz vom August 1945, die Repräsentanten des nationalsozialistischen Regimes wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht zu stellen. Zu diesem Zweck grün- deten sie einen Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg. Dieser stand juristisch auf der Grundlage des international gültigen Völkerrechts und kann langfristig als ein Vorläufer des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag angesehen werden.

Mit diesem Plakat machten die Alliierten die Bevöl- kerung auf den Nürnberger Prozess gegen führende Vertreter des NS-Regimes aufmerksam. Zunächst war die Anteilnahme am Prozess- geschehen wegen der Promi- nenz der Angeklagten groß. Doch nahm das Interesse in der deutschen Öffentlich- keit mit der Zeit stark ab. Lediglich die Urteilsver- kündung am 1. Oktober 1946 führte noch einmal zu all- gemeiner Aufmerksamkeit.

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22 | I. Beginn der justiziellen Aufarbeitung zwischen 1945 und 1960 | Tafel 7

Als Ort für das erste Verfahren wählten die Alliierten den Justizpalast in Nürnberg. Dort stellten sie 21 Vertreter der NSDAP, von Politik und Wirtschaft und des Militärs vor Gericht. Adolf Hitler, Propagandaminister und Reichsführer- SS hatten bereits vor Kriegsende Selbstmord begangen und sich damit aus ihrer Verantwortung gestohlen. Am 20. November 1945 begann das Ver- fahren, das insgesamt 218 Verhandlungstage umfassen sollte.

Etwa 250 Zeitungs- und Rund- funkberichterstatter aus der ganzen Welt berichteten vom öffentlichen Verfahren. In der deutschen Bevölkerung stie- ßen die Nürnberger Verfahren aber auf erhebliche Bedenken. Es bestanden in der deut- schen Öffentlichkeit große Vorbehalte gegenüber der ver- meintlichen „Siegerjustiz“.

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Im Verhandlungssaal des Nürnberger Landgerichts saßen links die als Hauptkriegsverbrecher bezeichneten Angeklagten, davor ihre Verteidiger. In der ersten Reihe (v.l.n.r.): Hermann Göring, Rudolf Heß, Joachim von Ribbentropp, Wilhelm Keitel, Ernst Kaltenbrunner, Alfred Rosenberg, Wilhelm Frick, Julius Streicher, Walter Funk, Hjalmar Schacht. In der zweiten Reihe (v.l.n.r.): Erich Raeder, Baldur von Schirach, Fritz Sauckel, Alfred Jodl, Franz von Papen, Arthur Seyß-Inquart, Albert Speer, Konstantin von Neurath, Hans Fritzsche. Den Angeklagten gegenüber befand sich die Richterbank. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:04 Seite 23

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Am 1. Oktober 1946 verkündeten die Richter das Urteil: zwölfmal Tod durch den Strang (Hermann Göring, Ernst Kaltenbrunner, Joachim von Ribbentropp, Arthur Seyß-Inquart, Wilhelm Frick, Julius Streicher, Fritz Sauckel, , Alfred Rosenberg, Wilhelm Keitel, Alfred Jodl und in Abwesenheit Martin Bormann), sieben langjährige Freiheitsstrafen (Rudolf Hess, Erich Raeder, Walter Funk, Baldur v. Schirach, Albert Speer, Konstantin v. Neurath, Karl Dönitz), drei Freisprüche (Hjalmar Schacht, Franz v. Papen, Hans Fritzsche). Die Todesurteile wurden am 16. Oktober 1946 vollstreckt.

Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher blieb nicht die einzige Bemühung der Alliierten, die NS-Verbrechen strafrechtlich zu ahnden. Zwischen 1946 und 1949 standen in zwölf Nachfolgeprozessen hochrangige Mediziner, Juristen und Indus- trielle, SS- und Polizeiführer, Militärs, Beamte und Diplomaten vor US-Militärgerichten.

Anklagebank im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem alliierten Militärtribunal. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:04 Seite 24

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Erste Verfahren

Während die deutsche Rechtspflege nach der Besetzung Hessens durch das US- Militär praktisch zum Stillstand gekommen war, führte die Besatzungsmacht im Sommer 1945 zügig Militärgerichtsverfahren wegen NS-Verbrechen durch. Geahn- det wurden dabei aber nicht Straftaten an Deutschen, sondern an „Staatsangehöri- gen Alliierter Nationen“. So wurden am 15. Juli 1945 zwei ehemalige Polizeibeamte wegen der Ermordung eines US-Piloten in Langenselbold bei Hanau zum Tode verurteilt. Wegen „Lynchmordes“ an sechs amerikanischen Fliegern verurteilte ein Militärgericht in Darmstadt zwei Frauen und fünf Männer aus Rüssels- Nicht jeder scheinbar unbelastete Staatsanwalt, heim zum Tode. der zu Beginn der Besat- zungsherrschaft einge- Die Verfolgung von NS-Verbrechen an stellt wurde, entsprach langfristig den fachli- Deutschen sollte nach den Vorstellun- chen und persönlichen gen der Alliierten die Aufgabe einer neu Anforderungen an sein aufzubauenden demokratischen Justiz Amt. Die US-Militärre- gierung ernannte Vincenz im Nachkriegsdeutschland sein. Dem- von Krockow, geb. 1903 entsprechend erteilten die Besatzungs- in Ostpreußen, im Januar behörden den deutschen Gerichten 1946 zum Staatsanwalt. Doch taten sich bald bereits im Jahre 1945 die Genehmigung, neben fachlichen Defizi- wegen NS-Verbrechen an deutschen ten auch persönliche Ver- Bürgern oder Staatenlosen zu ermitteln fehlungen auf, die nach einem Gerichtsverfahren und zu verhandeln. Zur Anwendung kam 1950 zu seiner Entlassung 1 dabei von Anfang an das deutsche Straf- aus dem Justizdienst und Prozessrecht, und zwar in Form des führten. 1871 erlassenen Reichs-Strafgesetzbu- ches, bereinigt um das rechtsstaats- widrige NS-Recht. Bereits im September Hans Karl Hofmeyer, geb. 1904 in Offenbach 1945 erging vor dem Landgericht am Main, begann seine Gießen das erste Urteil in einem NS- Richterlaufbahn 1936. Verfahren. Allerdings wurden vorrangig Zwischen 1939 und 1945 versah er seinen Kriegs- lokale, also innerhalb Hessens began- dienst, zuletzt im Rang gene Straftaten wie Landfriedensbruch, eines Oberstabsrichters. Brandstiftung oder Körperverletzung Schon 1937 war er in die NSDAP eingetreten und verfolgt. Ausgelöst wurden diese Verfah- fungierte als Rechts- ren zumeist aufgrund von Anzeigen der berater in der HJ. 1946 Opfer oder ihren Angehörigen, weniger wurde er als „Mitläufer“ entnazifiziert. Noch im aber durch systematische Ermittlungen selben Jahr konnte er der Justiz. Zwischen 1945 und 1950 die richterliche Lauf- wurden auf dem Gebiet der späteren bahn wieder einschlagen und stieg rasch vom Bundesrepublik 5.228 Menschen von Hilfsrichter auf bis 2 deutschen Gerichten wegen NS-Ver- zum Senatspräsident brechen verurteilt. beim OLG Frankfurt. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:04 Seite 25

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Viele jener Richter und Staatsanwälte, die in Hessen an diesen frühen NS-Verfahren maßgeblich teilnahmen, waren in der unmittelbaren Nachkriegszeit von einer Mitwir- kung in der NS-Justiz unbelastet.

Die Militärregierung achtete in den ersten Nachkriegsjahren selbst darauf, dass keine „belasteten“ Juristen an NS-Verfahren beteiligt wurden. Zudem unterlagen noch viele der vor deutschen Gerichten geführten Verfahren ihrer direkten Aufsicht.

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Bericht der Frankfurter Rundschau über einen Militärgerichtsprozess wegen der Ermordung von zwei US-Fliegern in Groß-Gerau im August 1944, 1. August 1945. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:04 Seite 26

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Bericht der Frankfurter Rundschau zur US-Militärgerichtsbarkeit in Deutschland, 3. August 1945.

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Die Frankfurter „Euthanasie“- Prozesse

Zu den bedeutendsten NS-Verfahren, die noch in der Phase des Wiederaufbaus der hessischen Justiz geführt wurden, zählten die Frankfurter „Euthanasie“-Prozesse zwischen 1946 und 1948. In vier Prozessen mussten sich Angehörige des Personals aus den Heilanstalten Eichberg, Hadamar und Idstein-Kalmenhof des ehemaligen Bezirksverbands Wiesbaden wegen ihrer Beteiligung an den Krankenmorden aus der NS-Zeit verantworten.

Die nationalsozialistische Ras- senhygiene zielte auf die kon- sequente Ausmerzung „minder- wertigen Erbguts“ aus der postulierten „rassereinen Volks- gemeinschaft“ ab. In einem radikalen Akt negativer Eugenik wurden unter der verharmlosen- den Bezeichnung „Euthanasie“ (= Sterbehilfe) seit 1939 in ganz 1 Deutschland geistig und körper- lich behinderte Menschen syste- Die Landesheilanstalt Hadamar behielt auch über die Phase der sog. „“ hinaus die Funktion einer matisch ermordet. Im Rahmen der zentralen Tötungsanstalt. In der zweiten Mordphase sog. „Aktion T4“ errichtete der zwischen 1942 und 1945 wurden noch einmal 4.861 NS-Staat über das gesamte Reich Patienten nach Hadamar verlegt, von denen bis März 1945 4.411 gestorben waren. Hier ein Foto von 1941 verteilt sechs Tötungsanstalten, mit der Rauchsäule des Krematoriums über der Anstalt. in denen diese „Ballastexisten- zen“ mit Kohlenmonoxyd getötet wurden. Eine dieser Tötungsanstalten existierte in der Landesheil- anstalt Hadamar. Zwischen Januar und August 1941 wurden dort insgesamt 10.072 Menschen vergast und danach eingeäschert. Öffentliche Proteste, vor allem seitens der katholischen Kirche, stoppten zunächst die reichsweite, zentral gesteuerte Mordaktion. Doch auch danach ging das Töten von Patienten dezentral in den psychiatrischen Anstalten weiter, zumeist durch Medikamente, Nahrungsentzug oder schlichtweg Vernachlässigung.

Wegen der Ermordung von insgesamt 468 vorwiegend polnischen und sowjetischen Zwangsarbeitern hatte ein US-Militärgericht bereits am 15. Oktober 1945 sieben Angestellte der Landesheil- anstalt Hadamar verurteilt, davon drei zum Tode. Das Hessische Justizministerium forcierte die Zentralisierung laufender

„Euthanasie“-Verfahren wegen Patientenmorden in den Anstalten 2 Eichberg, Hadamar und Idstein-Kalmenhof beim Landgericht Ehemalige Gaskammer der Frankfurt. Die dortige Staatsanwaltschaft stellte erstmalig Landesheilanstalt Hadamar. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:04 Seite 28

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umfassende Ermittlungen an, die die Organisation und den Ablauf der Tötung von „unwertem“ Leben aufdeckten. Die Rechtfertigungsversuche der Angeklagten, ihr verbrecherisches Handeln sei durch die Ermächtigung Hitlers vom 1. September 1939 legitimiert gewesen, konnte das Gericht in seinem Urteil eindrucksvoll zurück- weisen. Gleichsam überzeitlich gültige Gesetze der Ethik stünden dabei über denen von Tyrannen.

Pflegerinnen der Landesheilan- stalt Eichberg im Rheingau hal- ten ein behindertes Kind in die Kamera. In der dortigen „Kinder- fachabteilung“ – eine von etwa 30 reichsweit - wurden ab dem Frühjahr 1941 rund 200 Säug- linge, Kinder und Jugendliche mit Erbkrankheiten oder Miss- bildungen getötet, zumeist mit Medikamenten, aber auch durch Unterernährung. Verantwortlich für diese Verbrechen war der SS- Arzt Walter Schmidt (1910-1970) aus Wiesbaden. 3

4 Die Hauptangeklagten im Frankfurter Hadamar-Prozess: Ober- schwester Irmgard Huber, der frühere Direktor der Anstalt, Dr. Adolf Wahlmann, der leitende Arzt Dr. Bodo Gorgaß, (mittlere Reihe von l.r.). Der dritte und umfangreichste „Euthanasie“-Prozess vor dem Frankfurter Landgericht begann am 24. Februar 1947 und endete am 26. März desselben Jahres, u.a. mit Todesurteilen gegen Gorgaß und Wahlmann. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:04 Seite 29

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Nachlassen der Strafverfolgung

Mit Beginn der 1950er Jahre kam die Strafverfolgung von nationalsozialistischen Verbrechen zusehends zum Erliegen. Leiteten die Staatsanwaltschaften bundesweit 1949 noch immerhin 3.995 Ermittlungsverfahren ein, so brach deren Anzahl bis 1952 auf 467 förmlich ein und erreichte 1954 mit 183 Verfahren einen absoluten Tiefstand. Derselbe Trend lässt sich für die rechtskräftigen Verurteilungen von NS-Verbrechern beschreiben: Deren Anzahl sank ab 1949 bundesweit von 1.523 auf 191 drei Jahre später. Der Tiefpunkt war hier 1959 mit lediglich 15 rechtskräftigen Verurteilungen erreicht.

Dass auch die hessische Justiz bereits fünf Jahre nach Kriegsende Die fehlende Bereitschaft der Justizbehörden, sich die Strafverfolgung von NS-Tätern mit den NS-Verbrechen aus- einzustellen begann, hat verschie- einander zu setzen zeigt dene Gründe. Zum einen beendete der Wiesbadener "Juristen- prozess" von 1951/52. das Gesetz Nr. 13 des Alliierten Heinz Engert, geb. 1877, Hohen Kontrollrats, das am 1. Januar Ministerialdirektor im 1950 in Kraft trat, formell die Aufsicht Reichsjustizministerium, wurde vor dem Schwurge- der US-Siegermacht über Verfahren richt Wiesbaden angeklagt, zu NS-Gewalttaten. Der Kalte Krieg an der Vernichtung sog. war mittlerweile ausgebrochen, und "asozialer" Häftlinge beteiligt gewesen zu sein. die westlichen Siegermächte verloren Allen belastenden Indizien das Interesse an weiteren personel- zum Trotz plädierte sogar len Säuberungen. Der äußere Druck 1 die Staatsanwaltschaft auf Freispruch. auf die deutschen Strafverfolgungs- behörden zur Durchführung dieser

In der öffent- lichen Bericht- erstattung stieß die Durchführung des „Juristen- prozesses“ auf offene Ablehnung – ein Hinweis auf die ausge- prägte Schluss- strich-Mentali- tät der Nach- kriegszeit.

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Verfahren war damit verschwunden. Zum anderen drängten mit dem Ende der Ent- nazifizierung frühere Parteimitglieder massiv zurück in den Justizdienst: Staatsan- wälte und Richter, die auch aufgrund persönlicher Verstrickung mit dem National- sozialismus wenig Interesse an der Strafverfolgung von NS-Verbrechern hatten. Der Anteil an Justizpersonal mit nationalsozialistischer Vergangenheit hatte 1947 bei ca. 35 Prozent gelegen. 1949, im Jahr des Abschlussgesetzes zur „politischen Befreiung in Hessen“, hatte sich deren Anteil im Justizressort bereits mehr als ver- doppelt.

Dieser Rückfluss von Staatsanwälten und Richtern in ihre früheren Funktionen ver- stärkte sich noch mit der „131er“-Gesetzgebung. Das Grundgesetz hatte 1949 in Artikel 131 angekündigt, die „Rechtsverhältnisse“ von Angehörigen des öffentlichen Dienstes, die aufgrund ihrer NS-Ver- gangenheit nach der Befreiung von ihren Stellen entfernt worden waren, Heinz Wolf, geb. 1908 in Limburg, war 1933 in die gesetzlich zu regeln. NSDAP und SA eingetreten. Das am 11. Mai 1951 vom Bundestag Der überzeugte National- beschlossene „131er“-Gesetz sozialist machte als Staatsanwalt bis 1945 eine erlaubte damit eine großzügige verheißungsvolle Karriere. Wiedereinstellung von vormaligen Nach seiner Entnazifizie- Angehörigen des öffentlichen rung wurde er 1949 auf seinen Wunsch hin in den Dienstes. Auf diesem Wege gelang- hessischen Justizdienst ten zahlreiche Staatsanwälte und übernommen. 1962 wechselte Richter, die bis 1945 willfährig der Wolf für die CDU in die Landespolitik. Justiz des 3. Reiches gedient hat- ten, zurück in ihre alten Stellungen. 2 Eine direkte Auswirkung dieser personellen Restauration der Justiz war die Abkehr von der justiziellen Aufarbeitung der NS-Barbarei. Gemeinsam mit ihrem Ehe- mann Alexander Mitscher- lich attestierte die bekannte Psychoanalytike- rin Margarethe Mitscher- lich (1917-2012) der bun- desdeutschen Nachkriegs- gesellschaft 1967 die „Unfähigkeit zu trauern“. Der Einzelne, aber auch die gesamte Gesellschaft hätten sich nicht der Schuld und Mitschuld an den NS-Verbrechen gestellt, sondern diese verdrängt.

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Ulmer Einsatzgruppen-Prozess

Die NS-Gewaltverbrechen rückten Ende der 1950er Jahre in den Fokus der Öffent- lichkeit. In dem am 28. April 1958 eröffneten Ulmer Einsatzgruppen-Prozess stand erstmals in der Adenauer-Ära die systematische Vernichtung von jüdischen Män- nern, Frauen und Kindern im Mittelpunkt. Nur durch Zufall war der Prozess in Gang gekommen.

Bernhard Fischer-Schweder, ehemals SS-Obergruppenführer, Träger des Goldenen Parteiabzeichens der NSDAP und Polizeidirektor von Memel, hatte einen Prozess gegen das Land Baden-Württemberg auf Wiedereinstellung in den Staatsdienst geführt. In diesem Zusammenhang wurde seine Beteiligung an Massenverbrechen aufgedeckt. Als Angehöriger des „Einsatzkommandos Tilsit“, eines mobilen Mord- kommandos von SS, Gestapo und Sicherheits- dienst, war er zwischen Juni und September 1941 an der Massenerschießung von mehr als 5.500 litauischen Juden beteiligt gewesen.

Neben Fischer-Schweder standen neun weitere Angehörige des „Einsatzkommandos Tilsit“ vor Gericht. Insgesamt sagten 184 Zeugen vor Gericht aus. Sämtliche Angeklagten wurden am 29. August 1958 wegen „Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord“ in 4.000 Fällen zu Haftstrafen bis zu 15 Jah- ren verurteilt. Juristisch galten sie nicht als Täter, sondern nur als „Gehilfen“, als ob die Angeklagten ihre Taten nicht aus eigenem Antrieb verübt hätten. Dies entsprach der damaligen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, der Hitler, Göring, Himmler und Heydrich als Haupttäter für die begangenen Mordtaten ansah.

Die Angehörigen der Einsatzgruppen rechtfertigten ihre Mordtaten damit, ihr eigenes Leben wäre 1 bedroht gewesen, hätten sie den Mordbefehl ver- weigert. Die Zeugenaussagen widerlegten diese Der Hauptangeklagte im Ulmer Einsatz- Schutzbehauptung im Verlauf des Prozesses gruppen-Prozess Bernhard Fischer- Schweder wird in den Gerichtssaal eindrucksvoll. Das Gericht machte deutlich, dass geführt. Neben Fischer-Schweder stan- selbst im Krieg das Abschlachten Tausender den neun weitere Angehörige der Zivilisten – Frauen, Kinder und Säuglinge einge- Gestapo, des Sicherheitsdienstes (SD) und der Polizei vor Gericht. Ihnen schlossen – durch nichts, auch nicht durch einen wurde Mord und Beihilfe zum Mord in „Befehlsnotstand“, zu rechtfertigen sei. über 5.000 Fällen zur Last gelegt. Alle Angeklagten wurden lediglich der Beihilfe für schuldig befunden, da man ihnen eine persönliche Schuld nicht zweifelsfrei nachweisen konnte. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:35 Seite 32

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Der Ulmer Einsatzgruppen-Prozess stellte einen Wendepunkt in der juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen dar, zeigte er doch, dass viele Täter noch unbe- helligt mitten in der deutschen Gesellschaft lebten. Nach Jahren des Verschwei- gens und Verdrängens war das Interesse in der Öffentlichkeit geweckt. Es begann nun eine systematische strafrechtliche Ermittlung und Verfolgung von NS-Tätern.

Erschießung einer Gruppe jüdischer Frauen und Kinder aus Libau/Lettland durch eine deut- sche Einsatz- gruppe. In der Grube liegen die Leichen bereits erschossener Menschen, 15. Dezember 1941.

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Ehemalige Angehörige der „Einsatzgruppe Tilsit“ auf der Anklagebank im Verhandlungssaal des Landgerichts Ulm, 1958.

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Die Zentrale Stelle in Ludwigsburg

Der Ulmer Einsatzgruppen-Prozess wird oftmals als ein Wendepunkt in der Verfol- gung und Bestrafung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen angesehen. Er hatte gezeigt, dass eine systematische und zentral gesteuerte Ermittlungsarbeit notwendig ist, um die Gewalttäter aufzuspüren. Dies konnte allerdings nur durch eine Behörde erreicht werden, die im Vorfeld der staatsanwaltlichen Ermittlungen tätig wird. So wurde von den Justizministern und -senatoren im Oktober 1958 beschlossen, die „Zentrale Stelle der Lan- desjustizverwaltungen zur Aufklärung

nationalsozialistischer Verbrechen“ (im Oberstaatsanwalt Allgemeinen „Zentrale Stelle der Landes- Erwin Schüle (1913-1993) justizverwaltungen“, kurz „Zentrale wurde am 1. Dezember 1958 Leiter der neu gegründe- Stelle“) als gemeinschaftliche Einrich- ten "Zentralen Stelle der tung aller bundesrepublikanischen Landesjustizverwaltungen Landesjustizverwaltungen zu errichten. zur Aufklärung national- sozialistischer Verbre- Bereits am 1. Dezember 1958 nahm sie chen". Er ging seine Auf- ihre Tätigkeit in Ludwigsburg auf. Der gabe mit großem Engage- Staatsanwalt beim Ulmer Einsatzgrup- ment an - bis ihn seine eigene NS-Vergangenheit pen-Prozess Erwin Schüle wurde erster einholte: Schüle war 1933 Leiter der Zentralen Stelle. Mit der Errich- in die SA und 1937 in die tung der Zentralen Stelle begann eine NSDAP eingetreten. Auch war er unter Verdacht systematische Verfolgung der national- geraten, 1942 an der sozialistischen Verbrechen; zugleich 1 Tötung von Russen betei- übernahm sie eine Koordinierungsfunk- ligt gewesen zu sein. Daraufhin legte er am tion für NS-Verfahren vor den Gerichten 1. September 1966 sein der jeweiligen Bundesländer. Ihre Auf- Amt nieder. gabe war es, das gesamte erreichbare Material über NS-Verbrechen im Ausland

und innerhalb des Deutschen Reiches zu Oberstaatsanwalt sammeln, zu sichten und strafrechtlich Adalbert Rückerl auszuwerten. (1925-1986), hier links im Bild, war 1961 zur Zentralen Stelle abge- Nachfolger von Erwin Schüle wurde ordnet worden. Er Adalbert Rückerl, der die Behörde übernahm 1966 deren Leitung und versah 18 Jahre leitete und wohl der bekannteste diese Funktion 18 Vertreter des Amtes wurde. Von 1984 bis Jahre lang. Für seine 1996 stand das Amt unter der Leitung langjährigen Ver- dienste um die straf- von Alfred Streim, ehe es Willi Dreßen rechtliche Ahndung von übernahm. NS-Verbrechen ehrte ihn der Justizminister des Landes Baden-Würt- Seit 2002 wird die Zentrale Stelle von 3 temberg Heinz Eyrich Kurt Schrim geleitet. im August 1983 mit dem Bundesverdienstkreuz Erster Klasse. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:04 Seite 34

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Seit ihrer Gründung hat die Zentrale Stelle 7.401 Ermittlungsverfahren eingeleitet (Stand 29.1.2009) sowie 113.419 Überprüfungs- und Rechtshilfevorgänge bearbeitet. Noch heute sind mehrere Vorermittlungssachen anhängig sowie eine Vielzahl sog. Überprüfungsverfahren, die sich mit der Sichtung ausländischer Archivbestände befassen. Noch heute erfolgen fortlaufend Abgaben von Vorermittlungen an Staats- anwaltschaften im gesamten Bundesgebiet mit dem Ziel der Anklageerhebung. Die Tätigkeit der Zentralen Stelle kann noch nicht als beendet angesehen werden.

Die Akten der Zentralen Stelle, ca. 1.200 Regalmeter, sind inzwischen zu einer fast unverzichtbaren Quelle für die historische Erforschung der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik geworden. Seit dem 1. Januar 2000 ist in Ludwigsburg eine Außenstelle des Bundesarchivs tätig, welche die Unterlagen der Zentralen Stelle verwahrt und zur Nutzung bereitstellt.

Die Gründung der Zentralen Stelle und ihre Arbeit stehen symbolisch für das Bekenntnis der Bundesrepublik Deutschland zu einer konsequenten Fortsetzung der rechtlichen Auseinandersetzung mit den grauenhaften Verbrechen des Nationalsozialismus.

Das Dienstgebäude der Zentralen Stelle in Ludwigsburg.

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Der Eichmann-Prozess in Jerusalem

Ein weltweit aufsehenerregender NS-Kriegsverbrecherprozess fand vom 11. April 1961 bis zum 29. Mai 1962 in Jerusalem statt: der Prozess gegen . Eichmann war Leiter des „Judenreferats“ im „Reichssicherheitshauptamt“ gewesen, von wo aus die Ermordung der europäischen Juden geplant und gesteuert wurde. Er selbst trug die Verantwortung für die Deportation von über fünf Millionen Juden in die Konzentrations- und Vernich- tungslager. Nach dem Ende des Krie- ges gelang es Eichmann, mit der Adolf Eichmann war bereits 1932 der Unterstützung alter NS-Seilschaften österreichischen und des Vatikans nach Argentinien zu NSDAP sowie der SS entkommen, wo er in Buenos Aires beigetreten. Im Reichssicherheits- mit seiner Familie unter falschem hauptamt organi- Namen in relativ bescheidenen Ver- sierte er ab 1941 hältnissen lebte. Zwischen Argenti- die Deportation der Juden aus Deutsch- nien und bestand kein Ausliefe- land und den besetz- rungsabkommen, daher entführten ten europäischen Agenten des israelischen Geheim- Ländern. Er war ver- antwortlich für die dienstes Mossad Eichmann in einer Zusammenstellung und spektakulären Aktion nach Jerusa- Auslastung sämtli- lem. Der hessische Generalstaatsan- cher Transporte von Juden in Ghettos walt Fritz Bauer soll mit Hinweisen sowie Konzentrati- auf Eichmanns Aufenthaltsort zu des- ons- und Vernich- tungslager. sen Ergreifung beigetragen haben. 2

Der Prozess gegen Adolf Eichmann, links im Bild hinter Panzerglas sitzend, begann am 11. April 1961 vor dem Jerusalemer Bezirks- gericht im Haus des Volkes. Richter waren Moshe Landau, Benjamin Halevi und Yitzhak Raveh. Am 15. Dezem- ber 1961, dem 121. Sitzungstag, endete der Prozess mit der Verhängung der Todesstrafe.

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Nach neunmonatigen Ermittlungen wurde vor dem Bezirksgericht in Jerusalem Anklage erhoben; am 15. Dezember 1961 wurde Eichmann zum Tode verurteilt. Eichmanns Berufung vor dem Obersten Gerichtshof von Israel wurde am 29. Mai 1962 zurückgewiesen. Das Urteil wurde schließlich am 31. Mai 1962 vollstreckt.

Eichmann hatte sich im Laufe des Prozesses damit verteidigt, nur auf Befehl gehandelt und sich somit nicht im juristischen Sinne schuldig gemacht zu haben. Auch habe er sich niemals direkt an der Deportation und der Ermordung von Juden beteiligt. Das Gericht wies diese Rechtfertigung zurück.

Für den Staat Israel und insbe- sondere für diejenigen, die der Shoah lebend entkommen konn- Adolf Eich- ten, war es eine besondere mann am Schreibtisch Befriedigung, wenigstens einem in seiner der Hauptverantwortlichen im Zelle im eigenen Land den Prozess Gefängnis von Ramla machen zu können. Als typi- beim Verfas- scher „Schreibtischtäter“ wäre sen seiner Eichmann entsprechend der „Memoiren“, 1961. damals in der Bundesrepublik strafrechtlich vorherrschenden Auffassung wahrscheinlich nur 3 wegen Beihilfe zum Mord verur- teilt worden.

Der Prozess gegen Adolf Eich- mann erregte großes internatio- Die jüdische deutsch-ameri- nales Aufsehen. In Deutschland kanische Philosophin und förderte er die öffentliche Publizistin Hannah Arendt Bereitschaft, nun endlich die nahm als Reporterin am Pro- zess gegen Eichmann teil. bislang weitgehend verdrängten 1963 veröffentlichte sie NS-Verbrechen aufzuklären. Im ihr Buch „Eichmann in Zuge dieser Sensibilisierung Jerusalem“. Der Untertitel „Ein Bericht über die von Öffentlichkeit und Justiz Banalität des Bösen“ und die stieg die Zahl der Ermittlungs- Charakterisierung Eichmanns und Strafverfahren wegen NS- als scheinbar normaler „Spießbürger“ führten zu Gewaltverbrechen erheblich an. einer kontroversen Diskus- sion. Gerade der Ausdruck „Banalität“ erschien für einen Massenmörder als Verharmlosung.

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Fritz Bauer

Fritz Bauer wurde am 16. Juli 1903 in Stuttgart geboren. Nach dem Abitur studierte er Jura und Volkswirtschaft und promovierte 1927 in Heidelberg. Schon während der Studienzeit begann er sich politisch zu engagieren und trat 1920 in die SPD ein. In Stuttgart wurde Fritz Bauer 1930 der jüngste Richter an einem Amtsgericht im Deutschen Reich. Für Bauer war die Verbindung von juristischer Tätigkeit und politi- scher Arbeit kein Widerspruch, sondern unerlässlich. So war er Mitbegründer des Republikanischen Richterbundes in Württemberg und seit 1930 Vorsitzender der Ortsgruppe Stuttgart des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold.

Nach der Machtübernahme geriet er als Jude und Sozialdemokrat ins Visier der Nazis. Im April 1933 entließen ihn die neuen Machthaber aus dem Justiz- dienst. Er wurde verhaftet und einige Monate im Konzentrationslager Heuberg inhaftiert. 1936 emi- grierte Bauer nach Dänemark. Nach der Besetzung Dänemarks durch die deutsche Wehrmacht konnte er sich im Oktober 1943 der bevorstehenden Depor- tation in ein Vernichtungslager durch die Flucht nach Schweden entziehen. Dort schloss er sich einer sozialdemokratischen Emigrantengruppe an und gründete gemeinsam mit Willy Brandt die Zeit-

schrift „Sozialistische Tribüne“. Bereits in Schweden 1 begann Fritz Bauer sich mit den Verbrechen der Fritz Bauer mit seiner drei Jahre Nazis intensiver auseinanderzusetzen. Mit seinem jüngeren Schwester Margot in der Zeit Buch „Die Kriegsverbrecher vor Gericht" forderte er, des Ersten Weltkriegs. dass die NS-Verbrechen nicht ungesühnt bleiben dürften, sondern sich die Täter vor Gericht verantworten müssten.

Fritz Bauer machte sich die Rückkehr aus dem Exil nach Deutschland nicht leicht. Doch erkannte er, dass nach dem Ende des NS-Regimes der Auf- bau einer neuen, rechtsstaatli- chen Justiz in Deutschland eine grundlegende Notwendig- keit war. Diesem Neubeginn 2+3

fühlte er sich als Emigrant ver- Links: Fritz Bauer während seiner Studienzeit in Heidelberg. pflichtet. Bauer hatte 1927 bei dem Rechtswissenschaftler Karl Geiler promoviert, der 1945 von der US-Militärregierung zum Ministerpräsident von „Groß-Hessen“ eingesetzt wurde. Rechts: Fritz Bauer 1954. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:05 Seite 38

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Die Eingliederung des juristisch gebildeten Rückkehrers gestaltete sich schwierig. 1949 wurde Bauer zunächst in Braunschweig Landgerichtsdirektor. Schließlich fand er dort als Generalstaatsanwalt eine ihm angemessene Position. Gerade in dieser Stellung konnte er einen ersten bedeutenden Schwerpunkt in der Auseinan- dersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus setzen. Fortan ging es Fritz Bauer vor allem darum klarzustellen, dass der NS-Staat kein Rechtsstaat, sondern ein ver- brecherischer „Unrechtsstaat“ war.

Otto Ernst Remer (1912-1997) war maßgeblich an der Niederschlagung des Aufstandes des 20. Juli 1944 in Berlin beteiligt gewesen. Noch nach dem Krieg diffamierte er die Wider- standsbewegung öffentlich und war deswegen wegen „übler Nachrede“ angeklagt worden. Fritz Bauer ver- teidigte vor Gericht das Recht auf Widerstand gegen den Nationalsozia- lismus erfolgreich. Mit dem Urteil gegen Remer hatte ein deutsches Gericht erstmals klarge- stellt, dass die Widerstandskämpfer keinen Landesverrat begangen hatten. Damit waren sie posthum rehabili- tiert. 4

1956 holte Ministerpräsident Georg August Zinn den charismatischen Juristen nach Hessen. Als Generalstaatsanwalt war Fritz Bauer nun der höchstrangige öffentliche Ankläger in Hessen. Aus juristischen, aber auch aus politischen Erwägungen bemühte er sich um eine Zentralisierung von NS-Verfahren in Frankfurt. Auf seine Initiative erklärte der Bundesgerichtshof 1959 das Landgericht Frankfurt für zuständig für die Untersuchung und Entscheidung gegen Funktionsträger des KZ Auschwitz. Jetzt war er maßgeblich für die Anklageerhebung im Auschwitz- Prozess verantwortlich, dem wohl bedeutendsten Strafprozess der deutschen Nachkriegsgeschichte. In der „Strafsache gegen Mulka u.a.“ erarbeitete ein Team junger, von der NS-Vergangenheit unbelasteter Staatsanwälte eine Anklage gegen insgesamt 22 Beschuldigte.

Am Ende war Bauer allerdings vom Urteil enttäuscht, da die Angeklagten nur zu vergleichsweise wenigen Jahren Haft wegen Beihilfe zum Mord verurteilt worden waren. Diese milden Strafen, so meinte Bauer, kämen mitunter einer Verhöhnung der Opfer recht nahe. Die Bedeutung des Verfahrens lag aber insbesondere darin, dass es überhaupt stattgefunden hatte. Auch wurde durch umfangreiche Sachver- ständigengutachten der historische und politische Hintergrund der NS-Verbrechen gegenüber den Juden erstmals umfassend aufgehellt. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:05 Seite 39

Tafel 15 | I. Beginn der justiziellen Aufarbeitung zwischen 1945 und 1960 | 39

Fritz Bauer hatte die Absicht, noch weitere NS-Verbrechen vor Gericht zu verfolgen. In einem weiteren Prozess sollten die juristischen Schreibtischtäter der „Eutha- nasie“ zur Rechenschaft gezogen werden. Bauers plötzlicher Tod vereitelte dieses Vorhaben; der Krankenmord an tausenden Unschuldiger blieb ungesühnt. In der Nacht vom 30. Juni auf den 1. Juli 1968 starb Fritz Bauer in seiner Wohnung in Frankfurt am Main. Am Ende seines Lebens war er erschöpft von dem aufreibenden Kampf um Gerechtigkeit in seinem Amt und enttäuscht von Niederlagen, die er hatte erfahren müssen. Er war verbittert von der geringen öffentlichen und politischen Resonanz auf seine Bemühungen um den Rechtsstaat in der Gesellschaft. Die Widerstände, die ihm bei der Verfolgung von NS-Verbrechen entgegenschlugen, veranlassten ihn zu der Äußerung: „Wenn ich mein Büro verlasse, befinde ich mich im feindlichen Ausland.“

Fritz Bauer am Schreibtisch in seinem Dienstzimmer bei der Generalstaatsanwalt- schaft Frankfurt am Main, um 1965.

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Fritz Bauer setzte sich auch für Refor- men im Strafrecht und Strafvollzugsrecht ein. Er war ein bedeutender Vorkämp- fer für einen huma- nen, auf Resoziali- sierung ausgerich- teten Strafvollzug. Ein Jahr nach seinem Tode bekam ihm zu Ehren die JVA Darm- stadt den Namen „Fritz-Bauer-Haus“.

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Die Nachricht vom Tode Fritz Bauers, erschienen am 2. Juli 1968 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:05 Seite 41

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II. Judenverfolgung und Völkermord - die justizielle Aufarbeitung in Hessen

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Antisemitismus und Rassismus

Rassismus und Antisemitismus waren seit der Gründung der NSDAP in den 1920er Jahren zentrale Bestandteile der nationalsozialistischen Ideologie. Der Antisemi- tismus selbst war allerdings keineswegs erst im 20. Jahrhundert entstanden. Die Chroniken der jüdischen Gemeinden im Mittelalter geben Zeugnis vom Hass der damaligen christlichen Umwelt gegenüber den Juden. Was sich in der Zeit der Aufklärung und der bürgerlichen Revolutionen an Emanzipation der jüdischen Bevölkerung auf vielen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens entwickelt hatte, wurde seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert durch pseudowissenschaftliche Rasselehren wieder in Frage gestellt. Nach dem Ersten Weltkrieg waren weite Schichten des deutschen Volkes bereit, gehässigen antijüdischen Parolen zu folgen. „Die Juden“ wurden als Urheber des verlorenen Krieges und des wirtschaft- lichen Niedergangs während der Weimarer Republik angesehen. Sie galten nun als „die Feinde der Nation“.

Nach der „Machtübernahme“ durch die Nationalsozialisten wurde der Antisemitis- mus zur Staatsdoktrin des „Dritten Reiches“ erhoben. Sofort begann der NS-Staat damit, die Juden aus der Gesellschaft zu verdrängen. Was Hitler 1924 in seiner ideologischen Programmschrift „Mein Kampf“ angekündigt hatte, wurde jetzt mit brutalen Methoden gegen „das Judentum“ von Staats wegen umgesetzt.

Der Leidensweg der deutschen Juden begann mit Ausgrenzung und Verfol- gung. Schon in den ersten Monaten nach der „Machtergreifung“ erfolgten kleinere Aktionen gegen Privatperso- nen und Geschäfte. Am 1. April 1933 wurden jüdische Arztpraxen, Rechts- anwaltskanzleien und Geschäfte wegen angeblicher Gräuelmeldungen im Ausland boykottiert. Zu Berufsver- boten und ersten Entlassungen aus dem Staatsdienst kam es noch im sel- ben Monat. Die Nürnberger Gesetze von 1935 machten die Juden zu Bür- 2 gern zweiter Klasse. Die Reichspo- Ohnmächtig mussten die Inhaber des jüdischen Her- gromnacht im November 1938 zeigte renbekleidungsgeschäfts Herrmanns & Froitzheim in deutlich, dass es für die jüdischen Frankfurt am Main mit ansehen, wie am 1. April 1933 hasserfüllte SA-Männer die großen Schaufenster- Mitbürger auf Dauer keinen Platz scheiben ihres Geschäftslokals auf der Zeil 93 mit mehr in Deutschland gab. antisemitischen Parolen beschmierten. Zum ersten Mal wurden die jüdischen Bürger mit einer aggres- siven Stimmung in der Bevölkerung konfrontiert, wie sie dies bisher noch nicht erlebt hatten. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:05 Seite 43

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Unter dem Titel „Der Stürmer“ gründete der radikale Antisemit und überzeugte National- sozialist Julius Streicher 1923 diese Wochenzeitung. Er propagierte mit seiner anti- semitischen Hetzschrift einen extrem vulgären, pornografisch gefärbten Judenhass,1938 mit einer Auflage von fast einer halben Million Exemplaren. Woche für Woche schärfte „Der Stürmer“ seinen Lesern ein, die Juden seien „das Unglück“ Deutschlands und müssten daher eliminiert werden. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:05 Seite 44

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Weitere Entrechtung und Verfolgung mussten diejenigen erleiden, die nicht ins Ausland emigrieren konnten. Ghettoisierung, Deportation und Ermordung in den Vernichtungslagern folgten. Schließlich kam es während des Zweiten Weltkrieges zu einem systematischen, in der Weltgeschichte beispiellosen Völkermord an der jüdischen Bevölkerung in ganz Europa.

In der „Hessischen Volkswacht“ vom 4. April 1933, der Zeitung der NSDAP im Gau Kurhessen, wurde über eine Aktion von SA und SS in Kassel während des Boykotts jüdischer Geschäfte am 1. April berichtet, die der massiven Einschüchterung von potentiellen Kunden dienen sollte. Auf dem Opernplatz war durch eine Stacheldrahtumzäunung symbolisch ein Konzentrationslager errichtet worden,in dem ein Esel gefangen gehalten wurde. Dazu wurde auf einem Schild erläutert: „Konzentrationslager für wider-

spenstige Staatsbürger, die ihre 3 Einkäufe bei Juden tätigen.“

Völkische Ideologie

Neben dem Antisemitismus gehörte die völkische Ideologie zur Staatsdoktrin der NS-Zeit. Die völkische Bewegung hatte ihre Anfänge am Ende des 19. Jahrhunderts genommen. Sie bestand aus deutschnationalen und antisemitisch-rassistischen Gruppen, Vereinen und Parteien, die großen Einfluss auf die Öffentlichkeit hatten. Fundament aller Ideen war die Rassenideologie, nach der das Germanentum und ins- besondere die arische Rasse auserwählt und allen anderen „Rassen“ überlegen sei.

Die Nationalsozialisten vereinnahmten das Wort „völkisch“ und bedienten sich vieler Elemente der völkischen Weltanschauung. Sie verknüpften rassistische und antisemitische Gedanken zur Ideologie der germanischen Herrenrasse und machten dieses Gedankengut zur Staatsideologie.

Ziel war es, die „Herrschaft der arisch-germanischen Rasse“ zu erhalten und schließ- lich einen „germanischen Staat deutscher Nation“ zu errichten, der nur von einem Geschlecht von „Herrenmenschen“ bevölkert werden sollte. Als Hort alles vermeint- lich Richtigen, Wahren, Guten sollte das deutsche Volk von allem „Undeutschen“ „gereinigt“ werden. Nur wer der „arischen Rasse“ angehörte, konnte auch zum Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:05 Seite 45

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Unter dem Titel „Fruchtbarkeit und Rasse“ sollte mit die- sem Plakat das massive Anwachsen der slawi- schen Bevölkerung in den europäischen Staa- ten bis zum Jahr 1960 im Vergleich zu den germanischen und roma- nischen Bevölkerungsan- teilen dargestellt wer- den. Ziel war es, Furcht vor den nicht- germanischen Völkern zu erzeugen und die Notwendigkeit der Stärkung der Frucht- barkeit in der eigenen Bevölkerung hervorzu- heben.

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deutschen Volk gehören. Damit wurden insbesondere Juden, „Rassenmischlinge“ , nationale Minderheiten sowie behinderte Mitbürger für minderwertig erklärt und aus dem deutschen Volk ausgeschlossen.

Als Mittel hierfür dienten u. a. die nationalsozialistische „Rassenhygiene“, die Zwangssterilisierung und Ermordung als „minderwertig“ angesehener Kranker und Behinderter. Von völkischem Denken geleitet waren die Entrechtung, die Verfolgung und Ermordung von Juden, Sinti und Roma sowie die Pläne zur Neuge- staltung der eroberten polnischen und russischen Territorien, wobei die dortige Bevölkerung nur als Sklaven und Zwangsarbeiter dienen sollte. Den Nationalsozia- listen gelang es, ihre völkische Weltsicht mental in großen Teilen der Bevölkerung zu verankern. In dieser „Volksgemeinschaft“ sollten alle sozialen Widersprüche ausgelöscht sein. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:05 Seite 46

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Titelblatt der vom SS-Haupt- amt beim Reichsführer-SS Heinrich Himmler ab 1942 in zahlreichen Auflagen heraus- gegebenen Hetzschrift „Der Untermensch“. In dieser wur- den überwiegend entstellende rassistische und antisemi- tische Fotos von vermeint- lich rassisch minderwertigen „Untermenschen“ und ihren angeblichen Untaten gezeigt. Der Text beginnt mit einer Behauptung Himmlers aus dem Jahr 1935: „Solange es Menschen auf der Erde gibt, wird der Kampf zwischen Menschen und Untermenschen geschichtliche Regel sein.“

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Die Plastik „Faustkämpfer“ des Bildhauers Joseph Thorak (1889-1952) wurde aus Anlass der Olympischen Sommerspiele 1936 in Berlin geschaffen. Thorak galt als populärster Bildhauer im Dritten Reich, weil seine künstlerische Handschrift den offiziellen NS-Vorstellungen zur Kunst entsprach. Seine Skulpturen sind nur in ihrem damaligen propagandistischen Funktions- und Wirkungszusammenhang zu beurteilen; sie versinnbild- lichen die „Überlegenheit des Herrenmenschen“.

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SA-Aktionen gegen Juden 1933

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten stand zunächst die „Vernichtung der politischen Gegner“ im Vordergrund. Es galt, die neu gewonnene politische Macht im Deutschen Reich zu festigen. Erklärter Wille der Nationalsozialisten war es, in „Abwendung von Weimar“ die Demokratie zu beseitigen und eine nationalso- zialistische Diktatur zu errichten. Die ersten großen Verfolgungsmaßnahmen richte- ten sich deshalb zunächst gegen die als „Reichsfeinde“ geschmähten Kommunis- ten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter. Insbesondere nach dem Reichstags- brand am 27. Februar 1933 kam es aufgrund der „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“ zu deren Verhaftungen ohne richterlichen Haftbefehl. Damals entstanden in ganz Deutschland erste „wilde“ Konzentrationslager, in denen die Festgenomme- nen zum Teil schwer misshandelt wurden. Nur wenige erkannten, dass die ersten Übergriffe schnell eine völlig neue Qualität annahmen.

2 Bereits 1933 wurden jüdische und nichtjüdische Bürger wegen angeblicher Rassenschande verfolgt und in der Öffentlichkeit erniedrigt. In wurden ein jüdischer Mann und eine nichtjüdische Frau von SA-Männern einer großen Menschenmenge „präsentiert“. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:05 Seite 48

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Die neue Regierung legalisierte nicht nur Verletzungen der Menschenwürde in jeder Form bis hin zum Mord, sondern förderte sie auch ausdrücklich. Neben der „Ausschaltung“ der Hauptgegner der NSDAP kam es auch zu ersten heftigen Ausschreitungen gegen Juden. Gegen Rechtsanwälte, die sich als Strafverteidiger für Sozialdemokraten und Kommunisten eingesetzt und sie in gerichtlichen Verfahren vertreten hatten, wurden Morddrohungen ausgesprochen. Hinzu kamen brutale Überfälle auf jüdische Mitbürger – oft mit tödlichem Ausgang.

Am 22. April 1933 wurde in Wiesbaden der Kaufmann Max Kassel von einem SA-Kommando in seiner Wohnung mit drei Schüssen von hinten erschossen. Die öffentliche Bloßstellung jüdischer Mitbürger, die wegen ihrer näheren Beziehungen zu nichtjüdischen Partnern als „Rasseschänder“ gebrandmarkt und dem Spott der Massen ausgesetzt wurden, begann im gleichen Zeitraum. Am 19. August 1933 fand in Marburg die öffentliche Anprangerung eines jüdischen Studenten durch die SA statt. Viele jüdische Mitbürger im gesamten Deutschen Reich waren ähnlichen Demütigungen ausgesetzt.

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Am 19. August 1933 inszenierte die SA einen Prangerzug in Marburg. Ein jüdischer Student wurde gedemütigt, indem er mit einem Schild „Ich habe ein Christenmädchen geschändet!“ durch die Straßen geführt wurde. Um die Auf- merksamkeit der Anwohner zu wecken, begleitete eine SA-Kapelle den Zug. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:05 Seite 49

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Reichsweit, so auch in Friedberg, bildeten sich aus den Ortsgruppen und Organisations- gliederungen der NSDAP „Aktionskomitees“ zur Organisation und Durchführung des Boykotts gegen Juden am 1. April 1933. Diese Nationalsozialisten, überwiegend Mit- glieder der SA und SS, betrieben bereits im Vorfeld die „Boykott-Propaganda“ und erzwangen vor Ort die möglichst vollständige Einhaltung des Boykotts von Geschäften jüdischer Mitbürger. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:05 Seite 50

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Die justizielle Aufarbeitung

Im Zusammenhang mit den SA-Aktionen gegen Juden nach der Machtübernahme steht ein brutaler Überfall mit tödlichem Ausgang am 22. April 1933 in Wiesbaden. Opfer war der 59jährige Milchhändler Max Kassel, der zugleich auch das Amt des SPD-Kassierers ausübte.

Auf Befehl ihres Standartenführers, der die Festnahme des jüdischen Kaufmanns angeordnet hatte, drangen mehrere SA-Männer gewaltsam in Kassels Wohnung ein. Dort schossen sie auf den am geöff- neten Fenster stehenden und laut um Hilfe rufenden Mann von hinten und Die Täter, die für töteten ihn mit drei Schüssen. den Mord an Max Kas- Anschließend flohen sie. sel verantwortlich waren, wurden bald bekannt. Die Staats- Die Mörder konnten festgestellt wer- anwaltschaft Wiesba- den, wurden jedoch zunächst nicht den nahm die Ermitt- lungen auf. Das Foto belangt. Erst nach dem Ende des aus der Ermittlungs- „Dritten Reiches“ wurden die Täter akte zeigt die Tür vor Gericht gestellt. In einem ersten der Wohnung von Max Kassel, durch die er Verfahren vor dem Landgericht Wies- mit einem ersten baden wurde u. a. der Hauptange- Schuss verletzt klagte Ernst Franzreb wegen Mordes wurde. an Kassel zu einer lebenslänglichen 1 Zuchthausstrafe verurteilt. Auf seine Revision hin hob das Oberlandesge- richt das Urteil auf und verwies die Der Amtsgerichtsrat Sache zur erneuten Verhandlung und Dr. Paul Koch war 1933 Verurteilung an eine andere Kammer Untersuchungsrichter in der Mordsache Max Kassel. des Landgerichts zurück. Partei- und SA-Stellen wollten das Verbrechen an Das Schwurgericht bei dem Landge- Kassel vertuschen. Koch versuchte dennoch, die richt Wiesbaden verurteilte aufgrund Hauptverbrecher Franzreb einer neuen Hauptverhandlung am und Lerch, die sich in 28. Juni 1949 den Hauptangeklagten einer SA-Kaserne in München verborgen hatten, Franzreb wegen Freiheitsberaubung zu verhaften und nach mit Todesfolge und Nötigung zu Wiesbaden zu bringen. 10 Jahren und drei Monaten Zucht- Gegen den Widerstand von Polizei und SA gelang es haus. Die beiden Mitangeklagten ihm, die Täter in Haft Ernst Krause und Jean Haas wurden zu nehmen. Trotz seiner wegen der gleichen Delikte zu Bemühungen musste er schließlich jedoch die Zuchthausstrafen von fünf bzw. Haftbefehle aufheben, 2 vier Jahren verurteilt. so dass die Verbrecher zunächst der Bestrafung entgingen. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:05 Seite 51

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Da in der Verhandlung nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden konnte, dass Franzreb oder Haas die tödlichen Schüsse abgegeben hatten, wurden beide von dem Vorwurf des Mordes freigesprochen.

Das „Stolperstein“-Projekt ist eine Idee des Künstlers Gunter Demnig und soll an die Vertrei- bung und Ermordung von Menschen unter der Nazi-Herrschaft er- innern. Die von dem Künstler angefertigten Stolpersteine werden vor dem Haus verlegt, in dem die Menschen, an die sie erinnern sollen, ihre letzte freiwillige Wohnung hatten. In Wiesbaden wurden bisher in der Innenstadt und in den Vororten vor über 300 Häusern mehr als 500 Stolpersteine verlegt, darunter auch vor dem Haus Webergasse 46 für Max Kassel. 3

Pogromnacht 1938 in Marburg

Am 7. November 1938 verübte Herschel Grynszpan, dessen Familie unter den vom Deutschen Reich nach Polen abgeschobenen Jüdinnen und Juden war, in Paris ein Attentat auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath. Diesen Anschlag nahmen Hitler und Propagandaminister Joseph Goebbels zum Anlass, einen reichsweiten Pogrom zu initiieren. In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 steckten SA- und SS- Männer in Zivil im ganzen Deutschen Reich hunderte Synagogen in Brand und verwüsteten tausende Wohnungen und Geschäfte. Dabei verloren etwa einhundert Juden ihr Leben. Für die Schäden der Pogromnacht mussten die Geschädigten selbst aufkommen. Zusätzlich wurde der jüdischen Bevölkerung eine „Sühne- leistung“ von einer Milliarde Reichsmark auferlegt.

Unmittelbar nach dem Novemberpogrom wurden etwa 30.000 jüdische Männer von Polizei und Gestapo mit Hilfe vorbereiteter Listen verhaftet und in die Konzentrations- lager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen verschleppt. Wie ein Flächenbrand breiteten sich die Terrorakte in Hessen aus. Auch die Synagoge in Marburg blieb nicht verschont. Nach einem abendlichen Appell am 9. November blieben Mitglieder verschiedener Marburger SA-Stürme im Marburger Fronhof zurück. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:05 Seite 52

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Kurz nach Mitternacht erschien dort der SA-Standartenführer Kurt Stollberg und befahl, ein SA-Kommando zur Zerstörung der Synagoge zusammenzustellen. Als ein halbes Dutzend SA-Männer, die sich zuvor in „Räuberzivil“ umgezogen hatten, in die Synagoge einzudringen versuchten, stellen sie überrascht fest, dass es im Innenraum bereits brannte.

Die Brandstifter hatten sich nach Aussage mehrerer Zeugen zeitweise vor dem Fronhof aufgehalten und waren von ihnen für SS-Männer oder Gestapobeamte gehalten worden. Dieser erste Brand hatte zunächst jedoch nur wenig Wirkung. Erst als die Marburger SA-Leute Fußbodenöl aus der Universität besorgt hatten, ging die Synagoge gegen Morgen endgültig in Flammen auf. Die Synagoge brannte völlig nieder. Die Feuerwehr kam erst gegen Morgen und löschte im Laufe des Vormittags noch bestehende Brandnester. Bereits wenige Tage nach dem Brand wurden die Reste des Gebäudes abgebrochen, um diese Spur jüdischen Lebens in Marburg zu tilgen.

Am 15. September 1897 konnte die Marburger jüdische Gemeinde in der Universitätsstraße ihre neue Syna- goge einweihen. Sie war im spätroma- nischen Stil mit byzantinischen Anklängen aus rotem Sandsteinmate- rial gebaut worden und bot Platz für mehr als 400 Gläubige.

In der Nacht zum 9. November 1938 wurde die Synagoge durch Brandstif- tung geschändet und vernichtet. Nur die Thorarollen konnten gerettet werden. Die soliden Mauern, die das Feuer überstanden hatten, wurden gesprengt, die Trümmer abtranspor- tiert. Die Abbruchkosten musste die jüdische Gemeinde bezahlen. Direkt im Anschluss an die Pogromnacht wur- den viele jüdische Männer in das KZ Buchenwald abtransportiert.

Das Synagogengrundstück erwarb die Philipps-Universität für 11.700 RM. Nach 1945 kam das Grundstück nach Abschluss des Restitutionsverfahrens in den Besitz des Landes Hessen.

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Die justizielle Aufarbeitung

Bereits nach der Wiedereinrichtung der Justizbehörden in Hessen im Sommer 1945 begann die deutsche Justiz mit der strafrechtlichen Verfolgung von NS-Verbrechen.

Dabei stand insbesondere die Zerstörung der Synagogen in der Reichspogrom- nacht im Mittelpunkt der Strafverfahren. Vor dem Landgericht Marburg fanden damals zwei derartige Verfahren statt. Dieses Strafverfahren steht zugleich beispiel- haft für zahlreiche Prozesse, die die hessische Justiz bis zum Beginn der 1950er Jahre gegen NS-Verbrecher geführt hat. Durch Urteil vom 21. November 1947 wur- den zunächst drei Angeklagte als Mittäter bei der vorsätzlichen Inbrandsetzung eines zum Gottesdienst bestimmten Gebäudes, begangen in Tateinheit mit Land- friedensbruch und schwerem Hausfriedensbruch, zu Strafen zwischen drei Jahren Zuchthaus und sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Zwei Angeklagte wurden frei- gesprochen.

Im Dezember 1949 wurden erneut Ermittlungen der Staatsanwaltschaft wegen der Brandstiftung und Zerstö- Hans Adolph Straube war Vertreter der Anklage- rung der Synagoge eingeleitet. In behörde im Verfahren diesem zweiten Verfahren stand gegen Kurt Stollberg SA-Standartenführer Kurt Stollberg u.a. Als Staatsanwalt gehörte er dem Landge- vor Gericht, der sich während des richt Marburg seit ersten Verfahrens noch in russischer April 1948 an. 1953 zum Kriegsgefangenschaft befunden Ersten Staatsanwalt ernannt, übte er in hatte. dieser Funktion seinen Dienst als öffentlicher Er wurde am 11. August 1950 wegen Ankläger bis zu seiner Pensionierung im Jahr Anstiftung zum schweren Landfrie- 1965 aus. densbruch zu 1 Jahr und 6 Monaten Gefängnis verurteilt. Sowohl der Angeklagte als auch die Staatsan- 1 waltschaft legten gegen das Urteil Revision ein; diese wurde vom Ober- landesgericht Frankfurt am 6. Juni 1951 verworfen. Das Urteil war also rechtskräftig. Der Verurteilte hätte nun seine Haftstrafe antreten müssen.

Bereits am 31. August 1951 stellte er ein erstes Gnadengesuch, das vom Hessi- schen Minister der Justiz abgelehnt wurde. Seit dem 20. August 1952 befand er sich in Haft in Butzbach. Sein zweites Gnadengesuch vom 20. November 1952 wurde ebenfalls abgelehnt. Unter dem 3. Februar 1953 reichte er ein drittes Gnadengesuch ein und beantragte die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung. In der bizarren Begründung zum 1. Gnadengesuch führte Stollbergs Anwalt aus, dass sein Mandant bereits 1934/35 in Opposition zur NSDAP gestanden haben will. Dieser Behauptung widersprach aber die Realität der Karriere Stollbergs in der SA und sein Aufstieg zum Standartenführer. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:05 Seite 55

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Durchaus charakteristisch für einen NS-Täter war Stollbergs fehlendes Unrechts- bewusstsein. Zur Tat selbst äußerte er sich mit keinem Wort; nicht ein Wort des Bedauerns über die Zerstörung der Synagoge findet sich in den Gnadengesuchen.

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Auszug aus dem 1. Gnadengesuch von Kurt Stollberg vom 31. August 1951. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:05 Seite 56

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Bemerkenswert ist die Darstellung, dass sich Stollberg bereits 1934/35 vom NS-System losgesagt haben will, obwohl er vier Jahre später noch immer den Rang und die Funktion eines SA-Standarten- führers (entsprechend etwa dem Rang eines Majors der Wehrmacht) innehatte. Allein dieser hohe Rang in der NS-Hierarchie beweist, dass sich Stollberg noch immer mit der NS-Ideologie identifiziert hatte und keineswegs etwa in Gegnerschaft zur NSDAP stand. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:05 Seite 57

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II. Judenverfolgung und Völkermord - die justizielle Aufarbeitung in Hessen

2. Deportation und Ghettoisierung mit Beginn des 2. Weltkrieges Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:05 Seite 58

58 | II. Judenverfolgung und Völkermord: 2. Deportation und Ghettoisierung mit Beginn des 2. Weltkrieges | Tafel 22

Einleitung

Die Olympischen Spiele von 1936, mit denen sich Deutschland nach außen als welt- offenes Land präsentieren wollte, verschafften der jüdischen Minderheit eine kurze Atempause von der immer restriktiver werdenden NS-Judenpolitik.

Nach dieser Phase relativer Mäßigung verschärfte der Nationalsozialismus jedoch seine Gangart wieder. In seinen öffentlichen Auftritten bis Kriegsbeginn kündigte Hitler an, dass er zu keinerlei Zugeständnissen in der „Judenfrage“ mehr bereit sei. Der Pogrom vom November 1938, beschönigend auch „Reichskristallnacht“ ge- nannt, markierte vor dem Krieg den vorläufigen Höhepunkt dieser staatlich sanktio- nierten antisemitischen Gewalt. Entrechtung und soziale Ausgrenzung zwangen viele Juden in die Emigration.

Unter staatlichem Druck, jeglicher Perspektive in ihrer Heimat beraubt, entschieden sich viele Deutsche jüdischen Glaubens notgedrungen zur Auswanderung. Zuvor wurden sie von der Finanzverwaltung durch Erhebung der „Reichsfluchtsteuer“ förmlich ausgeplündert.

Mit dem Überfall Deutschlands auf das benachbarte Polen setzte die unheilvolle Radikalisierung und Beschleunigung der Judenverfolgung ein. Zum einen erhöhte sich die Anzahl der Juden im deutschen Herrschaftsraum erheblich; allein im besiegten Polen lebten über 2 Millionen Juden. Zum anderen wurden mit dem Kriegseintritt Großbritanniens und Frankreichs die Grenzen geschlossen; die Pla- nungen für eine erzwungene Auswanderung der Juden waren damit hinfällig. Im Kriegszustand, den früheren Rücksichten gegenüber dem Ausland enthoben, ließ die NS-Führung jegliche Zurückhaltung gegenüber den Juden fallen.

Fotorealistische Darstellung der 3. Deportation Wiesbadener Juden am 1. September 1942 als Teil des Deportationsmahnmals Schlachthoframpe in Wiesbaden, geschaffen vom Sprühkünstler Yorkar7. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:05 Seite 59

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Bereits 1939 wüteten in Polen die ersten SS-Einsatzgruppen, um „Juden, Polacken und Gesindel“ den Garaus zu machen, so wie Hitler es verlangt hatte. Mit dem Ziel, die Juden aus dem „Altreich“ sowie den eroberten und zu „germanisierenden“ Gebieten zu vertreiben, begannen im Herbst 1939 die ersten Deportationen und die Bildung von Ghettos. Die Zeit vom Kriegsbeginn im September 1939 bis zum Über- fall auf die Sowjetunion im Juni 1941 lässt sich als Phase des Übergangs von der Judenverfolgung zur systematischen Judenvernichtung begreifen.

Mord und Gewalt gegen Juden waren seit 1939 allgegenwärtig. Doch bei der „End- lösung der Judenfrage“ war seit 1941 nicht mehr die Vertreibung das Ziel, sondern die möglichst restlose physische Beseitigung dieser Bevölkerungsgruppe.

Im Dezember 1941 begann die bürokratisch-systematische Ermordung der europä- ischen Juden in Kulmhof / Chełmno, nahe der polnischen Stadt Łódź. In diesem ersten Mordzentrum wurden Juden in abgedichteten Lastwagen vergast.

Ghettoisierung

Ab 1939, nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, begannen die Nationalsozialisten mit der Errichtung von Ghettos in Osteuropa. Diese zumeist umzäunten oder sogar um- mauerten „jüdischen Wohnbezirke“, so der NS-Jargon, dienten der zwangsweisen „Konzentrierung“ der Juden in größeren Städten mit Eisenbahnanschluss. Die Ghettos waren die Zwischenstation zur Vertreibung der Juden, dann ab 1941 zu ihrer systematischen Er- mordung. Dort waren die Juden schnell greifbar Reinhard Heydrich (1904-1942) hatte nach seinem Beitritt zur NSDAP im und wurden noch vor ihrer Juni 1931 als enger Mitarbeiter von Deportation durch Hunger Heinrich Himmler rasch Karriere in und Arbeit dezimiert. Der der SS gemacht. Als Chef des mächti- gen Reichssicherheitshauptamtes trug örtliche Schwerpunkt der er seit 1939 an zentraler Stelle Ghettos lag außerhalb des Verantwortung für den Übergang zur Deutschen Reiches im „Endlösung der Judenfrage“. 1941 wurde er in der unter deutscher „Generalgouvernement für Gebietshoheit stehenden „Rest- die besetzten polnischen Tschechei“ zum „stellvertretenden Gebiete“. Ab 1941 weitete Reichprotektor in Böhmen und Mähren“ ernannt. Am 27. Mai 1942 verübten der NS-Staat sein grausa- tschechische Widerstandskämpfer mes Schreckensregiment ein Attentat auf Heydrich, an dessen dann auf die eroberten Folgen der ebenso skrupellose wie auch fanatische Nationalsozialist Gebiete in der Sowjet- am 4. Juni 1942 starb. union, dem Baltikum und 1 Ostpolen, aus. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:05 Seite 60

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Die erzwungene Umquartierung in ein Ghetto bedeutete für die betroffenen Men- schen eine dramatische Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen. Bei der Ghetto- bildung vertrieben die Besatzer die Juden vielfach aus ihren Wohnungen und pferchten sie, ihres Eigentums beraubt, in enge Viertel zusammen. Hinzu kamen noch jene Juden, die aus dem „Alt- reich“ sowie den besetzten Ländern In den Ghettos waren West- und Nordeuropas in die Ghet- die Insassen uner- träglichen Lebensbe- tos Osteuropas deportiert wurden. dingungen ausge- setzt. Vor allem die In der drangvollen Enge der Ghettos jüngsten und ältes- ten Menschen starben vegetierten die Bewohner oftmals dort an Krankheiten, jahrelang vor sich hin, existenziell Hunger und Entkräf- bedroht durch Hunger, Krankheiten, tung oder wurden für die Deportationen in Seuchen und Massaker der deut- die Vernichtungsla- schen Besatzer. Am Ende der Ein- ger ausgewählt. Hier quartierung in ein Ghetto stand seit ein Bild von einer Leichensammelstelle 1942 dessen gewaltsame Auflösung im Warschauer Ghetto mit der Deportation der Insassen in mit dem Leichnam ein Vernichtungslager. eines verstorbenen Babys, aufgenommen zu NS-Propagandazwe- Den sicheren Tod vor Augen, be- cken, Mai 1941. 2 gannen die Juden seit 1941 in ver- schiedenen Ghettos bewaffneten

Insassen des Warschauer Ghettos, aufgenommen zu NS- Propaganda- zwecken im Mai 1941. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:05 Seite 61

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Widerstand zu leisten. Angesichts fehlender Waffen und Kampferfahrung standen sie im verzweifelten Kampf gegen ihre Unterdrücker auf verlorenem Posten. Doch sandten diese heroischen Aufstände das Signal nach außen, dass sich die verfolg- ten Juden nicht mehr länger ohne Widerstand wie „Lämmer zur Schlachtbank“ treiben lassen sollten. Nach und nach wurden die Ghettos bis in den Herbst 1943 aufgelöst. Ihre Insassen wurden in der Mehrheit ermordet und in einer kleinen Minderheit in die Zwangsarbeit verschleppt.

Ein im Warschauer Ghetto auf der Straße zusammenge- brochener alter Mann wurde zu NS- Propagandazwecken fotografiert, um das antisemitische Stereotyp vom „zer- lumpten Bettelju- den“ zu bestätigen.

4

In einer ausweglosen Lage leisteten die Insassen des War- schauer Ghettos bewaffneten Wider- stand gegen ihre Deportation in das Vernichtungslager Treblinka. SS-Ein- heiten unter der Führung von SS-Grup- penführer Jürgen Stroop schlugen den Aufstand im April und Mai 1943 brutal nieder und richteten ein Massaker unter den Aufständischen an. Auf der Abbil- dung ergeben sich am 3 Boden liegende Juden der Waffen-SS. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:05 Seite 62

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Die Räumung des Ghettos in Kielce

Als eines von insgesamt fast 1.200 Ghettos ließen die deutschen Besatzungsbe- hörden im Frühjahr 1941 in der polnischen Stadt Kielce einen „jüdischen Wohn- bezirk“ errichten. Kielce lag verkehrsgünstig an der Bahnstrecke Warschau-Krakau im Distrikt Radom des Generalgouvernements; von den rund 60.000 Einwohnern waren etwa 20.000 Juden. Gemeinsam mit rund 1.000 Juden aus Wien, die bereits im Februar 1941 nach Kielce deportiert worden waren, wurden die dort ansässigen Juden im nordwestlichen Teil der Stadt „konzentriert“, so der NS-Jargon, also auf engstem Raum zusammengepfercht. Im Zuge der geplanten Ermordung der Juden im Vernichtungslager Treblinka wurde das Ghetto im August 1942 geräumt. Diese Ghet- toräumung lief nach bekanntem Muster ab: Abschnittsweise umstellte die deutsche Polizei an drei Tagen – dem 20., 22. und 24. August – frühmorgens das Ghetto. Die Juden wurden geweckt und mussten sich mit ihrem Handgepäck an einem Sammel- punkt einfinden. Dort fand eine Selektion statt, um arbeitsfähige Juden zur Zwangs- arbeit in örtlichen Betrieben zu rekrutieren. Wer versuchte, sich der Deportation durch

1 Flucht oder Verstecken zu entziehen, wurde Juden bei ihrem Zwangsumzug in das an Ort und Stelle erschossen. Dasselbe Ghetto von Kielce, 1941. Schicksal traf zahlreiche alte und kranke Menschen.

3 Die meisten der jüdischen Gefangenen aus dem Ghetto in Kielce, vor allem Frauen, Kinder und alte Menschen, wurden zur Ermordung in das Vernichtungslager Treblinka deportiert. Hier eine Momentaufnahme von einer Sammelstelle vor dem Abtransport mit den Viehwaggons. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:05 Seite 63

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In sommerlicher Hitze sperrte die Polizei jeweils 120 bis 130 Personen in Viehwag- gons ein, und zunächst glaubten viele der Deportierten noch der offiziellen Verlaut- barung, es handele sich um eine Umsiedlungsmaßnahme hin zu einem Arbeits- einsatz im Osten. Der Zug fuhr an jedem der drei Tage direkt in das Vernichtungs- lager Treblinka, wo insgesamt ca. 18.000 jüdische Menschen aus Kielce ermordet wurden. Vorläufig verschont blieben rund 1.600 Juden, die in einem stark verkleiner- ten Ghetto inhaftiert wurden: zum einen jene, die zur Zwangsarbeit selektiert worden waren; zum anderen jene, die in Arbeitskommandos die leer stehenden Wohnungen ausräumen und die zurückgelassene Habe für die weitere Verwertung durch die deutschen Besatzungsbehörden aufbereiten mussten. Das verkleinerte Ghetto wurde im Mai 1943 aufgelöst. Kinder unter 14 Jahren erschossen die Besatzer direkt vor Ort; die letzten Insassen wurden 1944 nach Auschwitz verschleppt, wo die Rote Armee die wenigen Überlebenden am 27. Januar 1945 befreite.

2

Nach der „Aussiedlung“ fanden im geräumten Ghetto von Kielce umfangreiche „Aufräu- mungsarbeiten“ statt. Zurückgelassene Habe und Wertsachen der Ghettoinsassen wur- den aus den Häusern entfernt und zu Sortier- und Sammelstellen gebracht. An den wertvollen Gegenständen bereicherten sich SS- und Polizeiangehörige; der Rest wurde an die polnische Bevölkerung versteigert. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:05 Seite 64

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Die justizielle Aufarbeitung

Erste Vorermittlungen wegen der bei der „Umsiedlung“ der Juden in Kielce verüb- ten Verbrechen nahm 1960 die kurz zuvor gegründete Zentralstelle in Ludwigsburg auf. Bald fiel der Verdacht der Beteiligung an diesen Gewalttaten auf den in Bens- heim lebenden Erich Wollschläger. Die zuständige Staatsanwaltschaft Darmstadt leitete 1965 ein Ermittlungsverfahren gegen ihn und vier andere Mitglieder der Be- satzungspolizei ein.

Der Hauptbeschuldigte Erich Wollschläger, geb. 1909, war als Oberleutnant der Schutzpolizei und stellvertretender Leiter des Schutzpolizeikommandos in Kielce der höchstrangige der vier Beschuldigten. Wollschläger war 1932 in den Dienst der Schutzpolizei eingetreten. Nach seinem NSDAP-Beitritt im Mai 1933 machte er Karriere; 1941 wurde er schließlich zum Ober- leutnant der Schutzpolizei befördert und trat der SS bei. Im selben Jahr wurde er als SS- Obersturmführer zum Kom- mando der Schutzpolizei in Kielce versetzt. Die Staatsan- waltschaft legte ihm zur Last, mehr als 30 Juden selbst erschossen oder deren Erschie- ßung befohlen zu haben.

1 2 Auch Herbert Balhorn, geb. Erich Wollschläger, Herbert Balhorn ver- 1910, hatte seine Polizeilauf- der 1943 noch bis zum suchte sich nach dem bahn vor der NS-Zeit begonnen. SS-Hauptsturmführer Krieg durch Annahme Als Kriminalpolizist bei der aufstieg, wurde nach eines anderen Namens Kriegsende zunächst der Strafverfolgung zu Gestapo misshandelte der von den Amerikanern in entziehen. Zunächst überzeugte Nationalsozialist Darmstadt interniert. gelang ihm 1946 die 1934/35 zahlreiche politische Trotz seiner NS-Ver- Übernahme in der Bre- gangenheit und seiner mer Kriminalpolizei. Gefangene. Im Polenfeldzug Einstufung als „Mit- Wegen Misshandlung wurde er zunächst bei der rück- läufer“ gelang ihm politischer Gefangener sichtslos geführten „Partisanen- 1954 nach Abschluss zu Beginn der NS-Zeit der Entnazifizierung musste er sich 1951 bekämpfung“ eingesetzt; dann die Wiederaufnahme in vor einem Hamburger später in Kielce beim SS- den Polizeidienst. Bis Schwurgericht verant- Sicherheitsdienst, der die zu seiner Verhaftung worten. 1953 aus der 1965 lebte Woll- Haft entlassen, machte Macht des NS-Regimes mit schläger in Bensheim er sich in Hamburg als brutalen Mitteln festigte. Nach als unbescholtener Kaufmann selbständig. den staatsanwaltschaftlichen Bürger. Hier eine Auf- Hier eine Aufnahme um nahme um 1960. 1950. Ermittlungen soll Balhorn in Kielce mindestens 86 Juden erschossen haben. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:05 Seite 65

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Karl Eßig, geb. 1908, war bereits 1928 der SA und 1929 der SS beigetreten. Der Nationalsozialist war jahrelang arbeitslos, erhielt dann aber nach 1933 als „alter Kämpfer“ eine Anstellung im NS-Unterdrückungssystem. Während des Krieges war er in Kielce bei der Bekämpfung der polnischen Widerstandsbewegung eingesetzt. Eßig wurde beschuldigt, dort die Erhängung von Juden angeordnet und geleitet zu haben.

Karl Martin Scheufele, geb. 1909, hatte sich als vormaliger Gewerkschaftsfunktionär erst spät, im Oktober 1939, bei der Schutzpolizei beworben. 1941 wurde er nach Kielce als Kraftfahrer bei der dortigen Schutzpolizei abgeordnet. Die Darmstädter Staatsanwaltschaft bezichtigte ihn u. a., einen Juden erschossen zu haben.

3 4

Karl Eßig geriet zum Karl Martin Scheufele Ende des Krieges in rus- konnte direkt nach sische Gefangenschaft, Kriegsende in Hamburg konnte aber flüchten. In seinen Polizeidienst Westdeutschland absol- fortsetzen. Bis zu sei- vierte er zunächst eine ner Dienstenthebung im Maurerlehre. 1951 fand September 1966 wurde er er eine Anstellung im bis zum Polizeimeister Verlagshaus Axel Sprin- befördert. Hier eine ger. Erst im Kielce-Ver- Aufnahme von Scheufele fahren holte ihn seine als Hauptwachtmeister Vergangenheit wieder der Schutzpolizei von ein. Hier eine Aufnahme 1943. von Eßig um 1943 in der Uniform eines SS-Haupt- sturmführers. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:05 Seite 66

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Die Opfer

Die Eroberung Polens durch die Wehrmacht binnen weniger Wochen brachte für die dort lebenden Menschen gravierende Änderungen ihrer Lebensverhältnisse. Etwa 1,8 Millionen polnische Juden gerieten unter deutsche Herrschaft und waren nun der nationalsozialistischen Verfolgung ausgesetzt. Rasch ließen die neuen Macht- haber in der Kriegssituation taktische Rücksichten und Zugeständnisse fahren und trieben die „Endlösung der Judenfrage“ vehement voran. Ausgrenzung, Entrech- tung und Verfolgung erfolgten wie im Zeitraffer.

Bereits 1939 wurden polnische Juden zur Zwangsarbeit gezwungen und der Kenn- zeichnungspflicht durch Tragen der weißen „Judenarmbinde“ unterworfen. Das Betreten von bestimmten Straßen und Plätzen wurde ihnen untersagt.

Diese Radikalisierung der NS-Judenverfolgung bekamen auch die in Kielce lebenden Juden unmittelbar zu spüren. Direkt nach der Beset- zung am 4. September 1939 kam es zu ersten Übergriffen, Misshandlungen und Belästigun- gen. Jüdische Geschäfte, Handwerksbetriebe und Unternehmen mussten schließen oder wur- den „Treuhändern“ übergeben. Wer in Verdacht geriet, Kommunist zu sein, wurde getötet oder in ein KZ deportiert.

Noch im September 1939 konstituierte sich auch in Kielce ein „“ mit einem „Judenältes- ten“ als Vorsitzenden und einem ihm unterstell- ten jüdischen Ordnungsdienst von 150 Mann. Diese Zwangskörperschaft hatte die Aufgabe, die repressiven Maßnahmen der NS-Juden- politik vor Ort umzusetzen.

Nochmals drastisch verschärfte sich die Situation der Juden in Kielce mit Errichtung des Ghettos im März 1941. In der drangvollen Enge des „jüdischen Wohnbezirks“ verelende- ten die Menschen und vegetierten bei Essens- rationen von 130 Gramm Brot pro Person für 1 zwei Tage dahin. Die gewaltsame Liquidation Ein Aspekt der Judenverfolgung im erober- ten Polen war die öffentliche, persön- des Ghettos im August 1943 kostete rund liche Erniedrigung und Schikanierung von 1.200 unschuldige Menschen das Leben. Juden durch die deutschen Besatzer. Hier schneidet ein deutscher Polizist in Kielce einem älteren Juden auf offener Straße den Bart ab. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:05 Seite 67

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Die Berichte Überlebender vor dem Darmstädter Landgericht waren erschütternde Zeugnisse dieser grausamen Geschehnisse.

Wie viele der über 20.000 Juden aus Kielce den NS-Terror überlebten, ist nicht exakt bekannt. Die meisten wurden in den Gaskammern von Treblinka ermordet. Nach der Befreiung kehrten nur rund 150 Juden nach Kielce zurück.

2 Mitarbeiter des Kielcer .

Abe Price, geb. 1923, wuchs als jüngster von fünf Brüdern in Kielce auf. 1941 musste seine Familie, die Eltern waren wohlhabende Inhaber einer Schuhfabrik, in das Ghetto umziehen. Allein Abe Price und einer seiner Brüder wurden nicht nach Treblinka deportiert. Im Anschluss an die Zwangsarbeit in Kielce kam Price 1944 zunächst nach Auschwitz und wurde dann in Buchenwald befreit. Im Kielce-Prozess sagte er als Zeuge gegen Wollschläger aus. Hier ein Bild von Price mit seiner Ehefrau Sala nach der Auswanderung in die USA, 1951. 4 Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:05 Seite 68

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Doch war für sie das Grauen noch nicht vorbei. Aufgrund eines Gerüchts über eine angeblich von Juden begangene Kindesentführung – eine Variante der antisemiti- schen Ritualmordlegende – ereignete sich im Juli 1946 in Kielce ein Pogrom, dem 42 Juden zum Opfer fielen. Diese Ausschreitungen lösten in der Nachkriegszeit eine Auswanderungswelle polnischer Juden nach Palästina aus.

3

Nach dem Pogrom vom Juli 1946 warten die Juden aus Kielce auf ihre Abreise. Die meisten von ihnen bauten sich eine neue Existenz in Palästina auf. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:05 Seite 69

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Prozessverlauf und Urteil

Nach jahrelangen Ermittlungen begann im Kielce-Verfahren am 24. April 1968 die Hauptverhandlung gegen die vier Angeklagten Wollschläger, Balhorn, Eßig und Scheufele. Die Angeklagten stritten die ihnen zur Last gelegten Taten vehement ab; sie machten Gedächtnislücken geltend. Ihre Dienstzeit in Kielce schilderten sie als reine Verwaltungstätigkeit; im übrigen hätten sie ja allein die Befehle ihrer Vorge- setzten ausgeführt. Sie gaben vor, keine Kenntnisse über den Bestimmungsort der deportierten Juden gehabt zu haben; die wahre Bedeutung der Begriffe „End- lösung“ oder „Aussiedlung“ sei ihnen nicht geläufig gewesen. Für die Verbrechen, die schließlich nicht zu leugnen waren, machten sie andere Angehörige der deut- schen Besatzungsmacht verantwortlich, vorzugsweise Personen, die bereits tot oder unauffindbar waren.

Wie in anderen NS-Prozessen auch, so basierte die Anklage Der Vorsitzende Land- gerichtsdirektor Volkmar vorrangig auf Aussagen überle- Rausch leitete vor dem bender Zeugen, ergänzt durch Darmstädter Schwurgericht Gutachten von Sachverständi- das Verfahren im Kielce- Prozess. Rausch, 1922 in gen. Ab dem 8. Verhandlungstag Darmstadt geboren, begann wurden nach und nach insge- sein Jurastudium bereits samt 125 Zeugen vor Gericht ver- 1939, konnte es aber, be- dingt durch mehrjährigen nommen. Eindringlich, oft in Militärdienst, erst 1949 bewegenden Worten, schilderten mit der 2. Staatsprüfung sie ihre schrecklichen Erlebnisse abschließen. 1952 wurde er zum Landgerichtsrat im Ghetto. Sich im Gerichtssaal ernannt und erwarb sich die Vergangenheit wieder zu ver- in der beruflichen Praxis gegenwärtigen und den früheren den Ruf, ein „hervorra- gend qualifizierter Peinigern gegenüber zu stehen, Richter“ zu sein. 1 bedeutete für viele Zeugen eine enorme emotionale Belastung.

Wolfgang Bluhm vertrat Der psychische Druck, dem sich gemeinsam mit einem Kol- diese Überlebenden der NS- legen die Anklage im Judenverfolgung im Zeugenstand Kielce-Prozess. Bluhm, 1932 in Marburg geboren, ausgesetzt sahen, wurde durch gehörte der Staatsanwalt- ihre notgedrungen intensive schaft Darmstadt seit Befragung noch zusätzlich 1961 an. Bald nach seiner Ernennung zum Staatsan- gesteigert. Die Richter mussten walt im April 1964 wurden den Sachverhalt exakt aufklären, ihm komplexe politische um zu einem juristisch korrekten Strafsachen und NSG-Ver- fahren zur Bearbeitung Urteil zu gelangen. übertragen – Aufgaben, die er nach Einschätzung seines Vorgesetzten „ein- drucksvoll“ zu lösen ver- mochte. 2 Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:05 Seite 70

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Die Verteidiger der Angeklagten bemühten bis an die Grenze des Erträglichen, die Glaubwürdigkeit der Zeugenaussagen durch gezieltes Hinterfragen zu erschüttern.

Erinnerungslücken bei zahlreichen Zeugen, was angesichts der lange zurück- liegenden Ereignisse nicht verwundert, aber auch sachliche Abweichungen bei verschiedenen Zeugenaussagen zu bestimmten Anklagefällen veranlassten das Gericht schließlich dazu, dem Grundsatz des „in dubio pro reo“ zu folgen und die Angeklagten freizusprechen. Allein in einem der vielen Mordfälle sah das Gericht die Schuld von Wollschläger als erwiesen an. Nach 221 Verhandlungstagen wurde Wollschläger am 22. Juli 1971 als „Gehilfe“, nicht aber als „Mörder“, zu einer ver- gleichsweise milden Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt – mit der Unter- suchungshaft hatte er seine Strafe bereits verbüßt.

3

Die vier Angeklagten im Kielce-Prozess vor dem Darmstädter Landgericht (v.l.n.r.): Erich Wollschläger, Karl Eßig (mit Sonnenbrille), Herbert Balhorn und Karl Scheufele. Im Vordergrund ganz links Rechtsanwalt Eugen Gerhardt. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:06 Seite 71

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II. Judenverfolgung und Völkermord - die justizielle Aufarbeitung in Hessen

3. Übergang zum systematischen Massenmord Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:06 Seite 72

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Einleitung

Der Beginn des deutschen Ausrottungs- und Ausbeutungskrieges gegen die Sowjetunion am 22. Juni 1941 markierte den Anfang des Völkermords an den europäischen Juden. Auf die ersten Massenmorde, Deportationen und die Ghettoisierung der Juden im besetzten Polen seit Ausbruch des 2. Weltkrieges folgte nun deren physische Vernichtung. Den Worten Hitlers, der seit 1939 in seinen Reden wiederholt mit der „Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“ gedroht hatte, folgte jetzt deren systematische Auslöschung.

2 In der Schlucht Babij Jar, nordwestlich von Kiew, ermordeten die Mit- glieder der Einsatzgruppe C am 29. und 30. September 1941 innerhalb von 36 Stunden insgesamt 33.771 Juden, überwiegend ältere Männer, Frauen und Kinder. Nachdem sich die Kiewer Juden ihrer Kleidung und Wertgegenstände entledigt hatten, wurden sie in der Schlucht erschossen. Das Bild zeigt deutsche Soldaten beim Durchsuchen der Kleider erschossener Opfer.

Ein „Führerbefehl“ zur „Endlösung der Judenfrage“, so der zeitgenössische, ver- harmlosende Sprachgebrauch zur Ermordung der Juden, ist nicht überliefert und wird wohl auch in schriftlicher Form nicht ergangen sein. Im Zuge der Planungen des Russlandfeldzuges im Frühjahr 1941 soll Hitler den mündlichen Befehl zur möglichst vollständigen „Ausrottung“ jüdischer Menschen im deutschen Herr- schaftsraum gegeben haben.

Mit der Umsetzung dieses „Endlösungsbefehls“ wurden Heinrich Himmler und die ihm unterstehenden Organe der SS betraut. Treibende Kraft bei der Organisation und Durchführung des Völkermords war zunächst Reinhard Heydrich, enger Mitar- beiter Himmlers und seit 1939 Chef des mächtigen Reichssicherheitshauptamtes. Ihm unterstanden die rund 3.000 Mann umfassenden Einsatzgruppen der Sicher- Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:06 Seite 73

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heitspolizei, die in den eroberten Gebieten direkt hinter der vorrückenden Wehr- macht die „reichs- und deutschfeindlichen Elemente“ bekämpfen sollten.

Die Stoßrichtung dieses selbst erklärten Kampfes gegen den „jüdischen Bolsche- wismus“ richtete sich vor allem gegen jüdische Zivilisten. Erste systematische Massenerschießungen sowjetischer Juden fanden bereits am 24. Juni 1941, zwei Tage nach Kriegsausbruch, statt. Wenige Wochen später waren zahlreiche jüdische Gemeinden ausgelöscht. Trotz der rund 500.000 jüdischen Opfer dieser Massaker bis Ende 1941 galten die Erschießungen aus Sicht der Massenmörder bald als „ineffizient“. Auf der Wannseekonferenz vom 20. Januar 1942 bezifferte Heydrich die Anzahl der Menschen, die im Zuge der „Endlösung der europäischen Juden- frage“ getötet werden sollten, auf rund 11 Millionen. Um diesen Mord an Zivilisten zu beschleunigen und zugleich zu anonymisieren, begann die SS mit der Errichtung einer regelrechten Tötungsindustrie.

1

Nachdem auf höchster Ebene die Entscheidung zur Ermordung der Juden gefallen war, kamen am 20. Januar 1942 Vertreter von NS-Reichs- behörden und SS-Dienststellen unter dem Vor- sitz von Reinhard Heydrich zusammen, um über die Umsetzung der „Endlösung der Judenfrage“ zu beraten. Hier ein Auszug aus dem Proto- koll der Wannseekonferenz mit der Auflistung der zu tötenden Juden. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:06 Seite 74

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Das Vernichtungslager Sobibór

Die Rationalisierung und Perfektionierung des Mordes an den europäischen Juden erfolgte mit dem Aufbau von Vernichtungslagern im Generalgouvernement, das nach der Weisung Hitlers „judenrein“ werden sollte. Dort lebten nach national- sozialistischer Zählung Ende 1941/Anfang 1942 rund 2,3 Millionen Juden, meist zusammengepfercht in Ghettos. Als Methode für eine möglichst geheime, anony- misierte und massentaugliche Ermordung entschied sich die SS für den Einsatz von stationären Gaskammern. Damit hatte man bereits zuvor beim Krankenmord im Rahmen der sog. „T4-Aktion“ umfangreiche Erfahrungen gesammelt. Die Einsatz- gruppen experimentierten in der zweiten Hälfte 1941 mit mobilen Gaswagen zur Ermordung der jüdischen Zivilbevölkerung. Bei der ostpolnischen Gemeinde Belzec nahe Lublin ging im März 1942 das erste speziell zu diesem Zweck errichtete Vernichtungslager in Betrieb. Nach dessen Muster errichtete die SS ab März 1942 in der Nähe des Ortes Sobibór im südöstlichen Polen eine weitere „Todesfabrik“; wenige Monate später erfolgte dann mit Treblinka nordöstlich von Warschau der Bau des dritten Vernichtungslagers.

Der Massenmord an den polnischen Juden erhielt von der NS-Führung die Bezeich- nung „Aktion Reinhard“ – zu Ehren des infolge eines Attentats am 4. Juni 1942 verstorbenen Reinhard Heydrich. Bei Einstellung der „Aktion Reinhard“ im Oktober 1943 waren über zwei Millionen Opfer zu beklagen.

Lager III mit den Gaskammern(5), dem Maschinenhaus mit dem Dieselmotor(4),den Baracken für das jüdische Arbeits- kommando(1), der Unterkunft Gruben für die des „Zahnarztes“ für das Massengräber Herausbrechen des Zahngoldes der Ermordeten(2).

Schlauch

Lager Lager I II

Vorlager

1 Lageplan des Vernichtungslagers Sobibór, erstellt im Oktober 1975 für das Gericht im Wiederaufnahmeverfahren Hubert Gomerski. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:06 Seite 75

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Sobibór wurde in einer möglichst abgelegenen Gegend errichtet, um den Massen- mord vor der Öffentlichkeit streng geheim zu halten. Der Ort war aber zugleich an einer Eisenbahnstrecke verkehrsmäßig gut angebunden. Das Vernichtungslager be- stand aus vier voneinander getrennten Bereichen. Im Vorlager waren die Unterkünfte des SS-Sonderkommandos und der ukrainischen Hilfstruppen untergebracht; im Lager I die Werkstätten und Unterkünfte der rund 50 jüdischen Arbeiter, die vorüber- gehend dem Gasmord entgangen waren. Im Lager II befand sich der Empfangsbe- reich für die Juden; dort mussten sie ihre Habseligkeiten abgeben und sich voll- ständig entkleiden. Über einen rund 150 Meter langen und drei bis vier Meter breiten Gang – auch „Schlauch“ genannt – wurden sie in das eigentliche Vernichtungslager getrieben. Hier, im Lager III, befanden sich die gemauerten Gaskammern, der Schuppen mit dem 200 PS-Dieselmotor zur Erzeugung des tödlichen Kohlenstoff- monoxids und die Massengräber zum Verscharren der Ermordeten. An diesem Ort wurden realistischen Schätzungen zufolge rund 250.000 Menschen ermordet.

Die justizielle Aufarbeitung

Die Personen, die für die Organisation und Durchführung der „Aktion Reinhard“ die Hauptverantwortung trugen, konnten nach 1945 juristisch nicht zur Rechen- schaft gezogen werden. Der Leiter dieser Vernichtungsaktion, SS-Gruppenführer Odilo Globocnik, hatte im Mai 1945 Selbstmord begangen; sein Stellvertreter Chris- tian Wirth war ein Jahr zuvor von italienischen Partisanen getötet worden. Auch der zweite Lagerkommandant von Sobibór, , kam beim Kampf gegen Partisanen zu Tode; sein Vorgänger konnte sich zunächst der Straf- verfolgung durch seine Flucht nach Brasilien bis zu seiner Auslieferung an die Bundesrepublik 1967 entziehen.

Die juristische Aufarbeitung der Josef Hirtreiter (1909-1978) war „Aktion Reinhard“ stand im Vernichtungslager Treblinka zunächst vor dem Problem, gewissermaßen das Pendant zu Hubert Gomerski. Als ungelernter dass nur sehr wenige Juden Arbeiter war Hirtreiter 1932 der den Vernichtungslagern ent- NSDAP und SA beigetreten. 1940/41 kommen waren und vor Gericht kam er in der Euthanasie-Tötungs- anstalt Hadamar zum Einsatz. Nach als Zeugen aussagen konnten; Ende der „T4-Aktion“ wurde er in die „Vernichtungsquote“ lag bei das Vernichtungslager Treblinka 99 Prozent. Zudem hatte die SS versetzt. Dort war er u.a. an den Vergasungen beteiligt und tat sich mit dem Abbruch der Lager als brutaler Exzesstäter hervor. 1943/44 ihre Spuren systema- Aufgrund dieser Verbrechen verur- tisch verwischt. teilte ihn das Schwurgericht in 2 Frankfurt am Main im März 1951 zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:06 Seite 76

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Erich Hermann Bauer (1900-1980) war neben Hubert Gomerski und Johann Klier der dritte Angehörige des SS-Wachperso- nals in Sobibór, der in der unmittel- baren Nachkriegszeit juristisch zur Rechenschaft gezogen wurde. Im Anschluss an seinen Einsatz bei der T4-Aktion wurde er nach Sobibór ver- setzt, wo er als „Gasmeister“ direkt an der Tötung tausender Menschen beteiligt war. In Berlin erkannten Überlebende des Lagers ihn wieder, und Bauer wurde der Prozess gemacht. Am 8. Mai 1950 verurteilte das Berliner Landgericht Bauer zunächst zum Tode; später wurde das Urteil in eine lebenslange Haft- strafe umgewandelt.

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Bei Spruchkammerverfahren im Zuge der Entnazifizierung und bei den Frankfurter Euthanasie-Prozessen zwischen 1946 und 1948 wurde der in Sobibór und Treblinka verübte Massenmord allmählich sichtbar. Erste Prozesse gegen SS-Angehörige, die an den Massenmorden der „Aktion Reinhard“ beteiligt waren, setzten 1948 und 1949 in Frankfurt ein. 1949 begannen die richterlichen Voruntersuchungen gegen die beiden Angehörigen der SS- Oberstaatsanwalt Dr. Hans-Krafft Kosterlitz Wachmannschaft von Sobibór, Hubert wurde am 20. Mai 1904 in Gomerski und Johann Klier. Königshütte/Oberschlesien geboren. Nach Jurastudium und Promotion trat er Am 2. Mai 1950 erhob Oberstaatsanwalt 1930 in den preußischen Dr. Hans-Krafft Kosterlitz Anklage; das Justizdienst ein, wurde Urteil wurde am 25. August 1950 ver- dann aber aufgrund seiner jüdischen Abstammung zum kündet. Gomerski, zu lebenslangem 1. November 1933 zwangs- Zuchthaus verurteilt, stellte im Novem- weise in den Ruhestand ber 1970 einen erfolgreichen Antrag auf versetzt. Er überlebte den NS-Terror trotz jahre- Wiederaufnahme des Verfahrens. Dem langem Einsatz als Zwangs- gab das Landgericht Frankfurt 1971 arbeiter. Im Dezember statt. Das auf 15 Jahre Gesamtfreiheits- 1946 trat er in den hes- sischen Justizdienst ein strafe lautende Urteil wurde nach rund und machte sich rasch 1 3 1/2 jähriger Prozessdauer am 8. Juni einen Namen als Staatsan- 1977 verkündet. Dieses Urteil war nicht walt in Frankfurt. Hoch- angesehen verstarb Kos- von Dauer; wegen eines Formfehlers terlitz am 28. Juli 1966. hob es der Bundesgerichtshof am 18. Januar 1980 auf. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:06 Seite 77

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Die Täter

Die Vernichtungslager der „Aktion Reinhard“ waren ein durchrationalisierter, perfek- tionierter Mordapparat. Für diese zynische Effizienz spricht auch der geringe Perso- nalaufwand, dessen er bedurfte. Seinen Mitarbeiterstab bezifferte der Leiter der „Aktion Reinhard“, Odilo Globocnik, auf insgesamt 450 Mann. Hierzu kamen noch die Wachmannschaften, die sog. „Trawniki“ – überwiegend Ukrainer und Volksdeut- sche, die von der SS aus sowjetischen Kriegsgefangenenlagern rekrutiert wurden. In Sobibór selbst waren 25 bis 30 SS-Angehörige eingesetzt sowie etwa 120 der „Trawniki“-Wachmänner.

Mit Hubert Gomerski und Johann Klier standen zwei typische Angehörige eines SS-Sonder- kommandos der „Aktion Reinhard“ vor dem Frankfurter Landgericht. Beide waren vor dem ersten Weltkrieg geboren – Gomerski am Hubert Gomerski 11. November 1911, Johann Klier am 15. Juli 1901. (1911-1999), war bereits 1934 in Den Krieg mit seinen Schrecken hatten sie nicht die SS eingetre- selbst erlebt, stilisierten ihn aber zur Weihestätte ten und wurde eines neuen, heroischen Menschentypus. Mit 1939 zur 8.SS- Totenkopfstan- ihren erlernten Handwerksberufen – Gomerski darte einberufen. war von Beruf Dreher, Klier Bäcker – waren sie Aufnahmezeit- der mittleren Schicht der von Krisen geschüttel- punkt um 1945. ten Weimarer Gesellschaft zuzuordnen. Sie zählten zu den rund 100 Männern der „Aktion Reinhard“, die bereits beim Krankenmord der 1 Jahre 1940/41 zum Einsatz gekommen waren – Gomerski beispielsweise am Verbrennungsofen in der Tötungsanstalt Hadamar.

SS-Wachmannschaft im Vernichtungs- lager Sobibór.

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Nach Beendigung der T4-Aktion im August 1941 konnten sie nicht nur ihre „Fach- kenntnisse“ aus der „Euthanasie“ beim Judenmord einbringen. Zudem waren sie bei ihrer Versetzung ins Generalgouvernement bereits verroht und brutalisiert genug, um sich aktiv am Völkermord beteiligen zu können. Namentlich Gomerski erschoss die gequälten und erniedrigten Juden noch vor Erreichen der Gaskammer aus nichtigen Gründen rücklings oder erschlug sie mit einer Peitsche.

Diese Taten erklären sich zum Teil aus einer persönlich geprägten antisemitischen Einstellung, aber auch aus reinem, ungezügeltem Sadismus. Vor dem Hintergrund des staatlich legitimierten und legalisierten Rassismus und Antisemitismus war die ebenso skrupellose wie auch hemmungslose Ermordung wehrloser Menschen in den Vernichtungslagern eine fast „normale“ Handlung. Mit ihrem vermeintlich „gesunden Menschenverstand“ stellten die in den Vernichtungslagern tätigen SS-Männer ihr blutiges Handwerk nicht infrage.

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Wachmänner im Vernichtungslager Sobibór am Bahngleis,der sog. „Rampe“. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:06 Seite 79

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Die Opfer

Die „Abfertigung der Transporte“, wie der Massenmord im SS-Jargon hieß, war auf eine rasche und effiziente maschinelle Tötung der angekommenen Juden hin ausgerichtet. Nach der Öffnung der Türen der Viehwaggons wurden die Menschen, die dort oftmals über Tage ohne Verpflegung eingesperrt waren, ins Lager getrieben. Wer angesichts der vorangegangenen Strapazen nicht mehr laufen konnte, wurde erschossen. Die wenigen Juden, die für die Arbeitskommandos selektiert wurden, konnten nur für kurze Zeit dem gewaltsamen Tod entrinnen. Nach der Abgabe aller Wert sachen mussten sich Frauen und Männer, getrennt nach Geschlecht, im Lager II vollständig entkleiden. Kinder blieben bei den Frauen. Mit Schlägen und terrorisierendem Geschrei trieben die SS und die ukrainischen Wachmannschaften ihre Opfer sodann durch den Verbindungsgang, den sog. Schlauch, zum Lager III in die Gaskammern. Ein dort fest stationiertes jüdisches Arbeitskommando musste den Frauen unmittelbar vor Erreichen der Gaskammer noch die Haare ab schneiden; sie dienten der deutschen Kriegsindustrie als Rohstoff.

In der Gaskammer pferchte man die Juden dicht zusammen; Körper an Körper stehend starben sie dann binnen 20 bis 30 Minuten. Die eingeleiteten Abgase Ilana Safran (1926- führten zu einem qualvollen Erstickungs- 1985), als nieder- tod. Nach der Vergasung leerte das jüdi- ländische Jüdin nach Sobibór deportiert, sche Arbeitskommando die Gaskammer überlebte den Auf- und reinigte sie von den Ausscheidungen stand vom 14. Oktober der Ermordeten. Die Leichen wurden, 1943 und schloss sich danach den Partisanen nachdem man ihnen die Goldzähne an. herausgebrochen hatte, zunächst in großen Gruben verscharrt, später auf riesigen Rosten verbrannt. 1

Nur wenige Juden konnten dem Inferno in Sobibór entkommen und dann später vor Gericht gegen die Täter aussagen. Keiner der späteren Zeugen hatte den eigentlichen Vernichtungsvorgang in Auch Samuel Lerer (1922) gelang am Lager III mit eigenen Augen gesehen. 14. Oktober 1943 die Alle Angehörigen des dortigen Arbeits- Flucht aus Sobibór. kommandos – zwischen 80 und 150 In den späteren NS- Prozessen gegen SS- Mann – waren ermordet worden. Zeugnis Männer vor bundes- ablegen konnten aber die Überlebenden deutschen Gerichten des Aufstands von Sobibór. Nach einigen, war er ein wichtiger Zeuge. zumeist vergeblichen Fluchtversuchen

einzelner Gefangener aus den Lagern I 2 und II wagten die dortigen Häftlinge am 14. Oktober 1943 einen Aufstand. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:06 Seite 80

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Von den rund 600 Fliehenden schafften es ca. 200, den vorerst „rettenden“ Wald zu erreichen. Nur 47 von ihnen überlebten bis Kriegsende die anschließende Verfolgung.

Alexander Pechersky (1909-1990) links und Aleksej Waizen (1922) rechts, konnten aus dem Lager entkommen. Pechersky organi- sierte und führte den Aufstand im Vernichtungslager Sobibór am 14. Oktober 1943 an. 3

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Die drei Sobibór-Überlebenden aus den Niederlanden sowie Tomasz Blatt und Filip Bialowicz aus Polen bei der Gedenkfeier anlässlich des 70. Jahres- tages des Aufstands im Vernichtungslager Sobibór am 14. Oktober 2013 in Lublin. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:06 Seite 81

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Urteil und Strafverbüßung

Am 25. August 1950 wurde das Urteil im Prozess gegen die beiden angeklagten SS-Wachmänner aus Sobibór Hubert Gomerski und Johann Klier verkündet. Voraus- gegangen war eine kurze Hauptverhandlung, die sich an zwei Verhandlungstagen nur oberflächlich mit der Geschichte des Vernichtungslagers und der SS-Lager- mannschaft auseinandersetzte. Da, wie das Urteil vermerkte, „jegliche Unterlagen“ zu den Vernichtungslagern der „Aktion Reinhard“ fehlten, beschränkte sich das Gericht auf eine kurze Beschreibung von Sobibór und der dort stattgefundenen Ver- brechen. Nicht die Zugehörigkeit zur Lagermannschaft wurde geahndet, sondern die innere Haltung und die persönlichen Taten.

Bei ihren Vernehmungen hatten Gomerski und Klier zwar ihren Einsatz in Sobibór zugegeben. Gerhard Pfeifer, geb. Gleichlautend betonten aber beide Angeklag- 1924 in Karlsbad, war im Wiederaufnahmeverfahren ten, sie seien gegen den eigenen Willen für Gomerski der Vertreter diese Tätigkeit verpflichtet worden. Als „kleine der Anklage. Aufgrund Befehlsempfänger“ hätten sie am eigentlichen seiner guten Fähigkeiten und Leistungen, aber Vernichtungsvorgang keinen persönlichen An- auch wegen seines „be- teil gehabt. Diese Schilderung war bei Klier sonderen Fingerspitzen- durchaus glaubhaft. Da auch Zeugen ihn ent- gefühls“ bei Verfahren mit politischem Hinter- lasteten, wurde er vom Gericht freigesprochen. grund stieg er im Gomerski dagegen galt wegen seiner bezeug- hessischen Justizdienst ten Gewalttätigkeit als Exzesstäter. Nach Über- bis zum Ständigen Vertreter des General- 1 zeugung des Gerichts hatte er „grausam ge- staatsanwalts auf. handelt“ und sich der „vorsätzlichen Tötung“ zahlloser Menschen schuldig gemacht.

Der Strafprozess vor dem Landgericht Hagen gegen gleich zwölf Angehörige des Wachpersonals in Sobibór zwischen September 1965 und Dezember 1966 fiel in die Phase der Intensivierung und Konzentration der Strafverfolgung von NS-Verbrechen – mit bedingt durch die Vorermittlungen der Zentralen Stelle in Ludwigsburg. Mit dem schließlich gegen zehn Angeklagte verkündeten Urteil wurden fünf von ihnen freige- sprochen. Ihre Beteiligung am Massen- mord konnten sie erfolgreich mit einer juristisch legitimen, moralisch aber fragwürdigen „Nötigungsnot- standslage“ („Putativnotstand“) ent- schuldigen – wenn sie sich – nach einem hypothetischen Fall – der Beteiligung an der Judenvernichtung 3 verweigert hätten, seien sie selbst mit Leib und Leben gefährdet gewesen. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:06 Seite 82

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Als Mittäter verurteilte das Gericht Gomerski wegen Mordes in einer unbestimmten Anzahl von Fällen zu lebenslangem Zuchthaus. Seine Haftstrafe verbüßte Gomerski in der Strafanstalt Butzbach; mehrere Gnadengesuche seit den 1950er Jahren wur- den wegen der Schwere seiner Taten zurückgewiesen. Die Vorermittlungen der Zen- tralen Stelle Ludwigsburg führten dann in den 1960er Jahren zu weiteren Sobibór- Prozessen. Angesichts neuer Erkenntnisse über die „Aktion Reinhard“, die aus diesen Verfahren herrührten, erreichte Gomerski 1971 die Neuaufnahme seines Verfahrens.

An insgesamt 211 Verhandlungstagen leuchtete das Gericht den zeitgeschichtlichen Kontext von der NS-Judenverfolgung im allgemeinen bis hin zum Vernichtungslager Sobibór im besonderen aus. Ein psychiatrisch-psychologisches Gutachten widmete sich der Persönlichkeit von Hubert Gomerski. Auf der Grundlage dieses differen- zierten Gesamtbildes sowie der Einsicht und Reue, die Gomerski zeigte, milderte das Gericht das vorherige Urteil ab und sprach ihn nun der Beihilfe zum Mord und des versuchten Mordes für schuldig.

2 Auszug aus dem psychiatrischen und psychologischen Gutachten über Hubert Gomerski von Prof. Dr. Dr. med. W. Schumacher aus Gießen vom 4. März 1977. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:06 Seite 83

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II. Judenverfolgung und Völkermord - die justizielle Aufarbeitung in Hessen

4. Auschwitz Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:06 Seite 84

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Einleitung

Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges erweiterte die SS das bestehende System der Konzentrationslager zunächst vornehmlich in den Grenzgebieten, z.B. in Natzweiler im Elsass, Groß-Rosen in Oberschlesien und Stutthoff bei Danzig. Hinzu kamen ab 1941 in den besetzten Gebieten die Vernichtungslager in Bełżec, Chełmno, Majdanek, Sobibór und Treblinka. An Größe übertroffen wurden alle diese Lager von Auschwitz.

Die Konzentrationslager dienten im „Altreich“ anfangs noch in erster Linie der Internierung von politischen Gegnern, „Kriminellen“, „Asozialen“, „Zigeunern“, Homosexuellen und sonstigen „Staatsfeinden“. Nun waren die zuletzt errichteten Lager Stätten der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung und der „rassischen“ Säuberung der eroberten Länder.

1940 bestimmte Heinrich Himmler in seiner Eigenschaft als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums das Gelände einer ehemaligen polnischen Kaserne bei Auschwitz zum Konzentrationslager. Dieses „Stammlager“ wurde in den folgenden Jahren schrittweise erweitert um die Nebenlager in Birkenau und Monowitz. Mit seinen verschiedenen Funktionsbereichen als Konzentrations-, Arbeits- und Vernichtungslager nahm Auschwitz eine Schlüsselrolle bei der „Endlösung der Judenfrage“ ein. Das, was an Ungeheuerlichem in Auschwitz geschehen war, blieb in der deutschen Nachkriegsgesellschaft lange weitgehend unbeachtet. Es waren vor allem die überlebenden Häftlinge der Hölle von Auschwitz und die Dokumentationsstellen zur Aufklärung der Schicksale der Opfer der NS-Herrschaft, die die Erinnerungen an das furchtbare Geschehen wach hielten und sich intensiv bemühten, die Täter ausfindig zu machen. Nicht zuletzt wegen der aufwändigen und schwierigen Ermittlungen tat sich die deutsche Justiz zunächst schwer, die Verbrechen von Auschwitz zu verfolgen. Auch kannte das deutsche Strafrecht keinen besonderen Tatbestand für Massenmord.

Der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer ging von einem einheitlichen Straftatkomplex aus und setzte ein Verfahren in Gang, um den größten staatlichen Massenmord der Geschichte aufzuklären und die Täter zur Verantwortung zu ziehen.

Je tiefer Juristen und Historiker in die Materie eindrangen, umso deutlicher zeigte sich, dass Auschwitz die zentrale Rolle im systematischen Massenmord des NS-Regimes einnahm. „Auschwitz“ wurde zum Synonym für den . Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:06 Seite 85

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Die Karte zeigt in rot eingetragen die Vernichtungslager sowie in schwarz die Stätten der Massaker. Nach Auschwitz wurden vor allem Juden aus den Nieder- landen, Belgien, Frankreich, dem Deutschen Reich einschließlich Österreich sowie aus der Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Griechenland und Italien deportiert. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:06 Seite 86

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Entstehung und Ausbau des Konzentrationslagers Auschwitz

Nach dem Polenfeldzug ging die SS-Führung daran, ihre Rassenpolitik in den eroberten Gebieten des Ostens in großem Stil zu realisieren. Verkehrstechnisch günstig gelegen, entstand zunächst das Stammlager Auschwitz I . Am 14. Juni 1940 traf dort der erste Transport mit 728 polnischen politischen Häftlingen ein. Im Zuge der Umstellung der deutschen Industrie auf die Kriegswirtschaft verknüpfte die SS-Führung rassepolitische und wirtschaftliche Interessen. Das Wirtschafts- Verwaltungs-Hauptamt der SS (SS-WVHA) erweiterte das Konzentrationslager Auschwitz durch die Angliederung von Wirtschaftsbetrieben, in denen die Häftlinge durch Zwangsarbeit zu Tode kamen.

Nach einer Inspektion Himmlers, höherer SS-Chargen, Vertretern der deutschen Zivilverwaltung und der Wirtschaft am 1. März 1941 erging der Befehl, das Stammla- ger auszubauen und in Birkenau ein weiteres Lager für 100.000 Häftlinge zu errich- ten (Auschwitz II). Diese Ausbauphase begann bereits im Vorfeld des Überfalls Hitler-Deutschlands auf die Sowjet-

Als Organisator des Ausbaus und union 1941. Die polnische Bevölke- der Verwaltung von Auschwitz rung von Auschwitz und mehrerer zählte SS-Obergruppenführer Orte der Umgebung wurde vertrie- Richard Glücks (1889-1945) zu den Schreibtischtätern. Er trat ben oder als Zwangsarbeiter ins bereits 1930 in die NSDAP ein Reichsgebiet deportiert. Ihre Häu- und wurde 1932 Mitglied der SS. ser wurden beschlagnahmt oder In seiner Funktion als Inspek- teur aller Konzentrationslager zerstört, um Versuchsgelände für ließ er nach neuen KZ-Standorten Gartenbau und Fischzucht sowie im eroberten Polen suchen. Die für kriegswichtige Produktionsstät- Wahl fiel auf die Gebäude und das Gelände einer ehemaligen ten vor allem für die IG-Farben- Artilleriekaserne in Industrie zu gewinnen. Auschwitz bei Kattowitz. 1

1942 inspizierte der Reichsführer der SS, Heinrich Himmler (vorne links) das Konzentrations- lager Auschwitz erneut.

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Ein weiteres Lager mit Produktionsstätten der chemischen Industrie und der Rüs- tungsindustrie entstand in Monowitz (Auschwitz III). Bis zum November 1943 umfasste der riesige Komplex etwa 40 Quadratkilometer.

Das zuerst entstandene Stammlager Auschwitz I und das drei Kilometer entfernte Lager Auschwitz II Birkenau wurden als Vernichtungsanlagen mit Gaskammern und Krematorien ausgestattet.

Auschwitz-Birkenau bestand aus Ende April 1940 begannen unter dem Lagerkomplex mit Männerlager, der Leitung des SS-Hauptsturm- Quarantänelager für Männer, Männer- führers Rudolf Höß (1900-1947) krankenbaulager, Frauenlager, „Zigeu- die Ausbauarbeiten. Höß war seit 1922 Mitglied der NSDAP, nerfamilienlager“ und Familienlager seit 1933 Mitglied der SS, für Juden aus dem Ghetto Theresien- zuletzt im Rang eines Ober- stadt. Damit bildete der Lagerkomplex sturmbannführers. Er war der erste Lagerkommandant von Auschwitz den wichtigsten Bestand- Auschwitz vom 27. April 1940 teil in der Vernichtungsstrategie der bis 11. November 1943. Direkt SS für die Juden, Sinti und Roma nach dem Krieg wurde ihm vor dem Obersten Nationalgerichts- Europas sowie in der Kriegswirtschaft. hof in Warschau der Prozess ge- macht. Am 16. April 1947 wurde er auf dem Gelände seiner

2 früheren Wirkungsstätte, dem KZ Auschwitz, hingerichtet.

Schematische Darstellung des Lagerkomplexes Auschwitz

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Aus allen Teilen Europas trafen Ende März 1942 die vom Reichssicherheitshaupt- amt organisierten Massentransporte von Juden in Auschwitz-Birkenau ein. Ab Mai 1942 begannen die Selektionen der Arbeitsfähigen und derjenigen, die unmittelbar in die Gaskammern (Bunker 1 und Bunker 2 genannt) geschickt wurden. Himmler nahm bei seiner zweiten Inspektion im Juli 1942 persönlich an einer Selektion und einer Massenvernichtung teil. Um die Transporte zu bewältigen, die von Monat zu Monat zunahmen, erhielt das Lager einen eigenen Bahnanschluss.

Die Massentransporte wurden von der Reichs- bahn mit Vieh- und Güterwaggons ohne Heizung, sanitäre Anlagen und Versorgung mit Nahrungsmitteln durchgeführt. Nach oft tagelanger Fahrt wurden Männer und Frauen mit ihren Kindern an der Rampe 1 voneinander getrennt und ihrer gesamten Habe beraubt. Danach fand meist unter Leitung eines SS-Arztes die Selek- tion statt: Die weni- gen für arbeitsfähig Befundenen kamen ins Lager, die übrigen wurden sofort in die Gaskammern geschickt.

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Zu dem bestehenden Krematorium II wurden bis 1944 drei weitere gebaut. Einen traurigen letzten Höhepunkt erreichten im Sommer 1944 die von Adolf Eichmann organisierten Massendeportationen der ungarischen Juden. Selbst als die Nieder- lage der Wehrmacht sich längst abzeichnete, gingen weitere Transporte von Juden aus Polen und der Tschechoslowakei nach Auschwitz.

Schon beim Eintreffen der Transporte wurde den Deportierten ihre persönliche Habe abgenommen. Die SS veräußerte riesige Mengen an Kleidern, Hausrat und anderen Gegenständen. Zahngold und Wertsachen lieferte sie an die Reichsbank ab. Dabei kam es häufig zu persönlichen Bereicherungen durch SS-Angehörige. Wegen des Vorwurfs der Unterschlagung wurde Rudolf Höß im November 1943 als Lagerkommandant abgelöst. Das Lager wurde daraufhin unter mehrere Kom- mandanten in drei Hauptkomplexe eingeteilt: Auschwitz-Stammlager, Auschwitz- Birkenau und Auschwitz-Monowitz.

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Die Wertgegenstände und persönliche Habe der nach Auschwitz deportierten Menschen wurden in riesigen Effektenlagern, genannt „Kanada“, bis zur weiteren Verwertung vorübergehend aufbewahrt. Hier ein Bild von Koffern Deportierter in der Gedenkstätte Auschwitz. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:06 Seite 90

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US-amerikanisches Luftbild vom 13. September 1944. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:06 Seite 91

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Befreiung des Lagers

Als die Rote Armee im Juli 1944 das Lager Majdanek befreite und nur noch 200 km vor Auschwitz stand, begann die SS mit Planungen zur Auflösung des Lagers Auschwitz-Birkenau. Wie bei den anderen Vernichtungslagern zuvor, sollten auch hier alle Spuren beseitigt werden. Der Inhalt der Effektenkammern, alle Baumateria- lien und die ersten Häftlinge, vor allem Russen und Polen, transportierte man mit Zügen und Lastwagen nach Westen in andere Konzentrationslager. Im Lager führte die SS ihre Mordaktionen und Quälereien ungehindert fort. Ein verzweifelter Auf- stand von Häftlingen der Sonderkommandos in den Krematorien III und IV am 7. Oktober 1944 schlug die SS grausam nieder.

Im November befahl Himmler schließlich, die Vernichtungsaktionen einzustellen und die Krematorien und Vergasungsanlagen zu zerstören. Am 17. Januar 1945 begann die „Evakuierung“ von etwa 58.000 Häftlingen. Die meisten mussten in Fuß- märschen bei eisiger Kälte den Weg nach Westen antreten. Wer unterwegs vor Entkräftung zusam- menbrach, wurde erschos- sen; andere starben an Hunger und Kälte. Blick in eine Frauen- Schätzungsweise 15.000 baracke Menschen kamen bei nach der Befreiung diesem Todesmarsch ums des Lagers. Leben. Währenddessen war die SS im Lager fieberhaft bemüht, alle

schriftlichen Dokumente 1 des Massenmords zu beseitigen.

Nach der Befreiung durch die Rote Armee zeigen inhaf- tierte Kinder die ihnen ein- tätowierte Häftlings- nummer.

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Wenige Stunden bevor Soldaten der 60. Armee der Ersten Ukrainischen Front das Lager befreiten, war die SS abgezogen. Zuvor hatte sie noch rasch die letzte Vernichtungsanlage gesprengt. Bis zum Eintreffen der Roten Armee war es der SS trotzdem nur teilweise gelungen, das Lager zu zerstören und die Leichen zu beseitigen.

Bei ihrem Einmarsch am 27. Januar 1945 bot sich den Rotarmisten ein Bild des Grauens. Etwa 600 Leichname sowie7.000 Überlebende, darunter 650 Kinder und Jugendliche, befanden sich noch im Stammlager sowie in den Lagern Birkenau und Monowitz. Die wenigen Überlebenden befanden sich in einem erbärmlichen Zustand.

Überlebende Häft- linge werden nach der Befreiung von Auschwitz von Soldaten der Roten Armee in Decken gehüllt und medi- zinisch betreut, 1. Februar 1945.

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Die Ruine des Krema- toriums III von Auschwitz-Birkenau. Das Krematorium III wurde zwischen März und Juni 1943 gebaut. Im Keller befanden sich der Auskleideraum und die Gaskammern. Das darüber liegende Krematorium hatte eine Verbrennungs- kapazität von rund 1.400 Leichen. 4 Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:06 Seite 93

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Ermittlungsverfahren

Das Personal des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz bestand vom Mai 1940 bis Januar 1945 aus etwa 8.200 SS-Angehörigen und ca. 200 Personen Aufsichtspersonal im Gefolge der SS. Davon lebten am Ende des Krieges noch etwa 6.500. Von diesen wurden etwa 800 von alliierten Gerichten, teilweise auch für in anderen Lagern begangene Verbrechen, abgeurteilt, mehrere davon zum Tode.

Dass Auschwitz in den Fokus der Justiz geriet, geschah eher zufällig. Ende der 1950er Jahre hatte sich Adolf Rögner, ein Auschwitz-Opfer, bei der Staatsanwalt- schaft Stuttgart gemeldet und den ehemaligen SS-Oberscharführer mehrerer Verbrechen bezichtigt. und das Internationale Ausch- witz-Komitee in Wien untermauerten Rögners Behauptungen und trugen unermüd- lich Beweismaterial zusammen.

Dr. Heinz Düx war 37 Jahre alt, als er 1961 als Untersu- chungsrichter mit der Durch- führung der Voruntersuchung beauftragt wurde. Mit seinen Ermittlungen konnte er die bis dahin bekannte Zeugenliste um 200 Personen erweitern.

1

Hans Joachim Kügler (1926-2012) war neben Gerhard Wiese einer der jüngsten Staatsanwälte im Auschwitz-Prozess.

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Die Ermittlungen über den Auschwitz-Komplex selbst brachte der ehemalige Häft- ling Emil Wulkan ins Rollen, der dem hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer im Jahr 1959 wertvolle Dokumente über gezielte Tötungsaktionen zuspielte.

Bauer, für den der Massenmord in Vernichtungslagern als ein Gesamttatbestand innerhalb des NS-Systems zu verstehen war, ergriff energisch die Initiative, um das Auschwitz-Verfahren zentral in Frankfurt verhandeln zu können. Er erwirkte den Beschluss des BGH vom 17. April 1959, wonach in dieser Sache das Landgericht Frankfurt als Gerichtsstand festgelegt wurde. Jetzt konnte die Frankfurter Staats- anwaltschaft tätig werden. Mit den Vorermittlungen beauftragt wurde Landgerichts- direktor Heinz Düx. Mit Unterstützung eines jungen, von der NS-Vergangenheit unbelasteten Teams von Staatsanwälten trug er in 74 Aktenbänden so viel Material zusammen, dass dem Landgericht Frankfurt am 16. April 1963 eine umfangreiche Anklageschrift vorgelegt werden konnte.

Gerhard Wiese, geb. 1928, hielt am 158. Verhandlungs- tag das Plädoyer zum Ange- klagten Kaduk, in dem er auf die menschenverachtende und brutale Handlungsweise des Angeklagten besonderes Augenmerk legte.

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Georg Vogel (1926-2007) ging der Ruf voraus, ein „sehr fleißiger Arbeiter“ zu sein. Diese Eigenschaft erwies sich auch im Ausch- witz-Prozess angesichts der Materialfülle und der Kom- plexität des Verfahrens als unerlässlich.

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Prozesseröffnung

Der Nürnberger Prozess wurde nach dem Völkerrecht und der Eichmann-Prozess in Jerusalem wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit geführt. Demgegenüber folgte der Auschwitz-Prozess den Regeln des deutschen Strafprozessrechts, das den Begriff des Massenmordes nicht kannte. Die Staatsanwaltschaft bereitete die Vorgänge in Auschwitz als einheitliche Tat vor, bei der prinzipiell jeder Mitwirkende strafrechtlich verantwortlich war. Dem folgte das Gericht nicht. Nach geltender Rechtslage musste die Tatbeteiligung jedes Einzelnen mit jeweils selbständigen Handlungen herausgearbeitet werden, mit der Folge von Einzelstrafen und Gesamt- strafenbildung.

Dennoch blieb das Geschehen des Der Zeithistoriker Massenmordes als historischer Tatbe- Hans Buchheim stand nicht unbeachtet. Maßgeblichen (geb.1922) war Anteil hieran hatten die von der Justiz Gutachter im Auschwitz-Prozess. als Sachverständige bestellten Zeithisto- Vor allem seine riker Hans Buchheim, Martin Broszat und Gutachten über den Helmut Krausnick vom Institut für Zeit- Befehlsnotstand und das Verhältnis geschichte sowie Hans-Adolf Jacobsen von Befehl und von der Universität Bonn. Gehorsam im NS- Staat sowie über die Anatomie des Basierend auf diesen Gutachten behan- SS-Staates spiel- delte etwa ein Drittel der 698 Seiten ten im Prozess umfassenden Anklageschrift u. a. die eine heraus- 4 ragende Rolle. antijüdische Politik des Nationalsozia- lismus und die Geschichte des Lagers Auschwitz innerhalb des NS-Konzentrationslager- systems. Der Rest widmete sich der strafrechtlichen Bewertung der Anschuldi- gungen gegen einzelne Angeklagte. Wegen der in Auschwitz begangenen Grausamkeiten plädierte die Staatsanwaltschaft grundsätzlich auf Mord. Das Gericht folgte dieser Argumentation jedoch nur zum Teil und ließ diesen Anklagepunkt lediglich gegen 11 der 23 Beschul-

digten zu, soweit diesen 3 eine unmittelbare, Kameraleute und Pressevertreter vor dem Gerichtssaal. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:06 Seite 96

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persönliche Beteiligung an einer Tötung nachgesagt wurde. Die übrigen Beschul- digten wurden als „Gehilfen“ angeklagt, die lediglich Beihilfe geleistet hatten und damit milder zu bestrafen waren. Die Strafkammer folgte in diesem Punkt der Rechtsprechung des BGH.

Da im Landgericht Frankfurt kein geeigneter Sitzungssaal zur Verfügung stand, trat das Gericht am 20. Dezember im Rathaussitzungssaal des Frankfurter Römer unter dem Vorsitz von Landgerichtsdirektor Hans Hofmeyer erstmals zusammen. Ab April 1964 wurden die Verhandlungen im neu erbauten Bürgerhaus Gallus fort- geführt. Der Prozess dauerte bis zum 20. August 1965. 183 Verhandlungstage wur- den benötigt. 360 Zeugen waren zu vernehmen. Hinsichtlich Dauer und Umfang war der Auschwitz-Prozess bis zu diesem Zeitpunkt in der deutschen Rechtsgeschichte einmalig.

Hans Karl Hofmeyer (1904-1992) war Vorsitzender Richter im Auschwitz-Prozess. Mit seiner souveränen Verhandlungsführung setzte er sich selbst ein Denkmal; die FAZ bezeichnete ihn mit großem Respekt als „Fanatiker der Sachlichkeit“.

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Eröffnung des Auschwitz- Prozesses im Frankfurter Römer am 20. Dezember 1963.

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Prozessverlauf

Der Auschwitz-Prozess stieß auf ein enormes mediales Interesse im In- und Aus- land. Im Verlauf des Prozesses wurde der Öffentlichkeit erstmals in vollem Umfang bewusst, welches ungeheuerliche Ausmaß die in deutschem Namen in Auschwitz begangenen Verbrechen angenommen hatten.

Der Prozess belegte aber auch, wie sehr die politischen Zeitumstände der 1960er Jahre auf das Prozessgeschehen einwirkten. Der Kalte Krieg hatte gerade seinen Höhepunkt erreicht. Dies zeigte sich an der Debatte um die Zulassung des Strafver- teidigers Friedrich Karl Kaul als Nebenkläger aus der DDR, der den Prozess für politische Zwecke zu nutzen verstand.

Der Ost-West-Konflikt war auch deutlich spürbar bei der Ortsbegehung in Auschwitz im Dezember 1964. Bereits im Juni dieses Jahres hatte als Neben- klagevertreter Rechtsanwalt Henry Ormond einen Antrag auf Durchführung einer Augenscheinnahme im ehe- maligen Lager Auschwitz gestellt, um Aussagen der Prozessbeteiligten verifizie- 4 ren und bewerten zu kön- Angeklagte während der Verhandlung im Frankfurter Römer. nen. Sowohl das Gericht als auch mehrere Verteidiger hatten gegen eine Orts- besichtigung zunächst Nach einem Flug von Stuttgart über Wien – ein Bedenken. Politische Wider- Flug über das Gebiet der stände seitens des Hessi- DDR war nicht möglich – schen und des Bundes- nach Warschau und einer Reise von dort im Bus justizministeriums kamen nach Krakau konnte die hinzu. Delegation, bestehend aus Amtsgerichtsrat Hotz, drei Anklagevertretern, drei Nebenklagevertretern, elf Verteidigern und ledig- lich einem der Angeklag- ten, Dr. Lucas (Bildmitte), vom 14. bis 16. Dezember 1964 den Ortstermin 2 durchführen. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:06 Seite 98

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Allein Fritz Bauers Beziehungen war es zu verdanken, dass die Regierung der Volksrepublik Polen dem Gericht einen Ortstermin in Auschwitz ermöglichte, obgleich die Bundesrepublik noch keine diplomatischen Beziehungen zu Ostblock- staaten unterhielt.

Nach längeren Verhandlungen zwischen dem Schwurgericht, der Anklagever- tretung und den Bonner Ministerien der Justiz und des Innern sowie des Aus- wärtigen Amtes wurde schließlich akzeptiert, dass ein eigens beauftragter Richter des Schwurgerichts, Amtsgerichtsrat Walter Hotz, diesen Ortstermin des Gerichts durchführen sollte. Die polnische Regierung gab dazu grünes Licht und sicherte freies Geleit zu. Begleitet wurde das Gericht von Vertretern der Presse, die mit ihren bildlichen Eindrücken die deutsche Öffentlichkeit eindringlich mit dem Schauplatz der in Auschwitz begangenen Verbrechen konfrontierten.

Die Delegation des Frankfurter Schwurgerichts bei ihrer Be- sichtigung des Stammlagers Auschwitz I. Im Hintergrund die Blöcke 10 und 11; dazwischen der Innenhof mit der berüchtigten „Schwarzen Wand“ - ein Kugelfang aus Isolierplatten an der Außen- mauer - vor der zahllose Häftlinge erschossen wurden.

3

Amtsgerichtsrat Walter Hotz (1917- 1974) führte die Gerichts-Delegation bei der Ortsbesichtigung in Ausch- witz an. Hotz, der zwischen 1937 und 1945 Mitglied der NSDAP gewesen war, hatte bereits 1938 seine erste juristische Staatsprüfung abgelegt. Nach Wehrdienst, Gefangenschaft und Entnazifizierung nahm er sein Stu- dium wieder auf und bestand 1951 die 2. Staatsprüfung. Danach setzte er seine Karriere fort bis zum Vorsit- zenden Richter beim Landgericht Frankfurt.

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Schuld und Verjährung

Dass in Auschwitz Menschen umgebracht und misshandelt wurden, gaben die Angeklagten zu, bestritten jedoch fast einhellig, an den Morden persönlich beteiligt gewesen zu sein.

Die größte Schwierigkeit für das Gericht bestand Ernst Benda (1925-2009) studierte nach seinem Kriegs- in der Beurteilung der dienst Rechtswissenschaften Schuldfrage und der Täter- und legte 1955 sein Staats- schaft. Die damalige Recht- examen an der Freien Univer- sität Berlin ab. Seit 1946 sprechung des BGH favo- gehörte er der CDU an. Als risierte die so genannte Mitglied des Deutschen Bun- subjektive Theorie, wonach destages zwischen 1957 und 1971 setzte er sich in der derjenige als Täter gilt, der Debatte um die Verjährung ein subjektives Interesse von Mord für die vollständige an der Begehung der Tat Aufhebung der bislang gelten- den Verjährungsfrist ein und besitzt. Derjenige, der die stellte die Frage nach der Tat ausführt, indem er sich historischen Schuld - auch dem Willen des Täters gegen Bedenken in der eigenen Partei. Benda erwarb sich unterwirft, gilt als Gehilfe. parteienübergreifend hohes Es genügte nicht, sich auf Ansehen und wurde 1971 zum den Befehlsnotstand oder 1 Präsidenten des Bundesverfas- sungsgerichts ernannt. die äußeren Umstände zu berufen, wenn dem Täter die Möglichkeit offen

stand, die Verantwortung Adolf Arndt (1904-1974) stu- für die Ausführung der Tat dierte in Marburg und Berlin zu erkennen. Dem Gericht Rechtswissenschaften, Volkswirt- schaftslehre und Philosophie. oblag es, in jedem Einzel- Im NS-Staat als „Halbjude“ ver- fall zu prüfen, welche folgt, trat er 1946 in die SPD innere Einstellung ein ein und galt dort bald als „Kronjurist“ der SPD-Fraktion. Täter zur Tat hatte. Die In der Frage der Verjährung Verteidigung wiederum hielt er eine Änderung des bemühte sich, ihre Man- Grundgesetzes für notwendig. In der Debatte im Bundestag ver- danten möglichst als neinte er die Kollektivschuld „Gehilfen“ ohne eigenen der Deutschen, betonte aber die inneren Tatantrieb darzu- historische Schuld und die indi- viduelle Mitverantwortung an den stellen. Die Klärung der Verbrechen des Staates. Um eine individuellen Schuld war Wiederholung derartiger Verbre- damit ausschlaggebend chen in der Zukunft zu vermei- 2 den, plädierte er für die Not- für die Verhängung des wendigkeit des Erinnerns. Strafmaßes im Einzelfall. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:06 Seite 100

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Das Verfahren stand insofern unter Zeitdruck, als Verjährungsfristen drohten. Für Totschlag im Sinne des § 212 StGB, der vor 1945 begangen wurde, war die Frist zum Zeitpunkt des Auschwitzprozesses bereits abgelaufen. Für Mord betrug die Verjährungsfrist, gerechnet vom Kriegsende 1945 an, 20 Jahre. Danach hätten des Mordes beschuldigte Täter ab 1965 nicht mehr bestraft werden können.

Im Deutschen Bundestag wurde jedoch nach heftiger Debatte zunächst eine Frist- verlängerung bis zum Jahr 1969 beschlossen. Als auch dies nicht ausreichte, um weitere NS-Verfahren durchzuführen, beschloss der Bundestag eine Fristver- längerung um 10 Jahre. Erst im Jahr 1979 wurde die Verjährung für Mord gänzlich aufgehoben.

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Die Frage nach einer Verjährung von NS-Verbrechen löste eine breite, kontrovers geführte Debatte in Politik und Gesellschaft aus. Titelblatt des Nachrichtenmagazins Der Spiegel vom März 1965. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:06 Seite 101

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Die Angeklagten und ihre Taten

Die Anklage richtete sich gegen den Adjutanten des Lagerkommandanten Rudolf Höß, Mulka, den Leiter der SS-Apotheke Dr. Victor Capesius, den Leiter der SS-Zahnstation Dr. Willy Frank, den Lagerarzt in Birkenau und Truppenarzt im Stammlager Dr. Franz Bernhard Lucas, den Zahnarzt Dr. Willi Schatz, den Schutz- haftlagerführer Franz Hofmann, den Block- und Rapportführer , den Blockführer in Birkenau Stefan Baretzki, die ehemaligen SS-Unterscharführer Johann Schoberth und Emil Hantl, den SS-Hauptscharführer Hans Nierzwicki, die SS-Oberscharführer Wilhelm Boger, Klaus Dylewski, und Hans Stark, die SS-Unterscharführer Heinrich Bischoff, Karl Höcker, Herbert Scherpe und Arthur Breitwieser, den SS-Rottenführer Pery Broad, den Arrestaufseher Bruno Schlage, den SS-Wachmann Gerhard Neubert sowie den ehemaligen Häftling und Kapo Emil Bednarek. Mit den unterschiedlichen Rängen und Funktionen hatte die Staatsan- waltschaft einen gewissen Querschnitt der Verantwortlichkeiten dokumentiert.

1 2 3 Der Hauptangeklagte im Victor Capesius (1907- Wilhelm Friedrich Boger Auschwitz-Prozess war 1985) stammte aus Rumä- (1906-1977), von Beruf (1895-1969). nien. 1941/42 diente er Kaufmann, stieß schon in Nach seiner Zeit als zunächst bei der rumäni- den 1920er Jahren zur NS- Freiwilliger im 1. Welt- schen Armee, dann als Jugend. Bereits 1930 war krieg schloss er sich „Volksdeutscher“ bei der er Mitglied der Allgemei- 1928 dem paramilitäri- Wehrmacht und bei der nen SS. 1933 trat er in schen „Stahlhelm“ an und Waffen-SS. Vom September den Dienst der Bereit- war Mitglied im National- 1943 bis zur Auflösung schaftspolizei, dann in verband deutscher Offi- des Lagers Auschwitz den der Politischen Poli- ziere. 1940 trat er in leitete er die zei. Ab 1942 gehörte er die NSDAP ein, 1941 in KZ-Apotheke. Er wurde zur SS-Mannschaft in die Waffen-SS. Zwischen mehrfach beschuldigt, an Auschwitz, zuerst bei der Juli 1942 und März 1943 Selektionen beteiligt Wachkompanie, dann bei war er Adjutant des gewesen zu sein. der Politischen Abteilung Lagerkommandanten Höß in als Referatsleiter für Auschwitz, zuletzt im Ermittlungen und Verneh- Rang eines SS-Obersturm- mungen, bei denen er sich bannführers. als besonders grausam hervortat. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:06 Seite 102

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4 5 6 Oswald Kaduk (1906- Hans Stark (1921-1991) Josef Klehr (1904- 1997), Sohn eines war der jüngste Ange- 1988) war 1932 der Schmieds, war von klagte. Bereits mit 16 NSDAP und der SS bei- Beruf Fleischer. 1939 Jahren war er der SS getreten. Der gelernte war er Mitglied der beigetreten, zunächst Tischler ging 1939 zur Allgemeinen SS, später als Staffelmann in der Waffen-SS, zunächst dann der Waffen-SS. Totenkopfstandarte in als Wachmann im KZ Seit 1941 gehörte er den KZ Brandenburg und Buchenwald. 1940 kam der Wachmannschaft des Buchenwald, dann als er als SS-Sanitäter Lagers Auschwitz an. Rekrutenausbilder in ins KZ Dachau und Nach der Evakuierung Dresden und Dachau. schließlich im Oktober des Lagers setzte er 1940 kam er als Angehö- 1941 nach Auschwitz. seinen Dienst im KZ riger der SS-Mannschaft Im Stammlager hatte Mauthausen fort. Kaduk nach Auschwitz. Als der Sanitäter Klehr war wegen seiner einziger der Angeklag- zahlreiche Gefangene besonderen Brutalität ten äußerte er Bedauern eigenhändig „abge- gefürchtet. über seine Mitwirkung spritzt“, d.h. mit an den Verbrechen. einer Phenolinjektion in den Herzmuskel getötet. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:06 Seite 103

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Zeugen und Verteidigung

Im Auschwitz-Prozess kam den Zeugen eine für den Ausgang des Verfahrens ganz entscheidende Rolle zu. Mit ihren Aussagen lieferten sie wertvolle Beweismittel, die das Gericht zur Feststellung der Verantwortlichkeiten und der Schuld zu prüfen hatte.

Insgesamt wurden 359 Zeugen gehört, davon waren 211 ehemalige Häftlinge und Überlebende von Auschwitz, 85 ehemalige Angehörige der SS und 63 weitere Zeugen. Die größte Gruppe stellten die politischen Häftlinge, meist Polen, gefolgt von den jüdischen Überlebenden, von sogenannten Kriminellen sowie von Sinti und Roma. Viele der Zeugen kamen mit Sondergenehmigungen aus den Ländern des Ostblocks, mit denen die Bundesrepublik während der Zeit des Kalten Krieges keine diplomatischen Beziehungen unterhielt. Ihr Auftritt im Prozess bedeutete für sie eine belastende Konfrontation mit ihren Peinigern und mit deren Heimatland, das einige zum ersten Mal seit Kriegsende betraten. Um die Zeugen zu betreuen, setzte das Gericht daher eigens psychologisch geschultes Personal und Dolmet- scher ein.

Rudolf Vrba (Jg. 1924, Mit der Möglichkeit zur Geburtsname: Walter Aussage und einem Auf- Rosenberg) wurde 1942 nach Auschwitz depor- tritt als Zeugen vor tiert. Er gehörte dort Gericht erhielten Überle- dem Arbeits- und dem bende von Auschwitz Aufräumkommando an und war Blockschreiber oft erstmals Gelegen- in Auschwitz-Birkenau. heit, das schreckliche Insofern war er ein Geschehen und ihre per- wichtiger Zeuge der Anklage für die sönlichen Erlebnisse zu Funktionsweise der SS- beschreiben. Für man- Herrschaft im Lager. 1 che Zeugen bedeutete das Interesse an ihrem Schicksal und die Aus- sage eine seelische Otto Wolken (geb. Befreiung; für andere 1903 in Wien), war aber auch eine Qual, von Juli 1943 bis zur wenn sie sich ihre Befreiung des Lagers in Auschwitz als Leiden im Angesicht der Häftlingsarzt im Angeklagten vergegen- Quarantänelager wärtigten. Die Hölle von tätig. Er beschrieb die hygienischen Auschwitz rückte ins Zustände in Ausch- öffentliche Bewusstsein. witz-Birkenau und den Ob die Aussagen aber im brutalen Umgang des SS-Wachpersonals und Sinne des Strafprozesses der Kapos mit den juristisch verwertbar vornehmlich kranken Häftlingen. waren, stand auf einem 2 anderen Blatt. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:06 Seite 104

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Die meisten Zeugen konnten zwar wertvolle Hinweise auf die Organisation des Lagers, auf die Funktionsträger und auf bestimmte Ereignisse liefern. Die Tather- gänge, die Örtlichkeiten und die schuldhafte Beteiligung der Angeklagten mussten aber im Einzelnen nachgewiesen werden. Unabdingbar war ein detailgenaues, differenziertes und unvoreingenommenes Erinnern, das einige Zeugen rund 20 Jahre nach Auschwitz nicht leisten konnten. Aussagemängel beeinträchtigten den juristischen Beweiswert vieler Zeugenaussagen.

Tadeusz Paczuła (geb. 1920 in Gleiwitz), Chirurg, wurde als politisch verfolgter Pole im Dezember 1940 nach Auschwitz deportiert, wo er Rapport- schreiber im Häftlingskranken- bau des Stamm- lagers war.

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Herrmann Langbein (1912- 1995) war zwischen 1942 und 1944 im KZ Auschwitz inhaf- tiert. 1954 war er Mitbe- gründer des Internationalen Auschwitzkomitees. Er setzte sich vehement für die straf- rechtliche Verfolgung von NS-Verbrechern ein und trug maßgeblich bei zu den Er- mittlungen im Auschwitz- Verfahren. Im Prozess selbst trat er als Zeuge auf.

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Dem Vorsitzenden oblag die schwierige Aufgabe, bei den Vernehmungen nach der unverfälschten Wahrheit zu suchen. Dem stand das Interesse der Verteidiger der Angeklagten gegenüber, ihre Mandanten zu entlasten, um ein möglichst geringes Strafmaß zu erzielen. Daher versuchten sie, die Zeugen der Anklage in Wider- sprüche zu verwickeln und ihre Aussagen zu erschüttern. Für die Zeugen bedeutete diese Strategie eine zusätzliche Qual und Belastung. Häufig ergaben sich Probleme mit der Beherrschung der deutschen Sprache oder bei der Übersetzung durch Dolmetscherinnen und Dolmetscher. Da viele Zeugen aus den Ostblockländern kamen, versuchte die Verteidigung, diese als Handlanger des Kommunismus zu diffamieren und ihre Glaubwürdigkeit zusätzlich zu erschüttern.

Neben den Zeugen der Anklage traten im Prozess auch Zeugen der Verteidigung auf. Meist handelte es sich um ehemaliges Personal der SS, das in höheren Verwal- tungsämtern tätig gewesen war. Einige dieser Zeugen waren schon in anderen NS-Verfahren verurteilt worden, sodass sie wegen der gleichen Straftaten nicht ein zweites Mal belangt werden konnten.

1 2 Konrad Morgen (1909-1982) war Dr. Friedrich Karl Kaul (1906- ehemals SS-Richter im Reichs- 1981) wurde 1933 aus „rassi- kriminalpolizeiamt gewesen. schen Gründen“ aus dem Justiz- Während des Krieges leitete er dienst entlassen und 1935 von eine Kommission, die Unter- der Gestapo verhaftet. Nach der schlagungen, Bereicherungen und Haftentlassung emigrierte Kaul Kompetenzüberschreitungen in zunächst nach Kolumbien und Konzentrationslagern durch erlebte das Ende des Krieges in Angehörige der SS untersuchte. den USA. Noch 1945 kehrte er Im Auschwitz-Prozess trat er nach Berlin zurück und trat in sowohl als Zeuge der Anklage die KPD ein. In der Bundesrepu- als auch der Verteidigung auf. blik verteidigte er in mehreren Für ihn besaßen die Wirt- Staatsschutzprozessen Mitglie- schaftsstraftaten der Angeklag- der der verbotenen KPD und nahm ten noch immer einen höheren in NS-Prozessen die Funktion Stellenwert als der Massenmord. des Nebenklägers wahr. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:07 Seite 106

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In der Regel führte die Verteidigung sie zur Erläuterung allgemeiner Themen wie der Interpretation des Befehlsnotstandes ins Feld.

Einige Auschwitz-Opfer wurden von Nebenklägern vertreten. Dazu gehörten die Rechtsanwälte Henry Ormond und Christian Raabe sowie der erst nach langer Diskussion zugelassene Ost-Berliner Rechtsanwalt Friedrich Karl Kaul, der sechs Mandanten aus der DDR vertrat. Ormond und Kaul waren selbst Verfolgte des NS-Regimes. Wiederholt kam es zwischen ihnen und den Verteidigern der Angeklagten sowie den Zeugen der Verteidigung zu heftigen Wortwechseln, wobei vor dem Hintergrund des Kalten Krieges neben den juristischen auch politische Aspekte eine Rolle spielten.

3 4 Rechtsanwalt Dr. Hans Laternser Rechtsanwalt Fritz Steinacker (1908-1969)fungierte bereits (geb. 1921) verteidigte in bei den Nürnberger Prozessen mehreren großen Frankfurter als Verteidiger von Mitgliedern NS-Verfahren bekannte Nazi- des Obersten Kommandos der Verbrecher wie Otto Hunsche, Wehrmacht. Später war er einer Hermann Krumey und Arnold der bekanntesten Verteidiger in Strippel. Als Partner von Prozessen wegen nationalsozia- Dr. Laternser übernahm er listischer Gewaltverbrechen. Im gemeinsam mit diesem die Auschwitz-Prozess übernahm er Verteidigung der Angeklagten die Verteidigung der Angeklag- Broad, Capesius, Dylewski, ten Broad, Capesius, Dylewski, Frank und Schatz. Frank und Schatz. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:07 Seite 107

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Urteil

Am 19. und 20. August 1965 verkündete der Vorsitzende Richter Hofmeyer mündlich das Urteil, nicht ohne zu Beginn darauf hinzuweisen, dass dieses Verfahren als Grundlage für „eine umfassende geschichtliche Darstellung des Zeitgeschehens“ zu bewerten, für das Gericht jedoch als normaler Strafprozess zu behandeln war. Jeder konkrete Tatbeitrag wurde als Einzelfall bewertet. Daher fielen die Strafmaße sehr unterschiedlich aus.

Die Angeklagten Breitwieser, Schatz und Schoberth wurden aus Mangel an Bewei- sen freigesprochen – die Aussagen jener Zeugen, die gegen diese SS-Leute ausge- sagt hatten, waren nach Auffassung des Gerichts nicht stichhaltig. Wegen gemein- schaftlicher Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord wurden die Angeklagten Hantl und Scherpe zu viereinhalb Jahren Zuchthaus verur- teilt. In Anrechnung der Untersuchungshaft konn- Herbert Scherpe (1907-1997) ten sie den Gerichtssaal (hier links im Bild), wurde nach dem Urteilsspruch als bereits 1931 Mitglied der freie Männer verlassen. NSDAP und der Allgemeinen SS. Vom Sommer 1940 an bis zur Evakuierung im Januar Der Hauptangeklagte Mulka 1945 gehörte er in ver- hatte 1968 Haftverscho- schiedenen Funktionen zur Lagermannschaft, zuletzt nung erhalten, vier Ange- im Rang eines SS-Oberschar- klagte (Capesius, Stark, führers. Broad und Dylewski) kamen nach Abbüßung von rund zwei Dritteln der ver- 1 hängten Strafen in den Jahren bis zum Revisions- verfahren vor dem Bundes- gerichtshof (Januar/ Februar 1969) aus der Untersuchungshaft frei, Johann Schoberth (1922-1988) drei (Frank, Höcker und kam nach seinem Fronteinsatz bei der Waffen-SS 1943 ins Schlage) wurden 1969/1970 KZ Auschwitz und gehörte aus der Haft entlassen. dort zunächst der Wachmann- schaft, dann der Politischen Abteilung an. Eine persön- liche Schuld war ihm nicht nachweisbar.

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Nicht mehr in Freiheit gelangten die zu lebenslangem Zuchthaus verurteilten Mörder Franz Hofmann und Wilhelm Boger. Sie verstarben 1973 bzw. 1977 während der Haft. Besonders hart traf es niedere Chargen, die so genannten Exzesstäter, die nicht nur auf Befehl, sondern auch eigenmächtig gemordet hatten: Klehr kam 1988 frei, nachdem er 28 Jahre in Haft verbracht hatte, Kaduk wurde 1989 entlassen; 30 Jahre hatte er eingesessen.

Besondere Fälle stellten der als Mörder abgeurteilte vormalige Funktionshäftling Bednarek und der ebenfalls zu lebenslangem Zuchthaus verurteilte Angeklagte Baretzki dar. Bednarek wurde 1975 begnadigt, Baretzki verübte 1988 Selbstmord in der Haft.

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Franz Bernhard Lucas (1911-1994), seit 1933 Mitglied der SA, seit 1937 der NSDAP und der SS, war bis Oktober 1944 SS-Lagerarzt in Auschwitz- Birkenau und Truppenarzt in Auschwitz-Stammlager. Er wurde als „Gehilfe“ zu drei Jahren und drei Monaten Zuchthaus verurteilt. Der Bundesge- richtshof hob 1969 das Urteil gegen ihn auf; bei der Neuverhandlung sprach das Landgericht Frankfurt ihn im Oktober 1970 frei. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:07 Seite 109

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Oswald Kaduk (1906-1997), den viele Zeugen als besonders brutal und grausam beschrieben hatten, richtete 1988, ein Jahr vor seiner Haftentlassung, ein – vergebliches – Gnadengesuch an Bundespräsident Richard von Weizsäcker. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:07 Seite 110

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III. Fazit und Ausblick Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:07 Seite 112

112 | III. Fazit und Ausblick | Tafel 48

Die Frankfurter Generalstaatsanwaltschaft als Zentrum der NS-Prozesse

Der spektakuläre Auschwitz-Prozess wird in einem Atemzug genannt mit Fritz Bauer, dem hessischen Generalstaatsanwalt. Seit Beginn seiner Amtszeit 1956 setzte er sich dafür ein, den eingetretenen Stillstand bei der Strafverfolgung von NS-Verbrechen zu beenden. Mit seinem unermüdlichen Engagement hatte Fritz Bauer maßgeblichen Anteil daran, dass nach der gesellschaftspolitischen Integra- tion früherer Nationalsozialisten seit dem Ende der 1940er Jahre nun allmählich die Mauern des Schweigens, die um die Verbrechen des NS-Regimes gezogen worden waren, überwunden werden konnten. Fritz Bauer war die Triebfeder dafür, dass die Frankfurter Generalstaatsanwaltschaft zu einem bundesweiten Zentrum bei der strafrechtlichen Ahndung von nationalsozialistischen Gewalttaten wurde.

Der Auschwitz-Komplex selbst war nach dem Urteil vom August 1965 noch lange nicht abgeschlossen. Dicht nach dem 1. folgten zwischen 1965 und 1968 der 2. und 3. Auschwitz-Prozess in Frankfurt. Auch die Ermittlungen gegen , den berüchtigten Lagerarzt von Ausch- witz, trieb Fritz Bauer bis zu seinem Tod voran. Seit 1959 intensivierte Fritz Bauer im Zuge der Mit den Ermittlungen der General- Auschwitz-Ermittlungen die Suche nach dem KZ- staatsanwaltschaft bezüglich der Arzt Josef Mengele NS-„Euthanasie“ und der NS-Justiz (1911-1979). Bauer brachte Fritz Bauer ab 1959 noch wusste, dass Mengele bei seiner Flucht durch ein weiteres Großverfahren auf den seine Familie in Günz- Weg. Damit wandte sich die General- burg unterstützt sowie staatsanwaltschaft jenen „Schreib- durch ein Netzwerk „alter“ Nationalsozia- tischtätern“ zu – meist Ärzte und listen gedeckt wurde. Juristen –, die sich für ihre Beteili- Doch fand Mengele lang- gung an den Verbrechen des natio- fristig Unterschlupf in Paraguay und Brasilien. nalsozialistischen Regimes bis dato vor deutschen Gerichten kaum ver- antworten mussten. Stattdessen 1 waren die früheren Funktionsträger des 3. Reiches seit Beginn der Ära Adenauer 1949 weitgehend unbehelligt von strafrechtlicher Ahndung in die neue demokratische Ordnung integriert worden.

Die in Hessen während des Nationalsozialismus verübten Patientenmorde waren bereits zwischen 1946 und 1948 bei den Frankfurter „Euthanasie“-Prozessen Gegenstand der Strafverfolgung. Hier hatte mit Ärzten und Pflegepersonal die Tätergruppe vor Gericht gestanden, die in den jeweiligen Anstalten eigenhändig getötet oder sich unmittelbar an der Ermordung kranker Menschen beteiligt hatte. Wie Auschwitz auch, so sah Bauer die NS-Euthanasie aber weniger als ein Verbre- chen einzelner Individuen, sondern als ein staatlich gelenktes, bürokratisches Massenverbrechen. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:07 Seite 113

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Diejenigen, die an zentraler Stelle in Berlin, gewissermaßen an den Schalthebeln der Macht, für die Planung und Durchführung der reichsweiten Krankenmorde verant- wortlich waren, wollte Fritz Bauer zur Rechenschaft ziehen. Bei ihnen handelte es sich um die „großen Räder“ in der NS-Mordmaschinerie.

Rasch fokussierten sich die Ermittlungen der Frankfurter Generalstaatsanwaltschaft auf den 1959 verhafteten Werner Heyde: Er war einer der Hauptverantwortlichen der zentral aus Berlin gesteuerten „Aktion T4“ zur Ermordung behinderter Menschen. Nach dem Krieg war der „Euthanasie“- Professor Heyde unter dem Pseudonym „Dr. Fritz Sawade“ in Schleswig-Holstein untergetaucht. In Flensburg hatte sich

„Dr. Sawade“ eine neue ärztliche Exis- Bereits 1947 hatte tenz aufgebaut. Lange bevor Fritz Bauer der Rechtsgelehrte die Ermittlungen gegen ihn aufnehmen Gustav Radbruch (1878-1949) auf die ließ, war die NS-Vergangenheit Heydes „Rechtsblindheit“ dort ein offenes, gesellschaftlich aber von NS-Juristen und toleriertes Geheimnis. Die Generalstaats- -Ärzten hingewiesen: Vermeintlich staats- anwaltschaft widerlegte mit ihren Ermitt- pflichtmäßiges Han- lungen, die im Mai 1962 in eine umfang- deln im NS-Staat sei reiche Anklageschrift mündeten, die oftmals prinzipiell (natur-) rechts- Einlassungen Heydes, er sei als reiner pflichtwidrig Befehlsempfänger von der Rechtmäßig- gewesen. keit seines Handels ausgegangen.

Vielmehr trug Heyde den massenhaften 2 Krankenmord aus Überzeugung mit und war sich der fehlenden Lega- lität der „Aktion T4“ bewusst. Bis zu seinem Selbstmord am 13. Februar 1964 in der JVA Butzbach, wenige Tage vor Beginn der Hauptver- Werner Heyde (1902- 1964) nach seiner handlung vor dem Landge- Überführung in das richt Limburg, zeigte er kei- Internierungslager nerlei Reue oder Mitgefühl Neumünster-Gadeland. Heyde war überzeugter für die „Euthanasie“-Opfer. und engagierter Natio- Auch Heydes Mitangeklagte nalsozialist; zugleich Gerhard Bohne, Hans Hefel- nutzte er zielstrebig die Karrierechancen, mann und Friedrich Tillmann die das Regime ihm – allesamt Mitorganisatoren bot. der „Aktion T4“ – konnten sich ihrer juristischen Bestrafung entziehen. 1 Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:07 Seite 114

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Heyde selbst sah sich als ein Opfer politischer Justiz, wie der Auszug aus seinem Abschiedsbrief belegt. Wiederholt musste sich Fritz Bauer den mitunter antisemitisch gefärbten Vorwurf gefallen lassen, er verfolge einen persönlich motivierten Rachefeldzug gegen fehlgeleitete, aber letztlich ehrbare Mitbürger. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:07 Seite 115

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Besonders frustrierend dürfte für Fritz Bauer und seine Staatsanwälte die Tatsache gewesen sein, dass Bohne und Hefelmann die Humanität des Rechtsstaates geschickt zu nutzen wussten, als sie sich aus gesundheitlichen Gründen für ver- handlungsunfähig erklären ließen. Wie viele andere NS-Täter auch, verbrachten sie den Rest ihres Lebens in Freiheit.

Hans Hefelmann (1906-1986) bei der Verhandlung vor dem Landge- richt Frankfurt im Februar 1964. Er war in der „Kanzlei des Füh- rers“ einer der administrativen Hauptorganisatoren der NS- Euthanasie. Nach dem Krieg wähnte er sich vor Strafverfol- gung sicher. Mittels verschiede- ner ärztlicher Gutachten wegen seines Gesundheitszustands er- wirkte Hefelmann 1964 die vor- läufige, dann 1972 die endgül- tige Verfahrenseinstellung. 2

Wegen ihrer Tätigkeit als Ärzte in „Euthana- sie“-Tötungsanstalten mussten sich Klaus Endruweit, Aquilin Ull- rich und Heinrich Bunke (v.l.n.r.) sowie Kurt Borm nach Anklage durch die Generalstaatsan- waltschaft ab 1965 vor dem Landgericht Frank- furt am Main verantwor- ten. Das Verfahren ging zweimal in die Revision vor den Bundesgerichts- hof und endete schließ- lich 1988/90 mit kurzen Haftzeiten bzw. mit Einstellung wegen Ver- 4 handlungsunfähigkeit. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:07 Seite 116

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Resümee

Gelingen und Scheitern liegen bei der justiziellen Aufarbeitung von nationalsozia- listischen Gewaltverbrechen zwischen 1945 und dem Ende der Ära von Fritz Bauer dicht beieinander. Die Strafverfolgung von NS-Kriminalität setzte in Hessen bereits 1945 unter Aufsicht der US-Militärregierung ein. Die ersten Verfahren richteten sich vorrangig auf Vergehen, die während des NS-Regimes in Hessen selbst stattgefun- den hatten. Diese frühe juristische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialis- mus verlor dann aber auch in Hessen mit Ende der Besatzungsherrschaft deutlich an Schwung.

Diejenigen, die den Nationalsozialismus bejaht, mitgetragen und durch ihn korrum- piert waren, wurden während der Ära Adenauer in die Gesellschaft der Bundesre- publik integriert – gefördert durch Amnestien wie dem Straffreiheitsgesetz von 1954. An die Stelle einer Aufarbeitung der NS-Verbrechen trat in den 1950er Jahren deren kollektives Beschweigen.

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Das Straffreiheitsgesetz stellte auch Taten unter Straffreiheit, die in der Zusammenbruchsphase des NS-Regimes stattgefunden hatten. Die politische Botschaft dieses Gesetzes bestand darin, NS-Kriminalität ungeahndet zu lassen und die Täter mit einem Schlussstrich unter ihre Vergangenheit in die Gesellschaft der Bundesrepublik zu integrieren. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:07 Seite 117

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Die 832 Seiten umfassende Anklageschrift der Generalstaatsanwaltschaft im „Euthanasie“-Verfahren gegen Heyde u.a. hatte über ihren juristischen Zweck hinaus jahrzehntelang den Rang eines zeithistorischen Standard- werks zum NS-Krankenmord. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:07 Seite 118

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Mit offener, aber auch stillschweigender Unterstützung der Landesregierung unter Ministerpräsident Georg August Zinn machte sich Bauer am Ende dieses Jahr- zehnts daran, das Eis des Schweigens und Verdrängens zu brechen. Zwar erreichte Fritz Bauer viele seiner hochgesteckten Ziele zu seinen Lebzeiten nicht. Er kriti- sierte die relativ geringen Strafen, die das Frankfurter Schwurgericht im Auschwitz- Prozess verhängt hatte. Das große „Euthanasie“-Verfahren verlief zum guten Teil im Sande, trotz der umfangreichen Ermittlungen der Generalstaatsanwaltschaft. Auch seine Bemühungen, die „Blutrichter“ – also jene Richter, die im Nationalsozialis- mus Unrechts-Urteile gesprochen hatten – aus ihren Ämtern zu entfernen, waren weitgehend vergeblich.

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Viele Deutsche reagierten auf den Auschwitz-Prozess mit innerem Wider- stand. Andererseits nutzten aber auch viele, vor allem jüngere Interes- sierte die Gelegenheit, sich direkt über den Massenmord zu informieren. Hier der vollbesetzte Zuschauerraum im Bürgerhaus Gallus, 3. April 1964.

Die Verbrechen des Nationalsozialismus auf juristischem Wege zu sühnen und Gerechtigkeit zu schaffen, blieb Bauer und seinen Mitstreitern zum Teil verwehrt. Doch drang mit den NS-Prozessen der 1960er die grausige Hypothek der NS-Zeit erstmals nachhaltig in das Bewusstsein der deutschen Bevölkerung. Die von der Generalstaatsanwaltschaft angestoßenen Verfahren erfüllten langfristig eine „volkspädagogische“ Funktion: die „historische Wahrheit kund und zu wissen tun“ und damit einen Beitrag zu leisten zur politischen Aufklärung. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:07 Seite 119

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Zahlreiche Intellektu- elle ließen sich vom Auschwitz-Prozess inspirieren. Peter Weiss (1916-1982), ein deutsch-schwedischer Künstler und Dramati- ker, griff in seinem Theaterstück „Die Ermittlung. Oratorium in elf Gesängen“ die Thematik auf. Die Uraufführung an der Ostberliner Volksbühne war während des Kalten Krieges ein Politikum. Hier mit Erwin Piscator 4 (l.), dem dortigen Intendanten.

Wie weit Fritz Bauer einerseits seiner Zeit voraus war und wie stark andererseits der Widerstand gegen ihn war, zeigt der Wandel der Rechtsauffassung bei den NS-Ver- brechen. Die gängige Justizpraxis der 1960er Jahre konterkarierte häufig eine ange- messene Verurteilung der NS-Täter. Zum einen hatte der Bundesgerichtshof 1962 in einem Grundsatzurteil den Gerichten die Möglichkeit eröffnet, Täter, denen wegen Mordes die lebenslange Freiheitsstrafe drohte, lediglich als „Gehilfe“ zu verurteilen. Sofern sie nicht nachweislich aus „niedrigen Beweggründen“ eigenhändig Men- schen getötet und sich damit des Mordes gemäß § 211 Strafgesetzbuch schuldig gemacht hatten, mussten sich NS-Täter nur als „Gehilfe“ wegen der „Beihilfe“ zum Mord verantworten: Die Massenvernichtung wurde damit zur Beihilfe relativiert. Zum anderen war Fritz Bauer beim Auschwitz-Prozess mit seiner Rechtsauffassung gescheitert, dass allein die wissentliche Mitwirkung an einer Tötungsmaschinerie den Tatbestand der Beihilfe zum Mord erfüllen würde. Das Frankfurter Schwurge- richt hatte demgegenüber mit Blick auf den BGH revisionssicher festgestellt, das deutsche Strafrecht kenne den Begriff des Massenmordes nicht. Um überhaupt zu einem Urteil zu gelangen, bedurfte es des konkreten Einzeltatnachweises. Dieser war aber mit wachsendem zeitlichen Abstand zum Tatkomplex für Staatsanwalt- schaften und Gerichte zunehmend schwieriger zu führen, was ab den 1970er Jahren mit zum Erlahmen der Strafverfolgung führte.

Eine Neubewertung der individuellen Schuld von Beteiligten am NS-Massenmord fand nachhaltig erst nach dem Generationenwechsel in der Bundesrepublik statt. Bei der rechtlichen Beurteilung von NS-Verbrechen ist seit einigen Jahren an die Stelle des subjektiven Handelns Einzelner deren „objektiver Tatbeitrag“ getreten. Danach hat bereits Beihilfe zum Mord geleistet, wer unabhängig von seinen subjek- tiven Handlungen am industriell durchgeführten Massenmord beteiligt war – eine Rechtsauffassung, für die Fritz Bauer vehement gestritten hatte. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:07 Seite 120

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Hermann Krumey (l.) und Otto Hunsche (r.) mussten sich 1964/65 wegen ihrer Mitwirkung an der Ermordung der weit über 300.000 ungarischen Juden in Auschwitz verantworten. Da es sich dabei um ein reines Ver- nichtungsprogramm gehandelt hatte, verzichtete das Landge- richt Frankfurt hier auf den konkreten Einzeltatnachweis und setzte einen einheitlichen Tatkomplex voraus.

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50 Jahre nach dem Auschwitz-Prozess hat sich diese Rechtspraxis Bahn ge- brochen und Ermittlungen gegen die letzten noch Lebenden der rund 8.000 SS- und Wehrmachtsangehörigen der Lagermannschaft von Auschwitz ausgelöst.

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Der aus der stammende (1920-2012) geriet 1942 als Rotarmist in deutsche Gefangenschaft, wo er sich zu Zusammenar- beit mit dem Kriegsgegner entschied. Nach seiner Ausbildung zum „Trawniki“-Wachmann wurde er laut seinem SS-Ausweis im März 1943 nach Sobibór abkommandiert. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:07 Seite 121

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Mit John Demjanjuk wurde vor dem Landgericht München II 2009 zum ersten Mal über- haupt in Deutschland ein nichtdeutscher „Trawniki“ angeklagt, dazu noch ohne konkre- ten Einzeltatnachweis. Die Staatsanwaltschaft bezichtigte ihn der Beihilfe zum Mord in mindestens 27.900 Fällen, errechnet nach der Dauer seiner mutmaßlichen Anwesen- heit im Vernichtungslager Sobibór. Im Mai 2011 wurde Demjanjuk, auf dem Bild im Gerichtssaal auf einem Krankenbett liegend, zu fünf Jahren Haft verurteilt. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:07 Seite 122

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Preußischer Justizminister Hanns Kerrl im Referendarlager Jüterbog 1933. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:07 Seite 123

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Fassadeninschrift am Frankfurter Landgericht. Katalog1-124_Auschwitz_180x240_180x240 23.04.14 16:07 Seite 124

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